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German Pages 184 [185] Year 1981
HAMANN, THEORIE DER BILDENDEN KÜNSTE
Richard H a m a n n ( 1 8 7 9 - 1 9 6 1 ) (im H i n t e r g r u n d Bildnis von Reinhard Schmidhagen, gest. 1945)
THEORIE DER BILDENDEN KÜNSTE VON
RICHARD HAMANN
Mit 75 Abbildungen
B E R L I N 1980 AKADEMIE-VERLAG
Erschienen im Akademie-Verlag, D D R - 1 0 8 Berlin, Leipziger Str. 3—4 Lektor: Ursula Diecke © Akademie-Verlag Berlin 1980 Lizenznummer: 202 • 100/98/79 Satz, Druck und Einband: VEB Druckhaus „Maxim Gorki", 74 Altenburg Einband und Schutzumschlag: Rolf Kunze Bestellnummer: 753 557 1 (6516) • LSV 8101 Printed in GDR DDR 12,50 M
INHALTSVERZEICHNIS
V o r w o r t v o n Richard H a m a n n — Mac Lean Abkürzungen und Hinweise zum Schrifttum
VII IX
Einleitung
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I. Der Begriff der Kunst. Das Können.
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II. Das Wesen des Ästhetischen. Die Bildlichkeit.
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III. Technologie und Kunsttheorie. Technische und ästhetische Kategorien 1. Manuelles Verfahren und künstlerische Bedeutung 2. Die ästhetischen Kategorien des Architektonischen, Plastischen und Malerischen. .
13 13 14
IV. Die außerästhetischen Faktoren der bildenden Kunst und das Ästhetische 1. Kunst als Vertretung (repräsentative Kunst). Verehrendes An-sehen 2. Kunst als Lebenssurrogat. Einfühlendes Zu-sehen 3. Kunst als Verdeutlichung (Illustration). Begreifendes Ein-sehen 4. Das Verhältnis von Fremdbedeutung der Kunst, Kunsttheorie und Ästhetik. Dekorative Kunst. Begleitende Fremdbedeutungen. Eigenbedeutsame (Abstrakte) . . Kunst. Die Schau
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V. Das Kultbild und das Ansehen 1. Voraussetzungen und Aufgaben der Monumentalkunst 2. Das Wesen der Monumentalkunst a) Die Vergegenwärtigung. Repräsentative Kunst. b) Die Publizität oder Veröffentlichung c) Verewigung. Motive der Eternität d) Motive der Ansehnlichkeit, des Respektes 1. Die Einzelperson 2. Die G r u p p e 3. Das monumentale Geschichtsbild 4. Archaische, klassische und barocke Monumental- und Repräsentationskunst. a) Archaik. Kultbild und Schreckbild b) Klassik. Vorbildlichkeit und Häßlichkeit c) Barock. Das Imposante 5. Das Vorbild 6. Monumentale und repräsentative Architektur a) Der Bau b) Der Raum VI. Das Lebensbild und das Zusehen 1. Das Wesen des Lebensbildes a) Zusehen. Sympathie. Das Poetische b) Motive der Bildlichkeit. Rahmen, Perspektive, Raum c) Natur. Naturalismus d) Menschlichkeit
. . .
21 25 25 28 28 30 32 35 35 37 39 45 45 49 51 54 57 57 60 63 63 63 64 66 68
V
2. 3. 4. 5. 6. 7. 8.
e) Bildung und Dichtung f) Individualität und Intimität Das Porträt Das Gruppenbildnis Das Geschichtsbild (Historienbild) Das Genrebild Das Interieurbild Ästhetik der Landschaft Intime Baukunst. Der Wohnbau
VII. Das Abbild und die Abbildung. Einsehen 1. Das Wesen des Abbildes. Deutlichkeit, Sachlichkeit (Objektivität) 2. Die Illustration oder Abbildung und der Bildbericht 3. Das Bildertagebuch 4. Das planimetrische Abbild oder der Schematismus der Übersicht 5. Studie und Skizze
68 70 71 76 80 84 89 93 99 103 103 104 107 108 110
VIII. Das Gebilde und die Schau
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Nachwort von Peter H. Feist Abbildungsverzeichnis Abbildungsnachweis
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VI
VORWORT DES HERAUSGEBERS
„Kunst — was ist das?" (Ausstellung in Hamburg 1977) Als Richard Hamann Paul Frankl zu seinem Gastsemester in Marburg einführte, erinnerte er an das Bonmot, daß man die Kunsthistoriker in solche, die sehen können, und solche, die denken können, einteile. Frankl begrüßte er als einen, der beides könne. Damit sprach er aus, was er von sich verlangte und wozu er erzog. In der Auseinandersetzung mit Kant, Hegel, Dilthey, Lotze, Husserl, Rickert und Wölfflin stehen am Anfang literarische, erkenntnistheoretische, psychologische und phänomenologische Analysen zur kunstwissenschaftlichen und ästhetischen Begriffsbildung, später, durch Goldschmidt und Vöge angeregt, stilkritisch orientierte Untersuchungen. Das vorliegende Buch, Summe und Synthese der schon vor der Promotion begonnenen theoretischen Arbeit, ist zugleich der Schlüssel für das, was in der „Geschichte der Kunst" dem aufmerksam prüfenden Leser als Standpunkt jemandes sichtbar wird, der den gesamten Stoff als Ganzes durchdenkt, mit anderen Worten: als ein aus historischem Tatsachenmaterial gewonnenes Begriffssystem zur Beschreibung und Ordnung der kunstgeschichtlichen Denkmäler und Sachverhalte. Es ist die letzte große Arbeit, die Richard Hamann 1960, im Jahr vor seinem Tode, abgeschlossen hat und die das Thema unserer letzten fachlichen Gespräche gewesen ist. Sie wurde in den Vorlesungen der fünfziger Jahre an der Humboldt-Universität in Berlin und in Marburg vorbereitet. Die entscheidenden Gesichtspunkte und Begriffe finden sich bereits in den früheren Aufsätzen (vgl. Frieda Dettweiler, Schrifttum, in: Richard Hamann in memoriam, 1963), wo sie im einzelnen erkenntnistheoretisch ausführlicher begründet werden. Sie sind in der Praxis, bei Führungen vor den Originalen aller Zeiten in den Berliner Museen gewonnen worden, ihre Formulierung hat laufend die kunstgeschichtliche Forschungsarbeit und Lehre begleitet. Beide stehen in einem reziproken Verhältnis. Das Besondere dieser letzten Fassung ist die engere Verbindung der theoretisch nach wie vor scharf getrennten Kategorien des Ästhetischen und der Kunst, wobei vor allem die nicht ästhetischen Faktoren der bildenden Kunst mit der Bedeutung und der Funktion der ästhetischen Kategorien konfrontiert und ihre wechselseitigen Bedingtheiten erörtert werden. Daß diese Abgrenzung und Zusammenschau auch einer klaren Definition der gesellschaftlichen und geschichtlichen Elemente in den außerkünstlerischen Voraussetzungen des Kunstwerks zugute kommt, versteht sich von selbst. Eine solche Verbindung von Ästhetik, Kunstgeschichte und anthropologischer Soziologie dürfte neben dem theoretischen Wert, den sie für die Wissenschaft haben kann, auch für den Künstler anregend und für die Kunsterziehung nützlich sein. Obwohl eine theoretische Abhandlung grundsätzlich Illustrationen entbehren kann, sprachen doch drei Gründe dafür, von dieser Regel abzuweichen. Die „Theorie" ist auch als solche auf Schritt und Tritt an dem gesamten kunstgeschichtlichen Tatsachenmaterial von der Vorgeschichte bis zum 20. Jahrhundert orientiert, wie es in den beiden Bänden der „Geschichte der Kunst" („Altertum" und „Von der altchristlichen Zeit bis zur Gegenwart") ausgebreitet ist. Zweitens werden in der „Theorie" zahlreiche Beispiele angeführt, die in der „Geschichte der Kunst" nicht vorkommen. So können sich die drei Bände auch in der Stoffauswahl ergänzen. Drittens ist die „Theorie" nicht nur für Fachgelehrte bestimmt, sondern auch für den Leser, der die aus der Kunstgeschichte gewonnenen Erkenntnisse VII
vertiefen und in ihrer Bedeutung noch besser verstehen möchte, dem aber die Beispiele nicht immer gegenwärtig sein können. Es konnten zwar nicht alle genannten neuen Beispiele abgebildet werden. Wenn aber im Text nicht mit einem individuellen Werk exemplifiziert wurde, sind solche Beispiele ausgewählt worden, die besonders geeignet sind, zugleich auch die Denkmälerkenntnis aus Gebieten zu erweitern, die in den beiden Bänden der Kunstgeschichte weniger zur Geltung kommen. Am Text brauchte nichts geändert zu werden. Nur wo das Manuskript einen Hinweis auf ein nicht berücksichtigtes Beispiel enthielt oder es der Sinnzusammenhang mit Rücksicht auf inzwischen veränderte Sachverhalte verlangte, sind einige Sätze vom Herausgeber hinzugefügt worden (in eckigen Klammern). Stillschweigend korrigiert sind nur sprachliche Unebenheiten, die meist durch Irrtümer bei der Lektüre des Manuskripts oder durch Abschreibfehler bedingt waren. Dem Akademie-Verlag, der seinerzeit schon mit größter Sorgfalt die Lizenzausgabe der „Geschichte der Kunst" von Auflage zu Auflage verbessert hat, so daß die letzte Berliner Ausgabe der Taschenbuchausgabe der Droemerschen Verlagsanstalt München zugrunde gelegt wurde, gebührt Dank dafür, daß er mit dem vorliegenden Bande das Gesamtwerk zu dem Abschluß bringt, den sich der Verfasser gewünscht hat. Mainz, im Oktober 1978.
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Richard Hamann-Mac Lean
ABKÜRZUNGEN UND HINWEISE ZUM SCHRIFTTUM
Die in den Fußnoten abgekürzten bibliographischen Angaben finden sich mit vollständigem Titel bei Frieda Dettweiler, Schrifttum, in: Richard Hamann in memoriam, mit zwei nachgelassenen Aufsätzen und einer Bibliographie der Werke Richard Hamanns. Deutsche Akademie der Wissenschaften zu Berlin. Arbeitsstelle für Kunstgeschichte (Schriften zur Kunstgeschichte, hg. von Richard Hamann f und Edgar Lehmann, Heft 1), Berlin 1963. Die Abbildungsverweise beziehen sich auf folgende Werke Hamanns: Geschichte der Kunst, Altertum, Berlin 1963 (geringfügige Abweichungen gegenüber der Erstausgabe von 1952) II Geschichte der Kunst, Mittelalter und Neuzeit, Berlin 1965 (geringfügige Abweichungen gegenüber der Erstausgabe von 1933 und der Neuausgabe von 1953) Mal. Die deutsche Malerei vom Rokoko bis zum Expressionismus, 1925 Richard Hamann in memoriam Mem. Rembrandts Radierungen, Berlin 19061, 19132, 19193 Rad. Rembrandt, Berlin 1969 (2. Auflage mit Anmerkungen von Werner Rembrandt Sumowski) Die Abteikirche zu Saint-Gilles, Berlin 1955 St.-Gilles Außerdem werden abgekürzt zitiert: B. Bartsch, Le peintre graveur, 1803- - 2 1 KdK Klassiker der Kunst Kindlers Mal.Lex. Kindlers Lexikon der Malerei, 5 Bde., Zürich 1964—68 Winkler Friedrich Winkler, Die Zeichnungen Albrecht Dürers, 4 Bde. Berlin 1936-39 I
IX
EINLEITUNG
Eine Theorie der bildenden Kunst wird, wie jede Theorie der Kunst, bei den ästhetisch empfindsamen Menschen und allen Kunstschwärmern auf Widerspruch stoßen. Scheint doch gerade die Kunst berufen, den Menschen in ein Reich des Irrationalen, des Gefühls oder der reinen Anschauung hineinzuführen, das aller Regeln spottet und den Gegensatz zu aller Begrifflichkeit und Berechenbarkeit darstellt. Kunstgenuß wäre dann sogar eine Erlösung von der Grauheit aller Theorie und Berechnung, um die wir im tätigen Leben des Alltags nicht herumkommen. Zugegeben, daß es Sinn der Kunst sei, sich dem gefühlund begriffslosen Schauen hinzugeben, und daß die Subsumption einer Wahrnehmung unter einen Begriff noch nicht Genießen oder auch nur Verstehen des Angeschauten im rein ästhetischen Sinne sei, so ist doch nicht zu leugnen, daß sowohl der Kritiker wie der Kunsterzieher, vor allem aber der Kunsthistoriker, sich der Sprache und damit der Begriffe bedienen muß, um über Werke der bildenden Kunst etwas auszusagen, und daß er damit der Begriffe bedarf, die für alle gültig sind und keine Zweifel darüber lassen, was der Kritiker meint, wenn er sein Gefallen oder Mißfallen über etwas ausdrückt; der Kunsterzieher, wenn er das A u g e auf Werte lenkt, die von den Zöglingen noch nicht beachtet oder noch nicht verstanden werden; der Historiker, wenn er Entwicklungsreihen im Ablauf des historischen Geschehens in der künstlerischen Produktion nachweist. Wenn solche Begriffe fehlen, und wenn die Begriffe, die der über Kunst Redende anwendet, nicht wesentliche Züge des künstlerisch oder ästhetisch Wertvollen beschreiben, dann läuft alles Reden über Kunst allzu leicht auf etwas hinaus, was mit Kunst oder mit dem beschriebenen Kunstwerk gar nichts zu tun hat, auf ein Danebenreden und WorteMachen, das von dem Gegenstand der Betrachtung abführt. So gibt es ein von Dichtern (Oscar Wilde) gefordertes und von vielen Kunstschriftstellern geübtes Verfahren, von Werken der bildenden Kunst (und noch mehr der Musik) so zu reden, daß ein dem Angeschauten analoges Wortkunstwerk, eine Dichtung, entsteht, die, auf den gleichen Gefühlston gestimmt, von dem für das A u g e geschaffenen Werk einen analogen Eindruck vermitteln solle und damit die beste Beschreibung des Werkes gäbe, weil es im Ästhetischen verbleibe, und nicht in die Sphäre des kühlen, unsinnlichen Erkennens hinüberwechselt. Ein schönes Beispiel einer solchen Übersetzung bietet das Gedicht „Wintersonne" von Max Dauthendey, das die dichterische Paraphrase eines Bildes von Hans Olde, ehem. Nationalgalerie Berlin (Abb. I) 1 , wiedergibt. Aber damit ist weder dem Kritiker, noch dem Erzieher, noch dem Historiker genützt, denn die Wortdichtung hat nun ihre eigenen Qualitäten und verrät nicht, was an dem Gemälde gefällig oder ungefällig ist. Auch gewährleistet die Eigenart des Wortes nicht, daß das A u g e auf die wesentlichen Züge des Bildes hingelenkt wird, vielmehr verdrängt das Gedicht das Bild um so mehr, je besser es ist. Der Kunsthistoriker aber muß die Arbeit, für seine historische Einordnung Begriffe zu finden, vor dem Gedicht genauso verrichten wie vor dem Gemälde. Eine Abführung vom Kunstwerk aber ist es auch, wenn der Historiker, anstatt über das Werk etwas auszusagen, uns von dem Leben des Künstlers erzählt, eine biographische Methode, die im 19. Jahrhundert eine große Rolle spielte. Wenn das Kunstwerk, seine 1
Maximilian Dauthendey, Ultra Violett, Einsame Poesien. Berlin o. J. (Max Haase), S. 1 0 5 — 107.
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Konzeption und seine Schöpfung nur als Akt in einem Lebensprozeß gewürdigt werden, erfahren wir bestenfalls, weshalb ein Kunstwerk geschaffen wurde, und weshalb zu dieser oder jener Zeit, vielleicht auch, warum es so und nicht anders geworden ist; es bleibt aber noch immer unklar, was es eigentlich als Kunstwerk ist, und ob es eines ist. Das Problem ist also, daß wir zunächst fragen, was ist ein Kunstwerk, welches ist der eigentümliche Wert, den wir mit Kunst bezeichnen oder der uns durch Kunst vermittelt wird; gibt es Begriffe, die diesen Wert unzweideutig und von anderen Begriffen getrennt bezeichnen, sind Begriffe wie Monument und monumental, Porträt, Genrebild, Landschaft, Stilleben Begriffe, die den spezifisch künstlerischen Gehalt eines Werkes der bildenden Kunst bezeichnen, und welches ist ihr sinnvoller Inhalt. Dabei stehen wir gleich am Anfang vor der Tatsache, daß schon in den allgemeinsten und grundlegenden Begriffen eine große Verwirrung besteht, d. h. in der Frage: Was ist Kunst und worin besteht die Bedeutung des Künstlerischen?
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I. DER BEGRIFF DER KUNST. DAS KÖNNEN
Kunst ist zunächst Gegensatz von Natur. Vom Menschen aus gesehen etwas, was er nicht in der Außenwelt als ohne sein Zutun und ohne Berechnung geworden vorfindet, sondern etwas, was er mit bewußter Berechnung selber produziert. In diesem Sinne sprechen wir von Kunstseide, Kunsthonig, Kunstfaserstoffen u. a. Wir nennen diese Produkte künstlich, also noch nicht künstlerisch, und dieses Prädikat „künstlich" bedeutet noch keineswegs einen Wert. Im Gegenteil, die meisten Menschen haben eine Abneigung gegen das künstlich Hergestellte, die Kunstprodukte, wenn es dieselben Dinge auch als Naturprodukte gibt, wobei der Ausdruck „Naturprodukt" selbst schon wieder ungenau ist, da es sich dabei ja gerade nicht um Produziertes, sondern um natürlich Gewordenes handelt. Daß man künstliche Zähne, künstliche Haare trägt, läßt man möglichst nicht merken. Ja, wo in einem Gemälde ein Stück Natur geschildert wird, etwa eine Landschaft, da verlangen wir vom Künstler, daß er alle Spuren der künstlerischen Arbeit, der Produktion, verwischt und nicht merken läßt, daß die gemalte Landschaft ein Kunstprodukt, etwas Künstlerisches ist. Eine solche Landschaft, die wir um so mehr bewundern, je natürlicher sie ist, und bei der die Kunst darin besteht, diesen Eindruck der Natur zu erwecken, nennen wir nicht künstlich, sondern künstlerisch. Ein Kunstprodukt ist auch eine Schraube, ein Topf, eine Maschine. Auch sie sind etwas Künstliches, obwohl wir im Allgemeinen diesen Ausdruck nur dort gebrauchen, wo es dieselben Dinge auch in der Natur gibt und der Unterschied zur Natur nur damit hervorgehoben werden soll. Aber sie sind keine Kunstwerke, sind nichts Künstlerisches. So scheint also das Künstlerische und Kunst in einem besonderen Sinne (o, holde Kunst) in dem zu liegen, was eine Landschaft von den zwecklichen und rationalen Gebrauchsgegenständen unterscheidet, der reinen Anschauung, dem Ästhetischen. Vergleichen wir aber eine Landschaftszeichnung von Dürer, etwa das kleine Aquarell der Ansicht von Innsbruck 2 , mit einer Farbaufnahme von Athen, von der Pnvx aus gesehen mit dem Blick auf die Akropolis, so wird den meisten, und nicht zu Unrecht, die griechische Landschaft viel bedeutender und eindrucksvoller erscheinen als die Ansicht von Innsbruck. Der unmittelbare Natureindruck, den die Farbfotografie vermittelt, wirkt hinreißender als die Ansicht, die der Künstler uns verschafft, eben weil der Gegenstand hinreißender, großartiger ist, aber natürlich nur, soweit wir den Gegenstand, die Landschaft, in Betracht ziehen. Ja, es wird Leute geben, die auch noch den unmittelbaren Natureindruck, den wir von der Landschaft empfangen, großartiger finden als die Darbietung durch die Farbfotografie, d. h. im Vergleich mit dem von Menschenhand Geschaffenen. Als eine Landschaft darstellendes Kunstwerk, das ist ebenfalls außer Zweifel, ist die Zeichnung von Dürer der an sich eindrucksvolleren Farbaufnahme weit überlegen oder überhaupt unvergleichbar mit dieser, da es sich bei fotografischen Aufnahmen in den seltensten Fällen um ein Kunstwerk handelt. Dasselbe gilt für das Verhältnis von Original zu Kopie. Es gibt Kunstwerke, die zwar Kopien, aber so vollkommen sind, daß auch Kenner sie für Originale halten. Ein solches 2
Wien, Albertina. II, Taf. XII: Dürer, Ansicht von Trient.
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Werk ist der Hermes des Praxiteles in Olympia. 3 Von den meisten Archäologen wird er als Original eingeschätzt ; Carl Blümel hat dagegen nachzuweisen versucht, daß die Figur eine Kopie ist und damit ebenfalls Anklang gefunden. Die ästhetische Qualität kann also nicht von der Entscheidung abhängen, ob wir eine Kopie oder ein Original vor uns haben. Aquarelle können mechanisch mit Hilfe fotografischer Techniken so gut reproduziert werden, daß der Eindruck hinter dem des Originals nicht zurückzustehen braucht. Ja, Reproduktionen nach Kupferstichen wie die Reichsdrucke können einen späten Druck nach der originalen Kupferplatte an Güte übertreffen. Dennoch werden alle diese Kopien, als Kunstwerke beurteilt, weit hinter das Original zurückgestellt und auf dem Kunstmarkt im Preis soviel geringer bewertet, daß sie fast als wertlos gegenüber dem Original gelten können. Die kleinen Unterschiede, die die Kopie in fast allen diesen Fällen gegenüber dem Original zeigt, können also nicht der Grund dafür sein, den großen Wert- und Preisunterschied von Original und Kopie zu rechtfertigen. So ergibt sich, daß der Kunstwert, d. h. der Wert, den das Kunstwerk als künstlerische Leistung, als Werk eines Meisters besitzt, nicht identisch ist mit dem Wert, den das Werk als Inhalt für das Auge — als Eindruck —, oder als ästhetisches Phänomen — als Wahrnehmungsgehalt —, besitzt. Wie kommen wir diesem Kunstwert eines Kunstwerks näher, wenn er nicht mit dem Anschauungswert des dargestellten Inhalts zusammenfällt? Es gibt ein Künstler-Bonmot über den Begriff der Kunst, das in geistreich amüsanter Form dem Problem auf den Grund geht: „Kunst kommt von Können, wenn man es aber kann, ist es keine Kunst mehr." Kunst ist also da, wo ein Werk durch seine Gekonntheit auffällt, wo wir es nach der produktiven Leistung seines Schöpfers, als Ausfluß eines besonderen und als solchen auffallenden Könnens beurteilen. Denn ohne diese Besonderheit wird man ein Werk nur nach seinem Zweck und Nutzen oder nach seinem Erfolg beurteilen, nicht aber nach der produktiven Kraft, die sich in ihm offenbart. Eine Schraube, ein Gerät, eine Uhr ist auch menschliches Produkt, ein Werk; aber wir fragen dabei nur nach der Brauchbarkeit, nicht nach der Kunst, dem Können, die darauf verwendet sind. Wenn aber komplizierte Dinge und Präzisionsleistungen, die wir nur durch Maschinen erzeugt zu sehen gewohnt sind, mit der Hand, von einem Menschen, angefertigt sind, dann bewundern wir in der Regel die Leistung, und das Werk wirkt in die Kategorie des Kunstwerkes hinein. Eine Uhr, die außer den Stunden, Minuten, Sekunden auch noch die Tage, Monate, Jahre, den Sonnen- und Mondaufgang und wer weiß was noch alles anzeigt, und wo durch völlig unnütze Dinge, wie einen krähenden Hahn, durch einen Mann, der aus einer Tür heraustritt und eine Glocke anschlägt, oder andere solche Mätzchen, die Aufmerksamkeit von der Sache ab- und auf den Erfinder und Erbauer der Uhr hingelenkt wird — eine solche Uhr heißt Kunstuhr und wird womöglich, statt dem menschlichen Verkehr zu dienen, in besonderen Schauräumen aufgestellt und gegen Entgelt gezeigt. Die Menge drängt sich wie im Zirkus, die Kunst an solchen Uhren zu bewundern. Jeder, der im Straßburger Münster um die Mittagszeit geweilt hat, wird erlebt haben, wieviel stärker auf die Menge die Kunst der Kunstuhr wirkt als die gehaltvollere der Meisterschöpfungen frühgotischer Bildnerei am benachbarten Engelspfeiler und Südportal der Kirche. Es zeigt sich also schon jetzt, daß zur Beurteilung eines Werkes als Leistung zwei Faktoren wichtig sind ; erstens das Auffallen dieser Leistung, der hohe Grad des in ihr zum Ausdruck kommenden Könnens, ihre Schwierigkeit, also die Komplikation, und zweitens die Konzentration auf die Leistung selbst, das Vorführen, das Produzieren des Könnens und die damit verbundene relative Isolierung vom Zweck des Werkes. Es gibt Fälle, in denen sich die Leistung, das Können, zwecklos, aber sehr kompliziert unmittelbar vor dem Beurteiler produziert, und dieser ihr wie in einem Theater oder vor einem Gemälde gefesselt und bewundernd zuschaut. Es sind die Vorführungen, die wir artistisch, kunstfertig, nennen, Akrobatik und Jonglistik, Leistungen, die in Zirkus oder Variété die Menge, aber auch die Gebildeten unter ihnen, in Atem halten. Das bewundernswerte Spiel mit Kugeln, das einst Rastelli in nicht zu überbietender Geschicklichkeit vorführte, ist in bezug auf den Anblick 3
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I, 706.
der in der Luft sich folgenden und wieder in die Hand des Werfenden zurückkehrenden Kugeln ziemlich eintönig, nicht einmal dem Feuerkugelregen einer Leuchtrakete vergleichbar, aber die Bewunderung des Könnens und die Spannung, ob es nicht einmal versagt und die Absicht mißlingt, ist grenzenlos. Hier ist also ganz eindeutig dargetan, daß die Bewertung nicht von dem anschaulichen Inhalt abhängt, sondern ganz und gar von der Kunst, dem Können, das sich hier produziert. Solche reinen Kunsteffekte nennen wir im Gegensatz zum Kunstwerk, das noch einen wertvollen anschaulichen Inhalt anderer Art hat, Kunststück. Es ist klar, daß ein Kunstprodukt, das neben dem reinen Könnenswert noch einen anderen, uns vielleicht wichtigeren Wert enthält, mehr bedeutet als das Kunststück; daß vielleicht auch in der Schöpfung eines solchen Werkes besonderes und alle Artistik und Akrobatik übertreffendes Können zum Ausdruck kommen kann und wir deshalb ein Recht haben, Kunstwerk und Kunststück, Künstler und Artisten zu scheiden. Aber prinzipiell gehört der Begriff der Kunst und das spezifische Künstlerische in dieselbe Kategorie der Leistung des Könnens wie beim Kunststück, und es bedarf eines besonderen Kapitels innerhalb des Begriffes Kunst, die Kunstkategorien wie Genialität und Virtuosität, Original und Kopie, Erfindung und Technik usw. zu erfassen. Wir gehen also bei der Beurteilung und dem Genuß von Kunst im eigentlichen Wortsinn über den Grad der Gekonntheit und den Wert der Produktivität auf den schaffenden Künstler zurück, dem wir mit Beifall die Leistung attestieren und durch Zuruf (Akklamation) bei Vorführung, durch Schriftzeugnisse in der Rezension die Leistung bezeugen. Das hat nichts mit der Psychologie des Künstlers zu tun, die geeignet sein kann, ein Kunstwerk genetisch zu erklären und gegebenenfalls allgemeine Gesetze über die psychischen Vorgänge im Künstler bei der Produktion aufzufinden. Dies wiederum ist kein Weg zur Erkenntnis dessen, was Kunst ist, und führt nicht zur Beurteilung von Kunstwerken. Es ist auch keine subjektive Methode der Ästhetik, sondern Psychologie schlechthin. Daß aber Kunst und Inhalt der Kunst nicht zusammenfallen, geht schon daraus hervor, daß der Begriff der Kunst weit hinausgreift, über das Gebiet der sogenannten Kunstwerke im engeren Sinne, der Werke der bildenden, redenden und tönenden Künste. Wir sprechen von Staatskunst und Kriegskunst bei Männern, deren Leistung auf diesem Gebiet unabhängig vom Erfolg ungewöhnlich und imponierend ist. Wir tun es aber deshalb nur selten und konsequent, weil auf dem Gebiete der Staats- und Kriegsführung der Erfolg mehr bedeutet als die Leistung an sich. Einen Feldherrn, der eine Schlacht verloren hat, wegen seiner Leistung, die größer sein kann als die des Siegers, als Genie zu preisen, fällt uns schwer, obwohl es gerechtfertigt sein könnte. Die Isolierung der Leistung ist in diesem Falle nur durch eine besondere Einstellung des Beurteilers auf das Künstlerische, das Schöpferische der Leistung möglich. Der Inhalt eines Kunstwerkes kann zwar durch Kunst, d. h. durch hervorragendes Können hervorgebracht sein, ist aber selber nicht Kunst. Für die bildende Kunst gilt, daß der Inhalt, der so hervorgebracht ist, für das Auge da ist, wahrgenommen werden will und seinen Wert in der Bedeutung für die Wahrnehmung oder Anschauung hat, also nicht im Produktiven der Hervorbringung, sondern in der Rezeption. Auch der bildende Künstler kann sich produzieren, wie die Schnellzeichner, die im Variété auf Zuruf aus dem Publikum bekannte Persönlichkeiten mit wenigen Strichen im Augenblick auf die Tafel zeichnen, Artisten der Zeichnung, oder wie jener Maler, der auf ein Stilleben eine Fliege so täuschend malt, daß der Betrachter sie wegzuwischen versucht ist. In beiden Fällen muß der Inhalt des Produzierten möglichst unbedeutend sein, soll nicht die übermäßige Hervorkehrung der künstlerischen Leistung, der Virtuosität, Ärgernis erregen; wieder ein Beweis, daß Kunsturteil und Beurteilung des anschaulichen Inhalts zwei verschiedenen Wertstandpunkten angehören. Wo wir bedeutsame anschauliche Inhalte verlangen, da vertragen wir die Mitwirkung des Kunsturteils oder Kunstgenusses nur, wenn wir von der Bedeutsamkeit und Einmaligkeit des Inhalts auf die Besonderheit und Einzigkeit der Leistung schließen, oder wir nehmen die sich vordrängende Produktion, die Technik, nur dann in Kauf, wenn der Inhalt dahinter zurücktritt, wie bei der Fapresto-Malerei (Schnellmalerei) oder der auf die Spitze getriebenen Illusion. Die Andersartigkeit der Begriffe „Kunst" und 5
Landschaft in der Nähe von Theben (Böotien)
„anschaulicher Gehalt" und ihre Unabhängigkeit voneinander gehen aber vor allem daraus hervor, daß es anschaulich bedeutsame Inhalte auch außerhalb von Kunstwerken und der Kunst gibt. Das Motiv einer Farbaufnahme aus der Nähe von Theben ist eine reizlose Gegend, aber die Farben sind von einer Zartheit und Feingestimmtheit wie bei einem guten Aquarell eines impressionistischen Malers. Diese Landschaft wird niemand ein Kunstwerk nennen, auch wenn wir es mit einem Aquarell vergleichen. Hier ist Wirklichkeit, Natur, nicht Kunst, aber von einer Wirkung, wie sie im allgemeinen nur die Kunst bietet. Wenn wir in einem Aquarell, das ein Maler von derselben Landschaft malen würde, außer der Schönheit des Bildes, des Anblicks der Landschaft, auch noch die Kunst, die Malerei, bewundern, so kann die Leistung des Malers unabhängig von der Schönheit, die schon die Natur als Vorbild bot, größer oder geringer sein, kann Kunst oder keine Kunst sein, falls es jeder Maler könnte. Immer aber ist der Wert der Leistung etwas anderes als der Wert des Anschauungsinhaltes, auch wenn er aus diesem erschlossen sein kann.
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II. DAS WESEN DES ÄSTHETISCHEN. DIE BILDLICHKEIT
Was ist nun aber dieser bedeutsame, eindrucksvolle Anschauungsinhalt? Das Beispiel der farbig fotografierten Landschaft war insofern nicht ganz zutreffend, als die fotografische Aufnahme den Natureindruck für das Auge ja nicht genau so wiedergibt, wie er in der Natur da war, denn in der fotografischen Aufnahme liegt schon ein Schritt vor zur Umsetzung der Natur in Kunst. Wenn auch die Kunst nur gering ist, da der Apparat, dessen Bedienung keine Kunst ist, das Wesentliche ausrichtet, für die Wahl des Motivs, das Sehen der Landschaft und die Auswahl des Standpunktes und des Ausschnitts kommen Fähigkeiten in Frage, die auch den bildenden Künstler auszeichnen. Deshalb hat auch das fotografierte Bild gegenüber der Natur Vorzüge, die es dem gemalten Bild näherbringen. Der Anblick, den die Fotografie bietet, erscheint in einem Ausschnitt, wie ihn ein Rahmen vorschreibt; er ist in eine feste geometrische Figur eingespannt, zusammengepreßt und dadurch ganz anders konzentriert als der entsprechende Anblick in der Natur. Daß wir in der Natur, um einen Anblick zu genießen, anstatt uns zu orientieren für unsere Wanderung oder unseren Weg zur Arbeit, stehen bleiben, nur um das, was dem Auge geboten wird, den Anblick, zu genießen, wird durch das fotografierte wie das gemalte Bild erleichtert. Das Auge kann nicht hin und her schweifen, es wird festgehalten und auf den Anblick konzentriert. In der Natur sind die näheren und entfernteren Teile des Bildes nie gleich deutlich, sie treten nie mit derselben Klarheit und Beachtlichkeit gleichzeitig ins Bewußtsein, während im Bilde alle Teile auf einer vom Auge gleich entfernten Sehebene liegen. Dadurch wird wieder ein einziger und einheitlicher Eindruck bedeutsam, indem auch alle Farben ungetrübt durch Undeutlichkeit in größerer Intensität und Reinheit als in der Natur hervortreten und das Verhältnis aller Flächen und Formen zueinander wirksam wird. Diese Faktoren, die das Kunstprodukt, auch die Fotografie, vor der Natur voraus hat, wollen wir die Isolation nennen, Isolation von den Zwecken des Lebens, der Orientierung, die den Anblick zum bloßen Hilfsmittel für das Handeln im Leben degradiert, die Konzentration zu einem einzigen und einheitlichen Eindruck und die damit verbundene Verdichtung der Bildgestalt, und die Intensivierung durch die Lebhaftigkeit der Impression, besonders der Farben, im gleichzeitigen und gleichdeutlichen Sehen auf der Fläche. Diese Faktoren können sich auch in der Natur finden: der Ausschnitt der Isolation durch eine rahmende Berg- oder Baumkulisse; die Konzentration durch die zufällige Anordnung von sehenswerten Momenten um ein Zentrum, einen Baum, einen See; die Intensivierung durch Fülle sehr bedeutsamer Objekte, blendende Farben wie beim Sonnenauf- und untergang, glitzernde Lichter im Tau und in Gewässern. Aber der Künstler hat es in der Hand, alle diese für die Sehbedeutung eines Anblickes entscheidenden Faktoren zu reinigen oder verstärkt zur Geltung zu bringen und durch Erfindung, Findung, Komposition, Steigerung schöpferisch seine Kunst anzuwenden. Er beweist damit das enge Aufeinander-angewiesen-sein von Kunst und Sehbedeutung des Anblicks, ohne daß eines dasselbe wäre wie das andere. Wir verstehen nun, warum der laxe Sprachgebrauch das künstlerisch Bedeutsame und die Sehbedeutung identifiziert, und vom Wesen des Künstlerischen spricht, wenn vom Sehbedeutsamen, dem Ästhetischen, die Rede ist. Es ist aber nicht nur die Sehbedeutung der Welt auf die Kunst angewiesen, sondern auch die künstlerische Bedeutung einer Leistung auf die Sehbedeutung des Kunstwerkes. Denn um die Leistung rein als 2
Hamann
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solche, als gekonnt, unabhängig vom Erfolg zu beurteilen, muß auch diese isoliert (vorgeführt), konzentriert (kompliziert) und intensiviert auftreten und kann deshalb von der Isolation, Konzentration und Intensivierung der Sehbedeutung im Kunstwerk Nutzen ziehen. Deshalb sind wir gewohnt, nur bei Werken mit anschaulicher Bedeutung zugleich an Kunst und Künstler zu denken und die Leistung als solche mit zu bewerten oder mit zu genießen. Die rein anschauliche Bedeutung einer Wahrnehmung, die wir im allgemeinen nur erleben, wenn sie von den Zwecken des Tuns und dem Getriebe des Tages isoliert ist, nennen wir die ästhetische Bedeutung. Das Ästhetische ist das, was Kant Zweckmäßigkeit ohne Zweck nennt, d. h. ein sinnvolles Anschauliches, etwas, das nur im Anschauen selber bedeutungsvoll ist oder nur des Eigenwertes der Anschauung wegen da ist. In der bildenden Kunst handelt es sich um Wahrnehmungen für das Auge, das optisch Anschauliche. Im täglichen und tätigen Leben beachten wir die Bilder der Außenwelt nur flüchtig und nur daraufhin, wie wir uns in der Außenwelt orientieren, wie wir die Dinge angreifen, benutzen können. Die jeweilige optische Konstellation, das Bild, ist uns gleichgültig, wir schreiten sofort vom flüchtigen, stets wechselnden Anblick zum Erkennen, zum Begriff, zum Namen. Die Dinge der Außenwelt, in der wir leben und wirken, unsere Wirklichkeit, treffen uns nur selten in der Stimmung, einen Anblick aus der Fülle der wechselnden Erscheinungen als wesentlich herauszusehen und uns in ihn zu vertiefen. Es gehören schon besondere Momente der Heraushebung aus unserer Wirkungssphäre, Ferien, Reisen, die Fremde, besondere Naturereignisse dazu, uns ästhetische Erlebnisse vor der Natur zu verschaffen. Auch wird dieses ästhetische Erleben erschwert durch Zweckzusammenhänge des Berufes, die einen Menschen mit bestimmten Anschauungsgelegenheiten verbinden. Ein Förster und ein Holzhändler werden einen Wald mit ganz anderen Augen betrachten als ein Maler und für die ästhetische Bedeutung der Anschauung eines Baumes wenig übrig haben. Ein Versicherungsagent und ein Landmann werden das Naturschauspiel eines Gewitters in einer Landschaft mit anderen Gefühlen betrachten als ein Ästhet aus der Stadt. Das Wesen der bildenden Kunst ist es, diese ästhetische Ansicht der Welt zu erleichtern oder überhaupt erst zu ermöglichen. Schon der Rahmen eines Gemäldes isoliert das in ihm festgehaltene Bild von unserer alltäglichen Umgebung, hebt es aus dieser heraus und löst es damit auch aus den Zwecken und Absichten des täglichen Lebens. Auch in der Wirklichkeit können wir uns, wenn wir durch einen leeren Rahmen, einen Visierrahmen, blicken, von der isolierenden Wirkung und Förderung der Ansichtsbedeutung eines darin herausgeschnittenen Anblickes überzeugen. Vor allem aber bewahrt uns die Bildlichkeit eines Gemäldes, die Zweidimensionalität auf der Malfläche im Gemälde davor, den Anblick nur als Orientierung zum Durchwandeln von Räumen oder zum In-die-Hand-Nehmen der Dinge zu verwerten. Die Unwirklichkeit des nur bildlich gegebenen Anblickes bewahrt vor der außerästhetischen Betätigung, dem Wirken auf die Gegenstände. Die Unveränderlichkeit des einen und selben Anblickes bei Annäherung an oder Entfernung von dem Bild, wo in der Wirklichkeit die Anblicke sich ständig verändern, geben diesem Anblick eine Bedeutung als solchem, die durch verschiedene Anblicke in der Natur gewährleistet wird, unabhängig von der Deutbarkeit auf einen Begriff. Gestalten und Farben, die beim Erkennen und Benutzen der Dinge bedeutungslos bleiben, treten jetzt reiner in ihrer Eigenbedeutung hervor und können im Gemälde als ästhetisch wirksame, eigenbedeutsame Faktoren verstärkt werden bis zur völligen Isolation in der abstrakten Kunst. Diese Isolierung durch das Flächenbild, die unbetretbare und unangreifbare Unwirklichkeit der dargestellten Räume und Gegenstände ist nicht Schein oder Illusion, wie die sogenannte Illusionsästhetik von Konrad Lange, nicht zutreffend, behauptet. Denn Schein und Illusion bezeichnen nicht den rein ästhetischen Charakter eines Anblickes, den wir ja auch in der Wirklichkeit erhalten können. Schein und Illusion bedeuten, daß wir einen Anblick gerade nicht nur als solchen, unabhängig von seiner Wirklichkeitsbedeutung werten, sondern, daß wir ihn für wirklich halten, obwohl er es nicht ist, wie im Traum, in Täuschungen innerhalb der Natur. Illusion bedeutet, daß wir uns täuschen und zu falschen 8
Handlungen verführen lassen, statt von vornherein auf jede Handlung und Zwecktätigkeit zu verzichten und uns mit dem bloßen Anblick zu begnügen. Vollends unsinnig wird diese Theorie, wenn sie solche Täuschungen als Aufgabe der Kunst hinstellt und einem groben Materialismus damit Vorschub leistet. Die Fata Morgana in der Wüste, die unsere Schritte beflügelt, ist Schein, Illusion und Täuschung. Der an der Wand des Ateliers von Wiertz dargestellte Hund in seiner Hütte, der so natürlich gemalt war, daß er die Besucher vom Eintritt in den Raum abschreckte, ist Schein und Täuschung, kann auch Kunst sein — mehr Kunststück als Kunstwerk —, aber ästhetischer Anblick, d. h. eine eigenbedeutsame, allem Zweck entrückte Wahrnehmung, ist er nicht. Es gibt in der Geschichte der bildenden Kunst Werke und Perioden, in denen Täuschung und Illusion Absicht des Malers und Zweck der bildenden Kunst ist, aber diese Zwecke sind dann auch keine rein ästhetischen; der Illusionismus führt in die außerästhetischen Bedeutsamkeiten der bildenden Künste hinein. Denkt man sich um die Hundehütte von Wiertz einen Rahmen, dann verliert das Bild sofort seinen illusionistischen Charakter und wird ästhetisch bedeutsam. Diesen wirklichkeitsüberwindenden Charakter des Bildes nennen wir, statt Schein und Illusion, die Bildlichkeit, das Imaginäre. Bildlichkeit ist das, was eine optische Wahrnehmung zu eigenbedeutsamer Wirkung bringt. Der Rahmen hat auch eine konzentrierende, das Auge auf das Bild lenkende und heftende Wirkung, indem er den Bildinhalt in eine einzige in sich zurücklaufende, mittelpunktbehaftete Figur zusammendrängt. Das Relief des Rahmens, das im allgemeinen eine in den Bildinhalt gleichmäßig, d. h. konzentrisch hineinführende Perspektive besitzt, sorgt ebenfalls für die Konzentration des Blickes. Die für die isolierende Bildlichkeit des Gemäldes so wichtige Flächigkeit erlaubt es, ohne Adaption des Auges auf die Nähe und die Ferne mit ihrer dadurch bedingten Veränderung des Bildes den ganzen Bildinhalt mit einem Blick zu erfassen, und konzentriert so die sehbedeutsamen Einzelheiten, drängt sie in eine Sicht zusammen. Das ist besonders wichtig für Raumbilder, für die Anschauung von Interieurs. Einen Innenraum, in dem wir weilen, können wir nie auf einmal als Bild ins Auge fassen. Aber die Malerei vermag sowohl einen Standpunkt einzunehmen, von dem aus ein viel umfassenderer, im Bilde zusammengedrängter Inhalt auf einen Blick zur Erscheinung kommen kann als in Wirklichkeit; zugleich vermag sie diesen auf einen kleinen Teil des Sehfeldes für einen ruhenden Blick zusammenzufassen, was sonst nur mit Hin- und Herwenden des Kopfes nacheinander und nur im gewußten, nicht gesehenen Zusammenhang erfaßt werden kann. Für die praktische Orientierung genügt dieses Hin- und Hersehen. Der Raum wird benutzbar dadurch. Für die ästhetische Bedeutung des Raumes ist die Bildlichkeit des Gemäldes notwendig, die zugleich die Gedanken an Benutzbarkeit und Zweck des Raumes ausschließt. Was in der Natur über die Grenzen unseres Gesichtsfeldes hinausquillt, drängt das Bild auf ein kleines Blickfeld zusammen und rückt es in das Gebiet des deutlichen Sehens. Auch alles, was wir Komposition nennen, Flächen-, Linien- und Farbzusammenhänge, die zu einer konzentrierten Bildgestalt das in der Natur Unzusammenhängende und Ungeordnete zusammenführen, erhöhen die selbständige Bedeutung des Bildes und führen das Auge in das Bild hinein. Besonders deutlich ist das bei Landschafts- und Interieurdarstellungen, bei denen die Zentralperspektive den Blick vom Rande in den Mittelpunkt des Bildes führt und das Abschweifen des Auges aus dem Bild heraus verhindert. Leonardos „Anna Selbdritt" 4 mag als Beispiel für die Konzentrierung mehrerer Personen zu einer Gruppe dienen, durch die gerade dieser Anblick wertvoll wird, über die nur begriffliche Deutung der Figuren und des Vorganges hinaus. Das zwingende Verhältnis der Teile der Gruppe zueinander und zu dem Ganzen ist nichts anderes als der auf das Auge ausgeübte Zwang, bei der Ordnung dieser Bildgestaltung zu verweilen und diese Ordnung nicht zu zerstören. Konzentrierte Anblicke kann auch die Natur gewähren, sonst würden ja die Landschaftsund Interieurmaler nicht in der Natur nach Motiven suchen und sie auch finden. Wer solche 4
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konzentrierten Motive in der Natur sucht und findet, pflegt, wie die Maler, schon auf ästhetisches Sehen, auf die Eigenbedeutsamkeit des Sichtbaren eingestellt zu sein, während das Kunstwerk auch den weniger ästhetisch Empfindlichen zum reinen Betrachten des dargestellten Anblickes zwingt. Beim Malen ist ja das Finden von Motiven und der Ausschnitt aus der Wirklichkeit schon eine produktive Leistung, eine Kunst, die den meisten Menschen versagt ist. In bezug auf Komposition wird auch der Maler in fast allen Fällen durch Weglassen und Zusetzen, durch Zurechtrücken und Verteilen der Bildelemente über die Wirklichkeit hinausgehen. Da solche Bildzusammenhänge wie Symmetrie, Gleichgewicht, Proportion, Rhythmus sich nur bei bestimmten Ansichten ergeben, so veranlassen sie das Auge, sich auf einen bestimmten Anblick einzustellen, der somit bedeutsam wird, wie andererseits auch die nur eine Ansicht präsentierende Bildfläche des Gemäldes in bezug auf Wirkung diesen konzentrierenden Faktoren überlegen ist. Schließlich ist es die Intensität der Wahrnehmungsfaktoren, die die Aufmerksamkeit des Sehenden fesselt und festhält, starke Farben, leuchtende Punkte, glänzende Stoffe, schroffe Kontraste. Aber auch die Fülle und Vielfältigkeit der zu einem Eindruck vereinten Faktoren, die Buntheit oder Vielfarbigkeit, zieht das Auge auf sich und macht einen gesehenen Gegenstand über seine praktische Bedeutung hinaus sehenswürdig. Auch hier ist die Malerei der Natur überlegen, obschon blühende Gärten und Wiesen in der Natur sehr den Blick zu fesseln vermögen, sofern man als unbeteiligter, interessenloser Wanderer durch die Landschaft schlendert. Für den Bauern wird der rote Mohn, das Unkraut im Kornfeld, nicht so leicht ästhetisch eigenbedeutsam sein wie für den Sonntagsgänger und Städter. In der Malerei läßt aber auch das gleichzeitige Erscheinen der Farben auf einer Fläche alle Farben lebhafter wirken als in der Natur, weshalb ja schon jede Farbaufnahme farbig übertrieben erscheint. Der höhere Deutlichkeitsgrad aller Farben auf der Leinwand bewirkt die für den ästhetischen Eindruck günstige Intensivierung der Sinneseindrücke. In demselben Sinne wirkt die Häufung und Vielfältigkeit in einem Bild zerstreuter Elemente, das Blättergewirr der Bäume, die Formenfülle eines Wolkenhimmels, die Wellenbewegung auf dem Wasser, das Gewoge eines Kornfeldes, die Gestaltzerbröckelung von Ruinen, das Menschengewimmel auf der Straße. Auch dies alles gewinnt an ästhetischer Kraft durch die Zusammendrängung das Gesichtsfeld überflutender Wirklichkeitsanschauung zum kleineren Bildfeld des Gemäldes, das im Deutlichkeitszentrum des Sehfeldes erfaßt wird. Auch diesen Bildreichtum vielfältiger Brechungen der gesehenen Flächen kann die Kunst, die Malerei, steigern durch eine auflösende, vibrierende Technik, ein Fleckenensemble wie im Neoimpressionismus. Auch Verschleierung und Verundeutlichung der Gegenstände in Nebel und Dunst, in der Verschachtelung der Formen, der flüchtigen Andeutung von Gestalten, können die Intensität des Geschauten steigern und es ästhetisch bedeutsam machen. Eines steht also fest: Neben dem Sehen im täglichen Leben und in der Wirklichkeit (den Wirkungszonen des menschlichen Bereiches), neben dem Beobachten, dem viele Bilder desselben Gegenstandes für die der Praxis dienende Orientierung, für das Erkennen und Benennen, gleich wichtig sind und auch nicht als solche wichtig, sondern nur, um von der Erscheinung zum Begriff und von dort zum Handeln fortzuschreiten — neben diesem beobachtenden Sehen gibt es ein Sehen, dem das gegebene Bild und gerade dieses Bild wichtig ist ohne Rücksicht auf Erkennen und Praxis, ein interessenloses Anschauen, dem die Eigenbedeutsamkeit des einen und selben Bildes entspricht, das im Anschauen festgehalten wird. Diese Bedeutsamkeit des Bildes nennen wir ästhetisch, das Sehen dieses Bildes ein ästhetisches Sehen. Diese Eigenbedeutsamkeit wird durch isolierende, konzentrierende und intensivierende Faktoren in der optischen Erscheinung des Bildes gefördert oder gewährleistet. Gilt die praktische Bedeutung (der Nutzwert) für das Auge dem im Begriff faßbaren oder gemeinten Gegenstand unabhängig vom jeweiligen Bilde, so dient die ästhetische dem ungegenständlichen, unbegrifflichen Bilde selbst. Diese Eigenbedeutsamkeit der Erscheinung aber ist wiederum von der künstlerischen Bedeutung eines Gegenstandes, den wir in diesem Falle ein Werk nennen, verschieden, d. h. von dem Wert, den wir dem Werk auf Grund der darin verkörperten Leistung, dem in ihm offenbarten Können, zuschreiben. Ein Werk, das durch das Auffallende des in ihm gezeigten Könnens zur Beur-
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teilung der Leistung, unabhängig vom Erfolg und Nutzen anregt, nennen wir ein Kunstwerk. Es zeigte sich, daß der ästhetische Wert leichter in Kunstwerken (z. B. der Malerei) als in der Natur wirksam werden kann. Da es vielfach, ja meist ein und dasselbe Objekt ist, an dem zugleich Kunsturteil und ästhetisches Urteil sich betätigen, werden diese Werte leicht verwechselt, obschon sie so wenig identisch sind wie der Nutzwert eines Gegenstandes und die Eigenbedeutsamkeit eines Bildes, das von ihm sich in der Natur oder im Kunstwerk bietet. Die Beziehung des Künstlerischen zum Anschaulichen im Kunstwerk, also zum ästhetischen Eindruck, ist aber noch enger. Wie das Ästhetische ist auch die Beurteilung des Könnens unabhängig vom Nutzen, interesselos, ist Zweckmäßigkeit ohne Zweck. Auch um Kunst zu genießen und zu beurteilen, ist Isolation von dem Getriebe des Lebens und den Geschäften, des Kampfes ums Dasein, nötig, bedarf es einer Steigerung der Leistung durch Komplikation, Kombination und Intensivierung über das Gewohnte und Gewöhnliche hinaus wie im ästhetischen Schauen. Die Isolation des Könnens von den Zwecken des Lebens, auch von den ästhetischen Inhalten, nennen wir Spiel. Darum ist eine Leistung, die über das Gewöhnliche hinausgeht und als solche beurteilt wird, auch eine spielende Bewältigung der Schwierigkeiten. Vorführung ästhetisch bedeutsamer Inhalte, die die künstlerische Arbeit unmittelbar sichtbar machen, deshalb auch am meisten Beifall finden, nennen wir ebenfalls Spiel: Geigen- und Klavierspiel, Schauspiel, Schachspiel. Die Künstler sind zugleich Spieler. Spiel ist also eine von Zwecken freie Tätigkeit des Menschen, die es wegen dieser Isolation erlaubt, diese Tätigkeit rein nach Seite des Könnens zu beurteilen, und in der infolgedessen der Wettkampf, das Rekordstreben und das Bedürfnis zu gelten und aufzufallen, von Bedeutung ist. Hier produziert das Können sich, nicht einen Nutzeffekt. Es sind brotlose Künste, d. h. solche, die kein Brot schaffen, wenn sie auch Geld und Ruhm einbringen. Obwohl also ganz anderen Inhaltes, so stimmen doch ästhetischer Wert und Kunstwert in ihrem Verhältnis zu den Zweck- und Nutzwerten des Lebens überein und in den Faktoren, die die Herauslösung aus dem Zusammenhang des tätigen Lebens und die Eindrücklichkeit des Eigenwertes mit sich bringen. In beiden Fällen handelt es sich um Eigenbedeutsamkeiten, dort der Anschauung, hier der Tätigkeit des Menschen, dort um ästhetische, hier um energetische Eigenbedeutsamkeiten, denen als dritte die theoretischen des ordnenden verstehenden Denkens, die reinen Erkenntnisse einzureihen wären. Es ist nun auch ohne weiteres begreiflich, warum von allen nicht künstlerischen Werten es gerade die ästhetischen sind, die sich mit den künstlerischen am leichtesten verbinden, und Werke, die zum ästhetischen Genuß geschaffen werden, auch zugleich als Kunstwerk beurteilt werden. Sind doch die Faktoren, die das Ästhetische isolieren, zugleich Isolationen des Künstlerischen. Vor allem aber ergibt sich, daß zu den Schöpfungen ästhetischer Werte im Bilde, d. h. in Werken bildender Kunst, auch wirklich Kunst gehört, d. h. ein Können ungewöhnlicher Art, das dem Gros der Menschen verschlossen bleibt. Das gilt einmal für alles, was wir Erfindung, Komposition, Bildung, Findung und Ausschnitt von Motiven, ja schon bildmäßiges Sehen nennen, weil der ästhetische Inhalt, der nicht auf Regeln und Begriffe bezogen wird, nicht meßbar und errechenbar, sondern völlig irrational und nicht erlernbar ist. Äber auch das rein Technische, die Umsetzung des Dreidimensionalen in das zweidimensionale Flächenbild, des lebendigen Modells in den leblosen Stein, kann ebenfalls durch keine Apparatur geleistet werden, sondern erfordert Begabung und Übung, die schließlich auf etwas ganz Persönliches hinauslaufen, da es sich ja nie nur um Abmalen, sondern immer zugleich um die Setzung, d. h. freie Schöpfung der isolierenden, konzentrierenden und intensivierenden Faktoren handelt, die auch schon die Art der Technik mitbedingen. Aufgabe einer Kunsttheorie muß es also sein, zu zeigen, wie die ästhetischen Inhalte der bildenden Kunst sich zu dem Künstlerischen schöpferischer Leistung verhalten, ob es Grade der Kunst, d. h. des Könnens, gibt und welche Bedeutung in diesem System der künstlerischen Werte, der spezifischen Kunst, nicht-ästhetische Begriffe wie Original und Kopie, Produktion und Reproduktion, Entwurf und Skizze, Genialität und Virtuosität der Techniken usw. haben. Es kann kein Zweifel sein, daß zur Beurteilung der Leistung, 11
die ein Kunstwerk verrät, nur der bildende Künstler selbst in der Lage ist, und daß das Lob, das der Laie spendet, meist nur die Güte des ästhetischen Inhaltes betrifft und ein Ausdruck der Ergriffenheit und des Dankes an den Schöpfer dieses Werkes ist, ohne daß die schöpferische Leistung der Intensität der ästhetischen Wirkung des Werkes zu entsprechen braucht. Bei ästhetischen Eindrücken in der Natur, bei denen ein Können nicht in Frage kommt, da ja Natur das Gegenteil von Kunst bedeutet, müssen wir schon den lieben Gott zu Hilfe rufen, um unserem Schöpfer für den Kunstgenuß danken zu können.
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III. TECHNOLOGIE UND KUNSTTHEORIE. TECHNISCHE UND ÄSTHETISCHE KATEGORIEN
1. MANUELLES VERFAHREN UND KÜNSTLERISCHE BEDEUTUNG Zu einer Einsicht in die künstlerische Bedeutung eines Werkes gehört auch eine Kenntnis der Technik, in der das Werk entstanden ist, d. h. der Schwierigkeiten, die die Handhabung dieser Technik bei der Realisation des ästhetischen Eindrucks mit sich bringt. Dennoch ist die Beschreibung der Technik eines Werkes noch kein Kunsturteil, denn dieses will ja nicht den Herstellungsprozeß beschreiben, sondern die Höhe des Könnens feststellen, die sich daraus ergibt, wie die Technik zur Erreichung eines bestimmten Effektes gehandhabt wird. Die Beschreibung der Technik ist, wie ein Kochbuch, eine Einführung in Kenntnis und darauf gegründete Manipulationen. Eine Theorie der Kunst aber muß die Leistungskomponenten der Kunst feststellen und Begriffe dafür finden, die sich aus dem Verhältnis der Technik zu dem ästhetischen Eindruck des Werkes ergeben, wenn dieser die Absicht der künstlerischen Produktion war. Auch die Feststellung der Möglichkeiten, sich in einer Technik wie ein Akrobat zu produzieren, gehört in den Bereich der Kunsttheorie, z. B. die Mittel der Schnellmalerei und der Erzeugung einer Illusion mit geringsten Andeutungen. Keinesfalls aber ist in die Beschreibung einer Technik ohne weiteres eingeschlossen, daß das Werk, das in dieser Technik gearbeitet ist, schon ein Kunstwerk ist. Der Geograph, der eine Karte zeichnet oder malt, ist kein Künstler oder wird es nur, wenn die Kartenzeichnung besonderes Können erfordert oder es ausdrücklich von ihm verlangt wird; der Stubenmaler, der die Wände färbt oder schabloniert, nennt sich zwar auch Maler, vielleicht sogar Malermeister, aber er ist deshalb noch kein Künstler. Und selbst der Maler, der nicht nur so nützliche Tätigkeiten ausübt wie die genannten, sondern ein ästhetisch befriedigendes Werk zuwege bringt, braucht deshalb noch kein Künstler zu sein oder muß es sich gefallen lassen, nach dem Grade seiner Künstlerschaft geprüft zu werden. Das Künstlerische selbst ist deshalb etwas anderes als die Anwendung einer Technik und etwas, das sich in jedem menschlichen Tun bewähren kann. Deshalb bedarf es des Nachdenkens, mit welchem Recht die Kunsttheorie und Kunstgeschichte zur Einteilung der Künste nach den Techniken, Malerei, Skulptur, Architektur, Graphik, Metallarbeiten, berechtigt ist. Eine Geschichte der Vervollkommnung der Menschheit in bezug auf die Fähigkeit zur künstlerischen Darstellung, z. B. in der Kunst der perspektivisch-räumlichen Darstellung, muß natürlich die Schwierigkeiten des Materials, z. B. in der Malerei und im Relief, berücksichtigen, aber ist nicht eine Geschichte der Techniken, sondern eben von schwierigen Darstellungsproblemen, die über die Technik hinausgreifen. Aber auch die ästhetischen Gebilde, die eigenbedeutsamen Wahrnehmungen, sind nicht so zu klassifizieren, als ob ihre Arten mit den Verschiedenheiten der Techniken zusammenfielen.
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2. D I E ÄSTHETISCHEN KATEGORIEN DES ARCHITEKTONISCHEN, PLASTISCHEN UND MALERISCHEN Technik ist ein bestimmtes manuelles Verfahren, das sich an bestimmten Materialien betätigt; das aber, was mit Hilfe dieser Materialien geschaffen wird im Hinblick auf bestimmte Zwecke, ist nicht schon mit der Technik gegeben und auch nicht an diese Technik gebunden. Bauen ist technisch das Zusammensetzen fester Formen aus festen und sich verfestigenden Materialien, Steinen, Zement, Lehm, in dem die einzelnen Teilformen durch Aneinanderpassen zu einem sich im Gleichgewicht haltenden Körper zusammengefügt werden. Aber schon die Zurechtformung des Einzelteiles, des Steines oder Ziegels oder Holzbalkens ist nicht Bauen, sondern Bildhauern, Arbeit des Steinmetzen (Bildhauers) oder Zimmermanns (Holzschnitzers). Auch können ganze Teile, ja ganze Gebäude 5 aus einem Felsen herausgehauen sein, wie die Gräber in Assuan und Beni Hasan 6 oder Felsenkirchen in Frankreich (Abb. 2) und Kleinasien 7 . Das, was die Anwendung dieser Techniken erst zur Baukunst macht, ist die Schaffung bewohnbarer Räume. Die eigentliche Baukunst besteht in der Konzeption solcher Räume mit bestimmten Proportionen, die für das Auge ein bestimmtes Raumbild ergeben, das bestimmten Zwecken entsprechen, aber auch für sich, als reine Anschauung, wirken kann. Diese Schöpfung aber, die ein bestimmtes Raumbild verwirklicht, liegt schon entscheidend in der Zeichnung, in dem Entwurf vor, und darin das eigentlich Künstlerische, sofern es überhaupt Kunst ist, unabhängig also von der Realisierung des Entwurfs in Holz oder Stein und von Steinmetzen- oder Zimmermannsarbeit. Auch eine Höhle, Arbeit eines Gräbers oder Steinmetzen, oder ein Zelt, Arbeit eines Schneiders, können solche Räume verwirklichen. Es können aber auch Skulpturen gebaut sein, d. h. durch Aufmauerung von Steinen zu einer Gestalt gebracht werden (Abb. 3). 8 Und in Mosaikarbeit, wo farbige Steine wie bei einer Mauer in Mörtel gebettet werden, können auch Gemälde gebaut werden 9 , so wie umgekehrt Scheinarchitekturen für das Auge durch Wandmalereien erzeugt werden können, die für die architektonische Wirkung unter bestimmten Bedingungen entscheidend sein können. 10 Das Architektonische als Raumanschauung, das vom Auge wahrgenommene Räumliche, ist also von den Techniken unabhängig. Die technische Kategorie der Baukunst, oder besser der Bauerei, ist nicht identisch mit dem Architektonischen als ästhetischer Kategorie, der räumlichen Wahrnehmung. Skulptur ist technisch die Bildung von Formen oder Gestalten durch Bearbeiten eines mehr oder minder festen Stoffes, in dem die Formung erfolgen kann durch Wegnehmen aus einem die Grenzen der werdenden Form überschreitenden Material, dem Block, wie in der Steinhauerei oder Holzschnitzerei, 11 oder durch Zusetzen und Verdrücken, wie beim Modellieren in weicherem Material, in Ton, Wachs, Gips, Stuck. 12 Man kann von außen nach innen hineingehen wie bei den wegnehmenden Techniken oder beim Biegen von Metall, oder von innen nach außen wie bei der Treibarbeit, 13 beim Ausbeulen einer Platte oder bei der Glasbläserei. Aber diese Techniken als solche besagen noch nichts darüber, ob das, was aus der Hand des Technikers hervorgeht, Handwerk oder Kunst ist. Der Steinmetz, der die Steine für eine Straße zuhaut oder für die Meilensteine am Wege, übt dieselbe Technik aus wie der Bildhauer, der menschliche Gestalten bildet. Ob daraus ein Kunst5 6 7
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Abu Simbel : I, 2 8 2 f „ 55. I, 2 0 2 - 2 1 1 . Kappadokische Felsenkirchen. Marceil Restle, Die byzantinische Wandmalerei in Kleinasien, 3 Bde., Recklinghausen 1967. Vgl. auch Ischtartor und Innintempel aus Uruk: I, 336, Taf. V I I , 393. II, Taf. I I I . Mantegna, Camera degli Sposi: II, 497f. Köln, Gerokreuz: II, 239. Gernrode, Heiliges Grab : II, 240. Vgl. hierzu I, 458, 461 ; II, 241 f., 293, 306.
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werk wird, ergibt sich erst aus der Schwierigkeit, die der Inhalt bietet, den es zu formen gilt. Dieselbe Gestalt, rein auf die körperliche F o r m hin angesehen, kann in verschiedenen Techniken entstehen, in Stein gehauen, in Holz geschnitzt, in T o n geformt und in Metall gegossen, in Glas geblasen, in Goldblech gebogen und gehämmert. Der Künstler kann beurteilen, ob durch die Schwierigkeiten der Technik die eine oder andere Art schon von sich aus mehr K u n s t erfordert. Besondere Kunst wird die Darstellung lebendigen Wesens im toten Material und der Perspektive im Relief erfordern, d. h. die Überwindung der tatsächlichen körperlichen Tiefe der F o r m zugunsten des Scheines räumlicher Tiefe. Aber über den ästhetischen Gehalt ist mit der Beschreibung der Technik nichts ausgesagt. Im laxen Sprachgebrauch nennen wir ein Werk der Skulptur im technichen Sinne auch eine Plastik. Mit „plastisch" meinen wir aber nicht die Technik der Herstellung, sondern die Tatsache, daß die körperliche Form recht greifbar und eindringlich wirkt, und bezeichnen damit diese für das A u g e wirksame, anschauliche Kategorie des Plastischen. Plastisch bedeutet, daß das Körperliche, das Feste, im Raum sich Rundende, Greifbare, sich im Raum Isolierende, das Grundmotiv der Darstellung und der eigentlich anschauliche Inhalt wird. Dann fällt aber das Plastische nicht mit Plastik im Sinne einer Technik zusammen; denn solche körperlichen Formen und plastischen Gestalten kann auch die Malerei hervorbringen. In Sälen und Treppenhäusern mittelalterlicher, barocker und klassizistischer Paläste gibt es genug gemalte Skulpturen von oft illusionistisch greifbarer Rundung. Fast die ganze antike und die mittelalterliche Malerei ist eine solche unmalerische Malerei, im wesentlichen bemüht, die körperliche Erscheinung von Menschen und Dingen, d. h. das plastische Bild als Vertretung des Wirklichen in der Malerei dem Grad von Illusion anzunähern, den die Skulptur im greifbaren Material zu erreichen vermag. 1 4 Aber ebenso kann auch die Skulptur — und zwar als Flächenschmuck, im Relief — mit der Malerei wetteifern in der Darstellung des Unfesten, Verschwommenen, Luftigen, räumlich Vertieften; es gibt also auch unplastische Werke der Plastik,15 Auch die Darstellung einer Physiognomie, ein lebendiges Porträt in Stein oder Bronze, ist mit dem Ausdruck plastisch nicht oder völlig unzutreffend bezeichnet. E s gibt den gebauten „malerischen" Winkel, wir sprechen von malerischer Unordnung. Aus alledem wird zugleich klar, daß auch der Begriff des Malerischen nicht mit der Technik der Malerei zusammenfällt, keine technische, sondern eine ästhetische Kategorie ist. Ebenso ist das Graphische (das Geschriebene, Gezeichnete, d. h. Linienkunst) als ästhetischer Begriff nicht identisch mit den Techniken, die wir als graphische bezeichnen; gewisse graphische Techniken (Radierung, 1 6 Schabkunst) bezwecken ausgesprochen malerische, unlineare Bildwirkungen, und linear, „graphisch" gestalten können auch Malerei 17 und Skulptur (Abb. 4) 18 . E s gibt also eine Reihe von Begriffen, die sich herleiten von bestimmten Techniken, in denen bildliche Inhalte dargestellt werden. Trotzdem aber besagen sie nicht, daß die betreffenden Werke in der Technik ausgeführt sind, von der der Name stammt, sondern werden gerade bei Produkten angesetzt, die auf einer anderen Technik beruhen. D a s kommt daher, daß diese Eigenschaften sich nicht nur leichter in der v o m Namen nahegelegten Technik verwirklichen lassen als in einer anderen, z. B. das Plastische leichter in einem plastischen Material, in Holz- oder Steinarbeit als in der Malerei, das Malerische leichter in der Malerei als in der Skulptur und daß v o m Standpunkt de§ Könnens, also der Kunst, die Realisierung in einer heteronomen Technik eine größere Leistung bedeuten (aber auch als künstlich oder gekünstelt erscheinen) kann. E s beruht auch auf einem grundsätzlichen Zusammenhang zwischen der ästhetischen Kategorie und der technischen. Ästhetische Kategorien wie das Malerische und das Plastische können vielleicht überhaupt ganz stilvoll V g l . II, 3 0 ; Taf. V I ; 237. Ghiberti, Paradiesestür; R o d i n : II, 461, 1040f. Ir ' Rembrandt, D i e drei K r e u z e : II, 743.
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Ägyptische Malerei (z. B . I, Taf. V f.), griechische Vasenmalerei (I, 610) und mittelalterliche Buchmalerei (II, 104). V g l . auch prähistorische Felszeichnungen (I, 21).
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nur in der namensverwandten technischen K a t e g o r i e berücksichtigt werden. I m umgekehrten Falle wird immer eine gewisse Gewaltsamkeit oder ein B r u c h bestehen bleiben. W e n n wir ein plastisches W e r k malerisch nennen, so bedeutet das immer zugleich eine gewisse K r i t i k , sie resultiert aus der Überschreitung v o n Grenzen, die in dem W e r k durch die kühne V e r w e n d u n g der F r e m d t e c h n i k gegeben ist. E i n e solche braucht keine A b w e i c h u n g dieser Darstellungen ästhetischer A r t in fremdartigem Material zu bedeuten, da die W a h l des Materials nicht nur v o n der E i g n u n g für eine bestimmte ästhetische K a t e g o r i e abhängt und die Bewältigung der Schwierigkeiten, die sich bei einer durch die besonderen Umstände nicht zu umgehenden Materialwahl ergeben, als besonderes künstlerisches V e r dienst gewürdigt werden kann. S o kann R a u m n o t , Mangel an Steinmaterial, geringe T r a g fähigkeit des Grundes, M a n g e l an Platz für Erstellung v o n R a u m f o l g e n dahin führen, eine durch Zeitgeschmack und gesellschaftliche F o r m e n bedingte Architektur durch Malerei vorzutäuschen, etwa in der A r t der Wandmalerei im Palazzo Labia in V e n e d i g 1 0 , und die L ö s u n g ist durchaus eine geniale, künstlerisch höchst bewundernswerte. A b e r andererseits ist nicht zu leugnen, daß der Widerspruch zwischen ästhetischer Absicht und dem Material, das die volle Realisierung der Absicht nicht zuläßt, immer einen T e i l v o n Peinlichkeit zurückläßt, anstelle des befriedigenden Eindrucks der Harmonie, des Zusammenstimmens v o n T e c h n i k und ästhetischer K a t e g o r i e , v o n Architektur und Architektonischem, Skulptur und Plastischem, Malerei und Malerischem. Diese Harmonie führt zum Begriff des Stiles und des Stilvollen als einer ästhetischen K a t e g o r i e , die das Z u s a m m e n w i r k e n aller in reiner Anschauung mitwirkenden Faktoren z u m Ausdruck bringt. A u c h für diese gilt, daß stil„voll" und K u n s t w e r k nicht zusammenfallen, weil das Stilvolle als E n t s p r e c h u n g v o n F a k t o r e n in Regelhaftigkeit hineinführt, die wie mathematische B e r e c h n u n g e n unter Umständen weniger schöpferische K r a f t verlangen als die Bewältigung des Stillosen zu einem wirkungsvollen W e r k . E i n e G e s c h i c h t e der bildenden K u n s t , die rein äußerlich nach T e c h n i k e n eingeteilt ist, würde bei der O r d n u n g des Materials wichtige Zusammenhänge verschleiern und an der Geistesgeschichte der bildenden K u n s t vorbeigehen, bei der zur Illustrierung bestimmter seelischer Verhaltensweisen oft W e r k e verschiedener T e c h n i k enger zusammenhängen als W e r k e derselben T e c h n i k . 2 0 19 20
II, 809f. Zu den Begriffen Stil, Manier, Manierismus und Geistesgeschichte der bildenen Kunst vgl. „Der Impressionismus in Leben und Kunst", 1907 und 1923, Kap. 1; „Ästhetik" 1919, Kap. V I ; Geschichte der Kunst I und II, jeweils Vorwort und Einleitungskapitel: Diese zusammengefaßt in schwedischer Übersetzung: Ur Konstens ide Historia, Stockholm 1965. Ferner: „Heldenverehrung und Kunstgeschichte. Eine Erwiderung." Monatshefte für Kunstwissenschaft 7 (1914), und das 3. Kapitel „Historische Systematik" in „Die Methode der Kunstgeschichte und die allgemeine Kunstwissenschaft", Monatshefte für Kunstwissenschaft 9 (1916).
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IV. DIE AUSSERÄSTHETISCHEN FAKTOREN DER BILDENDEN KUNST UND DAS ÄSTHETISCHE
Die wenigsten Bilder, die der Mensch von der äußeren Welt empfängt, sind um ihrer selbst willen bedeutsam oder ästhetisch wertvoll, und die wenigsten Werke, die von menschlichen Händen geschaffen, oder Verrichtungen, die von menschlichen Händen ausgeführt werden, sind künstlerisch bedeutsam, d. h. nur um der in ihnen vorgeführten Leistung willen geschätzt. Ein Autofahrer, der durch die Natur rast, ist sich nicht einmal der Bilder, die er in unaufhörlichen Folgen empfängt, bewußt. Alles, was im seitlichen Sehen durch das Bewußtsein fliegt, bleibt gestaltlos, aber auch was er im Zentrum des Sehens erfaßt und schärfstens beobachtet, dient nur der Orientierung und der Steuerung des Wagens, fesselt nicht das A u g e und erweckt nicht den Wunsch, daß das Bild verweile. Zwar bleiben auch die flüchtigen, gar nicht apperzipierten Eindrücke des seitlichen Sehens nicht bedeutungslos, sie wirken mit in der Abfolge der Reaktionen des praktischen Handelns, aber sie werden nicht eigenbedeutsames, fesselndes Bild. Was hier am krassesten Fall des Automobilisten klar wird, trifft auch für den gewöhnlichen Fußgänger zu, nur daß dieser es leichter hat, wenn ein Bild ihm gefällt, stehen zu bleiben oder das A u g e darauf einzustellen. Aber auch bei dauernder und scharfer Beobachtung eines auf eine praktische Tätigkeit, einen Zweck eingestellten Menschen sind die Bilder der beobachteten Gegenstände nur Hilfsmittel zum Zweck, nicht u m ihrer Bildlichkeit willen da, so beim Angler, beim Arzt, beim Forscher. Hier ist also das Bild immer nur Mittel und Ausgangspunkt einer Handlung, die mit dem Wissen und Erkennen beginnt und dieses Wissen und Erkennen in der Form des Fortschreitens von der Anschauung zum Begriff vollzieht, und v o m Begreifen zum Handeln oder zum Nichtbeachten also unnütz, praktisch bedeutungslos. Für diese Beobachtung und Praxis des Lebens scheidet von vornherein zunächst alles aus, was nicht wirklich ist, d. h. nicht Wirkensgegenstand werden kann, wie Traum, Schein, Sinnestäuschung, Einbildung und Halluzination. Erst wenn es gelingt — und dazu ist in erster Linie die bildende Kunst da — durch Isolation, Konzentration und Intensivierung einer Anschauung mit Hilfe des fixierten, dauernden Bildes Eigenbedeutsamkeit zu schaffen, werden diese Bilder als solche bedeutsam, ästhetisch wirksam. So schien das Ästhetische der eigentliche Inhalt der bildenden Kunst, denn der Scheincharakter der Bildlichkeit der bildenden Kunst, die Tatsache, daß die dargebotenen Bilder nicht die Wirklichkeit sind, die sie darstellen, daß sie nicht der Praxis dienen, wie die greifbaren Dinge der Natur, ist eines der wirksamsten Mittel der Isolation und Verselbständigung des Eigenwertes der Anschauung. Dennoch ist die bildende Kunst nicht nur zur Realisierung von ästhetischen Anschauungen da, sondern es gibt eine Reihe von Bildschöpfungen, in denen keine Wirklichkeit des Bildinhaltes verlangt wird, und dennoch das Bild nicht nur für die ästhetische Betrachtung in Frage kommt, in denen also zwar die nur bildhafte, nicht Wirklichkei verbürgende Anschauung bedeutsam ist, aber einem Verhalten des Menschen entgegenkommt, das nicht ästhetisch ist. Eine Schriftseite ist ein Bild auf einer Fläche, das nicht greifbar ist und sich als Bild aus dem räumlich praktischen Zusammenhang des Lebens isoliert. Durch Konzentration in einem Satzspiegel mit rahmendem Rand wird es eine bildliche Einheit, die durch den Kontrast mit schwarzen Buchstaben auf farbigem Grund auch eine gewisse Intensität verlangt, alles Faktoren, die zur Versenkung in den Anblick beitragen und dem Bilde eine gewisse 17
Bedeutsamkeit verschaffen. Dennoch liegt der Wert des Geschriebenen nicht in dem Schriftbild, sondern in der Deutung, die wir dem Geschriebenen ablesen, und die für alle möglichen Zwecke des Lebens wertvoll sein kann, evtl. auch für ästhetische der Dichtung, d. h. nicht für die Wahrnehmung, für das Auge. Eine solche Schrift kann durch ästhetisch bedeutsame Momente, Form der Buchstaben, Verteilung der Zeilen, farbige Hervorhebung der Initialen, Verzierungen, ihre das Auge bannende Kraft verstärken, kann Schönschrift sein, ihre Hauptqualität aber ist nicht die Sichtbarkeit, sondern die Deutlichkeit, die Möglichkeit, das Gesehene schnell und sicher zu deuten. Bestehen die Buchstaben oder Worte aus Hieroglyphen, Bildern von Gegenständen der Natur, so kann sowohl der Kunstwert der Schrift wie der Anschauungswert und damit die Anziehungskraft des Sichtbaren sich verstärken, aber die Hauptleistung der Schrift besteht auch hier darin, einen nicht ästhetischen Wert, eine Fremdbedeutung zu vermitteln. Das, was das Bild zeigt, ist also nur ein Zeichen, zu dessen Deutbarkeit die Anschaulichkeit des Geschehenen nur dient. Die Wirklichkeit erscheint nicht, sondern läßt nur von sich im Bilde berichten. Der Wert des Bildes besteht in der Deutlichkeit, mit der es etwas bezeichnet. Hier erscheint also ein Werk, das nicht auf ästhetische Wirkungen als eigentlichen Zweck des Werkes ausgeht, in den Formen der Bildlichkeit, d. h. der Werke der bildenden Kunst, von Malerei und Zeichnung. Damit ist schon bestätigt, was die Geschichte der bildenden Kunst lehrt, daß keineswegs alle Werke der bildenden Kunst auf nur ästhetische Effekte eingestellt sind, ja nicht einmal der größte Teil, und daß es nicht angeht, ein Werk der bildenden Kunst zu verwerfen, weil es außerästhetische Absichten verfolgt. Es gibt eine Reihe von Lebensverhaltungen, die einen außerästhetischen Sinn haben, in denen aber die Anschauung besonders wertvoll ist und deshalb auch von den anschauungsfördernden Momenten des Bildes profitiert. Wir versuchen im Folgenden die wichtigsten Gruppen solcher Bildschöpfungen und Bedeutungen der sichtbaren Anschauungen aufzuzeigen.
1. KUNST ALS VERTRETUNG (REPRÄSENTATIVE KUNST). VEREHRENDES ANSEHEN Personen, die eine mit Macht versehene Funktion ausüben, können sich durch andere Personen vertreten lassen, denen sie dazu die Vollmacht geben. Diese üben dann die Funktion so aus, daß ihnen dieselben Unterwerfungen unter den Willen des zum Befehlen Berechtigten zuteil werden, Gehorsam, Ehrenbezeugungen usw. entgegengebracht werden, wie dem, in dessen Namen er spricht, so aber, daß die Konsequenzen der Anordnung auf den ursprünglichen Träger der Macht zurückfallen und er die Verantwortung trägt. Für eine bestimmte Zeit überträgt also der Machthaber die Rechte einer Person auf einen anderen, seine Person ist für die Zeit und Gelegenheit der Vertretung in dem Vertretenden verkörpert. Die, die dessen Anordnungen folgen, handeln, als ob er selbst anwesend wäre. Solche Vertretungen sind also notwendig, wo die persönliche Anwesenheit erwünscht wäre. Diese persönliche Anwesenheit wird durch die Leibhaftigkeit der vertretenden Person geleistet und kann durch Auswahl dieser Person in bezug auf Macht und Rang, durch Kostüm (Uniform) verstärkt werden. Eine solche Anwesenheit, Präsenz, Repräsentation durch jemand, der einen anderen repräsentiert, kann aber auch durch das Bild gewährleistet werden, und um so mehr, je mehr es für wirklich gehalten werden kann, je illusionistischer es wirkt. Und so wie der Vertreter Wirkungen ausübt und Wirkungen empfängt, als ob er der Vertretene selber wäre, so auch das Bild. Diese Bedeutung, die das Bild dadurch empfängt, daß man es für wahr nimmt, als etwas Lebendiges, wollen wir die magische Wirkung des Bildes nennen. Frobenius berichtet von Negervölkern, die am Tage vor der Jagd das zu jagende Wild in den Sand zeichnen und darauf schießen, in dem Glauben, dadurch sich schon des Wildes bis zu einem gewissen Grad zu bemächtigen und den Erfolg der Jagd beeinflussen zu können. Das Bild dient hier also einem Jagdzauber, nicht der Freude am Bilde als solchem. Diese von Fro18
benius berichtete Tatsache erklärt mit einem Schlage die seltsamen und wegen ihres Realismus viel bestaunten und bewunderten Höhlenmalereien des franko-kantabrischen Paläolitikums. 21 Auch diese Malereien dienten dem Jagdzauber und sollten ein Mittel sein, der wilden Tiere mit Hilfe des Bildes und durch die Überwältigung im Bilde Herr zu werden. Hier ist also nicht nur der Scheincharakter des Bildes, die Bildlichkeit völlig unbeachtet geblieben, sondern im Gegenteil, Wunsch und Vorstellung sind durch das Bild bis zu einem gewissen Grade verwirklicht. Wir nennen diesen Glauben an die Zauberei des Bildes Aberglauben. Aber diesem Glauben an die verwirklichende Kraft der Vertretung, diese Gleichsetzung von Vertretenem und Vertretendem unterliegt auch der aufgeklärteste Mensch in irgendeiner Weise. Nun gibt es aber menschliche Beziehungen und menschliche Verhaltensweisen, die der Realität der im Bilde gegebenen Personen oder Wesen nicht bedürfen, da ein Angreifen und tätiges Sichbemächtigen des Gegenstandes nicht in Frage kommt, nur das Bild als Vergegenwärtigung des Abwesenden kann dabei von größtem Wert sein. Personen, die wir sehr verehren, leben in unserer Vorstellung oder in unserem Gedächtnis, erfüllen unser Denken, und Personen, die verehrt sein wollen, verlangen, daß wir an sie denken, ihr Andenken lebendig und hoch halten. Diesem Lebendigerhalten des Andenkens der Fernen oder Unsichtbaren oder Verstorbenen dient das Bild als Monument, als Gedenkstein oder Denkmal. In diesen Beziehungen der Verehrung spielt das Sehenwollen, die Anschauung eine große Rolle. Den Herrscher zu sehen, drängt sich die Menge, und im militärischen Gruß spielt das Anblicken eine große Rolle. Ansehnlich sein ist gleichbedeutend mit geehrt werden von den Menschen. Deshalb streben die Menschen nach „Ansehen". Religiöse Verehrung spielt sich zum großen Teil in der mystischen Schau ab, und zu den Inhalten gottseligen Lebens gehört die ständige schauende Versenkung in Gott. Gott zu schauen, ist der Inhalt des Daseins der Seligen im ewigen Leben. Diesem Ansehen dient das Bild des Verehrungswürdigen. Dieses Verhalten dem Verehrungswürdigen gegenüber, in dem das Ansehen die größte Rolle spielt, nennen wir Kult. Das Bild, das ihm genügt, ist das Kultbild. Kult ist keine ästhetische Angelegenheit, sondern eine religiöse, d. h. gehört dem Bezirk der Bindungen (religio = Bindung) von Person zu Person an. Das Kultbild kann ein Kunstwerk sein, braucht aber nicht schön zu sein. Dennoch ist klar, daß die Eigenbedeutsamkeit der Anschauung, d. h. alles, was das Ansehen des Bildes fördert, auch dem Ansehen der Kultperson zugute kommt, solange nicht die rein ästhetischen Faktoren über die Motive der Verehrung triumphieren und das Bild auch gegen diese isolieren. Der größte Teil der Kunstwerke des Altertums und Mittelalters sind Kultbilder und dadurch in den Bereich der Ästhetik gehörig, weil es sich in den Kultbildern um die Bedeutsamkeit der Anschauung handelt und um die Frage, wieweit die ästhetische Bedeutung des Gesehenen der kultischen Bedeutung der Ansehnlichkeit gerecht wird.
2. KUNST ALS LEBENSSURROGAT. EINFÜHLENDES ZUSEHEN Neben der kultischen Haltung, die zur religiösen Schau und mystischen Beschaulichkeit führen kann, fern vom tätigen Verhalten des Menschen im Leben des Alltags, neben Beschaulichkeit an und für sich, am reinsten im weitabgewandten Leben des Eremiten offenbart, gibt es eine andere Art des Verhältnisses von Mensch zu Mensch, die auch auf direktes Eingreifen, auf aktive Beteiligung verzichten kann und dadurch dem ästhetischen Verhalten verwandt ist. Wenn wir dem Spiel von Kindern zusehen und daran unsere Freude haben, so bleiben wir selbst in unserem Tun unbeteiligt, wir begleiten das Tun der Kinder nur mit einfühlendem Verständnis und Sympathie. Mit dieser Sympathie können wir Freuden und Leiden unserer Mitmenschen bis zum Gerührtwerden zu Tränen miterleben, aufs Höchste ergriffen werden und ein ganz starkes Erlebnis empfangen, so stark, daß wir uns mehr ausI, 1 4 - 2 1 , Taf. IV.
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gefüllt, mehr lebensgesättigt fühlen als bei dem mehr oder minder gleichförmigen Tun unseres Alltags. Solche Erlebnisse vermag auch die Kunst zu verschaffen, allerdings mehr die Dichtkunst, Theater, Kino und Roman als die bildende Kunst — wir nennen es dann das Poetische —, aber auch die Malerei und nicht die schlechteste vermag solche sympathischen (mitfreudigen und mitleidigen) Erlebnisse zu verschaffen. Man denke an die seelische Teilnahme, mit der wir das Bild einer alten Frau in Leningrad von Rembrandt 22 betrachten. Durch dieses handlungslose, inaktive Zusehen und Erleben der Welt durch Bildsurrogate des Lebens wird die Malerei zwar von ihren ästhetischen Aufgaben der Eigenbedeutsamkeit abgelenkt, kann aber andererseits durch ästhetische Faktoren auch die nichtästhetischen der Sympathie fördern und den Menschen zur Teilnahme am Mitmenschlichen erziehen, indem sie durch die Bildlichkeit, d. h. Nicht-Wirklichkeit, die reale Beteiligung durch Hilfe oder ein Versagen der Hilfe bei Verhärtung des Gemütes ausschließt. Gegenüber dem Kunstwerk kann der Mensch leichter Mensch sein als im Leben. Dieses Menschsein aber ist nie ein ästhetisches, sondern ein soziales Verhalten. Das Sehen der Menschen und ihres Tuns, das wir mitfühlen, ist ein Zusehen. Da es im Inhalt des Dargestellten auf das Lebendige des Nachfühlbaren ankommt, nennen wir das Bild Lebensbild.
3. KUNST ALS VERDEUTLICHUNG (ILLUSTRATION). BEGREIFENDES EINSEHEN Während wir im Leben von der Anschauung zum Begriff, zum Wort, zur Tat fortschreiten und die Wahrnehmung an sich bedeutungslos bleibt, gibt es auch den umgekehrten Fall, daß wir von dem Wort, dem Begriff zur Anschauung weitergehen und die Anschauung einen besonderen Wert erhält. Überall wo uns ein Wort, ein Begriff, eine Beschreibung, eine Mitteilung noch nicht so geläufig oder so deutlich sind, daß wir darauf so reagieren können, als hätten wir die sinnliche Erfahrung, auf die sich der Begriff bezieht, selbst gemacht, da hilft eine Abbildung, den Begriff oder die Mitteilung zu erläutern. Die Abbildung erleichtert das Verstehen und läßt uns Zeit, den Begriff in Beziehung zu dem, was damit gemeint ist, einzuüben. Die größte Rolle spielt die Illustration deshalb in Lesebüchern oder als Wandbild an der Tafel in der Unterrichtsstunde. Der Inhalt des Gesehenen ist hier also nicht die Wahrnehmung als solche, denn diese vertritt hier eine ganze Unendlichkeit von möglichen Anschauungen, die alle mit demselben Wort bezeichnet, unter demselben Begriff subsummiert werden können, sondern der B e g r i f f , der mit Hilfe der Anschauung erst verständlich werden soll. Dieses Lernen soll das Begreifen und die Anwendung von Begriffen und Worten einüben, um sie später für die Praxis des Lebens verwendbar zu machen, dann, wenn als lebenswichtig und orientierend uns ähnliche Wahrnehmungen in der Flüchtigkeit und mit dem Zwang schneller Reaktion entgegentreten. Hier aber sollen wir uns auf die Bedeutung des Begriffes konzentrieren und deshalb angestrengt beobachten, was den Begriff erläutert, illustriert. Wiederum ermöglicht die Bildlichkeit als Isolierung aus der Handlungssphäre diese Konzentration des Lernenden. Eine Gehirnoperation ist nicht der Ort, die Anatomie des Gehirnes kennenzulernen oder sich einzuprägen, ein Bild ist dafür geeigneter, weil prägnanter. Für einen Begriff sind nicht alle Gegebenheiten eines Falles gleich wichtig, und nicht die anormalsten Fälle sind die aufklärendsten. Deshalb kann eine Illustration durch Auswahl des Falles, durch Weglassen des Unwesentlichen und Hervorheben, Unterstreichen des Wesentlichen im Bilde die Natur begriffsrichtiger wiedergeben als eine Fotografie und begriffsnäher als das wirkliche Objekt. So dienen auch hier isolierende, konzentrierende und intensivierende Faktoren, die die Eigenbedeutsamkeit der Wahrnehmung steigern, zugleich der Verdeutlichung des Begriffes. Ja, es ist so, daß eine ästhetisch wirksame Illustration, sofern sie nicht von dieser Deutlichkeit abläßt, durch den Blickfang und die 22
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Fesselung des Auges der wissenschaftlichen Konzentration des Lernenden zugute kommen kann, ein Problem für die Pädagogen. Daraus wird schon klar, daß fotografische Treue keineswegs das Ideal der wissenschaftlichen Illustration zu sein braucht, und daß zur Auswahl der bezeichnendsten Wahrnehmung unter den vielen möglichen, zur Weglassung der unwesentlichen Erscheinungsdetails, zur Hervorhebung der entscheidenden Züge Verständnis und Können gehören, schon vor der Ausübung der Technik, des Zeichnens, Malens Modellierens, die zur Verwirklichung der bezeichnendsten Bilder für den Begriff dieselbe Kunst verlangen wie für die Realisierung einer ästhetischen Idee. Man versteht auch, warum in vielen Lehrbüchern die gezeichneten, ja oft nur die schematisch abgekürzten Darstellungen vor den ausführlichen oder fotografisch genauen Darstellungen bevorzugt werden. Illustrationen können also durchaus Kunstwerke sein, und zwar hängt die Kunst nicht davon ab, wieviel ästhetische Faktoren oder Kunstfertigkeit in einer Illustration niedergelegt sind, sondern wie es dem Illustrator gelungen ist, ohne mechanische Instrumente auf Grund des Verständnisses für den Begriff und auf Grund der Einsicht in die entscheidenden Faktoren der Verdeutlichung, den Begriff durch Abbildung verständlich zu machen. Das Bild, das die Illustration zur Verdeutlichung bietet, nennen wir Abbildung, die Art des Sehens das Einsehen, den Zweck der Abbildung die Einsicht. In der wissenschaftlichen Illustration ist der nichtästhetische Sinn der bildlichen Wahrnehmung, der Abbildung ohne weiteres einleuchtend, obwohl prinzipiell die Vergegenwärtigung im Kultbild, die Repräsentation, die Verlebendigung im Lebensbild (Porträt, Genrebild) und die Veranschaulichung der Abbildung auf der gleichen Linie der nicht ästhetischen Fremdbedeutsamkeit liegen, für die die Wahrnehmung eine das alltägliche Sehen übersteigende Bedeutsamkeit und Wichtigkeit erhält. Ein besonderer Fall der Abbildung ist es, wenn das Abgebildete, das begrifflich zu Erläuternde selbst eine ästhetische Bedeutsamkeit besitzt wie bei Illustrationen zu einer Dichtung. Hier ist zunächst der künstlerische Faktor bedeutsamer, weil das veranschaulichende Bild nicht einem Objekt der Natur entnommen ist, sondern einer Vorstellung des Dichters, die der bildende Künstler frei nachschaffen muß. Voraussetzung dafür ist, daß er die Dichtung versteht und durch seine Illustration zu interpretieren weiß, daß er also selbst ein Dichter ist. Hier ist natürlich die Illustration insoweit ästhetisch, als es die Dichtung, das Illustrierte ist. Aber durch die Beziehung der vom Auge aufgenommenen Wahrnehmung auf die nicht optische der gelesenen erhält die Illustration auch eine Fremdbedeutung. Je eigenbedeutsamer das illustrierende Bild ist, desto schlechter ist es als Illustration, da ihm durch diese Eigenbedeutsamkeit die Bezüglichkeit auf den illustrierten Text verlorengeht.
4. DAS VERHÄLTNIS VON FREMDBEDEUTUNG DER KUNST, KUNSTTHEORIE UND ÄSTHETIK. DEKORATIVE KUNST. BEGLEITENDE FREMDBEDEUTUNGEN. EIGENBEDEUTSAME (ABSTRAKTE) KUNST. DIE SCHAU Das Kultische im Kultbild sowohl in bezug auf den kultivierten Gegenstand wie auf die Formen des Kultes, die den dargestellten Personen entgegengebracht werden, sind nicht Gegenstände der Behandlung einer Ästhetik, sondern der Religionswissenschaft oder der Theologie; die ergreifenden Gefühle und die Menschen, die uns Lebensbilder zum sympathischen Mitleben vorführen, sind es ebensowenig, sondern Gegenstand der Psychologie oder der Sozialethik; und die wissenschaftlichen Erkenntnisse, die die Illustrationen vermitteln, gehören in das Gebiet der Wissenschaft hinein, deren Stoff sie entnommen sind. Zu einer Kunsttheorie aber gehören alle die Fragen, die das Können betreffen, das zur Darstellung innerhalb der betreffenden Bildkategorie erforderlich ist und damit auch alle Probleme der Darstellung, die gerade dem besonderen Zweck des Bildes gerecht werden. Die Ästhetik aber kann alle Erkenntnisse zu den ihrigen rechnen, die die Analogie der isolierenden, konzentrierenden und intensivierenden Anschaulichkeit zur rein ästhetischen betrifft, ferner die Hilfestellung, die die ästhetische Bedeutsamkeit des Bildes 21
dem Ansehen, Zusehen und Einsehen zu leisten vermag. Darüber hinaus aber gibt es ästhetische Faktoren, die zwar nicht den eigentlichen Inhalt der Kultbilder, Lebensbilder oder der Illustration ausmachen, aber in ihrer Eigenbedeutsamkeit doch so mit dem fremdbedeutsamen Sinn des Bildes zusammengehen können, daß dieser dadurch verstärkt, geklärt und gesteigert werden kann. Hier erwächst für den bildenden Künstler eine neue Aufgabe, nämlich die ästhetischen Faktoren herauszufinden, die rein für sich wirksam wären, aber im Zusammenhang mit den fremdbedeutsamen, aber anschaulich wichtigen Bildern nun zu diesem fremden Inhalt passen müssen. Glanz und Pracht können die Ansehnlichkeit einer verehrungswürdigen Person steigern, aber in falscher Verteilung, in Übermacht oder durch die Heiterkeit des Glanzes den Ernst und die Würde des Kultbildes zerstören, das Ehrwürdige zum Sehenswürdigen, zur Sensation machen. Farben und Linien können die seelische Temperatur eines Menschen beeinflussen, ihn beruhigen oder aufreizen, ihn heiter oder traurig stimmen und damit der seelischen Temperatur des dargestellten Menschen entsprechen oder widersprechen, und ebenso können Farben und Formen in ihrem Eigenwert eine Illustration klären oder verunklären, deutlicher oder undeutlicher machen. Diese ästhetischen Faktoren des Kultbildes, Lebensbildes und der Illustration aufzuzeigen, nicht als Aufzählung der historischen Tatsachen, sondern als logische Beziehungen bestimmter Bedürfnisse und Lebensformen zu ästhetischen Faktoren, ist eine Hauptaufgabe der Ästhetik. Damit kommen wir zu einem Hauptproblem der Ästhetik der bildenden Kunst. Ein großer Teil der bildnerischen Schöpfungen tritt gar nicht in der Form des isolierten Bildes auf als freie Schöpfung der freien Kunst, sondern gebunden an Gegenstände des Gebrauches, an Wohn- und Arbeitsräume, Möbel, Geräte, als Schöpfungen angewandter Kunst, des Kunsthandwerks oder des Kunstgewerbes, und stehen damit zugleich im Zusammenhang mit bestimmten Tätigkeiten oder Lebenssituationen, bei denen diese Gegenstände gebraucht werden. Solche Situationen können auch kultische der Feierlichkeit oder solche des sympathischen Zusammenlebens, der Gemütlichkeit oder auch des Unterrichts, der Sachlichkeit sein, in allen Fällen handelt es sich nicht um die Kultbilder, Lebensbilder, Illustrationen selbst, sondern um die Räume, in denen diese Platz haben, um die Geräte und Möbel, derer wir uns dabei bedienen. Hier ist das Problem nicht, welche Eigenbedeutsamkeit das Aussehen der betreffenden Gegenstände durch die künstlerische Behandlung erfahren hat und wie es die Aufmerksamkeit auf sich lenkt durch ästhetisch wirksame Zutaten, die wir Schmuck nennen, sondern in welchem Verhältnis die Eigenbedeutsamkeit des Schmuckes zunächst zur Bedeutung des Gegenstandes in seiner Zweckmäßigkeit ganz allgemein steht, sodann in welchem Grade dieser Schmuck die Benutzung zu erleichtern oder zu erschweren vermag, wie er zu dem Zweck des Gegenstandes und zu den Situationen, in denen er gebraucht wird, paßt oder stimmt. Dieses stimmende Element nennen wir die dekorative Bedeutung eines Schmuckes, der Schmuck wird zur Dekoration. Dort aber, wo der Schmuck oder die Dekoration überbetont wird durch intensivierende Faktoren, die den betreffenden Gegenstand aus der Umgebung herausheben und ihn dadurch bevorzugt zur Verlockung herausstellen für die Benutzung oder den Erwerb, beginnt das ästhetische Problem des Plakates. Diese ganze Gruppe ästhetischer Faktoren, die nur im Zusammenhang mit anderen als ästhetische Bedeutungen ihre Wirkung entfalten, nennen wir die begleitenden Eigenbedeutsamkeiten der Wahrnehmung. 2 3 Ihnen steht die freie, gegen alle Zwecke des Lebens isolierte Eigenbedeutung der Wahrnehmung gegenüber, also auch dem Kultbild, Lebensbild und der Illustration gegenüber das ästhetische oder optische Gebilde, wie wir das ästhetisch eigenbedeutsame Bild nennen, und die Schau, wie das Sehen solcher Bilder heißen mag. Hier sind die Fragen: welche anschaulichen Faktoren vermögen isolierend, konzentrierend und intensivierend ein solches eigenbedeutsames Gebilde zu ergeben, die Frage der Form, des Bildgehaltes und der Bildordnung, die Frage damit auch der Heraushebung aus der Wirklichkeit, des Rahmens. Allen D i e s e Begriffe zur Ästhetik der angewandten K u n s t , die hier nicht mehr zur Sprache k o m m e n ,
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sind ausführlich erörtert im I I . Kapitel der „ Ä s t h e t i k " , 1919.
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diesen Fragen aber geht voraus die andere Frage: gibt es überhaupt in der bildenden K u n s t Werke von rein eigenbedeutsamer Kraft, d. h. befreit von jeder kultlichen, lebensdarstellenden und illustrativen, belehrenden Bedeutung? E s sind die Fragen, die eine moderne Ästhetik deshalb als dringlichste stellt, weil sie zu gleicher Zeit als Aufgabe einer scheinbar inhaltslosen, naturfremden, abstrakten Kunst auftritt. [Mit diesem kurzen Überblick ist der Rahmen abgesteckt, in dem sich die Bestimmungen von Kultbild, Lebensbild, Abbild und Gebilde bewegen und der Standpunkt bezeichnet, von dem aus sie nun im einzelnen näher zu untersuchen sind.]
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Hamann
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Y. DAS KULTBILD UND DAS ANSEHEN
1. VORAUSSETZUNGEN UND AUFGABEN DER MONUMENTALKUNST Die Vertretung einer über Menschen Macht ausübenden, ihre Gedanken beherrschenden Person durch das Bild, ist eine kunstgeschichtliche Tatsache. Die Theorie der bildenden Kunst hat zu zeigen, wie die Aufgabe der Vertretung, eine Person zu vergegenwärtigen und somit dem Denken an die Person und dem Verhalten in Gedanken an die Person einen realen Gegenstand zu verschaffen, durch die Irrealität des Bildes geleistet werden kann, und mehr noch, welche Elemente der Bildlichkeit sich mit dieser Vergegenwärtigung vertragen und welche Verhaltensweisen von Personen, die Menschen beherrschen, aus der Bildlichkeit sogar Nutzen ziehen. Vier Vertretung heischende, zur Vergegenwärtigung drängende Lebensmächte scheinen mir im wesentlichen zur Vertretung durch das Bild geführt zu haben und damit zur Entstehung und Entwicklung einer repräsentativen Kunst. 1. Mächte, von denen wir glauben, daß sie in unser Leben eingreifen, die aber ewig unsichtbar bleiben, oder, wenn sie den Menschen erscheinen, so nur Einzelnen, Besessenen als geisterhafte Erscheinung, ohne Greifbarkeit und körperliche Realität. Gedacht und geglaubt wird dieses Unsichtbare als etwas Menschliches und Persönliches, gefürchtet (ein tremendum) wie ein Herrscher, der mit gutem oder bösem Willen in unser Leben, wie es ihm gefällt, eingreifen kann, von dessen Gnade wir abhängen, so daß der Gedanke der Abhängigkeit den Gläubigen in allen seinen Handlungen begleitet als eine sein Sinnen und Trachten überwältigende Vorstellung, als Fascinosum. Dieses Allgegenwärtige und doch Unsichtbare sichtbar zu machen, durch ein Bild vertreten zu lassen, ist die Aufgabe religiöser Kunst seit den ältesten Zeiten bis zur katholischen Kunst unserer Tage. Die ganze antike Kunst, die des Mittelalters und des Barock ist in erster Linie religiöse Kunst. Ihr Inhalt ist das Kultbild in Form des Götterbildes. 2. Im Leben der Menschen spielen Ereignisse und Zustände eine Rolle, die dem Bewußtsein nur in einer Fülle von Beziehungen gegenwärtig werden, die in irgendeiner Weise als Einheit oder auf einen Einheitspunkt bezogen erlebt werden. Die Sprache ist es, die diese Einheit als Abstraktum in einem Wort zusammenfaßt, für das nie eine dem Abstraktum entsprechende Anschauung gewonnen werden kann. Solche Abstrakta sind Krieg und Frieden, der Handel, die Industrie, das Reich, die Stadt. Die Einheit des Wortes erlaubt es, im Namen dieser Abstrakta als einer Wirklichkeit und wie von einer Person ausgehend Anordnungen zu erlassen, Handlungen und Gefühle ihr gegenüber zu verlangen und auszuüben. Wieder ist es die bildende Kunst, die dieser unsichtbaren Wesenheit, dieser nur im Wort erlebbaren Wirklichkeit eine sichtbare Gegenwart verschafft, sie personifiziert. Diese Personifikationen rücken damit in die Reihe der Götterbilder ein und nicht selten, wie in der Antike, geht ihnen eine Vergöttlichung der Begriffe durch die Statuierung von Stadtgöttinnen, Göttern der Luft, des Wassers, des Friedens, des Krieges voraus, ja die meisten Einzelgottheiten verdanken der Personifikation solcher nur als Abstrakta begrifflich faßbaren Wesenheiten ihr Dasein. 3. Verstorbene leben im Bewußtsein der Angehörigen nach, ihr Andenken wird bewahrt und Gefühle der Verehrung, der Liebe ihnen gegenüber bleiben ihnen auch nach dem Tode. Um dieses Nachleben im Bewußtsein zu stärken, der Verehrung ein sichtbares Ziel zu geben, wird den Verstorbenen ein Denkmal gesetzt, dazu dient das Bild, das zu besehen den Hinterbliebenen Bedürfnis ist. Die bildliche Verehrung des Verstorbenen ist das Grabmal. 3*
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4. Von verehrten und geliebten Personen, die sich von uns entfernt haben, verschaffen wir uns ein Bild, um vertretungsweise das Glück ihrer Nähe zu genießen. Der Herrscher, der nicht in seinem Reich überall sein kann, wo seine Herrschaft erwünscht wird, läßt sich durch ein Bild vertreten, und Herrscher, die wünschen, daß man jederzeit ihrer gedenke und ihnen Heil wünsche, legen Wert darauf, daß ihr Bild in jedem Raum prange, wo die Untertanen als solche sich der Abhängigkeit vom Herrscher bewußt werden, aber auch das Volk reißt sich um Bilder von Personen, die es verehrt und von deren Gnade es lebt, von denen es Wohltaten oder geistige Anregungen empfängt, die Macht über ihr Gemüt haben. So entsteht das Herrscherbild, das Bild vom Herrscher im Reich des Raumes oder des Geistes. Der bildliche Ausdruck ist sein Denkmal. Die erste Frage ist, wie kann ein Bild überhaupt vertreten, da es sich bei der Vertretung doch um Lebensbeziehungen handelt, für die die Vertretung, die Repräsentation, durch Vergegenwärtigung der Abwesenden beitragen soll. Ein Schmied, der ein Pferd beschlagen soll, ein Arzt, der zu einem Patienten gerufen wird, kann sich durch einen anderen Schmied, einen anderen Arzt vertreten lassen, aber nicht durch eine Statue oder ein Gemälde. Es muß also Lebensbeziehungen geben, bei denen die tätige Beteiligung des Menschen nicht in Frage kommt, also auch nicht die Wirklichkeit der Wirksamkeit, und bei denen doch eine außerästhetische, reale Funktion des Verhaltens von Person zu Person in Kraft treten kann. Dieses Verhältnis ist das des Kultes, der Verehrung, das der Ehrfurcht entspringt und sich in Handlungen oder einem Verhalten bekundet, die sich zwar an eine Person richten, aber ohne von dieser Gegenleistungen zu empfangen, die eine reale Tätigkeit erfordern, und ohne der Person selbst mit angreifenden Handlungen zu nahe zu treten; diese Zeichen der Verehrung, die eine Person einer anderen in Haltungen und Gebärden, in Handlungen und Tätigkeiten darbringt, nennen wir Kultus. Sie bedürfen nichts weiter als der Anwesenheit der verehrten Person. Solche Verhaltensweisen sind das Aufstehen, wenn der Verehrte erscheint, das Hut-Abnehmen, das Erheben der Hand zum Gruß, das Kreuzen der Arme auf der Brust zum Zeichen, daß man sich ihm ergibt, Zeichen der Unterwerfung wie das Neigen des Hauptes, Verbeugen des Körpers, Niederknieen, sich zu Boden werfen. Alle diese Gebärden können sich auch vor dem Bilde vollziehen, solange ein Angreifen wie Handgeben oder Handkuß nicht in Frage kommen — obwohl die Magie, die vergegenwärtigende Kraft des Bildes, so weit gehen kann, daß auch einem Bildwerk wie der bronzenen Petrusstatue im Vatikan die Füße geküßt werden, deren einer durch die ständige Berührung bereits ganz abgeschliffen ist (Abb. 6a). Dieses der Realität des Wirksamen nicht bedürfende Kultverhalten kann um so eher mit der Bildlichkeit sich begnügen, als zu dem Kultverhalten allein schon die Wahrung der Distanz gehören kann, so daß eine Person um so ehr- und kultwürdiger ist, je weniger der Gläubige ihr zu nahe treten darf und die Vertraulichkeit der Nähe ausgeschlossen ist. Damit sind wir schon bei einer kultfördernden Beziehung des ästhetisch isolierten Bildes zum Kult, weil die Isolierung aus der Umgebung distanzschaffend wirkt und damit die Würde der verehrten Person wahren hilft. Das Besondere, Exzeptionelle, der verehrten Person bedarf auch des Rahmens, der Heraushebung aus der Masse, den viel zu Vielen. Da Kult keine gegenständlichen Werte schaffen, keinen Nutzen erreichen, keine Arbeit verrichten will, sondern sich im Bewußtsein genügt, dem Herrn zu gefallen, Andacht zu verrichten, ihm Andenken zu bezeugen, so bedarf es für den Kult genau so der Herauslösung aus dem tätigen Getriebe des Lebens, genau so der Sammlung (Konzentration) des Geistes wie in der ästhetischen Beschaulichkeit, und es bedarf der Intensivierung der kultischen Handlungen, der Gebärden, der Sprache. Dieser Isolierung und Verdichtung des Kultus dienen die Feiern und die Feierlichkeit, und es ist begreiflich, daß schon mit dieser Parallele zur ästhetischen Haltung (obschon nicht Identität) die Kunst, vor allem die bildende Kunst, sodann die Musik bei der Entfaltung der Feierstätten, der Kulträume, der Kirchen eine so große Rolle spielt, so sehr, daß die Kunstgeschichte als ihr Material bei der Behandlung der Architektur fast ausschließlich die Kultstätten anzusehen pflegt. So wie für den Machtempfangenden, den Herrn, durch solch ein Tun ohne Zweck und Gewinn ein befriedigender Zustand des Gemütes geschaffen wird, das Machtgefühl, so bedeutet auch die 26
kultische Haltung für den Untertanen und Dienenden das Gefühl der Abhängigkeit von dem Herrn, das zugleich ein Gefühl der Zugehörigkeit zu ihm ist, einen erhebenden Zustand des Geistes, ein Gefühl der Begnadung und der Erlösung. Dies um so mehr, je mehr es ohne Zwang sich als ein Bewußtsein der Teilnahme an den Erfolgen des Herrn in kriegerischer und diplomatischer Auseinandersetzung mit Gegnern der Gemeinschaft gibt und als ein Glaube an die gute Führung im Innern die Gemeinschaft verbindet. Diese Erhebung erfährt derjenige, der an den göttlichen oder weltlichen Herrscher glaubt, in der Feier, und in ihr dokumentiert er in Kulthaltungen und Kultgebärden mit begeisterter Hingabe seine eigene Unterlegenheit und Unterwürfigkeit. Das Wichtigste für die bildende Kunst ist dabei, daß ein Teil dieser Unterwerfung im Anschauen der Person des zu Verehrenden beruht, daß die Kulthörigen sich drängen, die Person des Herrschers oder irgendwie Verehrungswürdigen zu sehen, daß es für den Untertanen das größte Ereignis des Lebens bedeuten kann, den Herrscher oder irgendeine berühmte Person gesehen zu haben, und zwar je näher, je deutlicher also, um so mehr. Deshalb bedeutet ja Gottesnähe und Gottesschau in der Religion so viel, deshalb ist in der militärischen Ehrenbezeugung das Ansehen des Vorgesetzten im militärischen Gruß, d. h. dem militärischen Personenkult, so wichtig. Das An-sehen ist deshalb eine Kulthandlung, ein Zeugnis-Ablegen, eine Bezeugung von Verehrung. Die Ehre, die dadurch jemandem erwiesen wird, nennen wir das Ansehen, das jemand damit empfängt. Dieses Ansehen verlangt in erster Linie sichtbare Gegenwart des zu Verehrenden, kann aber vor allem durch die Sichtbarkeit der Person mit Hilfe eines Bildes gewährleistet werden, solange nicht Handlungen in Frage kommen, die über die Bildlichkeit hinausführen zur lebendigen Realität der Vertretung, doch braucht eben das im Kultus gerade nicht der Fall zu sein. Die vertretende Kraft des Bildes wird am deutlichsten in der Bedeutung, die das Bild in den Beziehungen der Liebe zwischen Personen hat, von den einfachsten verwandtschaftlichen und freundschaftlichen bis zu denen der Geschlechterliebe, dem Eintritt des Erotischen im speziellen Sinne. Nicht nur, daß für das Liebeswerden und Liebeswerben der Anblick, das Aussehen einer Person (auch unter den Tieren) eine große Rolle spielt und das Anschauen im Erotischen Befriedigung und Erregung bewirkt, gerade im Gebiet der Liebesbande ist der Wunsch, ein Bild von der entfernten geliebten Person zu besitzen, es ständig mit sich zu führen und in jeder freien Zeit sich darein zu vertiefen, jedem Menschen bekannt und das beste Beispiel für Notwendigkeit, Möglichkeit und Tatsächlichkeit des vertretenden Bildes. Gerade in dieser Sphäre ist aber auch bekannt, welche Rolle die Sehenswürdigkeit ästhetischer Faktoren auch in der Natur für die Anschaulichkeit in kultischer Beziehung spielt. Jede Ästhetik, die von dem Schönheitsbegriff ausgeht, beruft sich im Grunde auf die Faktoren, die als sichtbare Bedeutsamkeit zum erotischen Kult — nennen wir doch einen Liebhaber auch einen Verehrer — und aller amourösen Zuneigung beitragen. Dabei wird übersehen, daß die Ansehnlichkeit, d. h. die Ehrwürdigkeit und das Verehrungsbedürfnis — auch im Erotischen — zunächst nicht auf ästhetische Faktoren zurückgehen, sondern auf ein Regulativ der Machtäußerung und der Ohnmachtsbezeugung, das sich in der Frage der Ansehnlichkeit auf ästhetische Faktoren berufen, diese zur Hilfe heranziehen kann. Welcher Art diese ästhetischen Faktoren in bezug auf die Ansehnlichkeit sind, ist erst das eigentliche Problem der Ästhetik. Dabei ergeben sich zwei Pole, zwischen denen das Problem der Ansehnlichkeit als ästhetisches sich einspannt. Der eine Pol betrifft den Kult als Ausdruck der Unterwerfung unter eine Macht. Ihr liegt zugrunde als letztes Motiv die Furcht, die zur Ehrung zwingt, die Ehrfurcht. Gott zu fürchten, ist oberstes Gebot der Religion und die Scheu, heilige und weltliche, ist um so größer, je größer die Macht des zu Verehrenden ist. Sie legt die Distanz zwischen die verehrte Person und den Verehrer. Mit der Huldigung versuchen wir, den Zorn Gottes zu besänftigen und ihn gnädig zu stimmen. Wir befinden uns im Reich des Tremendum, um uns eines religionsphilosophischen Begriffes zu bedienen. Kultisch dokumentiert sich die Größe der Macht in der Weite ihres Bereiches, räumlich und zeitlich. Je mehr Denkmäler einem Machthaber gesetzt werden, je größer der Kreis der Gläubigen ist, die sich vor ihm zum Kult versammeln und sein Bild anbeten wollen, je 27
länger diese Herrschaft über die G e m ü t e r der Menschen dauert und je mehr das Ansehen des Herrschers in die E w i g k e i t hineinzielt, desto ansehnlicher ist das Bild und die mit ihm vertretene Person. D a m i t erhebt sich die F r a g e : was kann das Bild v o n sich aus dazu beitragen? E s ist die F r a g e der D e n k m a l s k u n s t , der M o n u m e n t e . Ihre Beantwortung erklärt das W e s e n der Monumentalkunst. N a c h diesen Seiten hin müssen wir die sichtbaren Faktoren in bezug auf Monumentalität beleuchten: nach der Seite der Vergegenwärtigung, der Repräsentation; nach der Seite der Sichtbarkeit im R a u m , der F e r n w i r k u n g auf die Öffentlichkeit oder der Publizität, der V e r ö f f e n t l i c h u n g ; nach Seite der F o r m w i r k u n g des Bildes in der Zeit, der Eternität, der V e r e w i g u n g ; und nach Seite der Ansehnlichkeit, der R e spektabilität. M o n u m e n t a l k u n s t will also vertreten, repräsentieren, mit Hilfe des Bildes für den K u l t vergegenwärtigen und ist um so monumentaler, je öffentlicher, d. h. je weitreichender im R a u m und je ewiger, dauernder in der Zeit sie ist. Auf der einen Seite verehrt auch der Liebende, macht sich abhängig, vergöttert und stellt die Angebetete auf ein Piedestal. D e r andere P o l ist der der Liebe. Auf der anderen Seite sucht Liebe die E n t fernung zu überwinden, die auch die Scheu zwischen den Verehrten und den Anbeter legt. F ü r die L i e b e ist das Bild ein Mittel, die Nähe der Geliebten zu erreichen, ein Mittel der Vertraulichkeit, der Intimität. Liebe drängt nicht nach Öffentlichkeit, sondern nach Abgeschlossenheit, nach Alleinsein mit der oder den geliebten Personen, nach Absonderung und Einzigkeit. D i e vertretende Behandlung des Bildes besteht deshalb in der N ä h e im R a u m und in der Zeit und der Einzigkeit des bildlich Dargestellten, in der Bekanntheit durch solche Nähe. S o bildet den anderen Pol des vertretenden, des Kult-Bildes, das Bildnis, im Gegensatz zum M o n u m e n t das Porträt.
2. D A S W E S E N D E R
MONUMENTALKUNST
a. D I E V E R G E G E N W Ä R T I G U N G . R E P R Ä S E N T A T I V E
KUNST
D e r K u l t , der einer P e r s o n dargebracht wird, gilt dieser in ihrem wirklichen Dasein. D i e Vertretung durch eine leibhaftige P e r s o n verbürgt mit der Vergegenwärtigung auch die Wirklichkeit der P e r s o n , welcher der K u l t eigentlich gilt. Auch das Bild m u ß diese Leibhaftigkeit to täuschend suggerieren, daß der K u l t nicht an dem bloßen Augenschein erlahmt. Deshalb ist kultische K u n s t plastische K u n s t , die K u n s t , die die Körperlichkeit des Dargestellten so weit treibt wie nur möglich. Dies erfüllt die Skulptur besser als die Malerei. D i e skulpierte F i g u r , die Plastik, befindet sich mit ihren K ö r p e r f o r m e n in unserem R a u m , wir können sie, wenn nicht die Hoheit und Würde diese Vertraulichkeit entfernt, angreifen und wie bei den Petrusstatuen im Vatikan ihr die F ü ß e küssen ( A b b . 6 b ) . D e r T h r o n , auf dem die Marmorstatue des Petrus in den G r o t t e n des Vatikans sitzt, 2 4 ist ein T h r o n im einsamen R a u m , der d e m Wandelnden den W e g verstellt, und jeder Bischof oder 24
Die hier folgenden Angaben und die Erwähnung von Löwen am Sockel auf S. 47 beruhen auf Autopsie des Zustandes bis zur Neuaufstellung der Petrusfigur durch Papst Pius X I I . im Jahre 1949. Dazu Schüller-Piroli, 2000 Jahre Sankt Peter, Ölten 1950, S. 399 (mit Abb. S. 265) und Auskunft Arnold Nesselrath: Lebensgroße Marmorfigur, heute im Zentrum der Rückwand der Grotten zwischen Orsinikapelle und der Kapelle mit den Gräbern Ottos I. und Gregors V., unter deren Schranke die beiden Löwen jetzt eingemauert sind. Ursprünglich hatte sie in der Kapelle der Schwangeren Madonna auf einem aus Marmorarifragmenten zusammengesetzten Thron ihren Platz (Foto Alinari 26372). Kopf wahrscheinlich von Arnolfo di Cambio, Hände und Füße angestückt, Torso antike Rhetoren- und Philosophenstatue des 3. Jh. (?). Die ähnliche Bronzefigur, ebenfalls von Arnolfo di Cambio, steht am nordwestlichen Kuppelpfeiler von Sankt Peter. Vgl. Angiola Maria Romanini, Arnolfo di Cambio e lo „ S t i l novo" del gotico italiano, Mailand 1969, S. 181 und Anm. 260, Abb. 2 0 6 - 2 0 9 (Bronzefigur), 2 1 0 - 2 1 2 (Marmorfigur).
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Papst, Nachfolger Petri, könnte auf ihm Platz nehmen wie die Statue des Heiligen, dem zwar das reale Leben fehlt, aber dessen Anblick doch so lebendig vom Künstler gegeben ist, daß der Gläubige und Kultübende es nicht schwer hat, auch das Bild für wahr zu nehmen und ihm die Verehrung zu bezeugen, die dem unsichtbaren Heiligen gilt. Die Aufgabe des Künstlers ist es, auch den Charakter der toten Materie zu überwinden und die Illusion der leibhaftigen Person zu erwecken. Diese Tendenz der bildenden Kunst ist Illusionismus und ein Wesenszug der Monumentalkunst. Alle Monumentalkunst strebt nach weitgehender Illusion. Dieser dient also in erster Linie die Plastik, und, wie wir noch hinzufügen müssen, die farbige Plastik. Einfarbige Plastik der reinen Form ist Sache der ästhetischen Bildnerei, nicht des Kultbildes. Die großen Zeiten religiöser Kunst und der Monumentalität, der Kultbilder, die ganze Antike und das Mittelalter, sind Blütezeiten der Plastik und die Malerei dieser Zeiten, wie jede Monumentalmalerei, wetteifert an Plastizität mit der Skulptur. Monumentale Malerei ist gemalte Plastik. Das gilt nicht nur für die Körperlichkeit der dargestellten Person, die die Malerei in illusionistischer Tendenz zur höchsten Körperlichkeit zu bringen verspricht, sondern auch für das Verhältnis der dargestellten Person zu unserem Raum. Während wir gewohnt sind, daß die Malerei die Figuren von der Bildfläche aus in die Tiefe hin entwickelt, in den Hintergrund hinein, erfordert es die Monumentalität der Kultusmalerei, die Figuren aus der Bildfläche in unseren Raum, den Kultraum, die Feierstätte, hereinzumalen, indem man von der Wand unseres Raumes ausgeht — Monumentalmalerei ist Wandmalerei, auch eine Altarwand ist Teil unseres Raumes — und oft mit virtuoser Beherrschung der Perspektive die Figur von der Wand löst und vor die Wand stellt, als stände sie in unserem Raum oder trete sie gerade in diesen hinein. Alle perspektivischen Illlusionen der Barockmalerei mit ihren Vorläufern bei Castagno, Mantegna 2 5 und anderen Frührenaissancemalern dienen der Verwirklichung des Kultbildes. Den Rahmen, der die Figur im Bilde isoliert und damit das Heilige oder Ehrwürdige von der profanen Menge absondert, der dafür sorgt, daß es sich nicht gemein macht und zugleich durch die rahmende Heraushebung aus der Umwelt Blickpunkt für das Ansehen und Gegenstand einer Feier werden kann, stellt doch gleichzeitig die Verbindung mit der Wirklichkeit, den Gläubigen und dem Kultraum her, indem es ein architektonischer Rahmen wird, ein Portal, eine Nische, ein Bauwerk wie das Gebäude, von dem es ein Teil ist; man denke an die Nischen in Or San Michele (Abb. 5) oder die Baldachine an den Fialen der gotischen Kirchen 2 6 oder die Nischen der Altäre in ihnen mit ihren reichen architektonischen Schmuckbaldachinen 2 7 . Obwohl die Malerei es leicht hätte, in einem abstrakten, rein ästhetisch isolierend wirkenden geometrischen Rahmen die gemalte Person in einem Eigenraum zu zeigen und den bildlichen Reichtum sehenswerter Faktoren im Bilde zu steigern, durch viele Dinge im Raum und durch Landschaften im Hintergrund, wie in den Madonnen des 15. Jahrhunderts, verzichtet das Kultbild auf diesen ästhetischen Reichtum und bildet eine vertretende Anwesenheit, verhaftet die Kultfigur mit der wirklichen Architektur als Teil eines Pfeilers oder der Säulen eines Portales, oder versetzt sie in die Räume des Tympanons eines Portals oder des Giebelfeldes eines antiken Tempels. Die Malerei hilft sich in diesem Falle, indem sie den architektonischen Rahmen als Schnitzwerk benutzt, als eine architektonische Räumlichkeit, in die sie die gemalte Figur hineinpaßt, oder den architektonischen Rahmen und den Raum, in dem die Figur steht, die Nische, gleich mitmalt. Sie kann die Räume, in denen die gemalten Figuren stehen, groß und weiträumig gestalten, hauptsächlich aber wird sie dafür sorgen, daß bei Kultbildern der dargestellte Raum als Teil des wirklichen, der Kirche, oder als Erweiterung wie ein Kapellenraum erscheint. Das ist der Fall in Bellinis Bild einer Madonna mit Heiligen in S. Zaccaria in Venedig 2 8 , w o die die Kuppel und Halbkuppel des gemalten Raumes tra25 26 27 25
II, 4 9 6 f. Reims, Kathedrale: II, 19, 283. Marienstatt, Oberwesel: II, 390, 375. II, 600.
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genden gemalten Pfeiler genau die gleichen sind wie die plastischen des hölzernen Rahmens, der als wirkliche Architektur in der Kirche den architektonischen Eingang bildet zu dieser illusionistischen Scheinkapelle. Und auch das Mosaik in der Apsis von Sa. Pudcnziana in Rom 2 9 mit seinen illusionistischen Figuren der Heiligen zu Seiten des thronenden Christus ist gedacht als ein Einblick in einen Hofraum, der sich vor dem Hintergrunde einer Stadt in den Kirchenraum öffnet.
b. D I E P U B L I Z I T Ä T O D E R V E R Ö F F E N T L I C H U N G Je größer der Kreis ist, an den sich das Kultbild wendet, je weiter es in den Raum hineinwirkt, also auf Fernwirkung eingestellt ist, desto denkwürdiger und ansehnlicher ist der Dargestellte im Bilde. Ist also das Bild in der Lage, mit seinen eigenen Mitteln diese Öffentlichkeit herzustellen und auf die Öffentlichkeit zu wirken? Das monumentale Bild stellt nicht etwas Beliebiges dar, sondern eine bestimmte Person mit bestimmtem Namen. Ehe wir diese verehren, wollen wir sie erkennen. Damit wir aber aus der Entfernung den Dargestellten identifizieren können, müssen die Merkmale, die ihn charakterisieren, breit und groß gebildet sein. Die feinen Züge, die der Einzelne als die seines Bekannten kennt und erst im näheren Umgang mit ihm als Vertrautem deuten lernt, sind in der Ferne nicht wirksam und nicht deutlich. Es kommt auf die groben Züge an, nicht im Sinne der Derbheit, sondern der Einfachheit. Auch soll ja als Kultgegenstand des ganzen Volkes oder der Welt nicht das Absonderliche und Absondernde der Individualität, nicht Originalität dargestellt werden. Ebensowenig kommt es auf die Züge an, die sich nur aus der Bekanntschaft, d. h. aus der unkultischen Nähe der Vertrautheit ergeben. Vielmehr muß die Physiognomie des zu Verehrenden verallgemeinert und allgemeingültig werden. Deshalb vermag auch von einem Lebenden, einem Herrscher, keine Fotografie ein Kultbild abzugeben oder monumental zu wirken. Es gehört ein Künstler dazu, in großen Zügen von dem Dargestellten das Bezeichnende, für seine Identifizierung Wesentliche herauszunehmen und zu steigern für das Weithinwirkende. Es ist das, was wir in seiner Verallgemeinerung den Christustyp, den Petrus- oder Paulustyp nennen. So allgemeine Merkmale wie Kahlköpfigkeit oder Mähnenreichtum, Bärtigkeit oder Bartlosigkeit, Voll- oder Spitzbärtigkeit, können eine größere Rolle spielen als die feinen individuellen Züge des Gesichtes. Welche allgemeinen physiognomischen Merkmale Haupt- und Barthaare geben können, lehrt der Kopf des Ranofer mit und ohne Perücke. 3 0 Vor allem aber kommt es in der Monumentalkunst weniger darauf an, daß der Dargestellte ein Mensch mit all seinen Eigentümlichkeiten und Schrullen ist, sondern daß er Gott, König, Heiliger ist und die allgemeine Idee des Göttlichen, Königlichen, Heiligen, Patriarchalischen in ihm zum Ausdruck kommt. Dieser Idee zuliebe wird ja schon im Leben, dort, w o es keiner Vertretung bedarf, weil der Ehrwürdige anwesend ist, die Kultperson ausstaffiert mit einer Uniform, die den Rang bezeichnet, mit dem violetten Mantel des Papstes, dem Purpurmantel des Kardinals, dem goldschweren Mantel des Herrschers, und er empfängt an Insignien, als Zeichen der Macht, Krone, Szepter, Ketten, Ringe, an denen man den Rang von weitem erkennt. Solche Insignien, Erkennungszeichen, die zur Identifikation dessen dienen, was der Dargestellte für den Kult sein soll, werden auch verwendet, um in der Verallgemeinerung des Kultbildes zugleich die Bestimmtheit der einmaligen Person in Raum und Zeit zu gewährleisten. Es sind die Attribute der Götter und Heiligen, der Blitz des Zeus, der Dreizack des Poseidon, die Flügelschuhe des Hermes, die Leier des Apoll, der Kreuznimbus Christi, die Schlüssel des Petrus, das Schwert des Paulus. Ihre Bedeutung muß man gelernt haben, um sie wie Buchstaben entziffern zu können; die Lehre von diesen Attributen, die Ikonographie, ist ein wichtiger Zweig der Geschichte der Monumentalkunst. Insofern ist die repräsentative Kunst zugleich illustrative Kunst, Kunst, die 29 30
II, 57. I, 144 f.
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nicht nur gesehen, sondern zuvor gedeutet werden muß, und deren Deutlichkeit mit großen Buchstaben gleichsam sich kundgibt. Deshalb steht in einem Kultgemälde oder dem Sockel einer Plastik auch der Name, wie auf jedem Grabstein, und Spruchbänder verraten durch ihre Aussprüche, die darauf verzeichnet sind, was der Betreffende ist. Auch lebende Wesen, Personen, Tiere, können attributiv und identifizierend wirken, wie das Christuskind der Maria, der Adler des Zeus, der Drachen des heiligen Georg, der Löwe des Hieronymus 31 , die Hirschkuh des heiligen Ägidius, die Symbole der Evangelisten (Abb. 20) 32 . Der Allgemeingültigkeit, der Ansehnlichkeit für den weiten Raum und die große Menge, der Überwindung des Raumes, dient auch die Erhöhung der sichtbaren Gestalt, damit sie über die Menge herausragt und auch von den hinteren Reihen der anwesenden Verehrenden gesehen werden kann. Das geschieht am einfachsten durch Vergrößerung der Gestalt, durch das Überragende, ein Wort, mit dem wir, auf die Ansehnlichkeit bezogen, einen Rangwert verbinden. Für den Gläubigen, der mehr das, was sein soll, was der Idee entspricht, sehen will, ist die übernatürliche Größe kein Grund, an der vertretenden Wirklichkeit des Übergroßen zu zweifeln. Gerade frühe, gläubige Zeiten lieben im Kultbild die übernatürliche Größe, das Kolossale. Das lehren in der ägyptischen Kunst die Statuen an der Fassade von Abu Simbel 33 , in der griechischen die frühen archaischen Kuroi 34 und die Goldelfenbeinbilder des Phidias in Olympia und Athen 35 . Die Erhöhung der Personen im Kostüm besorgt der hohe Hut, den wir bei feierlichen Gelegenheiten tragen, ebenso der Helm, der Federbusch, die Krone in ihren verschiedensten Formen; vor allem die hohe Krone der Ägypter und die mehrfach übereinandergestülpten Kronen der päpstlichen Tiara sind im besonderen solche Würdezeichen. Daß man bevorzugten Personen ein Reiterdenkmal setzt und nicht ein einfaches Standbild, besonders auf öffentlichen Plätzen, hat zunächst denselben Grund wie den, daß sich hochgestellte Personen gerne hoch zu Roß der Öffentlichkeit zeigen. Auch sie ragen dadurch hervor, werden weithin sichtbar, ohne daß sie an Gestalt das Maß des Menschlichen zu überschreiten brauchen. Dasselbe leistet der Sockel, das Podium, von dem aus der Ehrwürdige sich den Verehrenden zeigt. Das Pferd ist ja auch eine Art Sockel für den Reiter. Durch den Sockel wird der Mensch hochgestellt, wird der Ausdruck „hoch" — eine hohe Person, ein hoher Rang — mit „ehrwürdig" fast identisch; durch diese Hochstellung wird er zur (königlichen)//?^//, und die Hoheit ist es, die die Vertraulichkeit entfernt. Deshalb ist auch in der bildenden Kunst aller kultisch führenden Zeiten ein möglichst hoher Ort in der Fassade, das Bogenfeld des Portals 36 , die Giebelzone 37 , oder im Innern der Kirche die Apsis 38 , ein besonders beliebter Ort des Heiligen- und Kultmittelpunktes. Die Anbringung von Mosaiken oder Fresken in der Apsis und in der Kuppel mit den für den Kult ausschlaggebenden Personen, der „Mutter Gottes" und Christus als Allherscher (Pantokrator) 39 oder Richter im Jüngsten Gericht 40 , ist eine sinnvolle Symbolik für die kultische Hoheit der dargestellten Personen, nicht eine Dekoration an einem beliebigen Ort, den das Schmuckbedürfnis nicht leer lassen wollte. Auch außerhalb des Bildes und der Kunst denken wir uns ja die höchsten Personen des Kultus auf dem Olymp oder im Himmel über uns. Diese Erhöhung wird aber auch schon durch den Rahmen bewirkt, der durch den Bogen über der Figur, mehr noch durch den Giebel über dem Bogen — in der Gotik durch Fialen, d. h. Türme auf den Strebepfeilern rings um den Bau herum —, selbst wenn die Haupt31 32 33 31 35 36 37 38 39 40
D ü r e r : II, 561. Cividale, A n g o u l è m e , T o u l o u s e : II, 107, 129, 165. I, 282. Kuroi in N e w Y o r k und von S u n i o n : I, 495, 514 Varvakion-Statuette, römische Kopie der Athena des Phidias (Original nicht erhalten): I, 612. II, 137, 170. Reims, Kathedrale: II, 19, 172. Ravenna, Hosios Lukas, C e f a l ù : II, 82, 85, 434. Gracanica: II, 88. A u t u n , B e a u l i e u : II, 130f.
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figur schlecht sichtbar ist, wenigstens den Ort weithin der Menge anzeigt, wohin sich ihre Blicke, Gebärden und Kultgefühle zu richten haben. 41 Diese Bedeutung der Erhöhung der Figur als Mittel der Veröffentlichung übernimmt zugleich mit isolierender (distanzierender) und schützend bergender Funktion der Baldachin, der über dem Altar als dem Allerheiligsten mit seinen Altarbildern errichtet wird. In der Prozession wird ein transportabler Baldachin mitgeführt, der den Priester, der die Hostie trägt, birgt und erhöht. Auch der Rahmen der Nische, in der die Monumentalfigur steht, entspricht ja der Fassadenansicht eines Baldachins. Mit dem Baldachin berühren wir aber bereits das Problem der monumentalen Architektur. c. V E R E W I G U N G . MOTIVE D E R E T E R N I T Ä T Je verehrungswürdiger eine Person ist, je größer ihre Macht, um so mehr wünschen wir ihre Ewigkeit, rechnen ihr diese als einen Ausdruck ihrer Kraft zu, ihrer Macht auch über den Tod. Bei den Ägyptern war das ewige Leben die Bestimmung der Könige und der Großen des Reiches, für das Volk kam es nicht in Frage. Vor allem aber glauben wir an den ewigen Gott. Ewigkeit ist eines seiner Attribute. Für den Bildgläubigen, wie den Ägypter, wurde diese Ewigkeit durch das Bild verbürgt. Im Bilde lebt der Mensch, der Dargestellte, weiter über den leiblichen Tod hinaus, und nicht nur er selbst, sondern auch sein Besitz, seine Leute, sein Vieh, seine Gärten und Jagdgründe, wenn sie vom Bildhauer im oder auf Stein nachgebildet sind. Die magische Kraft des Bildes ist für den Ägypter in bezug auf Verewigung ganz stark und damit auch die Illusion des Fortbestandes der Person selbst im Bilde. Aber auch wo dieser reine Glaube an die Magie des Bildes nicht mehr existiert, vermag doch für das Andenken und Ansehen das Bild auch nach dem Tode den Kult des Verstorbenen lebendig zu erhalten und ihn wenigstens als Kultgegenstand zu verewigen. Dabei kann es schon die materielle Haltbarkeit des Bildes sein, durch die es den Toten überdauert und Jahrtausende, ja nach den Erfahrungen mit den prähistorischen Felsmalereien, Ritzzeichnungen und Skulpturen, Jahrzehntausende diese Erhaltung der kultischen Gegenwart des Verstorbenen verbürgt wird, um so mehr, wenn das Bild als Freifigur oder Relief auftritt. Auch hier hat die Skulptur, wie in der ägyptischen Kunst, den Vorrang. Deshalb bevorzugt die hohe, auf stärkste Verewigung bedachte Kunst der Ägypter auch im Stein häufig wieder das festeste Material, den Granit. Es ist nicht nur die tatsächliche Haltbarkeit, sondern auch das Wissen um die Eigenschaften des Materials, wovon ein sichtbarer, ein ästhetischer Eindruck von Festigkeit, von Unzerstörbarkeit, von Ewigkeit, bei diesen Skulpturen ausgeht. Granit ist also ein besonders monumentales Material für Skulpturen. Ganz in das Gebiet des rein Sichtbaren, des Ästhetischen aber führt das Problem der verewigenden, monumentalen Form hinein. Je geschlossener die Form ist, ob aus Stein oder jedem anderen gegebenen Material, je blockmäßiger, je weniger durch abstehende Teile, durch Gliederung der Gesamtheit der Oberfläche der Eindruck des Zufälligen, Verfallenden, des Zerbrechlichen, des Bröckligen entstehen kann, desto ewiger wirkt die dargestellte Gestalt und wird das kultische Motiv der Erhaltung des Andenkens über die Zeit des zufälligen Sehens des Verehrungswürdigen und die Dauer seines Lebens hinaus sichtbares Erlebnis im Bilde. Daher der monumentale Eindruck der ägyptischen blockmäßigen Figuren, die doch zugleich Bilder von Personen sind, denen ein Kult zuteil wird. Pfeilerhaft sind Stehfiguren durch das Gewand zum Block geeint, schichtet sich über würfelförmigem Block der kastenförmige Oberkörper und rundet sich nach oben halbkugelförmig durch die Perücke, die Kopf und Schultern zusammenbindet und die blockgefährdende, gliedernde Wirkung des Halses überwindet. In den „Würfelhockern" 42 ist die Statur zu einem einzigen, von der Halbkugel oder Pyramide des Kopfes überragten Würfel zusammengenommen. 41 42
Reims, Kathedrale: II; 19, 172, 183. 1, 38, 190, 295, 302.
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Die Regungslosigkeit und Starrheit, die durch die Bindung aller Glieder an den Block und seine regelmäßige Gestalt entsteht und die Glieder zu parallelen und gleichartigen Bewegungen verpflichtet, unterdrückt zwar alle momentanen Lebensäußerungen der Person, macht sie unlebendig, aber damit auch recht feierlich, weil ewiglich. Die byzantinische Malerei, die in vergeistigterWeise einen ähnlichen Eindruck durch Malerei und Zeichnung zu erzielen versucht, erreicht diesen durch die Strenge der Zeichnung und die geometrische Schärfe und Bestimmtheit der Linien, die um so monumentaler und ewiger wirken, je unveränderlicher, optisch notwendiger, d. h. mathematisch bestimmter, sie sind. Die fliegenden, akrobatisch im Augenblick die Glieder herumwirbelnden Figuren Rodins und die aufgelockerten Oberflächen seiner noch in Bronze das weiche, zerstörbare Material des Tones verratenden malerischen Skulpturen sind zwar unglaublich lebendig, Lebensbilder, aber keine Monumente, keine verewigenden Denkmäler. Der Ausdruck der Heiligkeit, den die ägyptischen und byzantinischen Figuren haben, fehlt ihnen ganz. In Statuen, wie den Schreibern der ägyptischen, den Buddhas der ostasiatischen Kunst, ist sogar eine lebendige Haltung, ja im Leben ein nicht sehr edles Motiv des Hockens auf dem Boden mit übereinandergeschlagenen oder angezogenen Beinen, durch die sich dabei ergebende pyramidenhafte Geschlossenheit und Einheit zu monumentaler Bedeutung gesteigert und religiös wirksam geworden. Körperbewegungen, Verschiebungen der Glieder aus der Bindung an den Körperbau heraus, bedeuten zwar immer ein Tun in der Zeit, aber indem die Haltung, wie in antiken 4 3 und mittelalterlichen 44 Statuen, trotz reicher Gliedbewegungen und lebendiger Gliederfunktion in einem einheitlichen Gesamtvolumen verbleibt und eine geschlossene Form erzeugt, kann auch die bewegte Figur monumental wirken und so Freiheit und Notwendigkeit miteinander verbinden. Selbst die barocke Plastik mit ihrer heftigen Aktivität und übertriebenen Bewegtheit versucht durch Schraubenbewegungen, wie bei den Statuen der Mediceergräber 4 5 , oder durch die Spannung zwischen Gebanntheit in eine geschlossene Form und den Willen zur körperlichen Entladung einer Bewegung, dieser Monumentalität zu genügen. Es ist klar, daß diese Einheitlichkeit der geschlossenen Form, die für das A u g e eine Konzentration des Sehinhaltes bedeutet, zugleich eine ästhetische Konzentration ist und damit ein Mittel für die Eigenbedeutsamkeit der Anschauung werden kann, und daß umgekehrt, die ästhetische Konzentration im Bilde eines gliederreichen Körpers auch der Verewigung zugute kommen kann. Dennoch betrifft diese körperliche, raumfeindliche Konzentration der geschlossenen Form in erster Linie die kultische Kunst. Die Ausdrücke „offene" und „geschlossene" Form gelten sinnvoll nur für ein Teilgebiet der bildenden Kunst. Sie wären nicht für die Konzentration in den gegenseitigen Bindungen der Farben und der Lichter und Schatten verwendbar ; 46 auch ist die offene Form nicht ohne weiteres mit „malerisch" gleichzusetzen. Vor allem aber gewinnt die Dauer des Kultbildes an Ewigkeitsbedeutung durch den Zusammenhang mit der Architektur. Die bedeutendsten und wichtigsten Monumente treten in der Verbindung mit Kultstätten auf, die selbst für die Ewigkeit gebaut zu werden pflegen und damit das Problem der Monumentalität in der Architektur stellen. A n sich pflegt jede Architektur — von Zelten und Laubhütten abgesehen — als tote Masse den Bewegungen in der Zeit, den Kult-Handlungen entgegen zu sein und diese zu überdauern: die großen Kultstätten haben den Jahrhunderten und Jahrtausenden standgehalten, die ägyptischen Pyramiden und Tempel, die griechischen Tempel, die romanischen und gotischen Kathedralen, Schlösser und Paläste. Von diesem Ewigkeitswert einer monumentalen 43 44 45 46
A t h e n , Dexileos und Poseidon v o n M e l o s : I, 734, 7 6 1 . Bamberg: II, 3 2 6 f . II, 6 4 2 f . , 4 1 . In der letzten unkorrigierten Abschrift steht: „und sie werden f ü r die Konzentrationen in der gegenseitigen Bindungen der Farbe und Lichter und Schatten verwendbar". Offenbar sind hier Tipp- und Hörfehler zusammengekommen.
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Steinarchitektur profitiert auch das Kultbild, je mehr es dieser Architektur verhaftet, ein Teil von ihr oder ihr unverrückbar eingeordnet ist. E s ist schon der Vorzug des Reliefs, daß es mit der Haftung und Ausbreitung der Darstellung auf der Steinplatte die Gestalt zunächst als einen Teil des Steines behandelt und dem lebendigen Gehalt die Härte und Dauer des Steines vermittelt wie in den ägyptischen Reliefs, bei denen sich die Körperlichkeit der Figur kaum aus der Reliefplatte abhebt oder gar in das Mauerwerk versenkt ist 4 7 . In den romanischen Reliefs wie dem Christus von Toulouse 4 8 oder dem Durandus in Moissac (Abb. 4) kommen, die Steinmäßigkeit des Reliefs verstärkend, eine kultisch-geometrische Starrheit und Gliedergebundenheit und die geschlossene Gesamtform hinzu. Das wird aber besonders wirksam, wenn sich die Figuren in ihrem Inhalt der F o r m der Steinplatte oder dem Raum der Architektur so einfügen, daß eine andere F o r m und Haltung als die gegebene nicht denkbar oder nicht möglich scheint. So gewinnen auch Freifiguren im Raum durch die harmonische Einfügung in den Architekturraum eine Dauer, die die Dauer der Architektur selber ist; denn von dieser sind sie nur ein Glied, wie die Giebelfiguren und Tympanonskulpturen der griechischen 4 9 und gotischen 5 0 Klassik. Schon der Sockel ist eine Architektur, und die Bezogenheit der Figurenmasse auf Gestalt und G r ö ß e des Sockels tragen zu ihrer Monumentalität bei. So wirkt die Geschlossenheit des Gesamtumrisses von Sockel und Figur im Reiterdenkmal des Gattamelata von Donatello in Padua (Abb. 7) im Sinne der Ruhe und Dauer und damit der Verewigung. D e r Sockel selbst ist schlicht und einfach, ein Gehäuse mit Scheintür, ein Grabmal, das durch seine Höhe zur Erhabenheit der Figur beiträgt und durch seine Massivität wie eine ägyptische Pyramide unzerstörbar scheint, während der Colleoni des Verrocchio in Venedig (Abb. 8) mit seinem Herübertreten über den Umriß des Sockels, seiner aktiven Richtung über den Sockel hinaus, diesen zu einem unangemessenen Schauplatz einer aufdringlichen Parade macht und deshalb an Monumentalität weit hinter dem Denkmal Donatellos zurücksteht. Die gotischen Säulenfiguren der Westfassade von Chartres sind durch ihre Einfügung in die Säulen des Portals auch mit der Architektur verhaftet und durch diese monumentalisiert. 5 1 Dadurch, daß sie selbst säulenartig gebildet sind, schlank wie gotische Dienste, aufrecht und stabartig zusammengenommen, fügen sie sich der Architektur ein und nehmen sie an deren Starrheit, ihrer Unveränderlichkeit, teil. Die bewegteren und freieren Figuren der hohen Gotik haben diese Säulenhaftigkeit nicht mehr und lösen sich dadurch stärker von der Architektur. 5 2 Notgedrungen führt diese im Raum sich vollziehende Bewegung zur Nischenarchitektur am Portal, in dessen Nischen sich die Figuren mit ihrer Haltung freier einpassen. 53 Vollends verloren aber geht der Zusammenhang mit der Architektur, wenn die Figuren aus sich heraus und über die Säulen oder Arkaden der Portalgebäude hinwegagieren wie an dem Portal der Kartause von Dijon von Claus Sluter (Abb. 9—10). Hier wird das Portal zur Bühne, die Figuren zu Schauspielern. A m stärksten ist diese Zusammenhanglosigkeit mit Architektur in Rodins „Bürgern von Calais" 5 4 , die der Künstler ohne Sockel auf einen Platz gestellt haben wollte, kein Denkmal, sondern ein Lebensbild, nicht monumental, sondern tragisch. Dieser Kontrast von zufälliger Handlung und verewigendem Denkmal ist am sinnwidrigsten im Grabmal des Canova in der Augustiner-Kirche 5 5 in Wien (Abb. 11), wo eine das Grabmal darstellende Pyramide die Monumentalität des Denkmals vertritt, die in die Grabtür schreitenden Figuren aber die 47
I, 39 f.
48
I I , 165.
49
Olympia, P a r t h e n o n : I, 5 8 7 - 5 9 6 ,
5(1
Chartres, Paris, R e i m s : I I , 170, 174, 176.
51
I I , 13, 170.
52
R e i m s , D i o n y s i u s - E n g e l (früher irrtümlich , , N i k a s i u s " - E n g e l ) ; A m i e n s , V i e r g e d o r é e : I I , 173,
613-616.
175. 53
S t r a ß b u r g , K ö l n , Salisbury, W e l l s : I I , 3 6 5 - 3 6 8 , 391, 4 0 3 , 4 1 2 .
51
I I , 1041.
55
E i n e ähnliche G r a b m a l k o m p o s i t i o n Canovas befindet sich in Florenz in der Frarikirche.
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zufälligen Akteure einer Kulthandlung sind, die nur im Film wirksam werden könnte, hier aber sich als zu Marmor erstarrtes Leben gibt mit wie eingefrorenen Figuren. Hier ist der Betrachter nicht Anschauender einer Kulthandlung, sondern neugieriger Zuschauer wie vor der Kirchentür bei einer Hochzeit. d. MOTIVE D E R A N S E H N L I C H K E I T , DES R E S P E K T E S 1. Die Einzelperson. Respekt, Achtung vor jemand haben, heißt doch, daß die Bewunderung und Ehrfurcht, die wir gegenüber jemand empfinden, schon im Schauen, in der Betrachtung wurzeln [und sich im Hinsehen, im Anblicken, im Beachten äußern. Respicere heißt berücksichtigen]. Daß jemand angesehen sein will, setzt voraus, daß er sich zeigt, sich präsentiert. Deshalb vermeidet es monumentale Plastik oder Malerei, daß ihre Gestalten unauffällig und unabsichtlich wirken, daß sie wie zufällig von irgendeiner Seite, womöglich vom Rücken, in natürlicher Haltung gesehen werden, sie gibt sie von vorn, in voller Breite, in klarem Gegenüber zum ansehenden Betrachter. Der Wille, angesehen zu werden, muß sich in dieser Haltung ausdrücken, sich dem Beschauer „auferlegen", durch seinen Anblick „imponieren". Es ist das Gesetz der Frontalität, das in allen monumentalen Bildwerken zum Ausdruck kommt, in den frühen am stärksten, wodurch strenge Symmetrie, Ordnung aller Glieder symmetrisch in der Frontalebene, dieser Blickzwang auf den Verehrenden sich umso stärker geltend macht, als die ästhetische Konzentration durch die Symmetrie der dem Kult dienenden klaren Repräsentation entgegenkommt. Diese Ansichtforderung, von Wölflin als ein Gesetz der klassischen Kunst entwickelt, gilt freilich nur für die Monumentalkunst, für die außerästhetische Repräsentation, ist nicht Haltung der bildenden Kunst schlechthin. Repräsentative Statuen haben deshalb nur eine Ansicht, in der ihre suggestive Kraft, den Blick auf sich zu ziehen, zur Geltung kommt, die, in der sie sich wirklich dem Volke ganz zeigen. Eine Figur von Rodin kann wie eine Figur auf der Straße unendlich viele Ansichten haben. Die Bürger von Calais 56 kann und muß man umschreiten, um ihrer ganz habhaft und ihrer Tragik inne zu werden; eine ägyptische Königsstatue, wie die des Chephren 57 , kann nur streng von vorn, im klaren Gegenüber richtig, d. h. verehrend und ihrer Suggestivkraft unterliegend, gesehen werden. Die strenge Frontalität kann dadurch gemildert werden, daß sich einige Glieder aus der einen Sichtbarkeitsebene oder gegeneinander verschieben und damit den Sehzwang der totalen Einansichtigkeit und der Symmetrie auflockern, aber solange das Gesicht, der Hauptfaktor der wirksamen Person, in der Frontalität verbleibt, solange wir der zu verehrenden Person in die Augen sehen können, bleibt der Eindruck der Repräsentation und Denkwürdigkeit erhalten; ja, dank der Spannung, die durch das Wenden in die Frontalität aus der nichtfrontalen Haltung des Körpers gewonnen wird, wie bei vielen Bildnissen der Renaissance, bekommt die Person noch eine besondere Lebendigkeit. Durch das Gesicht tritt die repräsentierende Person selbst als blickende in Erscheinung, denn die Menge will ja nicht nur ansehen, sondern auch als ansehende bemerkt werden. Glücklich derjenige, der einen Blick des Herrschers erhascht, und nichts ist kränkender und dem Respekt vor sich selber, dem eigenen Ansehen schädlicher, als nicht beachtet zu werden. Dieser Blick der repräsentativen Persönlichkeit ist um so herrscherlicher, Ehrfurcht heischend, je unbeirrter geradeaus er gerichtet ist. Der Schwächling und der Niedrige schlagen die Augen vor dem Herrn nieder, ertragen nicht den Blick des Mächtigen und werden vor der Menge verlegen. Der starre Blick der altertümlichen griechischen Statuen mit den groß geöffneten, kuhäugigen Augen hat als herrscherlicher Blick seine monumentale Bedeutung. Kein Gefühl, keine menschliche Regung darf sich in ihm verraten, nur der Wille und seine Wachheit. Deshalb ist die Regungslosigkeit und Ausdruckslosigkeit, die Starrheit des Blickes in der archaischen und der byzantinischen Kunst kein Zeichen von Un56 57
II, 1041. 1, 138, 88. 35
vermögen des Darstellers, sondern ein Wille zur Monumentalität und Suggestivkraft der Person wie bei einem Hypnotiseur, der sein Medium fixiert. Immer geht der Blick nach außen, nicht nach innen wie bei Rembrandt. Der Mächtige darf den Unterworfenen nicht aus den Augen lassen. Die repräsentative Gestalt hat die Aufsicht. W o der Blick durch die Menge hindurchsieht und den Einzelnen übersieht, wird der Stolz der Person zum Hochmut. Die Gebärden der monumentalen Figuren haben nicht den Zweck, sie interessanter zu machen oder ihr Innenleben zu veraten, wie „l'âge d'airain" („Das Eherne Zeitalter") 58 von Rodin, dieser sich trotz der Nacktheit mehr verhüllenden, in sich verschließenden, als zeigenden und ihr Erwachen wie den Zustand der Unbewußtheit schmerzlich empfindenden Jünglingsgestalt, sondern als nach außen zwingend, beherrschend zu wirken. Es sind die Rednergesten mit erhobenem Arm, und Fingern, die zeigend und weisend die Aufmerksamkeit der Betrachter heischen, oder mit vorgestrecktem Arm Befehle zu erteilen scheinen, es sind die suggestiven Gebärden der repräsentativen Rhetorik. In einer Kunst, wo die Figuren zum Vergnügen des Auges dargestellt sind, sind die monumentale Frontalität und die rhetorischen Gesten langweilig. Monumentale Kunst verlangt den Kult und kultische Gesinnung, Ehrfurcht, nicht Geschmack. Zu diesen Motiven der Ansehnlichkeit, die die geistige Macht der Person widerspiegeln, ihre Suggestivkraft in Blick und Gebärde, kommen die der körperlichen Ansehnlichkeit, d. h. der Leibesstärke und körperlichen Überlegenheit, der äußeren Größe, die durch das Überragen die Sichtbarkeit für die Allgemeinheit fördert. Die Publizität ist zugleich ein Motiv körperlicher Stärke. Der Große pflegt stärker zu sein als der Kleine. Deshalb wird das Prädikat „groß" allgemein eine Bezeichnung für verehrungswürdige Personen, besonders für Herrscher und Feldherrn (Karl der Große, Friedrich der Große), aber auch für geistig Hervorragende (Albertus Magnus), bei denen die körperliche Größe keine Rolle spielt. Die Götter, die im Parthenonfries 5 9 die Prozession der Menschen unterbrechen, sitzen in dem Reliefraum, den sie wie die stehenden Menschen ganz füllen, dadurch aber sind sie größer als diese und dadurch göttlicher. Zur Größe gesellt sich die Leibesstärke, um die repräsentierende Person ansehnlicher zu machen und durch Furchterweckung Ehrfurcht zu erzeugen. Das äußerlichste Mittel ist die Stärke der Glieder und die Kraft der Muskeln. In der vorderasiatischen Kunst ist die übermäßige Stärke des Leibes und scharf abgezirkelter Muskeln ein Attribut der Götter, Genien und furchterregenden Tyrannen. Deshalb liebt die monumentale Kunst die Nacktheit ihrer männlichen Gestalten, obwohl diese durch die erotischen Elemente der Nacktheit in die Sphäre des Liebenswerten und damit in den anderen Pol der Personendarstellung und Personenverehrung überführt werden, das Bildnis. Die Götter Griechenlands, der Apoll in Olympia, der Zeus vom Kap Artemision, sind völlig oder halb nackt 60 . Römische 6 1 und christliche Renaissance- und Barockkunst 6 2 zeigen den Menschen bekleidet, aber in einem eng anliegenden Kleide, das die Muskulatur und die Glieder durchscheinen läßt. Die Fähigkeit, über die Menschen zu herrschen, zeigt sich vor allem in der Fähigkeit, sich selbst zu beherrschen, in der Herrschaft über den eigenen Körper. Der vornehme Mensch hat Haltung, er nimmt sich zusammen, d. h. bewahrt die Herrschaft über jedes Glied, indem er vermeidet, es sich bequem zu machen durch Anlehnen, Entlastung der Glieder, durch Ausruhen, durch Genießen wie Essen und Trinken. Er rafft sich zusammen wie die ägyptischen Statuen und hält sich steif und straff, oder er hält sich im Gleichgewicht, indem er jedes Glied in besonderer Lage hält, aber so, daß jede Verschiebung des Gleichgewichts durch Bewegung eines Gliedes durch die eines anderen ausgeglichen wird. Das ist der Sinn des klassischen Kontrapostes. 58II, 59 60 61 62
36
1039. 1, 640—644. I, 586; II, 16; I, 9. Ara Pads, Augustus von Primaporta, Hippolytos-Sarkophag in Aries: I, 866f.; II, 27. Michelangelo, Moses: II, 635.
2. Die Gruppe. Jemand, der sich die Achtung der Welt durch Leibesstärke erzwingt und durch sie Macht und Ansehen erlangt, gewinnt an Stärke und Macht, wenn er mit Bundesgenossen auftritt und unter diesen der Anführer ist. In einer Kampf- und Machtgemeinschaft repräsentiert der Führer die Macht der Gruppe. Das gilt auch für die repräsentative Kunst. Sie kann die zu verehrende Person im Zusammenhang mit anderen Personen darstellen, mit denen sie eine Machtgruppe bildet und deren beherrschender Führer sie ist. Aus dieser Bestimmung der Machtgruppe und ihrer Einheit unter einem Führer leiten sich die Prinzipien der monumentalen Gruppenbildung her. Das Wesen der repräsentativen Gruppe ist es, die Ansehnlichkeit des Herrschers zu verstärken durch Ansehnlichkeit der ganzen Gruppe und des Verhältnisses der einzelnen Teile der Gruppe zum Herrscher. Wir können assistierende und subordinierte Begleitpersonen unterscheiden, je nachdem, ob sie an der Monumentalität der Hauptfigur teilnehmen oder durch Verehrung der Hauptperson deren Bedeutung steigern. Die Ansehnlichkeit und Monumentalität der Gruppe beruht rein optisch auf derselben Konstellation wie bei der Einzelperson, durch symmetrische Verteilung den Sehzwang für die ganze Gruppe herbeizuführen und zugleich durch die Strenge der Komposition die Garantie für Dauer und Ewigkeit zu geben. Das Grundthema jeder repräsentativen monumentalen Komposition ist eine Hauptperson in der Mitte, gleichviel Nebenpersonen zu beiden Seiten im gleichen Abstand. Es ist das Thema der mittelalterlichen Altarbilder, einer Madonna oder eines Christus mit Heiligen, aber auch der Kirchenportale: die Madonna oder der Hauptheilige am Mittelpfosten, andere Heilige zu beiden Seiten in gleicher Zahl symmetrisch geordnet. Es ist das Prinzip des Parallelismus in der assistierenden Begleitung. Dasselbe Prinzip befolgen die Giebelkompositionen der griechischen Tempel. Durch diese Anordnung erhält die Hauptperson den optischen Wert des Mittelpunktes, den als Blickpunkt im Zentrum des deutlichsten Sehens ins Auge zu fassen die Symmetrie zwingt; daher wird bei Kultgemeinschaften der meist Verehrte auch Mittelpunkt des Kreises genannt und es ist der Ehrgeiz ansehenssüchtiger Personen, „Mittelpunkt" einer Gesellschaft zu werden. Durch Frontalität auch der Nebenfiguren (assistierende Begleitung), die gleichzeitig erfaßt werden kann, summiert sich die Bedeutung der ganzen Gruppe und damit das Ansehen auch der Mittelfigur. Deshalb ist die monotone Reihung von Figuren, die gleichmäßig aus dem Bilde heraussehen, zwar ästhetisch reizlos, aber repräsentativ äußerst wirksam d. h. feierlich 63 . In der Portalkomposition stehen die Gewändefiguren zwar schräg, aber gleichmäßig zu beiden Seiten, so daß das Vorbeigehen eine Art von Spießrutenlaufen wird. Die Ansehnlichkeit der Hauptfigur, der repräsentativen Mitte, wird dadurch betont, daß sie nicht nur die Verehrenden überragt, sondern auch die Begleitfiguren, das „Gefolge". Wir nennen es so, weil bei einer Prozession militärischer oder religiöser Art die Hauptperson voranschreitet, die Begleitpersonen folgen. J e größer das Gefolge, desto mächtiger die Hauptperson. Diese Hauptperson wird erhöht durch einen Sockel, durch Aufstellung an einem höheren Platz an einer Wand oder auch durch Vergrößerung über das Maß der Begleitpersonen hinaus, wie im Ostgiebel des Zeustempels in Olympia 64 oder in den romanischen Tympana 65 . Die Überlegenheit, die sie über die Mitansehnlichen und Mitmächtigen, ihr Gefolge, erhält, verstärkt sich in dem Maße, als die Gesamtheit der Gruppe durch Zahl und zentrierende symmetrische Anordnung, die Rangierung, eine stärkere Macht und Ansehnlichkeit darstellt als die monumentale Einzelfigur. Diese Steigerung kann dadurch sehr weit getrieben werden, daß mehrere Reihen solcher rangierten Begleitfiguren des Gefolges übereinandergestaffelt werden; wir nennen sie Ränge, wobei jede höhere Reihe zugleich eine Bedeutungssteigerung an Ansehen, einen höheren Rang bedeutet, und
63 61 65
Ravenna, Toulouse, St.-Genis-des-Fontaines, Chartres West: II, 73f., 166, 13. I, 592. Vezelay: II, 137, 168.
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die Hauptpersonen die Mitte des oberen Ranges (Raffael, Disputä) 66 oder die Mitte der ganzen Ranghäufung vollständig einnehmen (romanische67 Tympana). Dabei kann sich auch ergeben, daß nicht der oberste Rang für die Hauptperson den günstigsten Platz abgibt, sondern der mittlere, weil dadurch die Hauptfigur mehr in den optischen Mittelpunkt des Ganzen hineinrückt, wie in Raffaels Disputä. Die Macht des Einen, der repräsentativen Hauptfigur, wird durch nichts besser illustriert, als wenn die Personen des Gefolges, die als Einheit mit dem Herrscher repräsentativ wirksam sind, sich dem Herrscher unterwerfen und ihn selber verehren (subordinierende Begleitung). Dann ist das Gefolge nicht frontal, sondern im Profil dargestellt (Bamberg, Gnadenpforte (Abb. 12)). Es kann geschehen dadurch, daß sie selber mit dem Körper frontal d. h. repräsentativ, mit dem Kopf devot, d. h. den Herrscher ansehend, gegeben werden, wie in Moissac68, oder beiderseits im Profil sich der Mittelpunktfigur zuwenden und andächtig sind. Diese Komposition gilt insbesondere für das Thema der Madonna oder jedes Heiligen mit Engeln. Dem Ansehen gleich wirkt die Aufforderung zur Verehrung durch hinweisende Gebärden wie in den Heiligenbildern der Renaissance die Rhetorik des Gefolges 69 (Andrea del Sarto). Zu diesen Motiven der Ansehnlichkeit kommen die der Macht durch ergänzende Darstellung der Unterwürfigkeit. Wenn sich schon die Personen des Gefolges vor dem Herrn verneigen oder verbeugen, wenn die Heiligen selber das Knie vor der Madonna beugen oder sich Könige vor Christus zu Boden werfen, wie muß sich dann der Mann des Volkes, müssen sich die Glieder der Gemeinde zur Demut und zur Devotion, zur Anbetung mitgerissen fühlen. Solche Selbsterniedrigungen der Gefolgspersonen machen wiederum die Hauptperson optisch größer und höher und damit ansehnlicher. Die Demutsbezeugungen aber, die alle darauf hinauslaufen, daß sich vor dem Herrscher die Untergebenen niederwerfen, haben ihren symbolischen Sinn von der Unterwerfung des Schwächeren durch den Stärkeren, zu der es der Unterworfene durch freiwillige Selbsterniedrigung nicht mehr kommen läßt, und werden so zum Zeichen der Macht der Hauptperson. Durch solche Devotionsgebärden kann die Einheit und damit der Eindruck der Dauer der Gruppe, ihre Monumentalität, gesteigert werden. Gerade die Gebärde der Verneigung der seitlichen Gefolgeglieder schafft eine engere Beziehung der Begleitpersonen zur Hauptperson als die bloße symmetrische Parallelität. Optisch läßt sich durch die Senkung des Gesamtumrisses der Gruppe zu beiden Seiten eine einheitliche Figur erzielen, ein Dreieck oder eine Pyramide, die ähnlich wie die ägyptischen Pyramiden oder die Blockform der ägyptischen Statuen verewigend wirkt. Deshalb ist die Dreiecks- oder Pyramidenkomposition (Sixtina 70 , Denkmal des Großen Kurfürsten 71 ) das Ideal jeder monumental repräsentativen Gruppenbildung, aber auch nur dieser, denn die „Heilige Familie" Michelangelos 72 und die „Anna Selbdritt" Leonardos 73 , Canovas „Amor und Psyche"74 zeigen, welch gekünstelte Komposition entsteht, wenn diese Gruppierung auf Motive gänzlich unrepräsentativer Art, wie das eines zärtlichen Familienzusammenseins, angewendet wird. Wie bei der Einzelfigur kann gerade bei der monumentalen Gruppe die Einheitlichkeit der Gruppe und ihre Ewigkeitsbedeutung durch die Monumentalität der Architektur verstärkt werden, wenn die Gruppe in einem Portaltympanon oder einem Tempelgiebel nicht nur zusammengefaßt wird, sondern sich der geraden oder sphärischen Dreiecksform der Architektur anpaßt und durch Gebärden, die für jede niedrigere Raumstelle des Überbaus gewählt werfiG 67 68 69 7() 71 72 73 74
II, 39. Autun, Moissac: II, 130, 135, 160. II, 160. II, 623. II, 625. II, 8 7 3 - 8 7 6 . II, 638. II, 611. II, 943.
38
den, sich eine entsprechend weniger aufrechte, weniger repräsentative Haltung des Gefolges ergibt ( A b b . 12).
3. DAS MONUMENTALE GESCHICHTSBILD D a s D e n k m a l oder repräsentative Bild wird immer die K u l t f i g u r im Zustand der Beharrung, sich zeigend oder verewigt, darstellen, nicht aber Geschichten erzählen wie ein Genrebild. D e n n o c h gibt es keine monumentale Geschichtsschreibung auch in der bildenden K u n s t , die nicht nur den Herrscher, die verehrungswürdige Person, der Mit- und Nachwelt vergegenwärtigen und erhalten will, sondern auch sein L e b e n , seinen Besitz und seine T a t e n , aber nicht als Gegenstand des Sehens und Wissens u m seiner selbst willen, sondern u m daraus die Bedeutung der Person, ihr Ansehen, abzuleiten und zu begründen. Solche G e schichtsbilder finden wir deshalb als E r g ä n z u n g und Erläuterung des eigentlichen K u l t bildes in der Predella des Altars, auf dem Sockel des D e n k m a l s , im R a h m e n oder in der architektonischen U m g e b u n g des eigentlichen Kultbildes, am Portal an den Pfeilern, i m T e m p e l am Fries unter dem G i e b e l , in der Apsis an den Wänden unter oder neben der Halbkuppel, außerhalb des eigentlichen Kultzentrums. Sie dienen als Mittel zur Stärkung der D e v o t i o n , als A n t r i e b zum K u l t . Ihre A u f g a b e ist auch hier nicht Retrospektion, R ü c k blick in die Vergangenheit und B e a n t w o r t u n g der eigentlich historischen F r a g e , wann und w o was geschehen oder gewesen ist, sondern vergegenwärtigend, Vergangenes in die G e g e n w a r t des Kultraumes und der Kultzeit versetzend und deshalb überall und allezeit gültig. D e s h a l b wird monumentale G e s c h i c h t e im Bilde dargestellt ohne L o k a l k o l o r i t einer historischen G e g e n d , des Anderswo als im K u l t r a u m , oder einer anderen Zeit, des historischen K o s t ü m s oder der Tageszeiten, sondern auf dem Hintergrund des K u l t r a u m s als einer B ü h n e für das kultische Schauspiel mit Freiplastik, oder auf der W a n d oder Mauer als Relief oder Reliefmalerei ohne Raumtiefe und Szenerie. Nicht u m O r t und Zeit zu charakterisieren, sondern höchstens die A r t des Geschehens zu erläutern, genügen ein paar Versatzstücke allgemeinster Art wie die Beschreibung der Szenerie im 2. T e i l des F a u s t : „Das sind B ä u m e , das sind Felsen, Wassersturz der abestürzt". 7 5 Monumentalgeschichte ist Heroengeschichte, Herrscherbiographie und G ö t t e r m y t h o l o g i e , ist Verherrlichung der Personen, deren L e b e n und T a t e n sie schildert, E l o g i u m oder E h r e n r e t t u n g ; ihre G e schichten haben stets einen Helden, so wie jeder Biograph, der monumental denkt, seinen „ H e l d e n " zu loben sich bemüht, und im D e n k m a l de mortuis nihil nisi bene gilt. M o n u mentale Geschichte hat es mit Personen zu tun, nicht mit Lokalitäten und [beliebigen] E r eignissen, ihr Stil ist figural wie der des Kultbildes. D i e Handlungen dieser Helden der Geschichte sind ebenso typisch, formelhaft im Sinne der Verehrungswürdigkeit, wie die Kultpersonen im Kultbild, in großen Gebärden relief mäßig klar auseinandergelegt, nicht im G e w i m m e l oder der Zufälligkeit des einmaligen Geschehens untergehend oder undeutbar; deshalb im Relief oder am R a n d einer schmalen B ü h n e ohne gegenseitige V e r d e c k u n g v o n F i g u r e n weithin übersehbar dargestellt und durch den Reliefzusammenhang mit der Architektur auch dauernd und ewig. Das monumentale G e s c h e h e n braucht nicht Tiefenraum, sondern Flächenentfaltung für das klar ablesbare Geschehen. W i e im vielfigurigen K u l t b i l d bezieht sich auch im Geschichtsbild alles auf den Helden, der einen Mittelpunkt bildet v o n Verbündeten, deren Anführer er ist, oder v o n Gegenspielern, deren Besieger er ist. D a die repräsentative Bedeutung nur in dem K ö r p e r , seiner F o r m , seiner Haltung, sich ausdrückt, ist auch alle monumentale Geschichte G e s c h e h e n in körperlicher B e w e g u n g und in Gebärden, aus denen K r a f t , M a c h t und Überlegenheit abzulesen sind, und die deshalb auch im stärksten T u n die Selbstbeherrschung, die F o r m , nicht verleugnen. K a r l der G r o ß e schlug seine Feinde, berichtet die monumentale G e s c h i c h t e ; und die ägyptische K u n s t stellt dar, wie der Herrscher mit der K e u l e ein Bündel Gefangene, ein 75
4
5. Akt (Vers 11910f. der Hamburger Ausgabe 1949/67, Bd. III, und Ausgabe E . Truz, München 1972/75). Hilmann
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V o l k , zerschlägt 7 6 . Das Monumentalbild ist kein O r t für Massenschlachten und unpersönliche technische Kriegsführung. N i c h t die T a t e n v o n Heeren werden dargestellt, sondern, wie in den Geschichtsbüchern, die der K ö n i g e und Heerführer. Wir geraten damit in das G e b i e t der Personifikation hinein, indem die Leistung einer Stadt, eines V o l k e s , durch den Herrscher vertreten wird. Auch können die Personifikationen der Stadt, der Stadtgöttinnen, Athena, R o m a , selbst im Mittelpunkt der Handlung mitwirken. D e r Sieg R o m s über die Gallier wird in der berühmten Wiener „ G e m m a Augustea" 7 7 so dargestellt, daß Tiberius dem Kaiser Augustus den Sieg über die Gallier meldet, die zu F ü ß e n des Herrschers als Sklaven v o n Soldaten an den Haaren herbeigezogen werden. Neben Augustus thront R o m a , die Stadtgöttin. Bei den beliebtesten T h e m e n der monumentalen Geschichtsmalerei, den Triumphzügen, spielen Personifikationen eine g r o ß e Rolle, oft in der F o r m der Personifikation v o n bewundernswerten Eigenschaften, den T u g e n d e n der Herrscher. D e m am K r e u z und über den T o d in der Hölle triumphierenden Christus sind die Tugenden Caritas und Justitia zugesellt (Abb. 20). Alle Zustände und alle Handlungen, die im monumentalen Geschichtsbild dargestellt werden, dienen dem R u h m e der K u l t p e r s o n , des Helden. Dies kann geschehen wie in der ägyptischen K u n s t durch Darstellung der Leute und des Besitzes, über die der Herrscher 7 8 gebietet, indem Üppigkeit des Wachstums auf den Feldern, Wohlgenährtheit und g r o ß e Zahl der Herden, Ergiebigkeit der J a g d g r ü n d e , Wohlbestelltheit der Werkstätten und Eifer der für den Herrn arbeitenden Sklaven gezeigt werden, und zwar so, daß immer von Zeit zu Zeit das Bild des Herrn in straffer K ö r p e r h a l t u n g , mit energischem Blick und der K n u t e in der Hand eingefügt wird, doppelt so g r o ß wie die K n e c h t e , die er übersieht mit der Aufsicht des alles beherrschenden Besitzers. So herrscht Christus, der Herr der K i r c h e , an den Kirchenportalen über alles L a n d und die in ihm Tätigen durch symbolische Darstellungen in kleinen, die M o n a t e personifizierenden Medaillons, die das T y m p a n o n mit Christus und seinem G e f o l g e umkränzen wie die Perlen in der K r o n e des H e r r n . 7 9 D i e verklärende Bedeutung des Besitzes über Menschen, ihre Habe, ihren Fleiß gipfelt in den Prozessionen, d. h. feierlich schreitenden, geordneten Z ü g e n der Huldigung zum T i s c h und Sitz des Herrn, zum T h r o n und Altar, die dem Herrn v o m E r t r a g ihrer Arbeit T r i b u t oder Opfergaben bringen. S o zeigen es die Suovetaurilia, ein Stier-, S c h w e i n - u n d L a m m o p f e r , an römischen Altären 8 0 , oder die große Prozession, die als Fries um den Parthenon herumführt 8 1 und am E i n g a n g halt macht, um den v o n vornehmen Mädchen der Stadt Athen gewebten Peplos der Priesterin der Athena zu überreichen, gefolgt von schönen J ü n g l i n g e n und Mädchen, die Schalen tragen und die zu opfernden Rinder und Schafe führen, und schließlich den K r i e g e r n zu W a g e n und zu Pferde, die das Land der Athena, Athen und sein G e b i e t , zu verteidigen bestimmt sind. I n Ägypten tragen schöne Mädchen in edler Haltung K ö r b e auf dem K o p f , und selbst die Geräte, die die vornehmen Frauen in die Hand nehmen, wie die Salblöffel 8 2 , sind gebildet als Dienerinnen oder Sklaven, die Säcke mit M u n d v o r r a t auf dem R ü c k e n herbeischleppen oder Fische und G e m ü s e im K o r b , Geflügel in der Hand, zur T a f e l der Herrschaft bringen. Selbst G ö t t e r nahen sich, G a b e n bringend, dem Pharao, der selber G o t t ist 8 3 . A m Portal in Vezelay 8 4 schreiten am Türsturz, dem Parthenonfries entsprechend, die G e w e r b e , die Landleute, die Hirten und Fischer mit ihren G a b e n zum Portaleingang als Ziel einer Prozession, die die V ö l k e r und Stände der ganzen E r d e umfaßt,
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Karnak, Abu Simbel: I, 221, 285. I, 874. I, 3, 76, 159ff. Vezelay: II, 137, 149. I, 910. I, 6 2 6 - 6 4 4 . I, 6 1 - 6 4 . Kamak, Amun-Tempel; Kom O m b o : I, 233, 315. Vezelay: II, 137.
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wie durch Riesen, Zwerge, Hundsköpfige, einbeinige und riesenohrige Menschen angedeutet ist, die man sich am Rande der bewohnten Welt zu Hause denkt. Die Hauptschilderungen der Taten des Herrn bestehen in der Darstellung von Siegen über Menschen in der Schlacht, indem er die Feinde niederschlägt, oder sie noch imponierender, allein durch sein Erscheinen, hoch zu Roß oder auf dem Streitwagen, in die Flucht schlägt, oder über Tiere auf der Jagd, die um so mehr die Bewunderung und Verehrung herausfordert, je gefährlicher die gejagten Tiere sind. Die assyrische Kunst, die fast ausschließlich Tyrannenverherrlichung ist, liebt die Darstellung des Herrschers auf der Löwenjagd zu Roß oder auf dem Streitwagen 8 ' 5 , und am Denkmal Alexanders des Großen, auf dem Alexandersarkophag 8 6 , sieht man Alexanderschlacht und J a g d auf wilde Tiere zu gleicher Zeit. Das Hauptthema der monumentalen Geschichtsschreibung ist und bleibt aber der Krieg, auch in der bildenden Kunst. Die Schlachten- und Kriegsbilder zeigen, wie die Macht des Herrn durch den Sieg gewonnen, die Devotion und Unterwürfigkeit der Sklaven durch die Niederlage erzwungen ist. In der assyrischen Kunst häufen sich die Darstellungen der Kämpfe und Eroberungen von Burgen und Städten, von Gefangenen, die gefesselt abgeführt und von Sklaven, die in die Fremde deportiert werden, aber auch von Hinrichtungen und Zerstörungen 8 7 . Die ägyptische Kunst scheint zu solchen Schlachtenbildern durch die asiatische Kunst angeregt worden zu sein. Leichen in Scharen 88 , Haufen abgeschnittener Hände schildern nicht, was geschehen ist, sondern was den Ruhm des Siegers verkündet. Selbst die Götter bewähren ihre Kraft durch Kampf, wie in dem Kampf der Götter mit den Giganten, der im Pergamonfries 8 9 seine gewalttätigste Darstellung gefunden hat. Die großen Volkshelden, Herakles 90 , der den Triton oder den Stier besiegt, Gilgamesch (Abb. 13) und Simson (Abb. 14), die Löwentöter, sind Halbgötter und Heilige geworden. Durch Simson dringt das Kampfmotiv auch in die christliche Kunst ein; in ihr hat der Kampf der Himmlischen mit dem Teufel oder Drachen durch den Heiligen Michael glänzende Darstellungen gefunden 9 1 . Die mittelalterlichen Personifikationen der Tugenden und Laster 92 werden als Kampf der tugendhaften Jungfrauen mit lasterhaften, tierischen Dämonen dargestellt, und in der Psychomachie des Prudentius stand der mittelalterlichen Monumentalgeschichte eine Anregung zu lebhaften Kampfbildern, z. B. bei Herrad von Landsberg (Abb. 15), zur Verfügung. Auch die Seelenwägung, der Streit der Himmlischen mit den Teufeln um die Seelen Verstorbener, ist eine Art Ringkampf, in dem jede Partei sich bemüht, die Schalen der Waage herabzudrücken 9 3 . Überwältigung, Kampf, spielt auch in den Heiligenmartyrien eine Rolle 94 , nur daß die kultische Bedeutung sich hier umgewandelt hat, auf den körperlich Besiegten aber geistig Überlegenen übertragen ist, der — und das läßt sich wieder repräsentativ körperlich ausdrücken — durch Standhaftigkeit seine Unbesiegbarkeit beweist. Der Kampf ist sozusagen die unmittelbarste Quelle der Macht. Eine abgeleitete Quelle, die auch in der Monumentalkunst eine Rolle spielt, ist die Übertragung der Macht durch einen Mächtigeren. Der Herrscher als Freund der Götter, von Gott oder Göttinnen umarmt 9 5 , ist ein beliebtes Thema der ägyptischen Kunst. Die Götterassistenz 96 bei den Taten des 85 86 87 88 89 90 91 92 93 91 95 96
Kalach (Nimrud), Assurnasirpal II.: I, 420. I, 794. I, 6, 4 1 4 - 4 1 9 . I, 1 1 8 . I, 7 9 7 — 8 0 5 . O l y m p i a : I, 5 9 8 - 6 0 5 . II, 147, 288, 524. II, 148, 272, 367. A u t u n : II, 132. II, 2 9 1 . K a r n a k , Tutanch-Amun, A b y d o s : I, 234, 2 7 3 f. Olympia, M e t o p e n : II, 598.
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Herakles oder anderen Heroen verleiht den Taten dieser Heroen die Denkwürdigkeit, ihre kultische Wahrheit, unabhängig von der historischen. Bei der Verkündigung an Maria 9 7 pflegt man Gott-Vater zu zeigen, als dessen Botin der Engel erscheint. Petrus und Paulus empfangen die Insignien ihres Apostolates von Christus in einem feierlichen Akt 9 8 . Engelsbotschaften (Verkündigungen, Berufungen, wie die Davids (Abb. 16) 99 ) gehören zum eisernen Bestand der heiligen Geschichte. Aber auch als selbst Verehrender wird der König durch die Gottnähe selber göttlicher, verehrungswürdiger. Hauptthemen feierlichster Geschichtsmonumentalität sind die Apotheose 100 , die Einführung eines Heroen in den Himmel, den Kreis der Götter, oder die Himmelfahrt 1 0 1 , die an den französischen Fassaden oder Portalen Kultbild und Geschichtsbild verbindet, oder das Sterben der Heiligen, durch das Motiv geadelt, daß Christus ein Engel erscheint, die Seele des Verstorbenen in Empfang zu nehmen. 1 0 2 Aber auch Könige, die ein Kind verehren, wie bei der Anbetung der Könige, übertragen diesem ihre Bedeutung 1 0 3 . Der Glaube an die Magie des Unbekannten, der in frühesten Zeiten den dringlichen Vertretungen von Verstorbenen oder Geistern durch einen Stein schon Kultbedeutung verschaffte 104 , führt nun auch zur monumentalen Legende in den Bildern von Wundertaten, angefangen von der Geburtslegende, den Bekundungen der Heiligkeit durch seltsames Gebaren von Tieren 1 0 5 oder merkwürdigen Kraftbeweisen des Kindes (Herakles, der die Schlange bändigt) bis zu den Auferstehungen und Himmelfahrten, zwischen denen Krankenheilungen, Auferweckungen, Teufelsbeschwörungen, Herbeizaubern von Speisen, Verwandlung von Brot und Wein und Tierwunder (Hieronymus) liegen. Ein geistiges Ringen um die Seelen der Andersdenkenden, ein ideeller Kampf, ist das Thema der Rhetoren und Missionare, die sich an die Menge wenden, um sie zum Glauben an die eigene Überzeugung zu bekehren, ein apostolisches Thema der Religion, die nicht mit Feuer und Schwert, sondern mit der Macht der geistigen Persönlichkeit und des Wortes die Gemüter der noch Zweifelnden zu bezwingen versucht. Aber auch hier vermag repräsentative Kunst die Macht der Persönlichkeit nur durch Haltung und Statur und die Macht des Wortes durch rhetorische Gebärden, Befehls- oder Habt-Acht-Gesten auf der einen Seite, und durch In-sich-versinken körperliches Unterworfensein auszudrücken. Die Geschichte der Kunst zeigt, wie das monumentale und repräsentative Geschichtsbild auf ganz bestimmte Themen der Geschichte hinzielt, durch die die Geschichte zur verklärenden und vergöttlichenden Legende oder zum Mythos wird. Die monumentale Form aber besteht darin, die repräsentative und monumentale, zeit- und geschehenslose Kultbildform mit der Darstellung des Geschehens zu vereinen, die starre Frontalität des Sichzeigens mit der wandlungsbedingten Form des Geschehens der Geschichte. Wie durch die Vordergründigkeit reliefmäßigen Ablaufes das Geschehen, eine Handlung, die Klarheit und Körperlichkeit figuraler Entfaltung und damit die Allgemeingültigkeit und Ansehnlichkeit des Kultbildes gewinnt, wie durch Mangel an Eigenraum, durch Fehlen der Szenerie das Drama wie eine Kultzeremonie sich im Raum der Feier vergegenwärtigt abspielt und durch den Zusammenhang mit der wirklichen Architektur zugleich auch Dauer, ewige Gültigkeit, gewinnt, davon war schon die Rede. In diesem Sinne ist die stein- und mauermäßige Reliefkunst der Ägypter, die Friesplastik der Griechen und die Architekturplastik des Mittelalters monumental und repräsentativ. Zur Ansehnlichkeit gehört aber auch, daß in den 97 98 99
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II, 446. II, 5 4 f . Der „Engel" ist hier noch, der griechischen Wortbedeutung entsprechend, als „Bote" mit Heroldstab dargestellt. 1, 874, 8 7 6 f . , 9 1 9 . München, Elfenbein; A n g o u l e m e , Chartres W e s t : II, 7, 129, 170. II, 142, 323. II, 74, 290. I, 29 f. II, 146, 164.
Kampfszenen nicht die zufälligen Konstellationen einer wechselvollen Prügelei geschildert werden, sondern körperlich ausdrucksvolle Kraftäußerungen beim Sieger wie dem Besiegten, der des Siegers würdig sein muß, um seiner Bedeutung gerecht zu werden. Wie die griechische Kunst zeigt, verbindet sich mit der Kampfespose der Aus- oder Rückfallbewegung die edle Selbstbeherrschung des Kontrapostes; es ist ein Kampf nach Regeln geordneter Körperbewegungen. Derart sind die Götter- und Heroenkämpfe der Griechen noch in den heftigsten Szenen der Spätzeit (Pergamonfries) 89 . Die Kampfeshaltungen in den Giebeln des Aphaiatempels in Aegina 106 sind vollendete Gleichgewichtshaltungen, adliges Benehmen in jeder Haltung der Siegenden oder Unterliegenden, der sich vorbeugenden Fechter, der knieenden Bogenschützen und selbst der liegenden Gefallenen. Die Taten des Herakles in Olympia verraten nicht das sachliche Tun, wie das Auskehren des Stalles des Augias 107 , sondern führen eine kämpferische Ausfallsbewegung in glänzender Rhythmik von parallelen und kontrapostischen Gegenbewegungen vor. Schön und ausgeglichen sind die Haltungen und Bewegungen der Prozessionsteilnehmer der ägyptischen Tributbringer 108 , schöner noch das harmonische Schreiten der Prozessionsteilnehmer des Parthenon 109 . Selbst die Prozession der Verdammten, die vom Teufel geholt werden, am Tympanon des Nordportals der Kathedrale von Reims 110 hält sich in anständiger Haltung aufrecht und schreitet gemessenen Schrittes zur Hölle. Auch die geistige Haltung, Überzeugtheit und Beredsamkeit einerseits, Ergriffenheit der Zuhörer andererseits, drücken sich monumental in der Haltung des Körpers und in Gebärden aus, so in Raffaels „Schule von Athen" 111 , wo die beiden Philosophen Aristoteles und Plato in königlicher, würdiger Haltung und großer Statur, von sich mehr als von ihrer Lehre überzeugend, aus der Tiefe herausschreiten, Diogenes wie ein Flußgott auf den Stufen einer Treppe liegt und die Gelehrten, die sich um ein Problem versammelt haben, mit athletischer Körperlichkeit sich edel neigen und beugen wie vor einem Kultobjekt. Der lehrende Christus im Kreise der Jünger ist in der altchristlichen Kunst immer eine imposante Kultfigur 112 . Das Bemühen, Handlung, die auf der schmalen Reliefbühne immer irgendwie seitwärts abrollt, mit der Form des Kultbildes, seiner Zentralisation, seiner Frontalität und Symmetrie zu verbinden, hat zunächst dazu geführt, daß im Schlachtenbild, um so mehr, je mehr Massen gegen den Heros ins Feld geführt werden, die Figur des Haupthelden vergrößert, in die Mitte gerückt und aus der Menge reitend oder zu Wagen herausgehoben wird. 113 Wenn er nicht das eigentliche Zuschlagen seinen Begleitern überläßt, dann bleibt doch jede Kampfhandlung mehr Parade als Ernstfall, besonders eindrucksvoll beim Reiter mit vorn hochgehendem Pferd: der Heros und ein ihm zum Feind erkorener Gegner werden im Schema der Reiterdenkmäler zur Gruppe vereint, Reiter und Roß mit dem zu Boden Geworfenen in schöner kontrapostischer Gegenbewegung zur plastischen Einheit verbunden. Im Mittelalter werden die Szenen fast überhaupt nur aus Statuen bestritten, die repräsentativ nebeneinander stehen und nur mit leichter Wendung zueinander ihren szenischen Bezug andeuten, wie bei der Verkündigung und Heimsuchung der Maria. 114 Auch im Gemälde werden vor Goldgrund zwei Figuren so nebeneinandergestellt, daß Maria sitzend dem Beschauer frontal zugekehrt ist, während der Engel sich vor ihr in Seitenansicht verneigt oder kniet. 115 Auf den Mosaiken in San Marco in Venedig ist der zur Hölle herniederio61; 583-585. 107 108 109 110 111 112 113 114 115
1, 598. I, 197, 228. I, 634, 639. II, 176. II, 40. II, 56. Trajan am Konstantinsbogen; Ludovisi-Sarkophag: I, 868, 926. II, 202. II, Taf. IV, 446.
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gestiegene Christus in starkem, fast kämpferischem Kontrapost, mit dem Kreuzstab wie mit einer Siegesfahne in der H a n d und auf dem besiegten Teufel stehend, über das Maß der Menschen weit erhöht, die er aus der Hölle herausführt (vgl. Abb. 20). 1 1 6 E r selbst sieht zum Bilde heraus, das Gesicht ist also frontal und die Menschen sind beiderseits von ihm, quasi symmetrisch, ihm zugekehrt und sehen ihn an. D i e Szene mit dem ungläubigen T h o mas 1 1 7 spielt sich so ab, daß Christus vor einer Nische wie im Kultbild ganz frontal zwischen den symmetrisch verteilten und ebenfalls repräsentierenden Aposteln steht, während Thomas mit tiefer V e r b e u g u n g sich dem Herrn naht und seine Finger in die Wunde legt. Hier ist eine Handlung aus der Christustragödie ganz in ein Kultbild zurückverwandelt, ähnlich wie im nördlichen T y m p a n o n des Portals von Saint-Gilles (Abb. 17). D o r t thront 1 1 8 an einer Stelle, die ein Kultbild erfordert, aber mit zwei Szenen gefüllt ist, der Anbetung der K ö n i g e und der A u f f o r d e r u n g des Engels an Josef zur Flucht nach Ägypten, die M a d o n n a unter einem Baldachin streng frontal, während die K ö n i g e , sich verbeugend, verneigend, sie ansehend und G a b e n bringend, einen K u l t verrichten und auf der anderen Seite sich das Wunder, ein Zeichen v o n Gottesfreundschaft durch die Engelsbotschaft, vollzieht. D i e Gebärden des Engels und J o s e f s sind groß und bedeutend. E i n anderes Beispiel ist Abraham mit den Seelen im Schoß aus dem J ü n g s t e n Gericht am Christusportal in Reims. 1 1 1 ' Die Szene bietet sich folgendermaßen dem Blick: In der Mitte thront A b r a h a m als schöner Mann in würdiger Haltung, die A r m e halten den Mantel, in dem die Seelen als Kinder in anbetender Gebärde stehen; zu beiden Seiten, streng symmetrisch, in höflichster und kultischer V e r b e u g u n g zwei Engel, die neue Seelen bringen; sie halten sie auf einem T u c h wie unberührbare Heiligtümer; weiter rechts und links führen E n g e l die Seelen bei der Hand, u m sie A b r a h a m vorzustellen. Auch hier ist ein reines Kultbild aus einem historischen Ereignis g e w o n n e n ; denn das J ü n g s t e Gericht soll sich zwar erst in Z u k u n f t ereignen, ist aber als historisches Weltenschicksal in der Apokalypse vorausgesehen, und kann deshalb als künftig eintretendes Geschehen, d. h. monumentale Geschichte zu jeder Zeit im Bild vertreten, als Wirklichkeit dargestellt werden. Wie auch die Einsamkeit und Zurückgezogenheit v o n Gelehrten und Philosophen in die Öffentlichkeit und Feierlichkeit einer großen Halle und in die strenge O r d n u n g symmetrischer Frontalität des Kultbildes verwandelt wird, historische Zuständlichkeit in die Dauer verehrungswürdiger Personen verwandelt werden, lehrt wieder Raffaels Schule v o n Athen 1 1 1 . D i e Monumentalität in den Lettnerreliefs des N a u m b u r g e r D o m e s 1 2 0 besteht darin, daß bei aller Dramatik und Drastik des Geschehens die Person Christi — die zunächst entwürdigt zu sein scheint und bildlich damit auch eine Passion erleidet, indem sie in den Hintergrund der schon ziemlich tiefen Geschehensbühne gedrängt ist — mit der Standhaftigkeit des Märtyrers in würdiger, aufrechter, fast starrer Haltung ausgezeichnet ist; diese besagt, daß er in Wirklichkeit sich nur in äußerlich ergebener Haltung zeigt, und die großen geöffneten A u g e n bedeuten, daß ihn das alles nichts angeht. S o triumphiert in frontaler ruhiger Haltung im Mittelpunkt des Ganzen die Gestalt Christi innerlich über allen äußeren Tumult. D a ß dieser äußere Tumult selbst die F o r m monumentaler Geschichte und repräsentativen Geschehens hat — ein Gnadenempfänger vor einer Respektsperson ( J u d a s mit dem H o h e n Priester), ein Ankläger vor dem Richter (Pilatus), der Mittelpunkt einer Gemeinde innerhalb seines G e f o l g e s (Abendmahl) und ein Zweikampf vor Schlachtgewimmel (Gefangennahme) — die Monumentalität dieser Ereignisse steigert noch die Überlegenheit der zentralen Figur im Bilde, macht diesen T r i u m p h Christi noch größer.
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Otto Demus, Die Mosaiken von San Marco in Venedig, 1100 — 1300, 1935, Abb. 16. II, 431. Vgl. auch II, 161. II, 177. II, 3 4 2 - 3 4 6 .
4. ARCHAISCHE, KLASSISCHE U N D BAROCKE MONUMENTALUND REPRÄSENTATIONSKUNST Die repräsentative und monumentale Kunst ist trotz ihrer allgemeinen, für sie gültigen Gesetzlichkeit auch ein historisches Phänomen in doppelter Beziehung. Als Ganzes ist sie nur möglich, w o ein Glaube an eine Macht oder Allmacht da ist, eine überirdische oder irdische Despotie, ein Glaube an die Macht nicht nur des Verehrten, sondern auch an seine Vertretung, das Bild, ein Glaube auch an die Macht des Kultes, der Liturgie und der Devotion. Deshalb hat sie in der heutigen Welt keinen Bestand mehr und zehrt nur noch von alten, abgelebten und hohl gewordenen Formen. Aber sie hat auch ihre Geschichte und Wandlungen, die sich in der Geschichte der kultischen Kunst in besonderen geschichtlichen Stilen niedergeschlagen haben. Diese Wandlungen, eine Entwicklung, die nicht identisch mit Fortschritt ist, liegen zwischen den Polen Verewigung einerseits — also Dauer, Unveränderlichkeit, Hinüberreichen über den Augenblick — und Verlebendigung und Bewegtheit zeitlichen Tuns andererseits, die die Möglichkeit stetiger Veränderlichkeit und aktuellen Tuns einschließen und an den Eindruck der Beweglichkeit geknüpft sind. Die Verewigung führt zur Starrheit der von außen an das unveränderliche, beharrende, tote Material der Kunst herangetragenen Gestalt und Form, zur Unterdrückung des inneren Lebens, Willens und Gefühles und aller Regsamkeit. Die Verlebendigung führt zum Ausdruck des Willens und Lebensimpulses durch Betonung der Organe der Bewegung, Glieder, Gelenke, Muskeln, und Lösung der Glieder vom Körper. Je nachdem das eine oder das andere vorherrscht, unterscheiden wir archaische, klassische und barocke monumentale und repräsentative Kunst, wobei das Klassische zwischen Ruhe und Bewegtheit, äußerer Form und von innen heraus vollzogener Bewegung in der Mitte liegt, also eine durch innere Haltung erzeugte äußere ruhige und beharrende Form darstellt. Diese Begriffe entsprechen der Tatsächlichkeit des geschichtlichen Verlaufes in der alten und der neuen Welt. Archaisch sind die frühesten Hochkulturen, die ägyptische, vorderasiatische und frühgriechische, klassisch die hellenistische und barock die hellenistisch-asiatische; archaisch ist die byzantinisch-romanische Kunst, klassisch die Gotik, barock der Barock, der den Namen auch in der Systematik der Stile hergibt.
a. A R C H A I K . K U L T B I L D U N D S C H R E C K B I L D Die archaische Kunst ist zunächst Grabkunst, bemüht, im Grabdenkmal nicht nur das Andenken an den Toten, sondern diesen selbst zu erhalten, da der Glauben an die Magie des Steines, der leblosen Dinge, auch dem toten, starren Grabstein die Kraft zuschrieb, das Leben dessen, dem der Grabstein gewidmet war, zu dessen Ehren er errichtet war, zu konservieren und mit ihm seine Habe, sein Gut, sein Leben. Nicht das Sich-zeigen und Erscheinen war die vordringlichste Aufgabe der Repräsentation, sondern das Dasein, das Ewig-Bleibende. Daß der Stein da war und durch seine Härte, seine Blockfestigkeit und Unzerstörbarkeit, seine Regelmäßigkeit, die Dauer verbürgte, das war das Wesentliche, nicht, daß er Leben und Augenblicksgegenwart vorspiegelte. Dieser Glaube an die Leben erhaltende Kraft, an die Magie und Ehrwürdigkeit, die Heiligkeit des Steines ist derselbe wie der, der sich auf die vertretende Kraft des Wortes bezieht, den Namen Gottes, den man, wie man den Teufel nicht an die Wand malen darf, nicht ungestraft mißbraucht, oder auf die Kraft des gesprochenen und geschriebenen Wortes überhaupt, weshalb man im Mittelalter, ja in jeder Grabmalskunst, der „Heiligen Schrift" eine hervorragende monumentale Ausgestaltung zuteil werden läßt, mit besonderer Bedeutsamkeit des führenden, des Anfangsbuchstabens, der Initiale 121 . Der Block ist es, von dem man bei der künstlerischen Schöpfung der Vertretung ausgeht, 121
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in den man, seine Gesamtform möglichst schonend und erhaltend, die Gestalt des Verstorbenen oder zu Verehrenden hineinbildet. Aus dieser Totenverehrung hat sich der Kult und das Kultbild entwickelt. Die monumentalen Bauten der Ägypter, die Pyramiden, die Totentempel, sind Grabbauten, die Statuen sind Grabstatuen, für die Totentempel bestimmt. Daher die Blockmäßigkeit,die Starrheit und Symmetrie; die stereometrische Form der ägyptischen Statuen, ihr Zusammenhang mit der Blockform des Thrones, ihre Steinmäßigkeit sind ihr ewiges Dasein. 122 Die Sitzfigur, noch mehr die hockende Figur, der Würfelhocker, und die gewandete Figur, bei der das Gewand dazu dient, alle Lücken des Körpers zu schließen und die Gliederung zu verdecken, sind für die archaische Kunst charakteristischer als die nackte Figur und das Standbild. Die sumerischen und assyrischen Statuen sind fast ausschließlich Gewandfiguren 123 . Bei den Ägyptern sind bei den nur mit einem Schurz bekleideten Figuren die Lücken zwischen den Gliedern und Körperformen oft mit einer stehengebliebenen Steinbrücke ausgefüllt. 124 Die Form ist den dargestellten Statuen von außen auferlegt, durch das Gesetz des Blockes ihnen vorgeschrieben, und die mehr lebenhaltende, lebenbändigende als lebenausdrückende eigene Bewegung (gleichsam ein „Still gestanden!") dient nur dazu, sich diesem äußeren Gesetz anzupassen. Diese Gesetzmäßigkeit der starren äußeren Form ist es, die wir als Kultform Ritus nennen. Die archaische Haltung ist rituell. Die archaische Kunst ist es, in der die Bedeutungscharakteristik der Würde sich durch äußere Größe ausdrückt, durch Kolossalität 125 oder Überragen des Gefolges oder der Untertanen an äußerer Größe, auch durch die Wahl eines hohen Standortes (Erhabenheit), wie an den Giebeln der Tempel- und Kirchenfassaden und in den Kuppeln und Apsidengewölben der Kirchen. 126 Die kubische Form auch des Gesichtes und des besonderen Trägers des Ausdruckes, der Augen, hat zu der Abwesenheit aller menschlichen Regungen im Archaischen geführt, zum starren und harten Blick, der für den Ausdruck der Menschenferne, der Distanz und Unnahbarkeit des Despotischen und despotischer Göttlichkeit charakteristisch ist. Das Undurchdringliche des Steines, das für die Verewigung wesentlich ist, bedingt auch eine Undurchdringlichkeit des Physiognomischen, die sich mit der Magie des Unheimlichen alles Geheimnisvollen verbindet und ein Grundelement aller Religion, Orakelweisheit, Priesterherrschaft und allen Glaubens geworden ist. Die Kraft und Überlegenheit der zu verehrenden Person wird durch diese Unnahbarkeit und den Ausdruck der Härte zur Unmenschlichkeit. So liegt die Ehrfurcht, die sie erwecken will, dem Tremendum, dem Pol der Scheu, der Furcht näher als dem der Liebe. Dieses Fürchterliche und Grauenvolle kommt dadurch zum Ausdruck, daß in der archaischen Kunst und besonders in ihren Anfängen das Tier und das Tierische als Ausdruck des Göttlichen eine große Rolle spielt, entweder so, daß Tiere, und zwar möglichst gefährliche, wie Löwe, Schlange, Adler 127 , und möglichst unheimliche, alle Gefahrenzonen, Luft, Erde und Wasser, verbindende Tiere, die sogenannten Fabeltiere (Chimären, Sphinxe) selber als Gottheit auftreten, oder daß Menschen, die eine Macht verkörpern, sich in tierischer oder halbtierischer Form präsentieren. 128 So erscheint als Vorform und Abart des Kultbildes das Schreckbild. Die ägyptischen Gottheiten sind fast ausnahmslos Tiergottheiten: die Hathorkuh, die heilige Katze, die Geiergöttin, der Pavian. 129 Ihre plastische Monumentalität und Würde empfangen sie durch die Verbindung des Tierkopfes mit dem Menschen122 123 124 125
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I, 2, 3 7 f . , i 2 0 . I, 4, 274, 376. K a i r o , Tutmosis III. aus Karnak und kniend, Echnaton, M o n t c m h c t : I, 224, 227, 260, 3 0 1 . Sphinx v o n Gizeh, Hof Ramses' III. in Karnak, A b u Simbel, K u r o s v o n Sunion: I, 91, 281 bis 286, 514. Die Beispiele wurden schon erörtert; vgl. A n m . 4 6 — 4 0 . Paris, Falkenstele; London, L ö w e Amenophis' III.: I, 1 1 9 , 237. Ägyptische Sphinx, assyrische Genien, K o r f u : I, 187, 329, 523. I, 7 3 - 9 1 .
leib, wie die Löwengöttin Sechmet. 130 Umgekehrt eignet sich der König die furchterweckende Macht des wilden Tieres an, indem sein Bildnis, das Gesicht, sich mit dem Körper des Tiers, des Löwen, verbindet im Bilde der Sphinx, nachdem in älteren Zeiten schon, auf einer berühmten Schminkplatte, der König als Stier dargestellt wurde, der seine Feinde zu Boden schlägt und die Mauern belagerter Städte mit den Hörnern umstürzt. 1 3 1 Auch in der christlichen Kunst tritt das Tier vertretend für den Heiligen ein; Symbole der Evangelisten sind Stier, Löwe, Adler und das Halbtier, der geflügelte Mensch, der Engel. 1 3 2 Christus kann durch das Lamm vertreten werden 1 3 3 (auch die Apostel) 134 , wobei das Tier, seine Fremdheit, bleibt; nur der Charakter des Tieres hat sich im christlich menschlichen Sinne gewandelt. Eine Reihe von romanischen Portalen in Frankreich sind mit Bildern von wilden und Fabeltieren gefüllt. 1 3 5 Schon in den Palästen der Despoten wurden die Eingänge zu den Thronsälen monumentalisiert durch Halbtiere mit Stierleibern, Flügeln und gekrönten, langbärtigen Menschenköpfen, ein Beweis, wie stark Ehrfurcht heischende Menschenmacht und Göttlichkeit sich auf die tierische Gewalt des Dämonischen berufen. 1 3 6 Auch die Einstellung der Dämonen als Exekutoren der richterlichen Gewalt Gottes — wie Hunde, die der Mensch auf seine Widersacher hetzt — hat in der Vorstellung des Teufels als Berherrschers der Hölle, in die die Seelen der Verstorbenen verbannt werden, die Gottes Gebote übertreten haben, seine monumentale Repräsentation gefunden. 1 3 7 Denn dieser Teufel wird als Halbtier, als Dämon oder als Herrscher über wilde und fabulose Tiere vorgestellt; in der archaischen griechischen Kunst sind die Meduse und die rächenden Erinnyen (Furien) grauenerregende, greuliche Halbtiere. Die Heimat der furchterweckenden Tiergottheiten ist vor allem Kleinasien, das besonders religionserzeugende Land, wo durch Fabeltiere und Halbtiere das Seltsame und Schreckenerregende des Tieres gesteigert wird. Der Geier mit Löwenkopf, der heilige Vogel Imdugud 1 3 8 , ist eines der stärksten Kultmonumente der vorderasiatischen Kunst. Das Kultbild wird zum Schreckbild, die göttliche Macht verkörpert sich im grauenerregenden Scheusal und wird zum Dämon. Der Herscher kann aber auch die furchterweckende Kraft des Tieres sich dienstbar machen, indem er es vor seinen Wagen spannt wie Dionysos die Panther. 13851 Als Wächter des Baues flankieren das Ischtartor in Babylon an den Seitentürmen Reihen von Fabeltieren mit Drachenhälsen und Raubtiervogelköpfen auf Löwenleibern, und es kommen dem Eintretenden Prozessionen von wutschnaubenden Löwen entgegen. 1 3 9 Ingrimmige Löwen bilden den Sockel der Apostel am Portal der Kirche von Saint-Gilles, w o diese Säulen der Kirche in geistigem Sinne wie die baulichen Stützen der Kirche, die Portalsäulen, auf Löwen stehen (Abb. 18) 140 , ein Motiv, das schon in der vorderasiatischen Kunst verbreitet war (Portal aus Teil Halaf). 1 4 1 Auch am Thron des Petrus in den Grotten des Vatikan (Abb. 6 b) lagern Löwen am Sockel und verraten ein Eindringen des asiatischen archaischen Dämonismus in die frühchristliche Kunst, dessen literarisches Gegenstück die Apokalypse des Johannes ist. Die archaisch romanische Kunst hat sich auch 1301,
86. Paris, L o u v r e : I, 116. 132 II, 107, 129, 165. 133 II, 9. 131 II, 76. 135 A u l n a y : II, 127. 136 p a r j S ; L o u v r e , Palast Sargons II.: I, 423. 137 Beaulieu, A u t u n : II, 131 — 133. Gesamtansicht des T y m p a n o n s von A u t u n : M e m . A b b . 38 und R. Hamann, Saint-Gilles, Berlin 1955 und 1956, Abb. 135. 138 London, Kupferrelief aus El O b e d : I, 341. 138:1 A b b . 16 a. 139 I,Taf. VII, 332, 336. 110 Saint-Gilles ( v g l . A n m . 137) A b b . 1 1 - 1 2 , Taf. 16, 19, 1 1 6 - 1 2 1 . 141 I, 337. 131
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diese T h r o n f o r m gern zu eigen g e m a c h t ; in Canosa tragen den Bischofsthron (Abb. 19) Elefanten. Schließlich gewinnt die Macht des E h r f u r c h t erweckenden G o t t e s oder Menschen, des himmlischen oder irdischen, des weltlichen oder geistlichen Herrschers, eine mehr menschliche Erhabenheit, indem er als Sieger über die D ä m o n e n dargestellt ist, im K a m p f mit ihnen wie am Pergamonfries 8 i ) , der die Tradition der archaischen Zeit und der orientalischen K u n s t aufnimmt. Solche M o t i v e sind der K a m p f des Helden Gilgamesch mit dem L ö w e n ( A b b . 13), der löwentötende Herrscher auf der J a g d 1 4 2 , oder, wie in der frühgriechischen K u n s t , der K a m p f des Herakles mit dem T r i t o n oder der Hydra oder dem Stier 1 4 3 , in der christlichen K u n s t der K a m p f Simsons mit dem L ö w e n (Abb. 14), der Sieg des Heiligen über die wilden Tiere, der wie Orpheus sie durch seine Geistigkeit bezwingt, Daniel in der L ö w e n g r u b e 1 4 4 und der K a m p f des hl. Michael mit dem D r a c h e n , d. h. mit dem Teufel. 1 4 5 Oder aber der Sieg ist schon errungen und der Teufel liegt zu F ü ß e n des Heiligen, wie in dem Bilde v o n Christus in der Unterwelt (Abb. 2 0 ) n < i , oder er ist in die untere R e g i o n verwiesen, in die Hölle (die Höhle) (Abb. 21), wo er die Strafen auf Befehl des oben im L i c h t , in der strahlenden Glorie thronenden Herrn vollzieht. Als Besieger des D ä m o n i s c h e n , der wilden Tiere, durch die sich der Sieger zur menschlichen W ü r d e über das Tierische erhebt, wenn auch in den archaischen Zeiten (Gilgamesch, Simson, Herakles) dabei im Menschlichen noch die äußere Gewalt, die Leibesstärke, triumphiert, ist doch insofern auch ein W e g zur Liebe der Menschen gegeben, als diese den L ö w e n - und D r a c h e n töter als Befreier v o m Schreckeneinflößenden und von allem B ö s e n begrüßen. Insofern bedeutet die Überwindung des D ä m o n i s c h e n zugleich einen W e g zur Klassik. Steht doch am A n f a n g der griechischen K u n s t , z. B . am L ö w e n t o r v o n Mykene, im T r i t o n - G i e b e l der Akropolis und im K o r f u - G i e b e l im Z e n t r u m n o c h die vorderasiatische monumentale Tiergruppe in wappenartiger Symmetrie 1 4 6 , die dann durch den Sieg der Menschen über die D ä m o n e n abgelöst wird. A n diesem Sieg über die D ä m o n e n n i m m t auch die K u n s t mit ihren ästhetischen Mitteln teil, indem sie als monumentale F o r m des Scheusäligen das Abschreckende des Häßlichen, statt der strengen monumentalen F o r m die U n f o r m , den Gegensatz des Monumentalen, verwendet, so daß zwar die F u r c h t in der F o r m des Abscheus, des Ekels, verbleibt, aber der Wille zur E h r u n g , die E h r f u r c h t , verloren geht. Diese Entleerung des E h r w ü r d i g e n führt zur Karikatur. Dies ist besonders der W e g des D ä m o n i s c h e n in der mittelalterlichen Monumentalkunst, der Darstellung v o n T o d und Teufel. Dadurch ergeben sich bestimmte F o r m e n des Schreckbildes, deren wesentlichste folgende sind: Die Sicherheit des Scheusals besteht darin, daß der Blick sich v o n dem Gefährlichen nicht abwenden kann, hypnotisiert wird, wie der V o g e l v o m Blick der Schlange. E s ist das Faszinöse des Schrecklichen, das das Schreckbild ansehnlich macht. Bei fremden Tieren und Fabeltieren k o m m t der Reiz des Unbekannten, des Seltenen und Seltsamen und der A b n o r m i t ä t hinzu; denn entgegen der Allgemeingültigkeit des Normalen und der N o r m , der Regelhaftigkeit, bewegt sich das Fürchterliche des Schreckbildes im Untypischen und Formenwidrigen. E s ist das, was wir ästhetisch das Häßliche n e n n e n ; monumental gesteigert wirkt es abscheulich und abschreckend. Zielte die Allgemeingültigkeit und V e r e w i g u n g des M o n u m e n t a l e n auf die Geschlossenheit und Härte des B l o c k e s , so die Abscheulichkeit und Häßlichkeit auf alles, was die F o r m zerstört und zerstörbar macht, die Übertreibung einzelner, den F o r m e n zusammenhang zerstörender G l i e d e r : die g r o ß e Nase, der Rüssel, g r o ß e Zähne, die Hauer, das g r o ß e Maul, zähnefletschend und im weiten Aufsperren verzerrt; die Unförmigkeit des dicken Wanstes, der unförmlichen Masse, die in ihrer furchterregenden Mächtigkeit oder der Tausendfältigkeit v o n Brüsten den E i n d r u c k des Monströsen bedingt, dazu das 112 143 114 115 14,5
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1, 420 f. Athen, Porosgiebel; Olympia: I, 517, 521, 600. II, 146, 164. St.-Gilles: II, 147. I, 454, 517f., 523.
Ekelhafte und Widerliche alles Qualligen, Schlüpfrigen, Schleimigen, das wir nicht anzugreifen wagen, und das beim Zupacken entgleitet, Schlangenleiber, Molche, Kröten 1 4 7 ; das Exzentrische, den festen Umriß zerstörender, aber auch nicht faßbarer Formen des Stachligen, wie Igel und Fledermausflügel; das Perverse, Verdrehte, wie das Menschengesicht am Hintern, die Mißgeburten, die Beine auf dem Rücken; schließlich das Durchlöcherte, Brüchige und formal Irrationale und Zusammenhanglose des Skeletts, das als Bild des Zerfalls das unmonumentalste, aber, zusammenhaltend und sich wie lebend bewegend, das widerlichste und erschreckendste Zerrbild des Menschen darstellt, und in der Vorstellung der Macht, die dieses Gestänge zusammenhält, dem bloßgelegten zähnebleckenden Maul, den großen tiefliegenden Augenhöhlen mit ihrer Dunkelheit, den fürchterlichsten Anblick der Macht des Todes bietet. Durch die Festigkeit des Knöchernen nimmt es an der Verewigung des Monumentalen teil. Alle diese Merkmale in ihrer optischen Sinnwidrigkeit haben im Mittelalter zum Bilde des Teufels, des Gegenspielers Gottes, geführt und den Abscheu vor dem Bösen verstärkt, ohne seine Macht zu überwinden und abzuschwächen. Die Grenze der Abscheulichkeit und des Ekelhaften liegt da, wo das Schreckbild in die Karikatur umschlägt, das Monströse seine Furchtbarkeit verliert. [An der Kathedrale von Reims stehen sich mehrfach ein nicht ohne Anleihe bei der Antike gewonnenes selig lächelndes, strahlend schönes Engelsantlitz und das in eine Karikatur des Menschlichen verwandelte, ebenfalls physiognomisch interessante neue Gesicht des Teufels gegenüber (Abb. 22, 23), und ein englischer Maler des 13. Jahrhunderts schildert im Christusverhör die Konfrontation von Gut und Böse als Gegenüberstellung von Schönheitsideal und Karikatur (Abb. 24), beides Zeichen dieses Wandels von archaischer zu klassischer Auffassung],
b. K L A S S I K . V O R B I L D L I C H K E I T U N D H Ä S S L I C H K E I T Im klassischen Kultbild hat sich die Belebung der Figur und damit eine Vermenschlichung in der Weise vollzogen, daß durch Lösung der Glieder vom Körper und eine eigene und besondere Haltung ein Höchstmaß von Freiheit in einer inneren selbstvollzogenen und energievollen Bewegung erzeugt wird, und doch alle Lösung der Glieder vom Körper nur dazu dient, eine einheitliche geschlossene Form von selbst zu erzeugen, sie als dem eigenen Willen entsprungen erscheinen zu lassen. Die klassische Kultfigur hält sich selbst, hat Haltung, sie führt die vom Körperstamm gelösten, frei beweglichen Glieder so an den Körperstamm heran, daß man spürt, die Gestalt nimmt sich zusammen. Während für die archaische Kultfigur eine möglichst breite Basis geschaffen wird durch Sitzen oder Hocken und die Gestalt möglichst zusammengeballt entfaltet wird — in Ägypten erhält auch die stehende Figur gerne eine Rücken- und Fußplatte 148 —, ist in der klassischen Kultkunst bei Freifiguren die Standfigur, das Standbild, die Regel. 1 4 0 Auf der schmalen Basis der Füße erhebt sich der schlanke Körper und muß sich mit balancierender Energie selber halten, durch Anspannung der Muskeln und Sehnen an den Gelenken. Im Kontrapost wird die Selbstbeherrschung des herrscherlichen Menschen dadurch erhöht, daß die ganze Last des Körpers auf einen Fuß, den des gestreckten Standbeines, verlegt wird und das gebeugte, entlastete Spielbein, nur mit den Zehen den Boden berührend, wie ein Hebelarm bereit und fähig ist, den Körper zu drehen und zu wenden. Es kann mit ihm spielen und wird so zum Spielbein. Entlastet vom Druck der Materie ist es ein Organ des Willens, bereit, aber entspannt, und durch die Lässigkeit den Eindruck der Freiheit vermittelnd. Zugleich wird durch das zurückgesetzte Bein, das jederzeit nachgezogen werden könnte, die gleichgewichtige Ruhe 147 148 149
A u t u n , Beaulieu: II, 1 3 2 f. Mykerinosgruppe, K a i r o : I, 143. G o t t v o m K a p Artemision, Athena Parthenos, Kasseler A p o l l , Eirene des K e p h i s o d o t : I, 9, 6 1 2 , 943, 947.
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durch einBewegungsmotiv gewonnen, das auch die Frontalität des Sichzeigens in ein lebendiges Sichzuwenden, den Anblick durch einen lebendigen Anspruch, ein Ansprechen, ergänzt. Die Statue wird in bezug auf Kultwürdigkeit aus starrer Gesetzlichkeit der Größe und Obrigkeit in die anspruchsvolle Geltung menschlicher Haltung übergeführt. In ihrer ganzen Energie wird die aus freier innerer Haltung äußere Form gewinnende Aktivität des Sichzusammennehmens nur erfaßt an der nackten Figur, ihrer Gliederung, ihren Gelenken, ihren Muskeln. Die Nacktheit ist eine wesentliche Erscheinungsform des klassischen Kultbildes, des griechischen. Diese harmonische, freie, nur auf die Bedeutsamkeit und Kultwürdigkeit der eigenen Person bedachte Haltung, die ohne einen Zweck des Tuns, ohne Arbeit, sich vollzieht, nur der Vergegenwärtigung, dem Sichzeigen dient, nennen wir Würde. Es ist das die Starrheit der Heiligkeit überwindende klassische Ethos der Ehrwürdigkeit. Die erotische Note dabei, die durch die Nacktheit in das Kultbild hineinkommt und die Feierlichkeit mildert zugunsten einer menschlicheren Annäherung an den Gläubigen, nennen wir, in bezug auf die Personifikation unbekannter, geglaubter Mächte in der Welt, in bezug auf die Vermenschlichung des Kultischen, die mythologische Stufe des Göttlichen. Sie tritt an die Stelle des Magischen der Dinge, des Leblosen, aber Vermenschlichten in der Natur, das noch in dem Glauben an die Lebenskraft des Bildes im toten Stein zum Ausdruck kam. Die Harmonie der klassischen Kultbildkunst, die sich lässig, ohne Gewaltsamkeit vollzieht und auch in sich keinem äußeren Zwang zu unterliegen scheint, wirkt deshalb auch auf den Gläubigen weniger gewalttätig, bezwingend und unterwerfend, als anregend, diese Harmonie auch in sich herzustellen, gottgleich zu werden, als Beweis auch für die Göttlichkeit des Menschen. Das Götterbild wird zugleich zum Vorbild. Es setzt deshalb als Gemeinde, als Verehrer, statt Beherrschte eher Gleichgesinnte und Gleichgestellte voraus, und auch insofern kommt die erotische Note, die durch die Nacktheit und die Harmonie in Form und Haltung, d. h. die Schönheit, gefördert wird, dieser Verbundenheit von Göttlichem und Menschlichem zu einer Gemeinde von Gleichgestellten, durch Freundschaft und Liebe Verbundener, entgegen. Deshalb gehören Heros und Gott oder Göttin als Freundschafts- und Liebespaar zusammen und ist, in der klassischen griechischen Kunst anders als in der archaischen, das Kämpferpaar im Zweikampf nicht als Sieger und Besiegter, Herrscher und Sklave vereint, sondern als körperlich Sichzeigende, in harmonischen Gegenbewegungen zu einer Gruppe verbunden, in der der Besiegte zur Harmonie des Ganzen so viel beiträgt wie der Sieger. Diese Gesetzlichkeit harmonischer Form, die eine aristokratische Gesellschaft voraussetzt, die Verehrte und Verehrende, Götter und Menschen umfaßt und diese Lebenshaltung als Form der Vornehmheit vorbildlich ausprägt, ist nicht mehr Ritus, feierlich festgelegter von außen diktierter Zwang, sondern ist freie Übereinkunft im Dienste an gegenseitiger Gefälligkeit, ist Konvention, wo jeder dem anderen nicht zu befehlen oder zu dienen sucht, sondern zu gefallen. Schönheit als körperliche Form und Haltung ist das Attribut des Göttlichen in der klassischen Kunst. Das Verhältnis der klassischen Kultbilder zur Architektur ist ein anderes als das der archaischen. Das archaische Kultbild ist zunächst Steinblock und dann erst dargestellte Person. Das archaische Relief ist so flach oder so in den Stein hineinvertieft (relief en creux), daß die Steinoberfläche in keiner Weise von der Darstellung unterbrochen oder aufgelöst wird. Damit auch nicht der Schein einer Vertiefung in den Stein oder eines dargestellten Raumes entsteht, wird auf alle Perspektive verzichtet, wie sie eine Zeichnung auf der Fläche mit Linien zu geben vermag, und die Figur von außen so in den Stein hineingepaßt, daß die für die Erkennbarkeit wichtigsten Merkmale aus den Umrissen erkennbar sind und alle Formen vermieden werden, die aus der Fläche heraustreten müßten, um darstellerisch wirksam zu werden, wie die von vorn gesehene Nase oder ein senkrecht zur Steinfläche heraustretender Fuß oder die Schultern eines seitlich gesehenen Körpers. Deshalb werden das Gesicht im strengen Profil, der Körper en face, die Füße im strengen Profil gezeichnet, was als Eigenbewegung der dargestellten Person, in der Winkelung von 90°, eine unmögliche Haltung ergibt, aber auch gar nicht als von innen vollzogene Bewegung der Figur gemeint ist, sondern als rein frontale oder reine Profilhaltung, bei der nicht die Person, son50
d e m der Künstler der verewigenden K r a f t des Steines zuliebe die Glieder v o n außen in die Steinfläche wie bei einer Gliederpuppe hineingedreht und zusammengepreßt hat. D i e ägyptische K u n s t hat diese konsequente V e r e w i g u n g der F i g u r im steinmäßigen Relief mit dem Verzicht auf die Repräsentation durch Frontalität erkauft und konnte es insofern, als ja die Reliefs in den G r a b k a m m e r n gar nicht für das P u b l i k u m gedacht waren, sondern als lebenerhaltend für sich, so daß die K u l t v o r g ä n g e im Bilde selber sich vollzogen. 1 5 0 E r s t die vorderasiatische K u n s t , besonders in den Siegeln, und die romanische hat das Gesicht, wenigstens bei repräsentativen Reliefs, frontal dargestellt; die F ü ß e sind im Romanischen v o n o b e n nach unten heruntergeklappt, also in starker Aufsicht gegeben. D i e klassische F o r m des Kultbildreliefs 1 5 1 erhöht das Relief so weit, daß der K ö r p e r in seiner lebendig v o n innen nach außen sich muskulös entfaltenden F o r m erkennbar wird, aber mit Benutzung perspektivischer Mittel zwischen einer idealen Vorderfläche und dem erkennbaren Reliefgrund in eine E b e n e , die nicht überschritten werden darf, eingespannt ist, so daß die Steinstruktur erhalten bleibt, alle Bewegungsrichtungen wandparallel verlaufen und damit doch die Mauer betonen. I n dieser Schicht bleibt genug Spielraum für die E i g e n b e w e g u n g des K ö r p e r s , die sich aber als Haltung oder O r t s b e w e g u n g ganz der Relieffläche entlang vollzieht, so etwa, als o b sich auf einem schmalen Brettergerüst eine Gestalt an einer Wand hält oder entlang schiebt, nur daß die klassische K u n s t darin besteht, jeden E i n d r u c k v o n N o t oder Z w a n g durch die Relieffläche zu vermeiden und diese in Harmonie mit dem Wollen und der E i g e n b e w e g u n g des K ö r p e r s zu zeigen. Dies ist die vollendete Klassik des Reliefs am Parthenon. D i e eigentliche F o r m für die V e r b i n d u n g des klassischen Kultbildes mit der Architektur ist aber nicht das Relief, sondern der R a u m , den die Kultfiguren so füllen, daß er ganz v o n den F i g u r e n e i n g e n o m m e n wird und sich jede B e w e g u n g der Gestalt der F o r m des ihr zur V e r f ü g u n g stehenden Raumes anpaßt, ohne daß an einer Stelle der E i n d r u c k v o n Z w a n g entsteht. D a s ist der Fall in den Giebeln der griechischen T e m p e l , w o der Ü b e r g a n g v o n archaischer Raumfüllung zu klassischer sich darin zeigt, daß die äußerliche Verkleinerung der F i g u r e n v o n der Mitte nach den E c k e n ersetzt wird durch Haltungen des Stehens, Sichneigens, K n i e e n s , Liegens, wie in den Giebeln v o n Aegina und Olympia 1 5 2 oder den T y m p a n a gotischer K i r c h e n mit thronender M a d o n n a und anbetend das K n i e beugenden E n g e l n 1 5 3 . F ü r die Einzelfigur ist die klassische R a u m f o r m die B o g e n n i s c h e in den Proportionen des stehenden Menschen, wobei das Bogenfeld einen Sonderraum für den K o p f bietet und den Bogenansatz die Schulterzone markiert 1 5 4 ( A b b . 5). W i e die Apsis einer K i r c h e öffnet sich eine solche Nische nach v o r n , dem Beschauer entgegen, die würdigste Begleitung der Frontalität der Figur. G o t i s c h e Portale 1 5 5 und Altäre 2 7 g e b e n Beispiele für diese H a r m o n i e zwischen Haltung der Statue und dem ihr zugemessenen Spielraum der Nische 5 3 . Allseitig geöffnet ergibt dieser Einzelpersonenraum die Baldachine der Fialen an gotischen Kirchen26.
c. B A R O C K . D A S
IMPOSANTE
I m B a r o c k werden die v o n innen heraus wirksamen M o t i v e über die kultische Bedeutung in der Zeit, ihre E w i g k e i t , ihre Harmonie hinaus gesteigert. A n die Stelle der verewigenden und verallgemeinernden M o t i v e treten die der M a c h t an die erste Stelle, der Wille der Person, ihre Bedeutung, dem Kreis der Verehrenden, der G e m e i n d e , aufzuzwingen, ihr zu 150 151 152 153 154 155
Grab des Mari-ib (Berlin), Hcsire und Sarg der Kawit (Kairo): I, 39, 128, 169. Parthenon: I, 442, 732. I, 5 8 3 - 5 8 7 . Paris, Notre Dame: II, 174. Sansovino, Loggietta, Venedig: II, 628. Reims, innere Westwand: II, 181. 51
imponieren. An die Stelle des Heiligen und Würdigen tritt das Imposante. Es ist, als ob der Glaube an die Göttlichkeit oder Kultwürdigkeit immer neu erkämpft werden muß in einer durch Gebärden sich vollziehenden Rhetorik, die für die Kultpersonen Propaganda macht (de propaganda fide). An die Stelle der harmonischen Haltung des Sichzusammennehmens tritt die aus dem Körperganzen ausfahrende Bewegung des deklamierenden Armes, einer Befehlsgebärde von imperatorischer Größe. In der Begleitung, dem Gefolge, tritt dazu die auf den Kultmittelpunkt hinweisende, die propagierende Gebärde, das Apostolische. Die Momentanität dieser Gebärden, ihre Augenblickswirkung, ersetzt die monumentale Wirkung des Dauerhaften durch die vergegenwärtigende Kraft der Aktualität. In jedem Fall wird die Aufmerksamkeit, und damit die Ansehnlichkeit, durch solche betonenden Gebärden äußerst gesteigert. Die ansprechende Verlebendigung der Frontalität im Kontrapost wird durch stärkeres Herausarbeiten des Körpers aus der Tiefe nach vorn, durch schraubende Bewegung von hinten nach vorn, immer mehr zum Motiv augenblicklichen Erscheinens und stürmischen Entgegenkommens, wie in der Nike von Samothrake 156 . Durch Gewandbäusche, die durch das Vorwärtsagieren der Person nach rückwärts flattern, wird der Eindruck der Augenblicksbewegung verstärkt und der Schwung der Gebärde, die Rhetorik, auf den ganzen Körper übergeleitet. Diese werdende Frontalität, dieses Kommen der vollen Sichtbarkeit, noch nicht Dasein, nicht Vollkommensein, versetzt den Ansehenden in jene Spannung, die jeder aus den Besuchen eines Herrschers in einer Stadt kennt. Die Ansehnlichkeit wird so aufs Äußerste gesteigert und wird als zu erwartender Effekt einer momentanen Handlung effektvoll. Als Ausdruck der Macht durch den von innen bewirkten Impetus bieten sich zwei Wege der körperlichen Form und der körperlichen Haltung. Die Leibesstärke wird im Barock gesteigert durch die hünenhafte Mächtigkeit der Glieder und ihrer Muskulatur, die, aufs äußerste gespannt, in jedem Muskel ein Maximum an Schwellung erreicht und deren pralle Spannung zugleich die momentane Aktion höchster Kraftanstrengung verrät. Derart sind die Muskulaturen des Pergamonfrieses 157 und der Rubensschen 158 und michelangelesken 159 Helden. Durch diese Muskelschwellung wird wieder zugunsten der inneren Gespanntheit des Willens die äußere harmonische Form des Leibes und der Glieder in eine zerklüftete Oberfläche von Wellenbergen und Wellentälern aufgelöst, die selbst schon unruhig und höchst bewegt wirkt. So trifft die Auflösung der Gesamtform durch die ausfahrenden Glieder mit der Auflockerung der Oberfläche der einzelnen Körperteile zusammen. Die Bewegung aber wird kompliziert durch einen Kontrapost entweder des sich drehenden, windenden und die Glieder verschraubenden Körpers oder durch Haltungen, die die Belastung des Standbeines steigern, indem es, selber gebeugt, nur mit höchster Anstrengung vor dem Zusammenknicken bewahrt bleibt, das Spielbein statt lässiger Entfaltung der im Gelenk hängenden Beuge nun selbst straff nach hinten gestreckt wird und die sich entsprechenden Glieder durch starke gegensätzliche Bewegungen den Zusammenhang des Kontrapostes anstelle der Harmonie erhalten. Durch Balancieren auf einem Bein oder den Zehen eines Beines, wie bei dem Merkur des Giovanni da Bologna 160 , kann die Selbstbeherrschung zu seiltänzerischer Akrobatik gesteigert werden. Dem Schwulst der Muskeln entsprechen in der gewandeten Figur die geschwollenen Falten und Stoffmassen, die sich um die Figuren bauschen oder in kühnem Schwung sie umwallen und umgreifen, oder im kontrapostischen Gegensatz gegen die Vorwärtsbewegung der Figur, ihre Epiphanie, ihr Erscheinen, in welligen Bewegungen zurückflattern; durch solche Gewandschwünge erhält auch die Sixtinische Madonna des Raffael ihre frühbarocke Mächtigkeit 161 . Die Last und der Gegenschwung der Gewandmassen verstärken im Barock 156 157 158 159 160 161
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I, 796. I, 799. II, 689 f. II, 620, 635, 641. II, 631. II, 625.
den Eindruck der körperlichen Kraft der Person. Auch die Haare nehmen an dem Schwung der Stoffe teil und sorgen für die Auflösung der geschlossenen Form des Kopfes. Auch das Verhältnis der Architektur zur Figur wird im Barock ein anderes als in der klassischen Kunst, indem die Person nicht durch Einordnung in die Architektur die Verewigung zurückgewinnt, die ihr durch die Verlebendigung der Haltung verloren zu gehen drohte, sondern durch Konflikt mit der Architektur die Augenblicklichkeit ihrer suggestiven Imposantheit noch verstärkt. Der Barock liebt den schmalen Sockel, den gefährlichen Standpunkt, wie die Rundung einer Kugel im Altar des Girolamo Campagna in S. Giorgio Maggiore in Venedig 1 6 2 , die faustgroße Fläche eines Luftstrahles im Merkur des Giovanni da Bologna 1 0 0 , die abschüssige Kante der Voluten eines Sarges in den Mcdiceergräbern des Michelangelo 4 5 . Die Person tritt über die Basis ihres Standpunktes herüber und in einer Haltung, die nicht von Dauer sein kann. Im Relief löst sich die Figur völlig von der Fläche und entfaltet ein Maximum von Aktion auf schmaler, sie bedrängender Bühne, wie am Pergamonfries 8 9 . Die Nischen aber und Giebel- oder Türbogenräume werden zu eng. Die Figur kämpft gleichsam gegen den Raumzwang und triumphiert mit dem Überschreiten des Ganzen über das Gesetz der Zeit. Indem die Person den Rahmen, den ihr die Nische liefert, die architektonische Grenze durchbricht, offenbart sie ihre eigene Selbstherrlichkeit 163 . Die Zuordnung des Gefolges zur Hauptperson des Kultus ist nicht die der einfachen Parallelität in der Hoheitsrepräsentation gleichförmiger Frontalität, auch nicht die klare Gruppenbildung durch Verbeugungen huldigender oder kämpferischer Art, sondern die konträre Doppelbeziehung des Vorauseilens vor der erscheinenden Hoheit, der Ankündigung und der huldigenden Rückbeziehung zur Hauptperson, wodurch auch bei ihr jene verschraubte und verdrehte Bewegung erzeugt wird, die höchste Lebendigkeit mit schwieriger Körperhaltung verbindet, zugleich auch rhetorische Propaganda mit beispielhafter Devotion 1 6 4 . Neben diese apostolische Bedeutung des Gefolges tritt die der Unterwerfung in dem Motiv der Sklaven, die, zu Füßen des Herrschers gefesselt, den Sockel, der den Herrscher trägt, verlebendigen oder selber in barocker Kräfteanstrengung bilden und so den Sieg versinnbildlichen, den die imposante Kraft und Rhetorik der Hauptperson und des Gefolges mit anderen Mitteln erst erringen wollen. 1 6 5 Deshalb hört im Barock die harmonische und aristokratische Gemeinschaft zwischen Verehrten und Verehrern auf. An ihre Stelle tritt der Einzelne gegenüber der Masse, verwandt der Beziehung des archaischen Despoten zum Volk, aber nicht mehr in starrer Gesetzlichkeit eines Ritus, dem auch der Herrscher sich unterwirft, sondern in lebendiger Wechselwirkung des absoluten Herrschers, der in jedem Augenblick die zur Skepsis und Auflehnung geneigte Masse von neuem von seiner Gottähnlichkeit überzeugen und zu diesem Zweck zum effektvollen Mittel rhetorischer Kunst greifen muß, um diese Masse zu betören. Das barocke Bild muß deshalb als Vertretung eine ganz andere Kraft der überzeugenden Gegenwart und der lebendigen Wirksamkeit enthalten als das archaische und klassische, es muß deshalb ganz anders vergessen lassen, daß es nur ein Bild ist, als die anderen Stile. Es muß täuschend lebendig sein, wie es im Grunde nur die Malerei sein kann, nicht die Plastik mit ihrem starreren und festeren Material. In dieser Malerei wird der illusionistische Effekt der Überwindung der Fläche, die vollkommene Räumlichkeit und atmosphärische Luftigkeit, die Greifbarkeit der Person und die Verbindung von Wirklichkeitsraum und gemaltem Raum das Hauptproblem. 1 6 6 Durch diese Verräumlichung des Bildes, die den Raum des Kultbildes in den Schauplatz einer kultischen Handlung verwandelt, gelingt es, das Gefolge selbst als eine stürmisch zur verehrten Person drängende, huldigende Prozession darzustellen wie in der Antwerpener Madonna des Rubens 1 6 4 , wo durch die Doppelbeziehung der Gefolgsfiguren zur Madonna und zum Gläubigen hin jede Figur in heftig verschraubten Bewegungen gegeben ist und 162 163 164 165 1SG
H. Decker, V e n e d i g , Antlitz und Kunst der Stadt, Wien 1952, A b b . 75 (und 72). Berlin, Schloß: II, 860, 875. Asam, Hochaltar in R o h r : II, 872. Rubens, A n t w e r p e n e r M a d o n n a : II, 691. Schlüter, Großer K u r f ü r s t : II, 873, 876. Palazzo Labia und B r ü h l : 809f., 858.
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durch einen in Kontrapostbewegung zur Madonna herabschwebenden Engel mit der Krone für die Madonna das Thema der Thronenden mit dem der Erscheinung des Überirdischen verbunden ist. Durch die hohe Stellung des Thrones und die Brechung der Bewegung in zwei Diagonalen wird die Tiefenbewegung in eine vorwiegend aufwärts gerichtete verwandelt und damit vermieden, daß durch perspektivische Verkleinerung das Bild der Madonna zu unbedeutend und dem Blick des Beschauers entrückt wird. Vor allem aber gelingt es mit Hilfe illusionistischer Malerei, die es fertigbringt, himmlische Gestalten, auf eine Kuppelwand gemalt, freischwebend im Kirchenraum darzustellen, die himmlische Existenz göttlicher Gestalten im Bilde glaubhaft zu machen, die Schwere zu überwinden und die Beziehung des Überirdischen zum Irdischen durch eine Bewegung des Hinab, Erscheinung Gottes auf Erden als Herabschweben aus dem Himmel, und das Hinauf, Apotheose, Gottwerden, als Himmelfahrt glaubhaft zu schildern. An dieser Darstellung des Himmels, der in den Kirchenraum hineinströmt, hat die ganze Barockmalerei in ihren Deckengemälden gearbeitet. Eines der frühesten Bilder dieser Art ist das herrliche Apsidenfresko des Melozzo da Forli im Quirinal in Rom 1 0 7 , wo Christus auf Wolken in einer Engelsglorie wie in einem Sturmwind herabfährt, im rhythmischen Schwung des Körpers und kontrastierend ausgebreiteten, rhetorisch gestikulierenden Armen, Aufruf und Verheißung. Derselbe Melozzo hat die achteckige Kuppel der Santa Casa in Loreto mit Engeln ausgemalt 168 , die mit mächtig entfalteten Gewändern von der Kuppel herabschweben, während — echt barock — auf dem schmalen Gesims Propheten sitzen, fast versinkend im barocken Schwall ihrer Gewänder; ein Vorspiel zu Michelangelos Propheten in der Sixtina, so wie der schwebende Christus der Vorläufer von Michelangelos schwebendem, die Erde segnenden Gott Vater ist. Die barocke Himmelfahrt aber, die Apotheose Marias, ist in Tizians Assunta mit überzeugender Wirkung dargestellt 169 . Auch hier wird Maria in einer Engelswolke emporgetragen, sich selber in barockem Schwung und mit ausgebreiteten Armen herumwerfend, umrauscht von üppigen Mantelfalten, mit weit geöffneten Augen Gott Vater suchend, der über ihr aus der Tiefe heranrauscht; unten die Apostel, emporzeigend und mit den Armen emporgreifend, ihr Verehrung durch Nachblicken, Nachdrängen erweisend und den Wunsch, Maria zurückzuhalten, bekundend. Das zentralisierende und frontale Kultbild ist hier mit der stürmischen Bewegtheit einer Szene, der Vergegenwärtigung menschlicher Gestalten, mit der Ansehnlichkeit und Sehenswürdigkeit des Wunders verbunden, die bleibende Repräsentation des Bildes mit der Festlichkeit des Schauspiels und der Kulthandlung. 5. D A S V O R B I L D Wir sahen, daß ein Kultbild um so mehr in seiner Haltung von den Gläubigen nachgeahmt werden kann, je weniger das Triumphale barocker Kräfteäußerung oder das Unheimliche und Dämonische des Unmenschlichen und Unzugänglichen in ihm zum Ausdruck kommt, und je mehr sich die Haltung auf eine Selbstbeherrschung bezieht, die in ihrer Harmonie ein Wohlgefallen für Verehrte und Verehrende in g l e i c h e r w e i s e bedeutet, eine Ansehnlichkeit, die, den Göttern dargebracht, auch deren Wohlgefallen erweckt. In diesem Fall wird das Kultbild zugleich zum Vorbild, die Vereinigung von Gott und Menschen zu einer einzigen Gemeinde, zur Gesellschaft, in der jeder für den anderen sich wohlgefällig zeigt und der Verehrte das bewunderte Vorbild darstellt, dem gleich zu werden, Pflicht und Recht der Verehrer ist. Dies war der Vorzug des klassischen Kultbildes. Da in diesem Falle weder ein Zwang in der Haltung zum Ausdruck kam, sondern alles in Freiheit geschah, noch ein Imponieren und Agieren gegen den Verehrenden, so konnte in diesem Falle die Haltung, so wie jede uns nichts angehende oder zu besonderen Maßnahmen veranlassende Betätig u n g es tut, zur Nachahmung anregen und Vorbild werden. 167 168 169
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II, 500. II, 499. II, 626.
Vorbildlich können aber auch alle Gebärden und Haltung 2n werden, die das Gefolge betreffen, soweit dieses selbst in Verehrung begriffen dargestellt wird und somit zu beiden Parteien gehört, zum Kultmittelpunkt, dessen Ansehen es verstärkt, und zu den Gläubigen, deren Kulthandlungen es vorführt und in einer feierlichen Form präsentiert. Die betenden Engel, die in einem gotischen Tympanon die Madonna verehren 170 , zeigen nicht nur, daß man sie verehren muß, sondern auch, wie es geschehen soll, in jenen schönen Kurven des biegsamen Körpers, der die Gebärde der Demut feierlich macht. Wenn in der Kathedrale von Reims an der inneren Westwand in der untersten Arkadenreihe, also dem Gläubigen leicht sichtbar, eine Kulthandlung dargestellt wird — ein Priester, der die Oblate reicht, zwei Ritter, der eine in edler klassischer Haltung, der andere sich leicht verneigend und mit betend gefalteten Händen der Kommunion harrend —, so kann sich auch diese Haltung als vorbildlich mühelos auf den Gläubigen übertragen. 1 7 1 In S. Apollinare nuovo in Ravenna sind über den Säulen der Seitenwände eine Reihe parallel sich folgender Frauen auf der einen Seite, Männer auf der anderen in einer Prozession zum Altar hin dargestellt, 172 von denen der Chor der Frauen zu Maria, der der Männer zu Christus hinführt, die am Schluß des Zuges neben dem Altar thronend und von Engeln begleitet die Huldigung der Prozessionen und des Blickes, des Ansehens, entgegennehmen. Die Haltung und der Gleichschritt wirken vorbildlich und anregend auf den Betrachter des Bildes, d. i. in diesem Falle die Prozession oder die Blickrichtung der Gläubigen zum Altar hin. Das Bild hat keine ästhetische Bedeutung, sondern eine pädagogische, eine erzieherische. Ein gleiches feierliches Vorbild bietet außen am Bau der Parthenonfries 1 0 9 . Vorbildliche Menschendarstellungen in einem Raum haben nur dort Sinn, wo das Zusammensein von Menschen auch der Sinn des Raumes und das Ansehen von Menschen und Angesehenwerden Inhalt des Tuns dieser Menschen in ihrem Zusammensein ist. Gemeinsame Arbeit in einem Raum, bei der jeder mit Aufmerksamkeit einen Anteil an der Arbeit verrichten muß, wie in einer Werkstatt oder Fabrik, oder Zusammensein zu einer geistigen Erfüllung, bei der jeder durch die anderen Menschen nur gestört wird und alles mit sich selbst abmachen muß, wie bei einem Vortrag, einem Konzert oder einem Schauspiel, sind keine Gelegenheiten für die Ausstattung eines Raumes mit vorbildlichen Statuen. Auch ist die Darstellung einer Arbeit, bei der technische Kenntnisse für das Verständnis der Arbeit notwendig wären, nicht als Vorbild verwendbar. Man vergleiche die Darstellung der Weberei, eine Personifikation an einer Kirche (Abb. 25) mit der Schusterwerkstatt Liebermanns 173 , um den Unterschied zwischen einem Vorbild und einem Genrebild zu verstehen. Die Räume, in denen vorbildliche Menschendarstellungen als Statuen oder im Gemälde sinnvoll werden, sind solche, in denen die Vermehrung der Zahl der Menschen die Festlichkeit und die Bedeutung eines Kultmittelpunktes (des Gastgebers) erhöht, und die Vorbildlichkeit der ein für allemal Geladenen, der bleibenden Bilder wie die Haltungen des Gefolges die Feierlichkeit verstärken. Nur in Kult- und Gesellschaftsräumen, in einer Gemeinde oder Gesellschaft, in der der Eintretende durch seine dem Vorbild entsprechende Haltung dem Kultmittelpunkte sich angleicht, Teil eines Gefolges wird, haben solche Kultbilder ihren Sinn. Die Räume mit solchen an einem Kult, einer gesellschaftlichen Feier, teilnehmenden Statuen werden selber feierlich, vornehm, aristokratisch, zumal monumentale Vorbilder als erziehlich im Wesentlichsten ja nur dort Kultbild und Vorbild zu gleicher Zeit sein können, wo jene Gleichstellung von Gott und Mensch, Obrigkeit und Untertan, stattgefunden hat, die im klassischen Kultbild sich am reinsten verwirklicht hat. Die Haltungen, die durch das Vorbild in eine normative Form gebracht werden, sind deshalb in erster Linie das selbstbeherrschte Wesen, wie es die klassische Kunst der Griechen entwickelt hat, und dann in allen Renaissancen, aber auch, in Gewandfigur umgesetzt, in der Gotik, das Hauptmotiv der Statuen geworden, an denen in Kirchen und Palästen
173
Paris, Notre Dame: II, 174. II, 181. II, 73. II, 1044.
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Hamann
170 171 172
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der Eintretende oder zum Altar oder Thron huldigend Schreitende vorbei muß, und die in Treppenhäusern der Paläste der Aristokratie des 18. Jahrhunderts (und später) den Eindruck der Kühle, der Vornehmheit bedingen. Dieses selbstbeherrschte, völlig entfaltete und doch zusammengenommene und harmonische Wesen nennen wir den Stand-, Figuren, die es vorführen, sind standesgemäß und die, die es nachahmen und zu vollziehen wissen, werden standesgemäß in ihrer äußeren Erscheinung. Stand, standesgemäß, bedeutet für uns mehr als ein körperliches Verhalten, bedeutet soziale Auszeichnung, Rang, Zugehörigkeit zur Kultgemeinde; ein Beweis, welche kultische Bedeutung im rein Sichtbaren, in der Ansehnlichkeit liegt. Das beherrschte Stehen, das die Heiligen an den Seitenwänden der Portale, an den Pfeilern der Mittelschiffe gotischer Kirchen, 174 in den Nischen der Außenund Innenwände von Renaissancepalästen 175 vorführen, ist die feierlichste Haltung. Bei allen Feiern erheben sich die Gäste bei den wichtigsten Kulthandlungen, bei den auffälligsten Ehrungen einer Kultperson von den Plätzen zum Stand. Das Sitzen ist bequemer, ist weniger Beherrschung des Körpers und Zeichen der Selbstbeherrschung. Doch gibt es auch ein vorbildliches Sitzen, bei dem man sich nicht anlehnt, nicht im Stuhl versinkt, kontrapostisch ein Bein zum Halt aufsetzt, das andere zum Spielbein beugend zurücksetzt und die Arme gleichfalls kontrapostisch vereint, den einen Arm in die Luft erhebend, den anderen auf den Schenkel leicht aufstützend, und wie bei der Standfigur Oberkörper und Kopf in Gegenbewegung nach beiden Seiten verschiebt. Dieses edle Sitzen nennen wir Sitzung. Eine Sitzung ist eine Menschenversammlung, bei der dieses selbstbeherrschte Sitzen die Kultwürdigkeit der an der Sitzung teilnehmenden Personen verrät. Daß alle bedeutsamen Versammlungen sitzender Menschen auch heute noch Sitzung genannt werden, auch wo es auf das Sitzen nicht ankommt, sondern auf Beratungen und Besprechungen, zeigt, welche Bedeutung auch hier das Körperliche für den Begriff hat. Am ehesten erleben wir die Ehrwürdigkeit des Sitzens, die Feierlichkeit, heute noch bei'einer öffentlichen Gerichtssitzung, wo Richter und Beisitzer Respektspersonen sein sollen und wollen. Die Hauptperson dieser Sitzung ist der Vorsitzende. Die „Disputa" Raffaels ist ein großartiges Beispiel einer solchen Sitzung. 66 Am bequemsten, d. h. am wenigsten Selbstbeherrschung erfordernd, ist das Liegen, bei dem die Mitte des Körpers gestützt ist und die Last damit von dem Lager, dem Boden, getragen wird. Wie dennoch auch in dieser Lage Kontrapost, reiche Gliederbewegung und harmonisches Gleichgewicht erzeugt werden können, haben die Griechen in den gefallenen Kriegern oder den liegenden Göttern in den Tempelecken vorbildlich gezeigt. 176 Hier ruht der Körper gleichsam nur auf drei Punkten von Hüfte, Fuß und Arm, während er sich wie eine Standfigur um seine Achse so dreht, daß Kopf und Füße kontrapostisch im Gegensinn sich wenden, und ein gebeugtes Bein auch in dieser Lage mit dem Körper spielen kann, und ein gebeugter Arm entsprechend um den Körper herumgreift. Am vollkommensten ist das wohl bei den Gefallenen des Aphaia-Tempels in Aegina durchgeführt, aber auch die Götter des Parthenongiebels haben, obwohl schon bequemer und entlasteter, ein solches Liegen in der Grundform. In den Renaissancebauten ist dann dieses vorbildliche Liegen den Zwickelfiguren 177 über den Bögen der Fenster und Portale als edles, formvolles, der Architektur angepaßtes Liegen vorbehalten, und auch die liegenden Statuen der Mediceergräber 45 haben dieses Grundmotiv barock gesteigert. Dieses beherrschte Liegen wollen wir Gelage nennen, mit dem Wort, mit dem wir heute den Sinn von Trinken in Gesellschaft verbinden, das aber ursprünglich offenbar die Gesellschaft nach der Art des körperlichen Verhaltens, als in bedeutsamer Vereinigung begriffen, charakterisierte. Die Griechen lagen so, wenn sie im Trunk vereint waren und die Feierlichkeit dieses Gelages sich darin kundgab, daß dabei der Götter nicht vergessen wurde, denen man die Spende durch Vergießen des Weines op-
174 175 176 177
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Reims, Kathedrale; K ö l n , D o m : II, 185, 3 8 8 f . V g l . Raffael, Schule v o n A t h e n : II, 40. Ägina, Olympia, Parthenon: I, 438, 583, 585, 596, 6 4 5 f . V g l . II, 475, 630, 651.
ferte. Ein solches Gelage zeigen schön und vorbildlich die Hetären auf einer Trinkschale des Euphronios. 178 Der Platz der vorbildlichen Figuren, denen weniger Reverenz erwiesen werden soll, als daß sie als gleichrangig empfunden werden, ist nicht der der Respektsperson im Zentrum, durch Motive der Macht und Größe hervorgehoben, sondern lateral, im Gefolge der Hauptkultperson, oder an den Wänden seitlich der im Raum Befindlichen, auch nicht kämpfend oder kultisch mit Nachbarn zur Gruppe verbunden, sondern in paralleler Folge einen Gleichschritt und ein Gleichmaß angebend, das sie in die Ordnung der zur Gesellschaftvereinten einbezieht. 6. M O N U M E N T A L E U N D R E P R Ä S E N T A T I V E
ARCHITEKTUR
a. D E R BAU Die Monumentalität einer Architektur besteht darin, daß sie wie eine Statue zunächst nach außen hin ein verewigendes Denkmal ist für die Hauptperson eines Kultus, die durch sie vertreten wird, daß sie als solches repräsentiert, d. h. sich nach außen zeigt mit jener zwingenden Kraft der Ansehnlichkeit, die durch Frontalität und Symmetrie gewährleistet wird, d. h., daß sie eine Fassade hat, daß sie einen Raum umschließt, der als Ort des Heiligen oder Übermenschlichen innen und nach außen sich kundgibt und nur dem Kultus dient, und dies in seiner baulichen Gestalt zum Ausdruck bringt. Um das Denkmal des Höchsten sein zu können, muß der Bau personenhaft eine Rundplastik sein, rings umgehbar oder umgreifbar, ein in sich geschlossener Körper. J e blockmäßiger, zusammengefaßter die Masse, je weniger gegliedert oder durchbrochen, desto ewiger und dauernder ist der Eindruck, desto monumentaler. Diese bauliche Monumentalität hat ihren stärksten Ausdruck gefunden in der ägyptischen Pyramide, der monumentalsten denkmalsmäßigen Form der Architektur, die bis auf den heutigen Tag in den Pyramiden der Turmhelme unserer Kirchen nachwirkt. Die Strenge der geometrischen Form, die Gleichheit und Gleichseitigkeit der Flächen bedingt den Eindruck ruhender, unveränderlicher Vollkommenheit. Wie in der Plastik erhält die verewigende Form ihre Größe und Erhabenheit durch äußere, alle Umgebung überragende Höhe. Tür- und Fensterlosigkeit entspricht der Unzugänglichkeit des Heiligen. Repräsentative Bauten, Kirchen, Rathäuser, Schlösser, werden immer durch überragende Größe sich bemerkbar machen und ansehnlich erscheinen. Diese Erhabenheit und überragende Höhe führt zur monumentalen Bauform des Turmes, eine für den Wohnzweck des Baues unnütze Bauform, mit der sich das Bedürfnis nach Ansehnlichkeit in der Öffentlichkeit eine weithin sichtbare Form schafft, ähnlich dem hocherhobenen Arm imperatorischer Standfiguren. Öffentliche Bauten, die die Obrigkeit beherbergen, wie die Rathäuser, legen sich einen Turm zu. Monumentalbauten können in solche Türme auslaufen oder sie neben sich haben, wie die ägyptischen Tempel in den Obelisken 179 oder die turmlosen italienischen Kirchen in den neben ihnen frei stehenden Glokkentürmen 180 . Die romanischen Kirchen mit Vierungsturm und Chorumgang haben die Ostpartie zu einer pyramidenartigen, in den Vierungsturm auslaufenden monumentalen Gruppe zusammengefaßt. 181 Turm und Pyramide wirken hier in einer einzigartigen Baugruppe zu monumentaler Form zusammen. Während die ägyptische Pyramide aber jeden Durchbruch des Blockes als Fenster oder Portal verneint und damit den Ausdruck des Unzerstörbaren aufs höchste treibt, hat die romanische Baugruppe Fenster und löst den Gesamtblock in gruppierte Einzelkörper, besonders durch die Chorkapellen, auf. Trotzdem 178 179 180 181
5*
1, 538. Heliopolis, Karnak: I, 200, 217. Pisa, Venedig: II, 437, 816. Paray-le-Monial: II, 123. 57
ist auch hier die Mauerhaftigkeit der Wände, die feste, undurchdringliche Körperhaftigkeit spürbar. Die Geschlossenheit der Masse in der ägyptischen Pyramide ist darin konsequenter als der romanische Bau, daß jeder Hinweis auf das Innere fehlt; Abwesenheit jeglichen Ausdruckes oder Gefühles wird als unmenschlich, deshalb ohne Innerlichkeit empfunden und statt dessen als von magischen Kräften erfüllt und von Geheimnis umwittert. Für den Ausdruck des Erhabenen im archaischen Sinne ist dies mit entscheidend. Ohne Kultbild zu sein, weil Kult bau, wirkt doch die Körperlichkeit, das «'»-Körper-sein, personenvertretend wie die Stelen (Menhire) der Frühzeit der Menschen, als Denkmal, durch die Größe der Pyramiden und Türme als Denkmal des Höchsten, als plastisch wirksames Gotteshaus. Wie kann aber ein solcher rein körperlich dinglicher, lebloser Bau menschliches Leben, Inneres widerspiegeln, nicht nur menschliches, körperliches Dasein als äußere gegenständliche Form? Das lehrt der griechische Tempel 182 . Nicht in der Gesamtform, die wie die Pyramide ein einheitlicher, rings umgehbarer, frei im Raum stehender Körper, eine Plastik ist, deren Erscheinung als einheitlicher Körper im wesentlichen durch die schwere Doppelplatte (Architrav und Fries) des Gebälks und des sich darüberlegenden sattelförmig, in der Front pyramidenförmigen Daches bestimmt wird. Diese kubische Gesamtform aber ruht nicht auf einem winkligen oder kastenförmigen Block, der Zella, wie bei einem Sarkophag 183 , sondern auf einer Reihe von freistehenden Säulen, die diesen Block umstehen. Diese Säulen sind in ihrer Rundheit, ihrem aufrechten Stehen, ihrer dem stehenden Menschen entsprechenden Proportion im Gegensatz zu der Pyramide oder der ägyptischen Pflanzensäule menschenähnlich und schon durch ihre Vertikalität aktiv, standesgemäß. Die Säulen stehen und tragen. Die rein architektonische Form sorgt schon an und für sich dafür, daß es ein edles Stehen ist. Die Einzeldurchführung der Säulen im griechischen Tempel lehrt, daß diese Verlebendigung und Vermenschlichung des Baukörpers das Ziel dieser Kultbaukunst ist. 184 Die Säule zieht sich nach oben zusammen; in Form einer elastisch ausschwingenden Platte sondert sich das Kapitell als Haupt von dem darunterliegenden, durch Abschnürung kenntlich gemachten Halsring ab; in dem nach oben ausgreifenden elastischen Profil erscheint das Tragen als aktive Funktion. Der Säulenstamm aber baucht sich aus, ist ebenfalls elastisch, schwellend wie ein Muskel. So besteht der ganze Bau aus einem von lebendig wirkenden und doch abstrakt, steinmäßig gefügten aufrechten Körpern getragenen Block als eine Komposition von Last und Trägern, die Monumentalität und Repräsentation, Starrheit der Masse und Lebendigkeit des Verhaltens gleichzeitig enthält, zugleich aber auch Über- und Unterordnung, Herrschaft und Dienst, die Grundprinzipien des Kultus. Diese wird dadurch zur unmittelbaren kultischen Funktion verdichtet, daß an den Fronten, den symmetrisch sich präsentierenden Giebelseiten, den Fassaden, der Hohlraum, den die gegeneinandergelegten Dächer bilden, als Scheinraum für die symmetrisch, als Kultbild angeordnete Götter-und Heroengruppe fungiert. 185 Diese erscheinen hier den auf dem Platz vor dem Tempel zusammengeströmten Gläubigen. Die Säulen tragen also wie ein Altar zugleich das lebendig repräsentierende Kultbild. Auch die Säulen selber können sich noch weiter verlebendigen, indem an ihre Stelle tragende Menschen in standesgemäßer Haltung treten, wie die Karyatiden an der Korenhalle des Erechtheions 180 oder die Atlanten am Zeustempel von Akragas (Abb. 26), ein Beweis, wie menschlich die Säulen am griechischen Tempel gemeint sind. Durch die Giebelfronten mit ihrer strengen Frontalität und ansehnlich wirkenden Symmetrie, verstärkt durch die sich zeigende frontale Statuengruppe der Giebel, erhält der Kultbau eine Fassade, zeigt auch er sich in monumentaler Frontalität. Diese Repräsentation ist das Gegenteil von aller Wohnlichkeit, d. h. von Zerlegung eines bergenden Raumes in Theseion: I, 441. Kyrosgrab: I, 435. 184 I, 552-555. 185 Delphi, Siphnierschatzhaus: I, 559. 182
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Gemächer und Kammern, die anderen Zwecken als der Repräsentation dienen. Als Vertretung eines Höchsten mit seinem Gefolge muß auch der Kultbau ein Körper sein, eine personenhafte Einheit, die gewährleistet wird durch das Aufliegen des einheitlichen Gebälkblockes mit seinem an der Fassade pyramidal aufgipfelnden Giebel auf Säulen, die von unten bis zum Gebälk stockwerklos durchgehen. Wo eine solche Front zusammentrifft mit einer Wand, und die Wand als Raumabschluß mit Raumeingang eine Rolle spielt, wie bei den christlichen Kirchen, da wird die im Sinne des griechischen Tempels gegliederte Fassade durch Reliefsäulen (Pilaster) oder durch vorgelegte Säulen als Scheinfassade der Wand vorgebaut, wie in Sa. Croce in Gerusalemme in Rom (Abb. 27); durch Steigerung der Säulenfront nach der Mitte zu, durch zunehmendes Vorschieben der Säulen mit ihrem Gebälk, wird das Sichzeigen betont und zugleich die Kirchenfassade aus dem Häuserblock der Umgebung herausgelöst. Durch diesen Kampf mit der Wand und das Sichbrüsten des plastischen Baukörpers der Fassade ist dies Prinzip spezifisch barock. Diese Scheinfassadenwirkung ist aber vor allem erforderlich, wenn es gilt, den großen Fürstenpalästen seit der Renaissance Fassadenwirkung abzunötigen, den Palast als einen den Alleinherrscher des Hauses göttergleich repräsentierenden Monumentalbau zu charakterisieren. Die baulichen Funktionen aber, die die Paläste als Wohnbauten nicht entbehren können, wie Fenster, Eingänge, Stockwerke, Gemächer, werden den Wänden hinter oder zwischen den Säulen oder Pilastern vorbehalten. Die Sockel- und Kapitellzone der Kirchensäulen benutzt Palladio (Ca di diavolo in Vicenza) 187 , um Erdgeschoß und Dachgeschoß darin unterzubringen, wobei sich die Geschoßhöhen und die Fensterverteilung nach der Fassade, nicht umgekehrt, richten müssen. Michelangelo verstärkt am Konservatorenpalast 188 den Eindruck der Freisäulenfassade dadurch, daß er das untere Geschoß durch eine Galerie öffnet und darüber eine Tempelfront im Kleinen als Fensterrahmung wie eine Freiplastik auf einen Sockel stellt. Besonders repräsentativ wirkt es, wenn bei einem langgestreckten Stockwerkbau eine betonte Mittelfassade von zwei Seitenfassaden mit Freisäulen begleitet wird und diese drei Fassaden ungegliederte oder mit Pilastern überzogene Wände zwischen sich nehmen; es ist die Wirkung einer von zwei Gefolgspersonen begleiteten Hauptkultfigur (Abb. 28). In diesen nachgriechischen Renaissancebauten ist die Vorherrschaft des plastischen Baukörpers und der repräsentativen Fassade vor dem Innenbau nicht mehr so stark wie im griechischen Tempel oder etwa im römischen Pantheon 189 , wo die sich nach außen wendende, geradfluchtende Fassade ein zum dahinterliegenden Rundbau völlig beziehungsloser Vorbau ist. In den Palästen mit einer der Wand vorgestellten Säulenordnung 190 wirkt die zurückgedrängte, im Kampf mit der Fassade unterliegende Wand als Raumabschluß. Wenn dabei, wie im Barockpalast, die innerste Säulenstellung sich vordrängt und mit ihrem eigenen Giebel die Mittelöffnung als Eingang betont, wenn auch eher als Fass^dchen (Aedicula) wie bei den Fenstern der Renaissancepaläste, so entsteht dadurch der dem Säulenbau nicht konforme Charakter eines Portales, der dem griechischen Tempel vollkommen fern liegt. Dennoch gibt es auch eine monumentale und repräsentative Tor- und Eingangsgestaltung. Sie geht aus von der monumentalen Wirkung eines Turmes und seiner körperhaft aktiven Vertikalwirkung. Versehen wir einen Torbau, eine Öffnung, einen Eingang oder eine Durchfahrt in einer Mauer oder Wand mit zwei flankierenden Zylindern, so bildet jeder dieser Zylinder ein Monument, ein Denkmal; zu zweien symmetrisch neben einer symmetrisch durchbrochenen Wand bilden sie eine Fassade. 191 Aber das, was sie wie Heilige begleiten, ist eine Öffnung, ein Portal. Dieses wird dadurch, daß es eine Proportion erhält, die dem stehenden Menschen entspricht, selbst standesgemäß und für die Haltung des Ein187 183 189 190 191
II, 646. II, 644. 1, 922. L o u v r e , Perrault-Fassade : II, 825 f. V g l . Centula, Poitiers; Chartres W e s t : II, 225, 126; 170 mit 197.
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tretenden vorbildlich. Schließt das Portal nach oben statt mit einem geraden Gebälk mit einem Bogen ab, so wird durch diesen Bogen eine frontalisierende Mitte gegeben; die Seitenwände werden zu einer Form vereinigt, die nicht als Last wirkt, sondern raumbegrenzend, die Träger also zu einer Raumform verbindet, die durch ihre symmetrische Gestalt den Eintretenden noch strenger verpflichtet. Das Ganze mit einem Giebel abgeschlossen fügt der standesgemäß vorbildlichen Räumlichkeit auch noch die plastische, körperliche Repräsentation und Monumentalität der Pyramide hinzu. Diese Monumentalität der Zweitürmigkeit wird um so repräsentierender, je höher die Türme sind und in Pyramiden körperhaft auslaufen. So entsteht bzw. entwickelt sich die mittelalterliche Zweiturmfassade der christlichen Kirchen. 1 9 2 Die Türme nehmen die gegiebelte Fassade zwischen sich, aber das Portal, das sie an sich schon in dem von ihnen betonten Zwischen räum repräsentativ flankieren, wird dadurch als Hauptteil der Fassade noch einmal betont, daß es seinen eigenen Giebel erhält (den Wimperg), der an Höhe und Bedeutung den der Fassade des Mittelschiffes übertrifft. Indem schließlich alle festen Wände in Säulenstellungen mit Portalbögen gegliedert oder aufgelöst werden, also in portalartige Öffnungen, entsteht wie im griechischen Tempel, aber stärker auf das Innere hinweisend, der Eindruck der Allöffentlichkeit, der das Gotteshaus als für alle offen charakterisiert. Durch die perspektivisch sich nach der Tiefe zu wiederholende Stufung 193 wird das Portal schon selbst ein tiefenwärts gerichteter Raum mit suggestiver feierlicher Kraft des Hineinzwingens oder von festlich einladender Bedeutung des höfischen Empfanges. b. D E R R A U M Die Frage nach der Gestaltung des monumentalen und repräsentativen Innenraumes beantwortet sich nach zwei Seiten, nach der Seite des Raumes und nach der Seite der Wandgestaltung in bezug auf die körperlich plastische Durchformung. Die Verewigung der Kultperson als körperlich in der Form der Statue oder eines Denkmals dem Raum innewohnend, wird durch einen Raum gewährleistet, der nach allen Seiten gleich weit, d. h. richtungslos sich entfaltet, wie es in Räumen mit kreisförmigem Grundriß, den Zentralräumen, der Fall ist. Ist dieser Raum mit einer Kuppel überwölbt, die nach den Seiten zu den Raum verengt und in der Mitte die höchste Raumentfaltung enthält, dadurch den Menschen zur Mitte hinzieht und in ihr festhält, um so ruhender ist der Raum, um so regungsloser, ewig in dieser Mitte beharrend, wird die den Raum beanspruchende Kultfigur gedacht. Der kuppelgedeckte Zentralraum wird deshalb als verewigender und ruhegebietender Raum empfunden, nicht für die Kultübenden, die Verehrenden, sondern für den, der in die ewige Ruhe eingegangen, als dauernd bleibend, als verewigt verehrt wird. Es ist der ideale Raum des Grabes, die Mitte der ideale Platz für das Grabmal, es ist die Form des Mausoleums, so schon in den mykenischen Gräbern 194 , den sogenannten Schatzhäusern, den Totenkammern, die nur für den Toten gedacht sind. Zur Verehrung des Toten wird sinngemäß ein Umgang um den Kultraum, ein Wandelgang, herumgeführt, der zwischen Säulenstellungen immer von neuem den Durchblick und die Kultbezeugung gestattet, wie in den Mausoleen der spätrömischen Zeit, den Gräbern der Heiligen Konstanza oder des Heiligen Stefanus 195 , aber auch den romanischen Zentralbauten, die das Grab Christi, ein sog. „Heiliges Grab" darstellen und in den karolingischen Rundkirchen (Palastkapelle Karls d. Gr. in Aachen, St. Peter in Fulda) Vorgänger haben. 196 Halbiert bildet dieser Typ des Rundbaues die Form des Chorumgangs in den romanischen und gotischen Kirchen, wo sich für den den Umgang Durchwandelnden auch in jeder 192 193 194 195 196
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Reims, Marburg, K ö l n : II, 19, 351, 387. Aulnay, Chartres: II, 127, 170. I, 446. Rom, San Stefano Rotondo, Santa Costanza: IT, 62f. II, 221 f.
Arkade ein Durchblick auf das hinter dem Hochaltar befindliche Märtyrergrab ergab. 197 Eine zweite Form des Zentralbaues mit angelegten Kulträumen ergab sich aus der Kirche mit Chor, Querschiff und Langhaus, d. h. aus der Vereinigung von Kultzentrum und Gemeindebau, indem im Zentrum über der Kreuzung von Langhaus und Querschiff eine Kuppel errichtet wurde, die wie die Decke eines Baldachins auf vier Pfeilern ruhend die Stimmung des Zentralraumes, der Grabeskirche, ergab. 198 Die vier Räume der verehrenden Priesterschaft (Chor) und Gemeinde öffnen sich auf diesen Zentralraum. Durch ein Tonnengewölbe, dessen Abschluß der die Kuppel tragende Bogen (Vierungsbogen) bildet, das also nur die Verlängerung dieses Bogens in die Schiffe hineinbildet, sind die Räume der Verehrenden Träger der Kuppel, dieser unterworfen und untergeordnet und damit, wie die Säulen des griechischen Tempels im Verhältnis zu Giebel und Giebelstatuen, schon in kultischer Funktion der Unterwerfung unter das Zentrum charakterisiert. Durch das Tonnengewölbe, den Träger der Zentralkuppel, bekommen die Kreuzarme, auch wenn sie im Grundriß quadratisch und damit selbst zentral (wenn auch weniger streng als ein Rundraum) angelegt sind, eine Richtung und werden zu Longitudinalräumen; das Tonnengewölbe führt mit seinem Scheitel von der Eingangswand zur Kuppel hin, zwingt den Eintretenden in die Mitte der Tonne und macht mit der Richtung zur Kuppel diese ansehnlich. Feierlich aber werden diese Zugangsräume durch dreierlei: Standesgemäß, vorbildlich im Sinne des Sichzusammennehmens sind sie durch eine Proportion, die dem stehenden Menschen angepaßt ist, als Schmalraum, der ihn zum Aufstehen verpflichtet, wie bei den feierlichsten Momenten einer Kulthandlung oder beim feierlichen Schreiten in einer Prozession; zweitens durch eine Wandgestaltung, die vom Boden bis zur Decke durchgeht, d. h. durch Säulen (Dienste), die den Raum als Einheitsraum zusammenfassen, als Raum des Höchsten charakterisieren und in ihrer Säulenhaftigkeit ebenfalls straff, feierlich, vorbildlich wirken; und drittens, indem der Hauptraum dreischiffig gestaltet wird, mit hohem Mittelschiff zwischen niedrigeren Seitenschiffen durch Arkaden miteinander verbunden, so daß die niedrigeren Seitenräume den Gläubigen in den höheren Mittelraum entlassen also zu Vorbereitungsräumen, Vorräumen für dieses Mittelschiff werden, das sich mit den offenen Arkaden als öffentlich, allzugänglich, erweist. Damit ist der Typ des öffentlichen Kultraumes erreicht. Der Richtungszwang aber vom Eingang hin zum Kultzentrum ist um so stärker, je länger der Raum ist. 199 Durch die Länge der Mittelschiffe mittelalterlicher Kulträume wird auch im Raum zur Repräsentation, zur Ansehnlichkeit des Kultzentrums die Anregung zur Devotion hinzugefügt. Mit dieser Steigerung der Richtung, der Bewegung, hin zum Kultmittelpunkt, verliert auch die in sich beharrende Ruhe der Grabeskirche ihren Sinn, muß auch das Kultzentrum aktiv der Prozession entgegenkommen, die Huldigung entgegennehmend und frontal repräsentierend, nicht zentral gebildet sein. Dies geschieht, indem nicht mehr von allen Seiten — das wäre immer noch in zentraler Anordnung wie beim Zentralbau mit Umgang — die Gemeinderäume sich dem Zentrum zurichten und unterordnen, sondern indem ein Schiff, das Mittelschiff, sich zu dem frontal ihm entgegenkommenden Kultmittelpunkt, der Kultnische, der Apsis, hinführt und die Gläubigen hinzwingt. 200 Die Apsis in der Proportion des stehenden Menschen, dem Stand, ist der Raum für ein vorhandenes oder imaginäres Kultbild, der Ort, in dem der Raumform nach sich eine vergegenwärtigt gedachte Person zum Mittelschiff hin, der Prozession der Gläubigen oder ihrem Ansehen zuwendet; die Apsis öffnet sich nach dem Mittelschiff hin, blickt den Gläubigen entgegen. Die Gotik hat den Zentralraum der Vierungskuppel aufgegeben und führt den Longitudinalraum, den gangartigen Längsraum mit einheitlich durchlaufendem Gewölbe ohne Unterbrechung zur Apsis. Sie verstärkt die Richtung, die Geschwindigkeit der Raumbewegung zum Altar in der Apsis durch Verlängerung des Mittelschiffesund des Chores. Sie verstärkt 197 198 199 200
V i g n o r y , Paray-le-Monial: II, 1 1 7 - 1 1 9 , 124. A u l n a y , Poitiers, St.-Martin de Boschervillc: II, 125f., 138, 152f. Toulouse, St.-Sernin: II, 139. Mantes, Sens: II, 179, 190.
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die Standesgemäßheit durch E r h ö h u n g der Schiffe 2 0 1 , durch größere Steilheit der R ä u m e u n d straffere Durchgliederung der Wände. Alle geschlossenen Mauerteile werden in Stäbe aufgelöst, i m Mittelschiff vor allem auch die Fläche unter den Fenstern vor der Mauer, die den Dachraum der Seitenschiffe v o m Mittelschiff trennt, mit Hilfe eines durchbrochenen Lauf'ganges (Triforium). M a n erreicht so, daß in jedem Wandteil die Mauer sich in Arkaden öffnet u n d deren portalartige Proportion überall das Prinzip der Verallgemeinerung, der Allöffentlichkeit des Raumes gewährleistet. W e n n man die Gotik gegenüber den Zentralbauten abgewertet und schon behauptet hat, die L ä n g s r ä u m e der Gotik seien keine Räume, so hat m a n nach modernen Prinzipien der R u h e und Behaglichkeit, d. h. des Wohnbaues, oder nach rein ästhetischen Prinzipien der R a u m h a r m o n i e geurteilt, aber übersehen, daß auch die R ä u m e nach ihrer außerästhetischen Bestimmung beurteilt werden müssen, mehr noch als die Statuen. V o n hier aus gesehen ist die gotische Kathedrale der vollkommenste Kultbau, den die Baukunst bisher hervorgebracht hat, sie ist als Bau die Kirche XOCT' I C O / T J 201
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Amiens; Beauvais; Rouen, St.-Ouen: II, 178, 192, 194f.
VI. DAS LEBENSBILD UND DAS ZUSEHEN 1. D A S W E S E N D E S L E B E N S B I L D E S
a. Z U S E H E N . S Y M P A T H I E . DAS P O E T I S C H E Das Lebensbild, das uns die Malerei vermittelt, bietet den größten Gegensatz zum Kultbild. Beim Kultbild treten wir in eine bestimmte Wirklichkeitsbeziehung zu der vom Bildner dargestellten Person, eine Beziehung der Verehrung, deren Grundlage die Ehrfurcht bildet, und einer tätigen Einwirkung des Kultes, der sich in Gebärden, aber auch schon im Ansehen, als Erfüllung einer Pflicht oder im Nacheifern in bezug auf Haltung und Gesinnung äußert, wobei es sich um das Dargestellte als Vorbild für das eigene Verhalten handelt. Beim Lebensbild handelt es sich nicht um Ansehen, durch das die gesehene Person im Bilde als Vertretung einer für das Leben bestimmenden Person Ansehen erhält oder ihre Ansehnlichkeit bekundet, sondern um reines Zuschauen. Es wird weder durch Bewunderung oder Mißfallen als ein So-sein-sollen oder Nicht-so-sein-sollen kritisiert, noch überhaupt in die Region der Kritik, der Achtung oder Mißachtung gerückt. Es wird, aus jeder Möglichkeit des Kultbildes oder Schreckbildes, des Vorbildes oder Abschreckbildes herausgelöst, allein für sich beziehungslos angeschaut, es ist ein Bild, dem zugesehen wird. Da es sich um Leben handelt, weil Lebensbild, so geht es nicht um das Gesehene in seiner äußeren Erscheinung, sondern um ein Leben, ein inneres Geschehen, einen seelischen Zustand, für den das Sichtbare nur Zeichen ist, und den wir kraft unserer eigenen seelischen Erfahrungen anhand des Sichtbaren verstehen. Dieses Verstehen, das ohne praktische Beziehung zu unserem Leben, ohne Beurteilung, wie weit es uns nützen oder schaden könnte, ohne Kritik, wie es anders und besser gemacht werden könnte, nur im Zusehen betätigt, nur miterlebt oder mitgefühlt wird, nennen wir Einfühlung. Wir fühlen uns in den Dargestellten ein und leben sein Leben mit, als wäre es unser eigenes Leben, wir versetzen uns in den anderen hinein und vergessen ganz das Gegenüber, das Du und Du. Wir erleben also ein fremdes Leben, als wäre es unser eigenes, und werden durch diese Einfühlung an Leben reicher durch ein nur passives Zusehen, ohne eigene Reaktionen, ohne freundliches oder feindliches Verhalten. Dieses Gewährenlassen im bloßen Mitleben nennen wir Sympathie, mag es sich um Freud oder Leid handeln. Dieses Leben-Vermitteln durch das Bild und das Zusehen macht das Kunstwerk nicht zur Vertretung, zur Repräsentation, sondern zum Surrogat, zur Vermittlung von Leben ohne jede andere eigene aktive Beteiligung als das Sehen, das willenlose Zusehen. Wie im Kultbild handelt es sich auch hier nicht um die Bedeutung gerade dieser Wahrnehmung, in der das Leben zur Erscheinung kommt, denn derselbe Zustand einer Seele in Trauer oder Freude, dasselbe Tun [Verhalten] kann sich in verschiedenen Wahrnehmungen offenbaren, so daß sich zwar das Sichtbare in verschiedenen, ewig wechselnden Bildern präsentiert, aber das Leben, das wir sympathisch miterleben, dasselbe sein kann. Für solche Miterlebnisse bedarf es nicht der Kunst, vor allem nicht der Bildkunst, die immer nur einen Augenblick aus einem inneren Erlebnis, einer Stimmung oder einem Geschehen festzuhalten vermag — eine Begrenztheit der Fähigkeit bildender Kunst, die Lessing veranlaßte, „Laokoon", ein ganzes Buch über die Grenzen von Poesie und Bildkunst in dieser Hinsicht zu schreiben. Die in der Zeit sich abwickelnden Kunstwerke, Musik und vor allem Dichtkunst, in der der Mensch sagen kann, was er leidet, vermag dieses Seelische ganz anders in seinem Ablauf und seinem seelischen Fluß auszudrücken, weshalb wir auch dieses innere Leben, das wir mitfühlen und durch Einfühlung miterleben, vom Standpunkt der 63
Kunsttheorie als das Poetische bezeichnen und gern in Worte übersetzen (vgl. Goethes „Väterliche Ermahnung"). Dieses Poetische gibt es auch im Leben, wenn wir v o m Leben her in gehöriger Distanz, nicht beruflich zum Beobachten und Kritisieren verpflichtet, ein Dasein oder Geschehen mit Sympathie miterleben. Beobachten im Gegensatz zum Zusehen, aber auch zum Ansehen, nennen wir das Betrachten von Vorgängen in der Natur mit Rücksicht darauf, ob und wieweit sie uns nutzen oder schaden können oder auch ganz allgemein nützlich oder schädlich sind, richtig oder unrichtig funktionieren. Das Poetische erleben wir in der Wirklichkeit, wenn wir etwa Holzfällern untätig und praktisch uninteressiert beim Schlagen eines Baumes zusehen und mit Sympathie ihr Aufgebot an Kräften, ihre Überlegungen und Ausführungen, ihr Vorführen und ihr Gelingen verfolgen, gespannt, was und wie es vor sich gehen wird. E s brauchen nicht einmal Menschen beteiligt zu sein; auch den Ameisen, die die Fichtennadeln zum Bau ihres Haufens herbeitragen, vermögen wir — vielleicht mehr Seele hineinfühlend als sich naturwissenschaftlich nachweisen ließe — mit interesseloser Sympathie zuzusehen, und selbst ein Wasserfall — der, um mit Goethe zu reden, „abstürzt und mit ungeheurem Wälzen sich den steilen W e g verkürzt" 7 5 — vermag uns zum Zusehen und Miterleben lebendiger Kräfte anzuregen.
b. M O T I V E D E R
BILDLICHKEIT.
RAHMEN, PERSPEKTIVE, RAUM D i e Frage ist deshalb nicht, ob das Poetische ein ästhetisches Objekt ist, sondern wie die Bildlichkeit als die Aussonderung nur einer der möglichen Wahrnehmungen und ihre Fixierung im Bilde, die Isolierung, Konzentrierung und Intensivierung dieser Wahrnehmung zur Beförderung des reinen Zusehens und des reinen Miterlebens, der Ausscheidung alles praktischen Interesses führt. D e n n das ist ohne weiteres klar; in der Wirklichkeit, in der N o t des täglichen Lebens sind nur selten Zeit zum Zusehen und Gelegenheit zur völligen Unbeteiligtheit vorhanden. E i n e Mutter, die dem Spiel der Kinder mit Sympathie zusieht und alles Kinderglück neidlos miterlebt, wird doch stets in Gefahr sein, weisend oder zurechtweisend einzugreifen, die Unordnung befürchtend, die das unbefangene K i n dertun in der aufgeräumten Häuslichkeit anrichten könnte, oder die nassen Füße und die zerrissenen Kleider mit hausfraulicher Sorge bedenkend. Wenn also selbst eine Mutter, die zum Gewährenlassen aus stärkster Sympathie bereit ist, schon so schwer nur zusehen kann, wie viel weniger Fernerstehende und an eigenem Nutzen Interessierte. Wie wird es der Weichmütige fertigbringen, einem Verunglückten neugierig zuzusehen, ohne ihm beizuspringen, oder der Hartherzige, ohne sich schleunigst zu entfernen, um nicht helfen zu müssen. Wie wird, ohne sich des Vorwurfes der Indiskretion auszusetzen, und sei es auch nur vor sich selber, der Fremde es wagen, durch das Fenster in eine fremde Stube zu schauen, um das Behagen seiner Insassen sympathisch mitzuerleben? Hier setzt nun die Kunst mit ihrer Bildlichkeit ein, um alle praktischen Motive auszuschließen und der Sympathie ohne Gefahren und Konsequenzen alle Schleusen zu öffnen. Während also das Kultbild, um ins Leben hineinzuwirken und auch der bildlichen Vertretung Kult zu verschaffen, mit allen Mitteln dahin drängt, als Wirklichkeit zu erscheinen, deshalb den Zusammenhang mit der Realität der Architektur sucht und lieber in der greifbaren Realität der Plastik auftritt als im Gemälde, strebt das Lebensbild zu wirklichkeitsferner Bildlichkeit, zum Imaginismus. Das Lebensbild bedarf der ästhetischen Isolierung. Dies geschieht durch den isolierenden Rahmen, der das Bild von der Wand abhebt, aus der Architektur der Umgebung herauslöst und es als eine ästhetische Sphäre, als etwas nur zu Sehendes auf sich stellt und praktische, d. h. vor allem auch kultische Wirkungen ausschließt. Während das Kultbild, auch das gemalte, durch den Rahmen zwar betont, als etwas Außerordentliches, d. h. aus der Ordnung des Alltäglichen Herausfallendes und über das Gemeine Erhobenes, Erhabenes, sich absondert, benutzt es doch den Rahmen, um durch dessen architektonische F o r m — Nische, Tempelchen (Aedicula), Relief — im
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architektonischen Raum die Beziehung zur Wirklichkeit zu gewinnen. 2 0 2 Der Rahmen des Lebensbildes dagegen ist ein neutraler Rahmen, ohne Architektur rings das Bild umlaufend, an jeder Stelle nichts als die Abhebung von der Umgebung und die Einführung in das Lebensbild hinein bewirkend. So entsteht das transportable Tafelbild als Bildform des Lebensbildes, das durch seine Transportabilität schon anzeigt, daß es nicht zu dem Ort gehört, an dem es zufällig erscheint, sondern ein von örtlicher und zeitlicher Gegenwart unabhängiges Fürsichsein hat. 203 Während das Kultbild also in den wirklichen Raum als daseiend, herrschend hineintritt und die Architektur selbst Raum dafür bereitstellt, also einer täuschenden Perspektive gar nicht oder nur insoweit bedarf, um die Illusion eines Kultraumes innerhalb der wirklichen Architektur zu erwecken, bedarf das Leben, das im Bilde nur zum Zusehen dargestellt ist, eines Eigenraumes, der der Raum des dargestellten Lebens, nicht aber unser eigener Lebensraum ist. J e tiefer die der Wirklichkeit entrückende Perspektive ist, desto reiner kann sich das Zusehen vom Ansehen befreien und das reine Miterleben zur Geltung bringen. 2 0 4 Die Raumperspektive, die zwar schon bei gemalten Plastiken in einer gemalten Nische früh geübt wird, wird doch erst eigentlich aktuell und malerisch technisches und wissenschaftliches Problem in dem Augenblick, wo sich das Kultbild in das Lebensbild verwandelt, d. h. in der römischen Malerei 2 0 5 im Gegensatz zur archaischen und klassischen griechischen Malerei und in der Renaissance im Gegensatz zur Malerei des Mittelalters. Perspektive ist deshalb nicht ein nur technisches Problem, sondern ein ästhetisches oder Stilproblem. Erscheinen dann die Gegenstände im Bilde unmittelbar hinter dem Rahmen in einer Größe, die weit unter dem Maß bleibt, das wirkliche Gegenstände hinter dem Rahmen, wäre er ein Fenster, haben müßten, dann werden sie nicht nur in eine weite Ferne entrückt, sondern in eine ganz andere Daseinssphäre, eine Form, die nichts mit unserem Raum zu tun hat, sondern eine poetische, eine erdichtete Welt ist. Dies steht im stärksten Gegensatz zu den Fresken Mantegnas in der Eremitani-Kapelle in Padua 206 , w o die Figuren lebensgroß gleich hinter dem architektonischen Rahmen illusionistisch in unserem Raum erscheinen. A m stärksten isoliert sich das dargestellte Leben von allem Kult und allen Wirklichkeitsbeziehungen durch einen dargestellten Raum, der durch seine Ausstattung, seien es Möbel eines Innenraumes, Häuser und Straßen einer Stadt oder eines Dorfes, oder Bäume, Wege, Gewässer einer Landschaft, die mit dem Beschauer nichts zu tun haben, gänzlich aus dem Milieu des Betrachters, seinem Hause, seiner Kirche herausfallen und allein dem dargestellten Leben als charakteristische Daseinssphäre, als seine Welt zugehören. Deshalb wird in dem Augenblick, wo sich das mittelalterliche Kultbild in das Lebensbild verwandelt, der Heilige aus der kahlen Altarnische oder von den Pfeilern und Wänden des Portales oder dem Tympanon in ein eigenes Wohnzimmer mit individueller Ausstattung entrückt (der Heilige im Gehäuse), wo er nur seiner eigenen Beschäftigung nachgeht, die alles andere ist als Repräsentation für den Betrachter. 207 Die Entrückung der mitzuerlebenden Personen aus der Daseinssphäre des Betrachters bedingt, daß auch in Haltung und seelischer Verfassung der Personen jede Rücksicht auf einen Betrachter, jedes ihm Gefallen- oder ihn kultisch Beeinflussen-wollen entfallen muß. Aller Anschein, als komme der Dargestellte dem Betrachter aus dem Bilde entgegen, jede Frontalität, jedes Ausgerichtetsein auf den Beschauer, wirkt der Isolierung des Lebensbildes als eines fremden Lebens, das uns uns selbst vergessen läßt und in eine fremde Welt versetzt, entgegen. Deshalb werden Seiten- oder gar Rückenansichten 2 0 8 — sofern sie nur nicht das mitzuerlebende fremde Dasein unverständlich machen — im Lebensbild die Regel. Vor 21.2 21.3 201 205
Daphni, Monreale, Cefalù; N a u m b u r g : II, Taf. IV, 29, 4 3 4 ; 335. V g l . ein Pseudo-Tafelbild in Pompeji: I, 897. van der Neer, W i n t e r ; K r ü g e r , Parade: II, 740, 983. Boscoreale, Pompeji: I, 894, 898.
206
II, 4 9 3 .
207
Hl. H i e r o n y m u s (Antonello, Dürer, Carpaccio): II, 34, 561, 596f. Ostade, Terborch, K e r s t i n g : II, 738, 753, 975.
208
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allem geht der Blick der dargestellten Menschen in den eigenen Raum hinein, zu den Menschen, die mit ihm im Raum verweilen und mit denen er seelisch verbunden ist, zu den Gegenständen, mit denen er sich beschäftigt, in den Raum selbst, dessen Stimmung er genießt, in die Landschaft, die er durchschreitet oder schließlich in sich selbst, dessen Inneres voll ist von Gefühlen oder Reflexionen über Gott und die Welt oder sich selbst. 209 Auch verträgt sich das Lebensbild nicht mit dem, was in dem Tun oder dem Verhalten des Dargestellten in die Sphäre des Kultischen oder Vorbildlichen hineinführt. Sobald die dargestellten Personen durch ihre Körperlichkeit oder ihr Benehmen sich als uns übergeordnet erweisen, werden wir zur Ehrfurcht, zum Respekt, angeregt, sie rücken in den Rang einer Vertretung hinein und verpflichten uns in unserem realen Dasein, rücken deshalb in die Rolle des Verpflichtenden hinein und aus dem Bereich des rein Poetischen heraus. Wir scheuen uns, sie als unseresgleichen zu betrachten und uns in sie mit Sympathie hineinzuversetzen. Denn das steht uns nicht zu, sie dürfen sich nicht mit uns gemein machen, oder aber sie sind uns als heilige Personen bekannt, werden aber, wenn wir fromm sind, wegen ihres unheiligen Benehmens von uns kritisiert und ihres Nimbus' als Heilige entkleidet, wenn sie in ihrem Privatleben belauscht werden. Vor seinen Kammerdienern ist bekanntlich der König nicht mehr der König. Vertraulichkeit des Mitlebens, der Sympathie, schadet der Würde und Hoheit. Deshalb ist die Wandlung des Kultbildes in das Lebensbild zugleich ein Zeichen für die Auflösung des Kultischen in der religiösen Sphäre, ein Protest gegen Überordnung und Unterwerfung unter ein Höheres, gegen Ehrfurcht. Das Heiligenbild in der Form des Lebensbildes ist die Kunst des Protestantismus.
c. N A T U R . N A T U R A L I S M U S Die Vorbildlichkeit aber als Inhalt eines Lebensbildes, d. h. im Eigenraum und in der privaten Sphäre des Untersichseins, schafft eine Ordnung gesellschaftlicher Art, durch die wir beim Einfühlen und Zusehen in einen Orden aufgenommen werden, eine Gesellschaft, die uns zu dem von der Konvention vorgeschriebenen Benehmen verpflichtet und damit wieder aus der reinen Bildlichkeit in die Wirklichkeit hineinführt, zur Bewunderung und Nachahmung, statt zum reinen Zusehen. Die Lebensform, die alle kultische Über- und Unterordnung vermeidet, die alle Vorbildlichkeit, alle formende Form, Ritus und Konvention beiseite läßt, nennen wir Natur. Das Lebensbild ist naturalistisch, sein Stil Naturalismus. Naturalismus ist also nicht einfach Darstellung von allem außer uns Seiendem. Natur ist nicht das schlechthin Vorgefundene. Denn auch die Darstellung einer der Wirklichkeit entsprechenden höfischen Zeremonie oder einer galanten Szene ist deshalb noch nicht naturalistisch. Erst wenn die dargestellten Personen oder Situationen, die Umgebung des Menschen, Architektur eingeschlossen, sich ohne jede bindende ehrfurchtheischende oder vorbildliche Form präsentieren, ist Natur da 2 1 0 ; Natur, die schon das Mittelalter als den religiösen Normen widerstreitend, deshalb als das Böse empfand, und die das Altertum ignorierte. Natur ist deshalb das, was sich ohne religiöse und gesellschaftliche Normen entwickelt, das Form- und Zwanglose, das, was ohne Gebot und Vorschrift sich von selbst entfaltet, der Mensch, der sich zu Hause oder in der Landschaft gehen läßt, der einsame Mensch eher als der Mensch im Verkehr mit anderen, weshalb die Einsamkeit, d. h. die völlige Nichtberücksichtigung der Gesellschaft, ein Lieblingsthema des Naturalismus wird 2 1 1 , der Mensch in der Familie eher, als der Mensch in der Öffentlichkeit, das zufällige Durcheinander einer Menge eher, als eine Prozession. 212 Deshalb sind Stände, die einen niedrigen 2n!l 210 211
212
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Geertgen, Johannes der Täufer: II, 6 1 6 . Paradiesesgärtlein, A l t d o r f e r : II, 460, 577. Rembrandt; Engert, Spitzweg, Waldmüllcr; K r a f f t , Kersting, K l e i n ; C o r o t ; II, 7 3 3 - 7 3 5 ; 987 — 989, Mem. A b b . 6 8 ; II, 9 7 4 - 9 7 6 ; 1 0 0 0 f . ; Mcm. A b b . 69. Gebrüder Limburg, Rembrandt, A e r t van der Neer: II, 452, Taf. X I V , 740.
Rang einnehmen oder durch ihre Arbeit nicht zur Pflege gesellschaftlichen Lebens Gelegenheit haben, wie die gemeinen Soldaten, die Landsknechte bei ihrem Luderleben in Kneipen und Bordellen 213 , die Bauern mit ihren Rüpeleien oder ihrem Sichgehenlassen 214 , für das Lebensbild und seinen Naturalismus geeigneter als Offiziere und vornehme Personen. Zigeuner (Abb. 29) 215 als freie, ungebundene Menschen, die in der Welt umherschweifen wie die Tiere des Waldes, werden als Boheme ein Ideal der natürlichen Lebensweise und entsprechend Vorwurf für Lebensbilder. Von Europens übertünchtet Höflichkeit nicht angekränkelt, sind die Wilden einem natürlichen Leben näher als die zivilisierte, verbildete Menschheit. Moderne Natursehnsucht flüchtet in das Leben der Südseeinsulaner. 2 1 6 Vor allem aber ist das Kind mit seinen instinktiven Regungen und seinem naiven Tun, das noch keine Konvention kennt, der Natur näher, und deshalb ist der Mensch geneigt, an diesem Leben mit Rührung, mit Sympathie auch im Bilde, kritiklos teilzunehmen. Der italienische Putto der Frührenaissance ist ein besonderer Ausdruck dieser Kinderliebe der Erlebniskunst (Abb. 30) 217 , und im Bilde der Anbetung des Kindes hat sich die Umwandlung des kultischen Marienbildes in ein Lebensbild der freien unkirchlichen Kunst in erster Linie vollzogen 2 1 8 , in zweiter in den Darstellungen der Geburt Christi, der Maria oder des Johannes. 2 1 9 Natur ist aber auch der Gegensatz zu allem von Menschen Gemachtem, zu den berechneten, konstruierten Produkten, den Werkzeugen, Geräten, Werkstätten, Fabriken und Beförderungsmitteln, den Bahnhöfen und Schienensträngen. Hier gibt es nichts mitzuerleben, sondern nur zu beobachten, zu prüfen auf seine Brauchbarkeit, auf seine Richtigkeit hin zu kritisieren oder festzustellen. Natur ist dagegen das frei Gewachsene, zwanglos sich Entfaltende, ohne Berechnung Gewordene wie die Hügel und Täler in der Landschaft, die Bäume im Walde und auf der Heide, die Pflanzen und Kräuter am Wege und auf der Wiese. Ohne Konvention, rein instinktiv, so glauben wir, vollzieht sich das Leben der Tiere, sofern sie nicht vom Menschen ins Joch gespannt, in Käfige oder Ställe eingesperrt und zu unnatürlichen Kunststücken abgerichtet sind. Dieselbe Deutung aber, die das Magische auch im Leblosen als kultfordernde Kraft wirksam glaubt, Verehrung und Beschwörung hervorruft, deutet auch das freie Wachsen und Leben in der Natur, das natürliche Dasein von Baum und Pflanzen als lebensvolles, nacherlebbares Innere aus. So wird die Landschaft, das Tierbild und das Pflanzenstilleben zum bevorzugten Gegenstand der Kunst des Lebensbildes. Erst im Lebensbild wird die Landschaft zum Hauptgegenstand der Malerei, als Urtyp der Natur und ihrer Mittelbarkeit. 2 2 0 Denn das ist das Letzte und Wichtigste, daß im Lebensbild Raum und Landschaft nicht wie im Kultbild nur als Hintergrund wirksam werden, und erst durch die dargestellten Menschen ihren Sinn bekommen, sondern daß sie als Art menschlichen Erlebens und Träger von Stimmungen, die sich auf den Menschen übertragen, ihm bestimmte Lebensgefühle, emotionaler und depressiver Art, vermitteln, nun auch selbständig als Raum — Innenraum — oder Landschaftsbild auftreten können und somit als ein Eigenleben des Innenraumes oder der Landschaft erlebt werden können.
Codde: II, 719. Brouwer, Ostade: II, 724, 737. Vgl. auch „Kunst als Protest" in Mem. 215 Mem. Abb. 65. 216 Gauguin: II, 1057. 217 Donatello, Lochner, Ghirlandajo, Altdorfer, Cranach: II, 475, 520, 538, 5 7 5 - 5 7 7 , Taf. XIII. 2 1 8 Gentile da Fabriano, Jan van Eyck: II, 451, 472. 219 Nicolo und Giovanni Pisano, Sassetta, Meister des Marienlebens: II, 444f., 481 f. 220 Man erwartet hier eher „Unmittelbarkeit" im Sinne von Freiheit und Spontaneität. Mittelbarkeit würde nur als Interpretationsfähigkeit der Natur, Natur als Deutungsgegenstand genommen, im vorliegenden Zusammenhang einen Sinn ergeben. Es handelt sich doch wohl um einen übersehenen Hör- oder Schreibfehler. Wahrscheinlich stand im Manuskript „Mitteilbarkeit" (wovon der folgende Satz handelt). 213 214
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d. M E N S C H L I C H K E I T Welcher Art aber sind die Menschen, die das miterlebbare Leben vermitteln und zur Einfühlung auffordern, d. h. welches sind die sympathischen Menschen? Sicherlich nicht jene, die sich hochmütig über uns erheben und Unterwerfung fordern, noch jene, die sich stolz vor uns verschließen und nicht in ihr Inneres hineinblicken lassen, die nicht wollen, daß man ihnen zusieht, die angesehen werden wollen wie die Kultfiguren besonders der archaischen und klassischen, aber auch der barocken Zeit, auch nicht die, die uns bevormunden und stets an unserer Haltung etwas auszusetzen haben, durch ihre vorbildliche Korrektheit unsere Inkorrektheit rügen oder unsere Eifersucht anstacheln, sondern die, die bemitleidend oder bemitleidenswert als unseresgleichen oder unsere Nächsten keine Ansprüche an uns stellen, vielmehr ungezwungen ihr eigenes Leben leben und vor uns ohne Falschheit und Verstellung zum Zusehen oder Mitfühlen ausbreiten. Je weniger es nach außen herausdringt als ein Tun, dessen Konsequenzen zu beurteilen sind, je mehr es nur Gefühl, Innerlichkeit, im Eigenpersönlichen beschlossene Stimmung ist, desto leichter ist es mitzuerleben, desto sympathischer ist es, am leichtesten, wenn die dargestellten Menschen selbst ihre Gefühle von dem sympathischen Zusammensein mit Menschen herleiten, die sich nahestehen, wenn sie also einander mit Zärtlichkeit und Anteilnahme am gegenseitigen Befinden zusehen, vom Miteinanderleben ihre Freude oder Stimmung beziehen. Deshalb spielt die Familie (die Brüderlichkeit) in der Erlebniskunst eine so große Rolle. 221 Die heilige Familie ist ein Hauptthema des protestantischen Naturalismus. Die innigste Teilnahme von Mensch zu Mensch aber ist die von Mutter zu Kind, die Mütterlichkeit anstelle der kultischen Damenhaftigkeit der Madonna, auch sie das schönste Thema der protestantischen Kunst, wenn sie ohne Rücksicht auf die Gläubigen und die Welt da draußen, naturverbunden an einer Hecke einsam sitzt und nur den natürlichen Trieben der Mutter, ohne Rücksicht auf Schönheit und Haltung als schlichte Frau aus dem Volke, mehr Matrone als Jungfrau, nachgibt. 222 Diese Eigenschaft der Menschen, nicht mit Haltung und Würde den Willen zu spannen, nicht geschäftig seine Intelligenz auf den Profit einzustellen, seine Kraft für die Arbeit einzusetzen, sondern mit der Weichheit des Gemütes, mit der Seele, nicht mit Geist empfänglich zu sein für Leiden und Freuden, für Stimmungen und Gefühle, vor allem aber für die Freuden und Leiden anderer, also teilnehmen zu können an dem seelischen Verhalten und Gemütszustand der anderen, gewährenlassen und tout comprendre pour tout pardonner, das alles nennen wir als Verhalten menschlich und als Eigenschaft Menschlichkeit. Diese Eigenschaft geht am weitesten dort, wo sie auch das Nichtmenschliche, Tiere, Pflanzen, die ganze Natur, in ihr mitfühlendes Verstehen einschließt und von dem eigenen Gefühl ihm Gefühl und Menschlichkeit leiht, von dem die Wissenschaft, die kühle Beobachtung, nichts nachzuweisen vermag.
e. B I L D U N G U N D D I C H T U N G Da nun aber auch der bildbetrachtende Mensch, der im Verstehen von Lebensbildern sein Leben lebt und sein Leben bereichert, dieses Menschsein repräsentiert, ja, es am reinsten verkörpert, so gehört zur Menschlichkeit auch die Fähigkeit und Willigkeit, sich solchen Lebenssurrogaten, dem Poetischen im Kunstwerk, hingeben zu können und diese Menschlichkeit im Verstehen von Lebensbildern, den Kunstwerken, zu beweisen. So wird die Menschlichkeit zugleich eine Frage der Bildung. Gebildetsein heißt also, alles verstehen und mitfühlen zu können, was Bildung durch den Künstler an Lebensbildern und Poesie für die 221 222
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Ortenberger Altar, Witz, Cranach, Milde: II, 459, 483, Taf. XIII, 986. Dürer, Campin (London) : II, 480, 563.
Menschheit bietet und geboten hat. Zur Bildung gehört also sehen, lesen, hören können und dazu geboren sein, „zum Sehen geboren, zum Schauen bestellt". Zum Verstehen des Kultbildes gehört keine Bildung, nur Glaube an etwas. Auch der einfachste Mensch weiß, wie er sich dem Nächsten im Leben gegenüber zu verhalten hat. Um aber den Reichtum der Kunst an Lebensbildern zu verstehen, die ja nicht die Allgemeinheit der weithin sichtbaren Monumentalität und die Einfachheit des allgemeinverständlichen Ausdruckes besitzen, sondern die Besonderheit des immer neuen, besonderen, individuellen Lebens in der Sprache der Bildkunst, der Dichtung und Musik, muß man nicht nur selbst reich an inneren Erlebnissen und seelischen Erfahrungen sein, ein wahres Menschtum besitzen, sondern auch alle Sprachen verstehen, in denen sich das Lebensbild ausspricht. So ergibt sich die merkwürdige Antinomie, daß die Kunst des Lebensbildes, die auf allen Wegen die Natur sucht, für das Verständnis dieser ungekünstelten Natur den künstlerischen Menschen als Schöpfer und den gebildeten Menschen, d. h. den kunstliebenden Menschen, das Produkt höchster Erziehung und Ausbildung, den polygotten Bildungsmenschen, voraussetzt. Natur und Natürlichkeit sind selbst nur ein Ideal des Bildungsmenschen, Natur ein Kunstprodukt, das den einfachen, den Naturmenschen am wenigsten interessiert. Der Naturalismus des Lebensbildes ist ein Produkt der Geistigkeit des Kulturmenschen, eine romantische Angelegenheit, Natur selbst eine Dichtung der Romantik. Denn auch die Wahrheit, deren sich der Naturalismus des Lebensbildes rühmt gegenüber der Idealität des Kultbildes, hält vor der Wirklichkeit nicht stand. Die kultischen Funktionen von Form und Haltung sind ja im Leben da, sind Wirklichkeit, im Bilde gesteigerte Wirklichkeit und Tatsache für den Ehrfürchtigen, den Gläubigen. Aber die Menschlichkeit, die der Gebildete in der Natur sieht, der Künstler in die Natur hineinlegt, ist Produkt des Bildens, der Bildung, nicht Tatsächlichkeit, die einfach wiedergegeben ist. Daß die Natur, ein Sonnenaufgang, eine Mondscheinnacht, Gefühle, Stimmungen hat, daß die Frühlingslandschaft heiter oder erquickend ist —„denn alles ist erquickt, uns zu erquicken" — daß die Herbstlandschaft schwermütig ist, vermag keine Wissenschaft zu beweisen. Der Bildende legt diese Gefühle in sie hinein, und daß die Natur frei, ungezwungen ist, der Mensch von Natur gut, d. h. menschlich ist, ist ein frommer Wunsch, der sich nur in der Dichtung, als Poesie erfüllt, sonst würde die Erlebniskunst den Bauern nicht immer im Ausruhen, in der behaglichen Stube oder im Wirtshaus zeigen statt bei der Feldarbeit, die doch sein wahres bäuerliches Leben, d. h. wahrhaft bäuerlich ist. Als Goethe sein eigenes gefühlsreiches Leben, sein menschliches, allzumenschliches Leben der Welt zum Miterleben veröffentlichte, nannte er es Wahrheit und Dichtung. Daß es auch im Naturalismus nicht auf Wahrheit ankommt, weniger als im Grunde in der Kultkunst, wo doch der Gläubige verlangt, daß die Vertretung dem Bilde entspricht, das der Gläubige von seinem Herrn im Herzen trägt, für den Kult wirklich da ist, während vom Lebensbild gerade die Vorstellung, daß es wirklich sei, ausgeschlossen bleiben soll, beweist ja auch gerade die Konzentration, die das Nachzuerlebende, selbst wenn es sich auf ein wahres Ereignis beziehen konnte, durch das Kunstwerk erfährt. Nicht umsonst trägt das Poetische den Namen der Dichtung, d. h. der Verdichtung, der Konzentration dessen, was im wirklichen Leben nie ohne Pausen, ohne Nebengeräusche, ohne gleichgültige Zutaten, ohne langweilige Längen, ohne nichtssagende Intermezzi und Ablenkungen vor sich geht. Die Revolutionskunst, die in den achtziger Jahren gegen den falschen Schein des Lebensbildes, der Dichtungen, sich richtete, gegen die Verlogenheit der Poeten die Wahrheit des Berichtes setzte mit den Gedankenstrichen der Pausen, dem Räuspern und Rülpsen, den Ach's und Oh's der unartikulierten Laute, die also eine Art phonographischer Lebensaufnahme anstelle der künstlerischen Verdichtung setzen wollte, konnte weder spannend noch interessant sein, noch wirkliche Teilnahme, Miterleben und Mitgefühl mit dem Geschilderten erwecken, worüber auch die befriedigte Konstatierung „so ist das Leben" nicht hinwegzuheben vermochte. 223 Die Malerei bleibt natürlich immer hinter der spannenden Konzentration in Raum und Zeit einer guten Dichtung, eines Schauspiels, Films oder Romans zurück. Aber die Konzentration, die sie vollzieht, ist auch unabhängig von der Wahr223
Hamann-Hermand, Naturalismus, Berlin 1959.
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heit des Geschehens insofern, als schon durch die Verkleinerung im Tafelbilde sich der dargestellte Lebensgehalt, die Beziehung v o n Personen untereinander, eine Person allein mit ihren Gefühlen sich mit der Deutlichkeit des Nahbildes in einer Übersicht, in einer mit einem Blick zu erfassenden Ganzheit darbieten wie niemals in Wirklichkeit. Besonders die Landschaft, das Ideal der Naturdarstellung im Lebensbild, kann außerhalb der Unwirklichkeit des Bildes nie in der physiognomischen Einheit nacherlebbarer Individualität, nie in der erinnerungsgesättigten Totalität eines Landschaftsschicksals erlebt werden wie im Bilde. Ohne den Eindruck der Natur als des Ungezwungenen, Ungeregelten, Individuellen zu zerstören, kann der Künstler alle Elemente des Sichtbaren zu einer Totalität und Stimmungseinheit v o n R a u m und Staffage oder menschlichem Geschehen und Hintergrund und v o n Temperatur der Farben zusammenfügen, die die zufällig gesehenen, vorgefundenen, bestehenden Wirklichkeitsfragmente erst zur Einheit nacherlebbarer Natur verbinden. In einem Bilde wie „ J a k o b s S e g e n " v o n Rembrandt 2 2 4 ist die Verbindung aller Personen im ergreifenden G e f ü h l familiärer Einheit und lebensvoller Entscheidung, die Setzung der Akzente in b e z u g auf Haupt- und Nebenpersonen, die Auswahl des fruchtbarsten, Vergangenheit und Z u k u n f t in einem Augenblick zusammendrängenden Momentes, die malerische Z u s a m m e n d r ä n g u n g bedeutungsschwerer Gestalten in eine einzige K r a f t so sehr reinste künstlerische Dichtung, so erhabenste Poesie, daß keine Wahrheit zugesehenen Geschehens in der Wirklichkeit so natürlich im Sinne des Lebensbildes sein könnte. I m Genrebild hat der naturalistische Künstler die Wahl, aus einer U n s u m m e v o n E r f a h r u n g e n und Wahrnehmungen die wirksamsten und einander am meisten entsprechenden zu einem naturwahren Bild erlebten Lebens zusammenzufügen, das sich in keiner Wirklichkeit je vorfinden würde. Die K u n s t v e r m a g schon durch die Z u s a m m e n d r ä n g u n g , die Konzentration, des nacherlebbaren Lebens, des Lebens im Bilde gegenüber dem wirklichen Leben, zu steigern, es zu intensivieren. D i e s e Intensivierung kann schon durch rein bildliche Mittel erfolgen, durch strömende, tanzende, gebrochene Linien, durch die lastend dumpfen oder leicht beschwingten, die schwer zusammenhaltenden oder unruhig aufgelösten F o r m e n , die jubilierenden oder trübe resignierenden Farben, sofern sie mit dem nacherlebbaren Inhalt des Dargestellten zusammengehen, oder es auch durch schrille K o n t r a s t e hervorheben. I m positiven oder negativen Lebensgefühl, im Leid oder in der Freude, b e k o m m t das Leben im Bilde Farbe und kann das Miterlebte lebhafter werden als das real Erlebte, wohlgemerkt, w o es auf das bloße Zusehen a n k o m m t , nicht auf R ü h r u n g oder Verzweiflung, die dauernd in unseren Lebensablauf antreibend oder lähmend eingreifen, und nicht mit der Betrachtung, dem Zusehen, ihr E n d e nehmen. Sicherlich gibt es Unglücksfälle des Lebens, reale Erlebnisse, die über alle Poesie und Dichtung hinaus uns erschüttern; aber dann auch immer so, daß wir entweder gelähmt sind, der Geist für eine Weile still steht, oder aber wir eingreifen müssen, dem Rad des Schicksals in die Speichen fallen, sollen wir nicht herzlos sein wie die Cäsaren, die sich in der Arena an dem Schmerz der v o n Tieren zerrissenen Opfer weideten.
f. I N D I V I D U A L I T Ä T U N D
INTIMITÄT
D i e Isolierung des Kunstwerkes, die das Lebensbild aus aller Wirklichkeit unseres Daseins so herauslöst, daß wir nicht einzugreifen brauchen, ja nicht können, verlangt ja, daß das Bild des unseren A u g e n gebotenen Lebens außerhalb des uns v o m Leben her Bekannten steht, kein Bericht über Leiden und Freuden der uns in Wirklichkeit nahe stehenden Personen ist, sondern das Unbekannte, Neue, oder nicht für uns Dagewesene. D a m i t ist v o n selbst die Lebenskunst — man denke an die Romane, die man nur einmal liest und die stets neu sein müssen, sollen sie noch interessant sein — auf die spannende Intensivierung des N e u e n angewiesen. D a s Kultbild dagegen verlangt ja immer dieselben Personen, die bekannten Mächte der Verehrung, und beschränkt sich selbst in der Wiedergabe des Bekann224
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Rembrandt, Abb. 254.
ten auf das Typische, allgemein Verbindliche und Wirksame. Für das Kultbild ist die Interessantheit des Neuen eine Hoheitsminderung. Gott und die Heiligen wollen nicht interesssant sein, sie können es nur auf Kosten ihrer Heiligkeit und Monumentalität. Ein einziges, in bezug auf repräsentative und monumentale Wirkung gelungenes Kultbild könnte für alle gleichartigen Kultgelegenheiten seinen Zweck erfüllen. Es will erheben und erbauen, nicht neues Leben vermitteln. Jeder erinnert sich deshalb der ermüdenden Wirkung der Heiligenbilder in Galerien auf alle die, die nicht mit kunsthistorischen Fragestellungen an sie herantreten und nicht erhoben, sondern interessiert sein wollen und nach neuen Erlebnissen im Miterleben jagen. Die Individualität des immer wieder Besonderen, die für die Isolierung des Lebensbildes so wichtig ist, Individualität nicht nur der einzelnen Personen, sondern auch des Vorganges, des Personenzusammenhanges, der Umgebung, des Raumes, der Landschaft, sichert schon von vornherein dem Lebensbild die intensivierende Spannung des Neuen und der Neuigkeiten, nach denen die von Surrogaten zehrenden, an Miterlebnissen sich bereichernden Bildhungrigen so gierig sind. Dennoch müssen wir uns bewußt bleiben, daß das sympathische Miterleben ja nicht auf das Bild und seine Originalität beschränkt ist, sondern im Leben sich besonders stark im Kreise derer vollziehen kann, die einander nahestehen, wie die Glieder einer Familie. Die sympathische Teilnahme an dem Leben des Nächsten, seinen Gefühlen und Stimmungen, seinen Freuden und Leiden, das Gewährenlassen seiner natürlichen Äußerungen ohne Konvention, ist ja unter den nächsten Bekannten am stärksten, freilich selten, ohne ganz auf direkte aktive Lebensbeziehungen zu verzichten, wie Erziehung, Liebe oder helfendes Eingreifen. Aber auch diese Sympathie zum Bekannten als ein Zusehen und verstehendes Gewährenlassen und Anteilnahme kann das Bild vermitteln. Die Individualität, die den Dargestellten als nur unseren Bekannten darbietet und ihn im Gegensatz zum allgemeinen bekannten typisierten Kult- oder Vorbild nur von dem ganz verstehen läßt, dessen Bekannter er ist, führt zu der Kategorie des Porträts und des Historienbildes, die uns vom Leben und von Ereignissen aus dem Leben des Bekannten berichten. Auch die Tiere, Pflanzen, Gegenden können porträtiert werden. Mit Rücksicht auf den Unterschied zum Porträt als dem für einen oder wenige Bekannte Dargebotenen bezeichnen wir das sympathisch ohne Beziehung auf einen Bekannten Dargestellte als Genre (das Allgemeine), als Menschen-, Tier- und Pflanzengenre, und, wenn es sich um die Umgebung des Menschen ohne die Menschen selbst handelt, die aber doch menschliches Leben ausströmt, Stimmungen vermittelt, als Interieur, Landschaft, Stilleben. Da aber diese Anteilnahme des Miterlebens, des Zusehens, immer ein enges Verhältnis zu dem Gesehenen voraussetzt oder schafft, Bekannte im Bild vermittelt oder Bekanntschaften schafft, so nennen wir diese Kunst der intimen, nicht öffentlichen — d. h. nicht Kultbeziehungen oder politische oder Geschäftsbeziehungen herstellenden — Anteilnahme „intime Kunst", mit um so mehr Recht, als diese Sympathie ja immer auch ein Eindringen in das Innere der Dargestellten, die Innerlichkeit, voraussetzt und in den Eigenraum, den stillen Winkel, das Refugium, die eigene Sphäre, das Alleinsein oder die Einsamkeit eindringen läßt, ein Eigenraum, der auch die Landschaft mit ihrer den Menschen von den Menschen absondernden und vereinsamenden Wirkung in sich schließt. Intimität, nicht Publizität, ist also auch eine Eigenschaft der Lebensbilder. Menschen, die als öffentliche Funktionen wirken wollen, sind nicht die geeigneten Vertreter der Menschlichkeit des sympathischen Miterlebens, sind unsympathisch. 2. D A S P O R T R Ä T Das Porträt ist der Gegenpol zum Monument. Nicht jede Darstellung einer Person, die als bekannt vorausgesetzt wird und zum Gedenken oder zur Erinnerung für jemand, der ein Bild von dieser Person haben möchte, geschaffen wird, ist deshalb schon ein Porträt. Porträt ist die Darstellung einer Person in ihrer ganz auf sich selbst bezogenen Eigentümlichkeit, die nur miterlebt werden kann, nur einfühlend verstanden wird, nicht aber uns imponieren soll in kultischer oder vorbildlicher Haltung. Porträt also im Gegensatz zum (}
Hamann
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Monument ist die erlebniskunstmäßige Darstellung der Person in ihrer völligen Eigenheit und Einzelheit, ohne jede Beziehung zur Gesellschaft und zum Betrachter außer der, daß der Betrachter sie versteht, weil er sie kennt, weil sie sein Bekannter ist und er deshalb ihr zusehend mit ihr leben, mit ihr fühlen kann. Porträthafte Darstellung ist deshalb das Äußerste an Intimität von Personen zueinander, die darin besteht, daß der eine dem anderen zusehen darf, keine Geheimnisse vor dem anderen hat, daß er sich ihm ohne Maske zeigt. I m Gegensatz zur Verallgemeinerung des Monumentes und des repräsentativen Bildes stellt das Porträt das Äußerste an Individualität, an Besonderheit der sichtbaren Gestalt dar, weil der Bekannte sonst den Bekannten nicht als seinen Bekannten, als nur diesen oder jenen und keinen anderen, wiedererkennen würde, wie umgekehrt, wie wir noch sehen werden, auch nur der Bekannte die Besonderheit ganz zu sehen, zu verstehen und zu würdigen vermag. D e n n die Sympathie, die den Bekannten, den Intimus, mit dem Betrachter verbindet, denn nur von solchen wünschen wir ein Porträt, setzt ja nicht nur eine originelle äußere Bildung voraus, sondern ein Inneres, das uns in der äußeren Gestalt entgegentritt, ein individuelles Temperament, einen individuellen Charakter. Individualität aber bedeutet, ein Eigener sein, etwas Besonderes, von allen Verschiedener, aber nicht das allein, es bedeutet zugleich ein Ganzes sein, etwas Zusammengehöriges, das weniger in den einzelnen Teilen, blauen, grauen oder braunen Augen, gerader oder gebogener, langer oder kurzer, gestülpter oder gesattelter Nase, wulstigen oder schmalen, geschwungenen oder geraden Lippen, als in dem Verhältnis dieser Gesichtsteile zueinander seine Besonderheit hat und zu dem wird, was wir in bezug auf das Porträt als Physiognomie bezeichnen. Physiognomie als unteilbar Zusammengehöriges und sich von allen anderen Unterscheidendes ist die Grundlage des individuellen Porträts, im Gegensatz zum Typus des Kult- und Vorbildes, aber auch des Dämonen- und Schreckbildes. D a Physiognomie als absolut Einmaliges und Besonderes das absolut Unberechenbare ist, sodann aber auch in einem lebendigen Gesicht nie in einem Augenblick dasselbe wie im anderen gesehen wird, so läßt sich auch nicht beschreiben, was nun eigentlich die Physiognomie in einem Gesicht ist und die Individualität der Person darstellt. Jedenfalls gibt es viele Besonderheiten in einem Gesicht, die nicht die Physiognomie sind, wie z. B. die Gesichtsfarbe. I m Erblassen oder Erröten verändert sich wohl das Gesicht, aber nicht die Physiognomie. Muttermale, Narben, Warzen entstellen die Physiognomie, aber bilden sie nicht (Abb. 31). W o h l kann man an besonderen Merkmalen, wie diesen entstellenden Einzelheiten, eventuell die Identität eines Menschen mit einer gesuchten Person feststellen oder die Erkenntnis sichern, daß er dieser und kein anderer ist — im Gefängnis tut es eine Nummer, wie man sie Tieren einbrennt, ein Merkmal wie der Daumenabdruck —, aber das hat mit Physiognomie und Individualität nichts zu tun. Der Mensch als erlebter Einziger unter vielen und uns Vertrauter, d. h. Bekannter, der sich in der Physiognomie kundgibt, ist etwas anderes. Das Bild, das mit solchen Einzelmerkmalen diese Person als besondere erkennen läßt, ist einem Steckbrief vergleichbar, aber nicht dem Lebensbilde einer Biographie, ist ein Paßbild, kein Porträt, nicht eines, dem wir mit Sympathie zusehen, um uns in sein Wesen, seinen Zustand, seine Stimmung zu versenken. W o aber ein Künstler in der Verkennung der Einzelmerkmale für die Bedeutung der Individualität die Mißbildung und Altersdeformationen im Gesicht übertreibt oder sich für seine Kunst Personen mit solchen Mißbildungen als Modelle aussucht, auch da sind die Dargestellten nicht sympathische Bekannte, sondern Monstra, deren Monstrosität und Abnormität nicht für den Bekannten wertvoll sind, für diesen vielmehr bedauerlich, sondern nur für den interessant, der, wie der Arzt, an Abnormitäten ein Interesse hat. Das Bild ist eine Kuriosität für den Neugierigen oder Wißbegierigen, nicht aber ein sympathisches Lebensbild für den Bekannten. W o aber solche Monstrosität als eine Deformation eines Normalen gewertet wird, also zu einem gerade nicht Individuellen, sondern Allgemeinen in Beziehung gesetzt wird, da entsteht ein Krankheitsbild, d. h. etwas, das als Abnormität gerade auf die Möglichkeit der Wiederholung, als ein Fall von . . . , und nicht auf seine Einzigheit hin angesehen wird. D a ß aber die Individualität keineswegs so offen zutage liegt, daß man sie beim ersten
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Sehen einer bis dahin unbekannten Person sofort im Auge hätte und verstände, lehrt folgende Erwägung: Wir Europäer sehen bei einem Chinesen oder Neger zunächst nur die Unterschiede der Hautfarbe und die der Gattung eigenen charakteristischen Züge, wie Schlitzaugen, Wulstlippen. Es gehört erst längere Zeit der Bekanntschaft oder des Umganges, der Teilnahme, der Sympathie dazu, die Physiognomie des Einzelnen in der Verkleidung der Gattungsmerkmale zu erkennen und eine wirkliche Bekanntschaft zu machen. Dasselbe gilt von Tieren, Pflanzen, ja von Bäumen und Landschaften. Auch diese haben ihre Physiognomie. Physiognomie ist deshalb schwer faßbar, und keineswegs alle guten Maler sind deshalb schon gute Porträtisten, gute Physiognomisten. Vor allem aber ist zu bedenken, daß es sich bei der Physiognomie nicht nur um die Wiedergabe einer einfach abzumalenden äußeren Gestalt handelt, sondern um Züge, die von dem Äußeren auf das Innere der nachzuerlebenden Individualität hinweisen und das Äußere durch ein Inneres verstehen lassen. Dieses Innere aber — selbst veränderlich — drückt sich in ständigem Wechsel und Veränderung der Gesichtszüge, also in dauerndem Vibrieren der Physiognomie, aus. Von diesen das Leben ausdrückenden Zügen sind einige solche, die uns ansprechen, die uns sympathisch sind; in andere, die uns nicht ansprechen, fühlen wir uns schwer oder gar nicht ein. Dadurch findet im Laufe der längeren Bekanntschaft eine Auswahl aus den für uns entscheidenden, die Person für uns physiognomisch bestimmten Zügen statt. Es ist also zunächst schon nicht selbstverständlich und oft sogar schwer, überhaupt in einem Gesicht mit seinen Nebensachen, physiognomisch unwirksamen Details und Formen, die lebendigen Züge der Physiognomie herauszusehen. Dann aber bildet sich erst im Laufe der Erfahrung die für uns entscheidende sympathische Physiognomie heraus, die für uns den Charakter der Person enthält. Es wird wohl jeder die Erfahrung gemacht haben, daß Menschen, die einen zunächst abstoßen und häßlich erscheinen, bei längerem Verbleib durch die sympathischen, gern miterlebten Züge ein sympathisches Gesicht erhalten und ihre Physiognomie sich so verändern kann, daß die später erlebte Physiognomie mit der zuerst erlebten kaum noch zu vergleichen ist. Der Mensch wird im Laufe des Verkehrs, d. h. also je bekannter er wird, ein anderer für unsere Augen. Seine Physiognomie verändert, ja, verwandelt sich. 225 Entsprechend gibt es Porträtisten, die mit physiognomischem Blick die entscheidenden Züge aus einem Gesicht herauszulesen vermögen und eine Individualität in ihrer charakteristischen Schärfe erfassen, wie Holbein, Frans Hals oder van Dyck. 226 Andere Künstler aber verbleiben in dem Formenapparat des Gesichtes, seinen Muskeln und Modellierungen, stecken und verbergen die Physiognomie hinter diesem Formenreichtum, so daß das Porträt ohne schlagkräftige Physiognomie bleibt wie bei Dürer, der kein Porträtist ist, am wenigsten dort, wo er in der Genauigkeit der Oberflächenbewegung eines Gesichts am wahrsten zu sein scheint (Abb. 36). Dadurch, daß Physiognomie in wenigen entscheidenden Zügen des Gesichts und ihrem Verhältnis zueinander enthalten ist, versteht sich auch, daß ein mit wenigen Strichen skizziertes Porträt schlagender, ähnlicher, sein kann als ein ausgeführtes Bild, in dem die reinen Bildelemente, Formen, Farben, Linien, neben dem Physiognomischen eine Rolle spielen. Bei Holbein können wir gut verfolgen, wie die knappen gezeichneten Bildnisse an physiognomischer Schärfe die an sich so charakteristischen entsprechenden gemalten Porträts übertreffen (Abb. 32). 227 Dennoch ist es etwas anderes, ob man wie Liebermann, ein Meister des impressionistischen Porträts, nur die flüchtige Bekanntschaft auf den ersten Blick wiedergibt (Abb. 33), d. h. nur das Charakteristische der Physiognomie, oder wie Holbein, vielleicht selbst verschlossen und mit den Menschen nicht sympathisierend, in ihrer charakteristischen Individualität Menschen erfaßt, die sich selbst vor anderen verschließen und nicht geneigt sind, in ihr eigenes Innere hineinsehen zu lassen, die, arm an Menschlichkeit, auch nicht viel zum Mitfühlen bieten, d. h. unsympathisch sind; oder ob Rembrandt, stets bereit, mit den 225 226 227
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Dürer, D i e Mutter, Pirkmeier u. Selbstbildnisse: II, 587 — 589 und 564. II, 583, 702, 7 0 5 - 7 0 8 , 7 1 5 . Die Zeichnung: II, 586.
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Menschen mitfühlend zu leben, mit ihnen sympathisiert und deshalb nicht den oberflächlichen Eindruck wiedergibt, sondern Physiognomien, die er aus langer Bekanntschaft mit diesen Menschen und mit Menschenmöglichem überhaupt zu deuten gelernt hat. So entstehen bei Rembrandt, der nur, was ihm sympathisch war, malte oder gut malte, jene wunderbaren Altersbildnisse, um so wunderbarer, als er aus seiner eigenen reichen und auf unendlicher Erfahrung beruhenden Menschlichkeit in die physiognomischen Züge mehr hineinlegte, als die betreffenden Menschen innerlich aufzuweisen hatten. Ganz natürlich, daß er mit der Sympathie, die ihn zum Mitleben bei den dargestellten Menschen trieb, auch deren Züge schon so sah, wie es seine Menschlichkeit ihm gebot. Ein Gott formt den Menschen nach seinem Bilde. Denn auch das ist wichtig. Wie schon jeder Mensch denselben Bekannten anders sieht als ein anderer, jeder von einem und demselben Bekannten eine andere Physiognomie vor Augen hat und ein anderes Porträt haben möchte als der andere, so sieht auch jeder Künstler dieselbe Person anders als ein anderer Künstler; nicht weil er schlechter sieht oder schlechter malt oder zeichnet, sondern weil er ein anderer Mensch ist, anders mit diesem Menschen verkehrt und andere Züge ihm sympathisch sind. Deshalb kann ein Porträtist in den seltensten Fällen es den Bestellern oder Beziehern eines Porträts recht machen, am seltensten dem Porträtierten selbst, denn gerade diese deuten nach ihrem ihnen bekannten Innenleben die Züge, die sie nur im Spiegel sehen, anders als alle anderen und finden natürlich auch ganz andere innere Züge sympathisch als die, die das Innere nur aus dem Äußeren erschließen. Wie verschieden sind die Bildnisse des Erasmus von Rotterdam einmal von Holbein gemalt (Abb. 35), aus Gleichgestimmtheit geistig, spitzfindig, kühl interpretiert, das andere aus Dürers Hand (Abb. 36), gutmütig, eifrig, hingegeben bis zur Pedanterie. Die Ähnlichkeit des Bildnisses mit dem Dargestellten ist also keine meßbare Größe, denn das, was ähnlich sein soll, die Physiognomie, ist variabel je nach der Fähigkeit, überhaupt Physiognomie aus dem Gesicht herauszuheben und durch Isolierung im Bilde, durch Reinigung vom Nichtphysiognomischen zu steigern, variabel aber vor allem nach dem Grade der Bekanntschaft, der Sympathie und nach dem Charakter dessen, der nach seiner Einstellung die sympathischen Züge auswählt. Wenn deshalb Liebermann zu einem Besteller eines Bildes, der es nicht ähnlich fand, sagte: „Wat, nich ähnlich, det Bild ist ähnlicher als Sie selbst", so hat er damit eine der wichtigsten Erkenntnisse über das Wesen des Porträts auf seine Weise ausgedrückt. Am ehesten sind die Gemalten und ihre Verwandten von den Bildnissen befriedigt, die ihnen schmeicheln, d. h. Formen geben, die in die des Kultbildes oder Vorbildes hineinreichen, wie bei van Dyck 228 oder Lenbach 229 . Damit aber gehen diese Bildnisse aus der Sphäre des Porträts, d. h. des Lebensbildes einer Person, heraus, verallgemeinern die Person und berauben sie des Sympathischen, das den Nächststehenden die Möglichkeit gibt, wie in der Wirklichkeit an dem Inneren, der geistigen Person des Porträtierten teilzunehmen, sich in ihn sympathisch hineinzuversetzen. Das Problem des Porträts als Lebensbild liegt darin beschlossen, daß das Lebensbild vermeiden muß, die Person zu präsentieren, daß der Dargestellte in seinem eigenen charakteristischen Milieu erscheinen soll, unabhängig von allem Draußen und unabhängig von allem Achtung oder Bewunderung fordernden Sichzeigen. Porträtisten, die Lebens-, nicht Kultbilder geben wollen, verfallen deshalb auf den Gedanken, den Menschen ins Profil zu stellen, denn auch das Profil kann eine charakteristische Note haben, an der man die Individualität des Dargestellten erkennt. Aber dieses Profil enthält doch nur wenig von der lebenden Physiognomie eines nacherlebbaren, von innen heraus verständlichen und bekannten Menschen, die Augen blicken uns nicht an, der Mund redet nicht. Auch verführt das Profil zur Betonung der Linie als solcher und von dekorativen Werten, wie in dem Profilbild eines italienischen Kupferstechers von 1444, und damit zur Verschönerung (Abb. 37). Zugleich führt das Profilbild zum Relief, d. h. der Verhaftung der Person mit der Fläche des Maloder Reliefgrundes und bedingt gegenüber dem Leben, das im Porträt ewig wechselnd 228 229
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II, 705. Mal. S. 282f.
erscheint, ein Festlegen, eine Haftung an dem wirklichen Material, die wiederum eine Monumentalisierung zur Folge hat. 230 Es ist das, was wir den Medaillencharakter nennen, das Geprägte in festes Material gegossener Individualität. Was in der Physiognomie zur Erscheinung kommt, ist man, ein Profil hat man. Diese Physiognomie aber zu erkennen und zu deuten, muß man dem Menschen ins Gesicht sehen können, verlangt also bis zu einem gewissen Grade Frontalität. Wie aber diese ihres kultischen Charakters entkleiden, das Für-sich-sein der Person im Bildnis zum Ausdruck bringen? Gute Porträtisten wie Holbein und Rembrandt haben versucht, dies dadurch zu erreichen, daß sie den Abgebildeten in sein Milieu hineinstellen und ihn durch dieses Milieu und das Leben des Menschen in diesem seinem Milieu aus unserer Gegenwart und Wirklichkeit entrücken. Die Gefahr ist dabei, daß, wie in dem schönen Bilde des Kaufmanns Gisze von Holbein, das Vielerlei der Dinge im Raum, das Drum und Dran, zuviel Selbstwert bekommt, die Person zurücktritt und die Physiognomie entgleitet. 2 3 1 Auch wird durch die Beschäftigung mit diesen Dingen oder einigen von ihnen die Zufälligkeit eines augenblicklichen kurzweiligen Tuns eventuell wichtiger als die bleibende, den Charakter als dauernd offenbarende Physiognomie. Sofern sich dann wie bei Rembrandt in der Radierung des Bürgermeisters Six 232 der Raum so ausweitet und mit seinen Dunkelheiten die Person verschluckt, mit seinen Helligkeiten die Physiognomie zu diffus macht, dann entsteht ein herrliches Interieurbild, in dem die Person nur Staffage ist und aufhört, ein Porträt zu sein. Schon die Figur in ganzer Entfaltung wie beim Six oder bei dem Heydthuysen von Frans Hals 233 ist dem Porträt nicht günstig. Obwohl auch der Körper seine Physiognomie haben kann, und wir am Körper, an der Haltung, einen Menschen wiedererkennen, auf seinen Namen uns besinnen können, so liegt auch das mehr auf der Linie der besonderen Merkmale. Erst die moderne Psychiatrie hat den Zusammenhang zwischen Körperbau und Charakter festgestellt, aber doch nur in Beziehung zu typischen Verhaltensweisen, nicht in bezug auf die erlebbare Individualität in der Physiognomie des Gesichtes. Für diese ist die Darstellung der ganzen Gestalt, ihrer Haltung, die auch immer auf Haltung im kultisch vorbildlichen Sinne hinzielen wird — man vergleiche den stehenden Heydthuysen von Frans Hals (Abb. 34) oder die Porträts von van Dyck 2 3 4 — nur störend. Porträtisten haben deshalb von je die Halbfigur bevorzugt 2 3 5 , Heiligenmaler und Fürstenverherrlicher die ganze Figur 2 3 6 . Das beste Mittel aber, den Porträtierten dem Betrachter und dem Zugriff wirklichen Lebens zu entziehen, auch wenn die Physiognomie des Gesichts frontal zum Bilde heraussieht, besteht darin, den Blick nach innen zu kehren, jenen verlorenen oder nach innen gerichteten Blick zu schildern, der auch den Betrachter ins Innere der dargestellten Person hineinführt, in das Nachdenken einer geistig beschäftigten Persönlichkeit, in die Trauer um ein entschwindendes Glück, in die Verlassenheit einer einsamen Seele, in den Nachgeschmack der Freude erfüllter Stunden, in den Rückblick auf die gefüllte Bahn des eigenen Lebens. Rembrandts Porträtwerk, besonders das des Alters, ist überreich an solchen verinnerlichten, intimen Bildnissen. 237 Von dieser Verlebendigung des Porträts durch Entschleierung des Charakters mit Hilfe physiognomischer Züge, von denen jeder einen inneren Zustand, ein inneres Sein, bezeichnet, unterscheiden wir diejenige Verlebendigung, bei der die Bekanntschaft des Porträtierten mit dem, der das Bild besitzt, die Intimität, die zwischen beiden besteht oder bestanden hat, auf eine momentane Unterhaltung, ein Ansprechen, zugespitzt wird. W o dies nicht mit 230 231 232 233 234 235 236 237
Piero della Francesca: II, 489. P. Ganz, Hans Holbein der J ü n g e r e ( K d K ) , 1911, 95. II, 734. II, 715. II, 7 0 5 - 7 0 8 . van E y c k , Piero della Francesca, Holbein, Hals, R e m b r a n d t : II, 488f., 583, 717f., 726. van D y c k , Velazquez, R i g a u d : II, 7 0 5 - 7 0 8 , 784, 830. II, 742, 744 f.
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dem Anspruch, sich zu zeigen und angesehen zu werden, geschieht, sondern mit voller Entfaltung der Individualität und dem Bedürfnis, sich mitzuteilen, den anderen an seinen inneren Erlebnissen teilnehmen zu lassen, wie es ein Brief, ein Gespräch vermag, entsteht für das entsprechende Porträt die Gefahr, entweder wieder das seelische Sein, die Individualität, in ein Augenblickstun einzuspannen, bei dem die Physiognomie verloren geht und ereignishafte, aber damit auch verallgemeinernde Spannungen wirksam werden, allgemein, weil ja das Bild über den Inhalt der Mitteilung keine Auskunft gibt, sondern nur über das allgemein Lebensvolle, Erregte, Fragende, Bejahende oder Verneinende der Mitteilung. Zugleich lockt eine solche Ansprache, wenn sie der Beschauer auf sich bezieht, doch wieder aus der Sphäre einer Erlebniskunst in den Bereich des Wirklichen, der Illusion hinaus, oder aber der Betrachter, besonders der, der kein Bekannter des Dargestellten ist, fühlt sich nicht in den Dargestellten ein, sondern in den, dem die Ansprache gilt, und erlebt dann nicht das Bild des Dargestellten, sondern ein Ereignis in dessen Leben, eine Begegnung. Das ist der Fall bei der Zeichnung Saskias von Rembrandt (Abb. 38), bei der für den außenstehenden Betrachter sich Rembrandt gleichsam mitgezeichnet hat im Augenblick der Verlobung; und diesen, nicht die Physiognomie als in sich ruhende Persönlichkeit, lebt der Betrachter mit. Auf die Porträts oder den mitgedachten Zeugen hin angesehen, handelt es sich um ein Historienbild, kein Porträt, ein Ereignisbild aus dem Leben Rembrandts und Saskias. Auch das sprechende Bild des Barons Berger von Liebermann (Abb. 33) ist ein solches Bild, bei dem die Flüchtigkeit der momentanen Rede auf ein Bonmot, auf ein augenblickliches Ateliererlebnis Liebermanns hinweist, nicht auf die dauernde Vermittlung eines seelischen Seins, eines sympathischen Menschen.
3. DAS GRUPPENBILDNIS Der Wunsch, eine imtime Gemeinschaft, in der durch Sympathie die einzelnen Menschen als Gleichgestellte oder besser als ranglos miteinander zur Bekanntschaft verbunden sind und jeder mit jedem auch im Bilde sympathisch verbunden bleiben möchte, hat zum Gruppenbildnis geführt. Die Schwierigkeit des Gruppenporträts aber besteht darin, daß sich die Individualitäten nicht summieren lassen, und es die Aufgabe wird, die Individualität des Gruppenbildnisses durch eine Vielheit, ein Beieinander von Einzelindividualitäten auszudrücken, diesem Beieinander selbst aber den Stempel des Besonderen, einer Gruppenindividualität wie in einer Familie aufzuprägen und damit eine Einheit in die Vielheit hineinzubringen. Eine Machtgruppe herzustellen, ist ein Leichtes, denn Macht läßt sich summieren. Um einen frontalen Kultmittelpunkt, den Herrscher, gruppiert sich gleichmäßig und symmetrisch das Gefolge, entweder in einfacher Parallelität und selber frontal durch Addition die Macht verstärkend, oder durch Kultgebärden, Verbeugungen, das Gefolge dem Kultmittelpunkt unterordnend, der dann durch Herausragen über die anderen, durch seine Höhe, zugleich die hervorragende Bedeutung und die Erhabenheit der Kultfigur gewinnt. Durch das Emporragen der Mitte wird auch zugleich die symmetrische Einheit eines Dreiecks oder einer Pyramide geschaffen. Alles das aber ist für das Gruppenporträt belanglos. Parallelität von Individualitäten stärkt nicht die sympathische Miterlebbarkeit der Physiognomie, sondern schwächt sie ab, da jede nur einzeln erlebt werden kann, und so eine die andere stört. Alle Symmetrie und Mittelpunkterhöhung zugunsten der Bildeinheit führt aus der Region des Porträts in die des Kultbildes hinein. Deshalb haben in der Frühzeit des Gruppenbildnisses die Künstler die Physiognomien einfach aneinandergereiht (Abb. 39), eine Summe von Einzelbildnissen gegeben, ähnlich wie die Fotografien von Schulklassen oder soldatischen Kompagnien, bei denen die Köpfe, die Träger der Physiognomien, in die vorgedruckten, uniformierten Körper hineingeklebt wurden. Eine andere Möglichkeit, Einheit des Beieinanders mit individueller Besonderheit der Situation zu verbinden, ist die der Zusammenkunft und gegenseitigen Begrüßung und die des Festmahles. Das hat Frans Hals in seinem großartigen Schützenstück von 1623/24 versucht. 238 In einem besonderen Milieu und durch ein besonderes Licht dem Beschauer 238
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entrückt, treffen sich die Bekannten einer Schützengesellschaft zur fröhlichen Kneipe, durch Begrüßen, Zuprosten, ein individuelles Durcheinander und eine menschliche Verbindung bewirkend. Die Physiognomien haben die prägnante Besonderheit des impressionistischen Ansprachebildnisses, treffend, aber nicht reich an Innerlichkeit, wie es auch die Situation nicht erforderte. Der Charakter des Lebensbildes hat zwar zugenommen und der Betrachter des Gruppenbildnisses kommt um die öde Reihung der simpleren Exemplare dieser Gattung herum, aber schließlich ist die Handlungseinheit und die Stimmung nicht interessant genug, um uns für den Verlust an Porträtinnigkeit zu entschädigen, der dadurch entsteht, daß wir mit gewisser Mühe in dem Durcheinander der Tischgesellschaft die einzelnen Bekannten heraussuchen müssen. Auch hat der Maler nicht konsequent bleiben können und sichtbar Mühe darauf verwendet, die Physiognomien so zurechtzurücken, daß sie alle als Porträt sich dem Betrachter zuwenden. Dabei hat er auch, trotz allem Bemühen, Zufall und Absichtslosigkeit wirken zu lassen, eine gewisse Ordnung durch Schaffung zweier Gruppen um eine Mitte herum rechter- und linkerhand hineingebracht und ist damit doch wieder in die zentralistische Ordnung der Monumentalität zurückgefallen. Auch daß der Hauptmann annähernd im Zentrum zwischen den symmetrisch angeordneten Kreisgruppen am Tisch sichtbar wird, ist Anleihe an ein feierliches Abendmahl, auch wenn sich Frans Hals Mühe gegeben hat, diesen Respektsmittelpunkt durch Kleinheit und seitliche Wendung, durch die triviale Gebärde des Tranchierens eines Bratens und dadurch, daß seine Nachbarn ihm den Rücken zukehren, zu entwerten. Gemeinsamkeit von Festesfreude und Zusammenkunft zu fröhlichem Verein ist auch das Thema der „Nachtwache" Rembrandts. 2 3 9 Dadurch, daß die Sammlung aus der Tiefe nach vorn stattfindet, ist zwar der Porträtaufgabe, die Figuren das Gesicht zeigen zu lassen, besser genügt, auch durch Herausheben der Führer eines noch zu bildenden Zuges ist eine größere Einheit der Festvereinigung erreicht. U m die damit nahegelegte Feierlichkeit einer Prozession zu vermeiden und den Charakter eines zufälligen Ereignisses, dem der Betrachter nun zusieht, zu geben, hat Rembrandt das Äußerste an Absichtslosigkeit und Augenblicklichkeit gewagt und eine größtmögliche Individualisierung des Gesamtvorganges, der Gruppeneinheit, bewirkt, indem er ohne Rücksicht auf die Sichtbarkeit der Einzelbildnisse die Personen sich verdecken, überschneiden, in den Raum hineinrücken und malerisch erscheinen läßt, in dem das vereinende und räumlich vertiefende Hell und Dunkel die Physiognomien der einzelnen Beteiligten oft zu flüchtigen Flecken zergehen läßt. Damit ist zwar an die Stelle der Reihung gleichwertiger Individualitäten ein Maximum von Gruppeneinheit des Bildganzen getreten, aber die eigentliche Porträtaufgabe, jede Physiognomie der zur G r u p p e vereinten Personen zur Geltung zu bringen, ist völlig aufgegeben. Wunsch und Person der Besteller sind mit künstlerischer Rücksichtslosigkeit völlig übergangen. D a s Ganze ist ein prachtvolles Geschichtsbild geworden; ein Ereignis aus dem Leben der Schützengilde ist unübertroffen festgehalten, aber v o m Gruppenporträt ist nichts geblieben. Wieder eine andere Möglichkeit — anstelle dieses von gleicher Stimmung zusammengehaltenen zwanglosen Beieinanders, das doch vielmehr ein Durcheinander ist —, eine Einheit in die Vielheit der Porträts hineinzubringen, ist die, sämtliche Physiognomien durch Blick und Interesse auf ein ihnen allen gemeinsames Objekt zu richten, sie an einer Lehre, einer Demonstration, beteiligt sein zu lassen und durch die geistige Spannung zugleich v o m Äußeren auf ein Inneres hinzuführen. D a s ist es, was in vorbildlicher Weise Rembrandt in der „Anatomie des Doktor T u l p " 2 4 0 getan hat: Auf der einen Seite ein D o zent, auf der anderen die Vielheit der Personen, die Porträt sein wollen, und zwischen ihnen, die im Kreis amphitheatralisch herumgeschart sind, eine Leiche, deren Sehnen unter der Haut bloßgelegt sind. Hier ist in der Tat jede Reihung vermieden und eine überzeugende Einheit durch Beteiligung an der gleichen A u f g a b e erreicht, aber für das Porträt mit folgenden Einschränkungen: Erstens ist nicht jedes Porträt gleichwertig, sondern der Professor 239 210
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nimmt eine bevorzugte Stellung gegenüber den Hörern ein wie der Angebetete im Kultbild. Hier ist nicht bloß Porträt als Nacherlebnis, sondern Autorität. Zweitens aber, je mehr wir uns in jeden der Hörer hineinversenken würden, um so mehr würden wir von dem bleibenden Charakter in ein momentanes Tun, und durch dessen Miterleben zu seinem Gegenstand, dem anatomischen Präparat geführt. Auch hier entgleitet die Porträtaufgabe in den Bereich des Historienbildes. Die Vorlesung, ein Ereignis aus dem Leben des Dr. Tulp, ist Gegenstand des Bildes, nicht das Gruppenporträt. Indem auch Rembrandt einige der Köpfe aus dem Bild heraussehen läßt, erinnert er selbst an das Versäumnis der Porträtverpflichtung. Die vielleicht einzige Möglichkeit, Porträtwahrheit im einzelnen mit echtem Beisammensein, d. h. mit räumlicher Einheit und nicht äußerlicher Reihung, zu verbinden, porträthafte Darbietung der Physiognomie mit Einheit der psychischen Temperatur und Motivation, hat Rembrandt in den „Staalmeesters" aufgezeigt. 2 4 1 Sie besteht darin, den gemeinsamen Interessenspunkt nach außerhalb des Bildes zu verlegen, aber nicht in den Raum des Betrachters, nicht illusionistisch, sondern imaginativ in den nach vorn erweiterten dichterischen Bildraum, den Eigenraum der Dargestellten, so daß nun diese zwar zum Bild heraussehen, aber nicht den Betrachter ansehen oder von ihm angesehen sein wollen. Der Betrachter sieht nur zu, wie die dargestellten Physiognomien auf den gemeinsamen Interessenspunkt reagieren. Diese Reaktion aber ist nicht positiv, ist nicht gespanntes Interesse und Eingehen auf ihn, so daß auch der Betrachter den Wunsch erhält, ihn kennenzulernen und damit wieder das Gruppenbildnis dem Historienbildnis nahe gerückt würde. Die Reaktion ist Abwehr, ist negativ; in dieser kritischen Abwehr enthüllt sich der Charakter, die geistige Individualität des Dargestellten, und es kommt diese Abwehr des Äußeren als einer Störung des Fürsichseins zugleich als ein vom Draußen nicht Notiz-nehmen-wollen zur Geltung. Rembrandt zeigt die Vorsteher der Tuchmacherzunft so, daß sie an einem gemeinsamen Tisch in der Ecke eines Saales vor getäfelter Wand alle nach außen gerichtet erscheinen, zwanglos und natürlich, denn sie sitzen da, vor der Gesellschaft der Zunft, die vor ihnen und vor dem Bild zu denken ist, Rechenschaft ablegend. Erster genialer Gedanke Rembrandts! So bietet sich jede Person in ihrer Individualität psychologisch faßbar dem Beschauer, ohne daß er mit ihrem Zum-Bilde-heraussehen gemeint ist. Aus dieser Versammlung ertönt ein kritischer Zwischenruf, der jeden dieser Vorsteher trifft und an die Grundlagen seiner Person rüttelt. Zweiter genialer Gedanke Rembrandts! Indem jede dieser Individualitäten aufgescheucht dem Einwand abwehrend begegnet und so gezwungen ist, aus der bürokratischen Würde von Respektspersonen herauszutreten und sein Inneres nach außen zu kehren, erfüllt sich jede Physiognomie mit Leben, und zwar je nach dem Charakter und der Individualität mit anderem als dem des Nachbarn, hochmütig, überlegen, unwillig und gereizt, sachlich zur Erwiderung bereit, träumerisch von Geschäftlichem unberührt und kaufmännisch rechnend die Blöße des Gegners erspähend. Dritter genialer Einfall! So ist aus dem Nebeneinander verschiedenster Porträts eine lebendige Einheit, ein Lebensbild geworden. Rembrandt hat, um auch optisch das Bild von der Gleichmäßigkeit der Aufzählung und Reihung zu befreien, nicht ganz auf die Mittel der Monumentalkunst verzichtet. Durch Erhöhung zweier Personen faßt er ähnlich wie Leonardo im „Abendmahl" je drei Figuren zur organischen Gruppe zusammen und gewinnt durch Erhöhung der Gruppe links auch eine nach rechts abfallende Gesamtpyramide. Aber indem die herausragenden Personen der linken Gruppe, der sich geschäftig erhebende Vorsteher, d. h. die am wenigsten verewigte und würdevolle Ruhe bewahrende Person, die der zweiten rechten Gruppe, der bescheiden in der Tiefe stehende Diener sind, werden die Heraushebungen nur betonte Hinweise auf das Gegenteil von Erhebung, Erhabenheit, also Umkehrungen der Monumentalität. Zugleich wird durch ein Vor und Zurück das starre frontale Nebeneinander in räumlich abschließende und verbindende Intimität umgedeutet. Dieses bezwingende Thema des Gruppenbildnisses hätte allgemein verbindlich werden können, gehörte nicht zum überzeugenden und doch unaufdringlichen Mitwirkenlassen des Äußeren die hohe Kunst Rembrandts dazu, die im Leben wer weiß wie banalen Physio241
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gnomien so mit geistig erfüllter und sprechender Individualität zu bereichern, daß jede Repräsentation ausgeschlossen wird. Zum vollen Lebensbild fehlt freilich noch eins, das nicht Rembrandts Kunst, aber die Dargestellten und die Situation nicht zur Geltung kommen ließen. Es konnte nicht ausbleiben, daß die sympathische Menschlichkeit, die sich hier in jeder Physiognomie als Abwehr äußert, auch für den Betrachter gilt. Die Seite der Individualität, die damit zur Geltung kommt, ist die diplomatische, geschäftliche. Es handelt sich um Prestigefragen. So bleibt in jeder Physiognomie statt offener, sich uneingeschränkt erschließender Menschlichkeit auch etwas von der Rätselhaftigkeit des Diplomatischen. Für die Sympathie des Lebensbildes bot sich ein anderes Thema des Gruppenbildnisses an, das Familienbild. Eltern, die wie die Betrachter, dem unbefangenen kindlichen Tun nur zusehen, sind auch für den Beschauer ohne weiteres verständlich und sympathisch allen Bekannten, für die das Porträt gemeint ist. Kinder und Eltern, die sich zärtlich begegnen, sind allgemein menschlich sympathisch. Auf der anderen Seite ist aber auch gerade die Familie der Grund und Ursprung aller Autorität, Herrschsucht, allen Machtbeweises und Befehlens. Der Vater als Haupt der Familie, die Mutter als Herrin des Hauses und Gnadenspenderin für die Kinder. Das ermöglicht mühelos, die Familie als Hort der Autorität und als Kultgemeinschaft darzustellen, wie es Lebrun in dem Bilde der Familie Jabach getan hat (Abb. 40). Die Mutter als das eine Zentrum, gewichtig als Madonna durch das nackte Kind im Schöße, das selber Haltung hat wie die Mutter und im Schöße thront wie diese auf dem Sessel, die erwachsenen Mädchen zärtlich und huldigend der Madonna zugewandt. Der Vater ist der zweite Kultmittelpunkt, allein, gravitätisch in ganzer Figur, mit der Mutter rhetorisch durch Gebärde verbunden als der geistige Regent, der, einer Krönung Mariae kompositioneil folgend, als geistiger Schenker die Dame des Hauses teilnehmen läßt an den Schätzen seines Reiches, die er als reicher und vornehmer, als königlicher Kaufmann und Sammler in seiner Wunderkammer aufgebaut hat. Zu seinen Untertanen gehört, im Spiegel sichtbar, auch der Maler, der zum Porträtieren befohlen ist. Hier ist Ordnung, Einheit, Repräsentation bis in die Haltung des Kindes hinein. Diese Autorität eines Jupiter in Zivil und einer Madonna im Salon aus dem Familienbild, dem Lebensbild sympathischer und füreinander gleichberechtigter Familienmitglieder auszuschalten, ist nicht so leicht. Die Kinder tun und treiben zu lassen in einem Raum, der, individuell ausgestattet, den für das Lebensbild so wichtigen Charakter des Eigenraumes und des Zu-Hause trägt, ist das Wenigste. Auch die Mutter dem Kleinsten hingegeben sein zu lassen, ohne Madonnenhochmut und Dameneitelkeit, ist nicht schwer, aber der Vater spielt wie in der Natur meist eine klägliche Rolle. Das wußten schon die Maler der heiligen Familie, die ein Familienbild aus dieser heiligen Gesellschaft machen wollten. Da drückt sich der Vater ganz an die Seite. In den holländischen Familienbildern von Dou, Metsu (Abb. 42) und anderen sitzt er gravitätisch und raumheischend da, ohne inneren Bezug zur übrigen Familie. Oder aber, wenn die ganze Familie ausgelassen ist und die Kinder toben, paßt dem Vater dieses Sichgehenlassen am wenigsten, wie in den Familienbildern von Frans Hals (Abb. 41). 242 Vor allem aber kommt bei dem Hin und Her dieser durcheinandergewürfelten Kinder- und Elternpaare keine Einheit zustande, abgesehen davon, daß in solchen gewollten Zufallshaltungen die Porträtansichten verlorengehen oder erzwungen repräsentativ wirken, was bei familiärem Grundton besonders peinlich wirken kann. Auch hier hat Rembrandt im Braunschweiger Familienbild die überzeugendste Lösung gefunden (Abb. 43). Er hat, wie bei den „Staalmeesters", auf weiten Raum und Zuhause verzichtet und alles auf das enge Beieinander auch im Seelischen konzentriert, rechts die Mutter, sichtbar, aber zum Kleinsten auf dem Schoß gewandt und weniger zu diesem 212
Rekonstruktion des Bildes von Claus Grimm, i n : Frans Hals, E n t w i c k l u n g , Werkanalysc, Gesamtkatalog, Berlin 1972. Als ein Hauptbeispiel des Familienbildcs bei Frans Hals galt früher das Gemälde von P. Soutman im L o u v r e „Die Familie Beresteyn", 1630 — 1633, bei G r i m m Abb. 17. Für die A b b i l d u n g stellte Herr Dr. G r i m m freundlicherweise die Originalfotomontage zur V e r f ü g u n g .
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hinagierend als von einem stillen Glück erfüllt. Das strampelnde Kind, das Unbefangenste und Unrepräsentativste, ist im Mittelpunkt des Bildes und sieht zum Bilde heraus, nicht zum Betrachter, sondern zu irgendwem. Links der Vater, einfach als Porträt, aber am schlichtesten, im Hintergrund, weil die Kinder regieren. Das eine, von ihm weggehend, stellt die Verbindung mit der Mutter und dem Schoßkind her. Das andere, sich der Mutter in den Schoß werfend, blickt zum Vater zurück. Es sind alle verbunden und seelisch verknüpft, Familie, und doch — auch die Kinder — mit Individualität prall geladen. Um aber die festlichen Kostüme — der Vater allein ist schlicht in Schwarz — und die enge Zusammenrückung und Wendung nach außen zu motivieren, hat auch in diesem Falle Rembrandt eine Person draußen mitwirken lassen. Nur ist diese nicht ein Eindringling, aber auch kein Gläubiger, sondern schlechthin der Maler, der nur vom Vater ernst genommen wird, sonst weder von den Kindern noch von der Mutter, die in erster Linie immer bei ihren Kindern ist. So hat auch hier Rembrandt die Motive der Heraushebung bei Vater und Mutter ins Gegenteil verdreht, indem er die Kinder in die Hauptansicht einstellt und die Mutter den Kindern unterordnet, der Vater aber, wie es in solchen Fällen sein kann, Außenseiter ist.
4. DAS GESCHICHTSBILD (HISTORIENBILD) Innerhalb des Lebensbildes steht das Geschichtsbild auf der Stufe des Porträts. Es handelt von den Ereignissen, Zuständen, äußeren und inneren Erlebnissen bekannter Personen. Daß wir diese Personen nach dem Grade unseres Wissens, d. h. unserer Bekanntschaft mit diesen Personen, nach dem Stande der uns bekannten Überlieferung, wiedererkennen, macht die historische Wahrheit des Historienbildes aus. W o diese Bekanntschaft nur auf schriftlicher Überlieferung beruht, wird das Historienbild zur Illustration der überlieferten Texte und setzt eine historische Bildung voraus. Aber nicht jedes Bild, das ein Geschehen, d. h. Geschichte von bekannten Personen anschaulich vermittelt, ist deshalb schon ein Historienbild im Sinne des Lebensbildes. W o die Darstellung dieses Geschehens nicht nacherlebbar, menschlich verständlich gegeben wird, sondern rühmend, hymnisch, kultbildartig in Form und Inhalt, sprechen wir vom Mythos. Mythos ist Personifikation, d. h. personenverklärende Veranschaulichung von Leben und Taten Ehrfurcht heischender Mächte in einem Stil, bei dem dem Betrachter des Bildes die Kultbedeutung der Haupt- und Nebenpersonen, ihre Repräsentation und Vorbildlichkeit, ansehnlich vorgeführt wird. Die Inhalte des mythischen Geschichtsbildes sind deshalb immer solche, die sich auf Machterwerb (Kampf), auf Machtverleihung (Krönung, Aufnahme in eine Kultgemeinschaft, Taufe, Firmung, Weihung) oder auch Machtbeweis (Rechtsprechung, Wundertaten, Begnadigungen, Schenkungen, Ansprachen, Gesetzesverkündungen) beziehen. Das geschichtliche Lebensbild, auf das wir den Namen Historienbild beschränken wollen, will dagegen das Leben historisch bekannter Personen so darstellen, daß wir es als Ausdruck einer Menschlichkeit (nicht Übermenschlichkeit), als natürlich (nicht übernatürlich), d. h. schlicht, menschlich miterleben können. Das Historienbild, das auch in Haupt- und Staatsaktionen den „Helden" menschlich verständlich machen will, drängt wie die Geschichtsschreibung des 19. Jahrhunderts überhaupt dazu, die Geschichte verständlich zu machen, sich von dem Rühmen der Ehre des Ewigen zu befreien und zur Darstellung des Privatlebens der öffentlichen bedeutsamen Personen, zur Biographie, zu gelangen. Die Mittel, das Historienbild der Kultbedeutung zu entziehen, sind zunächst dieselben, wie die des Lebensbildes überhaupt: Isolierung durch den unarchitektonischen Rahmen, Geschehen im eigenen Raum und in eigener Zeit (Beleuchtung), Konzentrierung aller Bildelemente auf die in sich ruhende, aller Wirkung auf die Wirklichkeit außerhalb des Bildes entzogene, allein dem Zusehen vorbehaltene Lebenssphäre der historischen Personen und Intensivierung der nacherlebbaren Elemente (Interessantheit). Dazu kommt aber noch die Individualisierung des Bekannten im Sinne des Porträts, d. h. aber nicht nur die individuelle
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porträthafte Einzigkeit von Personen, die wir aus irgendeiner Überlieferung kennen, sondern auch die Individualisierung des Ortes und der Zeit des Geschehens, und damit des Geschehens selber. Denn Geschichte im Gegensatz zur Zeitlosigkeit und unmittelbaren Gegenwart des Geschehens im Kultbild, das gleichsam das heldische Verhalten in jedem Augenblick mit gleicher Verbindlichkeit vorbildlich vorführt, ist Geschichte im Sinne des Historienbildes, Darstellung von Ereignissen der Vergangenheit, die nicht nur auf das Wer und Was antwortet, sondern auch auf das Wann und Wo. Die Historisierung des Kultbildes, die der Inhalt der Kunstentwicklung seit dem 15. Jahrhundert ist und Geschichten erzählt, nicht bedeutende Personen hervorheben will, geschieht zunächst durch Verzicht auf kultische Haltung zugunsten des objektiven Tuns, des natürlichen Vorganges, z. B. bei einer Krönung durch die Wiedergabe der Arbeit der Hände im vorsichtigen Halten der Krone und der Aufmerksamkeit, die sich darauf richtet, die Krone auch richtig auf das Haupt des zu Krönenden zu applizieren. In diesem Sinne ist Filippo Lippis Marienkrönung mehr Historien- als Kultbild (Abb. 44). Bei Martyrien, Folterungen, Hinrichtungen entsteht ein Kultbild, wenn die Haltung, die Standhaftigkeit des Gemarterten hervorgehoben wird wie im Mittelalter, ein Historienbild, wenn die körperlichen Reflexe des Gefolterten in aller Natürlichkeit wiedergegeben werden. So ist im Gegensatz zu Rubens' „Gefangennahme des Simson", in der der Held durch die kultbildende Anordnung als ein barocker, triumphierender Athlet sich präsentiert, bei Rembrandt ein mitleiderregendes Historienbild geworden 243 , indem das Zusammenkneifen der Augen, in die der Folterstahl eindringt, mit aller Deutlichkeit geschildert wird, das eine Bein krampfhaft sich zusammenbeugt und die ganze Haltung des Helden ein unwürdiges hilflos Am-Boden-liegenist. Vom Helden bleibt nur der Mensch in seiner Qual. Ähnlich hilflos und erbarmungswürdig ist die Lage des Jacobus bei seiner Hinrichtung auf dem Fresko Mantegnas (Abb. 46). Noch stärker wird die Entwürdigung dadurch, daß das äußere Tun, die mechanische Aktion der Nebenpersonen, der Gerichtsvollzieher, in ihrer reinen Tätigkeit und Geschehnisbedeutung geschildert wird und einen großen Teil, wenn nicht den größeren, des Interesses der Zusehenden auf sich zieht. So ist bei Rembrandt die Brutalität, mit der der eine Kriegsknecht dem Simson das Messer in das Auge bohrt, mit derselben peinlichen Genauigkeit wiedergegeben wie etwa der sezierte Arm des Leichnams in der „Anatomie" 240 , die ja auch schon eine Art Historienbild ist. Die Einmaligkeit des „es war einmal", des Nichtwiederkehrens des historischen Ereignisses, d. h. seine Individualität, wird suggeriert durch Nebenpersonen, die zufällig am Schauplatz des Geschehens anwesend sind, in die Gegend hereinsehen oder Spazierengehen und nur gerade dabei sind, ohne an dem Geschehen selbst beteiligt zu sein. Das Kultbild kennt nur Sieger und Besiegte, Herren und Gefolge, Richter und Verurteilte, Gnädige und Beschenkte. Denn hier ist alles, wie es sein soll, im Historienbild ist alles, wie es zufällig gewesen ist. Durch diese Flaneure und Zeugen bekommt das Historienbild Individualität und Physiognomie. Dieses Mittel verwendet vor allem Mantegna 244 , oder überhaupt das italienische Historienbild, zur Verwandlung des Mythos und der Legende in ein Historienbild. Die in den Raum hineinführende, entwirklichende Bedeutung von zufälligen Seiten- und Rückenansichten kann durch solche Ereignisbummler gesteigert werden, sofern nicht die am Vorgang beteiligten Personen Deutlichkeit und Wiedererkennbarkeit verlangen. Die Charakterisierung des Historienbildes als eines Geschehens, dem man nicht Ansehen schenken, sondern nur zusehen soll, wird durch solche zufällig dabeiseienden Personen gesteigert, wenn diese selbst auf das Ereignis aufmerksam werden und in verschiedensten Graden des Interesses, der Neugier und des Mitgefühles zusehen. Der Zuschauer im Bilde wird so ein wesentlicher Teil des Historienbildes und überträgt einen Teil seines Interesses auf den Betrachter des Bildes. Er regt selbst zum Zusehen an. Im Schauplatz wirken alle Elemente, die für das Lebensbild wichtig sind, um das Dargestellte der Wirklichkeit zu entrücken, auch für die Historisierung des Historienbildes 243 244
Rembrandt, Abb. 174f. (Rubens auch: II, 690). II, 493, 495.
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mit; individuelle, besonders und vielfältig ausgestattete Innenräume und individuelle, an besonderen Konstellation von Häusern und Wegen, Hügeln und Tälern, Bäumen und Öden, Nähen und Fernen erfüllte Situationen wirken in diesem Sinne. Für das Historienbild aber kommt hinzu, daß auch diese Gegenden als einmalig wiedererkennbar und dorthin lokalisierbar sind, wo nach den Quellen das historische Ereignis stattgefunden hat. Bauten und Ortschaften, etwa St. Peter in Rom, der Kölner Dom, eine bekannte Brücke (Übergang über den Rhein), Ankunft Goethes in Weimar, können historische Angaben für das Wo werden, aber auch in gewissen Grenzen für das Wann, die zeitliche Lokalisation, z. B. Bauten Berlins vor oder nach der Zerstörung, vor oder nach einer bestimmten Stadterweiterung oder -erneuerung. Ein Stadtbild der Gotik oder der Renaissance oder des 18. Jahrhunderts kann für den Gebildeten für das Geschehen historisch so bestimmend sein, daß sich der Charakter des Historienbildes daran entscheidend erkennen läßt. In den Bauten auf den Bildern Mantegnas werden römische Triumphbögen und Paläste ein Zeichen dafür, daß die dargestellten Ereignisse in Rom selbst oder im römischen Weltreich und zu Zeiten des Augustus und seiner Nachfolger stattgefunden haben. Eine Prozession auf dem Markusplatz in Venedig von Gentile Bellini (Abb. 45) mit Häusern vor dem Renaissanceumbau macht die historische Bestimmung dieser Prozession anschaulich. Mantegna hat deshalb mit besonderem Fleiß die römischen architektonischen Hinterlassenschaften studiert, um das historische Lokalkolorit für seine Bilder sich anzueignen, und der größte Historienmaler in bezug auf zeitörtliche Lokalisation, Menzel, hat auch gerade Architekturen der Vergangenheit skizziert wie ein Kunsthistoriker und' hat die historischen Örtlichkeiten, Schloß in Potsdam, Sanssouci, Lissa 245 , mit unüberbietbarer historischer Treue als Schauplatz der von ihm geschilderten historischen Ereignisse wiedergegeben. Für diese zeitörtliche Lokalisation ist von größter Wichtigkeit das Kostüm, das historische Kostüm. Nicht nur, daß die Trachten die Bewohner verschiedener Gegenden voneinander unterscheiden, und so durch das Kostüm ein Vorgang bei den alten Juden oder Arabern von einem bei den Europäern unterschieden werden kann, sondern, da gerade die Mode schnell wechselt, läßt sich mit dem modischen Kostüm besonders leicht und eindrucksvoll die Vorstellung des Vergangenen überhaupt und die zeitliche Bestimmtheit innerhalb enger Grenzen erreichen. Mantegna hat in seinen Soldaten sich auch das Kostüm römischer Soldaten zum Modell genommen, und die Armeewerke Menzels sind zugleich Vorstudien für seine Historienbilder. Die Studien zu diesen hat er nicht im Leben, sondern im Zeughaus gemacht. Alles dies betrifft aber noch nur das Drum und Dran des Historienbildes, das geeignet ist, dem Inhalt die historische Färbung und die Fülle des Sehenswerten, die das Zusehen erfreulich macht, mitzuteilen. Aber je näher die Komparserie des historischen Schauplatzes, je reicher die Szenerie, desto größer ist die Gefahr, daß sich die eigentliche historische Szene darin verliert und die Personen sich so zerstreuen, daß ein Miterleben, ein Verstehen der Geschichte erschwert wird, wie es bei Mantegna der Fall ist, so sehr man auch auf seinen Bildern das Dröhnen der Schritte des Schicksals spürt, das über die Bühne schreitet. Wichtiger aber als der historisch entrückende, in die Vergangenheit und an seinen Ort verweisende Apparat, ist das historische Leben, das wir verstehen und mitfühlen sollen, d. h. die Menschlichkeit, die sich in den historischen Personen offenbart. Das Historienbild als Lebensbild zeigt deshalb nicht den Helden in seiner Macht, sondern den Helden in seiner Schwäche: den eingeschlafenen Wachtposten, den vom Pferde gestürzten Saulus 240 , König David (Abb. 47) in seinem Schlafzimmer, im Hemd, ohne königliche Insignien, zerknirscht, betend, völlig hilflose Kreatur: Johannes auf Patmos im Bilde von Geertgen tot sint Jans 2 0 9 , völlig verzweifelt im Nichtaus- und Nichteinwissen; Friedrich der Große nach der Schlacht von Kollin (Abb. 48), innerlich zerschlagen auf einem Baumstumpf sitzend — alle sind sie ganz anders Mensch und in ihrer eigenen Einsamkeit nicht öffentliches Denkmal wie der
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II, 9 9 7 f . ; Mal. S. 2 6 4 - 2 6 7 . Fabritius, Caravaggio: II, 7 5 1 , 818.
„Pensieroso" des Michelangelo 2 4 7 oder die Propheten an der Sixtinischen Decke. 248 Erniedrigungen jeder Form, physischer oder ethischer Art, sind beliebte Gegenstände des miterlebbaren Geschichtsbildes; der als Bettler an der Straße hockende Beiisar (Abb. 50), der durch Nacht und Eisstürme fliehende Napoleon (Abb. 49) 2 4 8 ', all die Großen der Geschichte auf ihrem Sterbebette oder schließlich im tiefsten Sturz der Entseelung durch Alterstod oder Mord sind beliebte Themen des Historienbildes. Hier nun können auch die Zuschauer dem Mitleben und Mitfühlen dienen, wenn sie als die dem Entwürdigten Nahestehenden an seinem Leiden oder Sterben Anteil nehmen, ihre Sympathie äußern und uns in ihren fühlenden Kreis hineinziehen, wie Maria und Johannes unter dem Kreuz Christi in dem Historienbilde des Konrad Witz 2 4 ü ; die Söhne, Schwiegertöchter und Enkel in der Sterbestunde des segnenden Jakob von Rembrandt 2 2 4 ; Seni ergriffen an der Leiche Wallensteins (Abb. 51) oder die um den Leichnam des Heiligen Quirinus bemühten Verwandten und Freunde, die die Leiche bergen. 2 5 0 Hier dient aber die Landschaft und die kühne Rückansicht des ganzen Vorganges nicht nur der Isolierung des Lebensbildes, sondern auch der Verdichtung, der Konzentrierung, indem die nächtliche Einsamkeit der Stimmung, der Intimität des eng Verbundenseins dieser Menschen, das die Öffentlichkeit scheut, zugute kommt und zugleich mit der dunklen Nacht und dem helfenden Schein des Mondes die Natur an dem friedlichen Vorgang stimmend teilnehmen läßt. Die Kunst des wahren Porträtisten hat es in der Hand, Individualität und individuelles Leben der Physiognomien durch dieselbe Auswahl und Betonung der wesentlichen Züge hervorzuheben und dadurch die historische Einmaligkeit zu steigern und den Ausdruck zu verstärken wie im Einzel-Porträt. Die Menschlichkeit, die gerade die hochgestellten Personen hinter einer diplomatischen Maske im Leben zu verbergen pflegen, kann das Geschichtsbild ganz anders intensiv zutage fördern als etwa eine Fotografie. Diese vom Historienbild verlangte Lebendigkeit und intensivierte Menschlichkeit birgt die Gefahr in sich, daß das zum Mitleben Anregende zum Mitleiden-Erregen aufgeputscht wird, und wie bei Rembrandt in der „Blendung Simsons" 243 , oder bei Delacroix im „Gemetzel von Chios" 251 , die Entwürdigung und Vermenschlichung der dargestellten Personen einer historischen Tragödie zu abschreckenden Grausamkeiten gesteigert werden, die entweder in die Region des Abschreckbildes (Jüngstes Gericht und Höllenqualen), oder zur unbildlichen, ins reale Leben rückwirkenden Rührung führen. Geschichte kann von jedem bekannten Menschen für die, die ihn kennen und ihm sympathisch gegenüberstehen, geschrieben und deshalb auch gemalt werden. Tagebücher, Selbstbiographien, Briefe sind Quellen für geschichtliche Rückerinnerung der Bekannten,
II, 643. II, 629. 248a) ß s j s t anzunehmen, daß H. das riesige Bild v o n G r o s im L o u v r e im A u g e hatte. Es stellt aber nicht Napoleons Flucht dar, sondern verdankt einer anderen Episode seine Entstehung. D e r Pyrrhussieg v o n Eylau endete mit einem Verlust v o n 2 5 0 0 0 Toten und Verwundeten, beide Seiten zusammengenommen. Napoleon v e r f ü g t e danach nur über das Schlachtfeld. Bei der Besichtigung am nächsten M o r g e n äußerte er: „ W e n n alle K ö n i g e der Erde einen solchen A n b l i c k erleben könnten, w ü r d e n sie weniger auf Schlachten und Eroberungen aus sein". Um dieser Feststellung Nachdruck zu verleihen, ließ Napoleon einen Wettbewerb ausschreiben, der diesen Passus enthielt. Im V o r d e r g r u n d des Bildes mußte noch der Russe gezeigt werden, der sich in panischer A n g s t der V e r s o r g u n g durch den französischen Truppenchefarzt entziehen möchte, und der litauische Kürassier, der Napoleon ewige Treue schwört, wenn man ihn nur am Leben ließe. — Das Beispiel gehört also in die v o r i g e Kategorie der Darstellungen des menschlich ergriffenen und erschütterten Potentaten. — Das Bild mißt 5 , 3 3 : 8 m. G r o s , ses amis, ses eleves. Petit Palais 1936, Cat. No. 40, S. 6 7 - 6 9 . 217
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219 250 251
II, 490. A l t d o r f e r : II, 580. II, 997.
83
zu denen man selbst gehören kann. Aber es macht einen Unterschied, ob das Historienbild in großem Format, öffentlich ausgestellt, einen allgemein bekannten, d. h. nicht wie im Vorbild allgemeingültigen, aber allgemein verständlichen Menschen behandelt oder einen Privatmann, den nur die ihm Nächsten kennen und verstehen. Wo ein historisches Faktum als Erlebnisbild so wiedergegeben ist, daß es, auch bei allgemein bedeutsamen Personen, nur ein privates, harmloses, im ganzen des Lebens belangloses Nebenbeierlebnis darstellt, wollen wir von historischer Anekdote reden. „Bonjour Mr. Courbet" (Abb. 52) heißt ein Bild von Courbet, das den Maler auf dem Wege zum Arbeitsplatz zeigt, zwei Bekannte begrüßend, die der Betrachter nicht als für den Lebensgang Courbets wesentlich zu erkennen vermag. Das ist eine historische Anekdote, die als solche besser in einer Zeichnung oder einem Skizzenbuch Platz fände wie die vielen Zeichnungen, die Rembrandt seiner Frau oder seinem Jungen Rumbartus gewidmet und damit ein Stückchen Selbstbiographie graphisch wiederholt hat, für ihn stärker Lebenserinnerung als für die Öffentlichkeit. Um sich als Mensch menschlich zu beweisen, haben Tyrannen sich im Verkehr mit Kindern porträtieren lassen. Von dem historischen Anekdotenbild unterscheiden wir das eigentliche Historienbild, d. h. die Darstellung aus dem Leben von öffentlich bekannten Personen, denen eine Veröffentlichung, wie sie das Historienbild ist, zu widmen auch lohnt. Aber wie zum Ausdruck bringen, daß in der Entwürdigung des Historienbildes, in dieser Darstellung des einfach Menschlichen es sich um das Leben hochgestellter, also kultwürdiger Personen handelt? Durch herrscherlichen Ausdruck, Hochmut und herrscherliche Haltung geht es nicht, denn dann verschwindet ja die Menschlichkeit wieder. Es geht nur durch das, was nicht die Person selbst ist, sondern nur Umhang, Verkleidung, Insignien, d. h. das Kostüm, den Prachtturban oder die Krone, den Prachtmantel des Papstes oder des Kardinals, den gleißenden Schmuck der Ketten, Kreuze, Orden, die Uniformen der hohen Militärs, durch Gold, Silber und „Lametta". Wenn in diesen Götzenkostümen der Edle sich vergißt und sich gemein macht durch Zusammenbruch und Gehenlassen des Körpers, durch Gehenlassen der Gefühle mit Gelächter oder in Tränen, wenn er sich vergreift an Dingen, die zu anderem bestimmt sind, dann wirkt dieses Zusammenbrechen des Stolzes in tiefer Menschlichkeit durch den Kontrast um so schneidender, je mehr der Zusammenbruch als historisches Faktum selbst ein Verdikt des Hochmutes, eine Verleugnung des Wertes der Ehre und Ehrfurcht, ein Hohn auf die gute Gesellschaft der Vorbilder ist. Diese höchste Form des Historienbildes hat wiederum Rembrandt, der Porträtist, geleistet in allen Historien seines Alterswerkes, am reinsten aber in der späten Darstellung von Saul und David 252 , wo die Umgebung des Sehenswürdigen auf ein Minimum beschränkt ist, einen Vorhang, einen schweren Prachtteppich, wo der historische Schauplatz selbst nur durch die beiden Mitwirkenden, Saul und David, gebildet wird, und durch das Zur-Seite-Stellen des David, der nur die Anregung zu dem seelischen Ausbruch des Königs gibt, der Ausdruck von Menschlichkeit ganz von der einen Person des Königs geboten wird. Im Prachtturban, im Brokatstoff, in Samt und Seide, mit Gold und Perlen ist dessen königliche Würde als ein Verhängnis unmißverständlich gezeichnet. Aber aller Würde ungeachtet, schmilzt der Stolz des Königs, sinkt er in sich zusammen, bricht er in Tränen aus und greift, alles um sich vergessend, zum Vorhang, sich diese Tränen zu trocknen. [Auch Menzel hat um diese Zusammenhänge gewußt. Friedrich der Große speist und musiziert mit aufgeknöpftem Rock, und dieser unterscheidet sich nicht von der Offizierstracht seiner Umgebung.] 253
5. DAS GENREBILD Das Genrebild gehört in die Kategorie der Lebensbilder, stellt menschliche Situationen dar, die lebensvoll miterlebt, sympathisch mitgefühlt werden können, durch Eigenräumlichkeit unserem Wirklichkeitsbereich entzogen, so konzentriert, lebendig verdichtet und gesteigert, daß es sich lohnt, zuzusehen und im Mitleben sich ein Erlebnis zu verschaffen. Wie jedes Lebensbild ist auch das Genre ein Gegensatz zum Kult- und Vorbild, zum Schreck- oder 84
Abschreckbild, will auch nicht gefallen, nicht animieren mitzutun, nicht auf unsere Sinnlichkeit spekulieren. Im Gegensatz zum Porträt und Historienbild ist es von jeder Haftung am Bekannten frei, dessen Wiedererkennen einen besonderen Ton der Intimität, der sympathischen Beziehung hineinbringt. Auch das Genrebild bringt individuelle charakteristische Menschen statt der Typen, aber es betont mehr als die Einzelindividualität das Genre, d. h. bestimmte, besondes charakteristische Lebenszustände, wie das Leben zu Hause in der Familie, das Vergnügen auf den Jahrmärkten, die Schwärmerei des Naturfreundes, die Verbohrtheit des Sammlers, die Ausgelassenheit der Soldateska, das Leben der Hirten, der Bauern, der Landstreicher, der Bettler. Die Besonderheiten dieser Lebensarten, dieses oder jenes Genres, anstelle von individuellen Porträtzügen und im individuell Besonderen die charakteristischen Züge der Art des Lebens, die Lebensart hervorzuheben, ist das Wesen des Genrebildes. Je stärker diese Besonderheiten der Lebensart hervorgehoben werden, desto mehr treten von selbst, mögen sie noch so scharf erfaßt sein, die invividuellen Porträtzüge zurück, wie bei der Betrachtung des Porträts das Beispiel des Chinesen oder Negers gezeigt hat. Da aber alles, was Gesellschaftlichkeit, höfisches Wesen, religiöse Kultform ist, auf allgemein verbindliche Formen ausgeht, so ist klar, daß ein Bild, in dem die höfischen Formen eleganter Haltung, stolzer Mienen, ein Verbergen der Menschlichkeit hinter der Maske der Höflichkeit das Charakteristikum der besonderen Lebensart ausmachen, kein Genrebild abgeben kann, da einerseits immer ein Typisches, Allgemeines in diesen Lebensformen wirksam sein wird, andererseits auch immer die Vorbildlichkeit oder der Stolz auf die Zugehörigkeit zur guten Gesellschaft, auf Bewunderung oder auf Ansehen, nicht Zusehen rechnet. Die modische Tracht der vornehmen Gesellschaft kann wohl die Zeiten charakterisieren, in denen eine Tracht herrschte, aber diese Mode wird immer ein Mittel zum Gefallen, zum Sichhervorheben sein, kein Charakteristikum einer Lebensart. Auch das Genrebild liebt das Kostüm, aber zur Charakteristik bestimmter Schichten der Menschheit, der Stände, der Bergleute, Bauern, der Schornsteinfeger, der Zimmerleute. Vor allem die Bauern, die das Lieblingsobjekt der Genremaler sind, pflegen durch altererbte Trachten ihre Besonderheit als Lebensart zu zeigen; denn im Genrebild werden eben alle die Seinsarten des Menschlichen bevorzugt, die — wie im Lebensbild überhaupt, doch weniger im Porträt und Historienbild als im Genrebild — in den formlosen Menschenarten, die an keine Konvention gebunden, zu keiner Vorbildlichkeit verpflichtet sind, vielmehr aller Lebensform sich entziehen, in Erscheinung treten; die Bauern, die Bettler, die Wilden, die Kinder, die im Kultbild höchstens als das Unerzogene und Schlechte eine Rolle spielen und als das öffentlich nicht Bekannte, das Unbekannte, wie der gemeine unbekannte Soldat, in das Historienbild keinen Eingang finden. Es ist deshalb auch nicht so, daß jedes Bild, das eine von jenen für das Genrebild bezeichnenden Lebensarten zum Inhalt hat, deshalb schon ein Genrebild ist. Dies gilt besonders von den Bauern und Hirten, den Menschen, die durch ihre Beziehung zur Natur selber einen natürlicheren Zustand der Menschheit zu verkörpern scheinen. Im Positiven wie Negativen kann der Bauer und das Landleben in die kultische Sphäre hineinführen; positiv, wenn ein Stück des von der Kirche behüteten Lebens als Teil der Schöpfung Gottes, als zum Bereich der Kirche gehörig, auch im Zvklus der Kultbilder eine Stelle findet. In den Monatsbildern des Mittelalters wird der in bestimmten ländlichen Beschäftigungen gezeigte Bauer Repräsentant, Personifikation eines Monats und der in diesem Monat stattfindenden ländlichen Beschäftigung, so der Kornmähende am Westportal der Kathedrale in Chartres für den Monat Juli (Abb. 53). Stilistisch wird sich diese Kultbeziehung in einer edlen Haltung und einem Übergewicht der die Haltung verkörpernden Person ausdrükken. In der Gestalt des Herbstes von Cossa264 werden die Gestalt des Bauernmädchens, die
253
II, 747. Flötenkonzert: II, 994. Das Manuskript enthält an dieser Stelle den handschriftlichen V e r m e r k : Menzel, Flötenkonzert, aber keinen Text dazu. V g l . Mal. S. 2 6 4 f f .
254
II, Taf. X I .
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85
Attribute in ihrer Hand, die Beziehung zur Landschaft, zum Freilicht, so natürlich dargestellt, daß hier ein reines Bauerngenrebild vorzuliegen scheint. Aber die Hervorhebung der Gestalt, ihre klassische Ausgewogenheit, die Frontalität, erheben sie zur Kultfigur, zur mythischen Person, zur Repräsentation des Herbstes. So sehr aus solchen Monats- und Jahreszeiten sich das Bauerngenre und das Genrebild überhaupt entwickelt hat, in dieser Allegorie des Herbstes ist das mittelalterliche Element des Kult- und Vorbildes, des Mythos, noch oder schon wieder da. Wir nennen es mythisierendes Pseudogenre. Durch diese Verbindung von Form und Haltung, charakteristischem Gebaren, eigenartiger Tracht und großplastischem Aufbau der Figuren, betonter Haltung und frontaler Einstellung, d. h. durch die Mittel des Kult- oder Vorbildes, kann das Bauernbild ein Mittel der Standeserhebung der Bauern werden, ein Manifest der Revolution, durch das den Bauern Achtung, Beachtung, d. h. kultische Bedeutung, eine Rangerhöhung, verschafft wird. Dies wird besonders dann gern geschehen, wenn in dem Bäurischen, also das, was das Genremäßige bedingt, selbst ein Wert, ein Vorzug gesehen und zum Vorgang umgedeutet wird. Das ist der Fall in den Bildern des holländischen Manierismus im 16. Jahrhundert, bei Aertsen, Beuckelaer 255 , aber auch bei Leibi 256 mit seinem Idealbild der Bauern, nicht durch antikisierende Verallgemeinerung, sondern durch Steigerung des Charakteristischen mit einer dem Kult entnommenen Bildform. Wir nennen es heroisierendes Pseudogenre. Aber auch die gesellschaftliche Form des Hirtenbildes ist nicht Genrebild. 257 Hier verkleiden sich vornehme Herren und Damen in ein seidenes Hirtenkostüm, in dem die frivole Grazie ihrer Liebeständeleien das Parfüm ländlicher Unschuld erhält, durch das alle erotischen Künste sich um ein wirkungsvolles Reizmittel bereichern. Die Form dieser ländlichen Szenen, das Pastorale, ist die der antikisierenden Venusbilder der höfischen Kunst mit auf den Beschauer illusionistisch berechneten Posen, in denen absichtliche Haltung sich mit dem Reiz des Zufälligen und Paradiesischen paaren. Auch Kinderszenen können dieser gesellschaftlichen Verkleidung dienen, wie in Bildern Fragonards. Es ist erotisches Pseudogenre, Gesellschaftsbild in Verkleidung, nicht Genrebild. Hierher gehört auch das, was man Schlüssellocherotik nennen könnte, die Entblößungen des weiblichen Körpers, die bei der Morgentoilette oder dem Aufstehen (dem Lever) auf Bildern des französischen Rokoko sich vielfach finden und dem Zufälligen der Situation reizvoller Körper mit berechneter Grazie untergeschoben werden. 258 Die Bauern- und Naturdarstellung kann sich auch negativ vom Genrebild als dem nacherlebbaren Lebensbild entfernen, indem die Natürlichkeit als Abweichung von der Norm kritisiert wird und den Menschen des Kults als abschreckendes Beispiel entgegengehalten wird. Hier wird der Bauer zum Tölpel, und alles, was als Natürlichkeit im Naturalismus als Wert empfunden wird, wird zum Laster, das als Schreckbild kontrastierend einer Tugend als Vorbild zugesellt wird. Hier wird dann die Individualität, durch Abweichung von der Norm, übertrieben, zur Häßlichkeit, der seelische Ausdruck, das Leben in der Physiognomie zur Grimasse, die ungezwungene Gebärde zur linkischen Unbeholfenheit, die ungezwungene Haltung zur Flegelei, der Bauer und Bettler zum Rüpel, die Naturwahrheit zur Übertreibung und Karikatur. So sind die Bilder Pieter Brueghels 250 nicht Genrebilder, sondern moralisierende Sinnbilder. Das uns heute ergreifende Bild der „Blinden" in Neapel ist einer Gesinnung entsprungen, in der körperliche Gebrechen als Laster empfunden werden, der Wahnsinn als Verbrechen, wie noch im 18. Jahrhundert; für die kultische, vorbildliche Einstellung, der Haltung und Schönheit moralische Forderung war wie in der Antike und im Mittelalter, sehr begreiflich. Die Blinden, das sind die Unwissenden, die die Wahrheit der Religion und Moral nicht sehen, die sich einem Blinden anvertrauen und von ihm führen
255 256 257 258 259
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II, 674f., und Annibalc Caracci: 819. II, 1025 f. Adriaen van der Werff, Schäferszenen; Boucher; Dietrich: II, 760, 889, 909. Boucher, Mademoiselle O ' M u r p h y ; Lepicie, Fanchons Morgentoilette: II, 890, 915. II, 44, 679.
lassen hinein in den Abgrund, der im Mittelalter die Hölle war. Dieses sinnbildliche Pseudogenre — Genre, weil so viel Naturdarstellung und Charakteristik in den Figuren steckt — hat Breughel in den Sprichwörtern deutlich als sein künstlerisches Ziel ausgesprochen; es ist ein moralisierendes Pseudogettre. Jordaens 260 , der Zeitgenosse des Rubens und von dessen mythologischer Malerei angeregt, hat seinem Temperament und seiner niederländischen Volksart entsprechend auf die natur- und triebhafte Art der antiken mythischen Darstellung größeren Wert gelegt als auf die heroisch vorbildliche und in Satyrn und Mänaden das Rauschartige sinnlichen Daseins stärker betont als das erotisch Reizende. In doppelter Weise hat er dabei dem Leben der Bauern Eingang in seine Kunst gewährt, einmal allegorisch andeutend, moralische Sentenzen illustrierend, wie in der Darstellung des Satyrn bei der Hirtenfamilie, der sich von ihnen wegen ihrer Zweideutigkeit entfernt, weil sie mit demselben Atemzug warm (sich die Hände wärmend) und kalt blasen (die Suppe im Löffel kühlend). Die Gesamtatmosphäre, das Milieu, die Bauernfiguren, ihr Gehabe, sind so natürlich, daß es ein Genrebild sein könnte. Aber der Sinn, das lebensgroße Format, die Frontalität des Figurenkreises, die Komposition weisen auf eine höhere erzieherische Bedeutung hin, auf die Abkunft von mittelalterlichen Lasterdarstellungen. In anderen Bildern hat Jordaens großartige Schmausereien dargestellt, bei denen es hoch hergeht, aber auch zwanglos, mit Fressen und Saufen, Musizieren und Singen, formlos in der Derbheit der Typen, animalischer Lust am Fraß, im natürlichen Nachgeben bei körperlichen Bedürfnissen und in ungenierten Entblößungen. Aber auch diese Bilder sind keine intim häuslichen Genreszenen, deren menschliche Freude am Essen und Trinken und Sattwerden man miterleben könnte. Dagegen spricht auch in diesen Bildern das illusionistisch große Format, die auf den Ausdruck von Völlerei stilisierte Typik der Figuren und Gesichter, das Ostentative der Gebärden. Es sind Bacchusfeste in Gegenwartskostümen, auch eine Art von Mythos, abschreckend für den Moralischen und Asketen, ein Abschreckbild der Völlerei, wie die Parabel vom reichen Mann im Mittelalter, aber auch eine Anregung für den Sauf- und Freßlustigen, eine Aufforderung, was früher eine Unsitte war, jetzt zur Sitte werden zu lassen, ähnlich den Kneipliedern in den Studentenverbindungen des 19. Jahrhunderts: „So leben wir!" Die Tendenz zur Verallgemeinerung, zur Allgemeingültigkeit, die in diesem Fall das in der guten Gesellschaft Abschreckende in der menschlichen Gemeinschaft des Naturalismus zur Verlockung, das Unsittenbild zum Sittenbild machen möchte, erlaubt uns, diese moralisierenden Bilder im abschreckenden wie verlockenden Sinne als Sittenbilder, im Gegensatz zum Genrebild, zu bezeichnen.261 An diese animierenden Sittenbilder schließen sich auch jene mit porträthafter Individualisierung vorgeführten Typen menschlicher Verwilderung oder Verkommenheit an, die durch Hervorhebung dieser Züge einer von der biologischen und moralischen Norm abweichenden Originalität und ihre Übertreibung auch eine moralische Tendenz zu haben scheinen, — seht, welch ein Lump! — und sie bringen dies auch durch eine monumentalisierende Frontalität und Drastik zum Ausdruck, durch Heraussehen der Figur zum Bilde, und zwingen durch Uns-Ansehen auch uns zum Ansehen, zur Beachtung. 262 Aber durch ein mitreißendes Lachen und Zuprosten (Ansprechen) werden wir unwillkürlich auf einen Standpunkt herabgezogen, der uns in gleiche Laune versetzt und zum Mittun auffordert. Darin beruht das Animierende dieser Bilder, die dem Abschreckbild verwandt, doch für diesen Naturzustand der verwilderten Originale zugleich Propaganda machen und deshalb vorzügliche Kneipenbilder abgeben. Da dieses Lachen und auf den Augenblick Eingestelltsein vom Porträt abführt in eine zwar durch diese Person individualisierte, aber doch menschlich allgemeine Situation, so sind diese Bilder keine Porträts; das Wer und Wo und Wann interessiert nicht, sondern nur das Wie der charakteristischen Lebensverfassung, aber nicht
262
II, 7 0 9 - 7 1 2 . II, 757. Frans Hals, Lustiger Zecher, Malle Babbe: II, 7 1 7 f .
7
Hamann
260 231
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zum Mitleben, sondern zum Mittun in einer Kumpanei, deren eines Glied der Dargestellte ist. Diese individuelle Zugespitztheit der Gesellschaft und diese einmalige Situation unterscheidet diese Bilder von den animierenden, halbmythischen Bildern des Jordaens. Auch sie bewirken eine gewisse Beachtlichkeit der liederlichen Originale, aber nicht wie bei heroisierten Bauernbildern durch Erhöhung, Monumentalisierung der Dargestellten, sondern durch Erniedrigung der auf den Standpunkt dieser Wüstlinge herabgezogenen Betrachter des Bildes. Wir nennen es das animierende genrehafte Lumpenbild. Noch eine Nuance anders sind die Rüpel- bzw. Bauernbilder, in denen unwürdige oder nichtswürdige Personen, die vom Standpunkt des vornehmen Betrachters verächtlich, eben nichts' würdig sind, in Situationen gezeigt werden, in denen sie unserer Bewunderung wie die Heroen im Schlachtenbild, oder unseres Mitleids und zugleich unserer Achtung würdig wären, wie im Märtyrerbild. Indem hier durch rohes Zuschlagen und tölpelhafte Gebärden die Vorbildlichkeit des Heroischen in wüste Schlägereien ausartet, das Martyrium in grimassierende Schmerzäußerung und den Menschen verzerrende Reflexbewegungen, beides aber wegen der groben, auch des Mitleids nicht würdigen Typen im Zusehen nicht das Mitgefühl hervorruft, sondern die Schadenfreude, also eine Stimmung des Vergnügens statt der Abschreckung, entsteht eine Atmosphäre zwischen Verwerfung und Sympathie, des Ablehnens und des Zustimmens. Auch in dieser Form des Pseudogenres, die im Grunde eine Parodie des Schlachten- und Märtyrerbildes ist263, wird die auf den Beschauer illusionistisch wirkende Tendenz durch Verallgemeinerung, durch drastische Übertreibung ausgedrückt, dem Schreckbilde, den Quälereien des Jüngsten Gerichts verwandt. Aber die Vergnüglichkeit wird durch eine dem Genrebild verwandte Desillusionierung, besonders durch kleines Format, durch die verallgemeinernde und parodierende Form des Puppenspiels, der Marionetten, erreicht. Das Zusehen wird nahegelegt durch eine im Bilde zusehende Person, die schon mit allen Zügen der Schadenfreude jede mitleidige Stimmung abschwächt. Das sind die Wirkungsmittel des marionettenhaften, tragikomischen Halbgenres von Brouwer und Ostade. So bleibt also das echte Genrebild nur dort, wo natürliche, charakteristische Lebensvorgänge ohne jede kultische Anregung in ihrem schlichten Sein sympathisch vorgeführt werden und durch ihren eigenen Raum, dem Beschauer entrückt, nur dem Mitleben und Zusehen sich bieten. Ein schönes Beispiel ist die Radierung Rembrandts „Der Bettler an der Haustür" (Abb. 54), wo das Milieu mit wenigen Strichen angedeutet vor allem durch die räumliche Beziehung der beteiligten Personen gegeben wird, und alle Figuren schlicht menschlich, ohne Betonung des Zerlumpten oder heischender Frechheit, von uns mitgefühlt werden in demselben Sinne, wie der wohlhabende Besitzer des Hauses seine Gabe freundwillig spendet. Im Gegensatz dazu zeigt eine frühe Radierung Rembrandts, „Die Rattengiftverkäufer" (Abb. 55), die Hauptgestalten in einer abstoßenden Verkommenheit, die noch die Nähe des Abschreckbildes verrät, von dem Rembrandt herkommt und von dem sich auch Ostade in seinen späteren Bauernbildern befreit (Abb. 56). Hier ist durch einen sonnigen Platz vor dem laubenumrankten Bauernhaus auch die Architektur der Natur der Landschaft nähergerückt und durch zwanglose Zerstreuung der Familie, durch Hören auf die einfache Musik eines Dorfgeigers, durch spielende Kinder und behagliches Verweilen der Alten eine charakteristische Ausruhstunde sonntäglicher Vergnüglichkeit festgehalten. Im Innenraum ist das unaufgeräumte Durcheinander von Möbeln und Geräten ein Gegenstück zu einer waldhaften Wildnis, in der die Menschen unbekümmert wie die Tiere sich ihrem Tun und Treiben und kindlichem Spiel hingeben, nicht abschreckend, sondern gemütlich und sympathisch. Der Charakter des Lebensbildes wird am reinsten und intensivsten auch am konzentriertesten, ähnlich wie in dem Porträt, aus der charakteristischen Darstellung einer Menschenart von schlichtem natürlichem Sein geschöpft, wo ein einzelner Mensch bei einer ihn ganz erfüllenden äußeren oder inneren Tätigkeit geschildert wird: ein lesender, sinnender Mann 263
88
Brouwer (vgl. auch Anm. 214), Rüpelszenen, Vaterpflichten, Operation: II, 35, 722f.
in seiner von geistig anregenden Gegenständen erfüllten Stube wie der „Lesende Jüngling" in Kopenhagen aus der Schule Rembrandts264, oder eine stickende junge Frau wie in Kerstings zarten Bildern265, junge Mädchen in ihrer schlicht aufgeräumten Stube, oder jene alten Frauen in ländlicher Tracht, die in ihrer von hüllender Dämmerung erfüllten Stube, beim warmen Licht des Abends und mit ihrem Milieu ganz eins geworden, das stille, geruhsame Glück im Winkel eines verdämmernden Tages fern von aller Welt genießen.266 Denn das Genrebild verträgt als Darstellung charakteristischer, nacherlebbarer Menschenart nicht die aufregenden Ereignisse und Vorgänge, die mehr nach der Geschichte als nach ihren charakteristischen Trägern fragen lassen und mehr in die Region des Historienbildes hineingreifen. Die ruhige Zuständlichkeit lebendiger Bezogenheit von Umgebung auf den Menschen und des Menschen auf seine Umgebung, die ihn wie sein Kleid umhüllt, ist dem Genrebild am gemäßesten267 ; denn der Zufall des Geschehens trägt selten zur Erfassung der Eigenart, der Menschenart des Genres bei.
6. DAS INTERIEURBILD Die Umgebung des Menschen im Tafelbilde, die ihn entrückt und illusionistische Wirkungen ausschließt, so daß die Menschen ganz ohne Beziehung zu uns in ihrem eigenen Bereich gesehen und miterlebt werden, kann zu dem Lebensgehalt, dem wir zusehen, ein solches Verhältnis haben, daß wir die Einheit von Person und Raum, in der er weilt, von Personen und Dingen, die er zum Leben braucht, darin empfinden. Dinge und Raum, in denen der Mensch weilt, können so miteinander zusammenhängen, daß wir von der Eigenart des Menschen, in dessen Behausung wir hineinsehen, einen Schimmer verspüren und durch Einfühlen in diese individuelle Räumlichkeit einen Eindruck von seiner individuellen Persönlichkeit erhalten. Also auch ein toter Raum kann lebendig und miterlebt werden wie Menschen im Genrebild, wenn er die Individualität einer bestimmten Person widerspiegelt und durch eine Stimmung, die der Raum vermittelt, uns am Leben in diesem Raum teilnehmen läßt. Dieses Raumganze, Raum als nacherlebbares individuelles menschliches Leben im Raumbild, nennen wir Interieurbild. Damit ist schon gesagt, daß nicht jede Raumdarstellung im Bilde schon ein Interieurbild ist. Damit der Raum Physiognomie hat, also die Lebensatmosphäre eines bestimmten Menschen vermittelt und so ohne Beziehung zur Wirklichkeit unseres eigenen Lebens bleibt, muij er Wohnraum sein, Eigenraum irgendeiner Person, nicht Gotteshaus (Kirche), in dem wir, wie alle Personen dieses Raumes, bei einem Herrn zum Kult dieses Herrn versammelt sind, ein Raum, der wie das Bild dieses Herrn allgemein gültige Formen zur Vorbildlichkeit für den Kult oder zur Repräsentation des Heiligen braucht. Die strenge Form des Kirchenraumes schließt die individuelle Eigenart des Raumganzen aus. Die dem Bewohner angemessene Individualität des Raumes kann sich schon durch die Raumform, konzentrierende Enge oder entlastende Weite, drückende Flachheit oder befreiende Höhe, ruhige Geschlossenheit oder hastige Tiefe, einfache Eintönigkeit oder reiche Ausnischung und Raumverknüpfung, äußern. Wichtiger aber sind doch die Objekte, mit denen sich der Mensch umgibt, die Teppiche auf dem Fußboden, die Möbel und Geschirre, das Handwerkszeug und die Bilder an der Wand, das Gebrauchsmäßige und das bric-à-brac, die Nähe oder Ferne des Gebrauchten oder Schmückenden zum Ich der Person, das Format und die Form, die Neuheit oder Abgenutztheit. Damit Leben aus den Dingen und dem Raum spricht, damit der Raum natürlich wirkt und einem ungezwungenen, natürlichen Leben im Raum entspricht, ist es gut, wenn ein solches Interieur wie im Interieurbild des Heiligen 264 235 266 267
7*
Rembrandt, Abb. 42. Vgl. auch Jan Six: II, 734. II, 975. Dou, Rembrandt, Maes: II, 729, 735, 754. Ostade, Hooch, Vermeer, Chardin, Hubert Robert: II, 737f., 752, 756, 892, 914. 89
Hieronymus von Dürer 31 oder in den Bauernidealen Ostades267 nicht zu aufgeräumt, nicht architektonisch ausgerichtet wirkt. Das Herumliegen der Dinge, als seien sie eben erst gebraucht, die unberechnete, wie von selbst gewordene Plazierung von Möbeln und Geräten erhöht den Reiz des Interieurs als eines individuellen Raumganzen und Lebensbildes. Das Wichtigste aber ist das Licht. Nicht nur, daß durch die eigene Beleuchtung einer bestimmten Tagesstunde die Entrückung aus unserem Raum entscheidend gewährleistet wird, durch die Anordnung der Fenster, hoch oder tief einfallendes Licht, breit einströmendes oder kanalisiertes, klar sich ausbreitendes oder durch kleine Scheiben gebrochenes, durch trübe oder farbige Scheiben filtriertes, durch verschlucktes oder widerspiegelndes Licht, kann der Raum so verschiedenartig durchleuchtet und durchschattet sein, daß von diesem Licht die Individualität eines Raumes im besonderen abhängt. Wo aber die Schatten — und hierzu bietet die Dämmerung mehr Gelegenheit als helles Tageslicht — die Dinge verunklären, mit Dunkelheit umhüllen und alles in Dämmerung zu einer Gesamtstimmung einen, da entsteht der Eindruck des Entrücktseins des Raumes, der Atmosphäre, die für den Eindruck des Eigenlebens des Raumes, des nicht für uns, sondern für sich Daseins, seines Hausgeistes, besonders günstig ist. Nichts aber ist auch für die seelische Tonart des Bewohners so entscheidend wie die Tonart des Lichtes, die wir Stimmung nennen, weil es unsere Stimmung beeinflußt. Das Kühl-Frische des Morgens, wie in Menzels Balkonzimmer 268 , das Klar-Aufgeweckte, zur Tätigkeit Anspornende des allseitig durchleuchteten Mittags, das Schummrig-Dunkelnde des Nachmittags und das Still-Verdämmernde, zum Träumen Verlockende des Abends, aber auch die Nacht, in die spärliche und grelle Lichter unheimlich hineingeistern können, menschliche Erlebnisse andeuten, wobei der Raum unbestimmt und unklar auch den Menschen schreckhaft und unsicher macht, diese Stimmung den Zusehenden zu suggerieren, kann der Künstler eine oder mehrere Personen mitmalen, die durch ihr Verhalten und ihr Sein die Individualität des Raumes erläutern und verständlich machen. Aber soll das Raumganze, das Interieurbild dabei nicht in echtes Genre übergehen, auf dessen Grenze jedes mit Personen als Staffage versehene Interieurbild steht, so muß diese Personenstaffage so zurückhaltend gegeben und dem Raum eingeordnet sein, daß dieser als Hauptfaktor des Bildes den Ausschlag gibt. Dafür kommen in Betracht: Kleinheit der Figuren, Hinausfluten des Raumes über sie, Einbeziehung der Personen in die raumklärenden Momente des Bildes, in die Wandfluchten, in stille Winkel, in die Übergänge vom Haupt- zum Nebenraum, und ein Verhalten, das nur dem Sein im Raum gilt, keinem besonderen, für sich interessanten Tun. So ist der Heilige Hieronymus von Dürer 31 , so in den Winkel hineingedrückt, wo sich die Hauptwände des Zimmers begegnen und eine gemütliche Ecke am Fenster bilden, recht geeignet, die Stimmung eines Studierzimmers durch geistige Beschäftigung auszudrücken, so daß trotz des Heiligenscheines der Heilige zur Staffage, das Zimmer zum Interieurbild wird. Die schlicht im behaglichen Raum am Kamin oder Fenster sitzenden, spinnenden oder Kartoffeln schälenden Frauen auf den Bildern von Nicolaus Maes 269 haben keine andere Bedeutung, als die Raumstimmung des von der Welt abgeschlossenen, dämmernd den Lebensabend der alten Frauen widerspiegelnden Innenraumes zu interpretieren. Für die zusammengefaßte Wirkung eines solchen Interieurbildes, wie sie kein wirklicher Raum in der reinen Wahrnehmung, im Zusehen, zu bieten vermag, sind zwei Momente entscheidend, die Übersicht über die Raumganzheit und die Zentralperspektive. In Wirklichkeit sehen wir vom geschlossenen Innenraum, in dem wir uns befinden, immer nur einen abrupten Ausschnitt oder nicht einmal diesen, sondern nur die raumbildenden Wände nacheinander. Das Tafelbild, d. h. das Interieurbild, vermag den Innenraum, den abgeschlossenen Wohnraum, so zu geben, als ob wir ihn von weitem sähen, von einem Standpunkt außerhalb der vier Wände oder, da das ja bei der Geschlossenheit des Raumes nicht möglich ist, überhaupt nicht illusionistisch, sondern als etwas Ganzes, für sich Bestehendes, und deshalb in Raumform und Raumstimmung als unteilbare Individualität und Lebens268 269
90
II, 991. II, 754.
einheit gerade durch das hier zum ersten Mal sichtbar gewordene Raumganze, konzentriert wirksam. In demselben Sinne wirkt die Zentralperspektive, d. h. die Bezogenheit aller raumbildenden, perspektivischen Faktoren auf einen in der Mittellinie des Bildes liegenden Mittelpunkt (Fluchtpunkt). In Dürers „Hieronymus" 31 ist der Standpunkt des Beschauers seitlich verschoben, wie es bei illusionistischen Malereien, besonders wenn mehrere Räume nebeneinander gezeigt werden, notwendig werden kann, wie z. B. bei den beiden Räumen auf der „Geburt der Maria" von Sassetta. 270 Die Zentralperspektive dagegen auf den kleinen, mit einem Blick zu übersehenden Tafelbildern verlangt nicht einen bestimmten Standpunkt des Betrachters außerhalb des Bildes, der ja bei dem Tafelbild immer der Standpunkt vor dem Bild im Ganzen, d. h. mitten vor dem Bild sein wird, sondern sie dient dem geschlossenen, einheitlichen Raumganzen und einer konzentrierten Wirkung, und damit der Wirkung des Raumes überhaupt. Sie erleichtert die Interieurbildmäßigkeit der Raumdarstellung. Der Interieurdarstellung, die den Raum als etwas außerhalb unseres wirklichen Standpunktes als eine in sich geschlossene Raumeinheit faßt, widerspricht auch das sogenannte Nahraumbild, wie es z. B. bei Vermeer in dem Bilde mit dem fern gesehenen musizierenden Paar vorkommt (Abb. 57). Hier ergibt sich eine nach vorn, aus dem Bilde herauseilende Perspektive, die übertriebene Perspektive des Nahstandpunktes, die wieder den uns entrückten, in sich geschlossenen Bildraum in unseren Raum zu überführen, also ihn illusionistisch wirken zu lassen, geeignet ist. Bei illusionistischen, lebensgroßen Wandmalereien würde eine solche Nahperspektive gerechtfertigt sein und auch nicht als unnatürlich auffallen, im Tafelbild ist sie als illusionistisches Bild wegen der übersehbaren, illusionistisch ausgedeuteten genrebildlichen Kleinheit des Bildes, die einem Fernbilde entspricht, unnatürlich und widerstrebt dem Interieurbild. Das illusionistische Raumbild ist kein Interieurbild. Es kann seinen Zweck als Kultbild erfüllen oder als vorbildliches Gesellschaftsbild. Auch wenn die gemalte Kapelle in Bellinis Altarbild in S. Zaccaria in Venedig 28 ohne Figuren wäre oder nur mit einem kleinen gemalten Altarbild auf einem Altar in dieser Kapelle, so daß also der Raum als Hauptsache wirken würde, so würde dieser gemalte Innenraum kein Interieurbild sein, sondern ein Kultbild, das auch ohne Figuren die Betrachter feierlich stimmen würde. Auch der gemalte Raum an der Wand des Palazzo Labbia in Venedig 19 ist kein Interieurbild, sondern ein Festraum, der die gesellschaftliche Bestimmung des Hauptraumes, möglichst viele Menschen im rauschenden Fest zu vereinen, unterstützt. Was in Rokokoräumen durch Spiegel geschieht 271 , die Vervielfältigung und Erweiterung des Hauptraumes durch gespiegelte Räume, kann die illusionistische Malerei mit ihren Mitteln auch erreichen. Diese Räume, die in der pompejanischen Malerei 272 in Fortführung illusionistischer Raummalerei des Hellenismus die Räume erweiterten, sind eine andere Form der Architektur, nicht des Interieurbildes. Ein Interieurbild, wie wir es charakterisiert haben, ist aber auch als illusionistisches Wandbild gar nicht möglich. Ein geschlossener Innenraum kann wohl erlebt werden, indem wir uns seelisch in ihn hineinleben, obwohl er so gesehen wird, als ob wir ihn von weitem sähen, da ja diese Wirklichkeitsbeziehungen für das Miterleben keine Rolle spielen, er kann aber nicht an einer Zimmerwand die Illusion erwecken, als sei er wirklich da, ohne Wand und ohne Tür, ohne dabei seinen Charakter als intimer, abgeschlossener Raum völlig zu verlieren. Man könnte, wie wir es bei unseren Repräsentationsräumen tun, unsere Gesellschaftsräume durch einen gemalten zweiten Raum erweitern. Aber dann hört er auf, ein intimer Raum wie im Interieurbild zu sein. Auch müßte er schon mit einer Gesellschaft gefüllt sein, sollten wir nicht dauernd uns angeregt fühlen hineinzutreten, womit wieder die Stimmung des Interieurs entfiele. In der Akademie in Venedig hat Carpaccio den Traum der Heiligen Ursula 273 in lebensgroßem Format wie ein Wandbild gemalt, und zwar so, daß 270 271 272 273
II, 481. Paris; Sanssouci: II, 846, 887. 1, 894, 898, 903. II, 596.
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es als reines Interieurbild wirkt, so sehr triumphiert der behagliche Innenraum und seine Atmosphäre, die einer wohlbehüteten, gretchenhaften Jungfrau, — kein Kind, kein Engel ist so rein — über alles Figürliche. Aber die Zentralperspektive und der Einklang von Mensch und Raum wirken der Illusion entgegen, und niemand, der in dem Saal steht, in dem diese Bilder wie in einer Galerie die Wände füllen, denkt an die illusionistische Raumerweiterung durch dieses Bild. Dasselbe gilt von Carpaccios großem Bild des Heiligen Hieronymus 274 , das ebenfalls mehr Interieur- als Heiligenbild ist, obwohl der Heilige nicht so stark wie auf Dürers Stich 31 in den Raum eingeordnet ist. Aber Raumform, Raumkombination (die Nische im Hintergrund), MöbHerung, geistige Stimmung wirken im Sinne eines ganz individuellen Raumganzen und Lebensbildes. Wenn wir unter Interieurbild die entrückende Darstellung eines individuellen Eigenraumes verstehen, dessen besondere menschliche Atmosphäre wir als ein charakteristisches Leben des mitgemalten oder nur mitzuempfindenden Besitzers des Raumes verstehen, dann ist die Wiedergabe eines strengen Kirchenraumes im Bilde oder in Fotografie, etwa eine gotische Kathedrale oder ein reich geschmückter Gesellschaftsraum wie die Halle eines gotischen Klosters oder eines Rokokopalastes, kein Interieurbild, auch wenn es in der Form des Tafelbildes auftritt ohne illusionistische Einbeziehung des dargestellten Raumes in unseren Raum. Zunächst ist in diesen Räumen entscheidend die Form, das Allgemeingültige, auch in der Architektur, von der Raumform angefangen bis zu den Einzelformen der Architektur. Diese Form ist für den Betrachter zwingend, verpflichtend, auch wenn sie bildhaft auftritt, nicht anders, wie auch das gemalte Heiligenbild, wenn es den Heiligen heilig malt, Kultbild ist. Die gemalten Raumbilder allgemeinverpflichtender Innenräume (Kirchen- oder Gesellschaftsräume) sind also Kultbilder, und da wir die Formung eines Raumes für kultische oder gesellschaftliche Zwecke, d. h. als vorbildliche Gestaltung der Umgebung, Architektur nennen, sind es Architekturbilder, keine Interieurs. 275 Dieser Kult und diese Vorbildlichkeit des Raumes können sich so äußern, daß wir entweder direkt zum kultischen Verhalten angeregt werden, d. h. feierlich gestimmt werden, nicht mitleben mit etwas uns Fremdem, außer uns Seiendem, in das wir uns einfühlen, oder aber, daß wir es als Dokument betrachten können, sei es als Vorlage für eine noch zu realisierende Architektur — das wird umso mehr der Fall sein, je klarer, plastischer, durch Licht- und Finsternisstimmungen ungetrübter sich der Anblick bietet — oder sei es als Dokument für die historische Verwirklichung von Bauformen, die zugleich auch Dokumente für die Kultformen anderer Völker und Zeiten sind. Das aber führt nicht in das Gebiet des Historienbildes hinein, sondern in das der dokumentarischen Kunst und Illustration, vom Zusehen zur Einsicht, in das Gebiet der Wissenschaft. Aber auch an das Historienbild kann das Raumbild streifen. Das, was die Kirchen- und Palasträume im Bilde nicht nacherlebbar macht, d. h. zum Ausdruck oder zur Lebenssphäre eines Individuums, sondern als Ort für Gemeinschaften, denen die Architekturformen ein bestimmtes Verhalten vorschreiben, ist schon die Übergröße dieser Räume, die nicht dem Eigenleben des Individuums, sondern der zu gemeinsamem Leben zusammengefaßten Mengein einem Raum dienen, dessen Besitzer der Herr ist, Gott der Fürst; solche Räume sind herrlich, nicht gemütlich. Große Räume aber, die über das Individuum hinauswachsen und in einer eigentümlichen unarchitektonischen Form sich unbestimmt ausweiten, verworren und zerstreuend wie Stalaktitenhöhlen, von magischer Beleuchtung unheimlich erfüllt, dunkel und unbestimmt, den Menschen Form und Richtung vorenthalten, solche Räume können wohl ein Erlebnis vermitteln, von Ungewißheit und Angst, von Außersichsein und banger Erwartung. Derart sind die Räume, in die der junge Rembrandt seine meditierenden Heiligen versetzt, die Personen so klein, daß sie kaum mehr als Staffage sind. Aber auch das sind keine Interieurbilder, weil der Raum nicht als ein menschliches Sein, als Leben gewordenes Individuum erscheint, sondern als etwas außerhalb des Menschen,
274 275
92
II, 597. de Vries, de Witte: II, 672, 795.
Fremdes, Überwältigendes, Kontrast zum Menschen, nicht Ausdruck seiner. Dadurch wird auch das Raumerlebnis zum Ereignis, zum Geschehen, zum einmalig Zufälligen, so daß es viel mehr dem Historienbild als dem Raumgenre, dem Interieur zuzurechnen ist. Es wird kaum jemand geben, der ein solches Bild von Rembrandt als Interieur bezeichnen würde. Die Weite aber dieser Räume und die Unendlichkeit, die durch die Unbestimmtheit der Dunkelheit suggeriert wird, führt uns zum Landschaftsbild.
7. ÄSTHETIK DER LANDSCHAFT Landschaften und Landschaftsdarstellungen haben eines in ihrer Wirkung auf die Empfindung des Menschen gemeinsam: ein Gefühl von Freiheit und Unbefangenheit, mit dem die Landschaft den Menschen, der vor sie hintritt, wie aus Fesseln entbindet und freier atmen läßt. Dieses eigentümliche Grundgefühl äußert sich aber in den Landschaftsdarstellungen verschieden, je nach dem Temperament und den Bedürfnissen, mit denen ein Mensch an die Landschaft herantritt oder ein Künstler sie wiedergibt. Unter dem Reichtum an Gestalten und Formen, an sichtbaren und fühlbaren Dingen findet eine Auswahl statt, und es ist wohl möglich, ganze Landschaftsgruppen zu scheiden und auf einen Charakterzug zurückzuführen, den der einzelne oder ganze Nationalitäten auch in anderen Äußerungen des Lebens oder der Kunst verraten. Es sind im wesentlichen drei Wege, die zu dem Landschaftlichen hinführen: Freie Natur, freier Raum und Frei-Luft und -Licht. Jeder dieser Wege mag für den einen oder anderen allein beschreitbar sein, die übrigen ihm verschlossen, eine Verständigung zwischen den verschiedenen Richtungen und gegenseitige Anerkennung unmöglich ; in dem einen sind sie sich alle einig: von der Enge ins Weite, von dem Gebundenen ins Freie zu streben. Die Abwesenheit dieses Momentes der Freiheit unterscheidet die Landschaft vom Garten, die Abwesenheit des freien Raumes durch das Eingehegte des hofartigen Gesamtraumes und das Abgezirkelte der Beete und Wege, die alle einer Architektur, den Straßen einer Stadt und den Korridoren einer Wohnung ähnlicher sind als den Wegen in einer Landschaft. Das Einzige, was ihn mit der Landschaft verbindet, ist das Fehlen einer Decke und damit die Offenheit und Freiheit des Raumes nach oben, die aber für das Lebensgefühl als nicht begehbar kaum in Frage kommt. Wie im Garten nichts von selbst geworden, sondern alles von Menschenhand gemacht ist und deshalb dem Grundriß einer Wohnung ähnlich, so unterscheiden sich auch die Gewächse im Garten dadurch, daß sie gezogen und nicht von selbst geworden und gewachsen sind wie die Bäume und Kräuter der freien Natur. Sie sind gezogen, wie die Geschöpfe im Hause erzogen sind, und, wenn man von dem Nutzeffekt absieht, für den die meisten Beete bepflanzt und die Pflanzen gezüchtet werden, so verbindet die Gewächse im Garten mit den Menschen im Hause auch die Tatsache, daß sie beständig gepflegt und gehegt werden und die Fürsorge des Menschen ständig um sie kreist wie um Mitglieder einer Familie. Von dem Garten wiederum unterscheiden wir den Park, den monumentalisierten Garten, wo Räume von einer monumentalen Form, apsidengleich oder als Rundraum, durch große Bäume abgegrenzt sind, wie der Raum einer Kirche durch Pfeiler oder Säulen, Räume, auf die gerade, durch Bäume abgegrenzte Alleen hinführen. Hier ist zwar wie in einer Landschaft alles Natur und Gewächs und trotzdem das Äußerste an Unnatürlichkeit, d. h. an Unfreiheit, geleistet, indem die Bäume beschnitten werden und die Gänge und Räume wie mit festen Mauern abgegrenzt sind, so daß, wie in einer Kirche, die Menschen zu festen Richtungen bestimmt werden. Alles ist auf die Bindung der Menschen im Hinblick auf gesellschaftliche Feste und Tänze angelegt, Tänze, in denen auch das Moment gegenseitiger Huldigung, wie bei den Quadrillen, die größte Rolle spielt, ein Gegenstück zu der kultisch geformten Architektur der Paläste, bei denen nur noch der freie Himmel an das Element der Freiheit in der Landschaft erinnert. Zuweilen bietet die Natur selbst solche regelmäßigen Räume dar oder in bergförmigen und alleinstehenden alten Bäumen große kubische Körper, die sich mit Plastiken vergleichen lassen; wir sprechen dann von Ideallandschaft. Das 93
Hochgebirge bietet solche Formationen eher als die Ebene. Die Maler von Ideallandschaften haben besonders die Umgegend von Rom nach solchen Motiven abgesucht (Abb. 58). Das landschaftliche Element der freien Natur finden wir in einer gewissen Form am stärksten auf vlämischen Landschaftsbildern vertreten; von ihnen können wir zunächst ablesen, was freie Natur bedeutet. Auf Landschaften des Joachim Patinier 276 wölbt sich das Terrain in Hebungen und Schwellungen, unförmige Buckel verraten das Bedürfnis nach Festem, Geschwollenem, nach Körper und Formen. Dem leeren Raum, dem Himmel, wird meist nur ein oberes Drittel des Bildes überlassen, die Hauptsache ist das Terrain, das Massige, das Massive, „la terre", die Mutter Erde und alles, was sie hervorbringt. Von dickstämmigen Bäumen ist dieses Land bestanden, Bäumen mit buschigen Laubkronen, an deren Blattformen man wohl auch die besondere Art des Baumes, das Wesenhafte dieses Organismus erkennt. Alles ist saftig, strotzend, der gewellte hügelige Boden selbst gleicht einem kräftigen, muskulösen Körper, wie ja Fleisch in kräftigen Portionen, fette und muskulöse Leiber, auch in der vlämischen Menschenmalerei eine Rolle spielen. Das Freigewachsene, Vegetative, im Gegensatz zur menschlichen Zivilisation und Konvention ist es, das der Vlame in der Natur genießt. Die Staffage auf solchen Bildern ist gern ein Jäger, der durch die Wälder streift, oder Liebespaare, die sich im Schutze des Gebüsches zwanglos ergehen. Primitivste menschliche Regungen, der bloße Bewegungs- und Daseinsdrang, können sich unter diesen Gewächsen in dieser Natur ausleben. „La joie de vivre". In Bildern des „Sammet"-Brueghel (Abb. 59) ist das Landschaftliche ganz in diesem Sinne als Paradies gedeutet, als Urzustand, wo alles Getier, wildes und zahmes, friedlich nebeneinander weidet, und die Üppigkeit saftiger Wiesen, sprossenden Laubes und fruchtreicher Bäume jedes Geschöpf der Sorge enthebt; kein Zwang lastet auf dem Geschöpf, alles wird und gedeiht von selbst. Das Nahrhafte ist ein Charakteristikum der vlämischen Landschaft, selbst die saftige grüne Farbe empfindet man als nahrhaft. Auf Bildern von Roelant Savery oder Alexander Keirincx ist das landschaftlich Freie zur Urwaldpoesie gesteigert. Wurzelhaft und wild verschlingen sich Stämme, Äste und Zweige, bilden eine formlose undurchdringliche Wildnis, wo der Mensch nicht hinkommt mit seiner Qual. Allein wilde Tiere vermögen hier eine passende Staffage abzugeben. Der eigentümliche Charakter der Rubens-Landschaften ist ganz der der freien Natur, ein sich hebendes und senkendes Terrain, fruchttragend und üppig, ein Bild des Wachstums und der Ernte. Rubens, der größte vlämische Künstler, hat auch den grandiosesten Ausdruck für die vlämische Landschaft, die freie Natur, gefunden, indem er die Elemente selber in ihrer schrankenlosen Ausdehnung und ungebändigten Kraft am Werk zeigt. In seinem "Schiffbruch des Aeneas" (Abb. 60) sieht man in der Mitte des Bildes eine hochragende Felseninsel, umbraust von tosenden Fluten des aufgewühlten Meeres. Das ist von vornherein entscheidend: Die Mitte des Bildes ist ausgefüllt, körperlich, plastisch, so daß wenig Luft darüber bleibt, nur an den Seiten ist Raum gelassen. Die Oberfläche dieses Körpers ist zerrissen, zerklüftet und geborsten, als scheinen Kräfte der Zerstörung oder des Werdens an der Arbeit, als ob es im Innern dieses Körpers vulkanisch glühe und dränge; eine von Krämpfen geschüttelte Natur, dazu die brandenden Wellen, die ein Schiff an den Strand geschleudert haben und zerschellen lassen. Man sieht Schiffbrüchige an einem Feuer unter einem notdürfig hergestellten Zelt. Wolken, schwarzblau und feurigrot, rasen über die Insel hin; man sieht den Sturm nicht, aber glaubt ihn zu fühlen und zu hören. Auf der Spitze des Berges flackert die Flamme eines Feuerzeichens. Alle Elemente sind losgelassen, Feuer, Erde, Luft und Wasser. Dem Vlamen wird in der Landschaft alles zum Geschöpf, ein ewiges Leben — freie Natur. Die deutsche Landschaft ist der vlämischen verwandt: Es sind auch die Natur, Blumen, Bäume, Vögel und Tiere, für die der Deutsche Blick und Interesse in der Landschaft hat. Aber dies Naturgefühl geht nicht so sehr auf das bloß Vegetative, den ungestümen Lebensdrang, als auf das Heimische und Vertraute. Die Bäume und Gewächse selbst bekommen Individualität, werden gute Bekannte, an deren Schicksal man Anteil nimmt, um die 276
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II, 670.
Alexander Keirincx (?) Waldlandschaft. Mainz, Landesmuseum
man sich sorgt und bekümmert, wie um jemanden, der einem durch innigen Verkehr ans Herz gewachsen ist. Ein Baum ist nicht ein allgemeines künstlerisches Thema, ein Stamm und eine Laubkrone, es ist immer eine bestimmte junge Birke, eine Linde auf dem Dorfplatz, eine alte ehrwürdige Eiche. „Bei einem Wirte wundermild, da war ich jüngst zu Gaste", heißt es im Liede von einem Apfelbaum. Dieses Moment gegenseitiger Pflege, Wohltaten zu empfangen und zurückzugeben, bedingt ein inniges und ganz persönliches Verhältnis zur Natur. Dem häuslichen Charakter deutschen Lebens entsprechend hat auch der Verkehr mit der Natur etwas Familiäres. Auf keinem Bilde scheint uns das so ausgeprägt wie in der Berliner „Ruhe auf der Flucht", einem frühen Werk von Lucas Cranach dem Älteren277. Es ist eine Waldlandschaft, aber nicht ein Irgendwo, sondern ein bestimmter heimlicher Winkel, wie wir ihn aus Thüringen oder dem Harz kennen, am moosigen Stein, wo die Quelle rieselt, Lärchen mit hellgrünen Nadeln auf der Böschung stehen, eine Birke vertraulich mit ihrem weißen Stamm herübergrüßt. Alles so vertraut, so heimlich. Mitten durch das Bild breitet eine alte Edeltanne ihre vom Baumbart behangenen Zweige. Diese Tanne ist ein Hauptstück deutscher Malerei überhaupt; bei Altdorf er, dem Erzähler gemütvoller Familienszenen und Märchen, findet sich Ähnliches.217 So mit Liebe ist diese Tanne in ihrer individuellen Physiognomie wiedergegeben, so charakteristisch und charaktervoll, daß man mit dem Künstler in ihr einen alten Bekannten begrüßt, den Vertrauten der Menschen, die hierher pilgern und in ihrem Schatten es sich wohl sein lassen. Augenblicklich ist es eine Familie, die heilige Familie, und wie wir wissen, auf der Flucht. Aber an Sorge, an Flucht und zeitigen Aufbruch erinnert nichts in diesem Idyll. Es ist vielmehr Geburtstag. Das Christkind hat Geburtstag und die kleinen Engel sind zu Gast geladen, wie es in einer guten deutschen Familie bei solchen Gelegenheiten so Sitte ist. Jeder bringt ein Geschenk, einen bunten Vogel, eine Handvoll Kirschen, und es geht natürlich nicht ohne Musik. Vier kleine Engel haben ein Quartett eingeübt, und der älteste, der schon lange Kleider trägt, schlägt den Takt nach Noten. Die Mutter hat ihr rotstrahlendes Staatskleid angezogen, und es trifft sich gut, daß gerade Sonntag ist. Joseph, der Zimmermann, hat seine sieben Sachen zu277
II, Taf. XIII.
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sammengelegt und ist mit der Familie in den Wald gezogen, weil es sich da noch besser feiern läßt als zu Hause. Was der Kunsthistoriker Bayersdorffer einmal geringschätzig von Landschaftsbildern sagte, sie seien gemalte Sommerfrischen, das trifft hier zu. Wenn der Deutsche wie der Vlame die Natur als Geschöpf liebt, so liebt er sie doch nicht wie eine Bestie, sondern wie ein Haustier. Noch ein besonderes Verhältnis zur Natur in der Landschaft kennen wir von Jacob van Ruysdael 278 ; romantisches Naturgefühl. Der Mensch geht in die Natur, um mit ihr zu fühlen, weil ein übervolles Herz ihn zur Mitteilung drängt, oder um seine eigenen Gefühle in der Natur wiederzufinden. Es ist die persönlichste, in ihrer Stimmung und Poesie aber leicht aufdringlichste Art, sich der Natur zu überlassen; das Moment der Freiheit ist darin gegeben, daß in der Natur nicht Kritik und Rücksichtslosigkeit der Menschen zu fürchten ist. Die Natur hält fein still, läßt sich geduldig anvertrauen, was das Herz bedrückt. Sucht man Seelen-, Stimmungsverwandte, so ist die Natur eher bereit darauf einzugehen, weil doch an Stimmung und Gefühl alles erst von uns in sie hineingelegt wird, und kein böser Zungenschlag verrät, daß sie unserer Empfindungen spottet. Es gehört nur Phantasie und Überschwang des Gefühls dazu, um die ganze Natur, die ganze Welt, für seine Schmerzen und Freuden zu bemühen, seine Gefühle mütterlich von ihr pflegen und nähren zu lassen. So sucht sich Ruysdael seine Natur in den Formen von Berg und Baum. Es ist ja das typische Ruysdael-Bild, ein Hügel im Bild zur einen Seite, ein Baum zur anderen; luftig und frei ist es nicht bei ihm, alles ist Form und Geschöpf. Aber alles hat eine Seele, eine leidende, gedrückte und niedergeschlagene Seele. Lastend sind die Hügel gebildet, niedergedrückte, dumpfe und regungslose Haufen. Die Bäume sind alte, verwitterte Exemplare; am liebsten wählt Ruysdael Eichen, mit knorzigen, mühsam gewundenen Ästen, als ob jede Regung des Wachstums mit der Vorstellung ungeheurer zu überwindender Widerstände erfolgt wäre — das Leben eines Hypochonders. Meist haben diese Baumriesen auch ein schlimmes Schicksal hinter sich, ihre Äste sind verdorrt, das Laub abgestorben, oder der Blitz ist in ihre Krone gefahren und hat ihren Nacken gebrochen. Eine Ruine, menschenverlassen, ein Kirchhof, erinnern an die Vergänglichkeit alles Menschlichen. Am Himmel die Wolken ballen sich dichter, Gewitter droht. Ruysdael hat keine Sonne im Bilde, er sieht düster, schwarz, und die Melancholie seiner schwarzgrünen Töne stimmt das Leben herab. Ein Bild in Berlin (Abb. 62) enthält einen schwarzen Teich unter Bäumen, Seerosen darauf wie Blumen auf Gräbern, das ausgesuchteste Selbstmörderlokal. Ein alter Buchenstamm ohne Laub und Krone neigt sich lebensmüde darüber. „Ruysdael, der Dichter", konnte Goethe schreiben. Mit Ruysdael pflegt Hobbema zusammengestellt zu werden, und es gibt Bilder von Hobbema (Abb. 63), die denen Ruysdaels auf den ersten Blick ähnlich genug sehen, aber es genügt nicht, auf das andere Temperament in diesen Bildern hinzuweisen, auf die Lokkerheit des feinen körnigen Laubes, auf die lustigen, schon beinahe rokokohaften Windungen seiner Baumäste, auf die vielen Offnungen und Durchblicke durch Gezweig und Gebüsch und auf die gleichmäßigere, hellere Färbung. Bei Hobbema atmet alles Freude. Sein eigentliches Ziel in der Landschaftsmalerei geht aber auf etwas ganz anderes als das Ruysdaels, nicht auf freie Natur, sondern auf den freien Raum. Er muß doch wohl die schwächere Natur gewesen sein, wenn er entgegen seiner künstlerischen Bestimmung Ruysdael offenbar nachahmte. Daß man Hobbema heute höher schätzt als Ruysdael, ist bei der modernen Abneigung gegen das Poetische und allzu Gegenständliche kein Wunder. Das Thema, das Hobbema anschlägt, ist ein holländischeres, in einigen Bildern spricht er es offen aus, in anderen, von Ruysdael beeinflußten, fehlt es auch nie ganz, es ist das Thema des freien Raumes in der Form eines Ganges. Jeder denkt dabei an die berühmte „Allee von Middelharnis" 279 , eine Straße landschaftlicher Art dadurch, daß sie uns nicht einengt, und nicht ein bestimmtes Ziel setzt wie die Straßen in der Stadt. Sie geht unbestimmt in die Weite, das Ziel ist entrückt, zwischen den Bäumen am Weg ist Platz, nach den Seiten 278 279
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II, 749. Franz Roh, Holländische Malerei, Jena 1921, Abb. 163.
auszuschweifen, so schlendert man, läßt sich gehen als echter Sonntagsgänger wie die Leute auf dem Bilde, man hat es nicht eilig, nimmt sich Zeit, frei und ungebunden vor den Toren der Stadt. Die Bäume in ihrer gewundenen, unstraffen Form verpflichten auch zu nichts, mahnen nicht, sich gerade zu halten und geben sich gemütlicher, zwangloser als die geraden, steifen Linien der Architektur in der Stadt. In diesen Bildern, wie der „Allee von Middelharnis" oder einer Dorfstraße, die zwischen giebligen Häusern und Gartenbäumen gewunden und unregelmäßig hindurchzieht und sich in der Ferne verliert, hat man den echten Hobbema. Und hat man das sich eingeprägt, wird man auch nicht mehr übersehen, wie auf den mit Wald und Bauwerk vollgestopften Bildern irgend ein Weg, eine Lichtung durch das Gebüsch zieht, herausgehoben und durch einen Lichteinfall und als Weg durch die Staffage kenntlich gemacht, die ihn begeht. Das eigentliche Wesen der Freiraum-Darstellung ist aber nicht Füllung, Häufung von Objekten, sondern Öffnung. Wenig Erde, viel Himmel, wenig Volles, viel Leeres. Auf diesen Raumdarstellungen wie der „Allee" liegt der Horizont tief, die Gegenstände rücken zur Seite, die Weite des Raumes will auf uns wirken, und zugleich wird die Färbung eine gleichmäßigere, bräunliche, die Zeichnung der Bäume und Gegenstände verblaßt atmosphärisch. Sie bedeuten für sich nichts mehr, werden nicht mehr charakterisiert, nur als Grenzen, Markscheiden des Raumes existieren sie noch. Die Luftperspektive siegt über die Formen. So ist es bei Hobbema, so bei vielen anderen holländischen Landschaftern. Für die Raumwirkung verschlägt es nichts, ob die Straße auf festem Land oder als Wasserweg erscheint. Die vielen holländischen Darstellungen von Flußläufen, auf denen die Schiffe hinziehen, und schließlich die Eisbahnen auf Flüssen und Kanälen sind genau so landschaftliche Eindrücke des freien Raumes, die uns das Glücksgefühl der freien Fahrt, des freien Laufes verschaffen. Der Innenraum, d. h. der rings umhegte Platz, ist vielleicht am wenigsten landschaftlich zu nennen. Doch gibt es auch landschaftliche Innenräume, und sie befreien zunächst durch die Platzverschwendung, durch die Fülle von Raum und Luft. Ist uns doch ein Platz im gewöhnlichen Sprachgebrauch identisch mit Großräumigkeit, Freiräumigkeit, ebenso das Fehlen der Decke, das es über uns offen, luftig sein läßt, auch wenn der Raum durch eine Hecke umgrenzt ist. Zur landschaftlichen Wirkung wird dann auch gehören, daß die Umfriedung nicht zu hoch ist, daß wir darüber wegsehen können, und daß die Grenzen nicht zu massiv, zu fest sind. Hecken und Zäune wirken landschaftlicher als Mauern. Auf der berühmten „Farm" von Adriaen van de Velde (Abb. 64) ist eine große Wiese von einem Zaun eingefriedet, über den Zaun aber ragen Bäume mit krausem Laubwerk und verhüllen sofort die geraden Linien des gezimmerten Zaunes; es wird so regelloser, ungebundener. Durch das Gebüsch dringt auch das Licht in gedämpften und zerstreuten Massen und gibt auch diesem Freiraum eine holländische Lichtstimmung. Der Boden, der auf vlämischen Bildern pflanzenhaft üppig, grasig, ist, ist hier nur ein gleichmäßiger Rasen, ein selbstgewachsener Teppich, der die Schritte dämpft und das Ruhen auf dem Boden angenehm macht. Die Staffage in diesen Innen- und Bleibe-Räumen ist entgegen den schreitenden Figuren in Hobbemas Straßen eine ruhende, gelagerte. Man sieht eine hie und da am Boden zerstreut liegende oder weidende Gesellschaft von Kühen und Pferden. Kräftige Farbe ist auch hier vermieden. Grün in Grün, mit einem Stich ins Holländisch-Braune, ist dem bloßen Raumleben konform. Die landschaftliche Stimmung des Frei-Raumes drängt auf eine Behandlung der Landschaft, die gerade in Holland bis zur äußersten Konsequenz getrieben ist, und die Hinneigung der Holländer zum Objektiven, zu dem, was uns als bloßes Medium als unpersönlich erscheinen würde, am deutlichsten verrät — auf den nach keiner Richtung beengten, auf keiner Stelle begrenzten Raum. Die holländische Flachlandschaft bot dazu das Naturvorbild. Fast alle holländischen Landschafter haben sich an der Ausbildung dieser Form beteiligt: Jan van Goyen 280 , Hercules Seghers (Abb. 61), Salomon van Ruysdael, Albert Cuyp, Rembrandt. Eine Spezialität hat Jan van der Meer van Harlem (Abb. 65) aus ihr gemacht. 280
II, 739. 97
Auf diesen Bildern sehen wir einen Boden, ein unteres Drittel des Bildes oder noch weniger füllend, darüber Himmel. Keine markanten Formen und Gestaltungen des Terrains, keine individuellen Gegenden und Menschen zeigen sich dem Auge, nur die absolute Leere und Weite, der absolute Raum. Ein Blick über das Meer oder die Ebene hinüber in die Unendlichkeit. Ein Minimum von Gegenstand, ein Maximum von Raum und Freiheit. Meist sind diese Landschaften von erhöhtem Standpunkt aus gesehen, um den Blick über die Dinge auf der Erde hinwegzuführen ins Unbestimmte. Selbst der feste Standpunkt auf der Erde wird dem Betrachter entzogen, keine Richtung ist dem Willen vorgeschrieben, es zieht ihn nicht nach einer Seite. So erlebt vor diesen Bildern die Individualität des Beschauers selber ein Erlöschen. In einer Art von Mystik, einem schwindelnden Gefühl des Alls, scheint er im Unendlichen sich zu verlieren. Das Bewußtsein verschwimmt in träumerischer Auflösung aller bestimmten Gedanken und Willensregungen. Auf diesen Bildern ist gemalt, was die Philosophie Spinozas aus echt holländischem Gefühl heraus begrifflich ausspricht: Alle Bestimmtheit ist Negation. Die Individualität ein Mangel. Das Wertvollste, das Hauptseiende, in dem alles andere ist, und aus dem heraus allein es begriffen werden kann, ist das Eine, das Unendliche, das Unteilbare, dessen Teil alles andere ist — der absolute Raum. Die Philosophie Spinozas ist im letzten Grund eine Spekulation über das Raumganze und sein Verhältnis zu den Teilen, mit dem aus der Kunst heraus verständlichen Gefühl, daß in dem unbegrenzten, unendlichen Raum ein höchster Wert verborgen liegt. Es ist nicht uninteressant, daß es gerade ein deutscher Philosoph mit dem Gefühl für das Persönliche in der Natur, das Einzelgeschöpf, sein mußte, der diese Philosophie mit einer Theorie der Individualität bekämpfte: Leibniz. Für ihn ist das Wesen der Dinge in innereren, persönlichen Kräften beschlossen, in Willen und Intellekt. Gleich objektiv und sachlich, wie der freie Raum, ist das letzte landschaftliche Thema: Frei-Luft, Frei-Licht. Die modernste Phase der Landschaftsmalerei, der Impressionismus, bevorzugt diese Art der Darstellung. Doch ist sie auch in früheren Kunstperioden oft genug dagewesen, indem immer am Abschluß einer Kunstentwicklung eine besondere Art umfassenden Sehens auf die Frei-Luft und -Lichtdarstellung hinführt. Die Holländer mit ihrer Kultur des reinen Sehens sind auch hier voranzustellen. Das Konsequenteste in reiner Freiluftdarstellung ist eigentümlicherweise von holländisierenden Vlamen geleistet worden, Teniers und Brouwer. 281 Diese Landschaften lassen Nahes und Fernes in einen einzigen Plan zusammenrücken. Als flächige Streifen schieben sich Vorder-, Mittel- und Hintergrund übereinander, die Raum-Illusion und die bestimmten Entfernungen sind ausgeschaltet. Dies ist aber das Wesen des Fernbildes, das die Landschaft bietet. Die Abstände sehr ferner Gegenstände, z. B. ferner Berge, sind ja nicht mehr zu erkennen. Das Fehlen starker und bestimmter Schatten im freien Licht nimmt den Dingen die Form. Die Bäume sind gemalt wie flockige, zerzupfte Watte. Tiere, Menschen und Häuser gehen gefärbt wie der Grund in diesen als Flecken ein, alle Konturen sind unbestimmt. Nicht das Geschöpf ist wichtig, sondern die Valeurs, wenn z. B. ein Haus in die Monotonie zarter, durch Atmosphäre gedämpfter grüner Töne ein ebenso gedämpftes feines Rot zur Abwechslung hineinbringt. In diesen Landschaften wird das Sehen frei: Das Auge stellt sich nicht mehr auf einen Punkt ein, es blickt nicht absichtlich auf die Objekte und geht nicht neugierig von einem zum anderen. Das Auge ruht, entspannt, mit dem Blick in die Ferne oder unbestimmt schweifend. Alle intellektuelle Arbeit ist ausgeschaltet, es wird nichts erkannt, nur der wohlige Eindruck farbiger Impressionen, matter und zarter Lufttöne, wird genossen. Aber auch nur die Landschaft mir ihrer Ferne vermag so den Blick zum ziellosen Schweifen anzuregen, die Anstrengungen der Konvergenz, des Beobachtens, zu beseitigen und den ganzen Bildinhalt für einen Blick über den Betrachter auszuschütten. Und nicht nur die freie, die Dinge rings umflutende Beleuchtung sowie die ausgleichende Atmosphäre der Landschaft vermögen so den Dingen alle Schärfe und Bestimmtheit zu nehmen, daß sich das Auge nicht um das Erkennen der Dinge kümmert, sondern sich dem Reiz farbiger Harmonien hingibt. In dieser Atmosphäre sind auch die Farben von einer Weichheit und Milde, die ein verwöhntes Auge zu liebkosen scheinen. Der Reiz der modernen impressionisti98
sehen Landschaft und ihre Mittel sind dieselben wie die von Brouwer verwendeten. Die Holländer J a n van Goyen 280 , Aelbert Cuyp (Rembrandt 2 8 2 , Adriaen van de Velde, Nicolas Berghem in Radierungen) betonen stärker als die Farbtönungen das Licht in der Freiluft-Landschaft, und die Darstellung freien, intensiven Sonnenlichtes haben sie vor den modernen Luminaristen schon versucht. Die raumlos streifige Behandlung der Pläne ist im Freiluft- und Freilichtbild dieselbe, ebenso die Unbestimmtheit der Formen und Konturen. Um aber den Eindruck blendender Helligkeit zu erzielen, übertreibt der Maler die Kontraste von Hell und Dunkel. Er benutzt die Erfahrung, daß ein dunkler Gegenstand vor leuchtendem Hintergrund sehr viel dunkler erscheint, als er ohne diesen Hintergrund durch sein Eigenlicht sein würde. Die Dunkelheit, die hier also subjektiv, durch den Kontrast bei dem Blick ins Helle zustande kommt, gibt der Künstler objektiv, als Eigenlicht des Gegenstandes, und erzeugt so die Illusion, daß der Hintergrund leuchtender und heller erscheint, als er dem Eigenlicht nach ist, da auf die W i r k u n g dieser Helligkeit die Dunkelheit des Gegenstandes davor zurückgeführt wird. Ebenso macht er es mit der Blendung. Sehen wir ein helles Licht, so werden auch die nicht direkt von dem Licht betroffenen Nachbarstellen der Reizung auf der Netzhaut in Mitleidenschaft gezogen, und an den Rändern eines an dieser Stelle befindlichen Objektes oder auch über den ganzen Gegenstand hin sehen wir einen diffusen, undeutlichen Lichtschein, der die Formen und Konturen überstrahlt und zerfrißt. Diese Blendung, die von dem schwachen gelben oder weißlichen Licht der Farben auf einem Bilde niemals zustande kommen würde, malt der Künstler in das Bild selbst hinein, indem er in der Region des stärksten Lichtes alle Gegenstände immer undeutlicher, aufgelöster darstellt, indem er statt Formen Helligkeiten gibt. Aus diesen sichtbaren Resultaten der Blendung entnehmen wir die Illusion eines strahlenden, sonnenhaften Lichtes im Bilde, obwohl das Licht im Bilde doch nie heller sein kann als das Licht des Zimmers, in dem das Bild hängt. Auf einem sehr schönen Licht-Bilde Aelbert Cuyps, einer in der Mittagshitze gesehenen Rheinlandschaft 283 , bemerkt man vorn einige in tief schwarzbraunem Ton gehaltene Kühe als kontrastgebende Objekte. J e mehr es nach hinten in das Licht hineingeht, umso weniger wird es möglich, noch Gesträuch oder Formen der Berge zu erkennen. In immer hellere, blassere Töne löst sich alles auf, bis Himmel und Erde in ein Lichtmeer zusammenfließen. Gewisse, fein beobachtete Reflexe der Spiegelung auf dem Wasser, die transparenten Wolken und der nicht blaue, sondern gelblich-weiße Himmel, besorgen zusammen mit der Blendung und den Kontrasten, daß man die brütende Hitze und das sengende Licht auf diesem Bilde auf sich ausstrahlen fühlt. Der Künstler hat hier, wie es scheint, ein italienisches oder vlämisches Landschaftsmotiv benutzt, eine gebirgige, formenreiche Gegend, wie man sie an der oberen Maas findet. Aber die Formen dienen nur, die Formzerstörung und das Freilichtmäßige im Gegensatz zur freien Natur umso stärker zu betonen. Ein voller Freilichteindruck ist aber wieder nur in der Landschaft möglich. Im Atelier wird das Licht eingeengt, bestimmte Bahnen weisen auf den Raum hin, in dem es lebt. Und ein künstliches, starkes und blendendes Licht gibt uns doch nicht so den Eindruck bloßer Lichtfülle, es läßt uns nach der Flamme suchen. Erst in der Landschaft breiten sich der Glanz und die Sonnenwärme so gleichmäßig und alldurchdringend aus, daß wir nicht fragen, woher es kommt, nur uns fessellos ihm hingeben, als wollten wir der Aufforderung Gottfried Kellers nachkommen: „Trinkt, o Augen, was die Wimper hält, Von dem goldnen Uberfluß der Welt."
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D r e i Brouwerlandschaften in Berlin: W . Bernt, Die niederländische Malerei des 17. Jahrhunderts, I, München 1 9 4 8 , 1 5 5 ; W . v . Bode, Die Meister der holländischen und flämischen Malerschulen, Leipzig 1 9 5 1 , S. 5 0 2 ; Verzeichnis der Gemälde im Museum Dahlem 1964, A b b . 53. II, 736, Taf. X V . II, 750.
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8. INTIME BAUKUNST. DER WOHNBAU Unter Wohnbau verstehen wir das Haus oder den Raum, in dem der Einzelne sich allein oder mit seiner Familie oder mit seinen Freunden von der Öffentlichkeit, ihren Pflichten und Geschäften zurückzieht, um geruhsam, unverpflichtet, unbeengt von Konvention und gesellschaftlichen Ansprüchen, vom Zwang des Kults und der Arbeit, mitfühlend am Leben anderer, seiner Mitmenschen oder den Lebenssurrogaten der Erlebniskunst teilzunehmen. Das Wohnhaus ist also jeden Ausdrucks einer öffentlich wichtigen Person, jeder Repräsentation enthoben und damit auch jedem kultischen Zwange und jeder Ordnung. Der Wohnraum ist deshalb eigentlich kein Problem der Architektur, der ordnenden Funktion eines Baues. Am liebsten zieht sich der Mensch, wenn er ausruhen will und das Wetter es erlaubt, in die freie Natur zurück. Hier ist er Mensch, hier kann er's sein. Das Problem der intimen Architektur ist deshalb: Wie kann der Architekt, der beim Bauen auf statische Verhältnisse und Regelmäßigkeiten Rücksicht nehmen muß, in seinen Dispositionen von Mauern und Öffnungen den Ausdruck des Öffentlichen und Repräsentativen, des Standesgemäßen vermeiden, positiv aber, wie kann die Wohnung den Menschen mit Erlebnissen erfüllen, die ihm als mitmenschlich zum Nacherleben entgegenkommen? Ausdruck der Repräsentation in der Baukunst waren die blockhaft körperliche Einheit als Personenvertretung, die pyramidale Aufgipfelung als Selbstbehauptung der Person und als Ausdruck der Überordnung über die dienende Kraft, die Erhabenheit in der Akzentuierung der kontrastierenden oder begleitenden Türme, die muskulöse Ausbeulung, die Schwellung des Baukörpers (Schwulst), seine Durchgliederung mit freistehenden Stützen und die Charakterisierung der Stützen als stehende und tragende Glieder im Verhältnis von Unter- und Überordnung, Herrschaft und Dienst. 281 Die Ansehnlichkeit wurde erzielt durch symmetrische, blickausrichtende Zusammenziehung der plastisch repräsentativen Glieder zu einer Fassade, einer Giebelfront auf Säulen in Analogie zum griechischen Tempel und die Vereinigung der Glieder zum eine Person repräsentierenden Einheitsbau mit Hilfe einer den ganzen Bau durchziehenden Säulenordnung. Dem Ausdruck der Öffentlichkeit diente die Durchbruchsarchitektur, die Öffnungen zwischen Säulen oder Pfeilern (Strebepfeiler) und die Gestaltung der Öffnungen zwischen ihnen als Durchgänge mit Hilfe von Bögen, Rund- oder Spitzbögen, als Portale. Die Intimisierung solcher monumentalrepräsentativen Gotteshaus- oder Palastarchitektur erfolgt schon durch Ersatz des lastenden Giebels und seiner plastischen Struktur durch ein weit heruntergezogenes Dach von leichter Struktur, Ziegeln, Schindeln, Stroh, die durch ihren Stoff und infolge der durch Summierung kleiner Teile bewirkten Stofflichkeit leicht und warm wirken, schützend und beschirmend. Dadurch, daß sie alles, was darunter ist, unter einen Hut bringen, betonen sie wie ein Zelt das Innere, Geborgene mehr, als die äußere einheitliche Gestalt, der sie als unkörperliches Element plastisch nicht zugehören. Wenn die Schauseite (Straßenseite) nicht der Giebel ist, sondern die Längsseite mit dem herabgezogenen und überstehenden Dach, oder wenn auf allen Seiten das Dach schräg sich auf den Unterbau herabläßt, so wird das Geborgene, Innerliche besonders betont, die Monumentalität und Repräsentation abgeschwächt. Eine Brechung des Daches und konkave Wölbung verstärkt die Wirkung des Zeltartigen und Herabhängenden. Der Giebel, der durch Symmetrie, Versteifung des Baues und die damit zusammenhängende Erhebung dem Aufrichten des Personalen, dem Standesgemäßen und der Erhabenheit entgegenkommt, wirkt umso weniger plastisch, je mehr er in seinen Proportionen flächenhaft wirkt anstatt körperlich lastend, übergeordnet oder raumgebend für Figuren, die sich nach außen repräsentativ zeigen. Fällt das trennende Gebälk weg, das den Giebel vom Unterbau scheidet, so entfällt auch vollends der Gegensatz von Tragen und Lasten, von Unter- und Überordnung. Das Hauptmittel der Repräsentation sind die Säulen, die freistehend den Bau allseits öffnen, und durch ihre stolze Haltung vorbildlich, standesgemäß repräsentieren. Ihre repräsentative Bedeutung abzuschwächen, dient schon die Verwandlung der plastisch sich 284
II, 790-794.
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isolierenden, muskulös schwellenden Körperlichkeit in flache Wandpilaster mit geraden, parallelen Begrenzungen, mit Wegfall der Kapitelle und der Basen, und vor allem durch Abstände, die nicht dem Verhältnis von Träger und Basis entsprechen, sondern durch die Fläche bedingt sind, der sie nur noch als Rahmenbegrenzung dienen. Die Öffnungen in einem Wohnbau sind Türen und Fenster. Türen wirken umso mehr als Öffnungen für den ein- und austretenden Menschen, je mehr sie dem durchschreitenden Menschen in den Proportionen angepaßt sind, d. h. steil und oben abgerundet. Steilfenster mit Bogenschluß öffnen deshalb den Bau, machen ihn zu einem öffentlichen. Aber auch ohne Bögen wirkt die dem aufrechten Menschen entsprechende Proportion der Fenster portalhaft öffnend. Durch eine dem Quadrat sich nähernde Gestalt oder als breites liegendes Rechteck, als Flächenbild gesehen, ordnen sie sich der Hausfläche ein und wirken sie mit der Wandfläche zusammen als Raumabschluß, nicht als Durchbruch. Durch Anpassung von Fenstern und Zwischenräumen aneinander zu einem einheitlichen Flächenrhythmus kann die schließende, raumbegrenzende Wirkung des Flächenbildes erhöht werden. Der deutsche Fachwerkbau in Straßburg, Hildesheim 285 , Braunschweig, Wernigerode enthält die wundervollsten Beispiele für solche Flächeneinheiten von Fenstern und Zwischenfüllungen, die in ihrer Gemütlichkeit das intime Gegenstück zu den repräsentativen Patrizierbauten des deutschen Manierismus bilden. Die Hauptwirkung der repräsentativen Fassade besteht darin, daß der Bau in ihr als ein einheitliche Haltung bewahrender Körper erscheint. 286 Ohne Rücksicht auf die hinter der Wand liegenden Wohnstockwerke und Gemächer, werden Tempelfassaden mit einer durchgehenden Säulenordnung dem vielgeschossigen Wohnbau (Palast) vorgelegt oder angelegt. Im intimen Bau drücken sich die Geschosse oder Gemächer in der Außenwand aus, projizieren das Innere nach außen. Die Fenstersockel stehen so weit über dem Horizontalgesims, das die Stockwerke trennt, daß die inneren Raumverhältnisse klar werden. Im öffentlichen Bau der Gotik stehen die Fenster auf dem Trennungsgesims wie Portale auf der Erde, unbeschadet der davon abweichenden inneren Struktur der Wand. 287 Der Individualismus der intimen Erlebniskunst findet seinen Ausdruck in dem Bedürfnis nach dem Eigenheim, das, im Garten oder Walde verborgen, die völlige UnÖffentlichkeit, die private Existenz des Bewohners und seiner Familie ohne alle politische und nachbarliche Zugehörigkeit und Einschränkung gewährleistet. Im Stadthaus, an der Straße, im Reihenhaus ist eine solche Isolierung und Individualisierung nicht möglich. Dafür kommt die Individualisierung im Straßenbild umso mehr zur Geltung, je mehr die Wohnhäuser in Höhe und Breite wechseln, sich so von dem Nachbargrundstück abheben und, unbekümmert um plastische Regelmäßigkeit und durch die Projektion des Inneren nach außen, Lockerung und malerische Buntheit in das Straßenbild hineintragen; sie nähern sich dadurch dem Eindruck landschaftlicher Natur, ungeordnet, vielfältig und wie von selbst geworden, gewachsen wie die Natur. Die Isolierung vom Nachbarn wird zwar am besten durch den Giebel vollzogen, der durch Einbeziehung in die Fläche, durch Fenster wohnlich und intim gemacht, die repräsentative Bedeutung abschwächen kann, besser noch, wenn er an die Seite kommt, weil das nach der Straßenseite herabgezogene Dach besonders wohnlich und gemütlich wirkt. Durch die Besonderheit der Wandformation und Fensterkonstellation können sich die Häuser noch genügend voneinander abheben und isolieren. Asymmetrie, Verlagern des Eingangs an die Seite, Wechsel der Stockwerkhöhen, Nichtsymmetrie der Fensteranordnung, können weiter zwanglos und natürlich wirken. Die Großstadt mit den Etagenhäusern führt von dieser intimen Wohnbaukunst ab zum Kollektivbau und zur Gleichschaltung der Etagenwohnungen. Bezeichnend aber für die tief im holländischen Naturalismus wurzelnde Wohnkultur ist es, daß in den holländischen Stadthäusern auch die Reihenhäuser mit mehreren Stockwerken vertikal so geteilt sind, daß sie als Einfamilienhaus benutzt werden können und jede Wohnung ihren eigenen Eingang erhält. 285 286 287
II, 853 f. Palladio, Palazzo Porto-Breganze, Cicenza: II, 646. Florenz, Palazzo V e c c h i o : II, 502.
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Im Eigenheim aber wird der Zusammenhang mit der Natur fruchtbar durch Niedrigkeit, Bodenverwachsenheit des Hauses. Das Ideal ist das einstöckige Gartenhaus mit tief heruntergezogenem Walmdach, mit Verlegung des Eingangs an die Seite, Bewachsung des Hauses mit Kletterpflanzen und Verstellung des Baukörpers und der Fassade mit Bäumen, Sträuchern und Büschen, so daß das Haus allmählich von der Natur geschluckt wird und allen Freiheiten, die die Natur gewährt, sich anpaßt. Das Innere des Wohnbaues (Eigenheims) geht darauf aus, die Nutz- und Arbeitsräume zu vernachlässigen zugunsten des Wohnraumes, eines Raumes der Ruhe, der, niedrig gehalten, die Stimmung des Ausruhens unterstützt, in den Proportionen schlicht rechteckig, allen kultischen Zwang des feierlichen Rundraumes oder apsidialen Längsraumes und der Gewölbe vermeidet, und, einfach flach gedeckt, nur den Eindruck des nach allen Seiten geschlossenen, unöffentlichen Raumes vermittelt, deshalb auch mit möglichst wenig Türen und Fenstern ausgestattet ist, die, flächig rechteckig, nicht den Eindruck von Durchgängen ergeben, sondern die Wand in der Öffnung wiederherstellen. Die Möbel sind ebenfalls nicht wie Altäre personenhaft in die Mitte der Wand gestellt und mit Säulen, Giebeln und Gebälken plastisch repräsentativ gebildet, sondern flächig, kastenförmig, nur Behälter, die sich der Wand anpassen. Statt architektonischer Symmetrie Einfügung der Möbel in die Ecken, vor den Fenstern Gardinen, um die Außenwelt fernzuhalten, Tisch und Sitz so in eine Ecke geschoben, daß sie sich an die Wand lehnen und sich eine behagliche Ecke, ein gemütlicher Winkel, der stille Winkel, im Raum bildet, das Gefühl des Sichzurückziehens noch einmal betonend wie im Hieronymus-Stich von Dürer 31 . Polster, Kissen, Vorhängel Decken sorgen für Bequemlichkeit, in der man sich gehen lassen kann. Das Hauptmöbe' wird das an die Wand gelehnte, in die Ecke geschobene Sofa, halb Ruhebank, halb Stuhl, und für Möglichkeiten des Mitlebens die Porträts von Freunden und Familienmitgliedern und die Lebensbilder, Genrebilder, Landschaften an der Wand, in denen sich jederzeit der Geist in eine andere, bessere Welt zurückziehen kann, alles in zwangloser Ordnung oder mit dem Schein der Unordnung, des zufälligen Beieinanders. Für Natur im Innenraum sorgen Katze und Hund, Vogelbauer mit Kanarienvögeln und Aquarium, Blumentöpfe auf den Fensterbänken oder auf besonderen Blumenbänken, oder, wenn es ganz hoch kommt, Gummibäume, Zimmerlinden, Palmen. Alles ist darauf angelegt, den Eindruck des Gebauten in den der Natur zu verwandeln, alle Spuren von Arbeit und von Gebrauch zu verwischen und dem Gemüt jede Expansionsmöglichkeit zu geben, eine Sphäre von Gemütlichkeit zu schaffen. Der Gegensatz zu diesem Wohnraum des Lebensbildes sind das Atelier, die Werkstatt, der Arbeitsraum, die Scheune, der Fabriksaal und das Büro.
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VII. DAS A B B I L D U N D DIE A B B I L D U N G . E I N S E H E N
1. DAS WESEN DES ABBILDES. DEUTLICHKEIT. SACHLICHKEIT (OBJEKTIVITÄT) Neben den Bildern, die illusionistisch, d. h. mit dem Anspruch auf Wirklichkeit zur Vertretung unsichtbarer Mächte auftreten, und den Bildern, die unter Vermeidung des Anspruches, wirklich zu sein, nur als Bild, als Dichtung, innerlich wahr, ein Leben zum Nacherleben, als Lebenssurrogat vorführen, gibt es solche, in denen die Hauptsache ist, einen Gegenstand kennen und verstehen zu lehren. Hier kommt es nicht auf Illusion oder verewigende Festigkeit an, nicht auf die Lebendigkeit innerer Wahrheit, sondern auf Deutlichkeit. Was heißt Deutlichkeit? Eine Wahrnehmung für das A u g e ist zunächst nur eine Fläche mit verschiedenartig gefärbten Flecken, die in mehr oder weniger strenger Weise zu einer Einheit, einer Gestalt, einer Figur, einem Gebilde zusammengesehen werden können. Zu einer Wirklichkeit aber, mit der wir als Menschen leben, auf die wir einwirken können, die wir in unseren Lebenszusammenhang einbeziehen, hassen oder lieben, suchen oder meiden, wird ein solches Bild erst dadurch, daß sich an dieses nur gesehene Bild eine Unsumme von anderen Erfahrungen anknüpfen läßt, durch die das Bild seine Bedeutung gewinnt. Solche Erfahrungen sind, daß wir das Erfahrene auch begreifen können, daß es also nicht nur optischer Schein (Lichtschein), sondern auch greifbarer Körper ist, daß wir das Gesehene durchschreiten können, daß es Raum ist, daß es tönt oder riecht, sich warm oder kalt anfühlt, daß es sich in sich oder im Verhältnis zu anderen gesehenen Wahrnehmungen verändert. Und zwar können wir äußere und innere Erfahrungen, die zum Begriff, d. h. zur deutbaren Wirklichkeit gehören, unterscheiden. Äußere sind solche, die aus der Fülle der mit unseren Sinnen wahrnehmbaren Eindrücke geschöpft sind, innere rühren daher, daß es Erlebnisse gibt, die wir nur im Zusammenhang unseres eigenen Körpers unmittelbar haben, Freude, Schmerz, Absichten, Gedanken, die wir also nicht sehen, sondern nur in Analogie zu uns selbst in andere hineindeuten können. Wären wir nicht selbst traurig oder fröhlich, gespannt oder lässig, erregt oder beruhigt gewesen, wüßten wir auch bei anderen nicht, daß sie es sind. Ja, wir wüßten nicht einmal, daß bei gewissen Veränderungen, die im Gesehenen sich vollziehen, sich ein Körper bewegt, die anderen in Ruhe sind, was also Ruhe und Bewegung bedeutet. Jede einmalige Wahrnehmung ist also nicht nur ein optisches Phänomen, sondern bedeutet zugleich etwas, hat eine Bedeutung, die sich aus bestimmten an das Phänomen anschließenden früheren Erfahrungen ergeben hat und umso deutlicher ist, d. h. deutbarer oder erkennbarer, je deutlicher eine Wahrnehmung ist, und je reicher die sich an das Phänomen anschließenden Erfahrungen sind, d. h. je reicher das Wissen des Deutenden ist. Bei der Deutlichkeit der Wahrnehmung handelt es sich also um ein wissenschaftliches Phänomen. Nicht alle Ansichten, die wir von einem begriffenen Gegenstand haben, von seinem Begriff, sind gleich deutlich. J e entfernter ein Gegenstand, je mehr die Einzelheiten verschwimmen, desto undeutlicher wird er. Im grellen Licht und in der Dunkelheit werden die Gegenstände undeutlicher als im milden Tageslicht. Für das Lebensbild können Nacht, Dämmerung, stark blendendes Sonnenlicht zuweilen wesentlich sein, ja, selbst für das Kultbild kann eine gewisse Entfernung und Undeutlichkeit vorteilhaft sein, um die Illusion nicht zu zerstören. Für das Abbild, das uns eine Wahrnehmung möglichst erkennbar oder vielmehr als Gegenstand der Erkenntnis, des Bekanntgebens oder der Rückerinnerung, als Objekt der Wissenschaft geben will, ist Deutlichkeit die Hauptsache. 8
Hamann
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Mit dieser Deutlichkeit, die das Dargestellte, die Wahrnehmung, zum Objekt des Erkennens macht, hört die Kultfigur auf, Person zu sein, Person als Machthaber verstanden. Der Heilige, deutlich gesehen, als Objekt des Wiesens und Verstehens, wird unpersönlich, ein Begriff, ein Objekt der Deutlichkeit. Ein Mensch, mit dem wir mitfühlen, Sympathie haben wollen, wird durch die deutliche Abbildung zur Sache, zum Gegenstand der Erkenntnis. Person und Mensch sind also nicht durch Mensch im Gegensatz zu Ding, Tier, Pflanze zu definieren, denn auch diese können ja Kultpersonen werden oder menschlich miterlebt werden als Natur. Dieses Objekt-Werden in der Deutlichkeit der Wahrnehmung ist das Wesen der Objektivität und des Abbildes. Wo wir ein verschönendes Kultbild schaffen um der Verehrung willen, die wir einer Person entgegenbringen, da sind wir nicht mehr objektiv. Wo wir vor Mitgefühl und Miterleben die Fehler der Menschen übersehen, da sind wir nicht objektiv. Der diagnostizierende Arzt weiß, daß er sich nicht rühren lassen darf, will er objektiv sein; der Mensch ist nur Gegenstand seiner Erkenntnis, nur Sache und Objekt seiner Sachlichkeit. Deutlichkeit in der Abbildung heißt also, daß für die Deutung nur die Beziehung des Phänomens auf die Erfahrungen, die wir allgemein oder speziell mit diesem Phänomen gemacht haben, in Frage kommt. Mit dieser Deutlichkeit des Abbildes rückt also die Kunst in die Sphäre der Sachlichkeit hinein, aus der der Persönlichkeit und Menschlichkeit hinaus. Kultbild und Lebensbild werden zum Abbild. Was heißt aber Sache? Nicht jedes Ding außerhalb des Menschen ist Sache. Ein Kreuz auf dem Altar, eine Reliquie, ein Amulett ist nicht Sache, sondern Symbol von etwas Verehrungswürdigem, hat also einen personalen Wert. Pflanzen und Häuser in der Landschaft können von uns als Natur miterlebt werden, einen menschlichen Gemütswert haben, und sind dann eben Natur, nicht Sache, so wie ja auch der Mensch selbst Natur sein kann. Sache ist etwas, das als Gegenstand des Gebrauches und der Produktion benutzt wird, also nützlich ist. Nahrungsmittel sind Sachen; Geräte, mit denen wir sie uns einverleiben, sind Sachen; Maschinen und Werkzeuge, mit denen wir sie produzieren, sind Sachen. Auch Menschen können Sachen sein. Die Wilden, die Menschen schlachten, um sie zu braten, behandeln die Menschen als Sachen; der Sklave, der verkauft, also als Ware behandelt wird, ist Sache, und er ist Sache, wenn er nur [Werkzeug ist und] als Instrument zur Erzeugung von Waren gewertet wird. Ja, jeder Mensch, der Sachen produziert, und dies nennen wir Arbeit (im Gegensatz zu Herrschen und Menschsein im Fühlen und Anteilnahme an Gefühlen), und nach seiner Leistung, seinem Ertrag beurteilt wird, ist sachlich gewertet. Durch die Objektivität, die Sachlichkeit also wird eine Darstellung, eine Abbildung, eine Sache des Erkennens, eine Sache für den wahrnehmenden Menschen. Wir können verschiedene Arten solcher sachlichen Darstellungen mit dem Ziele größtmöglicher Deutlichkeit unterscheiden.
2. DIE ILLUSTRATION ODER ABBILDUNG UND DER BILDBERICHT Nicht jedes Bild ist eine Abbildung. Von einer Madonna auf dem Altar wird niemand sagen: Sie finden eine Abbildung der Madonna auf dem Altar des Kölner Domes. Das wäre eine Entwürdigung. Aber auch von einer rührenden und innigen Szene von Mutter und Kind wird niemand sagen: Sie ist auf dem Kasseler Bild von Rembrandt mit der Heiligen Familie abgebildet. 288 Abbildung ist dort, wo ein Begriff, den wir kennen und der durch andere Begriffe (Definition) verdeutlicht wird, uns durch eine Wahrnehmung im Bild erläutert wird. Hier findet also das Gegenteil von dem statt, was wir täglich im Leben vollziehen, daß wir von einer sehr flüchtigen Wahrnehmung zum Wiedererkennen, zur Erinnerung an die mit dieser Wahrnehmung verknüpften Erfahrungen und entsprechenden Handlungen weiterschreiten, d. h. von der Anschauung zum Begreifen kommen, zum Begriff fortschreiten, der durch ein Wort, einen Namen, vertreten sein kann. In der Abbildung gehen wir vom Begriff aus, den wir haben und kennen, aber vielleicht nie durch eine An288
II, 733.
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schauung gelernt haben, zur Wahrnehmung. Wir verdeutlichen, erläutern den Begriff durch eine Abbildung. Wir können den Begriff des Känguruhs mit dem Beutel für die Jungen, der Giraffe mit dem langen Hals, des Kamels mit dem Höcker, des Hasen mit den langen Ohren, des Löwen mit der Mähne längst haben und viel von ihnen wissen, ohne jemals eines von diesen Tieren gesehen zu haben. Ob wir aber in der Natur diese Tiere sofort wiedererkennen und uns richtig ihnen gegenüber verhalten, das ist die Frage. Da hilft die Abbildung, und große Künstler haben sich darum bemüht, von solchen Tieren oder Pflanzen eine Anschauung zu verschaffen, Dürer hat seinen Hasen gezeichnet 289 , Rembrandt einen Elefanten (Abb. 66), einen Löwen, ein Kamel. Und diese Abbildungen könnten ohne weiteres in einem Lehrbuch, einem Tierleben, Pflanzenleben Platz finden. Und es gibt berühmte Lehrbücher, in denen von Künstlern die Illustrationen geschaffen sind. Die ästhetischen Faktoren derZrclation dieser einen aus vielen möglichen ausgewählten Wahrnehmung, die Konzentration zu einem den Blick festhaltenden und vereinheitlichten Ganzen, und die Intensivierung durch die Zusammendrängung auf kleinem Bildraum und die Gleichdeutlichkeit des Links und Rechts, des Vorn und Hinten, sind für die Deutlichkeit nicht unwesentlich. Die Isolation, die das Bild mit seinem Wahrnehmungsgehalt vornimmt, hebt schon das zu erkennende Objekt aus der Wirklichkeit heraus, in die es im Leben verstrickt ist, und erleichtert die Aufmerksamkeit, heftet den Blick fest auf das Objekt; denn das Abbild will das Objekt ja nicht als Vertretung, für den Kult, verwirklichen, will nicht das Dasein geben, sondern das Sosein. Die Abbildung eines Tieres, einer Pflanze isoliert noch einmal das Objekt von seiner Umgebung, statt es — wie das Lebensbild — gerade durch diese Umgebung in seinen eigenen Raum zu entrücken, zu seinem Eigendasein, seinem nacherlebbaren Lebensraum; sie will nicht das dauernde Für-sich-sein geben, sondern sein Für-wahr-sein für das erkennende Subjekt in bezug auf den bekannten Begriff, den sie illustriert, der deshalb durch einen Begleittext auf dem Bilde oder im Lehrbuch am besten mitgegeben wird, soll der Zweck der Abbildung recht deutlich werden. Das Festhalten der Aufmerksamkeit und die dadurch ermöglichte Erkenntnis und Objektivität wird durch die isolierende Wirkung der Bildlichkeit, die Unwirklichkeit des Bildes gefördert. Würde ich einem Hungrigen eine für ihn nicht bekannte Speise hinstellen, um ihren Namen an diesem Objekt zu erläutern, so würde er danach greifen und sie zu essen versuchen. An einer gemalten Speise würde die Demonstration müheloser gelingen. Die Konzentration im Bilde, die ästhetisch die eine gebotene Wahrnehmung aus vielen möglichen herausgreift und in sich konzentriert, wirkt auch auf die Erkenntnis konzentrierend. Daß wir unter den in der Natur möglichen Wahrnehmungen eine festgehalten finden und diese der Betrachter als die eine bleibende und ruhende festhält, konzentriert die Aufmerksamkeit und prägt sich ein. Wir behalten sie. Die Zusammendrängung auf den kleinen Raum einer Abbildung hat sogar noch einem Gemälde gegenüber den Vorteil der Einprägsamkeit. Wir fassen die Wahrnehmung mit einem ruhenden Blick, und durch den Wegfall der Nah-Perspektive (Parallaxe) entfallen alle jene verundeutlichenden Momente der Einstellung des Auges auf verschiedene Distanzen und des Wechsels der damit verbundenen verschiedenen Ansichten. Im Bilde aber ist es möglich, durch Auswahl der wesentlichen, charakteristischen Eigenschaften eines Objektes die Deutlichkeit der Wahrnehmung als Erläuterung des Begriffes zu steigern, die Wahrnehmung gegenüber der Natur zu läutern und aus den möglichen Ansichten diejenige auszusuchen, die mit einem Blick die entscheidenden Züge heraushebt. Der Künstler kann den fruchtbarsten Moment herausheben und dadurch die Deutlichkeit gegenüber der Natur steigern. Eine Rückenansicht des Pferdes würde als Erläuterung des Begriffes „Pferd", der doch das ganze Pferd besagt, nicht ausreichen. Der Stich des großen oder kleinen Pferdes von Dürer 290 scheint uns dagegen in seiner erschöpfenden Profilansicht das ganze Pferd restlos zu erläutern. Dabei wird der
290
E. Schilling, Albrecht Dürer, Zeichnungen und Aquarelle, Basel 1948, farbiges Titelbild. W i n k ler I, 248. B. 97 und 96, beide 1505. V . Scherer, Dürer ( K d K ) , 1904, 108, 107.
8*
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289
Künstler in der Stellung der Beine zueinander vermeiden, daß durch Verdeckungen Unklarheiten über die Vierbeinigkeit entstehen. Damit ist schon gegeben, daß auch die Illustration, die Abbildung, eine Kunst ist, in der sich auch die großen Maler oder Zeichner versucht und bewährt haben, und daß diese Kunst durch keine Fotografie ersetzt werden kann, da die Fotografie immer mit der Verbundenheit des Objektes mit der Umgebung und der Zufälligkeit störender Einzelheiten oder des Zuviel an sichtbaren Details und der Unklarheit zufälliger Ansichten rechnen muß. Alles dies kann der Künstler klären, läutern, isolieren und konzentrieren und mit der Intensität des auf der Fläche ohne Undeutlichkeitsstörungen erscheinenden Nachbildes wiedergeben. So gibt Dürer eine Dreiviertelansicht des Hasen 289 so, daß die langen Ohren in auffälliger Deutlichkeit als Wesensmerkmal sich klar präsentieren, der Körper in seinen Schichtungen in der Längsrichtung deutlich wird, das langhaarige Fell in der Gesamtwirkung sich sofort als wesentlich einprägt und in der gebückten, sprungbereiten Haltung zugleich eine bezeichnende Haltung erfaßt wird. Den Windhund aber zeichnet er im reinen Profil, damit die Schlankheit und Länge des Tierkörpers und die sehnige Schnelläufernatur unmittelbar einleuchtet. Rembrandt gibt die Profilansicht des Elefanten (Abb. 66) so, daß die Wirkung des Rüssels im Ganzen der Erscheinung sofort sich vordrängt, und er charakterisiert das dicke, schrundige Fell in seiner Gesamtwirkung, ohne daß einzelne Hauthügel für sich modelliert wären. Auch die charakteristisch schwerfällige Bewegung so zu erfassen, wie Rembrandt es getan hat, bedurfte es eines großen Künstlers. Die Interpretation des Wesens „Elefant" ist großartig. Die reine Profilansicht einer Ente von Pisanello (Abb. 67) ist ebenso aufschlußreich für das das Wasser durchschneidende, schwimmende Tier wie für die fliegende Ente die von oben gesehene, die Flügelstellung klärende Ansicht. Auch hier könnte keine Fotografie so deutlich sein, das Bild einer Ente so aufklärend sehen und festhalten. In der Kunstgeschichte spielen außer den Tier- und Pflanzenbüchern eine besondere Rolle die Städteansichten, die Topographien. Hier nun ist die künstlerische Tätigkeit des Auswählens, Konzentrierens, der Heraushebung des Wesentlichen und des Intensivierens durch die Akzentuierung der Stadtsilhouette mit den belebenden Türmen besonders groß. Welcher Turm für die entscheidende Charakteristik der Stadt in die Mitte gerückt wird bei der Auswahl der Ansicht, wie die anderen Türme diesem sich unterordnen, so daß sie sich nicht verdecken und doch dem Hauptturm die konzentrierende Zusammenfassung zuschieben, alles das bedarf schon des besonderen künstlerischen Taktes. Daß es dieses Stadtbild bleibt und keine Landschaft wird, wo man also Anfang und Ende der Stadt sehen soll, ob die Landseite oder die Fluß- resp. Seeseite das deutlichste Bild gibt, wie weit man in der Detaillierung der einzelnen Häuser gehen darf, ob man den Standpunkt mehr von unten oder von oben nimmt, wie weit man also in die Stadt selbst hineinsehen läßt, alles das sind wichtige, nur von einem Künstler zu beantwortende Fragen. Was so für die ganze Stadt gilt, gilt natürlich auch für eine Straße, einen Platz. Für die Kunstgeschichte sind diese Topographien besonders wichtig, da diese Objekte ja außer dem Illustrationswert noch einen ästhetischen Eigenwert oder auch den eines Monumentes oder Lebensbildes haben können, und wiederum es eine Sache des zeichnerischen Stiles ist, über dieser Eigenbedeutung des Illustrierten die Deutlichkeit der Illustration, die Topographie nicht zu vergessen. Dasselbe gilt auch für den großen Zweig der illustrierten Kostümkunde bis hinein zum modernen Modejournal, wo auch die Isolierung eines Kostüms durch Mannequins, die Erfassung der für ein Kostüm wichtigen Ansicht, die Wiedergabe dessen, was für die Gekleidete das Vorteilhafte der Tracht ist, höchste Anforderungen an den Künstler stellt. Dürers „Venezianerin" 2 9 1 ist eine solche Kostümillustration, deutlich durch die Ansicht, wo durch die Art des Tragens — Raffen an der Seite — das reich bestickte Untergewand unter dem einfarbigen faltenreichen Obergewand deutlich wird und durch die Sichtbarmachung aller Schmuckgegenstände die Pracht des Kostüms ins rechte Licht gerückt ist. Auch hier hat das Kostüm einen ästhetischen Eigenwert, aber die Kunst des Illustrators 291
1495. Winkler I, 69.
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besteht darin, uns nicht durch den Reichtum der Erscheinung und die Pracht des Kostüms eine ansehnliche oder verlockende Person zu schildern, sich nicht verführen zu lassen, sondern uns über das Kostüm, als Mittel zu gefallen, zu belehren. Im letzten Sinne belehrt Dürers Zeichnung der irischen Kriegsleute 292 und Bauern vortrefflich über Volksart, Tracht und Bewaffnung dieser rauhen Gesellen, ohne ins Heroische oder Mythische abzuschweifen. Menzels Soldaten Friedrichs des Großen strotzen von Objektivität. 293 Von der Abbildung im Lehrbuch unterscheiden wir die Neuigkeiten vermeldende Bildberichterstattung oder die Reportage. Zu der Forderung der Deutlichkeit der Abbildung kommt hinzu die Eigenschaft, die wir das Sensationelle nennen, der Reiz des Neuen, Seltsamen und Unbekannten. Dabei gibt das Bild nicht nur zu bekannten Begriffen die noch nicht bekannte oder bisher nicht deutliche Wahrnehmung, sondern befördert das Lernen, das Einprägen von Begriff und Bild und fügt die Erläuterung des Begriffes durch die Wahrnehmung, ihre isolierte, konzentrierte und intensivierte Augenfälligkeit hinzu. Bei der Reportage handelt es sich darum, schon durch das Bild sensationell, sinnenfällig und auffällig zu wirken, den Blick auf sich zu ziehen und die Wahrnehmung durch Worte zu erklären. Es ist das, was heute durch die Fotografen weitgehend besorgt wird, obwohl das, was für die Abbildung gilt, auch für die Bildreportage Gültigkeit hat, daß ein Künstler es ganz anders in der Hand hat als der Fotograf, das Bild aus dem Drum und Dran herauszuschälen, das Wesentliche heraus- und hervorzuheben, den Blick auf dieses Wesentliche durch die Anordnung und Komposition zu lenken und durch Verstärkung von Lichtern und Schatten, durch die Bestimmtheit umschreibender und formbezeichnender Linien und durch Drucke und Markierungen die auffälligen Sonderbarkeiten zu verstärken. In diesem Sinne ist Dürers Rhinozeros und das Schwein mit den acht Beinen eine Reportage, und auch eine Kamelzeichnung von Rembrandt könnte eine solche sein. Oft freilich besteht das Sensationelle gar nicht im Bilde, sondern darin, daß von jemand oder etwas viel gesprochen wird, daß ein vielleicht an sich gar nicht so aufregendes Ereignis im Brennpunkt der Aufmerksamkeit steht und nun in der Reportage illustriert wird. In diesem Falle nähert sich die durch Begriff schon bekannte und viel beredete Sensation in der Abbildung der Illustration, nur daß es auch hier weniger darauf ankommt zu lernen und zu behalten, als das Neueste zu erfahren, um es beim nächsten Neuen zu vergessen.
3. DAS BILDERTAGEBUCH Bei dem Reisetagebuch in Bildern oder den in Abbildungen aufbewahrten Memoiren handelt es sich nicht um Lernen oder Demonstrieren schlechthin für jeden Betrachter der Abbildung, sondern darum, daß der Zeichner für sich Stützpunkte seines Gedächtnisses schafft, für sein eigenes späteres Zurückdenken an seine Reiseerlebnisse. In diesen Abbildungen, die auch von Namen, Erklärungen, Texten begleitet sein können, kommt aber für den anderen, der diese Tagebücher als einen Reisebericht zu sehen bekommt, außer der Reportage des Bildberichtes noch die Beziehung zu dem bestimmten Subjekt, für den das abgebildete Objekt sein Objekt, seine Sache war — denn ohne Subjekt kein Objekt —, hinzu. Das Isolieren und Konzentrieren und die Intensität der Beobachtung sind also ein Reflex des subjektiven Interesses des Zeichners, das wir in diesem Falle in der Zeichnung mit vermittelt erhalten. Es handelt sich nicht um jene Sentimentalität, die als innere Seite eines Lebensbildes das gezeichnete Objekt erfüllt, also Gegenstand des Zusehens ist und zum Objekt des Zusehens gehört, sondern um die Deutung, die der Reisende durch seine besonderen Erfahrungen und sein besonderes Interesse dem Gesehenen gibt, und die die Deutlichkeit der Wiedergabe zunächst für ihn deutlich macht. Diese Subjektivität der Deutlichkeit von Reise- oder anderen Tagebüchern in Abbildungen des Bereisten oder Erlebten kommt nur dadurch zum Ausdruck, daß schon in der Subjektivität der Zeichnung überhaupt oder in der 1 521. W i n k l e r IV, 825. - 93 A . Menzel, Die Armee Friedrichs des Großen, 1845/51 und 1857 ( „ A r m e e w e r k " ) .
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besonderen Art der Handschrift deutlich wird, daß hier die Sicht eines bestimmten zeichnenden Individuums sich kundgibt, aber auch in der Auswahl des Objektes, Standpunktes und der Auffassung sich eine Doppeldeutlichkeit für den Fremden ergibt, die des dargestellten Objekts und die für den Zeichner speziell. Da aber diese sich durch die Subjektivität der Handschrift, eventuell eine abkürzende Stenogrammschrift, das schnell Hingeworfene, kundgibt, so zeigt sich, daß Deutlichkeit nicht identisch ist mit genauer Übereinstimmung mit dem gelesenen Objekt, wie es die Fotografie wiederzugeben scheint; denn gerade die besonders auf die Grenzen eines Objekts, den Umriß hinzeigende Strichzeichnung, die Linie, ist ja dem gesehenen Bilde in der Wirklichkeit fremd, dient aber der Verdeutlichung. Die Kunst wird gerade durch sie zur „bezeichnenden" Kunst der Graphik. Das lehrt das besonders verdeutlichende Mittel der Umrisse, Grundrisse etc., der Kleinmalerei. Herrliche Tagebücher in solcher zeichnenden Manier haben wir in den Reisetagebüchern von Dürer 294 , Heemskerk 295 , Goethe, der Romantiker. Aber auch aus Zeichnungen Rembrandts könnte man ein prachtvolles Familientagebuch zusammenstellen, unter denen das Bild Saskias am Tage der Verlobung (Abb. 38) so sehr neben dem deutlichen Bilde Saskias die Einstellung des Künstlers dem Objekt gegenüber verrät und dessen Subjektivität so verdeutlicht, daß man glaubt, Rembrandt habe sich selbst mitgezeichnet.
4. DAS PLANIMETRISCHE ABBILD ODER DER SCHEMATISMUS DER ÜBERSICHT Die Verdeutlichung, die eine planimetrische Abbildung einer Gegend, einer Stadt, eines Bauwerkes, eines Gerätes, einer Maschine, eines Gesimses und seiner Profile bringt, ist nicht die Beschaffung einer Abbildung für einen nur begrifflich bekannten Gegenstand, ist nicht die Mitteilung von Neuigkeiten mit Hilfe des Abbildes und nicht die anschauliche Festlegung von Erfahrungen auf Reisen oder in Tagebüchern als Erinnerungsstützen für den eigenen Gebrauch, sondern Umsetzung von plastisch-räumlichen Anschauungen und Perspektiven, die immer nur einzelne Teile ganz deutlich oder sichtbar werden lassen und die Maßverhältnisse der einzelnen Teile durch die Verkürzungen, Verschiebungen und Verdeckungen nur unbestimmt schätzen lassen oder überhaupt vereiteln, in ein Flächenbild, in dem die Teile nach ihren meßbaren, abgreifbaren oder abschreitbaren Größenverhältnissen, nach ihren wirklichen Größenverhältnissen aufgetragen werden mit Hilfe einer Projektion auf eine einzige Ebene. Die Übersicht und die Meßbarkeit sind also das Ideal der planimetrischen Abbildung, auch sie dient also der Wissenschaft. Welche orientierende Kraft der Grundriß, d. h. die auf die Grundfläche einer Straße, einer Stadt, eines Landes projizierten Abgrenzungen von Baukörpern und Zwischenräumen haben, lehrt der einfachste Fall, daß wir von jemandem nach einer Straße gefragt, ihm nicht nur umständlich beschreiben, wie er zu gehen hat, sondern ihm einen Plan zeichnen, der eine ganz anders dauernd gegenwärtige Deutung der Situation gibt, mit einem Blick überschaubar orientiert, übersichtlich und in bezug auf Entfernungen meßbar. Ein solcher Plan ist also nicht durch Wahrnehmung einer Wirklichkeit sichtbar, sondern nur aus dem Wahrgenommenen rekonstruierbar, ein Schema, abgekürzt mit Rücksicht auf das Wissensziel und geometrisiert mit Rücksicht auf die Maßverhältnisse. Bis zu einem gewissen Grade ist alles, was in die planimetrische Übersicht eingetragen wird, durch Messungen zu ermitteln und insofern mehr Wissenschaft als Kunst. Aber da es sich ja um Verkleinerung und Schematismus handelt, ist wieder die Art der Auslassung, der Isolierung der für die Maßverhältnisse allein wesentlichen Linien, die Konzentration der für das Ganze entscheidenden Verhältnisse etwas, was nicht einfach gelernt werden kann, sondern ursprünglich künstlerische, visuelle Veranlagung erfordert. Eine Landkarte z. B. ist eine planiNiederländische Reise: Winkler I V , 7 4 4 - 7 6 0 , 7 6 1 - 7 8 7 . 295 B e r l j n ; Kupferstichkabinett, sog. Skizzenbücher, Berliner Tagebuch, hg. von Christian Hülsen und Hermann Egger. 294
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metrische Umsetzung einer perspektivisch ganz anders gesehenen Gegend in einem allen Vorstellungen sich entziehendem Maße. Wir können also die Landkarte als planimetrisches Schema einer Gegend im Original überhaupt nie sehen. Europa als Flugbild gibt es nicht. [Wenn man von der Satellitenfotografie absieht.] Im Umriß des Landes, im Lauf der Flüsse, in der Dünne oder Dicke der Linien, in der Auswahl der Städte, der Stärke ihrer Punkte, ja auch in der Einführung der Namen das richtige, übersichtliche und deutliche Maß zu finden, bleibt immer eine schöpferische Leistung und kann planimetrische Landkarten von grundverschiedener Qualität entstehen lassen. Deshalb gibt es Landkarten, Atlanten, die große Kunstwerke sind rein schon durch die Art, wie sich in den oben angegebenen Momenten die Deutlichkeit der konzentrierten Übersicht des Landplanes ausdrückt. Das gilt in erhöhtem Maße von den Stadtplänen. Ohne solche Pläne und ihren Schematismus würden wir eine Stadt als Ganzes nie zu Gesicht bekommen und nie beurteilen können, was eine Stadt als ein gewachsener Organismus um einen Stadtkern herum bedeutet, was zufällig geworden, was Schöpfung eines Stadtgründers und Städtebauers ist. Ist ein solcher Plan noch verbunden mit den Hausfassaden, die ja nur auf der einen Seite der Straße deutlich sein können, also von einem bestimmten Standpunkt aus gesehen sein müssen, so ist auch die künstlerische Leistung vollkommen. Für die Erkenntnis von Bauwerken und Geräten ist die Erläuterung von Abbildungen durch planimetrische Abbildungen unerläßlich. Auch ein Bauwerk, besonders im Innern, aber auch in engen Straßen, ist ja für das Auge und die fotografierende Linse nicht übersichtlich. Diese Übersicht über das Verhältnis der Räume, das wir erst im Durchschreiten und nur in Teilen oder nach verschiedenen Richtungen kennenlernen, erlangen wir ganz und mit einem Blick erst im Grundriß oder im Aufriß und in Schnitten, die wir vertikal im Längs- oder Querschnitt durch den Bau legen. Gleichheit oder Verschiedenheit der Abstände von Räumen, Pfeilern, Arkaden, Fenstern, Dicke der Mauern an jeder Stelle, über alles unterrichtet uns das schematisierte Bild der planimetrischen Wiedergabe. Auch diese Aufgabe ist nicht nach festen Regeln zu erledigen, sondern läßt dem Zeichner Spielraum genug in bezug auf Linearität (Umrißzeichnung) oder Plastizität und Lichteinfall in der plastischen Wiedergabe der Einzelheiten, und wie immer der Verschwendung und Beschränkung in bezug auf die Einzelheiten. Eine besondere Bedeutung innerhalb solcher Schemata haben dabei die Durchschnitte oder Umrißzeichnungen von Profilen, d. h. der verdeutlichten Formbewegungen von plastisch reich gestalteten Gebälken, Basen, Kapitellen, die bei reichen Überschneidungen dem Blick in der Wirklichkeit sich entziehen und nur geahnt werden können aus dem Schattenschlag ohne jene Präzision, die der Durchschnitt und Umriß vermittelt. In solchen Grundrissen und Schnitten und ihrer planimetrischen Zeichnung äußert sich aber auch die produktive Phantasie des Baukünstlers. Zuerst nur flüchtig hingeworfen in einer architektonischen Skizze, dann hieraus als Schema mit Maßen durchgeführt, gibt er sich Rechenschaft über das Verhältnis der Räume zueinander, der Mauern und der Offnungen zum Raum und zueinander, über statische und dynamische Verhältnisse und den Ausdruckswert der Formen. Mit diesen Zeichnungen gibt er Anweisungen für die Ausführung, das Abstecken der Grundrisse, die Ausführung der Mauern, die plastische Arbeit an den Formen, die Disposition in der Verteilung der Arbeit und ihren Gang. Hier kommt also zu der Sachlichkeit des Erkennens, die alle Monumentalität und Gemütlichkeit zum Objekt des Deutens und Verstehens macht, noch die Sachlichkeit hinzu, die den Bau zum Objekt der Produktion der Bauhütte, der Werkstatt macht. Je mehr aber eine Zeichnung auf diese Produktion hinweist, umso mehr bezieht sich die Deutlichkeit, d. h. die Anweisung der Abbildung zum Verständnis der Bedeutung der Zeichnung, nicht auf schon Erfahrenes, sondern auf noch zu Realisierendes, auf Möglichkeiten der Ausführung, Schwierigkeiten der Produktion und schöpferische Leistungen des produktiven Künstlers. Plan, etwas planen, heißt also nicht nur das plastisch Körperliche und Räumliche durch die Planimetrie planieren, auf die Fläche projizieren, sondern auch einen Plan machen für etwas, was man vorhat und ausführen will; es wird nicht nur projiziert, sondern auch projektiert. Dies in der planimetrischen Zeichnung zu sehen und verdeutlicht zu erhalten, setzt 109
aber viel mehr voraus an Erfahrungen in bezug auf Wollen und Ausführung, Projektion und Möglichkeit der Realisation, Absicht des Künstlers und Ausdruck in der Zeichnung, da zum Verstehen einer planimetrischen Zeichnung ähnliche Erfahrungen gehören wie bei der Deutung einer Schrift in Worten, zumal bei den planimetrischen Zeichnungen auch wie bei den Worten gewisse Konventionen mitspielen. Die planimetrische Zeichnung will nicht nur wahrgenommen, sondern auch gelesen, ihr Nachlesen gelernt sein. Sie wendet sich an den Fachmann, vor allem an die Baumeister selbst. Damit aber kommen wir in ein neues Kapitel der Abbildung hinein: Abbildung als Mittel der Objektivierung eines nur Gewußten oder Vorgestellten oder ehemals Gelesenen und Festzuhaltenden, der Studie und Skizze.
5. STUDIE UND SKIZZE Unter Studie und Skizze verstehen wir diejenige Form eines Abbildes, bei der zu der Deutlichkeit, die sich auf das dargestellte Objekt bezieht, noch diejenige kommt, die darauf hindeutet, daß dieser Gegenstand Verbildlichung einer künstlerischen Tat ist. Die Tatsache, daß es ein Kunstwerk ist, ist die Hauptsache, nicht etwa eine den Künstler verneinende Illusion einer vertretenden Wirklichkeit oder der imaginäre Eindruck von selbst-gewachsener Natur. Von solchen Abbildungen sind deshalb nicht die die besten, die die Technik der künstlerischen Arbeit verschweigen, sondern solche, die sie absichtlich hervortreten lassen. Solche Studien und Skizzen gibt es auch mit dem Pinsel, als Malereien, und farbig, und in Ton oder Gips als Plastik, nirgends aber tritt der Charakter des Produzierten und damit des Objekts als Resultat einer künstlerischen Arbeit so sehr hervor wie in der Handzeichnung mit ihrem der Natur fremden Material des Striches oder der Linie, wie ja schon in der planimetrischen Zeichnung. Auch die Abstraktion von den Farben durch Beschränkung auf schwarz-weiß unterstreicht den Eindruck der Produktion, die Subjektivität des Kunstwerkes. Wir unterscheiden drei Formen solcher Produktions-Abbilder, die auf die künstlerische Arbeit hindeuten. Erstens die Studie, d. h. das soweit als möglich ausgeführte Abbild eines Gegenstandes, das aber durch Modellhaltung, durch die zeichnerische Technik, durch die Unbildmäßigkeit, Rahmenlosigkeit, Zufälligkeit der Ansicht, Fülle des Beobachteten, darauf hinweist, daß hier das Interesse des Künstlers an dem Objekt als rein zeichnerischem Problem, als an etwas, das festgehalten zu werden verdient, beteiligt war oder bei dem die Zeichnung als Mittel zur Orientierung für den Künstler dient. Dies nennen wir Studie, weil wir merken, daß hier der Künstler die Erscheinung studiert hat, weil wir die Aufmerksamkeit, den Fleiß des Künstlers, die Absicht der Treue in der Wiedergabe und das Modell als Objekt der künstlerischen Beobachtung mitverspüren. Eine solche Zeichnung ist die Zeichnung Dürers nach einem alten Mann (Abb. 68), die durch eine Inschrift („Der man was alt 93 jor ..."), durch die Technik, Strichzeichnung in Kreide, und die Sorgfalt und den Fleiß der Beobachtung, mit der jede Falte des faltenreichen Gesichtes, jedes Haar des mächtigen Bartes, mit unendlicher Geduld wiedergegeben sind. Hier ist es nicht der rührende Anblick eines greisenhaften Lebensbildes wie in Rembrandts „Alter Frau" in Leningrad 2 3 7 , der uns packt, sondern die Deutlichkeit und die bewundernswerte Beobachtungsfülle und Fleiß und Können der Wiedergabe, die uns in erster Linie fesseln, die Objektivität des Beobachters, vergleichbar der eines Geologen, der eine interessante Urwaldlandschaft beschreibt. Ebenso ist die Zeichnung eines Mannes als Studie für ein Porträt durch die Ausgeführtheit und Sorgfalt der Arbeit doch nur eine Studie, kein Bild, weil wir die Modellhaltung spüren und an der Technik erkennen, daß es eine Arbeit des Künstlers ist, der sich Rechenschaft über das gibt, was an dem Modell Bemerkenswertes ist. Von dieser Studie unterscheiden wir die Skisge, die unausgeführte, unfertige, flüchtig hingeworfene Zeichnung, die in bezug auf das in einem fertigen Bilde erscheinende Objekt undeutlich ist, umso deutlicher aber in bezug auf die Tatsache, daß es sich hier um Interessen, Auffassungen, Aufmerksamkeiten und Absichten des Künstlers handelt, die umso besser sind, mit je weniger Mitteln gerade die Absicht des Künstlers, die Richtung 110
seines Wollens und Interesses schlagkräftig verdeutlicht ist. Auch hier macht es noch einen Unterschied, ob es sich um eine Noti% handelt, eine flüchtige, schnell hingeschriebene Notierung einer Erscheinung in Richtung auf möglichste Realisation eines Bildes, als Baustein für künftige Schöpfungen, nicht als Erinnerungsstütze an das Objekt wie beim Reisetagebuch, oder um den Entwurf, bei dem gar kein Modell zugrunde liegt, sondern das Festhalten einer inneren Vorstellung, die Grundzüge einer künstlichen Komposition, das Gerüst einer Bildarchitektur, also nichts Fertiges, sondern etwas Werdendes, Wandelbares, eine Konzeption, ein Grundgedanke. Auch eine solche skizzenhafte Zeichnung ist eine Objektivierung, die Verdeutlichung einer zunächst flüchtigen, schwankenden Vorstellung und ihre Festlegung als frühes Stadium einer künstlerischen Produktion. Die Zeichnung eines alten Mannes von Rembrandt (Abb. 69), die den Grund zu einem sehr schönen Porträt gelegt hat, ist eine solche Zeichnung, die nicht nur durch die Bloßlegung der Striche als zeichnerischer Faktor sich sofort als nicht Natur, sondern als künstlerische Tat und Arbeit kundgibt, die aber in den scheinbar sinnlosen Strichen der unteren Partien sofort deutlich macht, daß es dem Künstler hier nur auf schnelle Fixierung einer Möglichkeit der Haltung für ein durch das Geistige des Gesichtes vor allem sprechendes Bildnis ankommt. Sehr schön erläutert den Unterschied der Wirkung einer Skizze im Sinne der künstlerischen Notiz die Skizze zu dem Stockholmer Mädchenbildnis (Abb. 70). Hier ist mit ganz schnellen, flüchtigen Strichen das Charakteristische einer Physiognomie und die Bildmöglichkeit einer Haltung festgehalten. Hält man das Bild daneben, dann wirkt dies in einem ganz anderen Sinne, nicht als künstlerische Leistung, als Arbeit, sondern als dies Mädchen in träumerischer Versunkenheit, als Lebensbild und als Natur. Die Technik und der Künstler treten ganz dahinter zurück. In der Zeichnung aber wirkt für den Kenner und Künstler etwas ganz anderes: einmal die Reduzierung der Porträtzüge auf bestimmte physiognomische Merkmale, die Person als Objekt des Wiedererkennens, die Deutlichkeit der Individualisierung, darüber hinaus die Intensität des Interesses des Künstlers an diesem Objekt und die Festlegung eines Gerüstes für ein Bild, das diese Grundprinzipien des Porträts wieder zudeckt und verschwinden läßt. Noch packender aber für den Kenner und Könner sind die Entwurfszeichnungen, in denen die Grundpfeiler nur vage und verschwommen in dem auftauchenden Gerüst verdeutlicht und festgelegt werden, mit Strichen, die einzeln bedeutungslos wären und in bezug auf Objekte, die in die Komposition hineingestellt würden, nichts aussagen, aber als Zeugnisse einer künstlerischen Absicht spannend, aufregend, produktiv wie jeder von produktiven Menschen gefaßte Plan, der noch der Ausführung harrt. Sie sind wirksam wie das farbige Bild, aber in einem ganz anderen Sinne. Am meisten sagen natürlich solche Zeichnungen dem Künstler selbst etwas, denn er allein weiß ja schließlich ganz deutlich, worauf es ihm in der Zeichnung ankam. Für ihn ist sie das Gerüst, auf dem er weiterbaut. Für das Publikum sind sie in Zeiten, zu denen es auf die Göttlichkeit des Kultbildes und die Natürlichkeit des Lebensbildes ankam, nur Verräter von Geheimnissen, die die Würde des Menschen zerstören, weil sie verraten, daß diese erhabene Person auch ein Objekt für den Künstler ist, die Erhabenheit seiner bildlichen Vertretung ein Produkt menschlicher Arbeit, und daß die Natürlichkeit des gewachsenen Lebensbildes der Unnatürlichkeit menschlichen Könnens seine Gestalt verdankt. Früher war es üblich, alle Spuren der Arbeit zu tilgen, sobald die Arbeit vollendet war, und der Künstler rechnete nicht mit dem Verständnis und Interesse an der künstlerischen Arbeit als solcher. Jetzt ist aber die Skizze ein Mittel geworden, den Betrachter an dem künstlerischen Prozeß, an der Arbeit des Künstlers teilnehmen zu lassen und der Kunst als einem Teil der Arbeit und Produktion einen eigenen Wert zu verschaffen. Was für den Künstler nur Durchgangspunkt für eine künstlerische Arbeit war und deshalb unwichtig wurde, wenn er darüber hinaus war, erhält so für den Betrachter als geistig Nachschaffenden einen bleibenden Wert, umso mehr, je mehr er das Gesamtwerk des Künstlers kennt und aus dieser Kenntnis der fertigen Werke sich die Absicht des Künstlers verdeutlichen kann.
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VIII. DAS GEBILDE UND DIE SCHAU
Kultbild, Lebensbild und Abbild zeigen, wie gering die Rolle ist, die die Wahrnehmung, d. h. das in einem einzigen sich gleichbleibenden Anblick gegebene Sichtbare um seiner selbst willen spielt, wie also die Bedeutung der Wahrnehmung bei diesen Bildern außerhalb des nur Wahrgenommenen liegt. Trotzdem zeigte sich, daß der Wert der Wahrnehmung an sich, der durch Isolation, Konzentration und Intensivierung gegeben war, bei der Bedeutungssteigerung der nicht ästhetischen Werte des Verehrens, der Intimität, der Deutlichkeit, mitwirken kann. Darüber hinaus gibt es Bildwerke, in denen die Eigenbedeutsamkeit der Wahrnehmung Selbstzweck oder Hauptsache ist, und die Erfindung des Bildinhaltes, Gestaltung und Form, von der Absicht dirigiert werden, das Gesehene rein für sich, ohne kultische, empfindsame und wissenschaftliche Absichten wirksam werden zu lassen. Das ist z. B. der Fall bei allen rein ornamentalen Gebilden, wie Tapeten oder gewissen Vorsatzpapieren, oder Gittern an Baikonen und Gärten, oder überhaupt bei Gebrauchsgegenständen, bei denen sowohl die Einzelteile der Muster durch ihre regelmäßige Gestalt als auch die Summation durch regelmäßige Abfolge, Symmetrie, die neue Muster ergeben kann, gefallen. Diese Art von Bild, in der alles absichtslos nur aus dem eigenen inneren Zusammenhang heraus gestaltet wird, ohne Rücksicht auf ein äußeres Objekt und seine Fremdbedeutung, nennen wir Gebilde, die Art des Sehens, das anschauende Verhalten, die Schau. Ein solches Gebilde der Wahrnehmung um der Wahrnehmung willen braucht, um eigenbedeutsam zu sein, nicht ohne jede Bedeutungsmöglichkeit zu sein. Jede Wahrnehmung, die uns einen Gegenstand verschafft, sei es illusionistisch zum Kult, sei es naturwahr, aber bildlich zum Mitgefühl, sei es deutlich zum Lernen und Behalten oder zur produktiven Tätigkeit, enthält in diesem Deuten und Verstehen ein rein geistiges Element, das unabhängig vom Zweck, den die Wahrnehmung mit der Deutung und Andeutung des wahrgenommenen Gegenstandes verfolgt, als Betätigung geistiger Kräfte, als Spiel des Geistes, lockend und interessant sein kann. Schwierigkeiten der Deutung, also die Undeutlichkeit des Gegenstandes, brauchen deshalb das Bild nicht zu entwerten, sondern können den Reiz des Verstehenwollens erhöhen und den Eigenwert der Wahrnehmung steigern. Dies ist der Reiz der Andeutung, bei der wir von einem Gegenstand nur flüchtige Eindrücke wie bei einem Fernbild im Dunste der Atmosphäre oder einer vagen Silhouette erhalten und den Gegenstand mehr erraten als durch ein Abbild deutlich erkennen können. Diesen Reiz der Andeutung können auch flüchtige Skizzen haben. Solche schwer erkennbaren Bilder, die einen Gegenstand nur ahnen lassen, und bei denen die Andeutung den Hauptreiz des Bildes ausmacht, und durch Bildisolation Fremdbedeutungen wie Kultverhalten, Miterleben und Lernen ausgeschlossen werden, nennen wir Gegenstandsimpressionen und Impressionsski^en. Beste Beispiele sind Liebermanns Strandbilder 296 oder Whistlers Venedig-Radierungen (Abb. 71). 297 Die äußerste Konsequenz einer solchen Verundeutlichung und Verschleierung ist das Bilderrätsel. Die sogenannte abstrakte Kunst steckt voll von solchen bilderrätselartigen, frei-phantastischen Gebilden. Die schwere Deutbarkeit oder Unsinnigkeit, d. h. die Unmöglichkeit, für unser tätiges Leben Erfahrungen zu gewinnen, bedeutet ein Minus an 296 297
Haman-Hermand, Impressionismus, Berlin 1960, S. 248, 347, 355. V g l . auch „Nocturne": Hamann, D e r Impressionismus in Leben und K u n s t , K ö l n 1907, S. 28.
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Wahrnehmungserinnerung, wie in der Wortkunst das Paradoxon oder die aus der Sprache heraus verständliche, an der Wirklichkeit gemessen unsinnige Reimkunst von Morgenstern. Das kommt am reinsten zum Ausdruck in gewissen Bildern von Klee. 298 Wir nennen sie bildliche Phantasmagorien. Nur die Gewöhnung an die Sentimentalität des Naturalismus und die Religiosität des Kultus hat bewirkt, daß diese die menschliche Person zum Objekt reiner Wahrnehmung, also einer intellektuellen Tätigkeit herabwürdigenden Faktoren bisher so unbeachtet blieben. Auf diese menschlichen und kultischen Werte beziehen sich diejenigen Formen des Gebildes der reinen Wahrnehmung, die diese durch Entpersönlichung und Entmenschung von den Kult- und Menschlichkeitswerten isolieren. Dahin geht die Verzerrung und Deformation, die das menschliche Gesicht zu einer Maske, die Miene zu einer Grimasse verunstaltet, die Gestalt zu einem kloßigen, unförmigen, marionettenhaften Phantasma macht, das Erhabene zu scheußlichen Fratzen, den Menschen zum grauenhaften, wüsten Unmenschen; alles aber so, daß nicht die Illusion einer dämonischen, schreckbildhaften Uberwirklichkeit entsteht, auch nicht die triumphierende, kämpferische, politische und wirklichkeitsbezogene, übertreibend bloßstellende Verzerrung der Karikatur, sondern daß durch Isolierung die rein negativische, Kult- und Mitgefühl ausschließende Bildhaftigkeit des Gebildes, der Gegenstand künstlerischer Produktion, damit gewahrt bleibt. Am bezeichnendsten für die Entgegenständlichung sind die Bilder, auf denen Masken 299 dargestellt sind; die Unwirklichkeit des Gegenstandes ist hier dadurch erreicht, daß die Masken selbst schon nur Gebilde von Menschenhand sind und dadurch sich jede Verzerrung ohne Widerspruch gefallen lassen. Diese Isolierung aber wird auch ohne Verzerrung, ohne Deformation zum Unnatürlichen und Unterwirklichen erreicht durch Entgegenständlichung, durch die Verwandlung alles Räumlichen und Körperlichen in ein reines Flächenbild. Dadurch wird die Deutung des in der Sehebene als rein optisches Flächenbild Gesehenen auf eine Wirklichkeit, Illusion, Naturwahrheit oder Begriffsverdeutlichung zugunsten der Auffassung als eines reinen Sehgebildes zurückgedrängt, auch wenn die im Flächenbild wie im Schattentheater auftretenden Gestalten noch als Bild von Personen oder Dingen erkennbar sind. Tritt nun zu dieser Flächigkeit noch eine Zerlegung der Gesamtfläche in ausgeprägte Dreiecks-, Rechtecks-, Kreis- und Segmentflächen hinzu, die auch die Figuren in geometrisierte Flächenbilder zerlegt und aus solchen zusammensetzt, dann entsteht ein Konstruktivismus (in der Plastik oder in stark körperlich modellierender Bildkunst ein Kubismus), der nicht nur im Zusammenwirken der Flächen, unabhängig vom Gegenstandswert, den Gebildcharakter abgibt, sondern durch die Konstruktion auch das Gebilde von Menschenhand als solches, d. h. die Unwesentlichkeit der Gestalten als Natur und Wirklichkeit betont. Solche Verflachung und Flächenkonstruktion haben schon die Bilder des Neo-Impressionismus, besonders die von Seurat 300 , auf denen durch die Geometrisierung der Flächen die Figuren puppenhaft erstarren und ein Gerüst für die reine Bildkomposition abgeben. Werden dann noch diese Flächen durch ungebrochene, unmodulierte Farben, wie bei Franz Marc 301 , gefüllt, dann wird das Gebildhafte und Gegenstandslose ohne die Verzerrung, die es bei Nolde 299 oder Schmidt-Rottluff 302 hat, wirksam. Die Verwandlung der einzelnen Körperteile in Linien und Kuben kann auch selbst noch ein Mittel der Verzerrung werden und dadurch, als reine Bildkonstruktion durch den Künstler, dem Verdacht der Karikatur oder des Schreckbildes stärker entgehen als beider entmenschenden Verzerrung in Noldes Bildern. Die reinste Gebildhaftigkeit aber ergibt sich aus dem völligen Verzicht auf Gegenständlichkeit überhaupt, wo von der Bildfläche aus reine Farbflächen, Linien, Kuben, Räume, entwickelt werden, die ohne Beziehung zur Natürlichkeit ihres Zusammenseins, ohne Ver298 2!l!l 300 301 302
II, 1091, Taf. XIII. Nolde: II, 1097. II, 47. II, 1085. II, 1089.
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hältnis zu oben und unten, zu Himmel und Erde, das Bild füllen, das deshalb auf alle Seiten des Rahmens gestellt werden kann, ohne seinen Sinn zu verlieren.303 Wie aber kann ein solches Gebilde für das Auge noch etwas bieten, wenn alle Zwecke, die sonst die Erstellung eines Bildes wertvoll machen — Religion, Leben, Wissenschaft —, wegfallen? Nun, es sind dieselben Elemente, die auch schon in der Wirklichkeit das Auge auf sich ziehen, ohne daß der Gegenstand, an dem sie sich befinden, im Augenblick des Gesehenwerdens noch einen anderen Wert hätte als den, das Auge zu beschäftigen und ihm wohlgefällig zu sein. Ein Spinngewebe, glänzend im Morgentau, ist ein Liniengebilde von reicher, relativ regelmäßiger Struktur, im Zimmer etwas, was jede Hausfrau schnell zerstören möchte, im Freien schon zu bekannt, um als wissenschaftliche Neuigkeit aufzufallen und zu fesseln. Es fesselt durch das, was an ihm Gebilde ist, wie alles, was Haeckel „Kunstformen der Natur" genannt hat. Es ist also unabhängig von dem, was uns der Name Spinngewebe deutet, ein konzentriertes Gebilde von reicher, abstrakt linearer, gemusterter Struktur. Einen entlaubten Baum, den wir im Winter gegen den hellen Abendhimmel sich scharf ab zeichnen sehen, ist ein solch lineares, halb schwarz-weißes Gebilde von einheitlicher Bildung und vielfältiger Differenzierung, eine reine fesselnde Bildgestalt, für die die Deutung auf den Namen Baum gleichgültig ist. Ein Gewirr von Stangen und Spreizen, das wir silhouettenhaft auf einer Eisenbrücke gegen den Himmel sehen, kann uns durch den unübersehbaren Reichtum von zusammenhängenden Linien und Schwarz-Weiß-Flecken faszinieren. Wenn aber ein abstrakter Künstler etwas Ähnliches gibt, nur viel reicher, physiognomisch interessanter, individueller, weniger dekorativ und geometrisch regelmäßig, viel in sich geschlossener als Bildganzes, uns aber keine Möglichkeit gibt, es mit Namen zu benennen, dann fragt alle Welt, was das bedeuten soll, als ob bei der Betrachtung des Baumes, des Spinngewebes, der Eisblumen am Fenster, der Betrachter erst dadurch glücklich würde, daß man ihm den Namen des Gesehenen nennt. Ein Kristall, sei es als einfaches Gebilde, oder als Edelstein, als reicher Komplex einer Druse, entzückt das Auge durch den Zusammenhang kubischer Elemente zu einer Gesamtform, wozu noch die Spiegelung von Flächen und der farbige Schimmer treten können. Auch diese Form, rein bildlich ohne Erkennbarkeit eines Gegenstandes dem Auge dargeboten, befremdet die meisten und läßt fragen: „Wozu, oder was ist das?" In einem naturalistischen Gemälde ist ja ein solcher Bildzusammenhang, eine solche Konzentration in bildmäßiger Art gar nicht vorhanden. In einer Landschaft wissen wir von Rehen im Walde und Bäumen hier und da, daß sie gleichzeitig zusammen sein können, und kontrollieren das Beieinander der Personen und Gegenstände nach den Erfahrungen, die wir über das Zusammensein in einem Raum und das Beieinander der Körperteile aus der Wirklichkeit gewonnen haben. Würden wir das Bild aber auf den Kopf stellen, so würde die Zufälligkeit, die Unbildlichkeit des Zusammenseins sofort klar werden. Im gegenstandslosen Bild ist es die Kunst, die Bildfläche im Ganzen als eine Einheit mit Elementen zu füllen, die als ein Ganzes, als zusammengehörig, als eine Bildgestalt empfunden werden, und zwar nicht durch ein dekoratives, primitives geometrisches Muster, sondern als ein irrationales, durch optische Begriffe der Linien, Farben und Gewichtsverteilung der Akzente, nach allen Bildrichtungen zusammengefaßtes Ganzes. Die Bildfüllung kann einen einzelnen Gegenstand betreffen, wie bei den „Zwitschermaschinen" 298 , den „Mondgesichtern" von Klee oder den Gesichten von Picasso 304 , einen Gegenstand, der durch Entlebendigung geometrischen Figuren angenähert oder in seinen einzelnen Teilen, der Natur widersprechend, willkürlich zusammengesetzt ist. Oder es werden ganze Situationen gezeigt, wo die unmöglichsten abstrakten Figuren so über die Bildfläche zerstreut sind, daß sie ein reizvolles Ensemble abgeben, ohne daß man sich bewußt wird, daß es in der Natur auch diese Willkür des Zusammen gibt, etwa bei einer Wiese, die ganz zerstreut und zufällig von allen möglichen Blumen bedeckt ist, daß hier ein Stückchen Bach, dort ein Stückchen Baum sichtbar wird, ohne daß irgendein bildlicher Zusammenhang im Ganzen exi3113 301
Molzahn, Kandinsky: II, 1093, 1098. II, Taf. II.
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stiert. Trotzdem ist das A u g e befriedigt, wenn es die W a h r n e h m u n g als eine gegenständliche auffassen kann, während in dem abstrakten Bilde, das bildlich und farbig vielleicht viel einheitlicher komponiert ist, nur eine rein bildliche Situation besteht. Durch eine Bildfüllung bis zum Rand ist das abstrakte Bild als reines Gebilde, rein ästhetisch, viel inhaltsvoller, reicher, fesselnder als ein gegenständliches, und dauerhafter, da ja die Befriedigung des Erkennens wegfällt, die, einmal erreicht, nach Neuem verlangt. Durch diese Konzentration i m Ganzen des Bildfeldes und die Unabhängigkeit v o m Gegenstand k o m m e n aber vor allem Linie und Farbe, die Elemente, die auch in der W i r k lichkeit die D i n g e sehenswert machen, zu ihrem Recht. Die Linie kann ihre Bedeutung erhalten durch eine figurenerzeugende Fähigkeit. Die Linie hat aber auch eine Richtung, u n d diese Richtung kann B e w e g u n g suggerierend w i r k e n und dadurch in vielfältigsten Spiralen einen Bewegungsrausch vermitteln. W e n n dann die Linie außerdem noch an die Tatsache des Gezeichnetwerdens erinnert, so kann der Betrachter selber zu innerlich sehr heftigen A r m b e w e g u n g e n angeregt werden, wie bei gewissen Bildern v o n Kandinsky. 3 0 5 Das alles aber w i r d noch gesteigert durch den Hinzuzug der Farbe, so daß ein radschwingendes Spiralengetobe, eine Art Feuerwerk, entsteht. Die Farbe ist es nun auch, die die in einem Gesicht durch Steigerung der modellierenden Helligkeiten und Dunkelheiten entstehenden Fleckengegensätze und reinen Farbwerte, etwa g r ü n und rot, und reinen Farbgegensätze zu einer Buntheit steigern, daß T e p p i c h w i r k u n g und physiognomische Andeutung sich die W a a g e halten, und das Porträt zu einem Götzenbild entmenschen. Dies ist der Fall besonders in gewissen F r ü h w e r k e n v o n Jawlensky 3 0 6 , der die F a r b w i r k u n g in ihrer Reinheit noch durch V e r g r ö b e r u n g der physiognomischen Z ü g e zu einem lauten und g r o b verzerrenden Eindruck zusammenfaßt. Jetzt können auch die Gegenstände eine Bildfarbe erhalten („Die blauen Pferde"), alle Farben können gesteigert werden durch ihren Eigenwert als reine Farben, u n a b h ä n g i g von den den Gegenstand klärenden Lichtern und Schatten, können vervielfältigt werden durch Zerlegung in Punkte wie beim Neo-Impressionismus, so daß sie durch dieses F a r b g e w i m mel wie bei einem Schneefall reich und w i r k s a m werden, können durch Kontraste, durch Akzentuierung v o n Farbpunkten intensiviert werden und durch Farbbeziehungen, Farbreliefs, Farbharmonien für die Ganzheit des Bildes ausgenützt werden. Vor allem kann i m Gebilde die Ganzheit des Bildes mit Farbe gefüllt werden, es braucht nicht die Leere des Himmels und des Raumes, in dem Figuren stehen, und nicht die Trübe des Bodens, auf dem sie stehen. So ist für den Neo-Impressionismus bezeichnend, w i e dem Himmel als Entsprechung eine Wasserfläche unten gegeben wird und nun beide durch Farbigkeit und Zerlegung in Punkte den Gegenhalt bieten gegen den Streifen zwischen ihnen, in dem die zusammengehaltenen Farbflächen der Häuser und Menschen sich entwickeln. Im abstrakten Bild aber entwickeln sich die Farben nach allen Seiten gleichmäßig im R h y t h m u s der Flecken und Linien. Die Farbe als das wichtigste Element der Eigenbedeutung der Wahrnehmung, mehr als Linien und Kuben, g e w i n n t im abstrakten Bild eine ungeahnte Bedeutung, sowohl was Intensität w i e Reichtum und innere Gesetzlichkeit betrifft. Die Entw i c k l u n g zum Gebilde in der Schau bedeutet zugleich einen Sieg der Farbe, des eigentlich künstlerischen Ausdrucksmittels des Malers. Besonders intensiv als Farbe w i r k t es, w e n n die Gegenstände, z. B. in einem Garten, nur als geballte Flächen ohne Innenmodellierung und charakteristischen Umriß nebeneinandergesetzt, doch die A n d e u t u n g eines Gartens ergeben, die eigentliche B i l d w i r k u n g aber durch das lebhafte Beieinander v o n Farbflächen, ihre gegenseitige Steigerung, ihre Gestimmtheit auf einen Grundton oder eine Grundfarbe, eine Tonart, hervorgebracht wird. Das kann sich noch weiter entwickeln zu der völlig gegenstandslosen Setzung von Flecken, die in ihrer farbigen Harmonie ihr Beieinander rechtfertigen und einen besonderen Reiz des Farbgeschmacks entwickeln (Tachismus). Farbe und Linie können aber außer ihrem Eigenwert als bildgestaltende und bild305 306
II, 1098. Hamann-Hermand, Expressionismus, Berlin 1975, S. 50, 69 (1912). Clemens Weiler, Alexej Jawlensky, Köln 1959. Kindlers Mal.Lex. 3, 1966, 432.
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füllende Elemente auch einen Ausdruckswert besitzen, erregen oder sänftigen, aufrühren oder andeuten, laut oder leise sein, kurzum expressiv, ausdrucksvoll sein. Expression aber in diesem Sinne bedeutet nicht Gefühl des Gegenstandes, in den wir uns hineinversetzen, sondern Ausdruckskraft der Art des Künstlers, sich zu äußern, sich auszudrücken — bedeutet die expressive Art für den Menschen, auch in Worten sich ausdrücken, sich äußern zu können, leidenschaftlich oder verhalten, schreiend und flüsternd, hell oder düster. In diesem Sinn können auch gerade Skizzen durch die Art der Strichführung und Fleckensetzung, unbeschwert von Rücksichten auf Deutlichkeit, expressiv sein, die Ausdruckskraft einer Handschrift an sich, ohne Bezug auf das Dargestellte geben. Eine besondere Gegenstandszerstörung besteht darin, daß man großartige, monumentale Objekte, z. B. Türme, in lauter Flächen zerlegt, die den Gedanken an einen Zusammenbruch wie bei einem Erdbeben nahelegen, aber durch die Regelmäßigkeit oder Teppichmäßigkeit und Farbigkeit der dabei entstehenden Flecken ein Bedauern und Für-wahrnehmen des Gegenstandes ausschließen (Abb. 72). Etwas Ähnliches findet sich in der Auflösung von Gestalten durch ein Fleckensystem, das rein konstruktiv aus Gestalten ein Tremolo der Farbe macht, bei dem wiederum die Andeutung von Gegenständen einen Reiz ausmacht. Andere Künstler versetzen Gegenstände verschiedenster Art in einer Landschaft in die unmöglichsten Situationen, Personen in die Luft, auf Dächer von Häusern wie bei Chagall 307 , und heben auch durch die das Bild ganz füllende teppichhafte Farbe den über den Widersinn Erschrockenen hinweg. Daß diese Formzerstörung als Mittel der Erzeugung einer Wahrnehmungsfülle in der gegenstandslosen Kunst die Oberhand gewinnt, entspricht schließlich dem Verhalten der Menschen in der Wirklichkeit, wo jedes zerstörende Ereignis die Aufmerksamkeit der Menge auf sich zieht, ein Häusereinsturz viel interessanter ist als ein Bauplatz. Es ist klar, daß bei jedem dieser Bilder, bei dem der Schein der Wirklichkeit absichtlich zerstört ist, weder Natur als das von selbst Gewordene, noch Architektur als das nach Regeln Gefügte wirksam werden, sondern daß sich aufdrängt, daß das Bild der Willkür des Menschen entsprungen ist. Beim Monumentalbild muß der Gedanke an den Schöpfer zurücktreten, weil ja die hoheitsvolle Erscheinung des dargestellten Übermenschen, der doch eine Vertretung des Wirklichen sein will, außerhalb der Vorstellung bleiben soll: Eine Madonna darf für den Gläubigen nicht von Menschenhand gemacht sein. Bei dem Lebensbild ist es ebenfalls Aufgabe des Künstlers, so naturwahr wie möglich zu sein, um einen Ersatz für die Wirklichkeit zu bieten. Beim gegenstandslosen Bild ist dagegen eine Selbstverständlichkeit, daß hier eine vom Künstler gewollte, bewußte Schöpfung vorliegt, und die Tatsache tritt daher bei der Beurteilung eines Bildes als Kunstwerk besonders hervor. A m schaurigsten ist die W i r k u n g von Gemälden, wenn, wie bei Dix 308 , die Form zerstört und die Überfüllung des Bildes durch die naturalistische Wiedergabe einer Szene auf dem Schlachtfeld erzeugt wird, wo die Leichenteile und die im Tode verzerrten Gesichter an den Stacheln entlaubter Bäume oder der Drahtverhaue in Fetzen hängengeblieben sind und rot wie von wirklichem Blut für die farbige Belebung sorgen. Hier tritt zu dem Eindruck, daß der Künstler gegen den Krieg protestiert, noch die Bewunderung einer Kunst hinzu, die als sorgfältige Malerei bis ins kleinste jedes Detail einer Wirklichkeit wiedergegeben hat, die zwar nicht Auflösung in reine Bildwirkung, aber doch Deformierung und berechnete Komposition verrät. Dasselbe ist der Fall bei den verrückten und phantastischen Gegenständen des Surrealismus, w o auch die Sorgfalt und Glätte einer naturalistischen Malerei der aus unmöglichen Details zusammengesetzten Tiere und in unmögliche Zusammenhänge, in konstruierte Räume versetzten Zwitterwesen den Eindruck eines besonderen Phantasiereichtums vermitteln und eine Kunstfertigkeit, wie sie naive Menschen im naturalistischen Bilde be307 308
II, 1090 Dix, Der Krieg 1923, Dresden, Gemäldegalerie. F. Löffler, Otto Dix, Leben und W e r k , W i e n 1967, A b b . 128, 63. Otto Dix 1 9 1 2 - 1 9 5 7 , Ausst. der A k a d e m i e der Künste 1957, Berlin. Otto Dix, Ausst. Kunstverein Düsseldorf 1960, No. 40a. Hamann-Hermand, Expressionismus, Berlin 1975, S. 38 (Verwundeter, 1924, New Y o r k , M u s e u m of Modern Art).
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wundern, wo sie bewirken soll, daß das Bild nicht als gemalt, sondern als Natur wirkt. Die Möglichkeiten abstrakter Bilder reichen so weit wie die schöpferische Phantasie und die Fähigkeit, sie im Gemälde oder in der Plastik auszudrücken. Beweis dafür sind die MonstreAusstellungen der „Documenta". Zugleich nimmt die Wirkung der künstlerischen Arbeit zu in der Vielfältigkeit der Erfindungen, in der Ausdruckskraft der Linien und Farben, vor allen Dingen aber in der Subjektivität der Unabhängigkeit vom Gegenstand, die an die Irrationalität von Geisteskranken erinnert. Das Schöpferbewußtsein und die Originalität ist dann auch ins Grenzenlose gesteigert. Das, was aus diesen Bildern spricht, ist schließlich ein übermäßiges Selbstbewußtsein des Künstlers, der dem Beschauer das Unmöglichste zumutet und Interpreten (Haftmann) nötigt, sich ins Metaphysische zu versteigen, das die Interpretation zu demselben Rätsel macht wie das Bild. Wenn deshalb ein Maler (etwa Härtung) mit einem einzigen Pinselhieb ein Komma breit und gewichtig auf die Leinwand haut und als einziges an Bildwirkung gelten läßt, dann ist das, als ob er das „Cogito, ergo sum", Descartes' weltbewegende Formel, paraphrasiert: J e pains, done je suis. Da es im Grunde die Farbe ist, die alle Bilder rechtfertigt und kaleidoskopisch in dek kunstvollen Kombination farbempfindlicher Künstler die wunderbarsten Farbkompor sitionen abzugeben vermag, gleich der Schönheit persischer Teppiche, so hat es die Plastiim Grunde schwer, mit der Malerei zu konkurrieren, und sie tritt, umgekehrt wie in der Kultkunst der Griechen und der Renaissance (Michelangelo), weit hinter der Malerei zurück. Werke, dem plastischen Material entsprechend zu bilden, wie der Versuch, Plastiken kubisch aufzubauen, wirken doch nur als kümmerliche Versuche, mit archaischer Plastik zu wetteifern. Und die Plastik aus Drähten, Metallplättchen, Stangen und Ketten, die sich bei leisester Berührung wie Balken einer Waage bewegen, mag für Kinder ein nettes Spielzeug sein, entspricht aber nur dem Versuch, mit der Originalität von Gemälden zu wetteifern. Einen Kandinsky oder Klee vermag die Skulptur bis heute nicht aufzuweisen. Der Ausdruck „Entmenschung", auf die Kunst angewandt, bedeutet im Grunde dasselbe wie das Streben, menschliche und sogar geistig hochstehende Funktionen durch Maschinen ausführen zu lassen wie Rechenmaschinen und Elektronengehirne, durch die die Ausführung kompliziertester intellektueller Funktionen (Übersetzungen) ermöglicht wird. Auch Bilder, z. B. von Grosz 309 , zeigen solche Maschinenmenschen mit menschlichen Tätigkeiten. Das Maschinelle kommt darin zum Ausdruck, daß die menschlichen Glieder und alle Gestaltteile regelmäßig und kubisch, wie Teile einer Maschine, gebildet sind. Wenn solche Bilder keinen anderen Wert hätten, als auf die Situation des modernen Lebens hinzuweisen, in dem man möglichst alle menschlichen Funktionen und menschliche Arbeit durch Maschinen mit einem ungeheuren Automatismus zu ersetzen versucht, so wäre das schon genug, und damit ein Hinweis, wie die moderne Kunst, wie der Kubismus, ihre Wurzel in dieser Seite des modernen Lebens hat. Von dieser Entpersönlichung und Verallgemeinerung des Maschinellen der menschlichen Arbeit aus versteht man auch die moderne Architektur, die zunächst eine Abwendung vom Palast als dem Besitz und Ausdruck einer herrschenden Einzelpersönlichkeit ist. Stattdessen wendet man sich Häusern und Hochbauten zu, in deren gleichmäßigen Fensterreihen und schier endlosen Stockwerken sich die Herrschaft der Masse als des eigentlichen Besitzers kundgibt; das entspricht einer Besitz-Akkumulierung, wie sie sich in den Kolchosen vollzieht. Es entstehen Häuser, in denen die Bevölkerung einer kleinen Stadt Platz hat, eine einzige Wohngemeinschaft mit je gleichem Anteil am Wohnraum. Die Sinnlosigkeit des Gegenständlichen wird in der Architektur dadurch gewährleistet, daß alle Gesetze der Statik und des Bauens, alle Schwergewichtsverhältnisse von Masse auf Masse wegfallen und durch dünne Stäbe, die zwischen sich große Fensterreihen aufnehmen, Wände erzeugt werden, die für den Anblick mit Hilfe der Durchsichtigkeit des Glases einen leeren Raum vortäuschen, und durch die Haltbarkeit des Stahles den gewohnten Anblick von Trägern und Gebälken, oder des Gewichts von Mauerstein auf Mauerstein, völlig negieren. Die Regelmäßigkeit von geraden Linien und geometrischen Flächen in der Aufteilung des 31)9
Hamann-Hermand, Expressionismus S. 245.
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Baues entlastet den Baumeister von der Erfindung von Profilen und der Romantik schmükkender Figuren wie Genien und der Natur entnommener Verzierungen. Die kühle Sachlichkeit geometrischer Konstruktion weist auf die Präzision des Maschinellen und geschäftlicher Berechnung hin. Dieser Geometrismus gilt für das Gebäude im ganzen als einheitlichen Kubus wie auch für die Aufteilung im einzelnen und hat auch im Gemälde zu dem Versuch geführt, eine Art regelmäßiger geometrischer Konstruktion in Verbindung mit sparsamen Farbflächen als Bild zu realisieren (Mondrian) 310 . Die öffentliche Kunst des Kultbaues zielte auf Sichtbarmachung eines Kultobjektes als einer öffentlichen Persönlichkeit hin. Auch jetzt wird das Ideal der Veröffentlichung, d. h. der Weithin-Sichtbarkeit, durch turmartige Wirkung der Hochhäuser einerseits gewährleistet, andererseits dadurch, daß die Glaswände der Öffentlichkeit jeden Einblick gestatten, einen Einblick, den sich der in dem Raum Arbeitende gefallen lassen muß, und der nichts Kultisches hat, sondern der öffentlichen Kontrolle entspricht. Die Einteilung der Räume in abgeschlossene Gemächer, wodurch jede Einzelarbeit etwas Privates bekam, wird aufgehoben, indem in den Arbeitshallen der Banken, Postbüros und anderer die trennenden Wände wegfallen und jeder im Grunde in voller Öffentlichkeit mit dem anderen zusammenarbeitet. Die antiindividuelle Tendenz wird im Privathaus vielleicht noch klarer als im Hochhaus. Auch hier fällt durch eine Übergeometrisierung und Kubisierung im Äußeren aller Eindruck von Behaglichkeit weg, ein Zeichen dafür das flache, den Kubus abschließende Dach. Im Innern wird ebenfalls durch Aufteilung in einzelne Räume und ihre strenge Geometrie der Eindruck von Sachlichkeit und Nüchternheit gefördert (die „Wohnkiste"). Verschlüsse gegeneinander, wie die Türen, fallen auch hier weg, so daß eine Etage nur einen unterteilten Arbeitsraum bildet, in den infolgedessen die einzelnen Kompartimente von allen Seiten her einen Einblick ermöglichen. Man geht sogar so weit, die Schlafräume und die ganz intimen Räume offen zu lassen 311 (Le Corbusier, Stuttgart, Weißenhofsiedlung). Blumen und Naturobjekte als Schmuck entfallen, und nur gewisse moderne Bilder haben in diesen Räumen Platz. Wenn dann die Innenräume mit Möbeln gefüllt werden, deren Stahlrohre an Motoren und die Apparatur eines Zahnarztes erinnern, dann bekommt das Ganze des Wohnraumes die Atmosphäre von Geschäftigkeit und Produktivität eines Ateliers, und der Bewohner wird zum Künstler, dem der Arbeitsraum als Ideal vorschwebt, nicht der Ausruhraum. Viele dieser modernen Miets- und Bürohäuser gelten in ihren Prinzipien auch für den Fabrikbau, doch kommt hier noch der Ausdruck des Motorischen hinzu, und man könnte sich denken, daß anstelle von Bildern mit intimem oder sentimentalem Inhalt, solche modernen Inhalts, in ihrer Gegenstandslosigkeit an das Motorengeräusch erinnernd, einen Schmuck bilden, ohne für das Auge eine Ablenkung von der Arbeit zu bedeuten. Es würde sich das erfüllen, was Tessenow ausdrückte, indem er sagte: „Landschaften oder Innenräume und menschliche Szenen in Fabrikräume von heute hineinzutragen, wäre dasselbe, als ob man neben einer Kreissäge ein Beethovensches Quartett spielen ließe." Es wäre denkbar, daß, von der Maschine her gesehen, eine neue gegenständliche Kunst entstünde, die in der Weiterbildung und Harmonisierung der Formen, die bei der Maschine aus Zweckmäßigkeitsgründen entstehen, nun auch die Prinzipien einer die Maschine veredelnden Kunst entwickelte, oder daß die gegenständliche kubistische Kunst von der Maschine her sich Anregungen holte, wie es auch bereits geschehen ist (Léger). 312
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Piet Mondrian, Neue Gestaltung. Bauhausbücher 5, München 1925. W. Hofmann, Grundlagen der modernen Kunst, Stuttgart 1966, Abb. 100 (S. 75ff.). II, 1 1 0 8 f . Kindlers Mal.Lex. 4, 1967, 7 3 - 8 0 .
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NACHWORT
Richard Hamann (29. 5. 1879—9. 1. 1961) hat seinen Namen durch eine Vielfalt bedeutender Leistungen in die Geschichte der Kunstwissenschaft eingetragen. 1 Zum Mittelpunkt seines Wirkens wählte er sich eine Reihe von Aufgaben, auf deren Lösung er im Verlauf von Jahrzehnten immer wieder zurückkam. Seine „Geschichte der Kunst" wirkte und wirkt bis auf den heutigen Tag weit über den Kreis der Fachgelehrten hinaus. Sie stellt ein reiches Faktenmaterial im Rahmen einer explizit dargelegten, in sich geschlossenen und weithin überzeugenden Konzeption von Gang und Gesetzmäßigkeiten der europäischen Kunstentwicklung dar und packt den Leser durch die erlebnisgesättigte, sprachlich lebendige Interpretation und Würdigung der Kunstwerke und das Eingehen auf ihre Zusammenhänge mit der allgemeinen Geschichte, mit dem Leben der Menschen. 1919 hielt Hamann erstmals eine Vorlesung, in der er diese Gesamtsicht wagte. 1932 erschien in einer preiswerten Volksausgabe zum ersten Mal der Band, der die Kunst von der altchristlichen Zeit bis zur Gegenwart, das normale Arbeitsfeld des Kunsthistorikers, behandelte. Er stand, z. B. was das Verhältnis der deutschen zur französischen Kunst im Mittelalter anbetrifft, in markantem Gegensatz etwa zu den in der Ära des Faschismus dominierenden Auffassungen Wilhelm Pinders. In der Übersetzung des Kunsthistorikers Miecyslaw Wallis erschien er bereits 1934 auf Polnisch. 1952 folgte der Band „Von der Vorgeschichte bis zur Spätantike", für den Hamann, seit 1911 Professor, noch ein regelrechtes Studium der klassischen und orientalischen Archäologie nachgeholt hatte. Durch jahrzehntelange Detailforschung in Auseinandersetzung mit sehr kontroversen Meinungen bestimmte Hamann Eigenart, Rang und kunstgeschichtlichen Standort eines bedeutenden Werkes der mittelalterlichen Kunst, der skulpturenreichen romanischen Abteikirche von Saint-Gilles in Südfrankreich (1955), nachdem er schon 1910 Architektur, Ornamentik und Plastik des Magdeburger Doms dargestellt und 1922 die südfranzösische „Protorenaissance", in deren Zentrum Saint-Gilles steht, behandelt hatte. In mehreren Arbeiten der zwanziger Jahre bereicherte oder revidierte er grundlegend unsere Erkenntnisse von deutscher Plastik des Mittelalters. Zum Verständnis der Kunst Rembrandts trug er Wesentliches bei. 1906 erschien ein Buch über Rembrandts Radierungen, 1936 ein methodisch bedeutsamer Aufsatz über „Hagars Abschied bei Rembrandt und im Rembrandt-Kreise" und 1944 eine meisterliche Monographie, eines seiner schönsten Bücher. (Genauer gesagt: 1944 verbrannte die gesamte Auflage im Feuer der Bomben, und der Neudruck konnte erst 1948 erfolgen.) Hamanns kenntnisreiche Aufmerksamkeit nicht nur für die bildenden, bauenden und angewandten Künste, sondern auch für Literatur und Musik und vor allem für den Zusammenhang der Künste mit übrigen und übergreifenden geistigen und praktischen Aktivitäten der Menschen ließ ihn zu einer kulturhistorischen Sicht auf die Kunstgeschichte 1
V g l . dazu Richard Hamann in memoriam. Mit zwei nachgelassenen Aufsätzen und einer Bibliog r a p h i e der W e r k e Richard Hamanns, Berlin: Akademie-Verlag 1963 (Deutsche A k a d e m i e der Wissenschaften zu Berlin, Arbeitsstelle für Kunstgeschichte, Schriften zur Kunstgeschichte, hrsg. von Richard Hamann f und E d g a r Lehmann, Heft 1).
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kommen. Infolge einer spezialistischen Verengung des Blickfeldes war eine solche Betrachtungsweise gerade „aus der Mode" gekommen, als Hamann sich dieser Aufgabe annahm; umgekehrt erweist sie heute von neuem ihre Dringlichkeit und Fruchtbarkeit. In Hamanns Arbeit über „Der Impressionismus in Leben und Kunst" (1907), die seiner Habilitation 1911 bei Heinrich Wölfflin in Berlin voranging und — sicherlich auch aus methodologischem Interesse — noch 1935 in einer russischen Übersetzung in Moskau herausgegeben wurde, erwuchs diese Betrachtungsweise aus einer kunstkritisch parteinehmenden Stellungnahme zu damals ganz aktuellen Kunsterscheinungen und -prozessen. Ein halbes Jahrhundert später erfuhr sie, nun in vorbildlicher interdisziplinärer Gemeinschaftsarbeit mit einem jungen Germanisten, Jost Hermand, ihre reife Bekräftigung in der groß angelegten Darstellung „Deutsche Kunst und Kultur von der Gründerzeit bis zum Expressionismus" (1959—1975), von der Hermand nach dem Tode des Initiators, auf dessen Konzeption fußend, einige Bände allein fertigstellen mußte. Hamann hatte auch 1906, 1914 und 1925 Geschichten der deutschen Malerei vom späten 18. bis zum frühen 20. Jahrhundert veröffentlicht, die mit großen, energischen Strichen gezeichnet waren und seine entwicklungsgeschichtliche und ästhetische Konzeption von der Epoche an einer Kunstart verdeutlichten, die in diesem Zeitraum eine zentrale Stellung einnahm. Die erste dieser Publikationen ist ein bemerkenswertes Beispiel für den zupackenden Mut, die geistige Souveränität und den Drang Hamanns, in die Breite zu wirken, ohne Abstriche am intellektuellen Niveau zu machen. Sie erschien in drei kleinen, billigen Bändchen („Ein Gang durch die Jahrhundert-Ausstellung 1775—1875") noch während der Laufzeit dieser großen Ausstellung der Berliner National-Galerie, die Fachwelt und Publikum mit einer völlig neuen Sicht auf die jüngere Kunstentwicklung und einer Fülle bisher unbekannten Materials konfrontierte. Der siebenundzwanzigjährige Hamann stellte sich dieser wissenschaftlichen Herausforderung und meisterte sie. Richard Hamann war nicht nur Gelehrter und Autor, sondern auch ein dienstbereiter „Hilfsarbeiter" seines Faches und hervorragender Wissenschaftsorganisator. Durch eigene, große Anstrengungen nicht scheuende photographische Arbeit, in die er seine Schüler einbezog, zielstrebige Organisation und geschäftliche Tüchtigkeit schuf er seit den frühen zwanziger Jahren mit dem Bildarchiv „Foto Marburg" eines der wertvollsten, unerläßlichen und lange Zeit fast einzigartigen Hilfsmittel für die kunstwissenschaftliche Forschung und Publizistik. Außerdem vermochte er um den neueingerichteten kunstgeschichtlichen Lehrstuhl der Universität Marburg, den er seit 1913 innehatte, ein Forschungsinstitut, einen eigenen Verlag und eine angesehene Zeitschrift, das „Marburger Jahrbuch für Kunstwissenschaft" (seit 1924), zu gruppieren. Nicht zuletzt bildete und erzog Richard Hamann fünfzig Jahre lang als Hochschullehrer eine stattliche Reihe von Schülern und prägte sie durch sein Wissen und das Vorbild seines humanen, solidarischen und arbeitsamen Wesens. Sein Wirken an der Berliner HumboldtUniversität, wo er von 1947 bis 1957, gleichzeitig weiterhin in Marburg lehrend, als Gastprofessor, kommissarischer Institutsdirektor und Fachrichtungsleiter und seit 1951 Vorsitzender des Wissenschaftlichen Beirates für Kunstgeschichte beim Staatssekretariat für Hochschulwesen tätig war, spielte eine wichtige Rolle für die Entwicklung der Kunstwissenschaft in der D D R . Er war unter den ersten, die 1949 den Nationalpreis erhielten und wurde im gleichen Jahr zum Ordentlichen Mitglied der Deutschen Akademie der Wissenschaften zu Berlin (heute Akademie der Wissenschaften der D D R ) gewählt. Seit 1954 leitete er die auf seine Initiative gegründete, heute leider nicht mehr bestehende Arbeitsstelle für Kunstgeschichte an dieser Akademie. Die „Theorie der bildenden Künste", die hier erstmals aus dem Nachlaß Richard Hamanns veröffentlicht wird, ergänzt sein Hauptwerk, die „Geschichte der Kunst", und faßt wesentliche Gesichtspunkte, unter denen der Gelehrte sich und seinen Hörern und Lesern das Verständnis von Kunstwerken erschloß, systematisch zusammen. Professor Richard Hamann-Mac Lean in Mainz, der Sohn des Verfassers, dessen Entgegenkommen diese Veröffentlichung zu danken ist, hat die Sprachgestalt des unkorrigiert hinterlassenen Textes behutsam bearbeitet, das Gedankengebäude durch einige zusätzliche Kapitel-
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einteilungen und -Überschriften etwas schärfer gegliedert und Anmerkungen und Abbildungen hinzugefügt. Was hier vorliegt, stellt zunächst einmal ein bedeutendes Stück wissenschaftsgeschichtlichen Erbes dar. Die Fachkollegen des Autors, bei denen in jüngerer Zeit die Beschäftigung mit der Geschichte ihrer Disziplin und ihrer Positionen und Methoden eine zunehmende Rolle spielt, werden sich seiner aufmerksam annehmen. Der Text ist aber ebenso geeignet, die gegenwärtigen Bemühungen zu unterstützen, ein tieferes Verständnis von Kunst auszubilden und weit über den Kreis der Fachleute hinaus zu verbreiten. Dies ist Richard Hamanns eigener Auffassung von seinem Beruf gemäß. Hamann verband in seiner wissenschaftlichen Arbeit von Anfang an theoretisch-systematische, historische und volksbildnerische Aspekte. Von der philosophischen Ästhetik herkommend — er promovierte 1902 bei Wilhelm Dilthey an der Berliner Universität —, strebte er nach einem universalen Verständnis des Wesens der Kunst. Im Unterschied zu einem weitverbreiteten theorieabstinenten historischen Positivismus hat er sein Operationsmodell vom Umgang mit den Kunstwerken und ihrer geschichtlichen Abfolge stets offengelegt und kunsttheoretisch zu begründen getrachtet. Erste Fassungen von Gedanken seiner Kunsttheorie veröffentlichte er bereits 1908, dazu 1911 ein an breite Kreise gerichtetes kleines Buch über Ästhetik. Auch aus didaktischen Gründen drängte er zu einprägsamer kategorialer Gliederung seines Stoffes. Die ausgebreitete Kenntnis dieses Stoffes, der europäischen Kunstgeschichte, sowie der markante Sinn für geschichtliche Prozesse gaben seinen kunsttheoretischen Verallgemeinerungen ein solides Fundament und schützten ihn gegen haltlose systematisierende Schemata und blutleere begriffliche Abstraktionen, durch die sich eine normative idealistisch-metaphysische Ästhetik für die Kunstgeschichtsforschung suspekt gemacht hatte. Schließlich wirkte sich Hamanns Auffassung von seinem Beruf als Kunstwissenschaftler aus, die oben als volksbildnerisch gekennzeichnet wurde und die auch als öffentlichkeitszugewandt und demokratisch qualifiziert werden kann: Ihn erfüllte das Bestreben und er besaß die Fähigkeit, die Ergebnisse der Wissenschaft verständlich, in sinnenhafter und empfindungsreicher Sprache weiterzugeben, um dadurch möglichst viele Menschen, die von Hause aus so wenig wie er selbst, der Sohn eines Postangestellten in Seehausen, Krs. Wanzleben, ein „musisches Klima" mitbekommen haben, zu einem ebenso genußvollen wie urteilsfähigen Verhältnis zur Kunst zu befähigen. Ein solches Verhältnis mußte auch der Beförderung gegenwärtigen Kunstschaffens zugute kommen; Hamanns Arbeit — auch als Historiker älterer Kunst — wurde immer wieder deutlich aus aktuellen Kunstfragen gespeist. Kunstfragen aber waren für ihn immer auch Lebens- und soziale Fragen. Seine allererste Publikation war ein Aufsatz des Studenten (über „Gerhart Hauptmann und sein Naturalismus") in der Zeitschrift „Die Gesellschaft" (1900), und seine erste Äußerung nach der Befreiung vom Hitler-Faschismus war ein Rundfunkvortrag am 26. 8. 1945, der mit der Kunstpolitik des Nazismus abrechnete (veröffentlicht in der Zeitschrift „bildende kunst", Berlin, 1949). Die „Theorie der bildenden Künste" verrät in vielen Zügen den erfahrenen und an seine pädagogische Aufgabe hingegebenen Hochschullehrer der Kunstgeschichte. Ihre Anlage und Diktion läßt spüren, daß sie primär als eine Vorlesungsreihe gedacht war und als solche mehrfach, beispielsweise 1948—1949 an der Berliner Universität, erprobt und dabei weiterentwickelt wurde. Der Autor ließ sich nicht von einem verselbständigten Systematisierungsstreben verführen, sondern antwortete auf Fragen, die sich ihm wie seinen Hörern bei der Beschäftigung mit der Kunstgeschichte stellen mochten. Er ging, bei allem Drang zur Grundsätzlichkeit, eigentlich immer nur so weit, wie es notwendig war, diese Fragen plausibel zu beantworten und einen verstehenden Umgang mit bestimmter historischer und gegenwärtiger Kunst zu erleichtern. Gerade als Lehrer wußte er aber, daß es dazu auch der möglichst faßlichen systematisierenden Zusammenfassung, des Nachweises von objektiven Kategorien und der einprägsamen begrifflichen Verallgemeinerung bedarf. Wir finden in dem Text einen bemerkenswerten Vorschlag zur Unterscheidung des Ästhetischen vom Künstlerischen, einem Problem, das in jüngster Zeit auch die Forschungsarbeit von marxistisch-leninistischen Ästhetikern, freilich unter z. T. anderen Aspekten, 123
durchzieht. Hamann ging v o m Vorgang des Anschauens aus und stellte die Anschaulichkeit oder Bildlichkeit als die für bildende Kunst spezifische Weise des Ästhetischen heraus. D a mit berührte er zweifellos den entscheidenden Punkt bei jener Bestimmung der Besonderheit bildender Kunst, die auch in den aktuellen Diskussionen über die Spezifika und Wechselbeziehungen der einzelnen Künste angesteuert wird. E r entzog seine Fragestellung auf diese Weise resolut dem Literaturzentrismus, wie er die Verallgemeinerungen der wissenschaftlichen Ästhetik häufig beeinflußt und beeinträchtigt. Das Künstlerische, den Kunstwert, fand Hamann im gestalterischen K ö n n e n , in der Leistung der Produzenten von Werken begründet und betonte damit den Zusammenhang des Kunstschaffens, selbst wenn er zu Recht dessen Spiel-Aspekt hervorhob, mit anderen Formen von Arbeit. Die Hochschätzung von Arbeit und damit von Arbeitenden, die Wertkategorie der Leistung, machte einen Grundzug von Hamanns Menschen- und Gesellschaftsbild aus, der auch seine weltanschaulich-sozialpolitische Positionsnahme in den von ihm erlebten gesellschaftlichen Vorgängen seiner Zeit bestimmte. Es verwundert darum nicht, sie auch an den Wurzeln seiner Kunsttheorie zu finden. Seiner Meinung über die zentrale Bedeutung eines gleichsam interesselosen, reinen Anschauens, einer puren Bildlichkeit, für das Wesen der bildenden Kunst haften offensichtlich Züge an, die aus seiner Generationslage herrühren, aus seinen Erfahrungen mit der „Gebilde"-Kunst des späten 19. und 20. Jahrhunderts und besonders dem Erlebnis des Impressionismus, dem er seine erste bahnbrechende Arbeit widmete. Der kenntnisreiche Kunsthistoriker relativierte freilich diesen Gedanken bei seiner Durchführung in der „Theorie der bildenden Künste", indem er die als außerästhetisch bezeichneten Kategorien herausarbeitete, unter denen sich das historisch wechselnde Verhältnis der ursprünglichen Rezipienten zu den Bildwerken bestimmen läßt. Hierfür fand der Verfasser die einprägsame Unterscheidung von An-Sehen, Zu-Sehen, Ein-Sehen und Schau. In dieser Art von Begriffsbildung liegen der Reiz und wissenschaftlich-pädagogische Wert wie andererseits auch einige Grenzen von Hamanns Theorie begründet. Auch seine „Geschichte der K u n s t " zeichnet sich durch eine große Zahl neuer und häufig aus der anschaulichen Erfahrung der künstlerischen Gestalten abgeleiteter Termini aus, die der Gelehrte für künstlerische Strömungen prägte bzw. für kunstgeschichtliche Einheiten und Bewegungen, die er, der bisherigen Forschung entgegentretend, als erster beobachtete und in unsere Auffassungen vom Verlauf der Kunstgeschichte einzubringen versuchte. Nicht alles davon, sicherlich zu wenig, ist bislang in die zählebige communis opinio, in das konventionelle Vokabular der Stil- und Epochenbezeichnungen eingedrungen, doch bleibt der Stachel zu neuem Durchdenken, zu einem frischen Sehen, der von diesen klugen Anregungen ausgeht, weiterhin scharf. Etwas Ähnliches muß auch für die „ T h e o r i e " angenommen werden. Hamann ging es darum, die Eigenart und den Lebenssinn der wichtigsten im Verlauf der europäischen Kunstgeschichte aufgetretenen Gattungen und Genres von bildender K u n s t und der ihnen parallelen Architektur zu kennzeichnen und — was für ihr richtiges Verständnis unerläßlich ist — voneinander zu unterscheiden. E r fand, gleichsam in einer Schicht „unter" diesen Gattungen, historisch unterschiedliche Typen von Bildern, die in Korrespondenz zu jenen oben erwähnten verschiedenen Arten des Sehens, die ihnen jeweils gemäß sind, für ihre Betrachter auf unterschiedliche Weise funktionieren, d. h. jedesmal andere Zwecke erfüllen. E i n „Kultbild" ist seinem Sinn nach etwas anderes als ein „Lebensb i l d " ; es muß anders gesehen, an es müssen andere Erwartungen gerichtet werden; es gab kunsthistorische Epochen, in denen nur oder vorwiegend Kultbilder, aber noch keine Lebensbilder geschaffen wurden. D e r Hauptwert von Hamanns „Theorie der bildenden K ü n s t e " besteht in dieser Theorie des „Bildes" und seines historischen Wandels, im Nachweis des Wechsels möglicher Einstellungen zum gemalten, gezeichneten oder plastischen Bildwerk, von denen man wissen muß, wenn man sich künstlerisches Erbe, Kunstwerke vergangener Kulturen verständnisvoll und dadurch ergiebig zu eigen machen will. Zur Kennzeichnung des Wesens dieser Bildtypen und vieler ihrer Repräsentanten, ein-
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zelner Kunstwerke, fand Hamann stets einen überaus lebendigen sprachlichen Ausdruck. Die Übersetzung der von ihm erlebten bildhaften Gestalt in beschreibend-deutende Worte, die ungekünstelt, frisch und einleuchtend sind, weist ihn als einen Meister in dieser höchsten und schwierigsten Aufgabe für einen Kunstwissenschaftler aus, der sich nicht nur als Spezialist, sondern als Vermittler der Kunst und seiner wissenschaftlichen Erkenntnis an einen möglichst großen Kreis aufgeschlossener Menschen versteht. Persönliche Zuneigung des Verfassers zu bestimmten Arten von bildender Kunst und auf der anderen Seite gewisse Reserven, beispielsweise gegenüber repräsentativen Funktionen von Kunstwerken, treten dabei deutlich zutage. Mit Wärme trat er für das „Lebensbild" in seiner durch Sympathie mit dem Dargestellten bedingten und vom Betrachter zu erfahrenen Menschlichkeit ein. Dies entsprach seiner besonders eindringlichen Hinwendung zu Rembrandt, einem Künstler, in dem Hamann viel von seinem eigenen Wesen und Weltverhältnis bestätigt fand. Die Vorliebe für das „Lebensbild", das mit Notwendigkeit auf eine realistische Nähe zum Leben, auf eine ganz explizite künstlerische Wahrheit und auf offenkundige Brauchbarkeit im Leben seiner Rezipienten gerichtet ist, ließ Hamann auch an der Kunst des 20. Jahrhunderts die Züge eines sachlichen Sagens bevorzugen. Den irrationalistischen Tendenzen im Modernismus, den übersteigerten Ansprüchen, mit denen sich gerade in den fünfziger Jahren, als sein Text die letzte Gestalt erhielt, die abstrakte Kunst in der westlichen Welt ausbreitete, und den Zügen von leistungsunwilliger Scharlatanerie, von Ahumanität und von Auflösung der Spezifik der Kunst, die in diesem Umkreis auftraten, stand er mit spürbarer Distanz gegenüber. Manche Definition, die Hamann gab, hat nur innerhalb des Rahmens seiner Konzeption Gültigkeit und stößt sich mit Auffassungen, wie sie, wohl zu Recht, in der marxistischleninistischen Kunsttheorie gebräuchlich sind. So etwa, wenn er ein Porträt als „Darstellung der Person . . . ohne jede Beziehung zur Gesellschaft" bezeichnete. Seine Begriffsbildung besitzt teilweise etymologische Aspekte, die einen heuristischen oder pädagogischen Sinn haben. Er sprach z. B. vom An-Sehen als der Einstellung des visuellen Sinns gegenüber dem Kultbild und dem Ansehen in der Bedeutung von Wertschätzung, das der im Kultbild Dargestellte bei den Betrachtern genießt. Manchmal wird dies ein wenig willkürlich, wie bei dem Zusammenhang zwischen der Statue bzw. ihrem „Stand" und dem Stand als sozialer Kategorie (Adel, Klerus, Bürger usw.). Das Bezugsfeld der „Theorie" ist nur jener Teil der Weltkunst, den Hamann auch in seiner Kunstgeschichte behandelte: die mittel- und westeuropäische Kunst seit der Antike und ihre Voraussetzungen und Vorstufen in der urgeschichtlichen, altorientalischen, vor allem altägyptischen und griechisch-römischen Kunst. Von anderer außereuropäischer Kunst ist nicht die Rede. Die historischen und ästhetischen Besonderheiten, die mit dem weltgeschichtlichen Umbruch zur sozialökonomischen Formation des Sozialismus-Kommunismus und ihrer Kultur und Kunst neu in die Kunstgeschichte eintraten, wurden vom Verfasser nicht mehr behandelt. Den fachlich versierteren Leser wird es ein wenig verwundern, in dieser in den fünfziger Jahren abgeschlossenen Kunsttheorie keinen Bezug auf Fragestellungen der Ikonographie und Ikonologie zu finden, die damals seit längerem eine wichtige Rolle spielten und auch Hamann in anderen Arbeiten beschäftigt hatten. Man möchte es auch bedauern, daß Hamann hier nur ganz wenige Fragen nach den Ursachen, besonders den sozial-ökonomischen Ursachen der von ihm beschriebenen kunstgeschichtlichen Veränderungen, des Wandels der Bildtypen, aufwirft. Diese kunstsoziologischen Fragen haben ihn sonst stark angezogen und trugen wesentlich dazu bei, daß ihm ein Ehrenplatz in der Geschichte der progressiven, demokratischen Kunstgeschichtsschreibung zuteil wurde. Hierfür muß allerdings darauf hingewiesen werden, daß dazu die „Geschichte der Kunst" Auskünfte gibt und der Verfasser eine wechselseitige Ergänzung und Bezugnahme seiner beiden Publikationen im Auge hatte. Daß man nun, zum 100. Geburtstag Richard Hamanns, diese Abrundung seines Lebenswerkes kennenlernen kann, der er in den letzten Jahren seines Wirkens viel Arbeit widmete, daß seine Gedanken und Vorschläge auch in die notwendige und erfreulich lebhaft ge125
wordene Debatte zur weiteren Ausarbeitung einer marxistisch-leninistischen Kunsttheorie einfließen können, und daß seine kraftvolle, persönliche Interpretation von Kunstwerken, die dieser „Theorie der bildenden Künste" jedes trockene Theoretisieren nimmt, als eine Schule des Sehens und Verstehens wirken kann, wird ohne Zweifel von einem großen Leserkreis begrüßt werden. Berlin, August 1978
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Peter H. Feist
ABBILDUNGSVERZEICHNIS
Titelbild Richard Hamann (1879 — 1961) im ungeheizten Arbeitszimmer des Marburger Instituts vor dem im Mai 1944 entstandenen Bildnis von Reinhard Schmidhagen (f 1945). ö l auf Sackleinen, 61 X 48 cm, Privatbesitz Mainz. Farbabbildungen S. 6 Landschaft in der Nähe von Theben (Böotien). S. 95 Alexander Keirincx (Antwerpen 1600—1652) oder Jacob van Geel (Middelburg, um 1585 bis nach 1638), Waldlandschaft, Mainz Landesmuseum, Inv.-Nr. 722, Vert. 1957 Nr. 53; Holz, 38 X 60,5 cm. Scbivarzl
Weiß-Abbildungen
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Hans Olde, Wintersonne, 1892. Ehem. Nationalgalerie Berlin, (Leihgabe, 1932 an Frau Prof. Hoetzsch zurückgegeben). 2 Aubeterre (Charente), St.-Jean, Inneres von Osten. 12. Jh. 3 Hugo Lederer und Emil Schaudt, Bismarckdenkmal, 1906. Hamburg, Alte Wallanlagen. 4 Moissac, Abteikirche, Kreuzgangpfeiler, Abt Durandus. 1100. 5 Florenz, Zunfthaus Or San Michele. Nische mit Hl. Markus von Donatello, 1411/12. 6a Rom, Grotten von Sankt Peter, Thronender Petrus, ehemalige Aufstellung in der Kapelle der Schwangeren Madonna. Kopf von Arnolfo di Cambio, um 1285. 6b Bronzefigur Petri von Arnolfo di Cambio (um 1285). Rom, Sankt Peter, am nordwestlichen Kuppelpfeiler. 7 Donatello, Denkmal des Gattamelata. Padua. 1446 — 1453. 8 Andrea Verrocchio, Denkmal des Bartolommeo Colleoni, 1479. Venedig, Platz bei SS. Giovanni e Paolo. 9 — 10 Claus Sluter, Portal der Karthause von Champmol bei Dijon. Philipp der Kühne mit Johannes dem Täufer und Margarete von Flandern mit der Hl. Katharina verehren die Madonna. 1387-1394. 11 Antonio Canova, Grabmal der Erzherzogin Maria Christina, 1805. Wien, Augustinerkirche. 12 Bamberg, Dom, Gnadenpforte, Tympanon. Kaiser Heinrich II. und Kaiserin Kunigunde (als Stifter) mit den Titelheiligen Georg und Petrus verehren die Madonna. Um 1220. 13 Nikolaus von Verdun, Klosterneuburger Altar, 1181; ehemals Verkleidung der Brüstung einer Lettnerkanzel in Grubenschmelz, Mittelteil, untere Reihe: Simson bezwingt den Löwen. 14 Paris, Louvre, Schutzgenius (Gilgamesch?), Relief (H. 5 m) vom Sargonspalast in DurScharrukin (Sargonsburg) bei Nineveh. Assyrisch, 713—705. 15 Kampf der Tugenden und Laster. Illustration zum Hortus Deliciarum der Herrad von Landsberg (f 1195), um 1180. Ehemals Straßburg, Bibliothek; Nachzeichnung (Original 1871 verbrannt). 127
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Nikosia (Zypern), Archäologisches Museum. Flache Silberschale mit Davids Berufung, zwischen 610 und 629. Kiev, Pecerskaja lavra, Relief: Dionysos auf dem Pantherwagen, 12. J h . St.-Gilles-du-Gard, Abteikirche, nördliches Westportal, T y m p a n o n , A n b e t u n g der Könige, u m 1125. Saint-Gilles-du-Gard, Abteikirche, mittleres Westportal, rechtes Gewände, J a k o b u s und Paulus. 1./4 12. J h . Canosa di Puglia, Kathedrale S. Sabino, Bischofsthron, Ende 11. J h . London, Victoria and Albert Museum, Triptychon von Alton Towers. Nordostfranzösisch, u m 1150. Mittelteil: Kreuzigung mit Evangelistensymbolen, darüber Frauen am Grabe, darunter Höllenfahrt Christi; in den Medaillons oben Caritas, Sonne u n d M o n d (zur Kreuz i g u n g gehörig), unten Marc, Terra und Justicia. Giotto, Jüngstes Gericht. Padua, Capella degli Scrovegni all'Arena („Arenakapelle"), geweiht 1305. Reims, Kathedrale, Chorfialenengel links v o m Ostfenster, um 1230 (Gipsabguß). Reims, Kathedrale, Nordwestturm des Querhauses, Nordseite, Fensterbogenkonsole (sog. Maske) rechts: Teufclsgesicht, um 1230. London, ehester Beatty Library, Sarum-Stundenbuch, u m 1280, fol. 2 9 : Christus vor Kaiphas. Giotto und Andrea Pisano, Die Weberei, Relief v o m Campanile des Domes, bald nach 1334. Florenz, M u s e o dell'Opera. Girgenti (Akragas, Sizilien), Zeustempel, begonnen nach 480. Atlanten. R o m , Santa Croce in Gerusalemme, Fassade von Domenico Gregorini und Pietro Passalacqua, 1743. Dublin, Custom Housc, Der dritte Neubau der ehemaligen Zollverwaltung, 1781 — 1791 von J a m e s Gandon (1742 —1823) aus London. 1921 ausgebrannt und innen vollständig erneuert, voll. 1929. Enthält heute das Umweltschutz- und das Gesundheitsministerium und eine Zollbehörde. A u g u s t von Pettenkofen (1822 — 1889), Rastende Zigeuner. Bis 1924 in der Nationalgalerie Berlin. Donatello, Sängertribüne für den Florentiner Dom, ehemals über dem E i n g a n g zur Chorherrensakristei aufgestellt, 1433 — 1439. Florenz, M u s e o dell'Opera. Domenico Ghirlandaio, Großvater und Enkel, 1488. Paris, Louvre. Hans Holbein, d. J . , William Warham, Erzbischof von Canterbury, 1527. London, Lambeth Palace. M a x Liebermann, Freiherr Alfred von Berger, 1905. H a m b u r g , Kunsthalle. Frans Hals, Willem van Heythuyzen, 1625/26. München, Alte Pinakothek. Hans Holbein, d. J . , Erasmus von Rotterdam, 1523. Paris, Louvre. Albrecht Dürer, Erasmus von Rotterdam, 1526. Kupferstich B. 107. Unbekannter Meister der Florentiner Schule, Damenbildnis, Kupferstich, um 1445. Berlin, Kupferstichkabinctt. Rembrandt, Saskia am T a g e der V e r l o b u n g , 1633. Silberstiftzeichnung. Berlin, Kupferstichkabinett. J a n van Scorel, Die ritterliche Bruderschaft des Heiligen Landes in Haarlem (dritter Pilger von rechts Selbstbildnis), 1527/29. Haarlem, Frans Hals-Museum. Charles Lebrun (1619 — 1690), Die Familie des Kölner Bankiers Everhard Jabach (f 1695). Berlin (West), M u s e u m Dahlem. Frans Hals, Familienbild, um 1620. Rekonstruktion aus drei Fragmenten in Bridgenorth, Brüssel und N e w Y o r k von Claus Grimm. Gabriel Metsu, Die Familie des Kaufmanns Geelvink, vor 1667. Berlin (West), M u s e u m Dahlem. Rembrandt, Familienbild, um 1668/69. Braunschweig, Herzog A n t o n Ulrich-Museum. Fra Filippo Lippi, K r ö n u n g Mariä, 1447. Florenz, Uffizien. Gentile Bellini, Prozession auf dem Markusplatz, 1496. V e n e d i g , Accademia.
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Andrea Mantegna, Hinrichtung des Apostels Jakobus, 1450/55. Padua, Eremitanikapelle. Fresko. Rembrandt, David betend, 1652. Radierung B. 41.1. Adolph Menzel, Friedrich der Große nach der Schlacht bei Kolin. Illustration zu Kuglers Geschichte Friedrichs des Großen, Leipzig 1840, S. 322ff. Antoine Jean Gros, Napoleon auf dem Schlachtfeld von Eylau am 9. Februar 1807, 1808. Paris, Louvre. Jacques Louis David, Beiisar um Almosen bittend, 1781. Lille, Musée des Beaux Arts. Karl von Piloty (1826 — 1886), Seni an der Leiche Wallensteins, 1855. München, Neue Pinakothek. Gustave Courbet, Bonjour, Monsieur Courbet, 1854. Montpellier, Musée Fabre. Chartres, Kathedrale, nördliches Westportal, Archivolten: Monat Juli, um 1155. Rembrandt, Bettler an der Haustür, 1648. Radierung B. 176. II. Rembrandt, Rattengiftverkäufer, 1632. Radierung B. 121. II. Adriaen van Ostade, Feierabend auf dem Lande, 1659. Kassel, Gemäldegalerie Wilhelmshöhe. Jan Vermeer van Delft, Dame und Herr am Clavichord („Die Musikstunde"), 3./4 17. Jh. Windsor Castle. Nicolas Poussin, Landschaft aus der römischen Campagna mit Matthaeus und dem Engel, nach 1643. Berlin (West), Museum Dahlem. Jan Brueghel der Ältere, Das Paradies, um 1600. Berlin (West), Museum Dahlem. Rubens, Landschaft mit dem Schiffbruch des Äneas, um 1620. Berlin (West), Museum Dahlem. Hercules Seghers, Rhenen, vor 1630 (?), ein hoher Himmel nachträglich hinzugefügt, nicht von Seghers, in der Abbildung weggelassen. Berlin (West), Museum Dahlem. Jacob van Ruysdael, Eichenwald an einem Teich, um 1660. Berlin (West), Museum Dahlem. Meindert Hobbema, Weg zwischen Baumgruppen und Gehöften, um 1665. Berlin (West), Museum Dahlem. Adriaen van de Velde, Die Farm, 1666. Berlin (West), Museum Dahlem. Jan Vermeer (van der Meer) van Haarlem, Blick von den Dünen auf Haarlem, 1660/70. Köln, Wallraf-Richartz-Museum. Rembrandt, Elefant, um 1637. Schwarze Kreide. London, British Museum. Pisanello (vor 1395 —um 1450), Enten. Aquarell. Paris, Louvre, Codex Vallardi. Dürer, 93 Jahre alter Mann. 1521. Pinselzeichnung. Wien, Albertina. Rembrandt, Alter Mann im Armstuhl, 1631. Rötel mit etwas schwarzer Kreide. Haarlem, Teyler- Museum. Rembrandt, Junges Mädchen am Fenster (Hcndrickje), um 1651. Studie zu dem Gemälde in Stockholm. Dresden, Kupferstichkabinett. Whistler, Die kleine Lagune (Venedig), auch „The Lagoon: Noon", 1880. Radierung. Robert Delaunay, Eiffelturm, 1910. Basel, Kunstmuseum.
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ABBILDUNGSNACHWEIS
Alinari, Florenz: 6b, 8, 21, 46. Anderson, R o m : 6a. Basel, Kunstmuseum, Depositum der Emanuel Hoffmann-Stiftung: 72. Berlin (West), Museum Dahlem, Gemäldegalerie: 59, 61. Berlin (West), Museum Dahlem, Kupferstichkabinett: 71. Berlin, Museumsinsel, Staatliche Museen zu Berlin, Gemäldegalerie : 40, 42, 58, 60, 62, 63. Berlin, Museumsinsel, Staatliche Museen zu Berlin, Nationalgalerie: 1, 29. Berlin, Museumsinsel, Staatliche Museen zu Berlin, Kupferstichkabinett und Sammlung der Zeichnungen: 48 (Probedruck). Braun u. Co., Mühlhausen (Elsaß): 35. Braunschweig, Herzog Anton Ulrich-Museum : 43, Copyright reserved Museumsfoto : B.P. Keiser. Brogi, Rom: 5, 25, 30, 44. A. C. Cooper Ltd., London: 57. Copyright reserved to H. M. the Queen. With Permission of the Lord Chamberlain St. James Palace. Dresden, Kupferstichkabinett: 70. Frau Prof. Frodl-Kraft, Wien, Denkmalamt: 11. Giraudon, Paris: 31, 50. Haarlem, Frans Hals-Museum: 39. Hamann-Stoedtner: 9, 18, 53. Hamann-Mac Lean (s. auch Mainz) : 22. Hamburg, Kunsthalle: 33. K. Hartz, Hamburg: 3. Köln, Rheinisches Bildarchiv (Wallraf-Richartz-Museum) : 65. London, Lambeth Palace : 32. Reproduced by courtesy of the Lord Archbishop of Canterbury, copyright reserved to the Church Commissioners for England and the Courtauld Institute of Art. London, Victoria and Albert Museum (Crown Copyright) : 20. Mainz, Kunstgcschichtliches Institut (Hamann-Mac Lean): 13 und Textabb. S. 9. Mainz, Landesmuseum (Landesbildstelle): Textabb. S. 95. Mainz, Römisch-Germanisches Zentralmuseum: 16. Marburg, Bildarchiv Foto Marburg: 2, 4, 10, 12, 14, 17, 18, 27, 42, 45, 52, 56, 64. München, Bayerische Staatsgemäldesammlungen, Alte Pinakothek: 34; Neue Pinakothek: 51. Paris, Documentation photographique de la Réunion des Musées Nationaux: 49. Rothier, Reims: 23. Kathleen Swan, Custom House, Dublin: 28. Urbano, Canosa di Puglia: 19. Aus den Werken: Amand-Durand und G. Duplessis, Oeuvre de Albert Durer, Paris o. J . : 36. J . Dürrn, Baukunst der Griechen (Hdb. d. Architektur II, 1), Darmstadt 18922 : 26. C. Grimm, Frans Hals, Berlin 1972: 41. R. Hamann, Rembrandts Radierungen, Berlin 1906: 47, 54, 55.
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F. Kugler, Geschichte Friedrichs des Großen, gezeichnet von Adolph Menzel, Leipzig 1840, S. 323: 48. F. Lippmann, Kupferstiche und Holzschnitte alter Meister in Nachbildungen, Band IX, 6, Verz. 1901 Nr. 307: 37. F. Lippmann, Original Drawings by Rembrandt . . . , Berlin, London, Paris, Band IX, 1888: 38, 66, 69. E. van Marie, The Development of the Italian Schools of Painting, VIII, Den Haag 1927: 67. EricG. Millar F. S. A., English illuminated manuscripts from theXth to theXIIIth century, Paris und Brüssel 1926, Taf. 97: 24. V. Pucko, Die Kiever Reliefs mit Reiterheiligen, Starinar 27, 1976 (1977). Taf. VI bei S. 125 Abb. 13 : 16a. Straub und Keller, Herrad von Landsberg, Hortus deliciarum, 1879 —1899: 15. F. Winkler, Die Zeichnungen Albrecht Dürers IV, Berlin 1939, Nr. 788: 68.
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TAFELN
2 Aubeterre, St. Jean
8 V e r r o c c h i o , Colleoni
10 Sluter, Karthause von Champmol, Johannes der Täufer und Philipp der Kühne
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17 St.-Gilles-du-Gard, Anbetung der Könige
20 L o n d o n , Triptychon von Alton Towers
21 Giotto, Jüngstes Gericht
22 Reims, Kathedrale Chorfialcnengel (nach Abguß)
23 Querhaus, Konsole am Nord-Westturm
24 London, Sarum-Stundenbuch, Christus vor Kaiphas
25 Florenz, Dom-Campanile, Die Weberei
28 Dublin, Custom House
31 Ghirlandaio, Großvater und Enkel
31 Hans Holbein d. J . , Erzbischof William W a r h a m
33 Max Liebermann, Alfred von Berger
34 Frans Hals, Willem van Heythuyzen
41 F r a n s Hals, Familienbild
43 Rembrandt, Familienbild
45 Gentile Bellini, Prozession auf dem Markusplatz
46 Andrea Mantegna, Hinrichtung des Apostels Jakobus
47 Rembrandt, David betend
48 Adolph Menzel, Friedrich der Große nach der Schlacht bei Kollin
49 A n t o i n e Jean Gros, ^Napoleon auf dem Schlachtfeld von Eylau
51 Karl von Piloty, Seni an der Leiche Wallcnsteins
52 Gustave Courbet, Bonjour, Monsieur Courbet
54 Rembrandt, Bettler an der Haustür
53 Chartres, Kathedrale, Monat Juli
55 Rembrandt, Rattengiftverkäufer
57 Jan V e r m e e r van Delft, Die Musikstunde
59 Jan Brueghel der Ältere, Das Paradies
62 Jacob van Ruysdacl, Eichcnwald
63 Meindert Hobbema, Dorflandschaft
64 A d r i a c n v a n de V e l d e , D i e F a r m
s ¡¡j (¡¡p
65 J a n V e r m e e r v o n H a a r l e m , Bliok von den D ü n e n auf H a a t l e m
67 Pisanello, Enten