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German Pages 348 [349] Year 2014
Hermeneutical, exegetical, and theological essays discussing the contribution of historical exegesis in the context of Lutheran theology. Dr. Achim Behrens ist Professor für Altes Testament an der Lutherischen Theologischen Hochschule in Oberursel. Oberurseler Hefte Ergänzungsband 15
ISBN 978-3-8469-0194-6 ISBN 978-3-8469-0194-6
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Achim Behrens Theologische Reflexionsgeschichte
Die hermeneutischen, exegetischen und theologischen Studien in diesem Buch sind verbunden durch die Frage, welchen Beitrag die historische Exegese zur Theologie insgesamt leistet. Zugleich wird dabei der theologische Standpunkt des Buchautors und Auslegers exemplarisch ausgewählter alttestamentlicher Texte reflektiert. Dieser hermeneutische Zirkel wird in Untersuchungen einzelner Texte immer wieder beschrieben. Daraus ergeben sich thematische Querschnitte zu Themen wie »Bekennen«, »Schöpfung« oder »Geschlechterverhältnis« im AT. Insgesamt wird so eine historische Exegese alttestamentlicher Texte in gesamtbiblischer Perspektive und im Kontext lutherischer Theologie entworfen.
Achim Behrens Theologische Reflexionsgeschichte des Alten Testaments Exegetische Studien im Kontext evangelisch-lutherischer Theologie
Oberurseler Hefte Ergänzungsband 15
Oberurseler Hefte Ergänzungsbände Herausgegeben von Werner Klän im Auftrag der Lutherischen Theologischen Hochschule Oberursel Band 15
Achim Behrens Theologische Reflexionsgeschichte des Alten Testaments Exegetische Studien im Kontext evangelisch-lutherischer Theologie mit einem Beitrag von Werner Klän
Inh. Dr. Reinhilde Ruprecht e.K.
Mit 3 Tabellen. Für die Umschlagabbildung wurde ein Foto eines byznatinischen JerusalemMosaiks aus Madaba/Jordanien verwendet, Quelle http://www.mcah.columbia.edu/dbcourses/islamic/large/madaba_map.jpg
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen National bibliografie; detaillierte Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar. Eine eBook-Ausgabe ist erhältlich unter DOI 10.2364/3846901953.
© Edition Ruprecht Inh. Dr. R. Ruprecht e.K., Postfach 17 16, 37007 Göttingen – 2015 www.edition-ruprecht.de Alle Rechte vorbehalten. Das Werk einschließlich seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urhebergesetzes bedarf der vorherigen schriftlichen Zustimmung des Verlags. Diese ist auch erforderlich bei einer Nutzung für Lehr- und Unterrichtszwecke nach § 52a UrhG. Satz: Achim Behrens Layout: mm interaktiv, Dortmund Umschlaggestaltung: klartext GmbH, Göttingen Druck: Digital Print Group, Nürnberg ISBN: 978-3-8469-0194-6 (Print), 978-3-8469-0195-3 (eBook)
Für Schorse Gremels
Inhaltsverzeichnis Vorwort .................................................................................................... 9 Exegese als Theologie – Theologie als Exegese .......................................... 11 Zur Einführung in diesen Band
Teil 1
Hermeneutische Standortbestimmungen ...................................... 21
Kanon .................................................................................................... 23 Das ganze Alte Testament ist mehr als die Summe seiner Teile Theologische Reflexionsgeschichte .......................................................... 45 Schritte auf dem Weg zu einer Hermeneutik des Alten Testaments Exegese des Alten Testaments als theologische Disziplin ............................ 64 Thesen zur biblischen Hermeneutik und Exegese im Kontext lutherischer Theologie ............................................................................................... 83 Aspekte des Schriftgebrauchs der Lutherischen Bekenntnisschriften .......... 89
Teil 2
Exegetische Einblicke ................................................................. 101
Gen 15,6 und das Vorverständnis des Paulus ............................................ 103 „Gesetz und Evangelium“ als Kategorie in der neueren Auslegung des Deuteronomiums ................................................................................... 117 „Das Wort des Herrn war selten in jenen Tagen, Offenbarung gab es nicht häufig“ .................................................................................................. 143 Beobachtungen zu 1Sam 3 „Eine Jung(e)frau wird schwanger …“......................................................155 Jes 7,14 und die „Polyvalenz“ biblischer Texte Habakuk 2,1–4 und die Treue zur Offenbarung ........................................ 166
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Inhaltsverzeichnis
„Schaffe in mir, Gott, ein reines Herz“ ..................................................... 181 Beobachtungen zu Psalm 51
Teil 3
Theologische Überblicke ............................................................. 197
Bekennen im Alten Testament ................................................................. 199 „Am Anfang schuf Gott Himmel und Erde“ ............................................. 221 Grundlagen eines biblisch-theologischen Schöpfungsverständnisses aus der Perspektive lutherischer Theologie Frauen und Männer im Alten Testament ................................................... 247 Eine Skizze Eine „prophetische Visionsschilderung“ im 20. Jahrhundert .................... 281 Martin Luther Kings „I have a dream“ in neuer formgeschichtlicher Perspektive Das Paradies … ..................................................................................... 309 … und was darüber (nicht) in der Bibel steht Nachwort ............................................................................................... 315 Literaturverzeichnis .............................................................................. 322 Verzeichnis der Originalveröffentlichungen ............................................ 339 Bibelstellenregister ............................................................................... 340
Vorwort Der vorliegende Band vereinigt hermeneutische, exegetische und theologische Studien, die alle durch ein gemeinsames Thema miteinander verbunden sind, obwohl sie zum großen Teil bereits vorher zu unterschiedlichen Zeiten an verschiedenen Orten veröffentlicht wurden. Noch einmal neu gelesen, in eine gedankliche Abfolge gebracht und dabei noch einmal gründlich durchdacht sind die Texte verbunden durch die Frage, welchen Beitrag die historische Exegese zur Theologie insgesamt leistet. Zugleich wird dabei mein theologischer Standpunkt als Ausleger reflektiert, den ich als bewusst lutherischen bezeichnen möchte. Dieser hermeneutische Zirkel wird in Untersuchungen einzelner alttestamentlicher Texte immer wieder beschrieben. Daraus ergeben sich thematische Querschnitte zu Fragen wie „Bekennen“, „Schöpfung“ oder „Geschlechterverhältnis“ im Alten Testaments. Die hier versammelten Untersuchungen sind also verbunden dadurch, dass hier einerseits die historische Exegese alttestamentlicher Texte und damit ihre geschichtliche Dimension ganz ernstgenommen wird, und dass dies andererseits ebenso bewusst in der Perspektive der christlichen Theologie und des christlichen Glaubens, wie er sich im lutherischen Bekenntnis als sachgerechter Schriftauslegung ausdrücken will, geschieht. Insgesamt wird so eine historische Exegese alttestamentlicher Texte in gesamtbiblischer Perspektive und im Kontext lutherischer Theologie entworfen. Dadurch kommen die einzelnen Texte noch einmal neu und explizit in der genannten Perspektive zu Wort. Alle hier versammelten Veröffentlichungen sind für den Druck dieses Bandes gründlich überarbeitet worden. Zwei Texte sind ganz neu, zwei weitere so gut wie neu. An manchen Stellen habe ich versucht, auf Diskussionsbeiträgen zu diesen Texten, die nach der Erstveröffentlichung erschienen, einzugehen. Einige der Beiträge sind zuerst an eher entlegenen Orten publiziert worden, so dass sie hier hoffentlich neu und lauter zu Gehör kommen. Dieser Gedanke gibt Anlass, meinem Kollegen Werner Klän herzlich zu danken für die Aufnahme des Bandes in die Reihe der Oberurseler Hefte Ergänzungsbände, die es ohne ihn nicht gäbe und die er mit großem Engagement betreut. Ebenso danke ich ihm für sein Nachwort. Wollen diese Beiträge doch das Gespräch zwischen Exegese und systematischer Theologie fördern. Daher ist eine solche direkte Reaktion aus dieser Disziplin spannend und hoffentlich der Beginn eines langen Dialoges. Sodann danke ich allen, die mit namhaften Druckkostenzuschüsse zu einem vertretbaren Ladenpreis dieses Buches beigetragen haben! Dieses Buch ist Georg „Schorse“ Gremels gewidmet. Schon bei kurzen Nachdenken fallen mir in meiner weiteren Familie sechs Männer ein, die alle den Namen Georg Gremels tragen – angefangen bei meinem Großvater, nach dem alle übrigen wohl benannt sind. Aber für mich gibt es nur einen Schorse darunter. Georg Gremels, promovierter Systematiker und jahrzehntelang in der Leitung des Evangelisch-Lutherischen Missionswerkes in Hermannsburg tätig, ist mein Taufpate und
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Vorwort
als solcher ein echter Glücksfall. Als Theologe ist er mein Gesprächspartner geblieben, auch lange nachdem ich als „mündiger Christ“ die Verantwortung für meinen Glauben selbst übernahm. Die Gespräche mit Schorse verkörpern für mich geradezu den angestrebten Austausch zwischen den theologischen Disziplinen. Und viel mehr als das waren und sind sie immer anregend, hintergründig und der notwendige Hinweis darauf, dass alle Theologie der Begegnung mit Gott und damit wahrhaft dem Leben dienen soll. Vielen Dank dafür! Oberursel im September 2014 Achim Behrens
Exegese als Theologie – Theologie als Exegese Zur Einführung in diesen Band 1. Prolegomena einer theologischen Exegese des Alten Testaments „In keinem anderen Teilfach der Theologie haben sich in den vergangenen Jahrzehnten so tiefgreifende Veränderungen vollzogen, wie in der alttestamentlichen Wissenschaft“1, so konstatierte jüngst Friedhelm Hartenstein. Dies gilt tatsächlich in einem ganz umfassenden Sinne. In relativ kurzer Zeit haben sich das Bild der Geschichte und Religionsgeschichte Israels2 und die vermeintlichen Gewissheiten über die Literaturgeschichte des Alten Testament, wie sie die historisch-kritische Exegese des 19. und 20. Jahrhunderts entwickelt hatte, komplett verändert. So wird heute kaum noch damit gerechnet, dass sich größere Textteile des Alten Testaments mit Sicherheit in eine Zeit vor dem 8. Jahrhundert datieren lassen.3 Die meisten Texte liegen zudem in ihrer Endgestalt in einer exilisch-nachexilischen Bearbeitung vor. Daraus folgt aber in vielen Fällen, dass die Texte als verlässliche Quelle für die Rekonstruktion einer Früh- oder gar Vorgeschichte Israels ausfallen, zumindest aber jetzt völlig anders gewichtet werden.4 Und da für diese Epoche kaum außerbiblische Quellen zur Verfügung stehen, gelten die Zeit der sog. Erzväter, der Exodus oder auch die Richterzeit als historisch kaum noch greifbar.5 Der alttestamentliche Monotheismus ist für viele Forscher längst keine Voraussetzung der israelitischen Religionsgeschichte mehr, sondern deren spätes Ergebnis.6 Das Bild der „klassischen“ Gerichtspropheten des 8. Jahrhunderts scheint ein nachträgliches theologisches Konstrukt zu sein. Nimmt man die altorientalischen Analogien als Maßstab, so waren Amos und Jesaja vermutlich ursprünglich Heils- und nicht Gerichtspropheten7 und Hoseas Polemik verbirgt sich nur in Angriffen auf Baal und zielte in Wirklichkeit auf falsch verstandene Jahwe-Verehrung.8 Die Liste der grundstürzenden Veränderungen des Bildes, das die alttestamentliche Exegese vom alten Israel zeichnet, gegenüber der Zeit Martin Noths und 1 2 3 4 5 6 7 8
Hartenstein, ThLZ 137 (2012), 3. Vgl. z.B. den Historischen Abriss von Berlejung, in: Gertz (Hg.), Grundinformation, 89–192. Vgl. zum Überblick Schmid, Literaturgeschichte, passim. Vgl. die Erwägungen zu Quellen und Methoden von Berlejung, in: Gertz (Hg.), Grundinformation, 21–58. Vgl. z.B. Finkelstein/Silberman, Posaunen, passim. Vgl. Stolz, Einführung. Vgl. zu Amos: Kratz, Worte des Amos; zu Jesaja: Becker, Jesaja. Vgl. Kratz, Die Propheten Israels, 63–65. Das letzte Wort ist hier freilich noch nicht gesprochen, vgl. die Diskussionsbeiträge von Jeremias, ZAW 125 (2013), 93–117 und Kratz, ZAW 125 (2013), 635–639.
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Exegese als Theologie – Theologie als Exegese
Gerhard von Rads ließe sich leicht verlängern. Kurz und gut: Der Acker der Wissenschaft vom Alten Testament wird derzeit gründlich umgepflügt.9 Dabei zeichnet sich in vielen Dingen noch lange kein Konsens ab. Dies hat auch Folgen für das Selbstverständnis der alttestamentlichen Exegese und die Selbstverortung des Faches innerhalb der evangelischen (aber auch der katholischen) Theologie insgesamt. So wird es fraglich, ob und wie eine Theologie des Alten Testaments als eine Art Zusammenfassung der Disziplin zu betreiben ist.10 Darüber hinaus scheint es nicht immer klar zu sein, welchen Stellenwert die alttestamentliche Exegese innerhalb der christlichen Theologie einnimmt, und ob und wie diese Teildisziplin mit den anderen Fächern, der neutestamentlichen Exegese, der systematischen Theologie oder auch der praktischen Theologie sinnvoll und fruchtbar ins Gespräch kommen können. Es gibt zumindest die Tendenz, dass die Vertreterinnen und Vertreter der Exegese ihr Geschäft als ein vor allem historisches betreiben. Die Texte des Alten Testaments werden dann ausschließlich im Kontext des Vorderen Orients des 1. Jahrtausends vor Christus verstanden. Auch so etwas wie eine Theologie kommt dabei rein deskriptiv in den Blick.11 Die Frage nach der Gegenwartsrelevanz oder der Bedeutung für die Theologie als Reflexion des christlichen Wirklichkeitsverständnisses insgesamt wird anderen überlassen.12 Im Gegenzug halten dann etwa systematische Theologen die exegetische Arbeit für „absurdes philologisches Spezialistentum“13 und deren Ergebnisse für die Exponate eines „religionshistorischen Museums“14. Vor diesem Hintergrund ist es sinnvoll, ja geboten, erneut die Grundfragen einer Exegese des Alten Testaments zu stellen. Dies bezeichne ich hier als Nachden9 10 11
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Das ist nicht negativ, sondern hin und wieder notwendig. Das Bild stammt schon von Schweitzer, Gespräche, 9. Vgl. jetzt Schmid, Theologie, passim. Dazu Gertz, Grundinformation, 587: „Theologie des Alten Testaments wird verstanden als eine deskriptive Aufgabe, die nach den theologischen Grundgedanken der Autoren der biblischen Literaturwerke in ihrem historischen Kontext fragt und diese beschreibt.“ Ganz anders allerdings Oeming, Wege, 83: „Sie soll die Resultate aller Teilbereiche aufgreifend eine Synthese bieten, die modernen Menschen ein Verständnis für den Glauben Israels und seine Diskussions- und Anschlussfähigkeit an Probleme der Gegenwart aufzeigt. Alle Teildisziplinen haben gewiss ihre je eigene Bedeutung und Leistungskraft: die Archäologie, die Rekonstruktion der Geschichte Israels hinsichtlich ihrer materiellen, politischen und kulturellen Elemente, die Einzelexegese, die Literaturgeschichte, die Religionsgeschichte. Aber sie alle haben nach meiner Einsicht eine dienende Funktion. Letztendlich gilt es zu ermitteln, was alttestamentliche Überlieferungen dazu beitragen, das Wesen Gottes zu erfassen (um davon heute sachgemäß Zeugnis ablegen zu können).“ Dazu die Beschreibung bei Hartenstein, Warum, 36: „Exegese sucht dann einen betont deskriptiv historischen Standpunkt einzunehmen und sich möglichst von theologisch-normativen Aussagen zu distanzieren. Die gegenwarts- und verkündigungsbezogene theologische Beurteilung der alttestamentlichen Texte wird vorrangig systematisch-theologischer Reflexion überantwortet.“ Hartenstein selbst möchte sich in eine solche Zustandsbeschreibung des Faches nicht einzeichnen (vgl. ebd.). So Friedrich Wilhelm Graf in der FAZ vom 21.2.2006 hier zitiert nach Schmid, HistorischKritischen, 63. Vgl. Herms, Was haben wir an der Bibel?, 106.
Prolegomena einer theologischen Exegese des Alten Testaments
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ken über die Prolegomena der alttestamentlichen Exegese. Eine solche Reflexion über die Grundlagen der alttestamentlichen Wissenschaft und ihre Stellung in der Theologie bricht zur Zeit an unterschiedlichen Stellen auf, von exegetischer, aber auch von systematisch-theologischer Seite.15 Ein Konsens zeichnet sich noch nicht ab, wohl sind aber Stimmen zu hören, die die Auslegung des ersten Teils der christlichen Bibel nicht ausschließlich in historischer Perspektive, sondern ganz bewusst als Teil der Theologie im Sinne der rechenschaftsfähigen Selbstreflexion des christlichen Glaubens ansehen. In diesen Kontext reihen sich die Beiträge dieses Bandes bewusst ein. Dabei muss methodische Exegese ihr Textverstehen zuerst als eine „historische Sinnbestimmung“16 des alttestamentlichen Wortlauts vollziehen. Gerade in einer Glaubens- und Bekenntnisgemeinschaft, in der sola scriptura und verbo solo nach wie vor theologische Leitgedanken sind, kommt alles darauf an, dass die Schrift auch in ihrem Eigensinn zu Wort kommen und nicht in einem überlieferten Pool christlicher Wahrheiten vergleichgültigt wird. Insofern kommt methodisch kontrollierter historisch-kritischer Exegese biblischer Texte immer schon eine theologische Funktion zu. Gleichzeitig bleibt die Exegese nicht der einzige Umgang der Christenheit mit den biblischen Texten. Vielmehr werden sie systematisiert, gepredigt, unterrichtet, vertont, liturgisch verwendet, kurz: auf vielerlei Weise aktuell appliziert. Genau genommen sind diese Zugänge zu biblischen Texten – exegetische explicatio einerseits und kirchliche applicatio andererseits – aber immer schon miteinander verbunden. Denn schon das Bemühen um das historische Verstehen der biblischen Texte ergibt, dass die Texte durch die Zeiten unterschiedlich verstanden und rekontextualisiert wurde und dabei immer neu verkündigt und zur Anrede an Menschen ganz unterschiedlicher Zeiten geworden sind. Dies ist, so hat es Horst Dietrich Preuß pointiert ausgedrückt, kein theologisches Postulat, sondern als Ergebnis historischer Exegese zu erkennen: „Der Exeget aber, der nicht bei seiner Exegese biblischer Texte wahrnimmt, daß diese Texte Anspruchs- und Zuspruchscharakter haben, denen ihre Stellung im Kanon jeweils neu zur Verwirklichung verhelfen will, dieser Exeget ist kein ungläubiger Mensch, sondern schlicht ein schlechter Exeget, so wahr wirkliches Verstehen über Kenntnisnahme hinausgeht hin zur Begegnung mi dem Gegenstand und Anliegen des Textes. Das Verstehen von Bibeltexten zielt auf Glauben, und auch daher gehö17 ren historisch-kritische und theologische Exegese zusammen.“
Die Überlieferungsgeschichte und die Redaktionsgeschichte machen dies besonders deutlich, wenn etwa die Königspsalmen im jetzigen Aufbau des Psalters her-
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Vgl. die Beiträge in Gräb-Schmidt/Preul (Hg.), Das Alte Testament in der Theologie, oder auch Schwöbel, Erwartungen. Steck, Exegese, 157, Preuß, Predigt, 49f.
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Exegese als Theologie – Theologie als Exegese
meneutische Leitstellen besetzen und dabei messianisch verstanden werden.18 So lassen sich die alttestamentlichen Texte im Kontext einer theologischen Reflexionsgeschichte lesen, die über das Alte Testament hinaus in den Talmud einerseits und das Neue Testament andererseits fortgeführt werden. Dies ist nur ein Aspekt, der alle, die sich mit den Texten des Alten Testaments ernsthaft beschäftigen, vor die Frage stellt, ob der Anredecharakter dieser Texte ein historisch vergangenes Phänomen ist, oder ob sich die Christenheit heute zurecht auch in ihrer Verkündigung und theologischen Reflexion auf diese Texte beruft. Die Beiträge dieses Bandes sind durchweg von der Überzeugung getragen, dass Letzteres der Fall ist. Allerdings ist es mit einer solchen Zustimmung dazu, dass das Alte Testament zum christlichen Glauben und zur christlichen Theologie gehört, nicht einfach getan. Vielmehr bedenken auch die Einzelbeiträge immer wieder die Grundfragen oder eben die Prolegomena einer Exegese des Alten Testaments in der Perspektive der christlichen Theologie. Dieser immer neue Reflexionsvorgang lässt sich in einem Dreischritt gliedern: Von welchen Voraussetzungen und von welchem eigenen Standpunkt aus wird das Bemühen um das Verstehen alttestamentlicher Texte angegangen (2. Hermeneutische Standortbestimmungen)? Was für Resultate ergeben sich bei der Exegese einzelner alttestamentlicher Texte von diesem Standpunkt aus (3. Exegetische Einblicke)? Wohin führt ein solches Verstehen im Hinblick auf zeitgenössische systematisch-theologische oder ethische Fragen oder bei der Benutzung alttestamentlicher Sprachformen und Bilder in gegenwärtigen Debatten (4. Theologische Überblicke)?
2. Hermeneutische Standortbestimmungen Die Texte des ersten Teils dieses Buches befassen sich mit grundlegenden Fragen alttestamentlicher Hermeneutik. Dies beginnt mit der Frage nach der Spannung von Vielfalt und Einheit, ohne die das Alte Testament nicht zu haben ist. Unter dem Begriff „Kanon“ werden dabei unterschiedliche Gesamtperspektiven aufgezeigt, in der die einzelnen Texte ihren Kontext finden und so als Teile eines Ganzen zu verstehen sind.19 Dabei soll weder einer bloßen Endtextexegese noch dem sog. canonical approach das Wort geredet werden.20 Ich bleibe im Übrigen durchweg in diesem Buch bei der Bezeichnung Altes Testament, nicht nur, weil mich Alternativen wie Erstes Testament oder Hebräische Bibel nicht wirklich überzeugen konnten, sondern auch, weil die in Rede stehende Textsammlung immer als Teil der christlichen Bibel aus Altem und Neuem Testament in den Blick kommt.
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Vgl. Waschke, RGG 5, 1145. Vgl. den Beitrag „Kanon. Das ganze Alte Testament ist mehr als die Summe seiner Teile“. Zu den Problemen einer Exegese, die meint, auf die Bestimmung der diachronen Tiefenschärfe biblischer Texte verzichten zu können, vgl. Jeremias, Entwürfe, 133–140.
Hermeneutische Standortbestimmungen
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Dies führt zu der Frage nach dem Verhältnis von Altem und Neuem Testament, das in der neueren evangelischen Theologie und hier vor allem in der alttestamentlichen Wissenschaft mit wechselnder Intensität diskutiert wurde und wird. An anderer Stelle habe ich mich ausführlich zu dieser Frage geäußert.21 Hier wird unter dem Stichwort „Theologische Reflexionsgeschichte“ das Wagnis eines eigenen Ansatzes zumindest angedeutet.22 Im Kontext der christlichen Theologie scheint mir dabei wichtig, dass die Frage nach dem Verhältnis der beiden Kanonteile ihren Ausgang im Neuen Testament nimmt. Christliche Theologie fragt unter der Voraussetzung des Evangeliums von Jesus Christus zurück nach dem Alten Testament als Offenbarung des Gottes, der auch in Christus Mensch wurde. Eine umgekehrte Lesart des Alten Testaments „etsi Novum Testamentum non daretur“23 ist mir nicht möglich. Dies nicht, weil sich die Texte der Tora, der Propheten und der Schriften nicht auch in ihrem historischen Kontext verstehen ließen, sondern weil der Initiativimpuls aller theologischen Reflexion der Glaube ist, der sich selbst rechenschaftsfähig in der Rede zur Darstellung bringt. Und dieser Glaube ist nicht unbestimmt, sondern in vorliegenden Fall christlicher Glaube, der zuerst im neutestamentlichen Evangelium wurzelt. Dies führt schließlich zu der Frage, inwiefern die konfessionelle Bestimmtheit eines Exegeten oder einer Exegetin das jeweilige Verstehen biblischer Text mitbedingt. Versteht man Exegese streng als historische Sinnbestimmung alttestamentlicher Texte, sollte das eigentlich keine Rolle spielen. Das Jesajabuch als solches ist weder lutherisch, noch reformiert oder katholisch. Und doch gehört die Reflexion des eigenen konfessionellen Standpunktes unbedingt zum Bedenken des eigenen Vorverständnisses dazu; denn das Jesajabuch wird eben nicht „als solches“ verstanden, sondern unter Bedingtheiten, denen auch Auslegerinnen und Ausleger unterworfen sind. Und so lassen sich bei allem Bemühen um „Objektivität“ eben doch auch in der wissenschaftlichen Exegese die evangelischen, katholischen oder jüdischen Prägungen der Exegeten in den Auslegungen wiederfinden. Wenn in dieser Hinsicht hier „exegetische Studien im Kontext evangelisch-lutherischer Theologie“ vorgelegt werden, so soll es nicht darum gehen, biblische Texte ausschließlich mit den Augen Luthers zu lesen oder für ein lutherisches Lehrsystem „passend“ zu machen. Wohl aber möchte ich mir und anderen Rechenschaft über den theologischen und kirchlichen Standpunkt geben.24 Dies mag dann helfen, einerseits exegetische Fehlschlüsse aufgrund allzu starker konfessioneller Vorgaben zu vermeiden, andererseits aber auch für das Luthertum zentrale Texte neu und 21 22 23 24
Vgl. Behrens, Das Alte Testament verstehen, passim. Vgl. den Beitrag „Theologische Reflexionsgeschichte. Schritte auf dem Weg zu einer Hermeneutik des Alten Testaments“. So Zenger in der 4. Auflage seiner Einleitung, 20; in späteren Auflagen findet sich diese Formulierung nicht mehr. Vgl. die Beiträge „Exegese des Alten Testaments als theologische Disziplin“; „Thesen zur biblischen Hermeneutik und Exegese im Kontext lutherischer Theologie“ und „Aspekte des Schriftgebrauchs der Lutherischen Bekenntnisschriften“.
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Exegese als Theologie – Theologie als Exegese
wieder zu lesen. Gerade der lutherischen Theologie mit ihrer unbedingten Bindung an die heilige Schrift als normativer Offenbarungsurkunde ist an einer gründlichen Exegese als einem Element zur Sicherung der „Externität des Schriftwortes“25 auch gegenüber der eigenen Tradition gelegen. Die Konkordienformel hat mit ihrer Verhältnisbestimmung von Schrift und Bekenntnis der lutherischen Kirche eine hermeneutische Daueraufgabe hinterlassen, die in der Geschichte der lutherischen Kirchen oft eher vermieden als angegangen wird.26 Nicht zuletzt macht die offene Reflexion des eigenen Standpunktes ökumenisch gesprächsfähig.
3. Exegetische Einblicke Die zuletzt angemahnte Reflexion des eigenen Standpunktes kommt sogleich bei der Auswahl der Texte zum Tragen, denen ich mich exegetisch intensiver zugewandt habe und die im zweiten Teil des Buches versammelt sind. Es handelt sich dabei um die beiden Hauptreferenzstellen aus dem Alten Testament für die paulinische Rechtfertigungslehre in lutherischer Lesart.27 Abrahams Glaube nach Genesis 15,6 und der Hinweis auf das Leben aus „Glauben“ in Habakuk 2,4 werden in ihrem alttestamentlichen Kontext und in wirkungsgeschichtlicher Perspektive untersucht.28 Natürlich erregt es nach den bisher dargelegten hermeneutischen Überlegungen besondere Aufmerksamkeit, wenn ein ursprünglich dezidiert lutherisches Theologumenon wie „Gesetz und Evangelium“ in der neueren Exegese Erwähnung findet.29 Es ist zu fragen, was die jeweiligen Exegeten darunter verstehen, wie deutlich die jeweiligen systematisch-theologischen Theoriehintergründe zur Sprache kommen. Das Ganze ist dann schließlich noch exegetisch an den Primärtexten aus dem Deuteronomium auf seine Stichhaltigkeit zu befragen. Am Deuteronomium als einem der in den letzten Jahrzehnten intensiv diskutierten Bücher des Alten Testaments kommen also Exegese, Systematische Theologie und – wenn man Luthers Verständnis von „Gesetz und Evangelium“ zugrunde legt – Homiletik zusammen.
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Wenz, Theologie 1, 191. So will die FC selber einerseits Interpretation der CA sein, die als sachgerechte Auslegung der Schrift gilt, gleichzeitig stellt der Summarisch Begriff (vgl. BSLK, 833–839) klar, dass auch die Bekenntnisse selbst – obgleich als sachgerechte Auslegung der Schrift zugleich hermeneutische Leitkategorie bei der Bibellektüre – immer wieder an der Schrift zu messen sind, vgl. insgesamt Kolb, Konkordienformel. Auf Debatten um die sog. New Perspective on Paul kann hier nicht eingegangen werden. Vgl. die Beiträge „Gen 15,6 und das Vorverständnis des Paulus“ und „Habakuk 2,1–4 und die Treue zur Offenbarung“. Vgl. zur Bedeutung von „Gesetz und Evangelium“ als Fundamentalkategorie einer Theologie des Alten Testaments Kaiser, Theologie 1, 75.
Exegetische Einblicke
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Das ist geradezu ein paradigmatischer Testfall für Exegese im Kontext lutherischer Theologie.30 In einer Analyse von 1Sam 3 lässt sich zeigen, dass der Text keineswegs vorrangig die Berufung Samuels berichtet. Vielmehr liegt hier eine kanonisch bewusst platzierte Reflexion über das Wort Gottes vor.31 Eingebunden in ein intertextuelles Netz von Bezugsstellen ist 1Sam 3 einer von mehreren Texten, die in ihrer gegenseitigen Verknüpfung das Alte Testament insgesamt – oder doch weite Teile davon – als Wort Gottes charakterisieren.32 Aus dieser theologischen Komposition ergibt sich einer innerbiblische/inneralttestamentliche Grundlegung für eine lutherische Wort-Gottes-Theologie. Dieser Gedanke kann hier nur grundgelegt und soll anderswo weiter verfolgt werden. Zugleich geben dieses Beobachtungen aber noch einmal Anlass, den Gegenstand alttestamentlicher Exegese zu benennen. Gerade angesichts neuerer und neuester Erkenntnisse darüber, dass die israelitische Religionsgeschichte im 1. Jahrtausend vor Christus nicht mit dem monotheistisch geprägten Bild der Texte übereinstimmt, dass der Geschehensablauf, den eine Palästinaarchäologie zutage fördert, keineswegs mit den biblischen Geschichtserzählungen identisch ist, oder dass der historische Jesaja vielleicht anderen Tendenzen in seiner Verkündigung nachging, als Jes 1–39* jetzt erkennen lassen, ist daran zu erinnern, dass Exegese zuerst das Verständnis der Texte zum Ziel hat und dass dieses Ziel noch keineswegs erreicht ist, wenn „hinter“ den Texten liegende historische Verhältnisse (re)konstruiert wurden. Anhand des vermeintlichen Jungfrauenorakels Jes 7,14 wird dann deutlich, dass Exegese als historische Sinnbestimmung nicht einfach traditionelle Auslegungen bestätigen kann. Zugleich lässt sich aber am Weg dieses Verses durch die Zeiten so etwas wie eine produktive Deutungsoffenheit biblischer Texte aufzeigen. Schließlich stehen Exegese, Theologie und Kirche vor der Tatsache, dass sich verschiedene Deutungen ein und desselben Textes in der Geschichte vorfinden, die sich nicht einfach miteinander zur Deckung oder ineinander überführen lassen.33 Schließlich lässt sich in Psalm 51 ein Kompendium zu den Themen Sünde und Gnade erheben, das bis heute in der christlichen Theologie anschlussfähig ist und das mit seinem Reden von der Erneuerung des Menschen als einem Akt göttlicher Neuschöpfung in das Zentrum der lutherischen Rechtfertigungslehre trifft.34 Die Rolle als einziger Alttestamentler an einer kirchlichen Hochschule beinhaltet die Nötigung zum Generalistentum. Soll doch das Fach schon im akademischen Unterricht in seiner ganzen Breite abgedeckt werden. Das führt nun hier dazu, dass 30 31 32 33 34
Vgl. den Beitrag „Gesetz und Evangelium als Kategorie in der neueren Auslegung des Deuteronomiums. Eine Problemanzeige“. Vgl. den Beitrag „Das Wort des Herrn war selten in jenen Tagen, Offenbarung gab es nicht häufig. Beobachtungen zu 1Sam 3“. 4 Vgl. zunächst Behrens, Wort, 667f. und Levin, RGG 8, 1697ff. Vgl. den Beitrag „Eine Jung(e)frau wird schwanger… Jes 7,14 und die ‚Polyvalenz‘ biblischer Texte“. Vgl. den Beitrag „Schaffe in mir, Gott, ein reines Herz. Beobachtungen zu Psalm 51“.
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Exegese als Theologie – Theologie als Exegese
exegetische Untersuchungen zu allen drei Teilen des hebräischen Kanons vorgelegt werden können. Dass manches hier und andernorts zu vertiefen ist, versteht sich dabei von selbst.
4. Theologische Überblicke Wenn exegetische Erkenntnisse in Zusammenhängen außerhalb des engeren Fachdiskurses gefragt sind, ist die Nötigung zum Generalistentum in der Regel noch größer. Geht es doch dabei oft darum, bestimmte Themen, die sich als kirchlich oder gesellschaftlich relevant erwiesen haben, vom Alten Testament her überblicksartig darzustellen. Die alttestamentliche Exegese tut gut daran, sich diesen Herausforderungen zu stellen und die eigenen Ergebnisse neu ins Gespräch zu bringen. Dass dabei die Fülle exegetischen Detailwissens auf die Länge eines Vortrages oder eines begrenzten Aufsatzes gekürzt werden muss, ist als notwendige Elementarisierung in Kauf zu nehmen. Lässt sich die Exegese auf ein solches Wagnis ein, ergeben sich oft erstaunliche Ergebnisse. So ist auf den ersten Blick das „Bekennen“ kein zentrales Thema der alttestamentlichen Theologie. Es findet sich aber gleichwohl, wenn die Frage an den Exegeten herangetragen wird. Und es finden sich auch Fachkollegen, die dem schon 35 nachgegangen sind. Das Thema erhält zudem ungeahnte Aktualität, wenn das Alte Testament hier mit den in Bezug auf den Bekenntnisakt sehr kritischen religionssoziologischen Überlegungen Ulrich Becks oder den Beobachtungen Jan Assmans in ein Gespräch eintritt.36 Demgegenüber ist das Thema Schöpfung ein kirchlicher und gesellschaftlicher Dauerbrenner. Im Darwinjahr 2009 sind dann in einem Maße ideologische Fronten aufeinandergetroffen, das bereits überwunden schien. So wird auf der einen Seite die Evolutionstheorie zu einem universalen Welterklärungsmodell stilisiert, während auf der anderen Seite keinesfalls nur in Nordamerika der Kreationismus fröhliche Urstände feiert. Hier kann gerade eine historisch verfahrende Exegese im Kontext lutherischer Theologie in beide Richtungen entideologisierend wirken.37 Sodann zeigt die Debatte um das jüngste EKD-Papier zur Familienpolitik38, wie oft in verkürzter Weise auf biblische Texte zur Begründung der jeweils eigenen Position Bezug genommen wird. Die Ethik (im weitesten Sinne) bedeutet in dieser Hinsicht ein Herausforderung an die alttestamentliche Exegese. Umgekehrt stellt das Alte Testament eine Herausforderung an die christliche Ethik dar39, wenn nach 35 36 37 38 39
Wesentliche Einsichten verdanke ich Wagner, BEKENNEN; ders., Ps 91; ders., Sprechakte, 210ff. Vgl. den Beitrag „Bekennen im Alten Testament“. Vgl. den Beitrag „Am Anfang schuf Gott Himmel und Erde. Grundlagen eines biblisch-theologischen Schöpfungsverständnisses aus der Perspektive lutherischer Theologie“. Vgl. Zwischen Autonomie und Angewiesenheit und als einen Gesprächsbeitrag dazu Ochel, ZThK 111 (2014), 224–237. Vgl. Dabrock, „Ja lieber Gesel…“
Theologische Überblicke
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biblischen Grundlegungen gesucht wird und zugleich zuzugestehen ist, dass die gesellschaftlichen Verhältnisse des 1. Jahrtausends vor Christus, die die biblischen Texte ja oft mehr spiegeln als konstituieren, in manchen Fällen wohl auch konterkarieren, eben ganz andere als die heutigen sind. Am Beispiel des Verhältnisses von Frauen und Männern, wie es in unterschiedlicher Weise im Alten Testament beschrieben wird, sei das einmal durchgespielt.40 Schließlich kann der exegetisch geschulte Blick auf ganz eigentümliche Phänomene auch in aktuellen Debatten aufmerksam machen. Sei es, dass in der Gentechnikdebatte im Deutschen Bundestag plötzlich jenseits jedes im engeren Sinne religiösen Diskurses die Kategorie „Schöpfung“ bemüht wird41, oder dass jemand wie Martin Luther King seine politischen Forderungen in eine Sprachgestalt aus dem Alten Testament hüllt. Dies ist nicht auf den ersten Blick erkennbar, transportiert aber mit sprachpragmatischen Mitteln, die der Bibel entnommen sind, zugleich auch deren kommunikative Leistung, z.B. die Legitimation des Sprechers durch den Sprechakt. Hier kann der exegetische Blick ent-hüllend und damit klärend wirken.42 Zu guter Letzt finden auch heute noch die Hoffnungen und Sehnsüchte vieler Menschen in einer religiösen Begrifflichkeit einen Ausdruck. Da ist neben Gesundheit auch von Heil die Rede und da gibt es immer noch die Sehnsucht nach dem „Paradies“. Gerade im Hinblick auf das Paradies scheint seine Herkunft aus dem Alten Testament für viele Menschen selbstverständlich zu sein. Da lohnt der genauere Blick, was man denn – wenn sich der Begriff schon nicht findet – im Alten Testament als Kennzeichen paradiesischen Lebens beschreiben könnte. So kommt am Ende des Buches das Eschaton zumindest von ferne in den Blick.43
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Vgl. den Beitrag „Frauen und Männer im Alten Testament. Eine Skizze“. Vgl. Behrens, Was heißt eigentlich „Schöpfung“? Vgl. den Beitrag „Eine ‚prophetische Visionsschilderung‘ im 20. Jahrhundert. Martin Luther Kings I have a dream in neuer formgeschichtlicher Perspektive“. Vgl. den Beitrag „Das Paradies… und was darüber (nicht) in der Bibel steht“.
Teil 1 Hermeneutische Standortbestimmungen
Kanon Das ganze Alte Testament ist mehr als die Summe seiner Teile 1. Problemstellung: Die Teile und das Ganze Wenn sich angehende Theologinnen und Theologen während ihres Studiums mit der Exegese des Alten Testaments beschäftigen, dann hat das häufig etwas „Stichprobenartiges“. Je nach Interessenlage (oder nach dem Zufall des Lehrangebotes) wird einmal nach den Quellen des Pentateuchs gefragt, dann wieder auf neue Entstehungshypothesen zum Jesajabuch eingegangen. Gelingt es den Fachexegeten, ihre Zuhörer für bestimmte Fragestellungen zu begeistern, dann wird bei dieser oder jenem aus der „Stichprobe“ vielleicht eine regelrechte „Bohrung“, mit der ein Teilgebiet der alttestamentlichen Exegese vertieft wird. Häufig herrscht dennoch der Eindruck der Unübersichtlichkeit über das weite Feld des Alten Testaments vor. Da hat man sich ein ganzes Semester mit der Frage beschäftigt, ob der „Jahwist“ nun zu verabschieden ist oder nicht, ob es je ein deuteronomistisches Geschichtswerk gab oder ob den Psalmen eher mittels der Form- oder der Redaktionsgeschichte näher zu kommen ist – aber hat man dabei das Alte Testament als Buch oder als Teil der christlichen Bibel besser verstanden? Wohlgemerkt: Das ist hier nur zu beschreiben, nicht etwa zu beklagen. Die Aneignung komplexer Sachverhalte und das Verstehen eines in sich so differenzierten Werkes wie des Alten Testaments kann nur exemplarisch geschehen. Doch braucht es auch für das exemplarische Lernen einen Orientierungsrahmen, in den Neues eingeordnet werden kann. Die Lernenden sollen auch ein Bild vom Ganzen erwerben, in dem die Details ihren Platz bekommen, von dem her sie erst richtig (oder doch in ganz bestimmter Weise) verstanden werden. Es kann in der alttestamentlichen Exegese dabei nicht darum gehen, das gründliche exegetische Detailstudium durch verkürzende Zusammenfassungen und Überblicke zu ersetzen. Doch ist die Exegese selbst genötigt, immer wieder den Rahmen für die Einzelteile des Bildes aufzuspannen und den Ort exegetischer Einzelfragen im Ganzen der Exegese und auch im Ganzen der theologischen Wissenschaft aufzuzeigen. Dies gilt erst recht im Hinblick auf die Reform des Studiums im sog. „Bologna-Prozess“, die auf Verkürzung der Studienzeit, Elementarisierung und größeren Praxisbezug zielt. Das Gesagte gilt nicht nur für Studierende der Theologie; auch Pfarrer, Religionspädagogen oder sonst am Alten Testament Interessierte können sich in der Fülle exegetischer Einzelfragen verlieren. Dies wird gefördert durch die ständige Zunahme der Hypothesenfülle, in der oft gegensätzliche Thesen zu derselben Frage vertreten werden. Auch dies ist Ausdruck eines lebendigen Diskurses und nicht in erster Linie beklagenswert. Aber es ist für den Betrachter äußerst mühevoll, so dass zumindest die Versuchung besteht, die Exegese als Spielwiese besonders Interes-
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Kanon
sierter sich selbst zu überlassen und sich für die Orientierung über die Bibel andernorts (etwa bei den Themen der Dogmatik) zu bedienen. Da aber der exegetischen Wissenschaft an der Vermittlung und Rezeption ihrer Ergebnisse über den engen Raum der Fachwelt hinaus gelegen sein muss, ist es ihre eigene Aufgabe, nicht nur Überblicksdarstellung des eigenen Fachgebietes zu veröffentlichen1, sondern immer wieder auch den inhaltlichen Gesamtzusammenhang der unter der Überschrift „Altes Testament“ versammelten Schriften aufzuzeigen, die für Juden und Christen Offenbarungsurkunden des einen Gottes sind. Es ist erneut darauf aufmerksam zu machen, dass die Exegese selbst mit ihrem methodischen Handwerkszeug, insbesondere der Redaktionsgeschichte, Kompositionszusammenhänge und damit theologische Reflexionsstrukturen sichtbar machen kann, die die alttestamentlichen Einzeltexte übergreifen bis hin zu einem kanonischen Ganzen. Damit kommt der Kanon des Alten Testaments in den Blick. Wie im Folgenden nachgezeichnet wird, ergeben sich „kanonische“ Perspektiven auf die Schriften des AT im Sinne inhaltlicher Gesamtaussagen u.a. aus redaktionsgeschichtlichen Beobachtungen. Folglich tritt die Frage nach dem Kanon nicht in Konkurrenz oder an die Stelle der Einzelexegese. Vielmehr werden gerade mithilfe von exegetischen Einzelbeobachtungen die Verknüpfungen alttestamentlicher Texte zu einem Ganzen und damit „kanonische Botschaften“ sichtbar gemacht. Dabei liegt es in der Natur dieser theologisch, literarisch und hinsichtlich der historischen Entstehungszeit so vielfältigen Schriftensammlung, dass es „kanonische Botschaften“ nur im Plural gibt. Die Reduktion aller Einzelschriften auf „die“ Botschaft „des“ Alten Testaments wäre historisch, literarisch und theologisch eine unangemessene Verkürzung. Bereits die unterschiedliche Rezeption desselben Schriftenbestands in Judentum und Christentum weist darauf hin2, und auch die unterschiedliche Kanongestalt in den christlichen Konfessionen ist ein Indiz dafür. Zumindest zwei mögliche „kanonische Perspektiven“ auf das Alte Testament sollen hier aufgezeigt werden.
2. Zwischenüberlegung: Von welchem Kanon ist die Rede? Im vorliegenden Zusammenhang ist mit der Referenz auf die Größe „Kanon“ nicht eine ganzheitliche Leseweise des AT als Alternative zur historischen Exegese inten-
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Begrüßenswert ist es, dass einige Exegeten gerade angesichts der komplexer werdenden Forschungslage eine Überblicksdarstellung gewagt haben; vgl. z.B. Gertz (Hg.), Grundinformation. Allerdings ist es für die oben geschilderte Lage bezeichnend, dass im selben Verlag ein halbes Jahr zuvor ein Buch mit derselben Intention aber anderer inhaltlicher Schwerpunktsetzung erschien; vgl. Schmitt, Arbeitsbuch. Nun hat der Leser die Wahl zwischen zwei lesbaren und lesenswerten Büchern mit zum Teil unterschiedlichen Antworten auf dieselben Fragen. Vgl. Koch, Der doppelte Ausgang, passim.
Zwischenüberlegung: Von welchem Kanon ist die Rede?
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diert.3 Auch soll nicht die komplexe und in ihren Einzelheiten bis heute nicht vollständig aufgeklärte Geschichte nachgezeichnet werden, die schließlich zum Bestand der Hebräischen Bibel führte, wie er heute z.B. in der Ausgabe der BHS vorliegt.4 Vielmehr bezeichnet der Begriff Kanon hier das Alte Testament als einen Gesamttext, der auch als solcher theologische Botschaften hat, die sich einerseits aus den einzelnen alttestamentlichen Büchern ergeben, andererseits aber selbst wieder auf die Rezeption dieser Einzelschriften zurückwirken. Dabei klingt an, dass dem Begriff Kanon immer der Aspekt des Maßgeblichen innewohnt. Denn ein Schriftenkanon ist nicht unabhängig von der Rezeptions- bzw. Glaubensgemeinschaft zu denken, deren Identität stiftender Maßstab er ist.5 Der Kanon heiliger Schriften und die Glaubensgemeinschaft, in der dieser Kanon rezipiert wird, stehen in einem reziproken Verhältnis zueinander: Einerseits entsteht der Kanon durch die dauerhafte Rezeption innerhalb einer Gruppe (und in der Regel nicht durch eine autoritative Entscheidung zur Kanonisierung bestimmter Schriften6), andererseits wird die Identität der jeweiligen Glaubensgemeinschaft durch den Bezug auf die Schriftensammlung begründet (für Christen ist dabei das Neue Testament maßgeblich mitzudenken). Dies gilt dann eben auch für das Judentum, das den Begriff Kanon für die Hebräische Bibel nicht gebraucht, sowie für die evangelische Christenheit, die keinen formalen Akt der Kanonisierung vollzogen hat. In historischer Perspektive ist davon zu reden, dass sich ein alttestamentlicher Kanon durchgesetzt hat: „Nicht die dogmatische Entscheidung machte den Kanon, sondern der Kanon rief die nachträgliche dogmatische Interpretation hervor.“7 Sodann ist zu klären, was genau unter dem Kanon des AT zu verstehen ist. Schließlich liegen mit der Hebräischen Bibel einerseits und der Septuaginta andererseits zwei Sammlungen unterschiedlichen Umfangs vor, die de facto in unterschiedlichen Glaubensgemeinschaften als kanonisches Altes Testament gelten.8 „Es 3
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Zur Diskussion verschiedener methodischer Zugänge zum Kanon des AT vgl. Reventlow, Hauptprobleme der Biblischen Theologie, 125–137; ders., ThR 70 (2005), 279–338; Oeming, Das Alte Testament als Teil des christlichen Kanons?; Dohmen/Oeming, Biblischer Kanon; Baldermann u.a. (Hg.), Zum Problem des biblischen Kanons; Barton/Wolter (Hg.), Die Einheit der Schrift; Lipps, VF 51 (2006), 41–56. 3 4 Vgl. Wanke, TRE 6, 1–8; Smend, EKL 1, 468–471; Fischer/Becker, RGG 1, 1407–1412; Kaiser, Einleitung, 403–416; Schmitt, Arbeitsbuch, 155–172, Gertz, Grundinformation, 28–33. Eine gründliche und konsistente Rekonstruktion der Entstehung des hebräischen Kanons bietet Steck, Kanon, vgl. auch ders., Abschluß. Vgl. Kooi, VF 51 (2006), 63–72. Die früher viel zitierte „Synode von Jabne“ im Judentum hat es so nie gegeben, vgl. Stemberger, Jabne, 161–174. Wanke, TRE 6, 7. In der römisch-katholischen Kirche ist 1546 auf dem Konzil von Trient mit der Vulgata der LXXKanon als verbindlich angenommen worden; während in den evangelischen Kirchen in der Folge Luthers der Umfang der Hebräischen Bibel als heilige Schrift Alten Testaments gilt, dem die sog. Apokryphen, wenn auch gut und nützlich zu lesen, so doch nicht gleich zu halten sind. Von daher ist der Umfang der hebräischen Bibel de facto der alttestamentliche Kanon der evangelischen Christenheit, wenn auch kein formaler Akt der Kanonisierung stattfand. So ist es auch kein Wun-
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Kanon
ist dabei von Vorteil, den Aspekt ‚Umfang des Kanons‘, also den Bestand an Schriften, und den Aspekt ‚Anordnung des Kanons‘, also die Reihenfolge in diesem Schriftenbestand, jeweils auseinanderzuhalten“, stellt O. H. Steck treffend fest.9 Was den Umfang des Kanons anbelangt, soll es hier um den Schriftenbestand der Hebräischen Bibel gehen. Dies liegt auch daran, dass der Verfasser dieser Zeilen als evangelischer Christ einer Rezeptions- und Glaubensgemeinschaft angehört, in der eben diese Schriftensammlung in kanonischem Rang steht. Dass heute auch unter evangelischen Alttestamentlern die sog. Apokryphen an Aufmerksamkeit gewinnen und eine alte Abwertung dieser Texte überwunden wird, ist dabei in seinem Recht völlig unbestritten.10 Die andernorts vielfach untersuchte unterschiedliche und miteinander verwobene Entstehungsgeschichte von Hebräischer Bibel und LXX braucht hier aber nicht erneut diskutiert zu werden. Dem zweiten Aspekt, der Frage der Anordnung des Kanons, soll stattdessen mehr Aufmerksamkeit gewidmet werden. Denn die Hebräische Bibel und das Alte Testament in der evangelischen Tradition, so wie es sich etwa in den Ausgaben der Lutherbibel findet, umfassen zwar dieselben Bücher, unterscheiden sich aber in der Anordnung dieser Bücher und der Zuordnung zu verschiedenen Kanonteilen deutlich. Dies beginnt schon mit der Grobgliederung in „Tora – Nebi’im – Ketubim“ einerseits und „Geschichtsbücher – Lehrbücher – Propheten“ andererseits:
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der, dass die wissenschaftliche Ausgabe der hebräischen Bibel, die Biblia Hebraica Stuttgartensia, ihrem Ursprung nach ein evangelisches Unternehmen ist. Steck, Kanon, 12. Vgl. z.B. Salzmann, Apokryphen oder die Erweiterung der Kommentarreihe ATD auf die Apokryphen.
Zwischenüberlegung: Von welchem Kanon ist die Rede?
Hebräischer Text (BHS) I. Tora Genesis Exodus Levitikus Numeri Deuteronomium
II. Nebi’im a) „Frühere Propheten“ Josua Judicum 1./2. Samuelis 1./2. Regum b) „Spätere Propheten“ Jesaja Jeremia Ezechiel „Zwölfpropheten“ III. Ketubim Psalmen Hiob Proverbia „Fünf Megillot“ (Rut; Hhld; Pred; Klgl; Ester) Daniel Esra/Nehemia 1./2. Chronica
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Lutherbibel I. Geschichtsbücher 1. – 5. Mose Josua Richter Rut 1./2. Samuel 1./2. Könige 1./2. Chronik Esra Nehemia Ester II. Schriften Hiob; Psalmen; Sprüche (Spr) Prediger (Pred) Hoheslied (Hhld)
III. Propheten Jesaja Jeremia Klagelieder (Klgl) Hesekiel (Ezechiel) Daniel „Zwölfpropheten“
Der Unterschied im Aufbau ist alles andere als nebensächlich. Luther war für den Bestand des AT bewusst der hebräischen Tradition gefolgt, man kann aber annehmen, dass er mindestens ebenso absichtsvoll bei der Reihenfolge der Kanonteile der Septuaginta gefolgt ist.11 Bereits die Reihenfolge der biblischen Schriften und die Zuordnung einzelner Schriften zu einem bestimmten Kanonteil stellt eine Leseanleitung und eine Vorstrukturierung unseres Verständnisses dar. Dies wird im AT durch eine Reihe von sprachlichen Phänomenen unterstützt, mit denen Texte und Kanonteile bewusst verknüpft und absichtsvoll aufeinander bezogen sind. Demnach ist schon die unterschiedliche Anordnung der einzelnen Schriften eines der redak11
Wobei die Vorordnung der drei „großen“ Propheten vor das Zwölfprophetenbuch im Rückgriff auf die hebräische Tradition von LXX abweicht und der Vulgata folgt.
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Kanon
tionellen Mittel, mit denen eine kanonische Botschaft oder Gesamtaussage angedeutet wird. Das Nebeneinander dieser beiden Aufbauschemata weist auf zwei unterschiedliche Konzepte einer kanonischen Theologie der Hebräischen Bibel/ des Alten Testaments hin.12 Diesen Konzepten und den damit verbundenen kanonischen Aussagen soll nun anhand einzelner alttestamentlicher Texte nachgegangen werden.
3. „Kanonische Perspektiven“ auf das Alte Testament 3.1 Mittel der Strukturierung Die Struktur, die einem Text vom Autor (oder von einem oder mehreren Redaktoren) verliehen wird, prägt nicht nur den inneren Aufbau dieses Textes, sondern bestimmt auch seine Wahrnehmung durch Leser oder Hörer. Diese Struktur, schlägt sich z.B. im Aufbau eines Textes oder durch die Bezugnahme einzelner Teiltexte aufeinander nieder, bestimmt die Art und Weise der Rezeption und wird (neben anderen syntaktischen und semantischen Aspekten) gleichsam selbst zum Teil der Botschaft des Textes. Dafür hat der Sprachphilosoph Wilhelm Köller folgendes Bild gefunden: „Ebenso wie der Maler dem Bilde dadurch eine größere innere Autonomie geben kann, daß er die Korrelation zwischen den einzelnen Bildelementen und die Korrelation zwischen den Bildelementen und den möglichen Betrachtern fest vorstrukturiert, so kann auch ein Sprachproduzent seinen Äußerungen dadurch eine größere innere Autonomie geben, daß er Korrelationsverhältnisse fest vorstrukturiert, was insbesondere in schriftlichen Äußerungen gut zu bewerkstelligen ist. […] Auf der Ebene des Textes kann er durch grammatische und stilistische Mittel Äußerungen so eindeutig als Textsorten kennzeichnen, daß sie auf eine ganz bestimmte Weise rezipiert werden können oder müssen.“13 Dies gilt prinzipiell für Texte ganz unterschiedlicher Größe, für den Zweizeiler ebenso wie für die kanonische Schriftensammlung des AT bis hin zu mehrbändigen Enzyklopädien. Die Frage ist, mit welchen Mitteln Texte in ihrem Aufbau und in ihrer Beziehung zum Rezipienten so strukturiert werden, dass eine ganz bestimmte Aussage damit intendiert ist. Wer heute einen schriftlichen Text solcherart strukturieren oder Teiltexte zu einem Ganzen verknüpfen will, dem stehen eine Reihe von konventionellen Mitteln dafür zur Verfügung. Bereits Satzzeichen gliedern Texte ja nicht rein formal, sondern verdeutlichen inhaltliche Bezüge oder stellen solche erst her. Längere Texte werden durch Überschriften gegliedert, die in ihrer genauen 12
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Innerhalb des antiken Judentums bestanden diese beiden theologischen Konzeptionen für eine gewisse Zeit gemeinsam durch das Nebeneinander von Hebräischer Bibel und LXX, vgl. Steck, Kanon, 30f. Köller, Philosophie, 159. Hervorhebungen so im Original.
„Kanonische Perspektiven“ auf das Alte Testament
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Reihenfolge durch ein numerisches System festgelegt sind. Die Überschriften werden in einem Inhaltsverzeichnis zusammengefasst, für dessen Funktionieren die Paginierung eine gewisse Rolle spielt. Zitierte Äußerungen Dritter werden durch Anführungszeichen kenntlich gemacht, und Fußnoten verweisen auf die Quellen, die alle in einem Literaturverzeichnis gesammelt werden können. Einzelne Aufsätze (oder Essays oder Kurzgeschichten oder …14) können in einem Band zusammengefasst und nach bestimmten Kriterien gegliedert werden. Ein größeres Werk eines oder mehrerer Autoren kann sich über mehrere Bände erstrecken, die durch eine Zählung in eine bestimmte Reihenfolge gebracht werden usw. Alle diese Mittel sind den durchschnittlich gebildeten Angehörigen unserer modernen Schriftkultur15, die in dieser Hinsicht international ist, vertraut. Sie werden selbstverständlich benutzt und rezipiert, ohne permanent reflektiert zu werden. Hier soll nur in Erinnerung gerufen werden, dass all diese formalen Gliederungsmittel und Strukturelemente schriftlicher Texte selbst Teil der Botschaft der Texte werden, indem sie eine ganz bestimmte Rezeption der Texte bedingen oder doch nahe legen. Im Text des Alten Testaments gibt es die meisten dieser formalen Strukturelemente nicht. Ein Inhaltsverzeichnis fehlt ebenso wie eine Paginierung oder Anführungszeichen zum Kennzeichnen von Zitaten. Dennoch sind auch die Texte des Alten Testaments strukturiert und lenken so die Rezeption ihrer Inhalte. Nur muss die Exegese die Mittel, mit denen Bezüge zwischen Einzeltexten hergestellt und so „kanonische“ Botschaften generiert werden, erst sichtbar machen, da den heutigen Lesern die altorientalischen Konventionen nicht vertraut sind. Eine ganze Reihe grammatischer und stilistischer Mittel, die solche Beziehungen inner- oder intertextuell herstellen, hat die Exegese bereits erkannt. So finden sich auch in alttestamentlichen Texten wörtliche Zitate16 oder Anspielungen auf andere Texte, gelegentlich entwickeln Texte im Zuge einer relecture oder Rekontextualisation17 durch
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Das alles gilt natürlich nicht nur für wissenschaftliche Texte, auch wenn hier das Gemeinte mit Fußnoten und Gliederungen besonders elaboriert zutage tritt. Ich beschränke mich hier ganz altmodisch auf geschriebene Texte. Dass das Internet mit all seinen Links und Suchmaschinen noch ganz andere Botschaften produziert, ist klar und zugleich ein Thema für sich. In seltenen, für den Exegeten glücklichen Fällen wird explizit auf den zitierten Ausgangstext hingewiesen, so in Jer 26,18 mit Zitat von Mi 3,12 oder in Dan 9,2, wo für die „siebzig Jahre“ immerhin ausdrücklich Jeremia (vgl. Jer 25,11f.; 29,10) genannt wird. Andere Zitate geschehen ohne Angabe eines Quelltextes und werden dann je nach Grad der Evidenz in der Literatur diskutiert, vgl. Gen 6,13 ( )ֹקץ כל־בשׂר בא לפניmit Am 8,2 ( )בא הֹקץ אל־עמי ישׂראלund dazu Smend, „Das Ende ist gekommen“, passim. A. Wagner hat jetzt darauf aufmerksam gemacht, dass eine Variante der sog. „Botenformel“, die mit kî eingeleitet wird, explizit oder implizit als Kennzeichnung eines Zitats fungiert. kî kô ’āmar-Formeln werden daher regelrecht als „Zitatformeln“ (vgl. Am 7,11) verwendet, kennzeichnen aber in jedem Fall eine „traditionsaufnehmende“ Redeweise, vgl. Wagner, Prophetie als Theologie, 153ff. 303ff. Wie die Wiederaufnahme und Neuinterpretation von Gesetzen aus dem Bundesbuch (Ex 21–23) im deuteronomischen Gesetz (Dtn 12–26), vgl. Otto, Ethik, 179f.
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spätere Autoren eine regelrechte Nachgeschichte bereits innerhalb des AT.18 Kleinere oder größere Abschnitte werden durch Inklusionen zu einer Einheit verbunden.19 Zuweilen fügen sich aufeinander folgende Texte zu konzentrischen Ringkompositionen, bei denen die Außenstellen und/oder das Zentrum besondere Aufmerksamkeit auf sich ziehen.20 Bekannt sind zudem die Verkettung mehrerer Texte oder biblischer Bücher mittels der Wiederaufnahme signifikanter Stichworte oder Wendungen („Stichwortverknüpfung“).21 In Analogie hierzu lässt sich zeigen, dass auch durch die Wiederverwendung bestimmter syntaktischer Wendungen des biblischen Hebräisch einzelne Texte aufeinander bezogen werden, ein Phänomen, das sich als „syntaktische Wiederaufnahme“ bezeichnen lässt.22 Vielfach finden sich auch Überschriften über alttestamentlichen Büchern23 oder über zusammenhängenden Textteilen.24 Oder aber Textkomplexe werden mit einem Kolophon abgeschlossen.25 Schließlich stellt auch die Reihenfolge, in der biblische Texte oder auch ganze Bücher aufeinander folgen, ein Mittel dar, mittels dessen ein bestimmtes Verständnis nahe gelegt wird. Dies alles gilt nicht nur für die einzelnen Bücher oder Teilsammlungen, sondern auch für die kano-nische Endgestalt des AT, so dass sich sozusagen eine „Textgrammatik des Kanons“26 erheben lässt.
3.2 Die Tora-orientierte Perspektive Die Hebräische Bibel stellt mit der Gliederung in die Teile Tora, Nebi’im und Ketubim ihrem Kanon die Tora bewusst als wichtigsten Teil voran, während die Septu18 19 20
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Vgl. bereits Hertzberg, Nachgeschichte, 110–121 und jetzt: Kratz, Innerbiblische Exegese, 69 mit der conclusio: „Innerbiblische Exegese und Redaktionsgeschichte biblischer Bücher sind eins“. Vgl. die Reflexion über das Gotteswort zu Beginn (Jes 40,8: )ודבר־אלהינו יֹקום לעולםund am Ende (Jes 55,11: )כן יהיה דברי אשׁר יצא מפיder deuterojesajanischen Sammlung. So z.B. der Zyklus der „Nachtgesichte“ Sacharjas: Sach 1,8–15 (A) – 2,1–-4 (B) – 2,5–9 (C) – 4,1– 14* (D) – 5,1–4 (C’) – 5,5–11 (B’) – 6,1–8 (A’), vgl. Behrens, Prophetische Visionsschilderungen, 275–291. Vgl. z.B. die Verknüpfung der im Hinblick auf Inhalt und historischen Ort ganz disparaten Abschnitte Mi 3,9–12 (Gericht gegen Jerusalem und Zion) und Mi 4,1–5 („Völkerwallfahrt zum Zion“) über die Stichworte „Zion“, „Jerusalem“, „(Tempel-)Berg“ oder auch ( ירהMi 3,11) und תורה (Mi 4,2). Vgl. den Appell des Amos an Jahwes Mitleid für „Jakob“ mit der Begründung ( כי ֹקטן הואAm 7,5 „denn klein ist er“) und dagegen das selbstbewusste Pochen Amazjas auf die menschliche Macht und Herrlichkeit Bethels in Am 7,13: „( כי מֹקדשׁ־מלך הוא ובית ממלכה הואdenn ein königliches Heiligtum ist es und ein herrschaftliches Haus ist es“). Durch dieselbe syntaktische Konstruktion wird der inhaltliche Kontrast nur umso größer: „Jakob“ erkennt die eigene Schwäche nicht, sondern pocht auf Macht und Herrlichkeit; vgl. Behrens, „Grammatik statt Ekstase!“ passim und ders., Die „syntaktische Wiederaufnahme“. Vgl. die formalisierten Überschriften über den Prophetenbüchern. Vgl. z.B. die sekundären Psalmenüberschriften oder ein Motto wie Am 3,1f., das den Buchteil Am 3–6 einleitet; vgl. Jeremias, ATD 24/2, 31. Vgl. z.B. das zweifache Nachwort zum Koheletbuch in Pred 12,9–11 und 12–14, von denen jedes das Koheletbuch in ein ganz eigenes Licht rückt, vgl. z.B. Michel, Qohelet, 168. So Anja Diesel in einer ersten Reaktion auf das hier Dargelegte.
„Kanonische Perspektiven“ auf das Alte Testament
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aginta und in ihrem Gefolge die christliche Tradition mit der Anordnung Geschichtsbücher, Schriften und Propheten im Aufbau des Kanons dem zeitlichen Ablauf von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft folgt. Diese Abfolge, die eine je unterschiedliche Leseanleitung für das Ganze darstellt, wird aber nicht nur durch die Anordnung biblischer Bücher erreicht. Vielmehr unterstützen eine Reihe von intertextuellen Bezugnahmen und Struktursignalen das jeweilige Gesamtverständnis des Kanons. Zunächst soll dies für die Tora-orientierte Perspektive der Hebräischen Bibel gezeigt werden. Wer sich auf die Suche nach Texten begibt, die eine solche kanonische Perspektive generieren, wird an den Kopf- und Schlussstellen der jeweiligen Kanonteile fündig. Der erste Blick soll dabei auf Mal 3,22–24 fallen, dem letzten Text der Nebi’im: Mal 3,22–24 22
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Gedenkt der Tora des Mose, meines Knechtes ()תורת משׁה עבדי, die ich ihm geboten habe ( )צויתיam Horeb vor ganz Israel, nämlich Satzungen und Rechtssätze. Siehe, ich sende euch Elia, den Propheten vor dem Tag Jahwes, dem großen und fürchterlichen. Und der wird das Herz der Väter zu den Söhnen bekehren und das Herz der Söhne zu den Vätern, damit ich nicht komme und schlage das Land mit dem Bann.
Diese späte Zufügung schließt nicht nur das Maleachibuch oder das Dodekapropheton, sondern den hebräischen Kanonteil Nebi’im insgesamt ab, wie W. Rudolph gezeigt hat.27 Insbesondere in V. 22 lassen sich signifikante sprachliche Rückbezüge zu Jos 1,1–2.7–8, dem ersten Text der „Propheten“ im hebräischen Kanon, ausmachen: Jos 1,1–2.7–8: 1
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Und es geschah, nachdem Mose, der Knecht Jahwes ( )משׁה עבד יהוהgestorben war, da sprach Jahwe zu Josua Ben Nun ()אל־יהושׁע בן־נון, dem Diener des Mose: „Mose, mein Knecht ( )משׁה עבדיist tot. Und nun: Steh auf und ziehe über diesen Jordan, du und dieses ganze Volk in das Land, das ich ihnen, den Kindern Israel, gebe. […] Nur: Sei fest und sehr stark, indem du darauf achtest, gemäß der ganzen Tora ( )ככל־התורהzu handeln, die Mose, mein Knecht ()משׁה עבדי, dir geboten hat
Vgl. Rudolph, KAT XIII/4, 290–293; Steck, Abschluß, 127–136; H. Graf Reventlow, ATD 25/2, 160f.
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()צוך. Weiche nicht davon ab zur Rechten oder zur Linken, damit du sie genau beachtest, wohin immer du gehst. Und lass das Buch dieser Tora nicht von deinem Munde weichen, sondern du sollst es rezitieren Tag und Nacht ()והגית בו יומם ולילה, dass du darauf achtest, entsprechend allem zu handeln, das darin geschrieben steht; dann wird dir dein Weg gelingen ( )כי־אז תצליח את־דרכךund du wirst Erfolg haben.
Mit ihren Stichwortbezügen bilden Jos 1,1–2.7–8 und Mal 3,22ff. eine inclusio, die den Kanonteil Nebi’im unter einem bestimmten Thema zusammenhält. Ebenso wie bei Mal 3,22–24 handelt es sich auch bei Jos 1 wohl um einen redaktionellen Text.28 Das ist relevant, weil so mit redaktionellen Texten eine Gesamtperspektive auf das Schriftenkorpus Nebi’im generiert wird. Inhaltlich ist diese Leseanleitung für die „früheren“ und „späteren“ Propheten durch das Stichwort „Tora“ bestimmt. Jos 1,7 mahnt das Beachten der Tora zur Eröffnung an, während Mal 3,22 die Nebi’im mit einer Erinnerung an die „Tora des Mose“ abschließt. So wird die Tora implizit zum Vorzeichen vor einer imaginären Klammer, die alle Prophetenschriften der Hebräischen Bibel umfasst: Die Propheten wollen von der Tora her und als ihre Ausleger gelesen sein. Dies wird nicht nur zu Beginn und am Schluss der Sammlung der Nebi’im thematisiert, sondern drückt sich auch in Texten innerhalb der früheren und späteren Propheten aus. So heißt es etwa in der theologischen Reflexion über den Untergang des Nordreiches in 2 Kön 17,13: 13
Aber Jahwe hatte Israel (und Juda) gewarnt durch die Hand aller seiner Propheten und aller Seher, folgendermaßen: ‚Kehrt um von euren bösen Wegen und haltet meine Gebote und Satzungen entsprechend der ganzen Tora, die ich euren Vätern geboten habe, und die ich euch durch meine Knechte, die Propheten, gesandt habe.’
Hier werden die Propheten ausdrücklich als Mahner und Vermittler der Tora verstanden. Und der Prophet Jeremia wird als ein solcher Mahner für Gottes Gesetz sozusagen „in Aktion“ vorgeführt, wenn er Jer 26,4 seinem Volk sagt: 4
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Und sage zu ihnen: So spricht Jahwe: Wenn ihr nicht auf mich hört, so dass 29 ihr in der Tora wandelt, die ich euch vorgelegt habe…
Vgl. dazu Kratz, Komposition, 198–200, der Jos 1* vor allem im Zusammenhang der deuteronomistischen Redaktion von Jos und Ri behandelt. Fasst man den Kontext weiter, so kommt dem Text auch eine kanonkompositorische Funktion zu. Dabei ist es durchaus möglich, dass Jos 1* zunächst im Rahmen einer deuteronomistischen Komposition der „erzählenden Bücher“ verfasst wurde und dass Mal 3,22 erst später daran anknüpfte. Dies gilt unbeschadet der Möglichkeit, dass Jos 1* ursprünglich nicht literarisch einheitlich ist, vgl. Fritz, HAT I/7, 26ff. Als Mal 3,22 an Jos 1,1–2.7 anknüpfte, wurde der Pentateuch vermutlich bereits als eigner Kanonteil Tora wahrgenommen, wie die folgenden Beobachtungen nahe legen. Vgl. Kaiser, Theologie 1, 333f. 337f.
„Kanonische Perspektiven“ auf das Alte Testament
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Demnach gilt auf der Ebene des kanonischen Textes: Wer die Propheten liest, wird zu allererst in die Lektüre der Tora eingewiesen. Auf Mal 3,22–24 folgt in der Hebräischen Bibel unmittelbar Ps 130: 1
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Selig der Mann, der nicht im Rat der Frevler wandelt und auf den Weg der Sünder nicht tritt und sich in der Sitzung der Spötter nicht niederlässt. Vielmehr hat er an der Tora Jahwes ( )בתורת יהוהGefallen und über seiner Tora sitzt er rezitierend Tag und Nacht ()ובתורתו יהגה יומם ולילה. Er wird nämlich sein wie ein Baum, gepflanzt an Wasserbächen, der seine Frucht bringt zu seiner Zeit und dessen Blätter nicht welken; Und alles, was er tut, gelingt ()יצליח. Nicht so die Frevler: Wahrlich, sie sind wie Spreu, die der Wind verweht. Daher werden die Frevler nicht vor Gericht bestehen oder die Sünder im Rat der Gerechten. Denn Jahwe kennt den Wandel der Gerechten, aber der Wandel der Frevler führt in die Irre.
Nach dem Gesagten fällt wiederum die Verwendung des Begriffs „Tora“ ins Auge und über dieses Stichwort Tora ist der erste Psalm mit Mal 3,22 und damit mit dem corpus propheticum insgesamt verbunden. Das unmittelbare Aufeinandertreffen und die Stichwortverknüpfung lassen an dieser Stelle des alttestamentlichen Kanons eine Art textliche „Schweißnaht“ zwischen den Teilen Nebi’im und Ketubim entstehen. Darüber hinaus finden sich auch auffallend deutliche Bezüge zwischen dem ersten Psalm und Jos 1. So ist sowohl in Ps 1,2 als auch in Jos 1,8 vom „Rezitieren der Tora bei Tag und Nacht“ die Rede und in Ps 1,3 und in Jos 1,8 wird als Folge davon „gelingen“ ( )צלחdes Geschickes des Frommen verheißen.31 Ebenso wie Mal 3,22ff. und Jos 1* ist auch Ps 1 vermutlich ein redaktioneller Text. Als Psalm ohne Überschrift und durch seine markante Stellung am Anfang steht der Text selbst gewissermaßen außerhalb des Psalters. Als Ouvertüre gibt er Thema und Tonart der gesammelten Lieder an: Die Tora wird auch hier zum hermeneutischen Generalschlüssel für die Psalmen und die übrigen Ketubim, von Jahwes Tora her sollen sie gelesen und verstanden werden. So nehmen einige Ausleger an, der erste Psalm sei als Proömium des folgenden erst geschaffen worden.32 In jedem Fall aber steht er nicht zufällig, sondern als kanonisches Strukturelement an der Kopfstelle des drit-
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Scheinbar nebensächlich, doch für den vorliegenden Zusammenhang signifikant ist die Beobachtung, dass sich in den Ausgaben der Lutherbibel von 1984 Mal 3,22ff. auf Seite 906 und Ps 1 auf Seite 553 findet, während sich beide Text in der BHS auf einer Doppelseite unmittelbar gegenüberliegen, so dass die hier aufgezeigten Beziehungen viel eher sichtbar werden. Vgl. Vgl. Hossfeld/Zenger, NEB.AT 29, 47. Vgl. Hossfeld/Zenger, NEB.AT 29, 45ff.; Seybold, HAT I/15, 1996, 28.
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ten Kanonteils. So bindet das Stichwort Tora augenfällig Ketubim und Nebi’im an dieser Stelle zusammen und zugleich an den ersten Kanonteil zurück. Aber auch von der Tora selbst werden umgekehrt Signale der Verknüpfung zu den folgenden Kanonteilen ausgesandt. Dazu sei ein Blick auf zwei Verse aus dem letzten Text der Tora, dem Bericht vom Tod des Mose in Dtn 34 geworfen: Dtn 34,9–10: 9
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Und Josua Ben Nun ( )ויהושׁע בן־נוןwurde erfüllt mit dem Geist der Weisheit, denn Mose hatte seine Hände auf ihn gelegt, und so hörten die Kinder Israel auf ihn und taten, wie Jahwe dem Mose geboten (hW:xi) hatte. Aber nie mehr stand ein Prophet (ayIbn:) in Israel auf wie Mose, der Jahwe erkannt hatte von Angesicht zu Angesicht.
Durch die Erwähnung „Josua Ben Nuns“ wird der unmittelbare Anschluss mit Jos 1 vorbereitet. Gleichzeitig fällt die Bezeichnung des Moses als nabi’, als Prophet auf. An der Nahtstelle zwischen Tora und Nebi’im wird noch einmal klar gestellt, dass keiner der folgenden Propheten die Höhe des Mose erreicht hat. Alle folgenden Propheten sind Ausleger des Gotteswillens, der durch Mose kundgegeben wurde. In Dtn 34,9 geht es um das, „was Jahwe dem Mose geboten hatte.“ Dies wird dann in Jos 1,7 zur „Tora, die Mose, mein Knecht geboten hat.“ Dieser Mose ist als unmittelbarer Kenner des Gotteswillens der größte unter allen Propheten.33 So wird über die Person des Mose auch der Kanonteil Nebi’im gegenüber der Tora depontenziert. Unter literarhistorischen Gesichtspunkten mag die hier getroffene Auswahl der Verse 9 und 10 aus Dtn 34 verwundern, denn diese werden unterschiedlichen Schichten des Textes zugeordnet. Allerdings ist die literarische Genese von Dtn 34 nicht endgültig aufgeklärt. Die ältere Exegese nahm an, dass zumindest Teile des Kapitels der Priesterschrift zuzuordnen sind34, während heute darin eher die Arbeit von Redaktoren gesehen wird, deren Werk auf den Weg zur Endgestalt des Pentateuchs oder der dtr Komposition von Gen – 2 Kön führte.35 Für die vorliegende Fragestellung ist es wichtig, dass es sich bei allen bisher behandelten Texten, Mal 3,22–24; Jos 1* Ps 1; Dtn 34*, um redaktionelle (vielleicht auch literarisch mehrschichtige) Texte handelt, die alle auch die Funktion haben, den Kanon der Hebräischen Bibel im Hinblick auf seine Rezeption unter der hermeneutischen Leitkategorie der Tora zu strukturieren. So wird die Tora zu „Mitte der Schrift“36, jedenfalls des ATs. Die Abfolge Tora – Nebi’im – Ketubim wird dann auch zu einer Hierarchie der Texte. Im Prolog des Sirachbuches scheinen nicht nur diese Kanonteile (Ketubim wohl in nicht fest definiertem Umfang), sondern auch deren Reihenfolge 33 34 35 36
Vgl. Crüsemann, Tora, 401; Gunneweg, ZAW 102 (1990), 179f. Vgl. z.B. G. v. Rad, ATD 8, 150, auch Braulik, NEB.AT 28, 246. Vgl. Gunneweg, ZAW 102 (1990) (wie Anm. 33), 179f.; Kratz, Komposition (wie Anm. 28), 113. Vgl. Kaiser, Theologie 1, 329–353.
„Kanonische Perspektiven“ auf das Alte Testament
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bekannt zu sein. Ebenso lässt sich Lk 24,44 lesen. „Es muss alles erfüllt werden, was von mir geschrieben steht im Gesetz des Mose, in den Propheten und in den Psalmen.“ Auch hier ist die Abfolge und Hierarchie der Teile der Hebräischen Bibel wohl bekannt, wenn nun auch Christus zu einem neuen hermeneutischen Schlüssel für die Lektüre wird. Insgesamt hat die Tora-orientierte Lesart der Hebräischen Bibel, wie sie die Abfolge des Kanons nahe legt und wie sie von den strukturgebenden Texten unterstrichen wird, durchaus ihre Fortsetzung bis ins Neue Testament hinein gefunden.37 So ist Christus nach dem Matthäusevangelium gekommen, das Gesetz zu erfüllen (Mt 5,17) und unterstreicht dies mit den Antithesen der Bergpredigt, die die Dekaloggebote noch verschärfen. Auch Paulus bezeichnet ja das alttestamentliche Gebot als „heilig, gerecht und gut“ (Röm 7,12).38 Allerdings ist es im Laufe der Kirchengeschichte, besonders seit der Reformation, zu manchen Einseitigkeiten und Missverständnissen gekommen39, so dass die positive Aufnahme der Tora im Neuen Testament nicht wahrgenommen wurde. Dabei gibt es diese Perspektive auf das Alte Testament im NT durchaus. Nur ist tatsächlich ein anderer hermeneutischer Schlüssel bestimmend geworden.
3.3 Die eschatologisch-messianische Perspektive Während die Tora-orientierte Lesart des hebräischen Kanons im Judentum bis heute die bestimmende ist, haben sich im Christentum andere Perspektiven auf das Alte Testament durchgesetzt. Allerdings ist schon inneralttestamentlich die Toraorientierte Perspektive nicht die einzige. Die andersartige Abfolge der Buchteile nach der Septuaginta weist schon darauf hin. Dort wird das Alte Testament in der Anordnung Geschichtsbücher, Schriften und Propheten nach einem zeitlichen Schema geordnet und im Ausblick auf eine offene Zukunft hin verstanden. Dass dabei der Pentateuch in die Gruppe der Geschichtsbücher eingereiht wird, bedeutet auch eine Gewichtsverlagerung. Die neuere Exegese findet immer mehr Hinweise dafür, dass die Komposition eines großen Geschichtswerkes von Gen – 2 Kön ge-
37 38 39
4
Vgl. Limbeck, Gesetz im Alten und Neuen Testament; Räisänen, RGG 3, 848–850, sowie die Beiträge in: „Gesetz“ als Thema Biblischer Theologie, JBTh 4, Neukirchen-Vluyn 1989. Vgl. Roloff, Neues Testament, 153–167; Stolle, Luther und Paulus, bes. 267ff. Wirksam geworden ist z.B. Bultmann, Weissagung und Erfüllung, 28–53, wonach das AT nur als negative Folie, als „Dokument des Scheiterns“ für den christlichen Glauben Bedeutung haben kann. Dabei wird das AT insgesamt zum „Gesetz“, dem das NT als „Evangelium“ gegenübertritt. Bei dieser Sicht ist aber nicht nur das Selbstverständnis des AT nicht richtig erfasst, sondern auch das, was in der lutherischen Reformation mit „Gesetz und Evangelium“ gemeint ist (Gottes doppelte Anrede an den Menschen und nicht die Bezeichnung der beiden Kanonteile), ist hier missverstanden. Vgl. Behrens, Verstehen des Glaubens, 95–99.143–147.
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Kanon
genüber der Herauslösung der Tora als eigenständiger Größe der historisch primäre Vorgang ist.40 Bei dieser Lesart erhalten im Christentum, aber auch schon bei eschatologisch gesinnten Gruppen des antiken Judentums, die Propheten ein größeres eigenes Gewicht. Sie werden Künder einer von Gott herkommenden Zukunft für die Glaubenden. Der Kanon bekommt damit ein Achtergewicht. Es lässt sich zeigen, dass auch eine solche Lesart nicht nur in der Reihenfolge der Bibelteile begründet ist, sondern dass wiederum in strukturgebenden Texten innerhalb des Alten Testaments neben die Tora-orientierte eine eschatologisch-messianische Perspektive tritt, die sich inneralttestamentlich mit exegetischen Mitteln aufzeigen lässt und woran die neutestamentlichen Autoren von ihrem Glauben an Jesus als dem Christus her anknüpfen konnten. Die Beobachtungen an einzelnen Texten setzen noch einmal im Buch Deuteronomium an. Neben der Betonung der Einzigartigkeit des Propheten Mose in Dtn 34,10 findet sich auch die Aussage von Dtn 18,15: 15
Einen Propheten ( )נביאwie mich, wird Jahwe, dein Gott dir aus der Mitte deiner Brüder erstehen lassen, den sollt ihr hören.
Dieser Satz stammt aus den sog. „Ämtergesetzen“ des Dtn (Dtn 16,18–18,22) und Mose ist dabei als Sprecher gedacht. Im unmittelbaren Kontext wird die Verheißung dann im Munde Jahwes wiederholt (V. 18). Noch einmal taucht hier in der Tora eine begriffliche Brücke zu den Propheten auf, hier als Ankündigung (je) eines kommenden nabi’.41 Begründet wird diese Verheißung mit der Bitte des Volkes Israel, es möge doch nicht der Unmittelbarkeit des Gotteskontaktes ausgesetzt sein, sondern eine Mittlerfigur, eben einen wie Mose bekommen (vgl. V. 16). Gleichzeitig ist dieser Gedanke im Prophetengesetz (Dtn 18,9–22) mit einer pauschalen Polemik gegen alle möglichen Formen divinatorischer Mantik verbunden „als Ergebnis eines langen Nachdenkens Israels über das Besondere der prophetischen Offenbarung“42. Gemeint ist hier also ursprünglich zweierlei: 1. Für Israel sollen magische Praktiken zur Erkundung des Gotteswillens tabu sein. Jahwes Volk soll auf die Propheten hören.43 2. In der Nachfolge des Mose sollen immer wieder einzelne Prophetengestalten als Mittler des Gotteskontaktes aufstehen. Vermutlich ist demnach nicht ein 40
41 42 43
Vgl. Gertz, Grundinformation, 193f. Dabei gilt grundsätzlich: „Die Ausgliederung der Tora aus dem Ganzen des Geschichtswerks ist im Blick auf den alttestamentlichen Kanon durchaus sachgemäß und auch nicht ohne Anhalt am Text“ (193). Der Begriff ist im Pentateuch selten und begegnet nur Gen 20,7; Ex 7,1; Num 11,29; 12,6, Dtn 13,2.4.6; 18,15.18.20.22 und 34,10; vgl. Perlitt, EvTh 31 (1971), 588–608. Rad, ATD 8, 88. Wie sich die dtr Theologie diese Propheten konkret vorstellt, ist an den Prophetengeschichten der Samuel- und Königsbücher abzulesen. Die Geschichte Micha Ben Jimlas in 1 Kön 22 kann geradezu als narrative Illustration von Dtn 18,9–22 gelesen werden, vgl. Behrens, Prophetische Visionsschilderungen, 169–174.
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bestimmter Nachfolger des Mose gemeint, sondern eine Reihe, die bereits mit Josua ihren Anfang nimmt. Aber zumindest auf der Ebene der kanonischen Endgestalt des Pentateuchs ergibt sich aus dem Nebeneinander von Dtn 18,15 und 34,10 eine Spannung44 und damit ein weiterer Textsinn: Wenn man sagen kann, es sei nie wieder ein Prophet wie Mose aufgestanden in Israel, ergibt sich die Frage, wie es mit dem Einlösen des Versprechens steht, dass ein Prophet wie Mose kommen soll. An was für eine Art Prophet ist dabei gedacht, wenn selbst Jesaja oder Jeremia offenbar dieser Erwartung nicht entsprechen? Hier wird eine berühmte Aussage Gerhard von Rads nachvollziehbar: „Wohl, das Alte Testament lässt sich nicht anders lesen als das Buch einer ständig wachsenden Erwartung.“45 Ungeachtet eines ursprünglichen historischen Textsinnes wird in wirkungsgeschichtlicher Perspektive Dtn 18,15 als Ankündigung einer ganz einzigartigen eschatologischen Mittlergestalt verstanden, eines „Moses redivivus“, der schließlich messianische Züge annimmt.46 Der kontrastreiche Zusammenklang von Dtn 18,15 mit Dtn 34,10 erzeugt eine produktive Spannung: Dtn 34,10 führt nicht nur zu einer Überordnung der Tora über die Nebi’im, sondern lässt gleichzeitig Dtn 18,15 als uneingelöste Verheißung erscheinen und weckt so am Ende des Pentateuch eine eschatologisch-messianische Erwartung.47 Das NT knüpft an solche Erwartungen an mit Sätzen wie Joh 6,14: „Als nun die Menschen das Zeichen sahen, das Jesus tat, sprachen sie: Das ist wahrlich der Prophet, der in die Welt kommen soll“ (vgl. auch Joh 7,40; Act 3,22; 7,37).48 Ergibt sich die Erwartung eines kommenden (vielleicht „messianisch“ zu verstehenden) „Moses redivivus“ am Ende des Pentateuch implizit aus dem Nebeneinander von Dtn 18,15 und 34,10, so liegen in den folgenden Geschichtsbüchern die Wurzeln einer „Messiaserwartung“ im eigentlichen Sinne. Die Bezeichnung des Königs als „Gesalbter“ ( ;משׁיחvgl. 1 Sam 26,16 u.ö.) bzw. „Gesalbter Jahwes“ ( משׁיח )יהוהstellt die Terminologie49, während ein Text wie die Nathanverheißung in 2 Sam 750 die Hoffnung auf einen kommenden Herrscher auch nach dem Ende des judäischen Königtums aus sich entlässt.51 Die messianische Perspektive entfaltet zu Beginn des Psalters auch der zweite Psalm. 44 45 46 47
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Vgl. Gunneweg, ZAW 102 (1990), 180, der in Dtn 34,10 eine Korrektur von Dtn 18,15.18 sieht. Rad, Theologie II, 339. Vgl. Rad, ATD 8 (wie Anm. 34), 88f. und Kaiser, Theologie 1, 219f. mit Anm. 28. Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang auch Dtn 34,9. Dort heißt es, Josua sei mit dem „Geist der Weisheit“ ( )רוח חכמהbegabt worden. Diese seltene Wortverbindung findet sich sonst nur noch in Ex 28,3 und Jes 11,2. In der letztgenannten Stelle ist der „Geist der Weisheit“ Kennzeichen des kommenden (messianischen) Herrschers. 4 Vgl. Kraus, RGG 5, 1538f. 4 Vgl. Waschke, RGG 5, 1144–1145; Kaiser, Theologie 3, 175ff. Vgl. Dietrich/Naumann, Die Samuelbücher, 143–156; Kaiser, Theologie 3, 177f. 4 Vgl. schon die Schilderung Josias in 2 Kön 22f. als „David redivivus“ (Otto, RGG 4, 587–589, 588) oder die Hoffnung auf Erneuerung des Königtums durch Serubbabel in Hag 3 (vgl. auch Sach 4), vgl. Kaiser, Theologie 3, 183ff.
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Psalm 2 1 2
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Wozu sind die Nationen unruhig und die Völker murren vergeblich? Die Könige der Erde stehen auf und die Würdenträger halten Rat miteinander gegen Jahwe und gegen seinen Gesalbten ()ועל־משׁיחו. „Lasst uns ihre Fesseln zerreißen und ihre Stricke von uns abwerfen!“ Der im Himmel wohnt, lacht; der Herr verspottet sie. Dann spricht er zu ihnen in seinem Zorn und in seiner Glut erschreckt er sie: „Aber ich habe meinen König eingesetzt auf dem Zion, dem Berg meiner Heiligkeit“ Ich will erzählen die Satzung Jahwes: zu mir hat er gesagt: Mein Sohn bist du, 53 hiermit gebäre ich dich. Erbitte es von mir, so will ich dir die Völker als dein Erbe geben; und zu deinem Besitz die Enden der Erde. Du sollst sie brechen mit eisernem Zepter; wie Gefäße eines Töpfers sollst du sie zerschlagen. Und jetzt, Könige, habt Einsicht; seid gewarnt, ihr Richter auf Erden. Dienet Jahwe mit Furcht; und jauchzt mit Zittern! 54 Küsst den Sohn , damit er nicht zürnt und ihr umkommt auf dem Weg, denn sein Zorn entbrennt leicht; Selig alle, die bei ihm Zuflucht suchen.
Der Text spiegelt vermutlich eine vorexilische Liturgie zur Inthronisation des judäischen Königs.55 Der Gesalbte des Herrn auf dem Thron Davids wird als Sohn Gottes apostrophiert und als Weltenherrscher stilisiert. Dabei wird der Psalm auch noch nach dem realen Ende der davidischen Dynastie im 6. Jh. überliefert und gebetet und hält so die Hoffnung auf die Erfüllung der Nathanverheißung (2 Sam 7) wach. 52 53 54
55
Nicht: „Warum?“, vgl. D. Michel, „Warum“ und „Wozu“?, 13–34. Zur Übersetzung dieses Satzes als explizit performativen, deklarativen Sprechakt vgl. Wagner, Sprechakte, 105. Vielleicht auch nach Umstellung von V. 12aα und 11b: „Küsst seine Füße mit Zittern“, vgl. Apparat der BHS. Interessant im Sinne des masoretischen Textes ist allerdings die Verbindung von Salbung und Kuss in 1 Sam 10,1. Vgl. so schon Rad, Das judäische Königsritual, 205–213. Im vorliegenden Zusammenhang spielt es keine Rolle, ob Ps 2 ein einheitlicher Text aus vorexilischer Zeit ist, oder ob Zitate aus einem alten Königsprotokoll nachexilisch in einen neuen Kontext (schon die Psalmensammlung?) eingebaut wurden, vgl. Seybold, HAT I/15, 31; Hossfeld/Zenger, NEB.AT 29, 50f.; Kaiser, Theologie 3, 207ff. mit Anm. 162 (Lit.).
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Im Zuge der Überlieferungsgeschichte wird aus dem König immer mehr der „Messias“ im Sinne eines eschatologischen Herrschers, von Jahwe selbst eingesetzt. So wird der Psalm implizit auch zu einem „Davidpsalm“ und stellt die folgende erste Sammlung der Davidpsalmen 3–41 in eine messianische Interpretationslinie. Darüber hinaus wird Ps 2 zu einem kanonischen Strukturelement für den ganzen Psalter und auch für die „Schriften“ insgesamt. Ebenso wie Ps 1 fehlt dem zweiten Psalm eine Überschrift. Außerdem verbinden eine Reihe von Stichwortverknüpfung die beiden ersten Texte des Psalters miteinander: Je ein Makarismus ( )אשׁריin Ps 1 und Ps 2,12b binden als inclusio beide Texte zusammen. Die Verwendung des Verbs הגהin Ps 1,2 (Rezitieren der Tora) und Ps 2,1 (Murren der Völker) stellt einen kontrastierenden Bezug her, während in Ps 1,6 und Ps 2,12 je mit derselben Begrifflichkeit vom Untergehen des Weges ( )אבד דרךder Feinde Gottes die Rede ist. So werden die beiden Texte zu einem doppelten Proömium des Psalters verknüpft.56 Neben die eine kanonische Gesamtperspektive, der Beachtung der Tora, tritt nun die zweite: Auch im Hinblick auf die Erwartung des Messias soll der Kanon, bzw. der Kanonteil „Schriften“ verstanden werden.57 Dabei geht es im Hinblick auf diese beiden möglichen Lesarten nicht um ein „Entweder-oder“, sondern auch der „Gesalbte“, der als Sohn Gottes die Herrschaft antritt, übt diese Herrschaft mittels der Tora aus. Jedenfalls legen textliche Bezüge zwischen Ps 2 und Jos 1,7–8 ein solches Verständnis nahe.58 Dies ist auch das Christusbild des Matthäusevangeliums: Jesus ist als „Davidssohn“ (Mt 1,1–14) zugleich der, der das Gesetz erfüllt (Mt 5–7). In den gemeinhin als „messianische Weissagungen“ bezeichneten Texten der alttestamentlichen Prophetenbücher findet sich der Titel ;משׁיחzwar nicht. Dennoch profilieren diese Abschnitte (u.a. Jes 9,1–6; 11,1–10; Jer 23,5f.; Mi 5,1–5; Sach 9,9f.)59 die Erwartung des kommenden, von Gott gesandten Herrschers und prägen auf diese Weise das Bild der Propheten als dessen Vorhersager.60 Einerseits bleiben Anklagen und Heilsworte der Propheten für die Nachgeborenen aktuell und sie werden als Ausleger der Tora verstanden. Darüber hinaus prägt aber anderer56 57
58 59
60
Vgl. Hossfeld/Zenger, NEB.AT 29, 50. So sind verschiedene Königslieder in messianischer Deutung als Kompositionssignale bewusst an redaktionellen Schlüsselstellen über den Psalter verteilt: „Für die Ausbildung der messianischen Vorstellung in diesem Überlieferungsbereich ist entscheidend, daß die Königslieder nicht zufällig bewahrt, sondern redaktionell ganz bewusst im Psalter platziert worden sind. Sie stehen am Anfang bzw. am Schluß von größeren und kleineren Psalmensammlungen. Die Psalmen 2; 72 und 89 4 bilden einen Rahmen um die drei ersten Psalmenbücher […]“ (Waschke, RGG 5, 1145). Vgl. Hossfeld/Zenger, NEB.AT 29, 54 zur Verwendung von שׂכלhi in Ps 2,10 und Jos 1,7f., sowie Steck, Kanon, 23f. mit Anm. 35 (!). 4 Vgl. Waschke, RGG 5, 1145f., Kaiser, Theologie 3, 188–207, sowie die motivgeschichtliche Lesart dieser Texte bei Schmidt, Ohnmacht, 154–170; Behrens, Theologische Reflexionsgeschichte [in diesem Band]. Die Schriftensammlung Nebi’im nimmt „den der Tora vergleichbaren Rang eschatologischer Leitüberlieferung ein und hat in ihren Trägerkreisen zunächst wohl auch gegenüber der Tora de facto vorrangige Bedeutung“ (Steck, Kanon , 20).
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Kanon
seits die Ankündigung des „Friedefürsten“ (Jes 9,5), der den Namen „Jahwe unsere Gerechtigkeit“ (Jer 23,5f.) wirklich verdient, das Bild der Propheten und der Bücher, die mit ihrem Namen verbunden sind. Ihre Botschaft ist zumindest auch auf die Zukunft des Gottesvolkes hin offen, und so kommen sie in der Septuaginta am Ende des Kanons zu stehen. In dieser eschatologisch-messianischen Perspektive endet der Prophetenkanon schon in der Hebräischen Bibel mit dem bereits betrachteten Text Mal 3,22–24. Dort wird ja nicht nur das Halten der „Tora des Mose“ ( תורת משׁהV. 22) eingeschärft. Vielmehr wird auch das Kommen von „Elia, dem Propheten“ (אליה הנביא V. 23) verheißen als Vorbote eines schrecklichen „Tages Jahwes“. Elia wird die Generationen in Israel vereinen, und im jetzigen Kontext besteht die Einigkeit wohl in der Beachtung der Tora des Mose. Da der Prophet Elia des 9. Jh.s nach 2 Kön 2,1–15 nicht starb, sondern in den Himmel auffuhr, eignet er sich besonders für die Vorstellung vom kommenden Propheten. In der jüdischen Tradition wird er dann in Aufnahme von Mal 3,23f. u.a. zum Vorboten des Messias.61 Im AT ist die Verknüpfung von „Mose“ und dem „Propheten Elia“ in einem so engen Kontext wie Mal 3,22–24 singulär. Rudolph vermutet für diese Verbindung einen Rückgriff (und damit eine Reinterpretation) auf Dtn 18,15.18.62 So findet sich neben der Tora-orientierten kanonischen Lesart eine zweite Strukturierung des Kanons durch die Texte Dtn 18,15 (im Kontrast zu Dtn 34,10), Ps 2 und Mal 3,23f. Diese geben dem alttestamentlichen Kanon (in Verbindung mit den Verheißungen für das Königshaus Davids in den Samuel- und Königsbüchern, messianisch interpretierten Königspsalmen und den „messianischen Weissagungen“ der Schriftpropheten) eine eschatologisch-messianische Gesamtperspektive. Die Anordnung der alttestamentlichen Schriften nach dem Schema Vergangenheit – Gegenwart – Zukunft unterstützt diese Leseweise. Dabei ist zu beachten, dass dies keineswegs erst oder ausschließlich eine christliche Lesart ist, sondern dass auch eschatologisch orientierte Kreise des Judentums, wie etwa die Pharisäer, die Sammlung ihrer heiligen Schriften unter diesem Vorzeichen wahrgenommen haben.63 Allerdings hat das Christentum in seiner Wahrnehmung des AT gerade diese eschatologisch-messianische Gesamtperspektive mit Christus als Fluchtpunkt besonders stark gemacht. Hier sei beispielhaft noch einmal an Luthers Entscheidung erinnert, den alttestamentlichen Kanon im Gefolge der Septuaginta und der Vulgata mit dem corpus propheticum enden zu lassen. So wird Mal 3,22–24 zum letzten Text des AT, der durch das Matthäusevangelium fortgeführt wird, wobei sich in der christlichen Bibel eine weitere textliche „Schweißnaht“ zwischen Mal 3 und dem Matthäusevangelium ergibt. Der Evangelist Matthäus identifiziert Johannes den Täufer explizit mit dem verheißenen Elia (vgl. Mt 11,14; 17,11ff,). Damit wird die 61 62 63
4
Vgl. Necker, RGG 2, 1211 mit Verweis auf bSan 98a. Vgl. Rudolph, KAT XIII/4, 292. Vgl. Wanke, TRE 6, 4ff.; Steck, Kanon, 21f.; Kaiser, Theologie 1, 26–29.
Methodische und hermeneutische Schlusserwägungen
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Ankündigung am Ende des Maleachibuches unmittelbar durch die Jesusgeschichte fortgesetzt.64 Zudem findet sich die in Mal 3,22–24 signifikante Verbindung von Mose und Elia in der Trias Mose, Elia und Jesus in der Verklärungsgeschichte wieder (Mt 17,1–13 // Mk 9,2–1365 // Lk 9,28–36).
4. Methodische und hermeneutische Schlusserwägungen Nach diesem zweifachen kanonischen Blick durch die Schriftensammlung, die als Altes Testament den ersten Teil der christlichen Bibel bildet, sind zwei wichtige Bemerkungen zu ergänzen: Erstens stellen die Tora-orientierte und die eschatologisch-messianische Perspektive auf den Kanon insgesamt keine sich ausschließenden Alternativen dar. In der Vorstellung vom Propheten Elia, der vor dem Tag des Herrn das Volk Israel dadurch einigen wird, dass er eben die Tora des Mose lehrt (vgl. Mal 3,22–24), kommt beides zusammen. Ebenso wird auch im NT, z.B. bei Matthäus, Christus als Davidssohn geschildert und damit als Erfüllung alttestamentlicher Herrscherverheißungen und zugleich als Lehrer des Gesetzes und als dessen Erfüllung (vgl. Röm 10,4). Ebenso lassen sich weder die Tora als eine nur jüdische Leseanleitung für die Hebräische Bibel, noch die Messiaserwartung als nur für einen christlichen Kanon relevant bezeichnen, wenn auch beide Glaubensgemeinschaften den Kanon mit unterschiedlichem Schwerpunkt rezipieren und es in der Rezeption de facto zu verschiedenen canones kommt.66 Zweitens ist zu den dargelegten kanonischen Leseweisen des Alten Testaments zu betonen, dass es sich eben um Perspektiven und damit um Überblicke handelt. Ein solcher Überblick ist immer in der Gefahr, die Einzeltexte mit ihrem eigenen Aussagegehalt aus dem Blick zu verlieren. Auch wenn man sich eine (oder beide) kanonische(n) Leseanleitung(en) für das AT im Sinne einer Systematisierung dienen lässt, so bleiben doch viele Einzeltexte, die weder die Tora einprägen, noch auf das eschatologische und/oder messianische Handeln Gottes hinweisen wollen. 64
65 66
Das Attribut „unmittelbar“ gilt dabei für die katholische Tradition, wie sie etwa die Einheitsübersetzung repräsentiert, und für die evangelische (Luther)Bibel ohne Apokryphen. Dass die Apokryphen, bzw. die deuterokanonischen Texte des AT, sowie ein gut Teil der zwischentestamentarischen apokalyptischen Schriften in religionshistorischer und theologiegeschichtlicher Hinsicht oft zwischen alt- und neutestamentlichen Vorstellungen das „missing link“ darstellen und daher für ein historisch-kritisches Verständnis mancher Gedanken im NT unverzichtbar sind, ist dabei völlig unbestritten. Allerdings sei hier noch einmal auf die Bedeutung des Kanons durch die Rezeption in der Glaubensgemeinschaft erinnert. Die Bibel Alten und Neuen Testaments, wie sie in den christlichen Kirche de facto in Gebrauch ist, bedingt durch den Aufbau, der sich durchgesetzt hat, eine bestimmte Leseweise. Diese hat Vorläufer in den Prozessen, die bereits inneralttestamentlich zu einer Kanonisierung mittels bestimmter strukturgebender und damit interpretierender Text geführt hatten. Vgl. insbesondere in Mk 9,7 parr. die Anspielung auf Ps 2,7 („Das ist mein lieber Sohn …“) und Dtn 18,15b („… den sollt ihr hören“), sowie die explizite Bezugnahme auf Mal 3,23 in Mk 9,11f. Vgl. Zenger, Einleitung, 11–33.
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Kanon
Kohelet oder Canticum sind dafür nur besonders sinnfällige Beispiele, und die „Nachworte“ in Pred 12 oder die allegorische Deutung der Liebeslyrik in Cant auf Gott und sein Volk sind Hinweise, dass hier schon früh biblische Texte im Sinne eines Gesamtverständnisses „passend“ gemacht werden sollten (aber nur so sind sie „biblisch“ geworden). Eine kanonische Zugangsweise zu den alttestamentlichen Schriften soll und darf die Komplexität der Aussagen nicht unangemessen reduzieren. Es ist ja gerade die Aufgabe der Exegese, die Einzeltexte mit ihrem historischen Textsinn gegenüber einer vereinnahmenden Integration in ein theologisches System zu ihrem Recht kommen zu lassen. Exegese selbst vollzieht sich dabei nie ohne Kontext, sondern ist Teil einer durch den Kanon konstituierten und einen bestimmten Kanon rezipierenden Interpretationsgemeinschaft. Davon kann sich der einzelne Ausleger nicht dispensieren, es ist Teil seiner unablegbaren Verstehensvoraussetzungen. Aber dieser eigene Standort muss immer wieder offen gelegt und kritisch reflektiert werden. Zudem erhellt die Exegese mit ihren eigenen methodischen Mitteln durch das Herausarbeiten von redaktionellen Schlüsseltexten den Kanonisierungsprozess und ein in diesem Prozess zutage tretendes und aus ihm resultierendes Gesamtverständnis und treibt so auch bei Darstellung kanonischer Perspektiven ihr ureigenstes Geschäft. Eilert Herms hat darauf hingewiesen, dass die Frage nach einer Theologie des (christlichen) Kanons in vier unterschiedlichen Horizonten zu stellen ist, die sich wie konzentrische Kreise zueinander verhalten67: Im Horizont der alt- oder neutestamentlichen Exegese, der biblischen Theologie, der christlichen Theologie und schließlich „im Horizont des gegenwärtig kirchlich organisierten christlichen Gesamtlebens im ganzen und der Frage nach dessen Grundorientierung.“68 Während Herms für seine weiterführenden Überlegungen den letzten als weitesten und „praktisch wichtigsten“69 Horizont wählt, blieben die hier dargelegten Sachverhalte zunächst im Bereich der alttestamentlichen Exegese. Zugleich aber weitet sich der Blick mit der Frage nach dem Kanon ausgehend von der Exegese einzelner Texte notwendigerweise in Richtung auf die Bibel insgesamt, das Ganze der Theologie und die christliche Kirche als durch den Kanon konstituierte Rezeptions- und Glaubensgemeinschaft, als deren Teil die alttestamentliche Exegese eben kein „religionsgeschichtliches Museum“70 sein will. Da, wo im Blick von „außen“ auf die Einzelheiten der Exegese des AT, der Gesamtzusammenhang für den Betrachter nicht klar scheint, kann das Erheben von kanonischen Perspektiven einerseits der Orientierung dienen und andererseits erneut den Nutzen detaillierter Einzelexegese in Erinnerung rufen; denn ohne das genaue Wahrnehmen der Einzeltexte ergibt sich eine Gesamtperspektive nicht, oder muss doch von außen als fremdes Schema an die Bibel herangetragen werden. 67 68 69 70
Vgl. Herms, Was haben wir an der Bibel?, 99–152. Herms, Was haben wir an der Bibel?, 99. Herms, Was haben wir an der Bibel?, 99. Herms, Was haben wir an der Bibel?, 106.
Methodische und hermeneutische Schlusserwägungen
43
Nur wo die Teile mit allen Einzelheiten genau wahrgenommen werden, kann das ganze Bild am Ende so gesehen werden, dass sein Motiv dem Betrachter deutlich vor Augen steht. So ist eine kanonische Perspektive als Zutat zur oder anstelle von der zuweilen mühevollen Exegese en detail eine Illusion. Als Frucht der Exegese aber ist das kanonisch gelesene ganze Alte Testament mehr als die Summe seiner Teile.71 Aus dem Dargelegten folgt notwendigerweise, dass jede Exegetin und jeder Exeget sich selbst und anderen immer wieder Rechenschaft über den eigenen Standpunkt und den Ort innerhalb der je eigenen Glaubens- und Rezeptionsgemeinschaft gibt. Dieser Aspekt hermeneutischer Reflexion ist unabdingbar, solange Exegese der Bibel als eine theologische und nicht ausschließlich als eine historische Disziplin betrieben wird. In dieser Hinsicht sei abschließend auf einen Aspekt der 2006 erschienen „Bibel in gerechter Sprache“72 hingewiesen, der in der vielfältigen Diskussion um dieses Projekt sicher nicht im Mittelpunkt stehen wird und doch Beachtung verdient. Gemeint ist die Anordnung der biblischen Bücher im Alten Testament. Die folgt in dieser Übersetzung der Hebräischen Bibel und benennt bereits im Inhaltverzeichnis die Kanonteile mit den „hebräischen“ Vokabeln „Tora“, „Neviim“ und „Ketuvim“.73 Folgerichtig wird der erste Teil des Kanons insgesamt nicht nur als „Altes Testament“, sondern gleich berechtigt auch als „Hebräische Bibel“ überschrieben. In seiner Eigenschaft als Mitherausgeber führt Frank Crüsemann hierin ein: „Die verschiedenen Bezeichnungen des ersten Teils der christlichen Bibel spiegeln das Ringen um Rang und Bedeutung dieser Schriften für den christlichen Glauben wider. ‚Hebräische Bibel’ ist ein neutraler und recht genauer Ausdruck, denn Luther und die Reformation haben sich hinsichtlich Zahl und Umfang der Bücher an die jüdische Bibel angeschlossen, unsere Übersetzung tut dies nun auch hinsichtlich ihrer Anordnung.“74 Dies legt nahe, dass die Anordnung der alttestamentlichen Kanonteile nach der jüdischen Tradition geradezu eine Konsequenz, vielleicht gar eine logische Folge sei aus der Entscheidung des Reformators, für die Übersetzung des ATs auf den hebräischen Text zurück zu greifen. Dies ist aber nach den obigen Ausführungen keineswegs so! Zwar werden mit der Anordnung, wie sie die „Bibel in gerechter Sprache“ bietet, die Textbezüge in einer Tora-orientieren Lesart deutlicher75, dafür treten aber diejenigen, die eine messianisch-eschatologische Perspek71
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Dann ist der im Einzelnen immer anfechtbare und kritisch zu diskutierende Versuch einer gesamtbiblischen Theologie immer neu zu wagen. Vgl. jüngst z.B. Grünwaldt, Gott und sein Volk, passim. Vgl. Bibel in gerechter Sprache. Vgl. Bibel in gerechter Sprache,6f. Bibel in gerechter Sprache, 27; vgl. a.a.O., 13. So folgt z.B. der erste Psalm auf Mal 3. Allerdings wird eine unmittelbare Einsicht in die Textbezüge dadurch erschwert, dass in Mal 3,22 von der „Tora des Mose“ die Rede ist, während in Ps 1,2 dasselbe hebräische Wort mit „Weisung“ wiedergegeben wird. Ähnliches gilt für die unterschiedliche Übersetzung von משׁה עבדיdurch „Mose, der für mich arbeitet“ (Mal 3,22) und „Mose, des
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Kanon
tive befördern, zurück. Somit wird eine Aneignung des gesamten Alten Testaments vornehmlich im Sinne einer Auslegung der Tora nahe gelegt.76 Für die Rezeption des Alten Testaments innerhalb der Christenheit bedeutet dies ein novum oder doch eine deutliche Akzentverschiebung, so dass die „Bibel in gerechter Sprache“, was die Kanongestalt anbelangt, hermeneutisch und theologisch eigentümlich ortlos erscheint. Auch in dieser Hinsicht wird mit diesem ambitionierten Projekt in ein kritisches Gespräch einzutreten sein.
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Vertrauten Adonajs“ (Jos 1,1). Erst über Anmerkungen am inneren Rand des Textes können sich die Leserin und der Leser den je gleich lautenden Urtext und damit die intertextuellen Bezugnahmen erschließen. Vgl. Bibel in gerechter Sprache, 29: „Der Pentateuch ist historisch wie sachlich das Fundament der gesamten Bibel, auf dem alles Weitere aufbaut.“ Dies gilt für die Übersetzerinnen und Übersetzer der „Bibel in gerechter Sprache“ teilweise auch für das Neue Testament, wie die Wiedergabe des griechischen Wortes nomos mit „Tora“ nahe legt (so in Joh 1,18 oder Röm 3,28).
Theologische Reflexionsgeschichte Schritte auf dem Weg zu einer Hermeneutik des Alten Testaments 1. Hermeneutik Irgendwann im Wintersemester 1990/91 herrschte auf den Gängen des Studentenwohnheims der Lutherischen Theologischen Hochschule in Oberursel der übliche hektische Betrieb. Alle wollten vor der nächsten Vorlesung „noch eben schnell“ Frühstücken oder wenigstens einen Kaffee trinken. Auf dem Schreibtisch hinterließ man das übliche Gekrümel und Papierchaos, und dann gings los; in Gruppen strömten wir einer bestimmten Veranstaltung zu. Da begegnete uns der Kommilitone H. auf dem Gang, und in seinem Gesicht stand Irritation geschrieben. In seinem sorgfältig ausgetüftelten Stundenplan aus Pflichtveranstaltungen war die folgende Stunde als „frei“ gekennzeichnet. Wo also wollten wir hin, wenn uns doch keine Studienordnung zum Besuch der nun stattfindenden Vorlesung zwang? Wir konnten den Kommilitonen H. beruhigen: Eine Pflicht zur Teilnahme bestand in der Tat nicht. Uns andere aber interessierte, was da angeboten wurde, ja wir waren von dem Thema regelrecht umgetrieben: Hartmut Günther las „Hermeneutische Entwürfe seit 1950“, und die Veranstaltung gipfelte sozusagen in einer Art „hermeneutischen Wettstreit“: Günther und der Heidelberger Neutestamentler Klaus Berger legten nacheinander dieselbe neutestamentliche Perikope nach je eigenen hermeneutischen Grundsätzen aus und traten dann in eine lebhafte Diskussion unter Beteiligung der Oberurseler Studierendenschaft ein. Spätestens da hat mich die Frage des Schriftverständnisses als eines der zentralen Themen der evangelischen Theologie gepackt und seither nicht mehr losgelassen. Eigene Überlegungen zu einem Teilbereich der Hermeneutik widme ich daher hier gern meinem verehrten Lehrer Hartmut Günther zum 70. Geburtstag! Hermeneutik – das war für geraume Zeit in der deutschen evangelischen Theologie der Nachkriegszeit eine Art Zauberwort. Zum einen, weil es zeitweilig so schien, als ließe sich in dem Begriff Hermeneutik die Sache der Theologie als solche auf den Punkt bringen. Wenn es in der Theologie vornehmlich um das Verstehen geht, um das Verstehen von Texten aber auch um das Verstehen von Welt und das Selbstverständnis des Menschen unter den Bedingungen des Zum-Glaubengekommen-seins oder aber des Nicht-glaubens, dann bietet sich die Lehre vom Verstehen, die Hermeneutik, als eine Art theologische Metadisziplin an.1 Anders gesagt: „Wenn Theologie heißt, das Wort Gottes, wie es in der Bibel niedergelegt ist, 1
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Zu der Bedeutung der Hermeneutik in der neueren ev. Theologie vgl. grundlegend: Ebeling, RGG 3, 242–262, bes. 256ff.; Bormann, TRE 15, 108–137, bes. 127ff.
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gegenwärtig zu verkünden, so wird Hermeneutik die zentrale Aufgabe der Theologie.“2 Zum anderen schien Hermeneutik für die Theologie der Schlüssel zu sein, der ihr endgültig die Tür zu den anderen geisteswissenschaftlichen Disziplinen, insbesondere der Philosophie, aufschloß. Denn auch in der Philosophie gab es in diesem Jahrhundert ja umfangreiche und bedeutende Bemühungen um die Hermeneutik, und Beziehungen (ja Abhängigkeiten) der sog. hermeneutischen Theologie zu diesen philosophischen Ansätzen sind unübersehbar.3 Inzwischen ist es in der Theologie um den Begriff der Hermeneutik wieder etwas stiller geworden. Das mag auch daran liegen, dass unter Hermeneutik nicht ein eindeutiges Ganzes zu verstehen ist. Die Sache der Hermeneutik und des Verstehens wird heute sehr viel differenzierter betrachtet als noch vor 30 Jahren. „Insgesamt ist die Bedeutung und Diskussion von Hermeneutik in der Theologie, wo sie doch einmal ihr wichtigstes Aufgabenfeld gefunden hatte, gering geworden bzw. verstummt.“4 Dennoch ist eine Beschäftigung der Theologie mit der Hermeneutik auch weiterhin unabdingbar. Denn: Verstehen ist und bleibt die Aufgabe der Theologie, methodisch nachvollziehbares und intersubjektiv vermittelbares Verstehen – mithin also ein Verstehbar-machen – ist Aufgabe von wissenschaftlicher Theologie. Vielleicht liegt in einer solchen (hermeneutischen) Besinnung auf die Grundbedingungen theologischen Arbeitens die Chance, eine Basis für die fruchtbare Zusammenarbeit aller theologischer Teildisziplinen auf ein Ganzes hin zu gewinnen – bei aller notwendigen Differenzierung.
2. Alttestamentliche Hermeneutik und Geschichte Um das Thema Hermeneutik aber nicht in seiner ganzen Unübersichtlichkeit stehen zu lassen, beschränke ich mich im Folgenden auf die Frage einer Hermeneutik des Alten Testaments. Mit Hermeneutik lässt sich hier das Bemühen der wissenschaftlichen Exegese des Alten Testaments bezeichnen, die Ergebnisse ihrer vornehmlich auf ein historisches Erklären gerichteten Methodenschritte für ein Verstehen und ein Verstehbar-machen des Alten Testements im Gesamtzusammenhang der christlichen Theologie fruchtbar zu machen. Spricht man also im Rahmen alttestamentlichen Exegese als einem Teilbereich der christlichen Theologie von Hermeneutik, so geht es eigentlich immer darum, inwieweit das AT Teil des christlichen Kanons ist, wie sein Verhältnis zum Neuen Testament zu bestimmen ist und 2 3
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Bormann, TRE 15, 127. Hier braucht nur an die Aufnahme und Verarbeitung der Hermeneutik Martin Heideggers durch Rudolf Bultmann erinnert zu werden (vgl. Bormann, TRE 15, 127f.). Eine ähnliche Bedeutung kommt auch Hans-Georg Gadamer zu. So berichtete H. Günther in der o.g. Vorlesung, Gadamer und Gerhard von Rad legten täglich ein Stück Wegs zur Heidelberger Universität gemeinsam ins Gespräch vertieft zurück. Ausdrücklich und positiv wird auf Gadamer verwiesen bei Rad, Theologie I, 12 (Vorwort zur 4. Auflage). Bormann, TRE 15, 130.
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inwieweit es also auch eine christliche Offenbarungsurkunde darstellt. Es geht also letztlich immer darum, ob und inwiefern das Alte Testament als christlicher Text verstanden werden kann. Zu einer solchen Reflexion wird die christliche Theologie seit Marcion immer wieder genötigt. Für das zurückliegende Jahrhundert sei nur an die Bemühungen der „deutsch-christlichen“ Theologie erinnert, das AT aus dem christlichen Kanon zu streichen. Und auch die Tatsache, daß das AT der Christenheit ja die ganze Bibel des Judentums ist und zunehmende Bemühungen um jüdisch-christliche Verständigung machen die Frage nach dem Verhältnis von Altem und Neuen Testament immer wieder neu bewusst. Zu diesem Thema hat es in der deutschsprachigen Theologie eine Fülle von Bemühungen und ganz eigenen Ansätzen gegeben5, ohne dass eine allseits akzeptierte „Patentlösung“ in Sicht wäre. Die eine Hermeneutik des Alten Testaments gibt es offenbar nicht. Das hängt mit der Komplexität der exegetischen Forschungslage zusammen, mit unterschiedlichen Gesamtkonzeptionen von Exegese und Theologie, vor allem aber mit der einen Tatsache, die der christlichen Kirche und Theologie in den vergangenen zweihundert Jahren immer deutlicher ins Bewusstsein getreten ist: Das Alte Testament ist, ebenso wie das Neue, ein historisch bedingter Text. Es ist zu einer bestimmten geschichtlichen Zeit entstanden und redet zu konkreten Menschen, die unter bestimmten geschichtlichen Bedingungen lebten. Hier steht nicht ein Wort Gottes als zeit-lose Wahrheit unverrückbar da. Vielmehr sagen z.B. die Propheten das Wort Gottes in einer bestimmten und bestimmbaren historischen Situation als Zeitansage für ihre Zeitgenossen. Die historische Schriftauslegung hat uns verstehen gelehrt, dass Gottes Wort ganz konkret in die Zeit hineinredet und nur so von Menschen, die ihrerseits geschichtlich bedingt sind, verstanden werden kann. Hat man dies einmal erkannt, so werden Zeiträume zunehmend wichtig und stellen zugleich gegenüber einer vorkritischen Schriftauslegung ein Problem dar: Für den Exegeten geht es nicht mehr an, etwa ein Prophetenwort kommentarlos neben eine Aussage Jesu aus dem Matthäusevangelium oder ein Pauluszitat zu stellen, um daraus eine überzeitliche aber ebenso ahistorische theologische Wahrheit zu erheben. Vielmehr ist die Tatsache, dass uns aus der Bibel heute über einen Abstand von zweitausend Jahren hinweg immer noch Gottes Wort für unsere Zeit und unser Leben erreicht, selbst als ein geschichtliches Phänomen wahrzunehmen. Theologische Schriftauslegung richtet ihr Augenmerk zunehmend auf die Auslegungs- und Wirkungsgeschichte biblischer Texte und versucht den Weg nachzuzeichnen, auf dem ein Wort Gottes aus der Bibel über seinen ursprünglichen historischen Ort hinaus bleibenden Relevanz für die Glaubenden durch die Zeiten gewonnen hat oder je und dann neu gewinnt.6
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Für die ältere Forschung vgl. Westermann (Hg.), Probleme alttestamentlicher Hermeneutik. Für einen neueren Überblick vgl. Schmidt, TRE 15, 137–143 und jetzt Oeming, Biblische Hermeneutik. passim. Vgl. Behrens , ZAW 109 (1997), 327-341 [jetzt in diesem Band].
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3. Theologische Reflexionsgeschichte im Alten Testament Ich möchte diesen Weg, den biblische Aussagen durch die Zeiten nehmen, als Theologische Reflexionsgeschichte bezeichnen und möchte diese an einige alttestamentlichen Beispielen nachzeichnen. Im Zuge einer solchen Theologischen Reflexionsgeschichte kann es geschehen, dass einem alttestamentlichen Text ursprünglich intendierte Aussagegehalte „abhanden“ kommen bzw. an Relevanz verlieren. Dafür werden neue Sinndimensionen des Textes z.B. durch neue inneralttestamentliche oder gesamtbiblische Kontexte erschlossen. Dieses Phänomen begegnet der historischen Exegese des Alten Testaments natürlich auf Schritt und Tritt, wenn Texte überlieferungs-, traditions- oder redaktionsgeschichtlich untersucht werden oder wenn in der Formgeschichte Wandlungen von Textsorten zu erkennen sind. Hier geht es nun darum, den hermeneutischen Gehalt der historischen Wandlungen, die auf der Textoberfläche feststellbar sind, zu erheben. So geht es beim Erheben einer Theologischen Reflexionsgeschichte, die ein Text durchläuft, darum, die Intentionen zu verstehen, die zu Veränderungen auf der Textoberfläche geführt haben. Warum z.B. sind bestimmte Psalmen zu Gruppen zusammengestellt worden? Warum sind ursprünglich auf bestimmte historische Könige bezogene Aussagen später als messianische Weissagungen verstanden worden? Was steckt hinter so komplexen Fortschreibungsprozessen, die etwa zu dem heute vorliegenden Jesajabuch geführt haben? Auf welche Texte greifen die neutestamentlichen Autoren mit welcher Absicht zurück? Solche und ähnliche Fragen sind hier angesprochen; es können allerdings nur einige Texte beispielhaft behandelt werden. Die Fragestellung dient dazu, die hermeneutische Dimension geschichtlicher Prozesse ins Bewusstsien zu rücken. Derjenige Alttestamentler, der sich am intensivsten darum bemüht hat, die geschichtlichen Entwicklungen, die alttestamentliche Texte durchlaufen haben, und die Reflexionsprozesse, die in diesen Entwicklungen erkennbar werden, in hermeneutischer Hinsicht fruchtbar zu machen, war wohl Gerhard von Rad. Erkennt die wissenschaftliche Exegese in zunehmenden Maße den historischen Charakter der biblischen Texte, so gewinnt sie für von Rad damit gleichzeitig die Geschichte als den Ort und das Kontinuum göttlichen Reden und Handelns. Damit bedeutet aber die Erkenntnis der Geschichtlichkeit der Bibel nicht lediglich einen Verlust der Unmittelbarkeit zu biblischen Texten, die nun als historisch bedingt erkannt werden, sondern zugleich einen Gewinn: Gott redet eben nicht „über-zeitlich“, sondern in diese Zeit und Welt hinein. Dann aber wird die geschichtliche Entwicklung, die sich in alttestamentlichen Texten erkennen lässt, selbst zu einer für Theologen und Christen spannenden Angelegenheit. Mehrfach hat von Rad das sozusagen „zitierfähig“ auf den Punkt gebracht: „Das Alte Testament ist ein Geschichtsbuch. Es stellt eine von Gottes Wort gewirkte Geschichte dar, von der Weltschöpfung bis zum
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Kommen des Menschensohns“7, und: „Wohl, das Alte Testament läßt sich nicht anders lesen als das Buch einer ständig wachsenden Erwartung.“8 Diese Erwartung kommt für den christlichen Glauben erst im Neuen Testament ganz zu einer Erfüllung.9 Dabei stellt sich die hermeneutische Relevanz der Geschichtlichkeit des Alten Testaments für von Rad als ein äußerst komplexes Phänomen dar. Wer von Rads Hermeneutik einseitig auf ein Stichwort wie „Typologie“ oder „Heilsgeschichte“ oder „Verheißung und Erfüllung“ festlegen wollte, täte ihm Unrecht.10 Dennoch ist von Rad so verstanden und dann auch in dieser Richtung aufgenommen worden, als habe die Geschichte als solche Offenbarungsqualität. Antonius H. J. Gunneweg hat eben diesen Punkt an von Rads Hermeneutik und ähnlichen Ansätzen kritisiert. Bei aller Konzentration auf die geschichtlichen Entwicklungslinien, drohten die konkreten biblischen Texte mit ihrer je eigenen historisch verankerten Aussage zu verschwinden. Wo alles auf Christus zuläuft, werden die alttestamentlichen Texte mit ihrem je eigenen Anliegen zu wenig beachtet und zu einer bloßen „Vorstufe“ des Neuen Testaments verflüchtigt.11 „Die Linie hat keinen Eigenwert“12 - das ist auf den Punkt gebracht sein Argument gegen eine vermeintliche theologische Überhöhung geschichtlicher Linien. Und dieser Einwand ist ganz grundsätzlich auch berechtigt. Da, wo die alttestamentliche Überlieferung zu einem bloßen Vorher auf Christus hin „verflüchtigt“ wird, muss mit Gunneweg auf die punktuelle eigene Geschichtlichkeit eines jeden Textes hingewiesen werden. Aber hier Geschichtlichkeit unter dem Gesichtspunkt der theologischen Relevanz gegen Geschichte aufwiegen zu wollen, hieße, in falschen Alternativen zu denken. Denn es lassen sich in alttestamentlichen Texten, in Text- oder Themenkomplexen geschichtliche Entwicklungen aufzeigen, die theologisch relevant sind und die sich auf die konkrete Geschichtlichkeit der Einzeltexte ausgewirkt haben. Zwar hat deshalb die Linie noch immer keinen Eigenwert, aber die einzelnen Stationen auf einer solchen Linie, innerhalb solch einer Entwicklung, sind Ausdruck theologischer Reflexion. Somit können m.E. sowohl die konkreten Texte als auch die Entwicklungslinie, die die Konkretheit der Texte ja mitbedingt, als theologisch relevant betrachtet werden. Dies gilt natürlich nur insofern, als sich die eben erwähnte theologische Reflexion auf exegetischem Wege sozusagen sichtbar machen lässt. Dass dies möglich ist, soll im Folgenden an einigen Beispielen verdeutlicht werden. 7 8 9 10
11 12
Rad, Geschichtsbuch, 11. Rad, Theologie II, 339. Vgl. Rad, Theologie II, 380ff. Vgl. Oeming, Das Alte Testamment, 41–243. Oeming macht in den Schlusskapiteln der von Radschen Theologie mindestens vier hermeneutische Modelle aus, die miteinander zu einem Ganzen verwoben werden. Leider hat Oemings Analyse nicht zu einer breiteren neuen Beschäftignng mit von Rads Hermeneutik geführt. Mir scheint allerdings, dass hier immer noch nicht alles ausgelotet ist. Vgl. Gunneweg, Verstehen, 146–180. Zu einer Auseinandersetzung mit Gunnewegs eigenem Ansatz vgl. Behrens, LuThK 20 (1996), 199f. Gunneweg, Verstehen, 170.
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3.1 Beispiel: Bundesbuch und Deuteronomium Es ist heute in der Exegese so gut wie unbestritten, dass zwischen dem sog. Bundesbuch (Ex 20,22–23,13)13 und dem Gesetzeskorpus des Deuteronomiums (Dtn 12–26) Parallelen bzw. Abhängigkeiten bestehen.14 Aus der Aufnahme und Veränderung einzelner Rechtssätze und Motive des Bundesbuches in Dn 12–26 lässt sich „ein Stück altisraelitischer Rechtsgeschichte […] erschließen.“15 Nun beinhaltet aber der Begriff Rechtsgeschichte im Hinblick auf biblische Rechtskorpora per se ein hermeneutisches Problem.16 Durch ihren Ort in der Sinaiperikope verstehen sich die Rechtssäze des Bundesbuches ja als autoritative, göttliche Setzung und nicht lediglich als menschliches Recht, dass unter veränderten gesellschaftlichen Bedingungen einfach geändert werden könnte. Dieses hermeneutische Problem war den Verfassern von Dtn 12–26 offenbar bewusst.17 Andererseits war ein geschichtliches Ereignis eingetreten, das eine reflektierte exegetische Neuformulierung der Rechtssätze des Bundesbuches notwendig machte: Die Kultzentralisation im Rahmen der josianischen Reform18, die als hermeneutischer Schlüssel für die dtn Fassung von Dtn 12–26 gelten kann. „Das vordtr Dtn will insgesamt literarische Neuinterpretaion des B[undes]B[uches], dessen Redaktionsstruktur es sich bedient, unter dem Aspekt der Kultzentralisation sein.“19 „Die dtn Redaktion leistet dies durch die kritische Auseinandersetzung mit dem BB und seiner aktualisierenden Neufassung.“20 Zu welchen methodischen und theologischen Konsequenzen dieses hermeneutische Problem innerhalb der Rechtsgeschichte geführt hat, soll jetzt an einem Beispiel demonstriert werden. Dtn 12 stellt eine Sammlung von Opfergesetzen unter den Bedingungen der Kultzentralisation dar. Der älteste Kern dieses Kapitels, der wohl in 12,13.14a– 19.20-28 vorliegt21, weist einige Auffälligkeiten auf. In den Versen 15 und 21 wird der sonst sakral gefüllte Begriff זבחeindeutig profan gebraucht. Es ist nicht mehr vom „Schlachtopfer“, sondern lediglich vom „Schlachten“ die Rede. Darüber hinaus begegnet zum Abschluss von V. 21 ein ungewöhnlicher Gebrauch der sog. Zitationsformel „…, wie ich dir geboten habe.“ Da sich hierfür – auf den ersten Blick – keine Textstelle, die zitiert worden sein könnte, finden lässt, liegt die Vermutung nahe, dass es sich hierbei um ein Pseudozitat handelt. 13 14 15 16 17
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Für Abgrenzung des Bundesbuches folge ich Otto, Wandel. Vgl. auch ders., Vom Bundesbuch und 4 ders., RGG 1, 1876f. Vgl. dazu grundsätzlich Preuß, Deuteronomium, 103–107. Preuß, Deuteronomium, 106. Vgl. zum Folgenden Levinson, Hermeneutics, 169–176. „Israelite authors themselves had to confront the hermeneutical conflict created by mutually exclusive while equally authoritative laws within the formative canon.“ Levinson, Hermeneutics, 187. Vgl. Preuß, Deuteronomium, 1ff., sowie Reuter, Kultzentralisation, 261. Otto, Vom Bundesbuch, 271. Otto, Vom Bundesbuch, 275. Vgl. dazu Otto, Vom Bundesbuch, 266ff., sowie Reuter, Kultzentralisation, 112ff.
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Es ist jedoch wahrscheinlich, dass zumindest für die Verse 13.14.21 und 27 das sog. Altargesetz des Bundesbuches, Ex 20,24, den direkten Hintergrund bildet.22 Dabei wird in Dtn 12 allerdings nicht Ex 20,24 als ganzes, sondern es werden nur einzelne Wörter daraus zitiert. Diese werden dann unter der Prämisse der Kultzentralisation rekontextualisiert23 und somit exegesiert. So nimmt z.B. Dtn 12,13f. den Terminus מֹקוםaus Ex 20,24 auf, deutet ihn aber um. Im Gegensatz zu Ex 20,24 soll jetzt nicht mehr an jedem „Ort“, den Jahwe sich ersieht, geopfert werden, sondern nur noch an dem einen „Ort“, dem Zentralheiligtum (Dtn 12,14a). Ja, die Menschen sollen sich sogar hüten, an jedem beliebigen „Ort“ zu opfern (Dtn 12,13). Während jedoch in Ex 20,24 ausdrücklich an ein Schlachtopfer ( )זבחgedacht ist, wird in Dtn 12,15.21 mit dem gleichen Terminus das profane Schlachten in allen Ortschaften Israels im Zuge der Kultzentralisation ausdrücklich erlaubt. Dadurch wird zweierlei erreicht: Zum einen wird der Kult auf das Zentralheiligtum konzentriert, zum anderen wird das Schlachten als solches säkularisiert. Dieser theologisch innovative Vorgang wird durch ein exegetisch höchst komplexes Verfahren, der Rekontextualisation einzelner Lexeme aus einem autoritativen Text und damit letztlich durch eine Scheinzitation, legitimiert. Ja, das Altargesetz des Bundesbuches wird in Dtn 12 geradezu gegen seine eigentliche Intention zur Begründung der Kultzentralisation herangezogen.24 Dem dient offensichtlich der Gebrauch der Zitationsformel in Dtn 12,21. So kann zunächst festgehalten werden: Unter den geschichtlichen Bedingungen der Kultzentralisation wird mit erheblichem exegetischen Aufwand an das Bundesbuch angeknüpft, um eine theologische Innovation zu legitimieren. Damit schlägt sich aber – ohne dass das Bundesbuch noch Dtn 12–26 seinen je geschichtlichen Ort verlieren – die Entwicklung vom Bundesbuch zum Deuteronomium in theologischer Reflexion nieder. Die Prozesse dieser Reflexion lassen sich exegetisch nachvollziehen. So lässt sich eine (literar-) historische Entwicklung als theologischer Reflexionsprozess verstehen und als solcher kommt der geschichtlichen Entwicklung hermeneutische Relevanz zu. Mit dem aufgezeigten Beispiel ist natürlich die umfassendere hermeneutische Frage, inwieweit das Alte Testament redlich als „christlicher Text“ verstanden werden kann, noch nicht beantwortet. Es wird aber deutlich, dass sich die Theologische Reflexionsgeschichte bereits als inneralttestamentliches Phänomen ausmachen lässt. Wie die folgenden Erwägungen zeigen ist damit m.E. ein Weg beschritten, der aus Sicht der christlichen Theologie legitim über das Alte Testament hinaus in die neutestamentliche aber auch insgesamt christliche theologische Reflexion weiterverfolgt werden kann.
22 23 24
Vgl. Preuß, Deuteronomium, 106 und zum Folgenden Levinson, Hermeneutics, 177–215. Dazu Levinson, Hermeneutics, 177: „The specific technique I will attempt to demonstrate is one in which a biblical editor recontextualizes a lemma in order to give it a new application.“ Vgl. Levinson, Hermeneutics, 201.
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3.2 Beispiel: Psalm 2 Bei dem eben angeführten Beispiel, der Rekontextualisation von Ex 20,24 durch Dtn 12 liegen am Ende zwei Texte vor: Das ursprüngliche Altargesetz des Bundesbuches (das also durch seine Auslegung in Dtn 12 keineswegs obsolet geworden ist, wie die kanonische Endgestalt zeigt) und ein neuer, ebenfalls autoritativer Text in Dtn 12. Ein ähnlicher Vorgang von Neuinterpretation, die durch theologische Reflexion bedingt ist, lässt sich aber auch an ein und demselben Text deutlich machen. Als Beispiel sei dafür Ps 2 gewählt. Dieser Psalm hatte seinen ursprünglichen Sitz im Leben wohl bei der Inthronisation eines neuen Königs im vorexilischen Jerusalem.25 Im NT ist Ps 2 dann in verschiedener Hinsicht auf Jesus als den Christus gedeutet worden.26 Selbst wenn man nun innerhalb des Wortlauts von Ps 2 ein gewisses futurisches Verständnis angelegt sieht27, muss die neutestamentliche Interpretation in rein historischkritischer Sicht willkürlich anmuten: „Ein solches Verständnis ist in den Psalmen explizit nicht wahrzunehmen.“28 Dennoch hat die neutestamentliche messianische Interpretation eine alttestamentliche Vorgeschichte, und Ps 2 kann als Beispiel für eine inneralttestamentliche Neuinterpretation dienen.29 Um dies zu verdeutlichen, muss auf die Überlieferungsgeschichte des Psalters eingegangen werden. Die Psalmen, die uns das AT überliefert, sind nicht aus „historischem Interesse“ o.ä. ausgewählt und gesammelt worden, sondern weil sie einen Sitz im Leben des alten Israel hatten, weil mit ihnen gebetet wurde. Warum ist dann aber ein Text wie Ps 2, der ursprünglich vielleicht in das Thronbesteigungsritual der Davididen gehörte, nach dem Ende des Königtums und der Zerstörung Jerusalems 587 v. Chr. in Israel bewahrt worden und nicht, wie sicher viele andere Psalmen, in Vergessenheit geraten? „Hier zeigt sich ein für das Verständnis der Königspsalmen wichtiger Tatbestand: die Königspsalmen sind in einem bestimmten Stadium des Sammlungsprozesses einzeln aufgenommen und einzeln Sammlungen an- oder zugefügt worden; offenbar nicht mehr in ihrer ursprünglichen kultischen Bedeutung für den jeweils regierenden König, sondern schon in der sekundären messianischen Deutung.“30 Mit dem Verschwinden des Königtums und damit ihres Sitzes im Leben erhielten die Königspsalmen eine neue Deutung.
25 26 27 28 29 30
Vgl. Kraus, BK XV/1, 145f.; ders., BK XV/3, 139ff.; Weiser, ATD 14, 74; Rad, Theologie I, 331ff. Ganz anders aber: Deissler, Problem, 319–330. Vgl. nur die Aufnahme von Ps 2,7 bei der Taufe Jesu in Mt 3,17 parr. und dazu Kraus, BK XV/1, 155f. und vor allem ders., BK XV/3, 227–230. Vgl. zu V. 5: Kraus, BK XV/1, 149f. Kraus, BK XV/3, 155. Vgl. Rad, Theologie II, 342ff., sowie Springer, Neuinterpretation, 112.117. Westermann, Sammlung, 342. Vgl. auch ders., Bibelkunde, 119: „Bei den Königspsalmen muß man sorgfältig unterscheiden zwischen ihrem ursprünglichen Sinn, nach dem sie sich sicher einmal auf wirkliche Könige Israels und Judas bezogen, und dem späteren Aufnehmen dieser Königspsalmen in den Psalter, das auf Grund der messianischen Deutung dieser Psalmen geschah.“
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Dieses „sekundäre“ Verständnis lässt sich auch am Wortlaut von Ps 2 verdeutlichen: Metrische Gründe machen es wahrscheinlich, dass es sich bei V. 2b, „gegen Jahwe und gegen seinen Gesalbten“, um eine spätere Hinzufügung handelt.31 Diesen Stichos hat man m.E. nicht zur Erklärung der Pluralsuffixe in V. 3 hinzugefügt, da diese Suffixe ohne V. 2b ganz ohne Bezugsgröße wären oder aber reflexiv übersetzt werden können.32 Auch handelt es sich bei Ps 2,2b nicht um diejenige Aussage, die den ganzen Psalm erst spezifisch israelitisch werden ließe, weil eine evtl. nichtisraelitische Vorlage von Ps 2,1–3 wohl kaum von einem hebräischen Versmaß geprägt wurde. Eine Hinzufügung konnte dann auch nicht ein ebensolches Versmaß stören.33 Vielmehr ist es denkbar, dass der Halbvers bereits ein Ausdruck für ein späteres messianisches Verständnis des Psalms ist. Folgt man dann noch der bereits von Bertholet vorgeschlagenen Konjektur von V 11f.34, dann ergibt sich für V. 10–12 ein Versmaß, nach dem der V. 12b ebenfalls als spätere Ergänzung ausgewiesen wird. Dieser Halbvers dient dann dazu, „Psalm 2 mit Psalm 1 zu verbinden.“35 Weder Ps 1 noch Ps 2 hat eine Überschrift. Sind dennoch beide Psalmen, wie angedeutet, miteinander verbunden, so deutet das darauf hin, dass nicht nur Ps 1 (Tora), sondern auch Ps 2 (Messias) als eine Art Überschrift/Leseanleitung für den ganzen Psalter gedacht gewesen ist.36 Dann aber wäre die Messiasvorstellung im AT doch bedeutender, als in der historischen Exegese vielfach angenommen wird.37 Sicher lässt sich darauf verweisen, dass das eben in Anschlag gebrachte messianische Verständnis von Ps 2 sekundär ist. Ich frage allerdings, ob man sich nach den obigen Überlegungen exegetisch allein auf das Erheben des ursprünglichen Sinnes eines Textes beschränken darf, wenn sich bereits inneralttestamentliche Neuinterpretationen aufweisen lassen.38 Es scheint sich eher anzudeuten, dass alttestamentliche Texte im (überlieferungs-) geschichtlichen Wandel mehr als eine exegetische Ausdeutung zulassen. „Man kann vielmehr in vielen Texten wie auf einem Palimpsest frühere und spätere Bedeutungsschichten unterscheiden, und man kann diese Bedeutungen oft in Beziehung setzten zu einem Wandel in der sozialen und kulturellen Referenz der Texte.“39 Wieder wird deutlich: Geschichtlicher Wandel (das Königtum in Israel verschwindet) schlägt sich als theologische Reflexion (Königspsalmen werden messia31 32 33 34 35 36 37
38 39
Vgl. Kraus, BK XV/1, 143.148f.; Springer, Neuinterpretation, 112; 113f. Gegen Kraus, BK XV/1, 143. Gegen Springer, Neuinterpretation, 114. Vgl. Kraus, Psalmen I, 143f.; Springer, Neuinterpretation, 113; 116. Springer, Neuinterpretation, 114. Vgl. die redaktionsgeschichtlichen Beobachtungen zur „Verkettung“ der Psalmen 1–3 bei Lohfink, Lieder, passim. Es ist mir bewusst, dass die dargebotene, rudimentäre Exegese von Ps 2 nicht vollständig befriedigen kann. Mir geht es hier aber um das beispielhafte Aufweisen des Phänomens der theologischen Reflexion in alttestamentlichen Texten überhaupt. Von einer detaillierten Einzelexegese dispensieren diese Überlegungen nicht. Vgl. grundsätzlich noch einmal Springer, Neuinterpretation, 9–11. Nethöfel, Hermeneutik, 52.
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nisch gedeutet) in alttestamentlichen Texten theologisch relevant nieder. Diese theologische Reflexion stellt für Texte wie Ps 2, deren Sitz im Leben sich ändert, durch Neuinterpretation eine Art „Fließgleichgewicht“40 her und bewahrt sie damit vor dem Verschwinden.
3.3 Beispiel: Das Motiv der Messiaserwartung Das Thema der messianischen Interpretion der Königspsalmen leitet über zum Beispiel der Messiaserwartung. Gegenüber der vorkritischen Schriftauslegung, die diese Texte vorbehaltlos als eine zusammenhängende Perlenkette von Voraussagen des Christus verstanden hat, steht man heute in der Exegese bei dem Begriff des Messias und den damit verbundenen „messianischen Weissagungen“ (gedacht ist hier vor allem an die „klassischen“ Texte aus Jes 9; 11; Jer 23; Mi 5; Sach 9) vor einer Reihe von Problemen. In Frage steht u.a. die sachliche Zusammengehörigkeit dieser Texte, da z.B. in keinem dieser Texte der Terminus „Messias“ auftaucht, der ursprünglich aus der Königsthematik stammt. Die hier angesprochenen Texte gehören darüber hinaus nicht alle zu einer literarischen Gattung, und auch von daher muss der summarische Begriff „messianische Weissagungen“ sicher mit Vorsicht gebraucht werden. Diese und andere Probleme müssen bei der Darstellung des Folgenden mitbedacht werden. Ein Konsens über diese Fragen zeichnet sich in der Exegese derzeit nicht ab.41 Auch aufgrund der folgenden Erwägungen bleibe ich bei dem Begriff „messianische Weissagungen“. Wenn auch die messianischen Weissagungen nicht alle zu einer literarischen Gattung gehören, so lassen sich doch Beziehungen unter ihnen und auch theologische Entwicklungen beim Motiv der Messiaserwartung aufzeigen.42 Selbst als ein Text wie Ps 2 messianisch verstanden worden ist, ist dabei doch wohl an die Inthronisation eines Davididen gedacht worden, der als endzeitlicher Herrscher die Völker „mit einem eisernen Zepter wie Töpfergeschirr“ (V. 9) zerschlägt. Dies ändert sich bei der Messiaserwartung, die „aus der Institution des Königtums“43 erwuchs. In Jes 9,1–6 wird zwar noch jemand auf dem Thron Davids (V. 6) eingesetzt und erhält als König Thronnamen (V. 5). Allerdings tritt ansonsten eine auffällige „Humanisierung“44 zu Tage. Nicht mehr die Völker selbst, sondern nur ihr Kriegswerkzeug wird vernichtet (V. 3f.), und das ist Jahwes Werk. Der verheißene Herrscher ist ein Friede-Fürst (V. 5) in einer „merkwürdigen Passivität.“45 Daneben
40 41
42 43 44 45
Nethöfel, Hermeneutik, 52. Vgl. Strauß, TRE 22, 617–621; Struppe (Hg.), Studien, (verschiedene Aufsätze zum Thema). Zum Verhältnis der Messiasverheißungen untereinander vgl. Seebass, Herrscherverheißungen passim. Vgl. zum folgenden Schmidt, Ohnmacht; ders., 268–284. Schmidt, Ohnmacht, 67. Schmidt, Ohnmacht, 70. Schmidt, Ohnmacht, 69.
Theologische Reflexionsgeschichte im Alten Testament
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tritt in den folgenden messianischen Weissagungen ein „stark oppositionelles Element.“46 Der verheißene Herrscher stammt nicht mehr aus der Hauptlinie des Hauses David, sondern aus einem Wurzelsproß (Jes 11,1), aus der kleinen Stadt Bethlehem (Mi 5,1) oder der verheißene König wird gegenüber dem herrschenden Davididen Zedekia „Jahwe unsere Gerechtigkeit“ (Jer 23,6) heißen. Gleichzeitig wird die in Jes 9 zu erkennende Humanisierung in späteren Texten ausgeweitet. Aus dem eisernen Zepter (Ps 2,9) wird der „Stab seines Mundes“ (Jes 11,4). „Das Zepter des Messias ist sein Wort, aber dieses Wort behält die Macht des Zepters.“47 In einer „Nachinterpretation“48 zu Jes 11,1–5 in V. 6–10 erhält das kommende Heil kosmische Ausmaße, die ganze Schöpfung lebt unter der Herrschaft des Messias in Frieden. Das Motiv verändert sich weiter: An die Stelle der irgendwie politisch gedachten Herrschaft eines Königs tritt das „Weiden“ (Mi 5,3) eines „Hirten“ (Ez 34,23). Der Messias wird eine Art „Beamter in der Gottesherrschaft.“49 Schließlich, in Sach 9,9f., ist der Messias „selbst zum ‚Armen‘ geworden, dem ‚geholfen werden‘ muß.“50 Seine letzte Aufgabe ist es, das Heil zu verkünden (V. 10). Diese Verkündigung gilt jetzt aber aller Welt, bis an die Enden der Erde. Damit ist die Weltherrschaft aus Ps 2,8 in einem ganz anderen Sinne erhalten geblieben. Die Messiaserwartung „hat sich da universal erweitert, wo sie sich zur Niedrigkeit des Kommenden bekennt.“51 Dies erinnert stark an das Motiv des leidenden Gottesknechts bei Deuterojesaja.52 Unter dem Gesichtspunkt der motivgeschichtlichen53 Weiterentwicklung der Messiaserwartung sind die messianischen Weissagungen – trotz aller Kritik an einer zu einfachen Schematisierung – doch „durch eine Geschichte miteinander verbunden.“54 Diese Geschichte ist die einer Neuinterpretation des israelitischen Königtums, sei es als Kritik des zeitgenössischen Herrschers oder als Reflex auf den Wegfall des Königtums überhaupt. Hier erweist sich wiederum geschichtliche Entwicklung als Medium theologischer Reflexion und damit als hermeneutisch relevant, bis aus dem machtvollen König aus Ps 2 der niedrige „Herrscher“ aus Sach 9 geworden ist, dessen Wort aber doch der ganzen Welt gilt.
46 47 48 49 50 51 52 53
54
Schmidt, Ohnmacht, 72. Schmidt, Ohnmacht, 73. Schmidt, Ohnmacht, 77. Schmidt, Ohnmacht, 80. Schmidt, Ohnmacht, 81. Schmidt, Ohnmacht, 82. Vgl. zu den Gemeinsamkeiten zwischen messianischen Weissagungen und Gottesknechtsliedern Schmidt, Ohnmacht, 83 ff. Der Begriff der „Motivgeschichte“ scheint mir hier sehr hilfreich zu sein, da sich Veränderungen eines Motives auch abgesehen von literarischen Abhängigkeiten und formgeschichtlichen Beziehungen verfolgen lassen; vgl. Koch, Formgeschichte, 70f. und Strecker/Schnelle, Einführung, 93f., sowie neuerdings Fieger/Krispenz/Lanckau (Hg.), Wörterbuch alttestamentlicher Motive, 9–16. Schmidt, Ohnmacht, 85.
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Theologische Reflexionsgeschichte
3.4 Beispiel: Die Geschichte prophetischer Visionsschilderungen Das, was als „Theologischen Reflexionsgeschichte“ bisher an der Rekontextualisation von Rechtstexten, dem messianischen Neuverständnis eines Königspsalms und der Entwicklung des Motives der Messiaserwartung gezeigt wurde, lässt sich auch an der Geschichte einer alttestamentlichen Textsorte zeigen, nämlich an den „prophetischen Visionsschilderungen“ des Alten Testaments.55 Bei der Betrachtung dieser Textsorte erweist es sich in hermeneutischer Hinsicht als ertragreich, dass das Vorkommen der Textsorte in seiner geschichtlichen Erstreckung in den Blick kommt. Zwei Dinge lassen sich unter diesem Gesichtspunkt feststellen: Erstens lassen sich unterschiedlich deutliche Bezugnahmen und Abhängigkeiten verschiedener „prophetischer Visionsschilderungen“ untereinander ausmachen, die in den Visionsschilderungen des Ezechielbuches kulminieren. Zweitens lässt sich anhand von traditionsgeschichtlichen Linien in der Geschichte der Textsorte ein Stück inneralttestamentlicher theologischer Reflexionsgeschichte nachzeichnen, die mit der Verdrängung Jahwes durch einen „Deuteengel“ in späteren Exemplaren der Gattung zusammenhängt. Auch hier kommt den Visionen des Ezechielbuches eine Schlüsselstellung zu. Zum Ersten: Nach allem, was sich sagen lässt, liegen mit den Visionsschilderungen in Am 7–8 die ältesten greifbaren Exemplare dieser Gattung vor. Die Textsorte, die bei Amos in einem kleinen Zyklus von vier Exemplaren effektvoll eingesetzt ist, setzt eine Geschichte der Aufnahme, Auslegung und Wirkung frei.56 Bereits die Visionen des Jeremiabuches knüpfen in Stil und Terminologie so deutlich an die ersten vier Amosvisionen an, dass eine literarische Abhängigkeit der Jeremiatexte von Am 7f. nicht ausgeschlossen werden kann. So verwenden die Visionsschilderungen in Jer 1 ebensolche Wortspiele wie die Texte Am 7,7f.; 8,1f., und Jer 24 beginnt mit der für Amos typischen, sonst aber seltenen Hiphilform הראניusw. An die Jeremiavisionen knüpft dann wiederum die sog. Buchrollenvision in Ez 2,9 – 3,9 an. Auch hier sind die Bezüge so deutlich und die Berührungen der Texte so eng, dass der Verfasser des Ezechieltextes die Jeremiavisionen vermutlich gekannt hat. So lässt sich eine wirkungs- und traditionsgeschichtliche Linie von den ersten vier Amosvisionen über Jer 1 und 24 bis zu Ez 2,9 – 3,9 ziehen. Diese Linie trifft sich in Ez 1–3 mit einem zweiten traditionsgeschichtlichen Strang der „prophetischen Visionsschilderungen“: Ähnlich eng wie die eben ge55
56
Für die Analyse dieser Gattung, die dem Folgenden zugrunde liegt, vgl. ausführlich Behrens, Prophetische Visionsschilderungen. Zu der Gattung „prophetische Visionsschilderung“ zähle ich folgende Texte: Am 7,1-3; 7,4-6; 7,7-8; 8,1-2; 9,1-4; Jer 1,11-12; 1,13-14; 24,1-10; Jes 6,1-11; 1Kön 22,17; 22,19-22; Ez 1,1- 2,8; 2,9 - 3,9; 8-11*; 37,1-14; 43,1-9; Sach 1,7-15; 2,1-4; 2,5-9; 3,1-10; 4,1-6a.10b-14; 5,1-4; 5,5-11; 6,1-8; Dan 8,3-14; 10,5-14 und 12,5-7. Damit liegen knapp 30 Einzeltexte vor, die sich hinsichtlich ihrer sprachlichen Eigenarten und ihrer Funktion als Angehörige einer Gattung bestimmen lassen. Zur „innerbiblischen Rezeptionsgeschichte“ der Amosvisionen vgl. Jeremias, Rezeptionsprozesse, 29–44 und Willi-Plein, Das geschaute Wort, 37–52.
Theologische Reflexionsgeschichte im Alten Testament
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nannten Texte berühren sich Jes 6 und die Visionen Micha ben Jimlas aus 1Kön 22,17.19ff. Auch hier sind direkte literarische Bezugnahmen des deuteronomistischen Textes auf die Berufungsvision Jesajas nicht auszuschließen. Aufgrund enger terminologischer Berührungen ist auch die fünfte Amosvision in Am 9,1–4 dieser traditionsgeschichtlichen Linie zuzuordnen.57 Ausgehend von der Thematik von Jes 6 und 1Kön 22 könnte man diese Gruppe (heuristisch) als „Thronratsvisionen“ bezeichnen. An die Motivik dieser Thronratsvisionen lehnt sich die große Eröffnungsvision des Ezechielbuches in Ez 1,1 – 2,8 an. Bei diesem Text handelt es sich um eine spätere Fortschreibung der älteren Buchrollenvision. Im Gegensatz zu der bearbeiteten „Grundschicht“ weist diese Fortschreibung, die auch in Ez 8–11 zu greifen ist, deutliche terminologische und sachliche Bezüge zur Priesterschrift auf.58 So kann man davon sprechen, dass sich im Ezechielbuch zwei traditionsgeschichtliche Linien „prophetischer Visionsschilderungen“ treffen und miteinander verwoben werden. Dieses Zusammentreffen verdankt sich allerdings einem redaktionellen Prozess, nämlich einer priesterschriftlich geprägten Fortschreibung des Ezechielbuches. Dem Ezechielbuch kommt somit in der Geschichte der „prophetischen Visionsschilderungen“ innerhalb des Alten Testaments die Funktion eines „Brennglases“ zu. Verschiedene Stränge treffen sich hier, und durch den häufigen Gebrauch der Textsorte im Ezechielbuch werden die „prophetischen Visionsschilderungen“ nachhaltig in Erinnerung gebracht. Sowohl Sacharja als auch das Danielbuch knüpfen in ihrer Verwendung der Gattung deutlich erkennbar an Ezechiel an.59 Jedenfalls soweit lässt sich eine „Geschichte“ der Gattung im Alten Testament nachzeichnen. Zum Zweiten: Liest man die „prophetischen Visionsschilderungen“ nicht bloß synchron als Exemplare derselben Textsorte, sondern diachron in ihrem historischen Nacheinander, dann erkennt man in ihnen an einer kontinuierlichen inhaltlichen Gewichtsverlagerung eine theologiegeschichtliche Entwicklung. In ihrer zeitlichen Abfolge sind die „prophetischen Visionsschilderungen“ Stationen einer theologischen Reflexionsgeschichte. Mit der inhaltlichen Gewichtsverlagerung meine ich das sukzessive Verschwinden Jahwes aus der Gattung als direktem Gegenüber des Visionärs und das ebenso allmähliche Hervortreten eines himmlischen Boten, einer Mittlergestalt oder eines „Deuteengels“. In den älteren Visionsschilderungen, etwa bei Amos oder Jesaja, kann der Visionär noch direkt davon sprechen, er habe in seiner Vision Jahwe selbst gesehen, und Jahwe selbst habe zu ihm ge57 58
59
Vgl. z.B. Am 9,1: ראיתי את־אדני נצב על־המזבחmit Jes 6,1: ואראה את־אדני ישׁב על־כסאund 1Kön 22,19: ראיתי את־יהוה ישׁב על־כסאו. Zu den einschlägigen Berührungen zwischen Ez und P vgl. die Kommentare. Hier sei nur deutlich darauf hingewiesen, dass sich diese Bezüge eben nur für einen Teil des Ezechielbuches ausmachen lassen, den ich für eine Fortschreibung halte. „So führt eine freilich nicht unbedingt gerade Linie von Am 7,1–8 + 8,1–2 (und Jes 6) über Jer 1,11f.13f, sodann über *Ez 1–3 bis zu Sach 1,7 – 6,8“ (Willi-Plein, Das geschaute Wort, 48). Es lässt sich zeigen dass sich diese Linie auch formgeschichtlich eindeutig nachziehen und bis ins Danielbuch verlängern lässt.
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Theologische Reflexionsgeschichte
sprochen. In den jüngeren Texten geht das ganz offenbar nicht mehr. So ist z.B. bei Sacharja das Gegenüber des Propheten in der Regel „der Engel, der mit mir redet...“, wenn auch die „Nachtgesichte“ insgesamt unter der Überschrift דבר־יהוה (Sach 1,17) stehen. In Dan 8–12 verschwindet sogar das Lexem יהוהfast vollständig aus dem Text. Im Verlauf dieser Entwicklung kommt wiederum den Visionsschilderungen im Ezechielbuch eine besondere Rolle zu. In der bereits erwähnten Fortschreibung im Ezechielbuch ist erstmalig in einer „prophetischen Visionsschilderung“ die Absicht zu greifen, die Schilderung einer direkten Gottesbegegnung zu vermeiden. In der großen Eröffnungsvision in Ez 1,1 – 2,8 berichtet der Visionär gerade nicht, er habe Jahwe gesehen. Stattdessen nähert er sich dieser Aussage durch die ausführliche Schilderung der vier „Wesen“ als eines himmlischen Umfeldes Jahwes an. Vergleichswörter mit der Bedeutung „etwas, das aussah wie…“ oder „so ähnlich wie…“ häufen sich in dem Text (und in der priesterschriftlich geprägten Fortschreibung überhaupt). Am Ende ist mit der Aussage, „ich sah etwas, das so ähnlich aussah wie die Gestalt der Herrlichkeit Jahwes“ (vgl. Ez 1,28), die dem Verfasser größtmögliche Deutlichkeit erreicht. Dabei gibt es deutliche Spuren im Text, die darauf hinweisen, dass in der Grundschicht, also der Buchrollenvision Ez 2,9 – 3,9, durchaus einmal Jahwe als Gegenüber des Visionärs genannt worden war. Wichtig ist hier noch einmal die Schlüsselstellung der Ezechieltexte, besonders der erwähnten Fortschreibung. Sowohl die „Nachtgesichte“ Sacharjas als auch die Visionsschilderungen in Dan 8–12 sind in ihrer Erwähnung eines „Engels, der mit mir redet“ oder eines „Mannes in leinenen Kleidern“ deutlich von den Ezechieltexten abhängig. In der dort zu greifenden Tendenz, die Aussage einer direkten Gottesbegegnung zu vermeiden, liegt sicher ein - wenn auch nicht der einzige - Entstehungsgrund für den sog. angelus interpres. Anhand der Geschichte der Gattung „prophetische Visionsschilderung“ lässt sich die Entstehung einer solchen Figur als kontinuierliche theologiegeschichtliche Entwicklung erkennen. Dann hilft es aber für das Verständnis dieser theologischen Reflexionsbewegung nicht viel, wenn man einen „Deuteengel“ für typisch „apokalyptisch“ hält und kurzerhand alle Visionsschilderungen mit einer solchen Figur für „nicht mehr prophetisch“, sondern „schon apokalyptisch“ erklärt. Vielmehr ist danach zu fragen, welche Absichten oder Überzeugungen hinter der beschriebenen Tendenz stehen. Zu vermuten ist, dass die „Verdrängung“ Jahwes aus den „prophetischen Visionsschilderungen“ mit der stärker werdenden Überzeugung zusammenhängt, wer Gott sieht, müsse sterben. Innerhalb der Gattung ist dies wohl am deutlichsten in Jes 6,5 ausgesprochen: „Weh mir ich gehe zugrunde […], denn meine Augen haben den König Jahwe Zebaoth gesehen“. In der Exilszeit gewinnen solche Vorstellungen an Gewicht, vermutlich aus Gründen der identitätsstärkenden Abgrenzung der Gola gegenüber der „heidnischen“ Umwelt. Auch das Bilderverbot und das Verbot des Namensmißbrauchs nehmen in dieser Zeit an Bedeutung zu und sind m.E. verschiedene Aspekte der gleichen theologischen Tendenz. Warum es letztlich zu einer zunehmenden
Abschließende Erwägungen
59
Transzendenz Jahwes und zu einer größeren Distanz zwischen Gott und dem Gläubigen kommt, ist damit natürlich noch nicht geklärt. Wenn die eben zusammengefaßten Überlegungen stimmen, dann hat die Textsorte mit der sukzessiven Hervorbringung eines angelus interpres als Mittlergestalt lediglich Anteil an einer theologischen Entwicklung, wie sie sich auch in anderen Teilen des Alten Testaments greifen lässt. So lässt sich auf dem Wege einer genauen Beschreibung der Textsorte „prophetische Visionsschilderung“ und der Auslegung der einzelnen Exemplare diese theologiegeschichtliche Entwicklung paradigmatisch nachzeichnen, wenn auch nicht vollständig erklären. Jedenfalls ist damit wiederum ein Stück inneralttestamentlicher Reflexionsgeschichte beschrieben. An der Geschichte einer Gattung lässt sich die hermeneutische Relevanz einer historischen Entwicklung aufzeigen. Dabei verändert sich die äußere Form der Gattung kaum und doch wird eine theologische Bewegung in den Texten sichtbar.
4. Abschließende Erwägungen Mit den angeführten Beispielen aus ganz unterschiedlichen Bereichen der alttestamentlichen Literatur (Gesetze, Schriften, Propheten) sollte stets ein Gedanke verdeutlicht werden. Alttestamentliche Texte, Textkomplexe oder Motive haben nicht nur einen Sitz im Leben, erlauben nicht nur eine historisch-kritisch sachgemäße Exegese. An solchen Texten ist auch nach ihrer Verschriftlichung noch gearbeitet worden. Dies ist im Grunde eine recht simple Erkenntnis, und niemand wird sie bestreiten wollen. Auffällig ist jedoch, dass diese Erkenntnis nur selten in hermeneutischer Hinsicht fruchtbar gemacht wird. Dabei hat z.B. bereits 1936 Hans Wilhelm Hertzberg auf das Phänomen der Nachgeschichte atlttestamentlicher Texte aufmerksam gemacht und versucht, dies am Buch Jesaja nachzuweisen.60 Die geschichtliche Entwicklung haben Menschen auch durch theologische Refexion verarbeitet. Diese Reflexion fand einen literarischen Niederschlag. Dabei wurden aber nicht immer einfach neue religiöse Texte verfaßt, sondern die Reflexion wurde in traditionelle Texte eingearbeitet. Worte, die als Worte Gottes galten, wurden aktualisiert und nachinterpretiert. Damit wurde zum einen die Tradition bewahrt (auch wenn die Nachinterpretation bisweilen den ursprünglichen Sinn der Texte geradezu ins Gegenteil verkehrte) und zum anderen wurde religiöse Innovation durch ihre Einbindung in die Tradition legitimiert. Die Art und Weise, wie solche Reflexion in die Tradition eingebracht wurde, kann jeweils ganz unterschiedlich gewesen sein: Mal wurde redaktionell verfahren, mal mit Pseudozitation gearbeitet. Mal schlug sich die Reflexion in der Überlieferungsgeschichte, mal in der Motivoder der Gattungsgeschichte nieder.Viele alttestamentliche Texte, Textkomplexe oder Motive sind in der Endgestalt Produkt einer theologischen Reflexionsge-
60
Vgl. Hertzberg, Nachgeschichte, 110–121.
60
Theologische Reflexionsgeschichte
schichte. Und diese theologische Reflexionsgeschichte lässt sich mit Mitteln der historischen Exegese nachvollziehen. Das heißt auch: Biblische Texte wollen gedeutet werden, aber sie wollen auch selbst die Existenz des Lesers deuten. Ist dies geschehen, legen aber die „ausgelegten Ausleger“ ihr nun neu gewonnenes Verständnis eines Textes in denselben hinein.61 Zur Entstehungszeit der atlttestamentlichen Texte geschah dieses Hineinlegen aber nicht wie heute in Form eines Kommentars oder als auslegende Predigt, sondern diejenigen, die anhand des Textes ein neues Verständnis gewonnen hatten, arbeiteten dieses Verständnis und ihre Reflexion auch literarisch in den Text ein. „Während also einerseits die Wirklichkeit des Alten Testaments als volle Wahrheit mit dem Anspruch auf Alleinherrschaft auftritt, zwingt sie eben dieser Anspruch zu einer ständigen deutenden Veränderung des eigenen Inhalts.“62 D. Michel63 hat versucht, diese deutenden Veränderungen und Reflexionen an Gen 22 narrativ nachzuempfinden und kommt zu dem Ergebnis: „Nachdenken von Generationen hat sich in dieser Geschichte niedergeschlagen. Und wenn solches Nachdenken bei der erzählenden Weitergabe zu verdeutlichenden Ergänzungen führte, weil man neu gewonnene Aspekte klarer ausdrücken wollte, so war dies alles andere als ein Akt der Willkür. Vielleicht darf man hier sogar von einer letzten Treue gegenüber dem Überlieferten reden. Denn kann man seine Treue besser und anders bewähren als dadurch, dass man das Überlieferte in seiner Zeit neu reden lässt und dass Gehörte dann auch ausdrückt?“64 Damit ist für eine Hermeneutik des AT zu betonen, dass die geschichtliche Entwicklung innerhalb des AT von theologischer Relevanz ist. Nicht so, dass damit der Geschichte als solcher irgendeine Offenbarungsqualität zugemessen würde, aber doch so, dass sich geschichtliche Entwicklung in Form von theologischer Reflexion als Nach- oder Neuinterpretation in alttestamentlichen Texten niedergeschlagen hat. Mit Gerhard von Rad bleibt festzuhalten: „Diese Erwägungen bezwecken nicht, eine heilsgeschichtliche Stufenordnug zu rekonstruieren.“65 Auch ist es richtig, die Texte in ihrer jeweiligen eigenen Geschichtlichkeit wahrzunehmen. Aber wo sich theologische Relexion in den Texten niedergeschlagen hat, gibt es vielleicht mehrere „Geschichtlichkeiten“, wie es im Laufe der Geschichte mehrere Sitze im Leben für einen Text geben konnte. Man darf hier eben nicht in sich ausschließenden Alternativen denken: Das Phänomen der theologischen Reflexionsgeschichte macht deutlich, dass man alttestamentliche Texte weder zu Punkten auf einer Linie verflüchtigen darf, noch ist
61 62 63 64 65
Vgl. Gunneweg, Biblische Theologie, 165. Auerbach, Die Narbe des Odysseus, 21f. Vgl. zum folgenden Michel, Überlieferung und Deutung, 89–92. Michel, Überlieferung und Deutung, 92. Rad, Theologie II, 347. Dieses Zitat zeigt m.E. auch, dass man von Rad unrecht tut, wenn man seinen hermeneutischen Ansatz einseitig auf „Typologie“ oder „Heilsgeschichte“ festlegen will. Vielleicht gibt es nach über dreißig (!) Jahren nach dem ersten Erscheinen seiner Theologie immer noch etwas zu entdecken.
Abschließende Erwägungen
61
es dem Exegeten erlaubt, sich vom Wahrnehmen der geschichtlichen Entwicklung (gerade in hermeneutischer Hinsicht) zu dispensieren. Um die Gedanken über die theologische Reflexionsgeschichte noch weiter für die Hermeneutik fruchtbar zu machen, sei hier noch ein Ausblick angefügt, der auch das Neue Testament mit in den Blick nehmen soll. Ich möchte aufgrund dessen, was ich über theologische Reflexionsgeschichte angemerkt habe, von einer reflektierten Veränderung des theologischen Gehalts alttestamentlicher Texte sprechen. Daran konnten die neutestamentlichen Schriftsteller vor allem methodisch anknüpfen. Dies soll an den sog. Erfüllungszitatendes Matthäusevangeliums, verdeutlicht werden.66 Der Begriff Erfüllungszitate geht auf Wilhelm Rothfuchs zurück67, der damit den bis dahin gebräuchlichen Begriff ‚Reflexionzitate‘ ersetzte. Rothfuchs geht es darum, die alttestamentlichen Zitate des Matthäusevangeliums „theologisch zu beurteilen.“68 Und wenn auch der Terminus ein neuer wird, so stellt Rothfuchs doch fest, dass „die positive Betonung der ‚Reflexion‘ für unseren Zusammenhang wichtig und wertvoll ist.“69 Der Verfasser des Matthäusevangeliums entnimmt in eigenständiger theologischer Reflexion alttestamentliche Zitate ihrem ursprünglichen Kontext und rekontextualisiert sie in einer Begebenheit aus dem Leben Jesu, aktualisiert mithin die Texte (auch unter Absehung von und gegen ihren ursprünglichen Sinn).70 Dies geschieht nicht in erster Linie, um das Leben Jesu historisierend in ein alttestamentliches Kontinuum zu stellen, sondern um das Leben Jesu vom AT her theologisch zu deuten. Alttestamentliche Prophetentexte werden somit zum Zeugnis „von dem im Leben Jesu geschehenen Heil.“71 Die damit gegebene „Interpretation stellt das überlieferte Geschehen [um Jesus] in das Licht der von Gott vorher-verkündigten Prophetie.“72 An der neutestamentlichen Interpretation bestimmter alttestamentlicher (zumeist prophetischer) Aussagen sozusagen im Dienste des Kerygmas wird wiederum ein Stück theologischer Reflexionsgeschichte deutlich. Manches Zitat mag uns heute als allegorisch oder mißverstanden erscheinen, aber in der Methode hat die Zitation bei Matthäus (und anderen neutestamentlichen Autoren) eine alttestamentliche Vorgeschichte. Hier wie dort wird theologische Reflexion in die Texte eingetragen. Theologische Reflexionsgeschichte ist ein Phänomen, das sich bereits im AT aufweisen lässt und an das die neutestamentlichen Verfasser angeknüpft haben. Damit besteht in der Methode der Verarbeitung theologischer Reflexion eine Stukturanalogie zwischen den beiden Testamenten. Ohne dass eine heilsgeschichtliche Stufenordnung postuliert werden müßte, liegt hierin (cum grano salis)
66 67 68 69 70 71 72
Vgl. zu diesem Phänomen im Überblick Luz, EKK I/1, 134-–40. Vgl. Rothfuchs, Erfüllungszitate. Rothfuchs, Erfüllungszitate, 17. Rothfuchs, Erfüllungszitate, 21. Vgl. Rothfuchs, Erfüllungszitate, 115–117. Rothfuchs, Erfüllungszitate, 120. Rothfuchs, Erfüllungszitate, 177.
62
Theologische Reflexionsgeschichte
eine „Linie“ vor, die vom AT zum NT führt. In solchen methodischen Vorgaben steht die Schrift auch auf der Deutung auf Christus hin offen.73 Die Dimension der Geschichte bleibt eine Besonderheit des Glaubens Israels, wie er sich im Alten Testament niedergeschlagen hat. Jahwe, der Gott Israels definiert sich geradezu dadurch, dass er in der Geschichte wirksam ist. Darin unterscheidet er sich von den Göttern der altorientalischen Umwelt Israels. Durch das Handeln Gottes in der Geschichte werden der Glaube und das Weltverhältnis Israels bestimmt. Während es im Alten Ägypten selbstverständlich ist, dass die gottgleichen Pharaonen und ihre Untertanen in Ägypten autochton sind, also quasi „immer schon“ im Land am Nil leben, weiß man in Israel davon, dass es einmal eine Zeit außerhalb des Landes im „Hause der Knechtschaft“ gebeben hat. Man erinnert sich in den Patriarchen an eine nomadische Vergangenheit, und umso heilvoller ist die Gabe des Landes. Während der babylonische Schöpfungsmythos Enuma Elis damit beginnt, dass „das Königtum vom Himmel herab stieg“, also ewig ist, erinnert man sich in Israel an eine Zeit, in der es keinen König gab, und das Volk überlebt auch den Verlust des Königtums (ja, setzt erst nach diesem Verlust auf die Messiashoffnung). Zwar glauben auch andere Kulturen des Alten Orients daran, dass ihre Götter das Kriegsglück beeinflußt und so auch in gewisser Weise „geschichtlich“ gehandelt hätten, aber das biblische Geischichtsverständnis ist anders: Gottes Handeln schreitet fort! Gegenüber einem prinzipiell ewigen mythischen Kreislauf ist in Israel grundsätzlich Neues denkbar. Dies gilt für Gottes Handeln und es gilt für Gottes Reden. An ein solches Geschichtsverständnis knüpft das Neue Testament an, und nur im Rahmen eines solchen Geschichtsverständnisses ist ein Satz wie Hebr 1,1f. denkbar: „Nachdem Gott vorzeiten vielfach und auf vielerlei Weise geredet hat zu den Vätern durch die Propheten, hat er in diesen letzten Tagen zu uns geredet durch den Sohn...“ Das Neue Testament sieht in Jesus Christus eine Bewegung zu ihrem Höhepunkt kommen, die als „ständig wachsende Erwartung“ im Alten Testament vielfach zu greifen ist. Das Reden Gottes in diese Zeit hinein, das die Theologie oft ein bißchen hilflos mit dem Terminus Offenbarung beschreibt, wird in dieser Bewegung als theologische Reflexionsgeschichte greifbar. Die biblischen Schriftsteller sind dabei von der Überzeugung bestimmt, dass Gott eben „zu uns“ (vgl. auch Röm 4,23f.) redet. So wird „theologische Reflexion“ in die Bewegung der Offenbarung mit hinein genommen und für sie in Dienst genommen. In der vielfältigen Bewegung theologischer Reflexion bietet das Alte Testament dann sozusagen eine ganze Reihe „loser Enden“ an, die das Neue Testament als Zeugnis auf Christus hin aufgreifen kann. Damit wird gesamtbiblisch legitimerweise an eine Denkbewegung angeknüpft, die sich schon inneralttestamentlich erheben lässt. Dass die neutestamentliche die einzige legitime Fortsetzung des Alten Testamentes ist, kann in historischer Perspektive mit Blick auf das Judentum 73
Vgl. Rad, Theologie II, 354.
Abschließende Erwägungen
63
nicht gesagt werden. Christliche Theologie kann nur bekennen, dass Jesus Christus das endgültige Wort Gottes ist. Im Zuge der rechenschaftsfähigen Reflexion des eigenen Glaubens und Bekennens kann aber die christliche Theologie die vielfältigen Weisen der Anknüpfung des Neuen Testaments ans Alte aufzeigen. Dies ist ein so vielfältiges Geschehen, dass alle bisher vorgetragenen hermeneutischen Modelle zum Verhältnis der beiden Testamente jeweils nur „Annäherungen“74 an ein Ganzes, nur Teile eines Ganzen sein können. Die alttestamentliche Exegese leistet hier vielfältige Beiträge. Einer davon mag der Hinweis darauf sein, dass die Bewegung von Gottes Reden in diese Zeit und Welt hinein schon inneralttestamentlich als „Theologische Reflexionsgeschichte“ erkennbar ist. Die Auslegung, die sich um dieses Phänomen bemüht, wird selbst in die Bewegung des Redens Gottes mit hinein genommen. Der Gefahr einer theologischen Überhöhung der Geschichte als solcher entgeht die Theologie, wenn sie sich der normativen Bedeutung des Redens Gottes in Jesus Christus bewusst bleibt. Vermeintliches geschichtliches Handeln Gottes, dass keinen Bezug zum Reden Gottes in Christus erkennen lässt, ist – jedenfalls für christliche Theologie – frag-würdig. Theologische Reflexion in der Geschichte der Kirche läuft dann auf Christus zu und geschieht gleichzeitig von Christus her. Schon im Alten Testament beginnt diese Bewegung.
74
Vgl. Michel, Annäherungen, passim; ders., Geschichte und Zukunft, passim.
Exegese des Alten Testaments als theologische Disziplin 1
1. Urteile, Vorurteile und Leistungen: Die historische Exegese Da, wo sich engagierte Christenmenschen kritisch mit der akademischen Theologie auseinandersetzen, geschieht dies zumeist auf dem Feld der historischen Exegese. Kaum jemand fühlt sich von der Anwendung sozial- oder mentalitätsgeschichtlicher Fragestellungen innerhalb der Kirchengeschichte oder durch die Verwendung rhetorischer Modelle im Rahmen der praktischen Theologie in seinem Glauben angefochten. Als aber die Exegese mit der Anwendung historischer Methoden zu dem Ergebnis kam, die fünf Bücher Mose seien mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit nicht von Mose verfasst oder der Ablauf des Markus- und des Johannesevangeliums seien nicht im Sinne einer Jesusbiographie zur Deckung zu bringen, da stand gerade in kirchlich gebundenen Kreisen der Sinn einer solchen Fragestellung insgesamt infrage. Nicht hinterfragt wurde und wird bei dieser kritischen Einstellung gegenüber der wissenschaftlichen Bibelauslegung zumeist das eigenen Bild davon, wie die Bibel zu sein hat. Auch blieb und bleibt oft unbedacht, dass eine Exegese, deren Ergebnisse in jedem Fall die Richtigkeit dogmatischer Aussagen oder die Bestätigung der Historizität der in der Bibel geschilderten Ereignisse zu sein hat, als solche überflüssig ist.2 Fragen, deren Antworten von vornherein per Definition feststehen, braucht niemand zu stellen! Auch wenn diese kritische Haltung gegenüber der Exegese hier etwas holzschnittartig dargestellt ist, gibt es solche Skepsis doch – auch in der lutherischen Tradition, obwohl doch Luthers Insistieren auf dem buchstäblichen Sinn der Bibel sowie das lutherische „sola scriptura“ einen wesentlichen Anstoß für das Entstehen einer exegetischen Wissenschaft gaben. Die exegetische Wissenschaft selbst scheint (wieder vereinfacht gesprochen), gelegentlich zum Entstehen solcher Vorurteile beizutragen, wenn z.B. eine rein deskriptive literaturgeschichtliche Betrachtung die Beschäftigung mit der Bibel auf das Nachzeichnen ihrer Entstehungsgeschichte beschränkt, ohne dass die Exegeten selbst es als ihre Aufgabe ansehen, nach der gegenwärtigen Bedeutung der Texte zu fragen. Oder wenn die scheinbar positivistische Darstellung der „Religionsgeschichte Israels“ in einer Scheinalternative der „Theologie des Alten Testa-
1 2
Erweiterte Fassung meiner Antrittsvorlesung als Professor für Altes Testament an der Lutherischen Theologischen Hochschule in Oberursel am 1. Juli 2007. Vgl. Schöne, Irrlehre, 83–93; Behrens/Ben-Smit/Leonhardt, LBH, 186–188.
Urteile, Vorurteile und Leistungen: Die historische Exegese
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ments“ entgegengesetzt wird.3 Zumindest unterschwellig wird dann der historischen Darstellung ein höherer Grad an Wissenschaftlichkeit beigemessen als der Frage nach der Normativität und Gültigkeit der Texte im Rahmen der christlichen Theologie als ganzer.4 So mahnen gelegentlich systematische Theologen, dass es bei der Exegese (insbesondere des Alten Testaments) nicht um die Bestückung eines „religionsgeschichtlichen Museums“, sondern um die Erhellung der Offenbarungsurkunde desjenigen Glaubens geht, dessen Lebensäußerung die Exegese selbst ist.5 Die hier vorgetragenen Überlegungen argumentieren also nach zwei Seiten hin: Menschen, die mit Ernst Christen sein wollen und doch der Exegese skeptisch begegnen, soll der Sinn und Nutzen der historischen und wissenschaftlichen Untersuchung biblischer Texte in Erinnerung gerufen werden. Die Exegese selbst andererseits soll ermutigt werden, sich mit ihren Ergebnissen und der notwendigen hermeneutischen Reflexion im Ganzen der Theologie zu positionieren und ihre Ergebnisse über Fachkreise im engeren Sinne hinaus insbesondere in die kirchliche Öffentlichkeit zu vermitteln.6
3 4
5 6
Vgl. zu dieser Debatte die Beiträge in: Religionsgeschichte Israels oder Theologie des Alten Testaments, JBTh 10 (1995). So etwa, wenn in einer Hierarchisierung der Quellen biblischen Texten allenfalls ein sekundärer oder tertiärer Charakter gegenüber archäologischen Funden beigemessen wird oder wenn terminologisch der „Palästinaarchäologie“ gegenüber den klassischen Terminus „Geschichte Israels“ ein gleichsam höherer Grad an „Objektivität“ zuerkannt wird, weil die Bezeichnung „Israel“ immer schon den Akt des Glaubens, zumindest aber der Deutung (was genau ist „Israel“ historisch gesehen?) innewohne. Als ob der Begriff „Palästina“ nicht auch deutende Vorentscheidungen enthielte! Vgl. zumindest tendenziell in diesem Sinne: Berlejung, Geschichte und Religionsgeschichte des antiken Israel, in: Gertz (Hg.), Grundinformation, 59–192 oder Finkelstein/Silberman, Keine Posaunen vor Jericho. Zur inhärenten Hermeneutik der Archäologie vgl. Oeming, Biblische Hermeneutik, 55–62 und Zwickel, Landes- und Altertumskunde, 38–51. Vgl. Herms, Was haben wir an der Bibel?, 106. Ein Problem der Exegese ist die mangelnde Wahrnehmung und/oder Kommunikation ihrer Ergebnisse in der nicht fachlichen Öffentlichkeit. Gelangen Exegeten mit ihren Ansichten doch in die Öffentlichkeit, dann oft mit reißerischen oder verkürzten Darstellungen von eigentlich höchst komplexen oder kontrovers diskutierten Thesen. Ein Beispiel ist ein Interview mit dem Kopenhagener Alttestamentler (!) und Archäologen Thomas Thompson in der Frankfurter Rundschau vom 5. April 2007 zu Leben, Tod und Auferstehung Jesu Christi. Darin stellt Thompson gleichsam als „wissenschaftliche Autorität“ fest: „Ob es jemals einen historischen Jesus gab, wissen wir definitiv nicht.“ Dies gilt „definitiv“ aber nur unter dem Paradigma der „Kopenhagener Schule“, wonach als „bewiesen“ nur gilt, was sich durch außerbiblische Quellen, vor allem durch archäologische Zeugnisse belegen lässt. Dass die Schlussfolgerung, „wir“ „wüssten“ nicht, ob Jesus je gelebt habe, aus der Sicht so gut wie aller anderen Exegeten absurd anmutet, erfahren die Leser der FR ebenso wenig wie die äußerst kritische Auseinandersetzung mit den Thesen Thompsons und seines Kollegen Niels Peter Lemche innerhalb der Exegese, vgl. dazu Schaper, ZAW 107 (2006), 1– 21 und 181–196.
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Exegese des Alten Testaments als theologische Disziplin
1.1 Gen 6,1–4 oder: Exegese tut Not Da das Reden über Exegese und Hermeneutik nur so lange sinnvoll ist, als es sich in der Begegnung mit biblischen Texten bewährt, soll hier zunächst ein Blick auf konkrete Einzeltexte geworfen werden. Dabei wird nicht beabsichtigt, neue exegetische Einsichten zu Gen 6 und 11 vorzutragen, sondern die Frage nach dem Sinn von Exegese soll im Zusammenhang diesen Texten exemplifiziert werden. Ich beginne mit Gen 6,1–4 jenem rätselhaften Abschnitt, der in der älteren Exegese mit „Engelehen“7 überschrieben wurde. Gen 6 1 2 3 4
Und es begab sich, dass die Menschen zahlreich wurden auf der Oberfläche der Erde und ihnen Töchter geboren wurden. Da sahen die Gottessöhne, dass die Töchter der Menschen schön waren, und sie nahmen sich zu Frauen diejenigen unter ihnen, die sie erwählt hatten. Und Jahwe sprach: „Mein Geist soll nicht für immer im Menschen wohnen, denn auch Fleisch ist er; 120 Jahre sollen seine Tage währen.“ Und die Riesen waren auf Erden in jenen Tagen und auch danach, als die Gottessöhne zu den Menschentöchtern gingen und sie ihnen Kinder gebaren – die Helden waren es, die von Vorzeiten her waren, Männer von berühmtem Namen.
Im Rahmen eines Bibelkreises kam die Rede eher beiläufig auf diesen Text. Eine Teilnehmerin, die seit Jahrzehnten in ihrer Kirche und der lutherischen Tradition zuhause ist, war angesichts dieses Textes sichtlich irritiert und sie fragte, warum Luther nun ausgerechnet diesen verwirrenden Wortlaut aus dem Alten Testament auch übersetzt habe. Hätte er ihn schlicht weggelassen, wäre manche Verwirrung ausgeblieben. Die Logik dahinter ist ebenso verblüffend einfach wie konsequent. Der treue, im Luthertum beheimatete Glaube spürt, dass dieser Text nicht in das herkömmliche System, das Gebäude von tragenden Glaubenswahrheiten passt, obwohl er in der Bibel steht. Da wäre es doch praktisch, eine väterliche Autorität, der man vertrauen kann, sortierte die biblischen Texte vor und ersparte uns irritierende Erfahrungen. Im Grunde „gut katholisch“ gedacht – der Umgang des Luthertums mit der Bibel ist freilich ein grundsätzlich anderer. Hier wird den Christenmenschen „die ganze Heilige Schrift Alten und Neuen Testaments“8 zugemutet. Denn die Schrift enthält als klares personales Zentrum die Botschaft von der Erlösung des Menschen in Jesus Christus. Wo dieses Wort Gottes Glauben im Menschen weckt, weckt es auch Interesse an der Bibel als Quelle und Grund dieses Glaubens. Diese Aussage ist kein historisches Urteil über die Bibel, sondern eine Glaubenssaussage, die axiomatisch und voraussetzungsreich ist. In der lutherischen 7 8
Vgl. Gunkel, HK I/1, 55; Rad, , ATD 2-4, 92. So eine gängige Umschreibung des Wortes Bibel in älteren Ausgaben der Lutherübersetzung.
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Kirche findet sie sich formuliert z.B. in Luthers dictum „Nimm Christus aus der Schrift, was wirst du dann noch in ihr finden?“ aus De servo arbitrio von 1525.9 Wenn in diesem Satz „Christus“ als Chiffre für das Erlösungswerk Gottes steht, so ist für die neutestamentlichen Schriften auch aus historischer Perspektive die Aussage möglich, Christus sei ihr Zentrum. Inwiefern aber auch das Alte Testament als Teil der einen Bibel der Christenheit gelesen wird, deren Mitte insgesamt „Christus“ ist, erfordert einen noch differenzierteren Reflexionsprozess.10 Jedenfalls wird Exegese des Alten Testaments im Rahmen der christlichen, und dann spezifischer: der evangelischen oder katholischen Theologie als Lesart mit einem bestimmten Standpunkt betrieben. Hier werden die religiösen Texte des alten Israel eben nicht nur als Hinterlassenschaften einer Kultur des ersten vorchristlichen Jahrtausends gelesen, die im Grunde vergangen ist. Vielmehr wird der Wortlaut dieser Texte als ein solcher gelesen, der im Leben des Exegeten und der Interpretationsgemeinschaft, der dieser angehört, existenziell relevant geworden ist. Den alttestamentlichen Texten wird also mit einer gewissen Voraussetzung begegnet, nämlich unter den Bedingungen des Zum-Glauben-Gekommenseins in der konkreten Gestalt einer konfessionell geprägten Rezeptionsgemeinschaft (hier: der evangelischlutherischen Theologie und Kirche). Dies ist angesichts der Tatsache, dass es voraussetzungslose Exegese nicht gibt, (selbst-)bewusst zu vertreten gegenüber einer vermeintlich „objektiveren“ nur historisch orientierten Lesart derselben Schriften. Der bewusst bezogene kirchliche und christlich-theologische Standpunkt bei der Exegese des AT hat den Vorteil, dass das geäußerte Vorverständnis reflektiert und in der Begegnung mit den biblischen Schriften gegebenenfalls revidiert werden kann. Dabei darf der einmal vollzogene Emanzipationsprozess einer eigenständigen biblischen Theologie von einengenden, Erkenntnis leitenden dogmatischen Vorgaben weder rückgängig gemacht noch ignoriert werden. Dieser Prozess ist im Übrigen, wenn auch historisch später vollzogen, bereits im Summarischen Begriff der Konkordienformel sachlich angelegt.11
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Vgl. WA 18, 606: „Tolle Christum e Scripturis, quid amplius in illis invenies?“ Vgl. als Überblick immer noch: Gunneweg, Verstehen. „Andere Schriften aber der alten oder neuen Lehrer, wie sie Namen haben, sollen der Heiligen Schrift nicht gleich gehalten, sondern alle zumal miteinander derselben unterworfen und anders oder weiter nicht angenommen werden, dann als Zeugen, welchergestalt nach der Apostel Zeit und an welchen Orten solche Lehre der Propheten und Apostel erhalten worden“ (FC Ep. Vom summarischen Begriff, BSLK, 767f.). Diese Zuordnung von Schrift und nachfolgender Auslegung unterwirft natürlich die lutherische Bekenntnisbildung selbst und die aus ihr und auf sie folgende theologische Lehrbildung der Autorität der Schrift. Damit wird ein endloser hermeneutischer Zirkel beschrieben, in dem die aus der Schrift gewonnenen Bekenntnisaussagen selbst immer wieder zur Schrift hinführen. Dies geschieht unter sich ändernden geschichtlichen Bedingungen stets aufs Neue. Dabei ist der lutherischen Theologie das Kunststück aufgegeben, die eigene als schriftgemäß erkannte Bekenntnistradition doch immer wieder an der Schrift zu messen. Dies geht nur, wenn es ein exegetisches Handwerk gibt, dessen Ergebnisse nicht von vornherein durch bestimmte Lehrbildung präjudiziert sind.
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Wenn glaubende Christen sich dann auf den Wege machen, die Urkunde ihres Glaubens besser zu verstehen (z.B. in einem Bibelkreis), so wird deutlich, dass manche Bibeltexte dichter am evangelischen Zentrum der Schrift sind und andere ferner. Wie ist nun mit „ferneren“ oder, wie man früher sagte: „dunkleren“ Texten umzugehen? Die Christenheit stand von Anfang an in der Versuchung, gerade bei der Lektüre des Alten Testaments diejenigen Texte weniger zu beachten oder gar beiseite zu lassen, die nicht geeignet waren, das Kommen Gottes in Jesus Christus oder andere Glaubenswahrheiten zu erhellen oder zu illustrieren.12 In der lutherischen Tradition ist überdies der Weg versperrt, in schwer verständlichen alttestamentlichen Texten einen allegorischen Hintersinn anzunehmen oder diese Wortlaute entgegen ihrem buchstäblichen Sinn erbaulich, pädagogisch oder eschatologisch umzuinterpretieren. An solchen „schwierigen“ Texten wird besonders deutlich, was für die ganze Schrift gilt: Auslegung tut Not! Exegese tut ihr Geschäft, wenn sie hilft, den Wortlaut biblischer Texte zu verstehen. Dabei beseitigt sie nicht die Irritationen, die solche Texte etwa im Hinblick auf ein dogmatisches Lehrgebäude verursachen. Im Gegenteil! Aber gerade so erfüllt sie ihre Aufgabe. In der Gegenwart anwenden oder in ein dogmatisches Lehrgebäude einordnen lässt sich Gen 6,1–4 nicht ohne weiteres. Ja, der Abschnitt enthält sogar mehrere Gedanken, die vor dem Hintergrund der christlichen Glaubenslehre befremdlich oder gar anstößig erscheinen. Ist hier doch von Gottessöhnen die Rede, was nicht zum jüdischen und christlichen Monotheismus passt. Gott ist offenbar nicht allein im Himmel. Die Vorstellung, Götter könnten Kinder haben, ist in den Pantheons der Antike üblich, nicht aber in Alten Testament – jedenfalls nicht nach den gängigen Vorstellungen des christlichen Glaubens. Sodann gehen diese Gottessöhne Beziehungen mit den schönen Adamstöchtern ein, aus denen dann „Riesen“, ähnlich den Heroen des klassischen Griechenland hervorgehen. Mit dieser Fremdheit steht der Text für eine Vielzahl alttestamentlicher Perikopen, die je das Ihre zum Ganzen der alttestamentlichen Vorstellung vom Menschen und seiner Welt im Angesicht Gottes beitragen, für sich genommen heute aber oft nicht als Predigttext taugen. Im Hinblick auf Gen 6,1–4 bleibt zunächst das Bemühen, den Sinn des Textes in seiner Welt zu verstehen. Das ist die klassische Aufgabe der Exegese. Dazu hier nur eine Skizze13: Im unmittelbar vorangehenden Kapitel Gen 5 findet sich die Genealogie Adams, in der mehrfach stereotyp davon die Rede ist, der jeweils thematisierte Ahnvater habe „Söhne und Töchter gezeugt“ (vgl. Gen 5,4.7.10 u.ö.). Im Rahmen 12
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Damit ist der sog. eklektische Gebrauch des Alten Testaments in der Christenheit angesprochen. Einerseits gilt, dass eine Auswahl aus den alttestamentlichen Schriften die zunächst sperrigen Texte (samt den darin enthaltenen Reibungspunkten z.B. beim Gottesbild) nicht aussperren darf. Andererseits ist das Faktum anzuerkennen (und wiederum kritisch zu reflektieren), dass die Christenheit schon immer Schwerpunkte bei der Bibellektüre gesetzt hat. Dies beginnt schon im NT, wo die Psalmen weit häufiger zitiert werden als die übrigen alttestamentlichen Bücher. Vgl. zum Folgenden Seebaß, Genesis I, 188–199; Schüle, ZBK.AT 1.1, 109–113; Oeming, Sünde als Verhängnis, 49–62.
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des Geschlechtsregisters werden dann aber nur Männer, nämlich der je die Genealogie fortsetzende Sohn, in den Blick genommen. Nun, in Gen 6,1, ist also ausdrücklich von den Töchtern Adams die Rede. Diese werden nun von den בני־האלהיםbene ha’elohim wahrgenommen. Diese „Gottessöhne“ sind nicht leibliche Söhne des Gottes Jahwe, sondern Angehörige eines himmlischen Hofstaats (vgl. 1Kön 22,19f: Jes 6; Hi 1; Ps 29,1; 82,6; 89,7). Evtl. verbirgt sich eine solche Vorstellung in der Urgeschichte bereits hinter den Pluralformen von Gen 1,26 und 3,22. Die Gottessöhne sehen, dass die Menschentöchter schön sind. Dabei ist die Formulierung כי טוב…ויראוund sie sahen…, dass sie schön waren in V. 3 signifikant; denn sie weist zurück auf Gen 3,6: Da sah die Frau, dass der Baum gut war hinsichtlich des Essens… …ותרא האשה כי טוב העץ14 Wie in der Erzählung vom Paradiesgarten steht auch in Gen 6 der Akt des Begehrens am Anfang einer verhängnisvollen Entwicklung. Beide Texte werden auf dem Wege einer syntaktischen Wiederaufnahme miteinander verknüpft, so dass dem aufmerksamen Leser klar wird: Auch in Gen 6,1–4 geht es um Schuld. Diese Schuld scheint in der Vermischung der himmlischen und der irdischen Sphäre zu bestehen, als sich die Gottessöhne die Menschentöchter zu (Ehe)Frauen nehmen („Engel“ oder „Engelehen“ ist ein Anachronismus). Hierin verbirgt sich eine Polemik: Während in der polytheistischen Umwelt Israels solche Verbindungen zwischen Göttern und Menschen berichtet werden, wird dies von Israels Gott Jahwe gerade nicht gesagt. Er ist und bleibt von der Schöpfung geschieden. Da, wo der Unterschied zwischen „Himmel“ und „Erde“ zu verschwinden droht, wie in den Beziehungen der Gottessöhne, greift Jahwe ein. Die Lebenszeit der Menschen wird begrenzt. Bisher war zwar schon prinzipiell gesagt worden, dass die Menschen sterblich sind, aber Metusalem wurde mit 969 Jahren immer noch unwirklich alt (vgl. Gen 5,27). Nun wird die Lebenszeit konkret begrenzt auf 120 Jahre. Es ist Mose, der dieses Vollzahl erreicht (vgl. Dtn 31,2; 34,7). Wie schon nach der Sündenfallgeschichte ist dem Menschen erneut eine Grenze gesetzt. Und ähnlich wie dort wird klar, dass der Mensch nicht sein kann wie Gott, auch nicht auf dem Weg der Vermischung mit himmlischen Wesen. Eigentlich könnte die Geschichte hier schließen und doch folgt noch die seltsame Notiz über die Helden der Vorzeit, die Riesen. Das Wort Riesen נפיליםkommt sonst nur noch in Kundschaftererzählung in Num 13,33 vor und ist dort negativ konnotiert. Gen 6,4 wirkt wie ein Nachtrag, der sich mit den Heldenvorstellungen der helenistischen Antike auseinandersetzt. Hier muss man unwillkürlich an Herkules oder Achill denken. Aus der Sicht des Alten Testaments sind dies eben keine Helden! Was hier hinsichtlich der Exegese von Gen 6,1–4 nur angedeutet werden kann, macht aber deutlich, dass man sich einem auf den ersten Blick sperrigen Text mittels des exegetischen Handwerks – von der Begriffserklärung über die syntaktische Analyse, die Verortung im Kontext, die literarhistorische Einordnung bis zum reli14
Infrage käme als Bezugstext auch das Urteil Gottes aus dem ersten Schöpfungsbericht, z.B. in Gen 1,11: וירא אלהים כי טוב. Gen 6,1–4 ist aber ein nicht-priesterschriftlicher Text, wie die Verwendung des Gottesnamens Jahwe in V. 3 erweist.
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gionsgeschichtlichen Vergleich – nähern, ihn verstehen und am Ende auch Sinn abgewinnen kann; auch wenn anderes fremd und aufgrund der Herkunft aus einem anderen historischen und kulturellen Kontext abständig bleibt. Der Alttestamentler Friedrich Baumgärtel hat vor über fünfzig Jahren geschrieben: „Das schlichte christliche Verstehen des Alten Testaments basiert auf einem Vorverständnis. Der Christ versteht aus seinem Ergriffensein durch das Evangelium von Jesus Christus das Alte Testament als Zeugnis von Jesus Christus.“15 Der „schlichte Christ“ nimmt von seinem Glauben her das AT selektiv wahr: Sätze wie Ps 51,12 „Schaffe in mir, Gott, ein reines Herz, und gib mir einen neuen, beständigen Geist“16 sprechen den glaubenden Christen unmittelbarer an als Gen 6,1–4. Davon unterscheidet Baumgärtel ein „theologisches Verstehen“ des AT, das methodisch kontrolliert und hermeneutisch reflektiert vorgeht. Dieses „theologische Verstehen“ (in der Gestalt der Exegese) kommt dann aber, so Baumgärtel, unweigerlich zu dem Schluss, „daß das Alte Testament Zeugnis aus einer nichtchristlichen Religion ist, deren Selbstverständnis sich mit dem evangelischen Vorverständnis nicht deckt“17. Diese seinerzeit hart umstrittene „radikale“ These Baumgärtels soll hier nicht erneut diskutiert werden. Interessant ist ein Aspekt, den Baumgärtel eher nebenbei erwähnte und in den 50er Jahren bei seiner Zuhöreroder Leserschaft ganz selbstverständlich voraussetzen konnte: Auch das „theologische“, exegetische und methodisch reflektierte Verstehen des AT hat Anteil am „schlichten christlichen Verstehen“, wenn es auch darüber hinaus geht. Anders gesagt: Auch Exegetinnen und Exegeten sind Christenmenschen, und es ist davon auszugehen, dass ihr Glaube der Grundimpuls ist, der sie überhaupt das exegetische Geschäft in Angriff nehmen lässt. Es ist also danach zu fragen, inwiefern in der Person des Auslegers Glaube und Wissenschaft integriert sind, miteinander ins Gespräch kommen, sich gegenseitig befruchten und inwieweit diese Verhältnisbestimmung auch nach außen dringt also intersubjektiv vermittelbar ist. Die Frage, inwieweit Exegese nicht nur ein historisches, sondern auch ein theologisches Geschäft ist, stellt sich also der Person, die Exegese betreibt. Die Frage ergibt sich aber auch durch den Ort, an dem Exegese getrieben wird, nämlich der Theologie an Universität und Hochschule. Und schließlich ergibt sich diese Verhältnisbestimmung auch aus der Zielgruppe. Wird Bibelwissenschaft für die Gemeinschaft der Glaubenden, die Kirche, betrieben, dann ist es auch an dieser Gemeinschaft, die Ergebnisse exegetischen Arbeitens einzufordern und von den anderen theologischen Disziplinen und den anderen Lebensäußerungen des Glaubens wie Verkündigung und Unterricht her mit den Resultaten der Exegese in ein Gespräch einzutreten. Dabei kann natürlich Exegese nicht nur dann gefragt sein, wenn das vom Glauben immer schon Gewusste durch sie bestätigt wird. Vielmehr 15 16 17
Baumgärtel, Problem, 114. Vgl. in diesem Sinne jetzt Behrens, „Schaffe in mir, Gott, ein reines Herz“ [in diesem Band]. Baumgärtel, Problem, 115.
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ist in der Kirche des Wortes auch und gerade dann mit der Bibelwissenschaft in ein Gespräch einzutreten, wenn deren Ergebnisse in Bezug auf vermeintliche Selbstverständlichkeiten widerständig sind, wenn auf biblische Aussagen hingewiesen wird, die im Hinblick auf bisher Vertrautes irritieren. Dass die Bibelwissenschaft dabei hartnäckig und kritisch befragt wird, ist im Sinne der Exegese selbst. Voraussetzung einer solchen dialogischen Kommunikation zwischen Kirche und Exegese ist natürlich, dass der Inhalt der Bibel dasjenige Reden von Gott in Gesetz und Evangelium ist, das in der Theologie dargestellt und reflektiert und in der Kirche verkündigt und gelebt wird. Ist dem so, – und im Vertrauen darauf liegt der Grund dafür, dass der christliche Glaube durch Raum und Zeit seine Identität behauptet – wird die Exegese auch nichts anderes zutage fördern. Dabei wird sie eben ihren spezifischen Beitrag zum Gesamten der Theologie leisten, wenn sie Kontinuitäten, aber auch Diskontinuitäten des derzeitigen Verständnisses der Bibel zu früheren Zeiten aufweist und so dem biblischen Gotteswort in seiner kriteriologischen Funktion auch aller Theologie gegenüber hilft.
1.2 Gen 11,1–9 oder: Exegese befremdet – aber hilft Nachdem es oben um einen sperrigen, meist unbekannten alttestamentlichen Text ging, soll das, was eben über den spezifischen Beitrag der Exegese zur Theologie gesagt wurde, nun an einem sehr bekannten Wortlaut bewährt werden. Im Gegensatz zu dem Abschnitt über die Gottessöhne und Adamstöchter findet sich die Geschichte vom sog. „Turmbau zu Babel“ in jeder Kinderbibel, ist in der Kunstgeschichte wirksam geworden und kommt zu Pfingsten in den gottesdienstlichen Lesungen für die evangelische Kirche vor. So ist der Text kirchlich sozialisierten Christenmenschen vertraut. Wenn sich aber der „schlichte Christ“ oder die „schlichte Christin“ auf die wissenschaftlich exegetische Betrachtung dieser Geschichte einlässt, so kann es zunächst zu der Erfahrung kommen, dass der scheinbar so vertraute Text durch philologische und historische Fragestellungen seinen allzu vertrauten Platz auf dem Kaminsims des eigenen Glaubenshause verliert. So wurde im Zusammenhang eines alttestamentlichen Proseminars das Unbehagen darüber ausgedrückt, dass nach dem Anfertigen einer Hausarbeit über Gen 11,1–9 die Geschichte vom „Turmbau zu Babel“ eher fremder als vertrauter wurde. Dieser Einwand ist ernst zu nehmen. Zugleich soll in einem kurzen Blick auf den Text gefragt werden, inwieweit die methodische Exegese im Unterschied zum „schlichten christlichen Verstehen“ eine Verfremdung der Turmbaugeschichte darstellt, inwiefern die Ergebnisse der Bibelwissenschaft das Verständnis des Textes aber auch bereichern.
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Aber es hatte alle Welt eine einzige Sprache und gemeinsame Worte. Da begab es sich, als sie von Osten aufbrachen, fanden sie eine Ebene im Lande Sinear und wohnten dort. Und sie sprachen einer zu seinem Nächsten: „Na dann, lasst uns Ziegel streichen und Kacheln brennen!“ Und die Ziegel dienten ihnen als Bausteine und Pech diente ihnen als Mörtel. Und sie sprachen: „Na dann, lasst uns für uns eine Stadt bauen und einen Turm, dessen Spitze in den Himmel reicht, so lasst uns für uns einen Namen machen; auf dass wir nicht zerstreut werden über das Angesicht der ganzen Erde!“ Da fuhr Jahwe herab, um die Stadt zu sehen und den Turm, den die Adamskinder gebaut hatten. Und Jahwe sprach: „Sieh an, ein Volk sind sie und eine Sprache haben sie alle, und dies ist erst der Anfang ihres Handelns; und jetzt ist ihnen nichts unmöglich, was immer sie sich zu tun vornehmen. Na dann, lasst uns hinab fahren und dort ihre Sprachen durcheinander schütteln, so dass einer die Sprache seines Nächsten nicht mehr versteht!“ Und Jahwe zerstreute sie von dort über das Angesicht der ganzen Erde; und sie hörten auf, die Stadt zu bauen. Daher wird ihr Name Babel genannt, denn dort hat Jahwe die Sprachen aller Welt durcheinander geschüttelt; und von dort zerstreute sie Jahwe über das Angesicht der ganzen Erde.
Wer sich als Anfängerin in Sachen Exegese oder als nicht Fachtheologe mit den unterschiedlichen Auskünften, die in der Fachliteratur zu diesem Text gegeben werden, befasst, kann in der Tat zunächst befremdet oder verwirrt sein. Da erfährt man, dass die biblische Urgeschichte in Gen 1–11 kein Text ist, der von Anfang an in einem Zuge von nur einem Autor niedergeschrieben wurde, sondern dass sich ein „priesterschriftlicher“ und ein „jahwistischer“, heute besser: ein „nicht-priesterschriftlicher“ Erzählfaden unterscheiden lassen.18 Diese beiden Quellen haben aber ihrerseits auf eine ganze Reihe von Erzählstoffen unterschiedlicher Herkunft zurückgegriffen (für die Sintfluterzählung liegt noch eine andere Fassung im Gilgamesch-Epos vor19) usw. Für die Turmbauerzählung selbst wurde angenommen, dass auch sie nicht aus „einem Guss“, sondern gewachsen sei. Stand am Anfang nur die Erzählung über eine Stadt, zu der erst später ein Turm hinzukam und
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Zur neueren Literarkritik der Urgeschichte vgl. Witte, Urgeschichte; Gertz, Grundinformation, 236–247.260–268. Vgl. Maul, Gilgamesch-Epos und zur ursprünglichen Brisanz der im 19. Jh. neu aufblühenden religionsgeschichtlichen Erforschung des AT: Lehmann, Friedrich Delitzsch und der Babel-BibelStreit.
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die erst in einem dritten Schritt mit Babylon identifiziert wurde?20 Indizien auf ein solches Wachstum könnten sein, dass in V. 4 von einer Stadt und einem Turm die Rede ist, während V. 8 nur von einer Stadt spricht. Auch dass zweimal davon die Rede ist, Jahwe wolle „hernieder fahren“ (der Entschluss in V. 7 kommt nach V. 5 scheinbar zu spät), könnte die Spur eines Textwachstums sein. – Zu diesen Detailfragen kommt ein der historischen Exegese oft vorgeworfene Mangel an Eindeutigkeit; denn es finden sich in der Tat zu diesen und anderen Fragen in unterschiedlichen Kommentaren verschiedene Antworten. So besteht unter den Auslegern z.B. Uneinigkeit darüber, warum Jahwe eigentlich die Sprachen verwirrt. Erklärt wird dies einmal mit dem Turm, der an den Himmel reicht, also Gott in seinem ureigensten Bereich stört (V. 4a); dann mit der Hybris der Menschen, die sich selbst einen Namen machen wollen (V. 4b) oder auch damit, dass ein solcher Monumentalbau ein Zeichen dafür ist, dass der Mensch meint, alles Machbare sei auch erlaubt (V. 6). Wie nun? Aber sind das wirklich Alternativen, oder hängt nicht eins am andern? – Ist Exegese also ein Weg, bisher bekannte Texte (sei es aus der Kinderbibel oder der Kunstgeschichte) in einen historischen Abstand zu rücken und damit Vertrautes zu verfremden und ist das Fach zusätzlich durch die Uneinheitlichkeit seiner Ergebnisse belastet? Ja, historische Exegese verfremdet zunächst Bibeltexte, die scheinbar allzu vertraut sind. Der „garstige Graben“ Lessings wird erst einmal deutlich sichtbar. Aber nicht selten hilft das Abstand nehmen auch dabei, einen besseren Überblick zu bekommen. Die historische Dimension biblischer Texte, die aus Gottesdienst und Bibelkreis vielleicht nicht vertraut ist, soll helfen, dass die Texte ihre eigene Botschaft sagen können und so mit dem Vorverständnis der Bibelleserinnen und -leser – es sei christlich oder bewusst ohne Glauben – in ein kritisches Gespräch eintreten. Es wird deutlich: Die Bibel und das AT im Besonderen sind nicht unser sicherer Besitz, sondern eine Herausforderung. Gottes Wort ist nicht „zeitlos“ entstanden, sondern in einer bestimmten Zeit von bestimmten Menschen mit konkreten ersten Hörern oder Lesern aufgeschrieben. Dies gilt es in der Exegese zu erhellen. Zum Glück sind dabei Dinge (wieder) zu entdecken, die nicht immer schon bekannt waren. Das befremdet zuweilen, ist aber hilfreich. Und weil wir in einem deutlichen historischen Abstand zur Entstehungszeit des Alten Testaments leben, ist nicht mehr alles auf Anhieb ganz einfach zu beantworten. Daher (und aus anderen Gründen) gibt es unterschiedliche Antworten auf die Fragen, die sich die Exegeten stellen. Wenn aber Exegese methodisch nachvollziehbar arbeitet – und mehr bedeutet Wissenschaft im Grunde nicht – wenn also Bibelwissenschaft ein nachvollziehbares Handwerk und keine Geheimwissenschaft ist, dann können Dinge, die in Kommentaren stehen, ihrerseits kritisch befragt und revidiert werden. Wer die Forschungsgeschichte wahrnimmt, kann eine Reihe solcher fruchtbaren Diskussionen unter 20
Vgl. zur Unterscheidung eine „Stadtrezension“ und einer „Turmbaurezension“ bereits Gunkel, HK I/1, 92ff. und die Diskussion bei Seebaß, Genesis I, 271ff. Als neueren Versuch, literarische Schichten innerhalb von Gen 11,1–9 zu identifizieren vgl. Witte, Urgeschichte, 87–97.
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Exegeten erkennen und findet dann auch eine erstaunlich hohe Zahl von Fragen, in denen (jedenfalls eine gewisse) Einigkeit herrscht. Die Frage ist, ob man bei dem Eindruck der Fremdheit stehen bleiben muss, oder ob der exegetische Blick auf die Turmbaugeschichte nicht auch einen Gewinn an Erkenntnissen und Einsichten in diesen Text bringt. Selbstverständlich möchte ich diese Frage bejahen und zumindest im Ansatz an der Turmbaugeschichte illustrieren: Ein Kapitel vor der Turmbaugeschichte, in Gen 10, wurde bereits in der Form eines Geschlechtsregisters festgestellt, dass die Menschheit in verschiedene Völker mit verschiedenen Sprachen zerfällt. Nun wiederholt das elfte Kapitel diesen Sachverhalt in Form einer Erzählung. Der erste Text mit seinem für damalige Verhältnisse wissenschaftlichen Aufzählungsstil gehört zur Priesterschrift21, während unsere Erzählung der jahwistischen, bzw. nicht-priesterschriftlichen Pentateuchquelle zugerechnet wird. Wie in den ersten beiden Kapiteln der Bibel das Nebeneinander zweier unterscheidbarer Schöpfungserzählungen keinesfalls überflüssig ist, so auch hier. Mit der unterschiedlichen Darstellung derselben Sache werden unterschiedliche Aspekte der Wirklichkeit addiert. Das Schematische und Nüchterne hat in der Welt und ihrer Wahrnehmung genauso seinen Platz, wie das Erzählende. Erst unterschiedliche Aspekte gemeinsam ergeben das ganze Bild der Wirklichkeit.22 Betrachtet man die Turmbaugeschichte detailliert, so lassen sich auch dort einige Dinge entdecken, die der „schlichte Christ“ nicht immer schon wusste. So ist der Text durch eine Reihe ganz bewusst gestalteter sprachlicher Beziehungen geradezu komponiert und vermittelt auch durch Wortwahl, Syntax und Textgrammatik seine Botschaft. Einige dieser sprachlichen Mittel, mit denen der Text strukturiert ist, sind oben im Druck der Übersetzung hervorgehoben. Aus der Reihenfolge die-
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Zur komplexen neueren literarischen Analyse von Gen 10 vgl. Witte, Urgeschichte, 111f. Bei allem möglichen redaktionellen Wachstum des Textes ist doch schon aufgrund der Toledot-Formel in V. 1 der Grundbestand auf P zurückzuführen. Dies führt dazu, dass im AT Texte unmittelbar aufeinander folgen können, die nach moderner Betrachtungsweise in einem Widerspruch zueinander stehen, wie die beiden Schöpfungserzählungen in Gen 1 und 2 oder eben hier die Völkertafel in Gen 10, die die Vielfalt der Völker und Sprachen bereits voraussetzt, und die Turmbauerzählung, die dann erst von der Zerstreuung der Völker und der Diversifikation der Sprachen berichtet. Dahinter steckt aber wohl eine spezielle Form der Wirklichkeitserfassung, die für den Alten Orient insgesamt typisch ist, und für die die Ägyptologin Emma Brunner-Traut den Begriff Aspektive geprägt hat. Demnach ergibt die Addition unterschiedlicher Aspekte erst das ganze Bild der Wirklichkeit, auch wenn dabei scheinbare Widersprüche oder Doppellungen auftreten. Dies zeigt sich z.B. an der Eigenart ägyptischer Kunst, in der ein Auge in Frontalansicht auf ein Gesicht im Profil gemalt wird. „Realistisch“ im modernen Sinne ist das nicht, aber das nach damaliger Auffassung je Typische der Aspekte „Auge“ und „Gesicht“ kommt so zur Geltung; vgl. Brunner-Traut, Frühformen des Erkennens. Das Phänomen findet sich auch in den scheinbar doppelten Aussagen des Parallelismus Membrorum der hebräischen Poesie; vgl. Wagner, Parlallelismus membrorum, 1–26; und zur Stereometrie und Aspektive als anthropologischer Grundkategorie der Psalmen: Janowski, Konfliktgespräche, 13–21. Der Sache nach findet sich das aspektivische Verständnis der beiden Schöpfungsberichte bereits bei Michel, Israels Glaube, 144f.
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ser Dinge ergibt sich eine klare Struktur von Gen 11,1–9, aus der hervorgeht, dass es sich um eine gezielt komponierte literarische Einheit handelt23: V.1: alle Welt V.2: wohnten dort V.3: einer zu seinem Nächsten V.4: Na dann, lasst uns… V.5: Jahwe sieht Stadt und Turm V.6: Jahwe beurteilt das Handeln V.7a: Na dann, lasst uns… V.7b: einer die Sprache seines Nächstens V.8: zerstreut von dort V.9: die Sprachen aller Welt
Das Aufdecken solcher konzentrischen Strukturen, in denen jeweils die Glieder miteinander korrespondieren, die auf einer „Ebene“ liegen, ist eine neuere Frucht der historischen Exegese. Dabei kommt insbesondere dem Zentrum einer solchen Komposition – hier dem Urteilen Jahwes – besonderes Gewicht zu. Allerdings können auch andere Möglichkeiten der Strukturierung oder Gliederung desselben Textes sinnvoll sein. So bleibt für Gen 11,1–9 neben einer solchen Konzentrik die seit langem erkannten Zweiteilung des Textes ein hilfreiches Interpretament: V. 1– 4 schildert das Vorhaben der Menschen, während V. 5–9 die Reaktion Gottes darauf bietet.24 Und innerhalb der einen wie der anderen Struktur oder Gliederung sind dann für ein sinnvolles Textverständnis Bezüge der einzelnen Sätze zueinander und andere Dinge mehr, wie z.B. die Beziehung von Anfang und Schluss der Erzählung zu bedenken: Die Menschen bauen Stadt und Turm, „um nicht über die ganze Erde zerstreut zu werden“ (V. 4), aber genau das ist der Effekt (V. 9 – Das Verb „zerstreuen“ פוץ begegnet im AT sonst auch im Zusammenhang mit dem Exil Israels25). Dieser „Ironie des Schicksals“ treten in Gen 11,1–9 andere Ironien zur Seite: Während die Spitze des Turms bis in den Himmel reichen soll (V. 4), muss Jahwe doch „herab“ fahren, um sich das Ganze anzusehen. Dass Jahwe den Entschluss dazu mit der pluralischen Formulierung „Na dann, lasst uns hinab fahren…“ (V. 7) mitteilt, hat wohl nichts mit einer irgendwie polytheistischen Vorform der Geschichte zu tun26, sondern nimmt einfach wörtlich und syntaktisch gleichartig den Beschluss der Menschen wieder auf. Menschlicher und göttlicher Entschluss werden schon durch die sprachliche Form miteinander konfrontiert und die Absurdität des menschli-
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„Fazit: In diesem wohlgeformten Kunstwerk kann man auf kein einziges Element verzichten“ (Seebaß, Genesis I, 274). Vgl. Westermann, BKAT I/1.2, 711ff., aber immer noch auch Seebaß, Genesis I, 274. Vgl. z.B. Dtn 28,64; 30,3; Jer 9,15; 13,24; 18,17; 30,11; Ez 11,16; 12,15. Vgl. so Westermann, BKAT I/1.2, 734.
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chen Planens wird dem aufmerksamen Leser so vermittelt.27 Auch dies ist eine Erkenntnis, die mittels des Handwerkzeugs der historisch-kritischen Exegese erhoben wird. Darüber hinaus hat die exegetische Forschung der letzten eineinhalb Jahrhunderte eine Fülle von Detailinformationen zu Gen 11,1–9 erbracht: über das Zweistromland als Wiege der Kultur, über das Ziegelbrennen in Babylon (nebst dem Unterschied zwischen getrockneten und gebrannten Ziegeln), die Zikkurat von Babel, einem pyramidenartigen Turm, der tatsächlich so etwas wie ein Brücke zwischen Himmel und Erde sein sollte28, oder der Erkenntnis, dass der Name Babel nicht vom Hebräischen Wort „ בללzerstreuen“ kommt, sondern dass das akkadische bab-ilu „Tor der Götter“ heißt29. Neben all diesen und anderen Informationen lohnt ein Blick nach vorn: Dann ist festzustellen, dass es in Gen 12,2 heißt, Jahwe wolle Abrahams Namen groß machen (auch ein „jahwistischer“ Text), während hier die Menschen sich selbst einen Namen machen wollen (V. 4). Genau dies, die Angst um das eigene Dasein, das mit monumentaler Leistung gesichert werden soll, scheint eine der zentralen Pointen der Turmbauerzählung zu sein.30 Schließlich gehört zur Exegese auch die Frage nach der Wirkungsgeschichte eines Textes, die im Falle von Gen 11 zum Pfingstmontag führt, wo die Erzählung von der Sprachenverwirrung alttestamentliche Lesung ist. In dieser Weise gelesen wird die Turmbauerzählung zum Typos des Pfingstereignisses (Antitypos)31: Auch die Sprachgemeinschaften überschreitende, echte ökumenische Verständigung verdankt sich dem Handeln Gottes. Insgesamt sind der Anspruch und das Ziel der Exegese innerhalb der ganzen Theologie eher bescheiden. In erster Linie will sie dazu führen, den Sinn bibischer Texte zu verstehen. Was ist im Wortsinn gemeint? Wann und wo und unter welchen Bedingungen wurden die Texte verfasst? Exegese ist also eigentlich zuerst nichts anderes als ein sehr genaues Lesen dessen, was da steht, um nicht bei dem stehen zu bleiben, was vermeintlich da steht oder aufgrund äußerer Vorgaben eigentlich da stehen sollte. Dann auch: Was sagen die biblischen Texte über das Verhältnis der Menschen zu Gott, damals und heute? Zunächst aber besteht das Ergebnis der Exegese nicht in einer Anwendung der Texte in Predigt, Unterricht oder Bibelkreis sondern im Verstehen der Texte als Voraussetzung solcher Anwendung. Warum und inwiefern Exegese als ein in erster Linie historisches Verstehen für die christliche Theologie und Kirche insgesamt notwendig ist, soll in einem nächsten Schritt bedacht werden. 27
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Hierbei handelt es sich um ein Stilmittel, das ich syntaktische Wiederaufnahme nenne. Dabei werden mittels der Verwendung gleichartiger syntaktischer Konstruktionen Textteile miteinander verknüpft oder, wie hier, kontrastierend aufeinander bezogen; vgl. Behrens, Die „syntaktische Wiederaufnahme“, 1–32. Vgl. Seebaß, Genesis I, 276ff. Vgl. Westermann, BKAT I/1.2, 736. Vgl. Seebaß, Genesis I, 273. Vgl. zur typologischen Auslegung des AT knapp Behrens, Verstehen des Glaubens, 100ff.
Das dialektische Verhältnis von Exegese und Theologie
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2. Das dialektische Verhältnis von Exegese und Theologie 2.1 Exegese und Konfession Die historische Exegese ist auf den ersten Blick kein ausgesprochen theologisches Geschäft, sie bedient sich auch nicht einer „theologischen“ Methode, sondern sucht mit Hilfe von historischen und philologischen Fragestellungen die antiken Texte des Alten und Neuen Testaments zu verstehen. „Theologisch“ wird das alles nun durch den Gegenstand, die Bibel, die nach dem Bekenntnis der ganzen Christenheit insofern kein Buch wie jedes andere ist, als es sich dabei um das offenbarte Wort Gottes in Gesetz und Evangelium handelt, das durch die Zeiten und über den „garstigen Graben der Geschichte“ hinweg das Leben der Menschen im Angesicht Gottes erhellt. An dieser Seite der Bibel hat die Exegese Anteil, weil sie als Lebensäußerung des Glaubens von Menschen im Zusammenhang der Gemeinschaft der Glaubenden, der Kirche, betrieben wird. Es gilt seit den grundlegenden hermeneutischen Debatten des 20. Jh.s als eine Binsenweisheit, dass es keine voraussetzungslose Exegese (also auch kein „objektives“ Verstehen) gibt.32 Nun muss aber in einer hermeneutischen Reflexion derjenigen, die Exegese treiben, immer wieder deutlich werden, welche Rolle der Glaube als Teil des Vorverständnisses für die Exegese spielt und welchen spezifischen Beitrag eine methodisch historisch-philologische Untersuchung der Bibel zum Ganzen der christlichen Theologie leistet. Insofern diese Reflexion der Exegeten nicht nur die eigene subjektive Frömmigkeit umgreift, ist es nicht anders denkbar, als dass sich Exegese zum formulierten Bekenntnis einer Glaubensgemeinschaft in ein bestimmtes Verhältnis setzt. Im Gegensatz zu dem Eindruck, Exegese sei als vornehmlich historisch-literaturwissenschaftliches Verfahren als solche überkonfessionell, ist also auch nach dem Verhältnis der Exegese zu der jeweiligen Konfession zu fragen, in der der Exeget und die Fakultät, an der er tätig ist, beheimatet ist. Natürlich ist eine Verständigung über Konfessionsgrenzen und, soweit es das AT betrifft, im Hinblick auf das Judentum sogar über Religionsgrenzen hinweg in der Exegese in vielen historischen Fragen möglich.33 Dennoch verdient die Konfession, in deren Rahmen die Bibel verstanden werden soll, größere Beachtung. Darauf 32 33
Vgl. Behrens, Verstehen des Glaubens, 17–32. Dies wird im Moment wohl am eindrücklichsten deutlich an Herders Theologischem Kommentar zum Alten Testament (HThKAT). In dieser Reihe arbeiten katholische Bibelwissenschaftler wie Erich Zenger und Frank-Lothar Hossfeld (Psalmen) mit evangelischen Exegeten wie Rainer Kessler (Micha) und jüdischen Auslegerinnen und Auslegern wie Sara Japhet (Chronik) und Moshe Weinfeld (Ezechiel) zusammen. Dies macht noch einmal deutlich, wie sehr das methodisch ähnlich vollzogene Bemühen um das Verständnis des AT, bzw. der Hebräischen Bibel verbindet und wie viel Verständigung über vermeintliche Grenzen hinweg möglich ist. Und doch ist der eigene Standpunkt und die eigene religiöse oder konfessionelle Tradition dabei nicht einfach unerheblich. Es gehört zum Vollzug der Exegese selbst dazu, diesen Standpunkt offen zu legen und (selbst)kritisch zu reflektieren.
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Exegese des Alten Testaments als theologische Disziplin
hat der schon erwähnte Friedrich Baumgärtel 1954 in einer damals anderen kirchlichen Landschaft (vor Leuenberg) aufmerksam gemacht. Er stellt fest: „[…] die bekenntnismäßige Getrenntheit innerhalb der evangelischen Theologie hat in Bezug auf die Hermeneutik offenbar eine weittragende Auswirkung. Die lutherische Exegese versteht anders als die reformierte […] Ich halte die Verschiedenheit für kein Unglück, sondern, da ich von der Tatsächlichkeit und Notwendigkeit jenes Vorverständnisses voll überzeugt bin, für natürlich. Nur müsste auf alle Fälle klar gesehen werden, dass heute der konfessionelle Unterschied in die hermeneutische Problematik um das Alte Testament mit einbeschlossen ist.“34 Nach Baumgärtel hat, soweit ich sehe, erst wieder Manfred Oeming diesen Gedanken aufgegriffen. Er möchte das AT einerseits historisch verstehen, es andererseits aber als einen Text festhalten, der für die gegenwärtige christliche Kirche Relevanz hat. Dafür schlägt er vor, den historisch zu erhebenden Sinn jedes alttestamentlichen Einzeltextes am „Maßstab des Christlichen“ zu messen. Was das aber genau ist, ist immer in Gestalt eines bestimmten christlichen Bekenntnisses ausgesagt. So wird klar, „[…] daß in dem Vorgang des Wertbeziehens und zwar im Akt der Wertwahl ein Moment des Bekenntnisses und der Entscheidung liegt. Durch konsequente historisch-kritische Exegese wird der Punkt der Wertentscheidung gleichsam möglichst weit ‚hinausgeschoben‘; er darf aber nicht abgekoppelt werden. Eine ‚reine Exegese‘, welche meint, allein historisch-exegetisch zu einer allgemein verbindlichen Theologie kommen zu können, ist aufgrund des geschilderten innerbiblischen Pluralismus nicht möglich. Eine Biblische Theologie, die alle oder möglichst viele ‚Konfessionen‘ befriedigen will, zerfließt im Relativismus und wird völlig profillos.“35 So folgt: „Nur im wertbeziehenden ineinander historischer Kritik und systematischer Reflexion (darin involviert natürlich auch die kirchliche Bekenntnistradition) ist gesamtbiblische Theologie möglich.“36 Otto Kaiser sieht die „Aufgabe einer evangelischen Theologie des Alten Testaments“ darin, das alttestamentliche Gotteswort in der darin herrschenden Spannung von Gesetz und Evangelium darzustellen37, und schließlich hat im Jahr 2006 der damalige Oberkirchenrat der VELKD und Professor für Altes Testament, Klaus
34 35 36 37
Baumgärtel, Problem, 122. Allerdings deutet er die konkreten Auswirkungen der jeweiligen Konfession für die Exegese allenfalls an. Oeming, Das Alte Testament als Teil des christlichen Kanons?, 236f. Oeming, Das Alte Testament als Teil des christlichen Kanons?, 238. Vgl. Kaiser, Theologie 1, 75 (Lehrsatz 1 und 2). Dabei ist allerdings zu bedenken, dass die bloße Verwendung des Wortpaares „Gesetz und Evangelium“ noch nicht zwingend ein deutliches konfessionelles Profil signalisiert; vgl. Behrens, „Gesetz und Evangelium“ [in diesem Band]. Allerdings kommt bei Kaiser doch deutlich der Anredecharakter des alttestamentlichen Bibelwortes über die Reflexion des Wortlautes als Gesetz und Evangelium in den Blick.
Das dialektische Verhältnis von Exegese und Theologie
79
Grünwaldt, ganz ausdrücklich die biblische Theologie eines „lutherischen Alttestamentlers“38 vorgelegt. All diese Exegeten sind ein Beispiel dafür, dass ein Bewusstsein für die eigenen konfessionell geprägten (Vor-)Bedingungen historischer Exegese des Alten Testaments durchaus vorhanden ist, wenn die Genannten auch diesbezüglich nicht zwingend repräsentativ für die ganze Zunft sind. Es wird eben wenig öffentlich über den eigenen konfessionellen Standpunkt der Exegeten geredet und reflektiert. Noch weniger werden im Vollzug der historischen Auslegung die Stellen benannt, wo der eigene Bekenntnisstand Einfluss auf das Textverstehen haben könnte. Auch in einem bewusst konfessionellen kirchlichen Kontext, wie in der Selbständigen Evangelisch-Lutherischen Kirche, ist die Beschreibung einer Exegese mit erkennbar lutherischem Profil eher Desiderat als schon vollzogen. Der Allgemeine Pfarrkonvent der SELK hat allerdings im Mai 2009 ein Papier zur Biblischen Hermeneutik angenommen, das genau dies versucht.39 Einerseits wird der eigene lutherischkonfessionelle Kontext ebenso klar benannt, wie grundsätzliche Zielrichtung aller Beschäftigung mit der Heiligen Schrift als Hinführung und Stärkung des christlichen Glaubens. Andererseits wird dabei der Raum eröffnet für historisches Verstehen des Wortlautes und es wird anerkannt und positiv aufgenommen, dass in der Rezeption und Applikation biblischer Texte durch heutige Leser eine gewisse Polyvalenz zum Ausdruck kommt. Dem Papier ist eine baldige Veröffentlichung und kritische Rezeption und Diskussion zu wünschen! Dabei kann es einen – womöglich wichtigen – Schritt auf dem permanenten Weg des Nachdenkens über das Schriftverstehen in der lutherischen Kirche bei verantworteter Zeitgenossenschaft sein.40
2.2 Drei Spannungsbögen In einem letzten Gedankengang soll das Verhältnis von Exegese und Theologie dadurch näher bestimmt werden, dass drei Spannungsbögen beschrieben werden, in denen sich die Bibelwissenschaft als theologische Disziplin abspielt. a) Die Spannung zwischen „Verstehen“ und „Applikation“ biblischer Texte Im Hinblick auf die Bibel ist zwischen dem Verstehen des Wortlautes und seiner Applikation in Predigt, Unterricht, Vertonung in der Kirchenmusik etc. zu unterscheiden. Die Exegese zielt im strengen Sinne auf ersteres. Das heißt, dass Ergebnis der Exegese, wie sie sich z.B. in einem wissenschaftlichen Kommentar greifen lässt, ist noch nicht eine Predigt oder der Entwurf für einen Konfirmandenunterricht. 38 39 40
Grünwaldt, Gott und sein Volk, 7; vgl. dazu die Rezension von Heicke, LuThK 32 (2008), 249– 252. Vgl. Biblischer Hermeneutik, hg. von der Kirchenleitung der SELK, Lutherische Orientierung 10, Hannover 2012. Die im nächsten Text gebotenen Thesen wollen dieser Diskussion dienen.
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Exegese des Alten Testaments als theologische Disziplin
Vielmehr geht es zunächst viel bescheidener um das Verstehen dessen, was da steht und ursprünglich gemeint war. Dazu bedient sich die Exegese historischphilologischer Methoden. Allerdings muss sich die Bibelwissenschaft dessen bewusst sein, dass mit ihren Ergebnissen noch nicht alles gesagt wurde, was in Theologie und Kirche über einen biblischen Text zu sagen ist. Die Bibelwissenschaft sollte sich als ein Pol dieses Spannungsverhältnisses definieren und sie muss m.E. mit der Homiletik, der Religionspädagogik und vielen anderen Bereichen der praktischen Theologie in ein fruchtbares Gespräch eintreten. Die Unterscheidung zwischen Verstehen und Applikation korrigiert zunächst eine übergroße Erwartungshaltung an die Bibelwissenschaft. Man erhoffe sich nicht von jeder exegetischen Beschäftigung mit einem biblischen Text bereits eine Predigt! Aber das, was Bibelwissenschaft zu leisten vermag, dürfen interessierte Christenmenschen von ihr erwarten, ja einfordern und auf dieser Grundlage dann nach angemessenen Applikationen des Bibelwortes in der Gegenwart fragen, oder auch von unangemessenen Anwendungen Abstand nehmen. b) Der Charakter der Bibel als „Text“ und „Wort Gottes“ Die Bibel ist nach dem Bekenntnis der Christenheit das Wort Gottes, das heißt, es ist Anrede an den Menschen als Gesetz und Evangelium und weckt kraft des heiligen Geistes in den Hörenden Glaube. Das innere Zeugnis des heiligen Geistes lässt die Glaubenden der Wahrheit des Gotteswortes innewerden und verleiht Gewissheit im Leben und Sterben. Dieser Prozess ist einer historisch-philologischen Untersuchung nicht zugänglich. Zugleich ist die Bibel aber auch nicht von Gott im Himmel geschrieben, sondern von konkreten Menschen in einer bestimmten Situation verfasst und unter bestimmten geschichtlichen Bedingungen überliefert worden. Die äußere Textgeschichte und zahlreiche Spuren und Aussagen innerhalb des biblischen Wortlauts bezeugen diese historische Dimension des Wortes Gottes. Anders gesagt: Das Wort Gottes ist auch ein Text und seiner äußerlichen Erscheinung nach durchaus anderen antiken Texten vergleichbar.41 Die Exegese, wie sie heute als wissenschaftliche Methode betrieben wird, richtet sich zunächst auf die äußere Textgestalt der Bibel und versucht diese zu verstehen. Sie erinnert damit Theologie und Kirche daran, dass Gottes Wort eben nur so und nicht anders zu haben ist, und verleiht immer neu der reformatorischen (insbesondere lutherischen) Einsicht Gehör, dass das äußerliche, geschriebene und überlieferte Wort zu hören und zu verstehen ist, wenn Gottes Wort gehört werden soll. Gleichzeitig muss Exegese selbst bedenken, dass es eben das Wort Gottes an die Menschen ist, dessen 41
Vgl. Phil 2,7. Die Analogie zur Zwei-Naturen-Lehre der Christologie scheint mir durchaus für eine angemessene Beschreibung der Bibel als Gotteswort im Menschenwort hilfreich zu sein. Auch für Gottes Reden im Alten und Neuen Testament gilt: „Das Wort ward Fleisch“ (Joh 1,14) und unterliegt in seiner äußeren Gestalt den Bedingungen allen menschlichen Verstehens und Missverstehens; vgl. Sasse, Sacra Scriptura.
Das dialektische Verhältnis von Exegese und Theologie
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äußerliche Hülle da untersucht wird. So gehört zur Exegese mehr als zu anderen historischen Textwissenschaften eben auch die hermeneutische Frage nach der Gegenwartsbedeutung dessen, was dort verstanden worden ist. c) Die Spannung zwischen „extra nos“ und „pro me“ Auch dieses Begriffspaar hält eine Spannung fest: Der Grund des Heils der Menschen liegt außerhalb unserer selbst in Gottes Handeln in Jesus Christus. Zugleich ist unerlässlich, dass der Mensch dessen inne wird, dass dieses Heilswerk „für mich“ (und nicht nur als historisches Ereignis irgendwann einmal) geschehen ist. Das spannungsvolle Miteinander von Außen und Innen ist also für den Glauben nach evangelisch-lutherischem Verständnis immer schon konstitutiv. Nur wenn beides festgehalten wird, ist das von Gott in Jesus Christus neu konstituierte Verhältnis zum Menschen angemessen beschrieben. Diese spannungsvolle Beziehung von „außerhalb meiner selbst“ und „für mich“ ist auch auf das Verhältnis der Kirche zur Bibel zu übertragen.42 Zwar zielt das Wort Gottes insbesondere in der Verkündigung immer auf „meinen“ Glauben, zugleich erreicht es dieses Ziel aber nur, weil es ein von mir selbst unterschiedenes „äußerliches“ Wort bleibt. Das Augsburger Bekenntnis hält dies im fünften Artikel „Vom Predigtamt“ fest, worin diejenige Position verworfen wird, die ein Zustandekommen des Glaubens „ohn das leibliche Wort des Evangelii“/„sine verbo externo“43 annimmt. Hier erfüllt die Exegese einen eminent theologische Funktion, indem sie nämlich das Bibelwort als „äußerliches Wort“, als von mir unterschiedenes, ja mich zunächst und immer wieder befremdendes Wort festhält und erforscht durch den Vorgang der Übersetzung aus den Ursprachen, sowie durch die Kenntnis von Syntax, Semantik und Pragmatik dieser Ursprachen, durch Wissen um geschichtliche Umstände und die Eigenart der Überlieferung der alt- und neutestamentlichen Schriften bis zur Entstehung des Kanons. Die Exegese hält durch ihren spezifischen Beitrag im Zusammenhang der ganzen Theologie das Wissen um die „Externität des Schriftwortes“ wach, um es mit Gunther Wenz zu sagen, und erweist sich gerade darin als ein theologisches Unterfangen. 44
42
43 44
Vgl. Schmidt, Alttestamentliche Hermeneutik, 323–344, der unterschiedliche hermeneutische Modelle zum Verstehen des AT bewusst auf ihr Verhältnis zu einer ausgewogenen Spannung von extra nos und pro me befragt. BSLK, 58. Wenz, Theologie 1, 191: „Schriftauslegung darf sonach niemals subjektivistisch im Sinne eines bloßen Reflexes eigener Glaubensunmittelbarkeit sein. Die Externität des Schriftwortes und dessen inhaltlich bestimmter eigener Sinn sind vielmehr ernst zu nehmen auch und gerade dann, wenn sie der subjektiven Selbstwahrnehmung als befremdlich erscheinen. Solch strikt geforderte Nichtbeliebigkeit der Schriftauslegung schließt die Kenntnis bestimmter Regeln der Texterschließung notwendig ein, die nicht nur die Syntax, sondern auch die Semantik und Pragmatik von Texten betreffen.“
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Exegese des Alten Testaments als theologische Disziplin
Sicherlich ließe sich Exegese des Alten Testaments auch konsequent als historische Betrachtungsweise von Zeugnissen einer Kultur- und Gesellschaftsform im vorchristlichen Palästina betreiben. Diese Disziplin gehörte dann aber nicht in die Theologie, sondern wohl eher in die Altorientalistik. Wenn Exegese aber Teil der Theologie sein will, so muss sie die Spannungsbögen zwischen den jeweiligen Polen aushalten. Und nur wenn Verstehen und Applikation zusammen bedacht werden, wenn der Charakter der Bibel als historischer Text und Wort Gottes zugleich bestimmt wird, wenn extra nos und pro me als Eigenschaften der Heiligen Schrift festgehalten werden, wird theologische Exegese sachgerecht betrieben. Dabei sind die genannten (und andere45) Pole immer dialektisch aufeinander bezogen, d.h., die Bibel wird als „Text“ genauer betrachtet, weil sie Menschen als „Wort Gottes“ betroffen hat. Gleichzeitig führt die Beschäftigung mit den Worten des „Textes“ wiederum zur Begegnung mit dem „Wort Gottes“ usw. Dieser hermeneutische Zirkel (eher eine Spirale) setzt sich fort, solange es christlichen Glauben gibt und ist zumindest in den letzten 2000 Jahren noch nicht langweilig oder belanglos geworden. Der Schwerpunkt der Exegese liegt dabei jeweils auf der einen Seite, aber sie trägt das Ihre zum Ganzen der Theologie bei.
3. Schluss Ich schließe mit einem Zitat von Odil Hannes Steck, einem verstorbenen Alttestamentler, der den Nachgeborenen seiner Zunft neben vielem anderen auch die Erinnerung an die theologische Dimension wissenschaftlicher Bibelauslegung hinterlassen hat: Exegese hat „eine dienende, aber gleichwohl unverzichtbare Bedeutung. Warum? Das biblische Gotteswort Alten Testaments hat seine Formulierung in einer Zeit und durch menschliche Zeugen mit Sprach- und Erfahrungshorizonten empfangen, die uns gegenüber mehr als zwei Jahrtausende älter sind. Sollen so alte Texte vor der Willkür geschützt werden, daß wir Heutigen ihnen gut- oder böswillig oder auch nur ahnungslos unterstellen, was wir gerne aus ihnen hören möchten, sollen die Texte also ihr eigenes Wort im Gegenüber zu allen späteren Rezipienten sagen dürfen, dann hat die Frage alttestamentlicher Exegese nach dem ursprünglich-historischen Sinn grundlegende Bedeutung, auch wenn sie nur ein erster Schritt ist auf dem Wege der Übermittlung des Gotteswortes bis ins Heute, zu der alle theologischen Disziplinen verantwortlich zusammenwirken müssen.“46
45 46
Zu denken ist z.B. noch an „Vielfalt“ und „Einheit“ oder „Geschichte“ und „Normativität“. Steck, Exegese des Alten Testaments, 1.
Thesen zur biblischen Hermeneutik und Exegese im Kontext lutherischer Theologie 1. Die Bibel als Gottes Wort und Text −
Die Bibel ist Gottes Wort. Insbesondere das Ist muss dabei vor Missverständnissen bewahrt werden. Es ist nicht im Sinne einer mathematischen Gleichung zu verstehen, denn der Satz ist nicht umkehrbar, da das Wort Gottes keineswegs in der Bibel aufgeht. Zuerst ist Christus der Fleisch gewordene logos (Joh 1,14) und somit das Wort Gottes; sodann ist auch die Verkündigung von diesem Christus als viva vox 1 evangelii Wort Gottes. Gleichwohl halte ich an dem Ist fest gegenüber Formulierungen, wie die Bibel enthalte das Wort Gottes oder sie werde den Gläubigen je und dann zum Wort Gottes. Denn es findet sich kein Maßstab, der innerhalb der Bibel das „enthaltene“ Wort Gottes von evtl. anderen Worten differenzieren könnte. Die Rede, die Bibel „werde“ zu Gottes Wort, betont zwar zu Recht das Moment der existenziellen Betroffenheit, übersieht aber andererseits, dass die Bibel auch dann Wort Gottes ist, wenn es scheinbar nicht wirkt, oder gar Ablehnung findet, wie z.B. in den Verstockungsaussagen des 2 AT (vgl. Ex 14; Jes 6).
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Als Wort Gottes hat die Bibel einen zentralen Inhalt: Christus. Das Bekenntnis zu Christus als Mitte der Schrift ist hinsichtlich der ganzen Bibel nur von einem christlichen Standpunkt aus sinnvoll. Zugleich steht „Christus“ hier nicht nur für die Person des Jesus von Nazareth, sondern für ein soteriologisches Handeln Gottes, das als solches auch im Alten Testament erkannt werden kann. Zugleich bewahrt die Rede von der Mitte oder dem Zentrum der Schrift vor einer biblizistischen Vergleichgültigung aller biblischen Texte und vor der unsachgemäßen Einebnung des Sinnreliefs der Bibel.
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1 2 3
Als Wort Gottes hat die Bibel eine zentrale Eigenschaft: Wirksamkeit (d.h., es wirkt kraft des heiligen Geistes Sündenerkenntnis und tröstet die angefochtenen Gewissen).3 Diese Aussagen sind Glaubenssätze. Sie gründen in der Autopistie der heiligen Schrift als Zeugnis des heiligen Geistes in den Glaubenden. Insofern haben diese Aussagen axiomatischen Charakter. Die Einsicht, dass die Bibel Gottes Wort ist, ist nicht Ergebnis methodischer Exegese.
Vgl. Joest/Lüpke, Dogmatik I, 55–58. Vgl. Schöpflin/Bachmann, LBH, 642–644; Dietrich,Verstockung. „Die Anerkennung der Schrift als Gottes Wort gründet in der Erfahrung ihrer Glauben schaffenden Wirksamkeit“ (Joest/Lüpke, Dogmatik I, 56).
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Thesen zur biblischen Hermeneutik und Exegese im Kontext lutherischer Theologie
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Das Wort Gottes liegt immer als ein von Menschen gesagtes und geschriebenes vor. Es nimmt die konkrete geschichtliche Gestalt des Bibelbuches an, das unter den Bedingungen und Voraussetzungen, die alles menschliche Verstehen prägen, auch verstanden werden kann. „Wir haben den Schatz nur in irdenen Gefäßen“ (2Kor 4,7).4
2. Exegese und Theologie −
Die Glaubenden, die als solche vom Wort Gottes getroffen sind, reflektieren ihren Glauben. Sie wollen sich selbst als Glaubende, Gott als Urheber des Glaubens und die Quellen des Glaubens verstehen und möglichst verständlich machen. Insofern ist Theologie eine Funktion des Glaubens und eine Funktion der Gemeinschaft der Glaubenden, der Kirche. Im Unterschied zur Religionswissenschaft nimmt also die Theologie im Hin5 blick auf die Reflexion des Glaubens immer die Binnenperspektive ein. Theologie ist keine interessierte Wahrnehmung von Glaubensinhalten und deren Vollzügen, sondern ein Akt des Glaubens selbst. Dieser geschieht freilich so, dass der Glaubende nicht nur seine individuelle Betroffenheit zur Sprache bringt, sondern so, dass diese im Diskurs der Glaubenden nachvollziehbar zur Darstellung gebracht wird. Die Konkordienformel bringt das durch die immer 6 wiederholte Formulierung „Wir glauben, lehren und bekennen…“ zum Ausdruck. Aus dem glaubenden Individuum wird ein Wir, eine Glaubensgemeinschaft. Dieses Wir lehrt, d.h. Glaube wird reflektiert und dann als Bekenntnis auch öffentlich und rechenschaftsfähig zur Darstellung gebracht.
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Soweit es die Bibel betrifft, vollzieht sich dieser Verstehensprozess im Medium der Exegese.
Hermann Sasse hat hierfür die Zwei-Naturen-Lehre aus der Christologie als Analogie angeführt (vgl. Sasse, Sacra Sriptura). Der Satz „Das Wort ward Fleisch“ (Joh 1,14) gilt nicht nur für den Mensch gewordenen Gottessohn, sondern auch für das Text gewordene Gotteswort. Wichtig ist allerdings, dass es sich hier tatsächlich um eine Analogie handelt: „Die kommunikative Einheit von Gottes Wort und Menschenwort ist zu unterscheiden von der personalen Einheit von Gott und Mensch in Jesus Christus“ (Joest/Lüpke, Dogmatik I, 57); denn Christus ist als die zweite göttliche Person selbst Gegenstand des Glaubens. „Zugleich ist in dieser Unterschiedenheit der überaus enge Zusammenhang zu bedenken. Die Schrift ist das Medium, in dem Gott und Mensch zusammenkommen. Sie bringt zur Sprache, wie es um den Menschen vor Gott steht und wer Gott für den Menschen ist. Und sofern dieses Verhältnis zwischen Gott und Mensch durch die Sünde zum Missverständnis geworden ist, von Seiten des Menschen aber nicht in Ordnung gebracht werden kann, liegt die Bedeutung der Bibel eben darin, dass sie den Menschen ins rechte Verhältnis zu Gott setzt“ (ebd.). „Während die Religionswissenschaft sich mit dem christlichen Glauben bewußt aus einer Außenperspektive befaßt, arbeitet die Theologie ebenso bewußt aus der Innenperspektive heraus. […] Theologie ist eine Funktion des Glaubens. Christliche Theologie ist folglich eine Funktion des christlichen Glaubens“ (Härle, Dogmatik, 10 [Hervorhebungen so im Original]). Vgl. BSLK, 767 und zu solchen konfessorischen Formeln Klän, LuThK 19 (1996), 2–28.
Exegese und Theologie
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Diese Exegese soll methodisch kontrolliert und intersubjektiv vermittelbar geschehen. Daher bedient sie sich der Methoden der sog. „historischkritischen Exegese“. Zu dem „klassischen“ Instrumentarium (Textkritik, Literarkritik, Überlieferungs-, Redaktions-, Form-, Traditions- und Wirkungsgeschichte sowie der Bestimmung des Historischen Ortes) treten auch andere, neuere Fragestellungen.7 Ist die erste Aufgabe der methodischen Exegese die historische Sinnbestimmung eines biblischen Textes, so tritt mehr und mehr ins Bewusstsein, dass sich diese Texte in der Regel nicht auf einen Sinn festlegen lassen. Schon durch inneralttestamenltiche Redaktionsprozesse und dadurch bedingte Rekontextualisierungen ergeben sich Sinnverschiebungen. In der fortlaufenden Relecture, Zitation und Auslegung biblischer Texte wird klar, dass sie nicht in einer einzigen historischen Situation aufgehen, sondern durch die Zeiten immer neue Bedeutung für ihre jeweilige Rezeptionsgemeinschaft gewinnen. Dies 8 lässt sich bereits innerbiblisch mit den Methoden der Exegese erkennen.
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Exegese hat das Verstehen des historischen Textsinns der Bibel in ihrer vorliegenden Endgestalt zum Ziel. Das schließt ein, dass auch nach der Geschichte eines Textes gefragt wird, sofern der Wortlaut dazu Anlass bietet. Eine ausschließlich oder vorwiegend „kanonische“ Exegese ist also nicht wünschenswert, da sich gerade in der diachronen Struktur eines Textes seine Sinnfülle oft erst erschließt. Eine Beschränkung auf den „Endtext“ droht hier, das 9 Bedeutungsspektrum zu verflachen. Gleichzeitig ist ein Text dann noch nicht verstanden, wenn seine Literargeschichte als geklärt erscheint. Zahlreiche innerbiblische Querbezüge und intertextuelle Vernetzungen erschließen zusätzliche Bedeutungsnuancen.
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Exegese verfährt nach den Spielregeln der Vernunft. Ihre Ergebnisse sind nicht in erster Linie Wirkung des Geistes, sondern methodisch gewonnen. Exegetische Ergebnisse müssen vermittelbar sein und sie sind prinzipiell revidierbar. Exegese leistet den Dienst, jeden biblischen Text in seiner Eigenart und mit seinem Eigensinn zu verstehen und zum Sprechen zu bringen.
Vgl. Biblische Hermeneutik, 10ff. und 19–24. Preuß, Predigt, 49f.: „Der Exeget aber, der nicht bei seiner Exegese biblischer Texte wahrnimmt, daß diese Texte Anspruchs- und Zuspruchscharakter haben, denen ihre Stellung im Kanon jeweils neu zur Verwirklichung verhelfen will, dieser Exeget ist kein ungläubiger Mensch, sondern schlicht ein schlechter Exeget, so wahr wirkliches Verstehen über Kenntnisnahme hinausgeht hin zur Begegnung mi dem Gegenstand und Anliegen des Textes. Das Verstehen von Bibeltexten zielt auf Glauben, und auch daher gehören historisch-kritische und theologische Exegese zusammen.“ Vgl. Jeremias, Entwürfe, 133–140.
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Thesen zur biblischen Hermeneutik und Exegese im Kontext lutherischer Theologie
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Ihren Bezug zum christlichen Glauben und zur Gemeinschaft der Glaubenden erhält die Exegese zum einen durch ihren Gegenstand, die Bibel, und zum anderen dadurch, dass sie von Glaubenden betrieben wird. Insofern gehört zur Exegese immer auch die hermeneutische Reflexion der Ausleger über ihr Vorverständnis, das mit dem biblischen Wortlaut in ein Gespräch treten wird. Dies beinhaltet auch die Ortsbestimmung der exegetischen Wissenschaft und der einzelnen Exegetinnen und Exegeten innerhalb der Theologie. Hier ist auch die bewusste Reflexion der je eigenen konfessionellen Geprägtheiten geboten.
3. Das Bekenntnis der Kirche − −
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Die lutherische Kirche gibt rechenschaftsfähig und verbindlich Auskunft über ihren Glauben in den Bekenntnisschriften der evangelisch-luther– ischen Kirche, wie sie sich im Konkordienbuch von 1580 finden. Das Zentrum der Bekenntnisschriften ist die Verkündigung der Rechtfertigung des Sünders vor Gott aus Gnaden, um Christi willen und durch den Glauben. Alle anderen Artikel werden immer wieder hierzu in Beziehung gesetzt. Als sachgerechte Auslegung des biblischen Evangeliums gebrauchen die Bekenntnisse die Bibel zur Darlegung und Erklärung dieses Evangeliums.10 Weil die Bekenntnisse kein anderes als das biblisch bezeugte Evangelium aussagen wollen, sind sie auf sachgerechte Exegese angewiesen. Die Bekenntnisse halten fest, dass die Heilige Schrift alleiniger Maßstab aller kirchlichen Lehre ist. Dies gründet in der axiomatischen, vom Geist bezeugten Gewissheit, dass die Bibel Gottes Wort ist. Dieser Maßstab gilt auch für die Bekenntnisse selbst.11 Insofern ist gerade dort, wo das Bekenntnis als Ausdruck grundlegender Glaubensübrzeugungen und einsichtig gewordener Wahrheiten gilt, immer daran zu erinnern, dass die Formel „Schrift und Bekenntnis“ stets ein Gefälle hat. Der Bibel als Ursprungszeugnis und Offenbarungsurkunde des christlichen Glaubens kommt als norma normans immer ein Vorrang vor der daraus abgeleiteten norma normata zu.
10 11
Vgl. Behrens, Aspekte des Schriftgebrauchs [in diesem Band]. Nach Aussage des „summarischen Begriffes“ der FC müssten auch die Bekenntnisse selbst als von der Bibel her grundsätzlich revidierbar sein. Es ergibt sich die Schwierigkeit, wie die lutherische Kirche eine solche Revision praktisch vollziehen könnte, wenn den Bekenntnissen doch als verbindlichen Texten eine gewisse Normativität zukommt. Diesen komplexen zirkulären Prozess kann die lutherische Kirche nur in einem fortwährenden theologischen Diskurs vollziehen. Hier zeigt sich dann, dass an der Bibel orientiertes theologisches Verstehen immer nur im Modus der Auslegung zu haben ist
Schriftauslegung als Verkündigung/Applikation
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4. Schriftauslegung als Verkündigung/Applikation −
− −
Die Gemeinschaft der Glaubenden beschäftigt sich mit der Bibel nicht nur im Hinblick auf historisches und philologisches Textverstehen. Vielmehr ist ihr eigentlicher Gebrauch der Bibel die Verkündigung, durch die der heilige Geist Glauben weckt und stärkt. Exegese und Verkündigung müssen also deutlich voneinander unterschieden werden: Das Ziel der Exegese ist nicht eine Predigt. Das Ziel der Verkündigung ist nicht eine historische Erklärung des Textes. Exegese und Verkündigung müssen aber aufeinander bezogen bleiben. Exegese im Kontext der Kirche hat zum Ziel, dass jeder biblische Text auch in der Verkündigung sein je Eigenes sagen kann. Insofern hat Exegese im Kontext der Kirche für die Verkündigung des Wortes Gottes eine dienende Funktion. Auch um dieser Funktion gewissenhaft und kontrollierbar nachkommen zu können bedarf die Exegese einer rechenschaftsfähigen Methode. Insofern ist die historisch-kritische Exegese immer wieder neu zu einer Bestimmung des eigenen Standortes innerhalb des Ganzen der Theologie genötigt. So ist danach zu fragen, welche Rolle der Gesamtzusammenhang der christlichen Wirklichkeitsauffassung und der kirchlichen Lehrbildung (in je konfessionell bestimmer Gestalt) für die exegetische Arbeit spielt und welchen Beitrag die Exegese zur Vertiefung oder gegebenenfalls zur Modifikation dieses Gesamtzusammenhanges beiträgt.
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Umgekehrt bedarf die Verkündigung unbedingt einer nachvollziehbaren Exegese, damit nicht theologische Sätze, sondern der Eigensinn jedes Textes zur Sprache kommt. Insofern sind die theologische Reflexion in der systematischen und praktischen Theologie sowie die kirchliche Verkündigung immer wieder zu einer Auseinandersetzung mit neuen exegetischen Erkenntnissen genötig. So ist danach zu fragen, inwieweit diese Erkenntnisse für die Kommunikation des christlichen Wirklichkeitsverständnisses und die kirchliche Lehrbildung fruchtbar aufgenommen oder gegebenenfalls kritisch diskutiert werden können.
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Schriftauslegung als Verkündigung geschieht in der lutherischen Kirche unter verschiedenen theologischen Leitlinien:12 Die Schrift wird von ihrer Mitte, Jesus Christus, her und auf diese Mitte hin verkündigt. Die Bestimmung eines sachlichen Zentrums der biblischen Theologie in der Botschaft von der Rechtfertigung und einer Personmitte in Jesus Christus bewahrt vor der Auffassung alle biblischen Aussagen als gleich gültig anzusehen
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Vgl. Behrens, Verstehen des Glaubens, 138–157. Zu den anthropologischen Leitlinien lutherischen des Schriftverstehens vgl. a.a.O., 158–176.
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Thesen zur biblischen Hermeneutik und Exegese im Kontext lutherischer Theologie
und nötigt zugleich zum Geschäft der Auslegung, ohne die das christliche Wirklichkeitsverständnis weder in der Schrift zu erheben noch in der Welt zu verkündigen ist.
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Die Schrift wird als Gesetz und Evangelium verkündigt. Dabei ist unbedingt festzuhalten, dass es sich um eine kerygmatische und nicht eigentlich um eine exegetische Kategorie handelt. Das biblische Gotteswort ergeht als Anrede des Gesetzes und des Evangeliums. Das Gesetz erinnert den Menschen an sein Sündersein und damit auch an die Grenzen seiner Erkenntnisfähigkeit im Hinblick auf Gott. Die Reihenfolge ist unumkehbar und das Evangelium als Trost des Menschen coram deo muss das letzte Wort sein. Eine grundsätzliche Klassifizierung biblischer Wortlaute oder gar des Alten und Neuen Testamens in Gesetz oder Evangelium ist nicht möglich.
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Die Schrift wird unter dem Gesichtspunkt von Glaube und Liebe verkündigt. Die Unterscheidung von Glaube und Liebe ist unbedingt festzuhalten, wenn es um die (biblische) Begründung christlicher Ethik geht. Auch hier ist die Reihenfolge unumkehrbar. Zuerst ergeht die Einladung zum Glauben, bevor die christliche Lebensführung oder die aus dem Glauben folgenden guten Taten thematisiert werden können. Geht der christliche Glaube in moralischen Anweisungen auf, führt er letztlich in die Gesetzlichkeit. Wo von christlichen Werten die Rede ist, geht dies nur, wenn das Gottesverhältnis der Menschen zum Thema geworden ist.
Aspekte des Schriftgebrauchs der Lutherischen Bekenntnisschriften 1
1. Anmerkungen zum Verhältnis von Bekenntnis und Exegese 1.1 Vorbemerkungen Die folgenden Ausführungen entstanden für einen Pfarrkonvent der Selbständigen Evangelisch-Lutherischen Kirche auf Bitten des zuständigen Propstes. Allerdings bin ich selbst nicht ausgewiesener Experte auf dem Gebiet der Bekenntnisschriften, wohl aber an hermeneutischen Fragen sehr interessiert.2 Vor allem aber ist mein Blick auf das Thema der eines (alttestamentlichen) Exegeten und nicht der eines Kirchengeschichtlers oder Systematikers. Und so ist es am Ende vielleicht diese andere, eher exegetische Sichtweise, die der vorliegenden Behandlung des Themas einige hoffentlich interessante Aspekte verleiht. Zudem ist zu sagen, dass der Schriftgebrauch aller lutherischen Bekenntnisschriften hier natürlich nicht angemessen zu erfassen oder zu bewerten ist. Auch wenn die einschlägigen Theologien der lutherischen Bekenntnisschriften diesen Punkt allgemein unter der Überschrift „Schrift und Bekenntnis“ behandeln3, so ist doch immer klar, dass genau genommen zwischen den einzelnen Bekenntnissen differenziert werden müsste, die ja von unterschiedlichen Menschen zu unterschiedlichen Zeiten für unterschiedliche Zielgruppen verfasst wurden und deshalb im einzelnen auch unterschiedlich mit der Schrift umgehen. Alles, was im Folgenden ausgeführt wird, wird also notwendigerweise etwas pauschal und verallgemeinernd gehalten sein. Zunächst kann ich diese Not nicht beheben, sondern nur Rechenschaft darüber ablegen, dass sie besteht. Worum soll es also gehen? Ich möchte versuchen, mit Überlegungen zum Schriftgebrauch der lutherischen Bekenntnisse eine Standortbestimmung vorzunehmen oder zumindest dazu beizutragen. Es geht dabei um die Bestimmung des Standortes einer bewusst an das lutherische Bekenntnis gebundenen Theologie und Kirche in einer zunehmend komplexeren theologischen Landschaft. Insbesondere ist dabei das Verhältnis zur Exegese von Interesse, deren Arbeitsfelder, Fragestellungen und Ergebnisse zunehmend nicht mehr nur inkompatibel mit dem Schrift1
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Referat auf dem Sprengelpfarrkonvent Nord der SELK am 20.4.2005 in Nettelkamp. Aus Krankheitsgründen konnte ich den Text leider nicht selbst vortragen. Dies übernahm mein Freund Pfr. Henning Scharff, dem ich auf diesem Wege herzlich dafür danke! Vgl. Behrens, Verstehen des Glaubens, 9–13 und 123–127. Als einschlägig können gelten: Schlink, Theologie, 23–66; Brunstäd, Theologie, 18–27; Wenz, Theologie 1, 166–192.
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gebrauch der klassischen Dogmatik zu sein scheinen, sondern bei Pfarrern und Gemeinden auch gar nicht mehr in relevantem Maße ankommen.4 Könnte es sein, dass in einer zunehmenden unverständlichen und scheinbar lediglich mit sich selbst befassten Exegese des Alten und Neuen Testaments (so jedenfalls das Vorurteil) die Bekenntnisschriften so etwas wie die Leitlinien einer „lutherischen Exegese“ vorgeben? Um es gleich vorweg zu sagen: Ich denke, so geht es nicht. Es muss m.E. vielmehr darum gehen, durch genaues Hinsehen jeweils zu klären: a) Mit welcher Zielrichtung lesen (oder „gebrauchen“) die Bekenntnisschriften die Heilige Schrift? b) Was ist das Ziel und die Aufgabe der heute praktizierten exegetischen Wissenschaft innerhalb der Theologie? Es käme dann darauf an, beiden Sichtweisen auf die Bibel ihr je eigenes Recht zuzuerkennen und das Verhältnis beider Fragerichtungen an die Bibel zu bestimmen. Dazu möchte ich folgendermaßen vorgehen: Zunächst werden Aspekte des Schriftgebrauchs der Bekenntnisschriften in Erinnerung gerufen und kritisch kommentiert. Dabei orientiere ich mich an Aussagen der Literatur zu Systematik und Symbolik.5 Dann sollen kurz (und wieder nur pauschal und überblicksartig) die Ziele und Methoden der zeitgenössischen Exegese in Erinnerung gerufen werden. Schließlich ergeht in einer Art Synthese die Bestimmung des Verhältnisses dieser unterschiedlichen Weisen, die Bibel zu verstehen und auszulegen. Im Idealfall erhoffe ich mir von dieser Vorgehensweise ein doppeltes Ergebnis: a) Eine erneute Vergewisserung zu welchem Ziel die Bekenntnisschriften die Bibel wie gebrauchen. b) Ein offener Umgang (interessiert und kritisch) mit den Fragestellungen der neueren Exegese vom eigenen Standpunkt aus.
2. Aspekte des Schriftgebrauchs der Lutherischen Bekenntnisschriften 2.1 Die Bibel als Richtschnur, aber keine Schriftlehre Für die Bekenntnisse ist zwar die Heilige Schrift die „einzige Regel und Richtschnur, nach der in gleicher Weise alle Lehren und Lehrer gerichtet und beurteilt werden sollen“6 (um eine Formulierung der FC aufzugreifen); dies aber wird nicht 4 5
6
Wesentlich ausführlicher und mit eigener Akzentsetzung verfolgt ein ähnliches Anliegen Stolle, Luther und Paulus. Dies sind vor allem die unter Anm. 3 genannten Theologien der Bekenntnisschriften. Vgl. darüber hinaus z.B. Günther, Schriftverständnis, 25–33; Klän, LuThK 28 (2004), 81–100 oder A. Wenz, Die Autorität der heiligen Schrift, 21–28. Zitiert nach: Unser Glaube, 775; vgl. BSLK, S. 767.
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explizit begründet. Es ist immer wieder bemerkenswert: Einen Artikel über die Heilige Schrift findet man in den Bekenntnisschriften der evangelisch-lutherischen Kirche nicht! Das gilt auch für den Summarischen Begriff der FC, der zwar den Rang der Bibel als höchste Norm in Fragen des Glaubens hervorhebt, selbst aber nicht als Artikel de sacra scriptura gelten kann. Das ist mindestens aus zwei Gründen auffällig: Zum einen erscheint doch gerade das sola scriptura im Rückblick als eine Art „reformatorische Parole“ gegenüber der römischen Kirche. Müsste das nicht gerade im Bekenntnis begründet werden? Zum anderen sticht das Schweigen der Bekenntnisse besonders hervor angesichts des Gewichtes, das die Schriftlehre in der späteren orthodoxen Dogmatik einnimmt.7 Im Bekenntnis aber findet sich weder eine Inspirationslehre, noch wird über die Eigenschaften des göttlichen Bibelwortes (wie claritas oder perspicuitas) Auskunft gegeben. Die später einschlägigen Schriftstellen zur Inspiration, 2. Tim 3,16ff. und 2. Petr 1,19–21, werden im Konkordienbuch nur in anderen Zusammenhängen zitiert. Zwar wird die Schrift als Gottes Wort und Reden des Geistes bezeichnet, aber dies wird nicht als formale Begründung für die herausragende Autorität der Bibel über alle christlichen Lehren und Lehrer angeführt. Warum der Bibel im Konkordienbuch diese Autorität zugemessen wird, wird noch genauer zu bedenken sein. Insgesamt liegt also keine Schriftlehre vor, wohl aber ein Schriftgebrauch. Und aus der Art und Weise, wie die Bibel zitiert und gebraucht wird, lässt sich einiges über die zugrunde liegende Hermeneutik in Erfahrung bringen. Wieder gilt: Es können nur überblicksartig einige Aspekte dieses Schriftgebrauches bedacht werden. Auf unterschiedliche Weise ist übrigens das Fehlen einer expliziten Schriftlehre in den Bekenntnissen zu erklären versucht worden. Die einfachste Erklärung ist die Behauptung, eine (ganz bestimmte) Schriftlehre sei zwar nicht ausgeführt, aber vorausgesetzt.8 Eine andere Erklärung bietet u.a. Gunther Wenz an. Er weist darauf hin, dass auch in der spätmittelalterlichen Theologie die Schrift natürlich (die höchste) Autorität zukommt und dass von daher die Geltung der Bibel nicht begründet werden brauchte.9 Von daher ergibt sich aber umso mehr die Frage, was dann das Besondere des Schriftgebrauchs der lutherischen Bekenntnisse gegenüber den damaligen Gesprächspartnern ausmacht.
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Auch die Rede von der Schriftlehre der Orthodoxie ist natürlich verkürzend. Vgl. für einen ersten Überblick Trillhaas, Dogmatik, 75–79. Hier ist m.E. aber größte Vorsicht geboten. Die Gefahr ist doch zu groß, dass man seinen eigenen Standpunkt einfach „vorausgesetzt“ wähnt, wogegen zumeist das Schweigen der Bekenntnisse spricht. Vgl. Wenz, Theologie 1, 166f. Anm. 40.
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2.2 Die Autorität der Schrift gründet im Evangelium Die Autorität der Bibel wird demnach nicht mit dem göttlichen Zustandekommen des biblischen Wortlautes (etwa in Gestalt einer Inspirationslehre) begründet, sondern mit dem zentralen Inhalt der Bibel, dem Evangelium von Jesus Christus. In der Bibel steht vieles, und manches davon ist beim ersten Hinsehen schwer verständlich und bedarf der Auslegung. Da haben die römischen Theologen der Reformationszeit schon Recht. Aber den lutherischen Bekenntnissen geht es auch gar nicht um jedes Detail der biblischen Texte. Natürlich gibt es „dunklere“ und „klarere“ Stellen. Aber das Bekenntnis geht von der Gewissheit aus, dass in der Bibel eine inhaltliche (oder besser: personale) Mitte klar zu erkennen ist und sich dem Glaubenden erschließt, nämlich die Botschaft von der Rechtfertigung des Sünders durch den Glauben um Christi willen. Von daher und darauf hin wird die Bibel im Konkordienbuch gelesen und zitiert. Die Bekenntnisschriften geben bei ihrem Schriftgebrauch keine historische Exegese biblischer Schriften und sie applizieren auch nicht einfach Bibelstellen auf alle mögliche Fragen der Theologie oder des christlichen Lebens, sondern sie bezeugen mit der Schrift die Rechtfertigung des Sünders. So kommt dem Rechtfertigungsartikel „in der Tat eine hermeneutische Leitfunktion für reformatorisches Schriftverständnis zu“10, wie Gunther Wenz sagt. Dass die Rechtfertigung die Mitte des lutherischen Bekenntnisses darstellt, sollte im Kontext lutherischer Theologie keine Neuigkeit sein. Der Artikel von Christus ist in den Schmalkaldischen Artikeln der „Erst- und Hauptartikel“, wobei es eben um die Erlösungstat Christi geht und Christologie hier ganz als Soteriologie verstanden wird.11 Ähnlich auch in den Katechismen. Hier stellt, wie Albrecht Peters gezeigt hat, der zweite Artikel das inhaltliche Zentrum dar.12 Entscheidend ist, dass in den meisten Bekenntnisschriften so gut wie alle Artikel auf die Frage der Rechtfertigung bezogen werden. Auch wo es auf den ersten Blick um andere Dinge geht, etwa um die Frage nach der weltlichen Gewalt (CA XVI) oder des freien Willens (CA XVIII), werden diese Dinge doch mit einem deutlichen Bezug zur Rechtfertigungslehre betrachtet. Ich möchte hier darauf aufmerksam machen, dass diese zentrale Stellung der Rechtfertigungslehre eben auch Konsequenzen für den Schriftgebrauch der Bekenntnisse hat. In der CA z.B. wird als erste biblische Belegstelle erst im 4. Artikel ausdrücklich auf Röm 3 und 4 verwiesen. Die ersten drei Artikel kamen ohne Schriftbeleg aus, aber jetzt, da es um den Kern der Sache geht, wird auf Paulus verwiesen. Und es ist eben auch nur sachgerecht, dass sich der berühmte Satz „Die gesamte Hl. Schrift muss in diese zwei Hauptstücke eingeteilt werden: in das Gesetz 10 11 12
Wenz, Theologie 1, 180. Vgl. BSLK, 415. „Der zweite Glaubensartikel schildert Gottes Erlöserwirken in Jesus Christus, insofern bildet er das Zentrum des Apostolikums sowie des gesamten Katechismus“ (Peters, Kommentar zu Luthers Katechismen 2, 92).
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und die Verheißung [lex et promissiones]…“13 eben im 4. Artikel der Apologie findet. Denn bei der Verkündigung der Schrift als Gesetz und Evangelium geht es am Ende um die Rechtfertigung, also das Evangelium. Und als Gesetz und Evangelium wird die Schrift eben verkündigt. Man kann es nicht oft genug betonen: Die Rede von Gesetz und Evangelium gehört in die Verkündigung, in die Predigt viel eher als in die Exegese. Gottes Wort trifft als Gesetz das Gewissen des Sünders (hier gilt: lex semper accusat) und tröstet als Evangelium die angefochtenen Gewissen. Ziel ist das Heil und die Gewissheit des Heils, so dass sich Gesetz und Evangelium auch auf „Evangelium“ zuspitzen lässt.14 Hieraus ergeben sich für den Schriftgebrauch der Bekenntnisschriften Konsequenzen: Es geht den Bekenntnissen beim Gebrauch der Bibel um die Verkündigung des rechtfertigenden Evangeliums, nicht um die Auslegung biblischer Schriften in ihrem literarischen oder gar historischen Kontext. Das heißt aber nicht, dass diese Art der Exegese obsolet wäre, man muss ihr nur den richtigen Ort zuweisen. Nicht jede Exegese führt schon zu einer Predigt und hat das auch nicht zum Ziel. Dies aber ist beim Schriftgebrauch der Bekenntnisschriften anders: Hier geht es durchweg um die Verkündigung (oder öffentliche Bezeugung) des Evangeliums. Daher beginnt die CA im ersten Artikel mit den Worten: „Ecclesiae magno consensu apud nos docent…“ Das hier gemeinte „Dozieren“ findet viel eher auf der Kanzel statt als auf dem Katheder.15 Es geht im Bekenntnis um das, was verkündigt wird. Damit ist nicht ausgeschlossen, dass sich der christliche Glaube auch in einer eher fragenden oder wissenschaftlichen Art um das Verstehen der Bibel bemüht (auch Luthers umfangreiches exegetisches Werk hat manches dazu beigetragen). Eine entscheidende Frage für uns ist dann m.E. nicht, ob wir der Auslegung jedes einzelnen Bibelverses im Konkordienbuch nach heutigem exegetischem Wissensstand zustimmen können, sondern ob wir in das Bekenntnis einstimmen können, dass das Evangelium als der zentrale Inhalt der Bibel und als Mitte des christlichen Glaubens zu verkündigen ist. Das heißt, es geht auch um die Frage, ob uns die Rechtfertigung als Mitte der Schrift noch einleuchtet. Und wenn das so ist, geht es darum, wie wir den so benannten Sachverhalt zeitgemäß und deutlich übersetzen; denn es ist eine zentrale Funktion des Bekennens, die Wahrheiten, die einem selbst gewiss geworden sind, in die eigene Zeit und Lebenswelt hinein nachund umzusprechen.
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Zitiert nach: Unser Glaube, 143, vgl. BSLK, 159. „Ist die Summa der Schrift: Gesetz und Evangelium, so ist das Evangelium wiederum die Summa von Gesetz und Evangelium“ (Schlink, Theologie, 30). „Das Evangelium ist nun aber wiederum kein an und für sich bestehendes Buch, sondern Zuspruch, und keine an und für sich bestehende Lehre, sondern Predigt. Man hat das Evangelium nicht, sondern man hört es, man weiß es nicht wie Wissensinhalte sonst, sondern man empfängt es immer wieder neu…“ (Schlink, Theologie, 31).
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2.3 Die ganze Schrift ist Zeuge des Evangeliums In der Literatur wird wiederholt darauf hingewiesen, dass die Bekenntnisse das Zeugnis vom Evangelium Christi aus der ganzen Schrift hören und mit der ganzen Schrift bezeugen. Allerdings ist dieses „ganz“ interpretationsbedürftig; denn in einem quantitativen Sinne wird ja die ganze Bibel weder zitiert noch ausgelegt. Auch wird im Konkordienbuch der Bestand des Kanons nirgends festgelegt, obwohl der seinerzeit durchaus umstritten war. Was ist mit der „ganzen Schrift“ gemeint? Zunächst geht es um das Festhalten an der schon zitierten Aussage aus Apologie IV: „Die gesamte Hl. Schrift muss in diese zwei Hauptstücke eingeteilt werden: in das Gesetz und die Verheißung…“ Denn verkündigt wird Gottes Wort als Gesetz und Evangelium als Summe der ganzen Bibel. Die Bekenntnisschriften nehmen eben keine bewusste Selektion vor. Sie beschränken sich für das Evangelium nicht nur auf das Neue Testament oder innerhalb des Neuen Testamentes auf bestimmte Schriften. Luthers kritisches Urteil über Jak, Jud, Hebr und Apk wird nirgends explizit nachgesprochen, wenn auch der Hebr nicht zum Corpus Paulinum zählt. Dennoch wird de facto bei der Zitation der Bibel ausgewählt: Längst nicht alle biblischen Bücher werden im Konkordienbuch überhaupt zitiert, und bei den zitierten werden deutliche Gewichtungen vorgenommen. Aus dem AT wird etwa der Psalter am häufigsten angeführt, während die Propheten Amos oder Micha gar nicht zitiert werden, im NT sind das Matthäusevangelium und der Römerbrief die meist belegten Schriften. Die Apokryphen kommen nur am Rande vor. So nötigt auch die Grundvoraussetzung, dass das Evangelium mit der ganzen Schrift zu bezeugen ist, zu einem differenzierten Umgang mit der Bibel. Auch die Formulierung des Summarischen Begriffes, dass „allein die prophetischen und apostolischen Schriften des Alten und Neuen Testaments“ Norm der kirchlichen Lehre sein sollen, weist auf eine differenzierte und differenzierende Wahrnehmung hin. Die Schrift ist jedenfalls zu unterscheiden in AT und NT, in prophetisches und apostolisches Wort. Dabei sind prophetisch und apostolisch abkürzende Begriffe: Es geht um ein Reden auf den Christus hin und von Christus her, nicht in erster Linie um die Frage, ob sich die Bibelworte tatsächlich auf historische Propheten und Apostel zurückführen lassen. Es gilt mit Luther: Apostolisch ist, was „Christum treibet“16, und auch manches Psalmwort kann als „prophetisch“ gelten. Die Feststellung, dass die ganze Schrift das Evangelium bezeugt, ist also wiederum eine Konzentration auf das Wesentliche: Christus ist die Mitte der ganzen Heiligen Schrift, nicht nur bestimmter Bücher. Erkennen kann dies aber nur der Glaube kraft des Heiligen Geistes.17 16
17
Vgl. Martin Luther, Die Vorrede auf die Episteln S. Jacobi und Judae (1522), in: H. Bornkamm (Hg.), Vorreden, 215–218, hier: 216f.: „Was Christum nicht lehret, das ist nicht apostolisch, wenn’s gleich S. Petrus oder S. Paulus lehrete. Wiederum, was Christum treibet, das ist apostolisch, wenn’s gleich Judas, Hannas, Pilatus und Herodes täte.“ Vgl. Luthers Erklärung zum dritten Glaubensartikel im Kleinen Katechismus (BSLK, 511f.).
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2.4 Das Evangelium als Zentrum der Schrift erkennt nur der Glaube durch den Geist Der Schriftgebrauch der lutherischen Bekenntnisschriften zielt also in seiner Summe auf den Glauben an das rechtfertigende Evangelium. Dieser Schriftgebrauch ist selbst viel eher Verkündigung als methodische Exegese. Dass diese Verkündigung am Ende im Menschen tatsächlich die Erkenntnis der eigenen Gottesferne und schließlich deren Überwindung durch Gnade und Vergebung erreicht, ist letztlich ein Wirken des Heiligen Geistes im Akt des Glaubens. Hier wird Inspiration mal ganz anders gedacht: Der Heilige Geist inspiriert uns mittels des biblischen Wortes und schafft so Glaube in uns.18 Der so vom Wort getroffene Christenmensch liest nun auch von seinem Glauben her wieder die Bibel und hört ganz unterschiedliche Gottesworte darin immer neu als Gesetz und Evangelium. Dieser hermeneutische Zirkel ist unvermeidbar, muss aber (zumal von lutherischen Theologen) immer neu bewusst gemacht und reflektiert werden. Denn schließlich ist es für den Glauben auch von Belang, die biblischen Schriften in ihrem literarischen und historischen Kontext zu verstehen. Dies gilt nicht nur aus wissenschaftlichem Erkenntnisinteresse, sondern auch um des Glaubens selbst willen. Wenn auch erst der vom Heiligen Geist gewirkte Glaube im eigentlichen Sinn (d.h. auch in existenzieller Betroffenheit) das Evangelium als Mitte der Schrift erkennt, so wirkt der Heilige Geist doch nicht ohne das äußere Wort (vgl. die Verwerfung von CA V). Dem Verstehen dieses „äußeren Wortes“ aber widmet sich die Exegese, der von daher auch eine theologische Bedeutung zukommt.19
3. Ziele und Aufgaben der neueren Exegese Die neuere Exegese (die allerdings in ihren Grundlagen inzwischen auch 250 Jahre alt ist20) hat einen anderen Zugang zur Bibel als die Bekenntnisschriften. Sie hat andere Fragestellungen und arbeitet unter anderen Voraussetzungen als die Theologen des 16. Jh.s. Die Bekenntnisschriften bedienen sich biblische Zitate ja in einer Art Loci-Methode. Hier wird christlicher Glaube konzentriert und systematisiert. Die Exegese aber legt alt- oder neutestamentliche Texte fortlaufend in ihrem Kontext aus und fragt in erster Linie nach dem historischen Textsinn. Nach und nach hatte sich seit dem 18. Jh. in der Theologie zunächst unter dem Namen „Biblische Theologie“ eine eigenständige Disziplin von der Dogmatik emanzipiert.21 Ihr Ziel war die möglichst vorurteilsfreie Wahrnehmung des Wortlautes 18 19 20 21
Vgl. Wenz, Theologie 1, 188f. Vgl. Wenz, Theologie 1, 191f. 4 4 4 Vgl. Otto, RGG 1, 1517–1528; Weder, RGG 1, 1529– 538; Seidl, RGG 2, 1780–1783; Schnelle, 4 RGG 2, 1783–1786. Vgl. Zimmerli, TRE 6, 426–455.
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der Bibel, der nicht schon von vornherein durch eine bestimmte dogmatische Brille wahrgenommen werden sollte. Denn was als Mitte der Schrift im Sinne der Bekenntnisse den angefochtenen Sünder trösten und Glauben wecken soll, kann als hermeneutische oder dogmatischen Zwangsjacke auch die ungetrübte Wahrnehmung der Bibel verhindern. Heraus kommt dann immer nur das, was man vorher schon wusste (das ist weder im Sinne des Bekenntnisses noch der lutherischen Dogmatik). Die Exegese hat heute einen anderen Forschungsgegenstand als es die Bibel der Reformationszeit war. Neue Textfunde lassen die Überlieferung in einem ganz anderen Licht erscheinen. Die Einbeziehung von außerbiblischen Vergleichsmaterial aus der altorientalischen oder hellenistischen Religionsgeschichte ermöglicht ein anderes Verstehen usw. Vor allem aber findet Exegese heute unter einem (mehrfach) völlig veränderten historischen Bewusstsein statt. Auch alttestamentliche Weissagungen wollen zunächst in ihrer Zeit und ihrem Kontext wahrgenommen werden. Dass dort wirklich von Jesus Christus geredet wird, lässt sich historisch nicht erweisen. Die Exegese fragt historisch, d.h. es geht in erster Linie (immer noch) um das Erheben des historisch ursprünglichen Textsinns. Dabei ist allerdings zu beachten, dass mehr und mehr auch die Wirkungsgeschichte und die Sinngeschichte eines Textes auf mehreren Überlieferungsstufen bis heute zum Geschäft der Exegese selbst wird.22 Die Exegese fragt kritisch, d.h. sie nimmt jedes Detail im Text wahr und ernst. Sie erkennt Spuren des Wachstums und der Überlieferung an Texten und deckt gelegentlich auf, dass lange Auslegungstraditionen biblischer Worte vom historischen Textsinn nicht gedeckt sind. So kann die Exegese nicht so von den Schriften der „Propheten und Apostel“ reden, dass damit inspirierte Einzelpersonen gemeint sind, wenn es sich nahe legt, dass wir im Neuen Testament so gut wie keine direkten Augenzeugenberichte aus Jesu unmittelbarer Umgebung haben, oder im Alten Testament so gut wie jedes Buch nicht auf einen einzigen Autor zurückgeht, sondern Produkt jahrhundertlanger Überlieferungsprozesse ist (die aber auch ihren theologischen Eigenwert haben). Bei alle dem bedient sich die Exegese eines methodischen Instrumentariums, das alle evangelischen Theologen einmal im Proseminar kennen gelernt haben.23 Der Vorteil des methodischen Verfahrens ist, dass man sich darüber verständigen kann. Wer mit dem Ergebnis einer Exegese nicht einverstanden ist, wird aufweisen können, an welcher Stelle ein Denkfehler gemacht wurde, oder welche anderen Aspekt zu einem anderen Verstehen eines Textes führen. Im Idealfall liegen bei der Exegese die Karten offen auf dem Tisch, so dass über Wege und Ergebnisse der Auslegung gestritten werden kann. Ja, es muss sogar diskutiert werden, denn oft 22 23
Vgl. z.B. Behrens, ZAW 109 (1997), 327–341 [in diesem Band]; ders., Habakuk 2,1–4 [in diesem Band]. Vgl. z.B. Steck, Exegese des Alten Testaments.
Synthese
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fördern nur unterschiedliche Zugangsweisen und Fragestellung den semantischen Reichtum eines biblischen Textes zutage. Rein theoretisch ist die historisch-kritische Exegese als Literaturgeschichte der Bibel vom Glauben und der Konfession des Auslegers unabhängig. Exegetische Ergebnisse sollten sich fast schon objektiv darlegen lassen. In der Realität ist das nicht der Fall. Denn nicht nur der Text und sein Autor, sondern auch der Ausleger ist historisch bedingt. Und zu diesem Bedingtsein gehört auch der eigene Glaube als Motivation der Bibelwissenschaft und die eigene kirchliche Bindung. So werden Christen das Alte Testament immer anders lesen als Juden, auch in der exegetischen Fachwelt. Und auch die Bindung eines Exegeten an das lutherische Bekenntnis wird dabei eine Rolle spielen. Das ist auch nicht verwerflich, solange man sich über diese Aspekte seines Vorverständnisses Rechenschaft ablegt. Die eigene Überzeugung, dass das Evangelium von Christus die Mitte der Schrift ist, wird dann in ein fruchtbares Gespräch mit den eigenen exegetischen Erkenntnissen eintreten. Das Ziel der Exegese ist freilich nicht in erster Linie die unmittelbare Verkündigung dieses Evangeliums. Sie leistet dem vielmehr den Dienst des klaren Textverstehens, auf dass das äußere Wort ein „äußeres“ bleibe.24
4. Synthese Der Schriftgebrauch der Bekenntnisschriften zielt auf die Bezeugung des Evangeliums als Mitte der ganzen Bibel und auf die Verkündigung von Gesetz und Evangelium zum Heil der Menschen. Damit der Mensch das Evangelium als Mitte der ganzen Schrift erkennen kann, bedarf es des inneren Zeugnisses des heiligen Geistes (testimonium spiritus sancti internum). Hinsichtlich der Bibel kann man hier auch von Autopistie reden. Das Evangelium erweist sich selbst als solches. Es handelt sich jedenfalls um einen geistlichen, nicht in erster Linie um einen exegetischen Vorgang. Die Exegese fragt nach dem historischen Textsinn aller unterschiedlichen Schriften des Alten und Neuen Testaments. Sie erkundet die Entstehungsbedingungen und die Umstände der Überlieferung der Texte. Sie sucht nach dem historischen Eigensinn der Texte (und er unterschiedlichen „Sinne“ im Laufe der Überlieferung) und legt nicht in erster Linie Gottes Wort als Gesetz und Evangelium aus. 24
„Im Unterschied zu einer Theologie der Bekenntnisschriften hat also die Dogmatik die immer wieder neue Aufgabe, die Schriftauslegung der Bekenntnisschriften in biblisch-exegetischem Nachvollzug an der Heiligen Schrift zu messen und die Lehre der Kirche im Akt der Schriftauslegung zu lehren. Dabei wird sie die Entwicklung der exegetischen Wissenschaft seit der Reformation und ihren jeweiligen Stand berücksichtigen müssen, sie wird z.B. die Fortschritte der neutestamentlichen Exegese auf Grund der exakteren lexikalischen Hilfsmittel, auf Grund der Ergebnisse der Textkritik, der Quellenscheidung, der Rabinistik, der religionsgeschichtlichen Forschung usw. weder überschätzen noch übersehen dürfen. Die Möglichkeit, daß die Dogmatik im exegetischen Vollzug Aussagen der Bekenntnisschriften in Frage stellt, muß hierbei von vornherein offen bleiben“ (Schlink, Theologie, 62f.).
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Diese beiden Zugänge zur Bibel sind zu unterscheiden, aber sie sind aufeinander angewiesen. Solange die Exegese ein Teil der Theologie ist, muss sie sich über die Motivation und den Kontext ihres Forschens in einer hermeneutischen Besinnung Rechenschaft geben. Es geht der Exegese um das möglichst genaue Verstehen des Bibelwortes, von dem die Ausleger als Christen selbst betroffen sind. Auf der anderen Seite ist die Verkündigung des Evangeliums eben auf das möglichst genaue und immer neue Verstehen des äußeren Wortes angewiesen, damit die biblischen Texte das Ihre sagen können. „Schriftauslegung darf sonach niemals subjektivistisch im Sinne eines bloßen Reflexes eigener Glaubensunmittelbarkeit sein. Die Externität des Schriftwortes und dessen inhaltlich bestimmter eigener Sinn sind vielmehr ernst zu nehmen auch und gerade dann, wenn sie der subjektiven Selbstwahrnehmung als befremdlich erscheinen. Solch strikt geforderte Nichtbeliebigkeit der Schriftauslegung schließt die Kenntnis bestimmter Regeln der Texterschließung notwendig ein, die nicht nur die Syntax, sondern auch die Semantik und Pragmatik von Texten betreffen. Auch wenn ein solcher hermeneutischer Regelkanon den Sinngehalt des Textes nicht verfügbar macht, ist seine Befolgung doch die Grundvoraussetzung dafür, dass sich der unverfügbare Sinngehalt des Textes im Medium der Kenntnis seiner äußeren Bedeutung von sich aus erschließt.“25 Oder anders: Auch die Autopistie der Bibel funktioniert nicht, ohne dass man irgendetwas vom Wortlaut verstanden hat. So leistet die Exegese auch im Kontext einer Theologie und Kirche, die aus Überzeugung mit den Bekenntnissen am Evangelium als Mitte der Schrift festhält, ihren Dienst, der mit seinen Begrenzungen aber auch in seiner Unerlässlichkeit wahrzunehmen ist.26 Am Ende wird es auch darum gehen, das richtige Verhältnis von Schrift und Bekenntnis immer neu wahrzunehmen. Im Sinne des Summarischen Begriffs kommt auch den Bekenntnissen selbst nur eine abgeleitete Autorität zu, die immer wieder und immer neu an der Schrift zu prüfen ist. Gerade eine Kirche in bewusster Bekenntnisbindung sollte sich zumindest der Gefahr bewusst sein, dass die Autorität einzelner Bekenntnisaussagen sich verselbständigt und dann den Zugang zur Bibel dominiert. Wo aber der Geist mittels des Zeugnisses der Schrift den Menschen seines Heils in Christus gewiss macht, da wird sich dieser Mensch auch voller Neugier und Freu25 26
Wenz, Theologie 1, 191. Auch Werner Klän zählt zu den notwendigen Fähigkeiten lutherischer Theologen „gründliche exegetische Fähigkeiten“ (Klän, LuThK 28 [2004], 98). Exegese „hat hier eine dienende, aber gleichwohl unverzichtbare Bedeutung. Warum? […] Sollen so alte Texte vor der Willkür geschützt werden, daß wir Heutigen ihnen gut- oder böswillig oder auch nur ahnungslos unterstellen, was wir gerne aus ihnen hören möchten, sollen die Texte also ihr eigenes Wort im Gegenüber zu allen späteren Rezipienten sagen dürfen, dann hat die Frage alttestamentlicher Exegese nach dem ursprünglich-historischen Sinn grundlegende Bedeutung, auch wenn sie nur ein erster Schritt ist auf dem Wege der Übermittlung des Gotteswortes bis ins Heute, zu der alle theologischen Disziplinen verantwortlich zusammenwirken müssen“ (Steck, Exegese des Alten Testaments, 1).
Synthese
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de an das Verstehen der Bibel machen. Unser Heil hängt dann aber nicht am Gelingen oder Misslingen einzelner exegetischer Bemühungen. Dies kann vielleicht gegenüber mancher heiß gelaufenen Debatte um die Schriftauslegung etwas gelassener machen. Ich möchte ermutigen, auf das Zeugnis unseres Bekenntnisses zu hören, damit wir selbst nicht nur Verkündiger, sondern Betroffene von Gottes Wort in Gesetz und Evangelium sind. Und dann möchte ich Lust machen, sich beim eigenen Umgang mit der Bibel hier und da auch mal wieder auf neuere exegetische Einsichten einzulassen. Vielleicht kaufen Sie sich eine Stuttgarter Erklärungsbibel, einen neueren Kommentar zu einem bestimmten biblischen Buch oder eine neuere Einleitung in AT oder NT. Nicht alles, was da zu lesen ist, wird uns gefallen. Aber das muss es auch nicht: Lassen wir uns herausfordern oder widersprechen wir, wo nötig, mit Gründen, aber geben wir das Gespräch nicht auf! Denn wir haben Gottes Wort als einen „Schatz in irdenen Gefäßen“ (2. Kor 4,7). Dass es wirklich für uns und andere ein Schatz ist, bezeugt uns der Heilige Geist. Dann aber können wir auch das „Irdene“ genau abtasten und begreifen. Wir werden dabei manchen Sprung und manchen Riss entdecken aber auch viel Schönes. Dass wir uns damit im Rahmen unserer Möglichkeiten auskennen, ist ebenso Teil unseres Berufes wie die lebenslange Einübung in die Unterscheidung von Gesetz und Evangelium.
Teil 2 Exegetische Einblicke
Gen 15,6 und das Vorverständnis des Paulus 1. Problem und Aufgabenstellung In welchem Verhältnis steht die heutige historisch-kritische Exegese zur christlichen Auslegungstradition alttestamentlicher Texte? Steht sie überhaupt in einem solchen Verhältnis? Oder ist das Ganze so klar, dass die Frage als solche überflüssig ist? A.H.J. Gunneweg hat die Geschichte der christlichen Auslegung des AT konsequent als Problemgeschichte nachgezeichnet.1 Mal stand einem wirklichen historischen Verstehen alttestamentlicher Texte die kirchlich-dogmatische Auslegung im Wege, und im Gegenzug ging einer vermeintlich ausschließlich historischen Exegese gelegentlich der Bezug ihrer Arbeit zum Ganzen der christlichen Theologie verloren. So konnte es zu einer Scheinalternative „von vermeintlicher Voraussetzungslosigkeit und irgendwelchen christlichen Voraussetzungen“2 kommen. Die folgenden Ausführungen sind von dem Optimismus getragen, dass sich beides miteinander vereinen lässt, dass es einer historischen Exegese des AT, die sich als Disziplin der christlichen Theologie versteht, gelingen kann, auf methodisch nachvollziehbarem und intersubjektiv vermittelbarem Wege den Gegenstandsbezug eines historischen Verstehens des AT zum Ganzen der christlichen Theologie aufzuweisen. Vorausgesetzt ist dabei, dass ein solcher Arbeitsschritt zum Verfahren der Exegese selbst dazugehört und nicht an andere theologische Disziplinen „abgeschoben“ werden darf. Damit das skizzierte Problem nun nicht in seiner ganzen Uferlosigkeit stehen bleibt und in diesem Rahmen nicht mehr zu bewältigen ist, möchte ich mich auf einen Aspekt der Sache beschränken. Es soll nach der Bedeutung der Wirkungsgeschichte eines alttestamentlichen Textes für dessen Exegese gefragt werden. Und da alle hermeneutischen Überlegungen sich an Texten als tragfähig erweisen müssen, möchte ich konkret die Wirkungsgeschichte von Gen 15,6, so wie sie sich bei Paulus (Röm 4,1ff; Gal 3,6ff) greifen lässt, betrachten.3
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Vgl. Gunneweg, Verstehen, 7–84. Gunneweg, Verstehen, 83. Dabei soll gerade auch gezeigt werden, dass es sich bei Gal 3,6ff und Röm 4 eben doch um ein Stück Wirkungsgeschichte von Gen 15,6 handelt. Hier und im folgenden verstehe ich unter Wirkungsgeschichte im engeren Sinne, dass die Auslegung eines Textes (z.B. also Gen 15,6 in Gal 3 oder Röm 4) Anhalt am ursprünglichen (hier also hebräischen) Text hat; dass es sich bei der Auslegung also tatsächlich um eine Wirkung des ausgelegten Textes (oder eines Aspektes desselben) handelt. Von einer solchen Wirkung würde ich den Gebrauch durch einen Ausleger unterscheiden. Vgl. dazu Räisänen, EvTh 52 (1992), 337–347, bes. Anm. 8. Dass es sich darüber hinaus auch bei dem Mißverständnis eines Auslegers um eine Wirkung des Textes im weiteren Sinne handeln kann, sei dabei nicht bestritten und kann hier nicht diskutiert werden. Auch ist selbstverständlich vorausgesetzt, dass es sich bei der Auslegung von Texten immer um ein Aufeinanderzu von Text und Ausleger handelt.
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Nun können nicht alle Probleme eines in der Forschung so viel betrachteten Textes wie Gen 15,64 und seiner Aufnahme durch Paulus hier besprochen werden. Daher möchte ich meine Überlegungen an eine Diskussion anschließen, die in der ZAW geführt worden ist. Es geht konkret darum, ob Paulus mit seiner Aufnahme von Gen 15,6 (nach LXX) in Röm 4 und Gal 3 dem Masoretischen Text Gewalt angetan hat. Manfred Oeming hatte 1983 die These aufgestellt5, bereits in der LXX sei Gen 15,6 mißverstanden worden und die Gleichsetzung des Masoretischen Textes von Gen 15,6 mit Röm 4,3; Gal 3,6 und Jak 2,13, die unter dem Einfluß dieser Übersetzung zustande gekommen sei, sei als „schlicht falsch“6 zu betrachten. Dirk U. Rottzoll möchte dann 19947 unter Aufnahme von jüdischen Auslegungstraditionen und „in Weiterführung der These Oemings“8 Gen 15,6 als Beleg für den Glauben als Werkgerechtigkeit verstanden wissen. Wird nach einem solchen Verständnis die Frage nach der Wirkungsgeschichte von Gen 15,6 bei Paulus als „schlicht falsche“ Interpreation uninteressant für die historische Exegese? Sind die von Oeming und Rottzoll vorgetragenen exegetischen Ergebnisse zwingend? Diesen Fragen soll im folgenden nachgegangen werden. Ich verfahre dabei in einem Dreischritt. Zunächst wende ich mich noch einmal einer Exegese des hebräischen Textes von Gen 15,6 zu. Dann soll ausführlicher als bei Oeming und Rottzoll danach gefragt werden, wie Paulus eigentlich genau mit diesem Text verfährt. Und schließlich soll in einer hermeneutischen Schlusserwägung nach dem Verhältnis von Wirkungsgeschichte und Exegese gefragt werden.
2. Exegetische Beobachtungen zu Gen 15,6 Bei der Exegese von Gen 15,6 wird das Augenmerk des Betrachters zunächst auf die drei tragenden Begriffe dieses kurzen Verses, Glauben ()אמן, Anrechen ()חשׁב und Gerechtigkeit ( )צדֹקהgelenkt. So hat es auch Gerhard von Rad gesehen.9 Von Rad selber hatte dann durch einen Aufsatz die Aufmerksamkeit vor allem auf die Analyse des Begriffes חשׁבgelenkt10, und Oeming und Rottzoll führen die Diskussion um diesen Begriff in Gen 15,6 im Grunde bis heute fort. Von Rad war der Meinung gewesen, dass חשׁבals terminus technicus (nach Lev 7,18 u.ö.) das priesterliche Anrechnen einer Opfergabe bezeichne.11 Dadurch, dass nun hier in Gen 15,6 der Glaube Abrahams von Jahwe als Gerechtigkeit ange-
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Eine gründliche Auseinandersetzung mit der neueren Literatur (auch und gerade über die in den Kommentaren genannte hinaus) findet sich bei Mosis, „Glauben“ und „Gerechtigkeit“, 225–257. Vgl. Oeming, ZAW 95 (1983), 182–197. Oeming, ZAW 95 (1983), 196. Vgl. Rottzoll, ZAW 106 (1994), 21–27. Rottzoll, ZAW 106 (1994), 25. Vgl. Rad, ATD 2–4, 143f. Vgl. Rad, Anrechnung, 130–135. Vgl. Rad, Anrechnung, 131ff.
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rechnet würde, sei es zu einer „Spiritualisierung“12 des Gottesverhältnisses, zu einer „Generalisierung des ganzen Vorganges, der sich zwischen Jahwe und dem Menschen ereignet“13, gekommen. Nun hat Oeming nach umfangreicher Konkordanzarbeit14 darauf hingewiesen, dass חשׁבals terminus technicus der priesterlichen Kultpraxis ausschließlich im Niphal begegnet, während es in Gen 15,6 im Qal gebraucht ist. „Daß der traditionsgeschichtliche Hintergrund von Gen 15,6 die priesterliche Kultpraxis sein soll, ist von daher eine höchst unwahrscheinliche Annahme.“15 Soweit ist Oeming sicherlich zu folgen. Aber stimmt auch seine weitergehende Schlussfolgerung noch, dass hiermit nun auch die Frage wieder ganz offen sei, ob Paulus den Vers angemessen verstanden habe?16 Denn auch nach Oemings gründlicher Untersuchung kann חשׁבim Qal ja immer noch mit „anrechnen“ (vgl. 2Sam 19,20; Ps 32,2) übersetzt werden.17 Oeming setzt seine Überlegungen fort, indem er danach fragt, wer in Gen 15,6 Subjekt des Anrechnens sein soll. Und er tut dies durch eine „Strukturanalyse“18 des Verses. Ergebnis dieser Analyse ist dann, dass es sich bei Gen 15,6 um einen „synthetischen parallelismus membrorum“19 handele, der sich wie folgt paraphrasieren lässt: „Abraham glaubte Jahwe und Abraham rechnete es [sc. die Sohnesund Nachkommenverheißung] Jahwe zur Gerechtigkeit an.“ Abraham ist also sowohl Subjekt des Glaubens als auch des Anrechnens. Oemings entscheidende Argumente hierfür sind der ungewöhnliche, „fast gewaltsame[.] Subjektwechsel auf engstem Raum“20 in der Version des Textes, die die LXX bietet und die auch Paulus übernimmt, sowie die Tatsache, dass חשׁבsowohl als Tätigkeit eines Menschen (2Sam 19,20) als auch als Tätigkeit Gottes (Ps 32,2) begegnen kann.21 Erst die LXX habe dann durch ihre Übersetzung eine „Umdeutung“22 des Verses vorgenommen, von der auch Paulus abhängig sei. Aufbauend auf der Exegese Oemings und unter Aufnahme rabbinischer Auslegungstraditionen kommt dann Rottzoll zu dem Schluss, Gen 15,6b sei reflexiv zu 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21
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Rad, Anrechnung, 134. Rad, Anrechnung, 134. Vgl. Oeming, ZAW 95 (1983), 185–190. Oeming, ZAW 95 (1983), 189. Vgl. Oeming, ZAW 95 (1983), 190. Vgl. Oeming, ZAW 95 (1983), 187. Oeming, ZAW 95 (1983), 190. Oeming, ZAW 95 (1983), 191. Oeming, ZAW 95 (1983), 191. Dieses Argument wird auch mit Gewicht bei Rottzoll, ZAW 106 (1994), 25 aufgenommen. Vgl. Oeming, ZAW 95 (1983), 191. Es ist allerdings nicht ganz richtig, dass, wie Oeming mit seiner Konkordanzarbeit gezeigt haben will, in Gen 15,6 prinzipiell sowohl Jahwe als auch Abraham Subjekt des Anrechnens sein könne. Aufgewiesen hat er lediglich die Möglichkeit, dass ein Mensch oder auch Gott Subjekt von חשׁבsein kann. Warum dieses Argument überhaupt von solchem Gewicht sein soll, ist nicht ganz klar geworden; denn auch v. Rad z.B. hatte ja gar keinen Wert darauf gelegt, dass lediglich Gott „zur Gerechtigkeit anrechnen“ könne. So trägt dies auch für die Analyse von Gen 15,6 m.E. wenig aus. Oeming, ZAW 95 (1983), 196.
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übersetzen: „Und Abraham glaubte Gott und rechnete sich das [sc. sein Glauben] zur/als Gerechtigkeit an.“23 Hiergegen ist jedoch einzuwenden, dass für eine reflexive Bedeutung von חשׁב+ לmit Suffix im Qual zwar Parallelen in Hiob 13,24; 19,11 und 33,10 gibt, aber in Ps 32,2 findet sich eben auch eine Parallele für einen nichtreflexiven Gebrauch von חשׁב+ לder Person. In den genannten Hiobstellen lässt der Kontext keinen Zweifel über die Übersetzung zu; genau das aber ist in Gen 15,6 anders. Zu diskutieren bleibt hier vor allem noch der von Oeming beobachtete abrupte Subjektwechsel innerhalb von Gen 15,6. Dazu ist zuächst zu sagen, dass ein solcher Subjektwechsel „auf engstem Raum“ dem biblischen Hebräisch durchaus nicht unbekannt ist. So z.B. Ex 14,8a: „Und Jahwe verhärtete das Herz Pharaos, des Königs von Ägypten, und er [sc. Pharao!] setzte den Israeliten nach.“ Ob dies „gewaltsam“ zu nennen ist, wie Oeming meint, lässt sich sicher nicht abschließend klären. Für die Frage nach dem jeweiligen Subjekt der beiden Vershälften von Gen 15,6 ist darüber hinaus noch der Kontext zu bedenken. Innerhalb von Gen 15 lässt sich nach V. 6 ein Einschnitt setzen.24 Die Nachkommenverheißung ist hier abgeschlossen, in V. 7 beginnt die Landverheißung. In der uns vorliegenden Endgestalt des Textes setzt V. 7 nach dem Einschnitt ein mit ויאמר. Wenn mit diesem Vers aber tatsächlich eine neue Einheit beginnt, so heißt dieses ויאמרdoch wohl, dass das zuletzt genannte Subjekt wieder aufgenommen werden soll.25 Das Subjekt von Gen 15,7 (und damit auch von V. 6b) ist aber eindeutig Jahwe.26 Liegt also der LXX und in deren Gefolge auch Paulus ein „beharrliche[s] Mißverständnis von Gen 15,6“27 zu Grunde, so hat dieses „Mißverständnis“ zumindest gewichtigen Anhalt an der Endgestalt des Masoretischen Textes. Ich halte nach dem Gesagten die bisherige Übersetzung von Gen 15,6 für gerechtfertigt, ja geboten: „Er [Abraham] glaubte Jahwe, und der rechnete es ihm als Gerechtigkeitserweis an.“ Zu dem Begriff ( צדֹקהGerechtigkeit) ist zweierlei zu sagen: Zum einen handelt es sich dabei nicht um die grundsätzliche „Qualität“ eines Menschen (o.ä.), sondern um einen einzelnen Erweis der Gerechtigkeit. Für diese Unterscheidung zwischen nomen unitatis und nomen collectivum ist mit Rottzoll28 auf Diethelm Mi-
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Rottzoll, ZAW 106 (1994), 25f. Rad spricht hier mit Wellhausen von der „Hauptfuge“ des Textes, die deutlich macht, dass „wir es stoffgeschichtlich mit zwei Erzählungen zu tun“ (ATD 2–4, 140) haben. Vgl. auch Westermann, BKAT I/2, 255. Im Gegensatz zur Verwendung von ויאמרinnerhalb eines Dialoges, wo es auch zu Beginn eines Verses gerade den Dialogpartner des letztgenannten Subjekts bezeichnen kann (vgl. im unmittelbaren Kontext Gen 15,8). Rad (ATD 2–4, 144) weist hier darauf hin, dass die Redaktion bestrebt gewesen sei, V.7 ff. formal auf das engste mit dem Vorhergehenden zu verknüpfen. Westermann (BKAT I/2, 255) vermutet vom Redaktor: „Dadurch daß er den Anfang von V. 7: ‚Und Jahwe sprach zu Abraham‘ abänderte zu: ‚Und er sprach zu ihm‘, machte er V.7-21 zur Fortsetzung von V. 1–6.“ Oeming, ZAW 95 (1983), 195. Vgl. Rottzoll, ZAW 106 (1994), 26.
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chel zu verweisen.29 Für die Vorstellung davon, was als ein solcher einzelner Gerechtigkeitserweis gelten kann, lässt sich im AT evtl. eine Entwicklung aufzeigen. So heißt es z.B. in Dtn 24,10–13, dass man einem Schuldner nicht seinen Mantel (also sein „letztes Hemd“) als Pfand abnehmen, sondern ihm ein solches Pfand vor Einbruch der Nacht wiedergeben soll: „Dann wird dies für dich eine צדֹקהvor Jahwe, deinem Gott sein“ (V. 13b). In Dtn 6,25 wird diese kasuistische Rechtspraxis dann generalisiert und damit zugleich ethisiert: Grundsätzlich wird das Halten der Gebote jetzt als eine צדֹקהfür den Einzelnen bezeichnet. In Gen 15,6 wird auch von einer solchen generalisierenden Aussage noch einmal abstrahiert30: der einzelne Gerechtigkeitserweis ist nun (nach dem oben Gesagten) das Glauben, das Vertrauen auf Jahwe und seine Verheißung. Dieses Vertrauen Abrahams wird in V. 6b durch das feminine Suffix (= „es“) an der Form von חשׁבwieder aufgenommen.31 Darüber hinaus ist hier darauf hinzuweisen, dass Derivate des Stammes צדֹק grundsätzlich ein Gemeinschaftsverhältnis32 bezeichnen. צדֹקהbezeichnet also einen einzelnen Erweis dafür, dass sich Abraham zu Jahwe in einem richtigen Gemeinschaftsverhältnis befindet. Hierin zeigt sich jetzt eine auffällige Parallelität zwischen צדֹקהund האמן: Abraham vertraut Jahwe, macht sich in ihm fest, bestimmt also sein Verhältnis zu Jahwe. Dieses Sich-in-Verhältnis-setzen ( אמןHiph. + )בvon seiten des Menschen wird von Jahwes Seite ebenfalls durch einen Verhältnisbegriff, „Gerechtigkeit“ ()צדֹקה, bestätigt. Auf diese Weise korrespondieren das erste und das letzte Wort des Verses miteinander und betonen so auch formal (rahmend) diesen Schlussvers der Sohnes- und Nachkommenverheißung Gen 15,1–6. So soll es bei der Betrachtung des letzen tragenden Begriffes von Gen 15,6, dem „Glauben“ ( אמןHiph.) nun nicht nur um den Bedeutungsgehalt dieses Wortes gehen, – dazu ist das Nötige gesagt33 – sondern auch darum, dass Gen 15,6 mit einer Aussage über den Glauben Abrahams die Erzählung von der Nachkommenverheißung pointiert abschließt. In einem denkbar kurzen Vers, der aber inhaltlich durch seine tragenden Begriffe sehr dicht ist und auch formal bewusst gestaltet wurde34, wird das Geschehen zwischen Abraham und Jahwe sozusagen theologisch reflektiert.
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Vgl. grundsätzlich Michel, Grundlegung 1, 64–66, zu Gen 15,6: a.a.O, 66. Vgl. dazu Smend, Zur Geschichte von האמן, 286f.: „Im Deuteronomium finden sich dann außer ix 4–6 die Stellen vi 25, xxiv 13, die insofern Gen. xv 6 nahestehen, als es sich auch in ihnen um die ausdrückliche Zuerkennung der Qualität der צדֹקהan den handelt, der dafür bestimmte Voraussetzungen erbracht hat. Die Voraussetzungen bestehen im Deuteronomium im Halten der Gebote, in Gen. xv 6 dagegen im Glauben. Die Aussage in Gen xv 6 setzt das in den DeuteronomiumStellen Gesagte offenbar […] voraus, um es dann abzuwandeln.“ So auch Gesenius-Kautzsch, § 135 p. Vgl. Rad, ATD 2–4, 143; sowie Koch, THAT II, 507–530. Vgl. ausführlich Wildberger, „Glauben“, 372–386. Ich gehe hier von der Bedeutung „sich festmachen“, „glauben“, „vertrauen“ für אמןHiph. aus. Vgl. das eben zur rahmenden Stellung von האמןund צדֹקהGesagte.
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Darüber hinaus fällt auf, dass die Ebene des Dialogs (V. 1–5) verlassen wird35, und eine Art „allwissender Erzähler“ dem Leser etwas über den Glauben Abrahams und die Reaktion Jahwes mitteilt. Der Vers stellt eine Art „theologisches Fazit“ aus dem Vorherigen dar. Ähnlichen Fazitcharakter haben im Pentateuch auch die Stellen Ex 4,31 und 14,31, in denen ebenfalls den jeweiligen Zusammenhang abschließend vom „Glauben“ ( אמןHiph.) die Rede ist36: Nach seiner Begegnung mit Jahwe in Midian (Ex 3f) kehrt Mose nach Ägypten zurück und tut Zeichen vor dem Volk. Abschließend heißt es dazu ganz absolut37: „ ויאמן העםUnd das Volk glaubte…“ (Ex 4,31). Ganz ähnlich zum Abschluss der Geschichte vom Durchzug durch das Schilfmeer (Ex 14): …„ ויאמינו ביהוה ובמשׁה עבדוund sie glaubten (an) Jahwe und an Mose, seinen Knecht.“ Alle diese Stellen stehen zumindest in dem Verdacht, „jüngere Erweiterungen der alten Quellen zu sein“38, und das lässt sich auch von Gen 15,6 sagen.39 Ob und wie diese Stellen genau zusammenhängen, kann hier nicht befriedigend geklärt werden.40 Festzuhalten bleibt die auffallende Parallelität dahingehend, zum Abschluss eines Erzählzusammenhanges den Glauben der Beteiligten zu thematisieren (vgl. bes. Ex 14,31) und das späte Stadium, aus dem alle genannten Stellen stammen. In dieser späten Verwendung im Pentateuch ist der Glaubensbegriff evtl. ganz von Jes 7,9 geprägt41, verdankt sich einer „Geistesbewegung“, an deren „Genesis prophetische Theologie beteiligt gewesen ist.“42 Hier finden sich also in „gewissen [späten] Schichten des Alten Testaments“43 Verwendungsweisen des Begriffs „Glauben“, die, wenn nicht in Auseinandersetzung mit Gesetzesgehorsam, so doch in betonter Eigenständigkeit gestaltet wurden.44 Hierunter nimmt dann Gen 15,6 mit Sicherheit noch einmal eine Sonderstellung ein; denn nur in diesem Falle wird auf den Glauben Abrahams eine (bestätigende, anrechnende) Reaktion Jahwes berichtet. 35 36
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Vgl. Rad, ATD 2–4, 142. Einen Zusammenhang von Gen 15,6 mit Ex 4,31; 14,31 hat auch die ältere rabbinische Exegese gesehen, vgl. Strack/Billerbeck, Kommentar III, 198f., sowie neuerdings Rottzoll (Hg.), Rabbinischer Kommentar, 229f. Vgl. Groß, Glaube, 59: „Hier ist dem Glauben kein besonderes Objekt beigegeben.“ Dennoch gilt aufgrund des Kontextes, dass die „Verben von V. 31 Gott als Objekt haben.“ Smend, Zur Geschichte, 285. Vgl. Smend, Zur Geschichte, 286f. Gab es ein Stadium der Pentateuchredaktion, bei dem das Glaubensmotiv eine besondere Rolle gespielt hat? Ist dieses Glaubensmotiv aus der Mosetradition (vgl. neben Ex 4,31; 14,31 noch 4,1.5.8.9; Num 14,11; 20,12; Dtn 1,32 und 9,23) später in die Abrahamstradition eingedrungen (zur Sonderrolle des Mose in in dieser Hinsicht vgl. Groß, Glaube, passim)? Vgl. Smend, Zur Geschichte, 288: „So könnten wir tatsächlich in Is. vii 9 die Entstehung des wichtigsten alttestamentlichen Begiffs für das religiöse Glauben vor uns haben“. Smend, Zur Geschichte, 290. Wildberger, „Glauben“, 386. Hier könnte sich das Urteil Oemings: „Jedoch ist die Quellenzuweisung für unsere Zwecke nicht von großer Bedeutung“ (ZAW 95 [1983], 183 Anm. 9), zumindest was eine ungefähre zeitliche Einordnung anbelangt, als vorschnell erweisen. Vgl. auch Westermann, BKAT I/2, 263f.
Das Vorgehen des Paulus
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3. Das Vorgehen des Paulus Paulus nimmt nun bekanntlich Gen 15,6 in Röm 4 und Gal 3 auf. In beiden Texten geht es dabei im weiteren Sinne um den Gegensatz von Gesetzesgehorsam und Glauben. Trotzdem ist zwischen dem Argumentationskontext in Röm 4 und Gal 3 und damit auch zwischen der jeweiligen Aufnahme von Gen 15,6 deutlich zu unterscheiden, und dies soll hier zunächst gegenüber einer pauschalisierenden Argumentation mit „der“ paulinischen Verwendung von Gen 15,6 festgehalten werden. Diese Unterschiede wahrzunehmen – das lässt sich bereits hier thetisch vorausschicken – wird sich als hilfreich erweisen, wenn man herausfinden will, ob die Aufnahme eines alttestamentlichen Textes durch Paulus dem hebräischen Text und dessen historisch-kritischem Verständnis in irgendeiner Weise gerecht wird oder als „schlicht falsch“ beurteilt werden muss. Dass Paulus, wie gleich noch gezeigt wird, in der Lage ist, denselben Text in unterschiedlicher Weise zu verwenden und dabei offensichtlich keine Skrupel gegenüber einem historisch feststellbaren Sinn des zitierten Textes hat, liegt in hermeneutischen und methodischen Vorentscheidungen begründet.45 So kann man als erstes von einem „Auslegungsgrundsatz der prinzipiellen Gegenwartsbezogenheit der Schrift“46 bei Paulus sprechen. Paulus geht davon aus, dass die Schrift (genauer: ein je bestimmtes Schriftwort) die Hörer/Leser in ihrer je eigenen, konkreten Situation direkt anspricht. Dies ist gemeint, wenn Paulus davon spricht, dass auch Gen 15,6 „um unsertwillen“ (Röm 4,24) aufgeschrieben wurde.47 Dabei ist besonders zu beachten, dass dieses Verständnis des AT kein paulinisches Proprium ist: „In diesem Verständnis der Schrift unterscheidet sich Paulus grundsätzlich nicht von der hellenistischen Synagoge und den frühchristlichen Gemeinden vor ihm.“48 Dies ist hier insbesondere als Anmerkung zu Rottzoll festzuhalten, der der Meinung ist, Paulus tue Gen 15,6 u.a. „gemessen am zeitgenössichen jüdischen Verständnis dieses Verses“49 Gewalt an. Methodisch liegt Paulus (zumindest was den aktuellen Situationsbezug anbelangt) wohl mit dem zeitgenössischen jüdischen Verständnis auf einer Ebene. Die je unterschiedliche Situation ist es dann auch, die Paulus zu unterschiedlichen Anwendungen von Gen 15,6 und Schlussfolgerungen daraus in Röm 4 und Gal 3 kommen lässt. Im Galaterbrief sieht sich Paulus einer Gruppe von Judenchristen (die er lediglich als die τινές [Gal 1,7] bezeichnet) gegenüber, die den 45 46 47 48
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Vgl. zum folgenden Koch, Schrift, 322–353. Koch, Schrift, 327. Ähnliche „methodische Bemerkungen“ finden sich außerdem Röm 15,4 und 1Kor 9,10. Vgl. dazu Koch, Schrift, 322–327. Koch, Schrift, 327. Ähnlich auch schon Hahn, Genesis 15,6, 107: „Paulus verfährt methodisch nicht anders als die jüdische Auslegung seiner Zeit.“ Im übrigen findet sich ein je gegenwartsbezogenes Verstehen alttestamentlicher Texte auch schon inneralttestamentlich, wie sich am vielfach zu beobachtenden Phänomen der Nachinterpretation innerhalb des AT aufweisen lässt. Rottzoll, ZAW 106 (1994), 27.
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Gen 15,6 und das Vorverständnis des Paulus
jungen Gemeinden in Galatien wohl den Gesetzesgehorsam und die Beschneidung (Gal 5,2f.6 u.ö.) nahegelegt haben.50 Dies lässt Paulus außergewöhnlich scharf in seiner Argumentation werden (vgl. schon Gal 1,6 den „ruppigen“ Einstieg des Briefes nach dem Präskript) und so gelangt er auch zu einer exklusiven Auslegung von Gen 15,6 in Gal 3,7: „…die aus dem Glauben sind, das sind Abrahams Kinder“ (ähnlich V. 9). Die Beschnittenen scheinen hier ausgeschlossen.51 Anders in Röm 4! In diesen eher programmatischen52 Ausführungen scheint Paulus ein entkrampfteres Verhältnis zur Beschneidung zu haben. Die Beschneidung wird zum „Siegel der Gerechtigkeit“ (V. 11). Die Abrahamsverheißung bleibt hier bestehen für alle Nachkommen (während es nach Gal 3,16 doch überhaupt nur einen gibt), „nicht allein für die, die unter dem Gesetz sind [aber eben für die doch wohl auch!], sondern auch für die, die wie Abraham aus dem Glauben leben. Der ist unser aller Vater“ (V. 16). So ist es die jeweilige gegenwärtige Situation, die die Exegese des Paulus leitet53, so dass er einmal zu einer scharfen, die Beschnittenen vom Heil excludierenden (Gal 3) und einmal zu einer eher programmatischen (Röm 4) Exegese von Gen 15,6 kommt, die Juden und Heiden als Nachkommen Abrahams betrachtet.54 Neben der jeweiligen gegenwärtigen Situation gibt es aber noch eine andere wichtige hermeneutische Vorentscheidung, die die Auslegung des Paulus bestimmt: das Christusgeschehen ist Faktum; das Evangelium ist der Schriftlektüre des Paulus vorgängig! Was das heißt, lässt sich anhand des Argumentationsganges von Gal 3,6–18 zeigen.55 Dieser Argumentationsgang, in dem Paulus auf dem Wege einer assoziativen Verknüpfung von Begriffen den Glauben (ἐπίστευσεν V. 6) aus Gen 15,6 mit den Heiden aus Gen 12,3 (τὰ ἔθνη = die Galater? V. 8) verbindet und dem er das Gesetz (νόμος V. 11f.), das Christus verflucht (V. 13) hat, gegenüberstellt 50
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Hier kann auf eine genauere Erörterung der Frage, wer genau die Gegner des Paulus waren, verzichtet werden. Zu dieser Frage und der Situation des Galaterbriefes vgl. Kümmel, Einleitung, 260–263; Schlier, KEK 7, 18–20. Ebenfalls aufgrund der Situatuion in Galatien gelangt Paulus auch in Gal 3 zu seiner Auslegung von Dtn 27,26 (V. 10) und Lev 18,5: Die im alttestamentlichen Text eigentlich wörtlich gemeinten Aufforderungen zum Halten der Gesetze werden hier jeweils zum Irrealis. Programmatisch ist hier so gemeint, dass Paulus im Römerbrief grundlegend das darlegt, was er unter dem Evangelium versteht. Vgl. dazu Kümmel, Einleitung, 272–274 (der Römerbrief als das „theologische Selbstbekenntnis des Paulus“, 273); Wilckens, EKK VI/1, 41: Die „Darlegung des Evangeliums im Briefkorpus [ist] das Hauptthema des Briefes…“ Dass Paulus darüber hinaus sehr wohl ein Bewusstsein für das Alter und die historische Dimension von Gen 15,6 gehabt hat, machen mehrere Bemerkungen deutlich: Da ist einmal der Hinweis auf die „430 Jahre“ (Gal 3,17), die zwischen Abraham und dem Gesetz lägen, oder darauf, dass Abraham die Verheißung vor der Beschneidung empfangen habe (vgl. Röm 4,10), sowie dei Erkenntnis, dass der Text ursprünglich schon um Abrahams willen (vgl. Röm 4,23) geschrieben worden sei. Wilckens, EKK VI/1, 46 weist darauf hin, dass Paulus „seine Darlegung des von ihm verkündigten […] Evangeliums in Röm 1-11 unter das Thema der Einheit von Juden und Heiden stellt und so apologetisch als Dialog mit der Synagoge ausarbeitet.“ Vgl. auch Koch, Schrift, 331–241, der das Gleiche an 2Kor 3,12-18 aufzeigt.
Das Vorgehen des Paulus
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und dann den Bogen zurück zur Verheißung (V. 18) schlägt – dieser Argumentationsgang funktioniert nur, wenn für Paulus und seine Leser das Heil in Christus und die Zuspitzung darauf als selbstverständlich vorausgesetzt werden kann. Ähnliches lässt sich aber auch an Röm 4 erkennen: Dass „der hermeneutische Horizont des ganzen Abraham-Zeugnisses der Schrift christologisch ist, […] tritt zum Abschluß in VV 23–25 als die Voraussetzung der ganzen Erörterung [sc. von Gen 15,6 in Röm 4] hervor.“56 Erst wenn das Christusgeschehen auch bei den Lesern als selbstverständlich vorausgesetzt werden kann, ist die gegenwärtig aktuelle Applikation der Exegese von Gen 15,6 in Röm 4,23ff als sinnvoll anzusehen. So zielt Röm 4 „darauf, den Christen ihren legitimen Ort in der Geschichte der Glaubensgerechtigkeit zu zeigen – nicht umgekehrt darauf, Abraham gleichsam christlich zu nostrifizieren.“57 Paulus will also mit seiner Verwendung der Schrift gerade nichts „beweisen“58, sondern er liest die Schrift vom Evangelium her.59 Das Evangelium ist für Paulus evident und muss nicht (auch nicht durch die Schrift) ‚bewiesen‘ werden. Paulus selbst beruft sich darauf, es direkt von Gott durch Offenbarung empfangen zu haben (vgl. Gal 1,12.15f.). Das Evangelium als sein Vorverständnis ist für Paulus so gewichtig, dass er keine Schwierigkeiten hat, von daher auch in den Text der Schrift einzugreifen. So bietet er z.B. bei seinem Zitat von Hab 2,4 (Gal 3,11) weder den Masoretischen Text („ = אמונתוsein Glaube“), noch die Variante der LXX (ἐκ πίστεώς μου = „mein Glaube“), sondern schreibt ohne Suffix oder Possesivpronomen nur „Glaube“ und verleiht so diesem Begriff in seinem Sinne Gewicht.60 Diesem „Leben aus dem Glauben“ wird ein vermeintlich irreales, weil nicht leistbares „Tun des Gesetzes“ nach Lev 18,5 (V. 12) entgegengehalten, so dass am Ende vom Evangelium her bei Paulus Schrift gegen Schrift, ja Gott gegen Gott steht. Es liegt also so etwas wie eine Reinterpretation alttestamentlicher Texte vom paulinischen Vorverständnis her vor. Man kann das auch als theologische Reflexion über alttestamentliche Texte bezeichnen. Dass aber Paulus überhaupt auf die Schrift als „Zeugen des Evangeliums“61 zurückgreift, obwohl doch das Christusgeschehen und dessen gegenwärtige Verkündigung (auch mit Hilfe dieses „Zeugen“) sein eigentliches Anliegen ist, liegt in einer
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Wilckens, EKK VI/1, 281. Wilckens, EKK VI/1, 283f. So mit vielen anderen Rottzoll, ZAW 106 (1994),27. Für Röm 4 vgl. dazu Hahn, Genesis 15,6, 101: „Röm 4 will allerdings nicht in erster Linie, wie immer wieder behauptet wird, ein ‚Schriftbeweis‘ für den vorangegangenen Abschnitt 3,21–31 sein […].“ Noch deutlicher wird ein solches Verfahren in Röm 10. Dieses Kapitel kann als ganzes als Auslegung von Dtn 30,14 angesehen werden, aber durch die Art der Zitation, durch Komposition und gelegentliches Weglassen einzelner Wörter schafft Paulus sich eigentlich erst einen eigenen, neuen Referenztext. Wieder wird der situative Gegenwartsbezug als für die Exegese entscheidend deutlich. Vgl. dazu ausführlich Koch, Schrift, 341–353.
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Gen 15,6 und das Vorverständnis des Paulus
weiteren Voraussetzung begründet. Paulus geht von der Selbigkeit Gottes im AT wie im NT aus.62 Der gleiche Gott, der Christus von den Toten auferweckt hat, ist auch der, der durch sein Wort alles ins Sein rief (vgl. Röm 4,17). Der gleiche Gott, der an Abraham gehandelt hat, hat sich auch im Christusgeschehen gezeigt. So kann auch das, was die Schrift über Abraham sagt, zum Zeugen für die gegenwärtige Verkündigung des Glaubens an Christus werden. Die Selbigkeit Gottes ist die Möglichkeitsbedingung dafür. Und aufgrund dieser Bedingung darf dann auch die Schrift vom Evangelium her gelesen werden. Noch einmal: Das Evangelium ist für Paulus vorausgesetzt, es muss nicht erst „bewiesen“ werden (auch nicht durch die Schrift), es soll aber auf dem Hintergrund der Selbigkeit Gottes in der je gegenwärtigen Situation auch von der Schrift bezeugt werden. Dies ist das elementare Vorverständnis für die paulinische Exegese alttestamentlicher Texte. Aufgrund dieses Vorverständnisses gelangt Paulus bei der Auslegung von Gen 15,6 (wobei zwischen Gal 3 und Röm 4 deutlich zu unterscheiden ist) zu einer Entgegensetzung von Glaube und Gesetzesgehorsam, die so ursprünglich sicher nicht intendiert war und er geht damit weit über ein rein historisches Verständnis des Textes hinaus. Gleichzeitig knüpft er aber an einen Glaubensbegriff an, der als selbstgewichtiger Ausdruck des Verhältnisses des Menschen zu Gott eine eigene Sinndimension schon des hebräischen Textes von Gen 15,6 darstellt. Dies gilt zumal dann, wenn sich die obigen Erwägungen zum Zusammenhang von Gen 15,6; Ex 4,31 und 14,31 sowie zur rahmenden Korrespondenz von האמןund צדֹקהinnerhalb des Verses als richtig erweisen. Diese historisch ermittelbare Sinndimension von Gen 15,6 hat Paulus aber vor allem aufgrund seines Vorverständnisses entdecken und aufgreifen können. So steht Paulus mit seiner Auslegung von Gen 15,6 in einer Spannung von Kontinuität und gleichzeitiger Diskontinuität zum alttestamentlichen Text. Das gilt übrigens ganz ähnlich auch für das Verhältnis des Paulus zur jüdischrabbinischen Exegese. Auch hier lässt sich die Spannung von Kontinuität und Diskontinuität beobachten. Auch in der rabbinischen Exegese ist Abraham ja der paradigmatisch Glaubende.63 Dass dabei der Glaube selbst als eine Tat der Gesetzeserfüllung gesehen wird, hat seine Vorformen bereits im AT selbst64 und wird zumeist ja durch die Verbindung von Gen 15,6 mit Gen 22 erreicht. Paulus versteht nun den Glaubensbegriff anders und kann sich dabei auf eine andere inneralttestamentliche Tradition (Ex 4,31; 14,31) als die sonstige jüdische Exegese stützen und braucht nur die Verbindung mit Gen 22 wegzulassen.65 Paulus ist hier aber nicht der Meinung, dass er ein Verständnis von Gen 15,6 vortrüge, dass dem Text historisch angemessener wäre als andere Traditionen. Jedenfalls ist dergleichen nirgends 62 63 64 65
Vgl. Koch, Schrift, 347f. Für die Belege vgl. Strack/Billerbeck, Kommentar III, 186–201. So legt Ps 106,30f nahe, dass dem Pinhas gerade seine Treue zum Gesetz „zur Gerechtigkeit gerechnet“ (V. 31) wird. Vgl. Koch, Schrift, 345f.
Hermeneutische Schlusserwägungen: Wirkungsgeschichte und Exegese
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erkennbar. Vielmehr ist und bleibt das Evangelium das ausschlaggebende Kriterium der Exegese; weil Paulus vom Evangelium her liest, kommt er zu seiner Deutung von Gen 15,6. Da, wo sich die traditionelle Auslegung nach seiner Ansicht mit dem Evangelium in Einklang bringen lässt, hat Paulus auch keine Schwierigkeiten, diese traditionelle Auslegung vorausszusetzen. Dies lässt sich an seiner Aufnahme der Adam-Tradition in Röm 5,12–21 und 15,44–49 zeigen.66
4. Hermeneutische Schlusserwägungen: Wirkungsgeschichte und Exegese 67
Die bisher dargelegten Einsichten sollen nun noch unter der eingangs gestellten Fragestellung nach dem Verhältnis von historisch-kritischer Exegese und christlicher Auslegungstradition ausgewertet werden. Dazu kann jetzt anhand von Gen 15,6 in der paulinischen Auslegung beispielhaft etwas gesagt werden: Paulus interpretiert diesen Text ganz klar von seinen hermeneutischen Vorentscheidungen und seinem Vorverständnis her, stößt dabei aber auf eine betonte Funktion des Glaubensbegriffes, die sich auch auf dem Wege der historisch-kritischen Exegese des hebräischen Textes ermitteln lässt. Dass aber gerade dieser Aspekt des Textes bei Paulus zur zur Wirkung kommen konnte, wurde durch das paulinische Vorverständnis sozusagen katalysiert. Letztendlich handelt es sich also auch bei Gal 3 und Röm 4 um ein Stück Wirkungsgeschichte des hebräischen Textes von Gen 15,6! Welche Wirkungsgeschichte ein Text aber hat, hängt also nicht unwesentlich vom Vorverständnis der späteren Ausleger ab. So wird Wirkungsgeschichte durch Vorverständnis mitbedingt. Dabei ist natürlich völlig unbestritten, dass Paulus im Verlauf seiner Auslegung auch Dinge betont, die ursprünglich nicht vom Ausgangstext intendiert waren (wie die scharfe Entgegensetzung von Glaube und Gesetztesgehorsam). Diese Dinge soll die historische Exegese erkennen und darauf kritisch aufmerksam machen. Dennoch ist für die historisch-kritische Exegese alttestamentlicher Texte z.B. die paulinische Auslegung nicht einfach unerheblich oder abgetan, wenn infolge des oben Gesagten gilt: a) In einer Kommunikationssituation, wie sie auch zwischen Bibeltext und Ausleger besteht, wird Sinn immer auch konstituiert durch die Intention des Rezipienten. b) Das Vorverständnis des Auslegers kann auch historisch-kritisch ermittelbare Sinndimensionen eines Textes hervortreten lassen, die aber ohne dieses Vorverständnis vielleicht nie zu Tage getreten wären. Vor diesem Hintergrund greift die paulinische Exegese von Gen 15,6 eine Offenheit des Textes auf, die eben in dem Text selbst bereits angelegt ist und erweist sich so 66 67
Zu den dort aufgenommenen Traditionen vgl. Brandenburger, Mensch, 182–223. Zum Begriff der Wirkungsgeschichte vgl. noch einmal oben Anm. 3.
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Gen 15,6 und das Vorverständnis des Paulus
als ein Stück Wirkungsgeschichte des Textes. Die historische Exegese hat sich in einem langwierigen Prozess von der Vormundschaft bestimmter Auslegungstraditionen befreit, indem sie vor allem den historischen Abstand der Texte ganz ernst genommen hat. Es scheint allerdings möglich und m.E. auch geboten, unter dem Aspekt der Wirkungsgeschichte einen neuen Zugang zu alten Auslegungstraditionen zu gewinnen und diese auch für die historische Exegese fruchtbar zu machen, ohne dabei die Erkenntnis über den historischen Abstand der biblischen Texte wieder aufgeben zu müssen. Gleichzeitig kann ein genaues Beachten dessen, wie und aufgrund welcher Vorverständnisse ein Text seine jeweilige Wirkungsgeschichte entfalten konnte, wieder einmal darauf aufmerksam machen, wie auch heutige Exegese durch den Standpunkt des jeweiligen Betrachters mitbedingt ist. Und so wird sich eine alttestamentliche Exegese, die sich als Disziplin der christlichen Theologie versteht (so hatte ich es zu Beginn apostrophiert), immer wieder vor die Frage gestellt sehen, wie sich die paulinische Voraussetzung der Selbigkeit Gottes in beiden Testamenten für den einzelnen Ausleger darstellt oder ob ein christlich sozialisierter Exeget Gen 15,6 unter völliger Absehung der paulinischen Auslegung, quasi „nur“ historisch lesen kann. Es wird dann aber auch klar, dass ein Text wie Gen 15,6 evtl. auch noch andere „Offenheiten“ besitzt, die erst von einem anderen Standpunkt des Betrachters aus in den Blick kommen. Gegenüber Spitzenurteilen, wie dem Oemingschen „schlicht falsch“68 wird man dann wohl vorsichtiger. Impliziert ein solches Urteil doch auch ein „Richtig“, steht so in der Gefahr die Machbarkeit einer Auslegung mit Hilfe einer bestimmten Methodik zu überschätzen und wird dem Charakter biblischer Texte als in neuen Situationen neu und anders redenden Glaubenszeugnissen nicht gerecht. Dass biblische Texte für solche neuen Interpretationen offen sind, ist keine Prämisse, sondern lässt sich schon inneralttestamentlich an vielen Aktualisierungen älterer durch jüngere Texte zeigen. So handelt es sich z.B. bei Gen 15,6 (bei aller gebotenen Vorsicht in Datierungsfragen) um eine „theologische Reflexion über Abraham aus der späten Königszeit.“69 Es geht um den Glauben der Generation des Verfassers, der Text selbst stellt ein Stück Wirkungsgeschichte von Jes 7,9 dar70 und die Abrahamstradition wird von daher aktualisiert. Solche Beobachtungen machen hoffentlich auch sensibler dafür, wie schwierig es ist, einem bestimmten Standpunkt des Auslegers den Vorzug zu geben, so wie sich das in Rottzolls Ausführungen zugunsten der „zeitgenössischen jüdischen“71
68 69 70 71
Oeming, ZAW 95 (1983), 196. Westermann, BKAT I/2, 263. Westermann, BKAT I/2, 264. Rottzoll, ZAW 106 (1994), 27. Historisch-kritisch betrachtet, ist eine Interpretation des Glaubensbegriffes von Gen 15,6 als Werkgerechtigkeit ja genauso wenig zwingend, wie darin eine scharfe Polemik gegen Werkgerechtigkeit zu sehen.
Nachbemerkung
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Auslegung andeutet und wie es andernorts vielfach für einen christlichen Standpunkt (die paulinische wird dann zu der „richtigen“ Deutung) geschehen ist. Dies alles soll nicht der exegetischen Willkür das Wort reden. Die historische Exegese hat sich zu recht von einer dogmatischen Dominanz befreit. Es soll allerdings gefragt werden, ob eine Exegese, die mehr als bisher die Auslegungs- und Wirkungsgeschichte der von ihr bearbeiteten Texte mitberücksichtigt, auch Gewinn für ihre historisch-kritische Erforschung des AT erzielen kann. Dabei wird sich vielleicht nach gründlicher und kritischer Beobachtung im Einzellfall auch so manche schon erledigt geglaubte traditionelle Auslegung alttestamentlicher Texte (nicht nur im NT) als ein Stück Wirkungsgeschichte der Texte selbst erweisen und somit Sinndimensionen und Offenheiten des eigentlichen Gegenstandes, der hebräischen Bibel erkennbar machen. Ein solches Vorgehen wird auch immer wieder in die Reflexion des Standpunktes und des Vorverständnis des Auslegers einweisen. Schließlich lässt ein solches Verfahren vielleicht auch sensibel werden für die Vielfalt und Komplexität von Textsinn72 und bewahrt vor allzu schneller Gegenüberstellung von „falscher“ und „richtiger“ Exegese. So sei hier abschließend die Hoffnung geäußert, dass Klahrheit über den eigenen Standpunkt die Diskussion mit anderen Standpunkten nicht erschwert, sondern im Gegenteil erleichtert. Dies gilt im Hinblick auf die Auslegung der hebräischen Bibel vor allem für den Diskurs zwischen christlicher und jüdischer Exegese.73
5. Nachbemerkung Die Diskussion um diesen so spannenden Vers Gen 15,6 und seine unterschiedlichen Interpretationsmöglichkeiten ist seit der Erstveröffentlichung dieses Textes im Jahre 1997 in erheblichem Umfang fortgeführt worden. Aus der Fülle der Literatur sei hier nur ein kurzer Blick auf einige Veröffentlichungen geworfen. Noch einmal hat Manfed Oeming die Rezeptionsgeschichte des Textes in der Zeit des zweiten Tempels referiert.74 Dabei berührt sich das Thema Rezeptionsgeschichte natürlich eng mit den hier zur Wirkungsgeschichte vorgetragenen Gedanken. Die oben vorgetragenen Einsichten zur Unterscheidung eines nomen unitatis und eines nomen collectivum im biblischen Hebräisch verdanke ich vor allem meinem verehrten Lehrer Diethelm Michel. Dieser hat im Jahr seines überraschenden Todes selbst noch einmal explizit zu Gen 15,6 Stellung genommen.75 Seine Gedanken fügen sich ganz zu den hier dargelegten Überlegungen.
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Für Gen 15,6 wird diese Mehrdimensionalität ja auch schon innerhalb des NT deutlich, wo sich neben der paulinischen Auslegung ja auch noch Jak 2,23f. findet. Vgl. auch Wilckens, EKK VI/1, 285. Vgl. Oeming, ZAW 110 (1998), 16–33. Vgl. Michel, Ansehen, 103–113.
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Gen 15,6 und das Vorverständnis des Paulus
Ina Willi-Plein hat eine direkte Replik auf diesen Text zum Anlass genommen, um nach der Bedeutung des we-AK והאמןzu fragen.76 Sie sieht hierin einen Progress der futurischen Ipmerfektform יהיהin V. 5. Dann würde hier gesagt, dass Abrahams Same glauben werde – und nicht Abraham selbst. Damit ist den Interpretationsmöglichkeiten von V. 6 eine weitere hinzugefügt. Zwingend ist diese freilich nicht. Es lassen sich nämlich auch Beispiele für die Verwendung solcher we-AK Formen im Sinne von Temporal- oder Umstandssätzen finden.77 Denkbar ist auch, dass in Gen 15,6 eine Form des expikativen we-AK vorliegt78, die eben nicht Progress ausdrückt, sondern ein resultatives Fazit aus dem Vorherigen zieht. Schließlich hat sich Matthias Köckert in einer umfangreichen Studie noch einmal der Exegese des Textes angenommen und dabei neuere und neueste Literatur zu Gen 15,6 umfassend diskutiert.79 Das letzte Wort wird auch das noch nicht gewesen sein. Zum Schluss sei gesagt, dass ich die Unterscheidung zwischen der Wirkung eines biblischen Textes und dessen Gebrauch, wie ich sie in Anm. 3 vorgenommen habe, so heute nicht mehr vertreten würde. Es mag jedoch hilfreich sein, wenn Exegese mit Gründen dazu beiträgt, dass nicht jede Deutung eines Textes vertretbar ist.80
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Vgl. Willi-Plein, ZAW 112 (2000), 386f. Vgl. für Belege Köckert, ZThK 109 (2012), bes. 421–426 in ausdrücklicher Auseinandersetzung mit Willi-Plein. Vgl. Michel, Tempora, 95ff. Vgl. Köckert, ZThK 109 (2012), 415–444. Ich beziehe mich auf Volker Stolle, Kleine Methodik der Auslegungs- und Wirkungsgeschichte, Vortrag auf dem Vorschungskolloqium der Lutherischen Theologischen Hochschule Oberursel im Februar 2013 (bisher unveröffentlicht) mit der Kernthese: „Auslegungs- und Wirkungsgeschichte ist das ‚missinkg link‘ zwischen historisch-kritischer Auslegung und gegenwartsbezogener Interpretation.“ Volker Stolles Einfluss ist es zu verdanken, dass ich selbst seit 1995 immer die Auslegungs- und Wirkungsgeschichte als eigenen Arbeitsschritt im alttestamentlichen Proseminar behandle.
„Gesetz und Evangelium“ als Kategorie in der neueren Auslegung des Deuteronomiums 1. Das Thema und sein Horizont Angesichts einer zunehmenden Differenzierung und Spezialisierung der theologischen Teildisziplinen stellt sich die Frage, wie eine fruchtbare Kommunikation der einzelnen Fächer mit Blick auf ein Ganzes der christlichen Theologie möglich bleibt. Dieser Frage soll im Folgenden anhand eines Beispiels aus der alttestamentlichen Exegese nachgegangen werden. Einerseits hatte sich die Exegese in einem langwierigen Prozess von allzu dominanter dogmatischer Normierung befreit1, andererseits liegt hierin zumindest die Tendenz, das Bemühen um ein Verstehen der Bibel als ausschließlich historische Disziplin zu betreiben.2 Ein solches Vorgehen ist im Großen und Ganzen in der Exegese aber nicht der Fall. Neben dem historischen Verstehen steht auch die Frage nach der Relevanz für die Gegenwart3, und neben der genauen literarischen Einzelarbeit steht die Frage nach einer theologischen Gesamtinterpretation biblischer Texte. Bei dem Bemühen um eine solche theologische Interpretation liegt es dann nahe, dass die Exegese sich Kategorien bedient, die vornehmlich aus der systematischen Theologie stammen. So ist etwa in der neueren Auslegung des fünften Buches Mose, des Deuteronomiums4 das Begriffspaar „Gesetz und Evangelium“ zu einer Systematisierung und Interpretation des exegetischen Befundes herangezogen worden. Ein solches Verfahren ist aber nur dann sinnvoll, wenn in der Systematik eindeutig ist, was mit „Gesetz und Evangelium“ bezeichnet wird und wozu diese Kategorie in der Theologie verwandt werden soll.5 Hier ergibt sich nun ein Problem: Das Verständnis von „Gesetz und Evangelium“ bewegt sich – vereinfachend gesprochen 1 2
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Zur Geschichte der christlichen Auslegung des AT vgl. Gunneweg, Verstehen, 7–84; Zimmerli, TRE 6, 426–455, sowie als Quellensammlung: Smend, Das Alte Testament im Protestantismus. So ließe sich im Hinblick auf alttestamentliche Gesetzestexte, um die es im folgenden beispielhaft geht, die Arbeit an den biblischen Gesetzeskorpora so sehr auf die Erklärung der verschiedenen Rechtsformen und -sätze, deren Vergleich mit anderen altorientalischen Rechtskorpora und ein Verständnis der Texte in ihrer historischen Logik konzentrieren, dass die Frage nach diesen Texten als Teilen des biblischen Kanons (oder gar deren Bedeutung für die kirchliche Verkündigung) gar nicht mehr in den Blick kommt. Vgl. für alttestamentliche Gesetzestexte: Crüsemann, Tora, und Otto, Ethik, sowie die gesamtbiblische Untersuchung von Limbeck, Das Gesetz im Alten und Neuen Testament. Zur Orientierung vgl. McBride, TRE 8, 530–543 sowie Preuß, Deuteronomium. Wenn ich mich im folgenden vor allem in literarkritischen Fragen immer wieder auf Preuß beziehe, soll das die unübersichtliche Forschungslage wenigstens einigermaßen handhabbar machen. Die Komplexität der neueren Dtn- Exegese soll aber nicht nivelliert werden. Vgl. zur Übersicht Kaiser, Grundriß 1; Braulik in: Zenger u.a., Einleitung (Lit.!). 3 3 Vgl. Wolf, RGG 2, 1519–1526; Joest, RGG 2, 1526–1531; Mau, TRE 13, 82–90; Barth, TRE 13, 3 3 126–142; Peters, EKL 2, 143–149; Stöhr, EKL 2, 149–153.
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„Gesetz und Evangelium“ als Kategorie in der neueren Auslegung des Deuteronomiums
– zwischen Martin Luther, für den das Begriffspaar vor allem seinen Ort in der Rechtfertigungslehre hat, und Karl Barth, der die Diskussion um „Evangelium und Gesetz“ in diesem Jahrhundert wiederbelebt hat, für den es dabei aber um die Grundlegung christlicher Ethik geht.6 Im folgenden soll beispielhaft in Auseinandersetzung mit Arbeiten Georg Brauliks7 und Lothar Perlitts8, die sich beide explizit auf die Kategorie „Gesetz und Evangelium“ im Rahmen ihrer Exegese des Dtn bezogen haben, danach gefragt werden, wie und mit welchen systematisch-theologischen Implikationen „Gesetz und Evangelium“ in der Arbeit dieser beiden Exegeten verwandt wurde und ob die Begrifflichkeit tatsächlich geeignet ist, den exegetischen Befund zu systematisieren (2. und 3.). Im Anschluss daran soll in eigenen exegetischen Erwägungen zu Dtn 6 und 30 Aufschluss über das Verständnis des Gesetzes im Dtn und über die Berechtigung der Anwendung von „Gesetz und Evangelium“ in der Auslegung dieses alttestamentlichen Buches zu gewonnen werden (4. – 6.).
2. „Gesetz und Evangelium“ in der alttestamentlichen Exegese Im Zusammenhang der historisch-kritischen Exegese des AT hat die Rede von „Gesetz und Evangelium“ vornehmlich eine hermeneutische Funktion. Dabei geht es um die Frage nach dem sachlichen Zusammenhang von AT und NT und um die gegenwärtige Geltung alttestamentlicher Texte für die christliche Kirche. A. H. J. Gunneweg urteilt in diesem Zusammenhang über Luthers Unterscheidung von Gesetz und Evangelium: „Es kann keine Frage sein, dass hier im Ansatz eine Lösung der hermeneutischen Problematik sich anbahnte, die auch heute noch nicht überholt sein muss, wenngleich die historisch-kritische Forschung und die allgemein-hermeneutische Diskussion gewiss über Luthers Position hinweggeschritten sind.“9 Nun ist es aber eine Auffälligkeit, dass trotz der fortgeschrittenen Diskussion Luthers Unterscheidung in der wissenschaftlichen Exegese des AT relativ häufig begegnet. Dabei ist jedoch eins zu beachten: Ist in der alttestamentlichen Exegese von Gesetz und Evangelium die Rede, so geht es zumeist um ein angemessenens Verständnis des alttestamentlichen Gesetzes. Denn auf Grund großer Schwierigkeiten,
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Die Auseinandersetzung um die verschiedenen Möglichkeiten eines Verständnisses von „Gesetz und Evangelium“ hat bis heute „keinen allseits befriedigenden Abschluß gefunden“ (Barth, TRE 13, 136). Zu den Positionen Luthers und Barths vgl. ausführlicher unten Anm. 10 und Anm. 17, sowie Peters, Gesetz und Evangelium, passim. Braulik, Gesetz als Evangelium. Rechtfertigung und Begnadigung nach der deuteronomischen Tora, 123–160. Perlitt, „Evangelium“ und Gesetz im Deuteronomium, 23–38. Gunneweg, Verstehen, 50f. Hervorhebung so im Original.
„Gesetz und Evangelium“ in der alttestamentlichen Exegese
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die Unterscheidung Luthers homiletisch und hermeneutisch durchzuhalten,10 war es in der Geschichte der christlichen Auslegung des AT immer wieder dazu gekommen, dass das alttestamentliche Gesetz (wenn nicht das AT überhaupt) pauschal als gesetzlicher Heilsweg abgetan wurde.11 Und bestenfalls „als gesetzliche Antithese hat das Alte Testament für das Evangelium eine Bedeutung.“12 So etwa bei Rudolf Bultmann, der das ganze AT als Verheißung oder eben als „Gesetz“, als Dokument eines Scheiterns beurteilt.13 Bei Bultmann kommt es unter der Überschrift von Weissagung und Erfüllung zu einer regelrechten Diastase von Gesetz (= Weissagung = AT) und Evangelium (= Erfüllung = NT).14 In der Auseinandersetzung mit einer solchen Position stellt sich dann der alttestamentlichen Exegese die Frage, ob das AT als ganzes oder zumindest doch die darin enthaltenen Gesetzestexte in einem systematisch-theologischen Sinn als „gesetzlich“ zu interpretieren sind. Hier sah sich die Exegese genötigt, bei einem Bemühen um ein Verständnis der alttestamentlichen Gesetzestexte, das diesen Texten selbst gerecht werden will, ohne sie pauschal als Ausdruck einer Werkge-
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Für Martin Luther gehört die Kategorie „Gesetz und Evangelium“ zuerst und immer wieder in die Verkündigung der Rechtfertigung. Dies ergibt sich z.B. daraus, dass Luther die Dialektik von Gesetz und Evangelium in Korrelation zu den beiden Stücken der Buße, Reue und Glaube, deren Ziel ja die Rechtfertigung und Tröstung des angefochtenen Sünders ist, entfalten kann. Vgl. dazu die 1., 2. und 7. These der ersten Disputation gegen die Antinomer, WA 39/1, 345: "1. Poenitentia omnium testimonio et vero est dolor de peccato cum adiuncto proposito melioris vitae. 2. Hic dolor proprie aliud nihil est, nec esse potest, quam ipse tactus seu sensus legis in corde seu conscientia. [...] 7. Ideo addenda est legi promissio seu Euangelion, quae conscientiam territam pacet et erigat, ut bonum proponat.“ Dabei müssen Gesetz und Evangelium einerseits deutlich voneinander unterschieden und anderseits immer aufeinander bezogen werden. Das Gesetz spricht den Menschen auf sein Sündersein an, das Evangelium tröstet die angefochtenen Gewissen. D. h. aber, dass „Gesetz und Evangelium“ für Luther und die lutherische Theologie zuerst immer eine homiletische Funktion hat, also in die Verkündigung, die Applikation des Evangeliums gehört. Wenn davon abgeleitet, „Gesetz und Evangelium“ auch eine hermeneutische Funktion zukommt, wenn die Kategorie also einem theologisch rechten Verstehen der ganzen Bibel dienen soll (so pointiert der Rechtfertigungsartikel der Apologie, z.B. BSLK, 159,30ff.: „Universa scriptura in hos duos locos praecipuos distribui debet: in legem et promissiones“), dann gilt das nie in dem Sinne, als ließen sich AT und NT auf die Größen Gesetz einerseits und Evangelium andererseits verteilen. Und auch innerhalb der beiden Kanonteile kann man nicht Vers für Vers zwischen Gesetz und Evangelium unterscheiden. Ob ein Bibelwort Gesetz oder Evangelium für den Hörer ist, hängt immer von der Verkündigungssituation ab. Und so sagt Luther selbst bereits, dass eine Unterscheidung von Gesetz und Evangelium „inn usu“ (WA 36, 22,26), will heißen im Vollzug der Verkündigung als einer den Menschen tatsächlich treffenden Anrede, für einen evangelischen Theologen zwar unerläßlich, aber sehr schwer ist. An solchen Schwierigkeiten mag es gelegen haben, dass die Unterscheidung von Gesetz und Evangelium in der evangelischen Theologie weithin in den Hintergrund getreten ist, bis die Diskussion darum in den dreißiger Jahren unseres Jahrhunderts von Karl Barth wieder entfacht wurde. Für die Dogmen- und Theologiegeschichte von Gesetz und Evangelium vgl. 3 3 Wolf, RGG 2, 1519–1526 und Peters, EKL 2, 143–149. Vgl. Gunneweg, Verstehen, 85–120. Gunneweg, Verstehen, 103. Vgl. Bultmann, Weissagung, 28–53; dazu Gunneweg, Verstehen, 133f. Auf Luther kann sich diese „protestantische“ Position freilich nicht berufen vgl. o. Anm. 10.
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rechtigkeit abzutun, der Bultmannschen Diastase zu widersprechen.15 Wieder kommt dann die Kategorie „Gesetz und Evangelium“ ins Spiel. So hat sich z.B. Gerhard von Rad16 gegen die Ansicht gewehrt, dass das alttestamentliche Israel sein Gottesverhältnis vornehmlich „gesetzlich“ verstanden habe, indem er nach dem Verhältnis von Jahwes Heilshandeln und seinem Gesetz fragte und dazu anführte, man werde nicht sagen können, „dass mit der Unterscheidung von ‚Gesetz‘ und ‚Evangelium‘ eine Begrifflichkeit an das Alte Testament herangetragen werde, die ihm gar nicht entspräche. Auch das Alte Testament kennt Gottes Offenbarung teils als zuvorkommende Gnade, teils als Forderung an den Menschen.“17 Auch Hans Jochen Boecker meint: „In diesen Zusammenhang gehört auch die Frage nach dem Verhältnis und der Beziehung von Gesetz und Evangelium bzw. Evangelium und Gesetz.“18 Und weiter: „Das Verständnis des alttestamentlichen Gesetzes kann als Schlüssel für das Verständnis des Alten Testaments als ganzem dienen.“19 So ist vor 15
Vgl. Zimmerli, Gesetz passim. Zimmerli widerspricht hier einer Position wie der Bultmanns bereits im Vorwort (5f.), wenn er auch sein Gegenüber nicht namhaft macht. 16 Vgl. Rad, Theologie II, 413–436. 17 Rad, Theologie II, 414. Damit bleibt von Rad bei Luthers Einsicht, dass die Unterscheidung von Gesetz und Evangelium auch inneralttestamentlich durchgeführt werden kann. Luthers Reihenfolge hat er allerdings umgekehrt und scheint so eher von Barths Einsichten beeinflußt zu sein. 1935 hatte Karl Barth mit seinem Votrag „Evangelium und Gesetz“ Luthers Reihenfolge umgekehrt und darin die Kernthese vertreten, „das Gesetz ist nichts anderes als die notwendige Form des Evangeliums, dessen Inhalt die Gnade ist“ (a.a.O., 9, Hervorhebung so im Original). Er gelangte zu dieser These, indem er von der Logik des theologischen Erkenntnisweges ausgegangen war: „…darum müssen wir, um zu wissen, was Gesetz ist, allererst um das Evangelium wissen und nicht umgekehrt“ (a.a.O., 1f.). Nun folgt aus diesem Prozess bei Barth aber nicht eine Kenntnis des Gesetzes, die ihrerseits wieder zum rechtfertigenden Evangelium (im Sinne eines usus elenchthicus) drängen würde. Vielmehr wird das Gesetz jetzt (ganz alttestamentlich gesprochen) zum durch den „Bund“ motivierten „Gebot“. „Die Proklamation des Bundes verheißener Gnade zwischen Gott und Israel geschieht als Promulgation der göttlichen Gebote“ (a.a.O., 8. Hervorhebung so im Original). Vom AT abstrahiert heißt das: „Wir lesen aus dem, was Gott hier für uns tut, ab, was Gott mit uns und von uns will“ (a.a.O., 7. Hervorhebung so im Original). Wird die Rede von Gesetz und Evangelium aber zu einem solchen „Zuspruch des Tuns“ (So über Barth: Joest, 3 RGG 2, 1529), ändert sie damit gegenüber Luther ihren Sitz im Leben. Aus Gesetz und Evangelium als einer ganz auf die Rechtfertigung bezogenen Größe (und in diesem Sachbezug liegt bei Luther die Notwendigkeit der Reihenfolge!) wird bei Barth in der Reihenfolge Evangelium und Gesetz eine Kategorie, die ihren Bezugspunkt letztlich in der theologischen Ethik hat. Gottes „Handeln kreist nicht um sich selbst, sondern es zielt hin auf unser Handeln“ (Barth, Evangelium, 7f. Hervorhebung so im Original). Damit aber erweist es sich als fraglich, ob die traditionelle Terminologie das Gemeinte noch zur Sprache bringt. Barth selbst spricht dann auch lieber von „Gnade und Gebot“ oder anderen Begriffspaaren (Vgl. H.-M. Barth, TRE 13, 136 sowie Peters, Gesetz und Evangelium, 110). Auch die Rede von Zuspruch und Anspruch (in dieser Reihenfolge!) dürfte in den skizzierten Gedanken Barths ihren Grund haben. Festgehalten werden muss noch, dass aber auch Barths Rede von Evangelium und Gesetz auf eine homiletische Funktion abzielt, wenn ja Christen auf ihr Handeln hin angesprochen werden sollen. Nur ist hier nicht die Rechtfertigung der Hauptinhalt der Verkündigung. 18 Boecker, Recht, 110. Boeckers alternative Formulierung weist bereits darauf hin, dass auch hinter exegetischer Arbeit systematisch-theologische Vorentscheidungen stehen. 19 Boecker, Recht, 110.
Der Gebrauch von „Gesetz und Evangelium“ in der neueren Exegese des Deuteronomiums 121
allem die genauere Kenntnis des alttestamentlichen Gesetzes für die vermehrte Verwendung der Kategorie „Gesetz und Evangelium“ innerhalb der Exegese von Bedeutung. Frank Crüsemann hat das in einer der jüngsten rechts- und sozialgeschichtlichen Untersuchungen zur Tora so auf den Punkt gebracht: „Der Begriff Tora umfaßt somit die beiden Seiten des einen Gotteswortes. Was die Sprache der Systematik als Gesetz und Evangelium, als Zuspruch und Anspruch trennt (und dann oft einander entgegensetzt), ist in ihm zusammengehalten. Der Begriff bezeichnet die Einheit von Gesetz und Evangelium und damit des göttlichen Wortes und Willens.“20 So hat also die Exegese zu einer ähnlichen inneralttestamentlichen Unterscheidung und Bezogenheit von Gesetz und Evangelium gefunden, wie diese (zumindest formal!) auch für Luther bestanden hat. Gleichzeitig wird aber besonders an solchen Äußerungen wie der Crüsemanns deutlich, dass die systematischtheologische Diskussion seit den dreißiger Jahren nicht spurlos an den Exegeten vorübergegangen ist.21 Nach solchen systematischen Implikationen in exegetischen Urteilen soll im folgenden gefragt werden, und zwar in Auseinandersetzung mit zwei konkreten Arbeiten zum Buch Deuteronomium.
3. Der Gebrauch von „Gesetz und Evangelium“ in der neueren Exegese des Deuteronomiums „Das Deuteronomium oder 5. Buch Mose bildet in jeder Beziehung die Mitte des Alten Testaments.“22 Durch seine Datierung im Zusammenhang mit der josijanischen Reform von 622 v.Chr.23 gibt es eine Bezugsgröße für die relative Datierung anderer alttestamentlicher Schriften ab. Im Dtn läßt sich die beginnende Kanonisierung der alttestamentlichen Schriften greifen (vgl. Dtn 4,2), und im Zusammenhang damit findet sich auch ein bestimmtes Verständnis (oder mehrere?) des Gesetzes. „In unserem Bewußtsein lebt das Dtn als ein Gesetzbuch. Die Wirklichkeit ist aber komplizierter.“24 Vor das eigentliche Gesetzeskorpus des Buches in den Kapiteln 12-26 wird z.B. eine Verhältnisbestimmung zwischen Israel und seinem Gott gesetzt, die in dem Hauptgebot Dtn 6,4 gipfelt: „Höre Israel, der Herr ist unser Gott, der Herr allein.“ Im folgenden sollen nun zwei Versuche, ein so eingeleitetes Gesetzesverständnis mit Hilfe der Kategorie Gesetz und Evangelium zu interpretieren, dargestellt und auf ihre systematischen Implikationen befragt werden.25 20 21 22 23 24 25
Crüsemann, Tora, 8. Crüsemann verweist ausdrücklich auf diese Diskussion, vgl. Tora, 8 Anm. 6. Kaiser, Grundriß 1, 91. Vgl. Preuß, Deuteronomium, 1-12. Braulik, NEB.AT 15, 5. Es kann im folgenden nicht um eine Auseinandersetzung mit den (besonders bei Braulik) umfangreichen exegetischen Detailbeobachtungen gehen – zumal bei der nicht ganz übersichtlichen Forschungslage zum Dtn.
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„Gesetz und Evangelium“ als Kategorie in der neueren Auslegung des Deuteronomiums
3.1 Georg Braulik: Evangelium als Gesetz Georg Braulik verhandelt in einem Aufsatz die Thematik Gesetz und Evangelium im Hinblick auf das Deuteronomium unter dem Stichwort „Gesetz als Evangelium“26, wobei er von der These ausgeht: „Wie auch immer man die Dialektik von ‚Gesetz und Evangelium‘ als Zugang zur Schrift beurteilen mag, sie bildet jedenfalls ein unverzichtbares Thema des ökumenischen Dialogs zwischen Katholiken und Protestanten, zwischen Christen und Juden.“27 Braulik sieht die Problematik ausdrücklich im Kontext der "Rechtfertigung des Menschen“28, und es soll sich zeigen, „daß die Grundzüge der paulinischen Theologie etwa des Römerbriefes der deuteronomischen Tora entsprechen, wenn diese von ‚Rechtfertigung‘ und ‚Begnadigung‘ Israels redet.“29 Ausgehend von der Auffindung einer frühen Fassung des Dtn in Form eines Torabuches ( )ספר התורהunter Josija (2Kön 22 und 23), interessiert Braulik vor allem die dreistufige theologische Grundstruktur einer solchen tora: „Diese Grundstruktur [die auf altorientalische Vasallenverträge zurückgeht] – Hinweis auf Jahwes Rettungs- und Heilshandeln, generelle und konkrete Verhaltensanweisungen, die einen Heils- bzw. Unheilsaufweis bedingen – könnte auch für jene Tora kennzeichnend gewesen sein, die der Hohepriester Hilkija im Jerusalemer Heiligtum ‚gefunden‘ hat.“30 Israel und Jahwe schließen also einen Vertrag. Jahwes vorauslaufendes Heilshandeln, das vor allem in Exodus und Landgabe besteht und das für Braulik „Rechtfertigung“31 ist, ermöglicht es Israel dabei, die Grundforderung (allein Jahwe zu verehren, Dtn 6,4) und die Einzelbestimmungen des Dtn zu erfüllen. Ethisches Handeln wird durch die Gottesbeziehung motiviert. Es geht nicht darum, Israel sich etwas verdient, sondern im Halten der Einzelgebote spricht sich Israels „Gerechtigkeit“ aus, die allein durch Jahwes Handeln begründet ist. Dieser Gedanke lässt sich anhand des Vorkommens des Wortes צדֹקהim Dtn weiterverfolgen. So z.B. 6,20–25: Israels Gerechtigkeit ( )צדֹקהbesteht im Halten aller Gebote, die es von Mose empfangen hat. Vor dieser Verpflichtung (V. 24) wird aber zuerst das Rettungshandeln Jahwes (V. 20-23) geschildert. Es ist demnach so, dass Israels Sein in einem Gnadenstand32 seinen Ausdruck im Gebotsgehorsam findet 26 27 28 29 30
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Braulik, Gesetz, passim. Braulik, Gesetz, 125. Braulik, Gesetz, 124. Braulik, Gesetz, 126. Braulik, Gesetz, 129. Unklar bleibt bei Braulik hier und im folgenden allerdings, wie sich dieses „könnte“ auflöst. Dies mag damit zusammenhängen, dass keine Einigkeit darüber herrscht, welche Gestalt das Dtn zur Zeit Josijas (also ohne verschiedene Schichten dtr Zusätze) gehabt hat. Alle Elemente dieser dreistufigen Tora finden sich jedoch in der Endgestalt des Dtn, wie es im biblischen Kanon vorliegt. Es wird an Jahwes Heilstaten erinnert (6,20–24.25, vgl. auch den Dekaloganfang 5,6 und das „kleine geschichtliche Credo“ 26,5–9), es gibt ein deutlich abgrenzbares Korpus von Gesetzesbestimmungen (12–26) und dem Volk werden Segen und Fluch vorgelegt (27f.). Braulik, Gesetz, 134. Vgl. Braulik, Gesetz, 137.
Der Gebrauch von „Gesetz und Evangelium“ in der neueren Exegese des Deuteronomiums 123
(V. 25), wie das auch in Dtn 24,13 ebenfalls unter Verwendung des Begiffes צדֹקה konkret ausgesagt wird.33 Sowohl in Dtn 6,25 als auch in 24,13 geht es nach Braulik also nicht um „Werkgerechtigkeit“ o.ä., sondern um die „Wirkung der ‚Rechtfertigungsgnade im gerechtfertigten Menschen‘“34, also um den Glauben der sich in „guten Werken“ ausspricht.35 Wo dem gegenüber in einem exilischen Text wie Dtn 6,17–19 die theologische Deutung zu lauten scheint: „Nur wenn Israel das Deuteronomium befolgte, konnte es das Land (wieder) in Besitz nehmen“36, handelt es sich nach Braulik um ein nomistisches Mißverständnis, das aber wohl schon innerhalb des Dtn empfunden wurde. Ein spätexilischer dtr Bearbeiter scheint ein solches Mißverständnis mit Dtn 9,1–8 zu korrigieren: Während Israel wegen seiner eigenen Gerechtigkeit auf einen (Wieder-)Einzug ins Verheißungsland hofft (V. 4), ist es doch allein Jahwe, der handelt (V. 5.6). Der (Wieder-)Einzug Israels (nach dem Exil) ist „Ereignis der ‚Rechtfertigung‘“.37 Auch ein Israel, dessen eigene Gerechtigkeit nichts ist (9,5), wird am Ende begnadigt, „gerechtfertigt“. Noch einmal denken spätere deuteronomistische Bearbeiter im Exil die „Rechtfertigung“ Israels weiter.38 Im „Hören auf die Stimme Jahwes“ und im grundlosen, freien Festhalten Jahwes an der Väterverheißung besteht „das ‚Evangelium‘ für ein schuldig gewordenes Volk.“39 Beide Aspekte werden in Dtn 30,1–10 entfaltet. Letztlich ist es wieder Jahwe, der handelt und alles menschliche Handeln ermöglicht. Dies wird besonders in der „theologische[n] Mitte“40 der Perikope deutlich, wo von der Beschneidung der Herzen durch Jahwe die Rede ist (V. 6–8). Weil Jahwe so gehandelt hat, kann Israel das Hauptgebot des Dtn (Jahwe allein ist Jahwe, 6,4) und die Einzelgebote halten. So erweist sich schließlich die Tora als Gnadengabe und ist „kein Anspruch, sondern ein Zuspruch.“41 Bei allem geschichtlichen Wandel, der sich im Dtn niedergeschlagen hat, ergibt sich für Braulik doch ein Verständnis des Gesetzes, das in seiner Struktur von vorauslaufendem Heilshandeln Jahwes und folgender Gebotsbeobachtung Israels relativ gleichbleibend ist und das sich abschließend mit Röm 10 so zusammenfassen lässt: „Das wahrhaft geinnerte deuteronomische Gesetz ist ‚Wort des Glaubens‘ (V. 8) also ‚Evangelium‘ (V. 16).“42 33
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In diesem Rechtssatz, in dem es um das Verhältnis von Schuldigern und Gläubigern geht (24,10– 13), heißt es abschließend, man solle einen als Pfand genommenen Mantel vor Sonnenuntergang zurückgeben; das ist dann Gerechtigkeit ( )צדֹקהvor Gott. Braulik dazu: „An der Behandlung dieses Armen entscheidet sich somit exemplarisch die Anerkenntnis der – bereits vorgegebenen - Beziehung zu Jahwe als richtig“ (a.a.O., 139). Braulik, Gesetz, 150. Vgl. Braulik, Gesetz, 150. Braulik, Gesetz, 142. Braulik, Gesetz, 150. Vgl. zum folgenden Braulik, Gesetz, 151–160. Braulik, Gesetz, 154. Braulik, Gesetz, 157. Braulik, Gesetz, 158. Braulik, Gesetz, 160.
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3.2 Lothar Perlitt: „Evangelium“ und Gesetz im Deuteronomium Ganz ähnlich wie Braulik befragt auch Lothar Perlitt das Deuteronomium in seinem Aufsatz „‚Evangelium‘ und Gesetz im Deuteronomium“.43 Allerdings geht er anders als Braulik von der Frage des Gesetzeslehrers in Mt 22,36 parr nach dem höchsten Gebot aus. Die Antwort auf diese Frage verweist auf Dtn 6,5. Eine solche Konzentration auf das Wesentliche hat für Perlitt „seine Wurzel in der dtn/dtr Schultheologie.“44 Denn in einem entscheidenden, formgebenden Stadium hat das Dtn wohl einmal mit dem Schema (Dtn 6,4ff.) begonnen, einem Text, der ein Vorzeichen, „eine Lesehilfe“45 für die folgenden Gesetze darstellt und der sich wie folgt auf den Punkt bringen lässt: „Liebe und Gegenliebe: das ist die dtn Hermeneutik des Gesetzes.“46 Und auch da, wo ein späterer dtr Ergänzer die Liebe an die Erfüllung des Gesetzes bindet47, hat das für Perlitt nichts mit „Gesetzlichkeit“ zu tun. Im Endtext bleibt ja die „Botschaft von der überfließenden Liebe“48 erhalten. Voraussetzung für diese Liebe aber ist im Dtn durchgängig das vorauslaufende Handeln Jahwes (Exodus, Landgabe und Segen). So lässt sich schon innerhalb des Dtn die Verbindung von Gottesliebe (6,5) und Nächstenliebe (15,1–11) vor dem Hintergrund, dass Jahwe Israels Gott ist (6,4) aufzeigen.49 Mit der Zeit machte das wachsende Dtn für den einzelnen eine Zusammenfassung in einer „eisernen Ration“50 erforderlich, wie sie etwa das katechetische Stück 6,20–24 darstellt. Dabei geht es aber nicht um eine Inhaltsangabe der ganzen Tora, sondern um den Sinn der Gebote. Warum gelten all' diese Satzungen? (V. 20) Die Antwort auf diese Frage ist zunächst ein Hinweis auf Jahwes rettendes Handeln in Exodus und Landgabe (V. 21–23).51 So wird in der Katechese der „G[eh]orsam der Befreiten zu einer Ethik der Dankbarkeit“52, wie Perlitt hier das Verhältnis von 43 44 45 46
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Perlitt, „Evangelium“, passim. Perlitt, „Evangelium“, 25. Perlitt, „Evangelium“, 27. Perlitt, „Evangelium“, 28. Perlitt weist im folgenden darauf hin, dass für die dtn Gesetzgeber das Gesetz – anders als für Paulus – nicht einen Heilsweg darstellt, sondern das Gemeinwesen ordnen soll. „In diesen Fragen hat der Historiker eine andere Perspektive als der neutestamentlich nach ‚Gesetz und Evangelium‘ fragende Systematiker“ (a.a.O., 30). Inwiefern aber auch der historisch arbeitende Exeget, der sich als Theologe versteht, nach der Dialektik von Gesetz und Evangelium fragen kann und soll, wird im Weiteren noch zu klären sein. So ist etwa in Dtn 15,1–11 der ursprüngliche Rechtssatz über das Erlaßjahr nicht von einer gesetzlichen Bestimmung geprägt, sondern von einer Paränese, die sich für Perlitt so zusammenfassen lässt: Weil der Nächste ein „Bruder“ ist, soll man ihm seine Schulden erlassen im „Erlaßjahr für Jahwe“. „Um Gottes und der Brüder willen sollst du barmherzig und großherzig sein“ (Perlitt, „Evangelium“, 31). Erst eine dtr Überarbeitung in den V. 4–6 lässt die Liebe als Gesetzeserfülung erscheinen. Perlitt, „Evangelium“, 32. „Daß Gottesliebe und Bruderliebe zusammengehören, ist das Hauptgebot dtn wie synoptischer ‚Religion‘.“ (Perlitt, „Evangelium“, 32). Perlitt, „Evangelium“, 33. Vgl. Perlitt, „Evangelium“, 34: "Der Sinn des Gesetzes erschließt sich aus dem 'Evangelium'." Perlitt, „Evangelium“, 35.
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„Evangelium“ und Gesetz bestimmen kann. Schließlich geht es in V. 25, einer späteren Ergänzung, um Israels Gerechtigkeit ( )צדֹקהcoram deo. Diese Gerechtigkeit besteht nun aber nicht im schlichten Halten der Gebote. Vielmehr bedeutet Dtn 6,25 für Perlitt „Wie er uns will, werden wir sein, wenn wir…“53, wenn man den Vers im Lichte von Dtn 9,4–6 liest, wo eine Qualität der Gerechtigkeit ( )צדֹקהIsraels abgewiesen wird. Hierin drückt sich eine dtr Theologie aus, in der es nicht nur um einzelne Gebote und deren Beachtung, sondern um „Gottes Willensoffenbarung im ganzen“54 geht. Und so kann Perlitt darauf hinweisen, das צדֹקה nicht nur „Gerechtigkeit“, sondern auch Gottes „Wohltat“ und „Erbarmen“ umfasst – wie im übrigen schon Johann Gerhard erkannt hat.55 Trotzdem möchte Perlitt die „Konjunktion von ‚Gesetz und Gnade‘“56, wie sie Braulik konstatiert hatte, nicht so ohne weiteres übernehmen. Schließlich werde auch im Dtn am Gesetz gelitten (vgl. Dtn 30,11–14). Aber die dtn Theologie ermöglicht doch zumindest inneralttestamentlich „das Zusammenhören von ‚Evangelium und Gesetz‘.“57
3.3 Systematisch-theologische Implikationen der skizzierten Positionen Sowohl Perlitt als auch Braulik verzichten zwar darauf, sich auf ein bestimmtes Verständnis von Gesetz und Evangelium als Voraussetzung ihrer eigenen Ausführungen zu berufen, aber zumindest Braulik stellt seine Arbeit doch in den Horizont der „Rechtfertigung des Menschen.“58 Und auch Perlitts Formulierung des Themas „‚Evangelium‘ und Gesetz im Deuteronomium“, in dem die Reihenfolge sicher bewusst gewählt und „Evangelium“ durchgängig in Anführungszeichen gesetzt wird, lassen einen nicht explizierten dogmatischen Hintergrund vermuten. Beide Exegeten kommen im Grunde zu einem ganz ähnlichen Ergebnis: In den herangezogenen Texten59 geht einer Gebotseinschärfung stets die Schilderung des heilsamen Handelns Jahwes an Israel voraus, d.h.: Gebotsgehorsam ist nicht konstitutiv für das Gottesverhältnis, sondern wird umgekehrt durch Jahwes vorauslaufendes, gnädiges Handeln motiviert. Dies erweist sich als Grundstruktur des Dtn. Aufgrund von Beobachtungen am Text mus die Exegese also einem Verständnis des alttestamentlichen Gesetzes widersprechen, das die Tora nur als gesetzliches Dokument eines Scheiterns sieht. Vielmehr wird am Dtn als einem zentralen alt53 54 55 56 57 58 59
Perlitt, „Evangelium“, 36. Perlitt, „Evangelium“, 37. Vgl. Perlitt, „Evangelium“, 37 Anm. 24. Perlitt, „Evangelium“, 37. Perlitt, „Evangelium“, 38. Braulik, Gesetz, 124. Vgl. bes. die Ausführungen beider zu Dtn 6, 20–24.25 und Israels צדֹקה, Braulik, Gesetz, 134– 151; Perlitt, „Evangelium“, 32–37.
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testamentlichen Gesetzeskorpus deutlich, dass Jahwe es ist, der das Verhältnis seines Volkes Israel zu sich konstituiert und dass erst hierin die Forderung nach Befolgung von Jahwes guten Lebensordnungen begründet ist. Zu fragen ist m.E. aber jetzt, ob gerade die Kategorie „Gesetz und Evangelium“ geeignet ist, diese wichtigen exegetischen Beobachtungen hermeneutisch oder für eine theologische Gesamtinterpretation alttestamentlicher Gesetzestexte fruchtbar zu machen. Um diese Frage zu beantworten, ist zunächst festzuhalten, dass sowohl für Braulik als auch für Perlitt das „Evangelium“ immer an erster Stelle steht. Erst handelt Jahwe, dann handelt das Volk. Von daher scheinen Evangelium und Gesetz im Hinblick auf das Dtn für Braulik und Perlitt ähnlich wie für Karl Barth auf die theologische Ethik hinauszulaufen.60 Und auch Brauliks Formel Gesetz als Evangelium erinnert an Barth, der das Gesetz ja als Form des Evangeliums bezeichnete. Andererseits sieht Braulik selbst die Unterscheidung von Gesetz und Evangelium in den Kontext der Rechtfertigung eingebunden61 und will „gnadentheologisch“ bei Jahwes Rettungshandeln im Exodus „von der ‚Rechtfertigung‘ Israels durch Jahwe sprechen.“62 Interpretiert man aber die beobachtbare Struktur von Jahwes Heilshandeln und Israels folgender Gebotserfüllung wie Braulik als Rechtfertigung, so kommt es notwendigerweise zu einer „Mitarbeit“63 des Volkes an seiner Rechtfertigung. Damit aber ist ein Verständnis von Gesetz und Evangelium erreicht, an dessen Ende das Gesetz steht, und zwar nicht im Sinne einer evangelischen Ethik, wie sie bei Karl Barth zu Tage tritt, sondern eben im Sinne einer Mitwirkung Israels an seinem Heil und damit im Sinne purer „Gesetzlichkeit“. Braulik muss sich m.E. also fragen lassen, ob er mit seiner Terminologie und deren unklaren systematischen Implikationen seine exegtischen Erkenntnisse nicht wieder in ihr Gegenteil verkehrt. Und auch auf dem Hintergrund von Röm 10 lässt sich das Gesetz im Dtn nicht einfach mit dem Evangelium gleichsetzen64; denn für Paulus gibt es ein Evangelium unter Absehung von Christus nicht (vgl. Röm 10,9). So bleibt Brauliks Verwendung der Begriffe Evangelium und Gesetz unklar. Perlitt dagegen spricht nicht explizit von Rechtfertigung, sondern nennt die Ethik im Zusammenhang seiner Unterscheidung von ‚Evangelium‘ und Gesetz ausdrücklich. Ist das ‚Evangelium‘ Jahwes Rettungs- und Segenshandeln, so wird der „G[e]horsam der Befreiten zu einer Ethik der Dankbarkeit.“65 So war dann auch sein Ausgangspunkt nicht das paulinische Gesetzesverständnis, sondern Jesu Hinweis auf das höchste Gebot (Mt 22,36 parr). Wie in den synoptischen Evangelien erweist sich dann für Perlitt bei seiner Unterscheidung von „Evangelium“ und
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Vgl. oben Anm. 17. Vgl. noch einmal Braulik, Gesetz, 124. Braulik, Gesetz, 134. vgl. a.a.O., 150. Braulik, Gesetz, 144. Braulik spricht ebd. von einer „Dialektik zwischen ‚Gnade‘ und ‚Verdienst‘“. Vgl. ähnlich bereits a.a.O., 133f. Vgl. Braulik, Gesetz, 160. Perlitt, „Evangelium“, 35.
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Gesetz im Dtn, dass „Gottesliebe und Bruderliebe zusammengehören.“66 Aber auch bei Jesu Antwort auf die Frage nach dem höchsten Gebot geht es um die Summe des Gesetzes und noch nicht eigentlich um das Evangelium.67 Und so trifft auch bei Perlitts Ansatz eine nicht ganz klare Verwendung der Kategorie Gesetz und Evangelium den exegetischen Befund am Dtn nicht; denn um ein Zusammenhören68 von Gesetz und Evangelium, das Perlitt inneralttestamentlich im Dtn konstatiert, geht es ja weder in Jesu Hinweis auf das Doppelgebot noch in den paulinischen Aussagen über das Gesetz. Wenn Perlitt sich zuletzt gegen eine Gleichung Gesetz als Evangelium wehrt und mit Dtn 30,11–14 darauf verweist, auch im Dtn würde ja am Gesetz gelitten69, so deutet sich an, dass er noch um eine andere Funktion der Unterscheidung von Gesetz und Evangelium weiß. Leider wird dies nicht mehr expliziert. Die Kategorie „Gesetz und Evangelium“, „‚Evangelium‘ und Gesetz“ oder „Gesetz als Evangelium“ ist also m.E. sowohl bei Braulik als auch bei Perlitt in einem unklaren Sinne und letztlich problematisch verwendet. Sie ist in beiden Fällen nicht dazu geeignet, den exegetischen Befund theologisch zu interpretieren. Dies liegt vor allem daran, dass weder Braulik noch Perlitt über eine hermeneutische Funktion ihrer jeweiligen Deutekategorie hinaus, zu irgendeiner Applikation ihrer exegetischen Befunde mit Hilfe der Rede von Gesetz und Evangelium gelangen. Sowohl im Verständnis Luthers (und der lutherischen Bekenntnisse) als auch im Sinne Barths zielt die Rede von Gesetz und Evangelium bzw. Evangelium und Gesetz aber auf die Verkündigung. Eine bloße hermeneutische Funktion, die letztlich nicht auf eine homiletische Funktion zielt, gibt es weder für Luther noch für Barth, auch wenn der Haftpunkt bei dem einen die Rechtfertigung und bei dem anderen die Ethik ist. Mit Braulik und Perlitt ist allerdings festzuhalten, dass das Dtn oder die darin enthaltenen Rechtssätze nicht pauschal mit dem theologischen Urteil „gesetzlich“ belegt werden dürfen. Dem widerspricht eine erkennbare Struktur, nach der die 66 67
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Perlitt, „Evangelium“, 32. M.E. ist sowohl Brauliks als auch Perlitts Verwendung des Begriffs „Evangelium“ problematisch. Eine Reflexion über diesen Begriff deutet sich lediglich in Form der konsequent gesetzten Anführungszeichen an. Für eine hilfreiche Verwendung der Kategorie Gesetz und Evangelium ist aber eine solche Reflexion eigentlich unerläßlich. Für beide Exegeten bedeutet ja „Evangelium“ (in etwa) Jahwes Heilshandeln in Exodus und Landgabe. Damit aber ist der Versuch gemacht, die christlich-theologische Größe Evangelium, die unablösbar mit dem NT und dem darin bezeugten Christusgeschehen verbunden ist, rein inneralttestamentlich anzuwenden. Dies aber geht weder im Sinne des Lutherschen noch des Barthschen Verständnisses von Gesetz und Evangelium bzw. Evangelium und Gesetz. Sowohl für Luther als auch für Barth gilt die hermeneutische Grundentscheidung, dass Christus die Bezugsgröße eines christlichen Verstehens der Schrift überhaupt (also auch des AT) ist. Luther ging es nicht darum, das AT historisch „in sich“ o.ä. zu verstehen (vgl. jetzt nachdrücklich: Kaiser, Theologie 1, 82), und auch für Karl Barth gibt es ein von Christus zu lösendes „Evangelium“ nicht („Von dieser Tatsache, daß Jesus Christus, indem er die ‚erschienene Gnade Gottes‘ [Tit. 2,11] war, zugleich die Gebote des Gesetze gehalten hat, werden wir, wenn es um die Definition des Gesetzes geht, auf keinen Fall abstrahieren dürfen;…“ Barth, Evangelium, 7, vgl. auch Smend, Karl Barth, bes. 226f.). Vgl. Perlitt, „Evangelium“, 38. Vgl. Perlitt, „Evangelium“, 37.
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Schilderung von Jahwes rettendem und segnendem Handeln der Gesetzespromulgation vorausgeht. Theologisch lässt sich dies m.E. mit dem Begriffspaar Zuspruch und Anspruch interpretieren, wenn man dabei davon ausgeht, dass Zuspruch und Anspruch nicht gleichbedeutend ist mit Gesetz und Evangelium. Zuspruch und Anspruch bezeichnen dann den Beziehungsrahmen göttlichen und menschlichen Handelns, nach der Gottes Gnadenhandeln das Handeln der Glaubenden motiviert. Barths Rede von Evangelium und Gesetz sehe ich vor allem in diesem Horizont. Die lutherische Unterscheidung von Gesetz und Evangelium aber ist etwas anderes! In Luthers Hermeneutik ist Gesetz und Evangelium eine heuristische Kategorie, die die ganze Schrift letztlich auf die Verkündigung der Rechtfertigung hin aufschließen soll. Ob nun in der historisch-kritischen Exegese des Dtn „Zuspruch und Anspruch“ oder „Gesetz und Evangelium“ für eine Interpretation in Anschlag gebracht werden soll – in jedem Falle ist dann der Punkt erreicht, an dem die Exegese im Dialog mit anderen Disziplinen christlicher Theologie nach der Applikation und damit nach der gegenwärtigen Geltung ihrer Ergebnisse fragt. Damit ist auch klar, dass es im folgenden nicht darum gehen kann, dem unklaren Gebrauch des Begriffspaares „Gesetz und Evangelium“ durch Braulik und Perlitt einfach einen klareren und damit vielleicht „richtigen“ (etwa im Sinne von Luthers usus elenchticus) Gebrauch entgegenzuhalten. Vielmehr ist jetzt danach zu fragen, ob die Redeweise von „Gesetz und Evangelium“ in der Exegese als Vollzug eines möglichst genauen Verstehens biblischer Texte aus dem Dtn sinnvoll ist, oder ob dieses Begriffspaar nicht viel mehr in den Bereich der theologischen Anwendung und Umsetzung der exegetischen Ergebnisse gehört. Im Rahmen der vorliegenden Untersuchung soll es dazu vorwiegend um die Frage eines exegetisch ermittelbaren Gesetzesverständnisses im 5. Buch Mose gehen.
4. Exegetische Beobachtungen zum Gesetzesverständnis des Deuteronomiums Neben der Frage, ob die ungeklärten systematisch-theologischen Implikationen der Begrifflichkeit „Gesetz als Evangelium“ bzw. „‚Evangelium‘ und Gesetz“ einer theologischen Interpretation des exegetischen Befundes nicht eher hinderlich sind, ergibt sich für Brauliks und Perlitts Konzeption m.E. auch ein exegetisches Problem. Obwohl beide Exegeten ausgewiesener Maßen um die literarische Vielschichtigkeit des Dtn wissen, erweckt die Terminologie zumindest den Eindruck, als ließe sich mit Hilfe der Kategorie „Gesetz und Evangelium“ im großen und ganzen doch ein einheitliches Gesetzesverständnis für das fünfte Buch Mose erheben. Gehen bei einer scheinbar so einheitlichen Interpretation literarkritische und geschichtliche Einsichten in das Wachstum des Dtn nicht wieder verloren? Oder andersherum gefragt: Lassen sich nicht auch die verschiedenen Wachstumsschichten des Dtn, in denen sich evtl. ein je verschiedenes Verständnis des Gesetzes ausspricht, theolo-
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gisch interpretieren, wenn dabei auf eine einheitliche Kategorie verzichtet werden muss? „Am Deuteronomium haben sicher mehrere Generationen gearbeitet. Es ist heute nicht mehr strittig, dass es in deuteronomistischer und das meint hier in später, exilischer Gestalt vorliegt.“70 So formuliert Frank Crüsemann vorsichtig einen Forscherkonsens. Einig ist man sich weiter, dass das Dtn mehrfach dtr überarbeitet wurde; Uneinigkeit besteht dagegen über die genaue Zuordnung einzelner Texte zu bestimmten Überarbeitungsschichten und über den jeweiligen geschichtlichen Hintergrund71 dieser Schichten. Das kann hier im Einzelnen auf sich beruhen. Wichtig ist aber: Nimmt man für das Dtn einen komplexen literarischen Wachstumsprozess vor dem Hintergrund immenser geschichtlicher Veränderungen an, so ist es höchst unwahrscheinlich, dass das Verständnis von der Funktion des Gesetzes im Wesentlichen das Gleiche geblieben sein soll. Es ist doch nur schwer vorstellbar, dass ein Begründungszusammenhang wie „Jahwe hat euch befreit und euch das Land geschenkt, nun haltet seine Gebote aus Dankbarkeit“ unter den Bedingungen relativer staatlicher Souveränität im Kulturland ebenso „funktioniert“ wie im babylonischen Exil. Vielmehr sind doch die verschiedenen Stadien literarischen Wachstums Ausdruck einer theologischen Reflexionsgeschichte72, und in diese theologische Reflexion der Überlieferung Israels unter veränderten geschichtlichen Bedingungen ist auch das Verständnis des Gesetzes als der Willensoffenbarung Jahwes miteinbezogen worden. Um diesen Sachverhalt in seiner Komplexität zu erhellen, kann eine Verbindung von literarkritischen und traditionssowie redaktionsgeschichtlichen Fragestellungen weiterhelfen. Die literarkritisch ermittelten Schichten des Dtn können auf die theologischen Traditionen, die sich in 70 71
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Crüsemann, Tora, 239. Vgl. auch Preuß, Deuteronomium, 26. Insbesondere herrscht hier Uneinigkeit über den jeweiligen Umfang der vorexilischen und exilischen Anteile des Dtn und damit auch über die jeweiligen Verfasserkreise dieser Texte. Man kann sich dies kurz an der Diskussion um die sog. „Ämtergesetzte“ in Dtn 16,18–18,22 verdeutlichen: So datiert z.B. Crüsemann, Tora, 273-291 diesen Textkomplex vor das Exil. Insbesondere in der Depotenzierung des Königs (Dtn 17,14-20) und im Umgang mit den Propheten (Dtn 18,15–22) spiegele sich das Selbstverständnis des עם־הארץ, also der freien judäischen Landbevölkerung, die zu Zeiten des Königs Josija zuächst die Macht in Juda innegehabt habe, da Josija als achtjähriges Kind auf den Thron gekommen war (2Kön 21,24; 22,1). (Ganz ähnlich Albertz, Religionsgeschichte 2, 304–360). Dagegen sieht Norbert Lohfink in den Ämtergesetzen einen exilisch-dtr, gewaltenteiligen Verfassungsentwurf für ein ideales Israel nach dem Exil (vgl. Lohfink, Sicherung, passim). U.a. unter Berufung auf Lohfink hat daher Eckart Otto, ThLZ 118 (1993), 907ff. Crüsemanns Entwurf scharf kritisiert. Otto selbst sieht in den Ämtergesetzen eine vorexilische Gerichtsordnung, die exilisch zu einem Verfassungsentwurf ausgebaut wurde (vgl. Otto, Ethik, 193– 197). Alle Erwägungen haben etwas für sich, müssen aber jeweils, besonders was die historische Situation anlangt, mit Annahmen arbeiten. Was dtn und was dtr ist, ist im Einzelfall also nicht immer leicht zu entscheiden, vgl. o. Anm. 4. Schon von Rad hatte ja erkannt, dass das Dtn als ganzes Ausdruck einer grundlegenden Neuinterpretation des Jahwewillens ist (vgl. Rad, Theologie I, 212). Man beachte nur die in Dtn 12–26 aufgenommenen Traditionen aus dem Bundesbuch und deren Interpretation. Vgl. dazu Rad, ATD 8, 8f. und Preuß, Deuteronomium, 104–106.
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diesen Schichten aussprechen, befragt werden. Im vorliegenden Fall geht es dabei um das jeweilige Gesetzesverständnis der einzelnen Bearbeitungen des Dtn. Matthias Köckert hat einen solchen Versuch vorgelegt, den Wandel des Gesetzesverständnisses innerhalb verschiedener Schichten des Dtn und des DtrG nachzuzeichnen.73 Bei diesem Versuch geht Köckert nicht von einer systematisch-theologischen Kategorie aus, sondern er ermittelt fünf Stufen eines sich wandelnden Gesetzesverständnisses: Das erste, das dtn Gesetzesverständnis74, entspricht ganz dem, was auch Braulik und Perlitt ausgeführt haben: Jahwe gibt sich selbst (Dtn 6,4), die Freiheit von der Knechtschaft, das Land aber auch seine Gebote (6,20–25) Israel als Gabe. Israel realisiert sein Gottesverhältnis im Gebotsgehorsam (vgl. 6,5; 11,1).75 Diese Logik funktioniert nach der Katastrophe des Exils nicht mehr. Auf einer zweiten Stufe des Gesetzesverständnisses historisieren deuteronomistische Theologen jetzt das alte Gesetz als Moserede, die Gesetzesverkündigung vollzieht sich nun – im Ablauf des Dtn – vor der Landnahme. Damit wird aber das Gesetz als Jahwes Willensoffenbarung und Israels Scheitern daran zum Interpretament für die Exilsgeneration. Israel ist an den – eigentlich positiven – Geboten gescheitert. Gleichzeitig wird Israel die Weiterexistenz als Volk ermöglicht, indem seine Identität vom Land gelöst und an die Tora gebunden wird. Zwar liegt auch hier noch kein eigentlich nomistisches Gesetzesverständnis vor (geht es doch eher um reflektierende Verarbeitungen des Geschehenen), aber die Reihenfolge Landgabe (= Evangelium) – Gebotsbeobachtung (= Gesetz) ist doch umgekehrt. Mit der Vorordnung des Gesetzes vor die Landgabe ist der erste Schritt zu einer dritten Form des Gesetztesverständnisses gegeben76, das jetzt konditional lautet: Wenn Israel das ganze Gesetz hält, wird es wieder ins Land gelangen (vgl. Dtn 11,22–2577). Dieses Verständnis zielt nicht mehr auf Vergangenheitsbewältigung, sondern auf Zukunftshoffnung. Jetzt ruht auch Israels Gottesverhältnis auf dem Gesetzesgehorsam.78 „Aus der Tora als Jahwes Willensoffenbarung ist nun endgültig das ‚Buch der Tora‘ geworden, aus dem Gesetz das Gesetzbuch, das nun buchstäblichen Gehorsam fordert.“79 Doch diese Konzeption verliert an Tragfähigkeit und wird auf einer vierten Stufe kritisiert.80 Die Basis dieser Kritik ist allerdings nicht ein neues Gesetzesverständnis, sondern eine pessimistische Anthropologie. „Mag das Gesetz klar und einfach sein, Israel tut es nicht.“81 Der Zusammenfassung der nomistischen Konzep73 74 75 76 77 78 79 80 81
Vgl. Köckert, ThPh 60 (1985), 496–519. Vgl. zum folgenen Köckert, ThPh 60 (1985), 499–504. Vgl. Köckert, ThPh 60 (1985), 502f. Vgl. zum folgenden Köckert, ThPh 60 (1985), 509–512. Vgl. Köckert, ThPh 60 (1985), 509. Vgl Köckert, ThPh 60 (1985), 510. Köckert, ThPh 60 (1985), 511. Hervorhebung so im Original. Vgl. zum folgenden Köckert, ThPh 60 (1985), 512–516. Köckert, ThPh 60 (1985), 515.
Exegetische Beobachtungen zu Dtn 6 und Dtn 30
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tion in Dtn 6,25 (das Halten der Tora ist Israels Gerechtigkeit) wird jetzt ein Text wie Dtn 9,6 (Israel ist halsstarrig und hat keine Gerechtigkeit) entgegengehalten.82 Aber auch hier haben spät-dtr Theologen noch einmal weitergedacht. Wieder geht es weniger um ein neues Gesetzesverständnis als vielmehr um eine Erneuerung des Menschen. In einem fünften und letzten Schritt der Reflexion wird Israel eine Erneuerung durch Jahwe selbst in Aussicht gestellt.83 Dtn 30,1–10 kann hierfür als Mustertext gelten: Jahwes Eingreifen erst ermöglicht das Halten des Gesetzes. Dabei wird auf ältere Konzeptionen zurückgegriffen. Wieder geht Jahwes Handeln (die Herzensbeschneidung) der Gebotserfüllung voraus. Indem Köckert eine solche Vielfalt in Bezug auf das Gesetzesverständnis innerhalb des Dtn herausarbeitet, bestätigt dies zum einen die Einsichen Brauliks und Perlitts zwar: Die Gesetzestexte des Dtn können nicht einheitlich im systematischtheologischen Sinne als „gesetzlich“ interpretiert werden. Die aufweisbare Vielfalt verschiedener Formen des Gesetzesverständnisses84 zeigen, dass sich die Texte selbst nicht so verstanden haben. Aber auch auf die Formel „Gesetz als Evangelium“ bzw. „Evangelium“ und Gesetz lassen sich die Texte nicht so ohne weiteres bringen. Auch dagegen spricht die Vielfalt. Wenn Braulik auf Dtn 6,17–19 eingeht85 und betont, werde dieser Text nomistisch ausgelegt, so handele es sich um ein Mißverständnis86, so scheint sich doch die Einzelexegese dem theologischen Leitgedanken fügen zu müssen. Perlitts unausgeführte Andeutungen zu Dtn 30,11–1487 lassen sich ähnlich verstehen. Und so verdeutlichen Köckerts Ausführungen noch einmal, dass der Gebrauch der Formel „Gesetz und Evangelium“ nicht pauschal geeignet ist, die Gesetze des Dtn darunter zu fassen. Die Gedanken Köckerts sollen nun noch in eigenen exegetischen Beobachtungen weitergeführt werden.
5. Exegetische Beobachtungen zu Dtn 6 und Dtn 30 Für verschiedene literarische Schichten des Dtn ließ sich ein je verschiedenes Gesetzesverständnis erheben. Jetzt soll auch danach gefragt werden, wie diese Verschiedenheit im Endtext verklammert ist. Diese Frage soll beispielhaft an einige Texte des Dtn gestellt werden, und Texte aus dem sog. paränetischen Rahmenkapiteln, in denen sich ja theologische Interpretationen des Gesetzes, der Tora, finden, scheinen mir dafür besonders geeignet. Eine Behandlung der Kapitel Dtn 6 und 30 halte ich für das hier gestellte Problem aus zwei Gründen für sinnvoll: Erstens spie82 83 84
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Vgl. Köckert, ThPh 60 (1985), 514f. Vgl. hierzu Köckert, ThPh 60 (1985), 516–519. Diese Vielfalt ist übrigens auch beobachtbar, wenn man die literarkritischen Entscheidungen im einzelnen nicht teilt. Die Literarkritik (inklusive bestimmter Datierungsvorschläge) hilft m.E. aber, das Beobachtete besser einzuordnen. Vgl. Braulik, Gesetz, 142ff. Vgl. Köckert, ThPh 60 (1985), 144. Vgl. Perlitt, „Evangelium“, 37f.
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„Gesetz und Evangelium“ als Kategorie in der neueren Auslegung des Deuteronomiums
len Texte aus diesen Kapiteln in den bereits genannten Untersuchungen von Braulik, Perlitt und Köckert eine Rolle, und zweitens trifft man gerade hier – wie sich gleich zeigen wird – auf verschiedene Formen des Gesetzesverständnisses auf engem Raum. Ob und inwiefern die Rede von „Gesetz und Evangelium“ für ein Gesamtverständnis dieser Verschiedenheit eine Rolle spielt oder ob dieser Kategorie im Zusammenhang mit der Exegese des Dtn ein anderer Ort zugewiesen werden kann, soll dabei weiter bedacht werden.
5.1 Das Gesetzesverständnis in Dtn 6,4-9.(16)17–19.20–24.25 88 Dtn 6 ist ursprünglich sicher nicht als literarische Einheit verfasst worden.89 Am deutlichsten lässt sich stilistisch und inhaltlich das sog. Schema als eigenständige Einheit in den V. 4–9 abheben. Aber auch der Rest des Kapitels bildet keinen geschlossenen Zusammenhang. V. 1–3 ist noch im Zusammenhang von Kapitel 5 zu verstehen.90 V. 10–14 behandelt die Gefahr der Fremdgötterverehrung im „satten“ Kulturland. Die Abschnitte V. (16)17–19 und V. 20–24 lassen sich deutlich voneinander abheben, da mit dem =( כיwenn) in V. 20 mit einer Art „Familienkatechese“ ein neuer Zusammenhang einsetzt.91 Schließlich wird in V. 25 das Gesetzesverständnis dieser Katechese noch einmal durch Einführung des Begriffs צדֹקהweitergedacht. Für die Frage des Gesetzesverständnisses interessiert im vorliegenden Zusammenhang folgender Bestand von Dtn 6: 4–9.(16)17–19.20– 24.25. Auffallend ist dabei zunächst, dass das Schema in V. 4 mit einer Aussage über Gott anhebt, statt sofort das Gesetz zu thematisieren. Auf den imperativischen Ruf zum Hören92 folgt der Indikativ: Jahwe ist einzig, nur er erweist sich als unser Gott.93 Dabei sticht die Formulierung unser Gott ( )אלהינוgegenüber der im Dtn sonst
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Die Abgrenzung dieses Textbestandes wird gleich begründet. Im Rahmen dieser Arbeit muß die Exegese notgedrungen skizzenhaft bleiben. Rad, ATD 8, 45 spricht von „einer größeren Zahl kunstlos aneinandergereihter Einzelpredigten“. Dtn 6,1ff. noch mit dem vorhergehenden Text zu verbinden, hatte schon Bertholet, KHC V, 20f. erwogen, aber wieder verworfen. Heute ist man allgemein der Meinung, dass Dtn 6,1-3 noch zum vorherigen Text gehört. Ob man diese Verse aber „einfach als Fortsetzung von 5,33 zu verstehen“ (Rad, ATD 8, 44) hat, ob sie Teil eines mehrschichtigen Rahmenwerkes (in 5,22–6,3 vgl. dazu Preuß, Deuteronomium) sind oder ob mit Braulik, NEB.AT 15, 54 für 5,32–6,3 gilt: „Diese paränetische Passage leitet von der vergangenen Gesetzgebung Gottes am Horeb über zur gegenwärtigen Gesetzesbelehrung durch Mose“, muss hier unerörtert bleiben. Zu Dtn 6,20–24(25) vgl. Perlitt, Deueronomium 6,20–25, 144–156. Dieses „Höre Israel!“ ist als weisheitliche „Lehreröffnungsformel“ (vgl. McBride, TRE 8, 533) zu verstehen. Diese Formel, die auch 5,1 und 9,1 begegnet, ist wohl als Gliederungsmerkmal zu verstehen und spricht erneut für einen Einschnitt vor 6,4 (vgl. ebd.). Zum weisheitlichen Hintergrund von Dtn 6,4 vgl. auch Mayes, NCeB, 176. Ob sich hierin eine monotheistische oder eine monojahwistische Theologie ausspricht, braucht im vorliegenden Zusammenhang nicht geklärt zu werden. Zu den verschiedenen Übersetzungsmöglichkeiten vgl. z.B. Rad, ATD 8, 45 und neuerdings Veijola, VT 42 (1992), 529f.
Exegetische Beobachtungen zu Dtn 6 und Dtn 30
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häufigeren Anrede in der 2. Pers. Sg. oder Pl. heraus.94 Formal folgen dann eine Reihe von waw-Perfekta, die wohl nicht anders als jussivisch zu verstehen sind. V. 5 thematisiert zusammenfassend die erwartete Reaktion auf die Einzigkeit Jahwes95: Umfassend und ungeteilt sollen die Israeliten Jahwe lieben, mit dem Zentrum ihrer Person ()בכל־לבבך, ihrer Lebenskraft ( )ובכל־נפשׁךund aller Stärke ()ובכל־מאדך. Jahwes Einzigkeit entspricht die ungeteilte Liebe seines Volkes. Das ist das „Hauptgebot“ über dem ganzen Dtn. Was das heißt, wird in den Versen 6–9 entfaltet. Auffällig ist, dass dabei noch gar nicht vom Tun ( )עשׂהoder Beachten ( )שׁמרeinzelner Gebote die Rede ist. Eingeschärft wird hier der Umgang mit Jahwes Gesetz als Wort (!)דברים96 V. 7ab bringt es auf den Punkt: Mit den Worten des Gesetzes soll 'redend umgegangen' werden, um sie zu kennen und vor Augen zu haben.97 Liebe zu Jahwe (V. 5) drückt sich also zuerst im Umgang mit seinen דבריםaus. So ist das Schema wohl einmal als Überschrift über alle Gesetze des Dtn verstanden worden98: Der Umgang mit dem Gesetz ist abhängig von Jahwes einzigartigem Wesen. Die Erwähnung der „Tore“ zum Abschluss mag darauf hindeuten, dass der Text unter den Bedingungen des Kulturlandes entstanden ist, wo ja die Tore in den einzelnen Ortschaften der Ort der Gerichtsbarkeit waren (vgl. Dtn 16,18 u.ö.). Worin sich das Wesen Jahwes für Israel erwiesen hat – das wird noch einmal in dem katechetischen Stück V. 20–24 aufgenommen und entfaltet. Auf die Sohnesfrage nach dem Gesetz (V. 20) wird zunächst mit Geschichtsrekapitulation geantwortet: Jahwe ist deshalb einzig, weil er Israel aus Ägypten geführt und ihm das Land gegeben hat (V. 21–23). Dann erst (V. 24) werden auch die Gebote erwähnt. Hier kann an das von Braulik und Perlitt erarbeitete Verständnis angeknüpft werden. Israel im Kulturland hält die Gebote, weil es die Gebote seines einzigartigen Gottes Jahwes (V. 4) sind, dessen Einzigartigkeit sich gerade darin erwies, dass er das Volk aus der Knechtschaft erlöst hatte. Der Zuspruch geht dem Anspruch voraus.99 Jetzt ist allerdings deutlich auch vom Tun ( עשׂהV. 24) die Rede. So stellen die
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Zu der Unterscheidung von Du- und Ihr-Stücken im Dtn, die auf G. Minette de Tilesse zurückgeht, vgl. schon Rad, ATD 8, 7 Anm. 1. Zu den Implikationen des אלהינוvgl. Perlitt, Deueronomium 6,20–25, 149f. Auf den engen sachlichen Zusammenhang zwischen Dtn 6,4 und 5 hat hingewiesen: Nielsen, Jahwe unser Gott, 288–301. Mit Braulik, NEB.AT 15, 56 bin ich der Meinung: „Im vorliegenden Buch ist damit nicht nur der Dekalog, sondern zumindest das ganze dtn Gesetz, also 5–26 gemeint.“ Braulik schlägt hier vor: „du sollst sie [die Worte] aufsagen“ (Braulik, NEB.AT 15, 56). Das Motiv erinnert an den Umgang mit der Tora, wie er in Ps 1,2 gerühmt wird, vgl. dazu schon Martin Luther, Deuteronomion Mosi cum annotationibus 1525, WA 14, 478-744, 610,34f. Zu den Tefillin und Mesusot vgl. Braulik, NEB.AT 15, 57 und Veijola, VT 42 (1992), 536ff. Vgl. Preuß, Deuteronomium, 100f. Ganz ähnlich schon Steuernagel, HK I.3,1, 77: „Die Antwort des Vaters belehrt somit über die Motive, die zur Befolgung des Gesetzes antreiben: die Dankbarkeit für Jahwes Heilstaten und die Rücksicht auf das Heil, mit dem ihre Befolgung belohnt wird.“
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Abschnitte 4–9 und 20–24 zwei Seiten derselben Medaille dar.100 Jahwe hat sich als einzig erwiesen. Darum sollen seine דבריםgelernt und seine Gebote getan werden. In diesen relativ konsistenten Gedankengang sind (vermutlich von mehreren Händen101) die Abschnitte 10–15102 und (16)103 17–19 eingeschaltet worden. Insbesondere die V. 17–19 sind für die Frage nach dem Gesetzesverständnis interessant; denn hier wird die Logik und die Reihenfolge Zuspruch-Anspruch genau umgekehrt. Betont steht die Beachtung (שׁמור תשׁמרון: Inf. + Jussiv + Nun energicum!) der Gebote Jahwes am Anfang (V. 17). Ja, das Tun ( עשׂהV. 18) dessen, was in Jahwes Augen gut ist, wird geradezu zur Bedingung ( למעןV. 18b = damit)104 der Inbesitznahme ( )ירשׁdes Landes.105 Braulik möchte auch diesen Text nicht „nomistisch“ oder „gesetzlich“ verstanden wissen.106 Weil die Landnahme ja „Erfüllung einer viel älteren und gänzlich unverdienten Verheißung“107 (V. 18) ist, spreche sich auch hierin das „Evangelium“108 aus. Außerdem weist Braulik darauf hin, dass es sich bei Dtn 6,17–19 um eine Paränese und nicht um Gebote im eigentlichen Sinne handele. Aber angemahnt wird eben doch das Halten der Gebote (V. 17.18)! Die Paränese selbst bietet zwar den Inhalt der Gebote nicht, aber sie steht doch in deutlicher Beziehung zu den eigentlichen Gesetzestexten in Dtn 12–26 – schon durch ihre Stellung im Rahmen dieses Korpus'. Und dies hat Braulik eigentlich wohl auch erkannt, wenn er darauf hinweist, in dem Text werde „schließlich nicht äußerliche Gebotsbeobachtung als solche abgesegnet, sondern ein Gehorsam gegenüber Gesetzen belohnt, die Jahwe, Israels Gott, diesem selbst geboten hat (V. 17).“109 Um „Gebotsbeobachtung als solche“ geht es aber nie im AT; immer ist es doch Jahwes Gebot, das gehalten werden soll. Hier wird ausdrücklich darauf verwiesen, dass es gehalten werden muss, wenn Israel (wieder) ins Land einziehen will. Dtn 6,17–19 bietet nicht nur Anlaß, aufgrund eines Mißverständnisses „‚nomistisch‘ umgedeutet“110 zu werden, sondern ist „gesetzlich“ gemeint.111 Dies erklärt sich auch ganz 100 Beide Texte gehören vermutlich zur selben literarischen Schicht, vgl. Preuß, Deuteronomium, 49. Anders Perlitt, „Evangelium“, 33, der Dtn 6,20–24 für dtr hält. 101 Vgl. Preuß, Deuteronomium, 49. 102 Die V. 10–15 bleiben im vorliegenden Zusammenhang außer Acht. Mit diesem Text wird der Liebe zu Jahwe (V. 5) das Vergessen (V. 12) gegenübergestellt. Vgl. Nielsen, HAT I/6, 89. 103 Die Zuordnung von V. 16 ist unklar, vgl. Preuß, Deuteronomium, 49. Vermutlich wird hier auf das Murren des Volkes bei der Wüstenwanderung in Massa angespielt (Ex 17,1–17). Gehört der Vers in die Endredaktion des Pentateuch? (Vgl. Nielsen, HAT I/6, 89). 104 Vgl. auch die Übersetzung Rads, ATD 8, 45, sowie Braulik, Gesetz, 142 und Anm. 58. 105 Vgl. Lohfink, ThWAT III, 953–985, Lohfink findet in Dtn 6,17–19 eine Aussagestruktur, nach der die Inbesitznahme des Landes vom vorausgehenden Gesetzesgehorsam abhängt. Gerade die Verwendungsweise von ירשׁist für diese Aussagestruktur wichtig und führt dazu, dass Lofink diesen Text der nomistischen Schicht DtrN zuweist (vgl. a.a.O, 976). Zur Eigenart von DtrN vgl. Smend, Entstehung, 115ff. 106 Zu Brauliks Interpretation vgl. Braulik, Gesetz, 142–144. 107 Braulik, Gesetz, 143. 108 Vgl. Braulik, Gesetz, 144. 109 Braulik, Gesetz, 143f. 110 Braulik, Gesetz, 144.
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organisch aus der Theologie der Exilszeit, wie sie Köckert an anderen Texten verdeutlicht hat. Dtn 6,17–19 ist ein dtr-exilischer Text112, der dem Volk in der Verbannung mit der Gesetzeserfüllung neue Hoffnung eröffnet. Das Motiv der Väterverheißung (V. 18) bindet das Gesetz, seine Einhaltung und die Verheißung der Rettung zurück an den Gott, der dieses Gesetz vor dem Exil erlassen hat. Im Begriff der Väter verschmelzen dann die Erzväter mit dem vorexilischen Israel. Das Gesetz aber ist jetzt eindeutig konditional und damit „nomistisch“ verstanden. In Dtn 6,25, einer theologischen Reflexion, die das Kapitel abschließt, werden spätdtr113 beide Konzeptionen miteinander verbunden. Mit יהוה אלהינוknüpft der Vers terminologisch an V. 4 und V. 20, also die dtn Schicht an. Andererseits wird aber das „nomistische“ Gesetzesverständnis von Dtn 6,17–19 aufgenommen und weitergedacht. Dafür ist zu beachten, dass die Wurzel צדֹקgrundsätzlich ein Gemeinschaftsverhältnis ausdrückt.114 Das Wort צדֹקהist als nomen unitatis zum nomen collectivum צדֹק115 zu verstehen und drückt den einzelnen Erweis des rechten Gottesverhältnisses im Handeln116 aus. Dadurch dass die Gebotserfüllung jetzt als ein „Gerechtigkeitserweis“ bezeichnet wird, werden das Halten der Gebote und das Gottesverhältnis aneinander gebunden. Das Beachten ( )שׁמרund Tun ()עשׂה „vor Jahwe unserem Gott“ weist auf ein „nomistisches“ Verständnis. Das Halten der Gebote wird der Exilsgeneration nicht mehr nur unter dem Vorzeichen des gnädigen Handelns Jahwes verkündigt, sondern jetzt wird betont, dass Israels Gottesverhältnis grundsätzlich mit dem Gesetzesgehorsam verschränkt ist. Dennoch ist es derselbe Gott, auf den Israel auch im Exil hofft. Und genau hier liegt auch der Schlüssel zur Einheit der verschiedenen Formen des Gesetzesverständnisses in Dtn 6. Gottes gnädiges Handeln in Exodus und Landgabe geht der Gebotsbeobachtung voraus. So lehrten es die dtn Theologen ihre Kinder (V. 20–24). Aber unmittelbar daneben steht ein Verständnis, dass die Gebotsbefolgung zur Bedingung für die Heimkehr aus dem Exil macht (V. 17–19). Beides wird zusammengehalten von
111 Die Schicht DtrN „ist im streng paulinischen Sinn ‚nomistisch‘, da JHWHs eigentliche Heilsgabe von vorangehender Gesetzestreue abhängig gemacht wird“ (Lohfink, ThWAT III, 976). 112 Vgl. Preuß, Deuteronomium, 49; aber auch Braulik, Gesetz, 142 Anm. 56 und 57. 113 Zur literarischen Einordnung von Dtn 6,25 vgl. Preuß, Deuteronomium, 49, Köckert, ThP 60 (1985), 513 Anm. 61 (mit Kritik an Brauliks Auslegung von Dtn 6,20-25), sowie Perlitt, Deuteronomium 6,20–25, 153f., der konstatiert: „Dtn. 6,25 hat also ein theologisches Eigenleben gegenüber 6,20–24 …“ (a.a.O., 154). 114 Vgl. Koch, THAT II, 507–530. 115 Vgl. dazu Michel, Grundlegung 1, 64–68. Gegen Koch, THAT II, 508, ist also in der Bedeutung zwischen צדֹקהund צדֹקzu unterscheiden. 116 Michel, Begriffsuntersuchung bemerkt dazu aufgrund von Untersuchungen zur Wortbildungslehre: „ צדֹקהheißt also ursprünglich ‚der Akt des Sich-als-gerecht-erweisen‘, die ‚Gerechtigkeitstat‘ oder ‚das Gerechtigkeittun‘.“ (a.a.O. 19; auf den Handlungsaspekt von צדֹקהgegenüber צדֹקweist auch Johnson, ThWAT VI, 915f. hin). Eine solche „Gerechtigkeitstat“ findet sich exemplarisch in Dtn 24,10–13: Verzichtet man, um soziale Härten zu vermeiden, auf das Einbehalten eines Pfandes (des „letzten Hemds“), so ist dies eine צדֹקהvor Jahwe (V. 13). Dieses Verständnis wird in Dtn 6,25 generalisiert.
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der Gewissheit, dass immer der eine Jahwe „unser Gott“ ist. Das יהוה אלהינוwird zu Beginn über die hier behandelten Texte als dtn Bekenntnis ausgerufen (V. 4) und gilt spätdtr, als Bündelung (V. 25), immer noch. Auch die Verfasser von Dtn 6,17– 19 nehmen deutlich darauf Bezug, in der Verwendung des Jahwenamens und durch die Erwähnung der „Väter“ (V. 18). Die Lebensverhältnisse Israels ändern sich mit dem Landverlust. Unter den anderen Umständen wird das Gesetz dann unter einem anderen Vorzeichen verkündigt. Die Flexibilität aber, das gleiche Gesetz (im wesentlichen Dtn 12–26) unter veränderten Umständen anders zu verstehen, liegt eben im Glauben an die Einheit Jahwes begründet, des Gottes, der diese Gesetze gab. Auch diese exegetischen Beobachtungen zu Dtn 6 bestätigen noch einmal, dass eine Subsumierung des Gesetzesverständnisses unter Evangelium und Gesetz wohl zu kurz greift. Die aufweisbaren Strukturen theologischer Reflexion in Dtn 6 weisen den Leser jedoch ein, in ein Weiterdenken und Anwenden des Gotteswortes auf die eigene Situation jenseits von Kulturland oder Exil. Nach der Kanonisierung der Texte kann dies nicht mehr auf dem Wege einer kreativen Fortschreibung der Bibel selbst geschehen, sondern gehört in den Bereich der Applikation. Für die christliche Theologie können dann Texte aus Dtn 6 Anlaß geben, von Zuspruch und Anspruch zu reden, oder auch von Gesetz und Evangelium im Sinne Luthers. Wo Evangelium zur Sprache kommen soll, ist grundsätzlich dann auch das NT gefragt117. So sprengt m.E. die Frage nach „Gesetz und Evangelium“ in Dtn 6 den Rahmen der Exegese und drängt über das historische Verstehen hinaus in die Applikation des Verstandenen. Aber die Exegese wird von den Strukturen der theologischen Reflexion in Dtn 6 selbst zu einer solchen Grenzüberschreitung genötigt.
5.2 Das Gesetzesverständnis in Dtn 30,1–10.11–14 Auch mit Dtn 6,25 ist das „letzte Wort“ zum Verständnis des Gesetzes innerhalb des fünften Buches Mose noch nicht gesprochen. So wird Dtn 6,25 (Israels Gerechtigkeit erweist sich im Halten der Gebote) von Dtn 9,4-6 unter dreimaliger Aufnahme des Nomens צדֹקהfolgendes entgegengehalten118: „Denn du kommst nicht herein, ihr Land einzunehmen, um deiner Gerechtigkeit und deines aufrechten 117 Beispielhaft kann hier (trotz des zeitlichen Abstands) auf Martin Luthers zusammenfassende Auslegung von Dtn 6,25 hingewiesen werden. Sie findet sich in: Auslegung uber etliche Capitel des funfften Buchs Mosi, Gepredigt zu Wittenberg 1529, WA 28, 509–763, 664,24-–5: „Also ist der nu gerecht, wenn er das helt und thut, das ist gleubt und beweist den Glauben mit den Wercken. Mose zeiget nur an, wie man leben und die Gebot halten soll, aber es gehöret ein ander Man dazu, das wir sie halten und im unglück trawen können. […] So sage ich nu, Moses lere wol und heisse, was man thun und halten solle, aber wo mans holen und nemen sol, leret allein das Euangelium, Nemlich, das man an Christus gleube, so wird Gott gnade geben, das man könne den mut dempffen, wenns uns wolgehet und Gott gleuben möge im Creutze und in der Anfechtunge.“ 118 Die Versuche Brauliks (vgl. ders., Gesetz, 145-150) und Perlitts (vgl. ders., „Evangelium“, 36), – Dtn 6,25 und 9,4–6 auszugleichen, können m.E. nicht überzeugen.
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Herzens willen,…“ (V. 5a). Israel hat also gar keine eigene Gerechtigkeit. Und auch in Dtn 30,1-10.11-14 wird die Frage nach dem Gesetzesverständnis und dem Gottesverhältnis Israels noch einmal von einer ganz anderen Seite als in Dtn 6 beleuchtet. Ich gehe im folgenden davon aus, dass Dtn 30,1–10.11–14 exilisch-dtr Bearbeitung entstammen119, wobei in Dtn 30,1-14 wohl literarkritisch zwischen zwei Perikopen zu unterscheiden ist.120 Die V. 1–10 bilden eine Einheit, die durch den Gebrauch des Stammes שׁובkunstvoll gestaltet wurde. Darüber hinaus liegt den V. 11– 14 ein Verständnis des Gesetzes zugrunde, das sich ursprünglich von dem in V. 1– 10 unterscheidet und erst durch die Komposition des Endtextes als ein ganzes verstehen lässt. Zunächst zu den V. 11–14.121 In allen Schichten von Dtn 6 war trotz der Verschiedenheit des Gesetzesverständnisses doch vorausgesetzt, dass das Tun des Gesetzes grundsätzlich möglich ist. Dies aber ist jetzt (zumindest implizit) zum Problem geworden. Hierfür können einige andeutende Bemerkungen Lothar Perlitts weitergeführt werden; er findet in Dtn 30,11–14 „Spuren des Leidens unter der Forderung Gottes.“122 Die beiden parallel gestalteten Verse 12 und 13 nehmen zitatartig ( )לאמרEinwände gegen das Gesetz auf: Es ist „zu hoch“ und „zu schwer zu vollbringen“.123 Diese Einwände werden gleich zu Beginn der Perikope abgewehrt (V. 11b: )לא … ולאund abschließend wird ihnen der V. 14 entgegengehalten124: Das Wort ( )הדברist nahe, man kann es aussprechen ()בפיך, hat es im Herzen ()בלבבך und so tut man es auch ()לעשׂתו. Abschließende theologische Reflexion schlägt sich nieder in der Verkündigung der Nähe des Wortes!125 Dahinter steht aber ein Verständnis des Gesetzes, das das Gesetz selbst als Problem, als „zu hoch“ empfindet. Erst im Zusammenhang mit der im Endtext voranstehenden Perikope, wird die Lösung der V. 11–14 voll verständlich. 119 Vgl. Preuß, Deuteronomium, 60. 120 Vgl. Preuß, Deuteronomium, 60. 121 Evtl. stellt diese Perikope gegenüber den V. 1–10 das ältere Stück dar. Dazu Braulik, NEB.AT 28, 219: „Einiges spricht allerdings dafür, daß 11–14 schon ein älterer Text war, der den dargelegten Sinn erst durch die Vorschaltung von 1–10 erhielt.“ Beide Perikopen sind dann über Stichwortbezüge (Jahwename und „Herz ) miteinander verbunden worden, vgl. a.a.O, 217f. 122 Perlitt, „Evangelium“, 37. 123 Zur Bedeutung von נפלאתund רחֹקהvgl. Köckert, ThP 60 (1985), 500. „Das Gesetz erfordert also keine die Grenzen des Menschseins übersteigenden Anstrengungen […] – weder intelektuell noch praktisch“. 124 Strukturell verfährt auch Paulus in Röm 10,6-8 ganz ähnlich, wenn er die Einwände aus Dtn 30,12f. zitiert, nun allerdings nicht mehr als Einwände gegen das Gesetz, sondern gegen Christus. Dazu muss er in Röm 10,6.7 die Zitate sozusagen glossieren. Bei der Aufnahme von Dtn 30,14 lässt er schließlich das „Tun“ weg und legt das Gewicht auf Herz und Mund (fortgeführt in Röm 10.9f.). So schafft sich Paulus selbst durch die Art seiner Zitation einen eigenen Referenztext, in dem das Gewicht nicht auf Werkgerechtigkeit, sondern auf dem Glauben liegt. Bedenkt man das, was im folgenden zu Dtn 30,1–10 zu sagen ist, als Hintergrund für 11–14 mit, ist Paulus vielleicht näher am Textsinn als es auf den ersten Blick scheint. Vgl. dazu auch Luther, WA 14, 730,12– 731,3. 125 Vgl. Köckert, ThP 60 (1985), 500.
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Wie kaum ein anderer Text im Dtn spiegelt 30,1-10 die Situation des Exils (V. 1.3.4.5).126 Aber es geht nicht mehr darum, das Exil als Folge von Israels Scheitern am Gesetz zu erklären oder die Gesetzesbefolgung zur Bedingung der Heimkehr einzuschärfen (vgl. Dtn 6,17–19), sondern jetzt wird Israel Heim-kehr angesagt, wenn es aufgrund von Jahwes Zu-wendung zu ihm und seinem Gesetz um-kehrt. Dies alles, Heimkehr, Zuwendung und Umkehr, kann im Hebräischen durch Bedeutungsnuancen des Stammes שׁובausgedrückt werden127, mit dessen reichlichem Gebrauch128 in den Vv. 1–3 und 8–10 die Perikope gerahmt und somit kunstvoll als eine Einheit gestaltet wurde. Diese Rahmung129 verzahnt mit Hilfe des Begriffes שׁוב Jahwes Zuwendung mit Israels Umkehr zu seinem Gott und dessen Gesetz. Der Akzent liegt jetzt nicht mehr auf Israels Gebotsbeobachtung, sondern ganz auf Jahwes Handeln. Dies wird auch syntaktisch zum Ausdruck gebracht. Zwar beginnt der Text in V. 1f mit zwei Vordersätzen eines Bedingungssatzgefüges, und Israel wird scheinbar noch einmal die Gebotsbeobachtung auf dem Hintergrund der Segensund Fluchworte aus Dtn 27f. eingeschärft, aber Subjekt des Hauptsatzes in V. 3 und (fast) aller folgender Hauptsätze ist Jahwe. Er allein und nicht Israels Gebotsgehorsam wenden das Exil (in V. 4 wird dies geradezu universell gesteigert). Ja, erst Jahwes Handeln an Israel selbst, in der Herzensbeschneidung (V. 6), ermöglicht es, Jahwe mit ganzem Herzen und mit ganzer „Seele“ zu lieben; hierin liegt eine deutliche Nähe zu Dtn 6,5. Und die Herzensbeschneidung ermöglicht denen die Gebotsbeobachtung, denen das Gesetz jetzt noch „zu hoch“ (vgl. noch einmal V. 11–13) ist.130 Die Folge von Jahwes Handeln wird anschaulich in V. 8 ausgedrückt: Zwar ist nun Israel Subjekt, und es geht wieder um seine Hinwendung zum Gebot, nun aber nicht mehr als Bedingung, sondern als Folge von Jahwes Handeln! „Du wirst umkehren“, heißt es dort mit Gewissheit.131 Noch einmal bringt V. 10 den Vordersatz eines Bedingungssatzgefüges, ohne dass nun allerdings ein
126 „Daß dieser Abschnitt 30,1-10 (oft -14) (spät-)exilisch anzusetzen ist, ist faßt Gemeingut älterer wie neuerer Forschung“ fasst Preuß, Deuteronomium, 161 zusammen. 127 Vgl. Graupner, ThWAT VII, 1118-1176. 128 Außer in Dtn 30,1–10 kommt die Vokabel שׁובim Sinne von „Umkehr zu Gott“ nur noch 4,29–31 im Dtn vor. Beide Texte lassen sich als spätdtr Zusätze (vgl. Graupner, ThWAT VII, 1153.1155f.) charakterisieren. 129 Zu der Rahmung/Struktur des Abschnittes vgl. auch Braulik, NEB.AT 28, 219 sowie ausführlich zu der Perikope: ders., Gesetz, 154–159. 130 Vgl. hiermit Dtn 10,16, wo Israel aufgefordert wird, selbst die Vorhaut seines Herzens zu beschneiden. Dagegen hat Dtn 30,6 eine gewisse Nähe zur Verheißung des „neuen Bundes“ Jer 31 und anderen prophetischen Texten, vgl. Graupner, ThWAT VII, 1156 und Braulik, NEB.AT 28, 218. 131 „So ist das, was zunächst als Bedingung für die Exilswende (30,3) erscheint, das ‚Sich-zu-Herzennehmen‘ (hešib 'ael/`al-leb) des Gerichts (V. 1), die Umkehr zu (`ad) JHWH und der Gehorsam gegen seine Gebote ‚mit ganzem Herzen und mit ganzer Seele‘ (V. 2) selbst schon Werk Gottes und kann darum am Ende als Zukunftsgewißheit ausgesprochen werden: ‚Du wirst umkehren und auf die Stimme JHWHs hören und alle seine Gebote erfüllen, die ich dir heute geboten habe‘ (V. 8)“ (Graupner, ThWAT VII, 1156).
Exegetische Beobachtungen zu Dtn 6 und Dtn 30
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Nachsatz folgt.132 So wird noch einmal das Ziel des Textes betont ausgedrückt: Es geht schon darum, dass Israel sich Jahwe und seinem Gebot mit ganzem Herzen und mit aller Lebenskraft (vgl. Dtn 6,5) zuwendet, aber nach dem Gesagten ist deutlich, dass Jahwe selbst Israel durch seine Herzensbeschneidung (30,6) dazu in die Lage versetzen wird. Israel hat das Gesetz jetzt in Form eines Buches (V. 10), schon deshalb ist es ihm „nahe“. Und doch geht es jetzt um viel mehr als das Beachten des Geschriebenen. Am Ende eines Weges, auf dem im Dtn über das Gesetz nachgedacht wurde, ist es jetzt wieder Jahwes Handeln, das dem Gebotsgehorsam des Volkes vorausgeht. Nun aber nicht mehr einfach in Exodus und Landgabe (wie in Dtn 6,20–24), sondern in (wenn man so will) „sakramentalem“133 Handeln an den Israeliten selbst (Herzensbeschneidung). Erst von daher kann jeder Einwand gegen das Gesetz (Dtn 30,11–13) abgewehrt werden. Gleichzeitig ist aber hier ein Punkt erreicht, an dem Jahwes Heilshandeln die bisherigen Heilsgüter Israel (Souveränität im Land) übersteigt, auch wenn doch ein neuerliches Inbesitznehmen (V. 5 )ירשׁangekündigt wird.134 Israel wird ein Handeln Jahwes angesagt, dass sich der einfachen Meßbarkeit entzieht, aber in einem neuen Verhältnis zu Gott und seinem Gesetz seinen Ausdruck findet. Damit zielt Dtn 30,1–10 auf Glauben ab und drückt dies schon formal als Verheißung aus.135 Dieser Glaube wird dann zum Grund der Umkehr und des Gesetzesgehorsams. Damit aber gelangt das Dtn zu einem Punkt, an dem sich das Verhältnis der Gottesbeziehung des Menschen zu seinem Handeln sehrwohl mit einer Kategorie Martin Luther interpretieren lässt, allerdings nicht mit „Gesetz und Evangelium“. Das Dtn gelangt in Kapitel 30 dahin, dass Gebotserfüllung (gute Werke) als Frucht des Handelns Gottes, das auf Glauben zielt, verstanden wird. Das Dtn redet hier von „Glaube und Liebe“, wie sich Luthers Konzeption paränetischer Predigt auf den Punkt bringen lässt. „Aber diese verklerung im fünfften Buch, helt eigentlich nichts anders innen, denn den glauben zu Gott, und die liebe zum Nehes-
132 V. 10 mit den meisten Übersetzungen als konditionale Fortsetzung von V. 9 zu verstehen, wäre für die hebräische Syntax zumindest ungewöhnlich. Vielmehr scheint hier ein Nachsatz (der inhaltlich etwa V. 3 wieder aufnehmen müsste) weggelassen zu sein, vgl. dazu Gesenius/Kautzsch, Hebräische Grammatik, §159 dd. Braulik, NEB.AT, 216 konstatiert zu V. 10: „Die Wenn-Formulierungen […] können nicht eindeutig auf konditionalen oder temporalen Sinn festgelegt werden […]. Die sprachliche Schwebelage scheint beabsichtigt zu sein.“ 133 Vgl. Braulik, Gesetz, 157. 133 „Wie in der ursprünglichen dtr Konzeption ist also die Besitzergreifung des Landes die Voraussetzung der Gesetzesbeobachtung, nicht umgekehrt. Jedoch genügt sie nicht mehr als Definition von JHWHs Heilshandeln. Zu ihr muß die allein von JHWH gewirkte Verwandlung der Herzen treten“ (Lohfink, ThWAT III, 978). 135 „Unser Text ist ja nicht mehr als Paränese zu bezeichnen. Er enthält keine Mahnungen, sondern in bezug auf die Zukunft Israels einfache Aussagesätze, d.h. er geht ganz in der Stilform einer prophetischen Weissagung einher“ (Rad, ATD 8, 131); „V. 1-10 ist eine prophetische Verheißung,…“ (Nielsen, HAT I/6, 270). Zum Verheißungscharakter von Dtn 30 (1–10) vgl. schon Luther, WA 14, 728,25–35.
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„Gesetz und Evangelium“ als Kategorie in der neueren Auslegung des Deuteronomiums
ten, Denn da hin langen alle gesetze Gottes.“136 Aber auch, wenn statt von Gesetz und Evangelium von Glaube und Liebe die Rede sein soll, drängt das letztlich über das bloße Verstehen hinaus zu eine Applikation exegtischer Ergebnisse.
6. „Die Predigt des Deuteronomiums und unsere Predigt“ Zusammenfassend sei noch einmal festgehalten: Die Verwendung der Kategorie „Gesetz und Evangelium“ durch Braulik und Perlitt bei einem Bemühen, die Exegese des Dtn theologisch zu systematisieren, birgt mehrere Schwierigkeiten in sich. 1. Schon systematisch-theologisch ist die Kategorie nicht eindeutig gefüllt. Es ist zumindest zwischen der Position Luthers mit einer Verortung von „Gesetz und Evangelium“ innerhalb der Rechtfertigungslehre und der Position Barths, bei der „Evangelium und Gesetz“ der Begründung einer theologischen Ethik dient, zu unterscheiden. Braulik und Perlitt reflektieren dies nicht.137 2. Sowohl in der Konzeption Luthers als auch bei Karl Barth zielt die Kategorie Gesetz und Evangelium über das reine Verstehen der Bibel hinaus auf eine Applikation des Verstandenen in Verkündigung oder Unterricht. Eine Beschränkung auf die Bündellung exegetischer Ergebnisse ist nicht vorgesehen. 3. Auch die exegetisch erhebbare Vielfalt des Gesetzesverständisses im Dtn lässt eine einheitliche Subsumierung unter der Überschrift „Gesetz als Evangelium“ oder „‚Evangelium‘ und Gesetz“ als wenig hilfreich erscheinen. Exegetisch gewonnene Klarheit droht auf diesem Wege wieder verlorenzugehen. Trotz dieser Kritikpunkte bleibt es das Verdienst Brauliks und Perlitts, einer einheitlichen Qualifikation des alttestamentlichen Gesetzes als „nomistisch“, „gesetzlich“ oder dergl. mit Gründen entgegengetreten zu sein. Wenn auch dieses Ergebnis im Verein mit den anderen Disziplinen der Theologie jetzt weitergedacht werden muss. Es lässt sich noch einmal deutlich festhalten: Gesetz und Evangelium ist keine eigentlich exegetische Kategorie, sondern drängt den Exegeten hin auf die Anwendung seiner Ergebnisse in Zusammenarbeit mit den anderen theologischen Disziplinen. Dann ergibt sich die Frage, ob und inwiefern Texte des Dtn für die heutige christliche Theologie, die das Heil ja in Christus sieht und nicht mehr im Leben im „guten Land“, Grundlage der Verkündigung sein können. Gerhard von Rad hat in einem Aufsatz über „Die Predigt des Deuteronomiums und unsere Predigt“138 gefragt, ob ein „in das Licht Christi gerücktes Deuteronomium zu uns noch redet, d.h.
136 Martin Luther, Vorrede auf das Alte Testament 1523/45, WA DB 8,10–33, 15,32–35. 137 Wobei sich bei Braulik, wie schon gesagt, zusätzlich die Schwierigkeit ergibt, dass einerseit ausdrücklich die Rechtfertigung den Bezugsrahmen für das Verständis abgeben soll, während andererseits die Gleichsetzung Gesetz als Evangelium eher auf Barth verweist. 138 Vgl. Rad, Predigt, 154–164.
„Die Predigt des Deuteronomiums und unsere Predigt“
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ob aus ihm ein aktuelles Wort Gottes ergeht.“139 Bei dem Bemühen um die Beantwortung dieser Frage ist man an dem Punkt angelangt, wo Braulik und Perlitt ihre Ausführungen enden lassen. Wie kann eine Applikation von Texten des Dtn in der heutigen christlichen Theologie aussehen? Möchte man Braulik und Perlitt dahingehend weiterdenken, dass die im Dtn erkennbare Struktur von Zuspruch und Anspruch zu einem Modell auch für die Begründung gegenwärtiger christlicher Ethik wird, gelangt man an ein Problem. In einer wertpluralen, zunehmend säkularisierten Gesellschaft ist es viel schwieriger, den Zuspruch Gottes zu begründen als Ansprüche zu erheben. Im Dtn war der Indikativ, der allen Imperativen vorausging, das Handeln Jahwes in Exodus und Landgabe und seine freie Erwählung Israels.140 In der Christenheit setzt der Glaube an das rechtfertigende Handeln Gottes in Christi Tod und Auferstehung Taten der Liebe frei. Fehlt aber der Glaube an das Evangelium als befreiende Grunderfahrung, so steht jeder Anspruch in der Gefahr, zu einem durch und durch „gesetzlichen“ Leistungsdenken zu werden, auch wenn er als „Gnadenimperativ“ gemeint sein sollte. Bei Braulik hatte sich so etwas in der Vermischung von Gnade und Verdienst zumindest angedeutet. Es bleibt also die vornehmlich Aufgabe christlicher Theologie, das Evangelium so zu verkünden, dass Menschen zum Glauben kommen. Erst dann macht es Sinn, sich über das Leben dieses Glaubens in der Liebe und über die christliche Ethik Gedanken zu machen. Über die Verkündigung von Glaube und Liebe aber hat das Dtn einiges zu sagen! Für die Begründung des Zuspruchs Gottes, wie ihn die Kirche im Evangelium von Christus bezeugt, kann m.E. immer noch die Unterscheidung von Gesetz und Evangelium im Sinne Martin Luthers erhebliche Dienste leisten. Theologie und Kirche bleibt dabei allerdings nicht die Mühe erspart, die alte Kategorie so in die eigene Zeit hinein zu sagen, dass sie auch und gerade von kirchlich nicht sozialisierten Menschen verstanden werden kann.141 Gerade auch für einen solchen gedanklichen und sprachlichen Aktualisierungsprozess kann das Dtn als Muster dienen, wie von Rad meint: „Man sieht, das Deuteronomium ist mit den Generationen gewachsen. Es ist nach seinem Erscheinen nicht unter Glas gestellt worden. Israel hat mit ihm gelebt, und es hat Israel als ein lebendiges, d.h. immer als ein aktuelles Gotteswort beglei-
139 Rad, Predigt, 162. V. Rad selbst möchte diese Frage ausdrücklich im Horizont von Gesetz und Evangelium beantworten (vgl. a.a.O. 154), umkreist das Problem in seinem kurzen Aufsatz jedoch mehr, als dass er es lösen könnte. Beachtenswert ist jedoch, dass von Rad dieses Problem schon 20 Jahre vor Braulik und Perlitt angeschnitten hat. 140 Auf die Bedeutung der Erwählung konnte ich im Rahmen dieser Arbeit nicht ausführlich eingehen, vgl. z.B. Rad, Predigt, 159f. 141 Dabei ist der Sache nach m.E. durchaus von Sünde und Vergebung zu reden. Wo etwa Luther den Menschen auf sein Sündersein anspricht (und eben damit „Gesetz“ verkündigt!), indem er ihn als incurvatus in se bezeichnet, kann die kirchliche Verkündigung heute etwa auf die Selbstwidersprüchlichkeit des Menschen hinweisen, die in der Gottesferne begründet ist. Dass Vergebung dann zuerst die Überwindung der Gottesferne des Menschen ist, davon kann christliche Verkündigung m.E. nicht absehen, wenn sie nicht ihr Proprium verlieren will.
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„Gesetz und Evangelium“ als Kategorie in der neueren Auslegung des Deuteronomiums
tet. Es hat Israel nicht nur in einer bestimmten geschichtlichen Situation angesprochen, und vor allem hat es Israel nicht auf diese eine geschichtliche Situation festgelegt, als könne es nur in ihr von Gottes Wort und Willen erreicht werden. Ist das Gotteswort im Deuteronomium mit Israel durch die Zeiten gegangen, so ist [es] aber dabei doch nicht zur zeitlosen, gleichsam philosophischen Wahrheit geworden. Es ist doch immer ein konkretes und in den Bereich menschlicher Geschichte hineintretendes Wort geblieben. Man kann in der literarischen Komplexität des Deuteronomiums etwas von dem komplizierten Weg des Wortes Gottes durch ein Stück menschlicher Geschichte erkennen.“142 So weist die Verkündigung des Dtn auch in unsere Verrkündigung ein; auch in die Verkündigung von Gesetz und Evangelium: Es weiß um das Scheitern der Menschen an Gottes Gesetz, das doch gerade צדֹקהbegründen sollte (vgl. Dtn 9,6 mit 6,25) und verheißt ein Handeln Gottes an diesen Gescheiterten (Dtn 30,1–10). Um zu einer solchen Verkündigung von Texten des Dtn zu gelangen, bedarf es einer Mühe, die die eigentlichen Arbeitsschritte historisch-kritischer Exegese des AT überschreitet. Aber im Angehen dieser Mühe erweist sich alttestamentliche Exegese als ein Teil der christlichen Theologie und kann im Geben und Nehmen mit den anderen theologischen Disziplinen dem Auseinanderdriften in pures Spezialwissen entgegenwirken.
142 Von Rad, Predigt, 156.
„Das Wort des Herrn war selten in jenen Tagen, Offenbarung gab es nicht häufig“ Beobachtungen zu 1Sam 3 1. Theologische Reflexion als Erzählung Wenn man im Hinblick auf das Alte Testament von Theologie sprechen möchte1, so liegt diese nicht in Form von Begriffen, Loci, Lehrsätzen oder Definitionen vor. Vielmehr erzählen die alttestamentlichen Autoren vielfach Geschichten, die als solche aber vielschichtig und hintergründig sind.2 Einerseits handelt es sich dabei um Storytelling, das vielleicht in einem weiteren Kontext den Fortgang der Handlung und die Entwicklung der Akteure des größeren Erzählzusammenhanges erzählt. Dies findet sich gerade in den Samuelbüchern häufig, wenn etwa Saul eingeführt wird als einer, der die entlaufenen Eselinnen seines Vaters sucht (1Sam 9), oder von David erzählt wird, wie er seinen großen Brüdern in den Philisterkriegen quasi das Mittagessen bringen musste (1Sam 17). So lässt sich auch die Geschichte in 1Sam 3 lesen, worin die geneigte Leserschaft erfährt, was nun aus dem Jungen wird, der erst als Gebetserhörung geboren wurde (1Sam 1), dafür aber schon als Kind sein Elternhaus verlassen und in den Dienst des Priesters Eli treten musste (1Sam 2) und von dem es zuletzt hieß: „Und der Knabe diente Jahwe vor Eli“ (1Sam 3,1a).3 Dabei werden dann hier und da vielleicht auch Nachrichten über die frühe Königszeit Israels mitgeteilt, die von historischem Quellenwert für die Rekonstruktion der Geschichte Israels sind.4 Darüber hinaus aber spiegelt sich in den Texten die theologische Reflexion Israels (oder doch bestimmter Gruppen oder Trägerkreise), die oft aus einem gehörigen zeitlichen Abstand zu den geschilderten Ereignissen geschieht und diesen vielleicht erst eine sprachliche Gestalt gibt. Die Texte enthalten dann Überzeugungen über Gott und sein Verhältnis zu seinem Volk und dieser Welt, die durch die Texte auch vermittelt werden sollen. Insofern sind die Geschichten auch Mittel der Verkündigung und Medium der theologischen – gelegentlich diskursiven – Kommunikation. Da wo dieses Kommunikationsgeschehen zwischen Text und Lesern gelingt und zum Ziel kommt, werden die Texte dann als Mittel der Selbstkundgabe des Gottes begriffen, von dessen Reden und Handeln sie erzählen. 1 2 3
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Zu den gegenwärtigen Aporien der Disziplin Theologie des AT und dem Unbehagen mancher Fachvertreter diesem Thema gegenüber vgl. jetzt den Essay von Schmid, Theologie. Vgl. Michel, Überlieferung, 89–92. Die Notiz über das Ergehen Samuels hat Entsprechungen in 1Sam 2,11.21.26 und könnte dort als Strukturmerkmal dienen. Insofern schließt der Satz eher 1Sam 2 ab, als dass er das dritte Kapitel eröffnet; vgl. Dietrich, BKAT VIII/1, 111. Vgl. z.B. Noth, Samuel in Silo; Dietrich, Frühe Königszeit, 36f.
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„Das Wort des Herrn war selten in jenen Tagen, Offenbarung gab es nicht häufig“
Die Exegese kann die Inhalte der theologischen Reflexion, die in der Kommunikation biblischer Texte bis heute immer erneut zur Sprache kommen, durch methodische Analyse sichtbar machen. Dies geschieht auf den klassischen exegetischen Wegen durch die Aufhellung der Literargeschichte, die Redaktionsgeschichte oder die Gattungsbestimmung der Texte. Dazu treten aber auch narratologische oder sprachpragmatische Fragestellungen.5 Dies soll nun an 1Sam 3 veranschaulicht werden. Durch das Herausarbeiten der Struktur und des Aufbaus des Kapitels, das Beleuchten von begrifflichen Inklusionen und von immer wieder verwendeten Leitwörtern sowie durch die besondere Beachtung von gezielt gesetzten Deuteversen lässt sich die Geschichte von der „Berufung Samuels“ als Kompendium einer Theologie (des prophetisch vermittelten) Gotteswortes lesen.
2. Der Text 1Sam 3,1–216 1 2
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Und der Knabe Samuel diente Jahwe vor Eli; aber das Wort Jahwes (דבר־ )יהוהwar selten in jenen Tagen, Offenbarung war nicht häufig. Und es geschah an ‚einem‘ Tag – als Eli an seinem Ort lag, seine Augen aber hatten begonnen, schwach zu werden, so dass er nicht mehr sehen ()לראות konnte, aber die Lampe Gottes war noch nicht erloschen, und Samuel lag im Heilig7 tum Jahwes, wo die Lade Gottes war – da rief Jahwe nach Samuel und der sprach: „Hier bin ich“. Dann lief er zu Eli und sprach: „Hier bin ich, weil du mich gerufen hast“, aber er sprach: „Ich hab dich nicht gerufen, leg dich wieder hin!“; so ging er und legte sich hin. Aber Jahwe fuhr fort und rief Samuel noch einmal; und Samuel stand auf und ging zu Eli und sprach: „Hier bin ich, weil du mich gerufen hast“; er aber sprach: „Ich hab dich nicht gerufen, mein Sohn, leg dich wieder hin!“ Aber Samuel hatte Jahwe noch nicht erkannt und noch war ihm das Wort Jahwes ( )דבר־יהוהnicht offenbart ( )יגלהworden. Und Jahwe fuhr fort, Samuel zum dritten Mal zu rufen, und er stand auf, ging zu Eli und sprach: „Siehe, hier bin ich, weil du mich gerufen hast“; da verstand Eli, dass Jahwe den Knaben gerufen hatte.
Vgl. z.B. Bar-Efrat, Das Erste Buch Samuel. Häufig wird 1Sam 4,1a „so erging das Wort Samuels an ganz Israel“ mit zu dem Text hinzugenommen. Das ist möglich. Aber es liegt eine entscheidende inclusio mit den Versen 1 und 21 und dem damit gegebenen Thema „Wort Jahwes“ vor. Vgl. zur Satzgliederung Stoebe, KAT VIII/1, 123. Darin allerdings, dass in V. 2b–3 „Nebenumständen, denen dann keine eigentliche Bedeutung mehr zukommt“ (ebd.) geschildert würden, ist Stoebe deutlich zu widersprechen.
Literarische Integrität
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So sprach Eli zu Samuel: „Geh, leg dich hin, und wenn es dazu kommt, dass man dich ruft, sage: Rede ( )דברJahwe, während dein Knecht hört“; da ging Samuel hin und legte sich an seinen Ort.
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Da kam Jahwe und stellte sich hin und rief wie vorher: „Samuel, Samuel!“; und Samuel sprach: „Rede ()דבר, während dein Knecht hört.“ Und Jahwe sprach zu Samuel: „Siehe ich bin im Begriff eine Sache ( )דברin Israel zu machen, die jedem, der es hört, in beiden Ohren gellen wird. An jenem Tage will ich gegen Eli aufrichten alles, was ich gegen sein Haus geredet ( )דברתיhabe von Anfang bis Ende. Und ich werde ihm mitteilen, dass ich ein Richter seines Hauses bin in Ewigkeit; um der Verkehrtheit willen, denn er hat erkannt, dass seine Söhne sich selbst verflucht haben, aber er hat sie nicht zurechtgewiesen. Deshalb schwöre ich dem Hause Eli, dass die Verkehrtheit des Hauses Eli nicht gesühnt werden soll durch Schlachtopfer oder Ganzopfer in Ewigkeit.“ Und Samuel legte sich hin bis zum Morgen, dann öffnete Samuel die Türen des Hauses Jahwes; aber Samuel fürchtete sich, die Vision Eli mitzuteilen.
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Und Eli rief Samuel und sprach: „Samuel, mein Sohn“, er aber sprach: „Hier bin ich.“ Und er sprach: „Was ist das Wort, das er zu dir geredet hat? (מה הדבר אשׁר )דבר אליךVerberge es doch nicht vor mir. So tue dir Gott und so fahre er fort, wenn du vor mir ein Wort ( )דברvon der ganzen Angelegenheit verbirgst, die er zu dir geredet hat ()מכל־הדבר אשׁר־דבר אליך.“ Da teilte ihm Samuel alle Worte ( )את־כל־הדבריםmit, und verbarg nichts vor ihm; er aber sprach: „Jahwe ist er; was in seinen Augen gut ist, tue er!“ So wurde Samuel groß, und Jahwe war mit ihm und ließ keins von allen seinen Worten ( )דבריוzur Erde fallen. Und ganz Israel von Dan bis Beerscheba erkannte, dass Samuel zuverlässig bestellt war zum Propheten für Jahwe. Und Jahwe fuhr fort, in Silo zu erscheinen ( ;)להראהdenn Jahwe offenbarte ( )נגלהsich vor Samuel in Silo durch das Wort Jahwes ()דבר־יהוה.
3. Literarische Integrität Nach der Geschichte vom „Gottesmann“ kehrt die Erzählung zurück zu Samuel. 1Sam 3,1–21(4,1a) stellt eine in sich geschlossene Erzählung dar, an deren Ende Samuel zum Propheten wird. Es lässt sich allerdings fragen, ob die hier behauptete „Geschlossenheit“ der Erzählung Ausdruck einer ursprünglichen Einheit oder Ergebnis eines oder mehrerer Redaktionsprozesse ist. Nachdem 1Sam 3 in der Forschung häufig als literarische Einheit behandelt worden ist8, hat vor allem Walter Dietrich Zweifel angemeldet. Er sieht in dem Kapi8
Vgl. Dietrich/Naumann, Samuelbücher, 15f.; Dietrich, BKAT VIII/1, 170f.
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tel mindestens drei Hände am Werk: Als Teil der ursprünglichen Samuel-SaulGeschichten umfasste das Kapitel die Verse 1b–6.8–11 sodann ein Orakel, das durch die jetzigen Verse 12–14 ersetzt wurde, weiter V. 15–18.21. In dieser Geschichte ging es um den Mangel an Offenbarung in Silo und die Ablösung Elis durch Samuel, wodurch Silo seine Bedeutung verlor. Dieser Text ist von einem späteren „Höfischen Erzähler“ ergänzt worden durch die Verse 2b (Elis Erblindung), 3b (die Lade), die Deuteverse 7 und 19f. Hierbei ging es darum, die Geschichte in den Kontext der Ladeerzählungen einzubinden und Samuel als Propheten zu charakterisieren. Zuletzt hat der prophetisch orientierte Deuteronomist DtrP ein ursprüngliches – vielleicht das Königtum ankündigendes9 – Orakel durch die jetzigen Verse 12–14 ersetzt, die lediglich 1Sam 2,15–31* zusammenfassen. Auch jener Text geht laut Dietrich auf DtrP zurück.10 Diese literarische Analyse ist möglich, zwingend ist sie aber m.E. nicht. Zunächst ist festzuhalten, dass sich 1Sam 3 so, wie der Text vorliegt, als konsistente Einheit verstehen lässt. Es liegen keine der „klassischen“ literarkritischen Indizien vor. Sodann hängen das Problem der ausbleibenden Offenbarung, das nach Dietrich in der Urfassung des Textes stand (V. 1b), und die Bestellung Samuels zum Propheten (V. 20), die erst auf den „Höfischen Erzähler“ zurückgehen soll, aufs engste miteinander zusammen. Hier soll erzählt – und dann eben auch programmatisch theologisch formuliert – werden, dass der דבר־יהוהdurch den נביאergeht.11 Warum dann gerade dieses Interesse für Dietrich beim „Höfischen Erzähler“ und nicht bei DtrP zu verorten ist, ist ebenfalls zu fragen. Diesen DtrP sieht Dietrich erst in der Ersetzung eines ursprünglich anderslautenden Orakels durch den jetzigen Text von V. 12–14 am Werk. Diese Überlegungen leiden darunter, dass sie fast gänzlich ohne Anhalt am Text etwas vermeintlich „Ausgefallenes“ rekonstruieren, vor allem aber konstruieren müssen. Außerdem erklärt sich Samuels Furcht, Eli das Gehörte mitzuteilen (V. 15), doch sehr gut aus dem vorliegenden Text. Auszuschließen sind Dietrichs literarkritische Erwägungen zu 1Sam 3 nicht, nötig sind sie aber wohl auch nicht. Festzuhalten ist, dass der Text in der vorliegenden Form ein starkes Interesse am prophetisch vermittelten דבר־יהוהhat und sich mit anderen Texten im DtrG berührt, die einen ähnlichen Fokus erkennen lassen.12
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So die Vermutung bei Dietrich, BKAT VIII/1, 173 (Ankündigung der Philistergefahr und Befreiung durch Saul); anders Mommer, Samuel, 24, der annimmt, hier sei ursprünglich die Ablösung Elis durch Samuel berichtet. Alle diese (Re)Konstruktionen sind hochgradig spekulativ. Vgl. Dietrich, BKAT VIII/1, 171–176. Darüber hinaus stellt die Formulierung in V. 21, Jahwe sei weiterhin in Silo erschienen ()להראה eine terminologischen Rückbezug zur Notiz in V. 2b, Eli könne nicht mehr gut sehen ()לראות. Dies widerrät einer Aufteilung der beiden Verse auf unterschiedliche literarische Schichten. Vgl. z.B. 2Sam 7 mit der Geltung einer prophetischen Ansage ( עד־עולם2Sam 7,13.16.24f.; vgl. 1Sam 3,13f.) oder die eigentümliche Formulierung ( בדבר יהוה1Sam 3,21), die sich dann wieder häufig in der Erzählung vom ungenannten Gottesmann in 1Kön 13 findet (vgl. 1Kön 13,1f.5.9. 17f.32).
Gattungsbestimmung und Struktur
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4. Gattungsbestimmung und Struktur Dass man in 1Sam 3 die Berufung Samuels zum Propheten berichtet sah, gab Anlass, über die Gattung des Textes nachzudenken. Häufig sieht man in der Forschung hierin eine typische Berufungserzählung, wie sie auch in Ri 6 (Gideon); Ex 3 (Mose) oder Jer 1 vorliege.13 Allerdings lässt sich fragen, ob es eine solche Textsorte mit signifikanten sprachlichen Eigenarten im Hebräischen überhaupt gibt, oder ob die genannten Texte nicht nur durch motivliche Ähnlichkeiten aufeinander zu verweisen scheinen.14 Dann ist erwogen worden, ob hier die Erzählung über ein Inkubationsgeschehen vorliegt. Dabei – so nimmt man an – legt sich ein Mensch im Tempel schlafen, in der Hoffnung dass sich Gott ihm im Schlafe mitteile. Allerdings fehlen Begriffe für Schlaf, lediglich von Liegen ist die Rede. Außerdem hat Samuel sich nicht in der Absicht niedergelegt, eine Offenbarung zu erhalten. Könnte es sich dann um eine Traumoffenbarung handeln, wie sie etwa Jakob in Bethel widerfuhr (vgl. Gen 28)? Dagegen spricht, dass sich kein Begriff für Traum findet. – So ist insgesamt eine Gattungsbestimmung des Textes nicht möglich, aber auch nicht zwingend notwendig: Unterschiedliche Motive – Berufung, Offenbarung am Heiligtum, Vermittlung des göttlichen Wortes – sind hier zu einer insgesamt relativ geschlossenen Erzählung zusammengefügt.15 Weiterführend ist ein Blick auf die Struktur und den planvollen Aufbau des Textes16: A B C B’ A’
V. 1–3: Der Mangel an Offenbarung: Eli schwach V. 4–9: Erster Dialog zwischen Samuel und Eli V. 10–15: Gottes Wort an Samuel V. 16–18: Zweiter Dialog zwischen Samuel und Eli V. 19–21: Kein Mangel an Offenbarung: Samuel fest
Diese Struktur lässt sich auf zweierlei Arten lesen: Einmal kann man darin die Konzentrik erkennen und das Augenmerk auf das Zentrum der Komposition legen. Dann käme der Offenbarung des Gotteswortes in V. 10–15 besondere Bedeutung zu. Der Inhalt des vermittelten Gotteswortes wird hier ja nur angedeutet und besteht in einem Rückbezug auf 1Sam 2,27–36. Zugleich wird dieses Orakel in 1Sam 4 bewahrheitet, worin vom Tode Elis und seiner Söhne berichtet werden. In dieser Lesart ist 1Sam 3 eingebunden in seinen Kontext. Zweitens lässt sich das Kapitel als ein gedanklicher Fortschritt von A zu A’ lesen. Am Anfang wird ein Defizit benannt: Es mangelt an Offenbarung, was mit der Unzuverlässigkeit der Söhne Elis zu tun haben mag. Über das Geschehen in „jener 13 14 15 16
Vgl. Stoebe, KAT VIII/1, 12ff. Vgl. Behrens, Berufung, 63–66. Vgl. Dietrich, BKAT VIII/1, 167ff.; Mommer, Samuel, 23f. Der konzentrische Aufbau des Textes ist mehrfach beobachtet worden, vgl. z.B. Dietrich, BKAT VIII/1, 163 oder ähnlich Bar-Efrat, Das Erste Buch Samuel, 96.
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„Das Wort des Herrn war selten in jenen Tagen, Offenbarung gab es nicht häufig“
Nacht“ am Heiligtum wird das Problem aber gelöst: Samuel ist zuverlässiger Prophet und sein Wort ist wie Gottes Wort. So wird hier eine Geschichte erzählt, in der Eli als Vertreter der alten Ordnung, durch Samuel als Vorbote einer neuen Offenbarungsart – der Prophetie – abgelöst wird. Dabei entsteht die Prophetie als das die Könige Israels begleitende Korrektiv in der Person Samuels noch vor dem Königtum selbst. So gelesen ist 1Sam 3 eine theologische Reflexion über die Bedeutung der Prophetie und vor allem des Wortes Jahwes. Dieser zweiten Leseweise soll nun nachgegangen werden.
5. Inklusionen, Leitwörter und Deuteverse: 1Sam 3 als theologische Reflexion Beachtet man in einem Durchgang durch den Text die signifikanten Inklusionen, Leitwörter und eingestreuten Interpretationen des Geschehens durch den „Erzähler“, so lässt sich der theologisch grundlegende, ja programmatische Charakter des Kapitels erkennen. V. 1–3: Der Text beginnt nach einer Notiz über das Ergehen Samuels mit einer Problembeschreibung: Das Wort Jahwes ( )דבר־יהוהund Offenbarungen ( )חזוןsind selten ( פרץim Qal: brachen nicht durch). Dabei weisen die Begriffe weg vom priesterlichen in den prophetischen Kontext.17 Das Wort חזוןbegegnet hier zum ersten Mal im Alten Testament. Es ist nicht, wie häufig angenommen, ein Fachwort für „Vision“ oder „Schauung“18, also nicht auf die optische Wahrnehmung beschränkt, sondern ein Sammelbegriff für Gottes Offenbarung insgesamt.19 In diesem Sinne begegnet es in Überschriften von Prophetenbüchern (Jes 1,1; Ob 1; Nah 1,1; vgl. Am 1,1 [ )]חזהund in Aussagen wie Hab 2,2f.20 Der Begriff findet sich überwiegend in der prophetischen Literatur des AT und im Danielbuch. 1Sam 3,1 ist der einzige Beleg im DtrG. Bereits durch dieses Stichwort ist also der Kontext „Prophetie“ präsent. Nicht anders verhält es sich mit der Formulierung דבר־יהוה, die als Bezeichnung der göttlichen Offenbarung vor dem hier in Rede stehenden Text so gut wie nicht begegnet21, aber signifikant für die prophetische Literatur, jedenfalls seit Jeremia, ist.22 Hier ergibt sich nun eine inclusio mit V. 21, sodass der Text insge17 18
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Vgl. Stolz, ZBK.AT 9, 38. Die Wurzel חזהoder Derivate davon gehören nicht zu den signifikanten sprachlichen Eigenarten („Formmerkmalen“) der Textsorte prophetische Visionsschilderung; vgl. Behrens, Prophetische Visionsschilderungen, 38f. Vgl. Bar-Efrat, Das Erste Buch Samuel, 97. Vgl. Behrens, Habakuk 2,1–4 (in diesem Band). Der einzige vergleichbare Beleg vor 1Sam 3,1 ist Gen 15,1.4, wo Abraham mit prophetischen Redeformen (der Wortereignisformel) charakterisiert wird. Vgl. Levin, ZThK 101 (2004), 257–280.
Inklusionen, Leitwörter und Deuteverse: 1Sam 3 als theologische Reflexion
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samt schon durch diesen Rahmen den דבר־יהוהin den Blick nimmt. Das Wort Gottes ist also das Thema des Textes. Durch die Verwendung der Wurzel דברin den Versen 7.9.10.11.12.17.19 erhält es Leitwortcharakter. So ist das Thema innerhalb des Textes – allein schon lexematisch – dauerpräsent.23 In diesem Zusammenhang ist die Notiz über die abnehmende Sehkraft Elis mehr als nur die Auskunft über den Gesundheitszustand einer der Akteure oder als ein Vorgriff auf 1Sam 4,15. Hier geht es auch um einen Mangel an „geistlichem Durchblick“.24 Dies ergibt sich vor allem daraus, dass die Wurzel ראהin 1Sam 3 sonst nur noch in V. 15 ()מראה25 und 21 ( )להראהpräsent ist und dort jeweils den Offenbarungsvorgang bezeichnet. Dementsprechend hat auch die Rede vom Leuchter Gottes, der noch nicht verloschen war, mehrere Bedeutungsebenen. Einmal kann an eine Zeitangabe gedacht sein: Gegen Morgen droht der Leuchter im Heiligtum zu erlöschen, weil er mit neuem Öl versorgt werden muss. Vielleicht schläft Samuel deshalb in seiner Nähe. Dann aber ist auch ein metaphorisches Verständnis anzunehmen: Das Hapaxlegomenon נר אלהיםist nicht einfach mit der Menora des späteren Tempels gleichzusetzen. Es ist wohl auch daran zu denken, dass Gott Silo bis jetzt noch nicht vollkommen im Dunkeln lässt.26 Dass Samuel neben diesem „Hoffnungsschimmer“ seinen Schlafplatz hat, weist auf das Folgende voraus. V. 4–9: Was jetzt kommt, ist ein Kleinod alttestamentlicher Erzählkunst, das oft analysiert wurde und für dessen erzählerischen Feinheiten auf die Kommentare verwiesen wird. Jetzt soll V. 7 in den Blick genommen werden, der in mehrfacher Hinsicht besonders ist. Hier wendet sich der Erzähler an den Leser und erklärt den Lesern Samuels „Gottestaubheit“ mit dem Zeitpunkt: Noch hatte Samuel Jahwe nicht erkannt ( )ידע את־יהוהund das Wort ( )דבר־יהוהwar noch nicht enthüllt oder offenbart ( גלהni.). Nach Hans Walter Wolff ist Erkenntnis Gottes die alttestamentliche „Urform der Theologie“, so hatte er es am Hoseabuch erhoben.27 Hier wird nun klargestellt, dass diese Erkenntnis in der „Offenbarung“ des Wortes Jahwes wurzelt, also weniger in dem erkennenden Menschen als in dem sich zu erkennen gebenden Gott.28 Darauf also wird die Geschichte der nächtlichen Anrufungen Samuels hinauslaufen. Sollte V. 7 auf einen Ergänzer zurückgehen, so ist der Vers jedenfalls durch Stichworte in seinen Kontext eng eingebunden. Vom „Wort Jah-
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Vgl. Bar-Efrat, Das Erste Buch Samuel, 96. Dazu Bar-Efrat, Das Erste Buch Samuel, 95: „Eli wird in diesem Kapitel als ein Greis geschildert, dessen Augen ihre Aufgabe nicht mehr erfüllen und der schwer von Begriff ist.“ Freilich ist es dann Eli, der zuerst versteht, wer da den Knaben Samuel ruft. Dabei kann מראהals Komplementärbegriff zu חזוןgelten. In Ps 119,105 findet sich ein solches Bild, das den „Leuchter“ mit dem „Wort“ gleichsetzt: נר־ לרגלי דברך. Vgl. Wolff, Wissen, 182–205 und Michel, Hoseas Geschichtsverständnis, 219–228. Vgl. Dietrich, BKAT VIII/1, 180.
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„Das Wort des Herrn war selten in jenen Tagen, Offenbarung gab es nicht häufig“
wes“ war schon die Rede29, und das Verb גלהwird in V. 21 wieder aufgenommen. Die Erkenntnis Samuels (hier noch im Potentialis) wird in ganz Israel zu einer bestimmten Erkenntnis führen (vgl. V. 20: )וידע כל־ישׂראל. Der hier noch ausstehenden Erkenntnis Samuels geht zunächst eine Einsicht Elis ( )ויבן עליvoraus. Ähnlich wie schon in seiner Begegnung mit Hanna ist der alte Priester am Ende einer Begegnung voller Missverständnisse doch hilfreich. Eli erkennt nicht nur, dass Jahwe selbst den Knaben Samuel gerufen hat, sondern er weiß auch, wie darauf angemessen zu reagieren ist. Jahwe gebührt das Wort (imp. )דבר, während30 sein „Knecht“ hört ()שׁמע. Damit ist die idealtypische Reaktion eines Propheten31 auf eine Formulierung gebracht. V. 10–15: Nachdem nun auch den Akteuren der Geschichte klar ist – die Leser wussten es schon vorher32 – wer da Samuel nachts anruft, kann es zum Höhepunkt dieser Offenbarungserzählung kommen. Dieser wird wie eine beinahe physische Begegnung zwischen dem angehenden Propheten und seinem Gott geschildert, ohne dass sich die dahinter liegenden Vorstellungen vollständig erhellen ließen.33 Jahwe „baut sich auf“ vor Samuel und teilt ihm ein anstehendes Unheil mit. Die Formulierung von V. 11 mit Konstruktion הנה+ Partizip drückt als sog. futurum instans34 eine unmittelbar bevorstehende Sache ( )דברaus. Was nun kommt, ist Unheil, wie die Formulierung zeigt, allen, die es Hören, sollten die Ohren davon „gellen“.35 Dieses anbrechende Unheil gilt aber nicht Samuel sondern Eli und seinem Haus. Was Jahwe zuvor angekündigt hatte ()דברתי, wird eintreffen ()אֹקים. Dies wird Eli nun mitgeteilt ()והגדתי36. Im Fortgang der Erzählung wird deutlich, dass es eben Samuel ist, der diesen Mitteilungsvorgang zu vollziehen hat (vgl. נגדin V. 15.18 mit Samuel als Subjekt). Auch an diesem Vorgang wird deutlich, was Prophetie typischerweise bedeutet, nämlich den Empfang einer Offenbarung, die dann an andere vermittelt werden muss.37 In V. 15 wird dann aber auch gleich deutlich, 29 30 31 32 33 34 35 36
37
Vgl. Bar-Efrat, Das Erste Buch Samuel, 98, der von einer expliziten Bezugnahme auf V. 1 ausgeht. Das כיhat hier keine begründende, sondern katadeiktische Funktion. Dass sich hinter dem „Knecht“ ein Prophet erkennen lässt, passt zum dtr. Prophetenverständnis; vgl. z.B. 2Kön 17,13 oder Am 3,7. Vgl. Dietrich, BKAT VIII/1, 166f. und seine Überlegungen zum „Point of View“ der Erzählung. Vgl. Dietrich, BKAT VIII/1, 169.181; Stoebe, KAT VIII/1, 125. Vgl. Gesenius-Kautzsch, § 116. Vgl. 2Kön 21,12 oder Jer 19,3. Gegen Dietrich, BKAT VIII/1, 161 ist das we-qatal hier tatsächlich – ganz regulär – futurisch zu übersetzen. Dafür muss auch kein Imperativ konjiziert werden. Prophetie bedeutet ja gerade, dass Jahwe sich durch einen anderen, menschlichen Sprecher mitteilt. Vgl. die hilfreiche Definition des Phänomens Prophetie für den Alten Orient und das Alte Testament bei Weippert, Aspekte, 88: „Ein(e) Prophet(in) ist eine Person männlichen oder weiblichen Geschlechts, die 1. in einem kognitiven Erlebnis – einer Vision, einer Audition, einem Traum o.ä. – der Offenbarung einer Gottheit oder mehrerer Gottheiten teilhaftig wird, und 2. sich durch die betreffende(n) Gottheit(en) beauftragt weiß, die Offenbarung in sprachlicher Fassung, oder in averbalen Kommunikationsakten an einen Dritten (oder Dritte), den (die) eigentlichen Adressaten, zu übermitteln.“
Inklusionen, Leitwörter und Deuteverse: 1Sam 3 als theologische Reflexion
151
dass es dem Propheten nicht leicht fällt, schlechte Nachrichten weiterzugeben. Samuel fürchtet sich, wie es nach ihm vielen Propheten – allen voran Jeremia – gehen wird. V. 16–18: An dieser Stelle fungiert Eli wie eine Hebamme bei der Geburt des „Propheten“ Samuel, indem er sich als idealer Hörer des prophetisch vermittelten Gotteswortes erweist. Es geht ihm um die Botschaft, weniger um den Boten. Der kunstvoll aufgebaute V. 17 macht das deutlich: A
A’
Was für ein Wort war es, das er zu dir geredet hat (?)מה הדבר אשׁר דבר אליך B Verbirg es nicht vor mir (!)כחד C Gott soll dir dies oder jenes tun B’ wenn du vor mir verbirgst ()כחד ein Wort ( )דברvon dem, was er zu dir geredet hat 38 (!)ממני דבר מכל־הדבר אשׁר־דבר אליך
Auf die nachdrücklichste Weise stellt Eli damit klar, dass es um das Wort ()דבר geht, das nicht verborgen werden darf, auch wenn es Gerichtswort ist. Die sprachliche Gestalt des Verses vermittelt diese Botschaft auch an die Leser des Textes. Dann geht Eli noch einen Schritt weiter. Er will das Wort nicht nur hören, sondern er stimmt ihm auch zu, obwohl es für ihn ein schier auswegloses Gericht bedeutet. Dennoch akzeptiert Eli das Gehörte mit der auffälligen Begründung: יהוה הואJahwe ist er. Dietrich vermutet, Eli sei noch „Gottesfachmann“ genug gewesen, um Jahwe zu erkennen.39 Allerdings lohnt hier ein weiterführender Blick in die Grammatik: der Nominalsatz יהוה הואbesteht aus zwei obligatorischen Gliedern, von denen das erste das chabar (das „Prädikat“) darstellt.40 Der Aussageschwerpunkt liegt also auf Jahwe: Jahwe war das, oder: Jahwe (und kein anderer) ist er! Eli begründet seine Zustimmung also mit dem „Jahwe-Sein“ dessen, der die finstere Botschaft verkünden lässt. So ist dieser Satz ein regelrechtes Bekenntnis. Eli erkennt in dem Gott, der sich als wirksam erweist (in der Geschichte seines Volkes) auch den Herrn über sein Leben. Dem gibt der Priester mit einem „sein Wille geschehe“ Ausdruck. Auf diese Weise wird dem Leser in der Konstellation der Figuren Samuel und Eli vorgeführt, wie Prophetie im Idealfall „funktioniert“. Der ideale Prophet hört, lässt Gott reden und gibt das Gotteswort weiter, selbst wenn es schwer fällt. Der ideale Hörer will nichts von diesem Wort verborgen wissen und fügt sich in den Willen seines Gottes Jahwe, der sich immer wieder Geschichte seines Volkes als gnädig und als Retter erwiesen hat. Das יהוה הואElis korrespondiert mit der 38 39 40
Zur Struktur des Verses vgl. Bar-Efrat, Das Erste Buch Samuel, 102 und Dietrich, BKAT VIII/1, 184. Vgl. Dietrich, BKAT VIII/1, 186. Vgl. Michel, Grundlegung 2.
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„Das Wort des Herrn war selten in jenen Tagen, Offenbarung gab es nicht häufig“
Selbstprädikation ( אנכי יהוה אלהיךnur ich bin Jahwe, dein Gott…)41 des Gottes, der Israel aus der Knechtschaft geführt hat (vgl. Ex 20,2). V. 19–21: Die letzten Verse des Kapitels verlassen die Situation an „jenem bestimmten Tag“ (vgl. V. 2) zwischen den Akteuren Samuel und Eli und ziehen aus dem Erzählten ein theologisches Fazit. Auch über den Tag hinaus wurde Samuel „groß“ und das heißt, dass Jahwe seine Worte ()דבריו42 nicht vergeblich ergehen lässt, sondern bewahrheitet, wie das explikative Perfekt43 ולא־הפילerläutert. Erst V. 20 bringt das Gesagte auf den Begriff נביא ליהוה. Ganz Israel wird das erkennen, was der Aussage zusätzliches Gewicht verleiht. Zugleich wird nun der Schwäche Elis (vgl. V. 2) eine zuverlässige Größe ( )נאמןin Gestalt des Propheten Samuel entgegengestellt. Die Formulierung fügt damit der bisherigen Erzählung eigentlich nichts Neues hinzu, sondern verdichtet die schon gewonnenen Einsichten in einem theologischen Begriff, so dass die Erkenntnis Israels auch die Erkenntnis des Lesers wird. Was dies bedeutet, entfaltet der letzte Vers. Obwohl Eli nicht mehr gut sieht (V. 2: )לא יוכל לראות, lässt Jahwe sich weiterhin in Silo sehen ()ויסף יהוה להראה. Dies geschieht dadurch, dass Jahwe sich in seinem Wort ( )בדבר יהוהoffenbart ( כי־נגלה )יהוה.44 Dadurch werden mehrere Leitwörter der bisherigen Erzählung wieder aufgegriffen und gebündelt. Zugleich wird eine Brücke zurück zum Beginn des Textes geschlagen. Das Problem ist gelöst. Gott zeigt sich in seinem prophetisch vermittelten Wort.
6. Ergebnis „Das Kapitel 1Sam 3 zeichnet sich durch erzählerische Schönheit wie durch theologische Tiefgründigkeit und anthropologische Hintergründigkeit aus. Es handelt von nicht weniger als von der Offenbarung Gottes, dies aber nicht in theoretischabstraktem Stil, sondern veranschaulicht am Schicksal konkreter Menschen.“45 Wie so oft im AT begegnet Theologie als Erzählung; aber in der Erzählung hat sich theo-
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43 44
45
Vgl. Diesel, „Ich bin Jahwe“, 224–230. Es lässt sich nicht eindeutig klären, ob sich das Suffix auf Samuel oder auf Jahwe bezieht, wessen Worte sich also nicht als hinfällig erweisen werden. Angesichts des oben über Offenbarung und Vermittlung des Wortes Gesagten, kann es sich dabei durchaus um eine bewusst in Kauf genommene Unschärfe handeln. Vgl. Michel, Tempora, 95ff. Vgl. Hentschel, NEB.AT 33, 60, der in V. 21b eine korrigierende Ergänzung zu 21a sieht: „Der Abschluß des Anhanges 21a ist noch einmal ergänzt worden. Der Herr erscheint nicht mehr, er offenbart sich nur noch.“ Diese Deutung widerspricht dem Text, lässt das verbindende כיzwischen den Vershälften völlig außer Acht und konstruiert einen Gegensatz zwischen erscheinen und offenbaren, den es im Text gerade nicht gibt. Dietrich, BKAT VIII/1, 189.
Ergebnis
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logische Reflexion niedergeschlagen, ja zu grundlegenden und programmatischen Aussagen über die Prophetie in Israel und das Wort Gottes verdichtet. Die Geschichte der nächtlichen Anrufung Samuels durch Jahwe erzählt vom Wesen der Prophetie, die hier eben nicht in einer gesellschaftlichen Institution besteht. Samuel wird nicht zum Propheten ausgebildet, wenn er auch dem Heiligen ganz nahe ist. Jahwe nimmt ihn in den Dienst an den Institutionen vorbei, auch an den religiösen Institutionen, die hier durch den Priester Eli repräsentiert werden.46 Diese Indienstnahme geschieht unerwartet, fast so, als könnte sie der künftige Prophet sogar verpassen. Sie vollzieht sich allein in einer Erfahrung der Gottunmittelbarkeit, die hier mit den Stichworten חזוןund מראהumrissen wird. Gemeint ist damit jeweils nicht eine Vision im strengen Wortsinn, also als ein visuelles Phänomen. Vielmehr finden sich hier Begriffe, die am ehesten als alttestamentliche Entsprechungen zu dem modernen Wort Offenbarung gelten können. Verbal ist dasselbe im Text durch das Wort גלהpräsent. Durch einen solchen Offenbarungsvorgang wird Samuel schließlich zuverlässig als Prophet Jahwes bestellt (V. 20: נאמן )שׁמואל לנביא ליהוה. Zum ersten Mal seit Mose (vgl. Dtn 18,15.18; 34,10) wird hier namentlich ein נביאgenannt.47 Und dieses Prophetentum besteht nicht in einem Amt, sondern in einem unmittelbaren Offenbarungsgeschehen.48 Dass dies mit der Figur Samuels an der Schwelle zur Entstehung des Königtums gesagt wird, ist sicher kein Zufall. Dem im Alten Testament immer ambivalent gewerteten Königtum, das selbst eben weder göttlichen Ursprungs ist und dessen Inhaber sich nicht als Götter oder göttlich bezeichnen können, wird von Anfang an das kritische Korrektiv einer freien Prophetie gegenüber gestellt. Auch das hier zu verkündende Wort ist für den Empfänger Eli nicht bestätigend, sondern bedrohlich. Dennoch wird in der Figur des Eli vorgeführt, wie eine ideale Reaktion auf das prophetisch vermittelte Gotteswort aussieht. Es soll nichts verschwiegen werden und am Ende gilt: „sein Wille geschehe.“ Das Wesen dieser Prophetie besteht nicht in einem Amt oder einem Charisma, das als character indilebilis zu verstehen wäre. Es besteht vielmehr ganz in dem auszurichtenden „Wort Jahwes“ ()דבר־יהוה. Überdeutlich prägt die Wurzel דברden Text und ruft so den Leserinnen und Lesern das zentrale Thema immer wieder in Erinnerung. Durch eine Reihe von intertextuellen Bezügen ist 1Sam 3 mit prophetischen Texten verbunden. Die Formulierung דבר־יהוהstammt aus diesem Kontext und ist auch in den Prophetenschriften erst in relativ späten, redaktionellen Texten
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Vgl. anders Blenkinsopp, Geschichte 55f., der aufgrund der Erwähnung Silos als Ort der prophetischen Offenbarung in V. 21 in Samuel ausdrücklich einen „Kultpropheten“ sieht. Dagegen spricht, dass die ganze Erzählung in der Prophetie eine Art Gegenbild zu dem durch Eli repräsentierten Kult zeichnet, und dass Silo im Fortgang der Erzählungen keine Rolle mehr spielt; vgl. Kessler, Samuel, 65, der gerade die doppelte Erwähnung Silos in V. 21 als „Irritation“ bezeichnet. Vgl. Rendtorff, ZAW 109 (1997), 169–187. Vgl. Kessler, Samuel, 65.
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„Das Wort des Herrn war selten in jenen Tagen, Offenbarung gab es nicht häufig“
(zuletzt wohl in den Überschriften der Prophetenbücher) explizit zum Thema geworden. Es lässt sich zeigen, dass ein regelrechtes Geflecht der theologischen Reflexion über das Wort Jahwes als ein intertextuelles Netz zunächst über den Prophetenschriften und schließlich über weiten Teilen des Alten Testaments liegt.49 In dieses Netz ist 1Sam 3 eingewoben, ja durch seine Stellung zu Beginn der Samuelbücher und damit als erste explizite Reflexion über das Wort Gottes im AT überhaupt kommt dem Text besondere Bedeutung zu. So ist 1Sam 3 nicht ausschließlich die Erzählung über eine unruhige Nacht des jungen Samuel und das darin offenbarte Gericht über das Haus Eli. In der Erzählung findet sich ein theologischer Programmtext über das Wort Gottes, das so lange es erzählt ( )נגדund gehört wird, dem Mangel an Offenbarung abhilft. Eben darin manifestiert sich das „Mitsein“ Gottes mit seinen Leuten.
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Das Thema harrt noch der gründlichen Aufarbeitung. Vgl. zunächst Behrens, Wort, 667f. und 4 Levin, RGG 8, 1697ff.
„Eine Jung(e)frau wird schwanger …“ Jes 7,14 und die „Polyvalenz“ biblischer Texte 1. Das Papier „Biblische Hermeneutik“ und sein Horizont Das Besondere am Hermeneutikpapier der SELK1 ist, dass hier eine Kirche in möglichster Einmütigkeit ihrer verantwortlichen Gremien (Allgemeiner Pfarrkonvent und Allgemeine Kirchensynode) versucht, den Horizont der in ihr praktizierten Schriftauslegung zu beschreiben2. Sie tut das nicht in Form eines neuen Bekenntnissatzes oder eines neuen dogmatischen Topos de sacra scriptura, sondern als theologisch-hermeneutische Grundlagenreflexion. Das entstandene und angenommene Papier ist weder unanfechtbar, noch allzeit gültig – muss und will das aber auch nicht sein. Vielmehr wagt hier eine konfessionell-lutherisch bestimmte Kirche eine möglichst rechenschaftsfähige Ortsbestimmung über die eigene Bibelauslegung. Dabei soll es gelingen, an einem Verständnis der heiligen Schrift als „unfehlbarem“ Gotteswort und einziger Regel der kirchlichen Lehre festzuhalten und gleichzeitig der Falle einer biblizistischen oder fundamentalistischen Engführung zu entgehen.3 Das gültige Gotteswort soll auch in seinem geschichtlichen Gewordensein als von bestimmten Menschen unter bestimmten historischen Umständen verfasster und dann wiederum von bestimmten Menschen unter bestimmten geschichtlichen Umständen je und dann verstandener und ausgelegter Text wahrgenommen werden.4 Aus der Perspektive der wissenschaftlichen Exegese – hier des Alten Testaments – ist es besonders reizvoll, sich mit diesem Entwurf auseinanderzusetzen und hilfreiche Impulse aufzunehmen. Dabei fällt zunächst auf, dass das Stichwort 1 2 3
4
Vgl. Biblische Hermeneutik, hg. von der Kirchenleitung der SELK, Lutherische Orientierung 10, Hannover 2012. Zur Rezeption des Papieres vgl. Salzmann, LuThK 37 (2013), 63–74. Vgl. den Summarischen Begriff der Konkordienformel von 1577, BSLK, 767ff.; 833–839. Der Begriff „unfehlbar“ findet sich Biblische Hermeneutik, 5; dabei wird die Grundordnung der SELK aufgenommen (vgl. ebd., Anm. 1). Die BSLK verzichten auf Eigenschaftsbestimmungen der Schrift in Form von Adjektiven. Die Fülle der Eigenschaften, die der Bibel später zugeschrieben wurden, sind hier sinnvollerweise auf „unfehlbar“ reduziert. Dabei ist gemeint, dass Gott durch dieses Wort „in Geschichte und Gegenwart zu Menschen spricht, den rettenden Glauben an Jesus Christus wirkt und so Kirche baut“ (ebd.). Dieses Ziel verfehlt das biblische Gotteswort nicht. Eine a priori getroffenen Zuschreibung, nach der die Bibel in historischem oder naturwissenschaftlichem Sinne „fehlerfrei“ sei, führte notwendigerweise in Aporien. Dabei darf eben nicht die Bestimmung der Bibel als „Wort Gottes“ gegen ihren Charakter als geschichtlich gewordene Textsammlung ausgespielt werden. Das Verständnis des biblischen Wortlautes als Gotteswort beruht in jedem Fall auf einem Glaubenssatz. Aber dieses Gotteswort ist eben nicht anders als durch Menschen gesprochenes und geschriebenes zu haben.
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„Eine Jung(e)frau wird schwanger …“
Exegese kaum fällt. Vielmehr wird der Begriff „Auslegung“ promiscue gebraucht, sowohl für den Vorgang der „historischen Sinnbestimmung“5 biblischer Texte, als auch für Applikation biblischer Wortlaute in Verkündigung und kirchlicher Lehre.6 Einerseits ist in einer exegetischen Landschaft, in der die Verfasser des Papieres eine gewisse „Zerfaserung“7 wahrnehmen, die Erinnerung der theologischen Dimension der Exegese nötig, die man als bleibende Bezogenheit des Verstehens auf die Applikation bezeichnen könnte. Andererseits ist gerade um der Klarheit jeder Form von „Auslegung“ willen, die hermeneutischer Unterscheidung (nicht die Trennung!) von Exegese und Verkündigung nötig. Wer genau hinsieht, findet diese Unterscheidung in der „Biblischen Hermeneutik“ auch wieder: Das Papier spricht hier von „methodisch geleiteter Schriftauslegung.“8 Das Reizwort historischkritische Exegese wird vermieden. Wie jede Vermeidung ist auch diese hier bedauerlich und im Jahr 2012 auch in einer konfessionell bestimmten Lutherischen Kirche nicht mehr nötig. Stellt doch gerade eine solche hermeneutische Grundlagenreflexion den Raum dar, in der die historisch-kritische Exegese mit ihrem Recht und ihren Leistungen aber auch mit ihren Begrenzungen wahrgenommen werden kann. Der Sache nach zählt dann das Papier unter dem Stichwort Methodenvielfalt wesentliche Arbeitsschritte der historischen Exegese auf. Freilich bleiben Literarkritik und Redaktionsgeschichte vielleicht als besonders sensible Felder unerwähnt. Ohne das geht es aber nicht, wie die Forschung der letzten 250 Jahre auf dem Gebiet der Exegese gezeigt hat. Eine allzu diplomatische Sprachregelung ist in der Gefahr zu einer unklaren Beschreibung der Sache zu führen. Zugleich geht das Papier an dieser Stelle Schritte mit, die zur Zeit überall auf dem Gebiet des Verstehens von Texten gegangen werden, wenn es Begriffe wir kanonische Schriftauslegung oder kontextuelle Exegese aufgreift (und dabei weder die befreiungstheologische noch die feministische Exegese a priori verwirft) oder auch von linguistischer/strukturaler Analyse, Rezeptionsästhetik oder der Polyvalenz von Textsinn spricht.9 Alle diese Begriffe müssen freilich in der praktizierten Exegese mit Leben gefüllt werden. Dem Exegeten fällt bei der Lektüre des Papiers auf, dass hier Hermeneutik nicht in der ausgeübten Bibelauslegung erhoben oder erprobt wird. Das liegt wohl auch am Charakter des Papieres, das für Pfarrkonvente und Synoden unter keinen Umständen einen mehrbändigen Umfang annehmen darf. So sollen also hier einige Aspekte, die das Papier nennt, in der Textauslegung – die zuerst als historische Exegese betrieben wird – sozusagen erprobt werden.
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Vgl. Steck, Exegese, 3. Zur Unterscheidung von Verstehen und Applikation biblischer Texte, sowie der notwendigen Bezogenheit beider Aspekte aufeinander vgl. Achim Behrens, Exegese des Alten Testaments als theologische Disziplin, (in diesem Band). Biblische Hermeneutik, 8. Vgl. Biblische Hermeneutik, 10ff. Vgl. Biblische Hermeneutik, 12–24 und zur Vielfalt biblischer Hermeneutik insgesamt: Oeming, Biblische Hermeneutik. passim; Berg, Wort, passim.
Jungfrauengeburt und Immanuelszeichen
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2. Jungfrauengeburt und Immanuelszeichen Das Matthäusevangelium beginnt nach dem Stammbaum, der Josef als Nachkommen Davids ausweist, mit einer Geschichte, die eben diesen Josef zur Hauptfigur hat. Seine Verlobte ist schwanger, aber nicht von ihm. Als er daraufhin schon die Flucht ergreifen will, erscheint ihm ein Engel und klärt ihn auf, dass das Kind auf das Wirken des heiligen Geistes zurückgeht, also göttlicher Herkunft ist. Ihm, Josef kommt aber die Aufgabe zu, diesem Kind den Namen Jesus zu geben, „denn er wird sein Volk retten von ihren Sünden“ (Mt 1,21), womit zugleich eine Erläuterung des Namens Jeschua gegeben ist. Darauf folgt das erste Erfüllungszitat10 des Matthäusevangeliums. „Das ist aber alles geschehen, damit erfüllt würde, was der Herr durch den Propheten gesagt hat, der da spricht: ‚Siehe, eine Jungfrau wird schwanger sein und einen Sohn gebären, und sie werden ihm den Namen Immanuel geben‘, das heißt übersetzt: Gott mit uns.“ (Mt 1,22f. Luther 1984). Matthäus zitiert hier die LXX annähernd wörtlich, ändert aber die 2. P. Sg. καλέσεις in eine 3. P. Pl. καλέσουσιν. Diese Lesart fügt sich besser zum matthäischen Kontext, nach dem ja Josef das Kind „Jesus“ nennen soll (Mt 1,21). Erst „sie“ werden oder „man“ wird darin den jesajanischen Immanuel erkennen.11 So erweisen sich die Umstände der Geburt des Christus als Erfüllung eines jahrhundertealten Jesajawortes.12 Bis heute prägt diese Lesart die Auswahl der Lesungen zum Weihnachtsfest. Problematisch wird diese innerbiblische Intertextualität erst dann, wenn man auch den historischen und literarischen Kontext sowie den hebräischen Wortlaut von Jes 7 heranzieht.13 Denn dann wird fraglich, ob überhaupt von einer „Jungfrau“ die Rede ist oder ob das Immanuelszeichen im Jesajabuch nicht in etwas anderem besteht und ob in Jes 7 überhaupt eine Weissagung des Messias/Christus vorliegt.14 Diese Fragen sind schon sehr alt, wie die von LXX abweichenden antiken Überset10 11
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Zu dem Terminus vgl. Rothfuchs, Erfüllungszitate, passim (z.St. a.a.O., 57–60) und Luz, EKK I/1, 190–193. Hinter dem „sie“ verbergen sich dann wohl die Leserinnen und Leser des Matthäusevangeliums als Repräsentanten der christlichen Gemeinde; vgl. Luz, EKK I/1, 149f. und Rothfuchs, Erfüllungszitate, 60. So lässt sich Mt 1,22f. als ein „christologischer Midrasch“ zu Jes 7,14 lesen, vgl. Luz, EKK I/1, 142. Dazu Luz, EKK I/1, 152: „Die traditionelle Deutung auf den Messias Jesus ist aber als historische Exegese von Jes 7,14 unhaltbar. Mt 1,22f. stellt die Kirche paradigmatisch vor das Problem der Hermeneutik des Alten Testaments“. Interessanterweise macht Luz darauf aufmerksam, dass die jungfräuliche Geburt schon bei Matthäus einen „Nebenskopus“ zu dem eigentlich Verkündigungsinteresse des Evangelisten aufweist: „Am wichtigsten ist ihm, daß Jesus der Immanuel ist“ (Luz, EKK I/1, 151). Zugleich ist dabei die Bedeutung „Gott mit uns“ wichtig; denn mit der Zusage „ich bin bei euch alle Tage...“ (Mt 28,20) endet das Evangelium, so dass Gottes Mitsein in Christus eine inclusio um das Evangelium insgesamt darstellt (vgl. a.a.O., 150f. und bereits Rothfuchs, Erfüllungszitate, 59).
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„Eine Jung(e)frau wird schwanger …“
zungen Symmachus, Aquila und Theodotion zeigen.15 Durch die historische Exegese sind sie erst recht relevant geworden. Im vorliegenden Kontext ist zu fragen, welche Konsequenzen daraus zu ziehen sind, dass diese früher so selbstverständlichen kanonischen Bezugnahmen eines neutestamentlichen auf einen alttestamentlichen Text seit mindestens 150 Jahren vollends als spannungsvoll empfunden werden. Wie ist mit der Spannung umzugehen? Eine Möglichkeit wäre, mit wissenschaftlichem Anspruch dem Evangelisten ein Missverständnis zu unterstellen, das heute korrigiert werden muss. Die entgegengesetzte Alternative besteht darin, darauf zu beharren, dass in Jes 7,14 auch im Hebräischen Text genau das zu stehen habe, was Matthäus zitiert, und allen anderen Lesarten Unglaube oder Bösartigkeit zu unterstellen. Eine Lesart in der Perspektive der „Biblischen Hermeneutik“ eröffnet noch einen anderen Weg.
3. Exegese als „historische Sinnbestimmung“ von Jes 7,1– 17 16
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Und es geschah in den Tagen des Ahas, des Sohnes Jotams, des Sohnes Usijas, das Königs von Juda, da zogen Rezin, der König von Aram und Pekach, der Sohn Remaljas, der König von Israel nach Jerusalem, um gegen sie Krieg 17 18 zu führen, aber sie konnten sie nicht niederkämpfen. Und es wurde dem Haus Davids angesagt folgendermaßen: „Aram stützt sich auf Ephraim“; da zitterte sein Herz und das Herz seines Volkes, wie die Bäume des Waldes zittern vor dem Wind. Da sprach Jahwe zu Jesaja: Zieh doch hinaus, Ahas entgegen, du und dein Sohn Schear Jaschub, zum Ende des Kanals des oberen Teiches auf die Straße des Walkerfeldes. Und sage zu ihm: „Hüte dich, bleibe still! Fürchte dich nicht und dein Herz verzage nicht vor diesen beiden Stummeln von rauchenden Brandscheiten, vor der Zornesglut Rezins und Arams und des Sohnes Remaljas. Weil Aram gegen dich Böses beschlossen hat, Ephraim und der Sohn Remaljas folgendermaßen:
Alle drei übersetzen hier העלמהnicht mit παρθένος, sondern mit νεᾶνις. Zum Charakter dieser Übersetzungen, die vermutlich bereits eine jüdisch-theologische Auseinandersetzung mit dem christlichen Gebrauch der LXX voraussetzen, vgl. Fischer, Der Text des Alten Testamentes, 128– 133. Die Auslegungen zu Jes 7 sind Legion; Jes 7,14 gilt als einer der meistausgelegten Verse des AT; vgl. also nur zum Überblick: Duhm, HK III/1; Wildberger, BKAT X/1; Kaiser, ATD 17; Beuken, HThKAT; Schmid, ZBKAT 19.1; sowie: Blum, ZAW 108 (1996), 547–568 und ZAW 109 (1997), 12–29; Becker, Jesaja; Barthel, Prophetenwort und Geschichte; Barton, Jesaja. a Lies mit 1QJes und anderen Zeugen Plural. V. 1 ist eine nachträgliche redaktionelle Überschrift, die alles Folgende schon zusammenfassend präsentiert. Nur hier wird der König Israels mit seinem Namen Pekach genannt. Im Fortgang des Textes heißt er durchweg polemisch nur der Sohn Remaljas; vgl. schon Duhm, HK III/1, seither ist der redaktionelle Charakter dieses Verses sensus communis in der Auslegung.
Exegese als „historische Sinnbestimmung“ von Jes 7,1–17
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„Lasst uns nach Juda hinaufziehen und es in Schrecken versetzen und es für uns erstürmen und lasst uns als König in seiner Mitte einsetzen den Sohn Tabeals!“ So spricht der Herr Jahwe: Es wird nicht aufkommen und sich nicht ereignen. Denn das Haupt Arams ist Damaskus und das Haupt von Damaskus ist Rezin; und noch 65 Jahre, dann wird Ephraim zerschlagen, so dass es kein Volk 19 mehr ist. Und das Haupt Ephraims ist Samaria und das Haupt Samarias ist der Sohn Remaljas – wenn ihr nicht vertraut, dann habt ihr keinen Bestand.“ Und Jahwe fuhr fort, mit Ahas zu reden folgendermaßen: Erbitte Dir ein Zeichen von Jahwe, deinem Gott; das Tiefe erbitte, oder das Hohe von oben her. Aber Ahas sprach: „Ich will nichts bitten und ich will Jahwe nicht auf die Probe stellen.“ Er aber sprach: „Hört doch, Haus Davids; ist es zu wenig, dass ihr Menschen ermüdet, so dass ihr auch meinen Gott ermüdet?“ Deshalb wird mein Herr das für euch zum Zeichen geben: Siehe, die junge Frau ist schwanger und im Begriff einen Sohn zu gebären, und sie wird seinen Namen nennen: Immanuel [Mit uns ist Gott]. Rahm und Honig wird er essen; so dass (bis) er weiß, das Böse zu verwerfen 20 und das Gute zu erwählen. Denn ehe der Junge weiß, das Böse zu verwerfen und das Gute zu erwählen, wird der Ackerboden verlassen sein, vor dessen beiden Königen du Grauen empfindest. Jahwe wird über dich und über dein Volk und über dein Vaterhaus Tage bringen, die nicht gekommen sind, seit dem Tag, an dem Ephraim sich von Juda getrennt hat: nämlich den König von Assur.
In Jes 7,1–1721 liegt ein Fremdbericht über eine prophetische Verkündigung Jesajas an Ahas, den König von Juda, im konkreten geschichtlichen Kontext des syrischefraimitischen Krieges 734/33 v. Ch. vor.22 Dieser Fremdbericht ist Teil der Text19
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V. 8b unterbricht den Doppelspruch über Aram und Ephraim. Vermutlich liegt hier eine Glosse vor, die Israels Ende als Volk nicht mit dem Untergang Samarias 722 v. Ch., sondern erst mit der spätere Ansiedlung anderer Bevölkerungsteile durch Assurbanipal im zweiten Viertel des 8. Jh.s gekommen sah; vgl. schon Duhm, HK III/1, 73 f. und jetzt wieder Schmid, ZBKAT 19.1, 95. Auffällig ist, dass sich die Formulierung vom „Rahm und Honig essen“ nur hier und in Jes 7,22 findet. Dort wird die Speise bezeichnet, die der in allem Unheil übriggebliebene Rest Israels essen wird. Dies wird nun in V. 15 auch vom Immanuel gesagt, der damit wesentlicher Teil dieses „messianischen“ Restes wird, vgl. Schmid, ZBKAT 19.1, 97. Schon die Abgrenzung des Textes bedarf der Erklärung: Im vorliegenden Kontext beziehen sich sowohl Jes 7,1–9 als auch 7,10–17 auf die Situation des syrisch-efraimitischen Krieges. Manche Ausleger sehen aber in V. 10ff. eine später Fortschreibung (so vor allem Kaiser, ATD 17, 137). Andere möchten noch die Verse 18ff. im selben Zusammenhang wie V. 1–17 lesen (vgl. Beuken, Jesaja 1–12, 190). Dagegen sprechen m.E. die in den übrigen Kommentaren vorgebrachten formalen und inhaltlichen Hinweise auf eine Nachinterpretation. Zu neueren Sicht auf den sog. „syrisch-efraimitischen“ Krieg und seine Rolle für das Jesajabuch vgl. Beuken, Jesaja 1–12, 192f. und Barton, Jesaja, 26–29.
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„Eine Jung(e)frau wird schwanger …“
sammlung Jes 6–8, die als sog. „Jesaja-Denkschrift“ insgesamt auf den Kontext des syrisch-efraimitischen Krieges bezogen wird.23 Jes 6 und 8 sind prophetische IchBerichte: Es scheint also in jedem Fall eine redaktionelle Einheit vorzuliegen.24 Umstritten ist, ob der Text in zeitlicher Nähe zu den erzählten Ereignissen entstand und evtl. auf Jesaja selbst zurückgeht25, oder ob hier eine theologische Deutung aus viel späterer Zeit vorliegt, die das „Immanuelzeichen“ nachträglich historisiert26. Ich gehe hier davon aus, dass Jes 7,1–17* ursprünglich nur mit einem deutlichen Bezug auf die Situation des Jahres 733 v. Ch. zu verstehen ist. Der Text stammt vielleicht von einem Schüler Jesajas, worauf das Genre der Erzählung hinweist. In diesem Kontext muss zunächst nach der Bedeutung des Immanuelzeichens gefragt werden. Der Text hat einen ersten Höhepunkt in V. 9b: „Glaubt ihr nicht, so bleibt ihr nicht!“ V. 10 setzt neu ein und im folgenden wird der Unglaube des Ahas27, der zugleich Unglaube des Hauses David ist, unterstrichen: Ahas soll sich ein Zeichen von Gott fordern, das sein Gottvertrauen angesichts herannahender Feinde stärken könnte. Das lehnt er ab. Daraufhin schlägt die prophetische Verkündigung in ein Drohwort um: V. 13 schilt erst noch; V. 14 leitet dann mit Deshalb typisch die prophetische Drohung ein. Aus deinem Gott (V. 11) wird nun mein Gott (V. 13f.). Das Zeichen, das hier verheißen wird, bedeutet für Ahas nicht Heil, sondern Unheil. Worin besteht das Zeichen? Semantisch und syntaktisch ist im hebräischen Text eindeutig, dass es nicht um die Jungfräulichkeit geht. עלמהkommt im AT nur 8mal vor und heißt an keiner Stelle „Jungfrau“ mit der Zielrichtung auf biologische Jungfräulichkeit28 (dafür steht בתולה29). Syntaktisch liegt in Jes 7,14b ein Nominalsatz vor: הנה העלמה הרה, genauer: eine Nominale Mitteilung mit der Satzteilfolge „Subjekt“ (Mubtada) – „Prädikat“ (Chabar).30 Für diese Art von Nominalsätzen nach הנהlässt sich ganz klar ein Aussagegefälle bestimmen. Das Neue an der Aussage ist in diesem Satztyp immer im zweiten Glied, dem sog. Chabar, gegeben, während das erste Glied, das Mubtada, den bekannten Anknüpfungspunkt dar-
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Zur Denkschrift-Hypothese, die auf Karl Budde zurückzuführen ist, vgl. Becker, Jesaja, 21–24. Vgl. Becker, Jesaja, 23, dessen literarhistorischer Beurteilung von Jes 7* ich mich aber nicht anschließen kann. So z.B. Duhm, HK III/1, 70: „Ich halte demnach die Grundlage von c. 7,1–17 für jesajanisch“. Die meisten Ausleger folgen ihm darin bis heute. Vgl, Kaiser, ATD 17, 151f. und Becker, Jesaja, 59f. „Jes 7 schliesst [sic.!] zeitlich wie sachlich eng an Jes 6 an. Das Kapitel führt erzählerisch aus, wie der Verstockungsauftrag zunächst gegen das Königshaus wirksam wird“ (Schmid, ZBKAT 19.1, 93). Vgl. Gen 24,43; Ex 2,8; Spr 30,19; Hhld 1,3 (jeweils: Mädchen, junge Frauen). Die Stellen Ps 46,1; 68,26 und 1 Chr 15,20 bezeichnen mit dem Plural עלמותevtl. Instrumente oder eine Melodieangabe. Vgl. Ex 22,15; Ri 19,24; 21,12 u.ö. Hier wird jeweils auch offensichtlich Gewicht auf die Betonung der Jungfräulichkeit gelegt. Vgl. Michel, Grundlegung 2.
Die Bedeutung wächst
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stellt.31 Hier werden also die Schwangerschaft, die Geburt und die Namensgebung unterstrichen – nicht aber der Status der Mutter als עלמה. Im hebräischen Text wird nicht eine Jungfräulichkeit ausgesagt, oder gar betont. Hinzu kommt, dass die Geburt mit der Partizipialform ילדתausgedrückt wird. Die Kombination von הנהund Partizip steht aber im Hebräischen für das sog. futurum instans.32 Das, worauf der Prophet hinweist, steht unmittelbar bevor und geschieht nicht in einer fernen Zukunft. Das Zeichen besteht also in der Geburt eines Jungen, der den Bekenntnis- oder Vertrauensnamen Immanuel („Gott mit uns“) erhält. Für Ahas ist dies ein Unglückszeichen, das schon auf kommende Unglückstage (V. 17) vorausweist. Für diejenigen, die aber noch „Gott ist mit uns“ bekennen können (im Sinne von V. 9b), ist dies eine heilvolle Ankündigung. So schillert der Text zwischen Heilsansage und Drohwort, je nachdem, welche Zielgruppe ins Auge gefasst wird.33 Diesbezüglich ist der Text deutungsoffen. Dazu kommen aber weitere Offenheiten: Weder Mutter noch Kind werden namentlich genannt. Alle Spekulationen darüber, ob es sich um einen weiteren Sohn Jesajas handelt, ob der Thronfolger Hiskia gemeint ist, ob eine allegorische Deutung auf die „Jungfrau Zion“ vorliegt oder ob ein eschatologischer Heilskönig (Messias) gemeint ist, sind vom Text her nicht eindeutig zu beantworten34 – und bleiben gerade so als Möglichkeiten am Horizont. Die historisch-kritische Exegese stößt an Grenzen, kann aber solche Offenheiten und Deutungsmöglichkeiten benennen.
4. Die Bedeutung wächst Es wird zunehmend deutlich, dass Exegese als vornehmlich historische Sinnbestimmung begrenzt ist (in diesen Grenzen ist sie gleichwohl unerlässlich auch für die Theologie!35). Allein die Tatsache, dass der Text bis heute überliefert wurde, zeigt, dass er seine Bedeutung über den historischen Moment des syrisch-efraimitschen Krieges und den Kontext der Erstverschriftlichung hinaus entfaltet hat. Ein erster Schritt ist inneralttestamentlich das intertextuelle Bezugssystem der sog. messianischen Weissagungen. Zu diesen wird Jes 7 keineswegs immer ge-
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Zur Syntax von Jes 7,14 vgl. Michel, Grundlegung 2, 135. Vgl. Gesenius/Kautzsch, Hebräische Grammatik, 374f. (§ 116p). Wildberger, BKAT X/1, 299 formuliert, „daß das Immanuelzeichen ambivalente Bedeutung hat“. Vgl. zu den unterschiedlichen Deutungsversuchen Wildberger, BKAT X/1, 289ff. oder Kaiser, ATD 17, 155f. Vgl. Wenz, Theologie 1, 191: „Die Externität des Schriftwortes und dessen inhaltlich bestimmter eigener Sinn sind vielmehr ernst zu nehmen auch und gerade dann, wenn sie der subjektiven Selbstwahrnehmung als befremdlich erscheinen. Solch strikt geforderte Nichtbeliebigkeit der Schriftauslegung schließt die Kenntnis bestimmter Regeln der Texterschließung notwendig ein, die nicht nur die Syntax, sondern auch die Semantik und Pragmatik von Texten betreffen“ sowie Behrens, Exegese des Alten Testaments als theologische Disziplin (in diesem Band) passim.
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zählt36, da es ja ursprünglich nicht um einen zukünftigen Messias, sondern um ein Kind zur Zeit des Ahas geht. Dennoch bieten andere Texte, vor allem Jes 9; 11; Mi 5 oder Jer 23, Begriffe und Motive, die auf Jes 7 zurückverweisen und die Aussagen dort in neuem Licht erscheinen lassen.37 Dabei geht es niemals um Jungfräulichkeit, wohl aber um das geboren werden ( )ילדeines Kindes, und um einen, der für das herrschende Haus David zur Konkurrenz, für die anderen aber zum Garant der Gerechtigkeit wird. So gewinnt Jes 7 an Bedeutung durch die (Re)Kontextualisierung mit anderen Texten aus Jesaja, aber auch mit anderen prophetischen Texten, die schließlich durch weitere intertextuelle Verweise auf 2 Sam 7 oder Ps 2 der Vorstellung vom Königtum eine eschatologisch-messianische Perspektive geben. Die Kontexte ändern sich, aber die biblischen Wortlaute bleiben weder an ihrem historischen Entstehungsort haften, noch sind sie für spätere Generationen einfach erledigt, sondern entfalten neue Bedeutung oder ihre Bedeutung ganz neu. Hier bewahrheitet sich Reinhard G. Kratz’ Bemerkung, dass Redaktionsgeschichte innerbiblische Textauslegung sei.38 Dies ist ein erster Aspekt der Polyvalenz von Textsinn und eben auch eine Entfaltung des lutherischen Grundsatzes, dass die Schrift ihr eigener Interpret ist.
5. Die Septuaginta und das Matthäusevangelium Einen entscheidenden weiteren Schritt im Hinblick auf Jes 7 stellt die Übersetzung der LXX dar. Hier wird überdeutlich, dass jede Übersetzung notwendigerweise Interpretation ist. Der genauen Analyse von Martin Rösel folgend ist festzustellen, dass der Kontext des 3. Jhs. v. Ch. in Alexandrien das Verständnis der LXX prägt.39 So wird das Zeichen nun eindeutig zu einem Heilszeichen. Ahas hat dementsprechend auch Gott nicht ermüdet, sondern mir ihm gerungen (V. 13 LXX). Und hier wird nun aus der Mutter Immanuels eine παρθένος. Dabei ist auch im Griechischen prinzipiell noch nicht die Bedeutung „Jungfrau“ die einzig mögliche, hier aber wohl gemeint. Es mag sein, dass ein in Alexandrien gefeierter Kult für den Aion im Hintergrund steht, aber wie immer in der Bibel werden auch hier andere religionsgeschichtliche Vorstellungen usurpiert und gleichsam in das Glaubenshaus Israels eingebaut. Die LXX möchte verdeutlichen: Der kommende Immanuel – der in der Entstehungszeit der Übersetzung Hoffnungsträger für die Krisen der Makkabäerzeit ist – ist göttlichen Ursprungs. Weil aber zu dieser Verheißung in diesem Verständnis, soweit wir sehen, keine Erfüllung berichtet wird, bleibt der Text weiter offen.
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Vgl. z.B. Schmidt, Ohnmacht, der in seiner konsistenten Analyse der messianischen Weissagungen Jes 7 gerade nicht behandelt. Vgl. Behrens, Das Alte Testament verstehen, 77–85. Vgl. Kratz, Innerbiblische Exegese, 69: „Innerbiblische Exegese und die Redaktionsgeschichte der biblischen Bücher sind eins“. Vgl. zum Folgenden Rösel, Jungfrauengeburt, 135–152.
Polyvalenz und Rezeptionsästhetik
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Dies ist der Text, wie ihn der Evangelist Matthäus als seine Bibel vorfindet. Er stellt nun (mit kleinen, aber akzentuierten textlichen Veränderungen s.o.) diesen Wortlaut wiederum in einen neuen Kontext: Sein Evangelium, das Zeugnis von dem Davidsohn Jesus, der eigentlich als Christus der Gottessohn ist. Die Erfüllungszitate des Matthäus stellen diesen Christus in die Linie des Handelns Gottes mit Israel und der Welt, wie sie in „der Schrift“ beschrieben und verkündigt wird. Er macht damit unmissverständlich deutlich: Der Gott der in Christus Mensch wird, ist kein anderer als der Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs, der durch die Propheten geredet hat. Diese Einsicht ist für jede christliche Lesart des AT schlicht unaufgebbar.40 Mit dem Hinweis auf alte Verheißungen lässt sich allerdings im sachlogischen Sinne nichts „beweisen“, denn diese Verheißungen werden immer im Lichte der Erfüllung gelesen und ihre Anerkenntnis als Verheißung, die in Christus eine Erfüllung findet, ist ein Akt des Glaubens. Wohl aber lässt sich mit dem Nachzeichnen der Entfaltung der Polyvalenz von Textsinn anhand von Jes 7 ein Prozess erheben, der die Lesart des Matthäus einschließt. So lässt sich diese Lesart weder als Zeichen der Unwissenheit noch als Akt der bloßen Willkür des Evangelisten geißeln. Dass die matthäische Lesart nicht die einzig mögliche im Hinblick auf Jes 7,14 ist, zeigen auch die Übersetzungen, Symmachus, Theodotion und Aquila, die eben nicht „Jungfrau“, sondern Mädchen übersetzen. Sie dürften dafür aber selbst wohl von Matthäus angestoßen worden sein.
6. Polyvalenz und Rezeptionsästhetik Aus dem Gesagten kann vor dem Hintergrund der Thematisierung von Polyvalenz von Textsinn und der Bedeutung der Rezeptionsästhetik41 im Papier Biblische Hermeneutik folgendes thetisch zusammengefasst werden: – Biblische Texte erschöpfen sich nicht in einem einzigen Ursprungssinn, sondern werden (re)interpretiert, in einen neuen Kontext gestellt, neu ausgelegt und fangen so in neuen Situationen neu zu reden an. – Die Rezeption ist bei der Konstituierung von Textsinn mitbeteiligt (dies ist als Beschreibung des Unvermeidlichen, nicht als methodische Forderung zu verstehen).
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Vgl. als anders akzentuierte Nachzeichnung des hier in Rede stehenden theologischen Reflexionsprozesses Gese, Natus ex virgine, 73–89. Vgl. zur Rezeptionsästhetik als literaturtheoretischem Phänomen z.B. Jauß, Literaturgeschichte; Iser, Appellstruktur; Warning, Rezeptionsästhetik; vgl. zur Reflexion des Phänomens in Theologie 4 und Exegese: Steinmann/Schüle/Rösel/Luz/Köpf, RGG 8, 1596–1606; Grohmann/MacLean/Schmitz/Sauter, LBH, 478–481; Grohmann/Meiser/Wischmeyer/Danz/Pollmann/Sauter, LBH, 499–505; Diekmann,Rezptionsästhetik; Körtner, Einführung in theologische Hermeneutik; Barnbrock, LuThK 21 (2007), 105–127.
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Texte stehen in einer Rezeptionsgeschichte (H. R. Jauß): Jes 7,14 BHS → LXX (andere griechische Übersetzungen anders!) → Mt 1,22f. → Credo → christliche Rezeption42... Texte selbst bieten für eine Wirkungsgeschichte sog. „Unbestimmtheiten“ oder „Leerstellen“ an (Immanuel und seine Mutter bleiben im Ursprungstext unidentifiziert). Texte haben einen Appellcharakter (W. Iser), weisen über sich hinaus in die Leserschaft; z.B. Jes 7,9: „Ihr“ (Haus Davids) wird zur Anrede an die Leserschaft; „Glaube“ ist noch viel mehr als Gottvertrauen des Königs im Jahr 733 v.Ch. Polyvalenz heißt aber auch, wir müssen mit dem spannungsreichen (manchmal auch gegensätzlichen) Nebeneinander unterschiedlicher „Textsinne“ leben: Mt 1,23 darf nicht gegen Jes 7,14 ausgespielt werden. Weder ist Mt 1,23 einfach ein „Missverständnis“ von Jes 7,14, noch muss Jes 7,14 „immer schon“ auf Jesus von Nazareth hinweisen. Vielmehr ist erkennbar, dass Mt 1,23 eine Linie der Wirkungsgeschichte von Jes 7,14 aufgreift, die vielleicht schon redaktionsgeschichtlich im hebräischen Text, auf jeden Fall aber in der LXX zu greifen ist. Ist jede im Rezeptionsprozess aufkommende Deutung eines Textes gleich gültig? Wer bewahrt uns vor „Deutungsanarchie“? Hier ist der Ort, an dem die historische Exegese ihre entscheidende theologische Funktion hat: Der Text steht extra nos mit seinem Sinn gegen unsere Vereinnahmung. In neuen Kontexten ergeben sich dann ziemlich viele Deutungsmöglichkeiten, die sind aber nicht grenzenlos. Die Rezeptionsästhetik setzt gegen die Deutungsanarchie die Rezeptionsgemeinschaft: Verstehen geschieht nicht solipsistisch, sondern immer in einer Gemeinschaft. Dies ist im Hinblick auf die Bibel die Kirche (oder die Christenheit) sein. Angesichts der unterschiedlichen Deutungsmöglichkeiten in den Kirchen und angesichts der konfessionellen Vielfalt ergibt sich aber: Die Rezeption biblischer Texte im Rahmen der „Rezeptionsgemeinschaft Kirche“ geschieht immer im Diskurs und nie aufgrund der Setzungen einer kirchlich-institutionellen Interpretationsinstanz („Lehramt“). Dabei ist der kirchliche Lehrbildungsprozess, insbesondere die Bekenntnisse als norma normata zu berücksichtigen. Im Gespräch mit der norma normans ergibt sich hier aber ein hermeneutischer Zirkel, der seit 1577 (FC 1) immer noch nicht klar beschrieben ist.
Dass dabei gerade Texte der Hebräischen Bibel im Judentum u.U. völlig anders rezipiert werden, ist aus christlicher Sicht als heilsame Herausforderung der eigenen Interpretationen stets und immer deutlicher mitzudenken.
Fazit
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Dabei ist auf die Selbstbewahrheitung („verificatio“) aufgrund des Wirkens des heiligen Geistes („testimonium spiritus sancti internum“) zu vertrauen. Das ist ein Glaubensakt und methodisch nicht herstellbar. Diese Art der Hermeneutik bleibt immer ein Wagnis und taugt nicht als „Zaun“ gegen alle interpretatorische Unsicherheit. Vielmehr eröffnet sie eine große Freiheit im Hören auf das Wort des einen Gottes.
7. Fazit Christen lesen Jes 7,14 im Horizont von Mt 1,23. Aufgrund nachvollziehbarer exegetischer Einsichten kann Jes 7,14 nicht ausschließlich auf die Interpretation von Mt 1,23 festgelegt werden. Aufgrund nachvollziehbarer exegetischer Einsichten liegt Mt 1,23 auf einer wirkungsgeschichtlichen Linie, die bereits im AT (LXX) beginnt. Die Wahrnehmung der Polyvalenz biblischer Texte bewahrt uns vor einem falschen Entweder-oder, sondern eröffnet eine Perspektive, die eine historische Lesart von Jes 7 gelten lassen kann und doch zeigt, dass sich in der Linie der Entfaltung von Bedeutung mit diesem Text auch getrost Weihnachten feiern lässt.43
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Zur Auseinandersetzung mit diesem Text vgl. Krieser, LuThK 38 (2014), 37–49 und Behrens, LuThK 38 (2014) 50–54.
Habakuk 2,1–4 und die Treue zur Offenbarung 1. Einstimmung Es ist keineswegs so, dass Grammatik und Theologie zwei verschiedene Paar Schuhe sind. Vielmehr stellt die Grammatik (um das Bild noch ein wenig auszureizen) die dicken Socken zur Verfügung, die dafür sorgen, dass sich die Theologen in ihren glänzenden Stiefeln keine Blasen laufen, sondern tatsächlich eine größere Wegstrecke zurücklegen können. Immerhin verdankt sich Martin Luthers reformatorischer Durchbruch im Verständnis dessen, was „Gerechtigkeit Gottes“ bedeutet, nach seinem eigenen Zeugnis auch einer bestimmten Sicht der grammatischen Form des Genitivs δικαιοσύνη θεοῦ (Röm 1,17). Paulus selbst zitiert in diesem Vers Hab 2,4b, um „Gerechtigkeit aus dem Glauben“ zu illustrieren. Allerdings bietet Paulus weder eine einhundertprozentige Wiedergabe der Septuaginta, noch übersetzt er den Masoretischen Text eins zu eins. Sprachliche Feinheiten werden theologisch relevant. Davon wird unten noch zu reden sein. Man kann weite Teile der Theologiegeschichte als Geschichte der Auslegung bestimmter biblischer Texte verstehen. Oft sind es nur recht kurze Abschnitte oder gar einzelne Verse, für die ein bestimmtes Verständnis oder eine ganz spezielle Auslegung prägend und dann auch außerhalb des engeren biblischen Kontextes wirksam geworden ist. Die verantwortliche Exegese hat diese Verstehensmöglichkeiten und Auslegungen immer wieder einer kritischen Revision zu unterziehen. Dabei kann es nicht nur darum gehen, einen einzigen, vermeintlich „ursprünglichen“ und damit „richtigen“ Sinn eines Textes zu erheben; wenn auch durch das Beschreiben des historisch ursprünglichen Textverständnisses die theologische Eigenleistung späterer Interpreten als solche zu erkennen und zu würdigen ist. Gelegentlich steht die Exegese mit ihren Erkenntnissen dann staunend auch vor solchen Interpretationen biblischer Texte, die Kirchen- und Theologiegeschichte geschrieben haben; zuweilen ist dann Einspruch gegen solche Auslegungen zu erheben. Insgesamt aber ist ein gewisses Spektrum von Verstehensmöglichkeiten keineswegs ein Hinweis auf mangelnde Eindeutigkeit des biblischen Wortlautes, die als defizitär zu werten wäre, sondern Zeichen der bleibenden Aktualität und der Leben schaffenden und gestaltenden Kraft des Wortes Gottes. Volker Stolle hat sich vielfach, zuletzt mit seiner Monographie über Luther und Paulus, an der Reflexion dieser Interpretationsgeschichte der heiligen Schrift beteiligt.1 Damit hat er der theologischen Öffentlichkeit einen gewichtigen Gesprächsbeitrag geliefert, der vielfach Widerhall gefunden hat. Der Sache entsprechend richtet sich Stolles Augenmerk vor allem auf das Neue Testament, in erster Linie auf Paulus. Aber selbstverständlich eröffnet die Aufnahme alttestamentlicher Texte 1
Vgl. Stolle, Luther und Paulus..
Habakuk 2,1–4
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durch Paulus einen noch weiteren Interpretations- und Verstehenshorizont.2 Volker Stolle hat im Gespräch angedeutet, dass der Blick der alttestamentlichen Exegese auf Hab 2,1–4 für ihn von besonderem Interesse wäre, ohne dass die einschlägige Literatur hier schon alle Fragen beantwortet (oder nur gestellt) hätte. So möchten die folgenden Überlegungen zu Hab 2,1–4 nicht nur dem Lehrer, Freund und Kollegen eine Freude bereiten, sondern vor allem auch in den theologisch-exegetischen Diskurs eintreten, der Volker Stolle so wichtig ist und den er selbst stets mit Leidenschaft führt.
2. Habakuk 2,1–4 Der Fokus dieser Untersuchung richtet sich auf Hab 2,4b, einen Satz, den Paulus zweimal zitiert (Röm 1,17; Gal 3,11), um damit seiner Erkenntnis von der Gerechtigkeit aus Glauben eine schriftgemäße Stimme zu verleihen. Noch einmal soll hier der Versuch gemacht werden, der scheinbar leicht zu übersetzenden, aber in ihrem Kontext keinesfalls leicht verständlichen Formulierung וצדיֹק באמונתו יחיהauf die Spur zu kommen. Was bedeuten im Zusammenhang des Buches Habakuk die Begriffe, die wir mit „Gerechter“, „durch seinen Glauben“ und „er wird leben“ wiedergeben? Der Antwort auf diese Frage wird man sich nur nähern können, wenn das unmittelbare textliche Umfeld dieses Halbverses erhellt werden kann. Dies wird schon dadurch erschwert, dass V. 4a in der Masoretischen Textgestalt als unübersetzbar gilt. Dennoch erschließt sich die Bedeutung (zumindest von V. 4b), wenn man den Vers als Zielpunkt von Hab 2,1–4 im Sinne einer konsistenten „kleinen Einheit“ mit einer bestimmten Funktion im Habakukbuch versteht. Des Weiteren wird auch eine neuere syntaktische Analyse von V. 3 weiterhelfen, den Gesamtsinn von V. 1–4 zu verdeutlichen.
2.1 Hab 2,1–4 im Habakukbuch 3 Über den Propheten Habakuk ist nichts bekannt außer dem Namen, der wohl auf eine babylonische Pflanzenbezeichnung zurückgeht und in den drei Kapiteln des Buches zweimal begegnet (1,1; 3,1). Wie oft in den prophetischen Büchern des AT tritt der Bote ganz hinter seiner Botschaft zurück. Die Überschrift 1,1 mit den Gattungsbezeichnungen „Spruch/Last“ ( )המשׂאund „Offenbarung/Schauung“ (1,1: ;חזהvgl. 2,2: )חזוןist eine typische Eröffnung (vgl. Nah 1,1 u.ö.) und stammt wohl aus der Zeit der Sammlung prophetischer Bücher, geht mithin nicht auf einen histo2
3
Vgl. Behrens, Gen 15,6 (in diesem Band). Dieser Aufsatz geht auf den Besuch des Verf. bei einem neutestamentlichen Hauptseminar im Sommersemester 1994 an der LThH Oberursel zurück, das von Volker Stolle zum Thema „Der Schriftgebrauch bei Paulus“ gehalten wurde. 4 Zu den Einleitungsfragen vgl. Otto, TRE 14, 300–306; ders., RGG 3, 1360–1362; Kaiser, Einleitung, 243–246; Zenger, Einleitung, 563–566; Rudolph, KAT XIII/3, 193–198; Seybold, ZBK.AT 24/2, Zürich 1991, 43–52; Andersen, AncB 25, 11–27; Perlitt, ATD 25/1, 41–43.
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Habakuk 2,1–4 und die Treue zur Offenbarung
rischen Habakuk zurück. Gleichwohl vermutet Klaus Seybold in den in 2,2 erwähnten „Tafeln“ ein ältestes, von Habakuk selbst verfasstes Dokument, das den Grundstock des Buches gebildet haben könnte.4 Allerdings ist nicht mehr zu erhellen, welchen Text diese Tafeln genau beinhaltet haben könnten.5 Dies und die hier gebotenen Überlegungen zur Funktion von Hab 2,1–4 raten zur Vorsicht gegenüber einer direkten „biographischen“ Interpretation des Textes. Generell gilt, dass sich wohl sprachliche und theologische Eigenarten einzelner prophetischer Bücher und Buchteile ausmachen lassen, dass es aber den Verfassern in den seltensten Fällen um ihre eigene Person ging. Die Worte, die verkündigt und gesammelt werden, beanspruchen auch Relevanz lange nach dem Tod des Propheten und unabhängig von seiner Biographie. Für Habakuk gilt wie für die meisten seiner Prophetenkollegen: Für gesicherte Angaben zur Person ist die Textbasis zu schmal und zu unergiebig. Als so gut wie sicher kann dagegen gelten, dass das Buch Habakuk in der vor6 liegenden Gestalt Produkt eines Sammlungs- und Redaktionsprozesses ist. Es hat damit Teil an der Geschichte aller alttestamentlichen Prophetenbücher. Von der Sammlung einzelner Sprüche, über die Komposition zu einem Buch und dessen Eingliederung ins Dodekapropheton bis hin zur Einfügung in den Kanonteil Nebi’im ist an diesen Schriften immer wieder gefeilt und planvoll gearbeitet worden. Dieser Prozess kann als Zeichen der bleibenden Wertschätzung und der erkannten Aktualität des Gotteswortes gelten und lässt sich eben auch im Buch Habakuk greifen. Deutlich sind verschiedene Texteinheiten voneinander abzuheben. Das Kapitel 3 stellt einen Psalm dar, der deutlich liturgisch geprägt ist (vgl. nur das SELA in 3,3.9 oder die musikalische Anweisung in V. 19). Deutlich erkennbar ist sodann in Hab 2,6–20 eine Sammlung von Wehe-Worten, die soziale Vergehen, Kriegsverbrechen, Umweltsünden und Götzendienst beklagen. Als Adressaten können hier teils die Volksgenossen des Propheten, teils aber auch der Anführer einer dominanten Großmacht verstanden werden. Der Leser wird dabei an die Neubabylonier denken, denn diese werden als verheerende Kriegsmacht in 1,5–11 angekündigt. Die Volksbezeichnung „Chaldäer“ (V. 6: )הכשׂדיםwird ausschließlich für die Neubabylonier gebraucht, die zwischen 620 und 538 v. Ch. den vorderen Orient beherrschten. Von daher wird Habakuk zumeist für einen Zeitgenossen 7 (gelegentlich Vorläufer) Jeremias gehalten , der im ausgehenden 7. Jh. in Jerusalem aufgetreten ist. Nicht ganz klar ist, wie sich die Klage in 1,12–13 und das Gleichnis vom Fischfang ab 1,14 zum vorangegangenen Text verhalten.8 Klaus 4
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„Auf jeden Fall bilden jene, vom Propheten selbst beschrifteten und aufgestellten Tafeln den Ausgangspunkt der prophetischen Überlieferung“ (Seybold, ZBK 24/2, 44f.). Dass dies nicht „auf jeden Fall“ so gewesen sein muss, werden die folgenden Ausführungen zeigen. Vgl. Seybold, ZBK 24/2, 45; Perlitt, ATD 25/1, 64. Zu den verschiedenen Modellen einer Entstehung des Buches vgl. die für die Einleitungsfragen relevante Literatur, siehe Anm. 3. Vgl. Kaiser, Einleitung, 246. Der jetzt vorliegende Gesamtzusammenhang des Buches wird gelegentlich als „prophetische Liturgie“ gedeutet, bestehend aus den Teilen: Hab 1,2–4: erste Klage des Propheten; 1,5–11: ers-
Habakuk 2,1–4
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Seybold vermutet in 1,12 eine Formulierung aus dem Klagepsalm eines unschuldig Angeklagten, der allerdings aus weit verstreuten Textteilen in Hab 1f. erst zusammengebastelt werden muss.9 Hab 2,4b soll dann das abschließende Urteil bilden: Der Gerechte soll leben! Dieser Freispruch wäre dann aus Hab 2,1–4 herauszulösen. Ähnlich sehen das diejenigen Ausleger, die in Hab 2,4 eine mehr oder weniger vom Kontext unabhängige weisheitliche Sentenz sehen.10 Im Gegensatz zu dem, dessen „Seele“ in ihm „nicht rechtschaffen“ ist (vgl. V. 4aβ), wird der Gerechte durch seine Treue leben. Dies gilt aber ganz allgemein, unabhängig vom literarischen Zusammenhang des Habakukbuches. Wie aber kann der Vers in seinem unmittelbaren Kontext verstanden werden?
2.2 Hab 2,1–4 als zusammenhängende kleine Einheit „Verses 2aB-5 […] seem to be disorganized and it is hard to find any coherent structure or continuous thematic development. […] It is no wonder that many commentators have given up to search for coherence and have explained the passage as a gathering place for bits and pieces“11, so fasst Francis I. Andersen einen Teil der Forschermeinungen zu Hab 2,1(2)–4(5) zusammen. Hier dagegen wird davon ausgegangen, dass Hab 2,1-4 einen in sich einheitlichen Text darstellt, der einen konsistenten Gedankengang entfaltet. V. 1 stellt mit der adhortativen Verbform „( אעמדהich will mich hinstellen“) gegenüber Hab 1,17 einen deutlichen Neueinsatz dar. Zugleich wird damit das Folgende unter die Perspektive der ersten Person Sg. gestellt. Dies geschieht so eindeutig vor Hab 3 nur in Hab 1,2–4 und 2,1ff. Diese Perspektive wird auch in V. 2 beibehalten, obwohl das grammatische Subjekt in die 3. Pers. Sg. wechselt. Angeredet bleibt mit „( ויענניso antwortete er mir“) das Ich aus V. 1. Die Konjunktion כיschließt V. 3 deutlich an das Vorhergehende an. Hier wird die Begründung für den Schreibbefehl in V. 2 gegeben. Der Aufmerksamkeitserreger „( הנהsiehe“) hebt zu Beginn von V. 4 betont die Schlussfolgerung aus V. 1– 3 hervor. V. 5 ist schwer verständlich und daher in seinem ersten Teil häufig das Opfer von Konkjekturvorschlägen geworden. Er fügt V. 1–4 keinen Gedanken hinzu, sondern kann wohl mit Lothar Perlitt als eine Art Bücken- oder Übergangsvers zu den Weherufen in 2,6ff. verstanden werden.12
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Antwort Jahwes; 1,12-17: zweite Klage des Propheten; 2,1–5(6–20): zweite Antwort Jahwes; 3: Psalm, vgl. Andersen, AncB 25,15. Unter Rückgriff auf H. Schmidt formuliert Seybold: „Verfolgt man die angedeutet Linie weiter, kommt man zu dem Ergebnis, jener buchbegleitende Psalmtext sei in den Versen 1,2–4.12–13; 2,1*.4.20; 3,7*.8*.13b–14.17–19 zu finden, ein individueller Klage- und Dankpsalm, das Gebet eines Angeklagten und Freigesprochenen, wie sie der Psalter verschiedentlich kennt“ (Seybold, ZBK 24/2, 44). Vgl. Perlitt, ATD 25/1, 65. Andersen, AncB 25, 220f. Vgl. Perlitt, ATD 25/1, 67f. („Zwischen-Satz“).
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Habakuk 2,1–4 und die Treue zur Offenbarung
Aus der Tatsache, dass Hab 2,1-4 aus der Perspektive der 1. Pers. Sg. verfasst wurde, kann nicht ohne weiteres gefolgert werden, dass es sich hierbei um einen autobiographischen Text handelt13, der auf den Propheten selbst zurückgeht und damit sicher in das ausgehende 7. Jh. zu datieren wäre. Vielmehr gehört die Perspektive des Ich-Erzählers bei einigen prophetischen Redeformen zu den konstitutiven formalen Merkmalen. Auch bei den prophetischen Visionsschilderungen ist die Perspektive der 1. Sg. eine konstitutive sprachliche Eigenart.14 Nun wird auch Hab 2,1ff. in der exegetischen Literatur häufig als „Vision“ bezeichnet.15 Allerdings wird dieser Terminus eher unspezifisch gebraucht, und Hab 2,1-4 wird nicht aufgrund einer Textsortenanalyse, sondern wegen der Verwendung des Terminus חזון („Schauung“) zu den Visionen gezählt. Dieser Begriff oder auch die Wurzel חזהsind aber gerade nicht Formmerkmale der Textsorte Visionsschilderung.16 Andererseits finden sich die konstitutiven sprachlichen Eigenarten dieser Gattung, wie eine Eröffnung mit ראה, eine Zweiteilung in eine Schilderung der Schau und einen Visionsteil oder die Schilderung der Schau durch einen mit והנהeingeleiteten Nominalsatz in Hab 2,1-4 gerade nicht. Offenbar erschließt sich ein Verständnis von Hab 2,1-4 nicht primär über die Zuordnung des Textes zu einer bestimmten Textsorte. Inhaltliche und sprachliche Beobachtungen können hier weiter helfen.
2.3 Inhaltliche und sprachliche Beobachtungen zu Hab 2,1–4 V. 1: „Auf meinen Wachtposten will ich mich hinstellen und will hintreten auf den Wall und will ausspähen, um zu sehen, was er mir antworten wird und was ‚er’17 erwidern wird auf meine Beschwerde.“ – Der chiastische Aufbau von V. 1a deutet eine Neueinsatz gegenüber dem vorangehenden Text an. Die Frage nach den geographischen Gegebenheiten des „Wachtpostens“ oder des „Walls“ kann hier auf sich beruhen, ebenso wie Spekulationen darüber, in welchen psychischen Zuständen der Prophet bewusst „ausspäht“.18 Bemerkenswert ist die bewusste Ausrichtung auf einen Offenbarungsempfang, die in den alttestamentlichen Prophetenbüchern 13 14 15 16 17
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Vgl. in diesem Sinne Andersen, AncB 25, 194. Vgl. Behrens, Prophetische Visionsschilderungen, 37ff. Vgl. Rudolph, KAT XIII/3, 193 oder die Überschriften bei Seybold, ZBK 24/2, 63: „Niederschrift der Vision“ und bei Perlitt, ATD 25/2, 61: „Schauung und Tröstung“. Vgl. Behrens, Prophetische Visionsschilderungen, 38f. und 331 mit Anm. 53. Handelt es sich bei V. 1bα und bβ um synonyme Aussagen, so ist hier mit der Syriaca und den meisten Auslegern die dritte Person zu lesen. Will man beim Masoretischen Text beleiben, muss man übersetzten: „und was ich gegen meine Zurechtweisung erwidern soll.“ Ungewöhnlich ist hier in jedem Fall die Vokabel „ תוכחתיmeine Zurechtweisung.“ Der Terminus begegnet häufig in Spr und bezeichnet dort z.B. das unterweisende Handeln von „Frau Weisheit“ (vgl. Spr 1,23.25.30). Hier in Hab 2,1 müsste man die suffigierte Form dann deuten als „die an mir geschehene Zurechtweisung“ für die der Prophet eine Erwiderung oder Begründung bei Jahwe sucht. Für ein solches Verständnis von תוכחתיgibt es allerdings im AT keine Parallele – ebenso wenig wie für die hier üblicherweise angenommene Bedeutung „mein Einspruch.“ Für die ältere Forschung ist in diesem Sinne typisch: Haller, SAT II/3, 218.
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selten geschildert wird, hier aber durch die adhortativen Verbformen unterstrichen ist.19 Dem korrespondiert, dass hier das prophetische Ich expliziert wird, was ebenfalls nicht häufig in der prophetischen Literatur vorkommt. Im Habakukbuch hat dies die nächste Parallele in 1,2–4 (wenn man einmal von Hab 3 als Text ganz eigner Art absieht). Dort, in Hab 1,2–4 ist auch inhaltlich näher ausgeführt, was der Prophet Gott gegenüber als „Beschwerde“ vorzubringen hat, auch wenn im vorliegenden Gesamtzusammenhang des Buches auch daran zu denken ist, dass Hab 2,1 auf 1,12ff. zurückgreift, sodass sich die Beschwerde auf die Gefahr des Chaldäersturms für Juda richten könnte. Aber die Besonderheit der deutlichen „Ich-Rede“ rückt doch 2,1–4 und 1,2–4 in einen engeren Zusammenhang.20 Dort beklagte der Prophet, dass תורהund משׁפטin eine Krise geraten sind, so dass es dem Frevler ( )רשׁעgut geht, während der Gerechte ( )הצדיֹקleiden muss (vgl. Hab 1,4).21 Und Jahwe schweigt dazu (vgl. Hab 1,2)! Es deutet sich als Problem an: Recht und Gesetz tragen nicht, obwohl sie doch durch Gott garantiert sein sollten; sei es, weil es dem Gottlosen besser geht als dem Gerechten, sei es im weiteren Kontext, dass das Volk, das doch Gottes Weisung ( )תורהhat, doch vom Sturm der wilden „Chaldäer“ bedroht ist. Der, der nach Gott fragt, will wissen, wie es weiter geht. Was trägt? V. 2: „Und Jahwe antwortete und sprach: Schreibe die Offenbarung22 auf und lege sie deutlich auf Tafeln dar, damit man laufen und sie vorlesen kann.“ – V. 2aα knüpft deutlich an V. 1 an. Der Prophet erhält seine Antwort. Diese besteht in dem Befehl כתוב חזון. Gemeint ist dabei wohl nicht, dass der Prophet das Wort חזוןaufschreiben soll, sondern dass er „die Offenbarung niederschreiben“ muss. Lange rätselte die Exegese, welchen Inhalt denn dieser חזוןhaben könnte, was also konkret auf den Tafeln deutlich dargelegt werden soll. Trotz mancherlei Erklärungsversuche geht dies nicht wirklich Hab 2,2 hervor. Festzuhalten bleibt zunächst: Hier wird ein Prophet zum Schreiben aufgefordert, nicht zuerst zur mündlichen Verkündigung, auch wenn das Geschriebene später gelesen werden soll.23 Die Frage, wa-
19
20 21 22 23
Vgl. als eine bewusste Vorbereitung des Offenbarungsempfanges durch Fasten Dan 10,1–4. 4 Deshalb aber in Hab 2,1ff. auf „kultisch verorteten Wortempfang“ (Otto, RGG 3, 1360) zu schließen, überfordert den Text. Zur kritischen Auseinandersetzung mit der These, Habakuk sei ein „Kultprophet“ gewesen, vgl. Rudolph, KAT XIII/3, 193f. Vgl. Andersen, AncB 25, 193, der in Hab 1,3f. den Bezugspunkt für 2,1 sieht. Vgl. Gunneweg, ZAW 98 (1986), 400–415, der den Konflikt zwischen dem „Frevler“ und dem „Gerechten“ als das eigentliche Thema des Buches Habakuk ansieht. Zur Übersetzung von חזוןmit „Offenbarung“ vgl. schon Rudolph, KAT XIII/3, 211. Dass das Niederschreiben und damit die dauerhafte Lesbarkeit der prophetischen Verkündigung ausdrücklich thematisiert werden, ist in der prophetischen Literatur des AT eher selten. In Jes 8,16 ist davon die Rede, der Prophet würde die Botschaft Offenbarung versiegeln und in seinen Jüngern verschließen. Hier ist offenbar an die sog. Denkschrift Jesajas in Kap. 6-8 gedacht, worin die Verkündigung niedergeschrieben wird, als öffentliches Predigen nicht möglich ist. Ähnlich verhält es sich in Jer 36, wo der Prophet seine Worte niederschreiben und verlesen lässt, weil der König als Adressat ihn selbst nicht mehr hören will. In Jer 1 und Ez 2 finden sich jeweils relativ spä-
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rum hier geschrieben werden soll und was der Nutzen eines geschriebenen חזוןist, lässt sich mit einem Blick auf V. 3 einer Antwort zuführen. Zunächst noch eingenauer Blick auf V. 2aγ: „ ובאר על־הלחותund lege sie deutlich auf Tafeln dar…“ Das Verb „ בארverdeutlichen/erklären“ begegnet im gesamten AT nur noch in Dtn 1,5; 27,8 als Terminus der Gesetzespromulgation. Objekt von בארist dort ( התורהDtn 1,5), bzw. ( כל־דברי התורה הזאתDtn 27,8). Dazu fügt sich, dass das Nomen „ לוחTafel“ in der überwiegenden Zahl seiner Vorkommen im AT die Gesetzestafeln bezeichnet.24 Vor diesem Hintergrund verdient Dtn 27,8 als Parallele zu Hab 2,2 besondere Beachtung: וכתבת על־האבנים את־כל־דברי התורה „ הזאת באר היטבSchreibe auf die Steine alle Worte dieser Tora deutlich und klar.“ Angesichts eines solchen Vorstellungshintergrundes von Hab 2,2 erübrigen sich m.E. alle Erwägungen darüber, ob es sich bei den Tafeln, die hier genannt werden, um Schau- oder Plakattafeln gehandelt haben könnte, die der Prophet öffentlich aufgestellt habe, um seine Worte bekannt zu machen.25 Vielmehr legt die Terminologie nahe, dass die „Tafeln“, die hier den prophetischen חזוןdarbieten einen bewussten Kontrast zu den steinernen Tafeln der „Weisung“ ( התורהvgl. Hab 1,426) darstellen.27 Mit Wilhelm Vischer lässt sich formulieren: „Die Prophetentafeln sind das ergänzende Gegenstück zu den Tafeln vom Sinai.“28 V. 3: „Denn noch gibt es eine Offenbarung bis zum festgesetzten Zeitpunkt, und sie redet bis zum Ende und lügt nicht; wenn sie sich verzögert, dann harre darauf, denn sie kommt ganz gewiss und bleibt nicht aus.“ – Der Vers thematisiert die Dauer, die Tätigkeit und die Zuverlässigkeit des חזון, der nach V. 2 aufgeschrieben werden soll. Die Ausführungen beginnen mit einem Nominalsatz, der durch כיeingeleitet wird: כי עוד חזון למועדDabei handelt es sich nach der Nominalsatzgrammatik von Diethelm Michel um eine Nominale Mitteilung, mit der nach כיüblichen Satzteilfolge Chabar – Mubtada.29 Der Nominalsatz besteht also aus einem indeterminierten und einem determinierten Glied30, wobei das indeterminierte Glied, das Michel in Anlehnung an die Arabischen Nationalgrammatiker „Chabar“ (arab.: das Neue) nennt,
24 25 26
27 28 29 30
te Reflexionen über das schriftliche Gotteswort, in beiden Fällen in Form des Bildes, dass der Prophet eine Schriftrolle verspeisen und so die Verkündigung „verinnerlichen“ soll. Vgl. Ex 32,15f.19; 34,28; Dtn 9,17; 10,2f.; 2Chr 5,10 oder die Wendung „ לחת אבניםsteinerne Tafeln“ in Ex 34,1.4; Dtn 4,13; 5,19; 9,9–11; 10,1 u.ö. Vgl. die ausführlicher Diskussion solcher Annahmen (mit ablehnendem Ergebnis) bei Andersen, AncB 25, 202f. „The giving of the vision is the answer to the complaint about the Torah in Hab 1:4. Hab 2:2 is similar to Deut [2]7:8 and the tablets are like the plastered stones there“ (Andersen, AncB 25, 204). Vgl. auch Gunneweg, ZAW 98 (1986), 412. Vischer, Der Prophet Habakuk, 23. Vgl. Michel, Grundlegung 2, 52ff. Anders Andersen, der in Hab 2,3a einen verkürzten Verbalsatz sieht: „Here the verb is withheld until the second colon (retroactive doubel duty)“ (AncB 25, 201). Die syntaktisch parallel formulierten Sätze in Dan 10,14 oder 11,27 lassen diese Interpretation als unwahrscheinlich erscheinen.
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den eigentlichen Aussageschwerpunkt bildet.31 Zunächst ist eindeutig, dass es sich bei למועדum die Präposition לmit dem durch Artikel determinierten Nomen המועדals Dependenz handelt. Dies ist der gedankliche „Anknüpfungspunkt“, das Mubtada. Dem Leser soll also nicht in erster Linie mitgeteilt werden, dass es einen „festgesetzten Zeitpunkt“ gibt. Vielmehr soll über diesen Zeitpunkt, bzw. die Zeitspanne bis dahin etwas qualifizierend ausgesagt werden. Die Frage ist dann, was genau die ersten Wörter des Satzes über den „festgesetzten Zeitpunkt“ aussagen sollen. Zudem stellt sich die Frage, ob חזוןoder עוד, das auch als Substantiv gedeutet werden kann, das erste obligatorische Glied des Satzes und damit das Chabar bilden. Der Satz hat seine nächsten Parallelen in Dan 10,14 und 11,27. In Dan 8–12 insgesamt wird Gott als der Herr der Geschichte verkündigt, an den sich sein Volk auch während der schweren Zeit der Unterdrückung durch Antiochus IV. halten soll. Gottes Wort ist zuverlässig, auch wenn der Augenschein ein anderer ist. Die „Schauungen des Daniel“ aus ferner Vergangenheit „beweisen“ das. Dan 10,14 bildet den Abschluss einer prophetischen Visionsschilderung in Dan 10,5–14, in der dem „Seher“ Daniel ein „Mann in leinenen Kleidern“ erscheint, der ihm als himmlischer Bote einen Blick in die Zukunft gestatten will. Er formuliert in V. 14: …„ כי־עוד חזון לימיםdenn die Schauung zielt auf [ferne] Tage“. In Dan 11 erstattet derselbe Bote dem Daniel dann einen langen Geschichtsbericht, in dem es um die Abfolge der Reiche der Perser, der Griechen und der Diadochen, sowie insbesondere um deren Auseinandersetzungen und Gräueltaten geht. In V. 27 fällt der Satz כי־ …„ עוד ֹקץ למועדdenn ein Ende gibt es erst zur festgesetzten Zeit“.32 Bemerkenswert ist an diesen beiden Stellen neben der deutlichen Nähe zu Hab 2,3a auch die Meteg-Setzung der Masoreten. Offenbar haben sie כי־עודals einheitliche konjunktionale Phrase aufgefasst, so dass der eigentlich Nominalsatz in Dan 11,27 ֹקץ למועדund in Dan 10,14 חזון לימיםlautet. Kann man auch Hab 2,3aα so deuten (und nichts spricht dagegen), ergibt sich als „Kernsatz“ חזון לימים. Frei paraphrasiert ist der Sinn: „Bis es soweit ist (das Ende kommt), gibt es noch “חזון, wobei nun noch zu fragen ist, was חזוןhier inhaltlich bezeichnet. In Hab 2,2f. ist damit (im Gegensatz zu Dan 10,4 z.B.) nicht eine prophetische Schauung im Sinne einer „Vision“ gemeint, wie der Begriff überhaupt nicht in die Sprache der Visionsschilderungen gehört und sich viel weniger auf „Visionen“ im eigentlichen Sinne bezieht, als oft angenommen wird. Vielmehr ist der Begriff חזוןin Hab 2,2f. so aufzufassen, wie er auch in diversen Prophetenüberschriften verwendet wird (vgl. Jes 1,1; Ob 1; Nah 1,1 und das Verb חזהin Am 1,1 oder Hab 1,1), nämlich als generelle Bezeichnung der gesamten prophetischen Verkündigung in Parallele zu דבר־יהוה. Dies fügt sich auch zu V. 2, wonach der חזוןgeschrieben und gelesen werden soll. Hab 2,3aα weist den Propheten und mit ihm den Leser des Buches Habakuk dem-
31 32
Vgl. Michel, Grundlegung 2, 25–30 („Subjekt und Prädikat – oder Mubtada und Chabar?“). Vgl. Behrens, Prophetische Visionsschilderungen, 314–345.
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nach an die geschriebene prophetische Offenbarung, die solange Beachtung (und Vertrauen) verdient, bis der „festgesetzte Zeitpunkt“ da ist. Sogleich sagen V. 3aβ und 3b etwas über die Wirksamkeit und die Zuverlässigkeit dieser geschriebenen prophetischen Offenbarung aus. Sie „redet“ oder „bezeugt“ ( )ויפחbis zum Ende und „lügt nicht“ ()ולא יכזב.33 Dabei fällt der absolute Gebrauch von ֹקץauf, der ganz dem von מועדentspricht. Zu der Zeit, wenn es keinen חזוןmehr gibt und dieser auch nicht mehr „bezeugt“, ist das Ende schlechthin gekommen. Dieser Gedanke rückt den Text wiederum in die Nähe von Gedanken des Danielbuches. Aber das „Ende“ ist nicht das eigentliche Thema, sondern es geht um das, was trägt, wenn die Zeit bis zu diesem Ende lang wird, wenn sogar „Recht“ und „Gesetz“ im Spiel der Weltmächte und im Laufe der Zeit obsolet zu werden scheinen. So schärft Hab 2,3b hinsichtlich der Zuverlässigkeit der Offenbarung ein: „wenn sie sich verzögert, dann harre darauf, denn sie kommt ganz gewiss und bleibt nicht aus.“ Es gibt keinen Grund für V. 3b ein anderes Subjekt als in V. 3a anzunehmen, wie Andersen dies jetzt wieder in Anknüpfung an die LXX tut.34 V. 3 insgesamt handelt von dem חזוןim Sinne der prophetischen Offenbarung. Die Leser werden daran als zuverlässiges Gotteswort gewiesen. Dies ist der sachliche Kern der Perikope Hab 2,1–4. V. 4: „Siehe ... seine Seele ist nicht rechtschaffen in ihm; aber der Gerechte wird durch seine Treue leben.“ Der Vers wird durch הנהeingeleitet, das als Aufmerksamkeitserreger die Schlussfolgerung aus dem bisher Gesagten hervorhebt. Leider ist V. 4a in der vorliegenden Textfassung eigentlich nicht übersetzbar. Zu vermuten ist, dass V. 4a und 4b in einem gegensätzlichen Verhältnis zueinander stehen, so dass sich hinter עפלהein Gegenbegriff zum צדיֹקverbergen würde (vielleicht „der Aufgeblasene“). Aber עפלהist eine feminine Verbform im Pual. Dabei kommt das Verb עפלim AT sonst nie vor, sodass eine inhaltliche Bestimmung sehr schwierig ist. Auch Konjekturvorschläge sind nicht überzeugend, so dass ich Lothar Perlitt in seinem „Mut zur Lücke“ folge.35 Sprachlich klar ist dagegen V. 4b: „aber der Gerechte wird durch seine Treue leben.“ Der צדיֹקist normalerweise entweder der, der vor Gericht im Recht ist, oder ganz allgemein der fromme Israelit, dessen „Gerechtigkeit“ sich in gemeinschaftsgemäßen Verhalten entsprechend der Weisung Gottes, also in Beachtung der תורהerweist. Hier wird der Gerechte als solcher durch seine אמונהausgewiesen. Dabei wird das Derivat der Wurzel אמןhier ähnlich absolut gebraucht wie in dem Wortspiel Jes 7,9 „Glaubt ihr nicht, so bleibt ihr nicht“ ( אם 33
34
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Das Verb פוחfindet sich sechsmal in den Proverbien (6,19; 12,17; 14,5.25; 19,5.9) jeweils in der Bedeutung „reden“ oder (vor Gericht) „bezeugen“. Offenbar ist die Verbindung mit der Wurzel כזבdabei charakteristisch (vgl. Spr 14,5.25; 19,5.9). Vgl. die Übersetzung von V. 3 bei Andersen, AncB 25, 198: „For the vision is still for the appointed time. And he is a witness to the end, and he will not decieve. If he delays, wait for him; for he will certainly come, he won’t be late.“ Vgl. Perlitt, ATD 25/1, 65.
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)לא תאמינו כי לא תאמנו. Das Bedeutungsspektrum umfasst Festigkeit, Zuverlässigkeit, Treue, Glauben, aber auch Treue im Sinne von dauerhaftem Bestand. Für Hab 2,4b stellt sich die Frage, worauf sich die Treue des Gerechten richten soll, so dass er dadurch „leben“ kann. Wenn V. 4 tatsächlich die Folgerung aus V. 1–3 zieht, dann ergibt sich nun, dass die Treue des Gerechten sich auf die niedergeschriebene prophetische Offenbarung richtet. Der Begriff אמונהkorrespondiert dann dem in V. 3b thematisierten Problem der „Parusieverzögerung“. Es geht um ein Festhalten am geoffenbarten und dann niedergeschriebenen חזון. Gerade darin wird der Gerechte am „Ende“ (vgl. V. 3) sein „Leben“ haben.36 Wieder führt dies in die Nähe der Gedankenwelt von Dan 8–12.
2.4 Schlussfolgerungen In Hab 1,2–4 und 2,2–4 stehen sich zwei Texte als „Frage“ und „Antwort“ gegenüber, die einerseits deutlich aufeinander bezogen sind und sich andererseits von ihrem jeweiligen textlichen Umfeld abheben. In Hab 1,2ff. geht es um die Frage, warum Gott auf Klage nicht antwortet und wie es dazu kommen konnten, dass die Größen תורהund משׁפט, die den ( צדיֹק1,5) eigentlich ins Recht setzen sollen, offenbar nicht wirksam greifen. Hab 2,1–4 antwortet auf diese Frage37, indem zunächst ausdrücklich eine Antwort an den Propheten konstatiert wird (Hab 2,2a). Dieser schreibt seinen חזוןnieder, wobei der Begriff nicht eine Vision o.ä. bezeichnet, sondern wie in verschiedenen Prophetenüberschriften den Inhalt der prophetischen Offenbarung insgesamt bezeichnet. Dies wird nun deutlich dargelegt, wie Mose das Gesetz dargelegt hat (vgl. Dtn 1,5; 27,8). Ebenso wie die Tora wird auch die prophetische Offenbarung dauerhaft auf Tafeln eingegraben (vgl. Hab 2,2). Das, was die Propheten von Gott erfahren und dann auch aufgeschrieben haben, ist zuverlässig und „redet/bezeugt bis ans Ende“ (V. 3aβ). Als צדיֹקerweist sich, wer sein Vertrauen ( )אמונתוhierauf setzt und darauf „harrt“ (V. 3b: )חכה־לו, auch wenn sich angesichts der Ungerechtigkeit in der Welt alles heilvolle Handeln Gottes auf unbestimmte Zeit zu verzögern scheint. Kühn wird so theologisch gewichtigen Termini wie תורהund משׁפטder Begriff des חזוןals umfassende prophetische Verkündigung entgegengehalten. Die Treue zu dieser Offenbarung lässt „leben“.
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Dazu Gunneweg, ZAW 98 (1986), 414: „Damit ist dann zugleich gesagt, daß אמונתוnach Aussage des vorhergehenden, von Harren und Geduld sprechenden Kontextes hier nur ‚Treue’, ‚Beständigkeit’, ‚Ausdauer’ bedeuten kann. Gemeint ist das Bleiben in der Tora als der Offenbarung Gottes.“ Aber gerade der Kontext spricht nicht von Tora, sondern von חזון. Es wird nirgends zur Treue zur Tora aufgefordert. Dies muss erst aus einem bestimmten Verständnis von צדיֹקgeschlossen werden. Aber die Tora war ja in Hab 1,4 gerade als scheinbar hinfällig beschrieben worden. Vgl. schon Haller, SAT II/3, 218: „Das Gedicht (2,1–4) bildet eigentlich die Antwort auf des Propheten Frage (1,2–4)“. Er fährt aber fort „…doch ist der Zusammenhang nicht so eng, dass man die Stücke als ursprünglich zusammengehörig betrachten müsst.“ Hier gelange ich zu einem anderen Ergebnis.
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Insgesamt gehört Hab 2,1–4 wohl nicht zum ältesten Bestand der Verkündigung Habakuks. Vielmehr scheint hier im Zusammenklang mit Hab 1,2–4 eine Reflexion über die Dauer und Zuverlässigkeit schriftlicher Prophetenworte vorzuliegen. Der Sprachgebrauch, die Nähe zu Fragestellungen, wie sie auch im Danielbuch begegnen oder der verallgemeinernde Gebrauch des Begriffes חזון, der sich so sonst nur in den Überschriften der Prophetenbücher findet, weisen kaum ins ausgehende 7. Jh. Vielmehr gehören die Texte in die Phase der Buchwerdung, als aus der Sammlung der Worte des Habakuk ein schriftliches38 Werk wurde; vielleicht spielt auch schon die Einbindung dieses Werkes in das corpus propheticum insgesamt eine Rolle. Hier wird die bleibende Relevanz des Inhaltes der prophetischen Offenbarung konstatiert für eine Zeit, in der die „Chaldäer“ längst Geschichte sind und die historischen Hintergründe der Wehe-Worte aus Hab 2,6ff. erst erschlossen werden müssen. Aber darum geht es nicht, sondern im Vertrauen auf die Zuverlässigkeit dieser Worte und Überlieferungen werden sie zu „Lebeworten“ und erweisen so den „Gerechten“.
3. Ein Ausblick Wenigstens ein Ausblick auf die Wirkungsgeschichte unseres Textes soll hier noch gewagt werden, denn gerade Hab 2,4b ist als „Gotteswort in der Zeit“ immer neu verstanden und verkündigt worden. Dabei ist gelegentlich mit minimalen Veränderungen des Wortlautes dem Text ein je neuer Aspekt für die eigenen Kontext und die eigene Zeit der jeweiligen Ausleger und ihrer Zielgruppen abgewonnen worden. Es ist zu fragen, wie nah oder wie fern diese Reinterpretationen von Hab 2,4b dem oben dargelegten Verständnis des hebräischen Wortlautes stehen. Insgesamt ist die Fülle der Auslegungen wieder ein Zeichen für die bleibende Wertschätzung, die der prophetischen Überlieferung entgegengebracht wurde; wenn man so will, ist die reiche Wirkungsgeschichte ein Indiz dafür, dass die Mahnung zur Treue gegenüber der prophetischen Offenbarung nach Hab 2,3f. ihr Ziel nicht ganz verfehlt hat. Rabbi Schimlai wird das Urteil zugesprochen, der Prophet Habakuk fasse die über 600 Gebote der Tora in einem einzigen Satz zusammen, nämlich in der Aussage, der Gerechte werde durch seine Treue leben.39 Dabei ist unter אמונתוoffenbar
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Vgl. Floyd, ZAW 105 (1994), 462–481, dessen Bemühen, die Bedeutung des Schriftlichen in der Prophetie gegenüber einer Überbetonung der mündlichen Verkündigung herauszustellen, zwar anerkennenswert ist, der aber andererseits, das Szenario von Hab 2,1ff. wieder vorschnell biographisch auswertet, ohne den Charakter des Textes als einer schriftlichen Reflexion über das geschriebene Prophetenwort zu erkennen. Offenbar gilt es immer noch, eine Binsenweisheit zu betonen: Gegenstand der Exegese sind weder die Propheten und ihre Persönlichkeiten, noch ihre mündliche Verkündigung in einem zu erschließenden soziokulturellen Kontext, sondern schriftliche Texte, die verstanden und ausgelegt werden wollen. „Nach der talmudischen Auslegung, die dem Rabbi Schimlai zugeschrieben wird, hat David die 613 Sinai-Einzelgebote der Tora in elf (Ps 15), Jesaja (33,15) in sechs, Micha (6,8) in drei, Amos
Ein Ausblick
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das Festhalten an der Tora zu verstehen; denn dies kennzeichnet ja klassisch den צדיֹק. Dass diese Tora im Sinne von Hab 1,2–4 in der Lebenserfahrung des Gerechten in die Krise geraten könnte und demnach die prophetische Offenbarung zum Haftpunkt der Treue wird, ist dabei grundsätzlich nicht im Blick. Im Judentum hat sich die Interpretation im Sinne Schimlais durchgesetzt. Sie mag gegen sich haben, dass in Hab 2,1–4 nicht – und ich meine: absichtlich nicht! – von Tora die Rede ist. Aber diese Auslegung dient insgesamt der Integrität der Offenbarung im Tenach, wonach die Nebi’im konsequent als Ausleger der Torah zu sehen sind. Die Übersetzung der Septuaginta (LXX)40 stellt eine erhebliche Reinterpretation des hebräischen Wortlautes dar, indem sie einige wenige, aber entscheidende Textänderungen vornimmt.41 So geht es in V. 3b nicht mehr um das Sichhinziehen des חזון, von der es im hebräischen Text heißt: „( כי־בא יבא לא יאחרdenn sie wird ganz gewiss kommen“). Vielmehr bietet der griechische Text hier ὅτι ἐρχόμενος ἥξει. Das Partizip ἐρχόμενος kann sich aber nicht mehr auf die „Offenbarung“ (ὅρασις) beziehen. Jetzt ist von „dem Kommenden“ die Rede, und eine messianische Erwartung ist zumindest angedeutet. Nicht mehr nur zugesagte Gottesworte treffen ein, sondern Gott selbst kommt. Derselben theologischen Tendenz folgen die Veränderungen der Possessivpronomen in V. 4. Statt der Antithese des hebräischen Textes, „Siehe ... seine Seele ist nicht rechtschaffen in ihm; aber der Gerechte wird durch seine Treue leben“, bietet die LXX: „Wenn einer zurückweicht, hat meine Seele kein Gefallen an ihm, aber der Gerechte wird durch meine Treue leben“ (ἐὰν ὑποστείληται οὐκ εὐδοκεῖ ἡ ψυχή μου ἐν αὐτῷ ὁ δὲ δίκαιος ἐκ πίστεώς μου ζήσεται). Die Initiative liegt ganz bei Gott, der als Sprecher zu denken ist, und auch das Leben des δίκαιος hängt ganz an Gottes Treue. Gleichzeitig wird durch die Wiedergabe von V. 4a mit ἐὰν ὑποστείληται „wenn einer zurückweicht“ das klargestellt, was von dem „Gerechten“ zu erwarten ist: Standhaftigkeit (vielleicht auch in einer Verfolgungssituation). Hieran knüpft die Zitation von Hab 2,3f. LXX in Hebr 10,37f. an. Im zehnten Kapitel geht der Hebräerbrief zur „Applikation“ dessen über, was bis dahin dargelegt wurde.42 Jetzt wird das Anliegen des Briefes sichtbar: eine Gemeinde, deren Glaubenseifer nachlässt, soll zum „Festhalten am Bekenntnis“ (vgl. Hebr 10,23f.)
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(5,4) in zwei, und Habakuk endlich in ein einziges zusammengefasst: Also die ganze Tora in einem einzigen Halbvers von drei Worten“ (Gunneweg, ZAW 98 [1986], 400). Vgl. Koch, ZNW 76 (1985), 68–85, der darauf aufmerksam macht, dass für Hab 2,3–4 drei verschiedene LXX-Lesarten überliefert sind (vgl. als „Beilage 1“ die Übersicht a.a.O., 70). Allerdings kommt auch Koch zu dem Ergebnis, dass der in der „LXX am besten bezeugt Wortlaut“ sich als der ursprüngliche erweist (a.a.O., 84). Ich folge hier für den LXX-Text Rahlfs (Hg,), Septuaginta. Dies beinhaltet natürlich bereits das Urteil, dass der Masoretische Text gegenüber LXX der ursprüngliche ist. Wer hier vorsichtiger sein möchte, kann zunächst textkritisch korrekt von einer „abweichenden Lesart“ statt von „Reinterpretation“ sprechen. Vgl. aber Koch, ZNW 76 (1985), 72, der davon ausgeht, dass der LXX-Übersetzer bereits den MT vor sich hatte und zwar für Hab 2,4a in eben jener unverständlichen Fassung, wie sie heute auch die BHS bietet. Vgl. Weiss, KEK 13, 518.
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Habakuk 2,1–4 und die Treue zur Offenbarung
ermutigt werden. Um diesem Anliegen eine „schriftgemäße“ Stimme zu geben, wird u.a. Hab 2,3f. zitiert; allerdings wieder mit einigen charakteristischen Änderungen gegenüber dem Text, den die LXX bietet.43 Zunächst wird das Zitat von Hab 2,3 in Hebr 10,37 durch einen Satz aus Jes 26,20 eingeleitet: ἔτι γὰρ μικρὸν ὅσον ὅσον… „nur noch eine kleine Weile...“, so dass zwar der Aspekt der sich hinziehenden Zeit gewahrt bleibt, aber nun dahingehend interpretiert, dass das Erwartete kurz bevorsteht. Erwartet aber wird die Wiederkunft Christi, der nun als ὁ ἐρχόμενος bezeichnet wird. Die gegenüber der LXX neue Determination durch den Artikel vereindeutigt das Partizip im Sinne eines messianischen Verständnisses. Hebr 10,38 zitiert dann Hab 2,4 und nimmt einige Umstellungen vor. So werden die Vershälften vertauscht, sodass nun V. 4b voran steht in der Form: ὁ δὲ δίκαιος ἐκ πίστεώς μου ζήσεται „Mein Gerechter wird aus Glauben leben...“ Das Possessivpronomen μου ist also von der πίστις zum δίκαιος gewandert, sodass es nun um den „Glauben“ des Gerechten geht (und nicht mehr um Gottes Treue). Dieser Glaube richtet sich auf die nahe Wiederkunft Christi. Davon soll die Gemeinde nicht abweichen. Die Situation der Adressaten des Hebr bestimmt den Umgang mit dem Text und das Verständnis von Hab 2,3f. Wiederum anders zitiert Paulus Hab 2,4b in Röm 1,17 und Gal 3,11. Im Unterschied zum Galaterbrief führt Paulus in Röm 1,17 das Zitat von Hab 2,4b ausdrücklich als solches ein mit der Formulierung καθὼς γέγραπται. Was darauf folgt, dient also als „schriftgemäße“ Zusammenfassung dessen, was Paulus in Röm 1,16–17 sagt. Hier stellt Paulus sozusagen das „Thema“44 des Römerbriefes vor: Das Evangelium ist eine Gotteskraft für alle die Glauben, Juden zuerst, aber auch Heiden. Gerechtigkeit Gottes eröffnet sich im Glauben und auf Glauben hin. Hier geht es noch nicht um einen Gegensatz von „Glaube“ und „Gesetz“, bzw. „Glaube“ und „Werken“, sondern vornehmlich um die Verbindung von Glaube und Gerechtigkeit (Gottes). Diese Verbindung findet Paulus in Hab 2,4b. Dabei nimmt er den Satz nicht nur formal, sondern auch inhaltlich vollständig aus seinem ursprünglichen Kontext heraus. Für Paulus spielt die „Parusieverzögerung“ von Hab 2,3 keine Rolle, dementsprechend entfällt auch die Frage, ob der Gerechte treu bei der prophetischen Offenbarung oder der Tora bleiben soll oder ob sich sein Glaube auf den kommenden Messias richtet. Ebenso lässt Paulus in Zusammenhang mit πίστις jedes Pronomen weg. Es geht nicht um Gottes Treue, aber auch die Form באמונתו wird nicht einfach wiedergegeben. „Der Gerechte wird aus Glaube leben“ klingt bei Paulus wie eine allgemeine Wahrheit. Gemeint ist hier der Glaube, der die Gerechtigkeit Gottes als Inhalt des Evangeliums erschließt und eben dadurch den Glaubenden als δίκαιος qualifiziert. Dieser Glaube ist nicht an die treue Erfüllung der Tora gebunden. Daher gilt er zwar zuerst den Juden, steht dann aber auch den Hei43
44
Vgl. Weiss, KEK 13, 549ff. Koch macht darauf aufmerksam, dass es eine LXX-Lesart gibt, die den Text in der Gestalt von Hebr 10,38 bietet, kommt aber begründet zu dem Schluss, dass diese Lesart von Hebr abhängig ist und nicht umgekehrt (vgl. Koch, ZNW 76 [1985], 75–78). Vgl. Stolle, LuThK 14 (1990), 154–165.
Ein Ausblick
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den offen. Wo dieser Glaube die Gerechtigkeit Gottes als Inhalt des Evangeliums von Jesus Christus erschließt, vereint er auch Juden und Heiden. Einen anderen Akzent erhält das Zitat von Hab 2,4b im Kontext von Gal 3, auch wenn Paulus den Text dort in derselben Gestalt wie in Röm 1,17 bietet. Wie auch bei seinem Rückbezug auf Gen 15,6 in Röm 4 und Gal 3 gewinnt Paulus dem alttestamentlichen Wort Hab 2,4b je nach Kontext und Adressat seiner Ausführungen unterschiedliche Aspekte ab.45 Der Galaterbrief setzt sich ja mit Tendenzen auseinander, nach denen heidenchristliche Gemeinden auf Anraten „irgendwelcher“ Leute überlegen, inwieweit sie das alttestamentliche Gesetz halten oder sich zumindest beschneiden lassen müssen, wenn sie nun durch Christus zum Glauben an den Gott gefunden habe, den auch „die Schrift“ bezeugt. Hier sieht Paulus einen Gegensatz von Freiheit und Unfreiheit oder auch von „Fleisch“ und „Geist“. In Gal 3 fragt Paulus die Galater, ob sie den Geist empfingen ἐξ ἔργων νόμου („aus den Werken des Gesetzes“) oder ἐξ ἀκοῆς πίστεως („aus der Predigt des Glaubens“ vgl. Gal 3,2f.5). Ab V. 6 untermauert Paulus seine Argumentation mit Schriftzitaten. Dies findet in V. 11 und 12 mit einer schroffen Entgegensetzung von Hab 2,4b (ὁ δίκαιος ἐκ πίστεως ζήσεται) und Lev 18,5 (ὁ ποιήσας αὐτὰ ζήσεται ἐν αὐτοῖς) eine Zuspitzung. Anders als in Röm 1,17 stehen sich jetzt Glaube und Gesetz, „glauben“ und „tun“ als Gegensätze gegenüber. Es geht nun bei dem Zitat von Hab 2,4b nicht mehr darum, dass der Glaube sowohl Juden, als auch „Griechen“ die Gerechtigkeit Gottes erschließt, sondern nun wird betont, dass nur der Glaube und nicht des Gesetzes Werke gerecht macht. An beiden Stellen gewinnt Paulus Hab 2,4b ein ganz eigenes Verständnis ab, dass in großer Freiheit das Verständnis der LXX hinter sich lässt.46 Aber auch der Konflikt, der hinter Hab 2,1–4 ursprünglich steckt, dass nämlich die Treue zur prophetischen Offenbarung aus der durchlebten Krise von „Recht“ und „Gesetz“ hilft, ist bei Paulus nicht wirklich präsent. Allerdings lässt sich aufgrund des hier dargelegten Verständnisses von Hab 2,1-4 sagen, dass Paulus insbesondere in Gal 3 mit seiner Gegenüberstellung von Glaube und Gesetz doch eine Seite zum klingen bringt, die ursprünglich schon in Hab 2,1-4 mitschwang, wenn die dort zu beschriftenden „Tafeln“ wirklich als Kontrast zu den Sinai-Tafeln gedacht sind und der חזון in gewisser Weise einen Gegenbegriff zur תורהbildet. In der vorchristlichen Interpretation ging dieser Aspekt ganz unter. Paulus entdeckt also etwas wieder, das bereits ursprünglich in Hab 2,1–4 mitgemeint war, erschließt sich sein Verständnis freilich nicht durch Exegese des Urtextes, sondern von seinem Glauben an das Evangelium von Jesus Christus her.
45 46
Vgl. Behrens, Gen 15,6, (in diesem Band). Auch für die bei Paulus begegnende Form von Hab 2,4b findet sich eine späte LXX-Lesart, aber auch hier kommt Koch zu dem Schluss, dass die LXX von Paulus abhängig ist und nicht umgekehrt, vgl. bes. Koch, ZNW 76 (1985), 83f.
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Habakuk 2,1–4 und die Treue zur Offenbarung
Insbesondere diese letzten Ausführungen müssen hier skizzenhaft bleiben. Die Einsichten zu vertiefen, zu vermehren oder ihnen zu widersprechen, überlasse ich getrost dem Geburtstagskind.
„Schaffe in mir, Gott, ein reines Herz“ Beobachtungen zu Psalm 51 1. Psalm 51 als „vierter Bußpsalm“ Im Sommersemester 1989 haben Wilhelm Rothfuchs und der Verfasser dieser Zeilen gemeinsam an der Lutherischen Theologischen Hochschule in Oberursel angefangen, er als unerwartet in dieses Amt berufener Professor für Praktische Theologie, ich als Student der Theologie im ersten Semester. Die Praktische Theologie war bereits vorher zu einer Art Lebensthema des Geburtstagskindes geworden; zunächst in seinem leidenschaftlichen Einsatz als Gemeindepastor (und Pastor ist er im besten Sinne durch alle Phasen seines Wirkens bis heute geblieben), dann aber auch als Leiter des PTS1, des Predigerseminars der Selbständigen EvangelischLutherischen Kirche. Er hat sich dann auch mit hohem Engagement in die Aufgaben des Lehrstuhls für Praktische Theologie an Deutschlands kleinster theologischer Fakultät eingearbeitet. Dabei ist Wilhelm Rothfuchs von seiner theologischen Promotion her – und damit von der „Schule“, die einen Theologen zeitlebens prägt – Exeget. Seine Dissertation, bei Karl Heinrich Rengstorf in Münster verfasst, ist ein Meilenstein neutestamentlicher Exegese geblieben.2 In seiner praktischen Theologie ist spürbar, dass sie aus der heiligen Schrift fließt, wie es sich für einen lutherischen Theologen gehört. Dies soll hier aufgegriffen werden, indem ein exegetischer Blick auf das praktisch-theologische Thema Buße und Beichte geworfen wird, das Wilhelm Rothfuchs auch in für mich eindrucksvoller Weise behandelt hat.3 Damit grüße ich den Lehrer, Bruder, Freund, Seelsorger und Pastor bei zahlreichen Gelegenheiten! Der 51. Psalm wird nach altkirchlicher Tradition, die erstmals im 6. Jh. greifbar wird, unter die sog. „sieben Bußpsalmen“4 gezählt. Gleich zu Beginn sei noch einmal darauf hingewiesen, dass es sich bei der Kategorie „Bußpsalmen“ nicht um eine alttestamentliche Textsorte oder Gattung mit eigenen signifikanten sprachlichen Eigenarten handelt. Der Begriff stammt vielmehr aus der kirchlichen Tradition. Er verweist auf den Verwendungszusammenhang der Texte im kirchlichen Leben, ist also selbst schon viel eher ein praktisch-theologischer als ein exegetischer Terminus. „Bußpsalm“ bezeichnet keine Gattung im eigentlichen Sinne, wie 1 2 3
4
„Praktisch Theologisches Seminar“, von Wilhelm Rothfuchs wurde die Abkürzung allerdings einmal als „Penner, Träumer, Supermänner“ aufgelöst. Vgl. Rothfuchs, Erfüllungszitate. Vgl. Rothfuchs, LuThK 14 (1990), 97–111. Der Text ist dort bescheiden als „Vortrag auf dem Hochschultag der Luth. Theol. Hochschule Oberursel 1990“ abgedruckt. Das ist der Sache nach richtig. Gleichzeitig handelte es sich dabei aber um Rothfuchs’ Antrittsvorlesung als Professor für Praktische Theologie. Psalm 6; 32; 38; 51; 102; 130; 143.
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„Schaffe in mir, Gott, ein reines Herz“
etwa Hymnus oder Klagepsalm des Einzelnen, sondern stellt eine thematische Zusammenstellung der so bezeichneten Texte dar. Allerdings ist auch ein vermeintliches Thema „Buße“ oder „Beichte“ im AT schwer zu greifen. Zum einen ließe sich dabei an Gesetzestexte denken, die die rituelle kultische Reinigung thematisieren, zum anderen kann etwa die Verwendung des Begriffes „ שׁובUmkehr“ ein Hinweis auf die Thematik sein.5 Auch in dieser Hinsicht sind die sog. Bußpsalmen nicht einheitlich oder auch nur miteinander vergleichbar. So scheint die Kategorisierung aus exegetischer Sicht willkürlich. Dennoch lässt sich gerade der 51. Psalm als eine Art inneralttestamentliches Kompendium zum Thema Sünde und Gnade lesen.6 Unterschiedliche Aspekte der Schuld des Menschen vor Gott werden durch die Verwendung nahezu aller Begriffe, die das Hebräische für diesen Sachverhalt kennt, versammelt. Ähnlich werden verschiedene Seiten der Gnade und des Erbarmens Gottes in den 21 Versen dieses Gebetes vereint. In einzigartiger Weise wird die Erneuerung des Menschen als Neuschöpfung beschrieben, die dann auch Konsequenzen für das Leben in der Gemeinschaft nach sich zieht. Dies alles soll in seinen unterschiedlichen Facetten hier nachgezeichnet und ausgelegt werden. Dazu wird zunächst die Struktur und der Aufbau des 51. Psalms dargestellt, dann werden die einzelnen Teile des Textes ausgelegt, und schließlich wird der Charakter als Kompendium zum Thema Neuwerdung des Sünders zusammenfassend dargelegt.
2. Aufbau und Struktur des 51. Psalms Psalm 51 lässt sich formgeschichtlich als das Bittgebet eines Einzelnen bestimmen, ähnlich dem Klagepsalm des Einzelnen.7 Der Text wird mit dem Gattungselement Bitte (V. 3) eröffnet. An die Stelle der Klage tritt hier die Erkenntnis der Sünde (V. 5–7). Der Text läuft auf das Lob Gottes vor anderen hinaus (V. 15–17), das hier allerdings nicht aufgrund eines textimmanent nicht zu erklärenden „Stimmungsumschwungs“ erfolgt, sondern als Ergebnis der Erneuerung des Beters durch Gott, die als Erhörung der Bitte gelten kann (vgl. V. 12ff.). V. 18f. zieht daraus ein theologisches Fazit, das aufgrund der Einsichten des vorangegangenen Bußgebetes die Opfervorstellungen Israels spiritualisiert. Aufgrund dieses Fazits, angesichts der Dichte von theologisch gefüllten Begriffen zum Thema Sünde und Gnade und an8 hand des Sprachgebrauchs ist der Text in die nachexilische Zeit zu datieren. Hier 5 6
7 8
4
Vgl. Waschke, RGG 1, 1905f. Thetisch kann hier schon gesagt werden, dass der liturgische Verwendungszusammenhang des 51. Psalms als Introitus zum Buß- und Bettag und als alternatives Psalmgebet zu Beginn des Beichtgottesdienstes auch aus exegetischer Sicht nicht unsachgemäß ist (vgl. Evangelisch-Lutherisches Kirchengesangbuch, 212f. [Nr. 072], 252f. [Ordnung der Beichte], 1059f. [Nr. 625]). Vgl. die Einordnung bei Westermann, Ausgewählte Psalmen, 70ff.; Hossfeld/Erich Zenger, Psalmen 51–100, 45f. Vgl. Hossfeld/Zenger, Psalmen 51–100, 48.
Aufbau und Struktur des 51. Psalms
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ist das Nachdenken von Generationen über das Gottesverhältnis des Menschen zu einem theologisch durchreflektierten Gebet geronnen, das zum Mitbeten, vielleicht auch als liturgisches Formular gedient hat. So bildet das Korpus des Psalms in den Versen 3–19 ein Kompendium alttestamentlicher Sünden- und Gnadentheologie.9 Dieses Korpus ist sekundär erweitert worden um die Verse 20–21, die das bis dahin individuelle Gebete um die Bitte um Erneuerung Jerusalems ergänzen. Der Blick geht vom Individuum zur Gemeinschaft, die sich an einem geschichtlich fassbaren und umgrenzten Raum in Jerusalem findet. Der Blick geht auch zurück von der spiritualisierten Opfervorstellung von V. 19 zu Brandopfern, Ganzopfern und Stieren, die konkret auf dem Altar dargebracht werden (V. 21). Offenbar bedurfte die allzu individuelle Gottesnähe des Korpus der „rechtgläubigen“ Korrektur vor dem Hintergrund des (nachexilischen) Opfergottesdienstes. Diese Verse sind im Folgenden nicht Gegenstand der Betrachtung von Ps 51.10 Eröffnet wird der Psalm mit der für den Davidpsalter typischen Überschrift „Für den Chorleiter von David“ (V. 1). Darauf folgt aber eine gerade für diesen Text eigentümliche Verortung des folgenden Gebets in der Biographie Davids in V. 2. Ps 51,3–19 ist auch ohne diese Überschrift verständlich, und umgekehrt weist nichts im Korpus auf die in V. 2 eingespielte Situation der Verurteilung Davids (vgl. 2Sam 12) hin. Dennoch ist Ps 51,2 für das Verständnis des ganzen Psalms als Bußgebet hilfreich, auch wenn es sich hier, wie andernorts im Psalter, um eine redaktionelle Erweiterung des Textes handeln dürfte. Nach Abzug der Überschrift in V. 1f. und des sekundären Zusatzes in V. 20f. stellen also die Verse 3–19 den Hauptteil des Psalms dar, dem hier besondere Aufmerksamkeit gewidmet werden soll. Dieses Psalmkorpus ist inhaltlich und formal erkennbar zweigeteilt: 11 a) V3–11 bitten um Vergebung und bringen die Erkenntnis der Schuld des Beters. Die Schuld vor Gott und den Menschen ist in unterschiedlichen Facetten Thema dieses ersten Teiles. Inhaltlich fallen die zahlreichen Begriffe der Wortfelder Schuld/Sünde, Gnade/Vergebung und kultischer Reinheit auf. Formal wird Ps 51,3–11 durch eine signifikante inclusio als kleine Einheit gekennzeichnet. So korrespondieren die Verse 3 und 11 als erster und letzter Vers dieses Abschnitts syntaktisch miteinander. In beiden Fällen handelt sich um eine imperativisch formulierte Bitte an Gott (V. 3: „Sei mir gnädig, Gott, entsprechend deiner Treue“ V. 11: „Verbirg dein Angesicht vor meinen Verfehlungen“). Die jeweils zweite Vershälfte verwendet den Imperativ „ מחהabwaschen/tilgen“ mit einem Begriff für Sünde. Auffällig ist die chiastische Wortstellung, die als Gliederungsmerkmal eben-
9 10 11
Es handelt sich um theologische Reflexion und nicht um „Unmittelbarkeit des Gebetslebens“, wie Weiser, ATD 14, 260 meint. Vgl. Mosis, Mauern, 201–215. Zur folgenden Gliederung vgl. auch Hossfeld/Zenger, Psalmen 51–100, 45ff.
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„Schaffe in mir, Gott, ein reines Herz“
falls die Verse 3–11 vom Folgenden abgrenzt (V. 3b: „…wische meine Auflehnung aus“ >< V. 11b: „…und alle meine Schuldtaten wische aus!“). b) V. 12–19 bitten um Erneuerung des Sünders (V. 12–14), der seine Schuld im Teil a) erkannt und bekannt hat, ziehen daraus die Folge des Lobes und der Verkündigung des Namens Gottes nach erfahrener Vergebungen (V. 15–17) und münden schließlich in einem theologischen Fazit (V. 18f.), dessen Herzstück eine bekenntnisartige Formulierung in V. 19a ist. Auch dieser Teil ist durch eine inclusio zwischen V. 12 und V. 19 als erkennbare Einheit zusammengebunden: Der Abschnitt wird dadurch eröffnet, dass Gottes Handeln am Herzen ( )לבund am Geist ()רוח des Beters erbeten wird. Beide Begriffe finden sich in V. 19 wieder. Das Lexem רוח findet sich auch noch in V. 13f., nicht aber im ersten Teil des Psalms. Es geht hier also um eine Erneuerung des Beters an Herz und Geist. Als Erkenntnis (und als eine Art Bekenntnis) hält der Psalm fest, dass ein gebrochener Geist und ein zerschlagenes Herz ein angemessenes Opfer für Gott sind. Die Nennung von Geist und Herz erfolgt in V. 19 gegenüber V. 12 in chiastischer Reihenfolge; dasselbe Stilmittel fand sich in Teil a) in V. 3 und V. 11. Aus dem Gesagten ergibt sich ein folgendermaßen zu gliedernder Text: Psalm 51 Überschrift: 1 2
Für den Chorleiter von David, als der Prophet Nathan zu ihm kam, weil er zu Bathseba gekommen war.
Psalmenkorpus a) 3 4 5 6 7 8 9 10
Sei mir gnädig, Gott, entsprechend deiner Treue / entsprechend deinem großen Erbarmen wische meine Auflehnung aus. Wasche mich gründlich von meiner Schuld / von meiner Verfehlung reinige mich. Denn meine Auflehnungen erkenne ich / und meine Verfehlung ist beständig vor mir. Vor dir allein habe ich mich verfehlt und das Böse in deinen Augen habe ich getan, damit du gerecht bist bei deinem Reden und rein in deinem Richten. Siehe, in Schuld bin ich geboren / und in Verfehlung hat mich meine Mutter empfangen. Siehe, an Wahrheit hast du Gefallen im Inneren / im Geheimen lässt du mich Weisheit erkennen. Entsündige mich mit Ysop, so werde ich rein / wasche mich, so werde ich weißer als Schnee. Lass mich Freude und Fröhlichkeit hören / so freuen sich die Knochen, die du zerschlagen hast.
Einzelbeobachtungen am Text
11
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Verbirg dein Angesicht vor meinen Verfehlungen / und alle meine Schuldtaten wische aus!
Psalmenkorpus b) 12 13 14 15 16 17 18 19
Ein reines Herz schaffe mir, Gott / und einen festen Geist erneuere in meiner Mitte. Verwirf mich nicht von deinem Angesicht / und deinen heiligen Geist nimm nicht von mir. Wende mir die Freude deiner Hilfe zu / mit dem Geist der Willigkeit stütze mich. Ich will die Aufrührer deine Wege lehren / dass die Sünder zu dir umkehren. Errette mich von Blutschulden, Gott, Gott meiner Hilfe / so wird meine Zunge deine Gerechtigkeitstaten besingen. Herr, öffne meine Lippen / so wird mein Mund dein Lob verkündigen. Fürwahr, du hast keinen Gefallen an Schlachtopfern, auch wenn ich sie gäbe/ ein Brandopfer akzeptierst du nicht. Opfer Gottes sind ein gebrochener Geist und ein gebrochenes und zerschlagenes Herz / Gott, du wirst das nicht verachten.
Nachtrag: 20 21
Tue Gutes in deinem Wohlgefallen an Zion / baue die Mauern Jerusalems. Dann wirst du Gefallen haben an Opfern der Gerechtigkeit und Brandopfern und Ganzopfern / dann werden sie Stiere auf deinem Altar opfern.
3. Einzelbeobachtungen am Text 3.1 Die Überschrift Ps 51,1–2 Während V. 1 in einer ganzen Reihe von Psalmen eine Verbindung zu David als dem paradigmatischen Psalmendichter herstellt12, handelt es sich bei V. 2 um ein Proprium gerade dieses Textes. Gelegentlich stellen kurze Bemerkungen auch in anderen Psalmen eine Verbindung zu einer bestimmten Situation aus der Biographie Davids her.13 Hier aber kommt diesem Bezug eine besondere Bedeutung zu. V. 2 ist ein hermeneutischer Leitvers für den Rest des Textes, eine Leseanleitung für den Psalm insgesamt.14 Dabei wird auf Nathans Bußrede an David angespielt, wie sie ausführlich in 2Sam 12 geschildert wird. Dieser Text wird allerdings nicht zitiert, 12 13 14
Vgl. Ps 3,1 und die Eröffnungen in den unterschiedlichen Teilen des sog. Davidspsalters. Vgl. z.B. Ps 3,1; 7,1 u.ö. Vgl. Westermann, Psalmen, 72 und Kraus, BKAT XV/1, 542.
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„Schaffe in mir, Gott, ein reines Herz“
und auch sein wesentliches Element – die Nathanparabel – spielt in der Eröffnung des 51. Psalms keine Rolle. So ist nicht erkennbar, in welcher Gestalt dem Verfasser des Psalms die Überlieferung von David und Bathseba und dem Schuldaufweis durch Nathan vorlag. Ps 51,2 lässt sich allerdings gut auf den bekannten Text von 2Sam 12 beziehen. Syntaktisch sehr dicht und mittels der doppelten Verwendung der Wurzel בואwerden wesentliche Zusammenhänge angedeutet: Der Psalm soll verstanden werden vor dem Hintergrund, als Nathan der Prophet zu ihm kam, weil er zu Bathseba gekommen war (Ps 51,2).
So ist in kompakter Form der Zusammenhang von Sünde, Bußpredigt und Vergebung angedeutet. Nathan, der Bote Gottes, kommt zu David, um ihn auf seine Schuld anzusprechen. Diese ist angedeutet in dem Satz weil er zu Bathseba gekommen war. Dabei bezeichnet die Konjunktion כאשׁרein Entsprechungsverhältnis. Das Kommen Davids zu Bathseba als Ehebruch zieht das Kommen Nathans zu seinem König als Bußprediger im Namen Gottes notwendigerweise nach sich. Wie gesagt, ist die Parabel, mit der Nathan seinen König zur Einsicht, will heißen zur Selbsterkenntnis und Sündenerkenntnis bringt, hier mit keinem Wort präsent. Vielmehr konzentriert sich Ps 51,2 ganz auf den Zusammenhang von Schuld, Buße und Gnade. Damit wird Ps 51 insgesamt zu einer Entfaltung von 2Sam 12,1315: ויאמר דוד אל־נתן חטאתי ליהוה ויאמר נתן אל־דוד גם־יהוה העביר חטאתך לא תמות Da sprach David zu Nathan: „Ich habe mich verfehlt vor Jahwe“ / Da sprach Nathan zu David: „So vergibt auch Jahwe deine Verfehlung – Du sollst nicht sterben.“ (2Sam 12,13).
Denkbar prägnant wird demjenigen, der Psalm 51 mitbeten und so zu seinem eigenen Bußtext machen will, mit V. 2 eine Situation in Erinnerung gerufen, aus der heraus der Text verstanden werden kann. Zugleich wird aus dem Sündenbekenntnis Davids vor Nathan ein Bußgebet zu Gott. Auch von Davids Fastenriten als Zeichen der Buße (vgl. 2Sam 12,16) ist nun nicht mehr die Rede. Vielmehr scheint der Psalm den Beter unmittelbar in die Perspektive coram deo zu rücken. Und an die Stelle des Fastens tritt das ausführliche Schuldbekenntnis im Gebet.
3.2 Der erste Teil des Psalmenkorpus Ps 51,3–11 Auch dieser erste Teil des Hauptabschnittes von Psalm 51 lässt sich noch einmal sinnvoll untergliedern: V. 3f. nennen die Bitte samt den thematischen Hauptwörtern für Sünde und Gnade. V. 5f. bringen eine Begründung, die in V. 7f. (zweimal 15
Vgl. Kraus, BKAT XV/1, 543f.
Einzelbeobachtungen am Text
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„Siehe“) ausgeführt wird, bevor V. 9f. (zweimal durch einen Jussiv eröffnet) die Bitte wiederaufnehmen und fortführen. V. 11 schließt den Abschnitt durch eine syntaktische Wiederaufnahme von V. 3 und die Wiederholung der Vokabel „auswischen“ in gegenüber V. 3 chiastischer Wortstellung (s.o.). V. 3–4: Zwar handelt der erste Teil des Psalmenkorpus von der Sünde und ihren verschiedenen begrifflichen Spielarten. Allerdings ist das erste Wort – – חנניein Begriff für die Gnade Gottes. Dies wird erweitert durch die Begriffe „Gemeinschaftstreue“ ( )חסדund „Erbarmen“ ()רחמים, das im Hebräischen semantisch wohl mit dem Mutterschoß ( )רחםzusammenhängt.16 Der Imperativ mit Suffix „sei mir gnädig“ bringt von Anfang den Zielpunkt des Psalms insgesamt zur Sprache. Es geht nicht nur um Sündenerkenntnis und -bekenntnis, sondern das Gebet ist von vornherein darauf gerichtet, Sünde und deren Folge los zu werden.17 So ist von Gottes Gnade, seiner Treue und seinem Erbarmen die Rede, bevor nun auch die Auflehnung ( )פשׁעdes Menschen, sein Verkehrtmachen/seine Schuld ( )עוןund sein Sich-Verfehlen ( )חטאתerwähnt wird.18 Der Beter wünscht nun, seine dreifach benannte Schuld möge um des ebenfalls dreifach benannten Erbarmens Gottes willen „ausgewischt“ (wie man falsche Buchstaben von einer Schriftrolle wischt19), abgewaschen und gereinigt werden. Insbesondere der Terminus des Reinigens weist auf den kultisch-gottesdienstlichen Zusammenhang: Die aspekthaft benannte Schuld hindert den Beter auch an der Nähe zu Gott im Kult. So bringen bereits die ersten beiden Verse des Psalmenkorpus eine begriffliche Verdichtung der alttestamentlichen Sünden- und Gnadentheologie. V.5–6: Das כיzu Beginn von V. 5 ist begründend und nicht (wie in den Hymnen) katadeiktisch zu verstehen: Der Beter bittet so eindringlich und unter allen Aspekten um Vergebung, weil er sein Sündersein erkannt hat. In 2Sam 12 wird ein ähnlicher Erkenntnisprozess Davids durch die Parabel Nathans eingeleitet. Dort wird anhand des reichen Mannes, der einem Armen sein einziges Schaf wegnimmt, deutlich, dass es um Schuld unter Menschen geht. So hatte sich David dem Uria gegenüber schuldig gemacht. Hier, in Ps 51, wird zunächst nicht deutlich, wie der Beter zur Sündenerkenntnis gelangt. Auch legt V. 6 sofort alles Gewicht auf die Situation coram deo. Von einer Schuld anderen Menschen gegenüber ist nicht die Rede. Ja, systematisch-theologisch gesprochen, wird hier zugespitzt, dass Sünde immer eine Kategorie ist, die die Gottesbeziehung – und diese vor allem! – betrifft.20 Geradezu Ziel dieser Erkenntnis ist die Bestätigung der Reinheit und Gerechtigkeit des Redens und Richtens Gottes. So kann die Erkenntnis, dass der Beter 16 17 18 19 20
Hier allerdings im Hinblick auf Gottes Erbarmen von seiner „Mutterschößigkeit“ zu sprechen (so Schroer/Staubli, Körpersymbolik, 86ff.), scheint mir doch ein unglücklicher Neologismus zu sein. Vgl. Hossfeld/Zenger, Psalmen 51–100, 50. Für eine kurze Übersicht über die Begriffe für Sünde im AT vgl. immer noch Westermann, Theologie, 102ff. und Hossfeld/Zenger, Psalmen 51–100, 50. Vgl. Ex 32,32f. Gott soll gleichsam die Delete-Taste im Hinblick auf die Schuld drücken. Vgl. Hossfeld/Zenger, Psalmen 51–100, 51; oder mit Weiser, ATD 14, 261: „Sünde ist letztlich ein religiöser, weniger ein ethischer Begriff.“
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seine Schuld vor allem als Sünde, also als (Zer)Störung der Gottesbeziehung erkennt, Folge des Redens und Richtens Gottes sein. Hier redet einer, der von Gottes Wort als Gesetz getroffen wird.21 V. 7–8: Beide Verse werden mit dem Aufmerksamkeitserreger „siehe“ eröffnet. Diese formale Übereinstimmung öffnet den Blick auch für eine inhaltliche Zusammengehörigkeit der beiden Verse, obwohl es auf den ersten Blick so scheint, dass zwischen V. 7 und 8 ein gegensätzliches oder kontrastives Verhältnis besteht. Hier stehen sich aber keinesfalls eine Aussage über den Beter (V. 7) und eine über Gott (V. 8) als Gegensätze gegenüber. Vielmehr ist die Einsicht des Beters in seine Schuldverfallenheit von Geburt an eben das Ergebnis jener durch Gott „im Innern“ und „im Geheimen“ zur Erkenntnis gebrachten Wahrheit und Weisheit, von der V. 8 spricht. V. 7 hat dabei aber nicht den Akt der Geburt oder der Empfängnis zum Thema und ist keinesfalls moralisch oder sexualethisch konnotiert. Vielmehr erkennt der Beter seine gestörte Gottesbeziehung von Anfang an und „durch und durch“.22 Diese Erkenntnis ist für ihn überraschend („siehe“) und wie schon die Sündenerkenntnis von V. 6 offenbar Resultat von Gottes Reden, das „im Innern“ (in den inneren Organen?) trifft. Der Begriff der „Schuld von Geburt an“ ist, wie gesagt, kein moralische Werturteil oder Ausdruck eines defizitären Selbstverhältnisses des Beters, sondern Qualifizierung seines Gottesverhältnisses. Insofern trifft auch der Artikel über die Erbsünde, wie er sich z.B. in CA II findet, das hier Ausgesagte.23 Hier wird der Psalm aber sehr viel grundsätzlicher als der in V. 2 „angespielte“ Referenztext in 2Sam 12. V. 9–10: Mit der Sündenerkenntnis von V. 7 ist der Tiefpunkt des Psalms erreicht und zugleich die Talsohle durchschritten. Denn es ist nicht das Ziel dieses Gebets, wie bereits anhand von V. 3f. deutlich wurde, bei der Sündenerkenntnis und einem entsprechenden Bekenntnis stehen zu bleiben. Vielmehr zielt der Text auf Überwindung der Gottesferne durch Vergebung und Erneuerung. Auch diese beiden Verse sind durch ihre formal und grammatikalisch analoge Struktur als Paar gekennzeichnet. Die Verben in diesen Sätzen stehen ausnahmslos im Imperfekt. Dabei liegen drei syntaktisch analog gebaute Sätze Vor. V. 9a, V. 9b und V. 10. In jedem dieser Sätze liegen zwei Verbformen vor, von denen ich die jeweils erste mit den meisten Auslegern als Jussiv verstehe: Entsündige mich mit Ysop, so werde ich rein… Die Abfolge der beiden Verben im Imperfekt ist als korrespondierendes
21
22 23
„Doch ist die Einsicht in die verborgenen Tiefen der Schuldverfallenheit nicht Ergebnis menschlichen Nachdenkens, sondern eine Gabe göttlicher Mitteilung und Eröffnung“ (Kraus, BKAT XV/1, 545). Vgl. Hossfeld/Zenger, Psalmen 51–100, 51, die ihre Einsichten im Wesentlichen allerdings W. H. Schmidt verdanken. Vgl. BSLK, 53: „Weiter wird bei uns gelehrt, daß nach Adams Fall alle Menschen, so natürlich geborn werden, in Sunden empfangen und geborn werden, das ist, daß sie alle von Mutterleib an voll boser Lust und Neigung seind und kein wahre Gottesfurcht, keinen wahren Glauben an Gott von Natur haben können...“
Einzelbeobachtungen am Text
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Eintreten24 zu verstehen: „das Eintreten der ersten Handlung bedeutet das Eintreten der zweiten.“25 Wenn Gott den Beter mit Ysop entsündigt, dann ist tatsächlich kultische Reinheit gegeben. Dabei ist Ysop als Büschel aus wildem Oregano oder Majoran ein Medium der Reinigung nach geheiltem Aussatz (vgl. Lev 14). Dies, wie der Hinweis auf die zerschlagenen Knochen in V. 10 hat in der älteren Auslegung dazu geführt, in Ps 51 das Gebet eines Kranken zu sehen.26 Explizit gesagt ist das allerdings nicht. Und Derivate der Wurzel טהרbezeichnen die kultische Reinheit. In dem Moment, in dem Gott die Entsündigung vornimmt (durch den Priester?), ist der Beter rein und fähig, sich Gott im Gottesdienst zu nahen. Strukturanalog ist der Zusammenhang von Absolution und real geschehender Sündenvergebung im Gottesdienst der Christenheit zu vergleichen. V. 10 greift mit dem Begriff Freude bereits dem zweiten Teil des Psalmkorpus vor, wo dieselbe Vokabel in V. 14 begegnet. Auch auf diese Weise sind die beiden Teile miteinander verknüpft. V. 11 schließt diesen ersten Hauptteil des Psalms ab, indem er noch einmal imperativisch um Vergebung der Schuld bittet und das Vokabular von V. 3 aufgreift. Neu ist der Aspekt, Gott solle sein Angesicht vor den Sünden des Beters verbergen. In der Regel ist es für den Beter negativ, wenn Gott sein Angesicht verbirgt.27 Hier aber geht es darum, dass Gott die Verfehlungen nicht ansieht, so als gäbe es sie nicht, und die Schuld auswischt, so als wäre ein Urteil nie geschrieben.
3.3 Der zweite Teil des Psalmenkorpus Ps 51,12–19 Nachdem der erste Hauptteil des Psalmenkorpus die Bitte um Vergebung der Sünde in all ihren Aspekten ausgesprochen und die grundsätzliche Gottesferne des Menschen bekannt hat, wird im folgenden zweiten Teil des Korpus die Erwartung ausgedrückt, wie die Vergebung Gottes am Beter geschieht (V. 12–14) und es wird in Aussicht gestellt, dass sie zum Lob und Bekenntnis zu Gott durch den Beter führt (V. 15–17). Dabei sollen die Sünder belehrt werden (V. 15). V. 18f. bringen dann auch sofort den Inhalt dieser Belehrung oder dieses Bekenntnisses in einer konfessorischen Formulierung. So ist bereits eine Gliederung gegeben, der folgend ich jetzt noch einen Blick auf Einzelaspekte des Textes werfe.
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Vgl. Michel, Tempora, 139–143 und 227. Allerdings schließt Michel im Falle des korrespondierenden Eintretens ein jussivisches Verständnis aus und übersetzt entsprechend: „Entsündigst du mich mit Ysop, so werde ich rein, wäschst du mich, so werde ich weißer als Schnee. Lässt du mich frohlocken und Freude hören, so jubeln die Gebeine, die du zerschlagen hast“ (a.a.O., 227). Es kann aber auch dann von einem korrespondierenden Eintreten gesprochen werden, wenn der Satz insgesamt als Aufforderung verstanden wird. Michel, Tempora, 139. Vgl. z.B. Seybold, HAT I/15, 211; dagegen zu Recht abgelehnt bei Hossfeld/Zenger, Psalmen 51– 100, 42ff. Vielleicht steht hinter den zerschlagenen Knochen eine Anspielung auf die Totenfeldvision in Ez 37,1–14, vgl. a.a.O., 52. Vgl. Ps 13,2; 27,9 u.ö.
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„Schaffe in mir, Gott, ein reines Herz“
V. 12–14: Der Abschnitt beginnt mit dem zentralen Satz des Psalms überhaupt: Schaffe in mir, Gott, ein reines Herz / und einen festen Geist erneuere in meiner Mitte. Damit wird in begrifflicher Dichte ausgesagt, wie sich der Beter die Sündenvergebung durch Gott vorstellt. Wenn der Mensch seine Gottesferne von Geburt an bekennen muss (V. 7), wie ist dann eine Heilung durch Vergebung möglich? Denn es scheint doch im Hinblick auf Gott das Wesen des Menschen in Unordnung zu sein, es liegt nicht nur ein reparabler Defekt vor. Die in allen Aspekten benannte Schuld bezieht sich nicht auf eine einzelne (Un)Tat, die durch moralisches Wohlverhalten oder Satisfaktionsleistungen wieder in Ordnung gebracht werden könnte. Die Antwort des Psalmisten: Gott muss erneut schaffen ( )בראwie zu Anbeginn der Zeiten. Vergebung und Neuschöpfung fallen in eins. Wo ein Mensch „rein“ wird, wo sein Gottesverhältnis so in Ordnung kommt, dass er froh den Gottesdienst Israels feiern kann, ist Gott zugleich als Schöpfer und Erlöser am Werk. Die wesentliche Erneuerung des Menschen wird durch die Aspekte Herz und Geist ausgedrückt. Beide bezeichnen jeweils den ganzen Menschen in bestimmter Hinsicht: „Der Ausdruck לב/‚ לבבHerz‘, so können wir resümieren, fungiert als Bezeichnung für sämtliche Schichten der Person: die vegetative, die emotionale, die noetische, und die voluntative Schicht. Wie anderer anthropologischer Begriff des Alten Testaments hält das Wort damit die Mehrschichtigkeit der biblischen Personstruktur fest.“28 רוחlegt dann den besonderen Akzent auf Lebens- und Willenskraft des Menschen.29 Insbesondere die Theologie der sog. Deuteronomisten hatte in der Exilszeit deutlich herausgestellt, dass Israel an den Geboten seines Gottes gescheitert ist und vor allem das Hauptgebot, allein JHWH zu verehren, nicht hielt.30 Schließlich äußern alttestamentliche Texte aus der Exilszeit, dass die Menschen Gottes Gebote nicht halten konnten. So wird eine Erneuerung des menschlichen Wesens durch Gott selbst zur Voraussetzung eines Neuanfangs im Gottesverhältnis des Volkes. Solche Texte finden sich z.B. in Dtn 30,1–10; Ez 11,19f. oder auch Ez 36,26f., einem Text, der terminologisch dem hier in Rede stehenden Psalmwort sehr nahe steht. Ich zitiere die Lutherübersetzung: „Und ich will euch ein neues Herz und einen neuen Geist in euch geben und will das steinerne Herz aus eurem Fleisch wegnehmen und euch ein fleischernes Herz geben. Ich will meinen Geist in euch geben und will solche Leute aus euch machen, die in meinen Geboten wandeln und meine Rechte halten und danach tun.“ Ez 36,26–27. Ps 51,12–14 und Ez 36,26–27 berühren sich also eng in der Vorstellung von der Erneuerung des Menschen durch Gabe eines neuen Geistes und eines neuen Her28 29 30
Janowski, Konfliktgespräche, 170. Vgl. Wolff, Anthropologie, 57–67. Vgl. z.B. die theologische Reflexion zum Untergang des Nordreichs durch die dtr. Theologie in 2Kön 17.
Einzelbeobachtungen am Text
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zens. Im Lichte von Ez 36,27 wird auch klar, wie der „heilige Geist“ (wörtl.: Geist deiner Heiligkeit) in Ps 51,13 zu verstehen ist, nämlich nicht als Hypostase Gottes oder als dritte Person der Trinität31, sondern als von Gott selbst kommende, erneuerte Lebens- und Willenskraft, die den Menschen zum neuen Gehorsam fähig macht.32 Allerdings geht Ps 51,12 gerade in der Verwendung des Begriffs Schaffen über Ez 36 hinaus. Die Erneuerung wird explizit als Neuschöpfung erbeten, und zwar mit dem einzigen Vorkommen eines Imperativs von !ברא33 Da, wo Sünde vergeben wird, handelt Gott in derselben Weise wie im Anfang mit den Worten: Es werde Licht! Im engen Zusammenhang von Schöpfung und Heil steht unser Text den Schöpfungsaussagen Deuterojesajas nahe.34 V. 15–17: Wenn der Beter, der sich als Sünder, als von Geburt an gottesfern, erkannt hat, durch Gottes schöpferisches Handeln ein „neuer Mensch“ wird, bleibt das nicht ohne Folgen. Davon handeln diese Verse. Die Vergebung hat einen Gemeinschaftsaspekt, eine soziale Dimension. Ebenso wie Schuld den Menschen von Gott und seinen Mitmenschen trennt (z.B. ausgedrückt durch die Formulierung kultischer Unreinheit, die ja von der Gottesdienstgemeinde ausschließt), so führt auch erfahrene Vergebung auf neue Weise in die Gemeinschaft ein. Der Beter will Gott loben, seine eigene Glaubenserfahrung an andere weitergeben und so „die Aufrührer deine Wege lehren“. Dabei ist der Adhortativ Ich will lehren ()אלמדה sprachpragmatisch als kommissiver Sprechakt, also als Versprechen zu interpretieren.35 Das erste Verb von V. 15 leitet also das ein, was man in der klassischen Psalmenexegese ein Lobgelübde nannte.36 Im zweiten Hauptteil des Psalmenkorpus tauchen nur hier, in V. 15, die Begriffe für Auflehnung und Verfehlung auf, die doch in den Versen 3–11 in geradezu überschwänglicher Häufigkeit begegnen. Jetzt ist nur noch im Hinblick auf andere – die Aufrührer ()פשׁעים, die Sünder ( – )חטאיםdavon die Rede. Für den Beter selbst ist Vergebung als Neuschöpfung der eigenen Person offenbar schon erfahrene Realität. Jetzt gibt er diese Erfahrung an andere weiter, indem er Menschen lehrt (V. 15) und Gott lobt (V. 17). Die Errettung von „Blutschuld“ ist offenbar die Befreiung aus einer Gefahr, die als lebensbedrohlich erfahren wurde und erinnert an das Gebet eines unschuldig 31 32
33 34
35 36
Wenn auch die im AT ziemlich einmalige Aussage vom heiligen Geist in Ps 51,13 sicher in die Vorgeschichte des trinitarischen Dogmas gehört. Vgl. Wolff, Anthropologie, 66: „Ps 51 bittet zuerst um einen standhaften, beständigen Willen (12b) und dann um einen freien bereiten Willen (V. 14b); zwischen diesen Sätzen steht die Bitte, Gott möge die r.[uach] seiner Heiligkeit, d. h. seine unvergleichliche Lebenskraft nicht vom Beter wegnehmen (V. 13b). Kraft und Freiheit menschlichen Willens sind demnach abhängig vom Wirken der Energie Jahwes.“ Vgl. Westermann, Ausgewählte Psalmen, 75. Vgl. Jes 43,1: „Und nun spricht der Herr, der dich geschaffen hat, Jakob, und dich gemacht hat, Israel: Fürchte dich nicht, denn ich habe dich erlöst; ich habe dich bei deinem Namen gerufen; du bist mein!“ Vgl. Wagner, Sprechakte. Vgl. Hossfeld/Zenger, Psalmen 51–100, 54.
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„Schaffe in mir, Gott, ein reines Herz“
Angeklagten.37 Die erfahrene Rettung führt zum Lob der Gerechtigkeitstaten Gottes. Die Wurzel צדֹקweist dabei zurück auf V. 6. Die Erwähnung der Zunge in V. 16b leitet eine Trias ein, die in V. 17 mit den Begriffen Lippen und Mund fortgesetzt wird. So umfassend die Schuld in all ihren Aspekten in V. 3f. benannt wurde, so variantenreich wird nun das Lob angekündigt. Dabei wird das Lob – ebenso wie die Neuschöpfung – als ein Werk Gottes begriffen. Er öffnet die Lippen. Ebenso wie in den Fällen des korrespondierenden Eintretens in den Versen 9 und 10 fallen auch in V. 17 die erste (Gott öffnet die Lippen) und die zweite Handlung (der Beter verkündigt) unmittelbar zusammen.38 V. 18–19: Das כיam Anfang von V. 18 hat gliedernde Funktion. Dabei ist es nicht begründend, sondern katadeiktisch zu verstehen39: Nun wird der Inhalt des Lobes und der Belehrung genannt, die in V. 15ff. angekündigt wurde. Bei genauer Betrachtung lässt sich in V. 15–19 innerhalb des Psalms ein kleiner Hymnus erkennen. V. 15 bringt die imperativische bzw. adhortativische Aufforderung zum Lob, dessen Durchführung ab V. 18 berichtet wird. Der Beter hatte angekündigt, die Aufrührer belehren zu wollen. Jetzt wird der Inhalt dieser Belehrung genannt, die zugleich die Quintessenz und theologische Zusammenfassung des Psalms darstellt. V. 18 nennt zunächst – noch ganz im Gebetsstil des bisherigen Textes – die Negation: Gott ist nicht aus auf Schlacht- und Brandopfer. Diese Einsicht folgt aus der Erkenntnis der grundlegenden Sündhaftigkeit des Beters, die nicht durch irgendeine Initiative seinerseits zu mindern, zu verbessern oder zu beheben ist (V. 7), sondern des Handeln Gottes im Akt der Neuschöpfung des Menschen bedarf. Wo diese Einsicht konsequent weiter gedacht wird, folgt notwendigerweise daraus, dass auch die klassischen Opfer Gott nicht versöhnen können. Bei dieser negativen Einsicht bleibt der Beter aber nicht stehen. V. 19 formuliert die Position dazu, indem die Termini Geist und Herz aus V. 12 in chiastischer Reihenfolge wieder aufgenommen werden. Die eigentlichen „Opfer“, die Gott braucht, sind der Geist und das Herz des Menschen, die als gebrochen erkannt werden. Damit ist gemeint, dass der Mensch sein ganzes Wesen als erneuerungsbedürftig ansieht und sich selbst mit diesem alten Wesen Gott anvertraut und die Erneuerung ganz von ihm erwartet. Bei der Betrachtung des Psalms war deutlich geworden, dass der Beter im Verlauf seines „Bußpsalms“ bereits dieser Erneue37 38
39
Vgl. Seybold, HAT I/15, 211f. Syntaktisch liegt in V. 17 aber das Phänomen von zwei Entsprechungssätzen vor, da sowohl in V17a als auch in V. 17b jeweils nicht das Verb den Satz eröffnet, mithin also keine klassischen hebräischen Verbalsätze, sondern zusammengesetzte Nominalsätze vorliegen; vgl. Michel, Tempora, 185f. Zu den unterschiedlichen Möglichkeiten das ki in den Hymnen des Psalters zu deuten vgl. Boecker, §12 Psalmen, in: ders./Hermisson/Schmidt/Schmidt, Altes Testament 179–199. Die hier vertretene Auffassung geht auf Frank Crüsemann zurück (vgl. a.a.O., 187ff.). Demnach ist ki im kollektiven Lobspsalm Israels (Hymnus) nicht begründend (denn), sondern leitet als Hinweiswort (ja, fürwahr!) die Durchführung und den Inhalt des Lobes ein, zu dem zu Beginn dieser Textsorte mit Imperativen oder Adhortativen aufgefordert wurde.
Zusammenfassung
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rung gewiss geworden war. Neuschöpfung ist also nicht ein Ereignis, das in eine eschatologische Zukunft verschoben wird, sondern den Beter als Vergebung im Hier und Jetzt erreicht und zum Lob führt. Diese Gewissheit drückt sich in einem Bekenntnissatz aus, der im hebräischen Text des Psalms deutlich als solcher markiert ist. V. 19a stellt in der Lesart des masoretischen Textes innerhalb des Psalms einen stilistischen Bruch dar. Alle anderen Sätze reden Gott an, sind also Gebet. V. 19a aber macht eine Aussage über Gott, ist also ein Bekenntnissatz, wie Andreas Wagner jüngst gezeigt hat.40 Es ist gegen den Apparat der BHS nicht nötig, V. 19a in Meine Opfer, Gott, sind… zu konjizieren.41 Vielmehr ist die bekenntnisartige Formulierung Opfer Gottes [genitivus objectivus: Opfer, die Gott wirklich gefallen] sind ein gebrochener Geist und ein gebrochenes und zerschlagenes Herz die verdichtete Erkenntnis des ganzen Psalms: Wo sich der Mensch selbst im Gebet Gott mit allen Aspekten seines Menschseins anvertraut, wird Neuschöpfung erfahrbar.42 So endet der Psalm im Vertrauen, indem die Anrede Gott aus V. 3 noch einmal aufgenommen wird: Gott, du wirst das nicht verachten.
4. Zusammenfassung Der 51. Psalm lässt sich von seinem theologischen Duktus her zu Recht als Bußpsalm bezeichnen (wenn damit auch keine Textsortenbestimmung gegeben ist). Dabei ist aus Sicht dieses Textes Bußtheologie zugleich immer auch und vor allem Gnadentheologie. Es lässt sich lernen, dass die Rede von der Buße nicht auf die Verneinung oder Geringschätzung der eigenen Person hinausläuft, sondern dass Glaubende von Gottes gnädiger Zuwendung erwarten können, dass sie wesenhaft neue Menschen werden. Zur Artikulation dieser Einsicht bringt der Psalmist sowohl die drei wichtigsten Begriffe für „Sünde“ als auch komplementär drei Begriffe für Gottes Gnade, Treue und Erbarmen. Schon auf der sprachlichen Ebene kommt dabei dem Wortfeld „Gnade“ ein Primat zu; denn Begriffe, die hierzu gehören, werden zuerst genannt. Im ersten Teil des Psalms liegt das Gewicht auf Sündenerkenntnis und Sündenbekenntnis. Dazu gehört, dass Schuld die Gottesbeziehung (zer)stört und eben in sofern als „Sünde“ zu bezeichnen ist (V. 6). In einer für das Alte Testament seltenen Radikalität bekennt der Beter diese Störung der Gottesbeziehung als einen Zustand, der bereits auf seine Geburt zurückgeht, also nicht bloß als ein Defekt be40 41 42
Vgl. Wagner, Sprechen zu Gott, 3–19. Der Sprechrichtungswechsel in Ps 51,19a ist Wagner allerdings entgangen (vgl. a.a.O., 17). Vgl. so Kraus, BKAT XV/1, 539f. „Die Bedeutung liegt weiter darin, daß die durch die Vergebung bewirkte Wandlung im 51. Psalm als Wandlung zu neuer Lebensfreude, in Gewißheit und willigem Geist durch die erneuerte Verbundenheit mit Gott verstanden wird, nicht aber in bleibendem Sündenbewußtsein und gebeugter Bußhaltung gesehen wird“ (Westermann, Ausgewählte Psalmen, 77).
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„Schaffe in mir, Gott, ein reines Herz“
trachtet wird, sondern zu den Konditionen des Menschseins in dieser „gefallenen Schöpfung“ gehört. Insofern drückt Ps 51,7 das aus, was in der systematischen Theologie mit der Erbsündenlehre bezeichnet wird.43 Diese Einsicht ist aber nur als eine durch Gottes Reden und Richten (V. 6) im Innern des Menschen zustande gekommene zu denken (V. 8). Gottes Wort trifft den Beter als Gesetz. Gleichzeitig erwartet der Beter eine Entsündigung durch Gott, die zugleich mit dem Vorgang der „Absolution“ (V. 9: Entsündigung mit Ysop, Waschung) erfahrbare Realität wird. Syntaktisch wird dies durch aufeinander folgende Imperfekta mit der Funktion des korrespondierenden Eintretens in V. 9f. ausgedrückt. Der zweite Teil des Psalms legt alles Gewicht auf die Vergebung und das Neuwerden des Menschen. Der erste Satz dieses Abschnitts in V. 12 kann als die zentrale Aussage des Psalms gelten: Der Psalmist bittet um die Erneuerung seiner ganzen Person als einen Akt der Neuschöpfung des Menschen. Der Einsicht in die Gottesferne des Menschen von Geburt an entspricht die Erwartung, dass nur Gott selbst die nötige Erneuerung des Menschen bringen kann. Damit trifft sich der Psalm mit anderen exilischen Texten wie Dtn 30 oder Ez 36. Einzigartig ist allerdings die Formulierung dieser Erwartung als eines Aktes der Neuschöpfung. Hier wird Vergebung und Rechtfertigung als ein schöpferischer Akt Gottes gedacht, bei dem der Mensch nur mere passive sein kann. Damit ist Gerechtsprechung ganz auf die Seite Gottes gerückt und zugleich auch der Schöpfungsbegriff als ein Beziehungsbegriff definiert, der sich nicht in erster Linie auf Aussage über die uranfängliche Weltentstehung bezieht. Der Schöpfer ist der, der auch als Erlöser handelt, an seinem Volk (vgl. Jes 43,1), aber auch am einzelnen Sünder. Diese erfahrene Erneuerung führt den Beter zum Zeugnis, zum Bekenntnis und zum Gotteslob. Dies alles deutet auf die soziale Dimension des hier geschilderten Geschehens von Buße und Vergebung. Weder die Erkenntnis der Sünde, noch die Erfahrung der Erneuerung sind „Privatsachen“, sondern stellen den Menschen immer in die Gemeinschaft und als Glaubenden auch in die Gemeinde. Dies drückt sich im Gottesdienst (Gotteslob) und im Bekenntnis aus. Die Selbsterkenntnis des Sünders wird erträglich, weil Gott aus dem Zerbrochenen Neues macht und so Leben ermöglicht, das der Mensch aus sich nicht schaffen kann. So gelesen ist der 51. Psalm nicht nur ein Kompendium alttestamentlicher Sünden- und Gnadentheologie, sondern kann auch als ein im weiteren Sinne „evangelischer“ Text gelten44, da er die Dialektik von Gesetz und Evangelium auf engem textli-
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So darf der theologische Erbsündenbegriff insgesamt nicht biologisch missverstanden werden. Sachgerecht die lateinische Fassung von CA II: „De peccato originis“/„Über die Ursprungssünde“ (vgl. BSLK, 53), ums Erben im landläufigen Sinne geht es nicht. Vgl. Hossfeld/Zenger, Psalmen 51–100, 58, die Psalm 51 in seiner Struktur „Erkenntnis der Schuld – Bekenntnis vor dem barmherzigen Gott – Neuschöpfung – festliches Mahl“ insgesamt als Hintergrund für das Gleichnis vom verlorenen Sohn (Lk 15,11–32) ansehen.
Zusammenfassung
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chen Raum in beinahe allen Dimensionen entfaltet. So hat der vierte Bußpsalm zu Recht seinen Platz in der evangelisch-lutherischen Bußtheologie und Beichtliturgie.45
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„Ps 51 ist ein Zentraltext der durch Martin Luther wiederentdeckten urbiblischen Botschaft von der ‚Rechtfertigung‘ des sündigen Menschen durch die Gnade und das Erbarmen Gottes (‚sola gratia‘)“ erkennt auch der römisch-katholische Alttestamentler Erich Zenger (Hossfeld/Zenger, Psalmen 51–100, 58f.). Eine Nachbemerkung: Erst nach der Veröffentlichung dieses Textes im Jahr 2009 bin ich auf den Beitrag von Henrik Pfeiffer, ZThK 102 (2005), 293–311 aufmerksam geworden. Dessen Beobachtungen berühren sich an vielen Stellen mit dem hier Vorgetragenen, insbesondere was das Verständnis einer „Erbsündenlehre“ nach Ps 51,7 anbelangt (vgl. a.a.O., 298f.), oder auch hinsichtlich der Berührungen von Ps 51 mit dtr. „grundierten“ späten Prophetentexten aus Deuterojesja, Jeremia oder Ezechiel. Pfeiffers Beobachtungen sind hier ausführlicher als meine (vgl. a.a.O., 301–306). Darüber hinaus kann ich mich seinen Überlegungen gut anschließen, bei Ps 51 handele es sich um einen zur Eröffnung des zweiten Davidpsalters verfassten redaktionellen Text. Dann wären die Verse 1f. der Überschrift als literarisch ursprünglich anzusehen (vgl. a.a.O., 296ff.).
Teil 3 Theologische Überblicke
Bekennen im Alten Testament 1. Glaube und Bekennen „Bekennen ist nächst dem Gebet […], in dessen Kontext es gehört […], das erste und ursprünglichste Werk des Glaubens“1, konstatiert Gunther Wenz in seiner Theologie der Lutherischen Bekenntnisschriften. In seiner Absolutheit erscheint der zitierte Satz geradezu als Grundbestimmung einer Religionsphänomenologie. Demnach gehören Bekennen und Beten zusammen, und beides ist unmittelbarer Ausdruck des Glaubens.2 Dabei wird „Glaube“ hier nicht näher bestimmt, ebenso wenig wie das „Bekennen“ spezifiziert wird. Das Gesagte scheint weder auf lutherisches Bekennen, noch auch nur auf den christlichen Glauben eingeschränkt zu sein. Vielmehr führt der christliche Glaube in seiner spezifischen Gestalt des lutherischen Bekenntnisses nur vor Augen, was für jede Art Glauben oder Religion gilt, so kann und so muss man Wenz wohl verstehen: Jeder „Glaube“ findet seinen unmittelbaren Ausdruck im Gebet, dem Reden zu Gott, und dem Bekenntnis, dem bestimmten und verbindlichen Reden über Gott und die Inhalte des Glaubens. Ohne das – Beten und Bekennen – kann demnach Religion nicht sein. Stimmt das? Vor allen Dingen: Stimmt das schon immer? Zumindest für die drei monotheistischen Religionen Judentum, Christentum und Islam lässt sich hier leicht ein Einvernehmen herstellen. In allen drei Glaubensformen spiele „Beten“ und „Bekennen“ eine gewichtige Rolle, wenn auch mit ganz unterschiedlichen Akzenten. Die explizite Teilung in Konfessionen samt kodifizierter Korpora von Bekenntnistexten ist sicher eine Besonderheit des Christentums. Aber auch im Islam gehören das tägliche Gebet und das Bekenntnis zu Allah dem einzigen Gott zu den „Säulen“ des Glaubens.3 Im Judentum gilt Analoges für das Gebet, und biblische Formulierungen wie das Schma‘ Jisrael (Dtn 6,4–9) haben deutlich Bekenntnischarakter.4 Trotz dieses Befundes, der zunächst Gunther Wenz’ 1 2
3
Wenz, Theologie 1, 143. Die Frage, ob die Wenzsche Rede vom „Werk des Glaubens“ aus lutherischer Sicht zu problematisieren wäre, kann hier außen vor bleiben. Man kann den zitierten Satz auch als lutherischer Christenmensch richtig verstehen: Auch dieses „Werk des Glaubens“ kann im Sinne der lutherischen Bekenntnisse nur ein Werk des Heiligen Geistes sein. 4 Vgl. Was jeder vom Islam wissen muss, 33–42 und Nagel, RGG 1, 1296; dazu: Raeder, Islam, 337ff. 4 Vgl. Was jeder vom Judentum wissen muss, 104ff., sowie Dan, RGG 1, 1267–1269. Dan schränkt das Bekenntnis allerdings auf ein Sündenbekenntnis ein, was im Kontext des RGGArtikels insgesamt irritiert. Dies führt zu der Frage, ob der Bekenntnisbegriff in Bezug auf das Glaubensbekenntnis einerseits und das Sündenbekenntnis andererseits wesensmäßig zu unterscheiden ist. Die BSLK können beides mit dem lateinischen Begriff confessio, den sie ihrerseits der Tradition entnehmen, bezeichnen. Beides berührt sich auf das engste: „Zweierlei verschiedenes Bekenntnis gibt es also im Grunde gar nicht; es sind nur zwei Seiten derselben Sache: Bekennen heißt einfach zum Bewusstsein, zur Erkenntnis, zur Anerkenntnis des wahren Verhältnisses
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Bekennen im Alten Testament
thetische Aussage über das Luthertum, ja über die Christenheit hinaus bestätigt, bleibt die Frage, ob das Bekennen wirklich ein Konstitutivum jeden Glaubens ist. Der Religions- und Missionswissenschaftler Theo Sundermeier hat jedenfalls eine Unterscheidung in den wissenschaftlichen Diskurs eingeführt, nach der keineswegs jede Religion zu einem Bekennen findet. Er spricht von primärer und sekundärer Religion(serfahrung).5 Die primäre Religionserfahrung entspricht Gesellschaften, in denen Kultur und Religion de facto nicht unterschieden sind. „Die primäre Religionserfahrung ist auf das vitale Wohl der Gemeinschaft ausgerichtet mit dem Ziel, Lebensminderung und Abbruch der Geschlechterfolge zu verhindern, Leben zu steigern und zu stabilisieren.“6 Hier geht es um Fruchtbarkeit des Landes, Gesundheit des Viehs, Sicherung der familiären Nachkommenschaft, Schutz vor bedrohlichen Naturphänomenen oder die dauernde Kontinuität des lebenspendenden Wechsels der Jahreszeiten oder Wetterperioden. Die Gottheiten sichern all das, und die Menschen nehmen durch den Ritus oder Opfer an diesem Prozess teil. Insofern die Gottheiten selbst personifizierte Naturphänomene, wie Sonne oder Regen, oder aber funktional auf solche ausgerichtet sind (etwa als Regenspender oder Wettergott), muss man an diese Götter streng genommen nicht „glauben“ – sie sind evident, ja für jedes Mitglied der Gemeinschaft unhintergehbarer Teil der Welt. Solche Religionserfahrungen finden sich heute vor allem in Stammesreligionen. Darin liegt Sundermeiers vorrangiges Interesse. Mit primärer Religionserfahrung lässt sich aber wohl auch im Hinblick auf antike Religionen rechnen, in denen Lebenssicherung – z.B. in Bezug auf Fruchtbarkeit des Landes oder Nachkommenschaft – das vorrangige, ja existenzielle gesellschaftliche Interesse war. Zum Teil spiegeln sich solche primären Religionserfahrungen in den Erzelternerzählungen des Buches Genesis (Gen 12–36) und dem darin enthaltenen Verständnis von Segen. Eine „Theologie“ und damit auch die Notwendigkeit eines Bekenntnisses ist nicht unbedingt Bestandteil dieser Religionsform: „Die auf primärer Religionserfahrung basierende Religion ist unmissionarisch; ein Mensch wird durch Geburt Teil der entsprechenden Gemeinschaft nicht durch Entscheidung. Der Wahrheitsgedanke fehlt, weil primäre Religionserfahrung ‚unmittelbar plausibel, gesellschaftlich lebenswirklich und erfahrbar ist‘.“7 Davon sind nun sekundäre Religionen als ausgesprochene Bekenntnisreligionen zu unterscheiden: „Die sekundäre Religionserfahrung, die in den Weltreligionen zugänglich ist, beinhaltet eine Neusetzung. Dieses Neue wird durch Propheten, Seher, Reformer, Religionsstifter ‚erspürt, vorausgesagt, initiiert und bewältigt‘.
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zwischen Gott und Mensch kommen: Gott der Alleinheilige, der Mensch Sünder vor ihm“ (E. Vogelsang zitiert nach Wenz, Theologie, 145). Zur These Sundermeiers vgl. die Einführung von Diesel, Religion(serfahrung), 24–41, danach auch die folgende Darstellung. Diesel, Religion(serfahrung), 27. Diesel, Religion(serfahrung), 27 mit Zitat von Sundermeier, Nur gemeinsam können wir leben, 277.
Glaube und Bekennen
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‚Religion deckt nicht mehr alle Lebensbereiche ab, der Raum der Profanität vergrößert sich‘, Säkularisierung wird möglich. ‚Religion dient nicht mehr der Integration der naturalen Gruppe, sondern der Unterscheidung von anderen Gruppierungen.‘ Für das Neue muss man sich entscheiden8; Aspekte wie Glaube und Nachfolge werden wichtig. Die Wahrheitsfrage wird gestellt; es gibt nun wahre und falsche Religionen. Die wahre Religion versteht sich als allgemeingültig und ist auf Ausdehnung angelegt.“9 Für das Konzept ist wichtig, dass sich primäre und sekundäre Religionserfahrungen nicht in einem evolutionistische verstandenen Nacheinander vorfinden. Die sekundäre ist nicht die „Weiterentwicklung“ der primären Religionserfahrung oder dergleichen. Vielmehr liegen auch in Bekenntnisgemeinschaften evidente religiöse Erfahrungen vor. Primäre und sekundäre Erfahrungen liegen ineinander. Zu einem dezidierten Nacheinander kommt es erst, wenn Sundermeiers Unterscheidung von primäre und sekundärer Religionserfahrung in die Begrifflichkeit „primäre und sekundäre Religion“ überführt wird. In diesem Sinne hat der Ägyptologe Jan Assmann die Terminologie Sundermeiers aufgegriffen und weitergedacht.10 In dieser Form hat die Begrifflichkeit jetzt Relevanz für die Debatte um die Rolle von Religion insgesamt bekommen. Insbesondere in der Kritik an der Wahrheitsfrage und dem Allgemeingültigkeitsanspruch von Bekenntnisreligionen haben Jan Assmann, der Soziologe Ulrich Beck11 und andere eine neue Perspektive auf Religion und ihre Rolle in der modernen Gesellschaft eröffnet. Unzweifelhaft hat der religiöse Streit um die Wahrheit zu Intoleranz und Gewalt geführt. Aber ist das ein unvermeidbarer Wesenszug jeder Bekenntnisreligion, dem man nur entkommen kann, wenn man die Frage nach der Wahrheit aufgibt und stattdessen nach der vermeintlich ursprünglichen, jetzt in jedem Sinne „primären“ Religion fragt? Dies soll unten wieder aufgegriffen werden. Hier geht es zunächst um die Frage, ob der eingangs zitierte Satz des Gunter Wenz, nach dem Bekennen wesensmäßig jedenfalls zum christlichen Glauben, insbesondere in seiner lutherischen Gestalt gehört, für alle Phasen des Glaubens an den Gott der Bibel gelten kann. Denn die Bibel selbst ist ja vordergründig kein Bekenntnistext. Ja, es ist ganz im Sinne des Summarischen Begriffs der Konkordienformel von 1577, das biblische Gotteswort von allen menschlichen Lehräußerungen zu unterscheiden.12 Gleichwohl wollen die Bekenntnisse nichts anderes sein als 8
9 10 11 12
Dass das lutherische Bekenntnis, etwa in Luthers Auslegung zum dritten Artikel (vgl. BSLK, 511f.) festhält, dass der Glaube keine Entscheidung des Menschen, sondern Werk des Heiligen Geistes ist, bleibt von dieser phänomenologischen Beobachtung unberührt. Diesel, Religion(serfahrung), 28, alle Zitate stammen aus unterschiedlichen Werken Sundermeiers, für einen Einzelnachweis vgl. Diesel, ebd. Vgl. zu Assmann zunächst Diesel, Religion(serfahrung), 31–35. Vgl. Beck, Der eigene Gott, oder: ders., Gott ist gefährlich, DIE ZEIT 52/2007 (http://www.zeit.de/2007/52/Essay-Religion [31.3.2012]). Vgl. BSLK, 767f.: „Andere Schriften aber der alten oder neuen Lehrer, wie sie Namen haben, sollen der Heiligen Schrift nicht gleich gehalten, sondern alle zumal derselben unterworfen und
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Bekennen im Alten Testament
Wiedergabe des biblischen Evangeliums. Das Bekenntnis ist also seinem Selbstverständnis nach nicht eine menschliche „Zutat“ zum biblischen Gotteswort, sondern dessen sachgemäße Entfaltung. Dies sei hier noch einmal mit den Worten Werner Kläns auf den Punkt gebracht: „Die Bekenntnistexte der lutherischen Reformation wollen freilich nichts anderes sein als Wiedergabe der Schriftwahrheit, konzentriert auf das Evangelium – das Evangelium darum nicht verstanden als eine Aneinanderreihung von richtigen Sätzen, sondern das Evangelium verstanden als ein Vorgang, in dem Gott sich selber mitteilt. In dem Gott sich selbst kommuniziert, und zwar heilvoll zum Menschen hin, der die Kommunikation zu Gott abgebrochen hat und, weil er sie abgebrochen hat, auch aus eigenen Kräften nicht in der Lage ist, sie wieder aufzunehmen. Der aktuale Bedeutungsgehalt von Evangelium, der in der Betonung seiner Wirksamkeit im Vollzug durchscheint, ist sowohl dem Neuen Testament als auch dem Bekenntnis der lutherischen Reformation gemäß. Deswegen fokussiert das Bekenntnis auf die Mitte der Schrift, das Evangelium, dessen Inbegriff und Wirklichkeit Jesus Christus ist. Das Bekenntnis kommt von der Heiligen Schrift her und führt wieder in sie hinein.“13 Insofern ist das lutherische Bekenntnis als Ausdruck einer sekundären Religionserfahrung Ausfluss eines Glaubens, der ebenso und zuerst auch in der Heiligen Schrift grundgelegt und zu finden ist und der – im Sinne von Gunther Wenz – auch dort schon auf das Bekennen drängt. Dies soll nun insbesondere im Hinblick auf das Alte Testament noch einmal nachgezeichnet werden; denn mit Blick auf Sundermeier und Assmann ist ja auch zu fragen, ob im Alten Testament und seiner Welt nicht vielleicht die primären Religionserfahrungen eine größere Rolle spielen als die Suche nach Wahrheit und die Tendenz zur Abgrenzung. Insbesondere in den Erzählungen von den Erzeltern, die ohne jede Polemik gegen fremde Götter sind, scheint dies so zu sein. Und doch lassen sich schon im Alten Testament regelrechte Bekenntnisse finden. Das soll nun an einigen Beispielen nachvollzogen werden. Inwiefern sich daraus Schlussfolgerungen für die Rolle der Frage nach religiöser Wahrheit in der heutigen kirchlichen, religiösen und gesellschaftlichen Wirklichkeit ziehen lassen, soll zum Ende des Aufsatzes zumindest angedeutet werden.
2. Aspekte alttestamentlichen Bekennens Das Bekenntnis ist in neuerer Zeit kein eigenes Thema in der exegetischen Wissenschaft vom Alten Testament.14 Dies mag daran liegen, dass mit Blick auf kirchliche Bekenntnisse oder Bekenntnisschriften außerhalb der Bibel oft ein ausgesprochen christlicher Standpunkt verbunden wird, während sich der Fokus bei der Untersu-
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anders oder weiter nicht angenommen werden, dann als Zeugen, welchergestalt nach der Apostel Zeit und an welchen Orten solche Lehre der Propheten und Apostel erhalten worden.“ Das gilt selbstverständlich auch für die Bekenntnisse selbst. Klän, LuThK 33 (2009), 150. 4 Vgl. aber Kreuzer, RGG 1, 1246f.
Aspekte alttestamentlichen Bekennens
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chung alttestamentlicher Texte in den letzten Jahrzehnten vor allem hin zu religionsgeschichtlichen und literarhistorischen Rekonstruktionen verschoben hat. Hinzu kommt, dass die veränderte Datierung vieler Textbereiche, insbesondere des Pentateuch, den Blick auf bestimmte Texte verändert hat. Für Gerhard von Rad war das sog. „kleine geschichtliche Credo“ in Dtn 26,1–11 noch ein sehr alter Text, dem geradezu eine Schlüsselfunktion bei der Rekonstruktion der Überlieferungsgeschichte des Pentateuch zukam.15 Heute wird dieser Text wesentlich jünger datiert und hat seine zentrale Stellung für die Rekonstruktion eines ganzen Literaturbereiches damit verloren.16 Der früher selbstverständlich als monotheistische Formel gedeutete Beginn des Schma‘ in Dtn 6,4 wird heute gelegentlich als Ausdruck eines „Monojahwismus“ verstanden und büßt so seine vermeintliche Analogie zum christlichen Bekenntnis ein17 etc. So liegt die letzte monographische Untersuchung zum Bekenntnis im AT schon eine Weile zurück.18 Hier soll aber – zunächst nicht fokussiert auf die religionsgeschichtliche und literarhistorische (Re)Konstruktion – auf die bleibende Relevanz der Frage hingewiesen werden. Liest man bestimmte Texte im AT von ihrer sprachpragmatischen Leistung her, so zeigt sich, dass diese Texte im vorliegenden alttestamentlichen Text tatsächlich als Bekenntnisse fungieren. Dies bleibt dann nicht ohne Rückwirkung auf die Frage nach der Religions- und Literargeschichte. Diese Beobachtung ist aber auch von Bedeutung für die Frage nach der Verwurzelung des christlichen Bekennens in der ganzen Heiligen Schrift, und schließlich können sich auch von den alttestamentlichen Texten her vielleicht noch einmal neue Impulse für die Debatte um religiöse Wahrheit und deren Ausschließlichkeitsanspruch in der Gegenwart ergeben.
2.1 Das Grundbekenntnis zu Jahwe, Israels Gott 2.1.1 Dtn 6,4–9: „Höre Israel“19 4 5
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Höre Israel, Jahwe ist unser Gott; Jahwe ist einer. Daher sollst du Jahwe, deinen Gott lieben, mit deinem ganzen Herzen, mit deinem ganzen Verlangen und mit deiner ganzen Kraft. Das heißt: Diese Worte, die ich dir heute gebiete, sollen auf deinem Herzen sein.
Vgl. Rad, Das formgeschichtliche Problem des Hexateuch (1938), bes. 11ff. Zu Dtn 26,1–11 vgl. 2.2. Zu Dtn 6,4–9 vgl. 2.1. Vgl. Proksch, Das Bekenntnis im AT. Das Werk hat allerdings nur 28 Seiten Umfang. Außerdem: Kreuzer, Frühgeschichte. Vgl. zur Interpretation vor allem Veijola, ATD 8/1, 174–182.
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Du sollst sie deinen Kindern einschärfen und du sollst mit ihnen redend umgehen, in deinem Haus oder wenn du auf deinem Weg gehst; wenn du liegst und wenn du aufstehst. Du sollst sie dir als Zeichen auf deine Hand binden, und sie sollen Dir in Merkzeichen zwischen Deinen Augen sein. Und du sollst sie auf die Torpfosten schreiben, deines Hauses und deiner Tore.
Dieser Text ist in der religiösen Praxis des Judentums als Bekenntnis wirkmächtig geworden. Die Tradition von Gebetsriemen und Stirnkapseln geht darauf ebenso zurück (V. 8) wie die Sitte, das Schma‘ auf einer kleinen Schriftrolle in einer Kapsel an der Haustür eines jüdischen Haushalts zu befestigen (V. 9).20 Exegetisch ist nun von Interesse, ob dieser Text auch in seinem historischen und literarischen Kontext als Bekenntnis zu verstehen ist. Auch wenn sich im AT keine eigene Gattung oder Textsorte „Bekenntnis“ mit signifikanten sprachlichen Eigenarten erheben lässt, so liegt doch in Dtn 6,4–9 der Funktion und des Charakters des Textes nach eine bekennende Aussage vor.21 Dies lässt sich schon anhand der syntaktischen Struktur des Textes erheben. Er beginnt in V. 4a mit dem Imperativ „Höre Israel“. Hier wird also das Kollektiv des Gottesvolkes zur Aufmerksamkeit gerufen. Dies deutet auf das Gewicht des Folgenden. In V. 4b folgen zwei Nominalsätze, die den Inhalt dessen bieten, was vom Gottesvolk gehört werden soll: Jahwe ist unser Gott, und zwar Jahwe allein! Die Verse 5–9 bieten dann Verbalsätze, die alle mit waw-Perfektformen in der zweiten Person Singular gebildet werden. In der Regel gilt das waw-Perfekt hier als Fortsetzung des Imperativs, so dass die Verbformen selbst imperativisch übersetzt werden. Das ist richtig; darüber hinaus hat das waw-Perfekt aber auch einen explikativen Aspekt.22 Das heißt, die Verse 5–9 entfalten in unterschiedlicher Hinsicht, was aus der Grundaussage Nur Jahwe ist unser Gott für die Israeliten folgt. Dies geschieht in zwei Stufen: V. 5 stellt fest, dass aus Jahwes Gottsein für Israel, die ungeteilte „Liebe“ des Volkes folgt. V. 6–9 entfalten dann, was solches „lieben“ konkret heißt, nämlich das Bekenntnis zu wissen, es die kommenden Generationen zu lehren, es als umfassenden Lebensbegleiter zu erkennen und es privat und öffentlich erkennbar werden zu lassen. V. 4: Der Höraufruf ist ein Struktur- und Gliederungselement des Deuteronomiums (vgl. Dtn 5,1; 6,3; 9,1; 20,3; 27,9), womit die besondere Aufmerksamkeit auf das Folgende gelenkt werden soll. Die beiden folgenden Nominalsätze reden – vor aller Gesetzesverkündigung – von Jahwe als Israels Gott. Während Israel in den folgenden Versen entsprechend dem Imperativ Sg. in V. 4a mit der zweiten Person Sg. angeredet wird, heißt es hier unser Gott. Der Sprecher nimmt sich mit hinein und schafft so sprachlich die Möglichkeit eines gemeinsam gesprochenen Bekennt20 21 22
Vgl. Veijola, ATD 8/1, 180f. Vgl. grundlegend Veijola, Das Bekenntnis Israels, 76–93. Zur explikativen Funktion des hebräischen waw-Perfekts vgl. Michel, Tempora, 95ff.
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nisses. Zugleich wird deutlich: Bekennen ist kein bloß individueller Akt, sondern führt in die Gemeinschaft der Bekennenden. Der Numeruswechsel von Dtn 6,4 zu V. 5ff. ist kein literakritisches Indiz, sondern ein sprachpragmatisches Signal: V. 4 bringt den grundlegenden Bekenntnissatz, der dann entfaltet wird. Der zweite Nominalsatz in V. 4b יהוה אחדist mit Jahwe ist einer/einzig zu übersetzen. Dahinter verbirgt sich aber wohl weder das Zeugnis eines „Monojahwismus“23, noch ein Bekenntnis zum strikten Monotheismus. Vielmehr gilt für Israel: unser Gott ist allein Jahwe! Eine explizite Verneinung anderer Götter ist damit (noch) nicht verbunden, wenn diese Theologie mit Georg Braulik doch als auf dem Weg zum Monotheismus zu sehen ist.24 V. 5: Hier wird nun mit dem waw-Perfekt ואהבתdie Folge angeführt25: Das Jahwe Israels Gott ist, hat für das bekennende Wir und jedes darin enthaltene Individuum Konsequenzen. Diese werden hier durch das Wort „Lieben“ ausgedrückt. Dabei ist aber nicht an ein Gefühl gedacht, sondern an eine bewusste Zuwendung, ein Wahr- und Ernstnehmen des anderen, das nach seinem Willen fragt, weil Jahwe eben Gott ist. Die wird dann mit anthropologischen Grundbegriffen in unterschiedlichen Aspekten des Menschseins entfaltet. Das Herz ist betroffen als Sitz des Denkens und Wollens, die נפשׁals Sitz des Verlangens und der Lebenskraft und dann auch die ganze Stärke und Kraft. Der ganze Mensch wird sich diesem Jahwe als seinem Gott zuwenden. Die Konsequenz für den Bekennenden ist Teil des Beken23
24
25
In den Ruinen der Festung Kuntillet ‘Aǧrud, einer Station auf dem Weg von Beerscheba in die Sinai-Halbinsel, hat man 1975 und 76 bei Ausgrabungen mehrere Wandinschriften entdeckt. Zwei davon enthalten Segensformel beim Namen Jahwes. Eine lautet „Ich habe euch gesegnet bei JHWH von Samaria und seiner Aschera“, eine zweite: „Ich habe dich gesegnet durch JHWH [von Teman] und seine Aschera“ (vgl. Smelik, Historische Dokumente, 141–145 und die ausführliche Diskussion bei Keel/Uehlinger, Göttinnen, Götter und Gottessymbole, 237–282). Auffällig ist dabei, dass Jahwe hier eine Aschera als weibliche Gottheit zur Seite gestellt ist (so auch in den Inschriftfunden von Chirbet el-Qom, vgl. Keel/Uehlinger, ebd.) und dass Jahwe hier offenbar unterschiedliche lokale Ausprägungen hat („von Samaria bzw. „Teman“). Dies hat in neueren Darstellungen zur Religionsgeschichte Israels dazu geführt, von einem „Polyjahwismus“ zu reden, nachdem unterschiedliche Ausprägungen Jahwes im eisenzeitlichen Palästina miteinander im Streit gelegen hätten. Der vorliegende biblische Text vertrete dann einen „Monojahwismus“, vor allem aus der Perspektive Judas und Jerusalems. Veijola hat zurecht darauf hingewiesen, dass Dtn 6,4 nicht in diesem Sinne zu verstehen ist; denn hier läge der einzige inneralttestamentlich greifbare Hinweis auf einen solchen „Monojahwismus“ vor (Veijola, ATD 8/1, 178). So spannend die Inschriftenfunde auch sind – die alttestamentliche Wissenschaft wird für ihr Bild vom antiken Israel nicht darüber hinweggehen dürfen! – so sehr scheint doch das letzte Wort über ihre Interpretation noch nicht gesprochen zu sein. Die Wiedergabe des Textes ist nicht immer klar (so bei dem Wort Teman). Außerdem werden die Funde überfrachtet, wenn allein auf ihnen eine umfassende These zur Religionsgeschichte des eisenzeitlichen Israel zu stehen kommen soll. Vgl. Braulik, Das Buch Deuteronomium, in: Zenger u.a., 153f.: „Im vorliegenden Dtn greift 6,4f das Liebesmotiv von 5,10 und damit das erste Dekalogsgebot auf. Es erklärt JHWHs Gott-Sein sprachlich zwar monolatrisch, aber sachlich-theologisch bereits monotheistisch.“ Aufgrund der erkennbaren sprachpragmatischen Abfolge, V. 4: Bekenntnis –> V. 5: Folge –> V. 6– 9: Explikation der Folge, sehe ich keinen Grund V. 5 als späteren literarischen Zusatz zu identifizieren (vgl. Veijola, ATD 8/1, 177).
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nens und zugleich eine bestimmte Ausprägung der deuteronomischen Gesetzeshermeneutik: Jahwe Gottsein für Israel steht vor allen Geboten.26 Was dieses Lieben im Alltag heißt, explizieren die folgenden Verse. Der Mensch soll sich möglichst mit „diesen Worten“ – gemeint ist vor allem die Zusage, dass Jahwe unser Gott ist27 – vertraut machen und sie sollen an die künftigen Generationen weiter vermittelt werden. Dabei wird der Blick auf die Gebote des Deuteronomiums insgesamt geweitet, auch der Dekalog wird mit im Blick sein. Ein Aspekt ist aber noch besonders hervorzuheben: Die Worte sollen an den Pfosten der Häuser und der Tore sein. Die Tore als Versammlungs- und Gerichtsort der alten israelitischen Ortschaften bringen den öffentlichen Charakter des Bekennens zur Geltung: Dass Jahwe allein unser Gott ist, soll nicht nur zuhause, sondern auch in aller Öffentlichkeit bekannt werden. 2.1.2 Dtn 5,6–10: „Nur ich bin Jahwe, dein Gott“ 6 7 8 9
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Nur ich bin Jahwe, dein Gott, der dich aus Ägypten geführt hat, dem Haus der Knechtschaft. Es soll für dich keine anderen Götter geben, mir ins Angesicht. Du sollst dir kein Kultbild machen jedweder Gestalt von dem, was oben im Himmel ist oder was unten auf der Erde ist, was im Wasser ist unter der Erde. Du sollst vor ihnen nicht niederfallen und du sollst ihnen nicht dienen; denn nur ich bin Jahwe, dein Gott, ein eifernder Gott, der die Sünde der Väter heimsucht an den Söhnen bis ins dritte und vierte (Glied) bei denen, die mich hassen, aber Gemeinschaftstreue übt an tausenden (Gliedern), die mich lieben und mein Gebot halten.
Die hier wiedergegebenen Sätze sind der Prolog (V. 6) und das erste Gebot (V. 7– 10) des Dekalogs28 in der deuteronomischen Fassung. Damit liegt vor allem in wirkungsgeschichtlicher Perspektive bis zur Katechismusunterweisung eigentlich kein Bekenntnistext im strengen Sinne vor. Hier wird schließlich keine Aussage über Gott gemacht, formell kein Bekenntnis abgelegt, sondern Gott selbst redet und gibt Gebote. Es wird aber gerade an dem hier zitierten Vorspruch oder Prolog deutlich, dass alle Gebote von der Selbstqualifikation Gottes abhängen.29 In der Rezitation 26 27
28 29
Vgl. Veijola, Das Bekenntnis Israels, 92f. Mit Veijola, ATD 8/1, 177 ist der „Promulgationssatz“ die ich dir heute gebiete vermutlich als sekundärer Zusatz anzusehen. Damit werden „diese Worte“ auf die folgende Gesetzesverkündigung in Dtn 12–26 insgesamt bezogen. Das hebräische Demonstrativum אלהist aber eine Anapher, nimmt wie das deutsche jene also Bezug auf zuvor genanntes, vgl. Ehlich, Verwendung der Deixis. Zu den unterschiedlichen Zählweisen des Dekalogs und der Frage, ob das Bilderverbot ein eigenständiges Gebot oder Ausdruck des Fremdgötterverbotes ist, vgl. Veijola, ATD 8/1, 147ff. Martin Luther hat bekanntlich den Vorspruch in seiner Dekalogauslegung im Kleinen Katechismus weggelassen; denn die Christen berufen sich ja nicht auf den Exodus als heilsgeschichtliches
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des Textes wird diese Selbstqualifikation Jahwes zu einem Bekenntnissatz. Es soll danach gefragt werden, was genau Israels Gott Jahwe über sich sagt und zu was bzw. wem sich die Glaubenden bekennen, wenn sie diesen Satz zitieren. Der Prolog beginnt mit dem Nominalsatz אנכי יהוה אלהיך, für den es unterschiedliche Übersetzungsmöglichkeiten30 und auch verschiedene Interpretationen gibt. Aufgrund des vielfachen Vorkommens der Formulierung אנכי יהוהbzw. אני יהוהim AT ist der Sinn der Aussage nicht Ich bin euer Gott, sondern Ich bin Jahwe.31 Dann aber bleibt immer noch die Frage, was die Funktion oder Leistung dieses Satzes ist. In der älteren Forschung sah man hierin eine „Selbstvorstellungsformel“, mit der ein bisher unbekannter aus seiner Unbekanntheit heraustritt. Der Satz enthielte dann die Botschaft: „Ich bin Jahwe und nicht etwa Baal oder ein anderer Gott.“32 Nun ist aber Jahwe zur Zeit der Verkündigung des Dekalogs (und erst Recht zur Zeit der Entstehung des Textes im späten 7. Jh. v.Ch.33) für Israel kein Unbekannter, der sich vorstellen müsste. Zudem lassen neuere Analysen des hebräischen Nominalsatzes erkennen, dass durchaus auch das Personalpronomen „Ich“ hier das „Prädikat“, also das inhaltlich Neue der Aussage sein kann, ja aufgrund syntaktischer Parallelen sogar wahrscheinlich Prädikat ist.34 Dann aber bedeutet der Satz: „Ich – und kein anderer! – bin Jahwe.“ Das macht aber vor allem dann Sinn, wenn das Wort Jahwe irgendwie bedeutungshaltig ist. Ex 3,14 versucht bekanntlich die Bedeutung des Gottesnamens durch eine spielerische Ableitung von der Wurzel היהoder הוהzu erklären. Der Sinn ist dann: „Ich allein bin der, der sich als wirksam erweist.“ Abgesehen von der Frage, ob das etymologische korrekt ist, ist damit Richtiges getroffen: Israels Gott allein ist es, der sich seinem Volk gegenüber als wirksam erwiesen hat. Das wird hier durch den Bezug auf den Exodus betont. Gottes Geschichtshandeln weist ihn allein als Jahwe,
30 31 32 33 34
Grunddatum (vgl. BSLK, 507f.). Gleichwohl hat er die Beziehung aller Gebote zum Gottsein Gottes – und dies besagt eben der Satz Ich bin der Herr noch vor dem Gebot, keine anderen Götter zu haben – in den Erklärungen durch die ständige Voranstellung der Erklärung zum 1. Gebot Wir sollen Gott fürchten und lieben betont. Im Großen Katechismus bietet dann Luther auch den Vorspruch (wenn auch unter Weglassung des Exodusbezugs) und legt das Gottsein Gottes auch intensiv aus (vgl. BSLK, 567–572). „Die Bedeutung des Prologs nahm für Luther mit der Zeit zu. Das Verheißungsmoment des Prologs fehlt zwar nicht in den Schriften und Predigten der 1520er Jahre, aber 1530, als Luther ein novus discipulus decalogi wurde, sah er im Prolog deutlicher als früher eine reine Verheißung (promissio), der schon das ganze Evangelium im Kern enthalten sei. Jetzt sagt er zu dem Prolog, er sei ‚promissio omnium promissionum fons et omnis religionis et sapiencie caput, Euangelium Christum promissum complectens‘ [WA 30/2, 358.1–4]. Danach wurde die leitende Aussage des Prologs (ohne Ägypten-Credo) in den Nürnberger Katechismusauflagen der Jahre 1531 und 1558 sowohl in den Kleinen wie auch in den Großen Katechismus […] aufgenommen“ (Veijola, Dekalog, 35f.). Möglich sind: „Ich bin Jahwe, euer Gott“ oder „Ich, Jahwe, bin Euer Gott“, je nach dem welches Glied man als appositionell ansieht. Vgl. grundlegend Michel, Nur ich bin Jahwe, 1–12, aber vor allem: Diesel, „Ich bin Jahwe“. Vgl. in diesem Sinn vor allem Zimmerli, Ich bin Jahwe, 11–40. Vgl. Veijola, ATD 8/1, 150. Vgl. neben den in Anm. 31 genannten Arbeiten vor allem: Michel, Grundlegung 2.
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oder mit Luther: allein als den HERRN aus. Vor allen Geboten steht Gottes heilvolles Handeln in der Befreiungstat. Jahwe allein hat sein Volk aus dem Knechtshaus in Ägypten befreit. Jahwe stellt sich seinem Volk hier nicht vor, sondern er prädiziert sich als derjenige, der allein an Israel heilvoll gehandelt hat und der allein Anspruch auf Verehrung hat. Insofern entspricht das אנכי יהוהden ego eimi-Aussagen im Johannesevangelium. Daraus ergibt sich, dass Israel keine anderen Götter anbeten soll35; denn seine Freiheit ist allein im Handeln seines Gottes Jahwe begründet. Anderen Göttern zu dienen (Dtn 5,9: )עבד, ist Rückkehr in das „Haus der Knechtschaft“ (V. 6). Das Fremdgötterverbot wird durch die zweimalige Ausschließlichkeitsformel Nur ich bin Jahwe, euer Gott in V. 6 und 9 gerahmt.36 Zu Beginn des Dekalogs, steht also nicht ein Gebot, sondern eine Selbstprädikation Gottes, die das Verhältnis Israels zu seinem Gott in einem heilvollen Akt eben dieses Gottes begründet. Das Halten der Gebote ist dann „Bewahrung der Freiheit“37. Zugleich ist der erste Satz des Dekalogs eine Bekenntnisaussage. Sie entspricht ganz Dtn 6,4: Jahwe, der „unser Gott“ und einzig ist, hat auch allein Anspruch auf Verehrung.38 Wie Dtn 6,4 ist auch Dtn 5,6ff. auf Rezitation und Vergegenwärtigung angelegt.39
2.2 2.2 Bekennen als Erzählen der Taten Gottes 2.2.1 Dtn 26,1–11: „Das kleine geschichtliche Credo“ 1 2
3
35 36 37 38 39
Und es wird sein: Wenn du in das Land kommst, das Jahwe, dein Gott dir geben wird als Erbbesitz; und du nimmst es in Besitz und wohnst darin, dann sollst du von den Erstlingen aller Früchte des Ackerbodens nehmen, die du von deinem Land einbringst, das Jahwe dein Gott dir geben wird, und du sollst sie in einen Korb legen; und dann sollst du an den Ort gehen, den Jahwe, dein Gott, erwählt, um seinen Namen dort wohnen zu lassen. So kommst du zu dem Priester, der in jenen Tagen dort sein wird, und sollst zu ihm sagen: „Ich bekennen heute vor Jahwe, deinem Gott, dass ich in das Land gekommen bin, das Jahwe unseren Vätern versprochen hat, um es uns zu geben.“
Es ist sicher kein Zufall, dass das Verbot fremder Götter in Dtn 5,7 ganz eigentümlich mit der Wurzel היהgebildet ist: Hier werden יהוהund die anderen Götter kontrastiert. Zur Verwendung der Ich-bin-Jahwe-Aussage im Dekalog vgl. Diesel, „Ich bin Jahwe“, 224–233 und 383. Vgl. Crüsemann, Bewahrung. Vgl. Veijola, ATD 8/1, 154 Dafür spricht in der deuteronomischen Fassung des Dekalogs auch die Einleitung, bes. Dtn 5,3: „Nicht mit unseren Vätern hat Jahwe diesen Bund geschlossen, sondern mit uns, die wir heute hier sind und allesamt leben.“
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Dann nimmt der Priester den Korb aus deiner Hand und er soll ihn niederlegen vor dem Altar Jahwes, deines Gottes. Dann sollst du anheben und sagen vor Jahwe deinem Gott: „Ein vom Umkommen bedrohter Aramäer war mein Vater, und der zog hinab nach Ägypten und lebte dort als Fremdling mit wenigen Leuten; und der wurde dort zu einem großen Volk, stark und zahlreich. Aber die Ägypter behandelten uns schlecht und erniedrigten uns; und legten uns schwere Sklavenarbeit auf. Wir aber schrien zu Jahwe, dem Gott unserer Väter; und Jahwe hörte unsere Stimme und er sah unsere ‚Rechtlosigkeit‘ (Erniedrigung) und unsere Mühsal und unsere Bedrängung. So führte Jahwe uns aus Ägypten mit starker Hand und ausgestrecktem Arm – und mit großem Schrecken – und mit Zeichen und Wundern. Und er brachte uns an diesen Ort; und er gab uns diese Land, ein Land, das von Milch und Honig überfließt. Und jetzt bringe ich dir hiermit die Erstlinge der Früchte des Ackerbodens, den Jahwe mir gegeben hat“ – und du sollst sie niederlegen vor Jahwe, deinem Gott und du sollst niederfallen für Jahwe, deinem Gott. Und dann freue dich an all dem Guten, das Jahwe, dein Gott dir gibt und deinem Haus; du und der Levit und der Fremdling, der in deiner Mitte ist.
Dieser Text wird seit der Analyse durch Gerhard von Rad von 1938 als „kleines geschichtliches Credo“ bezeichnet. Für von Rad handelte es sich hierbei um einen sehr alten Text, der unterschiedliche Themen der Heilsgeschichte Israels zu einem Geschichtsverlauf vereint: Väter – Ägypten – Exodus – Landgabe.40 Für von Rad und später dann Martin Noth41 war auffällig, dass die Themen Schöpfung, Offenbarung am Sinai und Gabe der Gesetze nicht erwähnt wurden. Also mussten diese Themen erst später in die Heilsgeschichte Israels integriert worden sein. Die Frühdatierung des Textes ist inzwischen aufgegeben worden42 und das überlieferungsgeschichtliche Modell hat unterschiedliche, aber in jedem Fall sehr deutliche Modifikationen erfahren.43 Beide Fragen können im vorliegenden Zusammenhang dahingestellt bleiben. Liest man Dtn 26,1–11 zunächst synchron44, dann lässt sich zum Stichwort Bekennen hier doch einiges beobachten. V. 1–4 bieten eine Situationsbeschreibung. Während V. 1 den ganzen Vorgang in das Setting des Deuteronomiums (Mose spricht in Moab vor dem Einzug ins Land) einzeichnet, stellt V. 2–4 eine Art liturgisch-agendarische Verortung des folgenden „Credos“ dar. Was gleich kommt, soll 40 41 42 43 44
Vgl. neben der in Anm. 15 genannten Arbeit: Rad, ATD 8, 112–114. Vgl. Noth, Überlieferungsgeschichte. Vgl. bereits Preuß, Deuteronomium, 144–148. Zur neueren Diskussionslage vgl. z.B. Gertz (Hg.), 214–216. Dabei soll weder bestritten, noch ausgeschlossen werden, dass der Text eine Geschichte hat. Die Dubletten des Niederlegens der Früchte einmal durch den Priester (V. 4) und dann durch den Beter (V. 10) deutet auf eine Wachstum des Textes hin. Eine diachrone Analyse des Textes lohnt also durchaus, ist hier aber nicht Thema.
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beim Darbringen der Erstlingsfrüchte in Jerusalem geschehen. Der Ort ist der Tempel45 und ein Priester spielt auch eine Rolle. Das Bekenntnis wird also gottesdienstlich verortet. Damit ist es von vornherein nicht bloße „Privatsache“ des Beters sondern auf Öffentlichkeit – zumindest auf die der Gemeinschaft der Glaubenden – angelegt. In V. 3 wird der Akt des Bekennens ausdrücklich thematisiert. Das Verb נגדhi. steht dabei aber auch für das Erzählen einer Geschichte.46 Das folgende Bekenntnis gehört also in den (bzw. einen bestimmten) Gottesdienst. Es dient damit nicht nur der Anbetung Gottes und der Selbstvergewisserung des Beters, sondern auch einer versammelten Gemeinde.47 Die Anrede in der 2. P. Sg. darf nicht zu einer individualistischen Engführung verleiten: Hier ist das ganze Volk angesprochen. V. 5–10a bieten nun den eigentlichen Bekenntnistext, der gesprochen werden soll. Hierbei handelt es sich tatsächlich um das Nacherzählen einzelner Topoi der Heilsgeschichte. Erzväter – Bedrückung in Ägypten – Plagen und Herausführung – Landgabe.48 All das wird nacherzählt und als Tat „Jahwes, des Gottes unserer Väter“ (V. 7) bekannt. Somit handelt es sich um geglaubte Geschichte, in die sich die Gemeinde der Betenden einfügt, völlig unabhängig von der Frage, ob das Individuum selbst dabei war, und auch völlig unabhängig davon, ob und wie vergangene, gegenwärtige oder zukünftige Geschichtswissenschaft die bekannte Heilsgeschichte profanhistorisch zu erweisen vermag.49 V. 8 spielt terminologisch ( יצאhi.) deutlich auf das Grundbekenntnis im Prolog des Dekalogs (Dtn 5,6) an. Was dort ganz knapp gesagt wird, wird hier entfaltet. Das Nacherzählen der Heilstaten Gottes durch die Gemeinde ist Anbetung, Selbstvergewisserung, aber auch Zeugnis vom Glauben an den Gott, der „uns“ aus Ägypten geführt hat, der zu seinen Verheißungen steht, der aus Unterdrückung hilft, der hört, wenn man ihn ruft und dem für die Gaben des Landes danken kann. Was es heißt, dass Jahwe der einzig wirkende und „unser“ Gott ist (vgl. Dtn 5,6; 6,4), wird hier erzählerisch breit entfaltet. Schließlich wird daraus auch ein Fest der Ernte, in das die besitzlosen Leviten und Fremdlinge einbezogen werden (V. 11). Das Bekenntnis kann nicht ohne Folgen im Handeln sein. In seiner Struktur und Funktion als Anbetung, Selbstvergewisserung und Zeugnis im Modus des Nacherzählens der Heilstaten Gottes entspricht dieser Text 45 46
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Vgl. V. 2: Der „Ort, den Jahwe sich erwählen wird, um seinen Namen dort wohnen zu lassen“ ist die Chiffre des Buches Deuteronomium für den Tempel; vgl. Braulik, NEB.AT 28, 191. V. 3 nimmt dabei eigentlich das Bekenntnis von V. 5–10 schon einmal vorweg. Evtl. handelt es sich bei V. 3f. um einen deuteronomistischen Nachtrag zugunsten der erwähnten Priester. Theologisch bringt dieser Vers noch das Thema „Verheißung“ ins Spiel. Zum Bekennen als einem „mehrfachadressierten Sprechaktes“ vgl. Wagner, BEKENNEN, 89–95. Zur Analyse der aufgenommenen Geschichtsüberlieferungen im einzelnen vgl. Kreuzer, Frühgeschichte, 149–182. „Damit hat der Sprecher sich selbst in die Heilsgeschichte eingeordnet und hat in einer großartigen Verkürzung der Zeiten sich persönlich als den unmittelbaren Empfänger des Heilsgeschehens der Landverheißung bekannt“ (Rad, ATD 8, 114).
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dem Apostolikum. Zugleich wird im AT und den kirchlichen Bekenntnissen durch das Nacherzählen eine Brücke zu den früheren Generationen geschlagen. Die Gemeinschaft der Glaubenden umfasst räumlich und zeitlich mehr als die jeweils aktual versammelte Gemeinde. Er ist Paradigma für das (gottesdienstliche) Bekennen derjenigen, die an den Gott der Bibel glauben, bis heute. 2.2.2 Dtn 6,20–24: Die Musterkatechese 20
21 22 23 24
Wenn dein Kind dich morgen fragt folgendermaßen: „Was hat es auf sich mit den Zeugnissen und Satzungen und Rechtssätzen, die Jahwe unser Gott euch geboten hat?“ Dann sollst zu deinem Kind sagen: „Knechte sind wir gewesen für Pharao in Ägypten; aber Jahwe hat uns herausgeführt aus Ägypten mit starker Hand. Und Jahwe hat Zeichen und große Wunder getan und Übeltaten an Ägypten, am Pharao und an seinem ganzen Haus vor unseren Augen. Aber uns hat er von dort hinausgeführt, um uns hierher zu bringen und uns das Land zu geben, das er unseren Vätern versprochen hatte. Daraufhin gebot Jahwe uns, alle diese Satzungen zu tun, zu fürchten Jahwe unseren Gott, uns zugute alle Tage, damit wir leben, wie es heute ist.
In dem komplexen Kapitel Dtn 6 findet sich nach dem Schma‘ Jisrael außerdem noch die sog. „Musterkatechese“50, einer der Texte, die grundsätzlich nach dem Sinn und Stellenwert der deuteronomischen Gesetze fragen.51 Hier wird nach dem Sinn der Gesetze gefragt, wobei die Verfasser diese Frage im Kindermund verorten. Es ist denkbar, dass hier an eine Reaktion auf die in V. 7 gebotene Kinderunterweisung gedacht ist.52 Die Frage „Was ist das?“ hat also von jeher Platz in Glaubensdingen.53 Genau diese Frage muss sich der Glaube immer wieder stellen lassen und er muss sie sich selbst stellen. Natürlich soll diese Frage auch einer Antwort zugeführt werden, und wo das Selber-Formulieren schwer fällt, können Texte wie Dtn 6,21–24 oder später Luthers Kleiner Katechismus Hilfestellung leisten. Vor allem aber bewahrt die Frage „Was ist das?“ – selbst gestellt oder von anderen formuliert – den Glauben vor Selbstgenügsamkeit und Sinnentleerung. Hier also wird grundlegend nach dem Sinn der Gebote Gottes gefragt, nicht nach dem Inhalt einzelner Rechtssätze. Die Antwort auf diese Frage erstaunt den modernen Menschen vielleicht; denn es wird den Kindern nun nicht der Sinn ethischen oder moralischen Verhaltens erklärt. Vielmehr wird – analog zum „kleinen geschichtlichen Credo“ – von den Taten Jahwes für Israel erzählt.54 Wieder ist das 50 51 52 53 54
Zur Analyse des Kapitels vgl. Veijola, ATD, 174ff. Vgl. Behrens, „Gesetz und Evangelium“ (in diesem Band). Vgl. Veijola, ATD 8/1, 176. Ähnliche katechetische Stücke im AT: Ex 12,25–27; 13,14–26; Jos 4,6–7.21–24, wobei durchaus auch an Erwachsene als Fragesteller zu denken ist; vgl. Veijola, ATD 8/1, 183f. Vgl. Kreuzer, Frühgeschichte, 141–147.
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Grundbekenntnis von Dtn 5,6 der Sache nach und terminologisch präsent (V. 23). Es wird nicht der Inhalt der Gebote erklärt, sondern vom Handeln des Gesetzgebers erzählt. So wird narrativ ein Bekenntnis zu Jahwe als dem in der Geschichte für sein Volk Wirkenden abgelegt. Ein Gott, der so handelt, hat Anspruch auf ein entsprechendes Handeln seines Volkes. Orthodoxie und Orthopraxie entsprechen einander. Aber vor allem Gebot steht das Handeln des guten Gottes, nach dem man fragen kann und von dem sich erzählen lässt.55
2.3 Beten und Bekennen: Die Psalmen Die Psalmen de Alten Testaments sind mehrfachadressierte Texte.56 Sie richten sich an Gott, an den Sprecher selbst aber auch an eine Gemeinschaft, in der sie evtl. gemeinsam gebetet wurde. Sie sind damit Anbetung, Affirmation des Glaubens und Zeugnis anderen gegenüber. Psalmen sind aber auch Gebete und Bekenntnisse in einem, denn sie changieren zwischen einem Reden zu Gott und einem Reden über Gott, wie an Psalm 3 gut zu erkennen ist: 2 3 4 5
Jahwe, wie sind meine Feinde so zahlreich / stehen viele gegen mich auf, sagen viele zu meiner Lebenskraft: „Es gibt keine Hilfe für ihn bei Gott?!“ SELA. Aber Du, Jahwe, bist ein Schild zu meinen Gunsten / meine Ehre und der, der mein Haupt erhebt! Mit meiner Stimme rufe ich zu Jahwe / und er antwortet vom Berg seiner Heiligkeit. SELA
Der Beter dieses Klagepsalms wendet sich an Gott, weil er von Feinden bedroht wird. V. 2–3 bieten das Gattungselement Klage. Ab V. 4 folgt eine Vertrauensaussage, die in V. 5 unmittelbar von der Anrede Jahwes in 2. P. Sg. (V. 2–4) in eine Aussage über Gott in 3. P. Sg. übergeht. Dabei handelt es sich keineswegs um ein literakritisches Indiz. Vielmehr liegt hier ein Sprechrichtungswechsel mit einer bestimmen kommunikativen Funktion vor. Aus der Anrufung wird ein Bekenntnis. Die „Allgemeingültigkeit“ gilt dem Beter selbst, der den Blick so von der persönlichen Not hinlenkt zu den Gewissheiten des Glaubens, in dem er als Glied einer Gemeinschaft steht. Dies dient der Selbstvergewisserung. Zugleich aber wird damit ein Vertrauensbekenntnis als Zeugnis anderen gegenüber abgelegt. Befragt man die Psalmen auf ihren doppelten kommunikativen Gehalt als Akte des Betens und Bekennens, lassen sich im Psalter erstaunliche Entdeckungen machen.
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„Das Gebot erschließt sich aus dem ‚Evangelium‘, aus der Heilsgeschichte Jahwes mit seinem Volk, deren zentraler Inhalt in wenigen credoartigen Sätzen festgehalten wird“ (Veijola, ATD 8/1, 184). Vgl. zum Folgenden Wagner, Sprechen zu Gott, 3–20.
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2.3.1 Ps 91: Confessio und Conversio 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16
[Als] der, der im Schutz Eljons sitzt, / nächtigt im Schatten Schaddajs spreche ich zu Jahwe: „Meine Zuflucht und meine Burg / mein Gott, auf dich vertraue ich.“ Fürwahr er ist es, der dich vor dem Netz des Vogelfängers rettet, vor der verderblichen Pest. Mit seinen Flügeln deckt er dich und unter seinen Schwingen suchst du Zuflucht / Schild und Schutzwehr ist seine Treue. Du fürchtest dich nicht vor dem Schrecken der Nacht / vor dem Pfeil, der am Tag fliegt. vor der Pest, die im Dunkeln umhergeht / vor der ‚Seuche‘, die am Mittag verheert. Tausend fallen an deiner Seite und Zehntausend an deiner Rechten – dich erreicht es nicht. Nur dass du mit deinen Augen schaust / [so] wirst du die Vergeltung an deinen Feinden sehen. Fürwahr, du [allein], Jahwe, bist meine Zuflucht / Eljon hast du zu deiner Wohnung gemacht. Das Böse wird dir nicht widerfahren / und die Plage nähert sich nicht deinem Zelt. Denn seinen Boten hat er hinsichtlich deiner befohlen, / dich zu behüten auf allen deinen Wegen. Auf Händen werden sie dich tragen / damit du deine Füße nicht an einen Stein stößt. Auf Löwenjungen und Kobras wirst du treten / Junglöwen und Schlangen wirst du zertreten. „Wenn er an mir hängt, will ich ihn in Sicherheit bringen / ich will ihn erhöhen; denn er kennt meinen Namen. Er ruft zu mir und ich antworte ihm, ich bin bei ihm in der Not / ich will ihn erretten und will ihn ehren. Ich will ihn alle Tage sättigen und zeige ihm meine Hilfe.“
Die hier gebotene Analyse von Ps 91 folgt im Wesentlichen einer Untersuchung von Andreas Wagner.57 Die Ergebnisse sind neu und ungewohnt und nicht ohne Widerspruch geblieben.58 Aufgrund der genauen sprachlichen Beobachtungen sind sie dennoch einleuchtend und sollten gerade zum Thema Bekennen im AT wahrgenommen werden. Das Druckbild meiner Übersetzung soll verdeutlichen, dass sich Ps 91 am besten verstehen lässt, wenn man von mehreren Sprechern – so zu sagen „verteilten Rollen“ – ausgeht: In V. 1–2 und 9 spricht einer, der mit seinem Bekenntnis in V. 9 zum Jahweglauben übertritt. Die Verse 3–8 und 10–13 stellen Zusprüche von Ver-
57 58
Vgl. Wagner, Ps 91, 97–122. Vgl. Smith, Religion, 99–104.
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tretern der neuen Glaubensgemeinschaft dar, die den Konvertiten in seinem Beschluss bekräftigen. V. 14–16 schließlich sind im Munde Jahwes zu denken, der den Glaubenden seines Beistandes und seiner Fürsorge versichert. In V. 1 begegnen die Gottesnamen Eljon („der Höchste“) und Schaddaj. Die Lutherübersetzung von 1984 spricht hier von „dem Höchsten“ und „dem Allmächtigen“ und setzt inhaltlich beide mit „dem Herrn“ (Jahwe) in V. 2 gleich. Religionsgeschichtlich dienen aber Eljon und Schaddaj ursprünglich nicht zur Bezeichnung von Israels Gott Jahwe. Beide Bezeichnungen finden sich auch in Israels Umwelt in zahlreichen polytheistischen Pantheons.59 Ex 6,3 hält inneralttestamentlich eine ferne Erinnerung daran fest, dass Jahwe und El Schaddaj nicht immer schon identisch waren. Geht man davon aus, dass die drei Gottesbezeichnungen in Ps 91,1–2 nicht von jeher denselben Gott bezeichnen und bedenkt man dann noch die syntaktische Folge von Vorsatz (V. 1) und Hauptsatz (V. 2), dann liegt hier die Ankündigung einer Konversion vor: Jemand, der sich bisher auf Eljon und Schaddaj verlassen hat, will künftig Jahwe zu seiner Zuflucht erklären. V. 9 bietet dann die explizite Durchführung dieser Ankündigung mittels eines deklarativen Sprechaktes60: „Fürwahr: Du allein, Jahwe, bist meine Zuflucht.“ Für diese Abfolge von Ankündigung (V. 1–2) im „Imperfekt“ (Präformativkonjugation) und Ausführung (V. 9) als Nominalsatz oder im „Perfekt“ (Afformativkonjugaktion) lassen sich im AT zahlreiche Beispiele finden.61 Interessant ist die Frage, nach dem Sinn von V. 9b: Eljon hast du zu deiner Wohnung gemacht.62 Angeredet ist hier offenbar Jahwe, von dem gesagt wird, er habe Eljon zu seiner Wohnung gemacht. Dahinter steht die Erfahrung, dass Israels Gott Jahwe mit dem zunehmenden Anspruch seiner Universalität und dem sich durchsetzenden Gedanken des Monotheismus Eigenschaften für sich beansprucht, die in Israels Umwelt und auch in Israel selbst oft anderen Göttern zugeschrieben wurden. So wird Israels Gott „von Ägypten her“ (Hos 12,10) also dem, der sich im Exodus als wirksam erwies, schließlich auch als der erkannt, der „Korn, Wein und Öl gegeben hat“ (Hos 2,10). Lange Zeit haben aber auch die Israeliten die Sicherung der Fruchtbarkeit des Landes von den „kanaanäischen Baalen“ erwartet. Der Glaube an Jahwe, so könnte man religionsgeschichtlich sagen, usurpiert nach und nach Züge, die ursprünglich anderen Göttern zugeschrieben wurden. Das ist eine der Möglichkeitsbedingungen dafür, dass im AT Gott nicht nur als Jahwe, sondern auch als El, Elohim, Eljon, Schaddaj oder noch anders bezeichnet werden kann. Hier in Ps 91,9 wird das mit
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Vgl. Pfeiffer, Gottesbezeichnungen/Gottesnamen. Vgl. Wagner, Ps 91, 111f. Vgl. Wagner, Ps 91, 110f. Übersetzungen wie die Elberfelder: „Denn du hast gesagt: Der Herr ist meine Zuflucht; du hast den Höchsten zu deiner Wohnung gesetzt“ („Du“ ist jetzt plötzlich der Beter!) oder Luther 84: „Denn der Herr ist deine Zuversicht; der Herr ist deine Zuflucht“ sind ohne Anhalt am Text! Vgl. auch Seybold, HAT I/5, 363, der aus inhaltlichen Gründen ähnlich hilflos vor dem Text von V. 9 steht.
Aspekte alttestamentlichen Bekennens
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dem Begriff des Wohnens verdeutlicht. Jahwe zieht sozusagen in Eljon ein, und der Beter erkennt: Was er bisher von Eljon erwartete, ist eigentlich bei Jahwe zu finden. Wenn an diesen Erwägungen etwas dran ist – und vieles spricht dafür – dann hätten wir in Ps 91 wohl ein Beispiel dafür, wie primäre Religionserfahrung in sekundäre übergeht. Dies geschieht durch einen Akt des Bekennens, der sich als Konversion bezeichnen lässt.63 2.3.2 Ps 51,19: Contritio und Confessio 12
Ein reines Herz schaffe mir, Gott / und einen festen Geist erneuere in meiner Mitte.
[…] 19 Opfer, die Gott gefallen, sind ein gebrochener Geist und ein gebrochenes und zerschlagenes Herz / Gott, du wirst das nicht verachten.
Der 51. Psalm ist vielleicht der eindrücklichste Bußtext des Alten Testaments.64 Die Verse 5–7 bringen ein eindrückliches Schuldbekenntnis. Der Mensch erkennt seine Stellung vor Gott realistisch und anerkennt sie. Auch das ist ein Akt des Bekennens.65 Das Bekenntnis der eigenen Gottesferne führt zur Bitte um Erneuerung. Diese wird in für das AT einmaliger Weise in V. 12 als ein Akt der Neuschöpfung ( )בראerstrebt. Der Mensch kann sich nicht ein wenig verbessern, sondern muss wirklich neu werden. Dies ist als Schöpfungsakt Gott selbst vorbehalten. Dabei erwartet der Mensch diese Erneuerung an Herz und Geist, zwei Aspekten, die hier in Addition das Ganze Menschsein ausdrücken sollen.
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Liest man in derselben Perspektive Ps 139, so kommt dort in den V. 19–24 zum Bekenntnis auch die Abrenuntiation, die Trennung von denen, die Gott hassen, hinzu, vgl. Wagner, Permutatio religionis, 123–143. Dort findet sich in der Folge von V. 21: Sollte ich nicht die, die dich hassen, Jahwe, auch hassen / und mich ekeln vor denen, die gegen dich aufstehen? und V. 22: Mit Vollendung hasse ich sie / zu Feinden werden sie mir [hiermit]! wieder die Reihenfolge von Ankündigung und Durchführung, wie sie schon in Ps 91,1–2 und 9 zu beobachten war. „Diese Abfolge: Ankündigung in PK -> Ausführung in AK stellt eine häufig verwendete transphrastische Kombination dar, wenn es um sprachliche Äußerungen geht, in denen die thematisierte Handlung tatsächlich ausgeführt oder manifest wird. Mit V. 22 vollzieht der Beter coram deo seine Abkehr von den Jahwegegnern“ (Wagner, a.a.O., 132). In modernen Ohren klingt diese Grenzziehung mit dem Begriff des Hassens hart und intolerant. Im Text des Psalms folgt aber in V. 23–24 die Aufforderung des Beters an Jahwe, er möge auch ihn selbst einer Prüfung unterziehen. So wird die Abrenuntiation auch zu einem ständigen Akt der Absage an die eigenen gottfernen Tendenzen: V. 23: Erforsche mich, Gott, und erkennen mein Herz / stell mich auf die Probe und erkenne meine (unruhigen) Gedanken. V. 24: Und siehe, ob ich auf dem Weg der Mühsal bin / und leite mich auf dem Weg der Ewigkeit – damit (und nicht mit bösen Wünschen gegen die anderen) endet der Psalm! Vgl. ausführlich Behrens, „Schaffe in mir, Gott, ein reines Herz“ (in diesem Band). Vgl. oben Anm. 4.
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Das heißt in letzter Konsequenz aber, dass jede menschliche Initiative ausgeschlossen ist und das umfasst auch die bisher üblichen (und von Gott gebotenen) kultischen Opfer. So formuliert V. 18: „Fürwahr, du hast keinen Gefallen an Schlachtopfern, auch wenn ich sie gäbe / ein Brandopfer akzeptierst du nicht.“66 Dieser Gedanke ist, wie der ganze Psalm bisher, als Anrede an Gott in 2. P. Sg. formuliert. Der nächste Satz aber wechselt in die 3. P. Sg. und stellt damit vermeintlich einen Stilbruch dar: „Opfer, die Gott gefallen67, sind ein gebrochener Geist und ein gebrochenes und zerschlagenes Herz“. Mit dem Personwechsel geht ein Sprechrichtungswechsel einher: Aus dem Gebet zu Gott, wird ein Bekenntnis über Gott. Man könnte auch sagen: Sündenbekenntnis und Glaubensbekenntnis gehen hier Hand in Hand. Die persönliche Perspektive des Beters wird aufgehoben in die Gewissheit des Bekenntnisses. Der Bekenntnissatz ist eine verdichtete – und deutlich überindividuelle – Erkenntnis des ganzen Psalms: Wo sich der Mensch selbst im Gebet Gott mit allen Aspekten seines Menschseins („Geist“ und „Herz“) anvertraut, wird Neuschöpfung erfahrbar. Daher endet der Text auch wieder mit einer Vertrauensanrede: „Gott, du wirst das nicht verachten.“ Der Blick auf diesen Text ist im vorliegenden Kontext von Bedeutung, weil er den engen Zusammenhang von Sündenbekenntnis und Glaubensbekenntnis ausdrückt. Da, wo der Gott Israels als der Wirksame bekannt wird, ist Raum für das offene Bekenntnis der eigenen Sünde. Und umgekehrt muss alles Bekenntnis zur religiösen Wahrheit der eigenen Sündhaftigkeit inne sein und kann nie rechthaberisch, sondern nur in der Solidarität der begnadigten Sünder geschehen. Schließlich bestätigt gerade der Blick in die Psalmen noch einmal einen zentralen Aspekt des Eingangszitats von Gunther Wenz: Das Bekennen gehört in der Tat in den Kontext des Gebetes und ist nur von daher und als lobende Anrede dessen, zu dem sich bekannt wird, angemessen.
2.4 Zusammenfassung Bei der Betrachtung der hier vorgestellten alttestamentlichen Texte erweist sich der eingangs zitierte Satz von Gunther Wenz für den ersten Teil der christlichen Bibel als zutreffend, und zwar hinsichtlich beider Aspekte, die darin gemacht werden: Das Bekenntnis gehört in den Kontext des Gebetes und der „Glaube“, der sich im AT greifen lässt, drängt tatsächlich auf ein Bekennen hin. Auch wenn hier vor allem Texte aus dem deuteronomisch-deuteronomistischen Textbereich und den Psalmen betrachtet wurden, kann das Gesagte doch für das AT insgesamt gelten.68 Dies gilt 66 67 68
Dieser Gedanke ist offenbar bereits zur Zeit des AT selbst als zu radikal empfunden worden. Daher korrigieren spätere Ergänzer den Text durch Hinzufügung von V. 20 und 21. Wörtlich: „Opfer Gottes“. Alles, was über den Dekalog gesagt wurde, gilt ebenso für Ex 20 und den priesterschriftlichen Textbereich des Pentateuch. Auch bei den Propheten finden sich bekenntnisartige Texte, insbesondere bei dem Ringen um die ausschließliche Verehrung Jahwes bei Hosea, in der Völkerwall-
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vielleicht nicht für alle Phasen der Religionsgeschichte Israels, wohl aber für die theologische Reflexionsgestalt des Glaubens an den Gott der Bibel, wie sie sich in der Schriftensammlung des Alten Testaments niedergeschlagen hat. Zumindest in seiner „kanonische Endgestalt“ – von der immer nur als einer pragmatischen Größe gesprochen werden kann – ist das Alte Testament / die Hebräische Bibel Ausdruck und Niederschlag einer sekundären Religionserfahrung und damit Zeugnis einer Bekenntnisreligion. Folgendes lässt sich anhand der betrachteten Texte für das Bekennen im Alten Testament zusammenfassen: – Es gibt das Bekenntnis zu dem einen Gott, der sich allein als wirksam erwiesen hat (Dtn 6,4). – Dieses Bekenntnis der Glaubenden verhält sich reziprok zur heilvollen Selbstkundgabe und Selbstprädikation Gottes (Dtn 5,6). – Diese Selbstkundgabe bezieht sich auf Gottes heilvolles Handeln für sein Volk im Exodus (Dtn 5,6; 6,21–23). – Dieses Handeln und Reden Gottes geht allem menschlichen Erkennen, Bekennen und auch jeder Gebotserfüllung voraus (Dtn 6,20–24). – Gleichwohl stellt es die, die es hören, vor die Wahrheitsfrage und die Aufgabe, keine anderen Götter anzubeten (Dtn 5,7–9). – Das Bekenntnis zu diesem Gott lässt sich immer wieder vor die Frage stellen: „Was ist das?“ (Dtn 6,20) – Auf diese Frage kann im Modus des Erzählens geantwortet werden; dieses Erzählen von Gottes Taten ist zugleich Bekenntnis und Zeugnis (Dtn 6,21–23; 26,5–10). – Bekennen ist mehrfachadressiert: Es ist Anbetung, Selbstvergewisserung und Zeugnis bzw. Verkündigung. – Das Bekennen drängt schon Dtn 6,4ff. her auf Gemeinschaft und Öffentlichkeit; denn das Bekennen ist ein gemeinsamer Akt, der in die Gemeinschaft des Gottesvolkes stellt. – Bekennen des einen Gottes hat Folgen für das Handeln im Befolgen der Gebote (Dtn 6,24), in der Freude des Festes und der Zuwendung zu anderen (Dtn 26,11). – Bekenntnis stellt vor die Wahrheitsfrage und kann zur Konversion führen (Ps 91). – Dem entspricht die Abrenuntiation von den falschen Göttern und die Trennung von deren Anhängern (Ps 139,21f.). fahrt zum Zion (Jes 2 // Mi 4) oder im großen Geschichtsrückblick Ez 20. Mit fortschreitender Entwicklung nimmt die Tendenz zum Bekennen etwa im chronistischen Werk, bei Esra / Nehemia und erst recht in den Makkabäerbüchern zu. Wie bei anderen „theologischen“ Fragen ist die alttestamentliche Weisheitsliteratur gesondert zu betrachten. Aber im Stadium der Theologisierung der Weisheit ist auch ein Satz wie „die Furcht Jahwes ist der Weisheit Anfang“ (Spr 1,7) eine Art Bekenntnis.
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Dies bedeutet immer eine Selbstprüfung und die Bitte an Gott zur Wegweisung (Ps 139,23f.). Bekennen und Beten verweisen aufeinander und hängen eng miteinander zusammen: Ein Bekenntnis zu einer Wahrheit gibt es nicht ohne das Reden zu Gott. Damit hängt zusammen, dass Glaubensbekenntnis und Sündenbekenntnis zwei Seiten derselben Medaille sind: Wer eine einmal erkannte biblische Wahrheit bekennt, kann das nur in der Solidarität der begnadeten Sünder (Ps 51).
3. Folgerungen Die Merkmale alttestamentlichen Bekennens, wie sie eben nachgezeichnet wurden, haben große Wirkung entwickelt und wirken bis heute. Allerdings stellt sich die Frage, ob ein Glaube der sich in einem Bekenntnis ausspricht, das auf die Wahrheitsfrage zielt und den Absolutheitsanspruch eines Gottes behauptet und somit andere Glaubensüberzeugungen auch als „falsch“ bezeichnen kann, in einer weltanschaulich toleranten Gesellschaft nicht vor allem zu Intoleranz oder gar Gewalt führt. Insbesondere der Ägyptologe Jan Assmann hat diesbezüglich die Unterscheidung Theo Sundermeiers von primärer und sekundärer Religionserfahrung weitergedacht.69 Jan Assman überträgt zunächst Sundermeiers Unterscheidung, die ja vor allem angesichts zeitgenössischer afrikanischer Stammeskulturen gewonnen wurde, auf die Antike. Für Assmann handelt es sich auch bei den Polytheistischen Hochkulturen Ägyptens, Mesopotamiens oder der griechisch-römischen Antike um „primäre Religionen“. Denn hier liegen Kultur und Religion ineinander. Es gibt streng genommen keine Wahrheitsfrage und keinen Zwang zur Entscheidung. Die Götter sind mit ihren unterschiedlichen Zuständigkeiten evident und interkulturell auch „übersetzbar“, wie vor allem ein Vergleich des griechischen mit dem römischen Pantheon oder der unterschiedlichen Kulturen des Zweistromlandes (Sumerer, Akkader, Babylonier) zeigt. Erst mit dem Monotheismus kommt der Zwang zur Entscheidung. Den Monotheismus kann Assmann zuerst in Israel und dort vor allem in der Gestalt des Moses greifen. Daher spricht er von der „Mosaischen Unterscheidung“, die sich am Gegensatz von „Israel“ und „Ägypten“, dem „Haus der Knechtschaft“ greifen lässt. „Monotheistische Religionen konstruieren den Gegensatz zwischen dem Alten und dem Neuen nicht im Sinne einer Evolution, sondern einer Revolution, und lehnen alle anderen oder älteren Religionen als ‚Heidentum‘ oder ‚Götzendienst‘ ab. Alle monotheistischen Religionen sind Gegenreligionen.“70 69 70
Vgl. insbesondere Assman, Moses der Ägypter; ders., Die Mosaische Unterscheidung, sowie Diesel, Religion(serfahrung), 31–35. Assmann, Moses der Ägypter, 24.
Folgerungen
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Dieser zwang zu dauernder Unterscheidung wohnt für Assmann dem Monotheismus notwendigerweise und unvermeidbar inne: „Wir fangen an mit Christen und Heiden und enden bei Katholiken und Protestanten, Lutheranern und Calvinisten, Sozinianern und Latitudinarien und Tausenden ähnlicher Bezeichnungen und Unterbezeichnungen. Solche kulturellen, religiösen oder intellektuellen Unterscheidungen konstruieren nicht nur eine Welt, die voller Bedeutung, Identität und Orientierung, sondern auch voller Konflikt, Intoleranz und Gewalt ist.“71 Insofern scheint einem Glauben, der zum Bekennen drängt, die Tendenz zur Intoleranz und Gewalt innezuwohnen. Die Lösung könnte darin liegen, auf jeden religiösen Wahrheitsanspruch und damit auch auf alles Bekennen zu verzichten und der Einsicht Raum zu geben, dass an allem irgendwie auch was dran ist. Diese Überlegungen Assmanns haben, wie gesagt, breites Echo gefunden und sind auch in der Theologie schon viel diskutiert worden.72 Sie stellen, so meine ich, eine bleibende Herausforderung für ein bekenntnisgebundenes Christentum dar. Man mag einwenden, dass Assmanns Bild von den primärreligiösen antiken Hochkulturen zu simpel ist (Toleranz und Gewaltlosigkeit herrschten dort gerade nicht), oder auch, dass die Gleichsetzung der Wahrheitsfrage mit Intoleranz oder gar Gewaltbereitschaft kurzschlüssig ist. Gleichwohl lehrt ein Blick in die Geschichte (und die Gegenwart!) der Religionen und auch des Christentums, dass es eben viel Intoleranz und Gewalt gegeben hat. Gerade wenn sich christlicher Glaube, der sich auf die Bibel beruft, in der Gegenwart mit der Botschaft vom Evangelium zu Wort melden will, ja muss, dann muss danach gefragt werden, wie vom Standpunkt des Bekenntnisses aus, das Gespräch mit den Zeitgenossen in einer nachaufklärerischen und weltanschaulich pluralen Gesellschaft geführt werden kann. Zwei Dinge sind dabei zugleich zu berücksichtigen: 1. Der Glaube wird als durch Gott von außen geschenkte Neubestimmung der eigenen Existenz die existenziell als „wahr“ erkannte Einsicht in das Wesen Gottes, des Menschen und der Welt nicht aufgeben oder relativieren können. Zugleich geschieht das Bekennen dieser „Wahrheit“ nie als ein bloß individueller Akt, sondern in der Gemeinschaft der Glaubenden. Bekenntnistexte können dann als rechenschaftsfähige und für die Glaubensgemeinschaft verbindliche aber eben darin gesprächsfähige Texte gelten. Gerade in einer pluralen Welt gilt: Wer den anderen verstehen und mit ihm in einen echten Dialog eintreten will, muss sich selbst und seine Grundlagen verstehen. Gerade ein dezidierter Standpunkt ist gesprächsfähig. Jedwede Überzeugung, die notwendigerweise auch das Überzeugtsein von ihrem eigenen Gegenteil ausschließt, der Intoleranz zu zeihen, wäre absurd. 2. Gerade ein bekenntnisgebundener Glaube und eine bekenntnisgebundene Theologie müssen die Gefahr zur Intoleranz im eigenen System erkennen und
71 72
Assmann, Moses der Ägypter, 17. Vgl. die Übersicht bei Welke-Holtmann, Konzept, 45–55 oder Kaiser, Theologie 3, 343–392.
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Bekennen im Alten Testament
nach Wegen zum toleranten Dialog suchen, ohne dabei die eigene Glaubensüberzeugung aufzugeben. Die gewonnenen Einsichten in Aspekte alttestamentlichen Bekennens können dabei helfen. Dies gilt für das allem Bekennen vorauslaufende Heilshandeln Gottes. Darauf ruht der Glaube und nicht auf eigeeigenem Bekennermut. Dies findet seinen Ausdruck darin, dass Bekennen und Beten zueinander führen. Wer sich aber im Gespräch an Gott wendet, wird dem anderen die eigene Wahrheit nicht aufzwingen müssen. Toleranz heißt dann nicht, dass ich von meinem eigenen Standpunkt aus auch alles andere für „wahr“ halte, wohl aber dass ich Achtung vor dem anderen Menschen habe, auch wenn ich sein Weltbild nicht teile. Dies gilt erst recht, wenn nach biblischem Zeugnis alle Menschen in der Solidarität der begnadigten Sünder leben. Dann lässt sich von den großen Taten Gottes erzählen und eben so fröhlich und weltoffen in einer pluralistischen Gesellschaft leben. Am Ende verbürgt nicht christliches Bekenntnis die Wahrheit Gottes, sondern umgekehrt.
„Am Anfang schuf Gott Himmel und Erde“ Grundlagen eines biblisch-theologischen Schöpfungsverständnisses aus der Perspektive lutherischer Theologie. 1
1. Schöpfung, Evolution und Kreationismus Im Jahr 2009 jährten sich der Geburtstag von Charles Darwin zum 200. und die Veröffentlichung seines Hauptwerks Über die Entstehung der Arten zum 150. Mal.2 Darwins Werk, vor allem die mit seinem Namen verbundene Evolutionstheorie, haben das moderne Weltbild in mindestens ebensolcher Weise verändert wie die sozialistische Gesellschaftsanalyse von Karl Marx oder die Begründung der Psychoanalyse durch Sigmund Freud. Alle diese Phänomene trugen gleichsam als relativ späte Früchte der Aufklärung zur Säkularisierung der Moderne bei. Für das Gestalten der gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Strukturen schienen christliche Religion („Opium des Volkes“) und Kirche ebenso überflüssig wie für das Verstehen des Seelenlebens. Und schließlich wurde Gott auch für die Entstehung der Welt und der auf ihr lebenden Arten entbehrlich. Es waren eben nicht alle Lebewesen „nach ihrer Art“ geschaffen, wie es in Gen 1 heißt, sondern die Arten hatten sich in einem langen Prozess der Mutation und Selektion entwickelt. Ja, der Mensch selbst wurde seiner Stellung als vermeintliche „Krone der Schöpfung“ beraubt, da er und seine primatenhaften Verwandten allesamt von einem affenähnlichen Vorfahren abstammten (die vulgäre Fassung dieses Gedankens, der Mensch stamme vom Affen ab, ist eine Verzeichnung ernsthafter Evolutionsbiologie).3 Inzwischen scheint es so, dass wissenschaftliche Erklärung über die Entstehung der Welt und der Entwicklung des Lebens und der christliche Glaube an Gott zu einem schiedlich-friedlichen Nebeneinander gefunden hätten.4 Genaues Hinse1
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Ein Vortrag auf der Studientagung „Wie verstehst Du, was Du liest?“ am 15. und 16. Juni 2009 im Zentrum Ökumene der EKHN in Frankfurt am Main. Ich danke Jörg Bickelhaupt für die freundliche Einladung, sowie Walter Hilbrands und Hansjörg Hemminger für offenen und anregenden Austausch. 4 Vgl. Bowler, RGG 2, 582f.; das Werk Charles Darwin, Die Entstehung der Arten [On the Origin of Species 1859], Hamburg 2008, ist in verschiedenen deutschen Übersetzungen erhältlich. Vgl. dazu Gremels, LuThK 34 (2010), 227–250, der treffend mit Freud von der „dreifachen Kränkung des neuzeitlichen Ichs“ spricht. Dabei gibt es bereits sehr lange einen Diskurs zwischen Theologie und Naturwissenschaft; vgl. z. B: Schöpfungsglaube und Evolutionstheorie. Eine Vortragsreihe bekannter Theologen und Naturwissenschaftler, Stuttgart 1955 [!]. Von theologischer Seite finden sich darin Texte von Hans von Campenhausen, Günther Bornkamm oder Gerhard von Rad, dessen Beitrag „Die biblische Schöpfungsgeschichte“, a.a.O., 25–37 auch heute noch lesenswert wäre. Problematisch ist allerdings, dass dieses Bändchen auch Beiträge sog. „Abstammungsforscher“ wie Gerhard Heberer
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„Am Anfang schuf Gott Himmel und Erde“
hen macht aber immer noch Bruchlinien deutlich – auch und vielleicht gerade im Darwinjahr. Einerseits ist ein Erstarken von im weiteren Sinne kreationistischen Strömungen innerhalb der Christenheit zu beobachten.5 Auf der anderen Seite treten aber auch (wieder?) Evolutionsbiologen mit leidenschaftlichem aufklärerischem und dabei explizit oder implizit antireligiösem Pathos auf. Mit dem Nimbus der Wissenschaftlichkeit wird dabei dem Glauben an einen Gott oder gar an einen Schöpfergott das Verharren in der selbstverschuldeten Unmündigkeit attestiert.6 Oder – was in Wirklichkeit nicht besser ist – Religion wird als evolutionsbiologisch erklärbare Funktion des menschlichen Gehirns erklärt, wobei gelegentlich glaubenden Menschen eine höhere Daseinszufriedenheit als Selektionsvorteil bescheinigt wird.7 Insofern sind die Gegenstände des Glaubens – vor allem ein persönlicher Gott – außerhalb des menschlichen Gehirns zwar nicht real, aber innerhalb evolutionärer Logik ist Religion als Selektionsvorteil quasi unausrottbar. Nun, das beruhigt mich als Christenmenschen wenig; denn ich bin und bleibe bis auf weiteres davon überzeugt, dass sich mein Glaube auf eine Realität außerhalb meiner selbst bezieht, wenn diese Realität mit naturwissenschaftlichen Mitteln auch nicht vollständig zu erfassen ist. Ich wage mich nicht weiter auf das Glatteis moderner Evolutionistik und möchte hier lediglich festhalten, dass die Evolutionstheorie im Gefolge Darwins keinesfalls weltanschaulich neutral oder gar in irgendeiner Weise objektiv ist. Vielmehr liegt in ihr nicht nur eine Beschreibung, sondern auch eine Deutung der Welt vor, die in sich das Potential zu einer Verabsolutierung8 und Ideologisierung trägt, wie die sozialdarwinistischen Verirrungen des letzten Jahrhunderts gezeigt haben. Die Evolutionstheorie mag auf mancherlei Weise einleuchtend die Entstehung und die Entwicklung des Lebens auf der Erde erhellen, ob sie allerdings geeignet ist, das Wesen des Lebens zu erfassen, und ob es notwendigerweise keinen Schöpfer gibt, weil die Naturwissenschaft keinen Zugang zu ihm findet, möchte ich ausdrücklich in Frage stellen. Wie ist es möglich, die Einsichten des rechenschaftsfähig dazulegenden christlichen Glaubens (d.i. Theologie) mit der Kosmologie der Evolutionstheorie kritisch
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enthält, der bereits 1933 der SA beitrat und später auf persönlichen Einsatz Himmlers hin eine Stelle im sog. „Rasse- und Siedlungshauptamt“ der SS bekleidete. Nach kurzer „Entnazifizierung“ machte Heberer auch in der Bundesrepublik weiter Karriere als Direktor der „Anthropologischen Forschungsstelle“ in Göttingen. Biologische Anthropologie und menschenverachtender Sozialdarwinismus berühren sich hier aufs Engste! Vgl. den Film „Von Göttern und Designern“ von Peter Moers und Frank Papenbroock, ausgestrahlt am 9. September 2006 auf arte. Vgl. Dawkins, Der Gotteswahn. Vgl. z.B. unterschiedliche Beiträge in: Glaubenssachen, Psychologie Heute compact, Heft 19/2008, oder: Ist Glaube Produkt der Evolution? Frankfurter Rundschau vom 24.4.2009. Vgl. das Porträt des Wissenschaftshistorikers Thomas Junker unter dem Titel „Lust, Angst, Ekel – alles ist Evolution“, Frankfurter Rundschau vom 5.3.2009. Darin wird Junker zitiert: „Was ihm selbst Darwin bedeutet sei einfacher zu erklären: ‚Alles. Ohne ihn wären wir in dumpfer Unwissenheit. Mit ihm lässt sich nahezu alles begründen.‘“
Schöpfungsaussagen im Alten Testament
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ins Gespräch zu bringen? Um es vorweg zu sagen: M.E ist der christlich motivierte Kreationismus (samt modernerer Spielarten wie Intelligent Design) nicht der gewiesene Weg, weil er notwendigerweise bei einer bloßen Bestreitung der Evolutionstheorie auf deren eigenem naturwissenschaftlichem Feld methodisch lediglich reaktiv bleibt und zudem in der Negation zu verharren droht. Andererseits begegnet der Kreationismus aber auch der Bibel als der zentralen Urkunde des christlichen Glaubens nicht sachgerecht.9 Darauf wird am Ende zurückzukommen sein. Zunächst möchte ich mich nicht ausschließlich kritisch zu den Ergebnissen der Evolutionstheorie äußern. Anstelle einer solchen Negation möchte ich eine Position beziehen, indem ich skizzenhaft die christliche Rede vom Schöpfer und der Schöpfung nachzeichne. Dies soll hier beispielhaft dargestellt werden am alttestamentlichen Zeugnis von der Schöpfung und dem Bekenntnis zu Gott dem Schöpfer in lutherischer Perspektive. Dabei ist zu beachten, dass lutherische Kirche nichts anderes sein will, als die Kirche Jesu Christi durch alle Zeiten, in der das biblische Evangelium sachgerecht zur Sprache kommt. Dieses Evangelium bezeugt die lutherische Kirche verbindlich und rechenschaftsfähig in ihren Bekenntnisschriften, die eine sachgerechte Entfaltung des Evangeliums sein wollen. Urkunde des Glaubens und oberste Norm (Regel und Richtschnur) aller kirchlichen Lehre ist und bleibt die heilige Schrift Alten und Neuen Testaments (sola scriptura).10 Daher sollen zunächst biblische Schöpfungsaussagen zur Sprache kommen und auf ihren historischen Sinn und ihre gegenwärtige Bedeutung befragt werden. Dann soll ein Blick auf den Ort innerhalb des lutherischen Bekenntnisses geworfen werden, an dem von Schöpfung und dem Schöpfer die Rede ist. Zusammenfassende Bemerkungen zum lutherischen Schriftverständnis schließen meinen Ausführungen ab.
2. Schöpfungsaussagen im Alten Testament Das Folgende kann hier lediglich eine skizzenartige Zusammenfassung exegetischer Erkenntnisse unter dem Fokus der Schöpfungsthematik sein. Weder sollen exegetische Spezialfragen zu den im Folgenden diskutierten Texten gelöst oder neue Thesen geboten werden, noch wird der Anspruch auf Vollständigkeit erhoben. So kommen nur einzelne Psalmen in den Blick, andere – wie Ps 104 – bleiben unerwähnt, wären aber gleichwohl interessant. Aus dem Bereich der Prophetie konzentriere ich mich auf Aussagen aus dem zweiten Teil des Jesajabuches, während etwa Hosea, der sich dem Thema Schöpfung auf eine ganz andere, eigene Art nähert, nicht ausführlich gewürdigt werden kann. Das Schöpfungsverständnis der 9 10
Vgl. Link, EvTh 68 (2008), 84–98. „Wir glauben, lehren und bekennen, daß die einige Regel und Richtschnur, nach welcher zugleich alle Lehren und Lehrer gerichtet und geurteilt werden sollen, seind allein die prophetischen und apostolischen Schriften Altes und Neues Testamentes...“ so die Konkordienformel von 1577 in ihrem „Summarischen Begriff“; BSLK, 767.
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„Am Anfang schuf Gott Himmel und Erde“
Weisheit, wie es sich insbesondere im Hiobbuch greifen lässt, kommt hier nicht in den Blick. Schon dieser kurze Hinweis auf die Vielfalt der alttestamentlichen Schöpfungsaussagen macht deutlich, dass es dort keinesfalls nur oder auch nur vorrangig um Aussagen über die Entstehung der Welt in einer zurückliegenden Vergangenheit geht. Dasselbe ließe sich sagen, wenn man zusätzlich Schöpfungsaussagen aus dem Neuen Testament in den Blick nähme. Dabei ergibt sich nämlich eine enge Verbindung der Themen Schöpfung und Erlösung im Brennpunkt der Christologie. So z. B. in 2Kor 4,6: Denn Gott, der sprach: Licht soll aus der Finsternis hervorleuchten, der hat einen hellen Schein in unsre Herzen gegeben, dass durch uns entstünde die Erleuchtung zur Erkenntnis der Herrlichkeit Gottes in dem Angesicht Jesu Christi.
Oder Joh 1,1–3: Am Anfang war das Wort, und das Wort war bei Gott, und Gott war das Wort. Dasselbe war im Anfang bei Gott. Alle Dinge sind durch dasselbe gemacht und ohne dasselbe ist nichts gemacht, was gemacht ist.
Hier zielen die expliziten und impliziten Bezugnahmen auf die alttestamentlichen Schöpfungsaussagen unbedingt auf die Erkenntnis Christi. Um eine Information über die Entstehung der Welt geht es hier gar nicht.11
2.1 Die beiden Schöpfungsberichte Gen 1* (P) und 2* (J) In Gen 1,1 – 2,4a und 2,4b–25 (der Zusammenhang ist bis 3,24 auszuziehen) liegen zwei verschiedene Schöpfungsberichte vor, die sich u. a. durch unterschiedliche Gottesbezeichnungen (Elohim und Jahwe), unterschiedlichen Stil, unterschiedliche Reihenfolge der Schöpfungswerke, unterschiedliche Terminologie („Schaffen“/„Bilden“/„Machen“) differenzieren lassen: Gen 1* ist ein priesterschriftlicher Text, frühestens aus der Zeit des Exils (ca. 550 v.Ch). Gen 2* ist ein vorpriesterschriftlicher bzw. jahwistischer Text aus der späten Königszeit Judas (7./6. Jh. v.Ch.).12
11
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Vgl. auch Elert, Glaube, 247–268, der das Kunststück fertig bringt, in seinem Kapitel über „Die Schöpfung“ beinahe ohne jeden Bezug auf das Alte Testament auszukommen, dafür aber reichlich neutestamentliche Belegstellen beibringt. Das erfreut den Alttestamentler wenig und mag auch ein Hinweis auf das schwierige Verhältnis Elerts zum ersten Kanonteil sein. Andererseits macht dies aber auch deutlich, dass das Neue Testament keineswegs ohne Schöpfungsaussagen ist, deren soteriologischer Zielpunkt aber klar erkannt werden muss. Vgl. als neueren literargeschichtlichen Entwurf Kratz, Komposition, 226–262; ähnlich Gertz (Hg.), Grundinformation, 236–247 und 260–268.
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Beide Texte greifen auf ältere Schöpfungsvorstellung aus der altorientalischen Umwelt zurück.13 Schöpfung ist demnach nicht eigentlich ein Glaubensgegenstand Israels, sondern eine selbstverständliche Voraussetzung des alttestamentlichen Weltbildes.14 Auf je ihre Weise interpretieren die beiden Schöpfungsberichte das Geschaffensein der Welt als Handlung von Israels Gott. Dabei werden zum einen unterschiedliche Aspekte des Menschseins entfaltet und zum anderen die Frage nach dem Verhältnis von Jahwes Handeln in der Geschichte und seinem Schöpferhandeln aufgeworfen. Religionsgeschichtlich ist zwischen Welt- und Menschenschöpfung zu unterscheiden15, aber in den alttestamentlichen Berichten ist nun beides zusammengehalten. Beide Schöpfungserzählungen legen mit je eigenem Schwerpunkt den Nachdruck auf die Menschenschöpfung. Dies ist festzuhalten, auch wenn Gen 1 und 2 je einen eigenen Schwerpunkt legen, so dass die Weltschöpfung im zweiten Bericht keine allzu große Rolle zu spielen scheint. Andererseits liegt aber auch in Gen 1 alles Gewicht auf dem Abschluss in der Menschenschöpfung. Dieses Werk ist in Gen 1,26–28 durch mehrere Indikatoren – Beschluss Gottes, besonderer Segen, Herrschaftsauftrag etc. – von den übrigen Werken abgesetzt. Die beiden Texte lassen sich formallogisch nicht als Darstellung eines einzigen konsistenten Geschehensablaufes lesen. Dagegen spricht schon die unterschiedliche Reihenfolge. Es geht weder in dem einen, noch in dem anderen Text um einen „historischen“ Bericht über die Weltentstehung. Was wollen die Texte sagen? 2.1.1 Gen 1,1 – 2,4a: Der priesterschriftliche Schöpfungsbericht
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Am Anfang schuf Gott den Himmel und die Erde. Und was die Erde anbelangt: Sie war wüst und leer, und Finsternis war auf der Oberfläche der Urflut; und der Geist Gottes rüttelte über der Oberfläche der Wasser.
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Da sprach Gott: „Es werde Licht“; so wurde es Licht.
Vgl. neben den religionsgeschichtlichen Parallelen, die in den Kommentaren genannt werden, ausführlich: Keel/Schroer, Schöpfung. Dort ist der hermeneutische Zielpunkt allerdings die Herausstellung der Natur als „Gesamtkunstwerk Gottes“ mit einem Recht „auf Weiterexistenz, unabhängig vom Menschen“ (a.a.O., 36). Dem kann ich so nicht folgen, da ich hier darzulegen versuche, dass es einen Zugang zur „Schöpfung“ (nicht zur Natur!) nur über einen Zugang zum „Schöpfer“ gibt. Letzterer lässt sich aber nur über die Soteriologie, insbesondere die Christologie vermitteln. Das schließt ein christlich motiviertes Eintreten für die Bewahrung der Schöpfung nicht aus, sondern ein. Aber eine Schöpfungstheologie unabhängig von oder neben der Christologie ist aus lutherischer – und ich meine auch hier: gemein christlicher – Perspektive nicht zu gewinnen. Vgl. dazu bereits Rad, Das theologische Problem des alttestamentlichen Schöpfungsglaubens, 136–147; zu der Debatte um den Stellenwert des Themas Schöpfung im Glauben Israels: Ludwig Schmidt, Schöpfung, 267–289. Die Unterscheidung geht zurück auf Albertz, Weltschöpfung.
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Und Gott sah das Licht, dass es nämlich gut war; und Gott schied zwischen dem Licht und der Finsternis. Und Gott nannte das Licht Tag, aber die Finsternis nannte er Nacht; und so wurde es Abend und es wurde Morgen: Tag eins. Da sprach Gott: „Es werde eine Feste inmitten der Wasser, die sei eine Scheidung zwischen Wassern und Wassern!“ [LXX: und es geschah so] Und Gott machte die Feste und schied zwischen den Wassern, die unterhalb der Feste und den Wassern, die oberhalb der Feste waren – und es geschah so [LXX: –]. Und Gott nannte die Feste Himmel; und so wurde es Abend und es wurde Morgen: Tag zwei. Da sprach Gott: „Die Wasser sollen sich unterhalb des Himmels sammeln an einem einzigen Ort, so dass das Trockene sichtbar werde!“ Und es geschah so. Und Gott nannte das Trockene Land und die Sammlung der Wasser nannte er Meer; und Gott sah, dass es gut war. Da sprach Gott: „Es grüne das Land Grünzeug, Kraut, das Samen hervorbringt [und] Fruchtbäume, die Frucht bringen nach ihrer Art, worin ihr Same ist!“ Und es geschah so. So ließ das Land Grünzeug hervorgehen, Kraut, das Samen hervorbringt nach seiner Art und Bäume, die Früchte bringen, worin ihr Same ist nach ihrer Art; und Gott sah, dass es gut war. So wurde es Abend und es wurde Morgen: Tag drei. Da sprach Gott: „Es seien Lichter an der Feste des Himmels, um zwischen Tag und Nacht zu scheiden; und die sollen Zeichen sein für Zeitpunkte und Tage und Jahre. Und die sollen Lichter an der Feste des Himmels sein, um auf die Erde zu scheinen.“ Und es geschah so. Und Gott machte die beiden großen Lichter; das große Licht, um den Tag zu beherrschen und das kleine Licht, um die Nacht zu beherrschen und die Sterne. Dann setzte Gott sie an die Feste des Himmels, um auf die Erde zu scheinen und über den Tag und die Nacht zu herrschen und um zwischen dem Licht und der Finsternis zu scheiden; und Gott sah, dass es gut war. So wurde Abend und es wurde Morgen: Tag vier. Da sprach Gott: „Es wimmle das Wasser von einem Gewimmel lebendiger Wesen; und Vögel sollen über die Erde fliegen auf der Oberfläche der Feste des Himmels.“ Und Gott schuf die großen Tanim-Drachen; und alles lebendige Gewürm, das im Wasser wimmelt nach ihrer Art und alle geflügelten Vögel nach ihrer Art. Und Gott sah, dass es gut war. Und Gott segnete sie folgendermaßen: „Bringt Frucht und werdet viele und füllt die Wasser im Meer, auch die Vögel sollen viel werden auf der Erde.“
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So wurde es Abend und es wurde Morgen: Tag fünf.
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Da sprach Gott: „Die Erde bringe lebendige Wesen hervor nach ihrer Art: Vieh, Gewürm und Tiere des Feldes [je] nach ihrer Art.“ Und es geschah so. Und Gott machte die Tiere des Feldes nach ihrer Art und das Vieh nach seiner Art und alles Gewürm der Ackererde nach ihrer Art; und Gott sah, dass es gut war. Und Gott sprach: „Wir wollen Menschen machen als unser Bild, entsprechend unserer Ähnlichkeit; so sollen sie herrschen über die Fische des Meeres und über die Vögel des Himmels und über die Haustiere und über die ganze Erde und über alle Kriechtiere, die über die Erde kriechen.“ So schuf Gott den Menschen als sein Bild, männlich und weiblich schuf er sie. Dann segnete Gott sie, denn Gott sprach zu ihnen: „Seid fruchtbar und vermehrt euch, füllt die Erde und macht sie euch untertan; und herrscht über die Fische des Meeres und über die Vögel des Himmels und über alle Lebewesen, die über die Erde kriechen!“ Und Gott sprach: „Siehe, hiermit gebe ich euch alles Kraut, das Samen hervorbringt, das auf der Oberfläche der ganzen Erde ist, und alle Bäume, die in ihrer Baumfrucht Samen haben; für euch sind die zum Essen. Aber für alle Lebewesen der Erde und für alle Vögel des Himmels und für alles, was über die Erde kriecht, worin lebendige näfäs ist, [für die alle] ist alles grüne Gras zu fressen; und es geschah so. Da sah Gott alles, was er gemacht hatte, und siehe, es war sehr gut; so wurde es Abend und es wurde Morgen: Tag sechs.
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Gen 2 1 2 3 4a
So wurden der Himmel und die Erde vollendet; und ihr gesamtes Heer. So vollendete Gott am siebten Tag sein Werk, das er gemacht hatte; und er ruhte am siebten Tag von seinem ganzen Werk, das er gemacht hatte. Und Gott segnete den siebten Tag und heiligte ihn; denn an ihm ruhte er von seinem ganzen Werk, das Gott geschaffen hatte, indem er [es] gemacht hatte. Dies ist das Geschlechtsregister des Himmels und der Erde bei ihrem Geschaffenwerden.
Der priesterschriftliche Schöpfungsbericht berichtet von einem 7-Tage-Werk Gottes. Dabei werden 8 Werke auf 6 Tage verteilt. Seit der eingehenden Analyse von Werner H. Schmidt gilt daher als sicher: Das 7-Tage-Schema ist überlieferungsgeschichtlich sekundär und dient der Begründung des Sabbats im babylonischen Umfeld.16 Die Periodisierung der Schöpfung in sieben Tage umschreibt also nicht einen Zeitraum, sondern begründet eine Zeitstruktur, an deren Ende der eine, für Gott ausgesonderte Tag steht.17 Erwägungen darüber, ob ein „Tag“ in Gen 1 24 16 17
Vgl. Schmidt, Schöpfungsgeschichte. Vgl. auch die Begründung des Sabbatgebots in der priesterschriftlichen Dekalogfassung in Ex 20,8-11 und ganz anders: Dtn 5,12–15, wo der Sabbat sozialrechtlich begründet wird.
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Stunden lang war, nur die helle Periode im Unterschied zur „Nacht“ bezeichnet oder ob tausend Jahre wie ein Tag sind18, erübrigen sich, weil sie aus dem Text die Antwort auf eine Frage hören wollen, die der Text selbst nicht zum Thema hat. Der Bericht ist insgesamt sehr „schematisch“, gegliedert durch die Formulierung „da wurde aus Abend und Morgen Tag X“ und verwendet immer wieder dieselben Formulierungen. Früher hat man darin, gerade im Gegensatz zur kunstvollen Narratio von Gen 2f., einen „schlechten Stil“ erblickt. Doch scheint hier die Form der sachlichen Klarheit zu dienen. Die Verfasser halten einen einmal gefunden, der Sache angemessenen Stil durch.19 Hier wird nicht Prosa verfasst, sondern unter den Maßgaben der damaligen Zeit ein geradezu „wissenschaftlicher“ Text. Dabei waren die Verfasser auch in punkto Naturwissenschaft absolut auf der Höhe ihrer Zeit. So birgt etwa die Formulierung bei der Unterscheidung verschiedener Pflanzentypen in V. 11 die bis heute in der Botanik gültige Differenzierung in Nacktund Bedecktsamer. Bei den einzelnen Schöpfungswerken wird zwischen einem Wort- und einem Tatbericht differenziert, die teilweise Doppeltes überliefern. Anders als früher, sieht man hierin aber heute in der Regel darin kein Indiz mehr für eine literarisch Uneinheitlichkeit oder Vorgeschichte des Textes.20 Wort- und Tatbericht gehören in der vorliegenden Form von Gen 1 wohl immer schon zusammen. Aber im Vergleich mit anderen, außerisraelitischen Texten bleibt die Erkenntnis: Das Schaffen durch das Wort ist ein Spezifikum Israels! Dabei bedeutet aber eine Schöpfung durch das Wort nicht eine Schöpfung aus dem Nichts (creatio ex nihilo). Vielmehr ist Schöpfung ein Akt der Aussonderung eines geordneten Bereichs aus dem Chaos („Tohuwabohu“ V. 2). Das „Nichts“ war im vorderen Orient des ersten Jahrtausends v.Ch. wohl nicht denkbar. Vielmehr bleibt das Chaos, manifest in der Urflut תהוםund der Finsternis חשׁך, als Bedrohung auch in der geschaffenen Welt präsent. Dem Wasser kommt hier – im Gegensatz zu Gen 2 – die Eigenschaft des Chaoselements zu. Zur „Wissenschaftlichkeit“ der priesterschriftlichen Verfasser gehört offenbar auch die Kenntnis der kulturellen Traditionen ihrer Zeit und Welt. So wurden unterschiedliche altorientalische Schöpfungsvorstellung in den Bericht integriert. Dazu gehört die Vorstellung der Schöpfung durch Scheidung (vgl. V. 4.7.9), durch handwerkliches Tun (V. 16: Gott machte die beiden Lichter), durch Befehl an die „große Mutter Erde“ (vgl. V. 11: eigentlich schöpferisch ist hier das Land/die Erde), aber auch die Rede von den Tanim-Drachen in V. 21 (Luther übersetzt hier aus Verlegenheit Walfische), die an die mesopotamische Vorstellung von der Schöpfung als Kampf mit den Chaosdrachen (vgl. Jes 27,1; Ps 74,13f.) erinnern. Zugleich werden all diese „mythologischen“ Redeweisen ganz in die Art und Weise integriert, wie Israel von seinem Gott redet. Er ist das Subjekt aller denkbaren Schöpfungsakte, 18 19 20
Vgl. z. B. Hilbrands, Schöpfungstage. Vgl. Michel, Israels Glaube, 124f. Vgl. Steck, Schöpfungsbericht.
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und die Tanim sind nun von ihm geschaffen ()ברא. Ein Spezifikum dieses Textes auch gegenüber altorientalischen Vorstellungen ist die exklusive Verwendung es Terminus בראund die Vorstellung der Schöpfung durch das Wort. Durch weitere Dinge setzt sich Gen 1 bei allen Berührungen der Motivik deutlich von anderen altorientalischen Texten ab: So gibt es in Israels Zeugnis von der Schöpfung keinen Platz für eine Theogonie, eine Erzählung über die Entstehung der Götter; denn Israels Gott ist ewig und nur einer. Gleichzeitig ist insbesondere die Erschaffung der Gestirne eine Polemik gegen die Babylonische Umwelt und ihre Gestirngötter (die Worte „Sonne“ und „Mond“ werden im hebräischen Text vermieden, da es sich dabei im Alten Orient in der Regel um Götternamen handelt).21 Die Menschenschöpfung ist in Gen 1,26–28 durch einen Entschluss Gottes, den Herrschaftsauftrag, die Gottebenbildlichkeit und einen Segensakt von den andern Schöpfungswerken unterschieden. Daraus folgt: auch in Gen 1* liegt auf der Menschenschöpfung ein besonderes Gewicht!22 So lautet die Grundtendenz des priesterschriftlichen Schöpfungsberichtes: Die Welt ist Gottes gute Schöpfung mit den Menschen als gottebenbildlichen Herrschern in zentraler Stellung. Der Mensch ist königliches Repräsentanzbild (Akk. ṣalmu; Hebr. ṣelem) Gottes.23 Die Relation zwischen Gott und Mensch, die sinnenfällig wird in der Strukturierung der Zeit mit dem siebten Tag als privilegrechtlicher Aussonderung für Gott, ist das Ziel dieses Berichtes, der „wissenschaftlich“24 auf der Höhe seiner Zeit war. 2.1.2 Gen 2,4b–25: Die „jahwistische“ Schöpfungserzählung 4b 5
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Am Tag, als Jahwe Gott die Erde und den Himmel machte: Bevor alle Sträucher des Feldes auf der Erde waren und bevor alle Gräser des Feldes aufwuchsen, denn Jahwe Gott hatte es noch nicht auf die Erde regnen lassen und es gab noch keinen Menschen, um den Ackerboden zu bearbeiten, als [dann] ein Nebel von der Erde aufstieg und alle Früchte des Ackerbodens befeuchtete – Da bildetet Jahwe Gott den Menschen [aus] Staub vom Ackerboden und blies in seine Nase Atem des Lebens, so wurde der Mensch ein Lebewesen. Dann pflanzte Jahwe Gott einen Garten in Eden von Osten her und setzte dorthin den Menschen, den er gebildet hatte. Und Jahwe Gott lies vom Ackerboden alle Bäume aufwachsen, begehrenswert hinsichtlich ihres Aussehens und gut hinsichtlich des Essens („Nährwerts“); aber der Baum des Lebens stand mitten im Garten und der Baum der Erkenntnis von Gut und Böse.
Anders jetzt: Gertz, ZThK 106 (2009), 137–155. Vgl. Schüle, EvTh 66 (2006), 440–455. Vgl. Neumann-Gorsolke, Herrschen, 166–206. So auch Gertz, ZThK 106 (2009), passim.
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Und ein Fluss ging von Eden aus, der bewässerte den Garten und von dort teilte er sich und wurde zu vier Armen [wörtl: Köpfen/Häuptern]. Der Name des einen ist Pischon, der umfließt das ganze Land Hawila, wo es das Gold gibt. Und das Gold jenes Landes ist gut; dort [findet man auch] das Bedolach(harz) und den Stein Schocham. Der Name des zweiten Flusses ist Gichon; der umfließt das ganze Land Kusch. Der Name des dritten Flusses ist Tigris, der verläuft östlich von Assur, und der vierte Fluss – das ist der Euphrat. Und Jahwe Gott nahm den Menschen; und setzte ihn in den Garten Eden, um ihn zu bearbeiten zu behüten. Und Jahwe Gott gebot dem Menschen folgendermaßen: „Von allen Bäumen des Gartens iss freimütig. Aber was den Baum der Erkenntnis von Gut und Böse anbelangt: Iss nicht davon, denn an dem Tag, an dem du davon isst, sollst du gewiss des Todes sterben.“ Und Jahwe Gott sprach: „Es ist nicht gut für den Menschen, allein zu sein; Ich will ihm ein ‚Wesen‘ [wörtl.: Hilfe] machen, das ihm entspricht. So bildete Jahwe Gott vom Ackerboden alle Tiere des Feldes und alle Vögel des Himmels und brachte sie zum Menschen, um zu sehen, wie er jedes nennen würde und jedes Mal wenn der Mensch ein Lebewesen benannte, war dies sein Name. So nannte der Mensch die Namen für alles Vieh und für die Vögel des Himmels und für alle (wilden) Tiere des Feldes, aber für den Menschen fand sich kein ‚Wesen‘, das ihm entspricht. Da liess Jahwe Gott einen Tiefschlaf auf dem Menschen fallen und der schlief ein; und er nahm eine seiner Rippen und schloss dahinter [die Stelle] mit Fleisch. Und Jahwe Gott baute aus der Rippe, die er vom Menschen genommen hatte, die Frau; und er brachte sie zum Menschen. Da sprach der Mensch: „Dieses Mal ist es Knochen von meinen Knochen und Fleisch von meinem Fleisch; zu dieser wird man sagen: ischah, denn vom isch ist sie genommen.“ Darum wird ein Mann seinen Vater und seine Mutter verlassen; und er wird an seiner Frau hängen und sie werden ein einziges Fleisch sein. Und die beiden waren nackt, der Mensch und seine Frau, aber sie schämten sich nicht.
In dieser stilistisch so charakteristisch vom priesterschriftlichen Bericht unterschiedenen Erzählung steht von Anfang an die Erschaffung des Menschen im Mittelpunkt des Interesses. Von der Entstehung der Welt oder der Element, von einem
Schöpfungsaussagen im Alten Testament
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„Anfang“ ist gar nicht die Rede. Der Zustand vor der Schöpfung ist der des „noch nicht“ (V. 2). Hier ist das Leben nicht durch das Chaos in Gestalt der Urflut bedroht, sondern durch Trockenheit. Von Anbeginn an ist die Perspektive des palästinischen Ackerbauers die bestimmende. Entsprechend ist Wasser auch keine Bedrohung, sondern Lebensmittel. Als sich dann endlich Feuchtigkeit einstellt, bildet oder formt Israels Gott Jahwe zunächst den Menschen, der schon durch seinen Namen Adam mit der Ackererde, אדמה, verbunden ist. Gottes Formen oder Bilden ist die Tätigkeit des Töpfers, der sein „Produkt“ mit den Händen kreiert. Das Verb schaffen/ בראfindet sich in dieser Erzählung nicht. Jahwe Gott ist Handerker, er bildet (V. 7.19) und baut (V. 22). Jahwe ist kein transzendenter Allherr, sondern ein Gott, der ganz anthropomorph gedacht ist (dies setzt sich in Gen 3 fort). Die Relation von Gott zu Mensch ist von Anfang an personal beschrieben. Entsprechend handfest ist das setting der Erzählung. Hier findet sich nicht nur „die Welt“ (Himmel und Erde) „am Anfang“, sondern ein Garten, der durch die Episode von den Paradiesströmen (V. 10–14) zumindest von ferne den Eindruck erweckt, er sei geographisch konkret lokalisierbar. Jahwe handelt an seinen Leuten in Raum und Zeit. Dies bleibt sein Spezifikum, erst recht, wenn er Israel aus Ägypten führt. Diesen Garten soll der Mensch bearbeiten und behüten (V. 15). Der Garten Eden ist kein Schlaraffenland. Vielmehr gehört die Arbeit von Anfang an zu den Konstituenten des Menschseins. Was in Gen 1,28 der Herrschaftsauftrag abstrakter sagt, wird hier konkreter erzählt. Jahwe vertraut Adam den Garten an, aber das bedeutet auch Verantwortung dem Schöpfer gegenüber. Die Benennung der Tiere stellt auch einen Herrschaftsakt des Menschen dar; denn Namensgebung (in Gen 1 nur von Gott gesagt!) ist Ausdruck der Verfügungsgewalt. Anders als in Gen 1 ist der Mensch hier nicht von Anfang an „männlich und weiblich geschaffen“ (Gen 1,27). Vielmehr finden Mann und Frau erst nach einem von Jahwe und Adam gemeinsam vollzogenen Akt des trial and error zueinander. So erzählt Gen 2 auch, wie es zu der starken Anziehung zwischen den Geschlechtern kommt.25 Der Text hat deutlich ätiologische Züge: Schöpfung ist nichts, was lange her ist, sondern von der Geschöpflichkeit her erschließen sich wesentliche Grundkonstanten des menschlichen Lebens bis heute. Zunächst wird das Verhältnis der Menschen zueinander und zu Gott als ein ideales (nicht idealisiertes) geschildert. Diese Schilderung bleibt angesichts der real erfahrenen „gefallenen“ Welt eine bleibende Herausforderung und Hoffnung. Hier wird nicht vergangenes sondern Ur-Geschehen geschildert. Mit dem Baum der Erkenntnis des Guten und des Bösen aber ist die Grenze mitgesetzt26: Gen 2 ist immer nur im Horizont von Gen 3 zu lesen! Das Miteinander der Menschen unter-
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Vgl. Behrens, Frauen und Männer im Alten Testament (in diesem Band). Vgl. Bonhoeffer, Schöpfung und Fall, bes. 75ff.
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einander und ihr Verhältnis zu Gott ist von Anfang an gefährdet und wird durch die Möglichkeit der Gebotsverletzung infrage gestellt. Die Frage der Sünde/Schuld /Gebotsverletzung prägt das Menschenbild. So ist das Menschenbild der „jahwistischen“ Erzählung bei aller orientalischen Anschaulichkeit von Anfang an nicht optimistisch, sondern realistisch. Die personale Relation zwischen Jahwe und Adam, zwischen Gott und Mensch, steht immer schon infrage. 2.1.3 Folgerungen Gen 1* und 2* bilden literarisch und von den verwendeten religionsgeschichtlichen Motiven her keine ursprüngliche Einheit. Zu groß sind die Unterschiede in Stil, Motivik und Begrifflichkeit. Die voreilige Vereinheitlichung ließe die je unterschiedlichen Aussageakzente des „priesterschriftlichen“ Berichtes und der „jahwistischen“ Erzählung verschwinden. Dennoch gehören beide Texte als unterschiedliche Aspekte eines Gesamtbildes zusammen. Offenbar waren diejenigen, die beide Texte schließlich zusammenstellten und die die Exegese aus Verlegenheit „Redaktoren“ nennt, nicht an einem formallogisch widerspruchsfreien Text über die Entstehung des Planeten Erde interessiert. Vielmehr wurden hier im Sinne einer aspektivischen Weltwahrnehmung unterschiedliche Teile nebeneinandergestellt, die erst in der Addition der jeweiligen Aussageakzente – ungeachtet dessen, dass sich manche Details aus der Perspektive des 21. Jh.s „widersprechen“ mögen – ein angemessenes Gesamtbild der Wirklichkeit ergeben.27 Dabei sind in beiden Texten Welt- und Menschenschöpfung unlösbar miteinander verbunden. Ebenso liegt in beiden Texten der Akzent auf der Menschenschöpfung. Wird dies erkannt, dann sind die beiden Schöpfungstexte, die die Bibel eröffnen, weniger als Quellen für eine naturwissenschaftliche Kosmologie zu lesen als vielmehr als Zeugnisse einer historischen Anthropologie. Was bedeutet es für das Selbstverständnis des Menschen, dass er sich als (zentralen) Teil der Schöpfung Gottes versteht? Diesbezüglich werden unterschiedliche Aspekte des Menschseins entfaltet: Der Mensch ist die „Krone der Schöpfung“ und Gottes Ebenbild (Gen 1*) aber auch der, durch den das Böse in die Welt kam (Gen 2*). „Wer hatte also recht? Beide haben Recht gehabt. Die beiden Darstellungen des Menschen schließen sich ja letztlich gar nicht aus, sondern bringen nur verschiede27
Das Kunstwort Aspektive bezeichnet als Alternative zur Perspektive den Versuch, die Weltwahrnehmung zahlreicher altorientalischer Kulturen in einer Form zu beschreiben, die diesen Kulturen selbst angemessen ist. Dies lässt sich z. B. in der Eigenart ägyptischer Kunst, aber auch in zahlreichen alttestamentlichen Texten und Sprachphänomenen (wie dem Parallelismus membrorum der Psalmen) greifen. Während die Perspektive das Ich des Betrachters zum Maßstab der Weltwahrnehmung erhebt, der dann eben auch bestimmt, was „logisch“ oder „widerspruchsfrei“ ist, werden in der Aspektive unterschiedliche, typische Aspekte der Welt additiv nebeneinander gestellt, ohne dass dabei eine perspektivisch „realistische“ oder eine nach heutigen Maßstäben denkerisch konsistente Darstellung das Ziel wäre. Vgl. dazu: Brunner-Traut, Frühformen; Janowski, Konfliktgespräche, 1–35; Wagner, Parallelismus, 235–261.
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ne Aspekte des Menschseins. Anders muß man zu dem Menschen reden, der selbstbewusst und glücklich in die Zukunft schaut und auszieht, sein Leben zu meistern, als zu dem, der niedergeschlagen und trostlos alle Hoffnung aufgeben will. Dem einen müssen seine Grenzen gezeigt werden, dem andern seine Möglichkeiten.“28 Dabei bleiben die Schöpfungstexte der Genesis nicht vordergründig anthropologisch, sondern eröffnen eine zutiefst theologische Anthropologie; denn beide Texte stellen den Menschen als Geschöpf in die Relation coram deo. Der Begriff „Schöpfung“, der als substantivierte Überschrift ja eine Leistung der nachalttestamentlichen Theologie ist, ist also weniger die Bezeichnung eines Geschehens in der Vergangenheit, als vielmehr Ausdruck einer Relation zwischen Mensch und Gott, die über das Bekenntnis, dass Israels Gott der Schöpfer der ganzen Welt ist, ihren historischen und geographischen Ort übersteigt. Das, was Gen 1 und 2 über das Menschsein sagen, will heute noch gehört werden!
2.2 Schöpfung in Psalmen Die Psalmen Israels erwähnen Gott vielfältig als den Schöpfer. Aber die Psalmen sind nicht Erzählungen oder wie auch immer zu verstehende Berichte von „Geschichte“. Vielmehr wird hier der Gott Israels gelobt oder ihm wird das Leid des Einzelnen oder der Gemeinschaft geklagt. Insofern ist zu fragen, wie der Einzelne und wie die Gemeinschaft Gott als den Schöpfer ansprechen. Welche Funktion hat die Erwähnung gerade dieses Aspektes Gottes und mit welchen anderen Motiven / Aspekten wird die Rede von Gottes Schöpfersein verbunden? 2.2.1 Psalm 8 1 2
Für den Chorleiter, auf der Gittit, ein Psalm Davids Jahwe [ist] unser Herr, wie prächtig ist dein Name auf der ganzen Erde / der du deine Hoheit an den Himmel gesetzt hast.
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Aus dem Mund von Kindern und Säuglingen hast du eine Macht gegründet, um deiner Feinde willen /
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um dem Feind und dem Rächer ein Ende zu machen. Fürwahr, ich sehe deinen Himmel, das Werk deiner Finger / den Mond und die Sterne, die du gegründet hast. Was ist [da] der Mensch, dass du an ihn denkst / und das Menschenkind, dass du es heimsuchst? Du hast ihm wenig fehlen lassen gegenüber den ‚Elohim‘ / [mit] Herrlichkeit und Hoheit hast du ihn gekrönt.
Michel, Israels Glaube, 145f.
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Du machst ihn zum Herrscher über das Werk deiner Hände / alles hast Du unter seine Füße getan. Kleinvieh und Rinder alle miteinander / und auch die wilden Tiere des Feldes. Die Vögel des Himmels und die Fische des Meeres / was die Pfade des Meeres durchzieht. Jahwe [ist] unser Herr, wie prächtig ist dein Name auf der ganzen Erde.
Beobachtungen V. 2 und 10 bilden einen Rahmen, eine sog. inclusio, die dem Psalm sein Thema gibt: Es geht um Lob Jahwes angesichts der „ganzen Erde“. Thema des Psalms ist also nicht der Mensch, sondern das Handeln Jahwes als Schöpfer. V. 4: Jahwe hat den Himmel „mit seinen Fingern“ bereitet und die Gestirne „befestigt“. Gott war handwerklich tätig. V. 5: Nach dem „Großen und Ganzen“ wird es nun konkret: Es geht um den (einzelnen) Menschen: Kosmologie und Anthropologie sind nicht zu trennen, interessieren beide nur in ihrem Verhältnis zu Gott. Zunächst aber scheint der Mensch angesichts der Größe des Himmels unbedeutend zu sein: Es geht also nicht um die philosophische Frage „Was ist der Mensch?“, sondern im Gegenüber zur Größe des Kosmos wird gefragt: Was ist schon der Mensch? V. 6: Vermutlich: Du hast ihn wenig niedriger gemacht als die „himmlischen Wesen“ (Elohim; LXX: angelloi). Vielleicht ist aber auch zu übersetzten: Du hast ihn wenig mangeln lassen von Gott aus gesehen.29 Auch die Erwähnung der „Herrlichkeit“ (kabod) deutet in die himmlische Sphäre. Der Mensch erhält seine Würde und „Größe“ von Gott her. Ist hier auf die „Gottesebenbildlichkeit“ angespielt? V. 7: Jahwe lässt den Menschen „herrschen“ als Ausdruck der Ebenbildlichkeit und Teilhabe an Jahwes Königsmacht: Das Verb maschal deutet auf den König hin. Im Alten Orient ist vor allem der König das „Bild“ oder der Statthalter Gottes. Sollte also ursprünglich vor allem der König im Blick gewesen sein, so findet hier eine Demokratisierung statt: Jeder einzelne Mensch ist von Gott des Herrschaftsauftrages gewürdigt. V. 8f.: Dabei weitet sich der Blick von „Haus und Hof“ in die ganze geschaffene Welt.
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So die Übersetzung bei Neumann-Gorsolke, Herrschen, 22. Vgl. insgesamt a.a.O., 21–136 die ausführliche Analyse von Ps 8.
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Schöpfungsaussagen in Ps 8 Kosmologie und Anthropologie sind im AT schöpfungstheologisch nicht zu trennen, interessieren beide nur in ihrem Verhältnis zu Gott. Angesichts der beeindruckenden Weite des Himmels und der Gestirne, scheint der Einzelne klein (V. 4f.), erhält seine Würde und Stellung aber von Gott her. Die theologische Anthropologie, die das AT vertritt wird vor allem in Ps 8,6–9 im Zusammenklang von Gen 1,26–28 deutlich: Der Mensch ist Ebenbild/Abbild Gottes und damit sein Repräsentanzbild auf Erden, das stellvertretend „herrscht“ über die Mitgeschöpfe. Sollte dies im Alten Orient sonst vor allem für den König gelten, sagt das Alte Testament dies jedem einzelnen zu. Gottebenbildlichkeit ist hier besonderer Ausdruck der Menschenwürde. 2.2.2 Psalm 19 1
Für den Chorleiter ein Psalm Davids.
2
Die Himmel erzählen die Herrlichkeit Gottes / und das Werk seiner Hände verkündet die Himmelsfeste. Ein Tag sprudelt dem anderen Rede zu / und eine Nacht verkündet der anderen Erkenntnis. Da ist kein Reden und sind keine Worte / ohne hörbare Stimme. 30 Durch ganze Erde erstreckt sich ihre ‚Messschnur‘ und bis an die Enden der Welt ihre Rede / der Sonne hat er ihr Zelt gesetzt. Und sie geht wie ein Bräutigam aus seiner Kammer / sie freut sich wie ein Held, den Pfad zu laufen. Vom Ende des Himmels ist ihr Ausgang und ihr Kreislauf [wieder] zu ihrem Ende / und nichts ist verborgen vor ihrer Sonnenhitze.
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Die Tora Jahwes ist perfekt, ein Wiederbringer des Lebens / das Zeugnis Jahwes ist vertrauenswürdig, verleiht Weisheit dem Unerfahrenen. Die Heimsuchungen Jahwes sind gerade, sie erfreuen das Herz / die Gebote Jahwes sind rein, machen die Augen hell. Die Furcht Jahwes ist rein, hat Bestand für ewig, die Rechtssätze Jahwes sind Wahrheit / sie sind gerecht alle gemeinsam. Sie sind begehrenswerter als Gold und zahlreicher als Reingold / sie sind süßer als Honig und Honigseim. Auch dein Knecht wird durch sie gewarnt / in ihrer Beachtung liegt großer Lohn.
Stimme? Vgl. LXX.
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Irrtümer – wer versteht sie? / von den verborgenen – befreie mich! Auch von Vermessenen halte deinen Knecht zurück, sie sollen mich nicht beherrschen, dann bin ich integer / und ich werde frei sein von vielen Sünden. Und die Worte meines Mundes sollen zum Wohlgefallen sein und das Gemurmel meines Herzens vor dir / Jahwe ist mein Fels und mein Erlöser.
Beobachtungen Der Psalm ist immer wieder in zwei ursprünglich selbständige Teile A (V. 1–7) und B (V. 8–15) unterteilt worden: A handelt von der Schöpfung; B vom Gesetz. Seybold weist darauf hin, dass genau genommen in V. 12–15 ein Teil C zu erkennen ist, der die Konsequenzen aus dem Lob der Schöpfung und dem Lob des Gesetzes für den Beter zieht. Von daher ist nach einer (vielleicht doch ursprünglichen) Beziehung der beiden Teile zueinander zu fragen: „Der Ich-Beter, der in 12ff. von sich redet, hat die beiden Teilpsalmen A und B an den Anfang gestellt, um für sein Anliegen eine Basis zu schaffen. Er stellt sich damit in den Kontext der göttlichen Welt und ihrer Organe, der wahrheitsuchenden Sonne und des rechtfertigenden Gotteswortes.“31 Schöpfungsaussagen in Ps 19 Der Psalm geht in seinem ersten Teil nicht auf die Menschenschöpfung ein, sondern lobt die universale Schöpfung Gottes. Der zweite Teil mach aber deutlich, dass es Israels Gott Jahwe ist, der diese Welt schuf und sich in der Tora explizit an die Menschen wendet. Es „lässt sich ein Gedankenduktus feststellen, von der indirekten Offenbarung Gottes in der Schöpfung zur direkten Offenbarung in der Tora.“32 Gerade für Ps 19 und die Verknüpfung von Schöpfung und Tora darin lohnt ein Blick in den Kontext des Psalters. Redaktionsgeschichtliche Untersuchung, die über einzelne Psalmen hinausblicken, werden zunehmend für die Exegese bedeutsam.33 Der Psalter in ist der lectio continua als Gebetbuch „überdimensioniert“, daher lässt er sich insgesamt in Psalmengruppen aufgliedern, denen durch die kompositorische Anordnung der Einzeltexte ein je eigner inhaltlich-theologischer Schwerpunkt zukommt. Ein Beispiel ist die Sammlung Ps 15–24. Wichtig: Nicht nur Psalmen haben eine Botschaft, sondern auch der Psalter, bzw. Psalmengruppen. Ps 15 Toreinlassliturgie 31 32 33
Seybold, HAT I/15, 88. Hossfeld/Zenger, NEB.AT 29, 129; vgl. für die inhaltliche Bezogenheit beider Psalmteile aufeinander: Günther, Psalm 19, 11–25. Vgl. zum Folgenden Grund, Himmel, 294–312.
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Ps 16 Vertrauenspsalm Ps 17 Klage des Einzelnen Ps 18 Königslied Ps 19 Schöpfung und Tora Ps 20/21 Königslied Ps 22 Klage des Einzelnen Ps 23 Vertrauenspsalm Ps 24 Toreinlassliturgie
Psalm 19 als Zentrum der Teilkomposition beantwortet die Frage aus Ps 15,1: Wer darf in deinem Zelt wohnen? Nämlich: der königliche Knecht, der Gefallen an der Tora hat. Dabei entsprechen sich die Zuordnung von Schöpfung und Tora/Wort in Ps 19 und Ps 24. Auch in dieser Perspektive ist die Verbindung der Themen Schöpfung und Tora in Ps 19 keineswegs zufällig oder willkürlich. Hier werden zwei Redeweisen Gottes, „indirekte“ und „direkte“ Offenbarung bewusst aufeinander bezogen. 2.2.3 Psalm 136 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16
Dankt Jahwe, denn er ist gut fürwahr in Ewigkeit währt seine chäsäd. Dankt dem Gott der Götter fürwahr in Ewigkeit währt seine chäsäd. Dankt dem Herrn der Herren fürwahr in Ewigkeit währt seine chäsäd. Der große Wunder tut ganz allein fürwahr in Ewigkeit währt seine chäsäd. Der die Himmel mit Einsicht gemacht hat fürwahr in Ewigkeit währt seine chäsäd. Der die Erde über dem Meer fest gehämmert hat fürwahr in Ewigkeit währt seine chäsäd. Der große Lichter gemacht hat fürwahr in Ewigkeit währt seine chäsäd. Die Sonne, um über den Tag zu herrschen fürwahr in Ewigkeit währt seine chäsäd. Den Mond und die Sterne, um über die Nacht zu herrschen fürwahr in Ewigkeit währt seine chäsäd. Der Ägypten an ihren Erstgeborenen geschlagen hat fürwahr in Ewigkeit währt seine chäsäd. und der Israel aus seiner Mitte herausführt hat fürwahr in Ewigkeit währt seine chäsäd. mit starker Hand und ausgestrecktem Arm fürwahr in Ewigkeit währt seine chäsäd. Der das Schilfmeer in zwei Teile teilte fürwahr in Ewigkeit währt seine chäsäd. und Israel durch sein Mitte führte fürwahr in Ewigkeit währt seine chäsäd. und Pharao und sein Heer ins Schilfmeer schüttete fürwahr in Ewigkeit währt seine chäsäd. Der sein Volk durch die Wüste gehen ließ fürwahr in Ewigkeit währt seine chäsäd.
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„Am Anfang schuf Gott Himmel und Erde“
17 18 19 20 21 22 23 24 25 26
Der große Könige schlug fürwahr in Ewigkeit währt seine chäsäd. und tötete mächtige Könige fürwahr in Ewigkeit währt seine chäsäd. Sichon, den König der Amoriter fürwahr in Ewigkeit währt seine chäsäd. und Og, den König von Basan fürwahr in Ewigkeit währt seine chäsäd. und gab ihr Land zum Erbe fürwahr in Ewigkeit währt seine chäsäd. Erbe für Israel, seinen Knecht fürwahr in Ewigkeit währt seine chäsäd. Als wir gedemütigt wurden, dachte er an uns fürwahr in Ewigkeit währt seine chäsäd. und entriss uns unseren Feinden fürwahr in Ewigkeit währt seine chäsäd. Er gibt Nahrung allem Fleisch fürwahr in Ewigkeit währt seine chäsäd. Dankt dem Gott des Himmels fürwahr in Ewigkeit währt seine chäsäd.
Beobachtungen V. 1–3: Ein ausführlicher Lobruf im typischen Hymnenstil mit imperativischer Lobaufforderung und Durchführung des Lobes mit deiktischem כי:34 Dieses Gotteslob wird zum Refrain „fürwahr in Ewigkeit wirkt seine chäsäd.“ Dabei wird חסדin der Regel mit „Gnade“ oder „Huld“ übersetzt. Gemeint ist jedoch ein Verhalten, dass einem bestimmten Gemeinschaftsverhältnis entspricht.35 Hier bezeichnet es Gottes freie Zuwendung, die sich sowohl in seinem Schöpfer- als auch n seinem Geschichtshandeln ausdrückt. V. 4–9: Das Lob des Schöpfers. Dabei entsprechen die Verse 7–9 auffällig Gen 1,14–18. V. 10–15: Das Lob des Befreiers. Der Exodus als geschichtliches und heilsgeschichtliches Grunddatum Israels. Deutlich wird das Vokabular von Israels Grundbekenntnis Ex 20,2 angespielt. V. 16–22: Das Lob des Eroberers. Die Landgabe stellt das ultimative Heilsgut des alten Israel dar. V. 23–26: Gottes Gedenken, seine Befreiung und seine Schöpfergaben sind gegenwärtig. V. 25: Sein Schöpferhandeln ist als Erhaltung gegenwärtig. Das ist zu loben! So kehrt V. 26 zum Anfang zurück.36
34
35 36
Zu den unterschiedlichen Möglichkeiten, das כיin den Hymnen des Psalters zu deuten vgl. Boecker, Psalmen, 179–199. Die hier vertretene Auffassung geht auf Frank Crüsemann zurück (vgl. a.a.O., 187ff.). Demnach ist כיim kollektiven Lobpsalm Israels (Hymnus) nicht begründend (denn), sondern leitet als Hinweiswort (ja, fürwahr!) die Durchführung und den Inhalt des Lobes ein, zu dem zu Beginn dieser Textsorte mit Imperativen oder Adhortativen aufgefordert wurde. Vgl. Glueck, Das Wort hesed. Vgl. zur Auslegung Seybold, HAT I/15, 505–508.
Schöpfungsaussagen im Alten Testament
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Schöpfungsaussagen in Ps 136 Die Themen Schöpfung und Geschichte, die hier in besonderer Weise kombiniert sind, sind nicht als konkurrierende oder gar als sich ausschließende Gegensätze zu denken. Der Schöpfer ist auch der Befreier und umgekehrt: Jahwe, Israels Gott „von Ägypten her (vgl. Hos 12,10) gewährt auch die guten Gaben des Kulturlandes (vgl. Hos 2,10). Vor allem aber: Schöpfer- und Befreierhandeln Jahwes sind immer gegenwärtig gedacht und werden, nicht nur retrospektiv erinnert, sondern im jeweiligen Hier und Heute (zuweilen antizipatorisch) gelobt.
2.3 Schöpfung bei Deuterojesaja Das Babylonische Exil (ab 586 v.Ch.) und dessen theologische Bewältigung stellen den größten Einschnitt in der Geschichte des antiken Israels dar. Zugleich handelt es sich um den wichtigsten „Filter“ oder Katalysator der Theologie- und Literaturgeschichte des Alten Testaments. Das AT, so wie wir es heute haben, ist aus der Perspektive der Exils- und Nachexilszeit verfasst, bzw. redaktionell komponiert worden. Israel verliert seine zentrale Heilsgabe, das Land, und mit ihm seine gesellschaftlich tragenden und religiös Identität stiftenden Institutionen wie die Eigenstaatlichkeit samt Königtum, sowie den Tempel samt Kult. Auch bis dahin tragende religiöse Überlieferungen (Exodus) mögen (zunächst) ihre Plausibilität verloren haben. „Israel“ schafft in geschichtlich einmaliger Weise die Bewältigung dieser fundamentalen Krise, indem es eine Identität als Gemeinde des an den Gott Jahwe glaubenden Gottesvolkes herausbildet und von dieser Perspektive die bisherige eigene Geschichte und die dazugehörigen Überlieferungen neu liest. So wird in der Perspektive der sog. Deuteronomisten die Geschichte der Königszeit zu einer „Ätiologie des Exils“. Erst jetzt bekennt sich Israel in umfassender und programmatischer Weise zu seinem Gott als dem Schöpfer der Welt. Dies wird greifbar in dem schon besprochenen priesterschriftlichen Schöpfungsbericht in Gen 1*, aber auch in der Behandlung des Themas in der sog. deuterojesajanischen Sammlung Jes 40– 55 (56–66). Deuterojesaja nimmt vor allem so Bezug auf Gottes Schöpfersein, dass er die Vokabel בראund andere termini technici für Gottes Schaffen verwendet und dies dann mit Rettungsaussagen für Israel kombiniert. Im Hintergrund steht die Sprache der hymnischen Lobpsalmen Israels. Ein markantes Beispiel findet sich in Jes 43,1: Und nun: So spricht Jahwe dein Schöpfer, Jakob, und dein Bildner, Israel / Fürchte dich nicht, denn ich habe dich erlöst, ich habe dich bei deinem Namen gerufen, mir allein gehörst du!
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„Am Anfang schuf Gott Himmel und Erde“
Das Fachwort „Schaffen“, das im AT ausschließlich mit Gott als Subjekt begegnet und in Gen 1 Gottes schöpferisches Handeln bezeichnet, wird hier auf „Jakob“ angewandt. Die „Schöpfungsaussage“ bezieht sich nicht auf die Weltentstehung, sondern auf das Gottesvolk und dient implizit als Begründung für das folgende Heilsorakel: „Fürchte dich nicht, ich habe dich erlöst…“ Für Deuterojesaja ist typisch, dass er um der Erlösung willen von der Schöpfung redet.37 Der Zusammenhang wird deutlicher und erweitert in dem großen Kyrosorakel in Jes 44,24–45,25. Dort finden sich folgende Worte: Jes 45,17f.: 17 18
Israel wird geholfen durch Jahwe mit einer ewigen Hilfe / Ihr werdet nicht beschämt und in Schande gebracht werden in Ewigkeit. Denn so hat Jahwe gesprochen, der Schöpfer des Himmels, er allein ist Gott, der Bildner der Erde / und er hat sie gemacht, er ist es, der sie gegründet hat. Nicht zum Chaos hat er sie geschaffen, um bewohnt zu werden hat er sie gebildet. Nur ich bin Jahwe, und es gibt keinen sonst!
Israel wird von Jahwe geholfen werden, dem Gott, der sich als einziger als wirksam erweist (so die Bedeutung des Tetragramms JHWH und der Sinn des letzten Satzes)38. Diese Wirksamkeit wird hier nicht an Israels Heilsgeschichte – Exodus, Landgabe etc. – verdeutlicht, denn die ist ja durch das Exil grundlegend infrage gestellt, sondern durch das Schöpfersein Gottes, das nun explizit für Israels Gott Jahwe reklamiert wird. Von Schöpfung ist hier nicht mit Bezug auf die Fruchtbarkeit des Landes und die Gaben des Kulturlandes die Rede (so in Hos 2 und Gen 2), sondern im Hinblick auf die Wirksamkeit. Jahwe ist nicht bloß an die Stelle des Fruchtbarkeitsgottes Baal getreten; er ist der Allherr. Und als solcher ist er auch Herr der Geschichte und kann Israel erlösen. Daraus folgt der Gedanke des Monotheismus, der so bei Deuterojesaja zum ersten Mal ausdrücklich formuliert wird (als Nebengedanke taucht auch die Mission auf): Jes 45,22: Wendet euch zu mir und ihr werdet gerettet, alle Enden der Erde / Denn nur ich bin Gott und es gibt keinen sonst!
Es gehört zu den Eigenarten des Geschichtsverständnisses des antiken Israel und des Alten Testaments, dass dieser Gott durch Veränderungen hindurch zu seinem Volk steht, an seinem Volk handelt, ja selbst die Veränderungen im Geschichtsver37 38
4
Vgl. Michel, TRE 8, 517f.; Janowski, RGG 7, 971. Vgl. Diesel, „Ich bin Jahwe“.
Schöpfungsaussagen im Alten Testament
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lauf herbeiführt und Neues schafft/macht (vgl. Jes 43,18f.). Daraus ergibt sich der Gedanke, dass die von Gott gelenkte Geschichte auf ein Ziel hin führen könnte. Dabei spielt dann wieder die Rede von Gottes Schaffen eine Rolle: Jes 65,17: Denn siehe, ich will einen neuen Himmel und eine neue Erde schaffen / und der vorigen wird nicht mehr gedacht und man nimmt sie sich nicht mehr zu Herzen.
Hier transzendiert die Rede von Gottes Schaffen vollends die Vorstellung des Berichts eines vergangenen, irgendwie „historisch“ zu denkenden Geschehens.
2.4 Fazit Wo das AT von Schöpfung redet, tut es das in erster Linie nie, um eine in der Vergangenheit liegende Weltentstehung zu thematisieren. Vielmehr geht es immer um die Stellung des Menschen, Israels und der Völker coram deo. Schon im AT ist Schöpfung ein relationaler Begriff. Dabei betreffen die behandelten Texte unterschiedliche Relationen: – Die Beziehung Gott-Mensch wird von Gen 1* und 2*, aber auch von Ps 8 thematisiert: Der Mensch ist Ebenbild Gottes und insofern ist jede und jeder einzelne Repräsentant Gottes auf Erden. Gleichzeitig ist der Mensch der, durch den die Sünde in die Welt kam: Der Verlust der urgeschöpflichen Gottunmittelbarkeit ist ebenso Aspekt der Beziehung des (je gegenwärtigen) Menschen zum Schöpfer. – Die Beziehung zwischen Gottes Schöpferhandeln und seinem Reden in der Tora wird in Ps 19 thematisiert: Der durch das Wort/die Tora angesprochene Mensch erkennt den Schöpfer; und der Schöpfer ist erst voll erkannt, wenn dein Knecht (Ps 19,12.14) auch die Worte der Tora hört. – Die Beziehung zwischen Gottes Schöpferhandeln und seinem Geschichtshandeln thematisiert Ps 136: Beides ist Zuwendung und Gnade Gottes, beides verweist aufeinander und führt zum Lob Gottes hier und heute. – Die Beziehung zwischen Gott und seinem Volk wird besonders in den Schöpfungstexten Deuterojesajas thematisiert: Weil Israels Gott der Schöpfer ist, weil es außer ihm keinen Gott gibt, ist er auch der, der sein Volk nach dem Gericht retten kann. Der Herr der Welt kann Neues schaffen. – Am Ende sogar einen neuen Himmel und eine neue Erde (Jes 65,17). Es geht bei dem Thema Schöpfung immer um die Beziehung zum Schöpfer. Vor ihm muss sich der Mensch verantworten, von ihm hat er seine Würde, auf ihn kann er vertrauen, wenn es um Rettung und Erlösung geht. Auf den Punkt gebracht ist das im zentralen Satz des 51. Psalms:
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Ein reines Herz schaffe mir, Gott / und einen festen Geist erneuere in meiner Mitte.
Hier erwartet der Beter die Neuwerdung seiner Person durch Gottes Handeln und verwendet dafür – einmalig – den Begriff Schaffen.39 Darum geht es: Gott handelt am Menschen in Schöpfung und Erlösung.
3. Die Schöpfung im lutherischen Bekenntnis Die lutherische Kirche legt ihr Verständnis des christlichen Glaubens und der einzelnen Glaubensinhalte rechenschaftsfähig und verbindlich in den Bekenntnisschriften der Evangelisch-Lutherischen Kirche dar, wie sie im Konkordienbuch von 1588 zusammengefasst sind. Dieses Bekenntnis erhebt den Anspruch, den gemeinchristlichen Glauben dazustellen und hat daher ein ökumenisches Selbstverständnis.40 Dieser Anspruch gründet in der Überzeugung, dass das lutherische Bekenntnis nichts anderes als das biblische Evangelium zur Sprache bringt. Als solche Darstellung des Glaubens hat das Bekenntnis ein organisatorisches und sachlichtheologisches Zentrum, nämlich den Artikel von der Rechtfertigung des Sünders allein aus Gnaden, durch den Glauben und um Christi willen (CA IV). Alle anderen Glaubensaussagen erschließen sich von diesem Zentrum her; denn nur der zum Glauben gelangte Mensch (und das heißt der gerechtfertigte Sünder) kann einen Zugang zu einem angemessenen Welt-, Selbst- und Gottesverhältnis finden und von daher Aussagen über Gott, den Schöpfer, Erlöser und Vollender und alle damit zusammenhängenden Glaubensgegenstände – von der Offenbarung im Wort Gottes bis zur Eschatologie – treffen. So erschließt nach lutherischem Verständnis der Artikel von der Rechtfertigung alle anderen Glaubensinhalte. Und die übrigen Artikel des Bekenntnisses – über Gott, die Sünde, den Heiligen Geist, die Kirche etc. – sind im Lichte dieses „Hauptartikels“ zu lesen.
3.1 Luthers Auslegung des ersten Glaubensartikels Vor diesem Hintergrund überrascht zunächst der Befund, dass es einen Artikel de creatione/über die Schöpfung im lutherischen Bekenntnis gar nicht gibt. Der Ort, an dem sich das lutherische Bekenntnis mit der Schöpfung befasst, ist Martin Luthers Auslegung zum ersten Glaubensartikel des Apostolikums im Kleinen und Großen Katechismus. Hier der Text aus dem Kleinen Katechismus von 1529: „Der erste Artikel. Von der Schöpfung Ich glaube an Gott den Vater, den Allmächtigen, Schöpfer Himmels und der Erden.
39 40
Vgl. Behrens, „Schaffe in mir, Gott, ein reines Herz“ (in diesem Band) Vgl. den Beschluss des ersten Teils des Augsburgischen Bekenntnisses, BSLK, 83c-d.
Die Schöpfung im lutherischen Bekenntnis
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Was ist das? Ich glaube, dass mich Gott geschaffen hat samt allen Kreaturen, mir Leib und Seele, Augen, Ohren und alle Glieder, Vernunft und alle Sinne gegeben hat und noch erhält; dazu Kleider und Schuh, Essen und Trinken, Haus und Hof, Weib und Kind, Acker, Vieh und alle Güter; mit allem, was not tut für Leib und Leben, mich reichlich und täglich versorgt, in allen Gefahren beschirmt und vor allem Übel behütet und bewahrt; und das alles aus lauter väterlicher, göttlicher Güte und Barmherzigkeit, ohn all mein Verdienst und Würdigkeit: für all das ich ihm zu danken und zu loben und dafür zu dienen und gehorsam zu sein schuldig bin. Das ist gewisslich 41 wahr.“
Luther bekennt „ich glaube, dass Gott mich geschaffen hat samt allen Kreaturen, mir Leib und Seele, Augen, Ohren und alle Glieder, Vernunft und alle Sinne gegeben hat und noch erhält…“ Hier wird – wie im biblischen Befund – eine Relation ausgesprochen. Es geht nicht um die Weltentstehung vor 6000 oder wahlweise vor einigen Milliarden Jahren. Es geht genau genommen auch gar nicht um die Schöpfung, sondern um den Schöpfer und sein Verhältnis zu mir. Hier redet einer, der seine leiblichen Eltern kennt, und sich doch von Gott gewollt, geschaffen und erhalten weiß und davon zum Lob dieses Gottes geführt wird. Das Selbst- und Weltverhältnis des Menschen wird durch das Bekenntnis zum Schöpfer neu qualifiziert: Die eigene Existenz ist samt der natürlichen, kulturellen und sozialen Mitwelt eine Gabe Gottes. Wer aber dieser Gott ist, erschließt sich dem Menschen – nach lutherischem und ich sage mit dem Bekenntnis: allgemein christlichem Verständnis – nur über den Glauben an Jesus Christus.42 Wer Gott als den Schöpfer bekennen und von dieser Welt als von seiner Schöpfung (nicht bloß als Natur oder Umwelt) reden will, kann das nicht sachgemäß ohne den Glauben an die Erlösung in Christus tun.
3.2 Leitlinien des lutherischen Schriftverständnisses Bei der Frage, wie dieser Glaube an Christus zustande kommt, wie es zu einer Begegnung mit Gott in Christus kommen kann, spielt die Auffassung vom Wort Gottes eine zentrale Rolle. Das Wort ist das Gnademittel Gottes, mit dem er – neben Taufe und Abendmahl – kraft des heiligen Geistes Sündenerkenntnis und Gewissheit der Vergebung wirkt. Dabei nimmt das Wort Gottes unterschiedliche Formen an. Zuerst ist es das fleischgewordene Gotteswort in der Person Jesu Christi, sodann das geschriebene Wort in Gestalt der Heiligen Schrift und schließlich das verkündigte 41 42
Textfassung nach ELKG 1266f.; vgl. BSLK, 510f. Vgl. Peters, Kommentar 2, der darauf aufmerksam gemacht hat, dass der zweite Glaubensartikel von der Erlösung in Jesus Christus das sachliche Zentrum der Katechismen darstellt. Eine sachgemäße Erkenntnis des Schöpfers und damit der Welt als Schöpfung ist ohne die Glauben wirkende Begegnung mit Christus nicht möglich. Die drei Artikel des Credo korrelieren miteinander, wobei dem zweiten Artikel eine hermeneutische Leitfunktion zukommt.
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Wort. Das eigentliche Ziel des Wortes ist dabei immer, dem Menschen als Gesetz seine Gottesferne (Sünde) vor Augen zu halten und als Evangelium die angefochtenen Gewissen zu trösten, den Menschen des Gegründetseins seiner Existenz in Gott als dem Grund allen Seins gewiss werden zu lassen. Dies gilt auch für das geschriebene Gotteswort, das in seiner geschichtlichen Gestalt als Bibel in AT und NT vorliegt. Nach lutherischem Bekenntnis ist also das Ziel des Bibelwortes nicht die Erinnerung an vergangene und damit womöglich erledigte geschichtliche Taten Gottes in einer wie auch immer zu datierenden Vergangenheit, sondern das Ziel des Wortes Gottes ist die je aktuelle Anrede des Menschen auf sein Gottesverhältnis im Hier und Jetzt und auf Zukunft hin.43 Dabei bezieht sich das geschriebene Gotteswort zwar auf in Zeit und Raum verortete Ereignisse der Heilsgeschichte des alttestamentlichen Gottesvolkes und der neutestamentlichen Gemeinde. Der jeweilige Wert biblischer Texte als historische Quelle für die Rekonstruktion der genannten Ereignisse ist aber durchaus differenziert zu betrachten (bereits im AT haben Bücher wie Hiob oder Jona gleichnishaften Charakter und werden in ihrem Sinn verfehlt, wenn man sie historisch verorten wollte). Der Großteil der biblischen Bücher bezieht sich zwar auf Geschehnisse in Zeit und Raum, aber dieses – wie auch immer rekonstruierbare – geschichtliche Geschehen ist uns in der Bibel immer nur im Modus der Deutung als von Gott gewirktes Geschehen zugänglich. Offenbarungsqualität kommt aber geschichtlichen Ereignissen nach gemeinchristlicher Auffassung nicht unabhängig vom Wort zu. Insofern bezieht sich der Glaube auch immer auf die Schrift als verbindliche Offenbarungsurkunde, unabhängig von „dahinter“ rekonstruierbaren historischen Begebenheiten. Daraus ergibt sich, dass der Charakter der Bibel als Wort Gottes geschichtlich weder verifizierbar noch falsifizierbar ist. Dies gilt auch vom Standpunkt der Geschichtswissenschaft aus, da Gott und sein Handeln der nachaufklärerischen wissenschaftlichen Methodik (Troeltsch) entzogen ist. Es gilt also, das Gotteswort mit seinem eigenen Aussageziel wahrzunehmen. Dass aber dieses Ziel erreicht wird, die menschliche Existenz durch dieses Wort als Gesetz und Evangelium in seinem Gottesbezug erhellt wird (Glaube geweckt wird), ist methodisch nicht machbar.44 Das eigentliche Ziel des biblischen Gotteswortes ist weder der geschichtlichen noch der literaturwissenschaftlichen noch der naturwissenschaftlichen Erkenntnis unterworfen, ebenso wenig wie Gott als Urheber und Wirkkraft dieses Wortes. Mithin bleiben auch das Bekenntnis zu Gott als dem Schöpfer und die Aussage, dass diese Welt nicht schlicht Natur, sondern Schöpfung ist, ein Glaubenssatz. Dieser ist bedingt durch die im Glauben an Christus geschenkte Gotteserkenntnis. Als Werk des heiligen Geistes steht sie unter dem Vorbehalt von Luthers Erklärung des dritten Artikels des Apostolikums: 43 44
„Universa scriptura in hos duos locos praecipuos distribui debet: in legem et promissiones“, BSLK, 159. Vgl. Behrens, Exegese (in diesem Band).
Schlussfolgerungen im Hinblick auf die Kontroverse Schöpfung und Evolution
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„Ich glaube, dass ich nicht aus eigener Vernunft noch Kraft an Jesus Christus, meinen Herrn, glauben oder zu ihm kommen kann; sondern der Heilige Geist hat mich durch das Evangelium berufen, mit seinen Gaben erleuchtet, im rechten Glauben 45 geheiligt und erhalten...“
Das Mittel des heiligen Geistes ist das Wort Gottes. Dass der Mensch ein Sünder ist, mit Gott nicht im Reinen ist, dass er aber um Christi willen mit Gott ins Reine kommt, dass er dann diesen Gott auch als Schöpfer der Welt erkennen und bekennen kann – das alles kann der Mensch nicht mit Mitteln und Methoden der Naturoder Geisteswissenschaft erkennen. Das muss ihm gesagt werden.
4. Schlussfolgerungen im Hinblick auf die Kontroverse Schöpfung und Evolution Der Begriff der Schöpfung ist in der Perspektive der lutherischen Theologie vor allem ein relationaler Begriff. Der erste Glaubensartikel zielt weniger auf die Schöpfung als vielmehr auf den Schöpfer. Das Bekenntnis zu Gott dem Schöpfer steht in unauflöslicher Korrelation zum Bekenntnis zu Gott dem Erlöser in Jesus Christus. Beides kommt im glaubenden Menschen zustande durch das Wirken Gottes des heiligen Geistes. Erst das Getroffensein durch das Wort Gottes (als Wirkmittel des Geistes) ermöglicht eine angemessene Selbstwahrnehmung des Menschen im Angesicht Gottes als Sünder, der die Erlösung im Glauben an Christus geschenkt bekommt. Erst dieser Glaube ermöglicht die Erkenntnis dieser Welt als Schöpfung des Gottes, der in Christus Mensch geworden ist. In seiner Akzentuierung der Rede von der Schöpfung als Beschreibung einer Relation des Menschen zu Gott entspricht das lutherische Bekenntnis den alttestamentlichen Schöpfungsaussagen. Auch die enge Verknüpfung von Gottes Schöpfungs- und Heilshandeln hat in den alttestamentlichen Aussagen, insbesondere in Psalm 136 und den Schöpfungsaussagen Deuterojesajas, ihre Entsprechung. Daraus folgt im Hinblick auf die Erkenntnisbemühungen unterschiedlicher kreationistischer Strömungen: – Eine einseitig auf den vermeintlichen oder tatsächlichen historischen Geschehensverlauf konzentrierte Lesart biblischer Schöpfungstexte, ist geneigt, den zentralen Aussagegehalt der Texte zu verpassen. – Da, wo Kreationismus vor allem auf die Lücken oder Fehler in evolutionären Denkmodellen aufmerksam macht und naturwissenschaftlich (bisher) nicht erklärbare Phänomene (z.B. die Entstehung des Lebens) als Hinweise auf einen göttlichen Schöpfer interpretiert, macht sie Gott zu einem Lückenbüßer für die menschliche Erkenntnis. 45
Textfassung nach ELKG, 1268, vgl. BSLK, 511f.
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Zudem ist aus Sicht der christlichen Theologie darauf hinzuweisen, dass ein Gottesbild, das auf Hinweisen aus Natur und Geschichte beruht (→ Intelligent Design) defizitär ist, da es nicht zu einer hinreichenden Erkenntnis des biblisch bezeugten und trinitarisch bekannten Gottes führen kann. Das Schöpfersein Gottes und das Schöpfungsein der Welt sind nicht mit den Mitteln der Natur- oder Geschichtswissenschaft erweisbar. Beides bleibt Ausdruck des Glaubens, der nicht durch den Nachweis der Tatsächlichkeit von in der Bibel geschilderten Ereignissen zustande kommt, sondern immer Werk des Geistes ist. Die Konzentration auf die Heilige Schrift als Quelle für Geschichtshandeln Gottes, das prinzipiell mit Mitteln der Natur- und Geschichtswissenschaft erweisbar ist, ist ein ausschließlich nachaufklärerischer und rationalistischer Zugang zur Bibel, der aus lutherischer Sicht den zentralen Charakter des Wortes Gottes als Anrede an den Menschen in Gesetz und Evangelium verfehlt.
Im Hinblick auf unterschiedliche Ausprägungen der Evolutionstheorie und vor allem der damit einhergehenden Weltbilder folgt: – Der Aufweis naturwissenschaftlicher Geschehensverläufe, die von biblischen Schilderungen abweichen, trifft das Bekenntnis zu Gott dem Schöpfer und die Kennzeichnung dieser Welt als seiner Schöpfung im Kern nicht. – Dies machen schon unterschiedliche Vorstellungen über die Art und Weise der Weltentstehung innerhalb der Bibel deutlich: Die vorfindliche je gegenwärtige Welt will als Schöpfung Gottes erkannt werden, d.h. als in einer Beziehung zu Gott als dem Herrn über Schöpfung und Geschichte stehend. Dieses Bekenntnis bleibt immer ein Glaubensakt und kann nicht durch einen Erkenntnisakt ersetzt werden. Er verdankt sich nicht der Arbeit mit Mikroskop, Spaten oder Pipette, sondern dem Getroffensein durch das Wort. – Dieses Wort sagen die Glaubenden auch in einer rational erklärbaren Welt weiter – wie es durch die Zeiten angesichts wandelnder Weltbilder immer weitergesagt wurde – und halten damit den Anspruch fest, dass Evolution eben nicht „alles“ ist, weil das Wesen des Menschen ohne den Gottesbezug nicht angemessen erfahrbar ist. Für den Glauben hängen Selbst- und Weltverhältnis des Menschen am Gottesverhältnis. – Es ist daher möglich, dass ein Mensch, dem die Ergebnisse der modernen Naturwissenschaften durchaus einleuchten, dennoch zum Bekenntnis zu Gott dem Schöpfer findet. Von diesem Bekenntnis her wird dann auch gegen ideologische oder absolutistische Weltbilder auf vermeintlich wissenschaftlichem Fundament Einspruch zu erheben sein.
Frauen und Männer im Alten Testament Eine Skizze 1. Der Horizont der Fragestellung „Der Weg des Luthertums zur Frauenordination ist ein langer, oft umstrittener und in manchen Fällen noch nicht abgeschlossener.“ So beginnt Kenneth Appold seine Beobachtungen zu „Frauen im frühneuzeitlichen Luthertum.“1 Seines Erachtens „bemerkenswert ist der in manchen lutherischen Kirchen und Gemeinden immer noch vorhandene Widerstand gegen Frauen im Verkündigungsamt und sogar in nicht-ordinationsgebundenen kirchlichen Führungsfunktionen. Im Vordergrund stehen hier die Selbständige Evangelisch-Lutherische Kirche (SELK), die Lutheran Church-Missouri Synod (LCMS), zahlreiche weitere Kirchen, die im International Lutheran Council (ILC) teilnehmen, aber auch einige Kirchen des Lutherischen Weltbundes.“2 Damit ist der Horizont beschrieben, vor dem auch die folgenden Beobachtungen ihren Platz haben, wenn auch innerhalb der SELK noch nicht klar ist, ob die Diskussion um die Frauenordination in der Weise „abgeschlossen“ wird, wie Appolds Formulierung dies nahe legt.3 Nun trägt die alttestamentliche Exegese zur Frage des evangelischen Pfarramtes und inwiefern dies von Frauen und Männern gleichermaßen wahrgenommen werden sollte im engeren Sinne nichts bei.4 Allerdings hat sich die SELK mit Beschlüssen des 9. Allgemeinen Pfarrkonventes 2001 in Oberursel und der 10. Kirchensynode 2003 in Melsungen auf den Weg einer längeren Diskussion dieser Frage in einem weiteren Kontext begeben. In einem Rundschreiben vom 15. Mai 2006 an „alle Pfarrer, Pastoralreferentinnen, Vikare, Theologiestudierenden und Gemeinden sowie die Mitglieder der Kirchenleitung der SELK“ beschreibt der seinerzeitige Bischof dieser Kirche, Diethard Roth, den Weg eines Diskussionsprozesses zum Thema Frauenordination, indem er die Vorschläge einer Arbeitsgruppe der 1 2 3
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Appold, ZThK 103 (2006, 253. Appold, ZThK 103 (2006), 253. Bemerkenswert an Appolds Ausführungen, die sich in der Sache mit dem eigentlichen Thema dieses Aufsatzes nur am Rande berühren, ist doch, dass er zumindest implizit immer auch in Richtung des konfessionellen Luthertums argumentiert. Nach einer Reihe von Detailbeobachtungen an Theologen der lutherischen Orthodoxie kommt er zu dem Schluss: „Ein Widerstand gegen die Frauenordination, der sich traditionalistisch zu begründen sucht oder auf ein ‚konfessionelles Erbe‘ beruft, tut dies vergebens. Denn selbst in der Wittenberger Hochburg der lutherischen Orthodoxie zeigte man sich dieser Frage gegenüber nachweislich sehr viel offener, als es manche heutige ‚Traditionalisten‘ tun“ (ZThK 103 [2006], 279). Appolds Argumentation kann hier inhaltlich nicht diskutiert werden; vgl. auch Klein, Lutherische Kirche in der Welt 54 (2007), 160–172. Ob sich z.B. die SELK künftig seiner Schlussfolgerung anschließen wird, bleibt abzuwarten. Folglich findet sich in dem Band Stolle (Hg.), Frauen im kirchlichen Amt? auch kein Beitrag aus dem Fachgebiet Altes Testament.
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Frauen und Männer im Alten Testament
Kirchenleitung aufgreift.5 Demnach werden „für die Weiterarbeit in der Kirche folgende Jahresthemen vorgeschlagen: I/2006: Amt, Ämter und Dienste in der SELK II/2006: Fragen nach einer theologisch relevanten Verknüpfung von Amt und Geschlecht des Amtsträgers 2007: Fragen der Zuordnung von Mann und Frau im Alten und Neuen Testament 2008: Die für das Thema Frauenordination relevanten hermeneutischen Fragen.“6 Die Fragestellungen dieses Fahrplans sind in sich nicht unproblematisch: Inwiefern etwa impliziert die Frage nach einer „theologisch relevanten Verknüpfung von Amt und Geschlecht des Amtsträgers“ zumindest tendenziell bereits die Antwort, insofern davon ausgegangen wird, dass dies im Neuen Testament überhaupt ausdrücklich ein Thema ist?7 Was genau bedeutet der Begriff „Zuordnung“? Wird damit auf ein bestimmtes Verhältnis der Geschlechter abgehoben, das als biblisch, göttlichen Ursprungs und damit bis heute verbindlich gelten kann? Wenn das so ist, wie viele hermeneutische Entscheidungen sind dann bereits mit der Fragestellung gegeben? Wie ist zu ermitteln, welche hermeneutischen Fragen als „relevant“ gelten können? Schließlich ist auch zu bedenken, welche Fragen in dem genannten Plan nicht gestellt werden. Auch der gesellschaftlichen Entwicklung, die die Kirche immer mit vollzieht und/oder von den maßgebenden Erkenntnisquellen Schrift und Bekenntnis her kritisch begleitet, kommt in der genannten Fragestellung nolens volens „Relevanz“ zu. Von welcher Art und von welchem Gewicht diese Relevanz für die kirchliche Entscheidungsfindung in Lehr- und Ordnungsfragen ist, wäre zu reflektieren. Diese Anmerkungen, die im vorliegenden Zusammenhang über Andeutungen nicht hinausgelangen können, sollen den beschriebenen Diskussionsprozess zum Thema Frauenordination in der SELK nicht infrage stellen, sondern kritisch begleiten. Es gibt über die genannten Aspekte hinaus noch mehr zu bedenken, und die
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Vgl. Roth, Rundschreiben. Roth, Rundschreiben, 2f. Dass diese Frage zunächst an das NT gestellt werden soll, ergibt sich aus einer dem erwähnten Rundschreiben beigegebenen Anlage 2: „Ordination von Frauen zum Amt der Kirche? Seminareinheit für die theologische Weiterarbeit durch die Bezirkspfarrkonvente zum Jahresthema II/2006“. Hierfür zeichnet die von der Kirchenleitung der SELK eingesetzte Arbeitsgruppe „Methodik Frauenordination“ verantwortlich (Ch. Brammen, G. Kelter, W. Klän). Darin wird die Beantwortung der Frage nach einer solchen „theologisch relevanten Verknüpfung von Amt und Geschlecht“ möglichst ergebnisoffen gestellt. Gleichwohl bleiben Zweifel, ob die Frage als solche den neutestamentlichen Texten angemessen ist, denn ausdrücklich thematisiert wird dieses Thema dort kaum. Die Tatsache, dass Jesus nur Männer in den Zwölferkreis berufen hat, ist im NT nirgends als relevant vermerkt und kommt daher allenfalls als argumentum e silentio zum Zuge. Lediglich in 1Tim 2,8–5 geht es um ein explizites Verbot des „Lehrens“ für Frauen. Evtl. steht hier aber die Abwehr einer zeitgenössischen gegnerischen Position im Hintergrund, nach der Frauen um des „Lehrens“ willen aufs Kinder gebären verzichten sollten (V. 15). Diese Fragen müssen in anderem Zusammenhang ausführlicher bedacht werden. Bei alle dem ist die Frage zu bedenken, von welchem „Amt“ angesichts der neutestamentlichen Ämtervielfalt eigentlich die Rede ist.
Das Verhältnis von Frauen und Männern in alttestamentlichen Texten
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genannten Aspekte könnten auch anders bedacht werden! Dennoch ist es ein mutiges Unternehmen, eine ganze Kirche auf einen solchen Diskussionsprozess zu führen, der dann ja auch irgendwie strukturiert und organisiert werden muss. Die hier dargelegten Ausführungen lassen sich also ausdrücklich auf diesen Prozess ein (im kritischen Diskurs mit den Fragen selbst – anders geht es nicht!) und wollen einen eigenen Beitrag an einem konkreten Punkt leisten. Hier geht es um das „Jahresthema“ 2007, nämlich „Fragen der Zuordnung von Mann und Frau im Alten und Neuen Testament.“ Aufgrund der Fachkompetenz des Autors sei dies noch einmal auf das Alte Testament zugespitzt. Dabei verfahren die folgenden Ausführungen in einem Zweischritt: Zunächst sollen anhand der Auslegung einzelner Texte sozialgeschichtliche und anthropologische Aspekte des Verhältnisses von Frauen und Männer im Alten Testament erhoben werden. Dabei wird auch nach dem Ursprung der in den jeweiligen Texten zum Ausdruck kommenden Vorstellungen des Geschlechterverhältnisses zu fragen sein. Sodann soll in einer hermeneutischen Erwägung nach der Verbindlichkeit der so erhobenen Weisen des Miteinanders von Frauen und Männern im ersten Teil der christlichen Bibel gefragt werden.
2. Das Verhältnis von Frauen und Männern in alttestamentlichen Texten Die folgenden Beobachtungen reihen sich nicht in die Linie der Arbeiten ein, die nach beeindruckenden Frauengestalten der Bibel suchen. Diese Fragestellung hat ihren eigenen Ort.8 Hier soll es darum gehen, welche unterschiedlichen Aspekte des Miteinanders der Geschlechter in alttestamentlichen Texten beschrieben oder auch nur als selbstverständlich vorausgesetzt werden. Notgedrungen müssen diese Beobachtungen skizzenhaft bleiben9, können aber wohl als Ausgangspunkt für die kritische Auseinandersetzung dienen. Unter dem genannten Gesichtspunkt werden hier die Berichte über die Menschenschöpfung der Genesis, erzählende Texte, Rechtssätze und schließlich weisheitliche Texte des AT diskutiert.
2.1 Der Entwurf: Frau und Mann als Ebenbild Gottes in der Schöpfung Wer sich noch einmal an Beobachtungen in den ersten beiden Kapiteln der Genesis wagt, muss damit leben, dass die Literatur dazu inzwischen viel zu umfangreich ist, um auch nur annähernd eine vollständige Beachtung aller Forschungsbeiträge
8 9
Vgl. z.B. Nowell, Evas starke Töchter. 4 4 Vgl. zur Einführung Bird, RGG 3, 259f.; dies., RGG 3, 280f.; Sals, Frau.
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Frauen und Männer im Alten Testament
leisten zu können.10 Dies gilt nicht nur für die Vielzahl der wissenschaftlichen Untersuchungen, sondern auch im Hinblick auf die Fülle der Themen, die in der Auslegung der Schöpfungsgeschichten eine Rolle spielen. Es ließe sich die religionsgeschichtliche Herkunft der Bilder, die theologische Relevanz für die christliche Lehre oder auch die literargeschichtliche Entstehung der ersten Kapitel der Bibel bedenken. Zum letzten Punkt hier nur soviel: Die klassische „neuere Urkundenhypothese“ mit der Annahme der Quellen „Priesterschrift“ (P); „Jahwist“ (J) und „Elohist“ (E) wird von der Mehrzahl der Ausleger in der Form, wie sie bis Anfang der 80er Jahre als common sense der alttestamentlichen Wissenschaft gelten konnte, heute nicht mehr oder nur stark modifiziert vertreten.11 Fixpunkt der Pentateuchanalyse bleibt aber die Annahme einer Quelle P, die in Gen 1 beginnt. Vorsichtig spricht man im Hinblick auf die übrigen Text von „nichtpriesterschriflichem“ Material (mal „vor-“, mal „nachpriesterschriftlich“ angesetzt). Ob es sich dabei, wie bei P um eine Quelle, oder um eine oder mehrere Bearbeitungsschicht(en) handelt, wird unterschiedlich beurteilt. Oft wird dieses Textmaterial immer noch mit dem Kürzel „J“ belegt. Die Datierung eines solchen „Jahwisten“ in die Zeit Salomos ist aber fast ganz aufgegeben. Heute setzt man die Entstehung dieser Texte in (spät)vorexilischer Zeit in Jerusalem an.12 Die Abgrenzung der einzelnen Texte ist aber zumeist immer noch dieselbe wie bei Hermann Gunkel, Gerhard von Rad u.a. (von der fraglichen Existenz einer Quelle E einmal abgesehen).13 Das heißt für den vorliegenden Zusammenhang: Es ist von zwei Schöpfungserzählungen auszugehen; einem priesterschriftlichen Bericht von der Weltentstehung („Kosmogonie“) aus der Exilszeit in Gen 1,1 – 2,4a und einer nichtpriesterschriftlichen, wohl älteren Erzählung von der Menschenschöpfung („Anthropogonie“) in Gen 2,4b – 3,24. Datierungsfragen sind insofern von Belang, als die Schöpfungsberichte in Judentum und Christentum zwar eine immense Wirkung entfaltet haben, innerhalb des AT aber kein ausdrücklicher Bezug darauf genommen wird. Dies könnte darauf hindeuten, dass das Bekenntnis zu Gott als dem Schöpfer und die mit den Schöpfungsberichten gegebene Sicht vom Menschen relativ spät zum Glaubensgut des alten Israel geworden ist. 2.1.1 Gen 1,26–28 26
10 11 12 13
Und Gott sprach: „Wir wollen Menschen machen als unser Bild, entsprechend unserer Ähnlichkeit;
Neben der vielen älteren und neueren exegetischen Literatur, die z.T. im folgenden genannt wird, sei ausdrücklich verwiesen auf: Mahlke, LuThK 21 (1997), 18–33. Vgl. Schmitt, 172–248. Vgl. als neueren literargeschichtlichen Entwurf Kratz, Komposition, 226–262; ähnlich Gertz (Hg.), Grundinformation, 236–247 und 260–268. Vgl. Gunkel, HK I/1; Rad, ATD 2-4; Westermann, BKAT I/1; Seebass, Genesis I; Soggin, Genesis.
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27
28
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so sollen sie herrschen über die Fische des Meeres und über die Vögel des Himmels und über die Haustiere und über die ganze Erde und über alle Kriechtiere, die über die Erde kriechen.“ So schuf Gott den Menschen als sein Bild, als Bild Gottes schuf er ihn; männlich und weiblich schuf er sie. Dann segnete Gott sie und Gott sprach zu ihnen: „Seid fruchtbar und vermehrt euch, 14 füllt Erde und macht sie euch untertan ; und herrscht über die Fische des Meeres und über die Vögel des Himmels und über alle Lebewesen, die über die Erde kriechen!“
Dies ist das zweite Werk am sechsten Tag im Ablauf der Sieben-Tage-Schöpfung in Gen 1. Durch mehrere Signale ist die Schöpfung des Menschen als etwas Besonderes gegenüber den übrigen Werken hervorgehoben. Das übliche Schema: „Und Gott sprach: es werde… Und es geschah–…“ ist hier aufgebrochen. Nach der Einleitung „Und Gott sprach… “ folgt nicht ein Bericht über ein Schaffen durch das Wort, sondern den Lesern wird ein Entschluss Gottes mitgeteilt: „Wir wollen Menschen machen als unser Bild, entsprechend unserer Ähnlichkeit.“15 Sogleich wird auch das Ziel dieser neuen Schöpfung, „Adam“, angegeben: Diese Gattung soll herrschen über die anderen Lebewesen. Die Verse 26b und 28b entsprechen einander. Der jeweils verwendete Terminus ( רדהtreten, niedertreten) ist Tätigkeit des Königs im Alten Orient. Dies gilt auch für die Wurzel ( כבשׁunterdrücken, Gewalt antun), die in V. 28a verwendet wird. Ungeachtet der heute als anstößig empfundenen gewalttätigen Konnotationen der Verben, steht im Vordergrund, dass es sich eben um königliche Tätigkeiten handelt, die hier auf im Schöpfungshandeln Gottes allen Menschen, Frauen und Männern, zugesprochen werden. Ausführliche Untersuchungen zeigen zudem, dass im Kontext des AT den Herrschaftstermini auch die Verantwortung gegenüber dem Schöpfer innewohnt.16 Das sachliche Zentrum der Menschenschöpfungsaussagen in Gen 1 bildet der Vers 27. Dies wird auch durch die formale Struktur des Verses unterstrichen. V. 27a ist chiastisch aufgebaut:17
14
15 16 17
Es ist geraten, bei der Wiedergabe von כבשׁbeim Luthertext zu bleiben; denn die (etwas altmodische) Formulierung vom „untertan machen“ gibt einerseits die Konnotation der herrschaftlichköniglichen Tätigkeit wieder, ohne andererseits zwingend ein Bild von Gewalttätigkeit hervorzurufen. Vgl. zum Charakter diese Entschlusses und zu seinen religionsgeschichtlichen Parallelen Westermann, BKAT I/1, 199f. und jetzt ausführlich Neumann-Gorsolke, Herrschen, 168–172. Vgl. Neumann-Gorsolke, Herrschen, 206–315. Zur Struktur und Grammatik des Verses vgl. Schüle, EvTh 66 (2006), 446f.
252
Frauen und Männer im Alten Testament
So schuf Gott den Menschen
als sein Bild
als Bild Gottes
schuf er ihn
Durch die Wiederholung werden außerdem die Begriffe „schaffen“ ( )בראund „Bild“ ( )צלםhervorgehoben. Hieß es noch in V. 26 bei der Mitteilung des Entschlusses, Gott wolle Menschen „machen“, so ist hier nun zweimal vom theologisch gewichtigerem „Schaffen“ die Rede. Ebenfalls zweimal wird gesagt, dass Gott die Menschen „als sein Bild“ schafft. Der hier verwendete Begriff צלםsteht in V. 26 parallel zu „( דמותÄhnlichkeit“). Das Ringen um das richtige Verständnis dieser beiden Begriffe bestimmt buchstäblich seit Jahrtausenden die theologische Diskussion darüber, wie die Gottebenbildlichkeit des Menschen zu definieren sei.18 Jedenfalls verweist der Terminus צלםauf den im Alten Orient weit verbreiteten Zusammenhang von Gott und Bild. Im Akkadischen ṣalmu hat der Begriff ein Pendant. Im AT in seiner vorliegenden Endgestalt wird die Wahrnehmung des Themas „Gott und Bild“ geprägt durch das Bilderverbot und die Polemik gegen Götzen als rein von Menschen hergestellten, „seelenlosen“ Artefakten. Im Alten Orient herrschte aber eine ganz andere Auffassung als selbstverständlich vor: Die Götterplastiken sind nicht nur Dinge, sondern in ihnen ist die Gottheit samt ihrer Wirkmächtigkeit real präsent.19 Daher kommt der Statue Verehrung zu, darf sie oft nur von ausgewählten Personen (König oder Priester) betrachtet werden und muss auch mit Lebensmitteln versorgt werden. Darüber hinaus kann im Alten Orient von Ägypten bis Mesopotamien der Ausdruck „Bild Gottes“ auch metaphorisch gebraucht werden. In einigen akkadischen Texten heißt es, der König sei „ṣalmu (Bild) des Gottes N.N.“ Der König ist Stellvertreter oder Repräsentant der Gottheit auf Erden.20 In diesem Sinne ist der Begriff צלםin Gen 1,27a zu verstehen: Als sein „Repräsentanzbild“ hat Gott den Menschen geschaffen.21 Im Gesamt der Schöpfung sind die Menschen
18 19
20 21
4
Vgl. Westermann, BKAT I/1, 203–214; Janowski/Markschies, RGG 3, 1159–1163. 4 Vgl. Uehlinger, RGG 3, 1145–1148; Neumann-Gorsolke, Herrschen, 172–197. Im AT spiegelt sich diese Vorstellung u.a. in der Geschichte von der Flucht Jakobs vor Laban in Gen 31. Dort fragt Laban: „…warum hast Du meinen Gott gestohlen?“ (V. 30), weil Rahel die Statue seines Hausgottes mit auf die Flucht genommen hatte (V. 19). Laban ist aber nicht nur ein Gegenstand abhanden gekommen, der leicht zu ersetzen wäre, sondern sein Gott und somit Schutz und Frieden für sein Haus. Vgl. Neumann-Gorsolke, Herrschen, 181–185. Dabei ist zu beachten, dass das Bilderverbot gewahrt bleibt. Der im AT sonst übliche Terminus פסלfür „Götzenbild“ bzw. „plastische Gottesdarstellung“ wird hier gerade nicht gebraucht. Andererseits wird צלםnicht im Kontext des Bilderverbotes genannt (vgl. Neumann-Gorsolke, Herrschen, 303). So bleibt die bildlose Transzendenz Gottes gewahrt und gleichzeitig können die Menschen als Repräsentanten dieses Gottes bezeichnet werden. Sie sind es aber nur, indem sie die Funktion des „Herrschens“ in Verantwortung vor dem Schöpfer ausüben.
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Repäsentanten Gottes auf Erden, und zwar sowohl Männer als auch Frauen, wie Gen 1,27b klar stellt: männlich und weiblich schuf er sie.
Im Vergleich mit V. 27a fällt der Numeruswechsel auf. Dort hieß es „als Bild Gottes schuf er ihn“, nun: „…schuf er sie.“ Dies ist sinnvolle Absicht und nicht etwa ein Zeichen für eine literarische Spannung oder dergleichen! Der Begriff „Adam“ in V. 26f. ist nicht Eigenname, sondern Gattungsbezeichnung. Jetzt wird „der Mensch“ spezifiziert. Als Mann und Frau sind die Menschen geschaffen. Erst in diesem Miteinander sind sie vollständig und nur so sind sie „Bild“ Gottes.22 Aber als Mann und Frau sind die Menschen Gottes Repräsentanten. Ihr צלם-/Bild-Sein geben die Menschen an die folgenden Generationen weiter (Gen 5,1–3); hierin liegt ihre Würde und ihr Anspruch auf Unversehrtheit (Gen 9,6). Die Menschen erweisen sich als Repräsentanten Gottes, indem sie über die Erde „herrschen“, was die Verantwortung gegenüber dem Schöpfer einschließt.23 Während dies aber im Alten Orient sonst so vom König gesagt wird, gilt es im AT von allen Menschen, Frauen und Männern.24 So beginnt die Bibel mit einer programmatischen Aussage über Wesen und Auftrag der Menschen als Frauen und Männer. Damit ist „hier ausgesagt, daß der zu zweit geschaffene Mensch sowohl im Verstehen menschlicher Existenz wie auch in den Ordnungen und Institutionen des menschlichen Daseins als ein zur Gemeinschaft Bestimmter gesehen werden muß. Jede theoretische und jede institutionelle Sonderung von Mann und Frau, jede betonte Abhebung des Männlichen vom Weiblichen kann gefährden, was hier vom Geschaffensein des Menschen gesagt ist“.25 Diese positive Beschreibung der Würde des Menschen als Repräsentant Gottes stellt einen kritischen Maßstab für den Umgang der Menschen untereinander, mit dieser Welt aber auch für das Leben coram deo da.
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25
Vgl. die parallele Struktur: 27aβ: als Bild Gottes schuf er ihn 27b: männlich und weiblich schuf er sie und dazu Schüle, EvTh 66 (2006), 447: „Die grammatische [und stilistische, A.B.] Analyse ist an dieser Stelle von Wichtigkeit, weil daran deutlich wird, dass die Erschaffung des Menschen als Gottes Bild und als männlich und weiblich nicht zwei voneinander unabhängige Wesensmerkmale des Menschen sind, sondern zwei Seiten derselben Medaille.“ Zwar kennt die Priesterschrift keinen „Sündenfall“, aber in Gen 6 wird durch die Sintfluterzählung deutlich, dass die Menschen ihre Bestimmung in den Augen des Schöpfers auch vollkommen verfehlen können. Dabei kann dahingestellt bleiben, ob hier die altorientalische Königsideologie „demokratisiert“ wird (vgl. Seebass, Genesis I, 80f.), oder ob der Mensch im AT insgesamt „royalisiert“ ist (vgl. Neumann-Gorsolke, Herrschen, 206). In jedem Fall enthält Gen 1,27 auch ein kritische Spitze gegen die Vorstellung eines gottgleichen Königtums. Westermann, BKAT I/1, 221.
254
Frauen und Männer im Alten Testament
2.1.2 Gen 2,18.21-24; 3,16 18
21
22 23
24
Und Jahwe Gott sprach: „Es ist nicht gut, dass der Mensch allein ist; ich will 26 ihm ein ‚Wesen‘ machen, das ihm entspricht.“ […] Und Jahwe Gott ließ einen Tiefschlaf über den Menschen fallen, und er schlief; und er nahm eine von den Rippen des Menschen und verschloss das Fleisch dahinter wieder. So baute Jahwe Gott die Rippe, die er vom Menschen genommen hatte, zur Frau; und er brachte sie zu dem Menschen. Da sprach der Mensch: „Dieses Mal ist es Knochen von meinen Knochen und Fleisch von meinem Fleisch; zu dieser wird man sagen: אשׁה, denn vom מאישׁ ist sie genommen.“ Darum wird ein Mann seinen Vater und seine Mutter verlassen; und er wird an seiner Frau hängen und sie werden ein einziges Fleisch sein.
Auch in der „jahwistischen“ Paradieserzählung nimmt die Erschaffung des Menschen eine herausgehobene Stellung ein. Genau genommen ist dies das Thema der ganzen Erzählung. Daher ist die Bildung des Adam von der Adama, des Menschen von der Ackererde, auch das erste, was berichtet wird. Um des Menschen willen pflanzt Gott anschließend den Paradiesgarten. Und doch setzt der nun zu behandelnde Text mit dem Urteil Gottes ein: „Es ist nicht gut…“ Hebräisch: לא־טוב. In kanonischer Lesart stellt dies einen deutlichen Kontrast zu den Billigungsformeln des ersten Kapitels mit der abschließenden Bewertung ( והנה־טוב מאד1,31: „Und siehe, es war sehr gut“) dar.27 Der (männliche) Mensch im Garten Eden ist noch nicht das Ziel der Schöpfung. Erst das ihm entsprechende Gegenüber führt zu Gemeinschaft und damit zur Vollendung der Menschenschöpfung. Dies gilt nach V. 18 ausdrücklich im Urteil Gottes. So „formt“ ( )יצרGott die Tiere aus dem Ackerboden, ebenso wie er zuvor den Menschen „geformt“ (V. 7) hatte, und führt sie dem Menschen zu. Dieser benennt sie. Die Namensgebung ist als Herrschaftsakt und als Wesensbestimmung zu verstehen (V. 19f.). Aber ein Wesen, das dem Menschen entspricht, ist nicht darunter. Daher „baut“ ( )בנהGott aus einer Rippe des Mannes die Frau. Der Terminus für den Schöpfungsakt ist anders als das Verb „Formen“, das Gottes Schaffen von Mann und Tier bezeichnet. Die Frau ist von Anfang als Teil des einen Menschseins angelegt. Oder anders: Der männliche Mensch ist „ausbaufähig“. Es geht der Erzählung nicht darum, die Frau irgendwie „sekundär“ vom Mann „abzuleiten“, sondern es wird deutlich: Frau und Mann sind zwei unterschiedliche Manifestationen desselben Menschseins; beide von Gott selbst gemacht. Dies ist der Sinn der Begrü26
27
So mit Gunkel, HK I/1, 11, da die wörtliche Übersetzung von עזרmit „Hilfe“ oder „Gehilfin“ das im Text Gemeinte nicht zum Ausdruck bringt: „Es ist die personale Gemeinschaft von Mann und Frau im umfassenden Sinne gemeint...“ (Westermann, BKAT I/1, 317). Vgl. Westermann, BKAT I/1, 312f.
Das Verhältnis von Frauen und Männern in alttestamentlichen Texten
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ßungsformel in V. 23, mit der der Mensch seinesgleichen erkennt. Der Herrschaftsakt der Namensgebung entfällt. Der Mann konstatiert nur: Frau! Dies ist das Wesen, das ihm entspricht. Nun ist es „gut“! Damit könnte die Geschichte von der Erschaffung der Frau enden, und in einem früheren überlieferungsgeschichtlichen Stadium war es vielleicht auch einmal so.28 Im vorliegenden Text von Gen 2 wendet sich aber der Erzähler mit einer Art Fazit an die Leser- bzw. Hörerschaft. „Darum wird ein Mann seinen Vater und seine Mutter verlassen…“ Dieses „Darum“ antwortet auf die Frage „Warum?“29 und verdeutlicht, dass die Geschichte auch ätiologische Züge hat; d.h. sie will mit dem Rückgriff auf den Ursprung oder die Entstehung das Wesen gegenwärtig erfahrbarer Phänomene erklären.30 Konkret geht es um die geheimnisvolle aber doch mächtige Anziehungskraft zwischen den Geschlechtern. Hier wird, wie oft gesehen, nicht die Ehe zum Thema. Dafür war im alten Israel eine wie auch immer geartete Anziehung zwischen den Partnern nicht Voraussetzung.31 Und doch haben (natürlich!) auch die Menschen im antiken Vorderen Orient die Kraft der Attraktion zwischen Mann und Frau gespürt. Das kommt daher, so weiß die Erzählung, dass die beiden ursprünglich eins sind und auf Einheit – im körperlichen und auch im personalen Sinne – zustreben. Sie werden ein Fleisch. Bemerkenswert, ja aufregend ist bei näherem Hinsehen die Bemerkung, ein Mann werde seinen Vater und seine Mutter verlassen, um an seiner Frau zu hängen; denn dies ist im Alten Testament (wie im ganzen Alten Orient) keine Selbstverständlichkeit!32 Anders als in den heutigen Strukturen von Kleinfamilien, verlassen die Kinder im AT nicht ihre Eltern, um einen eigenen Hausstand zu gründen. Vielmehr heiratet in der Regel die Frau in die Großfamilie des Mannes ein. Ihre rechtliche Stellung als ursprünglich „Fremde“ („eingeplaggt“, wie man in Norddeutschland sagt) in der Familie ist dort zunächst eine niedrige.33 Gen 2,24 aber stellt die ursprüngliche Zusammengehörigkeit von Mann und Frau über das übliche Familienrecht und konterkariert damit sozusagen schöpfungstheologisch die gesellschaftlich erfahrbare Ungleichbehandlung von Mann und Frau.34 Ähnlich wie die 28 29 30 31
32 33 34
Vgl. Westermann, BKAT I/1, 317. Vgl. Gunkel, HK I/1, 13; Soggin, Genesis, 73. Vgl. Rad, ATD 2–4, 68f. „Dieser Vers hat seine Bedeutung gerade darin, daß er im Unterschied zu den bestehenden Institutionen und z.T. sogar im Gegensatz zu ihnen auf die elementare Kraft der Liebe von Mann und Frau weist“ (Westermann, BKAT I/1, 318); vgl. Seebass, Genesis I, 119. Vgl. Gunkel, HK I/1, 13; Rad, ATD 2–4, 68f.; Vgl. Otto, Ethik, 48f. „Die patrilokale [sc. das „Vaterhaus“ des Bräutigams ist Heimat der Familie] Strukturierung der israelitischen Ehe und die daraus folgende Herrschaft des Mannes wird in Gen 2,24 aufgehoben. Der Mann verlässt seine Familie, um eins zu werden mit der Frau. Bei der Exogamieregel [sc. die Frau heiratet von außen in die Familie des Mannes ein], die die Ungleichheit der Geschlechter begründet, setzt der Erzähler an. Die Verhältnisse werden aber nicht einfach auf den Kopf gestellt, indem eine umgekehrte Herrschaftsform aufgerichtet wird, sondern die patrilokale Struktur wird aufgegeben, um die Gleichheit der Geschlechter zu proklamieren. Gen 2,24 zielt darauf, daß
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Bestimmung der männlichen und weiblichen Menschen als „Repräsentanzbild“ Gottes in Gen 1,27 stellt auch die Aussage von Gen 2,24 ein urgeschichtliches Ideal dar, das nicht dem tatsächlich erfahrenen Miteinander der Geschlechter im alten Israel entsprach. Bis heute können die Aussagen über die Geschöpflichkeit des Menschen – Frau und Mann – nicht als selbstverständlich gelten, sondern stellen immer ein kritisches Korrektiv und eine Anfrage an die gelebte Wirklichkeit im Lichte Gottes dar. Aber die biblischen Urgeschichten berichten vom Menschsein und dem Verhältnis der Geschlechter nicht nur idealtypisch. Die sog. „Sündenfallgeschichte“ konfrontiert die programmatischen Aussagen über das Menschsein „Am Anfang“ mit der Frage nach dem Ursprung des Bösen und der Schuld der Menschen. Befragt man nun die Geschichte vom Fall der ersten Menschen in Gen 3 danach, ob sie etwas über die „Zuordnung von Mann und Frau“ aussagt, so ist vor allem die Auslegungsgeschichte dieses Textes von Interesse. „Man hat oft gefragt, weshalb die Schlange sich ausgerechnet an die Frau wende, und die vorgeschlagenen Antworten sind nicht immer schmeichelhaft für das weibliche Geschlecht“35, so markiert Diethelm Michel eine Fragestellung aus der Forschungsgeschichte, die nicht selten zu vorurteilsbeladenen Antworten geführt hat. Für Beispiele solcher Auslegungen muss man nicht bis ins finstere Mittelalter, ja nicht einmal bis ins 19. Jh. zurückgehen, sondern wird durchaus in modernen Kommentaren fündig. So schreibt Gunkel: „Sie [die Schlange] wendet sich an das Weib; warum das Weib? das [sic!] Weib ist lebhafter und begehrlicher und erwacht eher als der Mann.“36 Ähnlich Gerhard von Rad: „Damit soll wohl angedeutet werden, daß das Weib den dunklen Lockungen und Geheimnissen, die unser umschränktes Leben umlagern, unmittelbarer gegenübersteht, als der Mann.“37 Diese Äußerungen sagen manches über das jeweilige Frauenbild der Exegeten; angesichts des Textes aber müssen sie als reine Fantasie bezeichnet werden. Der Wortlaut von Gen 3 lässt von einer solchen oder auch jeder anderen besonderen Beurteilung der Schuld gerade der Frau nichts erkennen. Für die Frage, warum die Schlange sich an die Frau wendet, hilft ein Blick ins Detail. Noch einmal Michel: „Die Antwort dürfte ganz einfach sein: Im Hebräischen ist das Wort für Schlange maskulin – es handelt sich also nicht um eine Schlange, sondern um einen Schlangerich. Das bei uns so beliebte Bild von der falschen Schlange geht also an der Erzählung vorbei – es handelt sich allenfalls um einen falschen Schlangerich! Und da dieser männliche Versucher nicht homosexuell ist, wendet er sich natürliche mit seinen Verführungskünsten an die Frau. Vielleicht
35 36 37
Mann und Frau ein Fleisch werden. So wird Gen 2,7.18–24 zu einem Protest gegen alle Störungen der Gemeinschaft von Mann und Frau durch Herrschaft“ (Otto, Ethik, 63). Michel, Ihr werdet sein wie Gott, 104. Gunkel, HK I/1, 16. Rad, ATD 2–4, 73. Der Kommentar, der in mancher anderer Hinsicht mit großem Gewinn zu lesen ist, stellt bis heute die aktuelle Auslegung der Genesis in der Reihe „Das Alte Testament Deutsch“ dar und kann druckfrisch im Handel erworben werden.
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haben sogar diejenigen Recht, die in dem Schlangerich ein Phallussymbol sehen wollen.“38 In Israels Umwelt werden Schlangen häufig als Götter verehrt; Spuren davon finden sich in Texten wie 2Kön 18,4. Nach Gen 3,8–19 macht Gott bei der Bewertung des Sündenfalls ein „Schuld-Verschiebe-Spiel“ nicht mit. Schlange, Frau und Mann sind alle schuldig und werden alle drei mit Strafen belegt. Hier nun noch ein Blick auf Gen 3,16, den Strafspruch gegen die Frau: 16
Zur Frau sprach er: „Vermehren, ja vermehren will ich deine Beschwerden [und] deine[r] Schwangerschaft, unter Schmerzen wirst du Söhne gebären; auf deinen Mann wird sich dein Verlangen richten, und er wird über dich herrschen.“
Auch an dieser Aussage ist ein ätiologischer Zug erkennbar. Der Satz erläutert erklärungsbedürftige Phänomene. Wie kommt es, dass der glückliche Umstand von Schwangerschaft und Kinderreichtum mit so viel Schmerzen erkauft wird? Warum ist das Miteinander von Frauen und Männern oft gar nicht von der Harmonie des „einen Fleisches“ (2,24) geprägt, sondern so konfliktreich? Dies liegt in der Schuld der Menschen am Anfang gegenüber Gott. Frauen und Männer haben die Folgen zu tragen. Männer müssen sich mit dem harten Ackerbau plagen. Die Frauen aber tragen die Last von Schwangerschaft und Geburt. Hierbei handelt es sich um Beschreibungen der Folgen des Falls, nicht um göttliche Setzungen. Die Imperfektformen von V. 16 als Jussive zu übersetzen, ist nicht gefordert! Dies gilt auch für V. 16b. Mit Adelheid Mahlke ist auf die Parallele in Gen 4,7 hinzuweisen.39 Danach geht es in Gen 3,16b nicht unbedingt um die Sehnsucht oder das sexuelle Verlangen der Frau nach ihrem Mann. Vielmehr beschreibt der Vers das täglich erfahrbare konfliktträchtige Miteinander von Männern und Frauen.40 Eine Setzung oder Zuordnung Gottes ist damit nicht gegeben. Mehr als bemerkenswert ist, dass wir hier den seltenen (den einzigen?) Fall haben, dass in einem antiken Text der Kampf der Geschlechter ausdrücklich thematisiert und als ungute Folge des Sündenfalls charakterisiert wird. So wird das Verhältnis von Frau und Mann in den alttestamentlichen Schöpfungsgeschichten in gewisser Weise „idealtypisch“ (nicht idealisiert, sondern so, wie von Gott gewollt) bestimmt, insbesondere in Gen 1,27 und Gen 2,23f.: Frau und Mann sind „Repräsentanten“ des Schöpfers, die in Verantwortung von ihm über die Mitgeschöpfe „herrschen“.41 Als unterschiedliche Manifestationen des 38 39
40 41
Michel, Ihr werdet sein wie Gott, 104 [Hervorhebung so im Original]. In Gen 4,7b redet Gott Kain an mit den Worten: „sein Verlangen richtet sich auf dich, du aber beherrschst ihn.“ Gemeint ist dort die Sünde als maskulin personifizierter „Dämon“ (vgl. Seebass, Genesis I, 153f.), dessen „Verlangen“ Ausdruck der Aggression (nicht der sexuellen Begierde) ist und der von Kain beherrscht werden soll. Vgl. Mahlke, LuThK 21 (1997), 25–30. „Wie genau sieht die Ausübung solchermaßen verstandener Herrschaft aus?“ fragt Schüle, EvTh 66 (2006), 452 und findet die Antwortet, „dass Menschen als Ebenbild Gottes ihr Leben mitei-
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einen Menschseins drängt es Frau und Mann zur Einheit. Diese im Ursprung begründete Attraktion ist sogar stärker als die gesellschaftlichen Konventionen. In der Sündenfallgeschichte werden auch die Spannungen zwischen den Geschlechtern ausdrücklich reflektiert (Gen 3,16). Hier wird der Ursprungswille des Schöpfers mit dem erfahrbaren Alltag der „gefallenen“ Welt konfrontiert.
2.2 Der Alltag: Frauen und Männer in der gesellschaftlichen Realität des alten Israel Dem Entwurf dessen, wie das Verhältnis von Frau und Mann nach den Schöpfungsberichten idealerweise sein sollte, steht das Bild vom alltäglichen Zusammenleben von Frauen und Männern im antiken Israel gegenüber, wie es sich aus Erzählungen und Gesetzestexten des AT erheben lässt.42 Insbesondere die familiären Strukturen, die im AT auch über die Familiengrenzen hinaus durch Rechtssätze geregelt werden, sind hier von Interesse. So stehen Frauen und Männer im Verhältnis von Ehepartnern, als Eltern und Kinder sowie als Geschwister zueinander. Aus den Texten lässt sich erheben, dass diese Beziehungen in den Gesellschaftsstrukturen des antiken Israel jeweils in besonderer Weise geregelt sind und so gewissermaßen einer konventionell-normativen „Zuordnung“ unterliegen. Unterschiedliche Aspekte dieses alltäglichen Miteinanders der Geschlechter sollen nun an einzelnen Textbeispielen nachgezeichnet werden. Einschränkend muss hier vorweggeschickt werden, dass das AT hinsichtlich der darin dargestellten Geschichte das gesamte erste vorchristliche Jahrtausend umfasst. Es ist davon auszugehen, dass es innerhalb dieses Zeitraums große gesellschaftliche Veränderungen gegeben hat, die auch die hier behandelte Frage betreffen.43 Dazu kommt das literargeschichtliche Problem, dass die in den Texten erzählte Zeit und die Zeit, in der die Texte selbst entstanden sind, auseinanderklaffen. Mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit stammen etwa die Erzählungen aus der Patriarchenzeit frühestens aus der späten Königszeit. Wohl ist darin altes Traditionsgut aufgehoben, aber wirklich zeitgenös-
42 43
nander und mit allen anderen Geschöpfen in einer Weise führen, die die Ausbreitung von Gewalt und Destruktivität in der Welt verhindern. Gerade weil Menschen als Bild Gottes nicht nur in die Welt hineingeboren werden, sondern die Freiheit haben, sie zu gestalten, sind sie auch in der Lage, Ordnung in die vom Chaos bedrohte Welt einzutragen, die die Schöpfungsordnungen Gottes ergänzt. […] Diese besonderen Qualitäten, die der Mensch in die Schöpfung einbringt, verdanken sich seiner Gottebenbildlichkeit, die die Priesterschrift anhand der Elementarbeziehungen zum Partner (Gen 1,27), zu den Nachkommen (Gen 5,3) und allgemein zum Nächsten (Gen 9,4–6) entfaltet.“ Vgl. zum folgenden Wolff; Otto, Ethik, 47–64; Crüsemann, Tora, 291–304 und zum sozialgeschichtlichen Hintergrund Kessler, Sozialgeschichte. Von daher kann eine Sozialgeschichte des alten Israel auch nur differenziert in unterschiedliche Epochen geschrieben werden. Kessler zählt deren sechs: I. Das Werden Israels II. Vom frühen zum entwickelten Staat in Israels und Juda III. Die Ausbildung der antiken Klassengesellschaft (8. – 6. Jh.) IV. Das Exil V. Die perserzeitliche Provinzialgesellschaft und VI. Das jüdische Ethnos in hellenistischer Zeit (vgl. ders., Sozialgeschichte, passim).
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sische Berichte aus „Israels nomadischer Vorzeit“ liegen nicht vor. Die Identitätskrise des Exils und der Nachexilszeit lassen wiederum andere Aspekte in den Vordergrund treten, wie etwa das Verbot ausländische Frauen zu heiraten (vgl. Gen 28,1–9) oder sich mit „Unbeschnittenen“ gemein zu machen (vgl. z.B. Gen 34,14). Diese Gesichtspunkte können hier aber nicht im Einzelnen entfaltet, sondern nur in Erinnerung gerufen werden. So wird also synchron und ein wenig pauschal auf die Verhältnisse im AT geblickt. Bedenkt man dies, sind aber doch Strukturen des Geschlechterverhältnisses erkennbar, die aus heutiger Perspektive vor allem noch einmal in ihrer „Fremdheit“ und Abständigkeit wahrzunehmen sind. 2.2.1 Familie, Verwandtschaft und Ehe44 Eins gilt sicher für alle Epochen, die sich im AT niedergeschlagen haben: Das Gesellschaftsgefüge Israels ist seinem Ursprung nach und in seinem Kern „verwandtschaftsbasiert.“ Der zentrale soziale Bezugsrahmen der Menschen ist die Großfamilie, die auch über das „Haus“ im engeren Sinne hinaus den Sippenverband mit einschließen kann. Dies ist so bedeutsam, dass Israel seinen Ursprung in der Genesis als Familiengeschichte erzählt (und dabei sogar bedenkt, dass es zumindest „entfernte Verwandtschaft“ auch zu anderen, in späterer Zeit als feindlich erlebten Völkern gibt). Dabei ist zu bedenken, dass die Konnotation heutiger soziologischer Begriffe wie „Familie“ oder „Ehe“, die im AT vorausgesetzten Verhältnisse nur ungefähr treffen, wenn auch auf eine solche Begrifflichkeit nicht verzichtet werden kann.45 Aber gerade, wenn in einem umfassenderen hermeneutischen Zusammenhang nach der „Zuordnung“ von Mann und Frau gefragt wird, ist darauf zu achten, die eigenen Vorstellungen nicht schon mit der Terminologie in die Betrachtung der Texte einzutragen. Für das Wort „Ehe“ gibt es im Hebräischen kein Pendant. Auch wird Ehe nirgends im AT begründet, anders als die Beschneidung etwa, die ihren Grund in einer göttlichen Setzung hat (vgl. Gen 17). Wir erfahren nichts über den Ritus der Eheschließung. Falls dieser einen religiösen Aspekt gehabt haben sollte, wird dies nicht berichtet. Die Gemeinschaft von Mann und Frau als Kern des Familienlebens und mit dem Ziel, Kinder zu haben, wird immer schon als selbstverständlich vorausgesetzt. Entscheidend ist zunächst die Frage, wo in der verwandtschaftsbasierten Gesellschaft potentielle Ehepartner gefunden werden. Die sog. Inzestverbote in Lev 18,1–18 schließen geschlechtliche Beziehungen innerhalb der Großfamilie und damit auch die Eheschließung aus. Bemerkenswert ist, dass dabei neben der leiblichen Mutter (V. 7) auch ausdrücklich eine andere „Frau deines Vaters“ (V. 8), sowie Halbgeschwister genannt werden (V. 9). Die „Familienverhältnisse“ sind offenbar grundlegend andere, als sie heute in der „Vater-Mutter-Kind-(Klein)-
44 45
Vgl. Wolff, Anthropologie, 243–246. Vgl. Kessler, Sozialgeschichte, 43f.
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Familie“ vorauszusetzen sind. Jedenfalls setzt die Struktur der israelitischen Großfamilie die Exogamie voraus, d.h. Ehepartner, in der Regel die Ehefrauen, werden von außerhalb in diesen Familienverband hineingeholt. Weitet man den Blick aber auf die „Sippe“ als weiter gefassten Familienverband, herrscht Endogamie als Ideal vor. Rebekka ist die „Großcousine“ Isaaks (vgl. Gen 24,15)46; Isaak wiederholt das Verbot Abrahams und schickt seinen Sohn Jakob zum Bruder seiner Mutter auf Brautschau (vgl. Gen 28,1f.), und auch Esau nimmt zu seinen kanaanäischen Frauen nach Isaaks Verdikt noch eine Tochter Ismaels, des Bruders seines Vaters (vgl. Gen 28,9). Man heiratete nicht in der Familie im engeren Sinne, wohl aber bevorzugt in der Verwandtschaft.47 2.2.2 Polygynie48 Ein aus heutiger Sicht befremdlicher Zug der Ehe im AT ist bereits angedeutet worden: die Möglichkeit zur Polygynie. Vielfach wird berichtet, dass Männer im Alten Testament mehrere Frauen hatten, ohne dass die Tatsache als solche als anstößig gilt.49 Dabei ist schon aus wirtschaftlichen Gründen wahrscheinlich, dass die Monogamie der Normalfall war; und doch spielt das teils konfliktreiche Miteinander in einer Ehe mit mehreren Frauen immer wieder in den Erzählungen und Rechtssätzen eine Rolle. Gen 16 1 2
Aber Sarai, Abrams Frau, gebar ihm nicht; doch sie hatte eine ägyptische Magd, deren Name war Hagar. So sprach Sarai zu Abram: „Sieh doch, dass Jahwe mich verschlossen hat, so dass ich nicht gebäre. Geh doch zu meiner Magd, vielleicht werde ich durch sie gebaut!“ Und Abram hörte auf die Stimme Sarais.
Unmittelbar vor diesem Text hatte Jahwe Abram zugesagt, seine Nachkommen sollten das Land der Kanaanäer besitzen (vgl. Gen 15,18); nun wird die andauernde Kinderlosigkeit der Ehefrau Sarai konstatiert.50 Bemerkenswert ist, dass im AT 46
47 48 49
50
V. 3 des Kapitels macht deutlich, dass eine Braut aus den Kreisen der Kanaanäer nicht infrage kommt (vgl. Gen 26,34f.). Das Problem kehrt in Form der sog. „Mischehen“ wieder in nachexilischer Zeit und kennzeichnet das Ringen um Israels Identität (Neh 13,23ff). Vgl. Otto, Ethik, 48f. Vgl. Wolff, Anthropologie, 246ff.; Otto, Ethik, 49–51. Auch der Satz aus dem deuteronomischen Königsgesetz: „Und er soll sich nicht viele Frauen anschaffen, damit sich sein Herz nicht abwendet…“ (Dtn 17,17), darf nicht als Gebot zu Monogamie missverstanden werden. Es geht nicht um die Zahl der Frauen an sich, sondern darum, dass ausländische Prinzessinnen ihre Götter mitbrachten und so das Herz des Königs zum Abfall von Jahwe verführten, wie an Salomo oder Ahab zu sehen war. Vgl. dieselbe Motivik in umgekehrter Reihenfolge in 2Sam 6,23 (Unfruchtbarkeit Michals) und 2Sam 7,12 (Verheißung eines Nachkommens auf Davids Thron).
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Geschichten über die Kinderlosigkeit von Frauen oft aus der Perspektive der betroffenen Protagonistinnen erzählt werden. Zu denken ist neben Sarai z.B. an Rahel (Gen 30) oder Hanna (1Sam 1).51 Zur Dramatik dieser Art von Erzählung gehört, dass am Ende mit Gottes Hilfe doch ein Kind geboren wird. Hier aber ergreift zunächst Sarai die Initiative, indem sie auf die Möglichkeit hinweist, Abram könne mit der Sklavin Hagar ein Kind zeugen. Nicht eindeutig ist die Frage zu beantworten, ob hier Hagar für Sarai ein Kind gebären soll, so dass diese eigentlich die Mutter des Sohnes wäre. Darauf könnte Gen 16,2aβ hinweisen. Als Alternative wäre zu denken, dass Hagar zu Abrams (Neben-)Frau wird. Hierauf deutet hin, dass Sarai offenbar die Herrschaftsgewalt über ihre Sklavin verliert. So kann sie die Hagar nicht mehr selbst entlassen, sondern muss Abram darum bitten (vgl. Gen 17,10).52 Außerdem wird Sarai nirgends als Mutter Ismaels bezeichnet, was in einem Fall von Adoption (die Sklavin gebiert ein Kind anstelle der Herrin) normal wäre. Solche Verhältnisse werden in der Geschichte von Lea und Rahel in Gen 29,31 – 30,24 geschildert. Jakob ist ganz eindeutig mit zwei Frauen verheiratet, von denen eine, Rahel, aber zunächst kinderlos bleibt. Rahel führt darauf hin ihrem Mann ihre Sklavin Bilha zu, die schwanger wird und „auf Rahels Knien“ (Gen 30,3) gebiert. Hinter dieser Formulierung verbirgt sich offenbar ein Adoptionsakt, denn die Kinder der Mägde Bilha und Silpa gelten als Kinder Rahels und Leas. So hat Jakob am Ende 13 Kinder (die Tochter Dina wird neben ihren berühmten Brüdern gern vergessen) mit vier Frauen. Mit zweien von diesen ist er verheiratet und pflegt mit allen intimen Umgang. Weder aus rechtlicher noch aus religiöser Sicht gilt dies im AT als anstößig, wenn auch die unterschiedliche Zuneigung Jakobs zu seinen Ehefrauen und die Kinderlosigkeit der einen zeitweilig heftiges Konfliktpotential darstellt. Festzuhalten ist, dass hier nicht lediglich die „Sagen der Genesis“53 Geschichten aus grauer Vorzeit erzählen, die in der realen Gesellschaft Israels der Königszeit als Anachronismen empfunden worden wären. Auch Rechtssätze versuchen die Polygynie und die Frage der Erbfolge unter Brüdern mit verschiedenen Müttern zu regeln. Dtn 21 15
51 52 53
Wenn ein Mann zwei Frauen hat, eine, die er liebt, und eine die er verachtet [wörtlich: hasst] und sie gebären im Söhne, die Geliebte und die Verachtete; aber der erstgeborene Sohn ist der, der verachteten,
Vgl. im NT die Geschichte der Elisabeth in Lk 1. Zum Verständnis des Schicksals Hagars vgl. Nowell, Töchter, 18–25 u. Trible, Mein Gott, 25–59. Vgl. Gunkel, HK I/1, VII–LXXX mit der berühmten Überschrift: „Die Genesis ist eine Sammlung von Sagen“ (VII).
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dann soll es so sein: An dem Tag, an dem er seinen Söhnen als Besitz gibt, was sein ist, dann darf er nicht den Sohn der Geliebten zum Erstgeborenen machen, gegen den Sohn der Verachteten, den [eigentlichen] Erstgeborenen. Vielmehr soll er den Erstgeborenen, den Sohn der Verachteten anerkennen, indem er ihm zwei Teile von allem gibt, was sich bei ihm findet; denn er ist der erste seiner Kraft, ihm steht das Recht der Erstgeburt zu.
Offensichtlich ist Polygynie etwas, das samt seinen Auswirkungen auf Familienstruktur und Erbfolge, auch in der Königszeit noch zu regeln ist. Der Harem des Königs kann dabei als ein Phänomen eigener Art (samt den Komplikationen der Heiratsdiplomatie) hier außer Betracht bleiben. Es war in Israel möglich (wenn auch wohl nicht die Regel), dass ein Mann mehrere Ehefrauen hatte, ohne dass dies einer wie auch immer gedachten (göttlichen) „Zuordnung“ der Geschlechter widersprochen hätte. Zu klären ist die Frage, welchen Sinn die Möglichkeit der Polygynie in der Gesellschaftsstruktur gehabt haben könnte. Zur Beantwortung dieser Frage hilft noch einmal ein Blick auf Gen 16,2aβ: „Geh doch zu meiner Magd, vielleicht werde ich durch sie gebaut“, lautet Sarais Rat. Die ungewöhnliche Formulierung „vielleicht werde ich durch sie gebaut“ basiert auf einer eigentümlichen Doppeldeutigkeit des hebräischen Verbs „bauen.“ „Jemandem sein Haus bauen“ kann auch bedeuten, jemandem zu helfen, seine Familie/Genealogie mit männlichen Nachkommen fortzusetzen (vgl. Dtn 25,9; 2Sam 7,11). Dieselbe Formulierung findet sich in ähnlichem Zusammenhang im Munde Rahels in Gen 30: 3
Und sie sprach: Siehe meine Sklavin Bilha! Gehe zu ihr; und wenn sie auf meinen Knien gebären wird, so werde auch ich durch sie gebaut.
Die revidierte Lutherübersetzung von 1984 übersetzt in Gen 16,2: „…ob ich vielleicht durch sie zu einem Sohn komme“ und in Gen 30,3: „…und ich doch durch sie zu Kindern komme“, trifft damit den Sinn der Einzelstellen, bringt aber die Nuance des „Hausbauens“ nicht zum Ausdruck.54 Aber darin liegt der Sinn: Die Familie/das „Haus“/die Genealogie soll erhalten bleiben. Wo dies durch Kinderlosigkeit gefährdet ist, haben die geschilderte Form der „Leihmutterschaft“ („auf den Knien der Herrin gebären“) und die Verbindung mit einer zweiten Ehe- oder Nebenfrau ihren Platz. Bemerkenswert ist, dass die Texte des AT, die unbestreitbar einer patriarchalen Welt entstammen, sowohl die Konflikte in solchen Verbindungen thematisieren, als auch die Perspektive der betroffenen Frauen einnehmen.
54
Luther selbst bietet an beiden Stellen noch „bauen“, vgl. Die Lutherbibel von 1534, Faksimilenachdruck, Köln u.a. 2002.
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2.2.3 Die Levirats- oder Schwagerehe55 Der ganz herausragende Stellenwert, den die Fortsetzung der Familie/Genealogie im Wertesystem des antiken Israel und damit auch für das Miteinander von Frauen und Männern einnimmt, ist auch die Ursache für die sog. „Leviratsehe“, nach der ein „Schwager“ (lat.: levir) die Stelle seines verstorbenen Bruders bei dessen Witwe einnehmen muss, wenn deren Ehe kinderlos geblieben war. Das „Haus“ des Verstorbenen muss gebaut, sein Name und seine Genealogie müssen durch Kinder fortgesetzt werden. Der erste Sohn, den der hinterbliebene „Schwager“ mit der Witwe zeugt, ist nominell nicht sein Kind, sondern das seines verstorbenen Bruders. Der Besitz des Hauses fällt an diesen Erstgeborenen. Diese Verhältnisse spiegeln sich in der Geschichte von Tamar und Juda (Gen 38), im Buch Rut und in einem Gesetz zum Familienrecht in Dtn 25. Gen 38 6 7 8 9
10
Und Juda nahm eine Frau für Er, seinen Erstgeborenen, deren Name war Tamar. Aber Er, der Erstgeborene Judas, war böse in den Augen Jahwes; so ließ Jahwe ihn sterben. Da sprach Juda zu Onan: „Gehe zur Frau deines Bruders vollziehe die Schwagerehe mit ihr und lasse deinem Bruder einen Nachkommen erstehen.“ Da erkannte Onan, dass der Nachkomme nicht seiner sein würde; und so geschah es, als er zu der Frau seines Bruders kam, da verschüttete er [es] auf die Erde, damit er nicht einen Nachkommen für seinen Bruder schaffe. Aber es war böse in den Augen Jahwes, was er getan hatte; und so ließ er auch ihn sterben.
Hier sind bereits die wesentlichen Elemente der Sitte der „Schwagerehe“ genannt. Der Stammvater Juda wacht als pater familias und damit als oberste Rechtsinstanz in der verwandtschaftsbasierten Gesellschaft über die Einhaltung der für den Fortbestand der Großfamilie notwendigen Bräuche. Sein erstgeborener Sohn Er stirbt kinderlos. Dies bedeutet, dass Ers Name und sein Andenken spurlos aus der Welt verschwinden würde. Also ist sein Bruder Onan in der Pflicht, mit seiner Schwägerin für seinen Bruder einen Nachkommen zu zeugen. Das Hebräische kennt hierfür den terminus technicus „ יבםdie Schwagerehe vollziehen.“ Der Erstgeborene aus dieser Beziehung gilt nicht als Sohn Onans, sondern des Verstorbenen (und ist dessen Erbe!). Hier liegt das Problem für Onan und so erhebt er zwar keinen Widerspruch gegen seinen Vater, verweigert aber den Vollzug der Schwagerehe.56 Dies
55 56
Vgl. Otto, Ethik, 57–61. Von der mit dem Namen Onans verbundenen „Onanie“ ist also im Text überhaupt nicht die Rede. Es geht in keiner Hinsicht um männliche Selbstbefriedigung, sondern um die Weigerung, dem verstorbenen Bruder sein Recht zu verschaffen.
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verstößt nicht nur gegen die Konventionen Israels, sondern gegen Gottes Willen und wird hier unmittelbar von Gott mit dem Tod bestraft (V. 10). Tamar wird zu alle dem nicht gefragt; der Fortgang der Geschichte zeigt aber, dass sie selbst einen Rechtsanspruch auf eine solche „Schwagerehe“ beansprucht.57 Motiv der Handlung ist aber die Erhaltung der Genealogie Ers. Dem haben sich andere Fragen des Miteinanders von Frau und Mann (wie Sympathie oder dergleichen) vollständig unterzuordnen.58 Der Sachverhalt wird auch in einem Rechtssatz geregelt: Dtn 2559 5
6 7
8 9
10
Wenn Brüder beieinander wohnen und es stirbt einer von ihnen, ohne dass er einen Sohn hat, so soll die Frau des Verstorbenen nicht nach draußen zu einem fremden Mann [gehen]; ihr Schwager soll zu ihr kommen und sie sich zur Frau nehmen und die Schwagerehe mit ihr vollziehen. So sei es: Der Erstgeborene, den sie gebiert, soll den Namen seines Verstorbenen Bruders tragen, so dass sein Name nicht aus Israel ausgewischt werde. Wenn aber der Mann keine Lust hat, die Witwe seines Bruders zu nehmen, dann soll die Witwe hinaufziehen zum Tor, zu den Ältesten und soll sagen: „Mein Schwager weigert sich, den Namen seines Bruders in Israel [weiter] zu tragen, er will die Schwagerehe nicht mit mir vollziehen.“ Dann rufen ihn die Ältesten seiner Stadt und reden mit ihm; er aber besteht darauf und sagt: „Ich habe keine Lust, sie zu nehmen.“ So soll seine Schwägerin hintreten zu ihm vor den Augen der Ältesten und soll seinen Schuh von seinem Fuß ziehen und soll in sein Gesicht spucken. Dann soll sie anheben und sagen: „So soll getan werden dem Mann, der das Haus seines Bruders nicht bauen will!“ Und sein Name wird genannt in Israel: „Haus dessen, dem der Schuh ausgezogen ist.“
Über Gen 38 hinaus verdeutlicht hier die Terminologie den Sinn der Schwagerehe: Der „Name“ des Verstorbenen soll erhalten bleiben, sein „Haus“ soll „gebaut“ werden; denn ohne Nachkommen verschwindet auch das Gedenken an die vorherigen Generationen. Der Rechtssatz verdeutlicht wiederum, dass das Problem nicht bloß auf verwandtschaftsbasierte Gesellschaftsformen beschränkt ist, sondern auch über die Grenzen der Sippe hinaus geregelt werden soll. Das Torgericht kommt dafür als typischer Ort und die Ältesten einer Stadt als typische Instanz infrage. Zugleich wird deutlich, dass die Sanktionsmöglichkeiten beschränkt sind. Kein Schwager kann zum Beischlaf oder zur Zeugung gezwungen werden, wohl aber muss er mit öffentlicher Beschämung rechnen. Zugleich bedeutet die Verlagerung des Familienrechtes allein aus der Verfügungsgewalt des pater familias hin zu einer
57 58 59
Vgl. Nowell, Töchter, 45–48. Vgl. aber die Behandlung des Themas Liebe bei Wolff, Anthropologie, 248ff. Vgl. Crüsemann, Tora, 296f.
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öffentlichen Instanz einen rechtsgeschichtlichen Fortschritt: Die Sache geht nicht nur die Großfamilie an, sondern ist von „öffentlichem“ Interesse. Auch das Buch Rut dreht sich um die Frage der Versorgung verwitweter Frauen durch die Verwandtschaft des verstorbenen Mannes. Die Hebräerin Noomi und ihre moabitischen Schwiegertöchter Rut und Orpa machen sich nach dem Tod ihrer Männer auf in die Heimat von Noomis Mann Elimelech. Eine Schwagerehe im engeren Sinn wird für Rut und Orpa von vornherein ausdrücklich ausgeschlossen (vgl. Rut 1,11–13). Doch strebt Noomi für Rut eine Heirat innerhalb der Sippe ihres verstorbenen Mannes in Gestalt des Bethlehemiters Boas an. Allerdings wird die Frage der Ehe innerhalb der Sippe hier verquickt mit dem Gesetz über den sog. „Löser“ ()גאל.60 Offenbar geht es nicht nur um die Heirat der Rut, sondern auch noch um das „Auslösen“ (den Kauf?) eines (früher zurückgelassenen?) Ackers des Elimelech. Als Löser aber steht vom Verwandtschaftsgrad innerhalb der Sippe noch jemand vor Boas. Im Tor, vor den Ältesten, tritt nun Boas mit diesem namenlosen „Löser“ in Verhandlungen ein. Rut 4 3
4
5
Und er [Boas] sprach zu dem Löser: „Einen Anteil des Feldes, der unserem Bruder Elimelech gehörte, will Noomi verkaufen, die aus dem Gebiet Moab zurückgekehrt ist. So hab ich mir gesagt, ich will es deinen Ohren kundtun folgendermaßen: Kaufe vor den Bewohnern und vor den Ältesten meines Volkes, wenn du wirklich lösen willst; wenn du aber nicht losen willst, eröffne es mir, dass ich es wisse, denn außer dir gibt es keinen Löser, nur mich nach dir.“ Und er sprach: „Ich will es lösen.“ Und Boas sprach: „An dem Tag, an dem du das Feld kaufst aus der Hand Noomis, hast du damit auch Rut die Moabiterin, die Frau des Verstorbenen gekauft, um den Namen des Verstorbenen auf seinem Erbbesitz zu erhalten.
Daraufhin tritt der „Löser“ von seiner Absicht zurück und überlässt Boas in jeder Hinsicht das Feld. Denn deutlich ist nun, dass es bei der Heirat einer Witwe durch einen Verwandten aus der männlichen Sippe (im Idealfall der Schwager) auch um den Erhalt des „Erbbesitzes“ (hebr.: )נחלהinnerhalb der Genealogie des Verstorbenen geht. Der zunächst reizvolle Acker, der hier vielleicht günstig zu haben wäre, geht eben nicht in den Besitz des Lösers über, der verpflichtet ist, Rut zu heiraten und mit ihr für ihren verstorbenen Mann einen Sohn und Erben (!) zu zeugen. Boas nimmt das in Kauf, und auch darin liegt der romantische Reiz der Geschichte. So wird am Spezialfall der „Leviratsehe“ noch einmal die aus heutiger Sicht fremde Wertigkeit im Miteinander von Frauen und Männern in der Gesellschaft des antiken Israel deutlich. Der Erhalt des Familienverbandes, des „Namens“ eines 60
Vgl. Lev 25,25: „Wenn dein Bruder verarmt und etwas von seiner Habe verkauft, so soll sein nächster Verwandter kommen und einlösen, was sein Bruder verkauft hat.“
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kinderlos verstorbenen Mannes sowie die Bewahrung von dessen Erbbesitz in einer eigenen Erbfolge genießt höchste Priorität. Dies lässt die Interessen sowohl der Frauen als auch der zu Heirat und Zeugung verpflichteten „Schwäger“ zurücktreten. Diese Wertigkeiten werden ausdrücklich als Gottes Wille bezeichnet (vgl. Gen 38,10), was durch die Charakterisiserung der Rechtssätze als durch Mose am Sinai offenbart noch unterstrichen wird. Dennoch lässt sich in dem darin zu erkennenden Wertesystem keine heute noch gültige Zuordnung von Mann und Frau in biblischer Sicht erkennen. In der staatlichen Zeit obliegt die Durchsetzung solcher Werte den gesellschaftlichen Rechtsinstitutionen jenseits der Familie. Ursprünglich aber wird, wie das Beispiel Judas zeigt, der pater familias, das Sippenoberhaupt der Wächter über die Regeln und Sitten gewesen sein. Dieser war innerhalb der Großfamilie auch der Herr über Leben und Tod. Als seine Schwiegertochter ihm vorspielt, sie sei eine Prostituierte, um sich auf diesem Weg den nötigen Erben zu verschaffen, verfügt Juda Tamars Tod durch verbrennen (vgl. Gen 38,24). Erst als Juda selbst als „Freier“ entlarvt wird, lässt er ab. Dies führt aber zu der Frage, welche Verfügungsgewalt Männer über ihre Frauen, Schwestern und Töchter nach dem AT hatten. 2.2.4 Die Verfügungsgewalt von Männern über Frauen Vor allen in den Geschichten des AT, die in der vorstaatlichen Zeit mit ausschließlich verwandtschaftsbasierten Gesellschaftsstrukturen spielen, wird eine weitgehende Verfügungsgewalt der Männer über die Frauen ihres Haushaltes (Ehefrauen, Schwestern, Töchter, Schwiegertöchter) vorausgesetzt. Die Erzählung von Juda und Tamar war bereits ein Beispiel dafür. Auch wenn die im Folgenden zu behandelnden Texte nicht unmittelbarer Niederschlag der in ihnen geschilderten Ereignisse sind, werden darin doch Wertigkeiten zum Ausdruck gebracht oder vorausgesetzt, die über längere Zeiträume in Israel als selbstverständlich galten. Die Erzählungen vom Buch Genesis bis zum Richterbuch setzen eine vorstaatliche, ausschließlich verwandtschaftlich organisierte „Gesellschaftsform“ voraus. Oberste Priorität haben das Überleben und der Fortbestand der Großfamilie bzw. Sippe. Dazu gelten Regeln und Tabus über deren Einhaltung der pater familias als oberste Rechtsinstanz wacht. Dieser übernimmt auch eine Art priesterliche Funktion, indem er den Gotteskontakt der Familie regelt.61 Um das Überleben der Großfamilie zu sichern, kommt dem Oberhaupt auch die Macht über Leben und Tod der Sippenmitglieder zu (vgl. Gen 38,10). Vor diesem Hintergrund ist auch die Geschichte von der „Gefährdung der Ahnfrau“ in Gen 12,10–20 zu lesen. Abram 61
Auch wenn heute weit weniger Optimismus bezüglich der Möglichkeiten herrscht, die Patriarchenzeit tatsächlich historisch fassen oder (re)konstruieren zu können, spricht m.E. grundsätzlich immer noch einiges für Albrecht Alts These vom „Gott der Väter“ (vgl. Alt, Der Gott der Väter, 1– 78). Sozialformen von Stammesgesellschaften, in denen grundsätzlich kein Unterschied zwischen „Familie“ und „Gesellschaft“ gemacht wird, lassen sich bis heute beobachten.
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bittet Sarai, sich als seine Schwester auszugeben, um das Überleben der Familie zu sichern; denn der Pharao könnte Abram töten, um an seine Frau zu kommen. Dabei setzen die Formulierungen: „Und die Frau wurde in das Haus Pharaos gebracht“ (V. 15b) und „so dass ich sie mir zur Frau nahm“ (V. 19a im Munde Pharaos) wohl voraus, dass es auch zum Beischlaf gekommen ist. Die späteren Versionen der Geschichte in Gen 20 und 26 bringen die Anstößigkeit dieses Umstands zum Ausdruck und entschärfen diesen. In Gen 20,6 wird ausdrücklich vermerkt, Abimelech habe Sara nicht berührt. In V. 12 wird die Erklärung eingefügt, Sara sei Abrahams Halbschwester, so dass die „Notlüge“ des Stammvaters gerechtfertigt wird.62 Hier herrscht offenbar ein Wertesystem, in der die Integrität und Unverletzlichkeit Saras nicht an erster Stelle steht. Auch wenn dabei zu bedenken ist, dass diese Episode eine bestimmte erzählerische Funktion im größeren Kontext hat, worin es um die Erfüllung der Verheißung geht. Sicher schlagen sich hier nicht Verhältnisse nieder, wie sie im antiken Israel alltäglich gewesen wären. Dies gilt erst Recht für die Geschichte vom Besuch der drei Männer bei Lot in Sodom in Gen 19. Lot nimmt diese drei Fremden auf und beherbergt so, ohne es zu bemerken, Gott selbst, der ihn vor dem Untergang der Stadt warnen will; denn die Verderbtheit der Bewohner Sodoms schreit zum Himmel, wie sofort deutlich wird: 4 5 6 7 8
Und bevor sie sich hinlegten, umgaben die Männer der Stadt, die Männer Sodoms das Haus, vom Knaben bis zum Greis; das ganze Volk von überall her. Und sie riefen Lot und sagten ihm: „Wo sind die Männer, die zu dir gekommen sind zur Nacht? Führe sie zu uns heraus, so dass wir sie ‚erkennen‘!“ Da trat Lot zu ihnen heraus vor den Eingang und schloss die Tür hinter sich. Und sprach: „Tut doch nicht Böses meine Brüder! Siehe, ich habe zwei Töchter, die haben noch keinen Mann ‚erkannt‘, die will ich zu euch herausführen; tut mit ihnen, was gut ist in euren Augen, nur diesen Männern tut keine Sache an, denn darum sind sie unter den Schatten meines Daches gekommen.“
Das Verb „erkennen“ in V. 5 und V. 8 ist eindeutig sexuell konnotiert. Der Atem stockt dem Bibelleser und der -leserin vor allem bei der Lektüre von V. 8. Um das Gastrecht zu wahren, bietet Lot den ruchlosen Männern von Sodom seine eigenen Töchter für eine Vergewaltigung an. Hier geht der Fall noch einmal gut aus, weil die drei „Männer“ (Gott) helfend eingreifen. Anders ist dies aber in der parallelen Geschichte im Richterbuch, in Ri 19. Dort kehrt ein Levit mit einem Knecht und seiner Nebenfrau in Gibea ein. Es geschieht folgendes: 22
62
Sie ließen es ihren Herzen gut gehen, und siehe, die Männer der Stadt, Männer, die Kinder des Belial sind, umgaben das Haus, trommelten an die Tür und sagten zu dem alten Mann, dem Hausherrn: „Führe den Mann heraus, der in dein Haus gekommen ist, so dass wir ihn ‚erkennen‘!“
In Lev 18 wird allerdings auch eine solche Verbindung verboten.
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Da ging der Hausherr zu ihnen heraus und sagte ihnen: „Tut doch nichts Böses meine Brüder! Nachdem dieser Mann in mein Haus gekommen ist, tut nicht diese Schande! Siehe, meine Tochter ist Jungfrau und seine Nebenfrau – die will ich hinausbringen, vergewaltigt sie und tut mit ihnen, was gut ist in euren Augen, aber diesem Mann tut diese Schandtat nicht an!“ Aber die Männer wollten nicht auf ihn hören. Da ergriff der Mann seine Nebenfrau und brachte sie zu ihnen heraus, und sie ‚erkannten‘ sie und trieben mit ihr Mutwillen die ganze Nacht bis zum Morgen und ließen sie gehen, als die Morgenröte aufstieg.
Hier wird die Massenvergewaltigung vollzogen, die in Gen 19 verhindert wurde. Die Nebenfrau des Leviten stirbt an den Folgen (vgl. V. 28ff.). Als schauerliche „Schandtat von Gibea“ geht die Geschichte in Israels kollektives Gedächtnis ein (vgl. Hos 9,9; 10,9).63 Hier wird sie erzählt, um zu verdeutlichen, wie sehr Israel in den Tagen der Richter die ordnende Hand eines Königs vermisste.64 In Gen 19 dient dasselbe Motiv zum Aufweis, der abgrundtiefen Verderbtheit der Bewohner Sodoms. In beiden Fällen ist völlig eindeutig, dass hier himmelschreiendes Unrecht geschieht. Im vorliegenden Zusammenhang ist aber von Belang, dass doch offenbar selbstverständlich vorausgesetzt wird, dass ein Vater und Ehemann solche Verfügungsgewalt über Töchter oder Frauen hat! Diese Entscheidungsgewalt der männlichen über die weiblichen Familienmitglieder auch in existenzielle Angelegenheiten findet sich in zahlreichen Geschichten des Alten Testaments. So etwa in Ri 11,34–4065, worin berichtet wird, dass Jiftach seine Tochter opfert, um ein Gelübde zu erfüllen; in Gen 34, wo die Söhne Josefs ihrer Schwester Dina die Heirat mit einem Sichemiten verwehren und aus Rache für den bereits vollzogenen Beischlaf alle Einwohner Sichems töten. Dabei wird nirgends gesagt, dass Dina der erbetenen Heirat abgeneigt gewesen wäre.66 Schließlich ist auch in 2Sam 13 zu erinnern. Dort wird berichtet, wie Amnon, ein Sohn Davids, seine Halbschwester Tamar geplant vergewaltigt. Ihr andere Bruder Absalom verurteilt sie zum Schweigen (2Sam 13,20) und ihr Vater David übergeht die Tat aus Liebe zu seinem Sohn (V. 21).67 In all diesen Geschichten sind die patriarchalischen Strukturen derart ausgeprägt, dass von einer regelrechten Verfügungsgewalt der Männer über die Frauen zu sprechen ist. Dies hat aber keinen religiösen Hintergrund und wird auch nicht durch göttliche Setzung (oder „Zuordnung“) begründet. Es ist anerkannte und praktizierte Konvention innerhalb der in den biblischen Texten bezeugten Gesellschaftsform des alten Israel. 63 64 65 66 67
Zum Schicksal der Frau vgl. Trible, Mein Gott, 99–133. Vgl. Becker, Richterzeit, 257–266. Vgl. Becker, Richterzeit, 219–222 (zur Literarhistorie); Scherer, Jeftah; Trible, Mein Gott, 135– 164; Nowell, Töchter, 70–73. Vgl. Nowell, Töchter, 44f. Vgl. Trible, Mein Gott, 61–97 (sprachlich detaillierte und einfühlsame Auslegung von 2Sam 13).
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Ein Sonderfall dieses hierarchischen Verhältnisses der Männer zu den Frauen im AT ist die Stellung des Königs zu seinen Frauen. In der Anklage Nathans an David in 2Sam 12 weist der Prophet im Namen Gottes ausdrücklich darauf hin, Gott habe ihm nicht nur das „Haus“ Sauls übergeben, sondern auch seine Frauen (V. 8). Das Motiv kehrt wieder innerhalb der Erzählung über Absaloms Aufstand in der Episode über den „Rat Ahitofels“ 2Sam 16: 21
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Und Ahitofel sprach zu Absalom: „Geh ein zu den Nebenfrauen deines Vaters, die er zurück lies, um das Haus zu hüten, und wenn ganz Israel hört, dass du deinen Vater stinken gemacht hast, so werden die Hände all derer fest werden, die mit dir sind. So schlugen sie ein Zelt auf für Absalom auf dem Dach, und Absalom ging zu den Nebenfrauen seines Vaters ein vor den Augen ganz Israels.
Nachdem David aus Jerusalem geflohen war und nur seine Nebenfrauen zurückgelassen hatte, wurde die Stadt von Absalom kampflos eingenommen. Der öffentliche Beischlaf mit dem Harem des Königs bedeutet nicht nur eine Demütigung des flüchtigen David, sondern ist auch ein Akt der Herrschaftsübernahme. Die bis hierher nachgezeichnete Verfügungsgewalt von Männern über Frauen spiegelt sich auch im alttestamentlichen Scheidungsrecht.68 Prinzipiell ist die Ehe nach dem alttestamentlichen Gesetz scheidbar.69 Das bedeutet aber immer, dass ein Mann seine Frau „entlassen“ kann. Der umgekehrte Fall wird nicht zum Thema. Der entscheidende Rechtssatz findet sich in Dtn 24: 1
2 3
4a
Wenn ein Mann eine Frau nimmt und heiratet sie, aber es kommt so, dass sie keinen Gefallen in seinen Augen findet, weil er eine schändliche Sache an ihr gefunden hat, dann soll er ihr eine Scheidungsurkunde schreiben und in ihre Hand geben und sie aus seinem Haus schicken. Wenn sie dann auszieht aus seinem Haus und hingeht und eines andern Mannes [Frau] wird, aber auch der andere Mann „hasst“ sie und schreibt ihr eine Scheidungsurkunde, gibt sie ihr in die Hand und schickt sie aus seinem Haus, oder der andere Mann stirbt, der sie zur Frau genommen hat, dann darf ihr erster Ehemann, der sie weggeschickt hatte, sie nicht wieder zur Frau nehmen, nachdem sie unrein wurde…
Hier geht es um den Spezialfall der Wiederheirat einer Frau, von der sich ein Mann bereits einmal geschieden hatte. Dieser Fall wird verboten. Die Möglichkeit, eine Scheidungsurkunde70 zu verfassen, sie der Frau auszuhändigen und damit aus dem 68 69 70
4
Vgl. Otto, Ethik, 54–57; Jackson, RGG 2, 1093f. Vgl. die Hinweise auf „verstoßene“ Frauen in Lev 21,7.14; 22,13; Num 30,10; Dtn 21,14; 22,19.29. Der terminus technicus ספר כריתותwird in Jes 50,1 und Jer 3,8 auf das Verhältnis Jahwes zu seinem Volk angewandt.
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Haus zu schicken, ist genau genommen vorausgesetzt. Umstritten ist, was mit der „schändlichen Sache“ (V. 1) gemeint sein könnte, die den Scheidungsgrund darstellt. Bereits in der rabbinischen Auslegung sind hier ganz unterschiedliche Deutungen vertreten worden. Während die Schule Schammais ausschließlich außerehelichen Geschlechtsverkehr der Frau als Scheidungsgrund gelten ließ, wurde in der Schule Hillels die Auffassung vertreten, dass eigentlich jeder Fehler, den ein Mann an seiner Frau zu erkennen glaubt, Rechtfertigung für eine Entlassung sein kann.71 Eine solche „großzügige“ Auslegung des Gebotes, die die „verstoßenen“ Frauen in existenzielle Not bringen kann, dürfte auch den Hintergrund für Jesu scharfe Ablehnung der Ehescheidung sein.72 In den Gesetzen zum Schutz des guten Rufes der Frau in Dtn 22,13–28 wird ausdrücklich für verschiedene Fälle ein Scheidungsverbot ausgesprochen.73 Zum einen wenn ein Mann zu Unrecht behauptet, seine Frau sei bei der Eheschließung keine Jungfrau gewesen (V. 19), und dann, wenn ein Mann mit einer unverheirateten Frau schläft und dabei in flagranti angetroffen wird. Hier soll er dem Vater den Brautpreis zahlen und darf sich lebenslang nicht trennen (V. 28f.). Auch diese Bestimmungen sind natürlich ganz innerhalb einer patriarchalischen Gesellschaftsordnung situiert. Dennoch schränken die familienrechtlichen Bestimmungen etwa im Deuteronomium die hier behandelte „Verfügungsgewalt“ ein. Die geschriebenen Rechtssätze beschränken die Willkür des pater familias und dienen so auch dem Schutz der Frau. 2.2.5 Das Verbot des Ehebruchs Wenn es um das Verhältnis von Frau und Mann im Alten Testament geht, muss auch ein Blick auf das Verbot des Ehebruchs geworfen werden, wie es z.B. im Dekaloggebot „du sollst nicht Ehebrechen“ (Ex 20,14//Dtn 5,15: )לא תנאףprägnant zum Ausdruck kommt.74 Der Dekalog ist sicher einer der wirkmächtigsten Texte des AT. Gerade die kurzen Prohibitive „du sollst nicht: töten, ehebrechen, stehlen, als falscher Zeuge auftreten…“ können leicht von ihrem Bezug auf den Gott Israels getrennt werden und heischen dann scheinbar universelle und zeitlose Gültigkeit. Die apodiktischen Gebotsformulierungen leuchten in ihrer Leistung für die Erhaltung der Grundkonstanten des menschlichen Zusammenlebens immer und überall ein. „Du sollst nicht ehebrechen!“ – das gilt scheinbar zu allen Zeiten, in jeder Kultur und für Männer und Frauen. Allerdings ist immer zu bedenken, was genau im jeweiligen Kontext unter Ehebruch zu verstehen ist. In der christlichen Auslegungsge-
71 72 73 74
Vgl. Otto, Ethik, 54f. Vgl. Mk 10,1–12 par. Diese Haltung deutet sich innerhalb des AT in dem spätnachexilischen Text Mal 2,13–16 an, worin Ehescheidung als Treulosigkeit gedeutet wird (vgl. Otto, Ethik, 56f.). Vgl. zu diesen Rechtssätze insgesamt Locher, Die Ehre einer Frau in Israel. Vgl. Schmidt u.a., Zehn Gebote, 114–121; Otto, Ethik, 39–47.
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schichte umfasst das sechste Gebot alle denkbaren Formen von „Unkeuschheit“.75 In der Welt des Alten Testaments geht es bei „Ehebruch“ aber nicht allgemein um die Überschreitung sexueller Normen oder Moralvorstellungen, sondern um das Einbrechen in die Ehe eines anderen Mannes.76 Dies wird u.a. deutlich an einem Rechtssatz aus Dtn 22: 22
Wenn ein Mann dabei angetroffen wird, dass er bei einer verheirateten Frau liegt, sollen sie sterben und zwar beide, der Mann, der bei der Frau gelegen hat und die Frau; und du sollst das Böse aus Israel wegschaffen!
Todeswürdig ist hier die Tatsache, dass die Frau verheiratet ist. Im folgenden wird geregelt, dass die Konsequenz eines erzwungenen (!) Beischlafs mit einer unverheirateten Jungfrau ist, dass der Mann den Brautpreis an den Brautvater zahlt und die Frau heiratet. Er darf sich lebenslang nicht scheiden lassen (Dtn 22,28f.). Ebenso deutlich Lev 20: 10
Und ein Mann, der mit der Frau seines Nächsten die Ehe bricht, soll gewiss des Todes sterben – der Ehebrecher und die Ehebrecherin.
Es geht auch hier um den Einbruch in die Ehe des Nächsten. Ob der Übeltäter selbst verheiratet ist, spielt keine Rolle. Der „Ausbruch“ aus der eigenen Ehe ist nicht im Blick und wird auch im Hinblick auf die beteiligte Frau nicht thematisiert, de facto aber bestraft.77 Im Hintergrund der Auffassung, dass Ehebruch immer der Bruch der Ehe eines anderen Mannes ist, mögen Vorstellungen stehen, wie sie in Lev 18 zum Ausdruck kommen: 8
Die Scham der Frau deines Vaters sollst du nicht aufdecken; denn die Scham deines Vaters ist es.
Wer mit einer Frau des Vaters schläft, schändet den Vater. Die Verbindung ist denkbar eng gedacht.78 Der Geschädigte ist in diesem Fall der „Vater“. Wieder zeigt sich, 75 76 77
78
Vgl. z.B. Peters, Kommentar 1, 227ff. Vgl. Crüsemann, Tora, 299. Es mag seltsam anmuten, aber gerade die Tatsache, dass nach Dtn 22,22 und Lev 20,10 auch die am Ehebruch beteiligte Frau bestraft werden soll (nach Spr 6,35 schien es auch einmal die Möglichkeit gegeben zu haben, ein „Sühnegeld“ an den „geschädigten“ Ehemann zu zahlen), zeigt, dass Frauen stärker selbst als rechtsfähige Person in den Blick kommen (vgl. Schmidt u.a., Zehn Gebote, 282, 153; Crüsemann, Tora, 299). „Die Frau wird vom Manne her definiert, wenn die genealogische Linie vom Vater ausgehend, über die männlichen Mitglieder der Familie geführt wird. Die verheiratete Frau wird über den Ehemann definiert, wenn es in Lev 18,8 heißt ‚die Scham der Frau deines Vaters … die Scham deines Vaters ist es’ und in Lev 18,16 ‚die Scham der Frau deines Bruders ... die Scham deines Bruders ist es’. Die unverheiratete Frau wird über den Vater definiert (Lev 18,19). Die Familie ist also patrilinear strukturiert“ (Otto, Ethik, 40f.).
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dass die Genealogie und ihre Fortsetzung in der altisraelitischen Gesellschaft einen denkbar hohen Stellenwert genießt. „Der Sicherung der Genealogie dient die strafrechtliche Sanktion des E.[he]bruches.“79 Daher ist die Bestrafung des Ehebruchs auch keine Privatsache oder Familienangelegenheit, sondern von öffentlichem Interesse. Sie findet „im Tor“ durch die Ortsgerichtsbarkeit statt (vgl. Dtn 22,24). Bei näherem Zusehen ist also „Ehebruch“ nach dem Verständnis des AT etwas anderes als es die christliche Auslegungsgeschichte nahe legt, oder das, was in Zeiten, in denen Liebe und Treue als hohe Werte gelten, damit assoziiert wird. Hier geht es um die Schädigung eines Ehemanns und um die Verletzung der Unversehrtheit einer Genealogie. Dies soll mit dem Verbot des Ehebruchs geschützt werden. In diesen Zusammenhang gehört auch das letzte Dekaloggebot, in dem das Begehren verboten wird. Ex 20 17
Du sollst nicht das Haus deines Nächsten begehren; du sollst nicht die Frau deines Nächsten begehren oder seinen Sklaven oder seine Magd, noch seinen Ochsen oder seinen Esel oder alles, was sonst deinem Nächsten gehört.
Hier wird die Frau offenbar unter das „Haus“ subsumiert. Wenn sie auch nicht Besitz des Mannes im gegenständlichen Sinne ist80, so ist sie doch etwas, was man entwenden kann, wie auch die Nathanparabel in 2Sam 12 andeutet. Vielleicht deutet auch die unmittelbare Nachbarschaft vom Verbot des Stehlens und des Ehebruchs im Dekalog einen solchen Zusammenhang an.81 Allerdings wird mit dem Verbot des Begehrens nun nicht bloß die Tat bezeichnet, sondern es wird auf das Innere des Menschen und seinen gerichteten Willen gezielt.82 In der deuteronomischen Version des Begehrensverbotes findet sich gegenüber Ex 20 ein kleiner und doch signifikanter Unterschied. Dtn 5 21
79 80
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Du sollst nicht die Frau deines Nächsten begehren! Und du sollst dein Verlangen nicht auf das Haus deines Nächsten richten oder sein Feld, noch auf sei-
4
Otto, RGG 2, 1072. Es ist nicht so, dass der Mann im AT mit dem Brautpreis (vgl. Gen 24) die Frau kauft. Vielmehr geht es um eine Kompensation für die Familie der Braut für den Verlust der Tochter als Mitglied der Hausgemeinschaft, die als Ausgleich zwischen den Sippen zu verstehen ist, vgl. Otto, Ethik, 51–54. Vgl. für die mögliche Ableitung des Gebots „du sollst nicht stehlen“ vom Verbot des Menschendiebstahls Otto, Ethik, 38f.; skeptisch dazu allerdings Schmidt u.a., Zehn Gebote, 115. Dieser Sinn des Verbs „Begehren“ ( )חמדwird in Mi 2,1f. verdeutlicht. Dort geht es um Leute, die nachts auf ihrem Lager Böses planen, sie „begehren“ Haus und Hof anderer und bringen das mit Gewalt (als gesellschaftlich Einflussreiche) an sich; vgl. Schmidt u.a., Zehn Gebote, 134f.
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nen Sklaven oder seine Magd, seinen Ochsen oder Esel oder alles, was sonst deinem Nächsten gehört.
Hier wird die Frau zuerst genannt, was auch eine Aufwertung der Stellung bedeutet. Unterstrichen wird dies dadurch, dass im Folgenden ein anderes Verb verwendet wird („sein Verlangen richten auf…“). Vorausgesetzt, dass die deuteronomische Dekalogfassung die jüngere ist83, lässt sich hier eine Tendenz festmachen, die auch in anderen Teilen des alttestamentlichen Rechts zu beobachten ist: „Die Frau gewinnt im Lauf der Zeit Rechte hinzu.“84 In vielen Rechtssätzen des AT ist sie implizit immer schon mit gemeint.85 Das ändert nichts an der Tatsache, dass sich in den hier behandelten Texten patriarchalische Verhältnisse niederschlagen, die hinsichtlich des Miteinanders von Frauen und Männern in vieler Hinsicht mit heutigen Gegebenheiten schlicht unvergleichbar sind.
2.3 Die Reflexion: Nachdenken über das Verhältnis von Frauen und Männern in der Weisheit Israels Neben dem theologischen Entwurf des Miteinanders von Frau und Mann in der Repräsentanz des Schöpfers und dem Alltag in der Sozialgeschichte des antiken Israel, wie er sich in Erzählungen und Rechtssätzen niederschlägt, tritt im Alten Testament auch das Nachdenken über Frau und Mann im Rahmen der sog. „Weisheit“. Dabei bezeichnet der Begriff „Weisheit“ im Hinblick auf den gesamten Alten Orient ja zunächst weder Philosophie noch Theologie, sondern eine sachverständige Tüchtigkeit, die das Leben im Alltag erleichtern soll.86 Die Phänomene der Natur und des menschlichen Miteinanders werden genau betrachtet und auf darin waltende Gesetzmäßigkeiten erforscht, auch das Miteinander von Frau und Mann. Die Regeln, die dabei erkannt und dann von Lehrern an ihre Schüler weitergegeben werden, dienen der Lebensbewältigung. Es mag sein, dass Gott immer schon als Urheber und Garant dieser Regeln gedacht war, vordergründig kommen die orientalische und auch die alttestamentliche Weisheit ohne expliziten Gottesbezug aus.87 So kann es dann ganz ohne Anspruch auf Offenbarung zu der männlich derben Feststellung kommen: „Eine zänkische Frau ist wie ein triefendes Dach…“ (Prov 27,15).88 Oder aber das Wunder der Liebe, das dem Verstand so oft unzugänglich bleibt, wird mit Rätseln der Natur verglichen: „Drei Dinge sind mir zu wundersam,
83 84 85 86 87
88
Vgl. Schmidt u.a., Zehn Gebote, 131f. Schmidt u.a., Zehn Gebote, 132 (mit Beispielen). Vgl. Crüsemann, Tora, 291–294. Vgl. Schmitt, Arbeitsbuch, 439ff. Die sog. „Theologisierung“ der Weisheit durch Sätze wie Spr 1,7: „Die Furcht Jahwes ist der Anfang der Weisheit“ erfolgt erst in einem zweiten Schritt. Zunächst werden Einsichten in den beobachtbaren Weltlauf in Sprichwörtern gesammelt. Vgl. zu diesen und anderen negativen Sprüchen über die Frau Hausmann, Studien, 148–156.
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und vier verstehe ich nicht: des Adlers Weg am Himmel, der Schlange Weg auf dem Felsen, des Schiffes Weg mitten im Meer und des Mannes Weg bei der Frau“ (Prov 30,18f.). Das Fliegen, das Schlängeln und das Schwimmen sind zu beobachten, aber für den Israeliten doch nicht zu verstehen; so ist es oft auch mit der Liebe zwischen Mann und Frau. Die Form des Zahlenspruches macht diese Einsichten zum Lernstoff und zur Lebensregel. Durch eine besondere Stilform wird aber im Buch der Sprüche Salomos gerade das Verhältnis der Geschlechter auf seine Tiefendimension hin befragt.89 Angeredet ist mit den Sprichwörtern der junge Mann, den der erfahrene Lehrer auf das Leben vorbereiten will, kenntlich wird dies durch die Anrede „mein Sohn.“90 Dieser soll „Weisheit“ lernen und sich dabei gegen allerhand Verlockungen wehren. Diese beiden Wege werden dem Lernenden u.a. durch die Personifizierung von Weisheit und Torheit vor Augen geführt in Gestalt von „Frau Weisheit“ und der „fremden Frau.“ Die unterschiedlichen Möglichkeiten von Einsicht oder Unverstand, tugendhaftem oder verfehltem Handeln werden auch geschildert als alternative Bindungen an die beiden „Frauen“. Frau Weisheit steht wie eine Prophetin auf der Straße und lädt in einer Art „Umkehrpredigt“ zu ihrer Weisung ein (vgl. Prov 1,20–33 und Prov 8).91 Vor der „fremdem Frau“ und ihrer Verführung zum Ehebruch aber wird gewarnt (vgl. Prov 5,1–1492; 6,20–35; Prov 793). Denn diese Treulosigkeit führt nicht nur zur Reue (vgl. 5,12–14), Schande und Strafe (vgl. 6,32.35), sondern ist im Sinne der alttestamentlichen Weisheit auch „unvernünftig“. In einer Art „theologischem Anhang“ in 5,20–23 wird dies in die Dimension coram deo (V. 21: „Fürwahr, offen vor den Augen Jahwes liegen die Wege eines Mannes…“) gestellt und auf „Gottlosigkeit“ allgemein „hochgerechnet.“ So erhalten die vordergründig auf Ehebruch mit einer verheirateten Frau abzielenden Sprüche einen tieferen Sinn. Wer der „fremden Frau“ erliegt (oder sich „böse Buben“ als Freunde sucht; vgl. Prov 1,10ff.), verfehlt die Weisheit insgesamt, aber eben auch den Weg, den Jahwe für sein Leben haben will. Das Paradebeispiel des „Weisen“, der dies alles übersteht, ist Josef im Hause Potifars, der trotz Gefahr der „fremden Frau“ nicht erliegt (vgl. Gen 39,7–18). So wird (jedenfalls in der Lesart des kanonischen Endtextes) das gelingende oder misslingende Miteinander von Frau und Mann zum Bild eines gelingenden oder misslingenden Lebens coram deo. Sind dabei die Versuchungen der „fremden Frau“, ebenso wie die Lockungen der „bösen Buben“ zu vermeiden, so ist positiv die Gemeinschaft mit, ja die „Nachfolge“94 von „Frau Weisheit“ anzustreben.
89 90 91 92 93 94
Vgl. zum Folgenden Müller, Proverbien 1–9. Spr 1,8; 2,1; 3,1; 4,1 (Pl.); 5,1; 6,1; 7,1 u.ö. Vgl. Müller, Proverbien 1–9, 192–250. Vgl. Müller, Proverbien 1–9, 74–106. Vgl. Müller, Proverbien 1–9, 117–140. Die Weisheit spricht: „Ihr sollt umkehren zu meiner Zurechtweisung! Schließlich gieße ich doch meinen Geist über euch, mache euch meine Worte bekannt!“ (Spr 1,23 Übersetzung Müller, Proverbien 1–9, 194).
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Die erste Rede (Prov 1,20–33) der „Frau Weisheit“, die nach Prov 8,22–30 das erste aller Werke Jahwes ist und der gleichsam eine „Schöpfungsmittlerschaft“ zukommt95, hat ihre Entsprechung und ihr Ziel im letzten Text des Proverbienbuches, dem „Lob der tüchtigen Frau“ in Prov 31,10–31.96 Dieser Abschnitt, der schon durch seine akrostychische Form im Hebräischen hervorgehoben ist97, preist oberflächlich betrachtet den Mann glücklich, der eine tüchtige Ehefrau gefunden hat. Aber hier wird nicht nur das Bild einer Frau gezeichnet, die ihren Mann liebt und sich in großer wirtschaftlicher Eigenständigkeit und Eigenverantwortlichkeit um „Haus und Hof“ kümmert.98 Vielmehr gilt ihre Fürsorge darüber hinaus den Armen; und: „Ihren Mund öffnet sie mit Weisheit; und treue Weisung [wörtl. Tora der „Gemeinschaftstreue“] ist auf ihrer Zunge“ (Prov 31,26). Sie ist die personifizierte „Frau Weisheit“, die sich nicht durch Schönheit auszeichnet, sondern durch „Gottesfurcht“ (V. 30). Ihr steht ein Anteil ihrer mit Arbeit erworbenen Güter zu, und im Versammlungsort der Männer, im Tor, soll ihr Ruhm laut werden (V. 31). So findet „Weisheit“ in der treuen Gemeinschaft mit einer solchen Frau ihr Ziel. Natürlich ist auch dies aus männlicher Perspektive geschildert, aber doch ein überraschender Kontrapunkt zum alltäglichen erfahrbaren Miteinander der Geschlechter im alten Israel! Eine auf den ersten Blick sehr viel frauenfeindlichere Sicht scheint der Skeptiker Kohelet zu vertreten; den in Pred 7,26 heißt es: „Und ich fand, bitterer als der Tod sei eine Frau, die ein Fangnetz ist und Stricke ihr Herz und Fesseln ihre Hände. Wer Gott gefällt, der wird ihr entrinnen; aber der Sünder wird durch sie gefangen“ (Luther 1984). Nun haben allerdings Diethelm Michel99 und Ingrid Riesener100 überzeugend dargelegt, dass es sich bei dieser Sentenz keinesfalls um die Meinung Kohelets handelt. Vielmehr zitiert er hier bei seiner Suche nach Sinn und Gewinn im Leben eine misogyne Äußerung, die er sich gerade nicht zu eigen macht. Allenfalls lässt er gelten: „Diejenige Frau, die wie ein Fangnetz ist, ist bitterer als der Tod.“ Dies gilt aber, wie gesehen, im Kontext der alttestamentlichen Weisheit nicht von den Frauen überhaupt, sondern von der „fremden Frau“, an die auch Kohelet hier denkt.101 Zur Gemeinschaft von Mann und Frau hat Kohelet, eingedenk seiner vornehmlich immanenten Perspektive, mit 4,9–12 oder 9,7–10 durchaus Positives zu sagen. Abschließend soll im vorliegenden Zusammenhang wenigstens ein kurzer Blick auf das Hohelied (canticum canticorum) geworfen werden102; denn hier wird das 95 96 97
Vgl. Müller, Proverbien 1–9, 231–249; Nowell, Töchter, 127f. Vgl. Nowell, Töchter, 129f. Akrostychos bezeichnet die Besonderheit, dass jeder Vers eines Textes mit dem jeweils folgenden Buchstaben des Hebräischen Alphabets beginnt. 98 Vgl. so noch Wolff, Anthropologie, 250 99 Vgl. Michel, Untersuchungen, 225–238; ders., Qohelet, 152f. 100 Vgl. Ingrid Riesener, Frauenfeindschaft, 193–207 101 Vgl. Riesener, Frauenfeindschaft, 200. 102 Vgl. die Ausführungen von Markus Witte, in: Gertz (Hg.), Grundinformation, 464–469.
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Phänomen der Liebe wie nirgends sonst im AT zum Thema.103 Dabei geht es jenseits aller allegorischen Deutung um die sinnliche Liebe zwischen Mann und Frau, die hier in einer Sammlung von Liebesliedern einschließlich der erotischen Aspekte besungen wird. Trotz aller Unsicherheiten im Einzelnen sind sich die Ausleger doch einig, dass hier Liebeslieder gesungen werden sowohl aus der Perspektive des Mannes als auch der Frau.104 So wird die Macht der Liebe ohne erkennbares hierarchisches Gefälle zwischen Frau und Mann zum Thema. In der Hochschätzung der Erotik ist das Hohelied in gewisser Weise ein Kontrapunkt zum oft verschämten Umgang der jüdisch-christlichen Tradition mit der menschlichen Sexualität. Auch ein theologisches Profil lässt sich ausmachen: „Hier bietet sich vor allem ein Verständnis vor dem Hintergrund der biblischen Urgeschichte (Gen 1–9) an. Wie diese versteht das Hhld den Menschen als ein von Gott geschaffenes Wesen, das diese Welt bebauen und genießen soll. Zu den wesentlichen Lebensgenüssen gehört auch die Liebe zwischen Mann und Frau (Gen 2,20–24). Das Hhld weiß wie die Urgeschichte, dass menschliches Leben begrenzt ist. Zugleich weiß es, dass die Liebe eine unverfügbare Gabe ist. Die Liebe, auch wenn sie im Hhld übertreibend und teilweise mythisch personifiziert beschrieben wird, erscheint nie als eine Göttin oder als etwas, das sich von den einzelnen Liebenden löst, sondern stets als ein Ereignis zwischen den Liebenden. Wie in Gen 2,24 finden sich Ansätze zu Phänomen der personalen Liebe (Hhld 6,8f.; 8,11f.).“105 – So wird in diesen Liebesliedern hinsichtlich des Verhältnisses von Frau und Mann im AT der Bogen zurückgeschlagen zum Abschluss der Erschaffung der Frau in Gen 2. Das, was dort als Kraft beschrieben wurde, die Mann und Frau „ein Fleisch“ sein lässt, stärker als alle familiären und gesellschaftlichen Regeln, wird hier entfaltet und besungen und erinnert daran, dass es in dem bis heute konfliktreichen Miteinander von Mann und Frau (Gen 3,16) immer auch Augenblicke des Hingezogenseins und des ungetrübten Miteinanders als Geschenk gibt.
3. Hermeneutische Schlussfolgerungen Die hier vorgetragenen Beobachtungen gehören in den Bereich der theologischen, bzw. biblischen Anthropologie. Somit ist grundsätzlich Hans Walter Wolffs Mahnung zu bedenken, dass dort, wo der Mensch sich selbst gleichsam zum „Untersuchungsgegenstand“ wird, „das Problem der Nichtobjektivierbarkeit schlechterdings nicht zu bewältigen ist.“106 Dies gilt erst recht, wenn, wie im vorliegenden Zusam103 Vgl. Wolff, Anthropologie, 248–253. 104 Vgl. Spr 1,7: [Sie:] „Sage mir an, du, den meine Seele liebt, wo du weidest, wo du ruhst am Mittag, damit ich nicht herumlaufen muss bei den Herden deiner Gesellen“ 8 [Er:] „Weißt du es nicht, du Schönste unter den Frauen, so geh hinaus auf die Spuren der Schafe und weide deine Zicklein bei den Zelten der Hirten.“ 105 Witte, in: Gertz (Hg.), Grundinformation, 468. 106 Wolff, Anthropologie, 14.
Hermeneutische Schlussfolgerungen
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menhang, historische anthropologische Fragestellungen der Beantwortung einer konkreten Sachfrage, eines akuten Problems der Gegenwart dienen sollen, nämlich der Frage, ob in der SELK die Frauenordination einzuführen ist oder nicht. Die Redlichkeit gebietet es m.E., diese Problematik hier jedenfalls zu benennen – und sich dann doch mutig an eine Ergebnissicherung zu machen! Eine weitere grundlegende hermeneutische Erwägung sei hier noch angeschlossen, die zugleich den Bogen zum ersten Teil dieses Aufsatzes zurück schlägt: Die Frage nach der „Zuordnung von Mann und Frau im Alten und Neuen Testament“, setzt implizit nicht nur voraus, dass eine oder mehrere solcher „Zuordnungen“ in der Bibel zu finden sind, sondern auch, dass das etwaige Ergebnis dann auch theologisch verbindlich sei. Diese Erwartung kann in der Kirche des Wortes gehegt werden aufgrund der Festlegung des Summarischen Begriffes der FC: „Wir glauben, lehren und bekennen, daß die einige Regel und Richtschnur, nach welcher zugleich alle Lehren und Lehrer gerichtet und geurteilet werden sollen, seind allein die prophetischen und apostolischen Schriften Altes und Neues Testamentes…“107 Weiter ist offenbar bei der Aufgabenstellung vorausgesetzt, dass eine aus der Bibel zu erhebende Zuordnung der Geschlechter unter heutigen Verhältnissen applizierbar und lebbar ist. Der oben gebotene Durchgang durch verschiedene Textbereiche des alttestamentlichen Gotteswortes macht nun aber die ganze Komplexität des Phänomens deutlich. Das Verhältnis der Geschlechter in der Welt des Alten Testaments, so wie es sich aus Erzählungen und Rechtstexten erheben lässt, ist aus heutiger Sicht in seiner ganzen Fremdheit und Abständigkeit wahr und ernst zu nehmen. Das alttestamentliche Scheidungsrecht, die Polygynie, die Leviratsehe oder die Verfügungsgewalt der Männer über ihre Frauen und Töchter ist fremd und vergangen. Dies gilt auch für die dahinter stehenden Werte, von denen die Erhaltung der Familie durch einen männlichen Erben auf dem Erbland die oberste Priorität genießt. Auch Christen, die ihr Leben bewusst an der Bibel ausrichten wollen, leben heute ganz anders. Dennoch sind die geschilderten – uns heute befremdenden – Verhältnisse im AT doch Ausdruck des Willens Gottes. Gott selbst bestraft die Verweigerung der Schwagerehe unmittelbar mit dem Tod (Gen 38,10); im vorliegenden kanonischen Kontext gelten alle behandelten Gesetzestexte als unmittelbar von Gott am Sinai offenbart. Doch treten innerhalb des AT neben die genannten Dinge auch andere Aspekte. So der theologische Entwurf von Mann und Frau als „Repräsentanzbildern“ Gottes in der Schöpfungsgeschichte, oder die gelingende Gemeinschaft mit „Frau Weisheit“ (vgl. Spr 31,10ff.) als Versinnbildlichung gelingenden Lebens coram deo, und nicht zuletzt die Liebe zwischen Frau und Mann, die aus dem Geschaffensein von Gott resultiert und stärker als alle gesellschaftlichen Bindungen sein kann (Gen 2,24). Immer wieder machen sich die alttestamentlichen Texte die Perspektive der Frauen zueigen, wie im Falle der Kinderlosigkeit von Sara, Rahel 107 BSLK, 777.
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oder Hanna, bei Rut und ihrem schweren Weg nach Israel oder wenn die Braut im Hohenlied dem Geliebten zusingt. Schließlich thematisiert Gen 3,16 in für den Alten Orient unerhörter Weise das konfliktträchtige Miteinander von Frau und Mann als eine Störung dessen, was bei der Schöpfung intendiert war. Hier scheinen viele Dinge wieder sehr „modern“ und unmittelbar ansprechend. So gibt es im AT nicht nur das eine Modell der „Zuordnung“ der Geschlechter, das die Kirche des Wortes nur erheben müsste, um es sich bei der Behandlung aktueller Fragen dienen zu lassen. Wer heute in Treue zur Schrift die Texte in die Gegenwart umsetzen will, steht vor der schwierigen Aufgabe der Auswahl und der Auslegung. Dies gilt für alle Vertreter einer schriftgebundenen Theologie völlig unabhängig davon, ob sie für oder gegen eine Ordination von Frauen sind. In ähnlicher Weise hat bereits Martin Luther diese Frage beschäftigt, wie sich aus der Schrift „Eyn unterrichtung wie sich die Christen yn Mosen sollen schicken“ von 1526108 entnehmen lässt. Luther steht vor dem Problem, dass es Gebote der Bibel (bei Mose) gibt, die heute nicht mehr gelten, aber offenbar von „Schwärmer“ zu seiner Zeit wieder eingeführt werden sollten. Auch das Gebot der Schwagerehe aus Dtn 25 dient ihm als Beispiel.109 Luther verweist mit der berühmten Formulierung „Moses ist der juden sachsen spiegel“110 darauf, dass die Christen eben nicht die Adressaten der mosaischen Gesetze seien. Lediglich wo, wie im Falle des Dekalogs, die Gesetze des Pentateuchs mit dem allgemeinen Naturrecht übereinstimmten, seien sie auch heute noch zu halten.111 Dies ist aber mit dem hermeneutischen Problem behaftet, ob das, was „die Natur lehrt“, evident und ob darüber innerhalb der Christenheit Konsens zu erzielen ist. Luther lässt sich nicht einmal durch den Hinweis beeindrucken, die Worte des Alten Testaments seien schließlich Worte Gottes.112 Er bleibt dabei: Man beachte den Adressaten, vergleiche mit dem Neuen Testament und dem, was „die Natur lehrt“, wenn man nach der Gültigkeit alttestamentlicher Gebote fragt. Dies führt zu der bemerkenswerten Konsequenz, dass etwas nicht schon allein deshalb für alle gilt, nur weil es in der Bibel steht. Daraus ergibt sich für eine Kirche, in der die Regel sola scriptura gilt, die bis heute nicht abschließend gelöste Aufgabe, innerhalb der Bibel das Wesentliche vom Unwesentlichen zu scheiden und dafür je und dann Kriterien zu entwickeln. Hier sitzen alle im selben Boot, für die die Schrift Regel und Richtschnur sein soll, unabhängig von der jeweiligen Position in Einzelfragen! Über Luthers instruktive hermeneutischen Erwägungen hinaus muss ein weiterer Aspekt bedacht werden. Denn Luthers Argument, man müsse auf die Adressa-
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WA 16, 363–393. Vgl. WA 16, 378,14–18. WA 16, 378,11. Vgl. WA 16, 379. „Ist alles Gottes wort. Gottes wort hyn, Gottes wort her, ich muss wissen und achthaben, zu wem das wort Gottes geredt werde. Es ist noch weyt davon, das du das volck seyst, da mit Gott geredt hat“ (WA 16, 384,14–16).
Hermeneutische Schlussfolgerungen
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ten des Wortes achten, ist durch die Dimension des geschichtlichen Abstandes und der historischen Entwicklung zu erweitern. Schließlich gab es weder unter Juden des 16. Jh.s oder heute Polygynie, noch gilt das Gesetz der Schwagerehe. Diese Gebote und Rechtssätze, samt den vorausgesetzten gesellschaftlichen Verhältnisse gelten heute weder für Juden noch für Christen. Sicher gehören die Gesetze des AT in die Rechtsgeschichte des modernen Israel, ebenso wie der Sachsenspiegel in die Rechtsgeschichte der Bundesrepublik gehört. Aber in beiden Fällen sind die historischen Dokumente doch nicht mehr geltendes Recht. Dies gilt auch für die Kirche. Weder das Alte noch das Neue Testament lassen sich unmittelbar in geltendes Recht überführen. Auch bei der heiligen Schrift ist für die Frage nach der Applikation des darin offenbarten Gotteswillens ein historischer Abstand zu überwinden. Das heißt im Hinblick auf die Frage nach der Zuordnung von Mann und Frau, dass wir im AT (und modifiziert auch im NT) einer patriarchalisch strukturierten Gesellschaft begegnen, deren Verhältnisbestimmung von Mann und Frau nicht einfach in die Gegenwart übertragbar ist. Für einen konstruktiven Umgang mit dieser Tatsache sind zwei Wege nicht gangbar: – Es können nicht heutige Vorstellungen des Verhältnisses von Mann und Frau in die Bibel rückprojiziert werden. Die patriarchalischen (oder in anderer Hinsicht fremden) Verhältnisse mögen vom heutigen Standpunkt aus nicht immer leicht verstehbar oder zustimmungsfähig sein. Deshalb kann aber die Welt des antiken Israel nicht nachträglich nach heutigen Wertmaßstäben korrigiert oder die Bibel umgeschrieben werden. Die „Bibel in gerechter Sprache“ scheint wenigstens in Teilen dieser Versuchung zu erliegen.113 – Es geht nicht an, die „biblischen Verhältnisse“ als vermeintlich gottgewollt ungebrochen in die heutige Lebenswelt übertragen zu wollen. Wo man so etwas versucht, landet man bei der musealen Existenz der Amish People. In der lutherischen Kirche wurde und wird dieser Weg nicht beschritten, und ich sehe auch niemanden, der das möchte. So lässt sich die Frage nach der „Zuordnung“ von Frau und Mann in der Bibel nicht auf eine einfache Formel bringen. Es bleibt das Hören auf die Schrift, die auch in ihrer Fremdheit wahrgenommen werden will. Vieles ist heute nicht einfach oder gar unmittelbar applizierbar. Es bleibt die Aufgabe der Auslegung im Horizont der eigenen Lebenswelt. Luther ist diesen Weg im Kleinen Katechismus bei der Auslegung des Dekalogs in der Tradition der abendländischen Christenheit bereits ziemlich weit gegangen. Wir aber leben nicht mehr im 16. Jh., sondern heute in „unentrinnbarer Zeitgenossenschaft“114. Die Einsicht, dass Frauen und Männer als Bilder Gottes und damit „Repräsentanten“ des Schöpfers und in Verantwortlichkeit vor ihm geschaffen sind, bleibt auch heute eine Herausforderung; die Umsetzung einer
113 Vgl. Köhlmoos, ThR 71 (2006), 247–257; deutlich kritischer: Dies., ThR 72 (2007), 97–111. 114 Werner Klän am 26.1.2007 vor dem Sprengelpfarrkonvent Ost der SELK in Berlin-Wilmersdorf.
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Frauen und Männer im Alten Testament
solchen Aussage in die Lebenswirklichkeit bleibt eine Aufgabe. Hier, wie an vielen anderen Stellen spricht die Bibel Menschen weiterhin relativ direkt an. Anderes bleibt fremd, oder wird unter veränderten Umständen vielleicht neu als relevant erfahren. Die Frage, ob die Selbständige Evangelisch-Lutherische Kirche Frauen zum Predigtamt ordinieren soll, muss diese Kirche selbst entscheiden. Dieser Aufgabe muss sich diese Kirche stellen. Dabei wird sie immer zuerst auf die Schrift hören, aber die Frage löst sich nicht einfach, durch das Lesen der Bibel. Es ist nicht anders denkbar, als dass die Glieder dieser Kirche im Hören auf die Bibel untereinander in einen Diskurs eintreten und dabei nach einem Konsens suchen.115
115 Eine Nachbemerkung: Der hier zum Schluss ausgesprochenes Appell ist 2009 von Gottfried Hoffmann aufgegriffen worden (vgl. Hoffmann, LuThK 33 [2009], 111–123). Er konzentriert sich auf Gen 1–3 und unterzieht die hier gebotenen Analyse einer kritischen Revision. Wenn er dann im Hinblick auf das zu Gen 1,26–28 Gesagte fragt „Ist ein Mann, ist eine Frau allein kein vollständiger Mensch? Ist ein Mann, ist eine Frau für sich kein Ebenbild Gottes?“ (a.a.O., 111), so sind beide Fragen mit „doch, natürlich!“ zu beantworten. Aber gerade im priesterschriftlichen Schöpfungsbericht wird zwischen Frau und Mann keine Schöpfungsreihenfolge und keine Rangfolge erhoben. Dabei geht es natürlich nicht um das Leugnen der Unterschiede zwischen Mann und Frau, sondern um eine Gleichberechtigung, die als schöpfungsgemäß angesehen werden kann. Hoffmann betont sodann, die sachgemäße Übersetzung für עזרin Gen 2,18 sei eben doch Hilfe/Gehilfin (vgl. a.a.O., 113f.). Er kommt zu dem Schluss: „Nicht schwingt jedoch mit, was wir heute weithin mit dem Wort ‚Gehilfin‘ verbinden, nämlich das bloße Befehlsempfangen, als ob keine Eigenständigkeit bei dieser Hilfe gegeben sei“ (a.a.O., 115). D’accord! Um dieses Missverständnis zu vermeiden hatte ich mich der Übersetzung mit „Wesen“ bei Gunkel angeschlossen. Wenn Hoffmann fortfährt: „Allerdings, ‚Hilfe‘ bedeutet auch, dass die letzte Verantwortung bei dem liegt, dem die Hilfe gegeben ist“ (ebd.), dann scheint mir das in Gen 2f. gerade nicht der Fall zu sein. Machen doch gerade die Strafsprüche deutlich, dass Verantwortung – zumal coram deo – eine zutiefst individuelle Angelegenheit ist, die weder abgeschoben noch delegiert werden kann. Schließlich bestreitet Hoffmann die hier im Anschluss an Adelheid Mahlke vorgetragene Deutung des Satzes Gen 3,16: „…auf deinen Mann wird sich dein Verlangen richten, und er wird über dich herrschen.“ Hoffmann sieht hier nicht den Konflikt der Geschlechter als postlapsarisches Verhängnis angesprochen. Insbesondere „ תשׁוֹקתךdein Verlangen“ sei nicht notwendig negativ konnotiert, wie ein Blick auf Hhld 7,11 zeige (vgl. a.a.O., 118). Dagegen möchte ich anführen, dass Gen 3,16 syntaktisch eben doch genau Gen 4,7 (dort „verlangt“ die Sünde [ ]חטאnach Kain) entspricht und dass sich darüber hinaus die Frage stellt, warum das positiv verstandene Verlangen der Frau nach ihrem Mann in einem Strafspruch zum Thema wird. Ich halte die Mahlkesche Deutung immer noch für überzeugend. – Wie dem auch sei, die Argumentation meines verehrten Lehrers Gottfried Hoffmann macht einmal mehr darauf aufmerksam, inwieweit immer auch unsere Fragestellungen unser Verständnis der Texte beeinflussen, insbesondere, wenn mit dem Blick in die Bibel in aktuellen kirchenpolitischen Prozessen argumentiert werden soll. Dies gilt zu allererst für mich selbst und insofern ist der Widerspruch hilfreich und der kollegiale Diskurs unerlässlich.
Eine „prophetische Visionsschilderung“ im 20. Jahrhundert Martin Luther Kings „I have a dream“ in neuer formgeschichtlicher Perspektive 1. Martin Luther Kings Rede „I have a dream“ 1.1 Martin Luther King als „Prophet“ mit einer „Vision“ Der afroamerikanische Baptistenpfarrer Martin Luther King jr. (1929–1968) gehört zu den wirkungsvollsten Persönlichkeiten der Christenheit im 20. Jahrhundert.1 Seine Begabung als charismatischer Redner hat ihm die Bezeichnung „Visionär“ oder „Prophet“ eingebracht. „In weiten Teilen der ökumenischen Christenheit gilt King wegen seines christlich begründeten Widerstands gegen soziales Unrecht in der Form von Rassismus, Armut und Krieg als ein Prophet des 20. Jh.“2, der „seinen Zuhörern eine neue Vision gesellschaftlichen Zusammenlebens vermitteln“3 wollte. Der „Prophet“ mit der „Vision“ wird durch seinen gewaltsamen Tod zum „Märtyrer“ und somit zu einem Menschen, dessen Handeln für andere Vorbildcharakter hat.4 So ist das Bild Martin Luther Kings heute in der Öffentlichkeit gelegentlich mit einer Art „heiliger Patina“ überzogen.5 Als besonderer Mensch – eben als „Prophet“ –, dem es nachzueifern gilt, begegnet er etwa als erbaulich-belehrende Predigtillustration oder in Schulbüchern.6 Auffällig ist vor allem, dass die geschilderte Charakterisierung Kings in eindeutig christlich-religiöser Terminologie einhergeht, obwohl der Baptistenpfarrer seine größte tatsächliche Wirkung auf (gesellschafts-) politischem Gebiet entfaltet hat. Dies ist kein Zufall. Der christliche Glaube und die Prägung durch die Tradition der „Schwarzen Kirche“ war die entscheidende Motivation für Kings Einsatz gegen 1 2 3 4
5 6
Zur Biographie Kings vgl. Grosse, TRE 18, 195–198; ders., Macht. Grosse, TRE 18, 197. Vgl. ders., PTh 78 (1989), 77. Grosse, Macht, 112. „King gehört wie andere Märtyrer des 20. Jahrhunderts, ich nenne vor allem Dietrich Bonhoeffer, Camillo Torres, Steve Biko und Oscar Romero, zu den Christen, deren Denken und Tun für den Prozeß gegenseitiger Verpflichtung für Gerechtigkeit, Frieden und Bewahrung der Schöpfung außerordentlich wichtig ist“, urteilt etwa Benedict, PTh 78 (1989), 81 (Hervorhebungen so im Original). Vgl. Grosse, PTh 78 (1989), 65f. Vgl. z.B. die Behandlung Martin Luther Kings unter der Überschrift „So möchte ich sein – Leitbilder für das Leben“, in: Medienbegleitheft für den Evangelischen Religionsunterricht an Hauptschulen in Bayern, 7. Jahrgangsstufe, erarbeitet vom Hauptschul-Medienkreis des Religionspädagogischen Zentrums, Heilsbronn 1998, 7–12.
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Rassendiskriminierung und für Gerechtigkeit. Biblisch-christliche Werte waren Maßstab seines politischen Handelns. Insbesondere aber hat die biblisch-christliche Tradition Kings Sprache geprägt. Dabei war King zuerst und vor allem Prediger und er blieb dies auch dann, wenn er außerhalb des gottesdienstlichen Rahmens öffentlich sprach.7 Auch bei Reden auf vordergründig rein „politischen“ Großveranstaltungen zitierte King ganz selbstverständlich die Bibel, berief sich auf Gott oder Christus als Instanz für die Überprüfung gesellschaftlicher Wirklichkeit oder bediente sich solcher Sprachformen, die durch biblische Vorbilder angeregt waren. Insbesondere diesem letzten Aspekt soll im folgenden nachgegangen werden; denn es lassen sich biblische Sprachmuster ausmachen, mit deren kommunikativer und pragmatischer Leistung sich Kings Sprache eng berührt. Die immer wieder zu findende Charakterisierung Kings als eines „Propheten“ mit einer „Vision“ verweist unabhängig davon, ob man ihr sachlich zustimmt, auf eine alttestamentliche Gattung, nämlich die „prophetischen Visionsschilderungen“, für die etwa Jesajas Schau des himmlischen Thronrats (Jes 6), Amos Vision vom „Ende“ (Am 8,1f.) oder die „Nachtgesichte“ Sacharjas (Sach 1–6) prominente Beispiele darstellen. Betrachtet man diese Gattung unter der Fragestellung der Funktion der Texte im jeweiligen Kommunikationszusammenhang, so ergeben sich hinsichtlich der Leistung der Äußerungen Parallelen zur Redeweise Kings. „Die bildreichen Reden Kings waren geprägt von einer ‚vision language‘ […].“8 In Anknüpfung an diese Beobachtungen soll in einem Textvergleich aufgewiesen werden, daß King sich in seinen Reden sprachlicher Mittel bedient hat, die bezüglich ihrer kommunikativen Leistung ganz nahe bei den „prophetischen Visionsschilderungen“ des Alten Testaments stehen. Die Betonung der „Funktion“ oder der „kommunikativen Leistung“ dieser sprachlichen Mittel ist deshalb von Belang, weil King nicht Visionsschilderungen einfach wörtlich zitiert. Vielmehr lehnt er sich eher intuitiv an eine prophetische Sprachform an, um bei seinen Hörern etwas Bestimmtes zu erreichen. Ich möchte dies exemplarisch aufzeigen an Martin Luther Kings wohl populärstem Text, der Rede von 1963, die unter dem Titel „I have a dream“ („Ich hab einen Traum“) berühmt geworden ist. Es ist vor allem dieser Text, auf den auch inhaltlich die Bezeichnung „Vision“ angewandt wurde.9 Außerdem kann er insgesamt als programmatische Formulierung von Kings Zielvorstellung für sein Handeln betrachtet werden. „In seinen Gemeindepredigten, in seinen Reden vor einer größeren Öffentlichkeit wie in seinen Büchern hat King die Zielvorstellungen, die sein Handeln leiteten, als einen ‚Traum‘ bezeichnet.“10 7 8 9
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Vgl. Lischer, GlLern 5 (1990), 52–71; ders., PTh 84 (1995), 136–149. Grosse, Macht, 112. „Die Rede, die King 1963 im Rahmen des ‚March on Washington‘ hielt, ist ein eindrucksvolles Beispiel für die hervorragende Rolle gesellschaftspolitischer Visionen bei dem Bemühen, eine Kommunikation zwischen politischen Gegnern herzustellen“ (Grosse, Macht, 109). Grosse, Macht, 109.
Martin Luther Kings Rede „I have a dream“
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Zunächst soll der Text der Rede „Ich habe einen Traum“ inhaltlich und sprachlich analysiert werden. Dabei ist auf Bibelzitate, Anspielungen und besonders auf die Verwendung solcher Sprachmuster zu achten, die an Visionsschilderungen erinnern. Bild- und gleichnishafte Redeweise ist dafür zunächst der deutlichste Hinweis. Die Leistung solcher Sprachmuster im jeweiligen Kontext soll dabei erhoben werden. Dann wird ein neuer Zugang zu den „prophetischen Visionsschilderungen“ des Alten Testaments als einer Textsorte mit einer ganz bestimmten kommunikativen Funktion vorgestellt. Dies führt zu einem Vergleich der antiken Sprachmuster und der Rede Kings. Schließlich wird Kings Text „Ich habe einen Traum“ in einer „Nachbemerkung“ auch inhaltlich kritisch gewürdigt.
1.2 Zur Analyse des Textes von „I have a dream“ Im August 1963 organisierten mehrere Bürgerrechtsorganisationen der amerikanischen Südstaaten einen „Marsch auf Washington“ („March on Washington“), mit dem sie ihren Forderungen Nachdruck verleihen wollten.11 „Am 28, August 1963 versammelten sich ca. 250 000 Menschen vor dem Lincoln Memorial in Washington D.C.“12 Dies war die bisher größte Massendemonstration in der Geschichte der USA. Hier, an dem Denkmal, das sozusagen dem Vater der Sklavenbefreiung in Nordamerika gewidmet war, hielt Martin Luther King seine Rede „I have a dream“.13 1.2.1 Gliederung und Gedankengang von „I have a dream“ Von dem berühmten Text sind zumeist nur verschiedene einzelne Ausschnitte allgemein bekannt, wie der titelgebende Abschnitt „I have a dream“ („Ich habe einen Traum“14) oder der Schluss mit der programmatischen Formulierung „Let freedom ring“ („Lasst die Freiheit erschallen…“15). Hier soll demgegenüber die kurze Rede zunächst als ganze wahrgenommen werden. Es zeigt sich dann, dass dieser Text eine klar strukturierte Einheit bildet, die durch bestimmte Stilmittel gegliedert ist und in verschiedenen Schritten einen konsistenten Gedankengang entwickelt. Zur Vermittlung seiner Inhalte bedient sich King ganz bestimmter sprachlicher Mittel, die auf den ersten Blick eher affektiv als kognitiv oder argu11 12 13 14 15
Zu den näheren Umständen vgl. Grosse, Macht, 97-100. Grosse, Macht, 98. Textgrundlage für das Folgende ist King, Ich habe einen Traum, in: ders., Testament der Hoffnung, 121–125. Der englische Originaltext ist wird zusammen mit der Übersetzung von Grosse als Synopse unten als „Anhang“ beigegeben. Vgl. King, Traum, 124. Vgl. a.a.O., 125. Dieser Ausspruch ist 1997 – allerdings in der Formulierung „let freedom reign“ („Laßt die Freiheit regieren“) – zum Thema eines sehr erfolgreichen deutschen Popsongs geworden. Refrainartig taucht diese Formulierung in dem Lied „freisein“ von Sabrina Settlur (Album: „Die neue S-Klasse“, Sony-Music 1997) auf, wobei deutlich an Martin Luther Kings Originalton angespielt wird. Vgl. dazu: Medienbegleitheft für den Evangelischen Religionsunterricht, 12.
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Eine „prophetische Visionsschilderung“ im 20. Jahrhundert
mentativ zu „funktionieren“ scheinen. Gerade der kommunikativen Leistung dieser sprachlichen Mittel soll verstärkte Aufmerksamkeit gelten. Zunächst aber wird die Gliederung und der Gedankengang der Rede insgesamt nachgezeichnet. Kings Rede ist in sieben Unterabschnitte gegliedert, die je einzelne Schritte innerhalb eines Gedankenganges darstellen. Zwar hat King seinen Text nicht als ein durch Überschriften gegliedertes Dokument veröffentlicht; dennoch lassen sich im Text selbst ganz deutliche formale Signale ausmachen, die eine solche Gliederung anzeigen. Jeder der sieben Abschnitte, von denen hier die Rede ist, ist geprägt von stets demselben stilistischen Merkmal, nämlich der mehrfachen Wiederholung je einer charakteristischen Formulierung.16 Diese jeweils wiederholten Formulierungen können das Thema des jeweiligen Abschnittes der Rede wiedergeben. Nimmt man dies wahr, lässt sich der Text wie folgt gliedern: Die Rede beginnt mit einer einleitenden Formulierung Kings, die sich scheinbar der Höflichkeit verdankt. „I am happy to join with you today in what will go down in history as the greatest demonstration for freedom in the history of our nation.“17 Hier wird bereits das Thema der Rede insgesamt aufgegriffen: „Freiheit“ („freedom“). Dieser Begriff wird crescendoartig vor allem im Schlussabschnitt wiederholt, die mit dem Ausruf endet „…endlich frei“18 („free at last“). Ermutigung zum Einsatz für die Befreiung der Afroamerikaner von rassistischer Unterdrückung ist das eigentliche Thema der Rede. Der erste inhaltliche Hauptabschnitt lässt sich überschreiben mit „One hundred years later…“ („Hundert Jahre später…“).19 Diese Überschrift geht auf die Formulierung zurück, die King zu Beginn dieses Abschnittes immer wieder eindrücklich wiederholt. Zunächst knüpft er an den Ort der Rede, das Lincoln Memorial, an und erinnert daran, dass Abraham Lincoln vor „hundert Jahren“ („fivescore years ago“) die Emanzipationsproklamation unterschrieb, nach der die Sklaverei in den USA abgeschafft wurde. Dann aber zeigt King anhand von Beispielen, dass „hundert Jahre später“, also in seiner Gegenwart, das Versprechen dieser Proklamation noch immer nicht eingelöst ist: Rassentrennung und Armut halten die Afroamerikaner immer noch gefangen, sie leben in einer Art „Exil“20. Damit ist die 16 17
18 19
20
Vgl. zu diesem Stilmittel, das bei King öfter begegnet, Lischer, PTh 84 (1995), 144f. Vgl. King, Traum, 121: „Ich freue mich, heute mit euch zusammen an einem Ereignis teilzunehmen, das als die größte Demonstration für die Freiheit in die Geschichte unserer Nation eingehen wird“. King, Traum, 125, Zum Umfang dieses Abschnitts vgl. King, Traum, 121 („Vor hundert Jahren unterzeichnete ein großer Amerikaner…“) bis 122 („So sind wir gekommen, diesen Scheck einzulösen, einen Scheck, der uns auf Verlangen die Reichtümer der Freiheit und die Sicherheit der Gerechtigkeit geben wird“). Das Motiv des Exils spielt hier nicht auf ein Leben fern der Heimat an, sondern zielt auf die Bedingungen der „Knechtschaft“, wie sie das Volk Israel in Ägypten zu leiden hatte (vgl. Ex 1–5). Damit ist auf das Exodusmotiv als eines bei King immer wiederkehrenden hermeneutischen Schlüssels für die gegenwärtige gesellschaftspolitische Situation der Afroamerikaner angespielt; vgl. Grosse, Macht, 119f. und Lischer, GlLern 5 (1990), 64; ders., PTh 84 (1995), 136.142.
Martin Luther Kings Rede „I have a dream“
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Ausgangssituation beschrieben: „Deshalb sind wir heute hierher gekommen…“21 In dieser Situation beruft sich King auf Grunddokumente der amerikanischen Nation, neben der Emanzipationsproklamation werden die Verfassung und die Unabhängigkeitserklärung genannt, die als Versprechen an die schwarze Bevölkerung zu verstehen sind. Bis jetzt sind dies uneingelöste Schecks. Der zweite Hauptabschnitt weist darauf hin, dass die bisher nicht gehaltenen Versprechen von Freiheit und Gleichheit für alle Menschen aus Sicht der afroamerikanischen Bürgerrechtsbewegung jetzt fällig sind. Daher läßt sich dieser Abschnitt mit „Jetzt ist es Zeit…“ überschreiben.22 Auch der Marsch auf Washington soll die Nation an die „grimmige Notwendigkeit des Jetzt“ („the fierce urgency of now“) erinnern. In vier je mit „now is the time“ eingeleiteten Unterabschnitten redet King bildhaft vom „dunklen und trostlosen Tal der Rassentrennung“ oder vom „Flugsand rassischer Ungerechtigkeit“. Gerechtigkeit („justice“/„equality“) ist das Gebot der Stunde. King greift noch einmal ein Stichwort vom Eingang dieser Passage auf und warnt davor „to overlook the urgency of the movement“ („Dringlichkeit der gegenwärtigen Lage“). An dieser Stelle wird Kings Diktion bedrohlich: „1963 ist kein Ende, sondern ein Anfang. […] Die Stürme des Aufruhrs werden weiterhin die Grundfesten unserer Nation erschüttern...“23 Damit dies nicht als Aufruf zur Gewaltanwendung verstanden wird, schließt King eine eindringlichen Mahnung zur Gewaltlosigkeit an. „Denn viele unserer weißen Brüder – das beweist ihre Anwesenheit heute – sind zu der Einsicht gekommen, daß ihre Zukunft mit der unseren untrennbar verbunden ist.“24 Im Hintergrund steht hier Kings Vorstellung einer „beloved community“25, zu der „all God’s children“ gehören („Gerechtigkeit für alle Kinder Gottes“26). Die Formulierung „Kinder Gottes“ ist die erste explizite Bezugnahme Kings auf religiös-christliche Tradition in dem Text. Der dritte Hauptabschnitt27 beschäftigt sich mit dem Einwand „Wann werdet ihr endlich zufriedengestellt sein?“, und die Antwort darauf ergibt die Überschrift dieser Passage: „We can never be satisfied as long as…“ („Wir können niemals zufriedengestellt sein, solange…“). Bisher hatte er vom „ungedeckten Scheck“ der amerikanischen Grundwerte wie „Freiheit“ und „Gleichheit“ gesprochen oder bildhaft das „dunkle und trostlose Tal der Rassentrennung“ angeprangert. Jetzt nennt er konkrete Phänomene des Rassismus mit einer Reihe von Sätzen, die stets 21 22 23 24 25 26 27
King, Traum, 121. Vgl. King, Traum, 122 („Wir sind auch zu dieser würdigen Stätte gekommen, um Amerika an die grimmige Notwendigkeit des Jetzt zu erinnern“) bis 123 („Wir können nicht umkehren“). King, Traum, 122. Beim „Marsch auf Washington“ waren auch 60000 weiße Anhänger der Bürgerrechtsbewegung beteiligt; vgl. Grosse, Macht, 98. Vgl. Grosse, TRE 18, 196. King, Traum, 122. Vgl. King, Traum, 123 („Es gibt Leute, die fragen diejenigen, die sich der Sache der Bürgerrechte verpflichtet fühlen…“) bis ebd. („…, bis das Recht strömt wie Wasser und die Gerechtigkeit wie ein mächtiger Strom“).
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mit „Wir können niemals zufriedengestellt sein, solange...“ beginnen, beim Namen: eingeschränktes Wahlrecht, Gettoisierung, Ausschluss Schwarzer von bestimmten öffentlichen Einrichtungen, brutale Polizeigewalt („police brutality“) etc. Nach mehreren solcher Beispiele endet der Abschnitt als Höhepunkt in einem Zitat von Am 5,24: „Nein, wir werden nicht zufriedengestellt sein, bis das Recht strömt wie Wasser und die Gerechtigkeit wie ein mächtiger Strom.“28 Hier wird zum ersten Mal direkt die Bibel zitiert und damit implizit die Autorität Gottes für das Gesagte ins Spiel gebracht. Die bisherige Verwendung des Begriffes „Gerechtigkeit“ gewinnt damit eine neue Dimension, insofern nämlich Gott solche Gerechtigkeit fordert. Es zeichnet sich ab, dass die christlich-biblische Terminologie im Laufe der Rede an Gewicht gewinnt. Die Verwendung gerade biblischer Bilder hat dabei eine bestimmte kommunikative und hermeneutische Funktion. Mit dem vierten Abschnitt ist das formale und sachliche Zentrum der Rede Kings erreicht.29 Obwohl es sich hierbei um den kürzesten Abschnitt der Rede handelt und obwohl dieser Teil nicht durch die Wiederholungen einer bestimmten Redewendung eingeleitet wird, kommt King hier doch auf den entscheidenden Punkt. „Continue to work…“30 ist die sachliche Aussage dieser Passage und es ist sozusagen das pragmatische Ziel der ganzen Ansprache. Als Begründung für diese Aufforderung folgt die gewichtigste religiöse Aussage des ganzen Textes: „…vertraut darauf, daß unverdientes Leiden erlösende Qualität hat“31 („unearned suffering is redemptive“). Im vorangegangenen Abschnitt hatte King die „großen“ und abstrakten Begriffe wie „Ungerechtigkeit“ und „Rassismus“ in die kleine Münze der alltäglichen Erfahrung seiner Zuhörer gewechselt. Mit dem Stichwort „police brutality“32 knüpft er noch einmal daran an. Das eigentliche Ziel von Kings Rede ist es, Menschen angesichts konkret erfahrener Leiden dennoch zu einem Einsatz gegen dieses Leiden und für eine gerechtere Gesellschaft zu ermuntern, und das an den je verschiedenen Heimatorten der Zuhörer. Daher gibt die am Ende dieses Abschnitts mehrfach wiederholte Formulierung „Go back to…“ (mit der jeweiligen Anfügung eines der Südstaaten der USA) das Thema dieser Passage an. Zur Motivation für die eben formulierte Aufgabe kommt dem nun folgenden fünften Abschnitt in der Rede Kings33 eine nicht zu unterschätzende Bedeutung zu.
28 29 30 31 32
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King, Traum, 124. Vgl. King, Traum, 123 („Ich weiß wohl, daß manche unter euch hierher gekommen sind…“) bis 124 („Laßt uns nicht Gefallen finden am Tal der Verzweiflung“). Vgl. King, Traum, 123: „Macht weiter…“ King, Traum, 123. Vgl. King, Traum, 123: „Einige von euch sind aus Gegenden gekommen, wo ihr aufgrund eures Verlangens nach Freiheit mitgenommen und erschüttert wurdet von den Stürmen der Verfolgung und polizeilicher Brutalität [‚police brutality‘].“ Dieses letzte Stichwort hatte King schon im dritten Abschnitt der Rede gebraucht. Vgl. King, Traum, („Heute sage ich euch, meine Freunde…“) bis ebd. („Und die Herrlichkeit des Herrn wird offenbar werden, und alles Fleisch wird es sehen“). Die von Grosse vorgenommene Absatzeinteilung mitten in dem Jesajazitat ist m.E. unglücklich.
Martin Luther Kings Rede „I have a dream“
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Unter der Überschrift „I have a dream“ formuliert er nun die Zielvorstellung, für die sich das Leiden und der Einsatz lohnt. In fünf Bildern, die jeweils mit „Ich habe einen Traum...“ eingeleitet werden, zeichnet King die Vision einer egalitären amerikanischen Gesellschaft als „beloved community“. Bildreich wird ein Szenario entworfen, in dem Gemeinschaft zwischen Schwarz und Weiß am „Tisch der Brüderlichkeit“ stattfindet, in dem der Staat Mississippi aus einer Wüste des Rassismus zu einer „Oase der Freiheit und Gerechtigkeit“ wird etc. Wie schon der dritte Abschnitt im Zitat von Am 5,24, so gipfelt auch diese Passage in einem Prophetenzitat. King beruft sich für seinen „Traum“ auf Jes 40,4f.: „Ich habe einen Traum, daß eines Tages jedes Tal erhöht und jeder Hügel und Berg erniedrigt wird. Die rauhen Orte werden geglättet und die unebenen Orte begradigt werden. Und die Herrlichkeit des Herrn wird offenbar werden, und alles Fleisch wird es sehen.“34 Der anklagenden Unheilsprophetie des 8. vorchristlichen Jahrhunderts, die bei der Schilderung der ungerechten Gegenwart ihren Platz hatte, wird nun sachgerecht die deuterojesajanische Heilsprophetie entgegengehalten, die das Ende des Exils verheißt. Die Berufung auf das Offenbarwerden der „Herrlichkeit des Herrn“ verleiht Kings eigenem Traum einer gerechteren Gesellschaft transzendente Dignität, ja göttliche Legitimität. Dass King hier die Bibel zitiert, braucht er nicht ausdrücklich zu sagen; seine Hörer verstehen dies auch so. Die Verwendung der Sprachform „funktioniert“, und die Botschaft ist eindeutig: „Daß ihr unter rassistischen Bedingungen leben müßt, das ist nicht nur einfach ‚ungerecht‘, sondern es ist gegen Gottes Willen. Entsprechend hat euer Einsatz für eine Veränderung dieser Verhältnisse göttliche Legitimität“, so ließe sich die message paraphrasieren. Neben dieser legitimierenden kommt Kings „Traum“ oder „Vision“ auch eine motivierende Funktion zu. Dies expliziert der folgende, sechste Abschnitt der Rede.35 Alles, was King in dem Abschnitt „I have a dream“ als Vision entworfen hatte, wird jetzt mit dem Stichwort „this faith“ („dieser Glaube“) zusammengefasst. Und gleich der zweite Satz macht Kings Intention deutlich: „Mit diesem Glauben kehre ich in den Süden zurück“. Die Formulierung „to go back to…“ knüpft deutlich an den vierten Abschnitt der Rede an. Dort hatte King seine Hörer zum Engagement innerhalb ihrer schwierigen Verhältnissen aufgefordert; jetzt, nach der Schilderung der „Vision“ oder des Traums, ist klar, woher die Motivation kommen soll. „Dieser Glaube“ („this faith“) gibt uns Kraft! Mit „with this faith we will be able to…“ wird das in verschiedene Richtungen entfaltet. So ist dieser sechste Abschnitt sozusagen die Applikation des fünften. Weil King „einen Traum“ hat, kann und wird er handeln (und die Zuhörer sollen das auch). Auch dieser Abschnitt endet in einem Zitat, allerdings
34 35
King, Traum, 124. Vgl. King, Traum, 124 („Dies ist unsere Hoffnung“) bis 125 („...dann muß dies wahr werden“) – wiederum gegen Grosses Absatzgliederung.
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Eine „prophetische Visionsschilderung“ im 20. Jahrhundert
nicht aus der Bibel, sondern aus einem patriotischen Lied auf die USA36, dessen Textzeile „let freedom ring“ zum letzten Abschnitt überleitet. Die siebte und letzte Passage von Kings Rede37 ist eine Entfaltung der Textzeile „…from every mountainside, let freedom ring“ („…von allen Bergen laßt die Freiheit erschallen“). Immer wieder eingeleitet durch „Let freedom ring from…“ wird dieses Bild appliziert auf einzelne Staaten der USA, vom Norden bis zum Süden. Zugleich ist dieser letzte Abschnitt noch einmal eine eindringliche Zusammenfassung der ganzen Rede. Noch einmal wird der „Traum“ von der „beloved community“, der Gemeinschaft „aller Kinder Gottes“ unabhängig von Hautfarbe oder Religion beschworen, deren Kommen „beschleunigt“ („to speed up“) werden kann im Einsatz für die Freiheit. Dieses Stichwort fällt hier so häufig, wie sonst nie in der Rede. Zugleich wird mit dem immer wieder wiederholten Imperativ „Let freedom ring...“ der appellative Charakter der ganzen Rede Kings unterstrichen, diese „Vision“ will zum Handeln motivieren. Liest man die Rede Kings auf diese Weise, ergibt sich aus der Abfolge der einzelnen Passagen ein stringenter Gedankengang: (I) Schon vor „hundert Jahren“ wurde die Sklaverei abgeschafft – (II) „jetzt ist es Zeit“, dieses Versprechen einzulösen; – (III) denn die bedrückenden gegenwärtigen Verhältnisse „können nicht zufriedenstellen“. – (IV) Daher ist lokales Engagement notwendig, – (V) das durch den „Traum“ einer gerechten Gemeinschaft legitimiert und motiviert wird. – (VI) „Dieser Glaube“ ist die Kraftquelle dafür, – (VII) die „Freiheit erschallen“ zu lassen. In diesem Sinngefüge kommt dem Abschnitt V („Ich habe einen Traum“) eine Schlüsselstellung zu. 1.2.2 Zur Leistung der religiösen Sprache und des „Traummotivs“ in Kings Rede Sprechen ist weit mehr als nur das Mitteilen oder Übermitteln von Informationen. Sprechen ist eine Form des „sozialen Handelns“ (Max Weber). In der neueren Sprachwissenschaft hat hierauf vor allem der englische Sprachphilosoph John L. Austin aufmerksam gemacht, der als Begründer der Sprechhandlungs- oder Sprechakttheorie gilt.38 Jede sprachliche Äußerung hat einen Handlungsaspekt, auf den hin sie befragt werden kann. Wenn ein Sprecher sich bestimmter sprachlicher Formen bedient, verfolgt er damit eine „illokutionäre Absicht“, d.h., er möchte bei
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Es handelt sich hier um das Lied „My Country 'Tis of Thee“ von S. F. Smith. Die Berufung auf die Bibel und auf die konstitutiven Dokumente der USA liegen bei King dicht beieinander. Lischer hat dies als Ausdruck einer „civil religion“ gewertet (vgl. Lischer, GlLern 5 [1990], 65f.). „Unter ‚Civil Religion‘ verstehe ich die diffuse und vielleicht unreflektierte Übernahme der philosophischen und theologischen Prinzipien, die den grundlegenden und zentralen Dokumenten der amerikanischen Geschichte zugrunde liegen“ (a.a.O., 65). Vgl. King, Traum, 125 ab „So laßt die Freiheit erschallen…“. Im Rahmen der Theologie bietet einen guten Zugang zur Sprechakttheorie: Wagner, Sprechakte.
Martin Luther Kings Rede „I have a dream“
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seinen Hörern etwas bewirken. Am deutlichsten wird dies bei sog. „direktiven“39 Sprechakten wie Fragen, die eine Antwort evozieren, oder Imperativen, die ebenfalls eine Reaktion erwarten lassen. Aber auch Äußerungen, die auf der sprachlichen Oberfläche einfach als Aussagesätze erscheinen, haben eine Handlungsdimension, wie z.B. Sätze der Art „Hiermit eröffne ich die Versammlung“, oder „Ich taufe dich im Namen des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes“ verdeutlichen. Die eigentliche „Handlung“ des Versammlung-Eröffnens oder des Taufens ist nicht unabhängig von der sprachlichen Äußerung zu denken. Diese Überlegungen sollen für die Frage nach der Funktion und der Leistung sprachlicher Äußerungen in einem Kommunikationsgeschehen sensibilisieren. Denn nicht nur einzelne Äußerungen von Satzlänge, sondern auch Texte und Gattungen lassen sich auf ihre Handlungsdimension hin befragen. Dies soll an wenigen Beispielen für Kings Rede „Ich habe einen Traum“ unter besonderer Berücksichtigung des wichtigen titelgebenden Abschnitts geschehen. Ausgangspunkt ist dabei die Beobachtung, dass der „Marsch auf Washington“, in dessen Rahmen King seine „Vision“ „verkündete“, eigentlich ein vollkommen säkularer Anlass war. Es ging um die Abschaffung rassistischer Diskriminierung und die Verbesserung der Lebensbindungen vor allem der Afroamerikaner. Veranstalter waren keineswegs bloß christliche Kirchen.40 Die Versammlung am Lincoln Memorial war kein Gottesdienst, und Kings Rede war keine Predigt. Dann aber fällt besonders auf, dass King immer wieder in Bildern, Anspielungen und Zitaten auf die Bibel zurückgreift. Auch das „Traummotiv“ gehört in diesen Zusammenhang. Daher soll jetzt nach der kommunikativen Leistung gerade dieser Äußerungen Kings gefragt werden.41 Auffällig ist die durchgängig religiös-christliche Diktion und Metaphorik, derer sich Martin Luther King in seiner Rede bedient. Dies gilt schon für eine Metapher wie den „Tisch der Brüderlichkeit“42, woran am Ende diejenigen zusammensitzen werden, die sich heute noch als Gegner gegenüberstehen. Der religiöse Bezug wird erst recht deutlich, wenn King seine Zuhörer dreimal als „alle Kinder Gottes“ bezeichnet43 oder wenn er davon spricht, „daß unverdientes Leiden erlösende Qualität 39 40 41
42 43
Zur Klassifikation verschiedener Sprechakte nach John R. Searle in „Repräsentativa“, „Direktiva“, „Kommissiva“ u.a. vgl. Wagner, Sprechakte, 21. Vgl. Grosse, Macht, 98. Von einer ganz anderer Seite als der sprachwissenschaftlichen Pragmatik hat sich Lischer der Handlungsdimension von Kings Reden genähert und kommt doch zu ähnlichen Ergebnissen: „Leben und Sprache, Sprache und Leben sind so untereinandergemengt, daß es unmöglich zu beschreiben ist, wie eines aus dem anderen erwächst. Es genügt zu sagen, daß das Wort für den schwarzen Prediger nicht als die theoretische Basis für das Handeln dient, sondern das Wort ist eine Art Handlung, das rechtmäßigerweise nicht von Kämpfen, Versuchungen, dem Leiden und den Hoffnungen der Menschen getrennt werden kann, die durch das Wort leben. Die Gemeinde wird durch dieses Wort vorangetrieben“ (Lischer, GlLern 5 [1990], 55. Hervorhebung so im Original). King, Traum, 124. Das Motiv erinnert, wie die Rede vom „Tal der Verzweiflung“ (ebd.) und vom „dunklen und trostlosen Tal der Rassentrennung“ (a.a.O., 122) an Ps 23. Vgl. King, Traum, 122 und 125 (2 x).
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Eine „prophetische Visionsschilderung“ im 20. Jahrhundert
hat“44. Unübersehbar ist der Bezug auf die biblisch-christliche Tradition in den beiden wörtlichen Zitaten alttestamentlicher Propheten, die zudem beide jeweils als Abschluss und Höhepunkt eines der o.g. Abschnitte der Rede begegnen.45 Der dritte Abschnitt schließt mit einem Zitat von Am 5,24, und der fünfte Abschnitt endet mit Jes 40,4f. In beiden Fällen sind die Schriftzitate nicht ausdrücklich als solche eingeführt, sondern folgen – wenn auch als Klimax – dem vorangegangenen Sprachduktus. Dennoch wird die überwiegende Mehrheit der Zuhörer die Bibelzitate als solche erkannt haben. Dies lässt dann Kings je vorangehende Äußerungen in einem ganz anderen Licht erscheinen. Vom abschließenden Höhepunkt her wird klar: Was Reverend Martin Luther King hier vorträgt, ist prophetische Kritik und hat somit die Autorität des Wortes Gottes, und ebenso: was King als Traumbild einer neuen Gesellschaft sieht, ist eine prophetische Vision; im Lichte der Worte aus Jes 40 erweist sich auch dies als göttlich legitimiertes Wort. So ist die Legitimation der in der Rede benannten Inhalte eine zentrale kommunikative Leistung der von King verwendeten biblischen Anspielungen, Metaphern und Zitate. Dabei ist die entscheidende Einsicht im Rahmen der vorliegenden Untersuchung, dass die von King verwendeten „biblischen“ Sprachformen eine legitimierende Funktion erfüllen, ohne dass der Redner sich explizit auf göttliche Autorität berufen müsste. Eine ganz ähnliche Funktion kommt dem „Traummotiv“ in Kings Rede zu. Martin Luther King entwirft seine Vision einer gerechteren amerikanischen Gesellschaft, indem er immer wieder kurze Sequenzen mit der Formulierung „I have a dream“ beginnen lässt. Er sagt nicht „ich denke mir das in Zukunft folgendermaßen…“ oder „ich stelle mir das so und so vor…“. Nein, King hat einen „Traum“, und es hätte ebenso gut eine „Vision“ sein können! Auch die Funktion dieses sprachlichen Mittels ist zunächst die Legitimation. Ein Traum, ist etwas anderes als das Ergebnis einer Analyse oder einer Überlegung. Ein Traum hat Widerfahrnischarakter.46 Damit abstrahiert King die vermittelten Inhalte von seiner Person. Ein Traum ist keine persönliche Leistung, sondern die Inhalte eines Traumes kommen quasi von „außen“47 und gewinnen somit höhere Dignität. Besonders bedeutsam wird dies, wenn King auch das Zitat von Jes 40,4f. mit „Ich habe einen Traum…“ einleitet; denn eigentlich braucht man ja gar keinen „Traum“, um das Alte Testament zu lesen. Aber Bibel lesen kann jeder! Es kommt eben gerade darauf an, dass King 44
45 46 47
King, Traum, 123. Diese Erlösung hat unverkennbar eine transzendente Dimension und spielt evtl. auf das stellvertretende Leiden Christi an. Von Jesus Christus ist explizit allerdings nicht die Rede, was damit zusammenhängen mag, dass King am Ende eine gerechte Gesellschaft für alle Menschen unabhängig auch vom jeweiligen Glauben entwirft; vgl. a.a.O., 125. Zur Verwendung von Prophetenzitaten in der Argumentation Kings generell vgl. Grosse, Macht, 121f. „Gott spielt nach geheimen Regeln, die nur diesem Prediger hier bekannt sind und dank ihm nun auch uns“ (Lischer, GlLern 5 [1990], 60). Es geht hier nicht darum, was die moderne Psychologie zum Phänomen Traum sagt, sondern es geht um die Funktion des vom Redner verwandten Sprachmittels in einem Kommunikationsgeschehen.
„Prophetische Visionsschilderungen“ im Alten Testament als Textsorte mit einer Funktion
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einen „Traum“ hat; erst dadurch gewinnt das Schriftwort sein Gewicht im vorliegenden Zusammenhang. Hier kommt noch eine zweite Funktion der besprochenen sprachlichen Mittel ins Spiel: Der solchermaßen legitimierte Martin Luther King ist auch autorisiert, den Hörern das Kommen der „Herrlichkeit Gottes“ anzusagen.48 So kommt mit dem Jesajazitat Gott selbst aufs Tapet. Er ist der Garant für die Zuverlässigkeit von Kings „Traum“. Unter diesem Aspekt kommt den von King verwendeten „biblischen“ Sprachmitteln außerdem die Funktion der Motivation zu. Die verwendeten Sprachbilder werden zum Medium einer Verkündigung, die vielleicht die Botschaft viel mehr affektiv als kognitiv kommunizieren.49 Letztendlich geht es King ja darum, seine Zuhörer zum Engagement für die von ihm schon „prospektiv“ wahrgenommene Welt zu bewegen.50 Dies wird durch die wiederholte Verwendung der Imperative „Go back to…“ und „Let freedom ring…“ an zentralen Stellen der Rede deutlich. Es handelt sich hierbei aus Sicht der Sprechakttheorie jeweils im direktive Sprechakte, die durch ihre Verwendung gerade im Zentrum und am Schluss der Rede den appellativen Charakter des Textes insgesamt deutlich machen. Aber es sind die biblischen Sprachmittel und das „Traummotiv“, die durch ihre Leistung im Kontext King zu einem solchen Appell legitimieren und zugleich als motivierende „Mittel der Verkündigung“ fungieren. Gerade in dieser Hinsicht zeigen sich erstaunliche Parallelen zwischen Kings Text und der Textsorte „prophetische Visionsschilderung“ im Alten Testament.
2. „Prophetische Visionsschilderungen“ im Alten Testament als Textsorte mit einer Funktion 51
2.1 Sprachliche Eigenarten der Gattung „prophetische Visionsschilderung“ Bei genauer Betrachtung derjenigen Texte, die als Exemplare der Gattung „prophetische Visionsschilderung“ in Frage kommen, lässt sich ein signifikanter, wiederer-
48
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Noch massiver begegnet dieses Motiv in Kings letzter Ansprache, vgl. King, Ich bin auf dem Gipfel des Berges gewesen, in: ders., Testament der Hoffnung, 107–117. Am Ende sagt er dort von sich: „Meine Augen haben die Herrlichkeit des kommenden Herrn gesehen“ (a.a.O., 117). „King bewirkt seinen Zauber durch seine Stimme und Metaphorik, nicht durch seine Argumentation“, urteilt Lischer, GlLern 5 (1990), 58. „Die Visionen und Bilder, die King in seiner Washingtoner Ansprache im Jahre 1963 verwendete, sollten die Hörer gerade nicht ‚einlullen‘, wie […] Malcolm X behauptete, sondern zu einem verstärkten Einsatz in der Emanzipationsbewegung mobilisieren. Kings Traum war ein ‚Traum nach vorwärts‘ [E. Bloch]“ (Grosse, Macht, 112). Das Folgende ist erheblich ausführlicher dargelegt bei Behrens, Prophetische Visionsschilderungen.
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Eine „prophetische Visionsschilderung“ im 20. Jahrhundert
kennbarer Aufbau unter Verwendung stets derselben sprachlichen Eigenarten feststellen. Ausgangspunkt ist hierbei die schon länger festgestellte52 grundsätzliche Zweiteilung einer Visionsschilderung in einen Visionsteil, der die Schilderung der Schau enthält, und einen Rede- oder Dialogteil, in dem die eigentliche Schilderung entweder durch ein Zwiegespräch zwischen dem Visionär und Gott oder seltener durch eine monologische Gottesrede fortgesetzt wird. Die gesamte Schilderung erfolgt immer aus der Perspektive der ersten Person Singular des berichtenden Propheten bzw. Visionärs. Das Gegenüber des Visionärs ist dabei immer Israels Gott Jahwe bzw. in späteren Texten ein Engel oder Bote Jahwes. Ferner lässt sich zeigen, dass der Visionsteil durchweg mit einer Thematisierung des Sehens mittels einer Form von ראהbeginnt. Dem entspricht, dass zu Beginn des Dialogteils immer die Wurzel אמרbegegnet, wobei zunächst nicht wichtig ist, wer an der entsprechenden Stelle redet; einmal beginnt der Visionär, dann wieder Jahwe das Gespräch. Diese Beobachtung ist signifikant: Die beiden hebräischen Wurzeln ראהund אמר prägen und strukturieren die Gattung. „Sehen“ und „Reden“ gehören in einer Visionsschilderung zusammen. Damit ist ein Signal an den Leser verbunden; nie besteht eine Visionsschilderung aus einer bloßen Bildwiedergabe, sondern immer folgt ein „Wortelement“, durch das angezeigt wird, dass das Bild über das bloße Gesehenwerden hinaus in die Wirklichkeit (auch und vor allem der Leser!) hinein eine Bedeutung hat. Dass dabei der Dialogteil tatsächlich stets als Fortführung des Visionsteils verstanden werden will, wird bereits auf der grammatischen Ebene dadurch verdeutlicht, dass die Form von אמרin aller Regel als ו-Imperfekt der 1. oder 3. Person Singular realisiert ist, wobei die Verbform in diesem Fall eine „nichtselbstgewichtige“, vielmehr „abhängige“, nämlich das Vorangegangene fortführende Handlung ausdrückt.53 Im Visionsteil schließt sich an die Thematisierung des Sehens zumeist die Schilderung der Schau in Form eines Nominalsatzes, der mit והנהeingeleitet wird, an.54 Dabei liegt in diesem Satztyp stets die Satzteilfolge „Subjekt“ – „Prädikat“ vor, die nach der Nominalsatzanalyse Diethelm Michels eine Hypotaxe ausdrückt.55 Auch die formalen Charakteristika des Dialogteils einer solchen Schilderung lassen sich klar beschreiben. Neben der charakteristischen Eröffnung dieses Teils mit אמרist auffällig, dass in allen Visionsschilderungen der erste Redebeitrag des Dialogteils entweder aus einer Frage oder einem Imperativ besteht. Diese Be52
53 54
55
Die Forschungsgeschichte zu den Visionsschilderungen kann hier nicht referiert werden. Die formgeschichtlich bisher weitestgehende Untersuchung stammt von Reimers, Formgeschichte; zu der angesprochenen Zweiteilung der Gattung vgl. Rendtorff, Das Alte Testament, 118–125. Vgl. Michel, Tempora. Dazu liegt eine Variante vor: In Am 9,1; Jes 6,1; 1Kön 22,17 und 19 sowie in Sach 3,1 folgt auf die obligatorische Form von ראהjeweils nicht והנה, sondern die Schilderung der Schau erfolgt mittels eines Nominalsatzes, der durch die nota accusativi את־eingeleitet und damit zum Objektsatz transformiert wird. Vgl. Michel, ZAH 7 (1994), 215–222, sowie Wagner, Sprechakte, 138-140.
„Prophetische Visionsschilderungen“ im Alten Testament als Textsorte mit einer Funktion
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obachtung gilt wieder völlig unabhängig davon, wer den Dialog eröffnet, der Prophet oder sein „himmlisches Gegenüber“. Hier kommt die linguistische Pragmatik in Form der Sprechhandlungstheorie ins Spiel: In beiden Fällen handelt es sich um appellative Redeformen; sowohl Fragen als auch Imperative können nicht einfach nur „zur Kenntnis“ genommen werden, sondern fordern den Angesprochenen zu einer Reaktion heraus. Im Sinne einer Klassifizierung der verschiedenen Sprechhandlungen nach Searle lassen sich Fragen und Imperative als „direktive“ Sprechakte bestimmen. Die Tatsache, dass ein direktiver Sprechakt zu den konstitutiven sprachlichen Eigenarten der Gattung „prophetische Visionsschilderung“ zählt, ist von Bedeutung für die Bestimmung der Funktion der Gattung insgesamt. Zu den sprachlichen Eigenarten des Dialogteils zählt außer der Verwendung von אמרund des direktiven Sprechaktes außerdem das Faktum, dass niemals der Prophet das letzte Wort hat. Der Dialogteil und damit eine prophetische Visionsschilderung insgesamt endet immer mit einem abschließenden Redebeitrag im Munde Jahwes bzw. seines Boten. In einer tabellarischen Übersicht können die signifikanten sprachlichen Eigenarten Gattung „prophetische Visionsschilderung“ zusammenfassend dargestellt werden.56
56
Alle Visionsschilderungen im AT lassen sich wie die beiden Beispiele in der folgenden Tabelle analysieren.
294
Eine „prophetische Visionsschilderung“ im 20. Jahrhundert
Am 7,1–3: Der Heuschreckenschwarm
Sach 1,8–15: Das Land ist ruhig
1. Visionsteil – Eröffnung mit einer Form von ראה: V. 1aα „ כה הראני אדני יהוהSo ließ mich mein Herr Jahwe sehen …“ – Beginn der Schilderung der Schau mit einem durch והנהeingeleiteten Nominalsatz: V. 1aβ …„ והנה יוצר גביund siehe: einer bildete einen Heuschreckenschwarm …“ 2. Dialogteil – Beginn mit einer Form von אמר: V. 2ab ואמר: „Da sprach ich …“ – Erster Redebeitrag direktiver Sprachakt in Form eines Imperativs: V. 2aβ אדני „ יהוה סלח־נאMein Herr Jahwe vergib doch! – Abschlussformulierung im Munde Jahwes: V. 3 נחם יהוה על־זאת לא תהיה אמר „ יהוהJahwe erbarmte sich hierüber. ‚Es soll nicht geschehen‘, spricht Jahwe“.
1. Visionsteil – Eröffnung mit einer Form von ראה: V. 8 „ ראיתי הלילIch sah bei Nacht …“ – Beginn der Schilderung der Schau mit einem durch והנהeingeleiteten Nominalsatz: V. 8 …„ והנה־אישׁ רכב על־סוס אדם und siehe: [da war] ein Mann, der ritt auf einem roten Pferd …“ 2. Dialogteil – Beginn mit einer Form von אמר: V. 9 ואמר: „Da sprach ich …“ – Erster Redebeitrag direktiver Sprechakt in Form einer Frage: V. 9 מה־אלה אדני „…was bedeuten diese, mein Herr?“ – Abschlussformulierung des Deuteengels: V. 14f. „Und der Engel, der mit mir redet, sprach zu mir: Verkünde: So spricht Jahwe Zebaoth …“
Diese sprachlichen Eigenarten prophetischer Visionsschilderungen sind so viele, dass ihr gemeinsames Vorkommen sich nicht bloß einem Zufall verdankt, sondern tatsächlich auf die „gemeinsame Formensprache“ (Gunkel) einer Gattung hinweist. Damit sind die konstitutiven sprachlichen Eigenarten beschrieben. Diejenigen Texte, die diese Eigenarten aufweisen, lassen sich als Exemplare der Gattung „prophetischen Visionsschilderung“ bestimmen.57
2.2 Die Funktion der Gattung „prophetische Visionsschilderung“ Im Zusammenhang mit der Betrachtung der Rede Martin Luther Kings soll hier vor allem nach der kommunikativen Leistung, nach der Funktion dieser prophetischen Textsorte gefragt werden. Es ergeben sich diesbezüglich erstaunliche Parallelen mit „I have a dream“.
57
Es liegen knapp 30 Exemplare davon im AT vor: Am 7,1–3; 7,4–6; 7,7–8; 8,1–2; 9,1-4; Jer 1,11– 12; 1,13–14; 24,1–10; Jes 6,1–11; 1Kön 22,17; 22,19–22; Ez 1,1– 2,8; 2,9–- 3,9; 8–11*; 37,1– 14; 43,1–9; Sach 1,7–15; 2,1–4; 2,5–9; 3,1–10; 4,1–6a.10b–14; 5,1–4; 5,5–11; 6,1-8; Dan 8,3– 14; 10,5–14 und 12,5–7.
„Prophetische Visionsschilderungen“ im Alten Testament als Textsorte mit einer Funktion
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2.2.1 Die Gattung als Mittel appellativer Verkündigung Bei der Bestimmung der Intention und Funktion der Gattung kann von den Erkenntnissen zu den einzelnen sprachlichen Eigenarten ausgegangen werden; denn aus dem Zusammenspiel dieser einzelnen Bausteine ist Aufschluss über die Funktion des Textganzen zu erwarten. Wilhelm Köller hat das Zusammenwirken einzelner sprachlicher oder grammatischer Zeichen zu einem Textganzen sehr treffend mit den Beziehungen einzelner Teile eines Bildes zueinander verglichen: „Ebenso wie der Maler dem Bilde dadurch eine größere innere Autonomie geben kann, daß er die Korrelation zwischen den einzelnen Bildelementen und die Korrelation zwischen den Bildelementen und den möglichen Betrachtern fest vorstrukturiert, so kann auch ein Sprachproduzent seinen Äußerungen dadurch eine größere innere Autonomie geben, daß er Korrelationsverhältnisse fest vorstrukturiert, […] Auf der Ebene des Textes kann er durch grammatische und stilistische Mittel Äußerungen so eindeutig als Textsorten kennzeichnen, daß sie auf eine ganz bestimmte Weise rezipiert werden können oder müssen.“58 Durch welche „grammatischen und stilistischen Mittel“ prophetische Visionsschilderungen „eindeutig als Textsorte gekennzeichnet“ sind, ist im letzten Abschnitt nachgezeichnet worden. Jetzt muss es also darum gehen, wie das „Korrelationsverhältnis“ dieser Mittel zueinander ist und wie dementsprechend die Rezeption des Lesers vorstrukturiert ist (gerade das ist dann die Funktion der Gattung!). Als konstitutives Element des Visionsteils hatte sich ein durch והנהeingeleiteter Nominalsatz erwiesen, der auf das einleitende ראהfolgt. Bei dieser grammatischen Konstruktion handelt es sich um den im Biblischen Hebräisch auch sonst begegnenden Typ des „Überraschungssatzes“ („surprise clause“), dessen Funktion es ist, den Leser nachdrücklich auf das Vorhandensein eines Sachverhaltes aufmerksam zu machen.59 Diese Appellfunktion des Überraschungssatzes zum Beginn des Visionsteiles korrespondiert überdeutlich mit dem ersten Redebeitrag des Dialogteils, der ja stets ein direktiver Sprechakt ist und als solcher ebenfalls einen appellativen Charakter hat. In der Korrespondenz dieser beiden appellativen Redeformen besteht eben eine solche Korrelation, von der Köller sagte, dass sie die Rezeption des Textes durch den Leser vorstrukturiert. Der Appell kommt, unabhängig davon, was sich zwischen den „Aktanten“ innerhalb des Textes (Visionär und Jahwe) abspielt, beim Leser an. Prophetische Visionsschilderungen sind ein Mittel appellativer Verkündigung! Diese Textsorte richtet sich mit ganz bestimmten Absichten an die Leser oder Hörer („Empfänger“), obwohl ein vermeintlich „intimes“ Geschehen zwischen Gott und Prophet geschildert wird.
58 59
Köller, Philosophie, 159. Hervorhebungen so im Original. Vgl. Andersen, Sentence, 94–96 und Müller, ZAH 2 (1989), 45–76.
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Eine „prophetische Visionsschilderung“ im 20. Jahrhundert
2.2.2 Die legitimatorische Funktion der Gattung Das wichtigste sprachliche Mittel, mit der eine Legitimation durch die Gattung angestrebt werden soll60, ist eben die Perspektive der 1. Person Singular, unter der die ganze Schilderung von der einleitenden Form von ראהher steht. „Das, was jetzt kommt, habe ich tatsächlich gesehen“, könnte man die diesbezügliche Leistung dieser sprachlichen Eigenart paraphrasieren. Dabei ist stets Gott als Auslöser des zu sehenden Bildes gedacht. Die für visionäre Zusammenhänge eigentümliche Hiphilform „Er ließ mich sehen“ (vgl. z.B. Am 7,1.4.7; 8,1; Jer 24,2, Sach 3,1) macht dies besonders deutlich, aber auch sonst ist Israels Gott Jahwe der Urheber der Vision, wie aus Inhalt und Kontext hervorgeht. Die Eröffnung des Textes in der ersten Person beinhaltet ein Angebot an den Leser, sich die Perspektive des Visionärs zueigen zu machen und als glaubwürdig anzusehen. Dies geschieht spätestens dann, wenn der Leser die Relevanz des Inhalts der gesamten Vision (inklusive des Redeteils) für sich anerkennt, aber schon von der Eröffnung her ist die Rezeption in Richtung einer solchen Anerkenntnis vorstrukturiert. Die prophetische Verkündigung des Alten Testaments beinhaltet auch da, wo sie auf die religiöse Tradition rekurriert oder konventionelle Sprachformen verwendet, radikal Neues, das ins Leben der Zuhörer hineinspricht und neue Denk- und Handlungsmöglichkeiten herausfordert. Amos musste seinen Zeitgenossen angesichts politisch ruhiger und wirtschaftlich prosperierender Zeiten doch das Kommen des „Endes“ in einem umfassenden Sinne ansagen. Er ist damit, soweit wir sehen, der Erste, spricht also eine nie dagewesene Ungeheuerlichkeit aus. Sacharja dagegen kann angesichts der offensichtlich trost-, ja hoffnungslosen Situation der Nachexilszeit den Wiederaufbau des Tempels, ein Jerusalem ohne äußerliche Begrenzungen und das Walten des Geistes Jahwes sogar in Babylon ankündigen. Das alles versteht sich nicht von selbst. Solche radikal neue Verkündigung muss glaubhaft und legitim geschehen. Es muss vermittelbar sein und vermittelt werden, dass die Verkündigung nichts vom Propheten selbst Erdachtes ist, sondern auf wirklichen Einsichten in den Willen Gottes beruht. Hier ist darauf aufmerksam zu machen, dass die Vermittlung der Grundaussage, „das hat mir Gott gezeigt“ durch die verwendeten und bereits besprochenen sprachlichen Mittel unterstrichen wird. Anders ausgedrückt: Auch die „Rezeption“ der Tatsache, dass die Verkündigung einer Visionsschilderung legitim geschieht, wird durch die sprachlichen Eigenarten als den „grammatischen Zeichen“ der Textsorte „vorstrukturiert“; die einzelnen Formelemente unterstützen diese Einsicht beim Leser. Das Gemeinte soll an der Eröffnung der Schilderung der Schau in der Form ראה+ והנה+ Nominalsatz verdeutlicht werden. In dem eben umrissenen Prozess der Legitimation der prophetischen Botschaft, liegt manches daran, dass der Prophet nichts selbst Erdachtes, ja nicht einmal „Erdenkbares“ verkündet, sondern 60
Vgl. zu dieser weit verbreiteten Ansicht der alttestamentlichen Exegese z.B. Kaiser, Einleitung, 213f.
Martin Luther Kings „I have a dream“ als moderne „Visionsschilderung“
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etwas Fremdes, das auch ihn selbst von außen, von Gott erreicht hat. Über dieses Fremde ist der Berichterstatter zunächst selber erstaunt. Der Vorgang des Staunens ist zuerst immer ein nonverbales Geschehen. Nun hat aber das Hebräische in Form des „Überraschungssatzes“ ein Mittel gefunden, um das Erstaunen in Texten sozusagen „sichtbar“ zu machen und zu kommunizieren. Der Aufmerksamkeitserreger הנהmacht nachdrücklich auf das Vorhandensein von etwas aufmerksam, „was mit den Merkmalen des eigenen Daseins nicht übereinstimmt“61. Da, wo mit diesem sprachlichen Mittel die Verwunderung des Visionärs gelingend an den Leser/Hörer vermittelt wird, findet Übereinstimmung statt, und die Sprachform leistet Vermittlung von Legitimität. Das heißt dann aber, dass schon die sprachliche Form die Glaubwürdigkeit der mit der Gattung vermittelten Inhalte katalysiert. Es lässt sich zeigen, dass sich die kommunikative Leistung der Textsorte „prophetische Visionsschilderung“ und ihrer sprachlichen Mittel eng mit Luther Kings „Dream“ berührt.
3. Martin Luther Kings „I have a dream“ als moderne „Visionsschilderung“ Zunächst ist noch einmal festzuhalten, dass Kings Text nicht insgesamt in wörtlicher Aufnahme oder bewusster formaler Nachahmung der Form alttestamentlicher Visionsschilderungen gestaltet ist. Aber die Anlehnung Kings an prophetische Sprachformen, die er intuitiv auf dem Hintergrund seiner Bibelkenntnis vollzogen haben dürfte, ist so deutlich, dass eine Vergleichbarkeit gegeben ist. Die Subsumierung von Kings Zukunftsvision unter der Überschrift „ich habe einen Traum“ entspricht funktional genau dem „Ich sah“ ( ראהin der Perspektive der 1. Sg.) der prophetischen Visionsschilderungen. Der „Traum“ verweist wie das „Gesehenhaben“ auf den Widerfahrnischarakter der zu vermittelnden Einsichten und hat somit legitimierende Funktion. Auffällig ist, dass King in seiner Rede nur im Abschnitt V („I have dream“) so stark die Perspektive der 1. Pers. Sg. betont. Durch die Schilderung der „geträumten“ Bilder wird den Hörern das Angebot gemacht, sich diese Perspektive zueigen zu machen. Wenn sie die Bilder auch sehen, erweisen sich diese als legitimiert und motivierend zugleich.62 Ein zweites Element, das Kings Rede mit den prophetischen Visionsschilderungen verbindet, ist die biblische Bildersprache. Wie die „Nachtgesichte“ Sacharjas mit ihren Bildern eines „neuen Jerusalems“ zum Engagement für ein neues nachexilisches Gemeinwesen auffordern, dienen auch die biblischen Bilder Kings der Legitimation und der appellativen Vermittlung der Botschaft vom nötigen Einsatz für eine bessere, gerechtere amerikanische Gesellschaft. Dass es sich dabei um 61 62
Müller, ZAH 2 (1989), 75. Hervorhebung so im Original. Analoges findet sich im Amosbuch. Der Prophet spricht nur im Visionszyklus (Am 7–9) von sich in erster Person Sg. Auch dort sollen die Hörer zum Einnehmen der Perspektive des Propheten ermutigt werden, damit die vermittelten Inhalte nachvollziehbar sind.
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Eine „prophetische Visionsschilderung“ im 20. Jahrhundert
eine biblische Metaphorik handelt, transzendiert die eigentlich säkularen Inhalte und stellt eine zusätzliche Legitimation dar. Schließlich findet sich in Kings Rede wie in den prophetischen Visionsschilderungen des AT an zentraler Stelle ein direktiver Sprechakt mit appellativer kommunikativer Leistung. Die Abschnitte IV („Go back to…“) und VII („Let freedom ring…“), in denen eben nicht zufällig Imperative die zentralen sprachlichen Mittel darstellen, bringen den appellativen Charakter der gesamten Rede zum Ausdruck. Trotz des eigentlich säkularen Anlasses: In der Anlehnung an die Funktion der sprachlichen Mittel der prophetischen Visionsschilderungen erweist sich Kings Rede von 1963 als in der impliziten und expliziten Berufung auf biblische Metaphorik legitimierte und appellativ-motivierende „Verkündigung“. Martin Luther Kings „I have a dream“ kann als neuzeitliche prophetische Visionsschilderung bezeichnet werden!
4. Eine Nachbemerkung Der Aufweis der Verwendung einer „biblischen Sprachform“ mit einer legitimierenden Funktion im Kommunikationsgeschehen ist noch nicht der Beleg dafür, dass auch die damit vermittelten Inhalte als automatisch „legitim“ zu betrachten sind. Daher soll abschließend die kritische theologische Auseinandersetzung mit einigen inhaltlichen Aspekten der „Vision“ Kings gewagt werden. Eine solche Auseinandersetzung hat immer die kontextuelle und zeitgeschichtliche Bedingtheit der Äußerungen Kings mitzubedenken. Eine sozusagen „theoretische“ theologische Kritik, die gleichsam als systematische „Bewertung“ die praktischen Implikationen und Umstände von Kings „Traum“ außer Acht ließe, stünde in der Gefahr, zynisch zu erscheinen.63 „Ungerechtigkeit“ und „Rassismus“ waren für King und seine Zuhörer keine theoretischen Begriffe, sondern tägliche Erfahrung.64 Bedenkt man dies, dann ist eine theologische Auseinandersetzung mit Kings Rede dennoch notwendig. Zum einen aufgrund der in Kings Metaphern und Sprachformen enthaltenen theologischen Implikationen, und zum anderen auch um der großen Wirkungsgeschichte der Rede willen, in deren Verlauf Kings Äußerungen in ganz anderen gesellschaftlichen, kirchlichen und theologischen Kontexten aufgegriffen und appliziert worden sind. Schließlich vollzieht sich eine kritische Auseinandersetzung auch als gemeinsames theologisches Ringen um die Wahrheit. Ein problematischer Aspekt von Kings Rede zeigt sich an einem theologischen „Spitzensatz“ des Textes: „Macht weiter und vertraut darauf, dass unverdientes
63
64
Vgl. Gollwitzer, EvTh 34 (1974), 57f.: „Zu nahe liegt die Gefahr, es könnte aus der Anfrage ein Thema bloß theoretischer Diskussion pensionsberechtigter Universitätsbeamter im weißen Besitzgetto gemacht werden und es könnten Einwände die Funktion der Absicherung gegen die Anklage haben“. Sie sind es für viele Afroamerikaner immer noch; vgl. Grosse, PTh 78 (1989), 73f.
Eine Nachbemerkung
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Leiden erlösende Qualität hat“65, heißt es im zentralen Abschnitt IV. Während der Begriff „Gerechtigkeit“ („justice“) in Kings Rede ausschließlich immanent konnotiert ist, hat die hier erwähnte „Erlösung“ („redemption“) zweifelsohne einen religiös-transzendenten Charakter. Allerdings führt King dies hier nicht aus, wie sich der theologische Gehalt seiner Aussagen überhaupt auf Implikationen, Metaphern und Anspielungen beschränkt. Mit dem zitierten Satz ist nach evangelischem Verständnis der zentrale Topos des christlichen Glaubens berührt: Die Frage nach der Rechtfertigung. Von den zentralen Bestimmungen des Rechtfertigungsgeschehens nach CA IV, dass nämlich Rechtfertigung coram deo „gratis“, „propter Christum“ und „per fidem“ erfolgt66, findet sich bei King nichts. Er denkt vor allem an das konkrete Leiden seiner Zuhörer, von dem im unmittelbaren Kontext des Satzes die Rede war. So muss man die Aussage Kings vom erlösenden Charakter unverdienten Leidens in ihrem zeitgeschichtlichen Kontext als seelsorgerlichen Ausspruch verstehen. Problematisch wird dieser Satz vor allem im Laufe einer Wirkungsgeschichte, die den Ausspruch aus dem Zusammenhang der Emanzipation der Afroamerikaner löst und unverändert in einen anderen Kontext, z.B. nach Mitteleuropa, transportiert. So wird in der Darstellung H. W. Grosses „der Glaube an die erlösende Macht unverdienten Leidens“67 losgelöst von Kings Rede zu einem „Glaubensgut“ schlechthin. Noch deutlicher wird das Problem, wenn retrospektiv King als Person mit seinem Leiden in eine solche „Erlösungslehre“ eingezeichnet wird. So findet sich bei H.-J. Benedict die Aussage: „Er [King] beschwor die universale Kraft der Agape und starb für streikende schwarze Müllarbeiter. King lehrt uns damit:…“68 Die Formulierung „sterben für“ (woraus dann eine „Lehre“ folgt) macht aus King selbst einen „Erlöser“. Die mit dem Rekurs auf einen solchen „Erlöser“ beabsichtigte Motivation für gerechtes Handeln ließe sich aber durchaus auch dann erreichen, wenn an der „klassischen“ Rechtfertigungstheologie festgehalten würde.69 Kings Gebrauch theologischer Begrifflichkeit provoziert allerdings Missverständnisse: In gewisser Hinsicht hat seine Rede „Predigtcharakter“, ist aber zugleich innerhalb ihres „säkularen“ Kontextes lediglich implizit Verkündigung des Evangeliums und will primär zu gesellschaftspolitischem Engagement ermutigen. Einerseits ist King ganz verhaftet in seiner Herkunft aus der schwarzen baptisti65 66 67 68 69
King, Traum, 123. Vgl. BSLK, 56. Grosse, TRE 18, 196. Benedict, PTh 78 (1989), 81. Das Attentat auf King geschah im Zusammenhang mit einem Müllarbeiterstreik in Memphis. Darauf macht nachdrücklich aufmerksam: Bonhoeffer, Ethik, 152: „Das Vorletzte muß um des Letzten willen gewahrt bleiben. Eine willkürliche Zerstörung des Vorletzten tut dem Letzten ernstlich Eintrag. Wo also zum Beispiel ein menschliches Leben der Bedingungen, die zum Menschsein gehören, beraubt wird, dort wird die Rechtfertigung eines solchen Lebens durch Gnade und Glauben wenn auch nicht unmöglich gemacht, so doch ernstlich gehindert. […] Aus dieser Tatsache ergibt sich die Notwendigkeit, mit der Verkündigung des letzten Wortes Gottes, der Rechtfertigung des Sünders aus Gnaden allein, auch für das Vorletzte Sorge zu tragen, in dem Sinne, daß nicht das Letzte durch Zerstörung des Vorletzten verhindert werde“.
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Eine „prophetische Visionsschilderung“ im 20. Jahrhundert
schen Kirche und geprägt von seinem Dasein als Pastor, andererseits entwirft er die Utopie einer „beloved community“, in der es auf Unterschiede der Hautfarbe, der Konfession und der Religion nicht ankommen soll.70 Gleichzeitig ist die Berufung auf die biblisch-christliche Tradition (einschließlich Sprachformen der „prophetischen Visionsschilderungen“) Kings wichtigste Legitimation. Dies führt der Sache nach in ein Dilemma: Kirchliche Verkündigung einerseits und politische Gesellschaftsgestaltung andererseits werden in eine unklare Beziehung zueinander gesetzt. Warum z.B. soll in einer weltanschaulich pluralen modernen Gesellschaft die Benennung von sozialen Missständen deshalb an Gewicht gewinnen, weil sie mit einem Zitat aus dem Propheten Amos abgeschlossen wird? Oder warum soll der „Traum“ einer besseren Gesellschaft ohne religiöse Schranken mit einem Jesajazitat angemessen benannt sein? All dies ist natürlich möglich, nur scheint hier das Verhältnis von Glaube und Weltgestaltung ungeklärt zu sein. Insbesondere die evangelisch-lutherische Theologie hat versucht, diesem Dilemma mit Hilfe der sog. „Zwei-Reiche-Lehre“ oder „Zwei-Regimenten-Lehre“ zu begegnen.71 Dieses Theorem hat eine lange Problemgeschichte, insofern sich die lutherische Theologie mit seiner Hilfe ein eigentlich gebotenes Hineinreden in politische Zusammenhänge immer wieder erspart hat. Dennoch stellt dieses Denkmodell ein für die theologische Reflexion grundsätzlich hilfreiches Instrument dar. So sei im Sinne eines abusus non tollit usum im vorliegenden Zusammenhang an Eckwerte erinnert: Glaube und politisches Handeln gehören zwei zu unterscheidenden Bereichen an, die gleichwohl beide von Gott geordnet sind. In dem einen Bereich geht es vornehmlich um das Gottesverhältnis des Menschen, in dem anderen vornehmlich um das politisch-weltliche Handeln.72 Beide Bereiche können und dürfen für den glaubenden Menschen nicht strikt voneinander getrennt werden. Denn das Gottesverhältnis des Menschen muss in konkretem Handeln Gestalt gewinnen.73 Aber unterschieden werden muss hier schon, allein um der je grundlegenden Gewissheiten willen. So muss dem Glaubenden gewiss sein, dass er nur um Christi willen und durch den Glauben erlöst wird, und dass es dazu (in Überspitzung der Aussage Kings) nicht des eigenen unverdienten Leidens bedarf. Diese Gewissheit, die im einen „Reich“ zu erlangen ist, kann dann zum Handeln im anderen „Reich“ z.B. zum Auftreten gegen „Fürsten und Obrigkeit“ ermutigen.74 70 71
72
73 74
Vgl. King, Traum, 125, sowie Grosse, PTh 76 (1987), 193f. Vgl. zum Überblick den Abschnitt „Luthers politische Ethik“ bei Brecht, Martin Luther 2, 118– 122. Die „Zwei-Reiche-Lehre“ hat keinen eigenen locus im lutherischen Bekenntnis, der Sache nach ist sie aber eingeflossen, vgl. u.a. CA XVI (BSLK, 70f.) und CA XVIII (BSLK, 122). Dies bedeutet z.B., dass in einer überwiegend säkularen demokratischen Gesellschaft mit verfassungsmäßig garantierter Religionsfreiheit nicht ausschließlich sog. „christliche“ Werte die Maßstäbe politischen Handelns bilden können. Dies bedeutet, dass der christliche Glaube sich in den gesellschaftlichen Diskurs um eine Wertegewinnung und -begründung einbringen muss. Vgl. M. Luther, Von weltlicher Obrigkeit, wie weit man ihr Gehorsam schuldig sei. 1523, BoA 2, 360 –394.
Eine Nachbemerkung
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Es ist unbestritten, dass Martin Luther Kings klarer christlicher Glaube die Motivation seines politischen Handelns darstellt. Allerdings ist das Verhältnis von Glaube und Weltgestaltung in seiner Rede nicht als geklärt erkennbar. Dies wird auch noch an einem anderen Phänomen seiner Rede deutlich. So, wie King sich ganz selbstverständlich zur Motivation und Legitimation seines politischen Handelns auf die Bibel beruft, so in der gleiche Weise auf politische Grunddokumente der USA, wie die Emanzipationsproklamation, die Unabhängigkeitserklärung oder die Verfassung. Beide Traditionen haben die gleiche Dignität.75 Sein Traum ist „tief verwurzelt im amerikanischen Traum“76. „Für Schwarze hatten die Civil Religion und die christliche Lehre folgendes gemeinsam: beide waren sie ein Versprechen für etwas, das noch nicht zu sehen war. Anders als viele christliche Theologen kritisierte King nicht öffentlich die Civil Religion als eine Verwässerung der biblischen Lehre. Seine frühesten Predigten und Reden zeigen, dass er daran glaubte und sie brillant benutzte“.77 Das „perfekte Amerika“ ist am Ende mit dem „Reich Gottes“ identisch.78 Dies stellt natürlich nicht die Berechtigung von Kings Anliegen in Frage. Auch ist es durchaus legitim, dieses Anliegen im Horizont des biblischen Bildes von dieser Welt und den Menschen in ihr zu verfechten. Die Frage nach dem „gnädigen Gott“ schließt das Bemühen um eine gerechte Welt nicht aus, sondern ein!79 Nur lässt Kings Text und seine vor allem implizite Berufung auf die biblisch-christliche Tradition hier manches im Unklaren, vor allem aber das Verhältnis von Glaube und Weltgestaltung. Der Aufweis der Berührungen der Rede mit alttestamentlichen Sprachformen und die Charakterisierung als moderne „Visionsschilderung“ möchten einen Beitrag dazu leisten, dass dieser Text nicht nur als schmückende religiöse Lyrik, sondern mit seinen Leistungen und Problemen wahrgenommen wird.
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Vgl. Grosse, Macht, 116–122. King, Traum, 124. Der „amerikanische Traum“ ist hier nicht wirtschaftlich, sondern gesellschaftlich konnotiert. Es geht weniger darum, dass jeder „vom Tellerwäscher zum Millionär“ werden kann, als vielmehr, „daß alle Menschen gleich erschaffen sind“ (ebd.). Lischer, GlLern 5 (1990), 66. Hervorhebung so im Original. Vgl. King, Traum, 125: „Soll Amerika eine große Nation werden, dann muß dies wahr werden“. Zum aktuellen Diskurs um die civil religion in den USA vgl. U. Brunotte, God’s own country. Das moderne Amerika mit civil religion und altem puritanischem Erwählungstraum, Frankfurter Rundschau vom 10.3.2001. Nach dem 11. September 2001 ist wohl auch dieses Thema noch einmal ganz neu zu diskutieren. Dies gilt allerdings auch umgekehrt: Christlich motiviertes Engagement für diese Welt muss immer auf die Frage nach dem Gottesverhältnis (und damit eben auf die Rechtfertigung) bezogen bleiben.
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5. Anhang Martin Luther Kings Rede „I have a dream“, gehalten am 28. August 1963 während des „Marsches auf Washington“ vor dem Lincoln Memorial80 I am happy to join with you today in what will go down in history as the greatest demonstration for freedom in the history of our nation.
Ich freue mich, heute mit euch zusammen an einem Ereignis teilzunehmen, das als die größte Demonstration für die Freiheit in die Geschichte unserer Nation eingehen wird.
I. „One hundred years later …“ Fivescore years ago, a great American, in whose symbolic shadow we stand today, signed the Emancipation Proclamation. This momentous decree came as a great beacon light of hope to millions of Negro slaves who had been seared in the flames of withering injustice. It came as a joyous daybreak to end the long night of their captivity.
I. „Hundert Jahre später …“ Vor hundert Jahren unterzeichnete ein großer Amerikaner, in dessen symbolischen Schatten wir heute stehen, die Emanzipationsproklamation. Dieser bedeutsame Erlaß war ein großes Leuchtfeuer der Hoffnung für Millionen von Negersklaven, die von den Flammen vernichtender Ungerechtigkeit gebrandmarkt waren. Er kam wie ein freudiger Tagesanbruch nach der langen Nacht ihrer Gefangenschaft. Aber hundert Jahre später ist der Neger But one hundred years later, the Negro still immer noch nicht frei. Hundert Jahre später is not free; one hundred years later, the life ist das Leben des Negers immer noch verof the Negro is still sadly crippled by the krüppelt durch die Fesseln der Rassentrenmanacles of segregation and the chains of discrimination; one hundred years later, the nung und die Ketten der Diskriminierung. Hundert Jahre später lebt der Neger auf Negro lives on a lonely island of poverty in einer einsamen Insel der Armut inmitten the midst of a vast ocean of material prosperity; one hundred years later, the Negro is eines riesigen Ozeans materiellen Reichtums. Hundert Jahre später schmachtet der still languished in the corners of American society and finds himself in exile in his own Neger immer noch am Rande der amerikanischen Gesellschaft und befindet sich im land. eigenen Land im Exil. Deshalb sind wir heute hierher gekommen, So we've come here today to dramatize a um eine schändliche Situation zu dramatishameful condition. In a sense we've come sieren. In gewissem Sinne sind wir in die to our nation's capital to cash a check. Hauptstadt unseres Landes gekommen, um When the architects of our republic wrote einen Scheck einzulösen. Als die Architekthe magnificent words of our Constitution ten unserer Republik die großartigen Worte and the Declaration of Independence, they der Verfassung und der Unabhängigkeitserwere signing a promissory note to which klärung schrieben, unterzeichneten sie every American was to fall heir. This note was the promise that all men, yes, black men einen Schuldschein, zu dessen Einlösung alle Amerikaner berechtigt sein sollten. as well as white men, would be guaranteed 80
Gliederung und Überschriften von A. Behrens; der englische Text findet sich unter www.usconstitution.net/dream.html (28.8.2014); die Übersetzung stammt von H. W. Grosse.
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the unalienable rights of life, liberty, and the Dieser Schein enthielt das Versprechen, daß pursuit of happiness. allen Menschen – ja, schwarzen Menschen ebenso wie weißen – die unveräußerlichen Rechte auf Leben, Freiheit und den Anspruch Glück garantiert würden. It is obvious today that America has default- Es ist heute offenbar, daß Amerika seinen ed on this promissory note in so far as her Verbindlichkeiten nicht nachgekommen ist, citizens of color are concerned. Instead of soweit es die schwarzen Bürger betrifft. Satt honoring this sacred obligation, America seine heiligen Verpflichtungen zu erfüllen, has given the Negro people a bad check; a hat Amerika den Negern einen Scheck check which has come back marked „insuf- gegeben, der mit dem Vermerk zurückgeficient funds.“ We refuse to believe that kommen ist: „Keine Deckung vorhanden“. bank of justice is bankrot. We refuse to Aber wir weigern uns zu glauben, daß die believe that there are insufficient funds in Bank der Gerechtigkeit bankrott ist. Wir the great vaults of opportunity of this nation. weigern uns zu glauben, daß es nicht genügend Gelder in den großen Stahlkammern der Gelegenheiten in diesem Land gibt. So […] sind wir gekommen, diesen Scheck einzulösen, einen Scheck, der uns auf Verlangen die Reichtümer der Freiheit und die Sicherheit der Gerechtigkeit geben wird. II. „Now is the time … “ And so we've come to this hallowed spot to remind America of the fierce urgency of now. This is no time to engage in the luxury of cooling off or to take the tranquilizing drug of gradualism. Now is the time to make real the promises of democracy; now is the time to rise from the dark and desolate valley of segregation to the sunlit path of racial justice; now is the time to lift our nation from the quicksands of racial injustice to the solid rock of brotherhood; now is the time to make justice a reality for all God's children. It would be fatal for the nation to overlook the urgency of the movement. This sweltering summer of the Negro's legitimate discontent will not pass until there is an invigorating autumn of freedom and equality.
II. „Jetzt ist es Zeit …“ Wir sind auch zu dieser würdigen Stätte gekommen, um Amerika an die grimmige Notwendigkeit des Jetzt zu erinnern. Jetzt ist nicht die Zeit, wo man sich den Luxus einer „Abkühlungsperiode“ leisten oder die Beruhigungsmittel langsamen, schrittweisen Fortschritts einnehmen kann. Jetzt ist es Zeit, die Versprechungen der Demokratie Wirklichkeit werden zu lassen. Jetzt ist es Zeit, aus dem dunklen und trostlosen Tal der Rassentrennung aufzubrechen und den hellen Weg der Gerechtigkeit für alle Rassen zu beschreiten. Jetzt ist es Zeit, unsere Nation aus dem Flugsand rassischer Ungerechtigkeit zu dem festen Felsen der Brüderlichkeit emporzuheben. Jetzt ist es Zeit, Gerechtigkeit für alle Kinder Gottes Wirklichkeit werden zu lassen. Es wäre verhängnisvoll für diese Nation, wenn sie nicht die Dringlichkeit der gegenwärtigen Lage wahrnehmen würde. Dieser heiße Sommer berechtigter Unzufriedenheit des Negers wird nicht zu Ende gehen, solange nicht ein
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belebender Herbst der Freiheit und Gerechtigkeit begonnen hat. Nineteen sixty-three is not an end, but a 1963 ist kein Ende, sondern ein Anfang. beginning. And those who hope that the Wer hofft, der Neger werde jetzt zufrieden Negro needed to blow off steam and will now sein, nachdem er Dampf abgelassen hat, be content, will have a rude awakening if the wird ein böses Erwachen haben, wenn die nation returns to business as usual. Nation wieder weiter macht wie vorher. There will be neither rest nor tranquility in America until the Negro is granted his citizenship rights. The whirlwinds of revolt will continue to shake the foundations of our nation until the bright day of justice emerges. „Exkurs: Gewaltlosigkeit“ But there is something that I must say to my people who stand on the warm threshold which leads into the palace of justice. In the process of gaining our rightful place we must not be guilty of wrongful deeds Let us not seek to satisfy our thirst for freedom by drinking from the cup of bitterness and hatred. We must forever conduct our struggle on the high plane of dignity and discipline. We must not allow our creative protest to degenerate into physical violence. Again and again we must rise to the majestic heights of meeting physical force with soul force. The marvelous new militancy which has engulfed the Negro community must not lead us to distrust of all white people, for many of our white brothers, as evidenced by their presence here today, have come to realize that their destiny is tied up with our destiny and they have come to realize that their freedom is inextricably bound to our freedom. [This offense we share mounted to storm the battlements of injustice must be carried forth by a biracial army.] We cannot walk alone. And as we walk, we must make the pledge that we shall always march ahead. We cannot turn back.
Es wird weder Ruhe noch Rast in Amerika geben, bis dem Neger die vollen Bürgerrechte zugebilligt werden. Die Stürme des Aufruhrs werden weiterhin die Grundfesten unserer Nation erschüttern, bis der helle Tag der Gerechtigkeit anbricht.
Und das muß ich meinem Volk sagen, das an der abgenutzten Schwelle der Tür steht, die in den Palast der Gerechtigkeit führt: Während wir versuchen, unseren rechtmäßigen Platz zu gewinnen, dürfen wir uns keiner unrechten Handlung schuldig machen. Laßt uns nicht aus dem Kelch der Bitterkeit und des Hasses trinken, um unseren Durst nach Freiheit zu stillen. Wir müssen unseren Kampf stets auf der hohen Ebene der Würde und Disziplin führen. Wir dürfen unseren schöpferischen Protest nicht zu physischer Gewalt herabsinken lassen. Immer wieder müssen wir uns zu jener majestätischen Höhe erheben, auf der wir physischer Gewalt mit der Kraft der Seele entgegentreten. Der wunderbare, neue kämpferische Geist, der die Gemeinschaft der Neger erfaßt hat, darf uns nicht verleiten, allen Weißen zu mißtrauen. Denn viele unserer weißen Brüder – das beweist ihre Anwesenheit heute – sind zu der Einsicht gekommen, daß ihre Zukunft mit der unseren untrennbar verbunden ist. Sie sind zu der Einsicht gekommen, daß ihre Freiheit von unserer Freiheit nicht zu lösen ist. Wir können nicht allein marschieren. Und wenn wir marschieren, müssen wir uns verpflichten, stets weiter zu marschieren. Wir können nicht umkehren.
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III. „We can never be satisfied … “
III. „Wir können nicht zufriedengestellt sein …“ There are those who are asking the devotees Es gibt Leute, die fragen diejenigen, die sich of civil rights, „When will you be satisfied?“ der Sache der Bürgerrechte verpflichtet We can never be satisfied as long as the fühlen: „Wann werdet ihr endlich zufriedenNegro is the victim of the unspeakable gestellt sein?“ Wir können niemals zufriehorrors of police brutality. dengestellt sein, solange der Neger das Opfer der unaussprechlichen Schrecken polizeilicher Brutalität ist. We can never be satisfied as long as our bodies, heavy with fatigue of travel, cannot gain lodging in the motels of the highways and the hotels of the cities. We cannot be satisfied as long as the Negro's basic mobility is from a smaller ghetto to a larger one.
We can never be satisfied as long as our children are stripped of their selfhood and robbed of their dignity by signs stating „for whites only.“ We cannot be satisfied as long as a Negro in Mississippi cannot vote and a Negro in New York believes he has nothing for which to vote. No, we are not satisfied, and we will not be satisfied until justice rolls down like waters and righteousness like a mighty stream.
IV. „Go back to …“ I am not unmindful that some of you have come here out of excessive trials and tribulation. Some of you have come fresh from narrow jail cells. Some of you have come from areas where your quest for freedom left you battered by the storms of persecution and staggered by the winds of police brutality. You have been the veterans of creative suffering. Continue to work with the faith that unearned suffering is redemptive.
Wir können nicht zufriedengestellt sein, solange unsere müden Leiber nach langer Reise in den Motels an den Landstraßen und den Hotels der großen Städte keine Unterkunft finden. Wir können nicht zufriedengestellt sein, solange die Bewegungsfreiheit der Neger in erster Linie darin besteht, von einem kleinen Getto in ein größeres zu geraten. Wir können nicht zufriedengestellt sein, solange noch unsere Kinder ihrer Freiheit und Würde beraubt werden durch Zeichen, auf denen es heißt: „Nur für Weiße“. Wir können nicht zufriedengestellt sein, solange der Neger in Mississippi nicht das Stimmrecht hat und der Neger in New York niemand hat, den er wirklich wählen möchte. Nein, wir werden nicht zufriedengestellt sein, bis das Recht strömt wie Wasser und die Gerechtigkeit wie ein mächtiger Strom. IV. „Geht zurück nach …“ Ich weiß wohl, daß manche unter euch hierher gekommen sind aus großer Bedrängnis und Trübsal. Einige von euch sind direkt aus engen Gefängniszellen gekommen. Einige von euch sind aus Gegenden gekommen, wo ihr aufgrund eures Verlangens nach Freiheit mitgenommen und erschüttert wurdet von den Stürmen der Verfolgung und polizeilicher Brutalität. Ihr seid die Veteranen schöpferischen Leidens. Macht weiter und vertraut darauf, daß unverdientes Leiden erlösende Qualität hat.
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Go back to Mississippi; go back to Alabama; go back to Louisiana; go back to the slums and ghettos of the northern cities, knowing that somehow this situation can, and will be changed. Let us not wallow in the valley of despair.
V. „I have a dream … “ So I say to you, my friends, that even though we must face the difficulties of today and tomorrow, I still have a dream. It is a dream deeply rooted in the American dream that one day this nation will rise up and live out the true meaning of its creed - we hold these truths to be self-evident, that all men are created equal.
Geht zurück nach Mississippi, geht zurück nach Georgia, geht zurück nach Lousiana, geht zurück in die Slums und Gettos der Großstädte im Norden in dem Wissen, daß die jetzige Situation geändert werden kann und wird. Laßt uns nicht Gefallen finden am Tal der Verzweiflung.
V. „Ich habe einen Traum …“ Heute sage ich euch, meine Freunde, trotz der Schwierigkeiten von heute und morgen habe ich einen Traum. Es ist ein Traum, der tief verwurzelt ist im amerikanischen Traum. Ich habe einen Traum, daß eines Tages diese Nation sich erheben wird und der wahren Bedeutung ihres Credos gemäß leben wird: „Wir halten diese Wahrheit für selbstverständlich: daß alle Menschen gleich erschaffen sind.“ I have a dream that one day on the red hills Ich habe einen Traum, daß eines Tages auf of Georgia, sons of former slaves and sons of den roten Hügeln von Georgia die Söhne former slave-owners will be able to sit down früherer Sklaven und die Söhne früherer together at the table of brotherhood. Sklavenhalter miteinander am Tisch der Brüderlichkeit sitzen können. I have a dream that one day, even the state Ich habe einen Traum, daß sich eines Tages of Mississippi, a state sweltering with the selbst der Staat Mississippi, ein Staat, der in heat of injustice, sweltering with the heat of der Hitze der Ungerechtigkeit und Unteroppression, will be transformed into an oasis drückung verschmachtet, in eine Oase der of freedom and justice. Freiheit und Gerechtigkeit verwandelt. I have a dream my four little children will Ich habe einen Traum, daß meine vier one day live in a nation where they will not kleinen Kinder eines Tages in einer Nation be judged by the color of their skin but by leben werden, in der man sie nicht nach the content of their character. I have a ihrer Hautfarbe, sondern nach ihrem Chadream today! rakter beurteilen wird. Ich habe einen Traum heute! Ich habe einen Traum, daß eines Tages in […] Alabama mit seinen bösartigen Rassisten, mit seinem Gouverneur, von dessen Lippen Worte wie „Intervention“ und „Annullierung der Rassenintegration“ triefen…, daß eines Tages genau dort in Alabama kleine schwarze Jungen und Mädchen die Hände schütteln mit kleinen weißen Jungen und Mädchen als Brüdern und Schwestern. I have a dream that one day every valley Ich habe einen Traum, daß eines Tages jedes shall be exalted, every hill and mountain Tal erhöht und jeder Hügel und Berg ernied-
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shall be made low, the rough places shall be made plain, and the crooked places shall be made straight and the glory of the Lord will be revealed and all flesh shall see it together.
rigt wird. Die rauhen Orte werden geglättet und die unebenen Orte begradigt werden. Und die Herrlichkeit des Herrn wird offenbar werden, und alles Fleisch wird es sehen.
VI. „With this faith we will be able to … “
VI. „Mit diesem Glauben werden wir fähig sein …“
This is our hope. This is the faith that I go back to the South with. With this faith we will be able to hear out of the mountain of despair a stone of hope. With this faith we will be able to transform the jangling discords of our nation into a beautiful symphony of brotherhood.
Das ist unsere Hoffnung. Mit diesem Glauben kehre ich in den Süden zurück. Mit diesen Glauben werde ich fähig sein, aus dem Berg der Verzweiflung einen Stein der Hoffnung zu hauen. Mit diesem Glauben werden wir fähig sein, die schrillen Mißklänge in unserer Nation in eine wunderbare Symphonie der Brüderlichkeit zu verwandeln. Mit diesem Glauben werden wir fähig sein, With this faith we will be able to work tozusammen zu arbeiten, zusammen zu beten, gether, to pray together, to go to jail together, knowing that we will be free one day. This zusammen zu kämpfen, zusammen ins Gefängnis zu gehen, zusammen für die will be the day when all of God's children Freiheit aufzustehen, in dem Wissen, daß will be able to sing with new meaning-“my country 'tis of thee; sweet land of liberty; of wir eines Tages frei sein werden. Das wird thee I sing; land where my fathers died, land der Tag sein, an dem alle Kinder Gottes of the pilgrim's pride; from every mountain- diesem Lied eine neue Bedeutung geben können: „Mein Land von dir, du Land der side, let freedom ring“-and if America is to Freiheit singe ich. Land, wo meine Väter be a great nation, this must become true. starben, Stolz der Pilger, von allen Bergen laßt die Freiheit erschallen.“ Soll Amerika eine große Nation werden, dann muß dies wahr werden.
Let freedom ring from the curvaceous slopes of California.
VII. „Laßt die Freiheit erschallen …“ Laßt die Freiheit erschallen von den mächtigen Bergen New Yorks, laßt die Freiheit erschallen von den hohen Alleghenies in Pennsylvania. Laßt die Freiheit erschallen von den schneebedeckten Rocky Mountains in Colorado. Laßt die Freiheit erschallen von den geschwungenen Hängen Kaliforniens.
But not only that. Let freedom ring from the Stone Mountain
Aber nicht nur das, laßt die Freiheit erschallen von Georgias
VII. „Let freedom ring …“ Let freedom ring from the mighty mountains of New York. Let freedom ring from the heightening Alleghenies of Pennsylvania. Let freedom ring from the snow-capped Rockies of Colorado.
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of Georgia. Let freedom ring from Lookout Mountain of Tennessee. Let freedom ring from every hill and molehill of Mississippi, from every mountainside, let freedom ring.
Stone Montain. Laßt die Freiheit erschallen von Tennesees Lookout Mountain. Laßt die Freiheit erschallen von jedem Hügel und Maulwurfshügel in Mississippi, von jeder Erhebung laßt die Freiheit erschallen. And when we allow freedom to ring, when Wenn wir die Freiheit erschallen lassen we let it ring from every village and hamlet, wenn wir sie erschallen lassen von jeder from every state and city, we will be able to Stadt und jedem Weiler, von jedem Staat speed up that day when all of God's children und jeder Großstadt, dann werden wir den – black men and white men, Jews and Gen- Tag beschleunigen können, an dem alle tiles, Catholics and Protestants – will be able Kinder Gottes – schwarze und weiße Mento join hands and to sing in the words of the schen, Juden und Heiden, Protestanten und old Negro spiritual, „Free at last, free at last; Katholiken – sich die Hände reichen und die thank God Almighty, we are free at last.“ Worte des alten Negro Spiritual singen können: „Endlich frei! Endlich frei! Großer allmächtiger Gott, wir sind endlich frei!“
Das Paradies … … und was darüber (nicht) in der Bibel steht 1. Das Paradies ist biblisch, oder!? Über das Paradies gibt es eine ganze Reihe sehr unterschiedlicher Vorstellungen. Es ist für viele entweder ein Urlaubsort in der Südsee oder der Karibik, wo es nie regnet und man nicht arbeiten muss. Für andere ist es ein Synonym für das „Jenseits“, einen Ort, der in dieser Welt nicht mehr zu finden ist. Hier kommen vielleicht die Seelen der Menschen nach dem Tod hin und finden Frieden bei Gott. So gesehen, sollte vom Paradies auf dem Friedhof die Rede sein. Das Paradies scheint für die Lebenden in der Zukunft zu liegen. Andererseits erzählt aber die Bibel von einem Paradies ganz am Anfang, in dem die ersten Menschen zuhause waren. Schon das Wort „Paradies“ hat eine ziemliche Kraft, wenn man es einmal wirken lässt. Es löst in den Menschen eine große Fülle ganz unterschiedlicher Vorstellungen aus. Die können mal religiös konnotiert sein und dann wieder ganz weltlich den Traum von einer sorglosen Welt ausdrücken. Dabei gilt oft als selbstverständlich, dass die Bibel, besonders das Alte Testament, vom Paradies erzählt und die Quelle dieser Vorstellungen ist. Umso erstaunlicher ist es, dass das Wort Paradies in der Lutherbibel nur dreimal vorkommt, und zwar ausschließlich im Neuen Testament. Im ganzen Alten Testament fällt das Wort nicht, jedenfalls nicht im Hebräischen Text1 und in der Lutherübersetzung. In der antiken griechischen Übersetzung des AT, der sog. Septuaginta, findet sich der Begriff Paradies (gr. παράδεισος) immer dort, wo im Hebräischen vom Garten (Eden/Gottes) (hebr. )גןdie Rede ist. Der Begriff Paradies stammt demnach vermutlich aus dem Altiranischen und bezeichnet dort einen Garten oder Park. Der griechische Historiker Xenophon hat den Begriff ins Griechische übernommen und so ist er in die Septuaginta gelangt.2 Gärten sind nun allerdings im ganzen Alten Orient etwas Besonderes.3 In der Regel sind solche umzäunten und geschützten Parks nur etwas für Könige. Denn vor allem müssen sie ausreichend mit der äußerst wertvollen Ressource Wasser versorgt werden. Aus dem Reich der Assyrer im heutigen Irak liegen uns Abbildungen vor, die Wasserleitungen in solchen Gärten bezeugen. Solche Gärten stellen die Schwelle zwischen Wildnis und Kulturland da. In ihnen fanden sich üppige Vegetation und nicht selten auch wilde Tiere in Käfigen. Ein Ort des „Lustwandels“ und 1
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Nicht berücksichtigt werden hier die drei Vorkommen des persischen Lehnwortes פרדסin Pred 2,5; Hhld 4,13 und Neh 2,8, das einen Park, den Garten als erotische Metapher und einen Forst bezeichnet, aber von der LXX jedes Mal auch mit παράδεισος wiedergegeben wird. 4 Vgl. Waschke, RGG 6, 911–913 und Pfeiffer, Paradies/Paradieserzählung. Vgl. Krispenz, Garten, 175–179.
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Das Paradies …
der Entspannung. Die Geschichte eines solchen Gartens finden wir nun auch zu Beginn des Alten Testaments.
2. „Paradiesvorstellungen“ im Alten Testament Wer sich auf die Suche nach biblischen Paradiesvorstellungen macht, wird immer bei Gen 2–3 beginnen, jener Geschichte vom Garten Eden und dem Scheitern der ersten Menschen darin. Ich möchte die Geschichte hier noch einmal nacherzählen. Mögliche Stufen eines literarischen Wachstums lasse ich hier außer Acht. Diese „Tiefenbohrung“ muss anderswo geschehen.4 Gen 2,5–9 5
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Bevor alle Sträucher des Feldes auf der Erde waren und bevor alle Gräser des Feldes aufwuchsen – denn Jahwe Gott hatte es noch nicht auf die Erde regnen lassen und es gab noch keinen Menschen, um den Ackerboden zu bearbeiten – als [dann] ein Nebel von der Erde aufstieg und alle Früchte des Ackerbodens befeuchtete, da bildetet Jahwe Gott den Menschen aus Staub vom Ackerboden und blies in seine Nase Atem des Lebens. So wurde der Mensch ein lebendiges Wesen. Dann pflanzte Jahwe Gott einen Garten in Eden von Osten her und setzte dorthin den Menschen, den er gebildet hatte. Und Jahwe Gott lies vom Ackerboden alle Bäume aufwachsen, begehrenswert in ihrem Aussehen und gut zu essen; aber der Baum des Lebens stand mitten im Garten und der Baum der Erkenntnis von Gut und Böse.
Gott bildet den Menschen und pflanzt dann den Garten als Antwort auf ein „noch nicht“. Es gibt schon Ackerboden, aber niemanden, der ihn bebaut, und nichts, das darauf wächst. Dieser Garten ist der Spielraum für das kulturelle Schaffen des Menschen und er bietet an Früchten offenbar alles, was man zum Leben braucht. Die beiden Bäume inmitten des Gartens bleiben zunächst geheimnisvoll. Die folgenden Verse 10–14 behandeln die sog. „Paradiesströme“, vier Flüsse, von denen lediglich Euphrat und Tigris eindeutig identifizierbar sind. Die Namen Pischon und Gihon aber weisen viel weiter nach Süden (Ägypten? Jerusalem?). 4
Unstrittig ist, dass es innerhalb der Erzählung logische Brüche gibt – so z.B. die Frage nach dem Verhältnis des Baumes des Lebens zum Baum der Erkenntnis. Nicht eindeutig fällt allerdings die Antwort auf die Frage aus, ob es sich dabei um literarkritische Indizien oder um Hinweise auf disparate vorliterarische Stoffe handelt. Auch über Entstehungszeit von Gen 2f. finden sich unterschiedliche Urteile. Während man die Texte früher eindeutig einem vorpriesterschriftlichen „Jahwisten“ zuschrieb, wird heute zunehmend damit gerechnet, dass es sich bei der Erzählung vom Paradies und vom „Fall“ um spätere Ergänzungen zu P handelt, die nach dem Urteil „sehr gut“ in Gen 1 die offene Frage beantworten, wie das Böse in die Welt kam; vgl. Gertz (Hg.), Grundinformation, 260ff.; Pfeiffer, Paradies/Paradieserzählung oder Otto, Paradieserzählung.
„Paradiesvorstellungen“ im Alten Testament
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Klar wird: Der Garten Eden befindet sich in Zeit und Raum – aber wirklich finden kann man ihn nicht.5 Er ist das Ur-Land, das verlorenging. In diesen Garten setzt Gott den ersten Menschen, „um ihn zu bearbeiten und zu behüten“ (V. 15). In der Bibel ist das Paradies also kein Schlaraffenland oder Ort des Müßiggangs.6 Vielleicht ist aber genau das ein Teil eines ausgeglichenen Lebens, dass der Mensch einer sinnvollen Tätigkeit mit Erfolg nachgehen kann. „Der Mensch“ bleibt nicht allein. Gott „bildet“ für ihn die Tiere und „baut“ – so heißt es im hebräischen Text bei der Erschaffung der Frau – schließlich aus der Rippe Adams die Frau. Der Mann ist sozusagen „ausbaufähig“ und findet in Eva sein passendes Gegenüber. Dies scheinen demnach Kennzeichen eines „paradiesischen“ Lebens nach Gen 2 zu sein: – Der Mensch lebt mit anderen Menschen in Partnerschaft und gegenseitiger Ergänzung. – Sein Lebensraum, der „Garten“, ist der Ort einer sinnvollen und zielführenden Tätigkeit. – Auch die nichtmenschliche Welt, die Tiere, denen der Mensch Namen gibt, sind darin unkompliziert integriert. – Die Menschen leben in einer ungetrübten Beziehung zu Gott. Der letzte Aspekt kommt dadurch zum Ausdruck, dass Gott völlig direkt mit den Menschen kommuniziert und – wie ein orientalischer König – in der Abendkühle im Garten spazieren geht (Gen 3,8). Dazu gehört auch, dass den Menschen eine Grenze gesetzt ist: Von dem einen Baum inmitten des Gartens dürfen sie nicht essen. Vielleicht liegt der Grund für dieses Motiv darin, wie Dietrich Bonhoeffer einmal gesagt hat, dass die Freiheit des Menschen nur dann wirkliche Freiheit ist, wenn sie eine Grenze respektieren kann.7 Am Anfang der Bibel hat der Mensch diese Bewährungsprobe nicht bestanden. Er überschreitet die Grenze und verliert damit die Kennzeichen paradiesischen Lebens: Das Verhältnis der Menschen untereinander ist vom Streben nach Vormacht bestimmt, die Harmonie mit der Natur ist verloren, Arbeit ist oft geprägt von 5 6
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Treffend Waschke, RGG 6, 912: „…irgendwo innerhalb der Grenzen der damals bekannten Welt.“ Die ältere Forschung hielt die Notiz, der Mensch solle das Paradies „bebauen“ für einen sekundären Nachtrag; denn: „Zu seligem Genießen ist der Mensch im Paradies, nicht zum Arbeiten und Hüten“, urteilt etwa Karl Budde (zitiert bei Westermann, BKAT I/1, 300). Damit wird aber eine Paradiesvorstellung an den Text herangetragen und nicht aus diesem erhoben. „Woher weiß aber Budde, daß der Mensch zu ‚seligem Genießen‘ im Paradies sei“, fragt Westermann daher zurecht und kommt selbst zu dem Schluss: „Die Arbeit ist hier also als ein Wesensbestandteil des Menschseins angesehen“ (ebd.). „Dort wo die Grenze ist – der Baum der Erkenntnis –, dort ist nun auch der Baum des Lebens, d.h. der lebenspendende Gott selbst. Er ist die Grenze und Mitte unseres Daseins zugleich, das weiß Adam. Aber sein Wissen darum ist so geartet, daß es nur ein Ausdruck ist für sein Sein von der Mitte her, auf die Mitte hin, für sein Geschaffensein und für seine Freiheit“ (Bonhoeffer, Schöpfung und Fall, 81, Hervorhebung so im Original).
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Das Paradies …
der Last der Entfremdung oder der Sorge um den Arbeitsplatz und eine unmittelbare Gottesbeziehung besteht nicht mehr. Dies alles wird in den Strafsprüchen, die Gott nach dem „Fall“ über Adam, Eva und die Schlange spricht, ausgedrückt (vgl. Gen 3,14–19). Die sog. Paradieserzählung spiegelt die Gebrochenheit des menschlichen Lebens „jenseits von Eden“, eines Lebens, das von Krankheit, Tod, Streit und den Naturgewalten bedroht ist. Die Erzählung hält fest: So war es nicht gedacht! Erstaunlich selten nehmen andere Texte des Alten Testaments auf diese so eindrückliche Erzählung am Anfang der Bibel Bezug. Aber immer wieder scheinen die Kennzeichen paradiesischen Lebens als Sehnsucht auf. So findet sich beim Propheten Micha die Vorstellung, dass „am Ende der Tage“ (Mi 4,1) alle Völker nach Jerusalem wallfahrten und ihre „Schwerter zu Pflugscharen“ (V. 3) schmieden werden. Für den Israeliten ist das „Paradiesische“ in jenen Tagen: Mi 4,4: Und sie werden sitzen, ein jeder unter seinem Weinstock und unter seinem Feigenbaum und es wird kein Erschrecken geben; denn der Mund Jahwe Zebaoths hat’s geredet.
Das Leben ist sinnvoll, wenn man die Früchte seiner Arbeit in Ruhe (ohne Erschrecken) genießen kann. Gebratene Tauben müssen einem da gar nicht in den Mund fliegen.8 Beim Propheten Jesaja wird ausgedrückt, dass die künftige Heilszeit, die in Jes 11 durch den kommenden Messias anbrechen wird, auch Auswirkungen auf die Tiere haben wird: Jes 11,6–8: 6
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Dann wird der Wolf beim Lamm wohnen und der Leopard wird sich zum Böckchen legen; und das Kalb, der Junglöwe und das Mastvieh sind beieinander und ein kleiner Junge wird sie treiben. Kuh und Bär werden beieinander weiden, gemeinsam werden ihre Jungen daliegen; und der Löwe wird wie das Rind Heu fressen. Ein Säugling wird vor dem Loch der Otter spielen und zur Höhle der Viper wird der Entwöhnte seine Hände ausstrecken.
Die wilden und die Haustiere werden Frieden haben, aber auch Mensch und Tier untereinander.9 8 9
Hier sind die paradiesischen Verhältnisse durchaus immanent und geschichtlich fassbar gedacht; vgl. Wolff, BKAT XIV/4, 93f. und Jeremias, ATD 24/3, 174. Vgl. Kaiser, ATD 17, 245f.
„Paradiesvorstellungen“ im Alten Testament
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In Jesaja 65 wird schließlich noch einmal ein Gesamtbild von einer „paradiesischen“ Zukunft gemalt: Jes 65: 17
Denn siehe, ich schaffe einen neuen Himmel und eine neue Erde, und der vorherigen wird nicht mehr gedacht werden und man wird sie sich nicht mehr zu Herzen nehmen.
[…] 20 Dort soll es keine Kinder mehr geben, die nur wenige Tage alt werden, oder Alte, die ihre Tage nicht voll machen […] 21 Sie werden Häuser bauen und sie bewohnen und Weinberge anpflanzen und deren Früchte genießen. […] 24 Und es soll geschehen: Bevor sie rufen, werde ich antworten, während sie noch reden, werde ich sie schon hören. 25 Wolf und Lamm werden beieinander weiden, der Löwe wird wie das Rind Stroh fressen; aber die Schlange muss weiter Staub fressen. Weder Bosheit noch Zerstörung wird man tun auf meinem ganzen heiligen Berge, spricht Jahwe.
Hier sind die Kennzeichen „paradiesischen“ Lebens wieder benannt, nun allerdings im Hinblick auf eine künftige Neuschöpfung. Das, was einmal guter Ur-Zustand war, wird wieder kommen (und Jerusalem, Gottes Volk und sein heiliger Berg spielen dabei eine Rolle). Dann werden die Menschen ohne Sorgen (V. 20) und sinnvoll tätig sein (V. 21).10 Das Gottesverhältnis wird intakt sein (V. 24) und auch die Tiere sollen Frieden haben (V. 25)11. Allerdings mit einer Ausnahme: Der Fluch über die Schlange wird nicht zurückgenommen. Hier liegt ein deutlicher Bezug auf Gen 3,14 vor.12 Giftige oder betrügerische Schlangen werden das künftige Paradies nicht stören. Wichtig ist dabei der Begriff neu.13 Das Alte Testament rechnet mit der Möglichkeit, dass in der Geschichte wirklich Neues, nie Dagewesenes passiert. So sind der neue Himmel und die neue Erde nicht bloß eine Rückkehr in den Garten Eden. Vielmehr wird deutlich, dass dieses gebrochene Dasein nicht auf ewig so weitergehen muss. Gott handelt in der Geschichte zielgerichtet.14 Die Kennzeichen „paradiesischen“ Lebens sind dabei Motivation. Sie halten denen, die mit Gott auf dem 10
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„Diese Verse machen vollends deutlich, daß die hier gemeinte Heilszeit durchaus nicht jenseitig vorgestellt wird. Sie bleibt in den Grenzen geschichtlicher Existenz, zu der die Arbeit gehört“ (Westermann, ATD 19, 324). Vielleicht liegt in Jes 65,25 ein Zitat von Jes 11,6–8 vor; vgl. Westermann, ATD 19, 326. Evtl. handelt es sich hier um einen Nachtrag im Lichte von Gen 3,14, so schon Duhm, HK III/1, 481. Vgl. Westermann, ATD 19, 324, der darauf Wert legt, dass es um eine Erneuerung der Erde geht und nicht eigentlich um eine ganz neue Erde. Das kann wohl nicht sicher geklärt werden. Vgl. Michel, Geschichte und Zukunft.
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Das Paradies …
Weg sind, vor Augen: Es geht auch anders; wir brauchen uns nicht an den scheinbar ewigen Trott zu verlieren.
3. Über das Alte Testament hinaus Für die Bibel liegt der Schlüssel zum Paradies in der Heilung der gestörten Gottesbeziehung. Ein Paradies, das „nur“ aus einer sonnbeschienenen Karibikinsel besteht, ist dort nicht denkbar. Vielmehr hängen die Kennzeichen „paradiesischen“ Lebens alle an dem einen: Dem intakten Verhältnis des Menschen zu Gott. Im Neuen Testament und in der christlichen Theologie findet sich der Gedanke, dass Gott selbst in Jesus Christus Mensch wird, um die Trennung zu überwinden, die der Mensch nicht überbrücken kann – weil er nicht mehr weiß, wo „Eden“ liegt. In dem Moment, wo Gott Mensch wird, geht den Menschen das Paradies auf, wie es in einem Weihnachtslied heißt: „Heut schließt er wieder auf die Tür zum schönen Paradeis. Der Cherub steht nicht mehr dafür. Gott sei Lob Ehr und Preis.“ (EG 27,6)
Der, der an Weihnachten geboren wurde, sagt zu seinem Mitgekreuzigten: „Heute noch wirst Du mit mir ins Paradies eingehen“ (Lk 23,43). Auch für das Neue Testament stehen der neue Himmel und die Neue Erde noch in der Zukunft aus (vgl. Apk 21), aber im Angesicht des Todes hat das Warten ein Ende. Bis dahin aber erinnern die biblischen Kennzeichen „paradiesischen“ Lebens daran, dass das Leben aus einer Reihe von Brechungen und Spannungen besteht: Dem Leben steht der Tod gegenüber, der Liebe der Hass, der Freude an der Natur die Vernichtung der Umwelt, dem sinnvollen Gestalten die frustrierende Untätigkeit und dem ungetrübten Umgang mit Gott der Zweifel, ob Gott überhaupt ist. Zugleich wird deutlich: Damit braucht sich niemand abzufinden; denn so ist es nicht gedacht. Wir leben „jenseits von Eden“, aber mit dem Wissen um Eden. Das gibt Hoffnung und motiviert zu einem Einsatz für diese Welt selbst dann, wenn gewiss ist, dass ein „neuer Himmel und eine neue Erde“ letztlich nicht Ergebnis menschlicher Initiative, sondern des Neuschaffens Gottes sind.
Nachwort Von Werner Klän In einem Positionspapier aus dem Jahr 2010 hat die Fakultät der Lutherischen Theologischen Hochschule sich u. a. zu folgenden Grundsätzen bekannt: „Theologie und Glaube, Theologie und Kirche sind wechselseitig aufeinander bezogen. Eine grundlegende Trennung zwischen christlicher und theologischer Existenz, zwischen akademischer Theologie, Gottesdienst und geistlichem Leben halten wir für nicht zulässig. Gleichwohl befürworten wir ein kritisches Wechselverhältnis von Theologie und Kirche, in dem die Theologie fachkundig die biblische Grundlegung im Horizont der Kirchen- und dogmengeschichtlichen Entscheidung der zurückliegenden Jahrhunderte und einer rechenschaftsfähigen Gegenwartverantwortung allen kirchlichen Entscheidungen gegenüberstellt, andererseits die Kirche der Theologie die Frage nach der Förderlichkeit ihrer Einsichten für Gottesdienst, Verkündigung, Seelsorge in dieser Zeit und Welt nicht erspart.“ Auf diesem Hintergrund verstehen sich die folgenden Bemerkungen eines Systematikers; sie wollen, durchaus auch kritisch, das Gespräch mit dem Exegeten aufnehmen, das beiden Disziplinen im Rahmen eines „Gesamtkunstwerks“ lutherischer Theologie dringend nottut. Nach Luther und dem lutherischen Bekenntnis findet sich Gottes Wort in der Schrift, die in der Unterscheidung von Gesetz und Evangelium zu lesen ist. „Für Luther ist die Heilige Schrift (…) der Ort, ‚ubi Christus Christum purissime docet‘“1. Demnach ist auch für Luthers Schriftlehre der zentrale Bezug zu Christus kennzeichnend. Das macht zugleich ihre Einmaligkeit und Einzigartigkeit unter allen Büchern der Welt aus. Die Schrift als Gottes Gabe an die Menschheit, insonderheit aber an die Kirche, weist auf Christus als den Heiland der Welt. Christus ist demnach für Luther das Hauptwort, die Hauptsache, die Hauptperson in der Schrift, er ihr Inhalt, „das eigentliche Thema“. Die Heilige Schrift ist insofern kanonisch, d.h. richtungweisend und, bezogen auf Heil und Rettung des Menschen, suffizient, zureichend und genug. Festzuhalten ist die Einheit von Altem und Neuem Testament bei festgestellter innerer Differenziertheit. Die göttliche Rede in Gesetz und Evangelium2 durchzieht die gesamte Schrift, und ihre Unterscheidung bezieht sich darum – zumindest christlich-positionell3 – auf die Auslegung der ganzen Schrift; hier sind exegetische Ergebnisse ins Gespräch mit den anderen theologi1 2 3
Hermann Sasse, Sacra Scriptura. Studien zur Lehre von der Heiligen Schrift, hg. von F. W. Hopf, Erlangen 1981, 217. Vgl. Behrens, 117–142, hier 140–142 [alle Zitate von Behrens bziehen sich auf diesen Band]. Behrens, 63; 67; vgl. 77–79; 83f.; als Problemanzeige 113.
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schen Disziplinen zu bringen.4 Wegen der soteriologischen Vorordnung des Evangeliums als des „eigentlichen Werkes“ Gottes vor dem „fremden Werk“ Gottes muss das Evangelium auch in der Verkündigung der Kirche das letzte Wort haben. Eben so, in der Vorordnung des Evangeliums – oder, was dasselbe ist, dem Gefälle der Schrift hin zum Evangelium – wird die Einheit der Schrift gewahrt. Denn „als Gottes geschriebenes Wort [spiegelt sie] Gottes innerstes Herz“ wider, der in Gesetz und Evangelium zu uns redet; Er tötet und macht wieder lebendig; beide sind darum untrennbar, wohl aber unterscheidbar. Doch ohne den Geist bliebe Gottes Wort bloß äußerlich; verbunden mit dem Geist ist es der kommunikative (Selbst-)vollzug Gottes. Der Zusammenhang von Geist und Wort ist nur „dialektisch“ bestimmbar: Das Wort bringt den Geist, der sich des Wortes bedient, um sich mitzuteilen; hier könnte von einem „sakramentalen“ (d.h. Gnadenmittel-) Charakter des Wortes/Evangeliums gesprochen werden.5 Die Rede vom „testimonium Spiritus Sancti internum“, die Achim Behrens mehrfach anführt6, soll die Unabhängigkeit der Schriftautorität von der Autorität der Kirche sichern. Sie geht auf Johannes Calvin zurück (Institutio I 7) und hat in einige reformierte Bekenntnisse Aufnahme gefunden (Confessio Gallicana 4, 21, 36).7 Demnach „sind Wort und Geist in der Freiheit des Geistes wechselseitig fest aneinander verwiesen, fest miteinander verknüpft. Der Geist wehrt dem Mißverständnis des Evangeliums als manipulierbare Sache, das Wort wehrt gerade in der Kraft des Geistes einem spiritualistischen, subjektivistischen Geistverständnis.“8 In diesem Sinn ist sie von den Dogmatikern der lutherischen Orthodoxie seit Johann Gerhard rezipiert worden.9 Gerade für Gerhard und seine Mitgutachter im Rahtmannschen Streit ist aber darauf zu verweisen, dass sie das Wirken des Geistes nicht als neben und außerhalb des Wortes zusätzlich dem Leser bzw. Ausleger widerfahrende Größe verstanden, sondern als mit dem äußeren Wort selbst so zu einer Einheit verbunden, dass die „jnnerliche[n] Göttliche[n] Meynung (…) von der eusserlichen Stimm oder Buchstaben nicht gar kan geschieden werden“.10 Die 4
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Vgl. Behrens, 103; dies vermisse ich bei der exegetischen Feststellung, dass Gen. 1,1 – 2, 4a keine „creatio ex nihilo“ belege, Behrens, 228; hier wäre die Frage nach dem – m. E. legitimen – Sinn dieser schöpfungstheologischen Aussage zu verfolgen. Ähnlich Behrens, 243–245. Behrens, 80; 95; 97f. Vgl. Hans Helmut Eßer, Die Lehre vom „testimonium Spiritus Sancti internum“ bei Calvin innerhalb seiner Lehre von der Heiligen Schrift, in: Pannenberg/ Schneider (Hg.): Verbindliches Zeugnis II. Schriftauslegung – Lehramt – Rezeption, Freiburg i.Br./Göttingen 1995, 246–258. Eßer (wie Anm. 7), 258. Vgl. Reinhard Kirste, Das Zeugnis des Geistes und das Zeugnis der Schrift. Das testimonium spiritus sancti internum als hermeneutisch-polemischer Zentralbegriff bei Johann Gerhard in der Auseinandersetzung mit Robert Bellarmins Schriftverständnis. GTA 6, Göttingen 1976, bes. 203– 205. Bengt Hägglund, Die Theologie des Wortes bei Johann Gerhard, KuD 29 (1983), 272–283; Ernst Koch, Das konfessionelle Zeitalter – Katholizismus, Luthertum, Calvinismus (1630–1675) (KiE II/8), Leipzig 2000, 236–238.
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Professoren der frühen lutherischen Orthodoxie folgten damit Luthers Motiven von Schriftverständnis und Schriftauslegung, wie er sie seinen Studenten nahebrachte. Das Wort Gottes nämlich, so Oswald Bayer, tritt einen „kirchen- und weltgeschichtlichen Lauf“ an11 und bleibt darin nicht unangefochten und doch siegreich. Denn darin ist der Gott präsent, der sich unser annimmt und für uns sorgt, so dass wir in Gottes Wort „verfaßt“ sind12. Daran hat Gott der Heilige Geist sich souverän gebunden, nämlich an „die mündliche Rede und buchstabische Wort im Buch“ der Heiligen Schrift13. So werden wir in unserer Existenz ausgelegt14 und eben darin besteht die „eigentümliche Passivität der Glaubenserfahrung“15, die im Widerfahrnis des Christus pro me gipfelt: „das kommunikative Sein Jesu Christi selber, in dem der dreieine Gott sich mit der Taufe und dem Abendmahl sowie mit jeder taufund abendmahlsgemäßen Predigt in ‚leiblichem Wort‘ zuspricht und gibt“16, schafft ein „exzentrisches Sein“ des Christen, weil das Evangelium als das „zweite, entscheidende, endgültige Wort Gottes“ „für mich“ spricht17. Die Heilige Schrift gilt Luther eben als durch den Geist göttlich offenbart, er ist „autor huius libri“, ist es doch sein Amt, von Christus zu zeugen. In diesem Sinn wurde den „menschlichen Autoren“ nach der Verheißung Christi selbst „gegeben, was sie reden sollten“18, nämlich durch Gott den Heiligen Geist. Unbeschadet der unbestrittenen Identität der Heiligen Schrift als unverbrüchliches Gotteswort muss sie als „Menschenwort“ ganz ernst genommen werden.19 Unter Rückgriff auf Luther formuliert darum Hermann Sasse die These: „Weil die Schrift das Zeugnis von dem Christus Incarnatus ist, darum ist sie wahres Gotteswort in der Knechtsgestalt des wirklichen Menschenwortes.“20 Die biblischen Schriften sind darum „ohne Einschränkung auch als Werke der betreffenden Autoren im Sinne menschlicher Literaturgeschichte“ zu lesen.21 Sasse hält das chalcedonensische Modell der Zwei-Naturen-Lehre in der Christologie für übertragbar auf die Schriftlehre – er kann geradezu von einer „Parallele (…) zwischen dem geschriebenen und dem fleischgewordenen Wort“ sprechen, wonach „die wahre Göttlichkeit und die wahre Menschlichkeit der einen Heiligen Schrift behauptet werden muss“.22 Zugleich überträgt Sasse die Anschauung von der Enhypostasie der menschlichen in der göttlichen Natur Christi auch für die
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Oswald Bayer, Theologie (HST 1) Gütersloh 1994, 69. Bayer, Theologie (wie Anm. 11), 86. Zitiert bei Bayer, Theologie (wie Anm. 11), 83. Oswald Bayer, Martin Luthers Theologie, Tübingen 2003, ²2004, 62–67; so auch Behrens, 60. Bayer, Theologie (wie Anm. 11), 102. Bayer, Theologie (wie Anm. 11), 414. Bayer, Theologie (wie Anm. 11), 414; vgl. Behrens, 81f. Sasse, Sacra Scriptura (wie Anm. 1), 219. So auch Behrens, 81; 83; vgl. 149f. Sasse, Sacra Scriptura (wie Anm. 1), 231. Sasse, Sacra Scriptura (wie Anm. 1), 232. Sasse, Sacra Scriptura (wie Anm. 1), 223.
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Schriftlehre: „So und nicht anders ist die Heilige Schrift in erster Linie und wesentlich Gottes Wort. Das Menschenwort in der Bibel hat keine eigenständige Bedeutung.“23 Lutherische Hermeneutik muss also ihren Ausgang nehmen von dem unaufgebbaren Vorrang des Wortes Gottes vor allen menschlichen Voraussetzungen, vor allem menschlichen Bemühen, vor aller theologischen Forschung.24 Damit werden wissenschaftliche Forschung und Erkenntnisbemühung nicht entwertet, ihnen aber – in theologischer Absicht – ein Stellenwert zugewiesen, der sie dem Wort Gottes in der Schrift nachordnet. Dabei ist in Rechnung zu stellen, dass das Wort Gottes in Gestalt des biblischen Kanons erste und letzte Instanz für Lehre und Leben der Kirche ist.25 Dass die biblischen Texte dabei auch in ihrer Abständigkeit wahrgenommen werden müssen26 und dass sich innerbiblisch Polyvalenzen eines Textes und Reinterpretationen bestimmter Texte feststellen lassen, wird damit nicht geleugnet.27 Das Motiv einer – bereits innerbiblischen – „theologischen Reflexionsgeschichte“ scheint mir hilfreich zu sein.28 Nicht die Kirche bzw. die kirchliche Auslegung legitimiert die Schrift, sondern die Schrift autorisiert die Kirche und, was in der Kirche für deren Lehre und die Lebensvollzüge der Christen gilt. Denn die Heilige Schrift enthält alles, was zum Heil zu wissen den Menschen nötig ist. Vor allem deswegen richten sich christliche Glaubensaussagen, nicht zuletzt in Gestalt ihrer Bekenntnisse, am Maßstab der Heiligen Schrift aus. Dabei versteht sich das lutherische Bekenntnis immer als zugleich sachgemäße und zeitgemäße Auslegung der Heiligen Schrift, deren Urteil es jedenfalls unterworfen bleibt29; dass der Glaube schon alttestamentlich auf das Bekennen angelegt ist, lässt sich exegetisch durchaus zeigen.30 Eine grundlegende Trennung zwischen christlicher und theologischer Existenz, zwischen akademischer Theologie und Gottesdienst, wie sie seit der Aufklärung in weiten Bereichen der westlichen Theologie Verbreitung gefunden hat, ist – wie eingangs festgestellt – für bekenntnisgebundene lutherische Theologie nicht zulässig. Wer „historisch-kritische Exegese“ vorbehaltlos und wie selbstverständlich als
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Sasse, Sacra Scriptura (wie Anm. 1), 289. Dies scheint auch Behrens, 164 zu bestätigen. Dies ist die particula veri des „canonical approach“, den Behrens leider allzu forsch abweist, vgl. Behrens, 41f. Behrens, 73; 76; 265. Behrens, 53; 59; 158; er spricht gar von „einer reflektierten Veränderung des theologischen Gehalts alttestamentlicher Texte“, vgl. Behrens, 61; zu klären wäre, was der Begriff „Veränderung“ hier besagt; ob in solchem Zusammenhang formuliert werden sollte, dass etwa Paulus „keine Skrupel gegenüber einem historisch feststellbaren Sinn des zitierten Textes hat“, scheint mir freilich fragwürdig zu sein; vgl. Behrens, 109; etwas behutsamer sein Urteil, 179 und geradezu affirmativ zur kirchlichen Lesart, 193–195. Behrens, 144; 152f.; 165; vgl. die Durchführung am Beispiel von Jes 7, 155–165. Behrens, 89–99. Behrens, 199–220, bes. 202; 219f.; vgl. 223; 242.
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Standard theologischer Schriftauslegung postuliert31, sollte nicht vergessen, dass eben jene Trennung bei Johann Salomo Semler am Anfang historischer Kritik mitgesetzt ist.32 Er muss sich auch fragen lassen, was es bedeutet, wenn historischkritische Forschung methodisch und methodologisch als „streng immanente[n]“ alle „transempirischen Elemente“ des Glaubens ausschließe.33 Zumindest muss problematisiert werden, ob damit nicht ein „atheistischer Geschichtsbegriff für ‚natürlicher‘ erklärt [wird] als ein theistischer“.34 Bei einer prinzipiellen „Scheidung der historischen von der dogmatischen Wahrheit“35 wird ein neuer ‚garstiger Graben‘, der unterschiedliche ‚religiöse Kulturen‘ scheidet, ausgehoben. Freilich werden wir kaum darum herumkommen36, die ‚faktische Nichtuniversalität der beiden großen Kulturen des Westens, der Kultur des christlichen Glaubens wie derjenigen der säkularen Rationalität‘, zu respektieren.37 Wie beide Bereiche dennoch sachgemäß aufeinander zu beziehen sind, bleibt nachaufklärerischer Theologie noch zu beantworten. Wenn allerdings die Kirche als Interpretationsgemeinschaft – auch in ihrer konfessionellen Prägung – und der Leser/Ausleger in seiner – gewiss unleugbaren – Standortgebundenheit als entscheidende Rahmenbedingung für das Verstehen biblischer Texte angenommen werden38, wäre zu fragen, ob nicht auf diese Weise der Kirche bzw. dem einzelnen Ausleger ein zu großes Gewicht beigemessen wäre. Dies könnte, sicherlich gegen die Intention der gemeinten Hermeneutik, dazu führen, dass die Kirche die bestimmende Größe und die Wirkung des Wortes Gottes verdrängte, statt sich selbst als „creatura verbi“ zu begreifen. Andererseits versteht sich für die menschlichen Verstehensbedingungen nahezu von selbst, dass der Kontext, in dem ich als Ausleger lebe und lese, mein Verständnis des Textes mit beeinflusst.39 Gleichwohl darf für reformatorische Theologie – und für lutherische besonders – das Gefälle von Gottes schöpferischem Wort, das Glaube und Kirche 31 32
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Behrens, 156. Vgl. Andreas Lüder, Historie und Dogmatik. Ein Beitrag zur Genese und Entfaltung von Johann Salomo Semlers Verständnis des Alten Testaments. Beihefte zur Zeitschrift für die alttestamentliche Wissenschaft 233, Berlin/New York 1995; Gottfried Hornig, Johann Salomo Semler. Studien zu Leben und Werk des Hallenser Aufklärungstheologen. Hallesche Beiträge zur europäischen Aufklärung 2. Niemeyer, Tübingen 1996; Dirk Fleischer, Lebendige Geschichte: Hermann Samuel Reimarus und Johann Salomo Semler auf der Suche nach der biblischen Wahrheit. In: A. Beutel, V. Leppin, U. Sträter, M. Wriedt (Hg.), Aufgeklärtes Christentum. Beiträge zur Kirchen- und Theologiegeschichte des 18. Jahrhunderts. Leipzig 2010, 75–92. Ronald Deines, Der „historische“ und der „wirkliche“ Jesus. Die Herausforderung der Bibelwissenschaften durch Papst Benedikt XVI. und die dadurch hervorgerufenen Reaktionen, in: Ch. Raeder (Hg.): „Mitarbeiter der Wahrheit“. Christuszeugnis und Relativismuskritik bei Joseph Ratzinger/Benedikt XVI. aus evangelischer Sicht, Giessen-Basel; Göttingen 2013, 20–66, hier 53. Deines (wie Anm. 33), 55. Deines (wie Anm. 33), 56. Deines (wie Anm. 33), 61. Deines (wie Anm. 33), 61. Behrens, 70 u.ö. Behrens, 41–43.
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ins Dasein ruft und setzt, nicht verkehrt werden. So wird es gewiss keinen kontextlosen Zugang zum Verstehen der Heiligen Schrift geben, andererseits auch kein Lesen der Schrift ohne Auslegung und Anwendung. Von Martin Luther wäre eine „theologische Wissenschaft“ zu lernen, die Theologie ist „durch ihre Beziehung auf jene elementaren Sprachhandlungen, in denen Gesetz und Evangelium konkret – verpflichtend und befreiend – wirken; diese Beziehung wird in dem Bekenntnis wahrgenommen, von ihnen schlechthin abhängig zu sein, und in dem Willen, in ihnen tätig zu werden.“40 Diese an Martin Luther geschulte Theologie ist aber gottesdienstlich verankert, indem Christus hier sein Heilswerk austeilt, so dass wir Empfangende sind – in „Nachtmahl, Tauf und Wort“. Insofern „kommt ‚Theologie‘ vom Gottesdienst her und geht auf ihn hin“. Sie ist „Teilmoment des hörenden Glaubens“, der in der Einheit von oratio, meditatio, tentatio, „geregelt“ ist41. Gleichwohl ist ein kritisches Wechselverhältnis von Theologie – also auch Exegese – und Kirche zu befürworten, in dem die Theologie fachkundig die biblische Grundlegung im Horizont der Kirchen- und dogmengeschichtlichen Entscheidung der zurückliegenden Jahrhunderte und einer rechenschaftsfähigen Gegenwartverantwortung allen kirchlichen Entscheidungen gegenüberstellt, andererseits die Kirche der Theologie die Frage nach der Förderlichkeit ihrer Einsichten für Gottesdienst, Verkündigung, Seelsorge in dieser Zeit und Welt nicht erspart. Dabei ist in Rechnung zu stellen, dass theologische Einsichten schriftgemäß, sachgerecht und kunstfertig erarbeitet werden müssen. Für die Auslegung der Heiligen Schrift, die Behandlung der Kirchengeschichte, die systematische Rechenschaftslegung und das Bedenken der kirchlichen Handlungsfelder gilt jedenfalls, dass grammatische, rhetorische, hermeneutische, historische Zugangsweisen unabdingbar sind, wenn Ergebnisse erzielt werden sollen, die den Ansprüchen von Plausibilität und Kommunikabilität genügen. Seit jeher war und bleibt es der Kirche aufgetragen, den „gerechte[n] unwandelbare[n] Willen Gottes“42 für seine Welt und seine Menschen in der Anwendung auf die Verhältnisse dieser Zeit und Welt zur Geltung zu bringen. Das verpflichtet sie zu kritischer Zeitgenossenschaft. Zeitgenossenschaft ist ja auch der Kirche und ihren Mitgliedern unausweichlich43 und es ist nicht zu leugnen, dass sie beeinflusst, unvermerkt gesteuert von „Trends“ und Tendenzen in der Welt und Gesellschaft, die nicht nur „um sie herum“ sind, sondern in der sie selbst leben und die somit auch Auswirkungen in sie hinein haben. Und noch in der Abkehr von zeitgenössischen Entwicklungen, von denen die Kirche meint, nicht zustimmen zu können, erweist sie sich als zeitgenössisch. Die Frage bleibt freilich, welche „Relevanz“ solche Zeitgenossenschaft bzw. den in ihr vorhandenen „gesellschaftlichen Ent40 41 42 43
Bayer, Theologie (wie Anm. 11), 498. Bayer, Theologie (wie Anm. 11), 403. FC SD V 17, BSLK 957. Behrens, 279f.
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wicklung[en]“ für die theologische Urteilsbildung zukommt.44 Aber dies ist eine Aufgabenbeschreibung, der sich die Christenheit aller Zeiten stellen muss, durchaus auch in der Unterscheidung etwa zwischen „Glauben und politischem Handeln“45 und in Verantwortung für diese Welt, zugleich aber im Wissen darum, dass die neue Welt, auf die wir warten, Gottes Neuschöpfung ist46: „Es ist diese Gottesgewissheit als Zukunftsgewissheit, die von Gott alles Gute erwartet und also darauf setzt, dass jenseits allen Kampfes Gottes Frieden auf uns wartet“47; diese Hoffnung gilt auch für alle Auseinandersetzung um das angemessene Verstehen, Auslegen und Anwenden der Heiligen Schrift.
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Als Problemanzeige bei Behrens, 248; 276–280. Behrens, 300. Behrens, 314. Werner Klän, Gesetz – Evangelium – Freiheit. Ein Florilegium aus dem Bekenntnis der evangelisch-lutherischen Kirche, in: OUH 47 (2007), 43–62, hier 62.
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Theologische Reflexionsgeschichte. Schritte auf dem Weg zu einer Hermeneutik des Alten Testaments: W. Schillhahn/M. Schätzel (Hg.), Wortlaute, FS H. Günther, Groß Oesingen 2002, 111–133.
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Exegese des Alten Testaments als theologische Disziplin: LuThK 33 (2009), 195– 220
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Thesen zur biblischen Hermeneutik und Exegese im Kontext lutherischer Theologie: LuThK 33 (2009), 221–224.
6.
Aspekte des Schriftgebrauchs der Lutherischen Bekenntnisschriften. Anmerkungen zum Verhältnis von Bekenntnis und Exegese: LuThK 29 (2005), 107–121.
7.
Gen 15,6 und das Vorverständnis des Paulus: ZAW 109 (1997), 327–341.
8.
„Gesetz und Evangelium“ als Kategorie in der neueren Auslegung des Deuteronomiums. Eine Problemanzeige: LuThK 22 (1998), 1–31.
9.
„Das Wort des Herrn war selten in jenen Tagen, Offenbarung gab es nicht häufig“. Beobachtungen zu 1Sam 3: Bisher unveröffentlicht
10.
„Eine Jung(e)frau wird schwanger…“ Jes 7,14 und die Polyvalenz biblischer Texte: LuThK 37 (2013), 88–102.
11.
Habakuk 2,1–4 und die Treue zur Offenbarung: W. Klän/Ch. Barnbrock (Hg.), Gottes Wort in der Zeit: verstehen – verkündigen – verbreiten, FS V. Stolle, Münster 2005, 173–188.
12.
„Schaffe in mir, Gott, ein reines Herz!“ Beobachtungen zu Psalm 51: W. Klän/Ch. Barnbrock (Hg.), Heilvolle Wende, FS W. Rothfuchs, OUH.E 5, Göttingen 2010, 15–29.
13.
Bekennen im Alten Testament: LuThK 35 (2012), 3–31.
14.
„Am Anfang schuf Gott Himmel und Erde“. Grundlagen eines biblisch-theologischen Schöpfungsverständnisses aus der Perspektive lutherischer Theologie: LuThK 34 (2010), 251–284.
15.
Frauen und Männer im Alten Testament. Eine Skizze: LuThK 31 (2007), 61–104.
16.
Eine prophetische Visionsschilderung im 20. Jahrhundert. Martin Luther Kings „I have a dream“ in neuer formgeschichtlicher Perspektive: KuD 49 (2003), 109–135.
17.
Das Paradies… und was darüber (nicht) in der Bibel steht: Aufschlüsse Nr. 50 (Sept. 2013), 23–30.
Bibelstellenregister Altes Testament Gen 1–11 72 Gen 1–3 280 Gen 1 74, 224f., 227–229, 231–233, 239, 241, 251 Gen 1,1–2,4 224f., 250 Gen 1,4 228 Gen 1,7 228 Gen 1,9 228 Gen 1,11 228 Gen 1,14–18 238 Gen 1,16 228 Gen 1,21 228 Gen 1,26–28 225, 229, 235, 250, 280 Gen 1,26 69, 251f. Gen 1,27 231, 251–253, 256– 258 Gen 1,28 231, 251 Gen 1,31 254 Gen 2 74, 224, 227–229, 231–233, 241, 255, 276 Gen 2,4–3,24 250 Gen 2,4–25 224f., Gen 2,7 231, 254, 256 Gen 2,10–14 231 Gen 2,15 231 Gen 2,18–24 256 Gen 2,18 254, 280 Gen 2,19f. 254 Gen 2,19 231 Gen 2,20–24 276 Gen 2,21–24 254 Gen 2,23 255, 257 Gen 2,24 255–257, 276f. Gen 3 231, 256 Gen 3,6 69 Gen 3,8–19 257 Gen 3,16 254, 257f., 278, 280 Gen 3,22 69 Gen 4,7 257, 280 Gen 5 68 Gen 5,1–3 253 Gen 5,3 258
Gen 5,4 Gen 5,7 Gen 5,10 Gen 5,27 Gen 6 Gen 6,1–4 Gen 6,3 Gen 6,4 Gen 6,13 Gen 9,4–6 Gen 9,6 Gen 10 Gen 11 Gen 11,1–9 Gen 11,4 Gen 11,5–9 Gen 11,5 Gen 11,6 Gen 11,7 Gen 11,8 Gen 11,9 Gen 12–36 Gen 12,2 Gen 12,10–20 Gen 12,15 Gen 12,19 Gen 15,1–6 Gen 15,1–5 Gen 15,1 Gen 15,4 Gen 15,6 Gen 15,7–21 Gen 15,7 Gen 15,18 Gen 16,1f. Gen 16,2 Gen 17 Gen 17,10 Gen 19 Gen 19,4–8 Gen 19,5 Gen 19,8 Gen 20 Gen 20,6 Gen 20,7
68 68 68 69 66, 253 66, 68–70 69 69 29 258 253 74 66, 76 71, 75f. 73, 75f. 75 73 73 73, 75 73 75 200 76 266 267 267 106f. 107 148 148 16, 103–116, 179 106 106 260 260 262 259 261 268 267 267 267 267 267 36
Bibelstellenregister
Gen 20,12 Gn 22 Gen 24 Gen 24,15 Gen 24,43 Gen 26 Gen 28 Gen 28,1–9 Gen 28,1f. Gen 28,9 Gen 29,31–30,24 Gen 30,3 Gen 31 Gen 31,19 Gen 31,30 Gen 34,14 Gen 38 Gen 38,6–10 Gen 38,10 Gen 38,24 Gen 39,7–18 Ex 2,8 Ex 3 Ex 3,14 Ex 4,1 Ex 4,5 Ex 4,8 Ex 4,9 Ex 4,31 Ex 6,3 Ex 7,1 Ex 12,25–27 Ex 13,14–26 Ex 14 Ex 14,8 Ex 14,31 Ex 20 Ex 20,2 Ex 20,14 Ex 20,17 Ex 20,22–23,13 Ex 20,24 Ex 21–23 Ex 22,15 Ex 28,3 Ex 32,15f. Ex 32,19
267 60, 112 272 260 160 267 147 259 260 260 261 261, 262 252 252 252 259 263 263 264, 266, 277 266 274 160 147 207 108 108 108 108 108, 112 214 36 211 211 83 106 108, 112 216, 272 152, 238 270 272 50 51f. 29 160 37 172 172
341
Ex 32,32f. 187 Ex 34,1 172 Ex 34,4 172 Ex 34,28 172 Lev 14 189 Lev 18 267 Lev 18,1–18 259 Lev 18,8 271 Lev 18,5 110f., 179 Lev 18,7 259 Lev 18,8 259 Lev 18,9 259 Lev 18,19 271 Lev 20,10 271 Lev 21,7 269 Lev 21,14 269 Lev 22,13 269 Lev 25,25 265 Num 11,29 36 Num 12,6 36 Num 13,33 69 Num 14,11 108 Num 20,12 108 Num 30,10 269 Dtn 1,5 172, 175 Dtn 1,32 108 Dtn 4,2 121 Dtn 4,13 172 Dtn 4,29–31 138 Dtn 5,1 132, 204 Dtn 5,6–10 206 Dtn 5,6 206, 208, 210, 217 Dtn 5,7–10 206 Dtn 5,7–9 217 Dtn 5,7 208 Dtn 5,9 208 Dtn 5,15 270 Dtn 5,19 172 Dtn 5,21 272 Dtn 5,22–6,3 132 Dtn 6 118, 131f., 136f. Dtn 6,1–3 132 Dtn 6,3 204 Dtn 6,4–9 132, 134, 203f. Dtn 6,4 121–124, 130, 133, 135f., 203–205, 208, 210, 217 Dtn 6,5–9 204
342
Bibelstellenregister
Dtn 6,5 204f. Dtn 6,6–9 Dtn 6,6 Dtn 6,7 Dtn 6,8 Dtn 6,9 Dtn 6,10–15 Dtn 6,10–14 Dtn 6,16 Dtn 6,17–19 138 Dtn 6,17 Dtn 6,18 Dtn 6,20–25 Dtn 6,20–24 217 Dtn 6,20–23 Dtn 6,20 Dtn 6,21–24 Dtn 6,21–23 Dtn 6,24 Dtn 6,25 135f. Dtn 9,1–8 Dtn 9,1 Dtn 9,4–6 Dtn 9,4 Dtn 9,5 Dtn 9,6 Dtn 9,9–11 Dtn 9,17 Dtn 9,23 Dtn 10,1 Dtn 10,2f. Dtn 11,1 Dtn 11,22–25 Dtn 12–26 136, 206 Dtn 12 Dtn 12,13–20 Dtn 12,13 Dtn 12,14 Dtn 12,15 Dtn 12,21 Dtn 12,27 Dtn 13,2
124, 130, 133f., 138f., 133, 204 205 133, 211 204 205 134 132 132 123, 131f., 134–136, 134 134–136 122, 130, 133 124f., 132–135, 211, 122 124, 132f., 135, 217 211 124, 133, 217 122, 133, 217 107, 122f., 125, 131f., 123 132, 204 125, 136 123 123, 137 123, 131, 142 172 172 108 172 172 130 130 29, 50, 121f., 129, 50–52 50 51 51 50f. 50f. 51 36
Dtn 13,4 Dtn 13,6 Dtn 15,1–11 Dtn 15,4–6 Dtn 16,18–18,22 Dtn 16,18 Dtn 17,14–20 Dtn 17,17 Dtn 18,9–22 Dtn 18,15–21 Dtn 18,15 Dtn 18,18 Dtn 18,20 Dtn 18,22 Dtn 20,3 Dtn 21,14 Dtn 21,15 Dtn 21,16f. Dtn 22,13–28 Dtn 22,19 Dtn 22,22 Dtn 22,24 Dtn 22,28f. Dtn 22,29 Dtn 24,1–4 Dtn 24,1 Dtn 24,10–13 Dtn 24,13 Dtn 25 Dtn 25,5–10 Dtn 25,9 Dtn 26,1–11 Dtn 26,1–4 Dtn 26,1 Dtn 26,2–4 Dtn 26,3 Dtn 26,4 Dtn 26,5–10 Dtn 26,5–9 Dtn 26,7 Dtn 26,8 Dtn 26,10 Dtn 26,11 Dtn 27f. Dtn 27,8 Dtn 27,9 Dtn 27,26
36 36 124 124 36 133 129 260 36 129 36f., 40f.,153 36, 40, 153 36 36 204 269 261 262 270 269f. 271 272 270f. 269 269 270 107, 135 107, 123 263 264 262 203, 208f. 209 209 209 210 209 210 122 210 210 209 210, 217 122 172, 175 204 110
Bibelstellenregister
Dtn 28,64 Dtn 30 Dtn 30,1–10 142, 190 Dtn 30,1 Dtn 30,2 Dtn 30,3 Dtn 30,4 Dtn 30,5 Dtn 30,6–8 Dtn 30,6 Dtn 30,10 Dtn 30,11–14 Dtn 30,11–13 Dtn 30,12 Dtn 30,13 Dtn 30,14 Dtn 31,2 Dtn 34 Dtn 34,7 Dtn 34,9f. Dtn 34,10 Jos 1 Jos 1,1f. Jos 1,1 Jos 1,7 Jos 1,7f. Jos 1,8 Jos 4,f. Jos 4,21–24 Ri 6 Ri 11,34–40 Ri 19,22 Ri 19,23–25 Ri 19,24 Ri 19,28 Ri 21,12 1Sam 1 1Sam 2 1Sam 2,27–36 1Sam 3 1Sam 3,1–21 1Sam 3,1–6 1Sam 3,1–3 1Sam 3,1 1Sam 3,2 1Sam 3,3
75 118, 131, 139, 194 123, 131, 136–139, 138 138 75, 138 138 138 123 139 139 125f., 131, 136f. 138f. 137 137 111 69 34 69 34 36f., 40, 153 33, 34 31, 32 44 32, 34 31f., 39 33 211 211 147 267 267 267 160 267 160 143, 261 143, 151 147 17, 143–154 144f. 146 147, 148 143f., 146, 148, 150 144, 146, 152 144
1Sam 3,4–9 1Sam 3,7 1Sam 3,8–11 1Sam 3,9 1Sam 3,10–15 1Sam 3,10 1Sam 3,11 1Sam 3,12–14 1Sam 3,12 1Sam 3,13 1Sam 3,15–18 1Sam 3,15 1Sam 3,16–18 1Sam 3,17 1Sam 3,19–21 1Sam 3,19 1Sam 3,20 1Sam 3,21 1Sam 4 1Sam 4,1 1Sam 4,15 1Sam 9 1Sam 17 1Sam 26,16 2Sam 6,23 2Sam 7 2Sam 7,7 2Sam 7,11 2Sam 7,12 2Sam 7,13 2Sam 7,16 2Sam 7,24f. 2Sam 12 272 2Sam 12,13 2Sam 13 2Sam 13,20 2Sam 13,21 2Sam 16,21–22 2Sam 19,20 1Kön 13 1Kön 13,1f. 1Kön 13,5 1Kön 13,9 1Kön 3,17f. 1Kön 3,32 1Kön 22
343
147, 149 146, 149 146 149 147, 150 149 149 146 149 146 146, 151 146, 149f. 147 149, 151 147, 152 146, 149 146, 150, 152f. 144, 146, 149f., 152f. 147 144f. 149 143 143 37 260 37, 38, 146, 162 146 262 260 146 146 146 183, 185f., 188, 269, 186 268 268 268 269 105 146 146 146 146 146 146 36, 57
344
Bibelstellenregister
1Kön 22,17 1Kön 22,19–22 1Kön 22,19 2Kön 2,1–15 2Kön 17,13 2Kön 18,4 2Kön 21,12 2Kön 21,24 2Kön 22f. 2Kön 22,1 Jes 1–39 Jes 1,1 Jes 2 Jes 6–8 Jes 6 Jes 6,1–11 Jes 6,1 Jes 6,5 Jes 7 Jes 7,1–17 Jes 7,1–9 Jes 7,8 Jes 7,9 174 Jes 7,10–17 Jes 7,10 Jes 7,11 Jes 7,13 Jes 7,14 Jes 7,15 Jes 7,17 Jes 7,22 Jes 8 Jes 8,16 Jes 9 Jes 9,1–6 Jes 9,3f. Jes 9,5 Jes 9,6 Jes 11 Jes 11,1–10 Jes 11,1–5 Jes 11,1 Jes 11,2 Jes 11,6–10 Jes 26,20 Jes 27,1
56f., 292, 294 56f., 294 57, 69 40 32, 150 257 149 129 37, 122 129 17 148, 173 217 160, 171 57, 69, 83, 160, 282 56, 294 57, 292 58 157, 160f. 158–160 159 159 108, 114, 160f., 164, 159 160 160 160 17, 155–165 159 161 159 160 171 54f., 162 39, 54 54 40, 54 54 54, 162 39 55 55 37 55 178 228
Jes 33,15 Jes 40–55 Jes 40 Jes 40,4f. Jes 40,8 Jes 43,1 Jes 43,18f. Jes 44,24–45,25 Jes 45,17 Jes 45,18 Jes 45,22 Jes 50,1 Jes 55,11 Jes 56–66 Jes 65,17 Jer 1 Jer 1,11f. Jer 1,13f. Jer 3,8 Jer 9,15 Jer 13,24 Jer 18,17 Jer 19,3 Jer 30,11 Jer 23 Jer 23,5f. Jer 23,6 Jer 24 Jer 24,1–10 Jer 24,2 Jer 25,11f. Jer 26,4 Jer 26,18 Jer 29,10 Jer 36 Ez 1–3 Ez 1,1–2,8 Ez 1,28 Ez 2 Ez 2,9–3,9 Ez 8–11 Ez 11,16 Ez 11,19f. Ez 12,15 Ez 20 Ez 34,23 Ez 36
176 239 290 282, 290 30 194, 239 241 240 240 240 240 269 30 239 241 56, 147, 171 56f., 294 56f., 294 269 75 75 75 150 75 54, 162 39f. 55 56 56 296 29 32 29 29 171 55f. 56–58, 294 58 171 56, 58, 294 56f., 294 75 190 75 217 55 194
Bibelstellenregister
Ez 36,26f. Ez 36,27 Ez 37,1–14 Ez 43,1–9 Hos 2,10 Hos 12,10 Am 1,1 Am 3–6 Am 3,1f. Am 3,7 Am 5,24 Am 7–9 Am 7,1–8 Am 7,1–3 Am 7,1 Am 7,4–6 Am 7,4 Am 7,5 Am 7,7f. Am 7,7 Am 7,11 Am 8,1f. Am 8,1 Am 8,2 Am 9,1–4 Am 9,1 Ob 1 Mi 2,1f. Mi 3,9–12 Mi 3,12 Mi 4 Mi 4,1–5 Mi 4,2 Mi 5 Mi 5,1–5 Mi 5,1 Mi 5,3 Nah 1,1 Hab 1,1 Hab 1,2–4 Hab 1,2 Hab 1,3f. Hab 1,4 Hab 1,5–11 Hab 1,5 Hab 1,12–17 Hab 1,12f.
190 191 56, 294 56, 294 214, 239 214, 239 148, 173 30 30 150 287, 290 297 57 56, 292 296 56, 292 296 30 56, 292 296 29 56f., 282, 292 296 29 56f., 292 57, 292 148, 173 272 30 29 217 30 30 54, 162 39 55 55 167, 173 167, 173 168f., 171, 175, 177 171 171 171f., 175 168 175 169 168f., 171
Hab 1,12 Hab 1,14 Hab 1,17 Hab 2,1–5 Hab 2,1–4 Hab 2,1–3 Hab 2,1 Hab 2,2f. Hab 2,2 Hab 2,3f. Hab 2,3 Hab 2,4 179 Hab 2,5 Hab 2,6–20 Hab 2,6 Hab 2,20 Hab 3 Hab 3,1 Hab 3,3 Hab 3,7 Hab 3,8 Hab 3,9 Hab 3,13f. Hab 3,17–19 Hab 3,19 Hag 3 Sach 1–6 Sach 1,7–6,8 Sach 1,7–15 Sach 1,8–15 Sach 1,17 Sach 2,1–4 Sach 2,5–9 Sach 3,1–10 Sach 3,1 Sach 4,1–14 Sach 4,1–6 Sach 4,10–14 Sach 5,1–4 Sach 5,5–11 Sach 6,1–8 Sach 9 Sach 9,9f. Mal 3,22–24 Mal 3,22 Mal 3,23
345
169 168 169 169 166–180 175 169–171, 176 148 167–169, 171f., 175 177f. 167, 169, 172–178 16, 111, 167, 169, 174– 169 168f. 169, 175 169 169, 171 167 168 169 169 168 169 169 168 37 282 57 56, 294 30, 294 58 30, 56, 294 30, 56, 294 56, 294 292, 296 30,46 294 294 30, 56, 294 30, 56, 294 30, 56, 294 54 39, 55 31–34, 40f. 31, 32,43 41
346
Bibelstellenregister
Ps 1 Ps 1,2 Ps 1,3 Ps 1,6 Ps 2 Ps 2,1–3 Ps 2,1 Ps 2,2 Ps 2,7 Ps 2,9 Ps 2,10–12 Ps 2,11f. Ps 2,12 Ps 3–41 Ps 3 Ps 3,1 Ps 3,2–4 Ps 3,4 Ps 7,1 Ps 8 Ps 8,2 Ps 8,4 Ps 8,5 Ps 8,6–9 Ps 8,6 Ps 8,7 Ps 8,8f. Ps 8,10 Ps 15 Ps 15,1 Ps 19–24 Ps 19 Ps 19,1–7 Ps 19,8–15 Ps 19,12–15 Ps 19,12 Ps 19,14 Ps 29,1 Ps 32,2 Ps 46,1 Ps 51 Ps 51,1f. Ps 51,1 Ps 51,2 Ps 51,3–19 Ps 51,3–11 Ps 51,3f.
33f., 39, 53 33, 43, 133 33 39 38–40, 52, 54, 162 53 39 53 41 54f. 53 53 39, 53 39 212 185 212 212 185 233, 235 233 233 233 234 233 233 233 233 176, 236 237 236f. 235, 241 236 236 236 241 241 69 105f. 160 17, 181–195 185 183, 185 183, 185f., 188 183 183f., 191 186f., 188, 192
Ps 51,3 Ps 51,5–7 Ps 51,5f. Ps 51,5 Ps 51,6 Ps 51,7f. Ps 51,7 Ps 51,8 Ps 51,9f. Ps 51,9 Ps 51,10 Ps 51,11 Ps 51,12–19 Ps 51,12–14 Ps 51,12 215 Ps 51,13 Ps 51,14 Ps 51,15–17 Ps 51,15 Ps 51,17 Ps 51,18f. Ps 51,18 Ps 51,19 Ps 51,20f. Ps 51,21 Ps 68,26 Ps 72 Ps 74,13f. Ps 82,6 Ps 89 Ps 89,7 Ps 91 Ps 91,1f. Ps 91,1 Ps 91,2 Ps 91,3–8 Ps 91,9 Ps 91,10–13 Ps 91,14–16 Ps 104 Ps 106,30f. Ps 119,105 Ps 136 Ps 136,1–3 Ps 136,4–9 Ps 136,7–9
182–184, 189 182, 215 186f. 187 187, 192f., 194 186, 188 188, 190, 192, 194f. 188, 194 187f., 194 188, 192, 194 188f., 192 183f., 186, 189 184, 189 182, 189f. 70, 184,191f., 194, 191 189, 191 184, 189, 191 189, 191f. 192 182, 184, 189 192 183f., 192f., 215 183 183 160 39 228 69 39 69 213, 217 213f., 215 214 214 213 213–215 213 214 223 112 149 237, 241, 245 238 238 238
Bibelstellenregister
Ps 136,10–15 Ps 136,16–22 Ps 136,23–26 Ps 136,25 Ps 136,26 Ps 139 Ps 139,18 Ps 139,19–24 Ps 139,20 Ps 139,21 Ps 139,22 Ps 139,23 Ps 139,24 Hi 1 Hi 13,24 Hi 19,11 Hi 33,10 Spr 1,7 Spr 1,8 Spr 1,10 Spr 1,20–33 Spr 1,23 Spr 1,25 Spr 1,30 Spr 2,1 Spr 3,1 Spr 4,1 Spr 5,1–14 Spr 5,1 Spr 5,12–14 Spr 5,20–23 Spr 5,21 Spr 6,1 Spr 6,19 Spr 6,20–35 Spr 6,32 Spr 6,35 Spr 7 Spr 7,1 Spr 8,22–30 Spr 12,17 Spr 14,5 Spr 14,25 Spr 19,5 Spr 19,9 Spr 27,15 Spr 30,19
238 238 238 238 238 215 216 215 216 215f., 217 215 215, 218 215 69 106 106 106 217, 273, 276 274 274 274f. 170 170 170 274 274 274 274 274 274 274 274 274 174 274 274 271, 274 274 274 275 174 174 174 174 174 273 160
Spr 31,10–31 Spr 31,10 Spr 31,26 Spr 31,30 Spr 31,31 Rut 1,11–13 Rut 4,3–5 Hhld 1,3 Hhld 6,8f. Hhld 7,11 Hhld 8,11f. Pred 4,9–12 Pred 7,26 Pred 9,7–10 Pred 12,9–11 Pred 12,12–14 Dan 8–12 Dan 8,3–14 Dan 9,2 Dan 10,1–4 Dan 10,5–14 Dan 10,14 Dan 11 Dan 11,27 Dan 12,5–7 Neh 13,23 1Chr 15,20 2Chr 5,10
275 277 275 275 275 265 265 160 276 280 276 275 275 275 30 30 58, 172, 175 56, 294 29 171 56, 172, 294 172f. 172 172f. 56, 294 260 160 172
Neues Testament Mt 1,1–14 Mt 1,21 Mt 1,22f. Mt 1,22 Mt 1,23 Mt 5–7 Mt 5,17 Mt 11, 14 Mt 17,1–13 Mt 17,11ff. Mt 22,36 Mt 28,20 Mk 9,2–13 Mk 9,7
39 157 157 164 164f. 39 35 40 41 40 124, 126 157 41 41
347
348
Bibelstellenregister
Mk 9,11f. Lk 9,28–36 Lk 15,11–32 Lk 24,43 Lk 24,44 Joh 1,1–3 Joh 1,14 Joh 1,18 Joh 6,10 Joh 7,40 Apg 3,22 Apg 7,37 Röm 1,17 Röm 3 Röm 3,28 Röm 4 Röm 4,1f. Röm 4,3 Röm 4,17 Röm 4,10 Röm 4, 23–25 Röm 4,23f. Röm 4,23 Röm 4,24 Röm 5,12–21 Röm 7,12 Röm 10 Röm 10,6–8 Röm 10,6 Röm 10,7 Röm 10,8 Röm 10,9 Röm 10,14 Röm 10,16 Röm 15,4 Röm 15,44–49
41 41 194 314 35 224 80, 83f. 44 37 37 37 37 166f., 178f. 92 44 92, 109–111, 113, 179 103 104 112 110 111 62 110 109 113 35 123, 125 137 137 137 123 126 40 123 109 113
1Kor 9,10 2Kor 3,12–18 2Kor 4,6 2Kor 4,7 Gal 1,6 Gal 1,7 Gal 1,12 Gal 1,15f. Gal 3 Gal 3,2f. Gal 3,5 Gal 3,6–18 Gal 3,6f. Gal 3,6 Gal 3,7 Gal 3,9 Gal 3,11f. Gal 3,11 Gal 3,12 Gal 3,13 Gal 3,16 Gal 3,18 Gal 5,2f. Gal 5,6 Phil 2,7 2Tim 3,16 2Petr 1,19–21 Hebr 1,1f. Hebr 10,37f. Hebr 10,37 Hebr 10,38 Jak 2,13 Jak 2,23f. Apk 21
109 110 224 84, 99 110 109 111 111 109f., 112f., 179 179 179 110 103 104, 110, 179 110 110 110 111, 167, 178f. 179 110 110 111 110 110 80 91 91 62 177 178 178 104 116 314