Komplexe Medienordnungen: Zur Rolle der Literatur in der deutsch-jüdischen Zeitschrift »Ost und West« (1901-1923) [1. Aufl.] 9783839424971

Welche Rolle übernahm die Literatur in der deutsch-jüdischen Zeitschrift »Ost und West« (1901-1923)? Madleen Podewski ko

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German Pages 372 Year 2014

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Inhalt
Einleitung
1. Medieneinheit 1: Literatur im Einzelheft
1.1 "Rafael Gutmann" (Ost und West 1911, Heft I und Heft 2)
1.1.1 Außenseiter I
1.1.2 Außenseiter II
1.1.3 Grenzen
1.1.4 Heftkontexte
1.1.5 Fazit: Literatur als Krisenindikator
1.2 "Der Rabbi und der Zaddik", "Der ewige Jude" und "An den Wassem Babels" (Ost und West 190 I, Heft I)
1.2.1 Altes und neues Judentum
1.2.2 Heftkontexte
1.2.3 Fazit: Literatur als Formvariante
1.3 Ost und West 1923, Heft 3-4
1.3.1 Benjamin Segel: "Philosophie des Pogroms"
1.3.2 Thekla Skorra: "Süsskind von Trimberg, ein jüdischer Minnesänger"
1.3 .3 Fazit: Literatur als heteronomes Gebrauchsobjekt
2. Medieneinheit II: Literatur in der gesamten Zeitschrift
2.1 Literatur in Ost und West
2.1.1 Selbstbezüge
2.1.2 Fremdbezüge
2.1.3 Abstraktion und Varianz - Lyrik
2.1.4 Fazit: Literatur in Ost und West - Krisen, Verluste, Distanzierungen
2.2 Zeitschriftenkontexte: "Aufsaetze"
2.2.1 Geschichtsmodelle
2.2.2 Gruppenmodelle
2.2.3 Kunstmodelle
2.3 Fazit: Literatur als Moderator der Modeme
Literatur
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Komplexe Medienordnungen: Zur Rolle der Literatur in der deutsch-jüdischen Zeitschrift »Ost und West« (1901-1923) [1. Aufl.]
 9783839424971

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Madleen Podewski Komplexe Medienordnungen

Lettre

Madleen Podewski (Dr. phil.) ist Privatdozentin in Berlin. Ihre Forschungsschwerpunkte sind Populärkulturen, Wissen(schaft) und Literatur sowie Zeitschriftenliteratur.

MADLEEN PoDEWSKI

Komplexe Medienordnungen Zur Rolle der Literatur in der deutsch-jüdischen Zeitschrift nOst und West« (1901-1923)

[ transcript]

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http:/ jdnb.d-nb.de abrufbar. © 2014 transcript Verlag, Bielefeld

Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfaltigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlagkonzept Kordula Röckenhaus, Bielefeld Umschlagabbildung: Umschlagbild für »Ost und West«, Ephraim Moses Lilien, Goslar 1903 (Wikimedia Commons) Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar ISBN 978-3-8376-2497-7 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http:jjwww.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

Inhalt

Einleitung

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I 31 1.1 "Rafael Gutmann" (Ost und West 1911, Heft I und Heft 2) I 33 1.1.1 Außenseiter I 137 1.2.2 Außenseiter II I 43 1.2.3 Grenzen 147 1.2.4 Heftkontexte I 52 1.2.5 Fazit: Literatur als Krisenindikator I 79 1.2 "Der Rabbi und der Zaddik", "Der ewige Jude" und "An den Wassem Babels" (Ost und West 190 I, Heft I) I 84 1.2.1 Altes und neues Judentum I 86 1.2.2 Heftkontexte I 89 1.2.3 Fazit: Literatur als Formvariante 198 1.3 Ost und West 1923, Heft 3-4 1103 1.3.1 Benjamin Segel: "Philosophie des Pogroms" 1104 1.3.2 Thekla Skorra: "Süsskind von Trimberg, ein jüdischer Minnesänger" I 111 1.3 .3 Fazit: Literatur als heteronomes Gebrauchsobjekt I 114

1. Medieneinheit 1: Literatur im Einzelheft

2. Medieneinheit II: Literatur in der gesamten Zeitschrift

2.1 Literatur in Ost und West I 118 2.1.1 Selbstbezüge 1120 2.1.2 Fremdbezüge I 170 2.1.3 Abstraktion und Varianz - Lyrik I 189 2.1.4 Fazit: Literatur in Ost und West - Krisen, Verluste, Distanzierungen I 220 2.2 Zeitschriftenkontexte: "Aufsaetze" I 230 2.2.1 Geschichtsmodelle I 231 2.2.2 Gruppenmodelle I 252 2.2.3 Kunstmodelle I 284 2.3 Fazit: Literatur als Moderator der Modeme I 321 Literatur

I 343

I 11 7

Einleitung

Diese Studie untersucht die Rolle, die Literatur in der deutsch-jüdischen Zeitschrift Ost und West übernimmt. Ost und West, von 190 I bis 1923 von Leo Winz und Davis Trietsch im zeitschrifteneigenen Verlag in Berlin herausgegeben, versteht sich als Organ der jüdischen Renaissance und situiert sich auf diese Weise im Umfeld einer Bewegung, die jüdische Identität auf neue Fundamente stellen und dabei deutlich und vor allem selbstbewusst markieren will: Gegen die traditionelle Ausrichtung an der Assimilation postuliert sie eine jüdische Eigenart und Eigenständigkeit, die nun nicht mehr ausschließlich in der Konfession, sondern hauptsächlich im Volk, in der Nation, im Stamm oder in der Rasse gründet. Damit ist sie zutiefst involviert in die komplizierten Identitätsbildungsprozesse deutscher Juden, die im Kaiserreich noch einmal eine neue Qualität eneichen. 1 Was hier entsteht, sind komplexe Gemengelagen jüdischer Subkulturen, die sich zwar weiterhin an bürgerlichen Norm- und Wertvorstellungen orientieren, dabei aber doch Eigenständiges zeigen und nunmehr in dynamische und vor allem wechselseitige Austauschbeziehungen mit der nichtjüdischen Mehrheitskultur treten. 2 In der einschlägigen Forschung hat die Aufmerksamkeit auf solche Entwicklungen zur Relativierung des lange dominanten Assimilationsparadigmas und zu größerer Skepsis gegenüber essentialistischen Definitionen von Judentum nach sich gezogen: Im Vordergrund des

Die Forschung dazu ist inzwischen unübersichtlich geworden, vgl. dazu deshalb der solide Überblick in Lowenstein, Steven M./Mendes-Flohr, Paul/Pulzer, Peter/Richarz, Monika: Umstrittene Integration 187 1-1 9 18 (=Deutsch-jüdische Geschichte in der Neuzeit. Herausgegeben im Auftrag des Leo Baeck Instituts von Michael A. Meyer unter Mitwirkung von Michael Brenner, Band 3), München: C.H. Beck 1997. 2

Vgl. dazu im Überblick Podewski, Madleen: "Judentum als Unterhaltung: Erzählende Literatur in deutsch-jüdischen Zeitschriften um 1900", in: Leipziger Jahrbuch zur Buchhandelsgeschichte 14 (2005), S. 125-151 , hier v.a. S. 125-129.

8 I KOMPLEXE MEDIENORDN UNGEN Interesses stehen nunmehr Prozesse der "Dissimilation"3 und Konstellationen "situativer Ethnizität".4 Und beobachtet werden solche Entwicklungen bevorzugt an Phänomenen, die jenseits der klassischen Analyseobjekte der Historiographie liegen - an Alltags- und Privatkulturen,5 an Geschlechtermodellen6 und historischer Anthropologie7 und schließlich eben auch an der deutsch-jüdischen Presse, für die in Handbüchern und Lexika inzwischen längst eigene Artikel vorgesehen sind und gesonderte Tagungen samt Buchreihen veranstaltet werden. 8

3

Das einflussreiche Konzept der "Dissimilation" hat Shulamit Volkov bereits in den achtziger Jahren entwickelt: Volkov, Shulamit: "Jüdische Assimilation und jüdische Eigenart im Deutschen Kai scJTcich", in: Geschichte und Gesellschaft 19 (1983), S. 33 1-348. - Florian Krobb bestätigt eine solche Eigenständigkeil auch für den deutsch-jüdischen Litcraturbctricb: Krobb, Florian: Kollektiva utobiographien - Wunschautobiographicn. Marrancnschicksal im deutsch-jüdischen historischen Roman, Würz burg: Königshausen & Neumann 2002, hier S. 30.

4

Den Begriff hat geprägt Rahdcn, Ti II van: "Die situative Ethnizität der deutschen Juden im Kaiserreich in vergleichender Perspekti ve", in: Olaf Blaschkc/Frank Michael Kuhlemann (Hg.), Relig ion im Kaiserreich. Milieus - Mentalitäten- Kri sen, Gütcrsloh: Gütcrslohcr V erlagshaus 1996, S. 409-434.

5

Vgl. exemplarisch Marion A. Kaplan (Hg.), Geschichte des jüdischen Alltags in Deutschland. Vom 17. Jahrhundert bis 1945, München: C.H. Beck 2003. - Oder mit Bezug auf private Erinnerungskulturen Gebhardt, Miriam: Das Familiengedächtnis. Erinnemng im deutsch-jüdischen Bürgertum 1890-1932 (= Studien zur Geschichte des Alltags, Band 16), Stuttgart: Steiner 1999.

6

Vgl. etwa wiederum Kaplan, Marion: Frau, Familie und Identität im Kaiserreich(= Studien zur jüdischen Geschichte, Band 3), Hamburg: Dölling und Galitz 1997.

7

Ygl. etwa Hödl, Klaus: Die Pathologisiemng des jüdischen Körpers. Antisemitismus, Geschlecht und Medizin im Finde Siecle, Wien: Picus-Yerlag 1997.

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Vgl. dazu etwa Schwarz, Johannes Yalentin: "Jüdische Presse", in: Elke Yera Kotowski/Julius H. Schoeps/Hiltrud Wallenborn (Hg.), Handbuch zur Geschichte der Juden in Europa. Band 2: Religion, Kultur, Alltag, 2. Aufl. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 2012, S. 285-298.- Vgl. außerdem vor allem die von der Sektion "Deutschjüdische Presse" am Deutschen Institut für Presseforschung in Bremen herausgegebene Reihe "Die jüdische Presse. Kommunikationsgeschichte im europäischen Raum. The European Jewish Press - Studies in History and Language" , die inzwischen 13 Bände verzeichnet. Vgl. dazu zuletzt Nagel, Michael, in Zusammenarbeit mit Stephanie Seul: "Forschungsbereich ,Deutsch-jüdische Presse'", in: Holger Böning/Aissatu Bouba/Esther-Beate Körber/Michael Nagel/Stephanie Seul (Hg.), Deutsche Presseforschung. Geschichte und Forschungsprojekte des ältesten historischen Instituts der Universität Bremen. Mit

EI NLEITUNG

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Für das Umfeld von Ost und West gilt dabei , dass die Neufundierung jüdischer Identität durchaus nicht unumstritten bleibt, und zwar nicht nur bei denjenigen, die eine mit der geforderten Selbstständigkeit einhergehende Separation von der deutschen Kultur sowieso von vomherein ablehnen, sondern gerade auch dort, wo es um die Klärung ihrer Grundlagen, um das Ausmessen ihrer Radikalität und um die Bestimmung des Verhältnisses zur deutschen Gesellschaft und Kultur geht. Vor allem im Kontext zionistischer Bewegungen bilden sich hier unterschiedlichste und konkurrierende Konzepte aus, die vom Staatszionismus über eine hebräi sche Renaissance bis hin zu moderateren Formen von Kulturzionismus und nationaljüdischen Projekten reichen, und die eine staatliche Separation ebenso erwägen wie eine sprachliche oder eine bloß kulturelle, die in deutscher Sprache und deutscher Kultur verbleibt. 9 Ost und West wird hier zumeist gemäßigteren Positionen zugerechnet: Für die Neufundierung des Judentums steht in der Zeitschrift weniger die rigide Absonderung von der deutschen Kultur im Vordergrund als die Prägung einer säkularen, gesamtjüdisch-nationalen Perspektive und die wechselseitige Befruchtung von West- und Ostjudentum. Daraufverweisen Titel und Untertitel ebenso wie die Beiträge und Beiträger: Die Zeitschrift wird zu einem wichtigen und oft auch ersten Publikationsort für kulturzionistische Positionen sowohl ostjüdischer als auch westjüdischer Prägung und für entsprechende Debatten um das Wesen und die Grenzen des Judentums, die sich zudem von den Reform- und Jugendbewegungen der Jahrhundertwende beeinflusst zeigen. Den wohl hauptsächlich westjüdischen Lesern wird dabei ostjüdische Kunst und Literatur, zum Teil in Übersetzungen aus dem Hebräischen und aus dem Jiddischen, regelmäßig als Beispiel authentischen Judentums vorgestellt. Und in der Titelblattgestaltung von Ephraim Moses Lilien werden ostjüdische Ikonographie und westliche Jugendstilornamentik miteinander kombiniert. Mit all dem avanciert Ost und West nicht nur für die Redakteure der Zeitschrift, sondern auch für die Forschung zur exemplarischen Institution eines neuen, jungjüdischen Selbstbewusstseins, in dem die Verbindung zwischen westlicher Moderne und östlicher Tradition versucht und in der eine neue jüdische Kunst proklamiert,

einleitenden Beiträgen zur Bedeutung der historischen Presseforschung, Bremen: edition lumiere 2013, S. 296-319. 9

"Cultural zionism needs to be read as an extremely complex and variegated discourse, as weil as a complicated and diverse cultural phenomenon." (Gelber, Mark H.: Melancholy Pride. Nation, Race, and Gender in the German Literature of Cultural Zionism (= Conditio Judaica, Band 23), Tübingen: Niemeyer 2000, hier S. II)- Einen Überblick über die komplexe Gemengelage liefert Lowenstein, Steven M.: "Ideologie und Identität", in: S.M. Lowenstein/P. Mendes-Flohr/P. Pulzer!M. Richarz: Umstrittene Integration, S. 278301.

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gefördert und geboten wird 10 - und das ganz ebenso wie die sonstigen Institutionen im Umfeld kulturzionistischer Bewegungen, die denselben Zwecken auf ähnliche Weise dienen: wie etwa der 1901 gegründete Jüdische Verlag mit seinen Publikationen,11 oder wie die Leseabende, auf denen auch jiddische und hebräische Texte und Lieder vorgetragen werden, 12 oder wie die Errichtung von Lesehäusem13 und die Gründung von Sport-, Wander-und Kulturvereinen. 14 Überall geht es hier um die Begründung einer jüdischen Eigenständigkeit, die sich nicht gänzlich von deutscher Kultur und auch nur partiell von westlicher Zivilisation lösen will. An dieser so reibungslosen Einreihung der Zeitschrift in eine Phalanx scheinbar gleichartiger und gleichwertiger Identitätsbildungsinstitutionen setzt die vorliegende Studie an: Sie interessiert sich für die Art und Weise, in der Ost und West als Zeitschrift an den akuten Debatten teilhat und welche Funktionen die Literatur dabei übernimmt. Es geht also im Folgenden um medienspezifische Verhandlungen komplexer und konfliktträchtiger Balanceversuche zwischen Jüdischem und Nichtjüdischem, um medial bedingte Modeliierungen einer kollektiven Identität. Neben der Konzeption der Zeitschrift als ein eigenständiges, pressegeschichtlich ausdifferenziertes Ordnungssystem erfordert das auch einen neuen Umgang mit Zeitschrif-

10 Dabei sieht man die Verbindung von Ost- und Westjudentum in der Zeitschrift ebenso gelungen wie die zwischen Deutschen und Juden: "As a result, it brought Eastem and Western Jewry closer than many assumed was possible, at least in the limited public sphere of Jewish joumalism. In this public realm, then, there existed an East-West-J ewish symbiosis, if not a German-Jewish one." (Brenner, David A.: Marketing Identities. The Invention of Jewish Ethnicity in Ost und West, Detroit: Wayne State University Press 1998, hier S. 18)- Bertz und Gelber heben ftir Ost und West die fiir die jüdische Renaissance bzw. für die "jungjüdische" Bewegung typische Symbiose von Judentum und ästhetischer Modeme gleichfalls hervor (Bertz, Inka: "Jüdische Renaissance", in: Diethart Kerbs/Jürgen Reutecke (Hg.), Handbuch der deutschen Reformbewegungen 1880-1933, Wuppertal: Hammer 1998, S. 551-564; M.H. Gelber: Melancholy Pride, S. 34-54). 11 Das sind etwa die von Feiwel selbst herausgegebene Anthologie Junge Harfen. Eine Sammlung jungjüdischer Gedichte (1903), die von Buher herausgegebene Essaysammlung Jüdische Künstler (1903) oder der Jüdische Almanach, der seit 1901 jährlich erscheint. 12 Ygl. dazu genauer M.H. Gelber: Melancholy Pride, S. 32f. 13 Ygl. dazu Kirchhoff, Markus: Häuser des Buches. Bilder jüdischer Bibliotheken, Leipzig: Reclam 2002, hier v.a. S. 90-95. 14 Vgl. dazu neben den Arbeiten zur jüdischen Renaissance den Überblick bei Lowenstein, Steven M.: "Die Gemeinde", in: S.M. Lowenstein/P. Mendes-Flohr/P. Pulzer/M. Richarz: Umstrittene Integration, S. 123-150, hier v.a. das Unterkapitel "Studenten- und Jugendorganisationen", S. 143-147.

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tenliteratur, die bis heute fast ausschließlich als eine heteronome, auf fremde Zwecke ausgerichtete Funktionsliteratur konzipiert ist, die der (ideologischen) Manipulation, der Belehrung, der Unterhaltung oder anderen Formen der Bedürfnisbefriedigung ihrer Leser dienen soll. Die vorliegende Studie will stattdessen und jenseits solcher Vor-Urteile die Frage beantworten, welche ganz konkreten Leistungen die einzelnen Formsemantiken der literarischen Texte innerhalb einer so komplex aufgebauten und kleinteilig strukturierten Zeitschrift wie Ost und West erbringen können. Die Forschung bezieht deutsch-jüdische Zeitschriften und ihre Literatur nahezu durchweg auf jüdische Identitätsbildungsprozesse: Ihr dient die ,jüdische Presse" vor allem der "Selbstverständigung", 15 zugleich wird sie als eine wichtige Quelle konzipiert, die "Aufschluß über zentrale Thematiken in der Geschichte des deutschen Judentums gibt". 16 Aufganz entsprechende Weise ist dann auch die Literatur

15 J.V. Schwarz: Jüdische Presse, S. 292. - Ähnlich argumentieren Marten-f innis, Susanne/Bauer, Markus: "Zum Geleit" , in: Diess., unter Mitarbeit von Markus Winkler (Hg.), Die jüdische Presse. Forschungsmethoden - Erfahrungen - Ergebnisse (= Die j üdische Presse. Kommunikationsgeschichte im europäischen Raum, Band 2), Bremen : edition lumicre 2007, S. 2-8 oder Nagel, Michael: "Einleitung", in: Ders. (Hg.), Zwischen Selbstbehauptung und Verfolgung. Deutsch-jüdische Zeitungen und Zeitschriften von der Aufklärung bis zum Nationalsozialismus (= Haskala, Band 25), Hildesheim/Zürich/New York: Olms 2002, S. 1-4. - Die Belege ließen sich mehren und setzen eine lange Tradition fort, wie der Rückblick auf einen Beitrag von Jakob Toury zeigt: Schon hier hilft die deutsch-jüdische Presse, "manchem im Jüdischen unverwurzelten und allen jüdischen Wissens baren Menschen der zweiten und dritten Assimilationsgeneration, etwas von seinem angestammten Judentum zu erfahren, darüber Neues zu lernen und dabei seinen verletzten Stolz ein wenig zu salvieren." (Toury, Jacob: Die jüdische Presse im Österreichischen Kaiserreich. Ein Beitrag zur Problematik der Akkulturation 1802-1 9 18 (= Schriftenreihe wissenschaftlicher Abhandlungen des Leo Baeck Instituts, Band 4 1), Tübingen: Mohr 1983, hier S. 151 ) 16 Borut, Jacob: " Die jüdisch-deutsche Presse Ende des 19. Jahrhunderts als historische Quelle", in: Menora. Jahrbuch für deutsch-jüdische Geschichte 7 (1996), S. 43-60. - Der Rede von der "Quelle" entspricht die vom " Spiegel", wie etwa bei M. Nagel: Einleitung, S. 2 oder bei Nagel, Michael: "Jüdische Presse und jüdische Geschichte: Möglichkeiten und Probleme in Forschung und Darstellung", in: S. Marten-f innis/M. Bauer/M. Winkler, Die jüdische Presse, S. 19-37.- Ähnlich argumentiert außerdem schon Suchy, Barbara: "Die jüdische Presse im Kaiserreich und in der Weimarer Republik", in: Julius H. Schoeps (Hg.), Juden als Träger der bürgerlichen Kultur in Deutschland (= Studien zur Geistesgeschichte, Band 4), Stuttgart/Bonn: Burg-Verlag 1989, S. 165-1 9 1.

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unmittelbare "Ausdrucksform" 17 unterschiedlicher Konzepte jüdischer Identität und spiegelt deren Problematiken; 18 als Bildungsinstitut kann sie zudem die für deutsche Juden akzeptablen Verhaltensweisen vermitteln 19 und ihre Leser- ganz so, wie es die Programmatiken der Zeitschriftenredakteure fordern - zu "guten und stolzen Juden" 20 erziehen. Eine solche enge Anhindung von Zeitschriften und ihrer Litera-

17 Brenner, Michael: "East and West in Orthodox German-Jewish Novcls (1912-1934)", in: Leo Bacck Institute Yearbook 37 (1992), S. 309-323, hier S. 309. - Als "Ausdruck jüdischer Lebenswirklichkeit in Deutschland" wird Zeitschriftenliteratur auch noch bei Martina Stccr bezeichnet (Stccr, Martina: "Fortsetzungsromane in deutsch-jüdischen Zeitschriften vor 1945", in: S. Martcn-Finnis/M. Baucr/M. Winklcr, Die jüdi sche Presse, S.

139-157, hier S. 141). 18 So für das Verhältnis zwischen Ost- und Westjuden bei Glascnapp, Gabrielc von: ,"Eine neue und ncua11igc Epoche'. Ostjüdische Literatur in deutsch-jüdischen Zeitschriften und Almanachen vor dem Ersten Weltkrieg", in : Florian Krobb/Sabinc Strümpcr-Krobb (Hg.), Literaturvermittlung um 1900. Fallstudien zu Wegen ins deutschsprachige kulturelle System. Amsterdam/New York: Rodopi 2001, S. 45-60, hier S. 59. - Ähnliches gilt für Horch, für den sich etwa in den Figurenensembles der deutsch-jüdischen Erzählliteratur der "soziopsychische Zustand der modernen jüdischen Gesellschaft in ihrer Widersprüchlichkcit" spiegelt (Horch, Hans Otto: Auf der Suche nach der jüdischen Erzählliteratur. Die Literaturkritik der Allgemeinen Zeitung des Judentums ( 1837 -1922), Frankfurt a.M./Bern/New York: Peter Lang 1985, hier S. 225).

19 So bei Brenner, David A.: "Reconciliation Before Auschwitz. The Weimar Jewish Experience in Popular Fiction from the Israelitisches Familienblatt", in: Linda E. Feldman/Diana Orendi (Hg.), Evolving Jewish ldentities in German Culture. Borders and Crossings (=Seminar. A Journal of Germanie Studies, Band 40), Westport Praeger 2000, S. 45-61, hier S. 47. - Eine grundlegende "identitätsbildende Leistung" jenseits "aller ideologischen Differenzen" stellt auch Florian Krobb heraus (Krobb, Florian: Selbstdarstellungen. Untersuchungen zur deutsch-jüdischen Erzählliteratur im neunzehnten Jahrhundert, Würzburg: Königshausen & Neumann 2000, hier S. 178). - Gleiches gilt für Hess, Jonathan M. : Middlebrow Literature and the Making of German-Jewish ldentity, Stanford: Standford University Press 2010.

20 So schon Shedletzky, ltta: "Some Observations on the Popular Zeitroman in the Jewish Weeklies in Germany from 1870 to 1900", in: Canadian Review ofComparative Literature 9 ( 1982), H. 3, S. 349-360, hier S. 353. -Als eine solche "Orientierungshilfe" wird sie auch konzipiert bei Bachleitner, Norbert: "Zionistische Propaganda durch literarische Fiktion. Die Belletristik in Theodor Herzls Zeitschrift Die Welt (im Vergleich mit Dr. Blochs Österreichischer Wochenschrift)", in: Christine Hang/Franziska Mayer/Madleen Podewski (Hg.), Populäres Judentum. Medien, Debatten, Lesestoffe(= Conditio Judaica, Band 76), Tübingen: Niemeyer 2009, S. 65-83.

E INLEITUNG

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tur an Identitätsprobleme findet sich nun nicht nur in der Forschung zum deutschjüdischen Sektor der Literaturgeschichte, sondern auch in der zu anderen Gruppenoder Partialkulturen - zum Exil etwa/ 1 zu proletarischen Subkulturen22 oder zu schichten- und altersspezifischen Milieus. 23 Eine solche nahtlose Gleichsetzung von Kollektivinteressen, Medien- und Textfunktionen lässt sich auf ein bestimmtes Konzept von Zeitschriftenliteratur zurückfUhren, das von ihrer kompletten Anpassung an die Anforderungen der Medien ausgeht, in denen sie abgedruckt ist. Diese Medien aber sind- seit dem Aufkommen der Familienzeitschriften in der Mitte des 19. Jahrhunderts- Massenmedien geworden, die man nunmehr ausschließlich den Regeln einer "Marktkultur" und damit dem "Wettbewerb der Reize" unterworfen sieht. 24 Zeitschriftenliteratur muss hier den Wünschen eines Publikums nachkommen, das vor allem an Unterhaltung interessiert ist. Quasi automatisch ist sie deshalb von "Kommunikationsstrukturen" durchzogen, "die bestimmten Dispositionen der Leser entsprechen", 25 die mit stan-

21 Vgl. Roussel, Helime: "Die Fortsetzungsromane und -erzählungen im Zeitungsroman von Pariser Tageblatt und Pariser Tageszeitung", in: Helene Roussel/Lutz Winckler (Hg.), Conccptions ct pratiqucs du quotidicn des cmigrcs allcmands cn Francc. Konzepte und Praxis der Tageszeitungen der deutschen Emigranten in Frankreich. Beiträge der Tagung des Forschungsprojekts der Universität Paris 8 zur deutschen Exilpresse in Frankreich (1933-1940) vom 16. bis 17. Dezember 1988 in Paris, Bremen: Universitätsdruckerei 1989, S. 339-365. 22 So für die Rote Fahne Brauneck, Manfred: "Revolutionäre Presse und Feuilleton. Die Rote Fahne - Zentralorgan der Kommunistischen Partei Deutschlands (1918-1933)", in: Ders. (Hg.), Die Rote Fahne. Kritik, Theorie, Feuilleton 1918-1933, München: Fink 1973, S. 9-54. 23 So etwa bei Otto, lngrid: Bürgerliche Töchtererziehung im Spiegel illustrierter Zeitschriften von 1865-1915. Eine historisch-systematische Untersuchung anhand einer exemplarischen Auswertung des Bildbestandes der illustrierten Zeitschriften Die Gartenlaube, Über Land und Meer, Daheim und lllustrierte Zeitung, Hildesheim: Lax 1990. 24 Hügel, Hans-Otto: "Massenkultur", in: Ders. (Hg.), Handbuch Populäre Kultur. Begriffe, Theorien und Diskussionen. Stuttgart: Metzler 2003, S. 48-56, hier S. 53. 25 Nottelmann, Nicole: Strategien des Erfolgs. Narratologische Analysen exemplarischer Romane Vicki Baums (Epistemata, Band 405), Würzburg: Königshausen & Neumann 2002, hier S. 68. -Ähnlich Nusser, Peter: Trivialliteratur, Stuttgart: Metzler 199 1, S. 16: "Es geht um die Erarbeitung der für die vorwiegend um Unterhaltungseffekte bemühten Texte typischen Kommunikationsstrategien und ihres zu beobachtenden Zusammenspiels in einem die Tiefenstruktur der Trivial- und Unterhaltungsliteratur bildenden Mechanismus, der seine Gültigkeit in allen ihren Genres und durch historische Veränderungen hindurch nie verliert."

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I KOMPLEXE MEDIENO RDNUNGEN

dardisierten Schemata, "Versatzstücken" oder Formeln 26 Bedürfnisse nach Ordnung und Wiedererkennbarkeit, nach Abwechslung und Entspannung27 bedienen - am prägnantesten wohl im Feuilletonroman, der mit dem notorischen cliff hangerbis in die Plotstruktur hinein gleichermaßen vom Spannungsbedürfnis des Publikums und vom Erscheinungsrhythmus des Mediums bedingt ist. 28 Solche durchweg großflächig und flir Großepochen beanspruchten Zuschreibungen lassen nicht nur vermuten, dass der Umgang mit Massenmedien und deren Literatur offenbar noch immer von Mustern der Kulturkritik geprägt ist. 29 Sie geben vor allem auch zu erkennen, dass für den Umgang mit periodischen Printmedien und ihrer Literatur noch keine gute Lösung gefunden ist. So hat sich zwar in der germanistischen Literaturwissenschaft in den letzten Jahren zunehmend und nachhaltig die Einsicht durchgesetzt, dass Zeitungen und Zeitschriften über fast alle Epochen hinweg ein wichtiges, oft auch das erste Publikationsmedium für Literatur sind und dass zentrale Iiteratur- und kulturgeschichtliche Entwicklungen von ihnen mitgesteuert werden. 30 Unbefriedigend geblieben ist gleichwohl die Konzeptualisie-

26 Den Begriff "Formcllitcratur" bringt nachdrücklich Nottelmann ins Spiel (N. Nottclmann: Strategien des Erfolgs, S. 68). - Der Begriff Schemaliteratur geht zurück auf Zimmermann, Hans Dictcr: Trivialliteratur? Schema-Literatur! Entstehung, Formen, Bewertung, 2. Aufl. Stuttgart/Berlin/Köln/Mainz: Kohlhammer 1982. 27 P. Nusscr: Tri vialliteratur, S. 21. 28 "Schon früh wurde darauf hingewiesen, dass sich die Periodizität der Zeitschriften [... ] auf die dort veröffentlichten Texte auswirke, und zwar in dem Sinn, dass sich deren Struktur an den Fortsetzungsserien ausrichte; die rein quantitative Beschränkung wird hier strukturell wirksam, indem sie die Länge der folgen und deren interne Spannungsbögen bestimmt." (Butzer, Günter: "Von der Popularisierung zum Pop. Literarische Massenkommunikation in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts", in: Gereo Blaseio/ Hedwig Pompe/Jens Ruchatz (Hg.), Popularisierung und Popularität, Köln: DuMont 2005, S. 115-135, hier S. 117) - Zum Feuilletomoman vgl. Bachleitner, Norbert: Kleine Geschichte des deutschen Feuilletonromans. Tübingen: Gunter Nan 1999, hier v.a. mit Blick auf entsprechende Kategorisierungen der Forschung S. 7f. 29 Und zwar im Rahmen des Umgangs mit Massen- und Populärkulturen überhaupt, vgl. dazu jüngst Zappe, Florian: "Adorno! lmmer wieder Adorno! Rezension zu Dirk Braunstein/Sebastian Dittmann/lsabelle Klaasen (Hg.), Alles falsch. Aufverlorenem Posten gegen die Kulturindustrie und Markus Metz/Georg Seeßlen: Blödmaschinen. Die Fabrikation der Stupidität", in: pop-zeitschrift.de August 2013 (http://www.pop-zeitschrift.de/ rezensionen/). 30 Das gilt zumindest fiir das Umfeld der Realismusforschung, die die Relevanz der Familienzeitschriften und deren Wissensproduktion fiir realistische Literatur schon länger zu berücksichtigen versucht. Ygl. dazu zusammenfassend mit Hinweisen auf die wichtigsten

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rung ihres Zusammenhangs - und das deshalb, weil man vor der spezifischen Komplexität des Mediums noch immer ausweicht: hauptsächlich, indem man Literatur und Publikationsort voneinander getrennt hält, oder aber indem man- wie eben bereits gesehen- beide Seiten bis zur Ununterscheidbarkeit einander angleicht. So hat der (traditionellere) Fokus einer Sozialgeschichte der Literatur zwar Zeitungen und Zeitschriften schon seit längerem ftir seinen Zugriff auf das Sozialsystem der Literatur- auf Prozesse der Produktion, Distribution, Rezeption und Speicherung also -im Blick, er lässt dabei aber den Bezug auf das Symbolsystem literarischer Bedeutungskonstitution weitgehend außen vor. 31 Noch markanter zeigt sich die Getrennthaltung von Literatur und Zeitschriften freilich in der inzwischen scharf kritisierten Medienvergessenheit des mainstreams literaturwissenschaftlicher Interpretationsverfahren,32 die die Relevanz von populären bzw. von Massenmedien einfach ins Segment heteronomer Unterhaltungs- oder didaktischer Literatur auslagern, ästhetisch hoch gewertete Texte aber von ihnen freihalten. Literatur wird so einfach aus ihrem medialen Umfeld herausgelöst, "ausgeschnitten"- ein Verfahren, das im

Stationen der einschlägigen Forschung Grctz, Danicla: "Das Wissen der Literatur. Der deutsche literarische Realismus und die Zeitschriftenkultur des 19. Jahrhunderts", in: Dies. (Hg.), Medialer Realismus (= Rombach Wissenschaften, Reihe Littcrac, Band 145), Frciburg/Bcrlin/Wicn: Rombach 2011, S. 99-126. - Zu den spezifisch selbstreflexiven Potenzen, die ein literarischer Text im Umfeld von Zeitschriften und zudem in deren periodischer Struktur entfalten kann vgl. Kaminski, Nicola/Mergenthaler, Volker: "Der Dichtkunst Morgenröthe verließ der Erde Thai" : Viel Lärmen um Nichts. Modellstudie zu einer Literatur in Fortsetzungen. Mit einem Faksimile des Gesellschafters oder Blätter für Geist und Herz vom April 1832, Hannover: Wehrhahn 2010 und Mergenthaler, Volker: ",Zierliche Vielliebchen in Taschenformat'. Eichendorffs Blick auf die ,ungeheure Maschine der Literatur' , in: Christo[ Windgätter (Hg.), Wissen im Druck. Zur Epistemologie der modernen Buchgestaltung (Buchwissenschaftliche Beiträge, Band 80), S. 100114. 31 Hier reproduziert sich das notorische Text-Kontext-Problem sozialgeschichtlicher Analysen von Literatur, wie es schon vor längerer Zeit Claus-Michael Ort analysiert und im Modell einer nicht-reduktiven Sozialgeschichte zu überwinden vorgeschlagen hat: Ort, Claus-Michael: "Vom Text zum Wissen. Die literarische Konstruktion sozio-kulturellen Wissens als Gegenstand einer nicht-reduktiven Sozialgeschichte der Literatur", in: Lutz Datmeberg/Friedrich Vollhardt (Hg.), Vom Umgang mit Literatur und Literaturgeschichte. Positionen und Perspektiven nach der "Theoriedebatte", Stuttgart: Metzler 1992, S. 409-441. 32 Vgl. dazu prägnant Günter, Manuela: ",Ermanne dich, oder vielmehr erweibe dich einmal!' Gender Trouble in der Literatur nach der Kunstperiode", in: Internationales Archiv für Sozialgeschichte der Literatur 30 (2005), H. 2, S. 38-61.

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Umgang mit Zeitungen und Zeitschriften nun allerdings auch für nichtliterarisches Material eine lange Tradition hat. 33 Wird Literatur hier von ihrem medialen Erscheinungskontext separiert oder doch zumindest von ihm distanziert - das Medium ist dabei im Grunde genommen nicht mehr als eine Art Transportbehälter, der leicht wieder vom Text ablösbar ist-, so laufen andere Zugriffe auf eine Amalgami erung von Medium und Literatur hinaus: Zeitschriften werden dabei als kohärente Einheiten modelliert, deren Zusammenhang auf einem grundlegenden, auf alle ihre Elemente gleichermaßen durchschlagenden Prinzip basiert. Das gilt vor allem für die Funktion der Unterhaltung, die für Massenmedien als konstitutiv angesetzt wird/ 4 das betrifft aber auch die Modeliierung von Zeitschriften als Medien der (Volks-)Bildung und Identitätsstiftung. Und es zeigt sich in Versuchen, Zeitschriften in Orientierung an Kategorien wie ,Werk' oder ,Text' als eine (dem philologischen Analyseinstrumentarium nunmehr wieder vertraute) Bedeutungseinheit zu konzipieren, die sich über bestimmte Schreib- und Darstellungsverfahren - etwa als "Kunstwerk", "Essay" oder als "Interdiskurs" - herstellt. 35

33 Und zwar überall dort, wo, wie das auch im deutsch-jüdischen Sektor bevorzugt geschieht, Zeitschriften als "Quelle" oder eher noch als eine Art "Steinbruch" konzipiert sind, aus dem man Material je nach Frageinteresse entnehmen kann. Zu lmplikationen, Konsequenzen und zur Kritik dieses Konzepts vgl. ausführlich Frank, Gustav/Podewski, Madleen/Scherer, Stefan: "Kultur - Zeit - Schrift. Literatur- und Kulturzeitschriften als ,kleine Archive'", in: Internationales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur 34 (2009), H. 2, S. 1-45. 34 Das gilt sowohl für die ältere, partiell kulturkritische Perspektive, aber auch noch für jüngere, systemtheoretisch fundierte Konzepte von Massenmedien: Hier wird zwar sehr berechtigt die Fiktion einer Zweiteilung von Literatur in einen autonomen, vom Medienmarkt unberührten und einen durchweg von ihm bestimmten Bereich ästhetisch minderwertiger Unterhaltungsliteratur aufgehoben, dabei behält das Modell eines direktfunktionalen Zusammenhangs zwischen Zeitschriften und Literatur gleichwohl weiterhin seine Geltung: Literatur ist hier dann spätestens seit der Mitte des 19. Jahrhunderts in Gänze den Selbstreproduktionslogiken des Massenmediums Zeitschrift unterworfen. Dessen Code, Programm und Funktionen determinieren die Textstrukturen ebenso wie die Werk- und Autorkonzeptionen. Vgl. dazu vor allem Günter, Manuela: lm Vorhof der Kunst. Mediengeschichten der Literatur im 19. Jahrhundert, Bielefeld: transcript 2008. Ähnlich argumentiert auch Günter Butzer: "Nicht der Autor verbreitet seinen Text mit Hilfe des Mediums, sondern das Medium gewährleistet seine Reproduktion mit Hilfe der Autoren und ihrer Texte." (G. Butzer: Von der Popularisierung zum Pop, hier S. 118) 35 Vgl. zum Modell eines ästhetisch fundierten Zeitschriftenzusammenhangs Viehöver, Vera: Diskurse der Erneuerung nach dem Ersten Weltkrieg. Konstruktionen kultureller lden-

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Eine solche Homogenisierung aber ist in allen ihren Spielarten hochgradig reduktiv, weil sie zur Nivellierung einer ganzen Reihe historisch relevanter Differenzen tendiert: Im Umfeld der strikten Ausrichtung an Identitätsbildungsfunktionen fur deutsche Juden etwa kommt so kaum ein Interesse für die jeweiligen Spezifika von Medien und Textsorten auf. Die in der jüngeren Forschung so sehr in den Vordergrund gestellte Pluralisierung und Flexibilisierung der Konzepte vom Judentum ist denn auch nur ganz am Rande Effekt einer subkultureilen Ausdifferenzierung von Institutionen, Medien, Texten und Bildern. Innerjüdische Differenzen konstituieren sich hier stattdessen bevorzugt mit und an Subjekten - durch ihr Geschlecht oder ihr Lebensalter etwa oder durch die unterschiedlichen Strömungen im Judentum. Die in den oben zitierten Passagen so häufig zu findende Rede vom "Spiegel" oder vom "Dokument" scheint dann vorauszusetzen, dass man nur noch ein Forum finden muss, auf dem man sich ungehindert ausdrücken kann. Die Unterstellung einer solchen einsinnigen Funktionalität ignoriert zudem auf eklatante Weise die Eigenlogiken von Medien und Literatur. So muss zwangsläufig und von vomherein im Dunkeln bleiben, inwiefern eine Zeitschrift und etwa ein Gedicht in ihr das allererst produzieren, was sie vermeintlich nur beinhalten. Dass aber das Medium eine Botschaft nicht nur transportiert, sondern (mit)prägt, ist eine wohlbegründete Einsicht der Medientheorien, die inzwischen allgemein akzeptiert ist - auch wenn kein Konsens darüber besteht, wie weit diese Prägekräfte gehen. Das gilt auch flir das Feld der deutsch-jüdischen Literatur- und Kulturgeschichte: Eine Zeitschrift wie Ost und West entsteht nicht nur, weil nationaljüdische Strömungen Ausdrucksmöglichkeiten brauchen, die auch anderweitig geliefert werden können. Sie besetzt in den komplexen Medienumfeldern von Kaiserreich und Weimarer Republik eine spezifische Position, die sich in Prozessen der Presse- und Mediengeschichte und damit auch im Umfeld einer Geschichte des Wissens - und nicht allein innerhalb einer Problemgeschichte jüdischer Identität - ausdifferenziert hat.36

tität in der Zeitschrift Die Neue Rundschau, Tübingen/Basel: Francke 2004. - Erdmut J ost hat diesen Zugriff kritisiert und schlägt die lnterdiskursivität des Essays als angemesseneres Modell ftir die Beschreibung der Zeitschriftenorganisation vor: Jost, Erdmut: "Ästhetizismus im luftleeren Raum. Rezension über Vera Viehöver, Diskurse der Erneuerung nach dem Ersten Weltkrieg. Konstruktionen kultureller Identität in der Zeitseht1ft Die Neue Rundschau, Tübingen 2004", in: lASL online (http://www.iaslonline.de/, 5.7.2006). 36 Der Blick auf die Eigenständigkeit solcher Entwicklungen ist angedeutet bei MartenFinnis, Susanne: "Die jüdische Presse in der osteuropäischen Diaspora: eine Typologie", in: S. Marten-Finnis/M. Bauer/M. Winkler, Die jüdische Presse, S. 75-86. -Auch David A. Brenner bekommt mit seinem Verweis darauf, dass Ost und West nach den Regeln ei-

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Der Typus der Rundschau- oder Kulturzeitschrift jedenfalls, dem sich Ost und West zurechnen lässt, setzt sich im deutschsprachigen Raum endgültig im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts als ein "Produkt und Kophänomen derjenigen Modemisierungsprozesse, die Entwicklungen der Presse insgesamt seit der Jahrhundertmitte steuern" durch: 37 Mit den Familienzeitschriften entsteht hier erstmal s eine Massenpresse, die sich zunehmend professionalisiert, kommerzialisiert und illustriert, die sich im rapiden Anwachsen von Spezialzeitschriften seit den 1880er Jahren noch einmal verstärkt binnendifferenziere 8 und die schließlich teilhat an der Konstitution eines massenkulturellen Unterhaltungssektors, in dem "Unterhaltung und Vergnügung von Belehrungs- und Repräsentationsverpflichtungen frei gestellt und in neuer Größenordnung als Marktsegment etabliert" werden. 39 In diesem Umfeld eignen sich Journal- und Kulturzeitschriften die "Spezialfunktion Überblick" 40 an und besetzen so eine Position, die auf ganz spezifische Formen von Integration und Synthese ausgerichtet ist. Dabei erlaubt es zuallererst ihr Erscheinungsrhythmus (wöchentlich bis jährlich), sich vom unmittelbaren Zeitgeschehen zu distanzieren undganz im Gegensatz zur auf Tagesaktualität verpflichteten Zeitung - längerfristige Prozesse in den Blick zu nehmen und dabei doch weitaus flexibler aufwichtige Ereignisse und Veränderungen zu reagieren als das Buch.

nes "public relations enterprise" funktioniert und deshalb das publizistisch geschulte Verfahren des "stereotyping" praktiziert, spezifische Presseverfahren zumindest am Rande in den Blick (D.A. Brenner: Marketing ldentities, S. 20, S. 51). 37 G. Frank/M. Podewski/S. Scherer: Kultur - Zeit - Schrift, S. 16. 38 Einen fundierten Überblick dazu liefert: Jäger, Georg: "Zeitschriften", in: Ders. (Hg. im Auftrag der Historischen Kommission), Geschichte des deutschen Buchhandels im 19. und 20. Jahrhundert. Band 1: Das Kaiserreich 187 1-1918. Teil 2, Frankfurt a.M.: Buchhändler-Vereinigung GmbH 2003, S. 386-522. - Zur Familienzeitschrift vgl. noch immer die materialreiche Analyse von Barth, Dieter: Zeitschrift für alle (Blätter für' s Volk). Das Familienblatt im 19. Jahrhundert. Ein soziahistorischer Beitrag zm Massenpresse in Deutschland, Münster: Universitäts-Verlag 1974. 39 Maase, Kaspar: "Einleitung: Schund und Schönheit. Ordnungen des Vergnügens um 1900", in: Kaspar Maase/Wolfgang Kaschuba (Hg.), Schund und Schönheit. Populäre Kultur um 1900. Köln/Weimar/Wien: Böhlau 200 1, S. 9-28, hier S. 28. 40 Der Begriff stammt von Gerhart von Graevenitz, der ihn für die spezifische Bildungsfunktion der Familienzeitsch1iften geprägt hat: " [... ] eingehüllt in das aufklärerische Ideal des ,Dialogischen' wird in die hochgradig ausdifferenzierte Kulturvielfalt die Spezialfunktion des ,Überblicks' eingeführt." (Graevenitz, Gerhart von: "Memoria und Realismus. Erzählende Literatur in der deutschen ,Bildungspresse' des 19. Jahrhunderts", in: Anselm Haverkamp/Renate Lachmann (Hg.), Memoria. Vergessen und Erinnern(= Poetik und Hermeneutik, Band 15), München: Fink 1993, S. 283-304, hier S. 286)

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An diese Zeitstruktur schließen sich bestimmte Präsentationsformen an: zum einen die Zusammenstellung verschiedenster Wissensformen, die sich im Zuge von Ausdifferenzierungsprozessenzerstreut haben und die hier- auf spezifische Weise aufbereitet- noch einmal für einen Überblick versammelt werden. Spezialdiskurse lassen sich so wieder allgemein verständlich und anschlussfähig(er) machen und vor allem in Deutungs- und Sinnhorizonte einstellen, auf die die professionalisierten Wissenschaften inzwischen verzichten können.4 1 Zum anderen geht auch die Kommunikationsgemeinschaft, die die Journal- und Kulturzeitschriften zu konstituieren suchen, auf Entdifferenzierung aus: Wie noch die Familienzeitschriften, die einen "mittelständischen Sozialtyp einer mehrere Generationen umfassenden, ökonomisch autarken Haus- und Familiengemeinschaft" modellieren, richten sich auch sie an einer "überständische[n] universelle[n] Kommunikationsnorm" aus42 und stützen sich dabei bevorzugt auf bildungsbürgerliche Werte: auf das Wahre und Wertvolle und auf das Dauerhafte und Wesentliche, das sich an Universalgrößen wie Geist, Natur, Menschheit oder schlichtweg dem Ganzen ausrichtet. Die Gemeinschaft, die sich über solche Bezüge konstituiert, kann sich zugleich unbetroffen fühlen von den Fragmentierungsprozessen moderner Industriegesellschaften, vor allem aber auch von den populären Massenkulturen, denen gegenüber sie sich im Rekurs auf Bildung mehr oder weniger deutlich als Elite von Kulturbewahrern profiliert. In diesem Rahmen präsentieren Journal- und Kulturzeitschriften dann ihr spezifisches Spektrum unterschiedlichster (Kultur-)Phänomene. Heterogenität ist hier dank der medienspezifischen Unabgeschlossenheit ohne strenge Regulierungsmechanismen zugelassen, so dass ein eigenständiges Spielfeld eröffnet ist, das - abhängig vom Zeitschriftentyp - begrenzt wird von j e unterschiedlichen Abständen zu Zeitung und Buch, zu Kunst, Markt und Freizeit, zu Hoch-, Populär- und Spezialistenkultu-

41 Hier liegt auch die historische Funktionsstelle fiir die Durchsetzung solcher Schreibformen wie der Weltanschauungsliteratur, des Essays und weiteren Formen der Popularisierung. Vgl. dazu die Beiträge des Sammelbandes von Wolfgang Braungatt/Kai Kauffmann (Hg.), Essayismus um 1900 (Beihefte Euphorion, Band 50), Heidelberg: Winter 2006. Außerdem Kauffmann, Kai: "Naturwissenschaft und Weltanschauung um 1900. Essayistische Diskursformen in den populärwissenschaftlichen Schriften Ernst Haeckels", in: Zeitschrift für Germanistik NF 15 (2005), H. l , S. 61-75 und die Beiträge in Carsten Kreischmann (Hg.), Wissenspopularisierung. Konzepte der Wissensverbreitung im Wandel, Berlin: Akademie-Verlag 2003. - Vgl. zudem auch Thome, Horst: "Weltanschauungsliteratur. Vorüberlegungen zu Funktion und Texttyp", in: Lutz Danneberg/Friedrich Vollhardt (Hg.), Wissen in Literatur im 19. Jahrhundert, Tübingen: Niemeyer 2002, S. 338-380. 42 G. Frank/M. Podewski!S. Scherer: Kultur - Zeit - Schrift, S. 18.

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ren und das dann bestückt wird von der mehr oder weniger großen Breite der präsentierten Themen und Formen. Diese komplexen Formen sind mit einem alleinigen Rekurs auf (jüdische) Identitätsbildung nicht erfassbar. Ost und West und Die Laubhütte etwa unterscheiden sich vor diesem Hintergrund nicht nur, weil die eine Zeitschrift nationaljüdisch und die andere orthodox ausgerichtet ist, sondern ganz entscheidend auch in ihrer medialen Präsentationsstruktur: Signalisiert Ost und West mit Leichtglanzpapier, festem Einband, gesondertem Titelblatt und zahlreichen Reproduktionen bildender Kunst Nähe zum gutbürgerlichen Jahrhundertwende-Journal, so Die Laubhütte mit Format, Umfang und Papierqualität Nähe zur Zeitung. In Ost und West überwiegen darüber hinaus essayistische Schreibformen, die Laubhütte argumentiert in ihren Abhandlungen deutlich spezialistischer und grenzt diese Texte zudem präziser von einem separiert gehaltenen Unterhaltungsteil ab. Damit haben die beiden Zeitschriften nicht nur unterschiedliche Ansichten vom Judentum, sie aktualisieren auch je verschiedene Zeitschriften-Optionen, die in einer ausdifferenzierten Presselandschaft zur Verfügung stehen, und sie besetzen dabei eine im historischen Medienumfeld je signifikante Position, auf der sie dann - und das ist entscheidend - auch unterschiedliches Wissen über Judentum produzieren, das sich nicht nur dem Inhalt, sondern vor allem auch der Form nach voneinander unterscheidet. Solche Formen der Ausdifferenzierung von Presseformaten und Pressefunktionen geraten auch dort nicht in den Blick, wo man zwar durchaus medienspezifische "Verarbeitungscodes"43 einkalkuliert, dabei aber mit ähnlich abstrakten und globalen Bestimmungen arbeitet, wie sie in der einsinnigen Fixierung auf jüdische Identitätsprobleme zur Anwendung kommen: Einmal ausdifferenziert, funktionieren die Massenmedien immer und allesamt auf die gleiche Weise - statt auf "Sinn" auf "Information" und "Unterhaltung" verpflichtet und an der Leirunterscheidung "interessant/langweilig" ausgerichtet. Damit aber sind wiederum weder synchrone noch diachrone Unterscheidungen möglich - zwischen Familienzeitschriften, Generalanzeigern, Illustrierten oder bilderlosen Rundschauzeitschriften etwa - alles Formen, die sich in diesem Segment j a finden lassen. Das historische Faktum dieser Vielfalt bleibt denn auch ebenso unerklärt wie Neugründungen oder die verschieden lange Lebensdauer einzelner Zeitschriften. Differenzierungen sind allenfalls nach dem Grad der Anpassung an die modernen massenmedialen Funktionsweisen möglich. 44

43 G. Butzer: Von der Popularisierung zum Pop, S. 11 7 u.ö. 44 Familienzeitschriften etwa täuschen nach Butzer mit ihren Archivierungstechniken und einer bis in die Erzähltexte hineinreichenden "Eliminierung von Reflexivität" noch Kommunikations- und Wissensformen vor, die den anonymen und immer auf "Neues" verpflichteten Massenmedien, in denen sie erscheinen, eigentlich widersprechen. Zeitschriften wie Pan und Jugend verweigern sich diesen Entwicklungen dann nicht mehr

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Beide Konzepte, sowohl das auf Identitätsbildung als auch das auf massenmediale Funktionsweisen ausgerichtete, liefern mithin keine Handhabe, die diachrone und synchrone Vielfalt an zeitschrifteninternen Organisationsformen angemessen zu beschreiben. Damit aber bleibt in jedem Falle das unberücksichtigt, was hier als das Spezifikum solcher Publikumszeitschriften, wie Ost und West eine ist, herauszustellen ist: ihre formale und thematische Vielfalt einerseits und die je spezifische Ordnung, die sich mit ihr herstellt, andererseits. Denn Zeitschriften sind komplexe Funktions- und Formenbündel, die formal unterschiedliche Textsorten versammeln - literarische und populärwissenschaftliche Texte etwa, dazu Essays, Nachrichten, Notizen und Werbung. Diese Textformen wiederum sind von verschiedenen Autoren verfasst und können zudem ein äußerst breites Themenspektrum abdecken. Daneben bieten Zeitschriften aber immer auch noch ebenso heterogenes Bildmaterial - Photographien, Werbeanzeigen, Karikaturen oder Reproduktionen bildender Kunst. Und schließlich kommt hier noch eine Fülle typographischer Gestaltungsoptionen zum Einsatz. Dass Zeitschriften aber eine solche Vielfalt auf solch vielfältige Weise präsentieren- eben das ist es, was ihre Medienspezifik ausmacht. Und eben hier liegt auch der Grund für die Unangemessenheit aller Versuche, sie als kohärente, doch noch auf einen Begriff zu bringende Einheiten zu konzipieren. Denn Zeitschriften funktionieren wie ,kleine Archive': 45 Im Zusammenbinden von Papierseiten und mit Heft- und nachträglichen Jahrgangsdeckeln werden sie zu ganz konkret materiell hergestellten Sammelorten, die zugleich auf eine eigene Weise sortiert und strukturiert sind: durch die Wahl der Themen und durch deren Verteilung auf bestimmte Argumentations-, Schreib- und Bildformen, durch interne Strukturierungsformen wie etwa die Graduierung von Relevanz über die Positionierung des Text- und Bildmaterials innerhalb von Heften und Jahrgängen, durch die Steuerung der Aufmerksamkeit auf Textsortendifferenzen mit Hilfe unterschiedlicher Markierungsformen, durch verschiedene Archivierungstechniken mit Registern und Inhaltsverzeichnissen oder durch die Nutzung verschiedener Möglichkeiten im Umgang mit Mediendifferenzen. Materialvielfalt und Gestaltungsoptionen erlauben es zudem, Funktionen und Bedeutungen immer zugleich auf mehreren Ebenen im Spiel zu halten: Themen und Darstellungsformen, Typographie und Rubrizierung müssen dabei nicht (und tun es in den seltensten Fällen) komplett kongruieren. Was auf der einen Ebene als Sonderfall markiert ist, kann auf einer anderen marginalisiert oder noch einmal in einerneuen Perspektive erscheinen. Auf diese Weise werden flexib-

und geben die traditionellen "Ansprüche auf Wissensverbreitung und Bildung" gänzlich auf, um nur noch unterhaltend zu sein (ebd., S. 120, S. 130).- Zur ausführlichen Kritik dieser Position vgl. G. Frank/M.Podewski/S. Scherer: Kultur- Zeit - Schrift, S. 35-41. 45 Näheres zum Konzept eines solchen ,Archivs' vgl. ebd.

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Je Verknüpfungen bestimmter Themen mit bestimmten Formen erstellt - ganz grundlegend mit den Zeichensystemen Schrift und Bild, ebenso aber auch mit literarischen und sonstigen Text- und Bildgattungen. Und damit präsentieren Zeitschriften nicht nur thematisch mehr oder weniger Verschiedenes, implizit geht es in ihnen immer auch darum, welche Reichweite und welche Zuständigkeiten den vorkommenden Darstellungsformen angemessen sind und welche Beziehungen zwischen ihnen bestehen können. Mit solchen komplexen settings aber werden Zeitschriften zu Verhandlungsorten, an denen unterschiedlichstes Wissen und differente Normen und Werte im Neben-, Mit- und Ineinander der verschiedensten Formen präsentiert werden können. Gerade das aber ist es, womit sie innerhalb von Kulturen eine eigene spezifische Funktionalität ausbilden: Sie schaffen Kontaktzonen, um Wissensflüsse und Wissensgenesen zu ermöglichen. 46 Und wie die Geschichte des Mediums zeigt, wird hier nach und nach das gesamte Spektrum vermessen, das von der bunten Illustrierten bis hin zur Buchanmutung reichen darf und für das seit dem ersten Drittel des 19. Jahrhunderts ganz offensichtlich ein stetig steigender Bedarf besteht. Mit abstrakten Aprioris kommt diese medienspezifische Funktionalität nicht in den Blick. Denn mit ihnen gibt es nur eine Funktion, die unmittelbar und uneingeschränkt auf alle Zeitschriftenelemente durchschlägt und die sich flir die komplexen Binnenordnungen, auf die es dieser Studie gerade ankommen wird, erst gar nicht interessiert. Hier "unterhält" im Grunde ein Gedicht auf die gleiche Weise wie ein Erzähltext oder eine populärwissenschaftliche Abhandlung wie die Rätselecke. Und jüdische Identität lässt sich mit einem Drama ebenso modellieren wie mit W erbeanzeigen oder einem Leitartikel zur Lage der Juden in Russland. Im Dunkeln bleiben muss dabei gleichwohl, warum Zeitschriften eigentlich eine solche Vielfalt an Formen für ein und dieselbe Funktion ausbilden. Und wenn auch das auf dem Konto der Unterhaltung verbucht werden soll (das Identitätsmodell kann diese Frage nicht beantworten), so bliebe noch immer die Frage nach den hier eingespeisten Bedeutungen übrig, um die es in Massenmedien in dieser Perspektive freilich per dejinitionem nicht mehr geht. Mit ähnlich guten Gründen, mit denen man daran zweifeln kann, dass die jüdischen Identitätsprobleme reibungslos die Schwelle des Mediums Zeitschrift passieren, lassen sich Einwände gegen die Vorstellung erheben, diese Probleme diffundierten nun innerhalb des Mediums auch noch ohne Weiteres in die Literatur. Fasst man

46 Vgl. dazu: Frank, Gustav/Podewski, Madleen: "Denkfiguren. Prolegomena zum Zusammenhang von Wissen(schaft) und Literatur im Vormärz", in: Diess. (Hg.), Wissenskulturen des Vormärz(= Jahrbuch des Forum Vormärz Forschung 2011), Bielefeld: Aisthesis 2012, S. 11-53.

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auch die Literatur, die in Zeitschriften abgedruckt wird- und warum sollte man das nicht tun -, als ein sekundäres modellbildendes semiotisches System, so kommt man nicht umhin, den literarischen Textverfahren allesamt - von der Organisation der erzählten Welten, der Figurenkonstellationen, der histoire, den diversen Verfahren des discoursund der Figurencharakteristik, dem Verhältnis von Haupt- und Nebentexten, den Textpragmatiken bis hin zu Metrik, Reim und Strophenbau- eine konstitutive Rolle beim Bedeutungsautbau zuzusprechen und sie nicht etwa nur als Dekor aufzufassen, auf das man nicht unbedingt Rücksicht nehmen muss. Damit aber modellieren auch diese literarischen Texte nicht nur dem Inhalt nach, sondern vor allem mit ihren Darstellungsformen eigene, eben genuin literari sche Welten. Eine solche literarische Prägung jüdischer Identitätsproblematik haben nun zwar eine ganze Reihe von Arbeiten, die sich (nicht nur) mit Zeitschriftenliteratur beschäftigen, durchaus im Blick - und das signifikanter Weise hauptsächlich dort, wo die Texte detaillierter in den Blick genommen werden: Das gilt vor allem für die sorgfaltigen Interpretationen von Horch, Krobb und Hess, die zumeist an Erzählliteratur zeigen, wie etwa historische Romane und Ghettogeschichten die Verhältnisse zwischen traditionellem und modernem Nach-Ghetto-Judentum modellieren und moderieren, in Rekonversionserzählungen Krisenbewältigungsmöglichkeiten vorfuhren und/oder Grenzen ftir die Beziehung zu Nichtjüdischem austesten - indem sie diese Konflikte an Lebensgeschichten von Figuren in bevorzugt familiären und/oder erotischen Konstellationen verhandeln. 47 Gleichwohl werden aber auch die hier gewonnenen Befunde immer wieder auf Identitätsbildungsfunktionen rückbezogen - zuweilen mit einiger Gewaltsamkeit wie etwa bei Brenner, der Vicki Baums pessimistische Ghettoerzählung "Rafael Gutmann" nur unter großen Schwierigkeiten mit dem Zweck vermitteln kann, dem sie dienen soll: Mitleid und Fürsorge bürgerlicher Jüdinnen für Ostjuden zu wecken.48 Solche deutlichen Bezüge auf die Identität und - damit unmittelbar ver-

47 F. Krobb: Selbstdarstellungen; F. Krobb: Kollektivautobiographien; J. Hess: Middlebrow Literature; H.O. Horch: Auf der Suche nach der jüdischen Erzählliteratur. - Mit nicht spezifischem Blick auf Zeitschriftenliteratur gilt Ähnliches für Ernst, Petra: "Christlichjüdische Liebesbeziehungen als Motiv in deutschsprachiger jüdischer Erzählliteratur zwischen 1870 und 1920", in: Klaus Hödl (Hg.), Jüdische ldentitäten. Einblicke in die Bewusstseinslandschaft des Österreichischen Judentums, lnnsbruck!Wien/München: Studien-Verlag 2000, S. 209-242. 48 " Where do Jewish women readersfit into this picture? [... ] Materially and spiritually impoverished, weak and unmannly, he [Rafael Gutmann, der Protagonist der Erzählung, M.P.] practically cries out for rescue from the ghetto. Through Western culture, Rafael hopes to breakout his stiffling milieu, [... ]not unlike Baum and the female readers who may have identified with him." (D.A. Brenner: Marketing ldentities, S. 123). Wird schon

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knüpft- auf die Herkunft von Autorinnen und Autoren haben gerade im Umfeld der Forschung zur deutsch-jüdischen Literaturgeschichte eine besondere Tradition. In den vielfältigen Versuchen, deutsch-jüdische Literatur als einen eigenständigen Bereich der deutschen Literaturgeschichte einzukreisen, spielen sie eine zentrale Rolle und sind bis heute konstitutiv für entsprechende Definitionen geblieben. 49 Das mag mit dazu beigetragen haben, dass sich konsequent Iiteratur-, medien- oder wissensgeschichtliche Perspektiven in diesem Segment bislang nicht so recht durchzusetzen vermochten - vor allem dort nicht, wo explizit von Judentum die Rede ist. Der alleinige Bezug aufjüdische Identitätsprobleme bleibt dabei aber doch ein hoch selektives Verfahren, das den literarischen Texten als Literatur nicht gerecht werden kann - vor allem deshalb nicht, weil man hier unter der Hand davon ausgeht, dass sie von Subjekten für Subjekte gemacht sind und weitgehend auch nur unter ihrem Regime produziert und rezipiert werden. Unberücksichtigt bleiben dabei alle Faktoren und Prozesse, die nicht auf solche Weise identitär zurechenbar sind: zual-

an dieser Stelle auf Ähnlichkeiten mit Baums eigener Biographie verwiesen, die allerdings nur sehr vage in der Befreiung aus bedrückenden familiären Verhältnissen und ähnlicher musikalischer Begabung bestehen, so muss der pessimisti sche Ausgang (Rafacl stirbt) und die negati ve Schilderung des Ghettomilieus mit noch weitergehenden Ausgriffen entschärft werden : Die Reproduktionen bildender Kunst, die auf denselben Seiten abgedruckt werden, appellieren nach Brenner an fürsorgliche Haltungen, die Photographien orientalischer Juden balancieren Rafaels Schwäche mit Bildern von starken Juden aus (S. 124-132). Zusammengefasst wird die Interpretation schließlich so: "ln the end, however, ,Rafael Gutmann' was too multivalent for any single interpretative framework. Ost und West's audience of German-Jewish women (and men) was thus free to identify with and then dissociate itself from the Eastem Jewish boy-artist. [...] These fictions ironically empowered Western Jewish women (and men) to escape their own inner ghettos by means of Jewish antisemitism." (S. 13lf.) - Zu einer alternativen Interpretation der Erzählung und des Heftumfeldes vgl. Kapitell.! dieser Arbeit. 49 Für Andreas B. Kilcher etwa ist die "jüdische Selbstbestimmung" - die zur jüdischen Herkunft dazu kommen muss - konstitutiv für die Aufnahme der Autoren in das von ihm herausgegebene Lexikon zur deutsch-jüdischen Literatur. Gefragt werden soll, "wie sie mit ihrem Schreiben auf je eigene und unterschiedliche Weise an der jüdischen Selbstbestimmung der Modeme partizipiert haben." (Kilcher, Andreas B.: "Einleitung", in: Ders. (Hg.), Lexikon der deutsch-jüdischen Literatur. Jüdische Autorinnen und Autoren deutscher Sprache von der Aufklärung bis zur Gegenwart, Frankfurt a.M: Suhrkamp 2003, S. V-XX, hier S. XV)- Einen Überblick über die unterschiedlichen f ormen der Relevanz der jüdischen Herkunft in der Forschung zur deutsch-jüdischen Literaturgeschichte liefern: Haug, Christine/Mayer, Franziska/Podewski, Madleen: "Einleitung", in: Diess., Populäres Judentum, S. 1-17, v .a. S. 8ff.

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lererst die Regularien des Literatursystems selbst und darüber hinaus die komplexen Kontextbeziehungen, die Literatur mit Wissen(schaft) und anderen Bereichen einer Kultur eingeht. Damit soll hier nicht behauptet werden, deutsch-jüdische Literatur hätte mit deutsch-jüdischer Identität nichts zu tun, aber die Identitätsmodelle, die sie entwirft, dienen nicht ausschließlich der Identitätsbildung, und sie funktionieren deshalb auch nicht ausschließlich nach deren Mustern: Die deutsch-jüdische Literaturgeschichte ist ebenso wenig wie die deutsch-jüdische Pressegeschichte bloßes Kophänomen einer Problemgeschichte deutsch-jüdischer Identität, sondern Teil weitaus komplexerer Entwicklungen. 5°

Ost und West besteht aus einem ganzen Bündel unterschiedlicher Text- und Bildformen: Die Zeitschrift präsentiert mehrere hunde1t längere Abhandlungen, die sich nicht nur kulturzionistischen Positionen zurechnen lassen, sondern unterschiedlichste Probleme des Judentums reflektieren und debattieren, vor allem zwischen 1901 bis 1913 finden sich kleinere Beiträge, die zum Teil unter Rubriken wie "Literarisches und Miscellen", "Literarische Rundschau", "Revue der Presse", "Kriegsliteratur" oder "Aus der philosophischen Literatur" zusammengestellt werden und informatorischen und/oder rezensierenden Charakter tragen, dazu kommen zahlreiche Nachrufe auf wichtige jüdische Persönlichkeiten, von 1907 bis 1914 ist der Zeitschrift das Vereinsblatt der deutschen Sektion der Alliance Israelite Universelle mit Berichten aus dem Vereinsleben und über Schul- und Kolonisierungsprojekte vor allem im Nahen Osten beigefügt, außerdem finden sich ca. 180 Erzähltexte, elf Dramen und ca. 150 Gedichte, in den Anfangsj ahren eine regelmäßige Schachecke, mehrere hundert Reproduktionen bildender Kunst, Noten, ethnographische Photographien von exotischen Juden oder von volkskundlichen Ausstellungsgegenstän-

50 Literaturgeschichtliche Entwicklungen hat bereits Horch berücksichtigt (H.O. Horch: Auf der Suebe nach der jüdischen Erzählliteratur). - Krobb schlägt in der Zusammenfassung seiner Untersuchungen deutsch-jüdischer Erzählliteratur aus dem Zeitraum zwischen 1834-1 908 einen Mittelweg vor: "Daß sprachlich-ästhetische oder gattungstheoretische Kriterien allein zum Verständnis einer deutsch-jüdischen Literatur zu eng sind, hat die bisherige Untersuchung wohl zweifelsfrei ergeben. Daß eine rein inhaltlich-thematische Betrachtung dieses Kanons ebenfalls wichtige Dimensionen unberücksichtigt lässt, haben die zahlreichen Bezugnahmen auf den allgemeinen Kontext der deutschsprachigen Literatur, auf Gattungskonventionen und auf Leitfiguren aus dem deutschen Kulturbereich gezeigt." (F. Krobb: Selbstdarstellungen, S. 17 1). - Ähnlich argumentiert M.H. Gelber: Melancholy Pride, S. 8: "Points of reference, intertextual associations, and the reception history of specific works within German Cultural Zionism are intimately related to, and need to be understood as part of Central European Iiterature and culture, while at the same time they nmst be considered an integral part of Jewish cultural history."

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den und von archäologischen Expeditionen, schließlich mehrere hundert Seiten Werbeanzeigen, die jenseits jüdischer Identitätsproblematiken hauptsächlich Waren des gehobenen Bedarfs anpreisen, darüber hinaus aber auch koscheren Sanatorien, Hotels und Restaurants gelten. Diese Vielfalt soll in den folgenden Untersuchungen nicht auf abstrakte mediale Funktionslogiken zurückgeführt und auch nicht als Ausdruck eines erstarkten jüdischen Selbstbewusstseins gedeutet werden - sie würde hinter beidem sofort wieder verschwinden. Sie wird stattdessen als sie selbst als ein Medienspezifikum herauszustellen sein, als charakteristisches Merkmal einer Kulturzeitschrift, die Heterogenes präsentiert und auf eine eigenständige Weise verarbeitet. Dabei ist das komplizierte Geflecht aus Themen und Darstellungsformen, aus dem sich Ost und West zusammensetzt, zwar hauptsächlich auf Judentum bezogen und die von der Forschung so sehr hervorgehobenen kulturzioni stischen Positionen spielen durchaus eine wichtige Rolle - aber was hier entsteht, ist komplexer und eigensinniger zugleich: ein aus 23 Jahrgängen mit ca. 260 Einzelheften bestehendes Archiv eigener Ordnung - gebildet aus dem Spektrum an Bedeutungen, das erst im großen Text- und Bildkorpus der Zeitschrift möglich wird, gebildet aus der spezifischen Art und Weise, wie Texte, Bilder, Typographie, Argumentations- und Präsentationsformen auf die verschiedenen Themenkomplexe der Zeitschrift verteilt werden, und gebildet schließlich aus zeitschrifteninternen Organisationsformen wie Heftgestaltung und Rubrizierungen in Heft- und Jahresinhaltsverzeichnissen, die das gesammelte Material für Speicherungen aufbereiten. Auf die Ordnung, die auf diese Weise entsteht, richtet sich das Interesse dieser Studie: auf eine Ordnung mithin, die zwar nicht so eindeutig und nicht so streng durchgehalten ist wie etwa in thematisch und formal viel homogeneren Fachzeitschriften, Büchern oder Almanachen, die aber doch ihre Grenzen und ihre angehbaren Strukturen hat. Die Ausrichtung aufs Judentum, die die Zeitschrift deutlich zeigt, verweist dabei nicht auf Identitätsbildung schlechthin, sondern sie ist in ein signifikantes Set von Teilfunktionen überfühlt und erhält so ein spezifisches, der Kulturzeitschrift qua Pressegattung zukommendes Maß an Flexibilität, das herausgearbeitet werden soll - an eben diesen verschiedenen Themen und Formen und den Regeln des Sagens und Zeigens, die sie dirigieren. Damit aber wird schließlich beobachtbar, wie Judentum in einem bestimmten Printsegment der deutschjüdischen Öffentlichkeit zum Gegenstand konkreter medienspezifischer V erhandlungen wird: unter dem nur hier möglichen Einbezug ganz verschiedener, auch widersprüchlicher Optionen und vor allem nicht unter dem Zwang zu sinnhafter Kohärenz und zur Rückrechenbarkeit auf die Wünsche und Intentionen von Subjekten. Die Literatur spielt für Ost und West eine zentrale und konstitutive Rolle: Die Zeitschrift ordnet sich damit in pressegeschichtliche Entwicklungen ein, die der deutsch-jüdische Sektor zu guten Teilen und mit einiger Verspätung seit den 1880er Jahren mit vollzieht: Auch er reagiert schließlich auf gewandelte, von Massen- und

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Populärkulturen geprägte Öffentlichkeiten und öffnet sich einem weniger spezialistisch interessierten Publikum, indemer-nach dem Vorbild der erfolgreichen Familienzeitschriften und Illustrierten- unterhaltende Elemente entweder, wie im Gründungsboom der 1880er und 1890er Jahre, von vomherein in den Aufbau der Zeitschriften einkalkuliert, oder aber indem er sie nachträglich neu in sich aufnimmt. 51 Vor allem die Erzählliteratur gewinnt hier so sehr an Bedeutung, dass man für die 191 Oer Jahre sogar von einer "Roman-Hausse" 52 hat sprechen können. Ebenso wichtig aber wird die kritische Auseinandersetzung mit ihr- regelmäßige Rezensionsrubriken, Bücherrundschauen und Leselisten zeigen das ebenso deutlich wie die prinzipiellen Debatten um Möglichkeiten und Grenzen einer genuin jüdischen Literatur. 53 Sie wird dabei aber nicht gänzlich ftir Unterhaltungszwecke freigegeben auch die jüdischen Zeitschriften führen ihren Kampf gegen Schmutz und Schund-, sondern mit mehr oder weniger deutlich artikulierten didaktisch-erzieherischen Ambitionen befrachtet. Auch Ost und West sieht die Kunst, die sie präsentieren will, von Anfang an in der Pflicht, ein "innerlich gefestigtes und geheiligtes, treues und fruchtbares jüdisches Leben" 54 zu begünstigen. Darüber hinaus suchen einige Zeitschriften eine moderne jüdische Literatur zu befördern, die die akuten Identitätsprobleme eines postemanzipatorischen Judentums in sich aufnimmt - so auch Ost und West, wo 1902 ein Preisausschreiben für eine "Novelle oder Erzählung" veranstaltet wird, die "ein[ en] literarische[ en] Beitrag zur Psychologie des modernen Judentums" bieten soll: "Eines der tieferen Probleme, die die Juden unserer Tage bewegen, soll erfasst und ein Ausschnitt aus dem individuellen, gesellschaftlichen, kulturellen oder politischen Beziehungen der modernen Juden gegeben werden."55 Literatur erhält im Umfeld der deutsch-jüdischen Zeitschriften insgesamt und auch in Ost und West ohne Zweifel also schon von den Zeitgenossen selbst eine hohe Relevanz zugesprochen. Die zeitgenössischen Begründungen dafür spielen für die Textinterpretationen dieser Studie gleichwohl keine Rolle, ebenso wenig wie ein Rekurs auf identitätsbildende Rezeptionseffekte, die ohnehin nicht ohne Spekulationen zu haben sind und die deshalb meistens - und unterschwellig im Zirkel-

SI Gerrauer dazu vgl. M. Podewski: Judentum als Unterhaltung, S. 130-141. 52 Shedletzky, ltta: Literaturdiskussion und Belletristik in den jüdischen Zeitschriften in Deutschland 1837-1918. Unveröffentlichte Dissertation, Jerusalem 1986, hier S. 86 (lch danke der Autorirr sehr für die freundliche Überlassung des Manuskripts). 53 Dazu ausfuhrlieh am Beispiel der Allgemeinen Zeitung des Judentums H.O. Horch: Auf der Suche nach der jüdischen Erzählliteratur. 54 [anonym]: ",Ost und West"', in: Ostund West I (190 1), H. I, Sp. 1-4, hier Sp. 1-2. 55 [anonym]: " Unsere Preisausschreiben", in: Ost und West 2 (1902), H. 2, Sp. 129-130, hier Sp. 129.

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schluss - aus den Texten selbst extrahiert werden (müssen). Vielmehr wird es um eine sorgfältige Rekonstruktion der Bedeutungsorganisation der lyrischen, dramatischen und erzählten Welten gehen, die von der Zeitschrift offeriert werden. Welche Rolle die dann in Ost und West spielen, lässt sich nur mit Blick auf die unterschiedlich komplexen Gefüge der Zeitschrift beantworten: Ob Literatur etwa die These eines Essays in einer Erzählung an einer Figur individualisierend veranschaulicht, modifiziert oder widerlegt, ob sie Wissen mit Werbeanzeigen oder Bildmaterial teilt, ob die Zeitschriftenhefte solche Differenzen und/oder Gemeinsamkeiten dann auch typographisch oder in ihren Inhaltsverzeichnissen markieren oder ob eben das auf der Ebene des Layouts und im Jahresinhaltsverzeichnis gar nicht wichtig ist all das muss in Einzelanalysen allererst geklärt werden. Die vielgliedrige Binnenstrukturierung der Zeitschrift macht es erforderlich, dass hier gleich ein ganzes Ensemble an Faktoren einzukalkulieren ist; aus der periodischen Erscheinungsweise ergibt sich zudem eine Stufung von Zeitschrifteneinheiten, die vom Medium selbst materiell und paratextuell markiert sind- al s Einzelheft, als Jahrgangsbindung und als das Gesamt der Zeitschrift über den Erscheinungszeitraum von 1901 bis 1923 hinweg. Medienbedingt entstehen so verschi edene Gruppierungen, in die Literatur eingebettet ist und in denen ihre Funktionalität j eweil s anders bestimmt sein kann. So ist in dieser Studie die Rolle der Literatur also konsequent innerhalb der Zeitschrift zu bestimmen: um nicht von dem auszugehen, was man von Zeitschriftenliteratur angeblich immer schon weiß, sondern um allererst herauszufinden und dann zu zeigen, welche eigenen Vorschläge eine Zeitschrift zum Status von Literatur generieren kann. Das soll an zwei der möglichen Zeitschriftenumgehungen von Literatur geschehen: mit der Medieneinheit des Einzelheftes zum einen und mit der der gesamten Zeitschrift zum anderen. Die Untersuchung von Einzelheften wird dabei in drei Stichproben vorgenommen, deren Auswahl nicht mit Blick auf eine chronologische oder eine thematisch-konzeptionelle Ordnung- etwa um Entwicklungen oder Konstanzen aufzuzeigen - getroffen wurde. Mit ihnen ist vielmehr pointiert aufzuzeigen, wie fl exibel Literatur innerhalb einer Zeitschrift einsetzbar ist. Daraus folgt nicht, dass j edes einzelne Heft immer auch einen neuen Vorschlag für die Rolle von Literatur unterbreitet - mit Sicherheit hätten sich hier auch Wiederholungsmuster herausarbeiten lassen. In Anbetracht der herrschenden Forschungslage, die deutlich vom Interesse am Gleichen und Konstanten geprägt ist, scheint diese - zugegebenermaßen kontingente - Fokussierung auf Differenzen gleichwohl gerechtfertigt (Kapitel 1.1 bis Kapitel 1.3). Der zweite Blick richtet sich auf die Medieneinheit der gesamten Zeitschrift und erfordert zunächst die Analyse des großen Korpus an Literatur, das in Ost und West abgedruckt ist (Kapitel 2.1 ). Hier wird sich recht schnell bestätigen, was sich schon in der Analyse der Einzelhefte andeutet: dass zwar noch die Darstellungsgegenstände der Literatur - biblisches und ostjüdisch-orthodoxes Judentum zumeist - den kulturzionistischen und nationaljüdischen Proj ekten der Redakteure entsprechen, in

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keinem Fall mehr aber die von Pessimismus und schweren Krisen geprägten Handlungsverläufe und die Darstellungsstrategien, die in der Lyrik sogar aus dem Judentum herausführen können. Zu verknüpfen sind diese Beobachtungen dann mit einer Analyse der nichtliterarischen Abhandlungen, die den größten Teil der Zeitschrift ausmachen und die sich ausschließlich, aber variantenreich mit dem Judentum beschäftigen (Kapitel 2.2). Die konservativen Konzepte von Subjektautonomie, Geschichte, Gemeinschaft, Realität und Repräsentation, die sich hier werden herauspräparieren lassen, erweisen sich schließlich mit Blick auf den gesamten Materialbestand der Zeitschrift als eine von mehreren möglichen Formen, die in Ost und West für die Auseinandersetzung mit typischen Phänomenen der Modem e zur Verfügung stehen. Und in diesem Umfeld ergibt sich dann auch die Rolle der Literatur: nicht als Funktionserftiller für das Identitätsbegehren von Redakteuren und Rezipienten, sondern als Funktionsstelle innerhalb von komplexen Medienordnungen, in denen das Verhältnis zwischen Judentum und Modeme ausgehandelt wird (Kapitel 2.3).

Ich möchte mich bedanken: Zuallererst - und zwar für alles - bei Peter Podewski, datüber hinaus bei Dorit Brandwein-Stürmer für vielfältige und herzliche Unterstützung, bei der Minerva-Stiftung und beim Berliner Programm zur Förderung der Chancengleichheit von Frauen in Forschung und Lehre für die Gewährung von Stipendien, bei Christine Haug, Helmut Schwarz, Uwe J app und Hans Otto Horch ftir beständiges Interesse und Förderung, bei Gustav Frank für dauerhafte Diskussionsbereitschaft, bei Andreas Blödom und Wolfgang Lukas für die kritische Lektüre einzelner Kapitel und beim Festsaal Kreuzberg für wirksame Zerstreuung.

1. Medieneinheit 1: Literatur im Einzelheft

Die Leistungen von Zeitschriftenliteratur ergeben sich allererst, so die Prämisse dieser Studie, innerhalb des kleinteiligen Zeitschriftengefüges - mit Blick auf die Einzelhefte mithin in Abhängigkeit vom jeweils angebotenen Themenspektrum, von der Länge der Beiträge und von ihrem Rededuktus, vom Bildmaterial und seiner Positionierung in den Heften, vom Umfang der Werbeanzeigen und von der typographischen Gestaltung und von der Binnenstrukturierung insgesamt. Und so variieren in dem Grade, in dem die Zusammensetzung der einzelnen Hefte differiert, auch die Rollen, die Literatur dort jeweils spielen kann. Welches Spektrum dabei möglich wird und auf wie vielschichtige Weise sich Literatur mit ihrer Heftumgebung vernetzt, soll hier an drei Beispielen zumindest angedeutet werden: zuerst und in exemplarischer Ausführlichkeit an einem Text von Vicki Baum, der in den beiden ersten Heften des 1911er Jahrgangs abgedruckt wird und vom Scheitern eines jungen Ghettojuden erzählt, der sein musikalisches Talent weder innerhalb noch außerhalb seines jüdischen Herkunftsraumes entfalten kann und am Ende sterben muss. Die sorgfältige Analyse der Erzählung wird aufkomplexe Bedeutungsstrukturen stoßen, in denen der tödliche Konflikt des Protagonisten merkwürdig diffus und überdeterminiert erscheint. Er ist von Versatzstücken verschiedener Erzählmuster geprägt, in denen sich Jüdisches und Nichtjüdisches, Kunst, Kommerz und Judentum und rückständiges Ghetto und moderne Stadt ebenso einander gegenüberstehen wie ein ekstatischer Außenseiter seinen mittellagig-angepassten Mitmenschen. Hier wird zu zeigen sein, wie eben diese Überfrachtung, die die präzise Bestimmung eines Grundkonfliktes fast unmöglich macht, eine spezifische Leistung innerhalb der kleinteilig zusammengesetzten beiden Zeitschriftenhefte erbringt, die sich mit ähnlichen Themenkomplexen beschäftigen. Sie liefem ein Spektrum aus ganz unterschiedlichen Offerten für den Umgang mit jüdischer Kunst, mit Marktregularien und vor allem für das Verhältnis zwischen Jüdischem und Nichtjüdischem. In diesem Umfeld fungiert der Erzähltext hauptsächlich als eine Dekuvrierungsinstanz, mit der gerade das, was in den außerliterarischen Verhandlungen des Jüdischen un-

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ausgesprochen bleibt, auf eine sehr mittelbare und intrikate Weise ins Spiel gebracht werden kann. Als ein zweites Beispiel sei dann das erste Heft der Zeitschrift gewählt, das sich -unter anderem mit zwei exponiert gesetzten Programmartikeln - deutlich der jüdischen Renaissance zuordnet und dafür hauptsächlich und in immer neuen thematischen Varianten das Verhältnis zwischen "altem" und "neuem" Judentum zu klären versucht. Dabei teilt die Literatur - es handelt sich um einen Erzähltext und zwei Gedichte - grundlegende Prämissen der nichtliterarischen Texte. Eine Differenz ergibt sich hier dann erst auf der Ebene der heftinternen Zusammenstellung von Lyrik und bildender Kunst, auf der bestimmte Themenkomplexe in Neben- und Unterordnungen als auf verschiedene Weise darstellbar präsentiert werden. Damit zeigt sich Literatur hauptsächlich - und gänzlich anders als in den beiden 1911 er Heften -als Formvariation eines jüdischen Themas und als ein genuin ästhetisches Objekt. Diese Sonderstellung unterstreicht das Heft zudem typographisch - auch das im Unterschied zur Erzählung von 1911, deren gravierende konzeptionelle Abweichung im Layout keinerlei Rolle spielt. Schließlich und als drittes Beispiel soll das letzte Heft der Zeitschrift betrachtet werden, in dem Literatur nicht mehr eigenständig abgedruckt, sondern nur noch fragmentiert zitiert wird, und zwar in einem Beitrag über einen jüdischen Minnesänger. Den deutlich dominanten thematischen Schwerpunkt dieses Heftes bildet der Versuch, die jüdische Differenz unter der Prämisse der Kompatibilität mit Umgebungskulturen und vor allem mit allgemein akzeptablen Normen und Werten herauszustellen. Verhandelt wird er ausschließlich im Texttyp der diskursiven Abhandlung, der fast das gesamte Heft prägt und nur noch ergänzt wird um eine Sammlung talmudischer Sprüche und um die Werbeanzeigen. In diesem Umfeld erbringt Literatur erneut eine andere Leistung: Statt wie in den ersten beiden Fällen konzeptionelle oder formale Alternativen in der Beschäftigung mit Judentum vorzuschlagen, ist sie hier explizit und unmittelbar für eine nicht genuin literarische Argumentationsfmm funktionalisiert, ihre Eigenständigkeit wie ihr Werkcharakter sind dafür aufgebrochen: Für das Problem, das das Heft hauptsächlich bearbeitet, kann sie keine spezifischen Lösungen oder Modeliierungen mehr anbieten, zugleich aber bestätigt sie doch die Thesen, die außerhalb ihrer aufgestellt werden.

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"RAFAEL GUTMANN" (OST UND WEST UND HEFT

1911,

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Die Erzählung "Rafael Gutmann" von Vicki Baum erscheint 1911 in zwei Folgen im Januar- und Februarheft der Zeitschrift Ost und West. 1 Erzählt wird die Geschichte eines jungen Juden, der in einer Art Ghetto aufwächst, zufällig Chorjunge im angrenzenden reformierten Tempel wird und dort Bekanntschaft mit einem blinden Organisten und einer blonden Christirr macht. Hier erhält er heimli ch Musikunterricht, musiziert und besucht fast täglich Kon zerte und Opern in der nahe gelegenen Stadt, Wagners Meistersinger beherrscht er schließlich auswendig. Dieser für Rafael außerordentlich glückliche Zustand wird jäh beendet, als der Stimmbruch eintritt, er den Chor verlassen muss und der Vater ihn in die Lehre zu einem befreundeten Kaufmann in der Gasse gibt. Für Rafael ist das eine Katastrophe; zudem verweigert der Vater auch kleinste Zugeständnisse an sein Musikerleben und behält ihn unter strenger Aufsicht. Unter solchen Bedingungen ist Rafael nun dem Einfluss der Judengasse ausgesetzt und gleicht sich langsam, aber unaufhaltsam seiner Umgebung an, zunächst in seiner äußeren Erscheinung, dann aber auch innerlich: Die Musik, anfangs noch im Traum präsent, verschwindet schließlich auch aus den untersten Schichten seines Bewusstseins. Ein zweiter Bruch im Handlungsverlauf geschieht, als Rafael eines Winterabends beim Tütenkleben im Kaufmannsladen zufällig auf die Besprechung einer Fidelio-Aufflihrung stößt. Das Zeitungsfragment löst eine Art Erweckung seiner früheren Musikerexistenz aus; ohne zu zögern macht er sich noch am seihen Abend auf den Weg in die Oper in der Stadt. Auf den alten Stammplätzen trifft er dort auf seine beiden ehemaligen Mentoren, den Orgelspieler Menkis und die Christin Corinna, die inzwischen ein Paar geworden sind. Die Musik von Wagners Tristan, die nun aufgeführt wird, führt Rafael in eine extreme emotionale Erschütterung, mit der die Apathie des letzten Jahres in der Judengasse eruptiv durchbrachen wird. Zugleich stellt sich aber im Anschluss - parallel zur Entscheidungssituation vor der erzwungenen Kaufmannslehre - erneut die existentielle Frage nach dem weiteren Verlauf des eigenen Lebens. Zunächst wieder zum väterlichen Haus zurückkehrend, verlässt Rafael die Gasse doch wieder fluchtartig; im ziellosen, sich immer mehr in eine Art fiebrigen Rausch hineinsteigernden Herumirren im Niemandsland zwischen Stadt und Judengasse gerät er schließlich auf ein weites Schneefeld - Bahnschienen und ein nahender Zug deuten schließlich seinen wahrscheinlichen Tod an.

Baum, Vicki: "Rafael Gutmann", in: Ost und West II (1911), H. I, Sp. 37-50; H. 2, Sp. 131-144 (Im Folgenden werden alle kurz nacheinander häufiger zu belegenden Texte im laufenden Text mit Kürzel und Angabe der Spaltennummer zitiert).

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Die kleine Erzählung verhandelt ganz offenbar ein weiteres Mal einen zu Beginn des 20. Jahrhunderts bereits topisch gewordenen, in der deutsch-jüdischen Belletristik vonBeginan zentralen Problemkomplex: die Frage nach der Vereinbarkeit von traditionellem (orthodoxem) Judentum und nichtjüdischer (moderner) Kunst. Rafael scheint dabei eine der typischen Grenzüberschreitungsfiguren zu sein, die - wie etwa Sender Glatteis in Franzos' Der Pojaz- für die so sehr ersehnte Kunst ihre jüdischen Herkunftsmilieus verlassen (müssen), schließlich aber in Krankheit und Tod enden. 2 Für ihn ergibt sich der Konflikt aus dem nicht zu überbrückenden Gegensatz zwischen dem in der Judengasse für ihn vorgesehenen Kaufmannsberuf und einem nur in der Stadt zu führenden Dasein als Musiker. So ist in seinen eigenen Zukunftsphantasien die Künstlerexistenz ohne Zweifel an das Verlassen der Gasse geknüpft: "[ ... ]und dann hatte er genug Musik gelernt und ging aus der Gasse fort, hinaus in die Stadt, ein freier Mensch, ein Künstler [ .. .]" (Rafael, Sp. 47). Und so erhält der wechselseitige Ausschluss der beiden Lebensbereiche die gleichfalls typische existentielle Dimension, wenn Rafael seinem Vater gegenüber behauptet, "zugrund" zu gehen, "wenn [er] nicht da [aus der "Gasse", M.P.] heraus kann." (Rafael, Sp. 4 7) Schon diese rigide Entgegensetzung scheint jeder Möglichkeit einer Vermittlung zwischen Kunst und Judentum eine entschiedene Absage zu erteilen - ebenso, wie der Tod Rafaels offenbar die verheerenden Konsequenzen einer Grenzüberschreitung vom Jüdischen ins Nichtjüdische aufzeigt. Nun zeigt sich aber ausgerechnet an der Musik, am Auslöser des tödlich endenden Konflikts also, dass die Fronten in diesem Text doch nicht so eindeutig konzipiert sind, wie es auf den ersten Blick scheint: Denn Rafaels Beschäftigung mit Musik steht durchaus nicht immer und auch nicht auf allen Ebenen des Textes in einem scharfen Widerspruch zu seinem jüdischen Umfeld. Am deutlichsten wird das dort, wo er auf der "Schwelle" des väterlichen "Ladens" - "ihm zur Seite baumelten grosse Röhrenstiefel, alte Hosen" (Rafael, Sp. 45) - und damit geradezu im Zentrum der Gasse ein Lied für die Christin Corinna komponiert. Subtil unterwandert wird der Gegensatz von Judentum und Kunst aber auch dadurch, dass sich die verschiedenen Musikformen, die in Stadt und Gasse praktiziert werden, kaum voneinander unterscheiden. Denn auch wenn Rafaels Beschäftigung mit weltlicher Musik (mit russischen Volksliedern, mit Wagners Meistersingern und Tristan und Isolde, mit Beethovens Fidelio und mit Bach) über das Singen im Chor und damit über den

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Zum Korpus dieses Typus in den deutsch-jüdischen Zeitschriften vgl. l. Shedletzky: Literaturdiskussion. - Zur Relevanz des Themenkomplexes innerhalb der Ghettogeschichte vgl.: Ober, Kenneth H.: Die Ghettogeschichte. Entstehung und Entwicklung einer Gattung, Göttingen: Wallstein 2001, v.a. S. 107ff.- Zur Assimilationsproblematik im Pojaz vgl.: Albert, Claudia/Blum, Gregor: "Des Sender Glatteis neue Kleider. Judentum und Assimilation bei Kar! Emil Franzos (1848-1904)", in: Die Horen 137 (1985), S. 68-92.

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Bereich liturgischer Musik hinausgeht, und auch wenn der Text deutlich macht, dass es am Ende eben diese Musik ist (und nicht die Tempelgesänge), die nicht kompatibel ist mit seinem Dasein als jüdischer Kommis, so bleiben die Differenzen zwischen diesen beiden Musikformen doch unthematisiert. Die Beschäftigung mit weltlicher Musik ist so gerade keine Grenzüberschreitung, die in Bereiche führt, die mit jüdischem Leben nicht mehr kompatibel sind. In der Bestimmung ihrer Merkmale wie etwa Melodieführung oder Stimmungsgehalt findet sich denn auch ein nahezu identisches Beschreibungsvokabular für beide Formen: Die Melodie des russischen Volksliedes etwa, das Rafael, Menkis und Corinna zu Beginn des Textes gemeinsam aufführen, "blühte auf, rein und voll Sehnsucht, sich wiegend wie eine blasse Teichrose; sie wuchs schmerzlich empor, sank resigniert zurück, und das Ende war wie ein wehes Schluchzen" (Rafael, Sp. 37). Sie gestaltet sich damit ganz ähnlich wie die Melodie, die zur Hochzeit in der Reformsynagoge gesungen wird, die gleichfalls "stieg", sich "entfaltete" und "dann einen Ton, hoch und langgedehnt, über die anderen hinaus [hob]." (Rafael, Sp. 41) Auch auf der Handlungsebene sind die beiden Musiksphären nicht durch einen Bruch voneinander getrennt, sondem gehen geradezu reibungslos und kontinuierlich ineinander über: Das Eintreten in den Chor, befördert durch den Tempelwächter Boskowitz, führt direkt zur Bekanntschaft mit dem Orgelspieler Menkis, der Rafael sofort als Blindenführer engagiert und ihn dafür mit Musikunterricht entlohnt, auf den- wiederum unmittelbar- die Opem- und Konzertbesuche in der Stadt folgen. So kann Rafael beide Musikformen schließlich vollständig unter einem gemeinsamen Oberbegriff summieren: Es ist ganz generell "Musik", mit der für ihn das Leben überhaupt erst beginnt. Erzählerisches Ereignis ist die erste Bekanntschaft mit ihr und nicht der Übergang von der jüdischen zur weltlichen Musik, der gänzlich unauffällig geschieht: " Und während der fünfzehnjährige Rafael Gutmann nun neben dem blinden Menkis und der Sängerin Corinna der Oper zuging und sein Leben überdachte, schien es ihm, als hätte es erst mitjenem Tag [dem Eintritt in den Chor, M.P.] begonnen. Denn damals hatte er zum erstenmal Musik kennen gelernt, Musik, die jetzt sein Leben so erfüllte, dass kaum etwas anderes darin Platz fand." (Rafael, Sp. 40)

Kunst und Judentum schließen sich hier offenbar doch nicht grundsätzlich wechselseitig aus - die Gasse, von der sich der Musiker Rafael existentiell bedroht sieht, erlaubt immerhin einen Umgang mit Musik - ebenso wie sie einen kontinuierlichen Übergang in nicht mehr religiös gebundene Kunstformen zulässt. Ganz Ähnliches gilt fur die Hell-Dunkel-Kontraste, die der Text durchweg reichlich verwendet und die nur auf den ersten Blick die Gasse dem Bereich des Dunklen zuordnen: "Dunkel [ist es] in der schmalen Judengasse, dunkel in dem dumpfen Trödelladen des Vaters, dunkel in der engen Stube und in der Küche." (Rafael, Sp. 38) Dabei es ist aber

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durchaus nicht nur in der Gasse dunkel, sondern Rafael, Menkis und Corinna musizieren in der Anfangsszene in der Dämmerung und bei den Opernbesuchen in der Stadt "erloschen die Lichter" (Rafael, Sp. 141 ). Und ebenso wenig ist die Gasse ausschließlich dunkel, es gibt in ihr auch Orte wie den "kleine[n] Platz, zu dem sich die Gasse erweiterte", auf dem "schöner gelber Sonnenschein" liegt, der dem kleinen Rafael vorkommt "wie ein Wunder" und den er "mit zwinkernden und geblendeten Augen" (Rafael, Sp. 38) betrachtet. Auch der Blick auf das Figurenarsenal der Erzählung irritiert die Annahme einer konsequenten Entgegensetzung: Denn neben seinem Protagonisten Rafael präsentiert der Text eine ganze Reihe von Figuren, die sich auf die gleiche Weise zwischen Stadt und Gasse und zwischen unterschiedlichen Lebensformen bewegen allerdings sind diese Wechsel weder ereignisträchtig noch zeitigen sie ähnlich verheerende Folgen. Moritz Belft etwa, Schulkamerad Rafaels, oder Menkis, der Orgelspieler, passieren die Grenze zwischen Stadt und Judengasse immer wieder, ohne dass der Text irgendwelche Wahrnehmungen von Differenzen oder gar körperliche Reaktionen wie bei Rafael thematisiert, der hier regelmäßig und mehrfach "aufatmet" (Rafael, Sp. 40). Auch das Dasein als Musiker und Künstler lässt sich bei diesen Figuren gänzlich undramatisch in ein zeitliches Nacheinander überführen, wie wiederum die Figur Moritz Belft implizit in der Nichtthematisierung des Übergangs (auch er ist Chorbube und tritt danach in ein Geschäft ein) und die Verwunderung des Chorleiters Pfau über das Entsetzen Rafaels nach dem angedeuteten Stimmbruch explizit zeigt: ,"Noo? Gutmann' , sagte er, ,was heulste? Was weinste? [ ... ]So a Narr!', sagte er, ,heilt, wie meschugge. Hab ich'n was getan? In ä Monat is er in ä Geschäft, is ä feiner Kommis, hat nicht netig zu frag'n nach'n alten Pfau und den ganzen Tempel."' (Rafael, Sp. 44) Und sogar für Rafael selbst scheint eine Kombination beider Lebensformen zu Beginn der Erzählung noch durchaus im Bereich des Möglichen zu liegen: "Vielleicht liess es sich auch hier leben; ein paar Stunden des Tages im Geschäft, und dann die Abende mit Menkis und Corinna, die blieben ihmja." (Rafael, Sp. 47) Der Gegensatz zwischen Uüdischem) Geschäft und (nichtjüdischer) Musik gilt also noch nicht einmal für den Protagonisten jederzeit, und ein Blick auf das Figurenensemble zeigt, dass seine tödliche Zuspitzung auch gar nicht jedermann betrifft. Beide Beobachtungen führen auf das, was nun im Folgenden näher zu analysieren ist: Die Krisenlastigkeit, die sich aus der Berührung von Jüdischem und Nichtjüdischem ergibt, besteht ganz offensichtlich nicht für die erzählte Welt insgesamt und generell, sie wird vielmehr ausschließlich an einer Einzelfigur herausgestellt, die überall Außenseiter bleibt und am Ende in einer Art Niemandsland den Tod findet. Eben diese Form des Scheiterns aber ergibt sich aus komplexen, mehrschichtigen Irritationen von Identitäten und Zugehö1igkeiten, die sich nicht mehr auf die einfache Unterscheidung vonjüdisch vs. nichtjüdisch zurückführen lassen. So sind schon Rafaels Bindungen ans Judentum extrem uneindeutig und kaum noch gerrau zu er-

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fassen, aber auch die Künstleridentität ist nicht so fest in Rafael verankert, wie es auf den ersten Blick scheint. Rafaels Sonderposition innerhalb des Figurenensembles besteht aber nicht nur darin, dass seine Bindungen an die beiden Alternativgruppen (Juden und Künstler) gelockert sind oder doch zumindest nicht präzise bestimmt werden können. Sie ergibt sich hauptsächlich aus spezifischen Eigenschaftskomplexen, die ihn nicht nur relativ - also mit Bezug auf die Zugehörigkeit entweder zum Judentum oder zur Musik -, sondern auch noch absolut zu einem Außenseiter werden lassen. Diese Eigenschaften - Sensibilität, Schwäche, Zerrissenheit und extreme Emotionalität sind innerhalb der erzählten Welt keine Gruppeneigenschaften mehr. Damit aber bewegt sich der Konflikt, an dem Rafael zugrunde geht, nicht ausschließlich im Rahmen eines Gegensatzes zwischen Kunst und Judentum, in den Blick kommen hier vielmehr Figureneigenschaften, die solche Gegensätze überhaupt erst eskalieren lassen. Die komplexe Identitätsproblematik dieser Außenseiterfigur kombiniert die Erzählung nun außerdem mit einem spezifischen Lebensalterkonzept Denn die tödliche Zuspitzung des Konfliktes ergibt sich für Rafael erst mit Beginn der Adoleszenz. Das Mit- und Nebeneinander von Kommerz und Musik ist so nur in Kindheit und früher Jugend möglich, der Eintritt ins Erwachsenenalter erzwingt dagegen die Vereindeutigung von Zugehörigkeiten und deutliche Grenzziehungen. Das wird nicht nur auf der Figurenebene gefordert (vom Vater) und reflektiert (von Rafael), das setzt sich auch auf der Ebene der Bedeutungsorganisation des Textes durch: Mit Rafaels Erwachsenwerden werden die bisherigen diffusen Kontaktzonen im Verhältnis zwischen Judengasse und Musiker-Stadt nunmehr in zwei deutlich oppositionelle semantische Räume überführt: Ihre Scheidung gelingt mithin nur im Rahmen einer konkreten Verräumlichung, in der der Konflikt von der Figur Rafael weg in die topalogisch-topographische Ordnung der erzählten Welt ausgelagert wird. In eben dieser Ordnung lässt sich dann die Außenseiterposition Rafaels ein weiteres Mal plausibilisieren: Im Tod auf dem Schneefeld ist er wörtlich und metaphorisch zugleich "ortlos" - als Exzentriker und Grenzüberseheeiter ist er nirgends integrierbar und endet an einem menschenleeren Nicht-Ort in Wahnsinn und Tod. 1.1.1 Außenseiter I Der Konflikt, an dem der Außenseiter Rafaelletzten Endes zugrunde geht, lässt sich nur sehr schwer bestimmen. Das liegt vor allem daran, dass seine Berührung mit nichtjüdischer Kunst hier nicht in eine präzise Spaltung der Person führt, bei der auf welche Weise dann auch immer -jüdische Herkunft und künstlerisches Talent miteinander konkurrieren würden. Hier zeigen sich Parallelen zwischen der Figurenkonzeption und der Strukturierung der erzählten Welt, die solche gerrauen Ent-

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gegensetzungen, zumindest zu Beginn des Textes, ebenfalls eher unterwandert statt sie zu fixieren. Bei Rafael bleibt nun schon der Anteil der jüdischen Herkunft am tödlichen Konflikt vage, weil er keine eindeutige, fest in einer bestimmten Schicht der Person verankerte oder sonst wie deutlich zu verortende jüdische Identität besitzt. Auf die gleiche Weise uneindeutig aber ist auch die forciert bejahte Künstleridentität in Rafaels Psyche verankert. All das führt zudem nicht zu einer vollständigen Ablösung vom Judentum: Denn auch wenn es Rafael innerlich fremd bleibt, so sind seine Lebensgeschichte und bestimmte Körpermerkmale doch immer noch dem jüdischen Milieu, dem er entstammt, zugeordnet. Rafael ist deshalb eine nur diffus jüdische Figur und deshalb ebenso wenig ein zuverlässiger, vollständig integrierter Teil der jüdischen Gasse wie ein radikaler, leicht zu identifizierender Außenseiter-Künstler. In der Psyche Rafaels ist die eigene jüdische Herkunft zu Beginn nur mittelbar präsent- als zunächst noch nicht begriffene Angst vor dem Verlust der Musik. So ist Rafaels Musizieren schon vor dem Ausschluss aus dem Tempel chor beständig von einem Gefühl der Bedrohung "voll der heimlichen Angst, es [das Gehörte, M.P.] zu verlieren" (Rafael, Sp. 37) begleitet- eine Einschätzung, die von der Erzählinstanz mehrfach wiederholt wird und die bis zu einem gewissen Grade auch dem entspricht, was Rafael, wie etwa in einem Gespräch mit Menkis, selbst artikulieren kann: ",Manchmal hab ich eine solche Angst- eine solche Angst ... ' ,Wovor, Rafael?' Er senkte den Kopf und presste die Hände ineinander; und dann sagte er ungewiss: ,Wohin fuhrt es denn ... wohin ... ? Es kann ja nicht immer so bleiben ... "' (Rafael, Sp. 41). Die Ursache dieser Angst wird noch nicht durchschaut ("[W]usste er selbst denn, was er fürchtete, diese Angst, diese unbestimmte Angst, die wie eine Wolke sein Wesen überschattete ... ?" (Rafael, Sp. 43)), der weitere Verlauf des Textes zeigt aber, dass der Musiker Rafael hier die Normen und Werte der Gasse zu fUrchten hat. In der Psyche des vorpubertären Rafael sind die Forderungen seiner Herkunft also als ein Unbewusstes präsent, die erst mit dem Ausschluss aus dem Tempelchor bewusstseinsfähig werden. Erst hier verliert die Bedrohung ihre Unbegreiflichkeit und wird als Macht der "Judengasse" erkannt: "[E]r hatte seit Monaten mit angespanntem Gefühl gelauscht, wie die Angst an ihm empor kroch, höher und höher, wie die Judengasse ihn zu sich zurückzog" (Rafael, Sp. 133). Die Verortung dieser nunmehr erkannten Macht des Judentums in Rafaels Psyche bleibt gleichwohl schwierig: Die Vertikalsemantik der zitierten Passage scheint zwar auf eine Verlagerung in Tiefenschichten der Person hinzudeuten. Von der Erzählinstanz aber wird der Anpassungsprozesse an die Gasse als eine Alt TeiTainbesetzung konzipiert, in der die personale Identität Rafaels schrittweise von außen her vertilgt wird: "Stück für Stück nahm sie [die Judengasse, M.P.] von dem, was seine Eigenheit, sein feines, verträumtes Wesen war. Sie frass Tag um Tag, Stunde um Stunde an ihm, an seiner Sehnsucht, an den drehenden, wirbelnden Melodien, die noch immer in seinem Kopfe lebten." (Rafael, Sp. 135) Effekt dieser Machtüber-

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nahme ist neben der einfachen Vernichtung der nicht gassenkompatiblen Eigenschaften Rafaels das Auflösen ihrer Konturen: "Aber dann verschwamm die Erinnerung an den feinen rötlich-blonden Kopf der Sängerin, verwischte sich, ertrank wie alles andere in dem Leben der Judengasse." (Rafael, Sp. 136, Hervorhebungen M.P.) Prozesse der Ersetzung sind dagegen auf das Äußere Rafaels beschränkt, etwa wenn es "[g]anz langsam und heimlich geschah, [ ... ] dass sie seine Hände vergröberte, seine Nägel zerriss und beschmutzte" bis er am Ende "ein kleiner, schmutziger Verkäufer in David Belfts Geschäft, ein Jüngel mit Kaftan und Pajes" (Rafael, Sp. 135) ist. Nach der vollständig vollzogenen Anpassung schließlich stand er "an Schabbes neben seinem Vater in dem kleinen seltsamen Bethaus der Sackgasse und schlug sich an die Brust und beugte sich vor und zurück, indes er die Gebete zu einem sonderbaren Singsang, zu einem Hebräisch von übermäßig vielen Quetschlauten verzerrte, wie es hier Sitte war." (Rafael, Sp. 135) Im Figureninneren werden demnach nur die nicht gassengerechten, kunstaffinen Dispositionen getilgt, sie werden aber nicht durch andere - etwa durch eine von der Gasse gelieferte jüdische Identität ersetzt: Was an die Stelle der alten Künstleridentität tritt, sind "Stumpfheit" und "Leere"/ die es gar nicht erst zu einer vollständigen Identifikation mit dem Judentum kommen lassen: "Die Sederabende fanden Rafael todmüde und stumpf gegen ihren seltsamen Zauber." (Rafael, Sp. 13 8) Die Judengasse macht also zwar äußerlich aus Rafael einen angepassten Juden -Vater und Geschäftsfreund sehen denn auch ihre Erziehungsmaßnahme zunächst als gelungen an4 -, sie implantiert aber kein positives jüdisches Identitätskonzept in der Psyche der Figur. Das ergibt für Rafael in dieser Phase eine Att Null-Identität, die von der zweiten gravierenden Veränderung aus, die er nach der Lektüre der FidelioRezension durchmacht, als reduzierter Lebensstatus abqualifiziert wird. Das an die Gasse angepasste Lebensjahr erscheint als Traum und Schlaf und vor allem als Verlust von Selbstbesinnung: "An einem schneidend kalten Februartag aber geschah das Seltsame, dass Rafael Gutmann gleichsam erwachte, auffuhr aus seiner traumhaften Stumpfheit und sich mit einem jähen Erschrecken auf sich selbst besann ... " (Rafael, Sp. 139) Als subjektinterne Größe spielt die jüdische Herkunft also eine äußerst prekäre Rolle: Sie wird im Text ganz offenbar nicht konsistent mit der Psyche der Figur vermittelt und stattdessen in immer neuen Anläufen zu erfassen versucht: In der Tiefensemantik und im Rekurs auf das Traumdasein scheint sie ins Unbewusste der Figur verlagert und also Teil bestimmter Schichten der Person zu sein, in der "gefräßigen Gasse" erscheint sie nun aber der Erzählinstanz als subjektexterne Macht,

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"[ ... ]dann wurde er stumpf, leer, hoffnungslos." (Rafael, Sp. 135)

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",No also', sagte der Alte auf einmal, ,ech hab' doch gewusst, es wird gehen ... '." (Rafael, Sp. 138)

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die nicht mehr irgendwelchen Psychodynamiken zurechnen lässt. Auch der Kampf mit der Künstleridentität erscheint hier überdeterminiert Er wird gefasst als Verhältnis zwischen Oberfläche und Tiefe, aber auch als ohne solche Tiefenschichten auskommende Terrainbesetzung, als Konturentilgung, als Entleerung, als Versetzen in einen Zustand von Traum und Nichtleben und schließlich als Verlust des Selbstbewusstseins. Festhalten lässt sich am Ende nur, dass die jüdische Herkunft entweder den bewusstseinsfernen Sphären von Unbewusstem und reduziertem Traumleben zugeordnet ist oder aber ein Fremdes, das von Außen ins Subjekt eindringt und als bloße Gegenkraft in einer Art Verdrängungswettbewerb immer aufihr Gegenteil -die Identitätsofferte einer Musikerexistenz- bezogen bleibt. Ihre Macht ist zudem labil - ein Zufall, die Lektüre der Konzertkritik beim Tütenkleben aus Zeitungen, reicht aus, sie zu beenden und die eigentliche, die Künstleridentität Rafaels wieder herzustellen. Ein deutlich schärferes Profil scheint Rafaels Künstleridentität zu zeigen: Die Identifikation mit der Musik vollzieht Rafael bewusst und uneingeschränkt, sie erfüllt sein "Leben so [ ... ], dass kaum etwas anderes Platz darin fand" (Rafael, Sp. 40); an sie koppelt er schließlich sogar seine Menschwerdung: "[ ...] und dann hatte er genug Musik gelernt und ging aus der Gasse fort, hinaus in die Stadt, ein freier Mensch, ein Künstler .... " (Rafael, Sp. 47) Und doch ist es auch hier nur schwer möglich, die Musik präzise in der Psyche Rafaels zu verorten: Nach der Überwältigung durch die Judengasse zieht sich die Künstleridentität zunächst in den Bereich des Nachtbewusstseins zurück, um schließlich ganz zu verschwinden: "lm Dunkeln wachten Melodien auf, die er vergessen hatte, erhoben sich, lächelten, umtanzten die Matratze, auf der er lag. [ ... ] Worte klangen auf, Namen; und es geschah, dass er sich erschüttert und durchgerüttelt aufsetzte und ein Wort oftmals in die Stille flüsterte; ,Bach.. .' oder ,Fidelio .. .' [ ... ]Am Morgen aber sahen solche Nächte dumm und lächerlich aus, und sie wurden seltener und seltener ... " (Rafael, Sp. 135 f.)

Ob die oben beschriebene Distanz gegenüber dem Judentum nun der Effekt eines verborgenen Widerstandes der Künstleridentität ist, bleibt allerdings ungeklärt ebenso wie die Grundlage flir die Rückgewinnung der ästhetisch geprägten Identität nach der Lektüre der Konzertkritik Denn der erneute Bruch in der Lebensgeschichte Rafaels wird vom Text nur auf der Handlungsebene, über einen äußeren Zufall, motiviert und gerade nicht mit Bezug auf irgendwelche dynamischen Prozesse im Inneren der Figur. Die bleiben der Erzählinstanz undurchsichtig: Für sie ist die plötzliche Verändemng schlichtweg "seltsam" und kann nur metaphorisch eingefangen, nicht aber analytisch durchdrungen werden: Das Modell Schlafen/Wachen ist hier explizit als uneigentliche Rede ausgewiesen, wenn es heißt, "[ ... ] dass Rafael gleichsam erwachte[...]." (Rafael, Sp. 139, Hervorhebung M.P.)

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Eine ähnliche Zurückhaltung in der psychischen Motivierung der Künstleridentität lässt sich bereits ftir Rafaels Erstinitiierung ins Künstlerleben beobachten, die gleichfalls an Zufälle gebunden und der Figur selbst "seltsam" erscheint: "[ ...] während der blinde Orgelspieler sich schwer auf ihn stützte, dachte er daran, wie einfach und doch seltsam das alles gekommen war. " (Rafael, Sp. 38, Hervorhebung M.P.) Damit aber ist auch diejenige Identitätsofferte, die von Rafael auf der Ebene bewussten Agierens als einzig mögliche Lebensform akzeptiert wird, nicht vollständig aus der Figur selbst heraus erklärbar. Rafaels Künstlerexistenz ist kein rein personengebundenes Faktum: Es bedarf figurenexterner Anstöße, die sich nicht zwangsläufig, sondern zufällig ergeben und deren Konsequenzen für das Innere der Figur weder von der Figur noch vom Text (vollständig) aufgedeckt werden können. Handlungsverlauf und Figurenpsychologie entsprechen sich also nur partiell, so dass hier gerade nicht die Geschichte eines Künstlers erzählt wird, der sich gegen eine kunstfeindliche Umwelt durchsetzen muss. Vielmehr ist eben dieser Umwelt eine Beteiligung an der Formung dieses Künstlers zugestanden- ohne dass geklärt wird, aufwelche Weise das gerrau geschieht. Auch wenn das Judentum nicht fest in Rafaels Innerem verankert ist, bleibt die jüdische Herkunft wichtig, und zwar fiir die Erzählung insgesamt, die auf bestimmten Ebenen der Bedeutungsorganisation Rafael dem Judentum wieder annähert. Das gilt zum einen für den Herkunftsraum der Gasse, mit dem zusammen Rafael in die reichlich vom Text genutzten Heii-Dunkel-Kontrastierungen eingeordnet wird: Gleich zu Beginn der Erzählung, in der Musizierszene mit Menkis und der später hinzu kommenden Corinna, werden die wenigen Körpermerkmale, die an Rafael im Text überhaupt interessieren, benannt und eben diesem Bereich des "Dunklen" zugeordnet: die Augen sind "dunkel",5 die Stimme ein "Alt, dunkel und schwer wie Samt" (Rafael, Sp. 38), später, beim Ausbruch aus der Gasse, wird wiederum auf die "dunkeln" (Rafael, Sp. 140) Haare verwiesen. Partiell teilt Rafaels Körper damit ein Paradigma, in das auch die Zuschreibungen an die Judengasse einsortiert sind. Das gilt zum anderen für lebensgeschichtliche Parallelen, die Vater und Sohn einander annähern und Rafael an die eigene, mthodox jüdische Familie zmiick binden. Zunächst scheint sich hier eine Gegnerschaft aufzutun: Die Entscheidung des Vaters über Rafaels Zukunft- "Dass de's weisst, du kümmst zu Belft ins Geschäft; ich hab's scho mit'n abgemacht!" (Rafael, Sp. 46) - ist gekoppelt an das strikte Verbot jeglicher Stadtbesuche: "Du geherst in der Gassen und werst nicht auf a Vertlstund erauskümmen!" (Rafael, Sp. 47) Aber die rigide Verweigerung einer Doppelexistenz zwischen Gasse und Stadt ist beim Vater durchaus nicht an eine dogmatische Position gebunden (etwa der A1t, dass orthodoxe Juden der Gebote

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"Nur Rafaels Kopfblieb scharfumzeichnet in der Helle des Fensters: mit dunkeln Augen, schön in der frühen Reife seiner fünfzehn Jahre [ .. .]." (Rafael, Sp. 37)

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wegen bestimmte Beschäftigungen ablehnen müssen), 6 sondern durch eigene Erfahrungen motiviert. Der Vater hat gleichfalls musiziert, zunächst geduldet, dann heimlich. Folge dieser Abweichung und Ungehorsamkeit ist Leid, das proportional zur Intensität der Beschäftigung mit Musik anwächst: "Als bin ech heimlich gegangen un hab heimlich gespielt auf die Geigen. Wie mehr ech hab gespielt, wie mehr hab ech gewant. Wenn ech es so denk, was fir e Lad mer hat gemacht de Geigen ... [ .. .]." (Rafael, Sp. 48) In des Vaters Resümee besteht mithin ein zwangsläufiger Zusammenhang zwischen der Beschäftigung mit Musik, ihrem Verbot, der Fortsetzung und damit einer tragischen Störung der Integrität jüdischer Existenz. Auch er konnte sich offenbar nicht so einfach von der Musik lösen: Nach dem verbindlichen, mit der Bar Mizwa bezeichneten Eintritt in die Gemeinschaft jüdischer Männer verschwindet sie nicht aus Lazer Gutmanns Leben, sondern sie bleibt Störfaktor. Der Vater versteht den Sohn also nicht nur in seiner Liebe zur Musik, sondern auch in seinem Wunsch, die Beschäftigung mit ihr über den in der Gasse zugestandenen Lebensabschnitt hinaus fortzusetzen. Darüber hinaus ahnt er al s einzige Figur des Textes die fundamentale, nicht wieder tilgbare Bindung Rafaels an die Musik und damit das mögliche Scheitern seines rigiden Anpassungsplans: ",No also', sagte der Alte auf einmal, ,ech hab' doch gewusst, es wird' gehen ... ' Und das war eine verstohlene Bitte und eine heimliche Angst." (Rafael, Sp. 138) Wie der Vater seine eigene Verstrickung gekappt hat, lässt der Text offen, seine Violine ist jedenfalls noch präsent- ausgelagert in das Gerümpel des Ladens. Und die "heimliche Angst" verweist darauf, dass auch für ihn der Wechsel vom Musiker zum Händler Risiken birgt, dass er das Fortwirken der Musik dort einkalkuliert, wo den übrigen Mitgliedern der jüdischen Gassengemeinschaft ein Übergang vollkommen unproblematisch erscheint. Trotz der konträren Zugehörigkeitsauffassungen von Vater und Sohn bleibt Rafael also an seinen jüdischen Vater gebunden: in der vom Text partiell parallelisierten Lebensgeschichte der beiden und einer sich daraus ergebenden - von den Figuren selbst freilich nicht aktualisierten oder reflektierten - Verstehensgemeinschaft, die sich nun aber ausgerechnet auf einen Bereich stützt, der eine homogene jüdische Identität unterminiert. Auch hier also findet sich kein positives, innerfamiliär von Generation zu Generation weitergegebenes Modell jüdischer Identität- an seine jüdische Familie ist Rafael nur dort gebunden, wo der orthodoxe Vater (begrenztes) Verständnis für den Ausbruch aus ihr zeigt.

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Dass der Vater diesem orthodoxen Milieu zugehört, ergibt sich einerseits aus der Einhaltung von Feiertagen und Shabbat und aus seinen regelmäßigen Besuchen im Gebetshaus, andererseits aus seiner (nun allerdings nicht religiös begründeten) Distanz gegenüber dem reformierten Tempel.

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1.1.2 Außenseiter II Rafael ist also weder eindeutig ein Jude noch ist ihm der Wille zur Musik angeboren - an keinen der beiden Bereiche ist er von sich aus fest gebunden, auch wenn die Kunst für ihn dabei eine deutlich größere Rolle spielt. Diese labile und uneindeutige Position gegenüber Gruppenidentitäten (Künstler einerseits, Juden andererseits) verknüpft der Text nun aber mit Charaktereigenschaften, die nunmehr genuiner und stabiler Bestandteil der Person sind und die Rafael dezidiert als einen Außenseiter markieren - und das nicht nur gegenüber der Gruppe der Juden, sondern auch gegenüber der Gruppe der Künstler. Das ist zum einen ein Eigenschaftskomplex, der Rafaels Außenseiterturn in der Öffnung gegenüber dem jeweils anderen Bereich bestimmt: eine besondere W ahmehmungsempfindlichkeit, die schon der ganz kleine Rafael zeigt und die ihn schließlich zur Musik führen und aus dem Judentum heraus treiben wird, und eine vage Schwäche, die dem Vater und der Judengasse die Unterdrückung des Musikers erlaubt und eine endgültige Entscheidung für Stadt und Musik verhindem wird. Das ist zum anderen ein Eigenschaftskomplex, der Rafaels Außenseiterturn an Extremlagen seines Charakters festmacht, die das für die übrigen Figuren geltende Mittelmaß deutlich übersteigen: abstrakte Zerrissenheit und gesteigerte Emotionalität in Verbindung mit der Tendenz zur existentiellen Dimensionierung der eigenen Konflikte. Erst mit diesen, nun auch tief und fest im Inneren Rafaels verankerten Eigenschaften wird deutlich, dass es in diesem Text sehr viel weniger darum geht zu klären, wie sich unterschiedliche Kollektivbindungen zueinander verhalten. Aufgezeigt wird vielmehr, wann solche doppelten Einflussnahmen scheitern müssen - nämlich im sensiblen, schwachen, extrem emotionalisierten und zerrissenen Außenseiter. Rafael weicht von Beginn an von allen anderen jüdischen Figuren aus der Gasse ab, weil er Anderes und anders wahrnimmt: Nur ihm erscheint der "Sonnenschein auf dem holprigen Klinkerpflaster und auf dem Schild von David Belfts Geschäft" wie ein "Wunder" und nur er schaut "mit zwinkernden geblendeten Augen dem flimmernden Spiel der Kringel und Strahlen" (Rafael, Sp. 38) zu, nur seine "Neugierde und seine Sehnsucht" richtet sich auf den Tempel mit den "unwahrscheinlich bunte[n] Glasfenstern" (Rafael, Sp. 39), statt auf das kleine Betshaus, das er oft mit dem Vater besucht. Und nur für ihn ist die Uniform des Tempelportiers Boskowetz Indiz für "etwas ungemein Feierliches und Vornehmes", für den Vater dagegen bloß ein "Affenjanker, etwas e meschüggenes Thiatergewand" (Rafael, Sp. 39). Noch vor dem Eintlitt in den Tempelchor, also noch vor jeder direkten Begegnung mit Kunst zeigt Rafael also eine Art von Wahrnehmungsempfindlichkeit, die sich vor allem auf Helles und Buntes richtet und die ihn bereits als Kind von allen anderen Gassenbewohnern unterscheidet - nicht zuletzt deshalb, weil er sich dabei

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zwecklos vergnügt und sich der (Handels-)Arbeit in der Gasse entzieht: "Aber die Eltern sahen das nicht gern; er sollte in der engen Gasse bleiben, artig auf der Schwelle des Ladens hocken und die Vorübergehenden anrufen[ ...]." (Rafael, Sp. 38) Über eine Reihe von Zufallen auf der Handlungsebene- das "Thiatergewand" bringt die Bekanntschaft mit Boskowetz, die wiederum den Eintritt in den Tempelchor und die Begegnung mit Menkis und Corinna zur Folge hat- führt aber eben diese Wahrnehmungsdisposition zur Initiation ins Musikerleben, das für Rafael am Ende aus der jüdischen Gasse herausfuhren muss. So wie diese besondere Wahrnehmungsfähigkeit die Einflussnahme der Kunst auf den Judenjungen gestattet, so ermöglicht die Rafael ebenso eigene Schwäche den Einfluss der Judengasse auf den Künstler: Auch sie begünstigt die Wirksamkeit der Gegenmacht, vor allem dort, wo sich wie im Streitgespräch mit dem Vater das Verhältnis zwischen der jüdischen Gassen- und der Musikerexistenz für Rafael zur existentiellen Gegnerschaft zuspitzt: ",Vater, ich folg Ihnen', sagte er in seiner müden, scheuen Weise[ .. .]." (Rafael, Sp. 47) Auch alle anderen, die Passivität Rafaels thematisierenden Passagen stehen im Zeichen solcher Entscheidungssituationen an der Schwelle zwischen jüdischer und Künstlerexistenz - so nach der Entlassung aus dem Tempel ("Er spürte, dass er nichts mehr tun konnte, dass die Judengasse stärker war als er, der Träumer, der Tatenlose[ ... ]." (Rafael, Sp. 133)) oder zu Beginn des Unterwerfungsprozesses unter die Gasse ("Und nun begann die Judengasse ihre Arbeit an dem schwachen Rafael Gutmann. [ ... ]Erst wehrte er sich, in seiner müden, angstvollen Weise[ ... ]." (Rafael, Sp. 135)) oder beim Abschied von Menkis nach dem Ausschluss aus dem Tempelchor ("[ ... ] es lässt sich da nichts machen- ich glaube, es liegt an mir, ich kann nichts selbst tun - ich kann alles nur geschehen lassen; schwach - schwach ... " (Rafael, Sp. 135)). Vor allem das letzte Zitat macht deutlich, dass es sich hier um eine unhintergehbare, Veränderungen nicht zugängliche und also stabile Charaktereigenschaft Rafaels handelt, die diesmal auch Differenzen gegenüber den beiden städtischen Künstlerfiguren festlegt. In einem Gespräch nach dem letzten Opernbesuch, nach dem plötzlichen Rückgewinn der Künstleridentität also, konfrontiert der Text die pragmatische Einstellung Menkis' und Rafaels tautologischen Bezug auf eben diese Disposition: ",Du kommst wieder, Rafael; du darfst nur nicht so schwach sein - ein bisschen Rückgrat, und Kopf hoch!' ,Ja, wenn ich das könnte; aber so, wie ich eben bin ... ' ,Nun, Rafael, höre; du versprichst mir, dass du wieder kommst; du bist doch kein Gefangener! Lass dich nicht unterkriegen, nicht von den andem und nicht von deiner eignen Schwäche. Tu doch einmal etwas, sei nicht so passiv! "' (Rafael, Sp. 141)

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Die Schwäche als Charakterdisposition ist dabei durchaus nicht als jüdisches Erbe zu fassen- die Beziehungen, die sich hier zwischen Psyche, jüdischer Herkunft und jüdischem Handlungsumfeld ergeben, sind intrikater: Weil Rafael in seiner spezifischen Schwäche dem Anpassungsdruck der jüdischen Gassengemeinschaft nichts entgegensetzen kann, wird er temporär mit seinem Äußeren und mit seinen Handlungen ein Teil von ihr, kann er auch nach dem Ausbruch seinen Gegenentwurf zum Gassenleben nicht realisieren und kommt es schließlich zur Distanzierung von seinen Musikerfreunden Menkis und Corinna. Ebenso wie Rafaels Freude an Hellem und Buntem, die zwar den Weg zum Künstler bahnt, im Text aber eben doch nicht dezidiert als eine typische Eigenschaft der Künstlergruppe herausgestellt wird, wird die Schwäche zwar zur Bedingung der Möglichkeit für Eintritt und Verbleiben in die/der Gemeinschaft der Judengasse, sie bleibt aber doch eine ethnisch nicht markierte Charaktereigenschaft - und das nicht zuletzt auch deshalb, weil sie kein anderer Jude der Erzählung zeigt. Neben den Charakterdispositionen Schwäche und (ästhetische) Sensibilität begründet der Text Rafaels Außenseiterschaft aber auch noch außerhalb des Gegensatzgefüges Kunst vs. Judentum. Das geschieht zum einen im Rahmen der HellDunkel-Kontrastierungen, die den Text bis zum Schluss durchziehen. In diesem Feld ist Rafael die einzige Textfigur, die Helles und Dunkles in sich vereinigt- die rekurrente Rede vom Leuchten der dunklen Augen weist darauf nachdrücklich hin. Das bedeutet vor allem eine Abgrenzung gegenüber Menkis und Corinna: Ist die blonde Corinna, die mit "helle[m] Sopran" (Rafael, Sp. 38) und "wie ein spielendes Licht über schattige Wege zu diesen zwei dunkeln und schweren Menschen [Rafael und Menkis, M.P.] kam" (Rafael, Sp. 41), deutlich dem Bereich des Hellen zugeordnet, so fUhrt Menkis mit seiner Blindheit den Bereich des Dunklen einem Extrembereich zu, in dem Musik nur als akustisches Phänomen rezipiert7 und der Gegensatz von Hell und Dunkel nunmehr irrelevant geworden ist. Weil Helles und Dunkles in den beiden Handlungsräumen Stadt und Judengasse unterschiedlich semantisiert sind und also Verschiedenes bedeuten können, besteht die Abweichung Rafaels nicht darin, dass er bestimmte Gegensätze auf sich vereinigt (etwa Gassenund Stadtanteile), sondern - unabhängig von solchen Spezifikationen - in seiner grundsätzlichen Kontrasthaltigkeit, in einer Art abstrakten Zerrissenheit also. Die zweite Außenseiterdisposition ergibt sich zum anderen mit Bezug auf eine extreme, im Figurenensemble des Textes nur Rafael zukommende Emotionalität: Seine "Stimme" ist immer wieder "trocken vor Erregung" oder "überschlug sich in der Erregung", er hält "die Hände fest ineinandergepresst", er hat "eine Art des Ge-

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So bei den Opernbesuchen der drei: "Sie stiegen die breiten Treppen zur Galerie hinauf und setzten sich auf ihren Stammplatz, einen Mauervorsprung ganz rückwärts; sie brauchten nur zu hören." (Rafael, Sp. 41)

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niessens, die so stark war, dass sie schmerzte" (Rafael, Sp. 3 7), in kritischen Situationen kommt ein "verzweifeltes, haltloses" (Rafael, Sp. 39) oder "ein wildes, schüttelndes Schluchzen über ihn" (Rafael, Sp. 44), oder er "weinte wild und zügellos" (Rafael, Sp. 134). Das distanziert ihn von den Gassenbewohnem, die eine solche Emotionalität weder zeigen noch sie überhaupt verstehen können. Es distanziert ihn aber ebenso von den beiden Musikerfiguren Menkis und Corinna, die in der Konfrontation mit Rafaels Krisen gleich bleibend gelassen bleiben, etwa wenn Corinna zum Trost ihre Hand ",eicht auf sein Haar" legt (Rafael, Sp. 141 ), und deren Liebesbeziehung eine gleichfalls gedämpfte, ins Altruistische spielende Emotionalität zeigt: "Menkis sass neben ihr und hielt ihre lose herabhängende Hand fest in der seinen; Corinna sah mit einem zärtlich gerührten Lächeln auf ihn nieder." (Rafael, Sp. 141) Diese ins Extreme gesteigerte Emotionalität gilt nun auch fiir den Umgang mit der Musik: Mit Ausnahme Rafaels bleibt bei allen mit Musik beschäftigten Figuren die Wirkung der Musik oder ihre Rolle für die eigene Lebensgestaltung unthematisiert. Oder aber sie wird einem Bereich gedämpfter Emotionalität zugerechnet: Corinna hält nach dem Singen des Volksliedesam Anfang des Textes zwar "die Hände an die erhitzten Wangen gepresst", beginnt gleich danach aber bereits wieder zu "plauder[n]" (Rafael, Sp. 38). Vor diesem Hintergrund ist Rafael die einzige Figur, für die Musik in emotionale Extremzustände führt und existentielle Dimensionen erhält: Er hört mit "offenem, durstig trinkendem Mund" zu, hat "eine seltsame, fanatische Art, Musik in sich aufzusaugen", während des letzten Opernbesuchs "legte er die Hände in einer unbewussten, ekstatischen Weise vor die erblasste Stirn und trank die Musik in sich" (Rafael, Sp. 141), danach "genoss er noch einmal die Ekstasen und Entzückungendes Abends" (Rafael, Sp. 143). Rafael wird also nicht erst durch die Berührung mit der Musik zu einem Außenseiter der jüdischen Gasse - er ist es von vomherein und er ist es vor allem auch gegenüber dem nichtjüdischen Musikmilieu in der Stadt mit seinen beiden Vertretern Menkis und Corinna. Damit konfrontiert der Text Kunst und Judentum nicht direkt, sondern im Umweg über eine Außenseiterfigur. Die Außenseitereigenschaften verhindern dabei die Einheit, aber auch die Konstanz der Person, die sich aus einem ausgeglichen Gemütshaushalt ergibt: Im Gegensatz zu den durchweg moderaten Gefühlslagen aller anderen Figuren des Textes gelten ftir Rafael ausschließlich Extremwerte - entweder die bis zur Ekstase gesteigerte Emotionalität oder deren vollständige Absenz in Stumpfheit. Die Erzählung behauptet also nicht geradezu, dass die Berührung des Judentums mit Kunst grundsätzlich und immer in eine ausweglose Krise führen muss, sie zeigt stattdessen, dass die Krise an eine Instabilität der Person gebunden ist, die darüber hinaus auch nichts zu deren Lösung beitragen kann. Und erst vor diesem Hintergrund rückt nun auch die Grenzüberschreitung selbst in ein zweifelhaftes Licht- nicht nur deshalb, weil Rafael an ihr scheitert und stirbt, sondern vor allem deswegen, weil eine solche Grenzüberschreitung vom Ju-

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denturn hin zur Kunst überhaupt nur von einer Krisenfigur ohne festen Identitätskern und ohne ausgeglichene Emotionalität unternommen wird, während alle anderen Figuren ihre Identitätsräume nicht verlassen.

1.1.3 Grenzen Der Akt der Grenzüberschreitung ist in der Erzählung mithin auf eine sehr deutliche Weise krisenträchtig. Das Gegenmodell dazu liegt in der Stabilität der Zugehörigkeit aller anderen Figuren, die mit gefestigter Identität und konstantem Gemüt zuverlässig in ihre Herkunftsgruppen integriert sind. Deren berufliche und gesellschaftliche Anerkennung und darüber hinaus auch deren erotischen Erfolg (Menkis heiratet Corinna) bindet der Text aber nun außerdem an eine Grenzziehung, die mit dem Eintritt ins Erwachsenenalter erfolgen muss. Mit dieser Berücksichtigung von Lebensalterstufen wird das Verhältnis zwischen Kunst und Judentum nunmehr auch anthropologisch dimensioniert. Zwischen den beiden Sphären besteht deshalb kein unüberbrückbarer, prinzipiell geltender kultureller oder historischer Gegensatz: Denn denkbar sind durchaus Misch- und Übergangszonen, wie sie schon zu Beginn der Analyse festgestellt werden konnten und wie sie sich exemplarisch in Rafaels Beschäftigung mit Musik auf der Schwelle des väterlichen Trödelladens zeigen. Aber solche engen Berührungen sind ausschließlich in Kindheit und Vorpubertät gestattet, sobald es um die Sicherung des Fortbestandes der jeweiligen Gemeinschaft geht, sobald also ihre Mitglieder gesellschaftliche und ökonomische Verantwortung übernehmen und für Fortpflanzung sorgen können und müssen, wird eine sorgfaltige Trennung beider Bereiche erforderlich. Die Grenzziehung ist damit kein Zeichen prinzipiell unflexibler Gruppenidentitäten, sondern sie erweist sich als ein biologisch und ökonomisch fundiertes Erfordernis jeglichen Gruppenerhaltes. An der instabilen Figur Rafael aber lässt sich eine solche Trennung nicht vollziehen, und so muss die notwendige Vereindeutigungsprozedur in eine Raumordnung verlagert werden, mit der die Reinheit beider Bereiche gesichert bleibt und in der mit dem Schneefeld dann auch ein passender Außen-01t für den Tod eines Außenseiters gefunden ist. Damit aber wird die hier so wichtige Vereindeutigungsleistung nicht auf der Figurenebene von Rafael selbst erbracht, sondern vom Text- indem die Alternatividentitäteil Musiker und Jude verräumlicht und nunmehr eindeutig auf Stadt und Gasse abgebildet werden. In Rafaels Kindheitsphase ist die Gasse, so wurde bereits zu Beginn der Analyse vermerkt, trotzder gegenteiligen Wahmehmungen Rafaels kein genauer GegenOrt zur Stadt. Die mehrfachen Angleichungen werden nun aber exakt mit Rafaels Erwachsenwerden im Rahmen der gesamten Bedeutungsorganisation des Textes zurückgenommen: Die beiden Handlungsräume Gasse und Stadt werden nun zu oppositionellen semantischen Räumen vereindeutigt, so dass sich schließlich die

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dunkle, ausschließlich dem Handel vorbehaltene Judengasse und die helle Stadt als einzigem Raum ftir Musik einander gegenüberstehen. Damit verschwindet nun konsequent alles Helle und Bunte aus der Gasse; die Verdrängung des Lichtes beginnt eben dann, als der Vater die Entscheidung über Rafaels Zukunft getroffen und ihm jede weitere Beschäftigung mit Musik verboten hat: "[ ... ]in wehrloser Angst sah er, wie die Dunkelheit der Gasse dichter und dichter wurde, bis er ganz darin ertrank ... " (Rafael, Sp. 50) Der Weg in die Stadt wird nun zu einem Weg ins Helle"Aber Rafael [ ... ]trat mit einem tiefen Atemzug aus dem Bogen hinaus in den hellen Lichtkreis einer Laterne. Da war die Stadt." (Rafael, Sp. 140)- und der Eintritt in die Gasse ist zugleich ein Eintritt ins Dunkle: "Rafael biss die Zähne zusammen und trat in das Dunkel des Bogens. [ ... ] Nirgends ein Licht." (Rafael, Sp. 143) Komplementär dazu findet in der Gasse nun ausschließlich orthodoxes jüdisches Leben statt, der Text erzählt nur noch von Rafaels Dasein als jüdischer Handelsgehilfe in einem jüdischen Geschäft und vom religiösen Leben mit seinen verschiedenen Feiertagen. Die Musik dagegen hat sich endgültig in die Stadt zurückgezogenmit den Konzerten, von denen Rafael in der Zeitung liest, mit den Konzertkarten, die er von Menkis und Corinna anfangs noch zugeschickt bekommt und mit der Oper, die er am Ende noch einmal besucht. Diese topologisch-topographische Ordnung ist offenbar nötig, um die Trennung der beiden Identitätsofferten Musiker und Jude nunmehr räumlich zu stabilisieren. Damit aber wird die Bewältigung der Konflikte, die aus der Berührung von Judentum und Kunst erwachsen, aus der Figur Rafael in die Raumordnung des Textes ausgelagert. Am Ende schreitet Rafael denn auch Stadt und Gasse noch einmal je ftir sich ab, ohne dass dabei ein Blick in sein Inneres geworfen würde- aus Rafael ist ein Wanderer zwischen zwei Welten geworden, für dessen konfuse Psychodynamiken sich der Text nun nicht mehr interessiert. Im Rahmen dieser auf V ereindeutigung ausgerichteten Raumordnung ist es schließlich nur konsequent, dass Rafael auf einem menschenleeren und unbewohnten Schneefeld sterben muss: Er würde - fände er seinen Tod in der Stadt oder in der Gasse - die Homogenität und Geschlossenheit beider Räume stören und - gerade im Scheitern - die Problematik von Grenzüberschreitung und Mischung erneut in sie hineintragen. Zugleich bestätigt dieser Tod aber auch noch einmal die fundamentale Außenseiterposition Rafaels auf einer weiteren Ebene: Im Rahmen der beiden einzigen Identitätsofferten, die der Text kennt, kann er seinen Platz nicht finden - und das wiederum buchstäblich und metaphorisch zugleich. Denn auch der Rekurs auf den dritten Raum, das Schneefeld, sorgt bei der Herleitung von Rafaels Untergang für Klärungen dort, wo der Blick auf die Figur nicht auszureichen scheint. Rafael selbst zweifelt von Beginn der Erzählung an und wiederholt an der Möglichkeit einer praktikablen und gelingenden Lebensgestaltung, resümierend formuliert wird diese Aussichtslosigkeit nach dem letzten Gespräch mit Menkis und Corinna: "Menkis horchte den verklingenden Schritten nach. ,Ich fürchte, der findet

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den richtigen Weg ftir sich nicht mehr.' , Vielleicht- gibt es ftir seine Art gar keinen richtigen ... ?' fragte Corinna leise-" (Rafael, Sp. 143) Welches Dilemma gerrau hinter diesen Vermutungen eigentlich steht, hat der Text aber nun gerade nicht geklärt. Denn wie die Analysen der Figurengestaltung gezeigt haben, wird hier mit einem ganzen Bündel an Entgegensetzungen und Überschneidungen gearbeitet, in dessen Beziehungsnetzen vor allem das an Konturen verliert, womit Corinna hier den Einzelfall generalisieren will: die "Art", der Rafael zugeteilt wird. Das Urteil der beiden Musikerfiguren lässt sich mithin nicht mit den sonstigen Textbefunden abgleichen, der Text aber entzieht sich diesem Unschärfe- und Klassifikationsproblem im Rekurs auf topographische Evidenzen. Auf dieser Ebene lässt sich dann auch die Ausweglosigkeit des Konfliktes thematisieren: Im Schneefeld verliert Rafael seinen Weg wirklich, die vor dem angedeuteten Tod gesprochenen Worte ",ch hab' keinen Weg" (Rafael, Sp. 144) sind doppeldeutig: Sie bezeichnen einerseits die Unmöglichkeit eines gelingenden Lebensentwurfs, andererseits die reale Verirrung im Schnee. Erst diese reale Referenz, erst der Schwenk von der uneigentlichen zur eigentlichen Rede über Orte und Wege führt in eine Vereindeutigung, auf die der Text ganz offensichtlich nicht verzichten will, die er anders aber auch nicht leisten kann. Deutlich wird hier zudem, dass Stadt und Gasse in der erzählten Welt die beiden einzigen Räume sind, in denen soziales und individuelles Leben überhaupt möglich ist. Das Schneefeld ist dagegen ein negativer, von mehrfachen Absenzen bestimmter Ort- menschenleer, unbewohnt, (fast) unbebaut, weglos und schließlich konturenlos: "Die Straße vertröpfelte in ein paar letzten kleinen Häusern und dann begann eine verschneite Ebene. Weiterdraussen hob sich der Schornstein einer Fabrik empor, dann kam nichts mehr, als endloses Weiss, vom Sturm überfegt." (Rafael, Sp. 144)8 Hier verliert Rafael in wahnartigen Zuständen seine personale Identität und schließlich sein Leben, so dass sich mit Bezug auf basale Existenzbedingungen Stadt und Gasse als komplementäre und universal geltende Gegensätze erweisen außerhalb von ihnen "kam nichts mehr" (Rafael, Sp. 144). Damit aber unterstellt der Text, dass Rafaels Kunstbeschäftigung letzten Endes nicht lebbar, geschweige denn sozial integrierbar ist, sondern in Einsamkeit, Wahnsinn und Tod führt. Praktikabel erscheinen ihm dagegen die institutionalisierten und öffentlichen Formen in Oper, Konzerthaus und Tempel ebenso wie das private Dilettieren in den kleinen Hauskonzerten von Menkis und Corinna. Die werden nun allerdings mit mittellagigem oder nicht der Rede wertem emotionalen Engagement und vor allen Dingen von Figuren betrieben, die keine Grenzgänger sind und ihre Herkunftsmilieus nicht verlassen.

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Vgl. auch: "Der Weg führte noch eine Weile mit Radfurchen und Fussspuren durch den Schnee, dann verlor er sich." (Rafael, Sp. 144)

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Zusammenfassend lässt sich nunmehr festhalten, dass der Text bloß auf den ersten Blick einen in der zeitgenössischen deutsch-jüdischen Literatur bereits topisch gewordenen Themenkomplex aufgreift: das mehr oder weniger problematische Verhältnis zwischen jüdischer Herkunft und nicht-jüdischer Kunst. Denn im Bedeutungsgefüge des Textes ergibt sich der Krisenstatus der Figur aus einem ganzen Bündel von Äquivalenzen und Gegensätzen mit immer wieder variierten Reichweiten, so dass ein Gegensatz zwischen Jüdischem und Nichtjüdischem keine scharfen Konturen gewinnen kann: Rafaels jüdische Herkunft ist auf sehr unterschiedliche Weise mehr oder weniger deutlich oder gar nicht relevant, flankiert wird diese Herkunftsproblematik zudem von herkunftsneutralen Figureneigenschaften, die Rafael sowohl gegenüber den Juden als auch gegenüber den Künstlern Menkis und Corinna zu einem relativen und darüber hinaus auch noch zu einem absoluten Außenseiter werden lassen. Mit der Relevantsetzung von Lebensalterstufen erhält der Gegensatz von Judentum und Kunst zudem eine anthropologische Dimensionierung, in deren Rahmen Misch- und Übergangsphänomene nicht prinzipiell, sondern erst mit dem Eintritt ins Erwachsenenalter verweigert werden müssen. Und schließlich bearbeitet der Text Rafaels Krise auch noch im Rahmen einer topographischtopologischen Ordnung als Entgegensetzung von Judengasse und Musikerstadt Der Text arbeitet also mit einem ganzen Bündel an Entgegensetzungen auf unterschiedlichsten Ebenen, deren Beziehungen untereinander sich nur schwer bestimmen lassen. Auf diese Weise aber kommt es zu einer signifikanten Pluralisierung in der Modeliierung der Krisis, die Rafael austrägt- signifikant vor allem deshalb, weil diese verschiedenen Perspektiven untereinander nicht vollständig kompatibel sind und sich also nicht mehr eindeutig auf ein einziges Grundproblem zurückführen lassen. Diese Veruneindeutigungen in der Konflikterfassung sind nun schließlich auch ein Effekt der Erzählsituation: Zwar eindeutig auf Rafael konzentriert ist die Erzählung doch nur partiell personal fokalisiert, über weite Strecken geriert sich die Erzählinstanz als Außenbeobachterin, die räumliche Gegebenheiten, Aussehen, Handlungen und Gespräche der Figuren durchweg im dramatischen Modus wiedergibt. Hier fließen allerdings immer wieder Deutungsangebote ein, die sich kaum von Rafaels Welteinschätzung unterscheiden. Das zeigt sich etwa in der Beurteilung des Kräfteverhältnisses zwischen Rafael und der Judengasse, bei der es aus Rafaels Perspektive heißt: "Er spürte, dass er nichts mehr tun konnte, dass die Judengasse stärker war als er, der Träumer, der Tatenlose [ ... ]." (Rafael, Sp. 133) Die Beschreibung des Überwältigungsprozesses aber, die dann an keine personale Perspektive mehr gebunden ist, übernimmt zentrale Begriffe der Rafaelschen Selbstcharakteristik: "Und nun begann die Judengasse ihre Arbeit an dem schwachen Rafael Gutmann. [... ] Stück für Stück nahm sie von dem, was seine Eigenart, sein feines, verträumtes Wesen war." (Rafael, Sp. 135) In einigen Fällen passt sich die Erzählinstanz den Klassifizierungen der Hauptfigur also auch dort an, wo sie sich nicht hinter deren Wahrnehmungen zurückge-

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zogen hat. Auch hier sind Grenzverwischungen die Folge, die in manchen Fällen eine präzise Verortung der Rede- und Urteilsinstanz erschweren. Gravierend wird das Problem mit der rekurrenten Vokabel "seltsam", die durch den gesamten Text hindurch auftaucht. Vor allem in der Erfassung von Eigenheiten des Judentums und von Rafaels abweichender Musikrezeption ist eine genaue Klärung der jeweiligen Sprechinstanz oft kaum möglich. Ließe sich das Urteil über jüdische Feiertage, die "in all ihrer Seltsamkeit [... ] in das kleine Betshaus [einzogen], mit leidenschaftlichen Gebeten, mit seltsamen Gesängen, mit Schluchzen, Weinen und Schofarklängen" (Rafael, Sp. 138) der Erzählinstanz zurechnen, weil es eingebettet ist in eine längere verallgemeinemde Passage über den Verlauf des jüdischen Festjahres, so könnte es doch gleichermaßen Rafael zugeschri eben werden, weil kurz zuvor dessen Distanz gegenüber den Pessachfeierlichkeiten in eindeutiger Mitsicht festgehalten ist. Ähnliches gilt für Rafaels Beschäftigung mit Musik: Der Verweis auf die "seltsame, fanatische Art, Musik in sich aufzusaugen" (Rafael, Sp. 37) ist ebenso wie die Erfassung von Rafaels Gemütszustand im Schneefeld, das ihn "erfüllt" zeigt "von einem seltsamen Rausch" (Rafael, Sp. 143), sowohl der Erzähler- als auch der Figurenrede zurechenbar. Nun verweist die Rubrizierung so zahlreicher Aspekte der Erzählung als "seltsam"9 ganz generell auf Begründungsdefizite in den zentralen krisenbeteiligten Bereichen des Textes. Aus dem erzählerischen Umgang mit der Instanz, die all diese Dinge als "seltsam" bezeichnet, folgt aber noch etwas anderes: Die Ereignisse und Prozesse, an denen Rafael zugrunde geht, sind nicht nur für ihn selbst nicht vollständig durchschaubar, sie sind es auch nicht für die Erzählinstanz. Der Text stellt damit nicht nur die Krise einer Figur dar, er flih1t zugleich eine spezifische Krise des Erzählens vor. Dieses Erzählen kann keine Ordnung schaffen, in der sich Rafaels Untergang eindeutig positionieren und beurteilen ließe. So bleibt das Verhältnis zwischen Judentum und (nichtjüdischer) Kunst in "Rafael Gutmann" auf mehreren Erzählebenen vage. Im Ausweichen auf eine Außenseiterfigur muss es auch nicht prinzipiell, also flir eine Mehrheit der Juden, geklärt werden. Die Sondenolle Rafaels aber bringt eine ganze Reihe weiterer, seinen Außenseiterstatus betreffende Aspekte ins Spiel, die den Gegensatz jüdisch vs. nicht jüdisch auf spezifische Weise diffus werden lassen und in Überdeterminierungen führen. Nur so aber kann der Text einerseits die sorgfältige Grenzziehung zwischen den Identitätsofferten von Stadt und Gasse favorisieren, muss er jedoch andererseits einer Verbindung von Musik und Judentum keine direkte und definitive Absage erteilen. Dass aber die

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Die Liste reicht von Judenviertel, Betshaus, Tempelbesuchern, Pessach- und Jom-KippurFeierlichkeiten über Rafaels Begegnung mit der Musik und seine fanatische Beschäftigung mit ihr, seine leuchtenden Augen und die Folgen des Musikverbots bis hin zum Rauschzustand am Ende.

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Grenzüberschreitung nur von einer Figur unternommen wird, die gleich ein ganzes Bündel von Identitätsproblemen generiert und deren Verhalten und Lebensumstände darüber hinaus auch der Erzählinstanz seltsam erscheinen, demonstriert nachdrücklich, wie heikel und undurchschaubar sie hier ist. 1.1.4 Heftkontexte

Die Erzählung "Rafael Gutmann" ist in zwei Hefte eingebettet, die eine ganze Reihe größerer Beiträge bringen: die beiden Leitartikel mit dem Jahresrückblick "Das Jahr 1910" von Sirnon Bemfeld 10 und der Untersuchung des "Judenelend[s] in Galizien" von B. Samuel, 11 zwei Künstlerporträts, 12 Berichte über "Die Erben des Islam",13 über einen deutschen "Vorläufer der ,Alliance Israelite Universelle' in frueheren Jahrhunderten", 14 über einen Fund althebräischer Inschriften, 15 über "Moderne Spruchweisheit", 16 jüdischen "Volkshumor" 17 und ein israelitisches Seminar in Holland, 18 dazu kommen die Beiträge der "Mitteilungen aus dem Deutschen Bureau der Alliance Israelite Universelle", 19 ein Nachruf/0 eine Schachecke/ 1 Aphoris-

10 Bemfeld, Simon: "Das Jahr 1910", in: Ost und West II (1911), H. I , Sp. 5-1 0. II Samuel, B.: " Das Judenelend in Galizien", in: Ost und West II (1 911 ), H. 2, Sp. 101-

108. 12 Altkirch, Ernst: "Hollaendische Künstler. 1. Ed. frankfort", in: Ost und West 11 (1911), H. I, Sp. 13-18. - Schwarz, Kar!: "Hugo Kaufmann", in: Ost und West II (1911), H. 2, Sp. 127-132. 13 Kahen, Dr. Arsene: "Die Erben des Islam", in: Ostund West II (1911 ), H. I , Sp. 19-26. 14 Tänzer, Rabbiner Dr.: "Ein deutscher Vorlaeufer der ,Alliance lsraelite Universelle' in frueheren Jahrhunderten", in: Ost und West 11 (1911), H. I, Sp. 25-34. 15 Yahuda, Dr. A.S.: "Ein bedeutender Fund althebraeischer Inschriften aus der Zeit des Koenigs Ahab von Israel", in: Ost und West II (1911 ), H. 2, Sp. I 09-118. 16 Kroner, Rabbiner Dr.: "Modeme Spruchweisheit", in: Ostund West II (1911 ), H. 2, Sp. 117-122. 17 Rohatyn, Dr. B.: "Die Gestalten des juedischen Volkshumors", in: Ost und West II (19li),H. 2, Sp.l21-126. 18 Altkirch, Ernst: "Das portugiesische israelitische Seminar ,Ets Haim' in Amsterdam", in: Ostund West II (1911), H. 2, Sp. 143-152. 19 Ostund West II ( 1911), H. I, Sp. 53-80; H. 2, Sp.l55-176. 20 [anonym]: "Hirsch Hildesheimer", in: Ost und West II (1911), H. I , Sp. 9-12. 21 "Schach". Redigiert von Dr. Emanuel Lasker, in: Ost und West II (1911 ), H. I, Sp. 8190; H. 2, Sp. 177-1 78.

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men/2 "Literarisches" mit zwei Buchbesprechungen,23 zwei Lieder samt Noten, 24 drei Porträtphotographien, 18 Reproduktionen bildender Kunst, die zu den beiden Künstlerporträts gehören, neun Photographien in der AlU-Beilage, 12 Photographien, Zeichnungen oder Porträts, die der Illustration der kleineren Beiträge dienen und schließlich ca. 160 Werbeanzeigen. Um zu klären, welche Funktionen den komplexen Vagheiten von "Rafael Gutmann" innerhalb der Hefte zukommen, wird im Folgenden zu analysieren sein, wie sich die übrigen Beiträge und die sonstigen Bestandteile der beiden Hefte zu den Problemkomplexen verhalten, an denen sich die Erzählung mit so vielen Schwierigkeiten abarbeitet: zunächst und zum ersten mit der Frage danach, auf welche Grundlagen man jüdische Identität hier überhaupt stützt und wie man vor allem ihre Stabilität nach innen und nach außen zu bewahren sucht. Ihre Beantwortung nehmen die Hefte ganz ähnlich wie die Erzählung zweifach in den Blick - als Frage nach dem Verhältnis zwischen Jüdischem und Nichtjüdischem und als Frage nach innerjüdischen Differenzen. In den Heften findet sich zudem eine ganze Reihe von Reproduktionen bildender Kunst, denen zwei ausführliche Künstlerporträts zugeordnet sind. Damit ist in beiden Heften auch der Komplex ,Kunst' präsent, der in der Erzählung "Rafael Gutmann" ja ins Umfeld tödlich endender Zugehörigkeitskrisen eingerückt wurde. Deshalb ist hier zum zweiten zu fragen, wie diese Beziehung außerhalb des Erzähltextes konzipiert wird und welche Form von Kunst es ist, die eine nunmehr gelingende Verbindung im Modell des jüdischen Künstlers ermöglicht.

1: Konzepte jüdischer Identität Die Beiträge der beiden Hefte beschäftigen sich nahezu ausschließlich mit explizit jüdischen Belangen- das allerdings in sehr verschiedenen thematischen Hinsichten und in unterschiedlichen Präsentations- und Redeformen. Judentum ist hier aufvielfältige Weise präsent: als national sortiettes Judentum der Gegenwart, als Ost- und Orientjudentum, als historisches, im Archiv und in Ausgrabungen entdecktes oder in Sammlungen archiviettes Judentum, als in der Alliance Israelite Universelle organisiertes Judentum, als Judentum in bildender Kunst und Aphoristik, in den beiden Todesanzeigen als "Persönlichkeits"-Judentum und in den Werbeanzeigen als kommerzielles Judentum. Wie vielfältig dabei auch die Argumentationsfiguren

22 Kali scher, Rabbiner Dr. : "Aphorismen", in: Ost und West II ( 1911 ), H. I, Sp. 89-92; H. 2, Sp. 179-192. 23 Ost und West 11 (1911), H. 1, Sp. 93-96. 24 "Das gold'ne Kalb". Aus der Sammlung Leo Winz, in: Ost und West 11 (1911 ), H. 1, Sp. 49-50.

~"Abschied

von den Eltern (Seid gesunderheit)". Aus der Sammlung Leo Winz,

in: Ost und West 11 (1911), H. 2, Sp. 153-154.

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sind, mit denen hier Jüdisches erfasst wird, sei mit einem ersten Blick auf den Leitartikel zum Januarheft von 1911, auf Sirnon Bemfelds "Das Jahr 191 0", angedeutet. Als Jahresrückblick konzipiert, präsentiert der Beitrag eine ganze Reihe von ,jüdischen Ereignisse[ n]" (191 0, Sp. 5) in Europa, Übersee und innerhalb der internationalen Organisation der AlU. Schon die einleitenden Sätze zeigen, dass eine solche, ausschließlich am Jüdischen interessierte Perspektive durchaus legitimationsbedürftig ist - und zwar sowohl mit Blick auf die dafür vorauszusetzende jüdische Differenz als auch mit Bezug auf die allgemeine Relevanz einer solchermaßen spezialisierten Aufmerksamkeit: "Neben den grosscn politischen Ereignissen des Jahres, an deren Bewertung man am Jahresschluss zu gehen pflegt, kommen für uns Juden auch jene Vorgänge in Betracht, die sich auf das Schicksal der Juden und auf das Judentum beziehen. Eigentlich hängen alle Ereignisse zusammen, die politischen und die sogenannten jüdischen, und vielleicht können wir das als eine Ehre und als eine Auszeichnung bezeichnen, dass die Judenfrage seit Jahrzehnten in vielen Staaten in die große Politik hineinspielt-ebenso wie die Geschichte des jüdischen Volkes zweifellos ein integrierender Teil der Weltgeschichte ist. Ein Rückblick auf die jüdischen Ereignisse des Jahres 1910 wird daher zum Teil eine Art politischer Revue des vergangenen Jahres sein." (1910, Sp. 5) Die argumentative Positionierung der ,jüdischen Ereignisse" wechselt hier mehrfach, zum Teil noch innerhalb eines Satzes: Wird sie zu Beginn des Abschnittes als Verhältnis zwischen Mehrheit und Minderheit konzipiert, worauf die Abgrenzung von den "grossen politischen Ereignissen" hindeutet, ist sie zugleich als von solchen quantitativen Relationierungen unabhängige und gleichberechtigte Nebenordnung in der Aufmerksamkeitsverteilung denkbar ("Neben den grossen politischen Ereignissen[ ... ] kommen für uns auch jene Vorgänge in Betracht, die sich auf das Schicksal der Juden und das Judentum beziehen.") Und am Ende wird zwischen ,jüdischen" und "politischen" Ereignissen ein Repräsentationsverhältnis postuliert, das gleichwohl nicht vollständig gilt ("zum Teil") und das sich mit dem Modell "Revue" nur vergleichsweise bezeichnen lässt ("in einer Art politischer Revue"). Ähnlich flexibel geht der Text mit der jüdischen Differenz selbst um. Markiert ist sie zunächst rein nominell ("Schicksal der Juden", "Judentum", "Judenfrage", "Geschichte des jüdischen Volkes", ,jüdisch[e] Ereignisse"), fundiert wird sie nur in zwei Fällen, einmal über die Gruppenbildung der Sprechinstanz ("für uns Juden", "wir") und einmal in der distanzierten Zitation einer herkunftslos bleibenden Zuschreibung ("die sogenannten jüdischen [Ereignisse]"). Daneben werden diese expliziten Abgrenzungen auch wieder aufgelöst und Mischzonen angenommen: So etwa in der Vermutung eines gesetzmäßigen und universalen Zusammenhangs ("[ e]igentlich hängen alle Ereignisse zusammen") oder in der Grenzüberschreitung in Richtung Mehrheitsbereich ("dass die Judenfrage seit Jahrzehnten in vielen Staa-

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ten in die grosse Politik hineinspielt") und schließlich in der Einordnung der jüdischen in eine Universalgeschichte (,,ebenso wie die Geschichte des jüdischen Volkes zweifellos ein integrierender Teil der Weltgeschichte ist"). Eindeutige Bestimmungen über jüdische Identität und ihre Positionierung in nichtjüdischen Umfeldern gibt der Beitrag also nicht, er arbeitet stattdessen mit variabel einsetzbaren Versatzstücken, auf deren Diskussionshaltigkeit zudem mit Formulierungen wie "eigentlich", "sogenannt" und "zweifellos" verwiesen ist. Im weiteren Verlauf der Argumentation orientiert sich der Text dann hauptsächlich an einem Minderheitenmodell, in welchem die jüdische Differenz im Rahmen einer nach Nationalstaaten sortierten Gliederung thematisiert wird. Der Umgang mit den Juden wird hier zu Prüfstein und Gradmesser für den Entwicklungsstand der jeweiligen Gesellschaften in den Prozessen von Aufklärung und Emanzipation. Antisemitische Phänomene und die Verweigerung religiöser Toleranz (etwa in der Frage des Schächtens) werden dann als eine Art Gegenaufklärung klassifiziert: "Im vorigen Jahr hat der Minister ,für Volksaufklärung ' - richtiger wäre: gegen die Volksaufklärung- einen neuen Schlag gegen das Bildungsstreben der Juden geführt [ ... ]." (1910, Sp. 7) Neben dieser dominant nationalstaatlich und fmtschrittsgeschichtlich ausgerichteten Perspektive lassen sich aber auch noch andere Ordnungsprinzipien erkennen: In den Absätzen zu Deutschland und England lösen Ausführungen zu politischen Parteien den Gegensatz zwischen unterdrückter jüdischer Minderheit und antisemitischer nichtjüdischer Mehrheit auf. Die Gruppe der Juden, die ansonsten in allen Nationen einen immer gleichen gemeinsamen Opferstatus besitzt, wird nun über Parteizugehörigkeiteil binnendifferenziert, so dass die Entgegensetzung Juden vs. Nichtjuden jetzt plötzlich irrelevant erscheint: "Die Juden als solche identifizieren sich mit keiner Partei, sondern schliessen sich jener Richtung an, der sie nach ihrer politischen Anschauung angehören." (1910, Sp. 8) Darüber hinaus bringt die typographische Gestaltung des Beitrages weitere Sortierungen ins Spiel: Das an den einzelnen Nationen ausgerichtete Strukturierungsprinzip, für das die Namen der Nationen am Beginn der jeweiligen Absätze gesperrt gesetzt sind, konkurriert dabei in zwei Fällen mit der Orientierung an innerjüdischen Themenfeldern- "Schächtfrage" und "Schankgesetze in Galizien" (1910, Sp. 6, Sp. 7) sind auf die gleiche Weise typographisch hervorgehoben. Und schließlich lässt sich eine weitgehende Flexibilität auch in der Gestaltung der Kommunikationssituation beobachten: Über weite Strecken geriert sich der Sprecher zwar als eine Instanz, die in sachlicher Manier Daten und Fakten liefert und zugleich einschätzt und bewertet und dabei fast immer anonym bleibt. In manchen Fällen artikuliert sie dabei ihre Norm- und Wertmaßstäbe doch auch mit emotionaler Verve, wie etwa im Abschnitt über "Russisch-Polen", in dem die Diskriminierungen der Juden als "gleisnerisch, scheinheilig und unaussprechlich perfid" (1910, Sp. 8) bezeichnet werden. In der Rede über die eigene ingroup findet sich dann sogar eine

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explizite Individualisierung - so im mehrfachen "wir" der oben bereits zitierten Einleitungspassage und im "ich" des letzten Abschnittes zur AlU: "Es geht mir mit der Alliance, wie mit dem jüdischen Volk, an dem ich stets etwas zu tadeln habe und an dessen Fortbestand ftir ewige Zeiten ich keinen Augenblick zweifeln möchte." (1910, Sp. 10) Der Leitartikel zeigt exemplarisch, was auch für alle anderen Beiträge gilt: Reflexionen übers Judentum kommen fast nirgends ohne einen Bezug auf Nichtjüdisches aus und die Analyse beider Aspekte kann mit einem ganzen Set an Argumentationsmustern erfolgen, die- wie in einer Art Werkzeugkasten- flexibel einsetzbar und miteinander kombinierbar sind. Im Folgenden werden eben diese Argumentationsmuster herauszupräparieren sein: Sie bestimmen nicht exklusiv die Kohärenz eines Einzeltextes, sondern sie lassen sich - über Textgrenzen hinweg - immer wieder und in diversen thematischen Zusammenhängen einsetzen. Unterschieden werden können dabei zunächst einmal zwei grundlegende Formen in der Konzeptualisierung des Jüdischen: eine relationierende Perspektive, in der Judentum immer mit Bezug auf nichtjüdische bzw. nicht als dezidiert jüdisch markierte Größen bestimmt ist. Hier wird vor allem nachzuweisen versucht, dass das Judentum kompatibel ist mit grundlegenden Werten der nichtjüdischen Kultur- weil es schon immer ein Teil von ihnen ist oder weil es sich ungehindert mit ihnen vergleichen lässt. Flankiert wird dieses Modell von einer Perspektive des Selbstbezugs: In den Auseinandersetzungen mit historisch altem und mit dem kulturell fremden Judentum der Ost- und Orientjuden kommen Binnendifferenzen ins Spiel, die ganz offenbar nicht zu sehr ins Gewicht fallen dürfen. Denn sie würden die homogene jüdische Gruppenidentität zu schwer irritieren- und so werden sie am besten nicht direkt thematisiert, sondern mit subtilen Verschiebungen innerhalb der Sprechsituation ebenso im Spiel gehalten wie umgangen. Alle Beiträge aber vermeiden die Überführung der vermerkten Differenzen in Alternativen oder Konkurrenzen - sowohl was die Unterscheidungen zwischen Jüdischem und Nichqüdischem als auch was die innerjüdischen, historisch oder kulturell bedingten Unterschiede betrifft. Der hier durchweg zu beobachtenden und mit verschiedenen Argumentationsmustern diskursiv geleisteten Nivellierung von Differenz entspricht dann das nicht diskursiv bearbeitete Nebeneinander vor allem von Jüdischem und Nichtjüdischem in den Aphorismensammlungen und in der kommerziellen Zone der Hefte in den Werbeanzeigen. Mit der relationierenden Perspektive wird Jüdisches hauptsächlich als eine Teilmenge übergeordneter Entitäten konzipiert; die jüdische Differenz tritt hier in den Hintergrund und kann zum Teil sogar gänzlich irrelevant gesetzt werden. Eine solche Einordnung spezifisch jüdischer Belange in übergreifende Zusammenhänge fand sich bereits im oben zitierten Jahresrückblick von Bernfeld, der das "Schicksal der Juden" in einer Art Repräsentationsverhältnis auf die allgemeinen politischen

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Ereignisse des Jahres 1910 insgesamt bezog. Ähnlich funktioniert der anonym verfasste Nachruf auf einen orthodoxen Rabbiner. 25 Zunächst entschärft der Text dessen orthodoxe Orientierung mit Bezug auf ein allgemeines Judentum, das interne Richtungsstreitigkeiten nicht kennt und sich stattdessen immer wieder aufs "Judentum" und auf die "Liebe zum jüdischen Volk" richtet, so dass schließlich sein "Wirken [ ... ] ein schönes Blatt unserer Geschichte ausfüllen [wird]." (Hildesheimer, Sp. 9) Diese Einbindung in ein bereits homogenisiertes Judentum wird nun außerdem kombiniert mit Zuordnungen zu Allgemeingrößen wie "Menschheit", "Menschenfreund", mit dem Kampf für die "Wahrheit", für das "Gute" und gegen das "Schlechte". Am Ende ist Hildesheimer "Priester im Heiligtume der Menschenliebe" (Hildesheimer, Sp. I 0, Sp. II, Sp. 12) und nun auch seine jüdische Differenz als kompatibel mit Universalia erwiesen. Die Differenz, die mit der expliziten Erwähnung der religiösen Spezialorientierung Hildesheimers durchaus ins Spiel kommt, weil es ,jedermann bekannt [war], dass Hirsch Hildesheimer dem orthodoxen Judentum angehörte", und auch er selbst "[s]eine religiöse Überzeugung [ ... ] niemals auch nur für einen Augenblick [hat] verleugnen wollen" (Hildesheimer, Sp. II ), wird zudem erst in der Mitte des Textes thematisch und bleibt so auch im Argumentationssyntagma gewissermaßen eingehegt von den Homogenisierungsintentionen des gesamten Textes. Das Gleiche, wenn auch in knapperer Form, gilt für die Rezension einer Monographie zum SinaiGesetz, die nicht die Toraals Bezugspunkt jüdisch-religiöser Praxis, sondern "jeden denkenden Menschen" in den Vordergrund stellt und vor allem die "Ausführungen über Liebe und Gerechtigkeit[ ... ] besonders anschaulich" findet. 26 Ähnlich auf verallgemeinerbare Relevanz ausgerichtet ist die knappe Notiz zur zweiten Auflage von Zollschans Untersuchungen zum "Rassenproblem", die die explizit im Untertitel der Monographie markierte Sonderrolle der "jüdischen Rassenfrage" ignoriert und stattdessen von einer von solchen Separierungen unberührten homogenen "neuesten Zeit" ausgeht, für die das "Rassenproblem eines derjenigen [ist], die [... ] den größten Einfluss auf Denken und Fühlen, auf Politik und Volkswirtschaft, auf das ganze soziale Leben genommen haben."27 Neben dieser dezidierten Unterordnung unter Allgemein- und Universalgrößen, bei der die jüdische Differenz erst auf niedrigeren - hier aber eben gerade nicht in den Blick genommenen - Stufen der Abstraktion sichtbar und relevant werden würde, positionieren die Texte jüdische Spezifika auch in Nebenordnungen mit Nichtjüdischem und unterstellen dabei Gleichwertigkeit und Austauschbarkeit. Eine

25 Anonym: Hi1desheimer. 26 [anonym]: "Sinai-Briefe", in: Ost und West 11 (1911), H. 1, Sp. 93-94, hier Sp. 94. 27 [anonym]: "Das Rassenprob1em", in: Ost und West 11 (1911), H. I, Sp. 95-96, hier Sp. 96.

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solche Äquivalentsetzung findet sich etwa im Artikel über Funde althebräischer Schriften, in der die Begeisterung des jüdischen Berichterstatters mit derjenigen Schillers bei der Entdeckung Pompejis verglichen wird: "Als vor 130 Jahren die Kunde von der Aufdeckung der Stadt Pompeji in die gebi ldete Welt drang, da erscholl ein Jubelruf allenthalben, und Schiller war es, der der Stimmung jener Zeit beredten Ausdruck verlieh . Nicht geringer wird die Begeisterung sein, wenn die Welt von der Blosslcgung der Stadt Samaria erfahren wird [... ]." 2R

Ebenso kann die Institution des Schadchan, die deutlich dem traditionellen OstJudentum zugehört, im Artikel über "Die Gestalten des juedischen Volkshumors" aktuellen Heiratsannoncen und den modernen "Heiratsvermittlungsbureaus" gleichgestellt werden, 29 und auf ganz ähnliche Weise lässt sich ein moderner jüdischer Aphoristiker auf Ibsensches Kraftmenschentum beziehen: "Diese Mischung [aus Pietät gegenüber dem alten Judentum und der "Neuformung ethischer Begriffe", M.P.] macht die Lektüre des Buches zu einer äußerst anziehenden, auf der einen Seite die Wertung der echten und wahren Gefühle, [... ] auf der anderen Seite die Forderung nach jenen Vollblut- und Kraftmenschen mehr Ibsenscher Art [... ]." 30 Eine weitere Möglichkeit in der Konzeption des Jüdischen zeichnet sich in den verschiedenen Verfahren von Selbstbezüglichkeit ab, die das Jüdische nicht als eine Differenz im Blick haben, die sich ein- und unterordnen oder vergleichen lässt, sondern die es bezugslos als selbständige Entität thematisieren. Das geschieht in den beiden Heften vor allem in zwei Themenkomplexen - in den Darstellungen jüdischer Geschichte und in den Darstellungen mehr oder weniger exotischer Ostund Orientjuden. So werden etwa in dem sechs Spalten umfangreichen Artikel Informationen über Geldsammelaktivitäten für Juden in Palästina präsentiert und dabei einigermaßen detaillierte Einblicke in die Organisation jüdischen Gemeindelebens im 16. und 18. Jahrhundert geliefert. 31 Im zweiten Heft findet sich der oben gleichfalls bereits angezeigte Bericht über aktuelle Ausgrabungen in den Ruinenstätten von Samaria, bei denen man auf Tonscherben mit althebräischen Inschriften gestoßen ist. 32 Der archäologisch bedeutsame Fund gibt wiederum Anlass für einen Rückblick in die altisraelitische Geschichte zur Zeit des Königs Ahab und des Propheten Elia. Flankiert werden diese Rückblicke auf eine dezidiert jüdische Geschichte von der Beschäftigung mit dezidiett jüdischen Existenzformen der Gegen-

28 A.S. Yahuda: Fund, Sp. 109-118, hier Sp. 11 7. 29 B. Rohatyn: Vo1kshumor, Sp. 124. 30 R. Kroner: Modeme Spruchweisheit, Sp. 119-1 20. 31 R. Tänzer: Ein deutscher Vorläufer. 32 A.S. Yahuda: Ein bedeutender Fund.

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wart, hauptsächlich mit Juden aus Osteuropa und aus dem Orient. Das Interesse an deren Lebenssituation fließt unter der Teilüberschrift "Russischpolen" in den oben analysierten Leitartikel von Berufeid ein; auch der Leitartikel des Februarheftes thematisiert die gegenwärtige Situation des galizischen Ostjudentums. Hauptsächlich verhandelt wird die Thematik aber im separierten Teil der Zeitschrift, in den "Mitteilungen aus dem Deutschen Bureau der Alliance Israelite Universelle".33 Beide Themenblöcke bringen innerjüdische Differenzen ins Spiel, aber zugleich scheint die Pluralisierung jüdischer Identitäten doch auch ein Krisenindikator zu sein. Das zeigt sich sehr deutlich an den Sitzungsprotokollen, Resolutionen und offiziellen Mitgliederrundbriefen, mit denen die "Mitteilungen" Zwistigkeiten zwischen der deutschen Sektion und der französischen Zentralverwaltung dokumentieren. Bedroht sieht man auf beiden Seiten "den universellen Charakter der Alliance"; der Streit darum lässt sich schnell beilegen, sobald man sich in "glückliche[m] Einvernehmen" wechselseitig versichert hat, "weiter eine erfolgreiche und segenbringende Tätigkeit im Dienste der Alliance" zu entfalten. 34 Neben den in diesem Falle national und institutionell verankerten Interessensdifferenzen muss in den historisch und ethnologisch ausgerichteten Artikeln aber auch das Verhältnis zwischen dem modem-gegenwärtigen Judentum und seinen historischen bzw. (noch) nicht modernisierten Formen moderiert werden. Solche Beziehungen zwischen verschiedenen Formen von Judentum werden gleichwohl nur in Samuels Leitartikel auch explizit zum Objekt von Reflexionen: "Das Judenelend in Galizien" wird hier als Konsequenz eines "tiefgehenden Atomisierungsprozesses" innerhalb der jüdischen Gemeinschaft gedeutet, in dem unter dem "Einfluss der seichten liberalistischen Aufklärung" eine "trennende Kluft" zwischen der "Oberschicht und den breiten Massen" entstanden ist. Nun findet sich auf der einen Seite ein "bildungsfeindliche[r] Fanatismus" und auf der anderen Seite eine jüdische Intelligenz, der die Ostjuden fremd, unbekannt und verächtlich sind. 35 Hauptsächlich ergeben sich die Binnendifferenzierungen des Jüdischen aber nicht auf solchen inhaltlichen Ebenen des explizit Besprochenen, sondern in der pragmatischen Textdimension im Verhältnis zwischen den j eweiligen Speechinstanzen und ihren Redegegenständen. In den Artikeln zu historischen Stufen des Judentums fällt dabei auf, dass der Sprecherhabitus immer wieder zwischen mehre-

33 Ygl. hier zum Beispiel [anonym]: "Die Unruhen in Schiras", in: Ost und West II (1911), H.1, Sp. 59-66. - Oder auch [anonym] : "Die Alliance-Expedition nach dem Yemen", in: Ost und West 11 (1911), H. 1, Sp. 66-78; H. 2, Sp. 159-176. 34 [anonym]: "Die neunte (ausserordentliche) Tagung der deutschen Conferenz-Gemeinschaft der A. l. U", in: Ost und West 11 ( 1911 ), H. 1, Sp. 53-58, hier Sp. 53-54, Sp. 5556. 35 B. Samuel: Judenelend, Sp. 106 u.ö.

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renRedeformen wechseln kann. Die Ausführungen zu einem "deutsche[n] Vorläufer der ,Alliance Israelite Universelle' in frueheren Jahrhunderten" gerieren sich etwa dominant als ein wissenschaftlicher Text: Den Regeln professionalisierter Historiographie folgend, werden Archive und Fundstücke benannt, Details zu Personen und Familien, zu rechtlichen und regionalen Bedingungen jüdischer Lebensweisen im 17. Jahrhundert geliefert, aus der für die Argumentation zentralen Quelle wird direkt und ausfuhrlieh zitiert und Forschungspositionen über die Einschlägigkeit diverser Quellen werden in Fußnoten, auch mit Verweis auf weiterführende Forschungsliteratur, diskutiert. Die Sprechinstanz übernimmt dabei hauptsächlich die Funktion einer objektiv ordnenden Faktenregistratur. Von dieser Neutralität wird aber in einer kürzeren Passage am Anfang des Textes abgewichen: Das "vollständig unbekannte[e] Geschichtsmaterial" kommt nicht nur "erstmalig zur Darstellung"/6 sondern es wird punktuell auch in Wert- und Sinnzusammenhänge der jüdischen ingroup eingeordnet: "Die alle Israeliten des Erdenrundes mit berechtigtem Stolze erfüllende Ruhmestat des 50jährigcn Bcstehens und unvergleichlich segensreichen Wirkcns der ,Alli ance' dü1fte eine nicht unwesentlich erhöhte Bedeutung durch die Aufdeckung der historischen Tatsache finden, dass eine der ,Alliance' ähnliche, wenn auch schon mit Rücksicht auf die beschränkten Verkehrsverhältnisse früherer Zeiten in weit engerem Rahmen gehaltene, dennoch aber ganze Länder umfassende Unterstützungs-Organisation schon in früheren Jahrhunderten bestanden hat."37

Die Distanz zwischen Forschersubjekt und Beobachtungsobjekt wird in dieser und einigen ähnlichen Passagen in eine andere Bezugslogik transferiert: Die Sprechinstanz gibt sich hier als kollektiv bedingt zu erkennen und thematisiert nun von dieser Position aus andere Vertrautheilen mit ihrem Untersuchungsgegenstand. Das ansonsten sachlich beschriebene Objekt ist Teil der eigenen Geschichte und kann besser verstanden werden, weil "wir" so "die gewaltige Macht unserer Religion über die Gemüter [kennen lernen], und wir lernen so auch unsere Vorfahren gerechter würdigen". 38 Die Forschungsergebnisse sind damit nicht nur im Umfeld der

36 R. Tänzer: Vorläufer, Sp. 27. 37 Ebd., Sp. 25f. - Vgl. außerdem: "Denn was in ihr so rühmenswert erscheint, ist ausschliesslich die ethische Erhabenheit des Judentums [... ]. Und eben dieses Judentum hat es fertiggebracht, schon vor vielen Jahrhunderten unsere Voreltern, die damals noch zumeist arme, ihres Lebens und ihrer Habe niemals dauernd sichere Schutzjuden waren, zu edlem Hilfswerke für die notleidenden Glaubensbrüder in Palästina zu organisieren." (ebd., Sp. 27) 38 Ebd.

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Wissenschaft etwas wert, sie dienen außerdem auch noch der Stärkung jüdischer Identität. Etwas komplizierter stellen sich die Verhältnisse im Beitrag über die Entdeckung althebräischer Inschriften dar. Auch hier nimmt die Sprechinstanz immer wieder die Position des wissenschaftlich referierenden Archäologen ein: im sachlichen Bericht, im Verweis auf weitere Forschungsergebnisse in Fußnoten, in den beigegebenen und untertitelten Photographien vom Fundort und in den Skizzen der Fundstücke. Diese sachliche, an faktischen Informationen ausgerichtete Sprecherhaltung wird aber über weite Teile des Textes aufgegeben zugunsten einer Position, die eine Art jüdisch engagierter Wissenschaftlichkeit favorisiert. Di e als "sehr erfreulich" klassifizierte und mit "besonderer Genugtuung" vermerkte Beteiligung jüdischer Geldgeber39 verwandelt dabei latent auch das ansonsten immer allgemein relevante Forschungsobjekt der althebräischen Inschrift in ein jüdisches. Der nicht dezidiert jüdische, sondern wissenschaftliche Blick auf alttestamentarische Geschichte ist zwar akzeptiert - der Anschluss an eine nicht ethnisch oder religiös markierte scientifzc community ist gleich zu Beginn des Artikels gesichert, wenn in einer Fußnote auf die Erstpublikation des Beitrags im Berliner Tageblatt ve1wiesen wird. Und zuweilen gleitet das Sprechersubjekt ja eben selbst in einen solchen wissenschaftlichen Rededuktus hinüber, mit der Freude über das jüdische Engagement aber erhält dieser Habitus aber doch auch einen Akzent von Fremdheit oder Distanz gegenüber dem jüdischen F orschungsgegenstand. Eine ähnlich indirekte jüdische Vereinnahmung zeigt sich auch in der geschichtlichen Einordnung der Fundstücke, die sich fast vollständig an die Perspektive der Prophetenzeit angleicht, um am Schluss des Textes das Wort gänzlich dem Propheten Elia zu überlassen: "Denn nicht Paläste noch Tempel, weder Siegessäulen noch Monumentalfiguren aus Felsenblöcken machten die Grösse Israels aus; auch nicht das Bild, nur das Wort Gottes ist es, was die Propheten in die grosse Welt hinausgesandt haben, das Wort Gottes, das, wie J eremia sagte (23,29), , wie ein Feuer ist, und wie ein Hammer, der Felsen zertrümmert! '" (Fund, Sp. 118)

39 "[ ... ] und es ist sehr erfreulich, dass sich für solche Unternehmungen auch grosse jüdische Mäzene fanden, die die Erforschung Palästinas in sehr generöser Weise unterstützen." (A.S. Yahuda: Ein bedeutender Fund, Sp. 110).- Außerdem: "[ .. .]und es muss uns mit besonderer Genugtuung erfüllen, dass die bedeutendsten Ausgrabungen und Entdeckungen im Heiligen Lande mit den Namen unserer verdienstvollen Glaubensgenossen verknüpft sind." (ebd., Sp. II I)

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Die Sprechinstanz vertritt also die Position einer interessierten Wissenschaftlichkeit, ohne die Option einer objektiv-neutralen Perspektive gänzlich aufzugeben: Die Entdeckung der Inschriften bestätigt und korrigiert Hypothesen über historische Epochen und generiert mithin Wissen und Wahrheit: "Einige Namen stimmen mit den bekannten biblischen überein; andere neue Namen gestatten einen tiefem Einblick in die religiösen Verhältnisse unter den ersten Königen von Israel und bestätigen in charakteristischer Weise die uns aus der Bibel bekannten Anschauungen jener Zeiten." (Fund, Sp. 115) Die Wissensgenerierung bleibt aber auch hier- ganz ähnlich wie im Beitrag über Vorläufer der AlU- kein Selbstzweck, sie lenkt die Aufmerksamkeit des Sprechers vielmehr auf Besonderheit und Vorrangstellung des jüdischen Volkes, zunächst in einer selbstreflexiven Volte mit Bezug auf die Regeln objektiver Historiographie: "Alles, was wir von der Geschichte Israels wissen, ist nicht aus Weihtafeln mit Votivfonneln noch aus Standbildern mit sclbstvcrhcrrlichcndcn, grosstucrischcn Inschri ften zusammengestellt: In Israel und Juda waren es zum grosscn Teil Propheten, die die Geschichte ihres Volkes schrieben, mit einer Objektivität und Wahrheitsliebe, die in der Geschichtsschreibi.Ulg

jener Zeiten ihresgleichen sucht." (Fund, Sp. 118) Darüber hinaus findet sich auch hier die Betonung einer allgemeinen Relevanz für die ganze Welt: "Dann [wenn noch mehr Inschriften gefunden werden, M.P.] erschiene uns die biblische Zeit in einem glanzvollen Lichte, neue Gestalten träten aus der Vergangenheit hervor - ein neues Stück Bibel würde der Welt geschenkt werden!" (Fund, Sp. 117) Zugleich aber wird hier die Lichtmetaphorik aufklärerischer Erkenntnis zur Aura, die Schriftfunde lassen ihre Medialität vergessen, die dargestellten Gestalten treten unmittelbar auf, so dass auch auf diese Weise die historisch-wissenschaftliche Distanz gegenüber dem Forschungsobjekt getilgt erscheint. Noch deutlicher nimmt der Beitrag über jüdischen Volkshumor die Position einer jüdischen Wissenschaft ein. 40 Hier weist die Speechinstanz die nichtjüdische Konstruktion eines "sogenannte[n] ,jüdische[n] Witz[ es]'" energisch als falsch zurück, weil er nicht mit der Realität und dem tatsächlichen Verständnis der ingroup übereinstimmt: "Dieser Kaffeehaus- und Börsenwitz, welcher bisweilen die Leser der Jugend und des Simplizissimus erheitert, würde in den Reihen wirklicher, einfacher Juden nicht das geringste Verständnis finden." (Volkshumor, Sp. 121) Die angemessene Zugangsweise stützt sich stattdessen indirekt auf ein Konzept des Verstehens, bei dem Forschungsgegenstand und Forschungsinstanz derselben Gruppe angehören, so dass der nichtjüdische Blick auf Jüdisches zum fremden und

40 B. Rohatyn: Volkshumor.

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eben deshalb auch nicht wahrheitsfähigen Blick wird. Dafür individualisiert sich die Sprechinstanz und deckt ihr Motiv für die Beschäftigung mit dem jüdischen Volkshumor auf. Dieses Motiv- die persönliche Betroffenheit in den Ereignissen um einen Blutbeschuldigungsprozess- stellt wiederum Gruppenidentitäteil her, die räumliche und zeitliche Differenzen nivellieren und schließlich auch die Rezipienten der Zeitschrift zum Wir des jüdischen Volkes vereinigen: "Es kam eine Zeit, da ich bei diesen Erzeugnissen des jüdischen Volkshumors Trost suchte. Das war die Zeit, als in jenem kleinen böhmischen Städtchen sich der Hilsncrprozcss abspielte. Nie im Leben werde ich die seelischen Qualen vergessen, die ich in jener Zeit erduldete. [... ] Mir war, als ob wir alle dort auf der Anklagebank sässcn, die besten Männcr unter uns, die edelsten und reinsten, aus den vcrgangcncn Jahrhunderten und in der Gegenwart." (Volkshumor, Sp. 122f.)

Der Übergang zur wissenschaftlichen Beschäftigung ist von hier aus nahtlos: "Was ich anfänglich mir selber zum Trost und zur Freude unternommen hatte, gewann allmählich ein objektives, wissenschaftliches Interesse." (Volkshumor, Sp. 123) Der Text kritisiert also keineswegs den objektiven Zugriff auf emotional oder sonst wie berührende Gegenstände, die dann "getötet" oder verfälscht würden. Die Lebendigkeitsmetaphorik bleibt deshalb auch in den Passagen, die die Wissenschaftlichkeit der eigenen Arbeit betonen, präsent: "Der Stoff gliederte sich gleichsam von selber organisch, und aus der Masse des Gesammelten tauchten allmählich lebendige Gestalten herauf, die als Schöpfungen der jüdischen Volksphantasie lebensvoll vor mir standen." (Volkshumor, Sp. 123) Eine weitere Option für eine solche Annäherung zwischen der Sprech- bzw. Beobachtungsinstanz und ihrem jüdischen (Rede-)Objekt findet sich im Konzept einer Art teilnehmender Beobachtung. Samuels Beitrag etwa führt Fehlurteile und Fehlentscheidungen über Charakter und Lebenserfordernisse der galizischen Juden auf Erfahrungsdefizite der Urteilsinstanzen zurück, die sich nur durch "langjährige[n] Umgange mit den galizischen Juden selber" beheben lassen: " Wer jedoch die Juden in Galizien kennen gelernt hat, nicht aus den Fenstern des Eisenbahnwaggons auf einer Spazierfahrt durch das Land, oder von der Höhe des Frühstückstisches im vornehmen Restaurant, nicht aus den Berichten der genugsam bekannten Sorte von Galizienforschern, sondern aus langjährigem Umgange mit den galizischen Juden selber, wer mit ihnen gelebt und sie beobachtet hat, wie sie leben, arbeiten, entbehren, kämpfen und sich empO!·arbeiten, und wer sie im Auslande gesehen hat, in einem anderen Milieu, unter anderen

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Lebensbedingungen - der wird wahrlich nicht geneigt sein, diesen Kranken für unheilbar zu haltcn."41

Erst das "Zusammen-Leben" ermöglicht mithin ein adäquates, das heißt hier sachgerechtes Krisenmanagement. Die Zugehörigkeit zur jüdischen ingroup tritt dabei in den Hintergrund, wie der wohlwollende Verweis auf die nichtjüdischen Funktionsträger zeigt, die "über die wirkliche Lage der in Betracht kommenden Bevölkerungsschichten einigermassen unterrichtet sind",42 und die deshalb als einzige Mitglieder der eingesetzten Kommissionen angemessen werden handeln können. Problematisch ist in diesem Text also nicht die Distanz, die sich aus einem neutralwissenschaftlichen oder gar aus einem fremden Blick auf jüdische Belange ergibtauch in diesem Modell bleibt der Mitlebende ein (distanzierter) Beobachter, auch Nichtjuden können Vieles und Richtiges über die Situation von Juden wissen, wenn sie denn solides Faktenstudium betreiben und auf die Synthetisierung unterschiedlicher Interessen achten, wobei vor allem Letzteres wiederum als ein spezifisch jüdisches Interesse herausgestellt wird: "Allein diese [die Vorfahren und Vertreter der Haskala, M.P.] verstanden unter Bildung nicht eine oberflächliche Politur, sandem eine tiefe Synthese zwischen dem Judentum und den besten Gütem der europäischen Kultur. " 43 Für fast alle Artikel der "Mitteilungen aus dem Deutschen Bureau der Alliance Israelite Universelle" ist ein ähnliches Prinzip der teilnehmenden Beobachtung Basis der Darstellung. Wie der Bericht über eine Expedition in den Jemen, der in mehreren Fortsetzungen in der Zeitschrift abgedruckt wird, 44 exemplarisch zeigt, werden hier hauptsächlich detaillierte Sachinformationen zum Gegenstandskanon der zeitgenössischen volkskundlichen Forschung geliefert: Daten zu Bevölkerungszahlen, sozialen Schichtungen, Geschlechterfunktionen, Kindererziehung, religiösen Praktiken, Kleidung, Nahrung, Erwerbstätigkeiten und über ähnliches mehr. 45 Der

41 B. Samuel: Judenelend, Sp. 102. 42 Ebd., Sp. 103. 43 Ebd., Sp. 106. 44 Neben den oben bereits aufgeführten Folgen in den hier interessierenden beiden ersten Heften des 1911er Jahrgangs: [anonym]: "Die Alliance-Expedition nach dem Yemen", in: Ost und West 11 (1911), H. 3, Sp. 261-292; H. 4, Sp. 373-376; H. 5, Sp. 467-480. 45 Vgl. zum Beispiel: "Auf der Straße sehe ich die ersten jüdischen Frauen. [... ] Sie tragen ein blaues Leinenhemd, das sackartig, ohne Falten, bis über die Knie reicht; das darunterliegende enge Beinkleid mit farbigen Gamaschen reicht bis zu den Fersen." (Anonym: Expedition, Sp. 77). - "Ich verstehe nicht alles und lasse mir gewisse Worte in hebräischer Sprache wiederholen, aber trotzdem ist die Verständigung schwer, weil ihre Aussprache eine ganz andere ist. Sie haben eine grosse Mannigfaltigkeit der Töne, von den

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hier vorherrschende sachliche, in manchen Fällen auch durch Bild- und Tabellenmaterial ergänzte Berichtsgestus wird nur selten, und dann vor allem in Darstellungen von Pogromen und anderen antisemitischen Ausschreitungen durchbrachen. Hier können, wie im Artikel über die "Unruhen in Schiras" im Januarheft, die Ereignisse Vorstellungskraft und Redefähigkeit des Berichterstatters an Grenzen bringen, wenn "die Vorgänge, die sich gestern hier im Judenviertel abgespielt haben, [ ... ] an Schrecken und Barbarei alles [übertreffen], was die furchtbarste Phantasie sich vorzustellen vermag", oder wenn der Sprecher sich fragt, wie er "das schreckliche Elend, die fürchterliche Verwüstung beschreiben [soll], die sich [s]einen Augen darbot. " 46 Die Empathie, die der Sprecher dabei seinem Redegegenstand gegenüber zum Ausdruck bringt, ist aber nun eher allgemein philanthropischer oder humanistischer Art und nur am Rande ein dezidiert jüdisches Mitleid mit Juden. Dafür spricht, dass die Verbrechen als von "Besessene[n]" und "Wahnwitzige[n]" in "anarchische[m] Zustand begangene und als "Fanatismus", "Teufelswerk" und "Vandalismus" (Unruhen, Sp. 6lf.) bezeichnet werden, so dass der Sprecher die Position eines Verteidigers aufgeklärter Zivilisiertheit einnehmen und von dort aus archaisches Verhalten aburteilen kann. Die Selbstzuordnung zur jüdischen Gruppe geschieht dabei nur beiläufig und mit floskelhaften Formeln wie "unser[e] unglücklichen Glaubensgenossen", "mein[e] Glaubensgenossen", "[u]nsere armen Glaubensgenossen" (Unruhen, Sp. 6lf.), die in den "Berichten" und auch in einschlägigen Artikeln der gesamten Zeitschrift immer wieder und stereotyp verwendet werden. Außerdem bleibt eine solche floskelhafte Eingliederung der Speechinstanz in diese Gruppe punktuell, weite Teile des Textes reden in wiederum distanzie1tem Gestus von "den Juden". Der sachliche Berichtsgestus ist mithin bestimmt von einer kolonialistisch geprägten Sprecherhaltung, die das Verhältnis zwischen sich und dem Redegegenstand als Zivilisationsgefälle modelliert, in dem sich kultivierte Beobachter und "Wilde'" gegenüberstehen und in dem die Bildungs- und Entwicklungshilfe, die die Vertreter der Alliance erbringen, von beiden Seiten als Unterstützung zur Menschwerdung interpretiert wird: "Alle sagen mir dasselbe: , Wir wissen nichts, wir verstehen nichts, wir sind Wilde und wollen Menschen werden [... ]. "'47 Ein solcher Blick auf die unterentwickelte Zivilisiertheit orientalischer Juden wird vor allem an der mangelnden Körperbeherrschung, an Unsauberkeit und am Fehlen subtilerer Fmmen von Selbstdisziplinierung ausgemacht: So müssen die Expeditionsteilneh-

gedehntestenbis zu den rauesten: dj, dh, gu - jeder Buchstabe hat seine Bedeutung und jedes Wort gewinnt dadurch an Fülle." (ebd., Sp. 163) 46 Nataf: "Die Unruhen in Schiras", in: Ost und West II (1911), H. I, Sp. 59-66, hier Sp. 59. 47 Anonym: Die Alliance-Expedition, Sp. 162.

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mer "doch alles selbst machen, weil diese Leute [die einheimischen Bedienten, M.P.] keine Ahnung von Sauberkeit haben", so "versperren" die Einheimischen, sobald sie angeredet werden, "den Zutritt zu ihren Läden vollständig mit ihren Körpern, reissen die Augen auf, und ihre Seitenlöckchen geraten in groteske Bewegungen", so sind die angebotenen Speisen "wenig appetitlic[h]", oder so fehlt den Juden von Sanaa "vor allem Ordnung, Methode und Benehmen" (AllianceExpedition, Sp. 67, Sp. 159, Sp. 162). Hier und auch in denjenigen Texten, die sich mit dem Ostjudentum beschäftigen, gilt außerdem, dass die Glaubensgenossen als passive, amorphe und weitgehend namenlose Gruppe konzipiert sind: Sie können nicht aktiv und selbstständig auf Pogrome und sonstige Diskriminierungen reagi eren und bleiben den Ordnungsstörungen hilflos ausgeliefert. Die Beseitigung des "Chaos" etwa nach dem Pogrom in Schiras übernimmt der Alliance-Vertreter im Verbund mit den hiesigen Kolonialmächten: So ist der "europäische Arzt der indisch-europäischen Telegraphenlinie, Dr. Kelly, [ ... ] auf [s]ein Ersuchen mit seinen Assistenten und mit dem englischen Marineleutnant Lang [ ... ] in das Judenviertel gekommen, um die Verwundeten zu verbinden", wird er "bei dieser traurigen Gelegenheit" "in hingebendster Weise" vom englischen Konsul unterstützt oder ist er es, der anordnet, "dass die Toten sofort bestattet werden und dass man ihnen statt der leinenen Leichentücher Baumwollstoff gibt" (Unruhen, Sp. 64). In Sanaa beginnen nicht die jüdischen Gemeinden, sondern eben wiederum die Alliance-Vertreter mit Zählung und statistischer Aufbereitung der jüdischen Bevölkerung fur Verwaltungs- und Organisationszwecke: "Ich schlage eine neue Zählung vor und bin eigentlich auf das Veto der zahlreich in der Versammlung vertretenen Rabbiner, der ,More', gefasst, denn in Damaskus und in Bagdad bin ich fur denselben Vorschlag beinahe exkommuniziert worden. Hier aber erhebt sich kein Widerspruch." 48 Zugleich bleiben die Ost- und Orientjuden in den Beiträgen beider Hefte namenlos; Individuelles ist höchstens als Exempel flir Generelles relevant, wie sich etwa in einer Passage zeigt, die an den Überblick über Zerstörungen, Tote und Verwundete nach dem Pogrom angefügt ist: "Unter den Verwundeten befindet sich ein erst vorgestern verheiratetes junges Ehepaar. Dieselbe Kugel hat, wie mir erzählt wurde, alle beide in dem Augenblick getroffen, als sie ein paar Sachen zusammenraffen wollten, um zu entfliehen." (Unruhen, Sp. 64) Ansonsten geht der Subjektstatus dieser Juden vollständig unter, er kommt einzig den Sprechinstanzen zu, die allesamt als Autoren namentlich und zum Teil auch in den Berufsbezeichnungen spezifiziert sind: Für den Artikel zu den Unruhen von Schiras wird etwa das Namenskürzel "Nataf" ergänzt um die Angabe "Direktor der Alliance-Knabenschulein Schiras" (Unruhen, Sp. 59), flir die Alliance-Expedition wird dem Autor Jom-

48 Ebd., Sp. 163.

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tob Semach sogar ein erläuternder Kommentar der Redaktion beigegeben: "Wie im Juniheft 1910 dieser Zeitschrift bereits mitgeteilt, hatte das Centrai-Comite Herrn Jomtob Semach, Direktor der Alliance-Schule in Beyrut, gebeten, sich nach Yemen zu begeben, um die Lage der Israeliten und die Mittel zur Organisation eines Schulwerks in Sanaa zu studieren." (Alliance-Expedition, Sp. 829) Gleiches gilt für die Helferfiguren, die durchweg nicht zur Gruppe der Ost- und Orientjuden gehören, wie in Samuels Beitrag zum "Judenelend in Galizien" besonders deutlich wird: "Man kann getrost sagen, dass unter der ganzen Versammlung [... ] nur zwei Persönlichkeiten da sind, die über die wirkliche Lage der in Betracht kommenden Bevölkerungsschichten einigermaßen untcn·ichtct sind. Ich meine den Landesmarschall Grafen Stanislaw Badcni und den Gewerbeinspektor Hcn11 ArnulfNavratil. GrafBadcni, der seit seiner Jugend auf der Provinz in der Landesverwaltung tätig, und seit nahezu zwanzig Jahren deren Chef ist, überblickt die ökonomische Entwicklung des ganzen Landes, und notwendig auch der Juden, vo1irefflich. Ucbcrdics ist er als Eigentümer mehrerer kleiner Städtchen und Dörfer in fortwährendem unmittelbarem Kontakt mit deren jüdischen Einwohnern gewesen und spricht sogar ihre Sprache perfekt." (Judenelend, Sp. l 03f.)

Auch in der Darstellung einzelner Figuren in den Photographien und Gemäldereproduktionen interessiert man sich nur in ganz wenigen Fällen überhaupt einmal auch für Namen: Zwei der Photographien, die dem Bericht zur "Alliance-Expedition in den Yemen" beigegeben sind, sind mit den Namen der Dargestellten versehen ("More Jhye, EI Gaveh, More Ahran Cohen"), zugleich wird mit der Bildüberschrift "Yemenitische Juden" die Hauptaufmerksamkeit aber doch auf die Gruppenidentität gelenkt (Alliance-Expedition, Sp. 68, Sp. 71). Auch in den Gemäldereproduktionen geht es um die Darstellung gruppenrelevanter Eigenschaften, wie etwa in den Bildern von Frankfort, die entweder Gruppen oder Einzelfiguren in realistischer Manier präsentieren, in den Titeln aber dann zu Repräsentanten spezifisch jüdischen Lebens - wie etwa des "Talmudstudium[s]", der "Vorbereitung zur Predigt", des Lesens eines "Ehescheidungsbrief[s] ", eines "Gottesdienst[es] in der Amsterdamer Portugiesischen Synagoge" oder des "Anlegen[s] der Gebetsriemen" - gemacht werden. 49 Mit den bisher gemachten Beobachtungen lässt sich einigermaßen deutlich erkennen, dass die Textbeiträge der beiden Hefte allesamt ganz offensichtlich zweierlei zu vermeiden suchen: zum einen die präzise Bestimmung dessen, was gegenwärtiges Judentum eigentlich ist und zum anderen eine Pluralisierung jüdischer Identitätsofferten und die Konkurrenz mit Nichtjüdischem.

49 Ost und West 11 (1911), H. 1, Sp. 11-12, Sp. 19-20, Sp. 25-26, Sp. 29-30.

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Bei der beständigen Rede über Juden und Judentum ist es durchaus auffällig, dass die Hefte kaum explizite, distinktiv-qualifizierende Merkmale für ein gegenwärtiges, deutsch-europäisches Judentum liefern. Einzig Samuel und Kalischer versuchen sich an solchen Charakteristiken - Samuel gleichwohl als Krisendiagnostiker, der in den assimilierten und überbildeten Juden Verfallserscheinungen sieht, die kaum noch zum Judentum zu zählen sind; Kalischer wiederum nur knapp aphoristisch mit deutlichem Interesse an Überzeitlichem. Auch die Relevanz der Normen und Werte des historischen und des Ost- und Orientjudentums für ein gegenwärtiges Judentum findet sich nirgends systematisch-diskursiv entfaltet, denn über weite Strecken werden beide Gruppen nach den Normen sachlicher Objektivität präsentiert, ftir die Gruppenidentitäteil grundsätzlich keine Rolle spielen. Erst in den punktuellen Konkretisierungen der Sprechinstanzen werden sie zu Gegenständen von jüdischem Interesse und könnten auf diesem Weg auch potentiell norm- und werthaltig für die jüdische Identität der Sprecher werden und sie damit beeinflussen. In solchen Formen von Zuordnung oder Selbsteingliederung konstituiert sich dann eine jüdische Gruppe, die sich entweder ganz allgemein auf Volk, Stamm, Rasse, Glaube oder Familie stützt, die aber auch in manchen Fällen noch weiter als eine Gruppe mit spezifischen Eigenschaften ausgegeben werden kann : als Leidensgemeinschaft mit besonderer Vitalität und mit besonderem Solidaritätsempfinden in den Beiträgen über denjüdischen Volkshumor und über die Vorgänger der Alliance Israelite Universelle oder als Glaubensgemeinschaft, die Prophetenwort, Schrift und Geist höher als alles andere (und als alle anderen) schätzt im Beitrag über die in Samaria entdeckten antiken Inschriften. Diese Gemeinschaftskonkretisierungen bleiben, wie gesehen, durchweg an einen emotionalisierten Redegestus gebunden, der den parallel laufenden objektivsachlichen und wissenschaftlichen Diskurs durchbricht. Nur aus dieser spezifisch interessierten Teilhabe lässt sich dann auf Normen und Werte einer jüdischen Gegenwartsidentität schließen: Die werden aber gerade nicht diskursiv-systematisch entwickelt, sondern sie diffundieren auf der Basis emotionaler Annäherung von den Redegegenständen auf die Sprecherpositionen. Weil die Texte nur diese beiden Formen im Umgang mit historischem und Ost- und Orientjuden kennen - wissenschaftlich-objektiv auf der einen, emotional engagiert auf der anderen Seite-, bleibt ungeklärt, welche Gemeinsamkeiten und Differenzen hier mit Blick auf ein gegenwärtiges, europäisch-deutsches Judentum bestehen könnten: Der wissenschaftliche Beobachter ist kein Jude, und wo sich die Sprechinstanz dezidiert als jüdische zu erkennen gibt, übernimmt sie im emotionalen Engagement einfach die Eigenschaften der nunmehr differenzlosen ingroup. Vermieden ist ebenso der Effekt der Konkurrenz, der sowohl im Umfeld der analysierten Binnendifferenzierung des Judentums als auch in der Relationierung von Jüdischem und Nichtjüdischem akut wird. Die internen Differenzierungen des Jüdischen werden in den beiden Heften entweder historisch im Verhältnis zwischen

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Vergangenheit und Gegenwart gefasst, oder aber als Verhältnis zwi schen verschiedenen, gegenwärtig präsenten jüdischen Lebensformen. Dabei ist für die historischen Beiträge die Differenz zwischen vergangenem und gegenwärtigem Judentum in eine epistemische Distanz des Beobachtersubjekts seinem Gegenstand gegenüber transferiert. Die kann zugunsten von Annäherung und Gemeinschaftsbildung aufgehoben werden, wenn auf der Objektebene nachgewiesen wird, dass jüdische Vergangenheit und jüdische Gegenwart so Einiges gemeinsam haben. Samuels Beitrag zu Galizien nimmt als einziger zwar durchaus die Differenzen zwischen aktuell nebeneinander existierenden Formen des Judentums in den Blick, gleichwohl nur in der Extremform der totalen Entfremdung zwischen assimiliert-gebildeten und fanatisch gläubigen Juden. Als Ausweg aus dieser Spaltung wird aber nicht etwa eine Art gelassene Koexistenz vorgeschlagen, sondern die vollständige, jede Differenz wieder tilgende Homogenisierung. Die Alliance-Artikel wiederum verorten die "exotische[n]" (Alliance-Expedition, Sp. 67) Orientjuden auf der Achse von Zivilisations- und Kulturgeschichte, so dass die Differenz zwischen ihnen und den Sprechinstanzen zu einer Differenz zwischen verschiedenen Entwicklungsstufen wird, mit den , Wilden' auf der früheren und dem mehrfach disziplinierten jüdischen Subjekt auf der späteren und also fortgeschritteneren Position. Auch hier ist das Ziel die Homogenisierung, die Aufhebung der Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen. Bis es so weit ist, ist immerhin die punktuelle und floskelhafte Betonung der Verwandtschafts- und Religionsgemeinschaft in der stereotyp gebrauchten Rede von den "Glaubensgenossen" und den "armen Brüdern und Schwestern" möglich. Zugleich wird die kulturell-ethnische Differenz aber auch noch in eine Sprecherhierarchie überführt, bei der es dann nicht mehr nur um die Einsortierung unterschiedlicher jüdischer Lebensformen geht, sondern auch um Definitions- und Redemacht Die erhält nur ein im obigen Sinne kultiviertes und fortgeschrittenes Subjekt, das dann ausschließlich als einzelnes und individuelles über die Gruppe der weniger zivilisierten Juden reden kann und nicht etwa mit ihr. Auf ähnliche Weise ist die Konkurrenz von Jüdischem und Nichtjüdischem vermieden: Hier werden Differenzen hauptsächlich im Rekurs auf weitbesetzte Kollektivsingulare und Universaha wie Menschheit, Menschlichkeit, Fortschritt, abstrakte Moralität oder Glaube/Religiösität nivelliert, und explizite Abgrenzungen gibt es nur gegenüber Phänomenen des Antisemitismus. Aber hier erscheinen zwar auf inhaltlicher Ebene Juden und Antisemiten scharf voneinander getrennt, die Grenzziehung selbst geschieht aber wiederum durch das diszipliniert-zivilisie1te, fortschrittliche Subjekt, so dass allgemeine (bürgerliche) Norm- und Weitraster und gerade nicht spezifisch jüdische Urteilsmuster in die Argumentationsstrukturen diffundieren und sich die Abgrenzung der Juden in letzter Konsequenz als Konstrukt einer antisemitischen, und das heißt hier dann undisziplinierten, unkultivierten und unzivilisierten Masse erweist.

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Jüdisches und Nichtjüdisches bringt die Zeitschrift darüber hinaus aber auch noch in nicht diskursiven Formen zusammen: in den beiden Aphorismensammlungen, in denen knappste Formulierungen zu spezifisch jüdischen Problemen neben und unter Formulierungen ohne solche Bezüge stehen, so dass etwa eine Sentenz wie "Das Leben des Judentums setzt sich aus Millionen von Sterbestunden zusammen." direkt über die Feststellung, dass "[a]uf staatlichem Gebiet [ ...] Ordnung schon alles, auf religiösem noch nichts [ist]" gesetzt ist, 5° ohne dass diese sehr unterschiedlichen Positionen auf irgendeine Weise explizit zueinander in Bezug gesetzt oder in ihrem Verhältnis problematisiert werden. Das geschieht außerdem in der Anordnung des kommerziellen Teils der Zeitschrift: Die Werbeanzeigen präsentieren sich mit zwei Rubriken ("Geschäftliche Ankündigungen",51 "Pensionate, Unterrichtsanstalten, Sanatorien und Hötels" 52) zwar schwach strukturiert. Konsequente Sortierungen - etwa nach beworbenen Objekten oder nach graphischer Gestaltung - lassen sich, mit Ausnahme der redaktionellen Werbung, die nur in den "Geschäftlichen Ankündigungen" vorkommt - nicht finden. 53 In dieser kaum geordneten Zusammenstellung sind die Produkte für ein dezidiert jüdisches Publikum - etwa für koschere Hotels, Pensionen und Genussmittel - nicht als Sonderkategorie markiert. Und auch dort, wo Werbeanzeigen in den redaktionellen Teil der Hefte diffundieren, zeigt der zwischen sie gesetzte schwarze Querbalken nicht durchweg die Trennung von jüdischer Thematik und nichtjüdischen Produkten an, sondern verweist auf presseformaler Ebene ganz einfach auf die Trennung von redaktionellem und kommerziellem ZeitschriftenteiL Dabei kommt es auf den einzelnen Seiten zwar vor allem zur Zusammenstellung von jüdischer Thematik und nichtjüdischer Werbung, möglich sind in dieser wenig regulierten Zone aber eben auch die Kopplung vonjüdischer Thematik zum Beispiel in Aphorismen zum Judentum und Werbung für koschere Margarine. 54 Ebenso aber lässt sich eine Kombination der ohne jeden Bezug aufs Judentum auskommenden Schachrubrik mit Werbung für nichtjüdische Produkte finden, so etwa für Stiefel, Zigaretten, Hautcreme, Mundwasser und Kindernahrung. 55

50 Vgl. dazu auch: "Nicht bloß die schrankenlose Gerechtigkeit- auch die schrankenlose Liebe gäbe der Welt den Todesstoß." (R. Kalischer: Aphorismen, Sp. 187) - "Das Judentum ist ein Ofen, der drei gewaltige Säle heizt: den eigenen, den des Christentums und den des Islams." (ebd., Sp. 188) 51 Ostund West II (1911), H. I, Sp. 93-94, Sp. 95-96; H. 2, Sp. 189-190. 52 Ostund West II (1911), H. I, Sp. 93-94; H. 2, Sp.l89-!90. 53 Werbung zu Pensionaten und Hotels finden sich also auch außerhalb der entsprechenden Rubrik, die auf diese Weise nur unvollständig sortiert ist. 54 Ost und West II (1911), H. 2, Sp. 187-188. 55 Ostund West II (1911), H. 2, Sp. 177-1 78.

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Bevorzugt im kommerziellen Bereich der Hefte bleibt die Differenz zwischen Jüdischem und Nichljüdischem mithin diskursiv unbearbeitet, also kommentarlos neben- und untereinander gestellt. Diese Zone ist nun nicht radikal von den redaktionell verantworteten Beiträgen getrennt, sondern sie wird in gelockerter bzw. reduzierter Verbindung zu ihnen gehalten: Sie ist in die durch das Jahr hindurch laufende Spaltennummerierung eingebunden, und sie wird im Heftinhaltsverzeichnis zusammen mit zwei redaktionellen Rubriken ("Aphorismen" und "Literarisches") separiert aufgeführt. Ihre Sonderposition ist dabei typographisch markiert, weil die Titel hier zentriert - statt, wie für alle anderen Beiträge üblich - in Spaltensatz gesetzt sind. Sie ergibt sich aber auch aus der Art der Rubrizierung, bei der auf die Nennung von Unterrubriken und auf die Nennung von Autornamen und Beitragstiteln verzichtet wird. Das gilt ebenso für die Rubrik "Literarisches", die nur die zu rezensierenden Titel und nicht den Rezensenten benennt, auch in der Rubrik "Aphorismen" wird im Inhaltsverzeichnis zwar der Titel, nicht aber der Verfasser benannt. Der kommerzielle Bereich ist damit in den Heftinhaltsverzeichnissen und in der Heftordnung selbst als Teil des weniger strukturierten Bereichs der Zeitschrift, und das heißt hier vor allem eines Bereichs, in dem Werk- und Autorkategorien eine geringere Rolle spielen. Im Jahresinhaltsverzeichnis, also dort, wo die Zeitschrift ihre mehr oder weniger zeitgebundenen Beiträge in ein auf größere Dauerhaftigkeit ausgerichtetes Archiv einstellt, taucht der kommerzielle Bereich dann allerdings nicht mehr auf. Damit ist es in der Zeitschrift also zwar möglich, Jüdisches und Nichtjüdisches unproblematisiert nebeneinander zu präsentieren, zugleich ist aber auch die Relevanz einer solchen Form von nicht weiter bearbeiteter Kopräsenz geregelt und eingeschränkt: Auf der Ebene der numerischen Kohärenz (Spaltennummerierung) ist sie integerer Bestandteil der Hefte, auf der Ebene der monatlichzeitgebundenen Klassifikation der Beiträge (Heftinhaltsverzeichnis) zählt sie zu den werk- und autorfernen Elementen, die typographisch von den nach Werken und Autoren individualisierten Produkten abgegrenzt wird. Gänzlich irrelevant ist sie im Rahmen einer auf längerfristige Geltung angelegten Speicherung (Jahresinhaltsverzeichnis). Die Schach-Beiträge gelangen nun zwar mit ihrem Bearbeiter Emanuel Lasker im Jahresinhaltsverzeichnis in die Rubrik "Aufsätze", sie sind dort aber zugleich die einzigen Beiträge, die sich überhaupt nicht mit Jüdischem beschäftigen. Ihre Verschiebung in den hinteren Teil des Heftes, wo ihnen wegen der Dominanz der Annoncen manchmal nur ein Fünftel der Seite an Platz bleibt, hält damit gewissermaßen aufumgekehrte Weise an der beschriebenen Ordnung fest. So lässt sich nun abschließend festhalten, dass das gleichgewichtige Nebeneinander von verschiedenen Formen des Jüdischen und von Jüdischem und Nichtjüdischem in beiden Heften nicht als eine diskursiv bestimmte oder systematisch verhandelte Option vorkommt. Entsprechend unbearbeitet bleibt so das Problem der Konkurrenz, bei dem Alternativen gegeneinander abgewogen, Kompromisse gefunden und

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vor allem die begrenzten Reichweiten aller der hier verhandelten Konzepte hingenommen werden müssten. Stattdessen werden solche Differenzen und latenten Konkurrenzen über Argumentationsstrategien und Sprecherpositionierungen mehr oder weniger subtil irrelevant gesetzt (im objektiven Blick auf vergangenes und Ost- und Orientjudentum), nivelliert (in den Angleichungen an unspezifizierte Universalia) oder schließlich sogar getilgt (im emotionalisierten Redegestus der ingroup) oder einfach ignoriert (Aphorismensammlungen, Werbeanzeigen). In dieser Konkurrenzvermeidung verliert nun aber auch das Normen- und Wertesystem der beiden Hefte an jüdischer Spezifik: Die Position, von der aus im Medium über Judentum gesprochen wird, ist selbst keine, die sich als eine bestimmte jüdische identifizieren ließe- und das eben nicht deshalb, weil in den beiden Heften Judentum derart heterogen konzipiert werden würde, dass ein gemeinsamer Nenner nicht mehr zu finden wäre, sondern weil diese verschiedenen Inhalte mit denselben, auf Entdifferenzierung ausgehenden Argumentationsstrategien bearbeitet werden und weil dabei außerdem problemlos zwischen explizit jüdischen und unmarkierten, neutralen Sprecherpositionen gewechselt werden kann und weil schließlich auch auf eine explizite Bestimmung dessen, was Judentum gegenwärtig ist, verzichtet wird. II: Kunst und Judentum In "Rafael Gutmann" war es die Kunst, die in einem jüdischen Umfeld schwerste Krisen auslöste, die freilich weder vom Protagonisten noch vom Text selbst in ihrem Charakter vollständig durchschaut wurden, so dass hier auf die Frage nach dem Verhältnis zwischen Kunst und Judentum keine präzise Antwort gegeben werden konnte. Mit den beiden Künstlerporträts und 18 Reproduktionen bildender Kunst ist die Kunst nun sehr deutlich auch außerhalb der Erzählung in beiden Heften präsent und dabei ganz offensichtlich viel weniger konfliktträchtig: Das zeigt sich in der selbstverständlichen Integration der Reproduktionen in die Heftseiten, auf denen sich Beiträge ausschließlich mit jüdischer Thematik beschäftigen, und es zeigt sich in den beiden Künstlerporträts. Voraussetzung für dieses unproblematische Nebenund Miteinander aber ist ein Konzept von Kunst und Künstler, das die Erzählung bereits latent und implizit favorisierte, wenn sie den Extremmusiker Rafael im Schneefeld untergehen ließ: das Modell einer gemäßigten Kunstautonomie, die öffentlich institutionalisierbar und sozial integrierbar ist und so den Künstler - und zwar unabhängig von ethnischen Markierungen - nicht zum Außenseiter macht. Von den Künstlerporträts der beiden Hefte greift vor allem der Beitrag zu Eduard Frankfort56 ausgiebig auf die bestens etablie1ten Nivellierungsverfahren zurück, zunächst in Formen der Äquivalentsetzung: So wird die Zugehörigkeit der hier be-

56 E. Altkirch: frankfort

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sprochenen Künstler zum Judentum zwar explizit hervorgehoben, wenn vermerkt wird, dass Jozeflsraels unter "den jüdischen Künstlern[ ... ] der bekannteste" ist und Eduard Frankfort von "den jüngeren jüdischen Künstlern [ ... ]dem alten Israelsam verwandtesten sein [dürfte]" (Frankfort, Sp. 15, Sp. 16). Zugleich ist diese Markierung aber nur ein Sortierungskriterium neben drei weiteren anderen : dem der nationalen Zugehörigkeit, das sich für die "niederländisch[e] Malerei", die "Kunst des Maiens in Holland", für die "holländischen Male[r]" oder für die aus "Deutschland" interessiert, 57 dem der Zugehörigkeit zu kunstgeschichtlichen Strömungen mit dem Verweis auf die "Schule von Barbison" (Frankfort, Sp. 14) und den "Tribut", den Frankfort "dem Impressionismus" zahlte (Frankfort, Sp. 17f.), und schließlich dem der Generation, mit dem das Augenmerk auf die ,jüngeren jüdischen Künstle[r]" (Frankfort, Sp. 16) gerichtet werden kann. Diese Kriterien werden auch hier allesamt einigermaßen unsystematisch miteinander kombiniert, wechselseitige Abhängigkeiten oder Hierarchien (etwa in Form einer spezifisch jüdischen Variante holländischer Kunst) spielen dabei keine Rolle. So kann Frankfort einmal zu den ,jüngeren jüdischen Künstlern" gezählt und nur ein paar Zeilen weiter als "einer der vornehmsten holländischen Maler" (Frankfort, Sp. 16) bezeichnet werden, ohne dass zwischen diesen Zuordnungen irgendwie vermittelt würde. Auch die Darstellung jüdischer Sujets ist kein exklusives Terrain jüdischer Künstler, weil sich Israels und Rembrandt am selben Darstellungsgegenstand- "David spielt die Harfe vor Saul" (Frankfort, Sp. 15)- versucht haben und ihre Bilder deshalb miteinander vergleichbar sind. Israels hat sogar nur "selten jüdische Themen behandelt" (Frankfmt, Sp. 16), und umgekehrt stellen jüdische Künstler auch nichtjüdische Sujets dar, wie der hier besprochene Frankfort, der "trauliche holländische Stuben mit alten Leuten, stille Menschen, schlichte Familienszenen, einfache Vorgänge des Alltagslebens" (Frankfort, Sp. 17f.) malt. Diese reibungslose Austauschbarkeit und Vergleichbarkeit wird zudem ergänzt um den Nachweis, dass jüdische Kunst und jüdische Künstler nicht spezialistisch ethnisch eingeschränkt sind, sondern kompatibel mit Allgemeinem: Denn werden jüdische Themen von jüdischen Künstlern gemalt, so verweisen sie durchweg auf "ein zartes und feinfühliges Menschenherz" des Künstlers und sind die Bilder "wundervoll durch die Wiedergabe des rein Menschlichen." (Frankfort, Sp. 16)

57 "Nach der Blütezeit der niederländischen Malerei im 17. Jahrhundert schien die Kunst des Maiens in Holland ausgestorben zu sein." (Frankfort, Sp. 13) - " Was uns bei den holländischen Malern ans Herz greift, das ist ihr unendlich sicheres und empfindungsreiches Naturgefühl." (Frankfort, Sp. 15)- "Wir haben in Deutschland einen dem alten Israels sehr ähnlichen bedeutenden Künstler gehabt, der ihm auch in der Statur glich: Adolf Menzel." (Frankfort, Sp. 15)

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Eine solche unproblematische Austausch- und Kombinierbarkeit jüdischer und nichtjüdischer Aspekte der Kunst gelingt nur im Umfeld einer gewissermaßen gezähmten Kunstautonomie: Die Originalität des Künstlers spielt hier zwar durchaus noch eine Rolle und wird immer wieder deutlich von Schematismus und epigonaler Nachahmung abgegrenzt. So findet der Beitrag zu Frankfort zwischen dem 17. Jahrhundert, der "Blütezeit der niederländischen Malerei", und der Mitte des 19. Jahrhunderts nur eine "Anzahl fleissiger und gewissenhafter Leute [...], die von den alten Traditionen zehrten und gleichgültige Dekorations- und Historienbilder schufen", so dass "die Kunst des Maiens in Holland ausgestorben zu sein [schien]" (Frankfort, Sp. 13). Auf ganz ähnliche Weise wird im Beitrag zum Bildhauer Hugo Kaufmann 58 Canovas "sklavisches Nachahmen des Griechentums" abgewertet und werden seinen Plastiken die "neue[n] Qualitäten" gegenüber gestellt, die ,jedes neue Werk" von Kaufmann dagegen zeigt (Kaufmann, Sp. 128). Zugleich aber lassen beide Beiträge diese Neuheit nicht zu radikal werden, sondern sichern ihre grundsätzliche Integrierbarkeit gleich auf mehreren Ebenen ab : zum einen in der Vergleichbarkeit mit anderen Künstlern oder kunstgeschichtlichen Strömungen, etwa wenn Israels mit Rembrandt und Menzel, Frankfort dann wiederum mit Israels verglichen, Frankforts Manier auf den Impressionismus oder Kaufmanns Orientierung an "Rodin" und an der "griechische[n] Formenwelt" hervorgehoben wird (Kaufmann, Sp. 131). Zum anderen werden die ästhetischen Qualitäten der Bilder und Plastiken durchweg auf einen erkennbaren Objektbezug zurückgeführt: So sind bei Kaufmann etwa "Lebendigkeit und Natürlichkeit" Ausweis der künstlerischen Könnerschaft ebenso wie die Tatsache, dass die Figuren "einen völlig momentanen Eindruck" vermitteln (Kaufmann, Sp. 128). Das findet sich bei Schwarz ebenso wie bei Altkirch, der sich bei Frankforts Darstellungen jüdischer Gelehrter an die "feinen und ausgeprägten Gelehrtenköpfe" erinnert fühlt, die er "in den Räumen des portugiesischen Seminars ,Ets Haim' erblickte" (Frankfort, Sp. 16). Hier steht mithin nicht Erfindung, sondern eine angemessene Wiedergabe von Realität im Vordergrund. Die individuelle Eigenleistung des Künstlers bleibt dabei an den Bezug auf seinen Darstellungsgegenstand gebunden - als detektivische Fähigkeit etwa, die "in der feinste[n] Beobachtung menschlichen Sinnens, Denkens und Fühlens [... ] so eindringlich und doch in so selbstverständlicher Form das zum Ausdruck zu bringen" vermag, "was tief vergraben in der menschlichen Brust lebt und sich nur zaghaft an die Oberfläche wagt" (Kaufmann, Sp. 129), oder als "Herz", das in Jozef Israels' "köstlichsten Schöpfungen" (Frankfort, Sp. 16), den Darstellungen jüdischer Sujets, schlägt, oder als "rechte[r] Blick", den Frankfort für die "eigenartige und seltsame Schönheit" (Frankfort, Sp. 17) der Amsterdamer Juden besitzt. Solche

58 K. Schwarz: Kaufmann.

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Künstlerqualitäten sind darüber hinaus vor allem bei Kaufmann noch gekoppelt an umfängliches Realitätswissen, an "genaueste anatomische Kenntnisse", die die Basis bilden für die gelobte "Lebendigkeit" der Kunstwerke (Kaufmann, Sp. 128), und an eine Form der Werkherrschaft mit "souveräne[m] Beherrschen der Technik" (Kaufmann, Sp. 128), die es dem "Meister" erlaubt, "in seinem Revier nach Belieben schalten und walten" (Kaufmann, Sp. 128) zu können. Das unproblematische Neben- und Miteinander von Judentum und (nichtjüdischer) Kunst gelingt außerdem nur mit einer Kunst, die weder ihre Professionalisierung noch ihre Institutionalisierung oder ihren Marktwert leugnet und sich auch auf diese Weise nicht absolut autonomisiert: So wird Frankforts Ausbildungsgang in Ateliers und diversen Kunstakademien ebenso vermerkt wie Kunstbetrieb und Kunsthandel in beiden Künstlerporträts eine zentral e Rolle spielen: Fast durchweg werden die Ausstellungsorte der erwähnten Gemälde genau bezeichnet und Ankäufe, Verkäufe und Auftragswerke benannt: Frankforts Bild "Das Morgenrot" etwa "wurde vom Museum in Middelburg angekauft", ein "schöne[r] Erfolg", der "einen zweiten" zeitigte: "Er erhielt den Auftrag, den Justizminister Riche, der zuvor Bürgermeister von Middelburg gewesen war, zu portätieren." (Frank fort, Sp. 17) Und auf einer Reise nach Südafrika malt Frankfort "Land und Leute" und "veranstaltete sogar in Pretoria eine Ausstellung, auf der er gut verkaufte." (Frank fort, Sp. 18) Gleich zu Beginn des Artikels erwähnt der Verfasser darüber hinaus einen Kunsthändler, der einen professionellen Umgang mit der besprochenen Kunst gleich nach zwei Richtungen sichert: im "reife[n] Verständnis" für die Werke und in den "guten Beziehungen" im Kunsthandel, so dass er denjenigen, "die den Wunsch haben, Werke holländischer Künstler zu erwerben", hilfreich "zur Seite" (Frankfort, Sp. 13) stehen kann. Ganz Ähnliches gilt im Kaufmann-Beitrag, in dem hauptsächlich Gebrauchsund Auftragskunst besprochen wird - wie etwa ein "Brunnen", der von "einem Gönner" der Stadt München "zum Geschenk gemacht" wird (Kaufmann, Sp. 127), eine Statue zur "Ausschmückung der Ludwigsbrücke" (Kaufmann, Sp. 128), diverse Plaketten und Medaillen59 oder "Grabmonument[e]" (Kaufmann, Sp. 132). Neben den ästhetischen Qualitäten bleibt also auch hier der Kunstbetrieb in seiner öffentlichen Bedeutung und mit seinen ökonomischen Aspekten im Spiel: Die Kunstwerke sind in das "Gesamtbild" der Stadt eingebaut und "machen viel von sich reden", dabei ist Kaufmann "kein Unbekannter in München" (Kaufmann, Sp.

59 Ausführlich aufgelistet für "Gesellschaften (Prinz-Ludwig-Medaille der Geographischen Gesellschaft München, Landwirtschaftliche Gesellschaft usw.) oder aus besonderen Anlässen (Goethe-Plakette zum 150. Geburtstag, Plakette zum 100jährigen Bestehen des Königreiches Bayern, Liebermann-Plakette, Plakette für Süditalien usw.)" (Kaufmann, Sp. 131)

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127) und ein "beliebte[r] Künstler" (Kaufmann, Sp. 132) dazu. Der Beitrag selbst will diese öffentliche Bekanntheit weiter forcieren, wenn er wünscht, dass die "kleine Auswahl seiner Werke, die wir hier den Lesern bieten, [ ... ] auch die, denen bisher Hugo Kaufmann nicht bekannt war, auf seine Kunst aufmerksam machen [möge]." (Kaufmann, Sp. 132) Einem solchen Künstler ist es dann auch nicht abträglich, dass er offenbar gut von seiner Arbeit leben kann und sich inzwischen "eine Villa mit anschließendem grossen Atelier erbaut hat" und mit "Aufträgen aller Art[... ] gut beschäftigt" (Kaufmann, Sp. 132) ist. Die beiden Beiträge entwerfen also ein Modell von Kunst und Künstler, in den Judentum- sei es als Herkunft, sei es als Darstellungsgegenstand - völlig ohne Reibungsverluste eingepasst ist. Das funktioniert, weil das Verhältnis zwischen Kunst und Judentum hier einfach nicht weitergehend diskursiv bearbeitet wird: Die jüdische Künstlerherkunft bleibt kontextlose Information und die jüdischen Darstellungsgegenstände werden kurzerhand in die abstrakteren Ordnungen eines ReinMenschlichen einsortiert. Zum anderen ist Kunst hier nur im Kontext des Kunstbetriebs relevant: Sie ist ein öffentliches (Stadtraum, Museen, Galerien) bzw. halböffentliches (Salons, Malerateliers) Phänomen, dabei durchaus auch dekorativen und sonstigen Zwecken unterworfen und zudem eine Ware, die über den Kunsthandel mit seinen verschiedenen Institutionen (Mäzene, Kunsthändler, Museen, städtische Auftraggeber) vertrieben wird. Der Künstler hat, um sie produzieren zu können, einen professionalisierten und dabei normie1ten Ausbildungsweg durchlaufen (Akademien mit zertifizie1ten Abschlüssen) und verdient mit ihr seinen Lebensunterhalt. Als besondere Qualitäten von Werk und Künstler gelten Einheit und Wahrheit, Souveränität, "Fleiss", "Ernst", "Ehrlichkeit" und "unermüdliche Arbeitskraft". 60 Jüdische Kunst und jüdische Künstler werden also in einem argumentativen Umfeld thematisch, das Kunst generell als integrativen Teil sozial kompatibler Wertordnungen begreift und sie damit von Sonder- und Außenseiterpositionen fernhält Sie ist im doppelten Sinne allgemein zugänglich - in der Öffentlichkeit der Museen, Salons und der beiden Zeitschriftenartikel samt Reproduktionen und außerdem in Gehalt und Form, die auf die Allgemeinverständlichkeit von Menschlichem, Natur und Wahrheit setzen. Und damit ist sie auch im wörtlichen Sinne des Wortes allgemein konsumierbar- als ein Produkt solider, geschulter (Berufs-)Arbeit, das ästhetische, mit Geld bezahlbare Genüsse hervorbringt.

60 "Von beiden [Jozef lsraels und Adolf Menzel, M.P .] ist durch ihren eisernen Fleiss, ihren Ernst und ihre Ehrlichkeit Grosses geleistet worden. Die unermüdliche Arbeitskraft, die sich Menzel bis ins hohe Alter bewahrt hatte, und ohne die er nicht atmen und leben konnte, ist auch lsraels eigen." (Frankfort, Sp. 15f.)

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Die Heftordnung aber bestätigt dieses Kunstmodell noch einmal auf einer anderen Ebene: Alle Abbildungen bildender Kunst bleiben an die kunstkritischen Beiträge angebunden. Ein solcher Textkommentar ist offenbar eine der grundlegenden Bedingungen für die Präsentation bildender Kunst in den Heften - unbesprochene Kunst findet sich jedenfalls auch nicht. Diese Textbindung ist nun gleichwohl gelockert: einerseits, weil einige der Reproduktionen auch in andere Beiträge diffundieren, also auch auf Seiten erscheinen können, die Anderes thematisieren- "Das Anlegen der Gebetsriemen" von Frankfort etwa wird noch sechs Seiten nach Altkirchs Besprechung abgedruckt. 6 1 Andererseits besteht nicht immer ein direkter Zusammenhang zwischen den kunstkritischen Beiträgen und den abgedruckten Reproduktionen, so dass nicht alle präsentierten Gemälde und Skulpturen auch explizit kommenti ert werden. Umgekehrt finden sich Bemerkungen zu Kunstwerken, die gar nicht in den Heften erscheinen. Insgesamt sind die Besprechungen zudem sehr viel weniger an der ausführlichen Kritik einzelner Werke als an der Erfassung von Hauptmerkmalen eines Werkensembles interessiert- was im Falle Frankforts zudem auch von einer dem Artikel vorangestellten Photographie unterstrichen wird, die den Maler in seinem Atelier vor einer ganzen Gruppe von Gemälden in verschiedenen Fertigungsstufen zeigt. 62 Diese lockere Form der Textbindung ist deutlich dominantes Präsentationsprinzip für die Reproduktionen der Hefte und schließt eines aus: Die Aufmerksamkeit auf das exklusive, unvergleichliche Einzelwerk, das für sich steht und für sich spricht, das weder eingegliedert ist in die Beispielreihen eines Werkensembles noch eines Kommentars bedarf, der es mit anderen Werken vergleicht, in Kunstströmungen einsortiert und überdies die Bedingungen seiner Produktion und Rezeption thematisiert. Favorisiert wird stattdessen also auch auf der Ebene der Heftordnung eine Art relativierter, gezähmter Kunstautonomie, die sich auf die Abgrenzbarkeit

61 Reproduktionen von Frankforts Gemälden finden sich bereits eine Seite vor Beginn des Artikels über ihn im Beitrag zu Hirsch Hildesheimer ("Talmudstudien", Sp. 11 -12), dann im Beitrag zu Frankfort selbst ("Strassenleben in Pretoria" (Sp. 15), "Alte Frau" (Sp. 16), "Zeltlager in Südafrika", "Kaffemgespräch" (Sp. 17-18)), darüber hinaus im Artikel zu den "Erben des Islam" (" Vorbereitung zur Predigt", (Sp. 19), "Ein Ehescheidungsbrief' (Sp. 21-22) und "Gottesdienst in der Amsterdamer Portugiesischen Synagoge" (Sp. 2526)). - Reproduktionen Kaufmanns finden sich im Artikel über ihn ("Brunnen für München" (Sp. 127), "Die Kunst (Ludwigsbrücke zu München)" (Sp. 129-1 30), "St. Georg" (Sp. 131) und "Studienkopf' (Sp. 132)), dann im zweiten Teil der Erzählung "Rafael Gutmann" ("Medaille für Süditalien", "Goetheplakette" (Sp. 133-134), "Die Freiheit (Vom Einheitsdenkmal in Frankfurt a.M.)" (Sp. 137-138) und "Die Einheit (Vom Einheitsdenkmal in Frankfurt a.M.)" (Sp. 141-142)). 62 "Der Künstler in seinem Atelier" (Frankfort, Sp. 13-14).

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des Kunstwerkes im Rekurs auf die Nennung von Autor und Werktitel zurückgezogen hat, auf eine explizite Demonstration seiner Eigenständigkeit (wie etwa in einer Einzelpräsentation) aber fast vollständig verzichtet. Eine spezifische Lizenz erteilen die Hefte der bildenden Kunst dabei aber doch: Sie ergibt sich im Rahmen der Präsentationsregeln fur Nich~üdisches und für das (nicht diskursiv bearbeitete) Nebeneinander von Jüdischem und Nichtjüdischem. Im letzten Kapitel wurde gezeigt, dass Beides (das Nichtjüdische mit der Schachrubrik und den Werbeanzeigen, das Nebeneinander von Jüdischem und Nichtjüdischem mit den "Aphorismen" und den Werbeanzeigen) in die hintere, deutlich kommerziell geprägte Zone des Heftes verschoben werden. Eben das gilt für die Gemälde und Skulpturen gerade nicht: Auch sie thematisi eren- bei Kaufmann durchweg, bei Frankfort zum Teil- Nichtjüdisches und sind dabei über die Seitenordnungen Jüdischem nebengeordnet, sie verbleiben aber trotzdem im homogenen (also nicht von nichtredaktionellen Elementen gestörten) redaktionellen Teil der Zeitschrift und sie werden trotzdem, wie alle anderen selbstständigen Beiträge der Zeitschrift, im Jahresinhaltsverzeichnis gespeichert. Die bildende Kunst ist damit die einzige Möglichkeit in den beiden Heften, Nichtjüdisches auf gleichberechtigte Weise (im Vergleich mit allen anderen Beiträgen der Zeitschrift) ins Spiel zu bringen. Im Rahmen der Thematisierungsregeln der beiden Hefte ist ihre ästhetische Differenz also durchaus deutlich markiert. Der Erzähltext "Rafael Gutmann" dagegen bleibt an jüdische Thematik gebunden, und sein Kunst-, das heißt hier sein literarischer Charakter wird nur im Jahresinhaltsverzeichnis als Zugehörigkeit zur Gattung "Erzaehlungen" explizit. Ansonsten unterscheidet er sich nicht von den anderen Textbeiträgen im vorderen Teil der Zeitschrift: Schrifttype, Titelgestaltung und Zweispaltensatz gleichen sich vollständig, auch der Hinweis "Nachdruck verboten" findet sich durchweg auch bei allen anderen Beiträgen und ist also nicht nur fllr die Literatur reserviert. Ebenso wenig wird auf der Ebene der Seitengestaltung die Eigenständigkeit deutlich herausgestellt: Die erste Folge wird zwar fast vollständig fllr sich abgedmckt und muss nur ihre letzte Seite mit den Noten zu Heines Gedicht "Das gold'ne Kalb" teilen, die zweite Folge ist aber bereits auf ihrer ersten Seite unter das Ende des Beitrags zu Hugo Kaufmann gesetzt und dabei ins untere Zehntel abgedrängt. Auf der letzten Seite findet sich dann schon der Anfang des Beitrags zum "Seminar Ets Haim in Amsterdam", auf den Zwischenseiten sind Reproduktionen Kaufmannscher Werke zum Teil so massiv in den Text eingefügt, dass die Spaltenordnung gestört wird und nur noch ein schmaler Randstreifen für die Erzählung übrig bleibt. Das bildkünstlerische Material relativiert hier also die ohnehin nicht deutlich herausgestellte (ästhetisch-literarische) Eigenständigkeit des Erzähltextes noch einmal auf massive Weise. Das geschieht nun aber ausgerechnet mit nichtjüdischen Sujets (mit der "Medaille für Süditalien", der "Goetheplakette" und den beiden Brunnenfiguren "Die Freiheit" und "Die Einheit") und treibt die Lizenzen, die der bildenden Kunst in

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diesem Heft gewährt werden, noch einmal besonders deutlich hervor: Als Kunst, die allein Nichtjüdisches zur Darstellung bringen darf, kann sie der literarischen Verhandlung von Jüdischem den ohnehin schwachen Kunstcharakter massiv beschneiden. 1.1.5 Fazit: Literatur als Krisenindikator Die Erzählung "Rafael Gutmann" ist zweifellos, so lässt sich nunmehr zusammenfassen, Teil der Debatten um Judentum und jüdische Identität, die - wie Umfang und Positionierung der einschlägigen Beiträge im Hauptteil der Hefte sehr deutlich zeigen -das zentrale Thema der Hefte bilden. Sie passt sich dabei auch in die beiden analysierten Hauptfelder ein: Das relationierende Modell, das nach Möglichkeiten des Bezugs zwischen Jüdischem und Nichtjüdischem fragt, ist hier mit den beiden Handlungsorten bzw. Bedeutungsräumen jüdische Gasse und nichtjüdische Stadt präsent. Das Selbstbezugsmodell, das den Umgang mit innerjüdischen Differenzen zu regeln sucht, wird mit dem Blick auf die Gassenwelt bedient. Die Regeln, die für diese Ko mplexe und darüber hinaus auch für das Verhältnis zwischen Judentum und Kunst herausgearbeitet wurden, gelten nun zwar auch ftir den Erzähltext, dies allerdings auf eine spezifisch vermittelte Art und Weise, und zwar über den Umweg der Zuspitzung, die die Hefte ftir ihre verschiedenen Gegensätze ansonsten ja gerade tunliehst zu vermeiden suchen. Weil diese Zuspitzung gleich auf mehreren Ebenen diverse Krisen generiert, bestätigt die Erzählung am Ende bis in ihre Form hinein indirekt die krisenfreien Lösungen der sonstigen Heftbeiträge: die Vermeidung einer Konkurrenz zwischen Judentum und (nichtjüdischer) Kunst und die Favorisierung einer homogenen Gruppenidentität - und das auf gleich mehreren Ebenen: Erstens: "Rafael Gutmann" fasst das Verhältnis zwischen Jüdischem und Nichtjüdischem, das im Rest der Hefte mit diversen Strategien entproblematisiert wird bzw. unproblematisiert bleibt, auf verschiedenen Erzählebenen als scharfe, wechselseitig gegeneinander abgegrenzte Konkurrenz: Für Rafael und seinen Vater schließen sich die Judengasse mit jüdischem Handel und die nichtjüdische Stadt mit ihrer eigenen Musikkultur so radikal aus, dass der Übergang in den jeweils anderen Raum in den eigenen Untergang führt. Am Ende wird diese präzise Entgegensetzung schließlich auch von der Raumordnung der Erzählung bestätigt. Diese deutliche Abweichung vom ansonsten in den Heften üblichen Umgang mit der Differenz zwischen Jüdischem und Nichtjüdischem steht aber nun im Zeichen einer Ausnahme: Mit Rafael ist sie an eine Außenseiterfigur geknüpft, die weder ganz dem Be-

reich des Nichtjüdischen, noch ganz dem Bereich des Jüdischen zugehört und deren jüdische Identität sich in den vielfältigen Äquivalenz- und Kontrastrelationen der

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Erzählung geradezu aufzulösen scheint. Wie gezeigt wurde, kann das Gegensatzkonzept damit indirekt präsent gehalten werden - unter dem Vorbehalt, dass hier nicht über einen exemplarischen oder "typischen" Juden, sondern über einen ins Pathologische abdriftenden (jüdischen) Außenseiter gesprochen wird. Mit eben dieser Außenseiterfigur aber lässt sich die ansonsten in den beiden Heften umgangene Konkurrenz zwischen Jüdischem und Nichtjüdischem ausführlich problematisieren und eine Grenze konzipieren, mit der es für Mischzonen keinen Platz mehr gibt. Das hat noch weitergehende Konsequenzen: In der Peripetie der Erzählung wird die Konkurrenz zwischen Jüdischem und Nichtjüdischem als Entgegensetzung von jüdischem Kommerz und nichtjüdischer Kunst gefasst. Ließen sich in den Kunstktitiken ganz im Gegensatz dazu die kommerziellen Aspekte des Kunstbetriebs problemlos mit dem Konzept einer gezähmten Kunstautonomie vereinbaren, so zeigen sich auf der Ebene der Heftordnung doch zumindest Distanzierungen: Denn hier stehen sich auch im Layout der Seiten nirgends jüdischer Handel und nichtjüdische Kunst einander gegenüber - etwa der Art, dass unter oder neben eine Plastik von Kaufmann Werbung für koschere Margarine gesetzt werden würde. Denn der kommerzielle Teil der Hefte mit den Werbeanzeigen wird sowohl von der Präsentation der Kunst als auch von der Rede über sie durchweg fern gehalten. Vor diesem Hintergrund bringt die Erzählung also etwas ins Spiel, was die Zeitschrift gewissermaßen inoffiziell, nur über ihre Heftordnung thematisiert: eine latente Unvereinbarkeit von Kunst und forciertem Kommerz. In ihrer erzählten Form ist diese Differenz ethnisch-religiös spezifiziert. Eine Vereinbarkeit ist erst dann nicht mehr möglich, wenn der Kommerz jüdisch wird und die Kunst nichtjüdisch. Die Polarisierung von Jüdischem und Nichtjüdischem fungiert hier also als eine Art Krisenverstärker; sie erst ist es, die einen Gegensatz aus sich hervortreibt, der für die Zeitschrift explizit gar keiner ist oder in die Regularitäten der Heftordnung abgedrängt wird. Und auch sie steht im Zeichen des Außenseiters Rafael, der erst in seiner extremen Künstlerschaft die Gegensätze auf die Spitze treibt. Bei den ausgeglichenen, tatkräftigen, sich selbst und ihr Werk behetTSchenden Künstlem der Kunstkritiken führen weder die jüdische Herkunft noch Handel und Wandel in solche unlösbaren Widersprüche - ihre Werke zirkulieren ungehindert zwischen allen Sphären. Zweitens: Ostjudentum (und ebenso das Orientjudentum) ist, so wurde oben gezeigt, in den einschlägigen Beiträgen der beiden Hefte durchweg als homogene und differenzlose Gruppe konzipiert, die keine mit Namen ausgestatteten Individuen und keine handelnden Subjekte kennt. Ein solcher Subjektstatus kommt ausschließlich den von Außen kommenden, nicht zur Gruppe gehörenden Sprechinstanzen oder den entsprechenden Helferfiguren zu, die hier disziplinierend und/oder fürsor-

gend intervenieren. Von dieser Konzeption des Ostjudentums weicht "Rafael Gutmann" nun deutlich ab- in der Wahl eines ostjüdischen Protagonisten, dessen Name den Titel der Erzählung bildet, in dessen ausführlicher, anthropologisch und

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psychologisch fundierter Individualisierung und in der Binnendifferenzierung der jüdischen Gruppe der Gasse. Konsequenz dieser Orientierung an der Einzelfigur ist eine deutliche Komplexitätssteigerung in der Konzeption von Ostjudentum: Hier geht es nicht mehr um Gruppenspezifisches oder typisch Jüdisches, sondern um komplexe, nur noch schwer greifbare Konfliktlagen, die auf unterschiedlichen Bewusstseinsstufen von der Psyche der Figur bewältigt werden müssen und wo darüber hinaus mit dem harten Einschnitt, den das Erwachsenwerden für Rafael bedeutet, eine spezifische Anthropologie der Lebensalterstufen ins Spiel kommt. Eine solche Steigerung der Komplexität gilt nicht nur für die Einzelfigur Rafael, sie gilt auch für das ostjüdische Milieu insgesamt: In der Erzählung ist es nicht mehr homogen und also weder nur Gruppe noch von einer Einzelfigur repräsentierbar, vielmehr ist es deutlich in sich differenziert - in den Formen der religiösen Praktiken (orthodox und reformiert) und in den Formen des Einpassens ins jüdische Milieu (,,Abweichler" vs. "Eingepasste") und in der Form des Generationenkonfliktes zwischen Rafael und seinem Vater. Aber auch die Individualisierung und Binnendifferenzierungdes Ostjudentums geschehen unter Vorbehalt: Die Außenseiterfigur Rafael, an der sie demonstriert werden, ist selbst gar nicht mehr eindeutig als jüdisch identifizierbar, ihre Handlungen und die Wandlungen ihrer Psyche scheinen nicht mehr vollständig durchschaubar, das Judentum selbst sogar ein bedrohlich Fremdes geworden. Und die Aufgliederung der jüdischen Gassenbewohner führt im besten Fall zu wechselseitigem Unverständnis, im schlimmsten zu väterlicher Gewaltausübung und - mit Rafaels Flucht und Tod - zu einem schweren Riss in der Gemeinschaft. Ein eindeutig und positiv als ostjüdisch bestimmtes Individuum kennt also die Erzählung ebenso wenig wie alle anderen Beiträge der beiden Hefte. So unterstützt sie im Grunde noch einmal den Verzicht der beiden Hefte auf eine solche Individualisierung. All diese Komplexitätssteigerungen stehen zudem im Zeichen einer Krise: Die Binnendifferenzen im Judentum lassen, zusammen mit den unscharfen Grenzen gegenüber dem Nichtjüdischen, eine kompakte und stabile ostjüdische Identität nicht entstehen und führen den Protagonisten am Ende in den Tod . Was hier nurmehr übrig bleibt, ist die Rücknahme von Komplexität und ihre Überführung in eine wieder klar zweigeteilte Welt - freilich auf Kosten der in ein Niemandsland ausgelagerten Grenzüberschreitungs- und Mischfigur. Drittens: In den nichtliterarischen Beiträgen zum Ost- und Orientjudentum ließ sich eine spezifische Regelung im Umgang mit der Sprechsituation beobachten: Das Verhältnis zwischen Sprechinstanz und Redeobjekt war hier vor allem deswegen problematisch, weil dabei die Möglichkeit einer Binnendifferenzierung von Judentum auftauchte (weil Juden über andere Juden reden). Eben das wurde mit zwei verschiedenen Redehaltungen vermieden- im objektiven Redegestus, der das Problem gar nicht kennt, und im identifikatorischen Gestus, für den es gar keine Differenz mehr gibt. Von beiden Optionen weicht die Erzählung nun wiederum ab: Haupt-

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sächlich personal fokalisiert, bleibt sie eng an Wahrnehmung und Wissen der Hauptfigur gebunden, eine davon abgelöste Erzählerrede lässt sich nur in einigen wenigen, allerdings schwer entscheidbaren Fällen ausmachen. Eine erzählerische Distanzierung ergibt sich nur aus der Nachzeitigkeit und aus der Rede in der dritten Person; auch sonst gibt der Text sein Erzähltsein kaum zu erkennen: Di e wenigen Störungen in der chronologischen Ordnung sind im Rahmen der jeweiligen Gedankenfolge Rafaels plausibel, Beschreibungen von Figuren und Umfeld verselbständigen sich nicht und bleiben ebenso an die Interessen der Hauptfigur gebunden. Auf gewissermaßen neutrale Weise wird die Entwicklung einer Figur mitbeobachtet, ohne sie von einer deutlich distanzierten übergeordneten Instanz aus zu bewerten oder sonst wie einzuordnen. Besetzt wird damit eine Sprecherposition, die sowohl zu große Distanz (etwa in aktorialer oder auktorialer Manier), aber auch die direkte Nähe (etwa in autodiegetischem und/oder gleichzeitigem Erzählen) vermeidet. Damit aber veruneindeutigt der Erzähltext den Gegensatz der alternativen Sprecherhaltungen, die in den Beiträgen zu Ost- und Orientjudentum entwickelt werden; er arbeitet weder mit der souveränen Beobachtung noch mit emphatischer Teilhabe. Zwischen die beiden Formen der Differenzvermeidung schiebt sich nun die personal fokalisierte, nachzeitig, extradiegetisch und dominant im dramatischen Modus präsentierte Erzählung und bringt damit eine Möglichkeit des Umgangs mit dem Redeobjekt Ostjudentum ins Spiel, in der sich die problematische Frage nach der Identität der Sprechinstanz auf den verschiedenen Ebenen verinnerten Erzählens auflöst. Zugleich aber ist diese Zwischenform mit einer Krise des Erzählens verknüpft: Sie kann ihren Darstellungsgegenstand nicht mehr vollständig beherrschen. Innerhalb des Gefüges der beiden Zeitschriftenhefte bringt die Erzählung "Rafael Gutmann" damit etwas ins Spiel, das ansonsten unexpliziert bleibt: die Bedingungen nämlich, unter denen das unproblematische Neben- und Miteinander von Jüdischem und Nichtjüdischem, von Judentum und Kunst, von Kunst und Kommerz und von innerjüdischen Differenzen problematisch und bis hin zu seiner sprachlichen Erfassung zum Scheitern gebracht werden kann und vor allem zu rigiden Grenzziehungen als Garanten für Sicherheit führen muss - in der Figur eines schwachen Außenseiters mit aisthetischer Empfindlichkeit und mit einer ins Extreme gesteigerten Emotionalität. Umgekehrt und indirekt deckt sie damit aber auch die Voraussetzung fur das Gelingen dieses Neben- und Miteinanders auf, die die Kunstkritiken am Rande, alle anderen Beiträge aber nirgends explizieren: Sie liegt im pragmatischen, realitätsorientierten, handlungsfähigen und mittellagig emotionalen Subjekt. Dass die Außenseiterfigur ein Ostjude ist, der eben diese Eigenschaften nicht besitzt, zeigt, dass Ostjuden als solche souveränen Subjekte im Neben- und Miteinander unproblematischer Differenzen nicht vorgesehen sind: Die beiden Hefte kennen sie jedenfalls nur entweder als homogene und differenzlose Gruppe oder

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als ein aufs äußerste problematisches Individuum, das nirgends integrierbar ist und (labile) Balancen zum Einsturz bringt. Nun ist deutlich, dass sich die Erzählung in der Konzeption ihrer Außenseiterfigur an zeitgenössischen, in der Literatur der Frühen Modeme inzwischen bestens etablierten Konzepten vom unbürgerlichen Künstler orientiert und dafür auf Elemente aus den einschlägigen Debatten über Vitalismus, Nervosität und Decadence zurückgreift: Wagneropem, gesteigerte (ästhetische) Empfindlichkeit, rauschähnlicher Musikgenuss, Leidenschaftlichkeit bis hin zur Ekstase und vor allem der Verlust der gemeinschaftstauglichen Normal- bzw. Mittellagen weisen unzweifelhaft darauf hin. 63 Die entsprechenden Erzählmodelle sind hier nun freilich nicht konsequent durchgeführt - weder das von Lebenskrise und Lebenswechsel, noch das der Decadence.64 Aber genauso wenig lässt sich der Text, das wurde oben bereits festgestellt, auf die topischen Erzählmuster zurückführen, die für die Modeliierung des Verhältnisses zwischen Judentum und nichtjüdischer Kunst ja gleichfalls längst zur Verfügung stehen. Zum Zuge kommen hier vielmehr nur Versatzstücke aus beiden Bereichen, die miteinander kombiniert werden und in die beschriebene semantische Überdetermination der erzählten Krisengeschichte führen. Eben diese Überdetermination aber erweist sich im Kontext der beiden Hefte als funktionalisiert für eine Klärung der Beziehungen zwischen Jüdischem und Nichtjüdischem und für eine Positionierung von Ostjudentum, die die übrigen Heftbestandteile gerade nicht leisten (können). Denn durch sie kann ins Spiel gebracht werden, wo die Bedingungen für die Kompatibilität von Jüdischem und Nichtjüdischem und ftir die Inkompatibilität des Ostjudentums mit Nichtjüdischem eigentlich liegen: die komplexe Außenseiterfigur verweist ex negativo darauf, dass das das (bürgerliche) Mittelmaß mit fester Identität ist. Und so mag die Erzählung von den Redakteuren der Zeitschrift durchaus ausgewählt worden sein, um vor allem die weibliche Leserschaft von Ost und West zu

63 Zur Systematik eines solchen Typs von " Abweichung" vgl. Lukas, Wolfgang: Das Selbst und das Fremde. Epochale Lebenskrisen und ihre Lösung im Werk Arthur Schnitzlers, München: Fink 1996, v.a. S. 21-39 und S. 155-189. 64 Vgl. dazu Wünsch, Marianne: "Das Modell der , Wiedergeburt' zu ,neuem Leben ' in erzählender Literatur 1890-1930", in: Kar! Richter/Jörg Schönert (Hg.), Klassik und Modeme. Die Weimarer Klassik als historisches Ereignis und Herausforderung im kulturgeschichtlichen Prozeß (Festschrift für W. Müller-Seidel zum 60. Geburtstag), Stuttgart: Metzler 1983, S. 379-407.- Zu Erzählmodellen der Decadence vgl. Erhart, Walter: Familienmänner. Über den literarischen Ursprung moderner Männlichkeit, München: Fink

2001, S. 256-330.

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einer Annäherung an das "fremde" Ostjudentum zu führen 65 - die Art der Funktionalisierung der Erzählung, die hier in einer ausführlichen Analyse der beiden Hefte herauszustellen war, liegt auf einer ganz anderen Ebene: Sie ergibt sich jenseits der Absichten von Redakteuren und den Bedürfnissen von Rezipienten als der Effekt einer Medien- und Wissensordnung, die zustande kommt in den nur schwach (und eben nicht komplett intentional) gesteuerten und dabei presseformal geordneten Zusammenstellungen zweier Zeitschriftenhefte. Explizit "wissen" die beiden Hefte von der Sonderstellung der Erzählung denn auch gar nichts - sie wird weder irgendwo thematisiert noch auf formaler Ebene - mit typographischen Elementen oder im Aufbau der Seiten- hervorgehoben. Ganz im Gegenteil wird Literatur hier wie alle anderen Prosatexte des Hauptteils behandelt und ihnen in Layout und Type bis zum Verwechseln angeglichen. Beobachtbar ist die spezifische Leistung des literarischen Textes mithin nur auf der Ebene medial regulierter Wissensordnungen und die setzen sich gerade hinter dem Rücken dessen durch, was hier explizit formulier- und präsentierbar ist.

1.2 "DER RABBI UND DER ZADDIK", "DER EWIGE JUDE" UND "AN DEN WASSERN BABELS" (OST UND WEST

1901,HEFT1) Das erste Heft der Zeitschrift bringt neun längere Abhandlungen, darunter drei Kunst- bzw. Literaturkritiken, drei kleinere Texte in der Rubrik "Miscellen", sechs Aphorismen, sieben kürzere Notizen aus der "Revue der Presse", zwei Gedichte, einen Erzähltext, sechs Reproduktionen bildender Kunst (zwei Plastiken, vier Gemälde bzw. Zeichnungen), zwei Seiten mit Noten, vier Photographien und Kartenmaterial. Die Zeitschrift empfiehlt sich dabei sehr deutlich als ein Organ der jüdischen Renaissance - hauptsächlich in den explizit vorgenommenen Selbstzuordnungen der beiden Programmtexte, die mit der Emphase und dem Vokabular der Reform- und Jugendbewegungen der Jahrhundertwende eine Erneuerung und Vitalisierung des Judentums fordern, ohne dabei den Bezug zum alten Judentum gänzlich aufzugeben. 66 Aber auch die anderen Bestandteile des Heftes ordnen sich in

65 So die Hauptthese von David Brenner: " [ ... ] the musically gifted ghetto boy Rafael was destinated to appeal to bourgeois Jewish women. Materially and spiritually impoverished, weak and unmanly, he practically cries out for rescue from the ghetto." (D.A. Brenner: Marketing ldentities, hier S. 122f.)

66 Dass der Bezug auf jüdische Geschichte und Tradition "wesentliches Charakteristikum" der jüdischen Renaissance ist und dabei zugleich - bei allen Gemeinsamkeiten - eine ebenso wesentliche Differenz gegenüber den zeitgenössischen Jugend- und (Lebens-

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dieses Programm ein: Die Textbeiträge beschäftigen sich ebenso wie die Literatur mit den Beziehungen zwischen altem und neuem Judentum, die Kunstkritiken reflektieren über eine genuin jüdische Kunst oder doch zumindest über die künstlerische Gestaltung jüdischer Thematik, die Photographien präsentieren Heftseiten hebräischer Periodika, und die Reproduktionen bildender Kunst zeigen biblische Sujets, im Falle einer Ahasver-Skulptur sogar im Stil des von Nordau propagierten "Muskeljudentums". 67 Mit der Platzierung des Heftes im Umfeld der jüdischen Renaissance ist gleichwohl noch nicht allzu viel gesagt und die folgenden Analysen werden zeigen, dass das Heft an einem konzeptionellen Problem laboriert, das erst sichtbar wird, wenn die heftspezifische Aufsplittung des zentralen Themenkomplexes in verschiedene Texte und Bilder ernst genommen wird: Denn dann erweist sich das Projekt einer Erneuerung des Judentums als ein schwieriges Unterfangen, das in immer neuen Ansätzen bearbeitet und thematisch variiert werden muss. Größte Skepsis besteht hier gegenüber historischem Wandel, gegen den alle Textbeiträge mit den unterschiedlichsten Argumenten Konstanz und Stabilität des Judentums nachzuweisen suchen. Die Verschmelzung von traditionellem und modernem Judentum ist hier also durchaus nicht - auch nicht in den Programmartikeln zur jüdischen Renaissance - einfach postulierbar, sie stellt sich als ein komplexes, voraussetzungsreiches Konstrukt heraus. Ähnliches gilt fiir die Kunst, deren zentrale Rolle für eine Erneuerung des Judentums in den Programmtexten explizit hervorgehoben wird. Im Heftzusammenhang allerdings erweist sich ihre Funktion als eine gänzlich andere: Sie konstituiert hier einerseits das Historisierungsproblem mit, indem sie Varianten der Relation zwischen altem und neuem Judentum beisteuert, datüber hinaus und andererseits aber verweist sie im Zusammenspiel mit der bildenden Kunst auf die Möglichkeit der Kunst zur ästhetisch-formalen Variation und von ferne sogar auf die der Ablösung von jüdischer Thematik - beides Optionen, die im alleinigen Rekurs auf die Programmatik der jüdischen Renaissance nicht in den Blick geraten können.

)Reformbewegungen markiert, darauf verweist lnka Bertz (1. Bertz: Jüdische Renaissance, hier v .a. S. 561 ). 67 Vgl. dazu etwa Presner, Todd Samuel: "Ciear Heads, Solid Stomachs, Hard Muscles. Max Nordau and the Aesthetic of Jewish Regeneration", in: Modemism/Modernity 10

(2003), H. 2, S. 269-296.

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1.2.1 Altes und neues Judentum

Das erste Heft der Zeitschrift bringt drei literarische Texte: zwei Gedichte - "Der ewige Jude" 68 und "An den Wassem Babels" 69 - und die kleine Erzählung "Der Rabbi und der Zaddik".70 Sowohl die Lyrik al s auch der Erzähltext beschäftigen sich mit der Frage nach einem adäquaten Bezug zum alten, traditionellen Judentum: Die Erzählung situiert das Problem im ostjüdischen Milieu, in dem sich ein junger Chassid und ein alter orthodoxer Rabbi einander gegenüberstehen. Die beiden Gedichte thematisieren Exil- und Vertreibungserfahrungen im Zeichen einer wertgeschätzten, verloren gegangenen (biblischen) Vergangenheit, die Orientierungspunkt für ein neues-altes Judentum bleibt. "Der Rabbi und der Zaddik" verknüpft die Differenzen zwischen (altem) striktem Gesetzesjudentum und (jungem) Chassidismus dabei mit einem ganzen Gegensatzkomplex-mit Scharfsinn, Verstand, Kälte, Todesnähe und Einsamkeit auf der einen, Herz, Wärme, Leben und Volksnähe auf der anderen Seite. Abgebildet wird er auf die beiden Hauptfiguren, den Brisker Rabbi und den Zaddik Noa, einst Schüler des Rabbis, aber nunmehr mit dessen Auffassung vom Judentum äußerst unzufrieden. Die Figur des Rabbi bekommt hier deutlich Merkmale der Lebensfeme zugewiesen, sie bleibt aber doch grundsätzlich relevant: Sie wird von allen Figuren, auch von Noa selbst, als "hoheitsvolle Erscheinung" und "Abglanz der Thora" (Rabbi, Sp. 45) verehrt, fasziniert auch den IchErzähler mit ihrer "feine[n] und haarspaltende[n] Dialektik" (Rabbi, Sp. 46), und sie imponiert sogar Nichtjuden als "göttlicher Mann" (Rabbi, Sp. 45). Damit stehen sich hier zwei nahezu gleichwertige Optionen in der Auffassung von Judentum gegenüber; ihre Differenzen und das wechselseitige Unverständnis werden am Ende des Textes noch einmal zugespitzt: ",Eure Gelehrsamkeit, Rabbi, ist nur den wenigsten verständlich, alles voller Strenge, lauter Dialektik. Das Gesetz ist ehern, eiserne Bestimmungen und kupferne Verordnungen. Ohne Milde und Liebe ... ' Der Rabbi hörte ihm mit Erstaunen zu. , Was habt lhr dem ganzen Volk zu bieten?', fragte der Zaddik, ,den armen und ungelehrten Volksgenossen? [ ..].' Der Rabbi schwieg, es war ihm alles so fremd." (Rabbi, Sp. 47)

Nun kommt es hier zu keiner Einigung - der Rabbi fährt "unversöhnt" (Rabbi, Sp. 48) davon - zugleich prämiert der Text aber eben dieses persönliche Aufeinander-

68 Israel, Ben: "Der ewige Jude", in: Ost und West 1 (1901), H. 1, Sp. 3-4. 69 Byron (Deutsch von Otto Gildemeister): "An den Wassern Babels sassenwir und weinten", in: Ostund West 1 (1901), H. 1, Sp. 15-16. 70 Perez, J.L.: "Der Rabbi und der Zaddik. Ein Bild aus dem chassidischen Leben", in: Ost und West 1 (1901), H. I, Sp. 41-48.

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treffen der beiden Figuren, den direkten interpersonellen Austausch von Argumenten also, auf der Ebene des Handlungsverlaufs: Die Tochter des Rabbi, in "Kindesnöten" dem Tode nahe, wird schließlich "von einem gesunden Knäblein glücklich entbunden" (Rabbi, Sp. 46) - ganz anders als ihre beiden Schwestern, die höchstwahrscheinlich wegen der Härte des Rabbi den Chassidim gegenüber bei der Geburt gestorben waren: "Alle Welt wusste, dass der Brisker Rabbi dafür hart gestraft worden ist, weil er die Chassidim mit solcher Gehässigkeit und Härte verfolgte. Zwei seiner Töchter waren ihm bereits in Kindesnöten gestorben." (Rabbi, Sp. 43f.) Was sich hier im geradezu wörtlichen Sinne als "fruchtbar" erweist, ist die Tilgung von Aggressivität im Umgang mit Konkurrenz. Der Rabbi verfolgt nach dem Gespräch mit Noa die Chassidim nicht mehr, für die er vorher "nur Hass und Verachtung" hatte und gegen die er "mit dem Bann und sonstigen Verfolgungen schonungslos" kämpfte und gesteht ihnen damit schließlich indirekt die Zugehörigkeit zum Judentum zu, die er ihnen vorher noch rigide abgesprochen hatte, weil sie ihm "die Abwendung vom Glauben Israels" bedeuteten (Rabbi, Sp. 41). Allein dazu aber ist das Gesetzesjudentum auch nur (noch) fähig: Der Rabbi ist, ganz im Gegensatz zu Noa, derbeideFormen des Judentums kennt und sein anfänglich gleichfalls mthodoxes Verständnis vom Judentum geändert hat, weil er dessen Defizite reflektiert, eine vollkommen entwicklungslose und unreflektierte Figm mit völligem Unverständnis gegenüber Noas Position. Er bleibt dabei aber auch eine Figur ohne psychologische Tiefe: Einen Einblick in die individuellen Motivationslagen für Veränderungen liefert der Text ausschließlich- und das ausführlich und gleich zu Beginn des Textes - für Noa. Die Gtünde für die Gesinnungsänderung des Rabbi hin zu größerer Milde, der nur in Außensicht oder in Fremdfokalisierung, nie aber in Mit- oder Innensicht präsentiert wird, bleiben offen. Der Text führt also die vorsichtige Erziehung eines Gesetzesjudentums vor, das auf Figurenebene nirgends in seiner Bedeutung angezweifelt, vom Text insgesamt aber doch mit Alter, Statik, aggressiver Intoleranz und vor allem mit Zukunftslosigkeit korreliert wird, weil der Rabbi keinen Nachfolger findet: Noa, sein bester und eigentlich für diese Position vorgesehener Schüler, lehnt dieses Amt zweimal ab. Der Übergang zur friedlichen Koexistenz gelingt dann nur, weil das tödliche Potential der Konkurrenz auf den gebärenden Frauenkörper ausgelagert wird und also nicht im direkten Zusammentreffen der beiden Männer zum Ausbruch kommt - die können dann ihre Differenzen auf eine Leib und Leben nicht gefährdende Weise im Gespräch markieren und sogar unversöhnt auseinander gehen. Die beiden Gedichte nun beschäftigen sich mit der Erhaltung des Judentums nach der Zerstörung Jerusalems, also unter den Bedingungen von Vertreibung und Exil. "An den Wassern Babels", eine deutsche Übersetzung der Byronschen Nachdichtung des Psalms 137, bringt dafür drei Zeitstufen ins Spiel: die Zeit der Zerstörung Jerusalems als ältesten Bezug, die hier aber nicht direkt zur Darstellung kommt, sondern als Erinnerung im Babylonischen Exil eingeftihtt wird, das die

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zweite Zeitstufe markiert ("An den Wassern von Babyion sassen/Wir weinend und dachten der Zeit,/Wo der Räuber Jerusalems Strassen/Mit der Farbe der Schlachten entweiht/Und die jammernden Töchter durehrnassen/Die Pfad' in das bittere Leid.") Hier wird dann auch der von "Babel" geforderte Gesang verweigert ("Da heischten ein Lied sie - doch nimmer/Hat Babel die Klänge gekannt") und im präsentisch formulierten Postulat eines ewig geltenden Verbots zum mittelbaren Zeichen für die bewahrte Eigenständigkeit (,,Die Hand soll verdorren für immer,/Die für Feinde die Harfe bespannt!") Die letzte Strophe wiederholt dieses Gebot noch einmal in einer deiktischen ("nun") und dabei in ihrer Relation zu den vorhergehenden Zeitstufen unbestimmt bleibenden Gegenwart und appliziert sie auf einen Einzelsprecher. 71 Konstanz und Kontinuität des Judentums sind hier also auf zweifache Weise an die Harfe gebunden: Als materieller Rest hält sie einerseits eine Verbindung zur Jerusalemer Vergangenheit- die sich in der Rede der Wir-Gruppe zur Erinnerung zweiter Stufe verflüchtigt hat - über mehrere Zeitstufen aufrecht ("Mir bleibt von Jerusalems Leiden/kein anderes Zeichen als sie"). Andererseits verweist sie auf die Verweigerung von Anpassung an und Vermischung mit den "Heiden" ("Und nie zum Gesange des Heiden/Soll tönen des Psalms Melodie!"), wobei durch die zweimalige präsentische Formulierung dieses Gebots wiederum dessen Dauerhaftigkeit über die verschiedenen Zeitstufen hinweg demonstriert wird. "Der ewige Jude" setzt gleichfalls mit der Zerstörung des "heilige[n] Tempel[s]" ein; Vertreibung und Verfolgung werden hier aber anhand einer Einzelfigur von einer anonym bleibenden Sprechinstanz nachzeitig, also mit zeitlichem und personalem Abstand, beschrieben. Konzipiert ist diese Wanderung als eine Kreisbewegung, die am Ende, am "Tag der Erlösung", wieder an den Ausgangspunkt, das "Gelobte Land", zurückführt. Zentrales Anliegen der Wandererfigur ist es, "[t]rotz Henker und Ketten/[... ]/Die Thora, die Thora zu retten! " Rückkehr als Erlösung ("Hosianna! Der Tag der Erlösung erstand") bedeutet die Wiederherstellung des Zusammenhangs von Ort, Figur und Thora, erst dann ist auch der Rettungsprozess vollendet: "Die Thora, die Thora gerettet!"72 Die Zwischenphase der Wanderung ist dem gegenüber defizitär, und das nicht nur, weil die Figur hier "[v]erhöhnt, getreten, gefoltert, verbannt" wird, sondern vor allem wegen des Aufbrechens der hoch gewerteten Trias. Vollendetes Judentum ist damit eindeutig an eine Ortsbindung gekoppelt, deren Auflösung ist krisenträchtig und nur durch eine Art Teilkonstanz überbrückbar, die der Thora überantwortet wird. Dass die Thora diese Funktion übernehmen kann, zeigt sich aber ebenso wie die Widerstandsfähigkeit des "Retters" gegenüber äußeren Anfeindungen ausschließlich in eben diesem Interim. Kontinuität und Dauerhaftigkeit des Judentums bleiben hier also an die Phase der Be-

71 Alle Zitate bei Byron: An den Wassem Babels, Sp. 15f. 72 Alle Zitate B. Israel: Jude, Sp. 3f.

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wegung gebunden, an den Blick auf das kontinuierliche Befolgen des Postulats der Rettung, und liegen gerade nicht in der Rettung selbst. Die drei literarischen Texte des Heftes entwickeln mithin zwei verschiedene, dabei komplementär aufeinander bezogene Perspektiven auf altes bzw. historisches Judentum: Der Erzähltext zeigt sich deutlich ambivalent gegenüber dem orthodoxen Judentum des alten Rabbis; er verweist dabei aber vor allem auf die Gefahren einer Übergangszeit, in der es zur Konkurrenz verschiedener Formen von Judentum und damit zu Spaltungen innerhalb der jüdischen Gemeinden bis in die Familien hinein kommt. Denn das kann- glaubt man dem Aberglauben des Volkes - tödliche Konsequenzen haben. Wandel ist hier also latent krisenträchtig und es bedarf einer ganzen Reihe von Interventionen - wie der Text suggeriert, sogar göttlicher Art- um eine Katastrophe zu vermeiden. Eben solchen Wandel klammert die Lyrik aus und setzt dagegen auf Konstanz und Stabilität des Judentums, am deutlichsten veranschaulicht in der Kreisbewegung des ewigen Juden, dessen einziges Ziel es ist, wieder zum Ausgangspunkt seiner Wanderung zurückzukehren und die alte Einheit zwischen Jude, Herkunftsort und Thora vollständig zu restituieren. Beide Gedichte machen dann klar, dass es dafür zuverlässiger Trägermedien (hier der Thora und der Harfe) und vor allem zuverlässiger Juden bedarf, die ihre Identität- unangefochten von den Wechselfällen des Exils und gefeit gegen dessen äußere Einflussnahmen - ungebrochen und ungespalten bewahren. 1.2.2 Heftkontexte Um die Funktion der drei literarischen Texte innerhalb des ersten Zeitschriftenheft einschätzen zu können, bleibt nun zu klären, wie die übrigen Beiträge des Heftes mit jüdischer Geschichte umgehen, ob und wie sie also einen kulturellen oder sonstigen Wandel von Judentum einkalkulieren und vor allem, welchen Status dabei altes bzw. historisches Judentum erhält: ob es weiterhin Norm und Orientierungspunkt bleibt, ob es modifiziert oder gar verjüngt, ob es überwunden und ad acta gelegt wird, welche Gemeinsamkeiten und Differenzen zwischen den verschiedenen Zeitstufen dabei bestehen und welche Eigenständigkeit schließlich der eigenen Gegenwart zukommt. Es wird sich zeigen, dass die Beiträge eine konsequente Historisierung des Judentums zu vermeiden suchen und sich deshalb schwer tun, das "Altneue" des projektierten Judentums begrifflich präzise zu fassen. Die meisten der Beiträge stützen sich denn auch wie das Gedicht "Der ewige Jude" auf ein dreigliedriges Geschichtsmodell, in dem eine positiv besetzte Vergangenheit Orientierung für Zukunftsentwürfe liefert und einer schlechten, krisenbesetzten Gegenwart gegenübergestellt wird. Einem solchen Wunsch nach der Restitution alter Ordnungen entsprechen die Versuche, Judentum stabil und also möglichst fern von den Wechselfällen der Geschichte und- das gehört mehr oder weniger explizit dazu -

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fern von äußeren Einflussnahmen zu halten. Beides variieren Texte und Bilder in immer neuen Konstellationen und ergänzen es um Beispiele personal zurechenbarer jüdischer Standhaftigkeit. Die beiden Programmtexte, mit denen sich Ost und West als Teil und Beförderin der jüdischen Renaissance positioniert, der Leitartikel ,"Ost und West"'73 und Martin Buhers ,,Juedische Renaissance"/4 orientieren sich deutlich am alten, also einem bereits bestehenden Judentum: In ,"Ost und West"' ist das das "altjüdische Leben, das lange verschmäht und erniedrigt gewesen" (Sp. 1-2), in "Juedische Renaissance" "uralte[s] Material" (Sp. 9), mit dem das "Neuschaffen" beginnen soll. Die präzise Bestimmung der Relevanz dieses "Uralten" ftir Gegenwart und Zukunft fällt dabei aber einigermaßen schwer: Denn einerseits wird die Vorbildvergangenheit nicht konsequent historisiert und Differenzen zwischen den verschiedenen historischen Stufen werden nicht präzise markiert; andererseits erhält die Vergangenheit aber auch keinen eindeutig normativen Status. Das projektierte Neue soll also offenbar nicht gänzlich neu und im Sinne einer "Mehrfachmodalisierung von Zeithorizonten"75 von der Vergangenheit abgekoppelt erscheinen, die vollständige Angleichung ans Alte wird aber ebenso abgelehnt: ",Jüdische Renaissance' ..... Man hat darunter eine Rückkehr zu den alten, im Volkstum verwurzelten Gefühls-Traditionen und zu deren sprachlichem, sittlichem, gedanklichem Ausdruck verstanden. Man braucht diese Vorstellung nur an der Quattrocento-Renaissance zu messen, um ihre Kleinheit und Unzulänglichkeit einzusehen." (Renaissance, Sp. 8)

Ähnlich paradox formuliert Buher die Zwischenposition, wenn er "keine Rückkehr - aber auch kein[ en] Fortschritt in dem sehr langweiligen Gebrauchssinne dieses Wortes" (Renaissance, Sp. 8) will. Im Blick auf die jüdische Vergangenheit überkreuzen sich mithin Ahistorizität und Historizität, was die Texte mit einer ganzen Reihe von Verlaufsmodellen zu bewältigen suchen: mit dem Modell des "Fließens", das sich mit der U nterscheidung von Oberfläche und Tiefe verknüpft, wenn die "Geschichte" mit "Ströme[n] des Volkslebens" identifiziert wird, "die zu versiegen scheinen, aber unter der Erde weiterfliessen, um nach Jahrtausenden hervorzubrechen (Renaissance, Sp. 7), des "Aufsteigens/Erhebens", wenn das "altjüdische Le-

73 Anonym: Ost und West. 74 Buher, Martin: "Juedische Renaissance", in: Ost und West I ( 190 I), H. I , Sp. 7-10. 75 Vgl. dazu immer noch: Luhmann, Niklas: "Weltzeit und Systemgeschichte. Über Beziehungen zwischen Zeithorizonten und sozialen Strukturen gesellschaftlicher Systeme", in: Hans Martin Baumgartner/Jöm Rüsen (Hg.), Seminar Geschichte und Theorie. Umrisse einer Historik, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1976, S. 337-387.

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ben, das lange verschmäht und erniedrigt gewesen" sich "erhebt" und ",angsamen Schrittes die Stufen zum Throne empor[steigt]" (Ost und West, Sp. 1-2), oder die "neue Bewegung" einen "ganz eigenen Charakter [hat]: den der Muskelanspannung, des Aufschauens, der Erhebung" (Renaissance, Sp. 7), an den dann auch das Modell einer Auferstehung geknüpft werden kann oder das einer Entdeckung/Aufdeckung, mit dem die Erneuerung als Entdeckung "neue[r] Länder" ausgegeben wird, die "überall [ ... ] wie grüne Inseln aus Meerestiefen auf[tauchen]" (Renaissance, Sp. 8). Ähnlich wichtig sind organologisch und biologistisch inspirierte Modelle - das des "Aufkeimens" mit "Samenkörner[n] des Volkstums, die sich Jahrtausende lang in dumpfen Königsgräbern ihre Keimkraft bewahren" (Renaissance, Sp. 7), oder das der Restitution organischer Einheit, die den "Juden wieder dazu bringen [wird], sich als Organismus zu fühlen, und nach harmonischer Entfaltung seiner Kräfte zu streben, [... ] und eines gesunden, vollkommenen Leibes in Stolz und Liebe froh zu werden." (Renaissance, Sp. 10) Unklar bleiben müssen dabei die eigentlichen Qualitäten des projektierten Judentums, das aus "uraltem Material" (Renaissance, Sp. 9) neu geschaffen werden soll. In ",Ost und West' " ergeben sie sich hauptsächlich und auf sehr vage Weise aus der angestrebten Verlebendigung, weil dabei die "Kenntnis des lebendigen Judentums gepflegt werden [soll], eine Wissenschaft, die ihren Gegenstand nicht als totes Material behandelt, [... ] sondern sich mit ihm durch die innigsten und lebensvollsten Bande verknüpft weiss [... ]."(Ost und West, Sp. 1-2) BeiBuberlöst sich am Ende des Textes eine Reihe von Formulierungen von dieser ambivalenten Perspektive der Wiedergeburt, so dass etwas konkretere Projekte formulierbar sind wie etwa die Begründung einer genuin jüdischen bildenden Kunst, die die bisherige Konzentration auf "Wort" und "Gedanke" ausgleichen und damit den "Glanz einer neuen Schönheit" (Renaissance, Sp. 10) "ausgießen" soll, oder die Ausbildung des Neuhebräischen zur neuen Dichtersprache. Zugleich bleibt aber auch hierbei das "Neue", wenn es als ein "lange übersehenes Element" (Ost und West, Sp. 1-2) ausgegeben wird, an eine bestimmte Betrachterdisposition gebunden, so dass offen bleibt, ob sich das Judentum nun selbst geändett hat oder nur der Blick auf es.76 Die Gegenwart wird nun von diesen konfusen Kontaktzonen zwischen Vergangenheit und Zukunft bestimmt: Als Zeit der Krise ist sie einerseits deutlich von den Rahmenepochen abgegrenzt: ",Ost und West'" sieht diese Differenz wiederum sehr vage im Verlust der Einheit des Judentums, in der "tiefe[n] Entfremdung, die innerhalb des Judentums zwischen den einzelnen Gruppen und Schichten eingetreten

76 Bei Buher findet sich eine ähnliche Rückbindung der Erneuerung an den Betrachter im Modell der Entdeckung: "[ ... ] überall werden neue Länder entdeckt, überall tauchen schlummernde Welten wie grüne Inseln aus Meerestiefen auf, alle Dinge sind erneut, in jungem Lichte gebadet, aus frischen Augen blickt die alte Erde[ ... ]." (Renaissance, Sp. 8)

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ist", in den "allzu locker gewordene[n] Bande[n] des Judentums" und in fehlender "Solidarität" (Ost und West, Sp. 3-4). Buber wird hier zwar etwas detaillierter, dabei aber metaphorischer und macht "Golus" und "Ghetto" für die "Zersetzung" des "einheitlichen Willens" und für die "Verrenkung" des "Lebensgefühls" (Renaissance, Sp. 10) verantwortlich. Andererseits ist die Gegenwart aber auch diejenige Phase, in der die Veränderungen hin zur alt-neuen Zukunft beginnen, in der die Kontinuität zwischen den beiden Rahmenepochen also allererst wieder hergestellt wird. Die Ursachen für solchen Wandel, die Regeln seiner Dynamik also, werden nirgends explizit thematisiert, sie lassen sich nur mittelbar aus den diffusen Verlaufsmodellen erschließen und ergeben sich im Kontext der biologistischen Metaphorik gewissermaßen aufnatürliche Weise im Keimen oder Wachsen, im Kontext der Entdeckung als Resultante eines Perspektivwandels und im Kontext des Aufsteigens auch als plötzliche, nicht weiter herzuleitende Präsenz. Die Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen, die dabei in Kauf zu nehmen ist und die die Einheit des Judentums ja noch ein weiteres Mal bedroht, erfasst Buber mit der Figur der Außenseiter-Propheten, die "leiden, wie einst die Propheten litten: weil sie wissend und einsam sind" (Renaissance, Sp. 9). Der Leitartikel sieht die Zeitschrift dagegen sehr viel harmloser als "Beförderer" und baut medienspezifisch auf "Information" und "Übersicht", auf die Akkumulation des "Neuen" aus "einer Hand", aus der sich die Einheit des Judentums als Einheit einer jüdischen Leserschaft ergibt: "Dem modernen Juden[ ... ] wollen wir eine Gelegenheit bieten, zwischen den Umschlagseiten jedes einzelnen unserer Hefte einen möglichst umfassenden Ueberblick über jüdische Thätigkeit auf allen Gebieten, jüdisches Leben in allen Ländern zu gewinnen. Künstlerische, wissenschaftliche und Iitterarische Beiträge der besten Autoren [... ] sollen ,Ost und West' Eingang verschaffen bei allen Juden deutscher Zunge, und der neuen Zeitschrift einen Platz sichern in jedem jüdischen Hause." (Ost und West, Sp. 1-2)

Das Verhältnis zwischen altem und neuem Judentum ist in den beiden Texten, die programmatisch eine jüdische Renaissance ausrufen, ganz offensichtlich äußerst problematisch. Das zeigt sich in der zum Teil stark metaphorischen Sprache, mit der historische Verlaufsprozesse bevorzugt an eine Biologie des Wachsens, Blühens, Gebärens und des Lebens delegiert werden, mit der ganz offensichtlich plötzliche und revolutionäre Veränderungen und Kontinuitätsbrüche vermieden werden sollen. Es zeigt sich aber vor allem in der Überdeterminiettheit dieses Prozesses: Die Texte kreisen das Problem mit immer neuen Beschreibungsmodellen ein, in manchen Fällen stehen ganz unterschiedliche Konzepte im selben Satz direkt ne-

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beneinander. 77 Vermieden wird so vor allem eine konsequent historische Perspektive, der Wandlungsprozesse in den Blick geraten müssten, die aber offenbar die Homogenität des Judentums gefährden würden. Eine jüdische Renaissance ist hier also nicht als eine neue historische Stufe des Judentums unter den Bedingungen der Modeme zu Beginn des 20. Jahrhunderts konzipiert, sondern als Bestätigung von dessen Konstanz und Kontinuität. Die in den beiden Programmtexten bereits greifbare Tendenz zur Geschichtsfeme des anvisierten Judentums arbeitet der Beitrag "Die Zukunft des Judentums" von Alfred Nossig weiter aus. 78 Er formuliert- ganz ähnlich wie die beiden Programmartikel, im Redegestus aber deutlich nüchterner- Zukunftsprognosen für das jüdische Volk, den jüdischen Staat und die jüdische Lehre. Basis ist auch hier ein dreistufiges Geschichtsmodell, das vom biblischen Judentum als einer Einheit von Staat, Volk und Lehre ausgeht, die Diaspora als Zwischenphase im Zeichen des Verlustes von Staat und Territorium konzipiert und für die Zukunft von der "Restauration des jüdischen Staatswesens" ausgeht. Di e letzte Stufe ergibt sich für Nossig als "Resultante [eines] historischen Kräfteparallelogramms" (Zukunft, Sp. 21 ), in dem auf der einen Seite dauerhafte Bindungskräfte die innere Einheit des Judentums sichern: Das ist der "natürliche Erhaltungstrieb des Stammes und die Macht einer bewussten, höhere Ziele anstrebenden Leitung [d.i. Moses, die Propheten und die Führer der Diaspora, M.P.]", die dem Volk "eine fast fanatische Ueberzeugung von der Notwendigkeit seiner Existenz, einen übermächtigen Willen zum Leben und zwar zum national abgesonderten Leben [einpflanzten]", ein Wille, der "seit mehr als 3000 Jahre[n] triumphiert" und "stets den Sieg davongetragen [hat], so oft dieses Volk an dem Scheidewege stand, wo es zwischen einem leidvollen Dasein und einer verlockenden Auflösung zu wählen hatte." (Zukunft, Sp. 19) Auf der anderen Seite nimmt das nationale Selbstbewusstsein der anderen Völker zu, so dass "das unaufgelöste jüdische Volk auch aus einem höher civilisierten Volks- und Staatsorganismus hinausgedrängt wird, sobald jener Organismus innerlich auf eigener Basis erstarkt und gereift ist" (Zukunft, Sp. 22). Veränderungen unterworfen ist damit nur die "Umgebung" des jüdischen Volkes, nicht aber es selbst - es "ist noch dasselbe[ ... ], welches Moses und die Propheten geleitet" (Zukunft, Sp. 21).

77 Ygl. zum Beispiel die Kombination des Modells vom Aufstieg mit dem Modell der Oberfläche (hier mit Bezug auf Kleidung/Kern): "Das

al~üdische

Leben, das lange ver-

schmäht und erniedrigt gewesen, erhebt sich, hüllt sich in die Gewänder der neuen Zeit und steigt langsamen, aber sicheren Schrittes zum Throne empor." ("Ost und West", Sp. 1-2) 78 Nossig, Alfred Dr. : "Die Zukunft des Judentums", in: Ost und West I (1 901), H. I, Sp. 19-26.

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Erst im Blick auf das Judentum "als Lehre" (Zukunft, Sp. 24) werden Veränderungen innerhalb des Judentums relevant: So bleibt die Bedeutung des talmudischen Judentums an die zwar lange, aber mit Blick auf die Zukunft eben doch begrenzte Phase von Diaspora und Exil gebunden und erfüllt nur hier ihre Funktion - die "lebensgefährlichen Krisen der Völkerwanderung, der Kreuzzüge und alle die späteren Existenzgefahren: die der Obdachlosigkeit, der Unsicherheit, der erlittenen Verfolgungen" zu überwinden und "das Leben" zu retten (Zukunft, Sp. 21 ). Gewandelte Bedingungen, wie sie mit der Restituierung des jüdischen Staatswesens und einer "nationale[n] Blüte" (Zukunft, Sp. 25) gegeben sein werden, scheinen dann doch Veränderungen in der Konzeption des Judentums zu erfordem. Allerdings wird dessen Kem auch von diesen Umwandlungen nicht irritiert, und zwar deshalb nicht, weil sie den "reinste[n] Inhalt der jüdischen Lehre" (Zukunft, Sp. 24) nicht betreffen, vor allem aber, weil diese Veränderungen ihrem Wesen zugeschlagen werden können und sich in der Wandlung sogar alte Prophezeiungen erfüllen: "Die jüdische Lehre, ihrem Wesen nach lebensfähig, muss sich diesen neuen Verhältnissen anpassen; sie kann es thun, denn ihre fundamentalen Urkunden gestatten es, ja sie prophezeien es." (Zukunft, Sp. 25) Die solchermaßen eingehegten Modifikationen betreffen vor allem den abstraktvergeistigten Charakter des Talmudjudentums und laufen zunächst - ganz ähnlich wie in den beiden Programmaufsätzen- auf eine Art Realitätsannäherung und Versinnlichung hinaus, mit der sich vor allem die bildenden Künste werden entfalten können: "Alle schlummernden Talente aufbietend, wird das jüdische Volk[ ... ] aber auch dem Gebiete der Induktion sich nähern; das nun erzogene Volk wird alle Künste gleichmässig pflegen dürfen, nicht gehindert und zurückgesetzt, sondern von der nationalen Organisation gefördert." (Zukunft, Sp. 26) Zugleich und vor allem aber bedeuten diese Veränderungen im Zeichen von Menschheit, Wahrheit und Kultur eine Normalisierung der gegenwärtig noch bestehenden Sonderexistenz des jüdischen Volkes. Im Rahmen der so gesicherten nationalen Grenzen kann jetzt wieder über Grenzen hinaus geblickt werden, nun aber nicht auf ein Gegenüber (zum Beispiel auf Christen oder Deutsche), sondern auf übergreifende, universale Entitäten. Die sind am Ende allerdings nicht nur kompatibel mit dem Judentum, sie sind mit ihm identisch geworden: "Dürfen wir nicht hoffen, dass eine einheitliche Verbindung der menschlichen Religionen bevorstehe? Und ist es nicht walmcheinlich, dass der Mosaismus mit seiner Minimalanzahl von kurzen, einfachen Dogmen, mit seinen ftir die gesamte Entwickelung der Menschheit berechneten Fundamenten die Weltreligion aus sich hervorbringen wird [ ... ]?" (Zukunft, Sp. 26)

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Ganz ähnlich wie Nossigs Beitrag argumentiert der Beitrag "Hebraeisch"/ 9 der sich mit dem besonderen Status der hebräischen Sprache beschäftigt, die weder "tot", noch aber ebenso ",ebendig" ist "wie die deutsche oder französische Sprache". 80 Der Text versucht dann mit einigem Aufwand und mit zahlreichen Beispielen zunächst die konstante Bedeutung des Hebräischen durch eine wandlungsreiche Geschichte der Diaspora hindurch nachzuweisen. Trotz ihrer Anpassungsfähigkeit, die sich vor allem in beständigen Erweiterungen des Wortschatzes zeigt, bleibt ihr ein Identitätskem: Sie war und bleibt die "Seele des jüdischen Volkstums" (Hebraeisch, Sp. 37). Unter solchen Voraussetzungen kann dann am Ende des Beitrages auch ihre gegenwärtige Modernisierung hervorgehoben werden, in der sie vor allem in Literatur und Philosophie allen anderen Sprachen ebenbürtig, aber zugleich auch zum Verwechseln ähnlich geworden ist: "[Man] wird erstaunt sein, zu bemerken, welches rege Leben da herrscht, wie namentlich in der belletristischen und poetischen Litteratur die verschiedenen Richtungen vertreten sind: Klassiker, Romantiker, Realisten, Symbolisten, Moderne, Dekadente, Junge und Allerjüngste. [... ]Um Nietzsche wird in der hebräischen Littcratur ebenso eifrig gekämpft wie in der deutschen, und Richard Dehmel fehlt auch in der hebräischen Dichtung nicht[ ... ]." (Hebraeisch, Sp. 42)

Der Beitrag "Ein vergessenes Stueck Palaestina" 81 bezieht sich auf die konstant relevant bleibende jüdische Vergangenheit schließlich in einem ganz wörtlichen, geographisch-politischen Sinne: Vorgeschlagen wird hier die Kolonisierung eines Landstriches in "Aegyptisch-Palaestina". Zukunftsaussichten sind dabei nicht, wie in den anderen Beiträgen, spekulativ oder metaphorisch formulie1t, sondern im Rückgriff auf Daten zur politischen Lage, zur Bevölkerungsdichte, zum Klima, zur Bodenqualität und zum Verkehrsnetz, und sie werden mit Kartenmaterial unterstützt. Wie ausführlich mit Bibelpassagen belegt wird, handelt es sich dabei um biblisches Tenitorium, so dass es nicht um die bloße "Lösung der jüdischen Auswanderungsfrage [geht], die angesichts der furchtbaren Lage in Rumänien und der Stellungnahme der bisherigen Immigrationsländer heute brennender ist als je" (Palaestina, Sp. 54), sondern eben auch um einen Bezug zur eigenen Vergangenheit.

79 Bemfeld, Sirnon Dr.: "Hebraeisch", in: Ost und West 1 (1901), H. 1, Sp. 33-42. 80 "Als eine lebendige, wie z.B. die deutsche oder französische Sprache, können wir sie nicht hinstellen, aber ebenso wenig als eine tote, wie die ägyptische oder assyrische, oder als Gelehrtensprache, wie z.B. die lateinische. Sie bildet für sich eine besondere Rubrik." (Hebraeisch, Sp. 33-34) 81 Ebenstein, B.: "Ein vergessenes Stueck Palaestina", in: Ost und West 1 (1901 ), H. 1, Sp. 49-54.

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Aber auch hier rückt die historische Differenz, die zwischen ihr und der Gegenwart klafft, wieder in den Hintergrund: einerseits und ganz ähnlich wie im Gedicht "Der ewige Jude" in ihrer Verräumlichung (zurückgekehrt wird an den alten Ort und nicht in die biblische Zeit), andererseits in der Konzeption der Besiedelung als Überführung von "Hoffnungen" und "Träumen" in die Wirklichkeit, als Übergang also von Virtualität in Realität: "Aber nicht nur in Vergangenheit und Kultus lebt uns Palästina, sondern auch in unseren Träumen und Hoffnungen, die gar nicht immer utopischer Art sind, wenn sie auch von vielen Hunderttausenden gehegt und nur von wenigen Tausenden verwirklicht werden." (Palaestina, Sp. 49) Und wie in Nossigs Beitrag bleibt auch hier die allgemeine Relevanz jüdischer Interessen im Spiel, diesmal aber ist sie verkehrstechnisch begründet: Das Besiedelungsgebiet liegt im Schnittpunkt wichtiger europäisch-asiatischer Bahnlinien. Der beigefügte, zentriert gesetzte, kreisförmige Kartenausschnitt (Palaestina, Sp. 53-54) rückt die jüdische Kolonie in den geometrischen Mittelpunkt, von dem aus die Schienennetze strahlenförmig in die ganze Welt führen. Die Sicherung von Konstanz und Dauerhaftigkeit des Judentums gelang schon in den beiden Gedichten nur mit Hilfe stabil bleibender Überlieferungsträger. Eine solche Widerständigkeit gegenüber externen, nichtjüdischen Einflüssen wird auch bei Nossig thematisch, der vor allem die auf Assimilation ausgerichtete Bewegung von Emanzipation und Aufklärung als "zur Auflösung drängende Kraft" deutet, "welche aller vergangenen Rüstigkeit und allen Lebenswillens spottet und unabwendbar Tod bringt" (Zukunft, Sp. 20). Einige Beiträge ergänzen diese Perspektive um Beispiele zuverlässiger Juden, deren althergebrachter Identitätskern durch nichts zu erschüttern ist, weil er sich von Mischungen und Grenzüberschreitungen freihält. Das gilt für die umfangreiche Besprechung des Lyrikbandes Juda, in dem Gedichte jüdischer Thematik, verfasst von einem Nichtjuden (Börries Freiherr von Münchhausen) mit Bildmaterial eines jüdischen Künstlers (Ephraim Moses Lilien) kombiniert sind. Grenzverwischungen werden hier nur für von Münchhausen festgestellt: "[... ] man sieht, wie sich allmählich das rein stoffliche Interesse an den Geschehnissen jüdischer Vergangenheit zu persönlichster innerer Anteilnahme an dem Geschick unseres Volkes und unserer lebendigen Hoffnung wandelt [...]." 82 Liliens Illustrationen dagegen bleiben als jüdische deutlich auch noch von den ans Judentum adaptierten Texten getrennt: "Die Zeichnungen haben mit den Gedichten nur den Titel gemeinsam - das rein Stoffliche! Der Zeichner geht seine eigenen Wege- er trägt seine eigenen Ideen in die Materie hinein, seine eigene Seele, sein eigenes Leid, das Leid und die Sehnsucht seines Volkes ... [...] Es

82 Zlocisti, Theodor Dr.: "Juda", in: Ost und West 1 (1901), H. 1, Sp. 63-68, hier Sp. 64 (Hervorhebungen im Original).

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gicbt kaum ein Werk, das weniger einheitlich ist. Zwischen den Gedichten Münchhauscn's und dem Schmucke Lilicn 's gähnt die breite Kluft zweier Individualitäten eigenen Sinnes, eigener Vergangenheit, verschiedener Gegenwart, verschi edenen Stammcstumes." 83

Ergänzend dazu hebt ein Beitrag aus der Rubrik "Miscellen" die Standhaftigkeit von "Beethoven's erste[r] Liebe" Rahe! Löwenstein hervor, die die Konversion entschieden und mit Stolz auf ihr eigenes "Volk Israel" verweigert: "Segen und reichen Gewinn haben die Leiden unserer Väter kommenden Enkeln gebracht. Kein Volk steht so fest wie Israel. [... ] Verlasst mich, lieber Fremdling, verlasst mich!" 84 Und schließlich wird auch in einigen der Aphorismen 85 noch einmal auf die Unhintergehbarkeit und Unteilbarkeit der jüdischen Herkunft verwiesen, wenn es dort etwa heißt, dass man "nicht Jude [ist] aus freier Wahl", dass "die Juden eine auserwählte Rasse [bleiben], ein eigenes Volk", eine "kleine menschliche Insel" bilden, oder dass das "ebräische Volk[ ... ] von seinem Ursprunge an als ein genetisches Individuum, als ein Volk betrachtet [ward]''. 86 Die "Revue der Presse" hebt schließlich die Verdienste von Juden in verschiedenen gesellschaftlichen und politischen Bereichen und Einigungsbemühungen auf Vereinsebene hervor, so etwa in einer Notiz zur Allgemeinen Zeitung des Judentums, die vom Projekt eines "allgemeinen Judentags" berichtet87 und in knappen Referaten aus der Schlesischen Zeitung, dem Jewish Comment, dem Jewish Chronicle und der Jüdischen Gazette, die auf den Anteil jüdischer Politiker oder auf sonstige Weise öffentlich relevanter Figuren in Italien, England, Amerika und der Türkei verweisen. Auf einer weiteren Ebene, der der thematischen Ausrichtung, ist die Markierung (und damit Abgrenzung) der jüdischen Differenz dann schließlich für das gesamte Heft relevant: Ebenso wie die bereits analysierten längeren Textbeiträge, die sich explizit mit ihr auseinandersetzen, bringen neben den literarischen Texten auch die Reproduktionen bildender und sonstiger Kunst allesamt eindeutig jüdische Themen und Figuren zur Darstellung: die Abbildung der Plastik "Der ewige Jude" von Alfred Nossig (Sp. 5-6), das Chorlied "An den Wassern zu Babel" (Sp. 11 -14), die Abbildung des Gemäldes "An den Wassern Babel's" von Bendemann (Sp. 15-1 6), die Abbildung der Skulptur "An den Wassern Babyions sassen sie und weinten" von Gustav Eberlein (Sp. 17-18), die Abbildung des Gemäldes "Esther vor Ahasver" von Coypel (Sp. 29-30) und einige Illustrationen Liliens zum Gedichtband Juda

83 Ebd., Sp. 65 . 84 "Miscellen", in: Ost und West I (190 I), H. I , Sp. 69-72, hier Sp. 70. 85 [anonym]: "Aphorismen", in: Ost und West I (1901), H. I, Sp. 71-74. 86 Ebd., Sp. 71 , Sp. 72, Sp. 73f. 87 "Revue der Presse", in: Ostund West I (1901), H. I, Sp. 73-76, hier Sp. 73 .

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(Sp. 66 (zum Gedicht "Euch"), Sp. 75-76 (Michael und Asmodai)). 88 Nichtjüdisches kommt hier selbständig nicht vor- Werbeanzeigen finden sich im ersten Heft noch nicht.

1.2.3 Fazit: Literatur als Formvariante Im ersten Heft der Zeitschrift sind die literari schen Texte Teil einer Ordnung, die wesentlich auf dem Prinzip der Varianz beruht: Alle Elemente beziehen sich explizit oder implizit, aufthematisch unterschiedliche Weise, in verschiedenen Text- und sonstigen Darstellungsformen auf das Grundproblem von Stabilität und Unterscheidbarkeit des Judentums. Die beiden Programmtexte (",Ost und West"' und "Juedische Renaissance"), weitere umfangreichere Abhandhmgen ("Die Zukunft des Judentums", "Hebraeisch", "Ein vergessenes Stueck Palaestina" und "Die wirtschaftliche Aufgabe der deutschen Judenheit" 89), einige der kleineren Texte aus den "Aphorismen", die beiden Gedichte und der Erzähltext- also der weitaus umfangreichste Teil des Heftes - konzipieren das Problem als Frage nach der historischen Stabilität des Judentums. Die wird im Kern-trotz der Schwierigkeiten einiger Texte im Umgang mit altem Judentum- immer wieder bejaht, in den Argumentationsverfahren aber unterschiedlich belegt - entweder implizit vorausgesetzt oder einfach behauptet oder im Gestus wissenschaftlicher Objektivität nachgewiesen oder, wie in den Programmtexten, in metaphernreicher Sprache immer wieder erneut eingekreist. Weitere kleinere Texte aus den Rubriken "Miscellen" und "Revue der Presse" und die Reproduktionen bildender Kunst bestätigen die jüdische Differenz gewissermaßen in actu, ohne eine solche historische Kontextualisierung. Die Lyrik betont dabei vor allem die Integrität des Judentums und seine Widerstandsfähigkeit gegenüber äußeren Anfeindungen. Sie individualisiert aber die Trägerobjekte und-subjektedieser Konstanz- in "An den Wassern Babels sassenwir und weinten" sind das die Harfe als vergegenständlichtes Identitätssymbol und die Wir- und Ich-Sprecher als personale Sicherer der Kontinuität, in "Der ewige Jude" sind das entsprechend die Thora und die Einzelfigur des Retters. Die Lyrik vereindeutigt so die komplexen Zurechnungsprobleme, die vor allem die beiden Programmaufsätze strukturieren. "Der ewige Jude" vereinfacht zudem auch deren auffällig überdeterminierte Verlaufsmodelle: Das Gedicht überführt sie in eine geographisch abgesicherte Kreisbewegung, die wieder zum Ausgangspunkt zurückkehrt und die gewissermaßen nur die konservativen Aspekte der Programmaufsätze reali-

88 Einzige Ausnahme bildet ein dekoratives Jugendstil-Band über der Rezension von Robert Jaffes Roman Ahasver (Sp. 59-60). 89 Tuch, Dr. Ernst: "Die wirtschaftliche Aufgabe der neuen Judenheit", in: Ost und West I (1901), H. 1, Sp. 55-58.

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siert. Der Erzähltext modifiziert die Ambivalenz der Programmtexte dem alten Judentum gegenüber, indem er die Differenz zwischen alt und neu auf Generationenfolgen und interpersonale Auseinandersetzungen abbildet. Das - per Generationenstufe- jüngere Judentum ist dann auf ganz ähnliche Weise wie die jüdische Renaissance organisch und lebendig. Die Individualisierung ist allerdings kein Privil eg der literarischen Texte, sie findet sich zwar nicht in den größeren Abhandlungen, aber doch in einigen der kleineren Texte der "Miscellen", der "Aphorismen" und der "Revue der Presse". Und ebenso wie für einen großen Teil der Beiträge, aber in deutlichem Gegensatz wiederum zu den Programmaufsätzen, die die Zeit von Exil und Diaspora ja als extrem krisenträchtig auffassen, liegt für Lyrik und Erzählprosa gerade hier die Phase, in der sich Integrität, Stabilität und Problemlösungskompetenzen des Judentums erweisen. Auf der Ebene der Themen, die im Heft bearbeitet werden, nimmt die Literatur also keine auffällige Sonderstellung ein: Sie bearbeitet ganz ähnliche Problemkomplexe mit ähnlichen Modellen und transportiert dabei ungefähr dieselben Normen und Werte, die auch für alle anderen Bestandteile des Heftes gelten. Nur für die Lyrik wird dann aber doch eine Differenz hervorgehoben, die sich aus einer Aufmerksamkeit auf die Formen von Kunst ergeben: Hier wird die Möglichkeit, die das Heft so sehr interessierenden Problemkomplexe nicht nur thematisch, sondern auch formal zu variieren, herausgestellt. Und hier können der Kunst schließlich auch Lizenzen zu einer- freilich beschränkten- Ablösung von jüdischer Thematik erteilt werden. Über Aufbau und Aufeinanderfolge der Heftseiten ordnet das Heft jedenfalls die Lyrik in ein Ensemble ein, in dem dieselbe Thematik von verschiedenen Kunstformen bearbeitet wird: Auf das Gedicht "Der ewige Jude" folgt auf der nächsten Seite die Reproduktion einer Plastik von Alfred Nossig mit demselben Titel. "An den Wassern Babels sassen wir und weinten" sind unmittelbar zwei Seiten mit Noten zum Psalm 137 ("An den Wassern zu Babel") vorangestellt, 90 der Byron die Vorlage zu seiner Nachdichtung geliefert hatte, und die nun hier in deutscher Übertragung abgedruckt ist. Über dieses Gedicht und etwa die Hälfte der Seite einnehmend, ist die Reproduktion eines Gemäldes mit demselben Titel ("An den Wassern Babel's") gesetzt, auf der folgenden Seite dann schließlich noch die Reproduktion einer Plastik mit dem Titel "An den Wassern Babyions sassen sie und weinten". Damit aber hebt die Zeitschrift nun auch die Variabilität in der formalen Gestaltung eines bestimmten Themenkomplexes he1vor: flir die Figur des "ewigen Juden" auf zweifache Weise mit Gedicht und Plastik, für das Thema "Babylonisches Exil" sogar aufvierfache Weise mit Noten, Gedicht, Gemälde und Plastik.

90 Liwschütz, Hirsch: "An den Wassem zn Babel. Psalm 137, Vers 1, 11. Chorlied", in: Ost und West 1 (1901 ), H. 1, Sp. 11-14.

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Dieser Versammlung verschiedener formaler Bearbeitungen desselben Themenkomplexes korrespondiert in den Beiträgen, die sich mit Kunst und Literatur beschäftigen, einer vorsichtigen Autonomisierung der ästhetischen Form. Am deutlichsten zeigt sich diese Tendenz in Samuel Lublinskis Besprechung von Robert Jaffes Roman Ahasver. 91 Dessen Protagonist Emil Zlotnicki ist gerade das, was für alle anderen Beiträge der Zeitschrift in Untergang und Tod des Judentums führt eine Figur, die ihre jüdischen Grenzen ins Nichtjüdische auflösen will: "Er will heraus, er will sich selbst erlösen, will im Deutschtum, das er so innig liebt, restlos aufgehen." (Juedischer Roman, Sp. 61) Die Rezension setzt sich nun aber gerade nicht wertend mit dem Verhalten dieser Figur auseinander, sondern mit ihrer Darstellung: Defizite werden in der fehlenden Anhindung an politische, philosophische und wissenschaftliche Probleme des "Zeitalters" (Juedischer Roman, Sp. 59) verzeichnet, als besonders gelungen hervorgehoben wird die Psychologisierung des "Judenschmerzes": "In der lyrisch-analytischen Darstellung solcher intimer Leiden erweist sich Robert Jaffe als ein Dichter von ungewöhnlichem Können. Und wo er sich lediglich auf diesem Gebiet bewegt, da giebt es nur einen Ausdruck dafür: meisterhaft!" (Juedischer Roman, Sp. 62) Mit der Aufmerksamkeit auf den angemessenen Gebrauch literarischer Techniken kann die moralische Bedenklichkeit der Figur in den Hintergrund rücken. Auch in "Juda" finden sich Passagen, in denen über der detaillierten Beschreibung meisterhafter Darstellungsweisen sowohl der Darstellungsgegenstand als auch die jüdische Herkunft dieser Formen gewissermaßen vergessen wird: "Aber auch rein zeichnerisch wird die Art Lilien' s vorbildlich sein. Er ist nicht Maler, dessen Zeichnungen sich von Gemälden nur durch die - Farblosigkeit unterscheiden. Lilien benutzt den Stift nicht wie einen Pinsel. Er schattiert nicht und tönt nicht ab. Nur durch ein paar Striche und Linien- aber die charakteristischen- wird die Eigenart der Objekte und der seelische Ausdruck seiner Gestalten festgehalten."92 (Juda, Sp. 67-68)

Ähnliches gilt für den Beitrag über den "Estherstoff in der neuen Litteratur", der den Darstellungsstil der hebräischen Bibel mit den "abgeschmackten Uebertreibungen und Unglaubwürdigkeiten" 93 deutlich abwertet und alle weiteren Präsentationsformen im Rahmen der Dramengeschichte des 16. bis 18. Jahrhunderts (und also nicht im Kontext einer konstanten Verfolgungsgeschichte des Judentums) bewertet. Diese Ablösung ästhetischer Wertungskriterien von aufs Judentum bezogenen

91 Lublinski, S.: "Einjuedischer Roman", in: Ost und West 1 (1901), H. 1, Sp. 59-62. 92 T. Zlocisti: Juda, Sp. 67f. 93 Geiger, Ludwig Prof. Dr.: "Der Estherstoff in der neuen Litteratur", in: Ost und West 1 (1901), H. 1, Sp. 27-34, hier Sp. 28.

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Normen und Werten gilt gleichwohl nicht durchweg: Bei Lilien wird das ausführlich beschriebene formale Können kombiniert mit Behauptungen zum dezidiert jüdischen Charakter seiner Kunst, dabei bestehen beide Perspektiven unvermittelt nebeneinander. Die knappen Erläuterungen zur Plastik "An den Wassem Babyions sassen sie und weinten" ganz am Ende des Heftes kümmern sich nun wiederum überhaupt nicht um irgendwelche bildkünstlerischen Spezifika und assimilieren sich dem Darstellungsgegenstand in pathosgeladener Redehaltung, etwa wenn hier mitvollzogen wird, wie die "machtlose Hand [ ... ] nach der Harfe [tastet], um einzustimmen in das Klagelied, das eintönig über die Wasser hallt, das nicht verstummen wird, solange der Stamm Juda heimatlos und verfolgt über die Erde irrt." 94 Diese Flexibilität in der Markierung des Kunstcharakters wiederholt sich noch einmal in den Präsentationsformen der Zeitschrift selbst: Werden die beiden Skulpturen "Der ewige Jude" und "An den Wassem Babyions sassen sie und weinten" ganzseitig, gerahmt und zentriert gesetzt als unabhängige Einzelwerke präsentiert, so verweist eine Notiz zu "An den Wassem Baby Ions" doch auch schon auf sprachliche Kommentarbedürfigkeit der abgebildeten Plastik, wenn sich unter dem Werktitel und dem Namen des Bildhauers in Klammern die Notiz "Text siehe Seite 71/72" findet. Das Gemälde "An den Wassem Babel's" erscheint dagegen als visuelle Gestaltungsvariante des lyrischen Textes, der unter ihm abgedruckt ist - hier beziehen sich mithin zwei Kunstwerke wechselseitig aufeinander. "Esther vor Ahasver" liefert dagegen in einer visuellen Variante die ästhetische Fassung des Estherstoffes, die die Abhandlung in der Literatur nicht oder nm begrenzt findet. Die Noten schließlich sind deutlich als Vertonung eines biblischen Textes gekennzeichnet. Diese Anordnungen lassen das kontextlose, nur für sich stehende Kunstwerk in den Hintergrund treten, auf der Ebene der Seitengestaltung gilt eine solche Bezugslosigkeit nur für Nossigs Plastik "Der ewige Jude", die sich aber nun im Rahmen des Gesamtheftes als Teil von Themen- und Formvariauzen erweist. Hervorgehoben wird stattdessen eine Reihe von unterschiedlichen Bezügen zwischen Text und Bild, ohne dabei aber deren jeweiligen Werkcharakter anzutasten: Die Reproduktionen bildender Kunst können hier nicht - auch nicht in der Abhandlung zum Estherstoff- als einfache Illustrationen der Texte angesehen werden, weil sie immer deutlich, mit der Angabe von Werktitel und Produzentenname, als eigenständige Werke markiert bleiben. Favorisiert wird hier also eher - ganz ähnlich wie das schon für die beiden 1911 er Hefte festgestellt werden konnte - so eine Art relativer Kunstautonomie, die eingebunden bleibt in die verschiedenen Perspektiven des Vergleichs und der es weniger auf die Herausstellung der Eigenlogik des Werkes

94 [anonym]: "An den Wassem Babel's. (Zu der Abbildung auf Seite 17/ 18 dieses Heftes)", in: Ostund West I (1 90 1), H. I, Sp. 72.

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ankommt als auf dessen Fähigkeit, dasselbe auch noch einmal anders darstellen zu können. Nimmt die Literatur, so lässt sich nunmehr zusammenfassen, innerhalb der thematischen Ausrichtung des Heftes keine auffällige Sonderstellung ein, so wird hier doch die Aufmerksamkeit auf ihre spezifisch ästhetische Darstellungsform gelenkt: explizit in den kunst- und literaturkritischen Beiträgen, implizit- und dabei nur für die Lyrik geltend - in Seitenaufbau und Seitenfolge. Hier wird die thematischkonzeptionelle Variabilität des Gesamtheftes von der Aufmerksamkeit auf ästhetisch-formale Varianz flankiert - wohlgemerkt: flankiert und nicht durchkreuzt, weil die ästhetische Differenz an die Variierung eines speziellen Themas gebunden bleibt. So kommt die Eigenlogik der Kunst zwar ins Spiel, aber sie verbleibt doch eben immer auch im Dienst des Darstellungsgegenstandes Judentum, der feste Bezugsgröße ist und der nur punktuell und nur auf vermittelte Weise in der Besprechung von Jaffes Roman in der Rede über Kunst, nicht aber in der Präsentation dieser Kunst selbst, verlassen werden kann. Auch diese Form der Funktionalisierung von Kunst und Literatur lässt sich nicht reduzieren auf die Wünsche, die die Redakteure explizit an sie haben - auf diejenigen etwa, die Martin Buher in seinem Programmartikel zur "Juedischen Renaissance" formuliert. Allenfalls bestätigt die im Heft abgedruckte Kunst die Forderung nach einer engen Bindung der Kunst ans Judentum. Wenn hier aber prognostiziert wird, dass die neue "Bewegung" durch "Erziehung eines lebendigen Schauens und durch Sammlung der schöpferischen Kräfte die Gabe jüdischen Maiens und Meisselns erwecken" und "vor dem dunklen Tasten jungjüdischer Dichter die Feuersäule der Auferstehung einherwandeln lassen" wird, und dass "uns im N euhebräischen eine moderne Sprache" geschenkt ist, "in der allein wir die wahren Worte für Lust und Weh unserer Seele finden können" (Renaissance, Sp. 10), verweist das nur auf die programmatischen Wünsche nach einer vitalistischen Fundierung jüdischer Kunst. Diese Wünsche aber sind Teil des Regelsystems, das das ganze Heft konstituiert und, wie sich gezeigt hat, nur eine weitere Variante des Historisierungsproblems, an dem sich auch die literarischen Texte abarbeiten. Eben deshalb sind sie nicht als Metatexte zu gebrauchen und bekommen mit ihrer metaphorischen Fokussierung auf jüdische Identitätsbelange das nicht in den Blick, was hier herauszuarbeiten war: die spezifische, weil medial organisierte Funktionalisierbarkeit der Kunst für die Stabilitätssicherung des Judentums, die in der Varianz der Form in Sprache, Bild und Ton einen eigenen ästhetischen Freiraum schaffen kann.

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Das letzte Heft der Zeitschrift bietet nur Bruchstücke von Literatur: Einem Artikel über den Minnesänger Süßkind von Trimberg 95 sind einzelne Verse und kleinere Strophen beigegeben. Sie sind ins Neuhochdeutsche übersetzt, zum Teil gekürzt und nicht durchweg in der korrekten Versordnung wiedergegeben. Dazu kommen noch 22 kleine "Spruchweisheiten", 96 die nur in ihrer strophischen, zwei- bis achtzeiligen Ordnung, in der einfachen aber doch immer deutlichen metrischen Regulierung und mit den durchgehenden Paar- und Kreuzreimen literarische Formen zeigen, dabei aber aus dem Talmud übersetzt sind und ganz allgemeine Sentenzen zur Ordnung der Welt und zum Verhalten der Menschen, Anweisungen zu angemessener, zum Teil auch zu gottesfürchtiger Lebensführung und zum Wert des Wissens bieten. In einigen Fällen wird in einer Fußnote auf die entsprechende Quelle verwiesen. Im Heft findet sich also keine selbständige Literatur mehr: Die Verse des Minnesängers sind in die Argumentation eines Textes eingebaut und ganz offensichtlich nur nach ihrer Eignung für die Plausibilisierung bestimmter Thesen ausgewählt und entsprechend gekürzt, die literarische Überformung der Spruchweisheiten gibt sich als bloße Übersetzung eines bereits vorgegebenen Textes zu erkennen. Ein Anspruch auf künstlerische Autorschaft wird hier nicht erhoben, ebenso bleibt der Werk- oder Zykluscharakter der Minnelyrik Süßkinds unberücksichtigt. Der eindeutige Schwerpunkt des Heftes liegt im - hauptsächlich gegen antisemitische Vorwürfe erbrachten - Nachweis, dass die jüdische Differenz keinerlei Spaltungen, Konkurrenzen oder Fremdheiten generiert. Dieser Themenkomplex nimmt mit dem Leitartikel "Philosophie des Pogroms", 97 einer Gratulation, 98 dem schon erwähnten Beitrag zu Süßkind von Trimberg und den Rezensionen dreier Werke in der Rubrik "Aus der philosophischen Literatur" 99 mit ca. 23 Seiten gut 80 Prozent des insgesamt 28 Seiten umfangreichen redaktionellen Teils des Heftes ein, der um weitere sechs Seiten ergänzt wird, auf denen sich ausschließlich Werbeanzeigen finden. Innerhalb dieses Schwerpunktes dominiert nun - mit dem Leitartikel

95 Skorra, Thekla: "Süsskind von Trimberg, ein jüdischer Minnesänger", in: Ost und West 23 (1923), H. 3-4, Sp. 95-100. 96 ",Talmudische Spruchweisheit' Übersetzt von Max Weinberg", in: Ost und West 23 (1923), H. 3-4, Sp. 99-102. 97 Segel, Binjamin: "Philosophie des Pogroms", in: Ost und West 23 (1923), H. 3-4, Sp. 6092. 98 Guttmann, Julius: "Professor David Simonsen", in: Ost und West 23 (1 923), H. 3-4, Sp. 93-94. 99 [anonym]: "Aus der philosophischen Literatur", in: Ost und West 23 (1923), H. 3-4, Sp. 101-116.

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und den Rezensionen - ein Konzept, das die jüdische Differenz in einer abstraktphilosophisch gefassten Einheit in der Differenz aufgehoben wissen will. Diese thematische Konzentration auf den Komplex ,Einheit' aber wird flankiert von den Ordnungen auf der Ebene der Präsentationsformen des gesamten Heftes: zum einen vom Arrangement der "Talmudischen Spruchweisheit", in der thematisch sehr unterschiedliche Kleintexte zusammengefasst sind, deren Zusammenhang aber doch durch die formal recht einheitliche Gestaltung, vor allem aber durch die Zuordnung zu einem Übersetzer und durch die Singularform des Titels gesichert bleibt; zum anderen von den Werbeanzeigen, die in der Formenvielfalt und in der Vielfalt an beworbenen Produkten vom Heft selbst nicht mehr auf einen Nenner gebracht werden. In diesem Spektrum zwischen einer diskursiv begründeten Einheit in der Differenz, dem Ensemble formal ähnlicher, aber thematisch verschiedener "Spruchweisheit" und dem heterogenen Nebeneinander der Werbeanzeigen ergibt sich die Funktion der aus ihrem Werkzusammenhang herausgelösten Fragmente der Minnelyrik Süßkind von Trimbergs. Bevor sie genauer bestimmt werden kann, sei zunächst eben jenes Konzept von ,Einheit', das den Schwerpunkt des Heftes ausmacht, ausführlich analysiert. 1.3.1 Benjamin Segel: "Philosophie des Pogroms"

Am ausführlichsten wird das Einheitsmodell, das auch die jüdische Differenz in sich aufnimmt, im außergewöhnlich umfangreichen Leitartikel des Heftes analysiert. Er setzt sich auseinander mit den forciert antisemitischen Positionen aus Hans Blühers Pamphlet Secessio Judaica. Philosophische Grundlegung der historischen Situation des Judentums und der antisemitischen Bewegung. Hier wird den Juden nicht nur "Fremdheit" vorgeworfen, sondern die Absicht, das "Reich" und die "Ehre" (Pogrom, Sp. 62) Deutschlands vernichten zu wollen, durch perfekte Mimikry und "korruptiv[e] Gedankengänge" eine "destruktiv[ e] Geschichtswirkung gegenüber den Gastvölkem" (Pogrom, Sp. 61) auszuüben und schließlich "Träger und Propagator der materialistischen Geschichtsauffassung" zu sein. Gegen solche Vorwürfe wird zunächst versucht, ein Modell von Teilhabe zu entwickeln, das die rigide Grenzziehung aufhebt, ohne dabei jedoch die jüdische Differenz zu leugnen, so dass Juden zugleich "ihren Teil an dem schweren Schicksal Deutschlands mittragen" können und doch "ganz von allein [wissen], wer sie sind" und "keinen Anlaß [haben], sich [ ... ] ihrer Vorfahren zu schämen oder sie mit anderen zu veltauschen" (Pogrom, Sp. 84). Die Plausibilität dieses Teilhabemodells ergibt sich vor allem aus der Zurückweisung der antisemitischen Unterstellungen: So wird der Materialismus- und Sozialismusvorwurf mit zahlreichen Gegenbeispielen widerlegt, dem Korrumpierungsvorwurfwerden die Leistungen entgegen gehalten, die Juden seit langer Zeit flir die

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deutsche Kultur erbringen, am Täuschungs- und Mimikryvorwurf wird die mangelnde Einsicht in Grundlagen kollektiver Identitäten aufgezeigt und schließlich werden die wissenschaftliche Unhaltbarkeit der Argumentationen insgesamt, die rückschrittliche Grundhaltung und die moralische Minderwertigkeit des Verfassers herausgestellt. Dabei geht es dem Text aber nicht nur darum, Juden vor antisemitischen Vorwürfen zu schützen, unter der Oberfläche der detailreichen Widerlegungen wird darüber hinaus auch eine Normen- und Wertedebatte geführt, für die der Antisemitismus nur ein Testfall ist: über Fundamente und Möglichkeiten gesellschaftlicher Kohärenz und über Fundamente konsensfähiger Wissensproduktion. So widerlegt der Beitrag zunächst einmal - und das vor allem mit Bezug auf den Materialismus- und Sozialismusvorwurf - die Sachhaltigkeit der von Blüher aufgestellten Behauptungen. In einem Durchgang durch die europäische Philosophiegeschichte von der frühen Aufklärung bis in die Gegenwart hinein wird nachgewiesen, dass es "einfach unwahr" ist, dass die "sozialistische Theorie" ein "korruptiver Gedankengang des Judentums sei" (Pogrom, Sp. 62). Vielmehr ist sie ein Konzept, das von Franzosen, Deutschen und Engländern (genannt werden Rousseau, Owen, Saint-Simon, Fourier, Proudhon, Blanc) gleichermaßen debattiert und vor allem zuerst von Nichtjuden gedacht wurde - wie etwa von Christian Wolff, dem "Begründer der deutschen Aufklärung", der "zuerst den Lehrsatz aufgestellt, daß alle Menschen von Natur aus gleich seien" (Pogrom, Sp. 63). So lässt sich schließlich zeigen, dass, als "die Bezeichnung: ,Sozialisten' zum ersten Mal geprägt wurde", noch "kein Jude" an der Debatte beteiligt war (Pogrom, Sp. 62). Und auch dem "philosophischen Materialismus" hat bislang "kein namhafter jüdischer Denker jemals gehuldigt", vielmehr gelten die Konzepte jüdischer Philosophen - wie etwa der Pantheismus Spinozas - als "endgültige Überwindung des Materialismus" (Pogrom, Sp. 65) oder sie betrachten materialistische Strömungen - wie etwa Hermann Cohen die positivistische Philosophie Comtes- mit äußerster Skepsis. 100 Auch der Materialismus Marx', der "dem Blute nach Jude [ist] ", verschmilzt eigentlich nur die "Grundgedanken", die "von Saint-Simon, Hege! und Feuerbach herrühren" und steht zudem "ungleich höher" als der Feuerbachs. Dessen These, der Mensch würde Gott "nach seinem Ebenbilde" erschaffen, wird hier als "frivoler Witz" bezeichnet, der- wäre Feuerbach "ein Jude gewesen"- eben das beweisen würde, was Blüher den Juden vorwirft - "Frivolität und Pietätlosigkeit" (Pogrom, Sp. 67f.). Die lange Beispielreihe beweist es damit nachdrücklich: Sozialismus und Materialismus sind keine genuin jüdischen Gedanken, jüdische Philosophen sind

100 "Gegen die von der positivistischen Philosophie August Comtes in Anlehnung an SaintSirnon durchgeftihrte Anwendung der naturwissenschaftliche Methode auf die Geschichte hat Hermann Cohen protestiert: dadurch werde die Geschichte der Natur ,nivelliert'." (Pogrom, Sp. 69)

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vielmehr eher Randfiguren in der Geschichte dieser Konzepte geblieben und, noch wichtiger, solche radikalen Ausprägungen wie Feuerbachs Atheismus oder Comtes Positivismus finden sich bei ihnen überhaupt nicht. Darüber hinaus wertet der Text jüdische Eigenständigkeit entschieden auf und vollzieht so eine deutliche Umwertung der Mimikry, die Blüher mit dem Vorwurf der Täuschung verknüpft, weil die "Juden", wenn sie sich ihrer Umgebung anpassen, nur "Attribute, und zwar minder wichtigste, fallen lassen, ihre ,Substanz', nämlich ihr Wesen, aber hartnäckig und unversehrt erhalten." (Pogrom, Sp. 82) Der Text baut nun eben dieses Festhalten an der "Substanz" zu einem Merkmal jüdischer Kollektividentität aus, an das ethische Wertschätzungen gekoppelt werden können, das Konstanz und Kontinuität gegen historischem Wandel schützt und das sich letzten Endes als basale Voraussetzung für die Wahrung nationaler Identität herausstellt. Der ethische Wert wird aus der Widerstandsfahigkeit und Opferbereitschaft hergeleitet, mit der "Tausende von Juden freiwillig den Scheiterhaufen bestiegen" und "Hunderttausende mit dem Wanderstab in der Hand Länder verließen, in denen sie Jahrhunderte lang glücklich waren, nur um die Lehren des Judentums nicht abschwören zu müssen", und die andere Völker - vor allem die Deutschen gerade nicht zeigen: "Wo aber sind die Deutschen, die in den Feuettod gingen oder massenhaft Verbannung auf sich nahmen, um nur ungestö1t deutsch sprechen zu können?" (Pogrom, Sp. 82) Der ethische Wert dieses Bestehens auf Eigenständigkeit leitet sich aber auch aus der Gleichgültigkeit gegenüber den (materiellen) "Güter[n]" und gegenüber der Bindung an "ein Stück Landkarte" her, die "alle anderen Völker" prägt, die aber eigentlich nur "Schein" und "äußere Hülle" sind (Pogrom, Sp. 82): Die "Substanz" des Judentums ist - das widerlegt noch einmal mittelbar den Materialismusvorwurf Blühers - ideeller Art. Und daraus ergibt sich schließlich auch die besondere Dauerhaftigkeit des Judentums über Jahrtausende hinweg, die dann zum Gegenentwurf all derjenigen "Völker" stilisiert wird, die ,,früher oder später von der Bildfläche verschwinden, sobald sie gezwungen waren, ihre geographischen Grenzen und ihr Stück Landkarte aufzugeben". Und sie stellt sich auch gegen die Deutschen, die wie "kein Volk in der Welt" "Mimikry" treiben und dabei ihre Identität verlieren und in bestimmten Regionen "fast spurlos verschwinden" (Pogrom, Sp . 79) - wie der Text wiederum in einer langen und ausführlich belegten Beispielreihe vorführt. Der Vorwurf der Mimikry übersieht also, dass die Juden in der Lage sind, das nur ihnen eigene "Wesentliche" (Pogrom, Sp. 82) mit hohem ethischen Engagement zu bewahren und er übersieht vor allem, dass diese Haltung die Grundlage für die Sicherung von Identität überhaupt ist. Denn alle anderen Völker sind ohne eine solche Sicherungsinstanz den Wechselfallen der Geschichte widerstandslos ausgehefett und damit immer von Untergang bedroht: "Man darf sich mit Recht fragen: Hätten die Deutschen ein Schicksal zu tragen gehabt, den zehnten Teil so schwer, wie das

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der Juden- gäbe es heute noch einen Deutschen in der Welt? ... " (Pogrom, Sp. 83, Hervorhebung im Original) Zudem weist der Beitrag - gegen den Korruptions- und Zerstörungsvorwurfdie Kompatibilität von Juden und Deutschen nach, die sich in einer langen gemeinsamen Geschichte zeigt, in der "Deutschland[ ... ] seit ungefähr 2000 Jahren niemals ganz ohne Juden geblieben [ist]" und in der "nie [ ... ] zwei Völker sich gegenseitig tiefer durchdrungen [haben], als die Juden und die Deutschen." (Pogrom, Sp. 91) Dabei wird bewiesen, wie grundlegende Normen und Werte der (deutschen) Kultur jüdischen Ursprungs sind, dass "[u]nzählige Gedankenmassen, Bilder, Stilformen, Stimmungen, Lehren, Gefühle, Gesinnungen, Glaubenssätze, die heutzutage unveräußerliches deutsches Geistesgut bilden", die "Juden für ewige Zeiten in ihrer Bibel niedergelegt [haben]" (Pogrom, Sp. 76). Das gilt etwa für die "Idee der Menschheit" (Pogrom, Sp. 70), die auf die biblische "Erzählung von der gemeinsamen Abstammung des Menschengeschlechtes" zurückgeführt wird, oder ftir die als "echt deutsches Kemwort" ausgegebene "Lebensregel", eine "Sache um ihrer selbst willen [zu] tun", die eigentlich aus dem Talmud stammt (Sp 70, Sp. 76). Darüber hinaus belegt der Beitrag mit Einzelbeispielen, dass Juden auch in der Gegenwart hervorragende und allgemein anerkannte Leistungen in Wissenschaft (Albert Einstein) und Politik (Walther Rathenau) hervorgebracht haben. Und schließlich kritisiert der Beitrag ganz grundsätzlich die methodischen Grundlagen der Blühersehen Schrift und dabei zugleich die wissenschaftliche und moralische Integrität des Verfassers und seiner Anhänger. Keine der Thesen ist neu: "Hans Blühers Wissenschaft und Philosophie arbeiten mit abgegriffenen Münzen, die talmivergoldet unter das Volk gebracht werden." (Pogrom, Sp. 61) Keine seiner Thesen ist "wahr" (Pogrom, Sp. 62), stattdessen finden sich "Unwahrheiten und Verdrehungen", für die auch vor Fälschungen nicht zurückgeschreckt wird (Pogrom, Sp. 90), und darüber hinaus ignoriert die Berufung auf die "Substanz" das "Reich der gemeinen Erfahrung" (Pogrom, Sp. 62). Schließlich lehnt auch die "zünftige, berufsmäßige Wissenschaft" Blühers Werke mit "einer geringschätzigen Handbewegung" ab (Pogrom, Sp. 77). Dem entspricht zwar die selbstbewusste Wissenschaftsverachtung Blühers, die der Beitrag dann aber sofort - vor allem mit Blick auf Nachfolger und Anhänger- als Ausweichen vor "der mühseligen langweiligen Geistesarbeit" (Pogrom, Sp. 78) deutet: "Über Blühers Schriften braucht man sich nicht den Kopf zu zerbrechen, wie über diejenigen Darwins"; in Segels harscher Kritik wirken sie so "förmlich erlösend auf die jugendlichen Gemüter, die ihren Durst lieber am Frühschoppen befriedigen, als an den Quellen der Wissenschaft'' (Pogrom, Sp. 79). Das mangelnde Interesse an Wissenschaftlichkeit zeigt hier bereits moralische Defizite an, die in weiteren Passagen des Textes dann explizit auf Charaktereigenschaften bezogen werden: Blühers Schrift ist geprägt von "Gift", der "niedrigst[ e] aller niedrigsten Instinkte, [der) Neid" (Pogrom, Sp. 90) ist ihre Grundlage und nur

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"derb[e] und primitiv[e] Naturen" (Pogrom, Sp. 85) und "winzig kleine[s] Gewürm", das "ganze Berge schamlos nichtswürdiger Gesinnung mit sich [herumschleppt] " (Pogrom, Sp. 88), stimmt ihm zu. Die antisemitischen Positionen sind aber nicht nur wissenschaftlich inakzeptabel und von moralisch verwerflichen Personen verfasst, sie markieren auch eine voraufklärerische und vorzivilisatorische Position, wenn sie sich "alle Mühe" geben, "das Werk Lessings und Dohms und ihrer Nachfolger, die nahezu zwei Jahrhunderte hindurch für die Gleichstellung der Juden gekämpft haben, rückgängig zu machen" (Pogrom, Sp. 90), und wenn die "Deutschen" mit "dieser winzigen Handvoll Juden nicht anders fertig zu werden vermeinen, als indem sie mit ihnen verfahren, wie die primitivsten Völker in den primitiven Zeiten der Geschichte" (Pogrom, Sp. 91). Das Modell der Teilhabe, wie es der sich dezidiert als jüdisch markierende Sprecher nun gegen Blühers Verleumdungen favorisiert, lenkt dann den Blick nicht nur auf die reibungslose Integration der Juden in die deutsche Kultur, es gestattet vor allem die Gleichzeitigkeit verschiedener Zugehörigkeiten: Juden können hier durchaus ",Wir Deutschen'" sagen und doch "ganz von allein" wissen, dass sie "die Nachkommen von Abraham, Moses [ ... ] und ihresgleichen" (Pogrom, Sp. 84) sind. Diese Doppelung erzeugt keine Risse oder Spaltungen, sie bedroht offensichtlich weder die Identität der Person noch stört sie die Kohärenz der Gesellschaft - ganz im Gegensatz zur antisemitischen Position, die auf einer konsequenten Separation besteht und sich deshalb nicht für Mischzonen, für Anschlussmöglichkeiten oder Kompatibilitäten interessiert, sondern durchweg auf die Differenz fixiert bleibt: "Der Jude kann ein Genie an Geist, ein Engel an Güte und reiner Gesinnung sein, das hilft alles nichts [ ...] er bleibt doch ein Jude." (Pogrom, Sp. 61) Und weil diese Differenz sich auf keine Weise in die deutsche Kultur integrieren lässt, sondern vielmehr eine Bedrohung ihrer Identität ist, müssen rigide Grenzen gezogen werden - in der beständigen Identifizierungsarbeit, in der "Secessio Judaica" (Pogrom, Sp. 72 u.ö.), in der Forderung ",Juden raus! '" (Pogrom, Sp. 72) und schließlich in der physischen Vernichtung in einem "Weltpogrom" (Pogrom, Sp. 78 u.ö.). Zeigt das Modell der Teilhabe also Möglichkeiten zur Integration des Verschiedenen und somit zu einer Einheit in der Differenz auf, so kann das antisemitische Modell Einheit nur als Differenzlosigkeit denken. Nun wird das Bedürfnis nach radikaler Separation wissenschaftlich und moralisch abgewertet, zudem als extrem rückschrittlich eingestuft und ist am Ende vollständig diskreditiert. Wichtiger noch aber ist, dass es in den komplexen Argumentationszusammenhängen auch mit Instabilität korreliert erscheint: Denn es sind, wie oben schon gezeigt, gerade die "Deutschen", die eine solche Stabilität nicht zeigen, "sie verwandelten sich in Polen", sie treiben "Mimikry gegenüber dem Moskowitentum" (Pogrom, Sp. 80) oder sie geben sich im Ersten Weltkrieg in Amerika als ,"hundettprozentige Amerikaner'" (Pogrom, Sp.l 81) aus. Durch diese Korrelation wird das Modell der Teilhabe also nicht nur moralisch integerer, es ist auch leistungsfähiger, weil es allein Stabili-

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tät verspricht. Voraussetzung dafür ist freilich , dass die jüdische Differenz minimal gehalten wird: Dafür gibt sich der Text große Mühe, die Kompatibilität des Judentums mit basalen Normen und Werten der europäischen Kultur nachzuweisen. Nun stellt der Beitrag auch verschiedene Formen von Erkenntnis zur Debatte; an Blühers Methode kritisiert er vor allem die Orientierung an der "Substanz" - "eine metaphysische Gegend, in die sich zu begeben nicht jedermanns Sache ist" - und stellt dagegen die eigene Ausrichtung am "Reiche der gemeinen Erfahrung" (Pogrom, Sp. 62). "Wahrheit" (Pogrom, Sp. 64) entsteht hier erst in der Berücksichtigung der "Tatsachen", der "Wirklichkeit", der "Empirie" (Pogrom, Sp. 72) - eine Prämisse, der der Text mit dem umfänglichen Arsenal an Einzelfällen, das er zur Widerlegung der Blühersehen Thesen aufbietet, auch selbst nachzukommen sucht. Darüber hinaus positioniert sich die Sprechinstanz aber auch noch einmal selbst explizit im Umfeld der Materialismus-Debatte: Sie wertet- darauf wurde oben bereits verwiesen- Feuerbachs Atheismus rigide ab und dekretiert dagegen, dass "Gott ihn [den Menschen, M.P.] zuerst nach seinem Ebenbilde geschaffen haben [muss]", damit er "imstande sei,[ ... ] überhaupt etwas rein Geistiges, Ideelles, Abstraktes zu konzipieren" (Pogrom, Sp. 68). Und in der Erläuterung des Marxschen Modells von "Basis" und "Überbau" gesteht sie zwar zu, dass, ,je feiner und zarter der Turm ist, den der Künstler himmelanstrebend errichtet, [ ...] desto solider und gröber[ ... ] die Grundmauer [wird] sein müssen, die er vom Handwerker verlangt." Einzigen Wert erhält aber schließlich doch der "Überbau" zugesprochen: "Aber nicht die Grundmauer, nicht der Unterbau, sondern[ ... ] der Turm oder die Kuppel des Doms sind das allein Wertvolle, das Hauptsächliche, das Ewige, das dem Bauwerk Leben, Seele und Unsterblichkeit verleiht." (Pogrom, Sp. 66) Die Tatsachenorientierung, auf die sich die Speechinstanz in ihrer Widerlegung der antisemitischen Angriffe hauptsächlich stützt, ist also zugleich geknüpft an die Wertschätzung eines Schöpfergottes und solch abstrakt-ideeller Größen wie "Leben, Seele und Unsterblichkeit". Damit aber wird hier eine erkenntnistheoretische Position favorisiert (und praktiziert), die genau in der Mitte zwischen zwei Extremen liegt: einer Metaphysik der "Substanz" einerseits, mit der Blüher seine Thesen ohne jegliche Rücksicht auf Empirie und Wirklichkeit formuliert, und einem rigiden Materialismus andererseits, mit dem Feuerbach aus Gott einen "Witz" macht. Gegen diese Einseitigkeiten wird die Berücksichtigung sowohl des Materiellen als auch des Ideellen aufgeboten - ohne dabei allerdings die Höherwertigkeit des "Überbaus" anzutasten. Diese Ausrichtung kennzeichnet aber nicht nur die Sprechinstanz, sondern zugleich die jüdische Philosophie, die von ihr beschrieben wird: Sie ist eher flir moderate und gar nicht flir radikale Positionen zu haben und aufs Ganze gesehen bezeugt auch sie eine deutliche Orientierung an ideellen Werten. Vermittlung bzw. Synthese statt Trennung und statt Einseitigkeit- das ist das nmmative Zentrum des Beitrags, mit dem das Verhältnis zwischen Juden und Deut-

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sehen ebenso zu regeln ist wie das zwischen den Tatsachen der Wirklichkeit und der Orientierung am "Überbau". Die enge Verknüpfung, die dabei zwischen den erkenntnistheoretischen Prämissen und den Überlegungen zum Verhältnis zwischen Deutschen und Juden besteht, macht dabei deutlich, worum es hier gerade nicht geht: um eine politische, soziologische oder ökonomische Analyse der antisemitischen Vorwürfe oder der Rolle der Juden in der deutschen Gesellschaft- alles Optionen, die 1923 ja längst zur Verfügung stehen. Stattdessen wird das Problem abseits von solchen spezialwissenschaftlichen Orientierungen rückprojiziert auf die abstrakt-allgemeinen Kategorien und Binarismen der Philosophie: auf Menschheit, Wesen und Oberfläche, auf Konstanz und Wandel, auf Geist und Materie. Lösungen sind hier nur als Vermittlung im Zeichen der Idee oder ihrer (immateriellen) Äquivalente vorstellbar- und nicht etwa in der Form einer gezielten und begrenzten politischen oder ökonomischen Intervention. Dass der Beitrag immer wieder nachweist, eine wie hohe Affinität das Judentum zu solcher Vermittlung hat, lässt Rückschlüsse zu auf die Fundamente der Kollektividentität, die hier in der Einheit in der Differenz bewahrt werden soll: Sie liegen nicht in einer irgendwie ethnisch oder religiös begründeten Spezifizität - davon ist hier nur noch die formelhafte Benennung der Ahnenreihe übrig geblieben. Sie sind vielmehr den basalen, von der Religion und Philosophie des 19. Jahrhunderts geprägten Normen und Werten der europäischen Kultur zum Verwechseln ähnlich. Die hohe Wertschätzung dieser Einheit in der Differenz und die hohe Affinität des Judentums zu solchen Konzepten der Vermittlung stellt auch die Besprechung dreier philosophischer Werke noch einmal heraus, die ans Ende des Heftes gesetzt ist. Sie wird zuerst demonstriert am Versuch eines jüdischen Philosophen, auf der Basis der "empirischen Gesellschaftslehre" und unter Berücksichtigung der neuesten Erkenntnisse von ,,Biologie und Physik" eine ",Verstand und Gemüt in gleicher W eise befriedigende Weltanschauung'" zu entwickeln, die ",noch dazu mit keinem Ergebnis der Forschung j emals in Widerspruch geraten kann. '" 101 Basis dafür ist das gleich am Anfang vermerkte und gegen monistische Positionen ausgespielte Bekenntnis zum "Dualismus von Geist und Materie, Leib und Seele, Gott und Welt" (Literatur, Sp. 101) und der ",ethische Monotheismus der altisraelitischen Propheten"', so dass der auf "originelle und tiefsinnige Weise" hergeleitete "Gedankenbau" auf der "festen Grundlage des Realismus [ruht]" und sich "empor bis in die höchsten Regionen des Idealismus [türmt]." (Literatur, Sp. 103) Auch die zweite Besprechung, die sich mit einer "Einführung in die moderne Naturphilosophie" beschäftigt, grenzt sich zunächst von Einseitigkeiten und monistischen Strömungen ab- damit ist hier zunächst die idealistische Naturphiloso-

101 Anonym: Aus der philosophischen Literatur, Sp. 103.

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phie "of old" Schellings und Hegels gemeint, die "im leeren Raum der Phantasie Gedankenkonstruktionen ausführte", aber auch der "Materialismus", von dem sich die "wirklich schöpferischen Gemüter" bereits "[l]ange vor dem Weltkrieg" abgekehrt hatten und das "entgegengesetzte Extrem" des Spiritualismus: "Zahlreiche Scharen, die vorhin zu Haeckel schworen, laufen jetzt Steiner nach." (Literatur, Sp. 104) Aus diesem "wilden Chaos der Meinungen" führt nun die "gesund[e] Weltanschauung" des besprochenen Werkes heraus, das- auf der Basis eines "kritischen Realismus" (Literatur, Sp. 105) und "im engen Anschluss an die Naturforschung und deren Ergebnisse" aus "Physik, Chemie, Biologie, Astronomie und Erdgeschichte" - ein "zusammenfassendes [ ... ] Bild der gegenwärtigen Naturerkenntnis" mit Bezug auf die "letzten Fragen des Menschengeistes" (Literatur, Sp. 104) liefert. Rückgebunden werden diese Strömungen zudem an die Unterscheidung zwischen "Theismus, Pantheismus und Atheismus", und gegen die These des (nichtjüdischen) Autors, der mechanistisch verstandene Theismus sei ein ",echt jüdisch-materialistischer Deismus"' (Literatur, Sp. 106), wird klargestellt, dass "gerade das Judentum den Immanenzgedanken immer wieder mit größtem Nachdruck betont, so dass er sogar in der Frömmigkeit des jüdischen Durchschnittsmenschen sich tief eingewurzelt hat und auch im jüdischen Volkslied und Sprichwort nachklingt." (Literatur, Sp. 107f.) Die letzte Besprechung zu Fritz Mauthners Der Atheismus und seine Geschichte im Abendlande konzentriert sich schließlich auf die Abwehr des Vorwurfs, die Juden seien Begründer von Atheismus und politischem Radikalismus- und zwar ganz in der Manier, die sich auch schon am Leitattikel beobachten ließ: Nachgewiesen wird, dass Radikale keine Juden sind und stattdessen jüdische Philosophen "abschlachten" (Literatur, Sp. 113) bzw. dass "einige der schärfsten Bestreiter des Materialismus und Atheismus unter den Philosophen Juden sind" (Literatur, Sp. 116). 1.3.2 Thekla Skorra: "Süsskind von Trimberg, ein jüdischer Minnesänger" Das zentrale Anliegen des Beitrags zu Süßkind von Trimberg besteht gleichfalls darin zu zeigen, dass die jüdische Differenz in Bereichen verankert ist, die immer kompatibel mit der nichtjüdischen Umgebungskultur sind. Das wird bereits zu Beginn des Textes angedeutet: Obgleich im "Mittelalter" in "Ghettos zusammengepfercht" und "gewaltsam ab[ge]sperr[t]", zeigen die "Juden lebhaften Anteil an deutscher Ritter- und Heldensage"; 102 und nachdem diese These mit Süßkind ausführlich belegt ist, kann am Ende "[d]enen [ ...], die noch immer deutsche Juden als ,Fremdlinge' betrachten wollen", nun endgültig entgegengehalten werden, "in wie

102 T. Skorra: Süsskind, Sp. 95.

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frühen Jahrhunderten Juden schon am deutschen Geistesleben und Geistesschaffen lebendigen Anteil genommen haben." (Süsskind, Sp. 100) Der Text will also nachweisen, dass Juden keine Fremdkörper, sondern feste Bestandteile der deutschen Kultur sind undso-auf ganz ähnliche Weise wie der Leitartikel- das Prinzip des Ausschlusses durch das der Teilhabe ersetzen. Dafür verweist er zunächst einmal auf diverse Ähnlichkeiten und Differenztilgungen im Bereich der Dichtung: Jüdische Minnesänger "schrieben zum Teil unter griechischem Namen, wie ,Phöbus"' (Süsskind, Sp. 95), das "Schicksal" des Vergessens "teilen" sie "mit vielen ihrer christlichen Zeitgenossen" (Süsskind, Sp. 96), Süsskinds Dichtungen finden schließlich Platz in einer "der herrlichsten Dichtersammlungen ihrer Zeit", der Dichter selbst erhält "gleich Anderen" Aufnahme am "berühmten Minnesängerhofe der edlen Grafen von Henneberg" (Süsskind, Sp. 96), er "beherrscht" die "dichterische Ausdrucksweise seiner Zeit meisterlich", so dass "in seinen frühen Dichtungen [ ... ]nichts an die jüdische Abstammung des Verfassers [erinnert]." (Süsskind, Sp. 97) Im Verlauf der Argumentation wird aber schnell deutlich, dass die Beseitigung der Fremdheit nicht in die gänzliche Auflösung der jüdischen Differenz führen soll: Schon durch den Titel des Beitrags bleibt die jüdische Herkunft Süßkinds ja von Beginn an markiert, darüber hinaus aber führt der Text vor, wie sich gerade diejenigen Praktiken, die das Judentum der Dichter zum Verschwinden bringen konnten, wieder an es zurückbinden lassen: Der "Jargon" führt die gräzisierenden Pseudonyme "Phöbus" und "Kleonymus" auf "Feibusch", "Kaiman" oder "Kieemann" zurück und den "mittelhochdeutsche[n] Dialekt", den Süßkind so "meisterlich" beherrscht, "haben die deutschen Juden nach ihrer Vertreibung in alle Welt hin mitgenommen [ ... ], mit Hebräisch vermischt [und] als ihren Jargon zärtlich gehegt" (Süsskind, Sp. 97). Auch die vollständige Differenztilgung, so suggerieren diese Hinweise, kappt die Bindung ans Judentum nicht vollständig. Der Text strebt also mit seinem Konzept der Teilhabe nicht das Verschwinden des Judentums an, sondern den Nachweis seiner reibungslosen Integrierbarkeit in nichtjüdische Umfelder. Am Dichter Süßkind unterscheidet er dafür zwischen akzeptablen Selbstmarkierungen, die eine solche Einpassung leisten, und abgelehnten Fremdmarkierungen, die die Differenz zuspitzen und den Dichter aus seinem Umfeld- der deutschen Literatur - heraustreiben. Denn in "reiferen Jahren" gibt sich die jüdische Herkunft Süßkinds dann doch in seiner Dichtung unzweifelhaft zu erkennen: zunächst nur in der Wahl biblischer Stoffe, dann aber auch im Niederschlag spezifisch jüdischen "Empfinden[s]": im "dem Juden der Diaspora eignende[n] Grüblerische[n]" oder im "damals überraschend auftauchende[n] soziale[n] Moment", das "seit biblischen Zeiten bei dem Volke des Gottesstaates selbstverständlich [ist]" (Süsskind, Sp. 97f.). Die Verse nun, die als Belege dafür angeführt werden, thematisieren nirgends explizit Jüdisches, sie reflektieren ganz allgemein über irdischen Jammer und Gottesgnade, über

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den Zusammenhang von Tugendhaftigkeit und Adel oder sie fordern einen angemessenen Umgang der "Reichen" mit den "Armen". Und auch die Besonderheit des "einzigen Gottes" (auch hier wird auf eine explizite Markierung als jüdisch verzichtet), auf den das "soziale Empfinden" zurückgeführt wird, besteht eben darin, Unterschiede zwischen den Menschen aufzuheben - weil er "alle seine Geschöpfe mit gleicher Liebe geschaffen hat" und so vor ihm "alle gleich klein, aber auch gleich groß und von seinem Geiste erfüllt erscheinen" (Süsskind, Sp. 98). So wird zwar nicht explizit behauptet, aber doch durch die Beispiele vorgeführt, dass das Jüdische an Süßkinds Dichtung nichts Spezialistisches, Hermetisches, eben nichts Fremdes ist, sondern kompatibel mit Allgemeinem, Grundlegendem, alle Menschen Betreffendem. Auch der jüdische Gott produziert keine solchen Differenzen, sondern er ist in seinem Wesen- das allerdings im Unterschied zu allen anderen Göttern - ein Gleichmacher. Auch als Süßkind seinen Dichterberuf aufgeben muss und Arzt wird, erweist er sich - wiederum als Jude und trotz aller auszustehenden Diskriminierungen - als wertvolles und ausgezeichnetes Mitglied der Gesellschaft: In "verzweifelten Krankheitsfällen" suchen die "Fürsten und Große, so Übles sie sonst den Juden ansinnen", dann, wenn "das Können ihrer eigenen Leibärzte versagt", Hilfe bei "bedeutenden jüdischen Medizinern" (Süsskind, Sp. 99). Das Judentum des Arztes ist hier wiederum deutlich benannt, am Ende aber in einen Komparativ der besonderen Leistungsfähigkeit überführt, der ihn nicht von den nichtjüdischen Ärzten trennt, sondern nur an deren Spitze stellt. Die einzige explizite Selbstzuordnung zum Judentum, die dann auch mit exklusiv jüdischen Merkmalszuschreibungen einhergeht, ist eine Reaktion auf Ausgrenzungen: "Sie wissen, daß der Sänger, verhaßten Glaubens Sohn,/[ ... ] Ich will als Jude wieder mich bringen durch die Welt./Den gelben Hut erfassen und will nach Judenart/Mir wieder wachsen lassen den langen, grauen Bart. [... ]. " (Süsskind, Sp. 98) Diese Markierung macht nun das Judentum deutlich sichtbar und zieht scharfe Grenzen - aber sie ist von außen erzwungen und gerade nicht vom Juden Süßkind gewollt: Die Darstellung in der Manessischen Liederhandschrift zeigt ihn mit "dem ihm selbst so peinlichen Spitzhut, dem schimpflichen Abzeichen der Juden" (Süsskind, Sp. 99). Fazit des Textes ist also, dass Juden - trotz ihrer Gruppenidentität als "Gottesvolk" - grundsätzlich nicht fremd sind, weil sie in die nichtjüdische Kultur passen - weil ihre Differenz hier zuweilen ganz verschwinden kann, weil sie in ihr herausragende Leistungen erbringen oder weil ihre Wertorientierungen gar keinen Spezialistischen Charakter tragen. Die Fremdheit ist eine von Nichtjuden konstruierte und sie bleibt - von außen erzwungen - in den Markierungen des Körpers ("Bart") und der Kleidung ("spitzer gelber Hut") äußerlich.

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1.3.3 Fazit: Literatur als heteronomes Gebrauchsobjekt Das Heft ist, so lässt sich nunmehr zusammenfassen, sehr deutlich auf die Konzeption von Einheit im Zeichen von Judentum fixiert. Diese Ausrichtung wirkt sich nun auch auf die wenigen übrigen Bestandteile- die "Talmudische Spruchweisheit" und die Werbeanzeigen- aus, die in einem solch eindeutig geprägten Heftumfeld als alternative oder modifizierte Formen des dominanten Problemkomplexes erscheinen. So präsentiert das Heft insgesamt drei verschiedene Formen des Umgangs mit Einheit bzw. Kohärenz: zum ersten und am umfänglichsten die der expliziten und ausführlichen Thematisierung, die dazu dient, die umfassende Integrierbarkeit der jüdischen Differenz zu begründen und mit grundlegenden Bedingungen für gesellschaftliche Kohärenz und wahrheitsfähige Erkenntnis zu verknüpfen und schließlich die argumentative Überwindung der separatistisch-antisemitischen Positionen vorzuführen. Jenseits solch diskursiver Explizierung zeigt die "Talmudische Spruchweisheit" zum zweiten eine Form von Kohärenz, die sich aus dem Layout (gemeinsamer Abdruck auf zwei halben Seiten) und den paratextuellen Informationen zu Titel und Übersetzer ergibt. Die Werbeanzeigen erweisen sich schließlich zum dritten nur noch auf der Ebene des Layouts, in ihrem bloßen gemeinsamen Vorkommen aufmehreren Seiten, als zusammengehörig und werden nirgends mehr durch eine Überschrift oder Ähnliches explizit zusammengefasst. Daraus ergibt sich nun aber auch eine deutliche Funktionsverteilung für die verschiedenen Darstellungsformen des Heftes: Die Favorisierung einer Integration der jüdischen Differenz und ihre weltanschauliche Aufladung ist hier ausschließlich Sache der ausruhrliehen und umfangreichen sprachlichen Abhandlung, die Einheitsmodelle diskursiv verhandelt und nur auf diese Weise mit spezifischen, das Judentum betreffenden Bedeutungen versehen kann. Das Nebeneinander der selbstständigen kleinen Formen - die knappen "Sprüche" der "Talmudischen Spruchweisheit" sind durch Sternchen voneinander abgetrennt - erbringt diese Leistung gerade nicht, in den Werbeanzeigen-gleichfalls graphisch voneinander abgegrenzt -wird es sogar zur kommerziellen Konkurrenz zwischen ca. 40 Markenartikeln. Ebenso wenig aber stiftet die Literatur von sich aus diejenige Form von Einheit, auf die es dem Heft so sehr ankommt: Die Gedichte Süßkinds können selbst weder die antisemitische Fremdheitszuschreibung widerlegen noch die jüdische Differenz im Spiel halten, wo sie sich dem Minnesang zum Verwechseln angleichen. Dazu bedarf es eines Kommentars, der die Lyrik und ihren Verfasser allererst ins Modell der Teilhabe integrieren kann und der daflir aber auch keine Rücksicht mehr auf den Werkcharakter der Texte nimmt. Die Literatur ist also durchaus brauchbar flir die Plausibilisierung der favorisierten Einheitskonzepte, die Formen genuin literarischer Einheitsstiftung auf der Ebene von Strophe, Gedicht und Gedichtzyklus aber

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sind dafür irrelevant geworden und lassen sich eben deshalb auch ohne Weiteres kleinteilig fragmentieren . Damit aber rückt die Literatur in die Nähe der kleinen Formen des Heftes, die ihre Differenzen ebenfalls nicht explizit und bedeutungsgenerierend bewältigen. Weil die "Sprüche" der "Talmudischen Spruchweisheit" metrisch reguliert und gereimt sind und also lyrische Formen gebrauchen, steht sie deren Nebeneinander der Sammlung näher als dem Nebeneinander der Konkurrenz, das die Werbeanzeigen prägt. Ihre Eigenständigkeit hat die Lyrik dabei gleich zweifach verloren: in ihrer Funktionalisierung ftir nichtliterarische Argumentationszusammenhänge, die mit der Zerstörung genuin literarischer Einheiten einhergeht und in der Funktionalisierung ihrer Formen ftir religiöse Texte. Ganz offensichtlich kann das letzte Heft der Zeitschrift auf die Leistungen einer eigenständigen Literatur verzichten - ganz im Gegensatz zu den beiden anderen hier analysierten Heften. Hier ist Literatur nur Beleg und Dekor- darüber hinaus wird sie nicht gebraucht, weil die Frage nach dem Umgang mit der jüdischen Differenz im letzten der Zeitschriftenhefte vollständig der diskursiven Argumentation überantwortet ist. Durch diesen Verzicht auf Literatur unterstreicht das Heft noch einmal mittelbar die Leistungsfähigkeit der Abhandlungen: Sie bedürfen keiner literarischen Ergänzung oder Korrektur und keiner ästhetisch-formalen Variation, weil sie das von ihnen bearbeitete Problem selbst schon und ganz allein souverän und vor allem restlos beherrschen. Eine Grenze bleibt dieser Redeform im Heft gleichwohl doch noch gesetzt: Sie liegt im Nebeneinander der kleinen Formen der Spruchsammlung und dem der Werbeanzeigen. Dabei bleiben die Talmudweisheiten ans Judentum gebunden und die Einheit ihrer Kleinteiligkeit doch immerhin durch paratextuelle Informationen gesichert. In den Werbeanzeigen spielt Judentum dann aber gar keine Rolle mehr. Diese Verteilungen konstituieren noch einmal auf einer ganz anderen Ebene - nämlich auf der der Heftordnung insgesamt - eine Affinität zwischen Judentum, Einheit und Sprache: Erst dort also, wo Jüdisches keinerlei Rolle mehr spielt, herrschen die Prinzipien von Differenz und Konkurrenz, die die Abhandlungen mit so großem Aufwand zu bewältigen suchen und erst hier kommen Bilder ins Spiel, die in diesem Heft mit Judentum nichts mehr zu tun haben.

2. Medieneinheit II: Literatur in der gesamten Zeitschrift

Im Folgenden ist nun eine weitere Einheit in den Blick zu nehmen, die medial konstituiert wird: die der gesamten Zeitschrift. Von den im vorigen Kapitel herausgearbeiteten kleinteiligen heftinternen Gefügen muss dabei abgesehen werden, die Funktion der Literatur ergibt sich jetzt innerhalb des gesamten Materialbestandes von Ost und West - im Rahmen einer Einheit also, die für die Zeitschrift gleichermaßen relevant ist und in der sich wiederum eine spezifische Ordnung herstellt. Dafür muss zunächst eine Analyse des Gesamtkorpus der literarischen Texte vorgenommen werden, das in Ost und West abgedruckt ist. Herauszuarbeiten sind dabei vor allem die Grundmuster, die diese Literatur - über die Grenzen der Einzeltexte hinweg - strukturieren. Dabei lassen sich deutliche Unterschiede im Gebrauch der Gattungen ausmachen: Die Dramen und Erzähltexte beschäftigen sich bis auf ganz wenige Ausnahmen vorwiegend mit Ordnungsstörungen innerhalb jüdischer Milieus, so dass hier das Spektrum herauszuarbeiten ist, mit dem die unterschiedlichen Konfliktformen zur Darstellung kommen. Die Lyrik ist dem gegenüber weniger krisenfixiert, lockert und veruneindeutigt dafür aber den Bezug aufs Judentum. Deshalb werden hier die Distanzierungsoptionen, die sich in der Zeitschrift entfalten, herauszupräparieren und im Verbund mit der Analyse lyrischer Serialisierung und Formvarianz als Möglichkeit einer beschränkten Autonomisiemng von Literatur herauszustellen sein. Die solchermaßen extrahierten Gmndregeln literarischer Rede lassen sich dann im Umfeld der gesamten Zeitschrift positionieren. Das besteht hauptsächlich aus Textbeiträgen, die mit einem Anteil von durchschnittlich siebzig bis achtzig Prozent nicht nur quantitativ dominieren, sondern eine Sonderstellung auch über die inteme Organisation der Zeitschrift erhalten: Die ersten Seiten der Hefte sind durchweg für sie reserviert, im Jahresinhaltsverzeichnis erscheint die Rubrik "Aufsätze" ganz oben. Und wie die Analyse des letzten Heftes von 1923 gezeigt hat, kann die Zeitschrift sich durchaus auch fast allein auf diese Textsorte stützen und auf Literatur und bildende Kunst gänzlich verzichten. Der solchermaßen durch das Medium

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markierten Relevanz wird mit einer sorgfältigen Analyse des Gesamtkorpus dieser Abhandlungen Rechnung zu tragen sein. Auch hier geht es darum, Muster herauszuarbeiten, die der thematisch äußerst vielfältigen Beschäftigung mit dem Judentum, auf das bis auf ganz wenige Ausnahmen alle Beiträge ausgerichtet sind, zugrunde liegen. Die Untersuchungen sind also auch hier an den basalen Argumentationsverfahren interessiert, die die nichtliterarische Rede über Judentum und jüdische Identität in Ost und West prägen- an Subjekt- und Gemeinschaftsmodellen, an Realitäts- und Geschichtsbegriffen und an Medien- und Wahmehmungskonzepten. Aus den konservativen Grundlagen, die hier zum Vorschein kommen werden, ergibt sich schließlich die Perspektive, mit der sich die Rolle bestimmen lässt, die die Literatur in der Gesamtzeitschrift spielt: Sie provozieren die Frage nach dem Verhältnis der Zeitschrift zur Modeme- nicht nur wegen ihres Erscheinungszeitraums und nicht nur, weil, wie die Forschung zu Recht hervorhebt, ihre Selbstzuordnungen zur jüdischen Renaissance ohne Anleihen bei den Reform- und Kunstbewegungen der Jahrhundertwende gar nicht auskommen. Denn mit dieser Moderne führt Ost und West Auseinandersetzungen auf eben die genuin medienspezifische Weise, die herauszustellen im Zentrum dieser Arbeit steht und die schon in den Einzelheftanalysen zu beobachten war: mit dem Einsatz unterschiedlicher Textund Bildformen, zwischen denen Aufgaben verteilt und mit denen durchgängige Argumentationen auch suspendiert werden können. So aber entsteht ein breites und variantenreiches Spektrum zwischen Affirmation und Distanzierung, mit dem sich Mehreres im Spiel halten lässt. Und innerhalb dieses Spektrums, in dem die Abhandlungen, die Reproduktionen der bildenden Kunst und die Werbeanzeigen der Moderne mehr oder weniger nahe stehen, wird schließlich zu bestimmen sein, welche Leistungen die Literatur flir die Zeitschrift erbringt.

2.1

LITERATUR IN OST UND WEST

Die Literatur in Ost und West ist hauptsächlich ErzählliteratuT und Lyrik: Abgedruckt werden ca. 180 meist kürzere, über sechs bis acht Spalten laufende Erzähltexte und insgesamt gut 150 Gedichte, mit elf Dramen ist die dritte Gattung deutlich seltener vertreten. Fortsetzungen finden sich bei den Dramen und Erzähltexten kaum, sie reichen dann auch nur über zwei bis höchstens vier Hefte und kommen bevorzugt in den Kriegs- und Nachkriegsheften vor, wo sie dann sogar in die hinteren Regionen der Hefte verschoben werden und sich den Platz auf der Seite mit Werbeanzeigen teilen müssen. Insgesamt nimmt die Häufigkeit der Literatur mit den Kriegsnummern deutlich ab. Die Zeitschrift kann offenbar zunehmend auf das selbstständige, sich als geschlossene Einheit präsentierende literarische Werk und schließlich auch auf die Literatur insgesamt verzichten. Welche Effekte das flir den

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Bedeutungsaufbau eines Heftes zeitigt, konnte in der Analyse des letzten Heftes gezeigt werden; welche Konsequenzen das ftir die Rolle der Literatur in der Zeitschrift insgesamt hat, wird noch zu beurteilen sein. Darstellungsgegenstand sind hauptsächlich ostjüdische und biblische Milieus, die Lyrik kann gleichwohl auch auf solche konkreteren zeitlichen und räumlichen Verortungen, in einigen Fällen sogar auf den Bezug aufs Judentum überhaupt verzichten. Die Literatur von Ost und West greift damit bevorzugt auf Stoffkomplexe zurück, die in der deutsch-jüdischen Literaturgeschichte bereits seit Mitte des 19. Jahrhunderts vertraut und etabliert sind und die wie die Ghettogeschichte auch noch in der Weimarer Republik ihre Attraktivität- hauptsächlich im Zuge der erneuten und erneuerten Hinwendung zum Ostjudentum im Umfeld des Ersten Weltkriegesnicht verloren haben. 1 Fast gänzlich ausgespart bleibt so aber die literarische Beschäftigung mit modernem, akkulturiertem Judentum, auch wenn die Zeitschrift das in einem Preisausschreiben von 1902 noch als eine wichtige Aufgabe ftir die Literatur fordert. Im deutsch-jüdischen Zeitschriftensektor ist ein solcher Bezug längst üblich und hat ein breites Spektrum vor allem an Erzählmustern ausgebildet. 2 Die Sujetwahl in Ost und West erweist sich vor diesem Hintergrund mithin als ausgesprochen konservativ - als ein Konservativismus gleichwohl, der seine ganz spezifischen Funktionen in den Auseinandersetzungen der Zeitschrift mit der Moderne zu erfüllen hat. Differenzen zwischen den drei Gattungen markiert die Zeitschrift selbst aufverschiedenen Ebenen: In den Jahresinhaltsverzeichnissen sind Prosa und Lyrik stets in eigene Rubriken einsortiert, für das Drama existiert eine solche Rubrik nur für das Jalu· 1906, ansonsten sind die Texte zumeist dem "etc." der "Gedichte etc." oder der "Erzaehlungen etc." zugeteilt. In Layout und Typographie der Einzelhefte weicht dann ausschließlich die Lyrik von allen anderen Textformen ab: Mit besonderer

Hans Otto Horch arbeitet die Ghettoliteratur als "zweites Paradigma jüdischer Erzählliteratur" heraus, das in der Mitte des 19. Jahrhunderts ebenso wie die populäre Dorfgeschichte "geradezu zu einer Modeform" wird und seine Relevanz bis weit über die Jahrhundertwende- vor allem durch neuhebräische und jiddische Formen aus Osteuropa und Amerika - beibehält. (H.O. Horch: Auf der Suche nach der jüdischen Erzählliteratur, S. 165-199).- Von Glaserrapp verweist auf die steigende Produktion von Sammelbänden und Almanachen während und nach dem Ersten Weltkrieg, die vor allem dazu dienen sollen, der ",jungjüdischen' Literatur Osteuropas im deutschen Sprachraum zur endgültigen Anerkennung zu verhelfen" (G. Glasenapp: ,Eine neue und neuartige Epoche', S. 45). Ähnliche Beobachtungen macht F. Krobb: Selbstdarstellungen. 2

ltta Shedletzky etwa hat in 13 deutsch-jüdischen Zeitschriften 367 Erzählungen und Romane unterschiedlichster Sujets mit Gegenwartsbezug erfasst (1. Shedletzky: Literaturdiskussion, S. 299f.).

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Type, meist zentiiertem statt dem üblichen Spaltensatz und Vignetten oder sonstigen graphischen Elementen erscheint sie deutlich vom Rest der Hefte abgegrenzt. Dieser auf presseformaler Ebene markierten Sonderstellung der Lyrik innerhalb der drei Gattungen entspricht nun aber auch eine Sonderstellung in Wahl und Gestaltung der Darstellungsgegenstände. Die Lyrik allein zeigt sich in Zyklen und Serien, in einem begrenzten Themen- und Formenspektrum vom Prinzip der Varianz strukturiert, und sie allein ist nicht auf die Darstellung jüdischer Lebenswelten verpflichtet, sondern kann den Bezug aufs Judentum weit ins Unkonkrete verschieben und am Ende sogar kappen. Aus diesem Grund ist es angemessen, wenn die nun folgende Analyse des Gesamtkorpus der literarischen Texte den Gattungsmarkierungen der Zeitschrift folgt und der Lyrik ein eigenes Kapitel widmet. Zwischen Dramen und Erzähltexten besteht eine solch deutliche konzeptionelle Differenz dagegen nicht. Beide Gattungen beschäftigen sich mit ähnlichen Fragestellungen: zum einen mit der Frage nach der inneren Kohärenz jüdischer Gemeinschaften, die zu klären hat, welche Störfaktoren das Judentum aus sich selbst heraus generiert und wie solche internen Irritationen zu bewältigen sind, und zum anderen mit der Frage, welche Konsequenzen externe, also nichtjüdische Einflüsse für die Stabilität jüdischer Identitäten und jüdischer Gemeinschaften haben. Beide Gattungen lokalisieren dabei die Krisengeneratoren in ähnlichen Umfeldern und entwickeln ähnliche Bewältigungsmodelle. Mit dieser deutlichen konzeptionellen Nähe werden auf der Ebene der Rederegeln die Gattungsunterscheidungen, die die Zeitsch1ift im Jahresinhaltsverzeichnis trifft, nachrangig. Die folgende Analyse wird sich deshalb nicht daran orientieren, sondern zwischen den unterschiedlich gelagerten Problemkomplexen unterscheiden, die von beiden Gattungen gemeinsam bearbeitet werden: Das ist die Bewältigung innerjüdischer Krisen zum einen und der Umgang mit externen Störfaktoren zum anderen. 2.1.1 Selbstbezüge

Die erste Textgruppe, die den Blick nach innen, auf die internen Gefüge in sich geschlossener jüdischer Gemeinschaften richtet, situiert ihre dargestellten Welten hauptsächlich in vage ostjüdischen Ghettomilieus, drei Dramen und einige wenige Nachdichtungen und Übersetzungen3 situieren ihre Handlungen in biblischen Um-

3

So etwa: Frischmann, D.: "Schöpfungslieder", in: Ost und West 1 (1901), H. 6, Sp. 439442; Huldschiner, Richard: "Secher-Jabes", in: Ostund West 3 (1903), H. 6, Sp. 397-404; Niemojewski, Andreas: "Die Septuaginta", in: Ost und West 3 (1903), H. 7, Sp. 487-496; Huldschiner, Richard: "Das Schwert des Juda Makkabi", in: Ost und West 5 (1905), H. 12, Sp. 793-798; f eiwel, Berthold: "Der Tod des Propheten", in: Ost und West II (1911), H. 4, Sp. 355-358; Schneur, S.: "Und Gott weinte (Aus dem ,Buche der Schöpfung')", in:

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feldem. Dabei wird in nur ganz wenigen Ausnahmen auf humorvolle Weise von kleineren Konflikten erzählt- so etwa in "Die Heimreise zum Passah-Fest", wo das regelmäßige und zufriedene Leben eines jüdischen Lehrers hauptsächlicher Darstellungsgegenstand ist, das nur kurzzeitig durch eine gefährliche, aber dann glücklich überstandene Flussüberfahrt unterbrochen wird, 4 oder in "Kann ich Lea heiraten?", wo von einem gewitzten, aber armen Juden berichtet wird, der durch Listen doch die Gewünschte zur Frau erhält. 5 In "Der Ersatz" wird von den neuen Zähnen eines Schofarbläsers erzählt, 6 in "Versöhnung" von der wieder gewonnenen Nähe zu Gott am Jom Kippur nach einem nun endlich eingestandenen kleinen Diebstahl, 7 und "Ein Rat" erzählt aufkomische Weise von einem schwachen Schwiegersohn, der in der Ehe seinen eigenen Willen nicht durchsetzen kann. 8 Die weitaus größere Menge der Texte aber thematisiert schwerwiegende, Leben und Identität von Person oder Gemeinschaft bedrohende Gefährdungen. Damit aber zeigen sich hier bereits diejenigen Milieus als krisenhaltig und konfliktträchtig, die noch gar nicht von Modemisierungen oder Interventionen von Außen betroffen sind, die sich also weder mit jüdischen Reformprojekten, Assimilationstendenzen, Antisemitismus, Konversionen, christlichen Erotikpartnern noch mit sonstigen Einflüssen nichtjüdischer Kultur auseinandersetzen müssen. Im Folgenden ist nun genauer herauszuarbeiten, wie die Texte solche innerjüdischen Krisen konzipieren: welche Krisenfaktoren sie ausmachen und in welches Umfeld sie sie mit welchen Aussichten auf eine erfolgreiche Bewältigung einordnen. Das geschieht im W esentlichen mit drei Verlaufsmodellen: Hauptsächlich gelingt die Korrektur von Fehlverhalten und die Reintegration von Abweichlern im Rahmen einer intakten jüdischen Gemeinschaft, deren Homogenität auch von diesen Störungen nicht grundlegend irritiert ist, was aber von den Texten einigermaßen aufwendig und subtil nachgewiesen werden muss. Vier Dramentexte modifizieren die Problemstellung noch einmal und fragen nach den Bindungskräften selbst, die eine solchermaßen

Ostund West 17 (191 7), H. 3-4, Sp. 101-106; Silbergleit, Arthur: "Stimmen", in: Ostund West 19 (1919), H. 5-6, Sp. 151-154; Silbergleit, Arthur: "Legenden", in: Ost und West 22 (1922), Sp. 193-194. 4

Aleichem, Scholaum: "Die Heimreise zum Passah-Fest", in: Ost und West 9 (1909), H. 3,

5

Lessing, Bruno: "Kann ich Lea heiraten? Humoristische Erzählung", in: Ost und West 11

6

Steif, Dr. Max: "Der Ersatz", in: Ostund West 12 (1912), H. 8, Sp. 739-744.

7

Rosenthal, Elieser David: " Versöhnung", in: Ost und West 6 (1906), H. 10-11 , Sp. 673-

8

Aleichem, Schalem: "Ein Rat (Eine wahre Geschichte - man sollte es nicht für möglich

Sp. 167-176. (1911), H. 5, Sp. 435-444.

680. halten - aber sie ist doch wahr)", in: Ost und West 9 (1909), H. 2, Sp. 95-11 2.

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kohärente jüdische Gemeinschaft konstituieren. Sie finden sie im Modell der interpersonalen Vorstellung von Liebe im Bereich zwischen einem radikalen Individualismus und subjektfernen Größen. Die dritte Variante hat dagegen das Auseinanderfallen der jüdischen Gemeinschaften und damit zunehmend auch Wahnsinn, Krankheit und Tod im Blick und konzipiert innerjüdische Krisen als einen Verfallsprozess, der von gravierenden Differenzen zwischen den Generationen geprägt ist. Konfliktbewältigung I Eine Textgruppe kreist um verschiedene Formen von Ordnungsstörungen, von denen die von außen noch nicht irgendwie beeinflussten jüdischen Milieus betroffen sind, die sich hier aber entweder plausibel aus di esen Milieus ausschließen, erfolgreich integrieren oder wieder korrigieren lassen: In "Ghetto-Idylle"9 etwa bedroht die erwachende Sexualität die personale Identität des Protagonisten, in "Zwei Parochet'"0 und "Maser" 11 zeigt sich die soziale Stabilität der jüdischen Gemeinschaft durch plötzlich zu Reichtum kommende Aufsteigerfiguren und den Glückswechsel bislang etablierter Wohltäter und Mäzene irritiert; in "Seelenopfer", 12 "Der Rabbi und der Zaddik" und "Mein erster Fasttag" 13 stören religiöse Differenzen die Homogenität des Judentums, und "Am Tage des Gerichts", 14 "Maser", "Der Jahrmarkt zu Rohany" 15 und "Mein erster Fasttag" thematisieren die teilweise verheerenden Konsequenzen eines Verstoßes gegen Gottesgebote. "Ghetto-Idylle" nun entwirft das Erwachen der Sexualität des Protagonisten Naftali deutlich in Orientierung an vitalistischen Konzepten- als eine das Subjekt überwältigende, plötzliche Eruption und - mit zahlreichen Metaphern des Strömens und Fließens - als Grenzen auflösende Vereinigung mit der Natur. Die schwerwiegende Irritation der Identität der Person, die "die Harmonie seiner Seele" zugleich

9

Feldmann, Wilhelm: "Ghetto-Idylle", in: Ost und West 4 (1 904), H. 7, Sp. 493-500.

10 Anski, Sch.: "Zwei Parochet", in: Ost und West 23 (1923), H. 1-2, Sp. 11 -20. 11 Goldschmidt, Meir Aron: " Maser", in: Ost und West 2 1 (1921), H. 3-4, Sp. 95- 106; H. 78, Sp. 209-226; H. 9-10, Sp. 269-284; H. 11-12, Sp. 329-342; Ost und West 22 (1922), H. 1-2, Sp. 47-58. 12 Anski, Sch.: "Seelenopfer", in: Ost und West 22 (1922), H. 1-2, Sp. 3346. 13 [anonym]: "Mein erster Fasttag. Aus den Erzählungen des alten Professors für Astronomie", in: Ost und West 19 (191 9), H. 1-2, Sp. 45-52; H. 3-4, Sp. 97-1 04; H. 5-6, Sp. 157160; H. 7-8, Sp. 201-216. 14 Segel, Benjamin: "Am Tage des Gerichtes", in: Ost und West 16 (191 6), H. 12, Sp. 481492; Ost und West 17 (191 7), H. 1-2, Sp. 53-72; H. 3-4, Sp. 11 5-1 22; H. 5-6, Sp. 189206. 15 Kahn, A.: "Der Jahrmarkt von Rohany. Novelle", in: Ost und West 18 (1918), H. 10, Sp. 363-372; H. 11-1 2, Sp. 403-412.

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"trübt und vernichtet" (Ghetto-Idylle, Sp. 497), kann hier aber doch für eine Stabilisierung des Judentums fruchtbar gemacht werden : Denn die sexuelle Erweckung geschieht erst nach den traditionellen Hochzeitsfeierlichkeiten und im Umfeld einer arrangierten Ehe- sie bleibt also fest eingebettet in die institutionalisierten Regeln einer orthodoxen Gemeinschaft. Gebunden bleibt sie außerdem an ein spezifisches Verhältnis zwischen den Generationen, in dem die ältere Generation (hier der Onkel Naftalis) ihr Wissen ohne Verluste an die jüngere weitergeben kann: Der Onkel belehrt seinen Neffen nach der Hochzeit über die Bedeutung der Familie im Judentum und bezeichnet dabei die Ehe als "heiligste Aufgabe auf dieser Welt" : ," Verheiratet sein, das heisst ein eigenes Haus gründen und sich bemühen, dass es wie ein nützlicher Bienenstock sei im Garten des Herrn, fest seine Famili e begründen, sie schön und gottesfürchtig leiten, das ist unsere heiligste Aufgabe auf dieser Welt! [... ] Wir Juden wären längst vom Erdboden verschwunden, wenn nicht der Umstand wäre, dass wir frühzeitig eine Familie gründen; wir wären längst ausgerottet, wenn in den Familien nicht Reinheit, Tradition, Gottesfurcht sich f011pflanztc. [...] Ehe, Familie, Kinder, das ist der Fels, auf dem sich der Bund und Israel aufbauen."' (Ghetto-Idylle, Sp. 495)

Naftali folgt ihm in dieser Transzendierung fast wörtlich und reift schon dabei zum Mann. Erst danach können er und seine Frau am Ende des Textes die "Ekstase der Liebe" genießen, die sie "zu einem Ozean von Wundem und Wonnen" zusammenfUhrt und die "Neuvermählten mit einem Zauber [überflutete]", so dass "in ihren Herzen [... ] ein Himmel voller Sterne [leuchtete], und tausend Chöre [... ] ein Lied von Glückseligkeit [sangen]." (Ghetto-Idylle, Sp. 500) Dies alles geschieht nunmehr im Zeichen einer Fortpflanzungsverpflichtung, die von Naftali bewusst akzeptiert und reflektiert wird, dabei eine Verbindung bis zu den biblischen Ahnen herstellt und die schließlich das individuell-familiäre Verstehen zwischen den Generationen unter Beweis stellt, weil der Neffe sein Glück im Befolgen der Lehren des Onkels findet. In "Zwei Parochet", "Maser" und "Mein erster Fasttag" werden Störungen der Homogenität der jüdischen Gemeinschaft verhandelt, die durchweg von einer einzelnen, isolierten Figur ausgehen. Sie werden von der Gemeinschaft dann explizit und bewusst als Verfehlungen klassifiziert bzw. durchschaut und abgewertet. "Zwei Parochet" präsentiert einen Parvenü als einen solchen Ordnungsstörer, der - schnell zu Reichtum gekommen - altbewähtte Funktionen innerhalb der Gemeinde erkaufen will. Gegenfigur ist der sozial integrie1te und etablie1te reiche Mann Reb Nachman Freides, "kein Emporkömmling", "von reichen Eltern" stammend und "einer alten angesehenen Familie" angehörend: "Er lebte auf großem Fuße, aber in den Grenzen alter Kultur, wie es den aristokratischen Traditionen eines Patriziergeschlechtes entspricht. Er hatte die erste Stimme in allen öffentlichen

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Angelegenheiten der Gemeinden und war stets bereit, opferfreudig flir die jüdische Gemeinschaft einzutreten, wenn es galt, bei der Regierung oder beim hohen Adel die gerechten Interessen der Judenheil zu vcrteidigen." 16

Der Parvenü dagegen, der die "Rolle eines Millionärs" zu spielen beginnt, ist Mardochai Benzes, "aber wegen seiner Bosheit und Roheit nannte man ihn allgemein Mardochai-Haman". 17 Sein Vorhaben gelingt ihm nicht, weil die Ehefrau des von ihm Angegriffenen ihren gesamten Schmuck für die "Ehre" ihres Mannes opfert. Diskreditiert ist die Figur aber auch deshalb, weil ihr Anliegen von der Gemeinde als "frech" 18 zurückgewiesen wird und weil es gerade dieses Opfer der Ehefrau ist, das am Ende dem Synagogenschatz und also der ganzen jüdischen Gemeinschaft zugute kommt. Gerade für solche sozialen Zwecke taugt das Geld des Parvenüs nicht (jedenfalls schweigt der Text davon), der schnelle soziale Aufstieg ist offensichtlich nicht integrierbar. Basal für den Zusammenhalt des Judentums ist in der Ordnung der erzählten Welt dagegen eine dauerhaft stabile soziale Schichtung, die dann auch die hier nur implizit thematische Ungleichheit zwischen Armen und Reichen umgreift und entschärft. Diese Skepsis gegenüber zu hoher sozialer Mobilität zeigt auf eine etwas modifizierte Weise auch "Maser": Hier ist es eine unverhoffte hohe Erbschaft, die die jüdische Integrität und die personale Identität des einfachen "Kommissionärs" Simon Levi stört. Die Irritationen betreffen erneut die soziale Position der Figur- es kommt zu Fehlverhalten und Desintegration: "Er war aus der Schicht, aus der Menschenklasse herausgerissen worden, der er bisher [... ] angehört hatte. Einmal war er ihnen zu reich geworden, ein andermal war er nur eine Seifenblase mit den Farben des Reichtums; [... ] er hatte einen Rang in einer höheren Klasse bekonnnen, aber nur einen titulären Rang, die Person blieb draußen, die war und blieb der kleine Konnnissionär ohne Bildung und Einfluss.'" 9

Auch hier wird die jüdisch-sittliche Identität b1iichig - Levi verstößt gegen ein göttliches Gebot und enthält seinem Bruder den gesetzlich vorgeschriebenen "Zehnten" vor. Mit ähnlichen Strategien diskreditiert schließlich "Mein erster Fasttag" bestimmte religiöse Positionen. In der Figur Reb Chaikels wird dabei der Chassidismus mehrfach als eine verfehlte Auffassung vom Judentum aufgedeckt - explizit

16 S. Anski: Zwei Parochet, Sp. 13. 17 Ebd. 18 "Eine große Aufregung bemächtigte sich der Gemeinde über diese Frechheit des neuen Plutokraten[ .. .]." (ebd.) 19 M.A. Goldschmidt: Maser, Sp. 211.

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im Urteil wichtiger Figuren, etwa wenn der Vater des Ich-Erzählers "über ihren Aberglauben und ihre Unwissenheit [lachte]" und der "Lehrer [ ... ] ihre Zaddikim ftir ausgepichte Gaukler, Schwindler und Ignoranten [hielt], die dem unwissenden, betörten Pöbel das Geld aus der Tasche lockten" und "in ihrem Gebaren eine Art verkappter Ketzerei" sah und sie mit "grimmigem Spott"20 verfolgte. Die Diskreditierung erfolgt aber vor allem durch die von den Figuren selbst gemachte Entdeckung, dass der chassidische Rabbi gegen das Fastengebot am Jom Kippur verstößt: "Wir schauten zusammen durch das Guckfensterehen und mußten fest zusammenhalten, um nicht in lautes Lachen auszubrechen. Rcb Chajkcl stopfte sich eilig die heißen Kräpfchcn in den Mund, verbrannte sich dabei Finger und Lippen, der weißliche Saft rann über seinen Bart. Als er gesättigt war, deckte er vorsichtig die Schüssel wieder zu, tilgte die Spuren seines Tuns und schlich sich leise aus der Kammer."21

Dieser Verstoß wird nun dem gänzlich anderen Verhalten des Ich-Erzählers gegenüber gestellt, der sich bereits kurz nach seiner Bar Mizwa - also im noch jugendlichen Alter - trotz aller Anfechtungen an das Gebot hält, und zugleich wird es den Betriigereien eines christlichen Arztes parallelisiert, der seine schwerkranken jüdischen Patienten auf listig-amüsierte Weise vom Fasten abhalten will. Auf diese Weise erscheint der Chassidismus nicht als eine irgendwie bedenkenswerte Glaubensalternative, sondern ausschließlich als moralisch zweifelhaft. Die Homogenität des hier als vorbildlich vorgeführten Judentums bleibt so unirritiert und unangetastet. Etwas anders gehen zwei weitere Erzählungen mit dem Problem religiöser Differenzen um: "Seelenopfer"22 etwa lässt zunächst in einem hitzigen Streit einen jungen Chassid auf eine ganze Gruppe seiner schärfsten Gegner treffen; entschärft werden die Auseinandersetzungen zunächst durch die Zwischenschaltung eines moderaten Vertreters der Gegenpartei, der statt auf theologische Argumente auf die Einsichten aus einer Beispielerzählung baut. In der Intradiegese geht es dann um die Aufopferung eines reichen jüdischen Mäzens für eine jüdische Gemeinde, die von antisemitischen Intrigen vernichtet zu werden droht. Eben dieses Opfer kann schließlich auch der Chassid in sein Glaubensmodell integrieren, vor dieser Folie erweisen sich die Streitereien zu Beginn des Textes als nur scheinbare- und die Erzählkunst des Moderators als wirksamer als jedes theologische Argument. Die oben bereits ausftihrlicher analysierte Erzählung "Der Rabbi und der Zaddik" schließlich verzichtet auf eine solche Rückbindung zweierunterschiedlicher Auffassungen vom

20 Anonym: Fasttag, Sp. 48. 21 Ebd., Sp. 204. 22 S. Ansl