Theorie der Praxis: Leon Battista Alberti als Humanist und Theoretiker der bildenden Künste [Reprint 2014 ed.] 9783050072753, 9783050029900


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German Pages 313 [320] Year 1999

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Table of contents :
Anmerkungen zur Aktualität des Theoretikers Leon Battista Alberti
Humanismus und Kunsttheorie in der Renaissance
Leon Battista Albertis Erfindung des »Gemäldes« aus dem Geist der Antike: der Traktat De pictura
Leon Battista Alberti: De statua
Antike Monumente als Muster und als Lehrstücke. Zur Bedeutung von Antikenzitat und Antikenstudium für Albertis architektonische Entwurfspraxis
Albertis Vorstellung von antiken Häusern
Das Enigma von Leon Battista Albertis dissimulatio
De re aedificatoria als Metapher einer Disziplin
Misogynie im literarischen und architekturtheoretischen Werk Leon Battista Albertis
Literaturverzeichnis
Abbildungsverzeichnis
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Theorie der Praxis: Leon Battista Alberti als Humanist und Theoretiker der bildenden Künste [Reprint 2014 ed.]
 9783050072753, 9783050029900

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Theorie der Praxis Leon Battista Alberti als Humanist und Theoretiker der bildenden Künste

Theorie der Praxis Leon Battista Alberti als Humanist und Theoretiker der bildenden Künste

Herausgegeben von Kurt W. Forster und Hubert Locher

Akademie Verlag

Einbandgestaltung unter Verwendung eines Ausschnittes aus Andrea Mantegna, Grablegung Christi (Kupferstich, Wien, Albertina) und Leon Battista Alberti, Tempio Malatestiano (Fassadendetail), Rimini.

Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Theorie der Praxis: Leon Battista Alberti als Humanist und Theoretiker der bildenden Künste / hrsg. von Kurt W. Forster und Hubert Locher. - Berlin : Akad. Verl., 1999 ISBN 3-05-002990-0

© Akademie Verlag GmbH, Berlin 1999 Der Akademie Verlag ist ein Unternehmen der R. Oldenbourg-Gruppe. Das eingesetzte Papier ist alterungsbeständig nach DIN/ISO 9706. Alle Rechte, insbesondere die der Übersetzung in andere Sprachen, vorbehalten. Kein Teil des Buches darf ohne Genehmigung des Verlages in irgendeiner Form - durch Photokopie, Mikroverfilmung oder irgendein anderes Verfahren - reproduziert oder in eine von Maschinen, insbesondere von Datenverarbeitungsmaschinen, verwendbare Sprache übertragen oder übersetzt werden. Gestaltung und Satz: Petra Florath, Berlin Druck und Bindung: Druckerei zu Altenburg Printed in the Federal Republic of Germany

Inhaltsverzeichnis

HUBERT LOCHER

Anmerkungen zur Aktualität des Theoretikers Leon Battista Alberti

ι

Humanismus und Kunsttheorie in der Renaissance

9

BRIAN VICKERS

HUBERT LOCHER

Leon Battista Albertis Erfindung des »Gemäldes« aus dem Geist der Antike: der Traktat De pictura

75

O S K A R BÄTSCHMANN

Leon Battista Alberti: De statua

109

H O W A R D BURNS

Antike Monumente als Muster und als Lehrstücke. Z u r Bedeutung von Antikenzitat und Antikenstudium für Albertis architektonische Entwurfspraxis

129

HUBERTUS G Ü N T H E R

Albertis Vorstellung von antiken Häusern

157

M A R K JARZOMBEK

Das Enigma von Leon Battista Albertis dissimulatio

203

FRANÇOISE C H O A Y

De re aedificatoria als Metapher einer Disziplin

217

INHALTSVERZEICHNIS

KORNELIA IMESCH

Misogynie im literarischen und architekturtheoretischen Werk Leon Battista Albertis Literaturverzeichnis Abbildungsverzeichnis

233 2.75 31z

HUBERT LOCHER

Anmerkungen zur Aktualität des Theoretikers Leon Battista Alberti

Als 1 9 9 z an der Eidgenössischen Technischen Hochschule Zürich, maßgeblich auf Betreiben von Werner Oechslin, Vorsteher des Intstitutes gta, ein Nachdiplomstudiengang »Geschichte und Theorie der Architektur« eingerichtet wurde, hatte man sich unter anderem auch die Aufgabe gestellt, in einem Vortragszyklus prägnante Positionen der Architekturtheorie zur Sprache zu bringen. Unvermeidlich fiel der Blick auch auf Leon Battista Alberti ( 1 4 0 4 - 1 4 7 2 ) , Autor der ersten neuzeitlichen Theorie der Architektur, Verfasser der ersten Grammatik der italienischen Volkssprache, der ersten Theorie der Malerei, der ersten Theorie der Plastik sowie einer in Italienisch abgefaßten Soziologie, darüberhinaus Dichter und Architekt. Die großangelegte Alberti-Ausstellung 1994 in Mantua, die erste dem Humanisten gewidmete überhaupt, 1 brachte uns schließlich auf den Gedanken, in Zürich zur Vorbereitung eines Ausstellungsbesuchs eine kleinere Tagung mit internationaler Beteiligung zu veranstalten. Die Mantuaner Schau war vor dem Hintergrund der schon seit zwei Jahrzehnten, nach einer längeren Phase der Stagnation, 1 wieder intensiver und mit neuen Frageansätzen betriebenen Beschäftigung mit dem Werk Albertis möglich geworden, wobei die wichtigsten Impulse eher vom italienischen und englisch-amerikanischen als vom deutschen Sprachraum ausgingen. Jenseits dieser wissenschaftlichen Diskussion konnten wir feststellen, daß auch unter Architektinnen

ι Ausst. Kat. Leon Battista Alberti,

hrsg. ν. Joseph Rykwert, Anne Engel, Mailand: Electa

1 9 9 4 . Vgl. die Rezension von Andreas Beyer, in: Kunstchronik,

XLVII, S. 6 9 1 - 6 9 6 .

ζ Ein eigentlicher Aufschwung ergab sich im Zusammenhang mit der Feier des fünfhundertsten Todestages 1 9 7 2 .

ζ

HUBERT LOCHER

und Architekten das Interesse an Alberti überaus rege war. Dieses Interesse betraf nicht nur seine Bauten, die vielen Studierenden bereits in Grundzügen aus Vorlesungen bekannt waren, sondern man wollte offensichtlich mehr über jenen Humanisten erfahren, der als erster neuzeitlicher Mensch das Bild des intellektuellen Architekten und Künstlers zu verkörpern schien, das vielen nach wie vor oder wieder - als Ideal vorschwebt: Ein Architekt, der kein einfacher Baumeister ist, sondern in seinem Metier ein Intellektueller^ in der Theorie seines Faches beschlagen, ohne aber den Praxisbezug verloren zu haben, und eine Person, die diese Vielseitigkeit in der Konzeption wahrhaft neuartiger Bauten umsetzt. Schließlich ein Baumeister, der zugleich Künstler ist, sich also auch um dasjenige kümmert, was jenseits reiner Nützlichkeit eines Baus liegt, dessen materielle Erscheinung transzendiert. In der Vorstellung von Alberti als dem genialen, allseitig begabten Architekten lebt jenes von Jacob Burckhardt in seinem berühmten Buch Die Kultur der Renaissance in Italien kolportierte Bild weiter.3 Im Anschluß an Giorgio Vasaris Lebensbeschreibung,4 vor allem aber an Albertis Autobiographie,5 feierte Burckhardt den Humanisten in dem berühmten zweiten Abschnitt des Werkes, welches den Titel »Die Entwicklung des Individuums« trägt, als einen jener angeblich für die Epoche typischen »Gewaltmenschen«, den physische ebenso wie geistige Leistungsfähigkeit auszeichnete, als einen jener »wahrhaft Allseitigen«, der selbst im 1 5 . Jahrhundert, dem »Jahrhundert der vielseitigen Menschen«, hoch emporrage. Dieser neue Typ des diesseitsorientierten, vernünftig handelnden Individuums war für Burckhardt der Inbegriff des Renaissance-, ja des »modernen« Menschen, der sich aus den Fesseln mittelalterlicher Autoritätsgläubigkeit gelöst und den Pfad der Emanzipation eingeschlagen hatte. Heute weiß man im wissenschaftlichen Diskurs das Burckhardtsche Bild des Universalgenies Alberti zu relativieren. Nicht nur an Alberti hat man manchen »mittelalterlichen« Zug freilegen können, die Bruchstelle zwischen dem sogenannten Mittelalter und der Renaissance wird in der neueren Forschung immer stärker als gleitender Übergang dargestellt. Dennoch bleibt die Burckhardtsche

3 Jacob Burckhardt, Die Kultur der Renaissance in Italien. Ein Versuch (i860), ]acobBurckhardt-Gesamtausgabe, V, hrsg. v. Werner Kaegi, Basel: Schwabe 1930, S. 1 0 1 - 1 0 3 . 4 Giorgio Vasari, Le vite de' più eccellenti pittori, scultori e architettori nelle redazioni del i j j o e 1568, hrsg. ν. Rosanna Bettarini, Paola Barocchi, Florenz: Sansoni 1 9 6 6 - 1 9 9 7 , IV, (1971), S. 283-290. 5 Burckhardt erwähnt den Text in einer Anmerkung nach Muratoris, Rerum italicarum scriptores. Vgl. die moderne Edition von Riccardo Fubini, Anna Menci Gallorini, »L'autobiografia di Leon Battista Alberti. Studio e edizione«, in: Rinascimento. Rivista

dell'Istituto

Nazionale di Studi sul Rinascimento, Seconda Serie, XII, 1972, S. 2 1 - 7 8 , der Text S. 68-78.

A N M E R K U N G E N ZUR A K T U A L I T Ä T DES THEORETIKERS A L B E R T I

Vorstellung des Renaissancemenschen Alberti in manchen Punkten überzeugend, wenn auch nicht als historische Realität und treffende Beschreibung der Persönlichkeit Albertis, so doch als ein Idealbild, das der Humanist selbst von sich zu verbreiten bemüht w a r und dem er zumindest in seiner literarischen Arbeit nachlebte. Als ein »moderner« Mensch im Burckhardtschen Sinn darf Alberti durchaus insofern bezeichnet werden, als er es wagte, seinen Verstand auf Gegenstände zu richten, die man zuvor einer theoretischen Behandlung kaum für würdig erachtet hatte. In jenen Tätigkeiten, die wir heute als künstlerische bezeichnen, hat et, angeregt vor allem durch Vitruvs Architekturtraktat, den von N a t u r aus vernunftbegabten und schönheitsliebenden Menschen am Werk gesehen. In Malerei, Architektur^ Plastik erkannte er die Möglichkeit, höhere Ideen, allen voran M o r a l und Schönheit, in Materie zu bannen, überhaupt aber die K r a f t der Vernunft erscheinen zu lassen - etwa in seinen Perspektivdemonstrationen oder in technisch ausgeklügelten Konstruktionen - und so diese geistigen Mächte überhaupt erst zur Wirkung zu bringen. Aus dieser Haltung resultierte eine neue Form von Theorie, deren Begriff uns heute geläufig ist: Theorie als ein Korpus von Sätzen und Aussagen, die sich zu einem Lehrgebäude, zu einer Lehre über die Grundlagen, Gesetze und Prinzipien eines bestimmen Bereiches der Wissenschaft, Technik oder eben der Kunst fügen, also das, was wir im Titel des vorliegenden Bandes als »Theorie der Praxis« ansprechen. Dieser Theoriebegriff würde sich markant von jenem älteren, bei Aristoteles begründeten philosophischen Begriff der »Theoria« unterscheiden, der nicht praktischen Nutzen, die Erkenntnis der materiellen, sondern allein die intellektuelle Anschauung einer höheren geistigen Welt als Selbstzweck beinhaltete. Albertis Traktate wären jedoch unzureichend charakterisiert, wenn man in ihnen nur technische Lehrgebäude unterscheidbarer Wissensgebiete sehen wollte. Bei aller Praxisorientiertheit ist Alberti in erster Linie Theoretiker, und in seinen Schriften scheint ein großer Anteil an sich selbst genügender Gelehrsamkeitskultur manifest, auf deren Grundlage Albertis im heutigen Sinne ästhetische Kriterien entwickelt sind. Unüberlesbar ist dennoch der gleichzeitige moralisch-philosophische Anspruch. Gerade die Verquickung solcher Anliegen mit in der Anschauung - wenn auch nicht notwendigerweise durch die eigene Ausübung des praktischen Metiers - gewonnener technischer Kompetenz in konkreten Wissensbereichen dürfte heute Albertis Theorien attraktiv und vielfach auch vorbildlich erscheinen lassen. Alberti stellt nicht nur konkrete Regeln für die Malerei, die Plastik und die Architektur auf und gibt an, wodurch ein Bau oder eine Figur als reizvoll oder schön erscheint, sondern er strebt auch danach, seine Regeln pragmatisch zu begründen, um auf diesem Weg die gesellschaftliche Relevanz der Ausübung der Künste nachzuweisen. Seine moralistisch-funktionalistische Haltung, die die »venustas« - etwas altmodisch mit »Liebreiz« zu übersetzen - nicht

3

HUBERT LOCHER

4

außer acht läßt, könnte angesichts des mittlerweile verbreiteten Unbehagens an »postmoderner Beliebigkeit« als Ausweg angesehen werden, und man mag darin wohl auch Parallelen zum moralischen Rigorismus mancher Modernisten sehen können. Allerdings kann man in der aktuellen Diskussion über die theoretischen Grundlagen der Architektur heute zuweilen den lebenspraktischen Aspekt vermissen. Zu oft läßt man es unreflektiert auf sich beruhen, daß ein Kunstwerk, sei es nun Architektur, Malerei oder eine der neueren Formen künstlerischer Äußerung, niemals vollkommen neutral oder »autonom« ist, sondern immer mehr oder weniger stark in ein bestehendes Gefüge eingreift, verändernd oder auch verletzend wirkt und in einen bereits anderweitig besetzten Raum eindringt. Alberti scheint sich dessen bewußt gewesen zu sein, und entsprechend beschreibt er gestalterische Tätigkeit als eine nicht bloß ästhetische, sondern als eine Aufgabe, welche Verantwortung gegenüber einer Gesellschaft erfordert. Die Autorität seines wahrhaft »humanistischen« Lehrgebäudes, der man sich schwer entziehen kann, besteht darin, daß es in diesem auf den sozialen Menschen ausgerichteten Denken gründet. Alberti ist jedoch auch in anderem Sinn ein »Humanist« - nämlich eine Person, die sich nicht in erster Linie durch künstlerische Gestaltung oder durch politisches Handeln, sondern vor allen Dingen durch das geschriebene Wort artikuliert und sich in den meisten Fragen zunächst an der - philologisch und archäologisch rekonstruierten - Antike orientiert. Zu seiner Attraktivität für den heutigen Leser trägt nicht unwesentlich bei, daß er seine Theorie mit beeindrukkender sprachlicher Gewandtheit und argumentativer Klarheit vorträgt, die den philologisch und philosophisch geschulten orator verrät. Die hier versammelten Studien suchen auch diesem Punkt Rechnung zu tragen, selbst wenn immer wieder nach dem Kontext, dem Verhältnis zur zeitgenössischen Architektur- und Kunstproduktion gefragt wird. Das im vorliegenden Band behandelte Spektrum umfaßt alle Schriften Albertis zu den drei »Künsten« Architektur, Malerei, Skulptur, die erstmals von Alberti als jene Einheit begriffen werden, welche später Giorgio Vasari in seinem Vitenwerk als die »arti del disegno« beschrieben hat. Erst seit dem 18. Jahrhundert ist unter Einbeziehung der Musik und des Tanzes das System der »schönen Künste«, der »Beaux-Arts« oder »fine arts« entstanden, welches schließlich im 19. Jahrhundert unter dem Dach des Kollektivsingulars »Kunst« erfaßt wird.6

6 Paul Oskar Kristeller, »The Modern System of the Arts. A Study in the History of Aesthetics (I)«, in: Journal

of the History

of Ideas, XII, 1 9 5 1 , S. 4 9 6 - 5 2 7 , und Ders., »The Modern

System of the Arts. A Study in the History of Aesthetics (II)«, in: Journal of the History of Ideas, XIII, 1952., S. 1 7 - 4 6 . Lionello Venturi, »Per il nome di >ArteNun, Leo, schau wie uns überall Zeugen und Ankläger unserer Trägheit umgeben! Ist denn auch nur einer darunter, der im Laufe des Jahres nicht gar Nützliches für die Menschen hervorbringen würde? Und du, was kannst du vorweisen, das der Gemeinschaft von Nutzen wäre und das du durch deine Arbeit vollbracht hättest? Aretino< and Venetian Art Theory of the Cinquecento, New York: New York University Press 1968. David Summers, Michelangelo and the Language of Art, Princeton, NJ.: Princeton University Press 1 9 8 1 . D. R. Edward Wright, »Alberti's De Pictura: Its Literary Structure and Purpose«, m: Journal of the Warburg and Courtauld Institutes, XLVII, 1984, S. 5 2 - 7 1 . 7 Vgl. Vickers 1988, S. 2.51-253, S. 340-360. 8 Siehe jedoch Giovanni Santinello, Leon Battista Alberti, una visione estetica del mondo e della vita, Florenz: Sansoni 1962. Carroll W. Westfall, »Society, Beauty, and the Humanist Architect in Alberti's De re aedificatoria«, in: Studies in the Renaissance, XVI, 1969, S. 6 1 - 7 9 . Heiner Mühlmann, Recht, Rhetorik und bildende Künste: Über ihre Beziehungen im literarischen und architektonischen Werk des Leon Battista Alberti, Phil. Diss., Universität München, 1968 (nicht eingesehen). Ders., Ästhetische Theorie der Renaissance. Leon Battista Alberti, Bonn: Habelt 1 9 8 1 . John Onians, Bearers of Meaning. The Classical Orders in Antiquity, the Middle Ages, and the Renaissance, Princeton: Princeton University Press 1988. [Vgl. jetzt auch die neueren Arbeiten von Veronika Rüter, Studien zu L. B. Albertis Architektursystem: venustasdignitas, pulchritudo-ornamentum,

Phil. Diss., Bonn 1 9 9 1 . Veronica Biermann, Ornamentum.

Studien zum Traktat >De re aedificatoria< des Leon Battista Alberti, Phil. Diss., TU Berlin, 1995. Candida Syndikus, Leon Battista Alberti. Das Bauornament, Phil. Diss., Münster 1990, Münster: Rhema 1996 (Anm. der Herausgeber).] 9 Paul Henri Michel, Un idéal humain au XVe siècle. La pensée de L. B. Alberti

(1404-

1472), Paris: Les Belles Lettres 1930. 10 Joan Gadol, Leon Battista Alberti. Universal Man of the Early Renaissance, Chicago: University of Chicago Press 1969.

H U M A N I S M U S U N D K U N S T T H E O R I E IN D E R R E N A I S S A N C E

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historische Kontext oder ein besonderes Z i t a t einen Hinweis auf den ciceronianischen H u m a n i s m u s erwarten lassen würde, verweist G a d o l auf Piaton. In ihrer Darstellung von Albertis Kunsttheorie spricht sie von der Wiederbelebung der »alten platonischen Idee der künstlerischen N a c h a h m u n g « im Quattrocento (S. 1 0 0 , mit Verweisen auf Villani und Boccaccio, aber ohne E r w ä h n u n g von Piatons tiefer Abneigung gegenüber der Imitation); in seinen Schriften über Kunst schlage Alberti angeblich »eine Brücke« zwischen platonischen und neoplatonischen Theorien (S. 1 0 4 ) , und es w i r d ihm sogar unterstellt, er habe die platonische Ideenlehre angenommen oder in De re aedificatoria Schönheit alle » Z ü g e einer platonischen F o r m « a u f .

11

weise die Idee der

Unter den von G a d o l be-

vorzugten Autoritäten findet sich E r w i n Panofsky mit seinem offensichtlich platonisch inspirierten Buch Idealz

und Repräsentanten des neukantianischen Idea-

lismus w i e Ernst Cassirer, Heinrich W ö l f f l i n , Wilhelm Worringer oder Susanne Langer. Im Kapitel über The Humanistic

Mode

of Thought

und ebenso im Epi-

log erwähnt G a d o l kurz Kristellers und Garins epochale Humanismus-Studien und verweist sogar auf H a n s Barons Buch über den bürgerlichen H u m a n i s m u s , ' 3 doch ist sie von einer fruchtbaren Verarbeitung dieser Studien in ihrer ganzen

1 1 S. 1 0 6 , mit Verweis auf Willi Flemming, Die Begründung Kunstwissenschaft

der modernen Ästhetik

und

durch L. B. Alberti, Berlin, Leipzig: Teubner 1 9 1 6 .

1 2 Erwin Panofsky, ¡dea: Ein Beitrag zur Begriffsgeschichte

der älteren Kunsttheorie,

Leip-

zig, Berlin: 1924 (Studien der Bibliothek Warburg 5), 2. Aufl., Berlin: Hesseling i960, seither als Reprint, 8. Aufl., Berlin: Wissenschaftsverlag Volker Spieß 1 9 9 3 . 1 3 Gadol 1969, S. 2 1 6 , Anm., bzw. S. 229, Anm. In seinem frühen Aufsatz »Cicero and the Roman civic spirit in the Middle Ages and Early Renaissance«, in: Bulletin of the John Library,

Rylands

XXII, 1 9 3 8 , S. 2 2 - 9 7 , hat Hans Baron als einer der ersten auf die Bedeutung von

Ciceros Konzept der vita activa für die Renaissance hingewiesen. In seinem späteren Werk sah Baron jedoch dieses Erbe als etwas spezifisch florentinisches, ein Produkt des civic

humanism

unter dem Einfluß politischer und dynastischer Kämpfe. Vgl. Hans Baron, The Crisis of the Early Italian Renaissance,

(1955), 2., rev. Aufl., Princeton: Princeton University Press 1966.

Diese zu enge Interpretation wurde zu recht kritisiert von Jerrold E. Seigel, »>Civic humanism< or Ciceronian rhetoric? The culture of Petrarch and Bruni«, in: Past & Present, X X X I V , 1966, S. 3-48. Vgl. jetzt James Hankins, »The >Baron Thesis< after Forty Years and some Recent Studies of Leonardo Bruni«, in: Journal of the History of Ideas, LVI, 1 9 9 5 , S. 309-38. Es ist paradox, daß Hans Baron, der die zentrale Bedeutung Ciceros in politischen und philosophischen Belangen der Renaissance betont, seine Hauptthese erneut darlegt, ohne aber die zahlreichen Bezugnahmen Albertis auf Cicero, vor allem in Della Famiglia, zu nennen. Hans Baron, »Leon Battista Alberti as an Heir and Critic of Florentine Civic Humanism«, (geschrieben 1 9 7 0 , überarbeitet 1 9 8 4 , 1 9 8 8 zum ersten Mal publiziert), in: Hans Baron, In Search of Florentine Civic Humanism. Essays on the Transition from Medieval to Modern Thought, Princeton: Princeton University Press 1 9 8 8 , 1 , S. 258-288.

BRIAN VICKERS

Bedeutsamkeit weit entfernt. Auch hier sieht Gadol Alberti mit dem Neoplatonismus der Renaissance verbunden, was man an seinen a priori Ideen von Tugend und Schönheit in seinem Denken und der durchgehend idealistischen Tendenz erkenne, die sich bei seiner Behandlung praktischer, didaktischer und technischer Belange zeige. Und auch hier, wo die zitierten Passagen aus Albertis Schriften unwiderstehlich an Cicero erinnern, ist er entweder nicht erwähnt oder der Gedanke wird ausdrücklich Piaton zuerkannt. 14 Gadols Buch ist nicht ohne Verdienste und soll hier keineswegs rundweg verworfen werden. Ich möchte lediglich darauf hinweisen, daß die Wiederentdekkung des Renaissance-Humanismus längst im Gange war, als das Buch erschien, und die Autorin dennoch davon unberührt bleiben konnte. Drei Jahrzehnte später liegt nun mit der Studie von Christine Smith eine Arbeit vor, welche die von Garin, Kristeller und den zahlreichen Erforschern der Rhetorik-Rezeption in der Kunsttheorie der Renaissance eingeleitete historische Neuorientierung verstanden und sogar in neue Richtungen weitergeführt hat. 15 Während Gadol im Sinne der traditionellen Kunstgeschichte Kunst und Architektur der Renaissance als einheitliche Bewegung betrachtete, die ihre Erfüllung im sechzehnten Jahrhundert erreiche, folgt Smith einem differenzierteren historischen Modell, indem sie unterstreicht, daß die ersten humanistisch beeinflußten Künstler und Kunstschriftsteller der Generation Brunelleschis und Albertis einem Wertesystem anhingen, das sich deutlich von jenem der zweiten Jahrhunderthälfte unterscheidet. Und zwar aus dem einen Grund, weil diese Generation noch in direktem Kontakt mit der mittelalterlichen Philosophie und Ästhetik stand. Die Bauformen, für die Alberti eintrat, mögen klassisch gewesen sein, doch viele von ihm bewunderte Bauten (einschließlich des Florentiner Domes) waren gotisch, und es gibt keinerlei Anhaltspunkte, daß er ein »Mittelalter« abgelehnt hätte, wie dies manche Forscher, die Burckhardts Dreischritt Klassik - Mittelalter - Renaissance verinnerlicht haben, immer noch annehmen. Tatsächlich konnte Alberti, wie Smith schreibt, die Gotik nicht verurteilen, da diese Kategorie - ob formal, historisch oder kulturell - gar nicht existiert habe (S. 68). Für Alberti habe es keine mittlere Periode gegeben, er habe nur zwei Kategorien verstanden: antik und modern. Smith greift ebenso die verbreitete Unsitte an, intellektuelle Entwicklungen viel späterer Perioden in das frühe Quattrocento zurückzuprojizieren. Rudolf

14 Gadol 1969, S. 233; dies, obwohl in einer Anmerkung S. 234 Albertis Ästhetik als mit jener der Florentiner Akademie unvereinbar bezeichnet wird. Verweise auf Plato ζ. Β. S. z i 6 , 2 1 7 , 2 2 5 - 3 1 , 232, 236, 238-39. 1 5 Christine Smith, Architecture in the Culture of Early Humanism. Ethics, Aesthetics, and Eloquence 1400-1470,

New York, Oxford: Oxford University Press 1992.

H U M A N I S M U S U N D K U N S T T H E O R I E IN D E R R E N A I S S A N C E

15

Wittkower etwa unterscheide in seinen Ausführungen zu den numerischen und numerologischen Einflüßen nicht wesentlich zwischen früherer und späterer Renaissance-Architektur und wiederholt Eward de Zurkos Einwand, räumliche Mathematik sei kein Merkmal oder integrierender Faktor der humanistischen Renaissance-Architektur;16 ebensowenig würde eine Werte-Hierarchie ausgedrückt, denn Hierarchie setze feste Prinzipien und autoritäre Organisation voraus, während sich die Entwicklungen des fünfzehnten Jahrhunderts durch die Freiheit des Ansatzes und die offene Haltung auszeichne (S. xviii). Wenn ich ebenfalls der Ansicht bin, daß platonisch-pythagoreische Zahlensymbolik eine spätere Erscheinung ist, so bin ich doch nicht glücklich mit der Begründung, denn meiner Ansicht nach zeigt die Kunst des frühen Quattrocento tatsächlich eine Werte-Hierarchie, durchaus in Verbindung mit festen Prinzipien, namentlich in der Entwicklung der Fluchtpunktperspektive. Über diesen Aspekt hat sich in den letzten Jahren eine kontroverse Diskussion entwickelt, in der hochkomplizierte technische Argumente zur Sprache gebracht worden sind. Dennoch teile ich immer noch Erwin Panofskys Ansicht,17 die Zergliederung der mittelalterlichen Kultur habe zur Folge gehabt, daß perspectiva mit Mathematik und Astronomie, nicht mit den Fragen der zeichnerischen Darstellung in Verbindung gebracht wurde, und daß die dargestellten Objekte in der Plastik ebenso wie in der Malerei als Massen und weniger als Gefüge aufgefaßt wurden, indem man die Teile als untereinander gleichwertig behandelte. An anderer Stelle habe ich Panofskys Argument, umgesetzt in eine linguistische Kategorie der Syntax, auf Kunst der frühen Renaissance angewandt, nämlich vermittels der Unterscheidung in parataxis, bei der Wörter oder Satzteile mit einfachen Mitteln wie der Kopula »und« verbunden sind, und bypotaxis, die kleinere Elemente größeren

16 Rudolf Wittkower, Architectural Principles in the Age of Humanism (1949), rev. Ausg., London: Warburg Institute 1962. Das Buch befaßt sich mit der Periode 1 4 5 0 bis 1580. Wittkowers Bemerkungen zu Albertis angeblicher Verarbeitung pythagoräischer Zahlensymbolik (S. 3 - 1 1 , 3 3 - 3 7 , 1 0 7 - 1 1 7 , 1 4 3 - 1 4 4 ) können nicht ohne weiteres akzeptiert werden. Vgl. die Einwände von Edward de Zurko: »the essential humanism of Alberti lies in [...] his key principle that architectural form should, first and foremost, serve human need, convenience and pleasure. Abstract-metaphysical criteria such as spatial geometry, number, numerical ratios [...]« seien diesen Prioritäten unterzuordnen. Edward R. de Zurko, »Alberti's Theory of Form and Function«, in: Art Bulletin, X X X I X , 1 9 5 7 , S. 14Z-45. 17 Erwin Panofsky, Renaissance and Renascences in Western Art, (The Gottesman Lectures, 7), Kopenhagen: Russak [i960]; (deutsch: Die Renaissancen der europäischen

Kunst, Frank-

furt: Suhrkamp 1979 u. öfter). Unter den neueren Arbeiten vgl. z. B. Samuel Y. Edgerton, Jr., The Renaissance

Rediscovery

of Linear Perspective,

New York: Basic Books 1 9 7 5 . Martin

Kemp, The Science of Art. Optical Themes in Western Art from Brunelleschi Haven, London: Yale University Press 1990.

to Seurat, New

16

BRIAN VICKERS

Zusammenhängen unterordnet. In dieser Terminologie kann mittelalterliche Kunst als parataktisch beschrieben werden, indem Teil an Teil auf derselben Ebene aneinandergefügt wird, während Renaissance-Kunst hypotaktisch wäre, indem Entscheidungen bezüglich des relativen Gewichtes getroffen und in Form von Größe und Maßstab ausgedrückt werden müssen.18 In Albertis Della pittura bestimmen, wie schon der kürzlich verstorbene Richard Krautheimer festgestellt hatte, Größe und Proportion der vom Künstler vorgestellten menschlichen Figur alle Verhältnisse und machen den Bildraum wahrnehmbar. Dieses Grundkonzept Albertis sei neu; nebensächlich sei dabei, ob die Konstruktion (die vom Konzept zu unterscheiden sei) lediglich jene Brunelleschis umsetze oder nicht.19 Albertis Traktat ist zu Recht berühmt für die Darstellung der Zentralpunktperspektive, der großen praktischen Entdeckung des frühen Quattrocento, doch enthält er ebenso mehrere Ideen, die der klassischen Rhetorik entlehnt sind, wie etwa die ausdrückliche Forderung, daß der Künstler eine Vorstellung des Ganzen entwickeln solle, bevor er an den Teilen zu arbeiten beginne, wobei das decorum zur Bewahrung der Einheit des ganzen Werks zu beachten sei. Während ich diesen Einwand anbringe, kann ich im übrigen Christine Smiths Mahnung nur unterstützen, nicht spätere Haltungen und Werte in das Quattrocento zurückzuprojizieren. Dies ist hinsichtlich Piatons von besonderem Belang. Wie Smith geltend macht, bleibe es eine Tatsache, daß die frühen Humanisten viel häufiger Cicero, Aristoteles und Augustinus lasen als Platon (S. xviii). Ich denke, Albertis Ästhetik war insofern wesentlich rhetorisch geprägt, als eine einheitliche Absicht des Autors vorausgesetzt ist, die durch das Werk ausgedrückt wird, welches darauf abzielt, eine entsprechende Gefühlsregung beim Leser, Zuhörer oder Betrachter zu erzeugen. Piatons Ästhetik wandte sich bekanntlich ebenso gegen Kunst als Imitation wie gegen Rhetorik als Persuasion,20 während er, indem er Seele, Verstand oder Vernunft der Sinnlichkeit überordnete, letztere praktisch von schicklichem menschlichem Verhalten oder philosophischer Diskussion ausschloß. In Abgrenzung von der deutschen idealistischen Philosophie, für die Schönheit ein abstraktes Ideal ist, bin ich mit Smith einer Meinung, daß Albertis Erörterung der Schönheit als sinnliche und seelische (und damit subjektive) Erfahrung der platonischen Haltung zu dieser Frage widerspricht und der Autorität Aristoteles', Ciceros und Augustinus' folgt (S. 83). Das neoplatonische Konzept der Schönheit dagegen sah diese als eine Qualität, die dem Kunstwerk

18 Vickers 1988, S. 245-53. 19 Richard Krautheimer, Trude Krautheimer-Hess, Lorenzo Gbiberti (1956), 3., erg. Aufl., Princeton, NJ.: Princeton University Press 198z, S. xxi. Siehe auch S. 246, 2 5 1 . 20 Vickers 1988, S. 8 3 - 1 4 7 .

H U M A N I S M U S UND K U N S T T H E O R I E IN D E R R E N A I S S A N C E

inhärent wäre, abhängig von Kriterien wie Maß, Proportion und Harmonie (S. 1 2 7 - 1 2 8 ) . Derartige Ideen kamen erst nach Albertis De pictura (1434/35) auf, und wenn ähnliche Kriterien in De re aedificatoria (geschrieben in den 1440er Jahren) anscheinend verwendet werden, so finden sie sich stets in Verbindung mit der Person des Architekten, dessen angeborene Fertigkeiten und Tugenden allein die erfolgreiche Bauausführung garantieren. Alles historische Belegmaterial der schrittweisen Wiederbelebung der klassischen griechischen Philosophie durch die Unterrichtstätigkeit byzantinischer Gelehrter wie Johannes Argyropulus und Gemistus Plethon weist auf eine Blütezeit des Piatonismus im späteren fünfzehnten Jahrhundert hin, etwa zwischen 1450 und 1475. 2 1 Mit dieser Erkenntnis korrigiert Smith ein gängiges Mißverständnis der Periode des frühen Humanismus; zugleich kann sie den historischen Kontext genauer und fruchtbarer umreißen, indem sie auf die Bedeutung des Florenz-Aufenthaltes des byzantinischen Gelehrten Manuel Chrysoloras um 1397 hinweist, ein Besuch, der dessen Engagement als Griechischlehrer durch das studio von Florenz zur Folge hatte. Nachdem Chrysoloras 1400 Florenz verlassen hatte, verbrachte er einige Jahre reisend zwischen Konstantinopel und Norditalien (Veneto und Lombardei), bevor er sich um 1407 im Westen niederließ. Er verbrachte viel Zeit in Italien, oft umgeben von Humanisten, die ihn bewunderten und von denen viele einflußreiche Lehrer werden sollten. Die Bedeutung von Chrysoloras als Katalysator in der Entwicklung des Renaissance-Humanismus ist lange schon erkannt worden, doch zu oft nur hinsichtlich der Wiederbelebung des Griechisch-Studiums." Im Anschluß an Ian Thomson zeigt Smith, daß in der Huldi-

21 Vgl. jetzt Arthur Field, The Origins of the Platonic Academy of Florence, Princeton, NJ.: Princeton University Press 1988. James Hankins, Plato in the Italian Renaissance, 2 Bde., (1990), 2., rev. Aufl., Leiden: Brill 1 9 9 1 , 1 , bes. S. 164. Um die Mitte des 1 5 . Jahrhunderts veränderte sich die Rezeption Piatos. Die Platonische Akademie wurde 1455 gegründet, doch wurde sie erst in den 1460er Jahren aktiv. Schon 1940 hatte Anthony Blunt festgestellt, daß Albertis Begriff der Schönheit, zu der er »durch ein Verfahren mehr oder weniger arithmetischer Durchschnittsbildung« gelangt war, zeige, »wie weit er von jeglicher Art idealistischer oder neuplatonischer Vorstellungen entfernt war.« Verglichen mit Ficinos und Picos Mystizismus und Hingabe an die vita contemplativa, war Alberti ein altmodischer Naturalist und Rationalist. »Nichts konnte weniger mystisch sein als Albertis Denkart. Er glaubte vor allem an die Bedeutung des aktiven Lebens und meinte, der Bürger solle greifbar und materiell zum Wohle des Staates beitragen.« Anthony Blunt, Kunsttheorie in Italien 1450-1600

(1. engl. Ausg. 1940),

München: Mäander 1984, S. 1 2 , 14. 22 Smith 1992 gibt die entsprechende Literatur an (S. 248, Anm. 1): Remigio Sabbadini, »L'Ultimo ventennio della vita di Manuele Crisolara«, in: Giornale linguistico, XVII, 1890, S. 3 2 1 - 3 3 6 . Giuseppe Cammelli, I Dotti bizantini e le origini dell' Umanesimo, Bd. I: Manuele Crisolara, Florenz: Le Monnier 1 9 4 1 . Paul Oskar Kristeller, »Umanesimo italiano e Bisanzio«,

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gung Guarino Veroneses an Chrysoloras nach dessen Tod 1 4 1 5 dieser für die Wiederherstellung von »Glanz und Würde der lateinischen Sprache« gepriesen wird (S. 133), und daß andere Zeitgenossen wie Poggio Bracciolini, Leonardo Bruni, Flavio Biondo, Vespasiano da Bisticci, Pius II. und Paolo Cortesi den byzantinischen Gelehrten Chrysoloras stets mit der Wiederbelebung der lateinischen Redekunst in Verbindung gebracht hatten13. Natürlich lernten die vielen Schüler Chrysoloras' nicht nur griechisch von ihm und seinem Neffen Johann (der nach dem Tod seines Onkels noch einige Jahre unterrichtete), sondern sie wurden in eine reiche rhetorische Kultur eingeführt, die viel mehr umfaßte. Die historische Bedeutung Chrysoloras' liegt in seiner Förderung klassischer Studien vermittels einer Gruppe begabter Schüler, die alsbald die ersten Traktate verfaßten, in denen die Methodenlehre des Renaissance-Humanismus definiert wurde:14 Pier Paolo Vergerios De ingenuis moribus et liberalibus studiis adolescentiae (um 1402), Guarinos Übersetzung von Plutarchs Peri paidon agoges, {De liberis educandis, 1 4 1 1 ) , Brunis De studiis et litteris liber (um 142.4). Chrysoloras war die Schlüsselfigur hinter dieser beachtlichen Reihe von Lehrern in Norditalien, welche die Theorie des Humanismus in pädagogische Praxis umsetzten: Gasparino Barzizza in Padua (1407-1420), Vittorino da Feltre in Mantua (1423-1446) und Guarino in Venedig ( 1 4 1 4 - 1 4 1 9 ) , Verona (1420-1429) und Ferrara (1430-1460). Ihre Methoden und die von ihnen unterrichteten Schüler verbreiteten den Humanismus in ganz Europa. In vielerlei Hinsicht stand die byzantinische Renaissance noch immer in direktem Kontakt zur Literatur der Zweiten Sophistik (zweites bis viertes Jahrhun-

in: Lettere italiane, XVI, 1964, S. 1 - 1 4 . Roberto Weiss, Medieval and Humanist Greek: Collected Essays, Padua: Antinori 1977. Ian Thomson, »Manuel Chrysoloras and the Early Italian Renaissance«, in: Greek, Roman, and Byzantine Studies, VII, 1966, S. 63-82. Siehe auch den von Smith nicht erwähnten wichtigen Beitrag von Bolgar 1954, v. a. S. 85-88, 2 6 8 - 7 1 , 403. 23 Thomson 1966, S. 7 0 - 7 1 , zu Guarinos Würdigung von Chrysoloras als verantwortliche Person für die Wiedereinrichtung der optima studia in Italien, womit das kritische Studium der antiken Literatur gemeint war. 24 Die Traktate von Vergerlo und Bruni, ebenso des Aeneas Sylvius Piccolomini De Liberorum Educatione (1450) und Battista Guarinos De Ordine Docendi et Studendi (1459), wurden einem breiteren Publikum durch William Harris Woodward in englischer Übersetzung zugänglich gemacht in Vittorino da Feltre and other Humanist Educators: Essays and Versions. An introduction to the history of classical education, (1897), Neuausgabe Cambridge: Cambridge University Press 1 9 1 2 . Seine Übertragungen sind für heutige Begriffe manchmal zu frei. Siehe auch Eugenio Garin (Hrsg.), L'educazione in Europa (1400-1600),

Bari: Laterza 1957; in dt.

Übers, hrsg. v. Eckhard Kessler, Geschichte und Dokumente der abendländischen Pädagogik, 3 Bde., Hamburg: Rowohlt 1966.

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dert v. Chr.), die selbst erheblich von rhetorischen Verfahren durchsetzt war. Chrysoloras und sein Kreis machten die ersten Humanisten mit einer Reihe griechischer Autoren bekannt, von denen bis dahin im lateinischen Abendland niemand gehört hatte: Aelius Aristides, Libanius, Johannes Chrysostomus. Alle drei sind in Chrysoloras' eigenem Werk Vergleich des alten und neuen Rom ( 1 4 1 1 ) erwähnt - ein Buch, dem Smith, hierbei Michael Baxandall folgend/ 5 viel Gewicht beimißt - , und bald erscheinen sie in Werken italienischer Humanisten, die bei Chrysoloras studiert hatten. Die frühen Humanisten nahmen diese reiche spätgriechische Tradition nicht nur durch Nachahmung schriftlicher Vorlagen auf, sondern auch über die in den Grammatiken und rhetorischen Lehrbüchern enthaltenen Anweisungen und Übungen, die sie selbst wiederum an die Renaissance weitergaben, insbesondere die Werke von Hermogenes und Aphthonius. Die Traktate des Hermogenes wurden abgeschrieben und zirkulierten als Manuskripte. Große Teile seiner rhetorischen Theorie wurden dem einflußreichen Handbuch der klassischen Rhetorik des Georgios von Trapezunt einverleibt, den Rhetoricorum libri V (1433-34). 2 6 Nach Baxandall27 waren die wichtigsten darin enthaltenen Schriften die Progymnasmata des Hermogenes und Aphthonius, welche beispielhafte Textmodelle enthielten, chria, Fabeln, Lobreden (encomium) und insbesondere Beispiele der ekphrasis, der angeblich dem eigenen Augenschein entsprungenen Schilderung eines Gebäudes oder Kunstwerkes, die eine so große Rolle in der Kunstliteratur der Renaissance spielen sollte. Aphthonius erweiterte seinen Vorgänge^ indem er die ekphrasis mit einer ausschweifenden Beschreibung des Tempels der Serapis und der Akropolis von Alexandria exemplifizierte, mit dem Resultat, daß, wie Christine Smith anmerkt, jeder byzantinische Schuljunge die Kunst der Architekturbeschreibung studiert und eingeübt habe (S. 139-140). Die Progymnasmata des Hermogenes verbreiteten die Auffassung, daß Lobreden am besten auf Vergleichen aufbauen sollten, entweder zwischen Gleichem und Ungleichem oder Lobenswertem und Tadelnswertem,28 ein Verfah-

25 Michael Baxandall, »Manuel Chrysoloras, Guarino, and the description of Pisanello«, in: Baxandall 1 9 7 1 , S. 78-96, vgl. Smith 1992., S. 1 3 6 - 1 3 7 , 1 5 0 - 1 9 7 . 26 Vgl. John Monfasani, George ofTrebizond.

A Biography and Study of his Rhetoric and

Logic, Leiden: Brill 1976. Ders., »The Byzantine Rhetorical Tradition and the Renaissance«, in: James J. Murphy (Hrsg.), Renaissance Rhetoric. Studies in the Theory and Practice of Renaissance Rhetoric, Berkeley, Los Angeles: University of California Press 1983, S. 174-87. 27 Baxandall 1 9 7 1 , S. 85-88. 28 Die Abhandlung des Hermogenes war durch die Übersetzung des Priscian, den Praeexercitamenta (6. Jh.), gut bekannt und übte einen gewissen Einfluß auf die mittelalterliche Rhetorik aus. Vgl. Murphy 1974, S. 72, 1 3 1 . Eine interessante Arbeit zum Einfluß der Rhetorik auf die erzählerische byzantische Malerei ist Henry Maguire, Art and Eloquence in Byzantium, Princeton, NJ.: Princeton University Press 1 9 8 1 .

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ren, das in Chrysoloras' Vergleich des alten und des neuen Rom am Beispiel von Rom und Konstantinopel durchgeführt wird. In der Folge demonstriert Smith den Einfluß der byzantinischen Tradition der ekphrasis anhand Vergerios Beschreibungen von Florenz, Capodistria und Venedig und Leonardo Brunis Laudatio Florentinae Urbis (1403/04), die beide Aelius Aristides und Libanius, Autoren der Zweiten Sophistik, verarbeiten, und anderen Arbeiten von Guarino, Poggio und deren Imitatoren. Es scheint, als ob damit die Bedeutung der ekphrasis für die italienische Kunst der Renaissance nun sicher belegt wäre. 2 ' Christine Smith führt einen weiteren Punkt für Chrysoloras' Wirkung auf die frühen Humanisten an, den sie mit dem Begriff der »decompartmentalization of knowledge« einführt. Während sich im mittelalterlichen Westen die Aufteilung des Wissens in separate Disziplinen entsprechend den professionellen Interessen durchsetzte, betonte Chrysoloras die Verbindung eher als die Unterscheidung der einzelnen Lehrgebiete. Die byzantinische Tradition teilte das Lernen in zwei Bereiche, einen inneren (spirituellen) und einen äußeren (weltlichen, profanen), die als komplementär verstanden wurden. Die byzantinischen Gelehrten studierten nicht nur profane und sakrale Gegenstände parallel, es gab auch keine strengen Grenzen zwischen den einzelnen weltlichen Gebieten. Es ging nicht nur um einen ungehinderten Zugang zum Wißbaren. Wie Smith hervorhebt, brachte Chrysoloras' Unterrichtsmethode die Übertragung allgemeiner Begriffe aus einem besonderen Wissensgebiet auf ein anderes Gebiet mit sich. In seinem Vergleich wendet Chrysoloras rhetorische Kategorien stilistischer Eleganz auf die Beschreibung der Hagia Sophia an, und in einem seiner Briefe findet sich auf eine im Quattrocento einzigartige Weise der aristotelische Begriff für Wahrnehmung, fantasia, auf Kunst angewandt.30 Zu Recht betont Smith die Bedeutung, welche der byzantinischen »decompartmentalization« als Ermutigung der italienischen Humanisten zur disziplinaren Grenzüberschreitung zukomme. Allerdings übersieht sie hierbei eine viel näherliegende Inspirationsquelle, nämlich Ciceros und Quintilians Beschreibung des orator perfectus. In De oratore sagt Cicero: Niemand vermochte jemals nicht nur ohne die Beherrschung der Theorie der Rede, sondern sogar ohne ein universales Wissen eine glänzende, hervorragen-

29 Smith 1 9 9 2 , 8 . 1 5 2 - 1 5 3 , 1 7 4 - 1 7 5 , bzw. 1 7 6 - 1 8 0 , 1 8 2 - 1 9 1 . Das Ergebnis steht im Gegensatz zur Meinung von Charles Hope, der neulich bemerkte: »[...] ekphrasis did not take root in Italy [...]«, in: New York Review of Books, 5. Oktober 1995, S. 10, in der Besprechung von Patricia Rubin, Giorgio Vasari: Art and History, New Haven, CT.: Yale University Press 1995. 30 Smith 1992, S. 1 3 6 - 1 4 4 . Zur Vielseitigkeit von Chrysoloras siehe George Holmes, The Florentine Enlightenment 1400-1450, Press 1992, S. 10.

(1969), 2., rev. Aufl., Oxford, Mass.: Oxford University

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de Rolle in der Redekunst zu spielen. Denn w ä h r e n d sich die anderen Disziplinen im allgemeinen jeweils durch sich selbst behaupten, hat die kunstgerechte, d. h. die sachverständige, gescheite, wirkungsvolle Rede kein abgegrenztes Feld, v o n dessen Schranken sie umschlossen wäre. Alles, w a s in den Rahmen einer Auseinandersetzung zwischen Menschen fallen kann, muß der, der diese Fähigkeit beansprucht, kunstgerecht darstellen oder auf den Titel der Beredsamkeit verzichten. (II, i, 5) 3 1 A u c h Quintilians Institutio

Oratoria

verlangt v o m Redner eine breite Allgemein-

bildung und Vitruv übernahm das ciceronianische Ideal für die Ausbildung des Architekten. 3 1 Chrysoloras, so könnte man sagen, hielt sich treu an das alte Ideal der Redekultur, indem er in Theorie und Praxis eine Haltung vertrat, die w i r heute als interdisziplinär bezeichnen würden. Z w e i f e l l o s w u r d e diese Lektion an die von ihm beeinflußten Humanisten weitergegeben. In De ingenius

erklärte z. B.

Vergerio, der nach einigen inspirierenden Studienjahren bei Chrysoloras nach Padua zurückgekehrt war, daß w i r einen Gegenstand nicht richtig verstehen können, wenn w i r nicht seine Beziehung zu allem Übrigen erkennen. 3 3 Alberti erhielt den ersten Z u g a n g zu diesen neuen Positionen des RenaissanceH u m a n i s m u s durch seinen Lehrer Gasparino Barzizza ( 1 3 6 0 - 1 4 3 0 ) . 3 4 Barzizza

3 1 Die deutsche Übersetzung nach Marcus Tullius Cicero, De oratore. Über den Redner. Lateinisch und Deutsch, übers, u. komm. v. Harald Merklin, Stuttgart: Reclam 1 9 7 6 , S. 209. 32 Vgl. Vitruv, De architectura libri decern. Zehn Bücher über die Architektur,

übers, v.

Curt Fensterbusch, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1 9 6 4 , 1 , i, 1 - 1 8 . Der Architekt soll »im schriftlichen Ausdruck gewandt sein, des Zeichenstifts kundig, in der Geometrie ausgebildet sein, mancherlei geschichtliche Ereignisse kennen, fleißig Philosophen gehört haben, etwas von Musik verstehen, nicht unbewandert in der Heilkunde sein, juristische Entscheidungen kennen, Kenntnisse in der Sternkunde und vom gesetzmäßigen Ablauf der Himmelserscheinungen besitzen.« (I, i, 9) Dies sei nicht unmöglich, weil »alle Wissenschaftszweige unter sich sachlich miteinander in Verbindung stehen und etwas Gemeinsames haben [...]. Enzyklopädische Bildung ist nämlich als ein einheitlicher Körper aus diesen Gliedern zusammengesetzt.« (I, i, 12.) 33 Vergerio in der Übers, v. Woodward 1 8 9 7 / 1 9 1 2 , S. 109. 34 Die nützliche und bislang umfassendste Studie von R. G. G. Mercer, The Teaching of Gasparino Barzizza. With Special Reference to his Place in Paduan Humanism, London: Modern Humanities Research Association 1 9 7 9 , betont zu stark die Verbindung Barzizzas zur mittelalterlichen Lehrtradition. Mercer irrt sich auch in mehreren Zuschreibungen von Werken an Barzizza. Vgl. G. W. Pigman III, »Barzizza's Studies of Cicero«, in: Rinascimento,

Seconda

Serie, X X I , 1 9 8 1 , S. 1 2 3 - 1 6 3 , bes. S. 1 2 5 - 1 2 8 ; zu Barzizza s. a. Paul F. Grendler, Schooling in Renaissance Italy. Literacy and Learning Press 1989.

1300-1600,

Baltimore: Johns Hopkins University

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hatte an der Universität von Pavia studiert, wo er von 1403 bis 1407 Vorlesungen über Grammatik und Rhetorik hielt. Später ging er nach Padua, lehrte dort Grammatik und Rhetorik und las über die »moralischen« Autoren Seneca, Cicero, Valerius Maximus, Vergil und Terenz.35 Nach diesem Aufenthalt von 1407 bis 1 4 2 1 kehrte er nach Pavia zurück, um bei der Edition der neuentdeckten rhetorischen Werke Ciceros zu helfen. In dieser Zeit hielt er auch Vorlesungen an der Universität Bologna. Typischerweise erteilte er wie viele andere der frühen Humanisten neben seiner Tätigkeit für die Universität auch Grundschulunterricht. In Padua eröffnete er seine eigene Internatsschule, die er nach der griechischen Bezeichnung für eine öffentliche Schule gymnasium nannte, mit etwa fünfzehn bis zwanzig Schülern im Alter zwischen sieben und fünfzehn Jahren, die drei bis fünf Jahre blieben.36 Alberti studierte bei ihm im Alter von elf bis vierzehn Jahren. Unter seinen Mitschülern waren Francesco Filelfo und Georgius von Trapezunt, die später bedeutende Humanisten werden sollten. Neben diesen unterrichtete Barzizza auch andere berühmte Humanisten wie Francesco Barbaro, Pier Candido Decembrio, Antonio Beccarelli (Panormita) und Antonio da Rho. 37 Der außerordentlich kenntnisreiche und eifrige Philologe Barzizza gehörte zu den Schulmeistern, die humanistische Gelehrsamkeit für die Grundschule aufbereiteten. Es ist möglich, daß er Chrysoloras in Pavia und anderswo in der Lombardei getroffen hat (1400-1403), sicher aber war er wie dieser vom inneren Zusammenhang aller Disziplinen jenseits der formalen Unterscheidung ihrer Gegenstände überzeugt. Indem er die neue humanistische Konzeption einer Grammatik als Eingangstor zum Verständnis der Autoren entfaltete, machte er daraus einen sowohl an sich wie auch hinsichtlich des zu erwartenden Humanisierungseffekts sinnvollen, eigenständigen Studiengang. Wie andere Humanisten, die dem Beispiel folgten, das im vorangehenden Jahrhundert Petrarca und Coluccio Salutati gegeben hatten, sammelte und borgte auch Barzizza möglichst viele Manuskripte jener Texte, an denen er gerade arbeitete, und ließ sich von seinen Repetitoren und älteren Studenten beim Kopieren und Kollationieren helfen.38 Er konnte deswegen so leicht vom Universitäts- zum Elementarunterricht wechseln,

35 Mercer 1979, S. 25-27, 3 9 - 4 1 · 36 Mercer 1979, S. 44, 106. Grendler 1989, S. 1 3 1 . 37 Mercer 1979, S. 1 2 1 - 1 2 4 , 1 3 2 - 1 3 3 . 3 8 Die klassische Studie ist immer noch Remigio Sabbadini, Le scoperte dei codici latini e greci ne' secoli XIVe XV, 2 Bde., (1905), 3., rev. Aufl., hrsg. ν. Eugenio Garin, Florenz: Sansoni 1967. Vgl. auch Phyllis W. G. Gordan, Two Renaissance Book Hunters. The Letters of Poggius Bracciolini to Nicolaus de Niccolis, New York: Columbia University Press 1974, S. 2 1 7 , 228-229, über Albertis Umgang mit diesem Kreis von humanistischen Sammlern.

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weil er in beiden Bereichen dasselbe tat, wie R. G. G. Mercer festgestellt hat: Barzizzas Haus war eine Art Institut für klassische Studien und als solches wohl das erste seiner Art. Es war Schule, Bibliothek und Schreibstube in einem und ein Treffpunkt für Diskussionen und Debatten.39 In der Schule wurden ständig Bücher ausgeliehen und kopiert, die Studenten konnten ihre Fähigkeiten im Kollationieren von Manuskripten üben und Kenntnisse in Orthographie und Interpunktion erwerben. Barzizza kaufte nicht nur selbst viele Bücher und trug so eine der damals größten Bibliotheken zusammen, er half auch anderen beim Büchererwerb, so daß sein Haus allmählich ein Zentrum des Buchhandels in Nordostitalien wurde. Barzizzas Spezialgebiet war Cicero. Weitherum wurde er als der beste CiceroKenner seiner Tage gefeiert.40 Er plante eine Ausgabe sämtlicher Schriften Ciceros, und die überlieferten Manuskripte belegen Jahre akribischer Textarbeit, die besonders im Fall von De oratore und Orator frustrierend war, da man hiervon nur sehr unvollständige Versionen kannte. Die Jahre, während denen Barzizza in Padua lehrte - in diese Zeit fiel auch Albertis Studium bei ihm -, sahen die krönende Erfüllung der von Petrarca und Salutati einst begonnenen Suche nach klassischen Manuskripten. Im Juli 1 4 1 6 hatten Poggio Bracciolini und einige Humanistenkollegen, gelangweilt von den Verhandlungen auf dem Konstanzer Konzil, ihre Jagd nach alten Manuskripten im nahegelegenen Kloster von St. Gallen fortgesetzt und in dessen Bibliothek einen vollständigen Text der Institutio oratoria Quintilians und einen Kommentar des Asconius zu Ciceros Reden gefunden, zwei epochale Entdeckungen, die auf enormes Interesse stießen. Nur drei Tage nach der Entdeckung war Barzizza am Konzil von Konstanz zugegen und dürfte sofort davon erfahren haben. Er erhielt 1 4 1 7 eine Kopie des Quintilian, die er »täglich« benutzte und kurz danach eine des Asconius-Textes.4' Eine noch aufregendere Entdeckung gelang Bischof Gerardo Landriani 1 4 2 1 in der Kathedrale von Lodi: Er fand einen Codex mit Ciceros Rhetorica, der die vollständigen Texte von De oratore und Orator enthielt, ebenso den bislang unbekannten Brutus, De inventione und die pseudo-ciceronianische Rhetorica ad Herennium. Landriani sandte die Texte 1 4 2 1 unverzüglich an Barzizza, der gerade nach Pavia zurückgekehrt war und bei der Edition dieser lange gesuchten und nun endlich gefundenen Schriften half - zweifellos die größte Befriedigung, die ein CiceroForscher erfahren konnte.42 Albertis Aufenthalt in Barzizzas Internat (zwischen 1 4 1 5 und 1 4 1 8 ) fiel mit der Entdeckung des vollständigen Quintilian zusammen, und in der offenen At39 Mercer 1979, S. 108. 40 Mercer 1979, S. 7 2 - 7 3 . Pigman 1 9 8 1 , S. 1 2 3 - 1 2 4 . 41 Mercer 1979, S. 52-53. Pigman 1 9 8 1 , S. 134. 42 Mercer 1979, S. 74. Pigman 1 9 8 1 , S. 1 2 3 .

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mosphäre und bei dem gängigen Wissensaustausch der Schule mußte er aus erster Hand davon erfahren haben. Er könnte den Text damals gelesen haben, denn Barzizza nahm ihn in den rhetorischen Syllabus auf.43 Mit Sicherheit kannte er die Schrift später. Alberti war zweifellos durch die zentrale Rolle, die Cicero im Lehrplan einnahm, beeinflußt, denn Barzizza lehrte dessen gesamtes Werk, wobei er dem Text De officiis besondere Aufmerksamkeit widmete. Jahrelang bemühte er sich, alte Kommentare zu erhalten und versuchte, einen eigenen zu verfassen.44 Barzizza schrieb auch eine Biographie Ciceros, die weit positiver ausfiel als Leonardo Brunis Cicero novus,4S und er war einer der ersten Humanisten, der Ciceros Reden im Lehrplan behandelte. Jeder an seinem Gymnasium mußte auch von Poggios anderen Entdeckungen wissen. 14x5 fand er zwei bislang unbekannte Reden (Pro Roscio Amerino und Pro Murena) und 1 4 1 7 acht weitere, darunter Pro Caecina, Pro Roscio Comoedo und In Pisonem.4é Obwohl anscheinend bisher Albertis Kenntnis der antiken Autoren noch nicht systematisch untersucht wurde, ist seine Verpflichtung gegenüber Cicero überall sichtbar.47 Wir wissen, daß er mehrere ciceronianische Texte besaß, denn in der Bibliothek von San Marco befinden sich mehrere Kopien von Ciceros Brutus, De senectute, De amicitia und Paradoxa Stoicorum, die bei Albertis Tod von Kardinal Bessarion erworben und der Bibliothek geschenkt wurden.48 In Albertis früher Schrift De commodis litterarum atque incommodis (um 142.9) findet man Zitate aus De senectute, De amicitia, De finibus, De natura deorum, De inventione und aus den Gesprächen in Tusculum,49 Giuseppe Beretta hat die Bedeutung von De officiis für Albertis späten Dialog über die Moral De Iciarchia

43 Mercer 1979, S. 92-93. 44 Mercer 1979, S. 80-81. Pigman 1 9 8 1 , S. 1 3 6 - 1 3 9 . 45 Pigman 1 9 8 1 , S. 1 3 3 - 1 6 3 . 46 Mercer 1979, S. 93. Grendler 1989, S. 122.. 47 Bialostocki bemerkte beiläufig, daß nahezu jeder Autor auf die Beziehungen zu Cicero verweise. Eine umfassendere Untersuchung wäre verdienstvoll. Jan Biaiostocki, »The Power of Beauty. A Utopian Idea of Leone Battista Alberti«, in: Studien zur toskaniscben Kunst. Festschrift für Ludwig Heinrich Heydenreich, hrsg. v. Wolfgang Lötz, Lise Lotte Möller, München: Prestel 1964, S. 1 3 - 1 9 . 48 M. Barry Katz, Leon Battista Alberti and the Humanist Theory of the Arts, Washington, D.C.: University Press of America 1 9 7 8 , S. 2 1 , nach Giuseppe Saitta,

L'educazione

dell'Umanesimo in Italia, Venedig: La Nuova Italia 1928, S. 5 1 . Über Albertis Besitz von Brutus (Marciana, cod. lat. XI. 47 (3859)) siehe Girolamo Mancini, Vita di Alberti, (1882, 2., rev. Ausg. 1 9 1 1 , Reprint 1967), Neuausgabe Florenz: Sansoni 1982, S. 73, Anm. 2. Fubini, Gallorini, 1972, S. 27, η. ζ. Für Orator siehe Mancini 1982, S. 69, Anm. 3. 49 Zu diesem und anderen moralphilosophischen Werken Albertis vgl. Cecil Grayson, »The Humanism of Alberti«, in: Italian Studies, XII, 1957, S. 37-56.

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(1496) dargelegt,50 und ähnliche Resultate könnten Untersuchungen von Albertis anderen moralphilosophischen Arbeiten zeitigen, des Teogenio (1434) und der Profugiorum ab aerumna libri ( 1 4 4 1 - 1 4 4 2 ) , früher bekannt als Della tranquillità dell'animo.5I Wenn Alberti auch den üblichen Querschnitt der klassischen Autoren zitiert, so spricht vieles doch entschieden für eine besonders starke Prägung seiner intellektuellen Entwicklung durch Cicero. Ciceros Ideal der Versiertheit im gesamten Wissensspektrum, das so deutlich in De oratore formuliert wird und dem auch Chrysoloras und seine Nachfolger anhingen, wurde von Alberti sicherlich erfüllt. Vielseitigkeit wird ihm schon von Zeitgenossen bescheinigt. Poggio nennt ihn 1437 einen Mann mit außergewöhnlicher Begabung, und 1438 schreibt ihm Lapo da Castiglioncho bereits die Merkmale eines Universalgenies zu: Welchem Gebiet auch immer er sich zuwende, alsbald übertreffe er leicht und schnell alle anderen.51 Solche Würdigungen brachten Jacob Burckhardt dazu, die Renaissance als das Zeitalter der vielseitigen Männer zu beschreiben; über »diese Vielseitigen aber«, so schreibt Burckhardt, »ragen einige wahrhaft Allseitige hoch empor« - insbesondere Alberti. Burckhardt schildert kurz dessen Fähigkeiten in Gymnastik, Reiten, Musik, Malerei, Model50 Giuseppe Beretta, »L'Ideale etico Albertiano nel De Iciarchia e il De Officiis di Cicerone«, in: Miscellanea di Studi Albertiani, a cura del comitato genovese per le onoranze a Leon Battista Alberti nel quinto centenario della morte, Genua: Tilgher-Genova 1975, S. 9-34. 51 In der Tat werden jedem, der dieses Werk liest und Ciceros Tusculanae disputationes kennt, sofort die zahlreichen Ähnlichkeiten ins Auge fallen. Albertis Grundauffassung der Seelenregungen, die er perturbazione

nennt, ist offensichtlich aus einer Passage in Buch IV der

Tusculanae hergeleitet, in der Cicero seine Ablehnung des griechischen Begriffs der Beunruhigungen der Seele (pathe) wiederholt. In Buch III verwendet er das lateinische Wort aegritudo (II, χ, 2zff), doch zieht er perturbationes vor und unterscheidet deren vier, zwei erwartungsgemäß gute, in Gegenwart und Zukunft, libido und laetitia, und zwei erwartungsgemäß schlechte, ebenfalls in Gegenwart und Zukunft, metus und aegritudo (IV, v, 10-ix, 22). Alberti verwendet nur einen Teil dieser Klassifikation, doch wiederholt sie sich, wie Giovanni Farris gezeigt hat, in dem Stück der Intercoenales mit dem Titel Religio. Für Profugiorum ab aerumna siehe: Leone Battista Alberti, Opere volgari, hrsg. v. Cecil Grayson, II, Bari: Laterza 1966, S. 1 7 3 - 1 8 3 . [s. jetzt auch Leon Battista Alberti, Profugiorum ab aerumna libri, hrsg. ν. Giovanni Ponte, Genua: Tilgher 1988.] Vgl. Giovanni Farris, »Su >Religio< e >Templum< in Leon Battista Alberti«, in: Miscellanea di Studi Albertiani, S. 9 7 - 1 1 1 , S. 1 0 0 - 1 0 1 . Eine nützliche Übersetzung der Intercoenales hat David Marsh vorgelegt: Leon Battista Alberti, Dinner Pieces. A translation of the Intercoenales, übers, v. David Marsh, (Medieval & Renaissance Texts &C Studies, 45), Binghamton, New York: State University of New York 1987. Allerdings bin ich völlig anderer Meinung als Marsh, der behauptet: »Alberti's Latin writings often challenge the Ciceronian view of moral philosophy which was central to Renaissance humanism« und »Alberti often subverts this tradition« (S. 7). Die zitierten Belegstellen sind trivial. 52 Holmes 1969/1992, S. 85-86.

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lieren, Dichtkunst, Mathematik und Architektur und faßt alles in einem Ausdruck zusammen, der ein Widerhall jenes ciceronianischen Ethos ist, das die Pflicht beinhaltet, Wissen zu teilen und weiterzugeben: Und alles, was er hatte und wußte, teilte er [sc. Alberti], wie wahrhaft reiche Naturen immer tun, ohne den geringsten Rückhalt mit und schenkte seine größten Erfindungen umsonst weg.53 Albertis Allround-Talent ist in neuerer Zeit sowohl gefeiert wie auch geschmäht worden. George Holmes beschreibt ihn als »Polymath«, der unter anderem der Theoretiker einer neuen »Schule künstlerischen Realismus'« gewesen sei, und als »das größte literarische Genie seiner Zeit«. 54 Arthur Field zitiert Burckhardts Eloge über Alberti als Universalmensch, aber eher in spöttischem Sinn. Er bevorzugt Manetti, in dem er eher den vielseitigen Menschen verkörpert sieht. Anders als der uomo universale Alberti habe Manetti keine Traktate über Malerei geschrieben, sei kein Architekt gewesen und habe nicht aus dem Stand über Pferde springen können.55 Noch mißgünstiger ist Martin Gosebruch, der Alberti Fähigkeiten in den »demonstrativen Wissenschaften« wie Mathematik, Geometrie, Musik, Perspektive, Architektur zugesteht, ihn aber im Bereich der »naturwissenschaftlichen Fakten«, vor allem in der »Erfassung der Prinzipien«, gering achtet. Im Vergleich mit Leonardo, der stets der Funktion der Dinge auf den Grund gegangen sei, habe Alberti ein oberflächliches Verhältnis zur Natur gehabt. Ein uomo vario, nicht universale, wie für Leonardo zu gelten hätte.56 Wir können diese Kritiker, die Alberti zu seinem Nachteil mit anderen außergewöhnlichen Personen vergleichen, bedenkenlos beiseite legen. Es ging hier lediglich um den Nachweis, daß Albertis Bereitschaft, in jeder Epoche seines Lebens ein neues Wissensgebiet anzugehen, die Erfüllung des im Quattrocento wiederbelebten Ideals der Offenheit gegenüber allen Disziplinen bedeutete, die in der ciceronianischen Rhetorik gelehrt wurde. Wie Alberti selbst einmal sagte: »Nichts ist zu schwierig, als daß nicht Fleiß und Entschlossenheit es bezwingen könnten.«

53 Jacob Burckhardt, Die Kultur der Renaissance in Italien. Ein Versuch (i860), JacobBurckhardt-Gesamtausgabe, V, hrsg. v. Werner Kaegi, Basel: Schwabe 1930, S. 1 0 1 - 1 0 3 . j 4 Holmes 1969/1992, S. xviii-xix, 8 j . 55 Field 1988, S. 66. Die Ausfälle Fields gegenüber Alberti sind jedoch gelegentlich wenig stichhaltig. 56 Martin Gosebruch, »>Varietà< bei Leon Battista Alberti und der wissenschaftliche Renaissancebegriff«, in: Zeitschrift für Kunstgeschichte, X X , 1 9 5 7 , S. 229-238, zit. S. 235.

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II Wenn wir nun auch zuversichtlicher sein dürfen, daß wir einer Rekonstruktion von Albertis intellektuellem Kontext im frühen Humanismus nähergekommen sind, so besteht dennoch keinerlei Anlaß zur Annahme, die Aufgabe sei bereits erfüllt. Zweifellos werden spätere Zeiten manche Lücke finden und die Dinge in anderer Weise beschreiben. Auf der Basis unseres verfügbaren Wissens möchte ich aber einige neuere Forschungsergebnisse anhand von drei Stichworten zu Themen zusammenfassen, die mir für eine gesonderte Diskussion interessant erscheinen: Funktionalität, Eklektizismus und Einheit. Mit Funktionalität meine ich das weite Feld der von den Humanisten selbst formulierten Ziele des Lernens und Lehrens. Ich möchte darlegen, daß Albertis Sinn für Zweckmäßigkeit auf dem vor allem von Cicero zum Ausdruck gebrachten Gedanken einer Vita activa aufbaut. Mit Eklektizismus beziehe ich mich auf die Basismethode des Renaissance-Humanismus. Schon in der Schule begann man das Führen eines Notizbuches zu üben, doch während des ganzen Lebens eines Gelehrten wurde das fortwährende Sammeln von Zitaten und Auszügen in der Absicht weitergepflegt, das Gesammelte wiederverwenden zu können. Unter dem Begriff Einheit schließlich möchte ich die Kriterien ansprechen, gemäß denen Schriftstellen, und in Erweiterung des Arguments auch Künstler und Architekten, ihre Anleihen von klassischen Vorbildern absichtsvoll in einem Ganzen vereinigten. Die Auffassung der Renaissance bezüglich der Verpflichtung des Einzelnen zur Vita activa innerhalb der Gemeinschaft, der Pflege der Tugenden und dem Einsatz seiner Kräfte zum Wohl der Mitmenschen, hatte eine Vielzahl von Quellen und Vorbildern,57 doch keine war gängiger als Ciceros De officiis.58 Leonardo Bruni, berühmt für seine Übersetzung der Nikomachischen Ethik des Aristoteles, erklärte, das beste System der Ethik könne man bei Aristoteles finden und ihre beste Darstellung bei Cicero.59 Dieser vergleichenden Wertung schloß sich Poggio Bracciolini an, der feststellt, er habe stets Ciceros De officiis nützlicher für die Umsetzung im Leben erachtet als die Ethik des Aristoteles. Aristoteles gebe Definitionen der Tugenden, indem er untersuche, was sie seien und in welche Teile sie zu gliedern seien. Cicero bringe die Tugenden selbst auf das Schlachtfeld, stelle sie in die Frontlinien und lasse sie sprechen und uns belehren. Er schla-

57 Eine gute Übersicht bei Garin 1966. Zur neueren Forschung Brian Vickers (Hrsg.), Arbeit, Musse, Meditation. Studies in the Vita activa and Vita contemplativa, (1985), 2., rev. Aufl., Zürich: Verlag der Fachvereine 1 9 9 1 , mit erweiterter Bibliographie, S. xvii-xxii. 58 Hierzu vgl. die bahnbrechende Studie von Paul Mackendrick, The Philosophical of Cicero, London: Duckworth 1989, S. 2 3 2 - 5 7 , Index S. 395. 59 Leonardo Bruni, Epistolae, VI, vi., frei nach Holmes 1969/1992, S. 1 1 2 .

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ge eine Lebensform vor und biete Regeln, er sage uns, was Tugend gestatte und verbiete, was die Pflicht eines guten Menschen sei. Damit halte er uns in unseren Handlungen zur Beachtung von Lebensregeln an, so daß wir bis zu einem gewissen Grad im Besitz von Tugenden zu sein scheinen.60 In ähnlicher Weise empfahl Baptista Guarino in seinem Buch De ordine docendi et studendi (1455), das er selbst als eine Zusammenfassung der Theorie und Praxis mehrerer Gelehrter, insbesondere seines Vaters Guarino Veronese beschreibt, für den Schulgebrauch die Ethik des Aristoteles und die platonischen Dialoge als notwendige Hilfe zum richtigen Verständnis von Cicero - eine Rangordnung der genannten Autoren, die dem Werturteil der frühen Humanisten durchaus entspricht. Von allen Werken Ciceros, so schreibt Guarino, habe ihn keines persönlich so angezogen wie De officiis und die Tusculanae disputationes. Das erste bespreche alle wichtigen Aufgaben des Lebens, das zweite breite eine Fülle an Wissen aus und sei sowohl hinsichtlich des Materials wie auch der Ausdrucksweise für jeden modernen Schriftsteller äußerst wertvoll.61 Cicero behandelt in den drei Büchern De officiis zunächst das »Richtige« (honestas) und dann das »Nützliche«, um im dritten Teil den Konflikt beider aufzulösen - ein Konflikt, der nur scheinbar besteht, denn das Gute und das Nützliche erweisen sich als identisch (III, iii, 1 1 ) . Wie in seinen anderen philosophischen Werken gründet Cicero seine Diskussion der gesellschaftlichen Pflichten auf eine Definition des Menschen als durch Vernunft und Sprache von anderen unterschiedenem Lebewesen. Beide Gaben wären Voraussetzungen für die Bildung sozialer Gruppen, beginnend mit der Familie. Innerhalb dieser Gruppen lernt der Einzelne, daß er nicht nur für sich allein zu sorgen habe, sondern für die Gemeinschaft, der er verbunden ist. Diese Verantwortlichkeit rege seinen Mut an und stärke ihn für die praktischen Aufgaben des Lebens (I, iv, 1 1 - 1 2 ) . Die anderen Wesensmerkmale des Menschen, Streben nach Wahrheit und Ehrgefühl, fördern die Erlangung und Umsetzung einer moralischen Haltung. Aber zusätzlich habe der Mensch allein ein Gefühl für Schönheit. Zum Thema des decorum, das im ganzen ersten Buch eine wichtige Rolle spielen wird, schreibt Cicero: Erst recht nicht gering ist jene Kraft seiner Natur und Vernunft, daß dieses Lebewesen allein empfindet, was Ordnung ist, was es ist, was sich ziemt [quod deceat], was das Maß in Taten und Worten. Daher empfindet schon bei dem, was durch den Anblick wahrgenommen wird, kein anderes Lebewesen Schönheit [pulchritudo], Anmut [venustas] und Harmonie der Teile [convenientiam partium]. Die Ähnlichkeit hierin überträgt seine Natur und Vernunft von den

60 Poggio Bracciolini, De varietate fortunae, hrsg. v. D. Georgius, Paris 1 7 2 3 , S. 26-32, zitiert frei nach Holmes 1969/1992, S. 1 1 8 . 61 Nach der englischen Übersetzung von Woodward 1 8 9 7 / 1 9 1 2 , S. 1 6 1 , 1 7 2 .

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Augen auf den Geist, glaubt, daß noch viel mehr Schönheit, Beständigkeit, Ordnung in Entschlüssen und Taten gewahrt sein müsse und hütet sich, etwas unschön oder weibisch auszuführen, denn überhaupt in allen Vorstellungen und Taten etwas zügellos zu tun oder zu denken. (I, iv, 14) 62 Wie so manche ethische Abhandlung entfaltet sich Ciceros Traktat als ein System von Geboten und Verboten, Belohnungen und Strafen, was von Poggio und zweifellos auch von anderen Lesern wegen der direkten Anwendbarkeit im Leben begrüßt wurde. Obwohl Cicero in konventioneller Weise feststellt, die Tugend habe ihren Lohn in sich, so pflichtet er - inkonsequenterweise - mehrmals der gängigen Ansicht bei, daß Tugend üblicherweise durch Ruhm belohnt werde (z. B. I, xviii, 61; xix, 64-65). Die von allen Menschen zu erstrebende moralische Redlichkeit könne unterteilt werden in die vier Kardinaltugenden (Klugheit, Gerechtigkeit, Stärke, Mäßigung). Sämtliche habe man sich nicht nur in der Theorie anzueignen, sodern es sei deren tägliche Umsetzung in der vita activa gefordert. Ciceros Erörterung der Klugheit, aus der zuallererst Pflichterfüllung hervorgeht, ist sehr kurz, doch werden einige fundamentale Lehrsätze formuliert. Nach Wahrheit zu streben sei der menschlichen Natur wesentlich, und es sei ruhmbringend, darin zu glänzen, vorausgesetzt man widmet sich Problemen, die moralisch richtig gestellt sind und deren Lösung sinnvoll ist (I, vi, 18-19). Sogar in der Ausübung so nützlicher Disziplinen wie Astronomie und Mathematik oder in der Beschäftigung mit dem bürgerlichen Recht soll das Studium nicht von der vita activa wegführen, denn dies wäre entgegen der moralischen Verpflichtung; alles Lob nämlich der Tugend besteht im Handeln [...]. Jegliches Denken aber und jede Bewegung des Geistes wird sich entweder im Fassen von Entschlüssen über ehrenhafte und sich auf rechtes und glückliches Leben erstreckende Dinge (pertinentibus ad bene beataeque vivendum) oder im Bemühen um Wissen und Erkenntnis sich bewegen. (I, vi, 19) Unser wichtigstes Ziel im Leben müsse es sein, innerhalb der Gemeinschaft eine Tätigkeit zu finden, die unseren Fähigkeiten entspricht, wobei jedoch stets das Wohl der anderen zu beachten sei, wie Cicero in einem der meistzitieren und oft wiederholten Abschnitte formulierte: Aber da ja, wie von Piaton vortrefflich geschrieben wurde, wir nicht nur für uns geboren wurden und einen Teil unserer Existenz das Vaterland beansprucht, einen Teil die Freunde, und, wie es den Stoikern gefällt, alles was auf

62 Die Zitate aus De officio nach Marcus Tuilius Cicero, Vom rechten Handeln [De officio). Lateinisch und Deutsch, übers, v. Karl Büchner, (Sammlung Tusculum), 3., erw. Aufl., München, Zürich: Artemis 1987.

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Erden entstünde, zum Gebrauch der Menschen erschaffen werde, die Menschen aber um der Menschen willen geschaffen seien, daß sie sich selber untereinander zu nützen vermöchten, die einen denen, die anderen jenen, so müssen wir hierin der Natur als Führerin folgen, den allgemeinen Nutzen in die Mitte rücken, durch Austausch von Pflichten, durch Geben und Nehmen, dann durch Künste, durch Arbeit, durch Fähigkeiten die Gesellschaft der Menschen untereinander fest verknüpfen. (I, vii, 2.2.) Cicero entwickelt seine Auffassung der Tugenden als der Gemeinschaft nützliche Tätigkeiten durch eine Mischung positiver und negativer Argumente. Unter den gelobten Tugenden sind: Großzügigkeit, vorausgesetzt, daß sie im Rahmen der eigenen Mittel bleibt und im Verhältnis zu den Verdiensten des Empfängers steht (I, xiv, 42), das Gegenstück Dankbarkeit (I, xv, 47-49), weiter Vaterlandsliebe, denn kein wahrer Mann würde zögern, sein Leben hinzugeben, wenn er dadurch dem Vatarland einen Dienst erweisen könnte (I, xvii, 57-58; xxiv, 83-84), außerdem Stärke: wer über sie verfügt, kann gegenüber dem Schicksal gleichgültig sein, sich auf seine eigene Kraft verlassen (I, xx, 67-68), am öffentlichen Leben teilnehmen (I, xx, 69-xxi, 73) und in Mäßigkeit leben, womit die Beachtung des decorum oder Angemessenheit eingeschlossen ist, ein Prinzip, das von moralischer Redlichkeit untrennbar sei (I, xxvii, 93-xxvii, 101), die Vernunft gebrauchen, um die Leidenschaften zu beherrschen (I, xxvii, 1 0 1 - x x i x , 104) - und insbesondere soll man sich hüten, der sinnlichen Lust anheimzufallen, wie das Vieh und andere Tiere, denn die Seele des Menschen werde durch Studium und Nachdenken genährt (I, xxx, 105-106). Schließlich soll man die einzuschlagende Laufbahn an die eigenen Fähigkeiten, ebenfalls ein Aspekt des decorum (I, xxx, 107-xxxiii, 1 2 1 ) , anpassen. Decorum erweist sich in der Tat als ein zentrales Konzept sozialer Tugendhaftigkeit, denn jeder Altersstufe sind entsprechende Pflichten zugeordnet, wie dies auch bei den verschiedenen öffentlichen Ämtern der Fall ist (I, xxxiv, 1 2 2 - 1 2 5 ) . Angemessenheit muß in der Beherrschung des Körpers beachtet werden, in äußerer Erscheinung und innerer Selbstkontrolle, und sie muß in der Sprache umgesetzt werden, sei es in einer förmlichen Rede oder in einer alltäglichen Konversation (I, X X X V , 126-xxxviii, 137). Cicero behandelt das decorum ebenfalls, sofern es die Erscheinung von Männern und Frauen betrifft: Da es aber zwei Arten von Schönheit gibt, in deren einer die Anmut (venustas), in deren anderer die Würde liegt, (dignitas), müssen wir die Anmut für Eigenschaft der Frau, die Würde für Eigenschaft des Mannes halten. Also soll von seiner Gestalt ferngehalten werden jeder des Mannes nicht würdige Schmuck, und in Gebärde und Bewegung soll man sich vor ähnlichem Fehler hüten. (I, xxxvi, 130)

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Wie schon dieser schnelle Überblick zeigt, erweitert Cicero die Reichweite des decorum schrittweise in seiner Abhandlung bis hin zur Rolle des Individuums in der Gesellschaft, zu Fragen der Kleidung und sogar bis zur Frage, was für ein Art von Behausung ein Mann von Rang und Position haben soll. Bedenkt man die Betonung der Nützlichkeit in der gesamten Abhandlung, so kann nicht erstaunen, daß auch hier als erstes Kriterium Benutzbarkeit, d. h. der Gebrauch des Hauses angegeben wird. »Auf ihn ist der Bauplan abzustellen. Doch muß man auch Sorgfalt auf Bequemlichkeit und Würde legen.« Ein Palast könne durchaus der Würde eines Herrn dienen, doch sei nicht der Herr durch einen Palast zu adeln, sondern der Palast solle durch seinen Herrn Würde erhalten (I, xxxix, 1 3 8 - 1 3 9 ) . Der tugendhafte Mann habe Übertreibung zu meiden, dennoch müße aber das Haus geräumig sein, wenn er beabsichtigt, Gäste zu beherbergen. Nach dieser Feststellung gibt Cicero eine Reihe von Regeln zum decorum: Schätze sorgfältig die Bedeutung eines Gegenstandes ein, den du erlangen willst; tue das Richtige zur richtigen Zeit; sei stets bereit, deine Fehler zu verbessern. (I, xxiv, 1 4 1 - x l i , 147) Abschließend vergleicht er die vier Tugenden hinsichtlich ihres Wertes, wobei er an erste Stelle die Gerechtigkeit setzt, gefolgt von Klugheit und deren Dienerinnen Stärke und Mäßigkeit (I, xliii, 152-xliv, 160). Von der negativen Seite her argumentierend verurteilt Cicero alle Formen menschlichen Verhaltens, die die genannten Ziele verstellen könnten: Das Verlangen nach Lust (I, ii, 5), jede Handlung, die uns vom aktiven Leben wegführt (I, vi, 19; xxi, 71), Ungerechtigkeit, Geiz und Ehrgeiz (I, vii, 23-28), Trägheit (I, ix, 28). Viele dieser Laster können unter dem allgemeinen Verbrechen der Selbstsucht zusammengefaßt werden, ein Fehler, den zu verurteilen Cicero niemals unterläßt: Es gibt auch welche, die im Eifer, ihr Vermögen zu erhalten, oder aus einer Art Menschenhaß sagen, sie kümmerten sich um ihre Sache, und niemandem Unrecht zu tun scheinen. Die sind frei von der einen Art Ungerechtigkeit, in die andere laufen sie hinein. Sie verraten nämlich die Gemeinschaft des Lebens, weil sie nichts an Eifer, nichts an Mühe, nichts an Fähigkeiten zu ihr beitragen. (I, ix, 29) Andere Formen eigensüchtigen Verhaltens, die Vertrauen verletzen und das Zusammenwirken verschiedener Arbeitsbereiche stören, sind Betrug (I, ix, 33), Heuchelei (I, xiii, 41), Egoismus (I, xix, 62-64; x x v > 87), Rachsucht und Zorn (I, XXV, 88-89). Da soziales Verhalten als dem Menschen natürlich gegeben dargestellt wurde, müssen alle diese Verhaltensweisen als unnatürlich erscheinen, da sie nicht nur der Gemeinschaft schädlich sind, sondern auch dem Individuum, das sich ihrer schuldig macht. Es folgt daraus, daß es keine Alternative zum Le-

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ben in Gemeinschaft gibt. Welches vorübergehende Vergnügen ein Mensch, indem er aus der Gemeinschaft aussteigt, auch immer gewinnen möge, wäre die Einsamkeit so vollständig, daß er kein menschliches Wesen mehr zu Gesicht bekäme, dann würde er sterben (I, xliii, 1 5 3 ) . Selbst eine angenehme Isolation, die es einem Menschen ermöglichte, sich ausschließlich der Gelehrsamkeit zuzuwenden, würde sich bald als unerträglich erweisen. Auch ein solcher Mensch würde seiner Einsamkeit zu entfliehen suchen und jemanden finden, der mit ihm studieren würde; er würde zu unterrichten ebenso wie zu lernen wünschen, zu hören ebenso wie zu sprechen (I, xliiii, 158). Alle Beispiele Ciceros für tugendhaftes Handeln setzen prinzipiell ein Gemeinwesen voraus, das als natürlicher, durch wechselseitige Beziehungen aller Mitglieder bedingter Verbund verstanden ist (I, xvi, 50-xvii, 56; I, xli, 149). Das Streben nach Wissen stellt er entsprechend der Gerechtigkeit hintan, denn diese letztere Tugend betrifft unmittelbar das Wohlergehen der Mitmenschen und nichts sollte einem Menschen heiliger sein als dieses (I, xliii, 1 5 5 ) . Wie Wissen nur insofern von Wert ist, als es mitgeteilt wird, so ergibt sich, daß Erkenntnis und Betrachtung des Wesens [...] irgendwie unvollkommen und unfertig sein [dürfte], wenn kein Handeln folgte. Dieses Handeln aber erkennt man besonders in der Verteidigung der Vorteile der Menschen. Es bezieht sich also auf die Gemeinschaft des Menschengeschlechtes. (I, xliii, 1 5 3 ) Den Gelehrten kommt als Lehrer eine wichtige Rolle in der Gesellschaft zu, denn sie könnten nicht nur durch ihre mündliche Lehre, sondern auch durch ihre Schriften zahlreiche andere Menschen zu besseren Bürgern heranbilden und sie dazu bringen, ihrem Vaterland von Nutzen zu sein und ihre praktischen Erfahrungen und Einsichten im Dienste der Menschheit weiterzutragen. Cicero schließt in Worten, die Petrarca und viele andere Humanisten abgeschrieben und sich zu eigen gemacht haben: Und aus diesem Grunde ist auch beredt zu sprechen - wenn nur klug - besser, als noch so scharfsinnig ohne Beredsamkeit zu denken, weil das Denken in sich selber kreist, die Beredsamkeit die umfaßt, mit denen wir in Gemeinschaft verbunden sind. (I, xlvi, 1 5 6 ) Menschen seien wie Bienen von Natur aus gesellig, deswegen müßten wir alle Dinge wertschätzen, die die Ansprüche der menschlichen Gemeinschaft stärken und die Bündnisse der Menschen untereinander (I, xliv, 158-xlv, 160). Das zweite und das dritte Buch von De officiis mögen begrifflich unterschiedliche Gegenstände behandeln, doch findet sich nichts darin, was Ciceros Bewertung der Tugenden der Gemeinschaft als natürliches Ziel des Menschen einschränken würde, vielmehr werden viele Argumente lediglich aus leicht veränderter Perspektive wiederholt.

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Anhand dieses kurzen Überblicks wird deutlich, wie viele der von Joan Gadol zitierten Aussagen Albertis mit dem ciceronianischen Ethos in Einklang stehen: Der Mensch sei geboren, um Nützliches zu tun, und die vielen Künste nur dazu da, um dem Menschen zu dienen; Alberti versuche eher vielen Menschen zu helfen als wenigen zu gefallen; ein gutes Leben zu führen erfordere ständige harte Arbeit.63 Von allen seinen Schriften sind Albertis Dialoge Della famiglia64 in vier Büchern (die ersten drei 1 4 3 2 - 1 4 3 4 , vollendet in den 1440er Jahren) am stärksten vom ciceronianischen Ideal der vita activa auf der Grundlage tugendhafter Arbeit für das Wohl der Mitmenschen geprägt.65 Unter all den Gegenüberstellungen von virtù und fortuna, die in der Renaissance entstanden sind, kommen nur wenige an Albertis vollkommene Uberzeugung von der Überlegenheit der virtù heran: Das wechselhafte Glück würde nur diejenigen unterwerfen, die sich ihr beugen würden. (S. 7) Wie Cicero stellt Alberti dem Schicksal nicht nur virtus entgegen, sondern auch ratio, diese gottgegebene Fähigkeit: Bleiben wir also stets bei der Überzeugung [...], daß in bürgerlichen Angelegenheiten und im Menschenleben überhaupt die Vernunft gewiß mehr vermag als das Glück, die Klugheit mehr als irgendein Zufall. (S. 1 1 ) Der Niedergang Italiens sei gerade aufgrund der aufkommenden Mißachtung des ciceronianischen Ideals der virtus als Handeln pro bono publico erfolgt: [...] solange wir bestrebt waren, uns unseren Vorfahren ähnlich zu zeigen, und uns bemühten, durch Tüchtigkeit den Ruhm vergangener Geschlechter zu übertreffen, solange man es bei uns als Schuld und Verpflichtung erachtete, alle Arbeit, allen Eifer, alle Fähigkeiten, ja insgesamt alles Hab und Gut dem Vaterland, dem öffentlichen Wohl dem Vorteil und Nutzen aller Bürger zu weihen, so lange habe der lateinische Name und die lateinische Tüchtigkeit über das Schicksal triumphiert (S. 6).

63 Gadol 1969, S. 2 1 6 , 2.17, 225. Gadol sieht in solchen Äußerungen nicht Cicero, sondern eine neu entstehende »moderne« Wertschätzung der Arbeit in dieser Welt, entstanden auf der Grundlage einer bürgerlichen Wertschätzung des Fleißes und der calvinistischen Auffassung des »Berufs« - mit einem Verweis in der Fußnote auf Max Webers Die protestantische Ethik und der »Geist« des Kapitalismus (1904/1920). 64 Die deutsche Übersetzung folgt Leon Battista Alberti, Über das Hauswesen [Della famigliai, übers, v. Walter Kraus, Fritz Schalk, Zürich, Stuttgart: Artemis 1962. 65 Grayson 1957, S. 44, nennt das Prooemium »one of the most powerful among humanist assertions of Man's capacity to govern his own destiny and recreate the greatness of the past«.

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Alberti schrieb seinen Traktat, um daran zu erinnern, daß es »Eifer und Fähigkeit, ausdauernde Arbeit und reifliche Erwägung, schickliche Übungen, gerechte Bestrebungen und vernünftige Erwartungen« sind, die »Republiken und Fürsten fördern und groß machen, ehren, sichern und verteidigen«, und nicht »Trägheit, Unfähigkeit, Zuchtlosigkeit, Untreue, Begehrlichkeit, Unbilligkeit, Lüsternheit und Herzensroheit und zügellose Leidenschaften« (S. 1 1 - 1 2 ) . Obwohl zunächst beabsichtigt war, eine Zusammenstellung jener Tugenden zu umreißen, die die Familie davor bewahren sollten, »den Launen und Unbilden des Glückes zu erliegen« (S. 1 1 ) , spricht Albertis Werk offensichtlich Aspekte an, die für die Gesellschaft insgesamt von Bedeutung sind. Nach der Vorrede in propria persona setzt der Dialog historische Figuren aus der Familie der Alberti zur Diskussion dieser Aspekte ein. Es ist das Jahr 14Z1; Albertis Vater Lorenzo spricht auf dem Totenbett mit seinen Söhnen Battista und Carlo und ihren Ratgebern Adovardo und Leonardo. Im ersten Buch feiern Lorenzo und Leonardo, wie es schon Cicero getan hatte, die zweifache Kraft der Tugend: »[...] ein tüchtiges Wesen trägt in sich einen nicht geringen Lohn: es erzwingt sich Anerkennung.« (S. 19) Lorenzo greift wie Cicero eine übermäßige »Freigebigkeit [an], die Schaden bringt ohne Gewinn an Ruf und Freundschaft« (S. 2.3). Leonardo wiederholt Ciceros vielfach vorgebrachte Anweisung, die einzuschlagende Laufbahn dem eigenen Talent und Naturell anzupassen (S. 53-54). Im zweiten Buch, das von sozialen Beziehungen handelt, ist Ciceros Einfluß an vielen Stellen zu spüren, wie etwa in Leonardos Ermahnung an Battista, es sei eure Pflicht [...], stets eure Aufmerksamkeit und eure ganze Tätigkeit darauf zu richten, daß ihr eurem Vater, wo immer es not tut, zur Verfügung steht [...]. Die kindliche Liebe darf man hinter keinerlei Bestrebungen zurücksetzen66 oder Lorenzos von Battista pflichtbewußt wiederholte Warnung, die Zeit, die er nicht verwende, um Tugenden zu erwerben, sei verloren (S. 163). Vor allem aber ist es Leonardos lange Rede wider die Eitelkeit (S. 165-194), in der nicht nur das Ethos von De officiis sich wiederfindet, sondern sogar mehrere direkte Zitate. Leonardo verurteilt Eitelkeit und Faulheit, da sie die Menschen auf das Niveau von Pflanzen oder Bäumen reduzieren würden, den Menschen aber kann er gar nicht für lebend erachten, der begraben ist in Müßiggang und Tatenlosigkeit und alles redliche Streben und Bemühen meidet. Mir erscheint der nicht würdig des Lebens, der nicht alle Empfindung und Regung auf Tugend und Lob verwenden will. Und eben dieser Müßiggänger, während er fortfährt zu altern in Trägheit und Untätigkeit, ohne von sich aus den Seinen und dem Va-

66 Vgl. Cicero, De officiis, I, vi, 19; xxi, 7 1 .

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terlande irgendeinen Nutzen zu erweisen, wird gewiß unter tüchtigen Männern nur für weniger als ein unnützer Klotz angesehen werden können [...] so wird man von dem, der die Betätigungen, durch die das Leben sich auszeichnet, für sich nicht ausnützt, nicht urteilen können, daß er Leben habe. (S. 1 6 6 - 1 6 7 ) Seine Schmährede durch klassische Autoren absichernd, beruft sich Leonardo auf Ciceros De natura deorum (I, xix, 5 1 ; II, xiv, 37; II, xxiv, 62-64), sowohl um Epikur zu widersprechen, der behauptet habe, »an Gott sei es die höchste Seeligkeit, nichts zu tun« (S. 167), und um die Ansicht Chrysippus' zu billigen, »alle Dinge seien geschaffen, um dem Menschen zu dienen, und der Mensch, um mit seinesgleichen Gemeinschaft und Freundschaft zu halten.« De officiis ist zweifellos die Quelle für das Zitat aus Piatons neuntem Brief, der Grundidee, »die Menschen seien um der Menschen willen geboren«, und wir schuldeten »einen Teil von uns dem Vaterland, einen Teil den Eltern, einen Teil den Freunden.« (S. 168) Leonardo schreibt Aristoteles die Behauptung zu, »der Mensch sei gleichsam ein sterblicher Gott, wofern er mit Vernunft und Tugend erkenne und handle« (S. 169), doch tatsächlich bezog Alberti die Textpassage aus Ciceros De finibus (II, xiii, 40). Unnötig zu erwähnen, daß Alberti den ciceronianischen Humanismus in ein christliches Gedankengebäude einfügt, indem er Gott dafür preist, daß er dem Menschen »Intelligenz, Gelehrigkeit, Gedächtnis und Vernunft« gegeben habe. Und Gott schreibt Alberti denn auch eine wohlwollende Absicht zu, in Worten, deren Ähnlichkeit zu den in De officiis verwandten bemerkenswert ist. Gott habe, neben anderen Gaben, in Seele und Geist des Menschen noch die Selbstbeherrschung hinzugefügt, den Zügel gegen die Begierden und gegen die übermäßigen Gelüste mit Schamgefühl, Mäßigkeit und Verlangen nach Lob. Und Gott hat auch noch in die menschlichen Seelen als ein festes Band, das die menschliche Gesellschaft zusammenhält, Gerechtigkeit gelegt, Billigkeit, Freigebigkeit und Liebe, Eigenschaften, mit denen der Mensch bei seinesgleichen Dank und Lob verdienen kann und bei seinem Schöpfer Erbarmen und Gnade. (S. 170) Des Menschen Pflicht sei es, so versichert Leonardo, tugendhaft zu handeln, und die besten Taten würden jene sein, die »vielen helfen, und von Mannesmut und sittlicher Größe herrühren« (S. 172). Leonardo verbindet nun die menschliche Verpflichtung zum tugendhaften Handeln sowohl mit dem sozialen Gefüge als auch mit der Notwendigkeit, einer den eigenen Fähigkeiten entsprechenden Berufung zu folgen, eine Verbindung, die offensichtlich von De officiis abgeleitet ist: Die Natur hat nicht alle Menschen mit gleicher Konstitution, mit gleicher Begabung und gleichem Willen geschaffen, noch besitzen alle die geeigneten und

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wirksamen Mittel. Sie hat vielmehr gewollt, daß mit dem, worin es mir fehlt, du aushilfst, und daß es an anderem dir fehle, was wieder bei einem anderen zu finden ist. Warum das? Damit ich deiner bedarf, du jenes anderen, jener wieder eines anderen und irgendwer meiner; und daß dieses Angewiesensein eines Menschen auf den anderen Ursache und Band sei, uns zusammenzuhalten in allgemeiner Freundschaft und Verbundenheit. Und vielleicht war diese Notwendigkeit Anfang und Ausgangspunkt der Gründung von Staaten, der Stiftung von Gesetzen [...] einer so engen, durch Gesetze, Vernunft und Sitten zusammengehaltenen Gemeinschaft unter Menschen [...]. (S. 173) Die Verpflichtung Ciceros gegenüber ist hier deutlich, ebenso wie auf der nächsten Seite, wo Leonardo den Rat erteilt, welcher Tätigkeit auch immer man sich widme, immer sollst du dir bewußt sein, daß du geboren bist, um dich recht zu betätigen und dadurch zu Glückseligkeit zu gelangen, und immer soll dir vor der Seele stehen, daß nichts mehr dazu hilft, sich recht zu betätigen, als wenn du dich entschließest, der zu sein, als welcher du den anderen erscheinen willst.

(s. 175) 67

Cicero wiederholt diese Anweisung, Schein und Sein zu verbinden, in Buch III von De officiis (III, iv, 19), und Leonardo folgt ihm auch in dieser Wiederholung eifrig (S. 179). Obwohl die Titel der vier Bücher von Della famiglia unterschiedliche Themen ankündigen, wiederholen sich mehrere wichtige Aspekte, die Ciceros Einfluß zeigen. In Buch III ist wiederum von Tugend die Rede und man wird ermahnt, die Zeit zu verwenden, »um Löbliches zu lernen, zu denken und zu üben« und »alle Gelüste und Begierden des Körpers« zu meiden (S. Z17-Z18). Wiederum verweist Alberti in der Selbstbeschreibung des betagten Händlers Giannozzo auf Ciceros Darstellung des tugendhaften Mannes, der als das erscheinen wolle, was er tatsächlich auch sei. Stets habe er sich bemüht, so sagt Giannozzo, mir Liebe zu erwerben mit allem, was Begabung und Bemühung vermochte, und vor allem, daß ich den Eindruck eines guten, gerechten und friedlichen Mannes, wie ich es war, zu erwecken suchte. Giannozzo erfüllt auch eine in Ciceros vita activa anerkannte Kategorie: »Und das sind in Wahrheit die besten Betätigungen der Seele: ähnlich wie ich es jetzt

67 Der Herausgeber der englischen Übersetzung gibt hier eine Anleihe bei Cicero, De officiis (II, xii, 43), an. The Alberti's of Florence: Leon Battista Alberti's >Della Famigliascience< or >theory< of painting (ars pingendi)«. Alberti sagt selbst in § 26 »recenseamus artem [picturae] novissime«. Vgl. auch § 48, wo er von »hanc picturae artem« spricht und die Widmung an Brunelleschi, wo die Rede ist von »arti e scienze«.

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Orientierung Albertis an der aktuellen Malerei benennen zu können: Ebenso wie in der humanistischen Sprachpraxis könne man auch in der Malerei zwei entgegengesetzte Vortragsweisen unterscheiden, für deren eine Alberti sich einsetze. Als malerischer Repräsentant einer Humanisten-Fraktion, die den üppigen Stil, die oratio dissoluta favorisieren würde, nennt Baxandall Pisanello; Mantegna dagegen wäre als Exponent der »Neo-Giottesken« Malerei auf der Seite jener Humanisten, die mit Alberti die strengere oratio composita bevorzugen würden. In Mantegnas Kupferstich der Grabtragung Christi (Abb. i) sieht Baxandall denn auch Albertis ideales Bild realisiert. Baxandalls Interpretation muß in den letzten erwähnten Punkten spekulativ bleiben. Seine Lektüre legt einseitig die lateinische Fassung des Textes zugrunde15 und könnte nur die eines humanistisch gebildeten Lesers gewesen sein. Doch eine Besonderheit des Traktates De pictura liegt bekanntlich in der dokumentarisch einwandfrei bezeugten, praktisch gleichzeitigen Abfassung des italienischen und des lateinischen Textes.16 Wie hat man dies zu deuten? Der italienische Text ist Brunelleschi bzw. einer Gruppe von Florentiner Künstlern gewidmet. Ist damit eine zweite Zielgruppe angesprochen? Wie aber wäre dann die Theorie Albertis gemeint gewesen: Als Bestätigung des in der Kunst bereits Geleisteten oder als Aufforderung, es künftig so zu machen, wie der Theoretiker verlangt? Ich möchte das in der Widmung ausgesprochene Künstlerlob etwas genauer betrachten. An Werken der Kunst erwähnt Alberti nur die Domkuppel Brunelleschis. Die übrigen namentlich erwähnten Künstler werden allgemein für ihr ingenio gelobt, das sie zu allem befähige und, wie es heißt, jenem der größten antiken Künstler in nichts nachstehen würde.17 Von Leistungen der aktuellen Malerei

25 Baxandall 1 9 7 1 , S. 126, Anm. 1 1 . 26 Mit Nachdruck stellt Grayson fest, daß die zwei Versionen der Traktate je unabhängige Fassungen sind (Alberti, Opere volgari, ed. Grayson, III, S. 307). Damit wurde die ältere Meinung, daß der eine Text (der italienische) eine Rückübersetzung des anderen sei, korrigiert. Die lateinische Version gilt heute als die reichere und präzisere Fassung und dürfte als erste entstanden sein, obwohl das älteste überlieferte Manuskript die italienische Fassung wiedergibt. Vgl. hierzu Nicoletta Maraschio, »Leon Battista Alberti, De pictura·. bilinguismo e priorità«, in: Annali della Scuola Normale Superiore di Pisa, II, 1 , 197z, S. 265-273. Pascal Griener, »Trois moments de la pensée vernaculaire en esthétique: Alberti, Filarete, Vasari«, in: Rue

Descartes,

XIV, 1995, S. 9 3 - 1 1 6 . 27 Alberti, De Pictura, ed. Grayson, Prolog, S. 7: »Ma poi che io dal lungo essilio in quale siamo noi Alberti invecchiati, qui fui in questa nostra sopra l'altre ornatissima patria ridutto, compresi in molti ma prima in te, Filippo, e in quel nostro amicissimo Donato scultore [= Donatello] e in quegli altri Nencio [= Lorenzo Ghiberti] e Luca [della Robbia] e Masaccio, essere a ogni lodata cosa ingegno da non posporli a qual si sia stato antiquo e famoso in queste arti.«

A L B E R T I S ERFINDUNG DES

»GEMÄLDES«

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Abb. 1 Andrea Mantegna, Grablegung Christi, Kupferstich, 31,1 χ 45,5 cm, Wien, Albertina.

ist in der W i d m u n g keine Rede, ebensowenig im gesamten T r a k t a t , w o sich im Gegenteil eher verächtliche B e m e r k u n g e n bezüglich deren Q u a l i t ä t e n finden. 1 A u f m e r k e n lassen m u ß weiter die T a t s a c h e , d a ß die W i d m u n g neben d e m Architekten Brunelleschi nur Bildhauer e r w ä h n t , für die die Schrift allenfalls bedingt v o n Interesse sein k o n n t e 1 ' - mit der A u s n a h m e M a s a c c i o s , d o c h w e n n es

28 Das einzige neuere Bsp. ist Giottos »Navicella«, Alberti, De Pictura, ed. Grayson, § 42, das jedoch nicht als aktuelle Malerei bezeichnet werden kann. Zum Tadel z.B. §§ 12., 39, 56. Janitschek in Alberti-Janitschek, S. VII, findet dies befremdlich, »denn mochte auch ein Fra Angelico dem Kunstideale Alberti's nicht genug thun, die Malereien der Brancacci-Capelle athmen schon völlig jenen neuen Geist, den Alberti fordert.« 29 Uber diese Tatsache wird allgemein mit dem Verweis auf die aktuelle Reliefpraxis von Donatello und Ghiberti hinweggegangen. Z.B. Clark 1944, S. 288, 296. Gadol 1969, S. 60-62. Man hat jedoch festgestellt, daß in der »Porta del Paradiso« Ghibertis und in Donatellos Relief »Tanz der Salome« (Lille, Musée Wicar) die Prinzipien der Albertischen Perspektive nur ungefähr beachtet sind. Vgl. Bergdolt in Ghiberti, Der dritte Kommentar,

S. X X X V I , Anm. 293.

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sich überhaupt um den Maler und nicht um den gleichnamigen Bildhauer handelt, wie Janitschek vorgeschlagen hat, war er bereits 14x8 oder 1429 verstorben.Brunelleschi aber, der Adressat der Widmung, wird ausdrücklich ermahnt, nur weiter wie bisher in seinen Forschungen fortzufahren, und wenn er Muße finde, könne er sich an der Lektüre des Büchleins ergötzen. Alberti scheint jedenfalls nicht den Anspruch zu haben, Brunelleschi für dessen architektonische Arbeit unmittelbar relevante Neuheiten mitteilen zu können. Und ausdrücklich will er in diesem Werk nicht von Brunelleschis Verdiensten (in der Architektur) oder jenen Donatellos und der anderen (in der Bildhauerei) sprechen: dies wolle er an anderem Ort tun. Indem Alberti dem Architekten Brunelleschi einen Text über Malerei in Italienisch zu lesen gibt (»a tuo nome feci in lingua toscana«), spricht er den Künstlerfreund auf theoretischer Ebene an - nicht um ihn zur Beachtung der im Traktat aufgestellten Regeln zu bewegen, sondern um ihm seine schriftstellerische Arbeit zur Einsicht und Diskussion vorzulegen. Anscheinend möchte Alberti mit diesem Nicht-Humanisten, der gleichwohl ein Wissenschaftler genannt werden kann, eine theoretische Kommunikation in Gang setzen oder eher fortführen, 31 wohl einerseits um vom Architekten und Ingenieur Brunelleschi als Theoretiker einer der seinen vergleichbaren ars, der Malerei, anerkannt zu werden. Bezüglich der technischen Verfahren der Perspektivkonstruktion kann Alberti sicher sein, in

30 Janitschek hat den Vorschlag gemacht, diesen Masaccio mit dem Bildhauer Maso di Bartolommeo gen. Masaccio zu identifizieren (Alberti-Janitschek, S. 2 5 7 - 2 6 1 ) . Der Vorschlag ist zwar von der Forschung nicht angenommen worden, dennoch aber in mancher Hinsicht bedenkenswert. Grayson lehnt dies bereits ab (in Alberti, On Painting and On Sculpture).

Es

scheint allerdings richtig zu sein, daß der Maler Masaccio in seinem Trinitätsfresko in S. Maria Novella als erster jene gesetzmäßige Perspektivkonstruktion anwendet, die Alberti in seinem Traktat später beschreibt. Dieses Fresko könnte allenfalls auch die Kriterien einer Albertischen historia bedingt erfüllen (s. u.). Die entscheidende Verbindung scheint jedoch die Perspektivkonstruktion zu sein, die Masaccio vom Architekten Brunelleschi übernimmt. Vgl. Florian Huber, Das Trinitätsfresko

von Masaccio und Filippo Brunelleschi

in Santa Maria Novella zu Florenz,

München: tuduv 1990; zum Todesdatum Masaccios, S. 9 4 - 9 5 , mit einer neuen Datierung des Trinitätsfreskos auf 1 4 2 9 . 3 1 S. Anm. 20, Verweis auf den Freundeskreis. Grassi 1 9 7 0 , S. 1 3 9 : » la lettera al Brunelleschi rieccheggia l'emozione dei molti colloqui avvenuti in precedenza - e purtroppo irrecuperabili tra l'Alberti e gli artisti fiorentini.« Diese etwas romantische Sicht findet sich auch bei Mancini, Vita di Alberti, mehrfach angesprochen. Vgl. z.B. S. 1 3 4 (1967), die Künstler hätten freundschaftliche Beziehungen zueinander gepflegt und einander beim Lösen der Probleme geholfen, ganz im Gegensatz zu den sich pausenlos im Konkurrenzstreit befindlichen Literaten. Daß Alberti die Künstler als Gruppe von Freunden ansprechen kann, liegt gerade daran, daß er als Humanist mit ihnen kein Konkurrenzproblem hatte.

A L B E R T I S E R F I N D U N G DES » G E M Ä L D E S «

Brunelleschi einen kundigen Leser zu finden. Die Widmung könnte im Zusammenhang mit Brunelleschis von Manetti 31 überlieferten Experimenten im Bereich der perspectiva naturalis stehen, aufgrund derer man in Brunelleschi den Erfinder der Perspektive als Projektionsmethode sehen kann.' 3 Gerade die Erwähnung der Domkuppel in Albertis Widmung paßt hierzu. Die gerüstfreie Kuppelkonstruktion wurde wahrscheinlich mittels eines optischen Meßverfahrens bewerkstelligt, das mit den Experimenten zur Perspektive verwandt ist.34 Doch andererseits scheint es in dem Traktat nicht nur um technische Angelegenheiten zu gehen, sondern auch - und vielleicht in erster Linie - um ethische. Der Inhalt des Traktates und der Wortlaut der Widmung widersprechen der Ansicht, daß Alberti die Theorie einer bereits geübten Praxis formulieren wollte.35 Stattdessen scheint Alberti in der Ingenieurskunst Brunelleschis, in seiner Meßtechnik die Grundlage {rudimento) für eine neue Art der Malerei zu sehen. Diese neue Malerei wäre vor 1434 bestenfalls in einem einzigen Gemälde verwirklicht gewesen, in Masaccios Trinitätsfresko in Santa Maria Novella, und auch dort nur ansatzweise - ich komme darauf zurück. Ich möchte also den anderen Strang verfolgen und das Motiv für die Abfaßung des Traktates im humanistisch-literarischen Umfeld suchen. Man wird dabei im Auge behalten müssen, daß die italienische Version nicht einem Maler, sondern einem Architekten gewidmet ist.

3 2 Antonio Manetti, Vita dt Filippo Brunelleschi, hrsg. v. Carlachiara Perrone, Rom: Salerno Ed. 1992, S. 53-58. 3 3 Zu den Unterschieden zwischen Brunelleschis und Albertis Ideen vgl. den Differenzierungsversuch von Maren Holst-Jürgensen, »Technik und Philosophie in Brunelleschis perspektivisch konstruierten Bildern«, in: Architectura, XVIII, 1988, S. 49-58. Siehe auch Jehane R. Kuhn, »Measured Appearances: Documentation and Design in Early Perspective Drawing«, in: Journal of the Warburg and Courtauld Institutes, LIII, 1990, S. 1 1 4 - 1 3 2. 34 Volker Hoffmann, »Filippo Brunelleschi: Kuppelbau und Perspektive«, in: Quaderni dell'istituto di storia dell'architettura, Ν. S., fase. 1 5 - 2 0 , 1990/92 (Saggi in onore di Renato Bonelli), S. 3 1 7 - 3 2 6 , S. 324: Zu Kuppelbau und zentralperspektivischer Abbildung: »In beiden Fällen hat Brunelleschi duch die Anwendung der Kegelschnittheorie und der Theorie des Sehstrahls verblüffend einfache >praktische< Lösungen theoretisch schwieriger Probleme gefunden.« Hoffmann erkennt in Brunelleschi auch den Erfinder des von Alberti als erstem beschriebenen velum, des durchsichtigen Quadratrasters. Zur Beziehung von Architektur und Perspektive vgl. Giulio Carlo Argan, »The Architecture of Brunelleschi and the Origins of Perspective Theory in the Fifteenth Century«, in: Journal of the Warburg and Courtauld Institutes, IX, 1946, S. 961 2 1 . Rudolf Wittkower, »Brunelleschi and Proportion in Perspective««, (1953), in: Ders., Idea and Image. Studies in the Italian Renaissance, London: Thames & Hudson 1978, S. 1 2 5 - 1 3 6 . 35 Vgl. z.B. Argan in Grayson/Argan i960.

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Eine Theorie der Malerei zur Förderung des kulturellen Aufschwungs? Für einen Humanisten der ersten Hälfte des 15. Jahrhunderts war es nicht mehr ganz ungewöhnlich, über Malerei zu schreiben. Dies hat Michael Baxandall ausführlich und vor ihm schon Erwin Panofsky dargelegt.36 Malerei konnte in unterschiedlichster Form in literarischen oder moralisch-philosophischen Abhandlungen behandelt werden. Allerdings sind Gemälde auch als unwürdige, weil nur dem Auge schmeichelnde Objekte diffamiert worden.37 Doch gab es eine Gegenposition, die in der Malerei mehr als nur Befriedigung der Augenlust sehen konnte. Nach antikem Muster verwandten die Humanisten Bildbeschreibungen zur lebendigen Exemplifizierung abstrakter Argumente in ihren Texten, und im Sinne des horazischen ut pictura poesis dienten Bemerkungen über die Natur der Malerei als Argumente zur Beschreibung der Möglichkeiten eines poetischen Textes.38 Andere antike Texte, namentlich die Naturalis historiae libri des älteren Plinius, legitimierten Malerei und Skulptur als Sujets der Geschichtsschreibung, einer Hauptdisziplin der Humanisten. Durch das Beispiel von Plinius, der etwa in Buch X X X V den Niedergang der Malerei in seiner Zeit mit dem Verfall der Sitten parallelisiert,39 konnte die Malerei auch für die Renaissancehistoriographie zum Kulturindikator werden. Der kulturelle Aufschwung der Renaissance, so die verbreitete Überzeugung der Humanisten, wurde zuerst im Wiedererwachen der Malerei - nicht etwa der Architektur - sichtbar, einer Kunst, der Giotto wieder antike Würde verschafft hatte.40 So gesehen war die Malerei, indem sie Kulturindikator, Gegenstand der Historiographie und literarisches Thema sein konnte, in den Abhandlungen der Humanisten um 1434 bereits seit etlichen

36 Erwin Panofsky, Die Renaissancen der Kunst, (1., engl. Aufl. 1960), Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1979, S. 1 3 - 3 4 . Baxandall 1 9 7 1 . Siehe auch Lepper 1987. 37 Die Position ist z.B. ausgeprägt bei Francesco Petrarca, De remediis utriusque fortunae, wird jedoch in anderen Texten desselben Autors, wo es um das Lob Giottos geht, relativiert. Hierzu Lepper 1987, S. 1 7 - 3 2 . 38 Lee 1940/1967. B. Asmuth, M. Barasch, Art. »Bild, Bildlichkeit«, in: Historisches Wörterbuch der Rhetorik, hrsg. v. Gert Ueding, II, Tübingen: Niemeyer 1994, Sp. 1 0 - 3 0 , insbes. Abschn. C.I. »Bild, Bildlichkeit in der Malerei«, Sp. 2 1 - 3 0 . Gottfried Boehm (Hrsg.), Beschreibungskunst - Kunstbeschreibung. Ekphrasis von der Antike bis zur Gegenwart, München: Fink 1995, mit Bibliographie S. 633-642. 39 C. Plinius Secundus d. Ä., Naturalis historiae libri XXXVII. v. Roderich König, München: Heimeran 1978, S 2-6. 40 Vgl. Panofsky, Renaissance, S. 29.

Liber XXXV, hrsg. u. übers,

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»GEMÄLDES«

Jahrzehnten metaphorisch »nobilitiert« - natürlich heißt das nicht, daß dem in der Praxis auch so gewesen wäre.41 In seinem Traktat über Malerei greift Alberti diese Tradition auf. Doch er will sie nicht einfach fortsetzen, sondern beansprucht, etwas Neues zu unternehmen: »recenseamus artem novissime«.41 Im gleichen Abschnitt distanziert er sich explizit von Plinius, der eine Geschichte der Malerei (historiam picturae) geschrieben habe, und damit auch von jenen Toskanern, die ähnliches bereits getan oder in Arbeit hatten, etwa Filippo Villani oder dem Bildhauer Lorenzo Ghiberti, den Alberti in der Widmung erwähnt. Mit Nachdruck verweist Alberti auf die in der Überlieferung der antiken Literatur klaffende Lücke. Aufgrund der Tatsache, daß andere Künste, neben der Poesie und der Rhetorik ja auch die Architektur - er spricht an dieser Stelle von omnes bonae artes (also ausdrücklich nicht von »freien Künsten«, wozu die Architektur nicht gehört hätte) - , eine Theorie bereits erhalten haben, hält er es für wahrscheinlich, daß auch eine Theorie der Malerei schon einmal behandelt wurde, aber nicht überliefert ist.43 Hierzu zitiert er Plinius, der in Buch X X X V seiner Naturgeschichte von verschiedenen Malern berichtet, die Lehrbücher der Malerei geschrieben hätten.44 Derselben Passage konnte

41 Paul Oskar Kristeller, »The Modern System of the Arts«, in: Journal of the History of Ideas, XII, 1 9 5 1 , S. 496-527. Lepper 1987, zu Alberti v. a. S. 62-67. Bei Alberti finden sich einige eher beiläufige Bemerkungen über das Verhältnis der Künste zueinander. Das alte, hierarchische System der artes liberales und artes mechanicae ist schon etwa bei Pier Paolo Vergerio nicht mehr wichtig. Er stellt um 1404 einen Katalog jener Künste auf, die zum »guten Leben« als oberstem Erziehungsziel führen würden: Grammatik, Dialektik, Rhetorik, Poesie, Musik, Arithmetik, Geometrie, Astrologie, Physik, Perspektive, Medizin, Jurisprudenz, Theologie. Pier Paolo Vergerio, »De ingenuis moribus ac liberalibus studiis libellus«, in: De Ratione Studii, Basel 1 5 4 1 , S. 6 1 2 . Zit. n. Lepper 1987, S. 57. 42 Alberti, De pictura, ed. Grayson, § 26. Die Passage ist zentral für das im Folgenden dargelegte. »Sed non multum interest aut primos pictores aut picturae inventores tenuisse, quando quidem non historiam picturae ut Plinius sed artem novissime recenseamus, de qua hac aetate nulla scriptorum veterum monumenta quae ipse viderim extant, tametsi ferunt Euphranorem Isthmium nonnihil de symmetria et coloribus scripsisse, Antigonum et Xenocratem de picturis aliqua litteris mandasse, tum et Apellem ad Perseum de pictura conscripsisse.« 43 Alberti, De pictura, ed. Grayson, § 26: »Refert Laertius Diogenes Demetrium quoque philosophum picturam commentatum fuisse. Tum etiam existimo, cum caeterae omnes bonae artes monumentis litterarum a maioribus nostris commendatae fuerint, picturam quoque a nostris Italis non fuisse scriptoribus neglectam.« 44 Alle Verweise auf antike Theorien der Malerei sind Buch X X X V von Plinius' Naturalis historiae libri entnommen. §§68, 79, i n , 129. Vgl. z.B. Plinius, Naturalis historiae I. X X X V , § 79: »[Apelles] picturae plura solus prope quam ceteri omnes contulit, voluminibus etiam editis, quae doctrinam earn continent«.

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Alberti auch entnehmen, was eine Theorie der Malerei hätte sein können: der Maler Euphranor etwa, so Plinius, habe über symmetria et coloribus geschrieben. Die zwei Wörter allein - Alberti zitiert sie - waren Beweis genug, daß eine solche Schrift sich nicht mit den lediglich materiellen Aspekten des Handwerks abgegeben haben konnte, wenn sie auch spezifisch die Belange der Malerei behandelte. Albertis »Forschungsbericht« dient - wie noch heute jeder Forschungsbericht einer wissenschaftlichen Arbeit - zweierlei: einerseits belegt er, daß Malerei ein Thema der theoretischen antiken Literatur, insbesondere auch der Philosophie, gewesen sein mußte, daß dieser Gegenstand also innerhalb der Disziplin »Humanismus« angesiedelt werden kann und eine Behandlung des Themas in Albertis Forschungsgebiet relevant ist. Andererseits zeigt er, daß es zu seiner Zeit offensichtlich eine Forschungslücke gibt, die, so vermutet er, von der Zeit geschlagen wurde, aber durch ihn nun in origineller Weise geschlossen werden kann. Die entscheidende Motivation zur Abfassung einer Theorie der Malerei dürfte denn auch hier zu suchen sein: in der Möglichkeit, im Bereich humanistischer Schriftstellerei etwas vollkommen Neues, doch im Geist der Antike liegendes unternehmen zu können. Alberti konnte damit das von ihm selbst aufgestellte höchste Qualitätskriterium eines Schriftstellers erfüllen. Zehn oder mehr Jahre später merkt er in der Einleitung zu seinem satirischen Roman Momus seu de principe an, wie schwierig es sei, Neues zu erfinden, stellt aber dennoch fest: Also müßte die Aufgabe eines Schriftstellers meines Erachtens darin bestehen, sich nur solchen Themen zuzuwenden, die dem Leser unbekannt sind und über die er noch nie zuvor nachgedacht hat. Daß er inzwischen diesen Anspruch relativiert, folgt gleich als Nächstes: Trotz dieser Überzeugung kann ich mich gleichwohl der Einsicht nicht verschließen, wie äußerst schwierig, ja beinahe unmöglich es ist, einen Gegenstand zu finden, der nicht schon zuvor von einigen anderen aus der schier unendlichen Zahl der Schriftsteller entdeckt oder behandelt worden ist. Ein alter Spruch lautet: >Nichts läßt sich sagen, das nicht schon einmal gesagt worden ist.< Zu jenen, denen es doch gelingt, »neue und unerhörte Dinge zu Papier zu bringen«, sagt er, im Wissen, daß ihm dies früher schon gelungen ist, sie seien »einer seltenen Art von Menschen zuzurechnen«, was bedeutet, daß ihnen höchster Ruhm gebührt.45 45 Leon Battista Alberti, Momus oder Vom Fürsten. Momus seu de principe, Lat.-dt. Ausg., übers., komm., eingel. v. Michaela Boehnke, München: Fink 1 9 9 3 , S. 5. Auf die Stelle weist bereits hin Hartmut Biermann, »Die Aufbauprinzipien von L. B. Albertis De re aedificatoria«, in: Zeitschrift

für Kunstgeschichte,

LUI, 1 9 9 0 , S. 4 4 3 - 4 8 5 , S. 4 4 5 , Anm. 7 und 8.

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Die Haltung ist, wie das eingefügte Sprichwort des Terenz andeutet, ein antiker Topos.46 Dennoch ist die spätere Resignation Albertis ebenso ernst zu nehmen wie die Überzeugung des Einundreißigjährigen, er habe wie der Architekt Brunelleschi »senza essemplo alcuno« Dinge entdeckt, die man bisher weder gehört noch gesehen habe, »arti e scienze non udite e mai vedute«.47 De pictura wäre insofern zuerst als die Demonstration einer echten Renaissance antiken Geistes - nicht nur einer Reprise - durch die intellektuelle Kraft eines modernen Individuums zu lesen. Entscheidend für die Themenwahl ist die bereits anerkannte Funktion der Malerei als Kulturindikator - ebenso wichtig ist der Nachweis der Differenz zwischen aktueller Kunst und Albertis Vision, denn schließlich geht es darum, die Rolle des Literaten im Prozeß des kulturellen Aufschwunges unter Beweis zu stellen. Das Neue in Albertis Schrift liegt denn auch nicht zuletzt in seinem Anspruch, nicht nur anhand der Geschichte der Kunst den Stand der Kultur zu diagnostizieren wie Plinius, sondern, überzeugt von der Wechselwirkung zwischen Kunst und Gesellschaft, durch Beförderung der Malerei zum Aufschwung der gesamten Kultur beizutragen. Alberti will mit dem Traktat De pictura aktiv in den Prozeß des Fortschritts eingreifen.

Alberti und Vitruv Zur Ausführung seines Vorhabens orientierte sich Alberti an verschiedenen Texten, zumal an den bereits vorliegenden Theorien der bonae artes. Dabei kann zwischen jenen Texten unterschieden werden, die ein Begriffsinstrumentarium oder auch ein Denksystem bereitstellten und jenen, die Maßstab und Vorbild in der Behandlung des Stoffes sein konnten. Zu ersteren gehörten die Lehrbücher der euklidischen Geometrie48 und die verfügbaren Rhetoriken, wie mittlerweile mehrfach nachgewiesen wurde,49 zu letzteren die Horazische Epistel Ad pisones

46 Terenz, Eunuchus, 4 1 . Vgl. zum Exordialtopos des »ich bringe noch nie Gesagtes« Ernst Robert Curtius, Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter, (1948), 10. Aufl., Bern, München: Francke 1984, S. 95-96. 47 In der ital. Widmung Alberti, De Pictura, ed. Grayson, S. 7. 48 Wittkower 1 9 5 3 / 1 9 7 8 . Naomi Miller, »Euclides Redivivus: A Hypothesis on a proposition«, in: Gazette des Beaux-Arts, Jg. 1 3 5 , 6ème période, CXXI, 1993, S. 1 1 3 - 2 2 6 , bes. S. 2 1 6 - 2 1 8 . 49 Spencer 1957. Baxandall 1 9 7 1 . Wright 1984. Brian Vickers, In Defence of Rhetoric, Oxford: Clarendon 1988, zu Alberti S. 340-353. Asmuth/Barasch 1994, Sp. 25-30, Abschn. C. V., »Das rhetorische System in der Kunsttheorie der Neuzeit«.

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de arte poetica.50 Dieser Text war die damals maßgebende antike Dichtungstheorie. Die ganz anders argumentierende Poetik des Aristoteles wurde erst viel später rezipiert.51 Ich denke aber vor allem, daß der Quellen- und Vorbildcharakter von Vitruvs Zehn Büchern über die Architektur für Albertis Malereitheorie unterschätzt worden ist.51 Die Legitimation einer Theorie der Malerei ließ sich im Grundsatz aus der horazischen Poetik herleiten. Der dort eher beiläufig dargelegte Topos der Ähnlichkeit von Malerei und Poesie konnte als Aufforderung gelesen werden, die Inhalte auf den anderen Stoff zu übertragen. Horaz' Theorie führt aber auch vor, daß die Theorie einer ars zu verfassen eine würdige Aufgabe literarisch ambitionierter Personen sein konnte. De arte poetica will selbst ein poetisches Stück sein und bedient sich origineller Formulierungen, Vergleiche und Bilder, um den Lesern nicht nur zu »nützen«, sondern sie auch zu »erfreuen«. Vitruv dagegen konzentriert sich - hierin den mehr technisch aufgebauten Rhetoriklehrbüchern ähnlich, etwa Quintilians Institutio oratoria - auf die systematische Darlegung der Sache selbst, woraus sich eine gewisse Trockenheit ergeben mußte. Charakteristisch ist die Einführung und Verwendung oft griechischer Fachtermini, die für Alberti und seine Zeitgenossen schwer verständlich waren, selbst wenn Vitruv eigentliche Definitionen beifügte. Als antiker Text, der sich mit jenen Dingen beschäftigte, die im Ruf standen, unedle Handarbeit zu

50 Lee 1940/1967. Gilbert 1943-45. 51 Der griechische Text war bekannt, doch kann von einer Rezeption erst ab etwa 1498 gesprochen werden, als die erste lateinische Übersetzung durch Lorenzo Valla erschien. Alberti hat die Poetik kaum gekannt. Vgl. Lee 1940/1967, S. 7, Anm. 23. Zur Aristoteles-Rezeption Joel Elias Spingarn, A History of Litterary Criticism in the Renaissance (1899), 2., rev. Aufl. 1908, 8. Aufl., New York: Columbia University Press 1954, S. 140. Manfred Fuhrmann, Einführung in die antike Dichtungstheorie, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1 9 7 3 , S. 188. Anderer Meinung ist Pochat 1985, S. 230, der Albertis Orientierung am Theater betonen will. 52 Auf die Vorbildfunktion Vitruvs für Albertis Malereitheorie verweist Gadol 1969,8. 1 3 1 , ebenfalls Bertelli 1986, der jedoch nur auf das Zitat bezüglich der Ornamente, die aus der Malerei stammen würden, eingeht. Vgl. Alberti, De pictura, ed. Grayson, § 26. Der kanonische Charakter Vitruvs für alle Künste zeigt sich schon im ersten Kommentar Ghibertis, der vielleicht noch vor Albertis De pictura enstand. Er ist eine Kompilation aus Vitruv, Plinius' Naturalis historia und Athenaios' Organica. Bergdolt in Ghiberti, Der dritte Kommentar, S. X X X V I I I X X X I X . Die Orientierung an Vitruv ist für den Architekturtraktat Albertis genauer untersucht worden: Richard Krautheimer, »Alberti and Vitruvius«, in: The Renaissance and Mannerism. Studies in Western Art (Acts of the 20th International Congress of the History of Art), Princeton NJ.: Princeton University Press 1963, S. 42-52. Françoise Choay, »Alberti and Vitruvius«, in: Architectural Design, XLIX, 1979, S. 26-35. Biermann 1990.

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sein, bot auch Vitruvs Schrift eine Legitimationsbasis für den Malereitraktat. Insbesondere seine Beschreibung der nötigen universalen, sowohl praktischen als auch theoretischen Bildung des Architekten sind von Alberti für den Maler in sinngemäßem Zitat übernommen worden.53 Bezeichnend für das zwiespältige Verhältnis des literarisch ambitionierten Alberti zum antiken Architekten ist dessen Kritik an Vitruvs angeblich ungebildeter Schreibweise.54 Damit greift er einen Punkt auf, den Vitruv in der Vorrede zum fünften Buch selbst angesprochen hatte.55 Die besondere Sachlichkeit verteidigt er mit dem Argument, seinen Stoff könne man nicht in literarischer Form abhandeln - die Passage war bekannt: Lorenzo Ghiberti hielt sie für so wichtig, daß er sie als Einleitung zu seinem dritten Kommentar wörtlich übernahm und auf die Malerei übertrug.56 Alberti war sich nicht immer sicher ob er Vitruv nun als simples, unliterarisches Handwerkslehrbuch verstehen und kritisieren sollte. An verschiedenen Stellen in De pictura erwähnt er Vitruv in herabsetzendem Ton und versucht, sich von ihm abzugrenzen.57 Daraus kann keineswegs geschlossen werden, daß Vitruv von geringerer Bedeutung gewesen wäre. Die ostentative Distanzierung läßt vielmehr die grundsätzliche Abhängigkeit erahnen, die Alberti wenn nicht zu verbergen, so doch herunterzuspielen versucht. Die Antike übertreffen zu wollen schließt gleichzeitig deren Imitation und Adaptation ein. Um die jeweilige Bedeutung einer Aussage Albertis für die Situation in Florenz um 1435 zu ermessen, wird daher der Vergleich mit dem antiken Vorbild nützlich sein. Manche Unstimmigkeit erklärt sich durch die Absicht des Epigonen, die antike Autorität gleichzeitig zu zitieren und zu verbessern oder anzupassen. So erweist sich die bereits angesprochene Behauptung Albertis zu Beginn des ersten Buches, er schreibe als Maler und nicht als Mathematiken als eine Formulierung in Analogie zu Vitruv (De architectura I, i, 18), der sagt: Denn nicht als bedeutender Philosoph, nicht als beredter Redner und nicht als Schriftsteller, der in den besten Methoden seiner Kunst geübt ist, sondern als

53 Am Anfang von Buch III, Alberti, De pictura, ed. Grayson, § 5 1 , 52.. Vgl. Vitruv, I, i. Auch Ghiberti übernimmt im ersten Kommentar die Passagen zur Ausbildung des Architekten in allen artes aus Vitruv, ersetzt nur »Architekt« mit »Maler und Bildhauer«. 54 Vitruv, VI, i. Vgl. Biermann 1990, S. 444, u. Anm. 6. 5 5 Vitruv, V, i. 5 6 Bergdolt in Ghiberti, Der dritte Kommentar, S. 2. 57 Alberti, De pictura, ed. Grayson, § 48: »Sequitur ergo ut de colorum generibus nonnulla referamus, non id quidem quemadmodum Vitruvius architectus quo loco rubrica optima et probatissima colores inveniantur, sed quonam pacto selecti et valde petriti colores in pictura componendi sint.«

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ein Architekt, der mit diesen Wissenschaften vertraut ist, habe ich mich daran gemacht, dies zu schreiben.'8 Es handelt sich um eine Variante des rhetorischen Topos der »affektierten Bescheidenheit«.59 Vitruv entschuldigt sich für seine unliterarische Schreibweise, die jedoch in der abgehandelten Materie begründet sei, die aufgrund der erforderlichen Sachkenntnis nur ein Architekt beschreiben könne. In analoger Weise entschuldigt sich Alberti zu Beginn des ersten Buches für seine simple mathematische Darstellung - pinguiore Minerva, wie er mit Cicero sagt60 - , die ebenso nicht nur topisch, sondern in der Sache begründet ist, die er »als Maler« abhandelt. Doch der Spruch Vitruvs ist signifikant verändert. Wenigstens in den Augen Albertis beherrscht Vitruv tatsächlich nur unvollkommen, was des modernen Humanisten und Mathematikers eigentliche Kunst ist. Vitruv galt den Humanisten als echter Praktiker der von ihm beschriebenen ars, während Alberti nur vorgibt, dies zu sein, um desto kompetenter zu erscheinen. Ein Handwerkslehrbuch - etwa in der Art des Libro d'Arte von Cennino Cennini (um 1400) 61 - wollte Alberti jedenfalls nicht schreiben, und es ist fraglich, ob er dazu in der Lage gewesen wäre. Wenigstens passagenweise hat er schon um 1435 den umfassenderen Anspruch Vitruvs erkannt, zumal in dessen Verwendung anspruchsvoller Termini für ästhetische Sachverhalte. Gerade aufgrund von Vitruvs Praxisorientiertheit, die es erst möglich macht, daß Architektur als eigenwertige, einer besonderen ratio folgende und vom Zimmermannshandwerk zu unterscheidende Tätigkeit erfaßt wird, konnte Alberti ihn als Vorbild für einen Malereitraktat ähnlichen Anspruchs annehmen. Vitruvs Traktat, in dem es zwar kaum um coloris, sehr wohl aber um symmetria ging, zeigte, daß und wie bildende Kunst in der Antike theoretisch behandelt wurde, was man sich unter

58 »Namque non uti summus philosophus nec rhetor disertus nec grammaticus summis rationibus / artis exercitatus, sed ut architectus his litteris imbutus haec nisus sum scribere.« Die Übersetzung leicht verändert nach Marcus Vitruvius Pollio, De architectura libri decern = Zehn Bücher über Architektur, hrsg. v. Curt Fensterbusch, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1964, S. 37. Fensterbusch fügt, die Bedeutung signifikant modifizierend, »nur« vor »Architekt« ein, der »ein bisschen« mit den genannten Wissenschaften vertraut sei. 59 Curtius, Europäische Literatur, S. 93-95. 60 Cicero, De amicitia, V, 19. Gemeint ist »praktisch, handfest«, italienisch heißt es »più grassa Minerva«. 61 Cennino Cennini, Das Buch von der Kunst oder Tractat der Malerei des Cennino Cennini da Colle di Valdelsa, übers, u. hrsg. v. Albert Ilg, (Quellenschriften für Kunstgeschichte und Kunsttechnik des Mittelalters und der Renaissance, hrsg. v. Rudolf Eitelberger v. Edelberg, 1), Wien: Wilhelm Braumüller 1 8 7 1 (Reprint Osnabrück: Zeller 1970).

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der ratio oder ars einer solchen Tätigkeit vorzustellen hatte. Vor dem Hintergrund der bereits erfolgten Erhebung der Malerei zu einem würdigen Gegenstand literarischer Betrachtung durch die oratores rückte nun eine eigentliche Theorie der Malerei, eine ratio oder ars picturae, als ein tatsächlich vollkommen neues Feld in den Bereich des Möglichen.

Compositio - Die Regulierung von Prozeß und Resultat der Malerei Die Anwendungsbereiche der unterschiedlichen Begriffssysteme der Geometrie bzw. Optik und der Rhetorik lassen sich in Albertis Traktat in recht einfacher Weise auseinanderhalten: Im ersten Buch, wo es um die Beschreibung der Mittel geht, mit denen die Malerei das Bild der Natur gesetzmäßig auf die Fläche projiziert, wird Geometrie als Beschreibungswerkzeug eingesetzt. Das zweite Buch dagegen handelt davon, wie diese Konstruktion aufgefüllt werden soll, wie sich Inhalte konstituieren lassen. Es ist auch die Rede von der höchsten Aufgabe der Malerei, nach Alberti die historia. In diesem zweiten Teil und auch im dritten Teil finden sich vermehrt Begriffe und Denkfiguren, die der Rhetorik entnommen sind.62 Was jedoch die beiden ersten Bücher verklammert, ist im zentralen Begriff der compositio enthalten. Der Begriff ist von Michael Baxandall im letzten Kapitel seines bereits mehrfach erwähnten Buches, in dem es schließlich um Albertis De pictura geht, aus der Rhetorik hergeleitet worden. Compositio bedeutet in der Rhetorik die Zusammenfügung der Wörter zu Satzteilen, dieser zu Teilsätzen und der Teilsätze zu sinnvollen Perioden.6' Alberti verwendet den Begriff in diesem Sinn gegen Ende des dritten Buches, um den Prozeß des Erlernens der Kunst der Malerei zu beschreiben: Ich möchte nämlich, daß jene, die die Kunst der Malerei zu erlernen beginnen, sich ebenso verhalten, wie ich es bei den Schreiblehrern beachtet gesehen habe. Denn jene unterrichten zuerst jeden Buchstaben [characteres elemetttorum] einzeln, dann aber lehren sie das Zusammenfügen [componere] der

6z Die Dreiteilung der Gliederung ist bereits mehrfach analysiert worden. Nach Gilbert 1943-45 leitet sie sich von der klassischen isagoga her, die zuerst die Elemente diskutieren, dann die Kunst, schließlich den Künstler. Der lateinische Erstdruck von 1540 (Alberti, De pictura, 1540) gibt zu den drei Büchern die Überschriften rudimenta, pictura und pictor. 63 Aldo Scaglione, Art. »Compositio«, in: Historisches Wörterbuch der Rhetorik, I, (1992), S. 300-305.

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Sylben und endlich der ganzen Wörter [dictiones]. Diese Methode [rationem] sollen auch unsere [Schüler] in der Malerei beachten/4 In ähnlicher, jedoch bereits erweiterter Bedeutung verwendet er den Begriff an der Stelle, wo er die Komposition der historia, der höchsten Aufgabe des Malers, aus Flächen zu Gliedern und Körpern in analoger Weise beschreibt.65 Die Analogie zur Sprachlehre der antiken Rhetorik besteht in der hierarchischen Zerlegung eines Ganzen in Teile und dieser wiederum in Elemente. Compositio ist hier nicht nur ein rhetorischer Terminus, sondern auch schon in allgemeinem, auf die Fügung eines ganzen Bildes übertragenem Sinn des Verfassens eines kohärenten Textes gemeint.66 Wenn Alberti zu Beginn des zweiten Buches, nach der allgemeinen Einleitung, die Malerei systematisch in drei partes aufteilt, so ist compositio neben circumscriptio (Zeichnen nach der Natur, Umreißen) und receptio luminum (Farbgebung, Beleuchtung) der zweite.67 Die Aufteilung entspricht dem Vorgehen der Rhetoriklehrbücher, die das Verfassen einer oratio systematisch aufbauend abhandeln. Wie sich eine vergleichbare Teilung auf die Architektur übertragen läßt, hat Vitruv vorgeführt.68 Doch Alberti verwendet hier keinen einzigen der Gliederungsbegriffe dieser Quellen, sondern entwickelt - in Anlehung an Plinius' Naturalis historiae - eigene. Wenn die circumscriptio die erste zeichnerische Erfassung des Gegenstandes meint, wie er sich in der Natur präsentiert, so umfaßt compositio alles, was mit der Aufteilung der Bildfläche und der Anordnung der erfaßten Gegenstände zu tun hat. Receptio luminum schließlich betrifft die Bereiche der Farbe und der Licht- und Schattendarstellung, die insofern besonders

64 Die Passage wird von Baxandall nicht zitiert. Alberti, De pictura, § 55: »Velim quidem eos qui pingendi artem ingrediuntur, id agere quod apud scribendi instructores observari video. Nam illi quidem prius omnes elementorum characteres separatim edocent, postea vero syllabas atque perinde dictiones componere instruunt. Hanc ergo rationem et nostri in pingendo sequantur.« Vgl. Quintilian I, I, 2 4 - 3 1 . 65 Alberti, De pictura, ed. Grayson, § 33: »Est autem compositio ea pingendi ratio qua partes in opus picturae componuntur. Amplissimum pictoris opus historia, historia partes corpora, corporis pars membrum est, membri pars superficies.« 66 Scaglione 1992, S. 3 0 1 . 67 Alberti, De pictura, ed. Grayson, § 30. 68 Vitruv, I, ii, 1 - 8 . Sowohl in der Rhetorik wie bei Vitruv sind die Teile jedoch stets mehr als drei. Vitruv nennt ordinatio, dispositio, eurythmia, symmetria, decor und distributio, die Rhetorik gliedert er in inventio, dispositio, elocutio, memoria, pronuntiatio. Compositio ist nur ein Unterbegriff zweiter Ordnung der elocutio und betrifft im Bereich ornatus den Aufbau von Perioden. Siehe Heinrich Lausberg, Handbuch der literarischen Rhetorik. Eine Grundlegung der Literaturwissenschaft,

z. Aufl., München: Hueber 1973.

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wichtig sind, als sie jene Dinge umfaßen, die Malerei auch von der Reliefplastik unterscheiden. Im ersten Buch benutzt Alberti den Begriff compositio im Zusammenhang mit der systematischen Gliederung der ganzen Bildfläche.69 Der korrekte, proportional und modular erfolgende Aufbau der Perspektivkonstruktion, insbesondere die Aufteilung der dargestellten Bodenfläche in Felder, wird als Grundlage der compositio angeführt.70 Diese Stelle ist zentral: sie signalisiert, daß Albertis Begriff der Komposition in der Malerei über das Bedeutungsfeld des von Baxandall angeführten Begriffes der Rhetorik hinausgeht, aber auch Konkreteres meint als die im 16. Jahrhundert bereits verbreitete allgemeinere Bedeutung des Verfassens eines ganzen Schriftstückes. Alberti versucht eine Methode der Komposition, compositionis ratio, anzugeben, gemäß der ein Bild zusammengefügt werden soll. Für einige dieser spezifischeren Belange von Albertis Kompositionsbegriff scheint die Quelle unmittelbar die Architekturtheorie Vitruvs gewesen zu sein. Ich zitiere den ersten Satz in Buch III, Kap. I von De architectura, in der Übersetzung von Fensterbusch, der compositio mit »Formgebung« wiedergibt: »Die Formgebung [compositio] der Tempel [aedium] beruht auf Symmetrie, an deren Gesetze sich die Architekten peinlichst genau halten müssen. Diese aber wird von Proportion erzeugt, die die Griechen analogia nennen. Proportion liegt vor, wenn den Gliedern am ganzen Bau und dem Gesamtbau ein berechneter Teil [modulus] als gemeinsames Grundmaß zu Grunde gelegt ist. Denn kein Tempel kann ohne Symmetrie und Proportion eine vernünftige [eher »gesetzmäßige«, »richtige«, »sinnvolle« H. L.] Formgebung [rationem compositionis] haben, wenn seine Glieder nicht in einem bestimmten Verhältnis zueinander stehen, wie die Glieder eines wohlgeformten Menschen.«71 Es folgt die berühmte Stelle mit der Abhandlung über die Proportionen des Menschen, aus denen Vitruv die Proportionsgesetze des Bauwerkes ableitet.

69 Auf diesen Kompositionsbegriff weist Hubert Damisch, »Comporre con la pittura«, in: Casabella, L, 1986, S. 6 1 - 6 3 . 70 Alberti, De pictura, ed. Grayson, § 2 1 : »Haec omnis dividendi pavimenti ratio maxime ad earn picturae partem pertinet, quam nos compositionem suo loco nominabimus.« 7 1 Vitruv, III, i, ed. Fensterbusch, S. 136: »Aedium compositio constat ex symmetria, cuius rationem diligentissime architecti tenere debent. Ea autem paritur a proportione, quae graece analogia dicitur. Proportio est ratae partis membrorum in omni opere totoque commodulatio, ex qua ratio efficitur symmetriarum. Namque non potest aedis ulla sine symmetria atque proportione rationem habere compositionis, nisi uti [ad] hominis bene figurati membrorum habuerit exactam rationem. «

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Vitruv verwendet compositio in engerem Sinn als Alberti und, abweichend von der in der Rhetorik üblichen Bedeutung, ausschließlich zur Benennung von Eigenschaften des Resultates des künstlerischen Produktionsprozesses. Letzteren umschreibt Vitruv im zweiten Kapitel von De architectura mit den Begriffen ordina tio und dispostilo.71 Die Besonderheit von Albertis Begriff besteht in der Verschmelzung zweier Bedeutungsfelder. Alberti ergänzt den durch die Sprachtheorie geprägten, den Fügungsprozeß bezeichnenden und somit - der Redepraxis entsprechend - zeitlich bestimmten Begriff um das Prinzip modularer Proportionierung, das die statische compositio eines sakralen Gebäudes gemäß Vitruv III, i kennzeichnet. Für die Malerei ergeben sich durch die Integration der Vitruvschen Theorie eine Reihe von seltsamen Vorschriften, die nun als Analogiekonstruktionen verständlich werden. Entprechend dem Modulus der Architektur, bei Vitruv der Säulendurchmesser,73 erklärt Alberti die Armlänge (brachium / braccia) zur Maßeinheit. Diese Einheit teilt sowohl die Grundlinie des Bildes ohne Rest, wie sie dreimal in der Höhe der dargestellten Figuren aufgeht. Ebenso wird die Horizontlinie auf der Höhe von drei Armlängen festgelegt.74 Die menschliche Figur in der Malerei versteht Alberti analog zur Säule in Vitruvs Architekturtheorie. Säule und Figur sind gleichermaßen Quelle des Modulus und über deren Anordnung und Gestaltung wird schließlich die korrekte Komposition des ganzen Gebäudes bzw. des Gemäldes sichtbar vermittelt. Die Übertragung auf die neue Materie geschah keineswegs blind. Es entstanden signifikante Anpassungen: Wenn bei Vitruv Proportionierung sich nur auf den modularen Aufbau eines Körpers feststehender Größe beziehen kann, wendet Alberti den Begriff - gemäß der Bedeutung in der Geometrie - insbesondere

72 Vitruv, I, ii, 2. Auch hier wird der Begriff Komposition eingeflochten: »Ordinatio est modica membrorum operis commoditas separatim universeque proportionis ad symmetriam comparatio [...] Dispositio autem est rerum apta conlocatio elegansque compositionibus effectus operis cum qualitate«. Fensterbusch übersetzt S. 37: »Dispositio ist die passende Zusammenstellung [conlocatio] der Dinge und die durch die Zusammenstellung [compositionibus] schöne Ausführung des Baues mit Qualitas.« Vgl. die Übersetzung von August Rode: »Unter Einrichtung [dispositio] wird die schickliche Stellung aller Stücke verstanden, und die dadurch in der Zusammensetzung bewirkte, dem Endzweck des Gebäudes angemessene Zierlichkeit. « Vitruv, Baukunst, Reprint der Übers, v. August Rode (Leipzig 1796), hrsg. v. Beat Wyss, Zürich, München: Artemis 1 9 8 7 , 1 , S. 252. In der Übersetzung Fensterbuschs wird klarer ausgedrückt als in jener Rodes, daß compositio sich auf die symmetria, auf die Proportioniertheit des Objektes bezieht. 73 Vitruv, I, ii; III, iii. 74 Alberti, De pictura, ed. Grayson, § 19.

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auch auf die proportionale Verkleinerung an, die ein Bild von der Wirklichkeit zu geben hat.75 Korrekte Komposition bedeutet proportionale Abbildung der visuellen Realität und steht in unmittelbarer Beziehung zur Regel der Perspektivkonstruktion, die in den folgenden Abschnitten des Traktates erläutert wird/ 6 Die Verarbeitung der Vitruvschen Auffassung von Komposition und Proportion zeigt sich am deutlichsten im Versuch Albertis, auch für die Malerei absolute Zahlengrößen als Richtlinien festzulegen, wie dies der antike Theoretiker für die Architektur getan hatte. Bei der Definition der historia merkt Alberti an, daß nicht mehr als neun oder zehn Personen ein Bild bevölkern sollen: Meiner Ansicht nach wird es keine historia geben, die so reich an der Vielzahl der Dinge ist, daß sie nicht von neun oder zehn Personen angemessen vorgeführt werden könnte.77 An derselben Stelle gibt er zwei irreführende Hinweise auf die Herkunft dieser Vorschrift, indem er einmal auf das Theater verweist, wo man mit möglichst wenigen Darstellern auszukommen trachte,78 und dann noch eine Sottise aus des Aulus Gellius Attischen Nächten anfügt, wonach Varrò, um Tumulte zu vermeiden, höchstens neun Personen zum Gelage zu sich gebeten habe.79 Michael Baxandall, der die Vorschrift bezüglich der Figurenzahl ebenfalls im Zusammenhang mit Albertis Kompositionslehre diskutiert, hat auch diese sonderbare Idee mit der Rhetorikrezeption zu erklären versucht. Er findet allerdings keine wirklich passende Zahlenvorschrift in der Rhetorik, und die Passage

75 Alberti, De pictura, ed. Grayson, §§ 1 4 - 1 8 . 76 So jedenfalls wird in De pictura, ed. Grayson, § zi, verständlich, man könne kaum eine korrekt komponierte historia aus der Antike finden (»Vix enim ullam antiquorum apte compositam, ñeque pictam, ñeque fictam, ñeque sculptam reperies.«), weil die

dividendi

pavimenti ratio, also Albertis Methode, eine perspektivische Parkettierung zu entwerfen, wahrscheinlich unbekannt gewesen sei. Zum Gegenstand vgl. Wittkower 1953/1978. Gadol 1969, S. 56-69. 77 Alberti, De pictura, ed. Grayson, $ 40, nur in der lateinischen Fassung: »Meo quidem iudicio nulla erit usque adeo tanta rerum varietate referta historia, quam novem aut decern homines non possint condigne agere [...].« 78 In der antiken Tragödie treten nie mehr als drei sprechende Figuren gleichzeitig auf, in den Komödien sind es kaum je mehr als fünf bis sechs. In Horaz' Ars poetica findet sich diese Praxis angesprochen, indem er V. 1 9 z sagt: »[...] nec quarta loqui persona laboret.« Vgl. hierzu die Anm. d. Hrsgs. v. Horaz, Ars poetica / Die Dichtkunst, übers, u. hrsg. v. Eckhard Schäfer, Stuttgart: Reclam 1984, Anm. 3 1 , S. 44. 79 Aulus Gellius, Nodes Atticae, XIII, xi, 2 - 3 .

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scheint ihm ohnehin nur halb ernst gemeint zu sein.80 Die literarischen Verweise sind jedoch nicht nur nebensächliches, schmückendes Beiwerk, weswegen man sie, so vermutet Baxandall, in der italienischen Version ohne weiteres habe beiseite lassen können; vielmehr zeigen sie Albertis Absicht, den erzählerisch-mimetischen Aspekt der »historia«, ihre Begründung in der Sprach- und Dichtungstheorie, mit den abstrakten Proportionsgesetzen in Einklang zu bringen, die in der Architekturtheorie ihren Ursprung haben, denn die Quelle für die Festlegung der Figurenzahl auf neun oder zehn ist offensichtlich die Architekturtheorie Vitruvs. Vitruv hält die Zehnzahl, wie er in dem oben zitierten Kapitel I des dritten Buches darlegt, für die absolut vollkommene Zahl. 81 Diese Passage des dritten Buches übernimmt und modifiziert Alberti später in seinem Architekturtraktat. Was schon Vitruv offenbar aus einer griechischen Quelle übernommen und bereits nicht mehr recht verstanden hatte, versucht Alberti vernünftig einem Baukörper zuzuordnen. Er weiß, daß die Auffassung der Zehnzahl als vollkommener Zahl bei Aristoteles formuliert ist. Entsprechend den Möglichkeiten, in einer Fassadenwand die Wandstücke bzw. die Säulen oder die Zwischenräume zu zählen, läßt er nun in Bauwerken die Zahlen neun und zehn zu, jedoch nicht als vollkommene Zahlen, sondern als maximale Größen, die nicht überschritten werden dürfen. 81 Schon um 1435 dürfte Alberti durch sein besonderes Verständnis der

80 Baxandall 1 9 7 1 , S. 1 3 2 - 1 3 3 , schlägt Quintilian, IX, iv, 12.5, vor: »Alberti left the passage with this half-serious precept out of his italian translation; the mechanicals, who knew about neither period nor triclinium, could not be expected to see the joke.« 81 Vitruv, III, i: »Perfectum autem antiqui instituerunt numerum, qui decern dicitur.« Diese vollkommene Zahl (griech. teleon), so berichtet Vitruv, regiere bei den Griechen die gesamten Maßberechnungen eines Gebäudes und ergebe sich aus der Analogie mit dem menschlichen Körper, namentlich der Zehnzahl der Finger. Vitruv scheint dies bereits nicht mehr nachvollziehen zu können, wie die folgenden Erörterungen der Proportionen der Säulenordnungen nahelegen, bei denen die Zehnzahl als Maximum für das Verhältnis der Breite des Interkolumniums zur Höhe der Säule eine Rolle spielt. Zur »Zahlenkomposition« vgl. den Exkurs von Curtius, Europäische Literatur, S. 491-498. Das Prinzip stand im lateinischen Mittelalter für Komposition schlechthin. 82 Leon Battista Alberti, L'architettura [De re aedificatoria], lat.-ital., hrsg. u. übers, v. Giovanni Orlandi, komm. ν. Paolo Portoghesi, Milano: Ed. Polifilo 1966, IX, ν, fol. 166; S. 821: »Decimum putabat Aristoteles numerum omnium haberi perfectissimum, ea fortassis re, uti interpretantur, quod quattuor continuis collectis cubis eius quadratum compleatur. Itaque his passim inde usi architecti sunt; sed paribus, quos apertioni destinarunt, denarium, imparibus vero novenarium transgressi maxime in templis non sunt.« Die Ubersetzung, Leon Battista Alberti, Zehn Bücher über die Baukunst, übers, v. Max Theuer, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1 9 9 1 (Reprint der 1 . Aufl., 1 9 1 2 ) , S. 495: »Zehn hielt Aristoteles für die

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Vitruv-Passage über die Problematik vollkommener Zahlen auf die ansonsten rätselhafte Vorschrift der zweifach, neun oder zehn, festgelegten Höchstzahl der Figuren im Historienbild gekommen sein.

Albertis Erfindung des »Gemäldes« Wenn Alberti die artes liberales

Geometrie und Rhetorik in seinem Traktat als

Argumentationsmittel zur Formulierung einer Theorie der Malerei verwendet, will er damit nicht das Verständnis für die zeitgenössische malerische Praxis fördern, und die Feststellung, es gehe ihm darum, die Malerei zu nobilitieren, greift zu kurz. Anders als der Bildhauer Ghiberti oder später der Maler Leonardo muß der Humanist Alberti - der sagt, er spreche veluti pictori, in der Rolle des Malers - nicht aus Eigennutz um die gesellschaftliche Aufwertung der Berufstätigkeit des bildenden Künstlers kämpfen. Und es ist wenig wahrscheinlich, daß Alberti den Traktat in italienischer Sprache abgefaßt und Brunelleschi gewidmet hat, nur um diesem gefällig zu sein.83 Alberti geht es zunächst darum, die »Palme« des humanistischen Ruhmes in der erstmaligen literarischen Darstellung dieser ars subtilissima

zu erringen.84

Diese Leistung besteht in der Entwicklung eines allgemeinen Begriffes der Malerei, der ratio. Auf dieser Grundlage kann die Kunst zur Umsetzung in der Praxis

vollkommenste Zahl von allen, vielleicht deshalb, wie man will, weil die Summe aus den dritten Potenzen der vier ersten Zahlen gleich seinem Quadrate ist. Und so verwendeten die Architekten diese Zahlen überall. Doch von den geraden, welche sie für Öffnungen bestimmten, haben sie die Zehnzahl, bei ungeraden aber, hauptsächlich bei Tempeln, die Neunzahl nicht überschritten.« Die Übersetzung von Theuer ist im letzten Satz ungenau. Alberti bezieht den Ausdruck maxime in templis auf beide Zahlen, nicht nur auf die Neunzahl wie bei Theuer. 83 Martin Warnke, Hofkünstler. Zur Vorgeschichte des modernen Künstlers, Köln: Du Mont 1 9 8 5 , S. 63: »Wahrscheinlich hat Alberti ihm [Brunelleschi] mit der Widmung des Traktates eine theoretische Hilfe anbieten wollen.« Nämlich in einem Rechtsstreit mit der Bauzunft, da sich Brunelleschi weigerte, die Zunftgebühren zu bezahlen. Siehe Westfall 1 9 6 9 , S. 493. Albertis »Hilfe« ist jedoch weder wahrscheinlich noch irgendwie belegbar. Wie Warnke referiert, handelte es sich nicht so sehr um einen Streit zwischen einem selbstbewußten Künstler und der Zunft, als um einen Streit zwischen der Stadt und der Zunft, denn die Stadt wollte ihren StadtBaumeister wie zu Zeiten Arnolfo di Cambios zunft- und steuerfrei halten, wie auch die Hofkünstler steuerfrei waren. 84 Alberti, De pictura,

ed. Grayson, § 63: »Nos tarnen hanc palmam praeripuisse ad

voluptatem ducimus, quandoquidem primi fuerimus qui hanc artem subtilissimam litteris manda verimus.«

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gelehrt werden. Es ist nicht unwesentlich, daß De pictura Lehrbuchcharakter zu haben scheint, gleichgültig ob der Traktat nun tatsächlich als Lehrbuch verwendet wurde, wie Baxandall vermutet, oder nicht. Alberti könnte seine Prinzipien unmittelbar anhand eines bekannten Textes von Aristoteles, der ersten Abschnitte der Metaphysik, entwickelt haben, die das Verhältnis von Handwerk (techne), Erfahrung (empeiria) und Wissenschaft (episteme) behandeln. Nicht nur wird hier gleich zu Beginn der Augensinn als wichtigster bezeichnet, sondern es werden auch Fragen nach der gesellschaftlichen Wertschätzung jener Menschen gestellt, die sich in ihrer Arbeit entweder mehr auf Empirie oder auf Wissenschaft stützen. Erwartungsgemäß kommt dem Wissenden ein höherer Rang zu. Vor allem aber ist es nach Aristoteles »ein Zeichen des Wissenden und des Unwissenden, (den Gegenstand) lehren (bzw. nicht lehren) zu können«. 8 ' So beweist Alberti mit der Abfassung eines Lehrbuchs, daß er zu den Wissenden gehört. Resultat von Albertis literarischen Bemühungen ist die in der Form eines Lehrbuches vorgetragene theoretische Begründung einer neuen Art von Malerei. Er erfindet nicht die erste Theorie einer bekannten Praxis, sondern eine neue Kunst (techne bzw. ars). Auch dies hat Aristoteles in der zitierten Einleitung zum ersten Buch der Metaphysik als besonders preiswürdig und dem Nutzen der Gesellschaft förderlich hervorgehoben. Tasächlich trifft zu, was Alberti selbst andeutet, daß es um 1 4 3 5 keine ausgeführten Malereien gibt, die seinem Konzept gänzlich entsprechen - weder in Florenz noch anderswo. Dies hat viele Kunsthistoriker irritiert und stellt natürlich die »Anwendung« der Theorie im Sinne einer Erklärung der Florentiner Malerei des frühen 1 5 . Jahrhunderts grundsätzlich in Frage. Entscheidend ist jedoch, daß Albertis Konzept praktikabel war und antizipierte, was sich in der Praxis vielleicht angekündigt hatte, aber erst nachträglich allmählich vollzogen wurde: er formuliert die Theorie für eine bestimmte Art der Malerei, die seit der zweiten Hälfte des Jahrhunderts praktiziert wurde. Aus dem Geist der Antike erfindet Alberti ein neues Bild, das er historia nennt und als die schwierigste Aufgabe des Malers bezeichnet.86 Damit meint er nicht das, was man bereits viel früher und zumal in der Rhetorik so bezeichnet hatte, nämlich die schlichte Schilderung von durch Sprache überlieferten Tatsachen. 87

85 Aristoteles, Metaphysica, 981b, zit. n. Aristoteles, Metaphysik, Griechisch-Deutsch, übers, v. Hermann Bonitz, neu bearb. v. Horst Seidl, Hamburg: Meiner 1 9 7 8 , 1 , S. 7. 86 Christine Patz, »Zum Begriff der historia in L. B. Albertis >De PicturaPala Baglioni< als Kunstwerk im sakralen Kontext, Berlin: Akademie Verlag 1994, S. 1 0 4 - 1 0 9 . 87 »historia est gesta res, sed ab aetatis nostrae memoria remota«, Ad C. Herennium de ratione dicendi (Rhetorica ad Herennium), I, 8, 1 3 . Vgl. Lateinische Rhetorik. Rhetorica ad

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Erzählerische Bilder gab es seit dem 1 3 . Jahrhundert in Italien zuhauf. Doch sind sie fast ausnahmslos in Zyklen eingebunden, sei es in der Glasmalerei, in Freskendekorationen oder in Predellen von Altarbildern, und stehen ganz im Dienst der Tatsachenschilderung, denn in aller Regel sollen sie Zeugnis geben vom Leben Christi oder eines Heiligen. Albertis Rede von der historia handelt jedoch stets von einem einzelnen Bild, das man als »Tableau«88 oder mit Hans Beltings für die niederländische Malerei des 15. Jahrhunderts verwendetem Begriff als »Gemälde« bezeichnen kann: ein Staffelei- oder Tafelbild »in dem uns vertrauten Sinn, mit seiner Spiegelung der Welt und seiner autonomen Ästhetik, im 15. Jahrhundert eine neue Erscheinung.«89 Als Abbildung der Schnittfläche der »Sehpyramide« aufgefaßt oder als Blick aus einem Fenster, ist Albertis Bild immer Momentaufnahme der Welt, wenn auch einer konstruierten Welt. Da sie illusionistisch wirken soll, kann sie nur eine einzige und geschlossene sein, da ein Mensch in einem Augenblick nur ein Bild der Welt sehen kann. Alle weiteren Angaben Albertis betonen die Ausrichtung des einen Betrachters auf dieses eine Bild, es ist fokussiert auf einen Zentralpunkt und einheitlich komponiert nach einem Modulus, der den Maßen des betrachtenden Menschen proportional entspricht. Dieser soll sich der gefühlserregenden Wirkung des Bildes bzw. des dargestellten Sujets hingeben, nicht nur als ob es Wirklichkeit wäre: das Bild wird im Akt der Betrachtung zur wirksamen Realität. Die Beispiele, mit denen Alberti seine Ausführungen an den zentralen Stellen ergänzt, bestätigen das Gesagte. Es ist in erster Linie das berühmte Mosaik der Navícula Petri von Giotto, das sich im Atrium von S. Pietro in Rom befand.90 (Abb. 2, 3) Dieses Bild ist das einzige »moderne« Beispiel, das Alberti in seinem

Herennium; Cicero, Topica und Partiiones oratoriae, hrsg. v. Theodor Nüßlein, Karl Bayer, München, Zürich: Artemis & Winkler 1993. 88 Victor Stoichita, L'instauration du tableau. Métapeinture à l'aube des temps modernes, Paris: Méridiens Klincksieck 1993. Gottfried Boehm (Hrsg.), Was ist ein Bild?, München: Fink 1994. 89 Hans Belting, Christiane Kruse, Die Erfindung des Gemäldes. Das erste Jahrhundert der niederländischen Malerei, München: Hirmer 1994, v. a. S. 10 und S. 33-36. Belting betont, Alberti spreche nicht nur über das Gemälde, sondern über die Malerei allgemein. Ich denke jedoch, daß Alberti in der historia präzise das benennt, was Belting mit »Gemälde« meint. 90 Alberti, De pictura, ed. Grayson, § 42. Locher 1994, S. 1 0 6 - 1 0 7 . Helmtrud KöhrenJanssen, Giottos Navicella - Bildtradition, Deutung, Rezeptionsgeschichte, Worms: Wernersche Verlagsgesellschaft 1993, die das Mosaik ebenfalls als Allegorie deutet. Zu Albertis Passage, S. 2 3 1 - 2 3 6 . Die Kritik der Autorin an Alberti, er habe »den allegorischen Charakter des Werkes verkannt«, S. 234, erübrigt sich, wenn man die Definition der Albertischen historia als prinzipiell allegorisch annimmt.

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Abb. 2 Giovanni Battista Falda, Rekonstruktion des Atriums von Alt-St. Peter, Rom, mit Giottos Mosaik der Navícula Petri, Rom, Biblioteca Apostolica Vaticana.

Traktat überhaupt erwähnt - und es ist eines der seltenen erzählerischen Einzelbilder, die um 1435 bekannt waren. Daneben nennt Alberti mehrere antike erzählerische Bilder, die er ohne Ausnahme als Einzelbilder auffaßt. Das berühmteste ist die legendäre Calumnia des Apelles, eine allegorische Darstellung des Lasters der Verleumdung.91 Letztere erhält im gesamten Traktat mit Abstand die längste Würdigung. Sie ist an zentraler Stelle des dritten Buches erwähnt, wo es um die »Invention« geht, die Erfindung eines Bildes, also die Konzipierung eines Stoffes und die Art und Weise wie er sich den zuvor dargelegten Kriterien entsprechend bildlich umsetzen läßt. Schon im Lauf der zweiten Jahrhunderthälfte wurde die Calumnia zu einem beliebten Übungsstück vieler Maler (Abb. 4).92 Das legendäre Bild des Appelles wurde zum Prototyp des neuen »Gemäldes« italienischen Ursprungs, das man

91 Alberti, De pictura, ed. Grayson, § 53. 9z David Cast, The Calumny of Apelles, New Haven, London: Yale University Press 1981. David Rosand, »Ekphrasis and the Renaissance of Painting: Observations on Alberti's Third Book«, in: Florilegium Columbianum. Essays in Honor of Paul Oskar Kristeller, hrsg. v. KarlLudwig Seelig, Robert Somerville, New York: Italica Press 1987, S. 147-163. Jean Michel Massing, Du texte à l'image. La Calomnie d'Apelle et son iconographie, Strasbourg: Presses universitaires 1990.

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Abb. 3 Giacomo Grimaldi, Zeichnung nach Giottos Navícula Petri, Rom, Biblioteca Apostolica Vaticana, Cod. Barb. lat. 4410, fol. 29.

als »Studiolo-historia« bezeichnen kann: ein Bild mythologischen, biblischen, historischen oder poetischen Sujets, das durch die Art seiner Malerei der dargestellten Szene eine besondere Bedeutung verleiht, ihren Sinn zur Anschauung bringt und den Betrachter durch die scheinbare Wirklichkeitsnähe oder Schönheit der Darstellung in den Bann zieht. Diese Bilder waren neben den privaten Andachtsbildern und den Porträts die ersten, die von finanzkräftigen oder mächtigen Personen gesammelt und einer begrenzten Öffentlichkeit vorgeführt wurden. Es läßt sich nun ermessen, wie innovativ die Idee der Albertischen historia ist. Eine historia hat alle jene Kriterien zu erfüllen, die Horaz in seiner Poetik von der Dichtung fordert: sie sei in sich geschlossen (ein Bild), bewege das Gemüt und sei lehrreich. Solches erreicht auch das Bild durch eine dem poetischen Verfahren analoge, literarisch-kunstreiche Konzeption des Sujets (inventio). Albertis ideale historia ist in diesem weiteren Sinn - wie die Beispiele zeigen - stets allegorisch, sie muß mehr und anderes aussagen, als sie zeigt. Sie verdoppelt nicht nur eine schriftliche Erzählung als Bild, wie dies die alte historia zu tun hatte, sondern unterlegt dem Ereignis einen »Sinn«. Doch das wichtigste bildnerische Mittel Albertis ist die Illusion, die Vortäuschung des Blickes auf eine wirkliche Welt. Sie kann dann entstehen, wenn die historia eine der Wirklichkeit proportionale optische Einheit darstellt, wenn sie als Einzelbild die Totalität der Welt repräsentiert. Regeln und Legitimation hierfür entwickelt Alberti aus seinem eigenwilligen Verständnis Vitruvs. Bei allen Un-

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Abb. 4 Sandro Botticelli, Calumnia des Apelles, 6 2 x 9 1 cm, Florenz, Uffizien.

terschieden, die nicht nur in der Natur der Sache begründet sind, geht auch Vitruv vom sakralen Gebäude als Solitär aus, der nach menschlichem Maß proportioniert sein soll. Und vielleicht ist es nicht unwesentlich, daß nur ein sakrales Gebäude ein Analogon zum neuen säkularen Bild sein konnte.

Albertis historia als Synthese von Allegorie, Bilderzählung und Andachtsbild Albertis Innovation entsteht ebenso wie sein ideales Gemälde durch die Technik der Kombination von Bekanntem, also durch compositio. Rezeption verschiedener Theorien und sinnliche Erfahrung haben gleichermaßen eine Rolle gespielt. Überblickt man, was die Malerei des 14. Jahrhunderts Alberti an Studienmaterial bot, so sehen wir, daß in der zyklisch-erzählerischen Malerei, der alten historia, ebenso Höchstleistungen erzielt worden sind wie in der von ihr zu unterscheidenden Bildgattung der Allegorie.53 Als dritte »Gattung« wäre das religiöse 93 Vgl. Hans Belting, »Das Bild als Text. Wandmalerei und Literatur im Zeitalter Dantes«, in: Hans Belting, Dieter Blume (Hrsg.), Malerei und Stadtkultur in der Dantezeit. Die Argu-

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»GEMÄLDES«

Andachtsbild zu nennen, das in mancher Hinsicht Kriterien der albertischen historia erfüllt,94 denn stets handelt es sich hierbei um ein einzelnes Bild, das mehr als alle übrigen Bilder des 14. Jahrhunderts auf den emotionalen Kontakt angelegt ist. Nicht erst seit Duccio kann man auch sagen, daß sich dieses Andachtsbild durchaus um Illusionismus oder besser um getreue Abbildlichkeit bemüht.95 Beispiele für die alte, zyklische historia sind zahlreich; zu nennen wären in Florenz etwa die Freskenzyklen Masaccios und Masolinos in S. Maria del Carmine. Für die Allegorie verweise ich auf die Ausmalung der Cappella degli Spagnuoli in der Florentiner Kirche S. Maria Novella. Das berühmteste Andachtsbild des 14. Jahrhunderts war Duccios Maestà in Siena, doch gab es zahlreiche bescheidenere in Florenz. Schließlich wären vielleicht auch bereits vereinzelte Bilder niederländischen Importes zu nennen. Alberti konstruiert aus den drei genannten, um die Mitte des Jahrhunderts prägnant unterschiedenen Bild-Konzepten eine Synthese. Er findet ein Beispiel, das wenigstens zwei, vielleicht auch alle drei Kriterien erfüllt: Giottos Navicala Petri (Abb. i , 3). Dieses Bild ist offensichtlich erzählerisch, und Alberti erwähnt es als Musterbeispiel für die zur Nachempfindung anregende Gefühlsdarstellung. Das Mosaik ist aber auch keine einfache Schilderung eines Ereignisses, sondern programmatisch allegorisch. Die Darstellung des historischen Ereignisses, des gescheiterten Versuches des Petrus, über Wasser zu gehen und seiner Errettung durch Christus, ist verbunden mit der Darstellung eines Anglers rechts im Vordergrund. Der allegorische Sinn des Bildes besteht in der Darstellung Christi als »Menschenfischer« und der Funktion der Kirche als sicheres Boot auf sturmbewegter See. Allerdings erfüllte selbst Giottos Navícula die Kriterien der modularen, proportionierten Komposition nur bedingt; die Darstellung einer Wasserfläche erübrigte eine geometrische Konstruktion des Bildraumes. Nur Masaccios bereits genanntes Trinitätsfresko könnte die von Alberti neu eingeführten mathematischen Grundlagen der historia exemplifizieren. Mit etwas gutem Willen kann dieses Altarfresko als historia bezeichnet werden, indem es offensichtlich ein Ereignis so darstellt, daß dessen tieferer - hier religiöser - Sinn bildlich zum Ausdruck kommt und indem es den Betrachter zur emotionalen Teilnahme auffordert. Ebenso hanmentation der Bilder, München: Hirmer 1989, S. 2.3-64, insbesondere der Versuch der Umschreibung der Bildgattungen »Allegorie« und »historia«, S. 3 9 - 5 3 , wobei Belting hier immer die alte historia meint. 94 Locher 1994, S. 98-99. 95 Klaus Krüger; »Mimesis als Bildlichkeit des Scheins - Zur Fiktionalität religiöser Bildkunst im Trecento«, in: Künstlerischer Austausch - Artistic Exchange, (Akten des XXVIII. Internationalen Kongresses für Kunstgeschichte Berlin, 15.-20. Juli 1992), hrsg. v. Thomas W. Gaehtgens, Akademie Verlag, Berlin: 1993, II, S. 423-436.

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delt es sich, was um 1 4 2 8 für ein Altarbild noch nicht üblich war,96 mehr oder weniger um ein Einzelbild. Dennoch bleibt es hinsichtlich der inventio oder auch als Darstellung eines Ereignisses ein ungeeignetes Beispiel für die historia, die Bewegung und Variationsreichtum fordert. Auch dieses Bild kann demzufolge nicht als das praktische Muster für Albertis theoretische Konzeption bezeichnet werden, vielmehr wird gerade deren Leistungsfähigkeit darin sichtbar, daß sie zur Beschreibung der neuen Qualitäten eines so revolutionären Bildes Argumente bereitstellen kann. Wenn es aber um 1 4 3 5 keine malerische Praxis gab, zu der Alberti die Theorie hätte formulieren können, so scheint er im Traktat De pictura zunächst eine humanistisch-literarische, eine theoretische Aufgabe erfüllen zu wollen, die in der Abfassung eines in sich schlüssigen Textes bestand, mit dem er sich in der Humanistenwelt Ehre erwerben konnte. Doch ist die Arbeit nach Albertis Auffassung erst ruhmbringend, wenn die Praxis ins Auge gefaßt ist, wenn die Theorie zu deren Verbesserung nach dem Vorbild der Antike beiträgt. 97 Die doppelte Motivation resultiert in der Offenheit für Sachverhalte der Gegenwart und der Literatur, also der Vergangenheit. Der Antrieb für die Abfassung des Malereitraktates ist letzlich ein ethischer.98 Alberti will auf eine Verbesserung der Gesellschaft hinarbeiten, indem er in der neuen Malerei ein neues Erkenntnismittel offeriert. Wie die Poesie kann Malerei erbauliche Inhalte transportieren, doch anders als diese kann sie Wissen sinnlich vermitteln, wie Aristoteles in den ersten Sätzen der Metaphysik sagt: Alle Menschen streben von Natur nach Wissen; dies beweist die Liebe zu den Sinneswahrnehmungen; denn auch ohne den Nutzen werden sie an sich geliebt und vor allen anderen die Wahrnehmungen mittels des Auges; [...] Ursache davon ist, daß dieser Sinn uns am meisten Erkenntnis gibt und viele Unterschiede aufdeckt. 99 In der Absicht einer Verbesserung der Gesellschaft liegt auch der Grund für Albertis Bemühungen um eine vulgärsprachliche Literatur ein Projekt, das Alberti bereits in den Jahren beschäftigte, während deren er den Traktat über die Malerei in Latein und in Italienisch abfaßte. Von seinen Humanistenkollegen unterscheidet sich Alberti im Anspruch, das verlorene und neu erworbene Wissen breit

96 Hubert Locher, »Das gerahmte Altarbild im Umkreis Brunelleschis. Zum Realitätscharakter des Renaissanceretabels«, in: Zeitschrift für Kunstgeschichte, LVI, 1993, S. 487-507. 97 Vgl. Aristoteles, Metaphysik, 980-98x8. und Anm. 98 Katz 1978, passim, u. S. 23; jedoch mit anachronistischer Betonung des neoplatonischen Hintergrundes, der allenfalls gegen Ende des 1 5 . Jahrhunderts von Bedeutung ist. 99 Aristoteles, Metaphysik, 980a.

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zugänglich zu machen. Es ging Alberti nicht nur darum, in Literatenkreisen Ansehen zu erwerben, sondern er beabsichtigte, die aktuelle Kultur auf breiter Basis zu fördern. Daraus erklären sich seine Bemühungen, Italienisch zur Sprache der Erkenntnis, der Wissenschaft, der Literatur zu entwickeln. Der ethische Anspruch wird zuerst im Vorwort zum dritten Buch von Deila famiglia formuliert (1437). 100 Doch bereits in De pictura ist die Idee in Ansätzen vorhanden, und der Versuch, einen bislang nur in Latein möglichen wissenschaftlichen Diskurs in Italienisch zu führen, ist erst vor diesem Hintergrund verständlich. Malerei soll zu einer der aktuellen Welt angemessenen Erkenntnismethode entwickelt werden, die schließlich an der Verbesserung der Gesellschaft mitwirkt. Nicht nur durch die theoretische Tätigkeit eines Literaten, durch die Vorhaltungen eines Orators kann dies gelingen, es gelingt auch mittels einer die Gefühle aufwühlenden Malerei. Als historia erreicht die moralische Kompetenz des gebildeten Malers die Adressaten in kultiviertester Weise. Seine Rolle in der neuen Gesellschaft könnte in Zukunft eine viel wichtigere werden.

100 Alberti ist der erste, der die in Humanistenkreisen geführte Diskussion um die Rolle der lateinischen Schriftsprache in der Antike in Volgare abhandelt. Die Verteidigung der Vulgärsprache setzt Alberti mit jenem berühmten Wettstreit fort, den er 1 4 4 1 in Florenz ausrichtete. Es galt um den Preis einer silbernen Lorbeerkrone einen literarischen Text zum Thema della vera amicizia in Volgare zu verfassen. Vgl. Bonucci im Vorwort zu seiner Ausgabe der Opere volgari, I, S. XVII, Appendice V., S. CLXVII-CCXXXIV. Alberti ist auch der Verfasser der ersten vulgärsprachlichen Grammatik: La prima grammatica della lingua volgare. La grammatica vaticana Cod. Vat. Reg. Lat. 1370, hrsg. v. Cecil Grayson, Bologna: Comm. per i testi di lingua 1964, und Opere volgari, Grammatica,

III, S. 1 7 5 - 1 9 3 . Grundlegend hierzu Mirko Tavoni,

Latino,

Volgare. Storia di una questione umanistica, Padova: Ed. Antenore 1984, zu

Alberti S. 4 2 - 7 2 .

OSKAR BÄTSCHMANN

Leon Battista Alberti: De statua

Einleitung Zwischen 1468 und 1 4 7 1 ließ Alberti eine Abschrift seines Traktats De statua an den Bischof von Aleria (Korsika), Giovanni Andrea de' Bussi ( 1 4 1 7 - 1 4 7 5 ) , überbringen. Der Begleitbrief erinnert den Empfänger an sein Wohlgefallen an den früher vom Autor zugeschickten Schriften De pictura und De elementis picturae und an sein unbestechliches Urteil. Der Traktat wird angekündigt als »drittes kleines Werk, das weniger mit dem Maler als mit dem Schaffen des Architekten zu tun« habe. 1 Dieser merkwürdigen Eingrenzung folgt eine rätselhafte Ankündigung des Inhalts des Traktats: »In ihm wird untersucht und dargelegt, wie man aufgrund bekannter und bestehender Maßverhältnisse eine kolossale Figur zu errichten vermag«. An Beispielen von Kolossalstatuen erwähnte Alberti den dem Phidias zugeschriebenen Rossebändiger auf dem Quirinal (Abb. 1) für die Vermessung einer Skulptur, ferner ein unwahrscheinliches Werk in der Höhe des Kaukasus für die höchste denkbare Vergrößerung und eine zehn Braccia hohe

ι Leon Battista Alberti, De Statua: Tertium hoc item opusculum,

quod non magis ad

pictorem quam ex multa parte ad architecti ingenium pertineat, spero futurum ut legas cum voluptate. - Diese und die folgenden Ubersetzungen von De statua stammen von Prof. Christoph Schäublin, Universität Bern. Wir werden demnächst eine neue kommentierte, zweisprachige Ausgabe von De statua, De pictura und der Elementa picturae herausgeben (Wissenschaftliche Buchgesellschaft Darmstadt). Die Angaben der Paragraphen beziehen sich auf den lateinischen Text der Edition Leon Battista Alberti, On Painting and On Sculpture.

The

Latin Texts of De Pictura and De Statua, hrsg. u. iibers. v. Cecil Grayson, London: Phaidon 1972., S. 1 1 8 - 1 1 9 .

O S K A R BÄTSCHMANN

no

Figur für die Anpassung des Maßstabes.2 Aber im übrigen handelt De statua nicht von Kolossen, sondern von der Ausmessung des menschlichen Körpers und von der maßgerechten Verkleinerung und Vergrößerung eines Modells. Der Traktat beschäftigt sich in der Einleitung mit dem Ursprung und dem Ziel der Bildhauerkunst und erläutert im Hauptteil drei neue Instrumente oder Werkzeuge des Skulptors und endet mit einer Tafel der Proportionen des menschlichen Körpers. Giovanni Andrea de' Bussi ( 1 4 1 7 - 1 4 7 5 ) von Vigevano war nach Studien in Paris und Mantua über Genua nach Rom gekommen und wurde nach Jahren untergeordneten und schlecht bezahlten Dienstes 1458 Sekretär des Kardinals Nikolaus von Cusa. In dessen Dienst begann er sich nicht nur mit dem kulturellen Erbe der Handschriften zu beschäftigen, sondern er erkannte auch die enorme Bedeutung des Buchdrucks. 1464 wurde de' Bussi Generalvikar des Erzbistums Genua und 1466 Bischof von Aleria in Korsika, blieb aber in Rom wohnhaft. 1468 begann seine Zusammenarbeit mit den Buchdruckern Konrad Schweinheim und Adolf Pannartz in Rom. Innerhalb von wenigen Jahren publizierte de' Bussi eine große Zahl von Texten klassischer Autoren wie Julius Caesar, Strabo, Vergil, Cicero, Ovid. 1471/72 wurde er von Sixtus IV. zum Bibliothekar der Vatikanischen Bibliothek ernannt.3 Wahrscheinlich sandte ihm Alberti seine kleinen Traktate über Malerei und Bildhauerkunst, weil er auf eine Drucklegung durch den effizienten Herausgeber hoffte und vielleicht auch für den umfangreichen Architekturtraktat Libri decern de re aedificatoria Hoffnung auf Veröffentlichung hegte. Diese Erwartungen, die mit dem Beginn von de' Bussis Herausgebertätigkeit 1468 erwacht sein mochten, erfüllten sich nicht. Alberti wurde nach seinem Tod 1472 im mediceischen Literaten- und Philosophenkreis hauptsächlich von Cristoforo Landino und Angelo Poliziano rezipiert. In Florenz erschien schließlich 1485 die Editio princeps des Architekturtraktats mit einem an Lorenzo de' Medici gerichteten Vorwort von Angelo Poliziano, das Alberti nicht nur als Theoretiker und Architekten rühmte, sondern auch als Erfinder von Maschinen, Konstruktionen und Automaten und ferner als Maler und Bildhauer.4

ζ Die unwahrscheinliche »Skulptur von der Höhe des Kaukasus« dürfte auf die Legende von Dinokrates, dem Architekten Alexanders des Großen, anspielen. Vgl. Werner Oechslin, »Dinokrates - Legende und Mythos megalomaner Architekturstiftung«, in Daidalos,

198z,

Nr. 4, S. 7 - Z 6 . 3 Girolamo Mancini, Vita di Leon Battista Alberti,

z. Aufl., Florenz: G. Carnesecchi

1 9 1 1 , (Reprint Rom: Bardi 1967), S. 4 8 4 - 4 8 5 . M. Miglio, Art. »Bussi, Giovanni Andrea«, in: Dizionario

Biografico

degli Italiani, XV, S. 5 6 5 - 5 7 Z .

4 Leon Battista Alberti, Libri decern de re aedificatoria, fol. a ν; vgl. Leon Battista Alberti, De re aedificatoria.

Florenz: Nicolaus Laurentii 1 4 8 5 ,

Florenz 1485. Index verborum,

bearb.

L E O N B A T T I S T A A L B E R T I : D E STATUA

Abb. ι Antonio Lafreri, Pferdebändiger, 1575.

Die Datierung des Traktats De statua in relativer wie absoluter Hinsicht erwies sich als außerordentlich schwieriges, wenn nicht als unlösbares Problem. Faßte man den Brief an Giovanni Andrea de' Bussi als Widmung des Traktats auf wie Janitschek 1877, mußte man De statua als eine späte Schrift von Alberti betrachten.5 Janitschek wandte sich damit gegen die ältere Auffassung, die auf-

V. Hans-Karl Lücke, Faksimiledruck und 3 Indexbde., München: Prestel 1975. Leon Battista Alberti, Zehn Bücher über die Baukunst, übers, v. Max Theuer, Wien, Leipzig: Heller 1912.; Reprint Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1975, S. 5-6. Comento di Christophoro Landino sopra la Comedia di Danthe Alighieri, Florenz 1 4 8 1 , fol. IVr. Vgl. Michael Baxandall, Painting and Experience in Fifteenth Century Italy. A Primer in the Social History of Pictorial Style, Oxford: Clarendon Press 1 9 7 z , S. 1 1 4 - 1 1 7 ; deutsch: Die Wirklichkeit der Bilder. Malerei und Erfahrung im Italien des 15. Jahrhunderts, 2. Aufl., Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1984, S. 1 5 2 . 5 Leon Battista Alberti, Kleinere kunsttheoretische Schriften, hrsg., übers, u. eri. ν. Hubert Janitschek (Quellenschriften für Kunstgeschichte und Kunsttechnik des Mittelalters und der Renaissance, hrsg. v. Rudolf Eitelberger v. Edelberg, 1 1 ) , Wien: W. Braumüller 1877, Nachdruck: Osnabrück: Zeller 1970, Einleitung S. XXXII-XXXIII. Janitscheks Datierung wurde mit Reserven übernommen von Julius von Schlosse^ Die Kunstliteratur. Ein Handbuch zur Quellenkunde der neueren Kunstgeschichte, Wien: A. Schroll 1924, S. 1 1 0 ; Julius von Schlösset; La Littérature artistique. Manuel des sources de l'histoire de l'art moderne, traduit de l'allemand

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OSKAR BÄTSCHMANN

grund der Bemerkung »Ma del pittore ne tratteremo

altra volta« in der italieni-

schen Fassung von Cosimo Bartoli diesen Traktat vor De pictura angesetzt hatte. 6 Doch kann sich die Datierung von Janitschek, die bis in die jüngste Zeit ohne Vermehrung der Argumente vertreten wurde, nur auf die von Alberti an de' Bussi übersandte Abschrift stützen. Paul-Henri Michel und Luigi M a l l è setzten dagegen De statua zeitlich vor den Traktat über die Malerei, von dem eine der beiden Versionen 1 4 3 5 vollendet war. Richard und Trude Krautheimer-Hess entdeckten 1 9 5 6 Ähnlichkeiten zwischen den in De statua und in Descriptio

urbis

Romae beschriebenen Instrumenten, verknüpften die Datierung beider Schriften miteinander und setzten sie vor Albertis Rückkehr nach Florenz 1 4 3 4 . 7 Parronchi begründete mit dem mittelalterlichen Charakter von Albertis Traktat, aufgezeigt durch Analogien mit Aristoteles und Alhazen, und mit dem Kontext der Probleme der Skulptur um 1 4 3 0 eine Frühdatierung. 8 Durch eine eingehende Untersuchung der Argumente in den verschiedenen Schriften Albertis zur Malerei und zur Skulptur kam M a r i a Picchio Simonelli 1 9 7 1 auf die folgende Reihe zwischen 1432. und 1 4 4 6 : Descriptio

urbis Romae

(erste Fassung 1 4 3 2 - 1 4 3 4 ) ,

par Jacques Chavy, Paris: Flammarion 1984, S. 156. Anthony Blunt, Artistic Theory in Italy 1450-1600, 2. Aufl., Oxford: Oxford University Press 1962., S. 7: »written probably shortly before 1464.« Giorgio Fiacca vento, »Sulla data del De statua di Leon Battista Alberti«, in: Commentari, N. S. XVI, 1985, fase. II-IV, S. 2 1 6 - 2 2 1 . Götz Pochât, Geschichte der Ästhetik und Kunsttheorie von der Antike bis zum 19. Jahrhundert, Köln: Du Mont 1986, S. 237-238. 6 Leon Battista Alberti, Opuscoli morali, tradotti da Cosimo Bartoli, Venedig: Franceschi 1598, (Cicognara, Nr. 388), S. 291; in den lateinischen Mss. hat der Satz kein Verb: »Verum de pictore alibi« (Alberti, On Painting and On Sculpture, § 2, S. 121). Die Übersetzung Bartolis drückt die Auffassung aus, De statua sei vor De pictura entstanden. Vgl. Giorgio Fiacca vento, »Per una moderna traduzione del De statua di L. B. Alberti«, in: Cronache di Archeologia e Storia dell'Arte, I, 1962, S. 50-59. Vgl. dazu den analogen Hinweis im Architekturtrakat: Leon Battista Alberti, Libri Decern de re aedificatoria, Florenz: Nicolaus Laurentii 1485, [Faksimile Lücke], Buch VII, f. 126, 1 2 - 1 3 : »Sed de statuis alibi«. 7 Paul-Henri Michel, Un idéal humaine au XVe siècle: La pensée de L. B. Alberti, Paris: Les Belles Lettres 1930. Leon Battista Alberti, Della pittura, edizione critica a cura di Luigi Mallè (Raccolta di fonti per la storia dell'arte, 8), Florenz: Sansoni 1950. Richard Krautheimer, Trude Krautheimer-Hess, Lorenzo Ghiberti, Princeton NJ.: Princeton University Press 1956, rev. Ausgabe 1982, S. 322. Otto Lehmann-Brockhaus, »Albertis >Descriptio Urbis RomaeDella Statua< Albertiano«, in: Paragone, IX, 1959, S. 3-29. Alessandro Parronchi, Studi su la dolce Prospettiva, Mailand: A. Martello 1964, bes. S. 382-388.

L E O N BATTISTA A L B E R T I : D E STATUA

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Elementi di pittura (italienisch), De statua und Della pittura (1435), De pictura (lateinisch) und Elementa picturae (lateinisch). Dieser gut begründete Vorschlag leidet allerdings daran, daß er auf Annahmen über nicht erhaltene erste Fassungen und Überarbeitungen beruht.9 Das größte Verdienst von Picchio Simonelli besteht darin, daß sie den von Janitschek und Grayson übersehenen Abschluß des Traktats publiziert hat und entsprechend den epistolarischen Charakter der Schrift aufzeigen konnte. Noch wichtiger ist aber, daß damit die Auffassung widerlegt wurde, Albertis Traktat sei ein Fragment. Cecil Grayson stützt sich für seine Datierung von De statua zwischen 1449 und 1452 (d. h. kurz vor De re aedificatoria, 145z) vor allem auf das Problem, genau passende Teile einer Statue an verschiedenen Orten herzustellen. Dies läßt sich zurückführen auf ein griechisches Manuskript von Diodorus Siculus, dessen Übersetzung Poggio Bracciolini 1449 vollendete. Doch befand sich das Manuskript schon 142.3 in Florenz, und Papst Nikolaus V. besaß ebenfalls eine Abschrift, die er von Jacobus Cremonensis zwischen 1449 und 1 4 5 2 übersetzen ließ.10 Alle Datierungen von De statua beruhen auf impliziten Wertungen des Textes. Grayson, der für eine Datierung nach 1449 eintrat, mußte den Traktat für »disappointingly brief« halten und die Diskrepanz zwischen der allgemeinen Einleitung und nachfolgenden Konzentration auf technische Instrumente und Verfahren als unerklärbare Einschränkung betrachten. Dieses Problem löst sich vielleicht, wenn man entweder den Traktat als Arbeit eines Anfängers betrachtet, der sich in Anlehnung an die Praxis der Werkstätten erstmals als Kunsttheoretiker betätigt, oder wenn man De pictura zur Voraussetzung des Autors und der Leser erklärt. Doch wird damit der Verdacht nicht ausgeräumt, daß in der Beurteilung und Datierung der Schrift sich primär Rezeptions- und Verständnisprobleme zeigen. In der Enttäuschung über De statua drückt sich die Mißachtung technischer Verfahren gegenüber philosophischen oder ästhetischen Reflexionen aus.

9 Maria Picchio Simonelli, » O n Alberti's Treatises of A r t and Their Chronological Relationship«, in: Yearbook of Italien Studies, I, 1 9 7 1 , S. 7 5 - 1 0 1 . Frank Balters, Peter Gerlach, » Z u r Natur von Albertis >De Statua conofcimento fi fa mediante due cofe, cibè conuno regologrande,&con due fquadre. mobili,con il detto regolo mifuriamo noi & pigliamo le lunghezze delle membra,& con le (quadre tutti gli altri Diametri delle dette membra. Per lo lungo di quello regolo ß tira una linea di ritta lunga,quanto farà la lunghezza del corpo .che noi uorremo raifurare,cioè . dalia foramità del capo fino alla o9«iiUl A o *

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folte di Nauihj li affettino ? Et chi farà quello de noftri Scultori, & fia pur guanto uuole cofidcrato & accorto, che fe ci faradimandato per qual ragiqi>$ b i w i a t p cpmfte membro in queftp m o d o , « c h e proportioneha egli con «HXfte AíW»iq»4At« membro, ò «¡»«¿e è la>proporiione di quelle mcroI I . b u a.ttK«j».h»b.it«tófì «tei corpo,eia f i i a d i e o quello che fia i k t o t a n t o diliig$ew,i» J>jbtì* cOHÍHkwfc.& a u w r t » o il mh»Q. t àio che b a û i ? p < ^ « < j j ì » g i ò e < w f > l c ? & c « f l ) t l i a ( p e i t . a » < h U u ( í i f a p e r f i r b e i u ; la fuñar je,

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