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German Pages 335 [340] Year 1995
Rolf Kießling (Hg.) Judengemeinden in Schwaben im Kontext des Alten Reiches
Institut für Europäische Kulturgeschichte der Universität Augsburg Colloquia Augustana Herausgegeben von Jochen Brüning und Johannes Burkhardt
Band 2
Judengemeinden in Schwaben im Kontext des Alten Reiches Herausgegeben von Rolf Kießling Redaktion: Sabine Ulimann
Akademie Verlag
Gedruckt mit Unterstützung des Bezirks Schwaben
Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme
Judengemeinden in Schwaben im Kontext des Alten Reiches / hrsg. von Rolf Kießling. - Berlin : Akad. Verl., 1995 (Colloquia Augustana ; Bd 2) ISBN 3-05-002616-2 NE: Kiessling, Rolf [Hrsg.] ; Colloquium Augustanum: Colloquia Augustana
ISSN 0946-9044 © Akademie Verlag GmbH, Berlin 1995 Der Akademie Verlag ist ein Unternehmen der VCH-Verlagsgruppe. Gedruckt auf chlorfrei gebleichtem Papier. Das eingesetzte Papier entspricht der amerikanischen Norm ANSI Z.39.48 - 1984 bzw. der europäischen Norm ISO TC 46. Alle Rechte, insbesondere die der Übersetzung in andere Sprachen, vorbehalten. Kein Teil dieses Buches darf ohne schriftliche Genehmigung des Verlages in irgendeiner Form - durch Photokopie, Mikroverfilmung oder irgendein anderes Verfahren - reproduziert oder in eine von Maschinen, insbesondere von Datenverarbeitungsmaschinen, verwendbare Sprache übertragen oder übersetzt werden. All rights reserved (including those of translation into other languages). No part of this book may be reproduced in any form - by photoprinting, microfilm, or any other means - nor transmitted or translated into a machine language without written permission from the publishers. Druck: GAM Media GmbH, Berlin Bindung: Dieter Mikolai, Berlin Printed in the Federal Republic of Germany
Vorwort
Der vorliegende Band dokumentiert eine internationale Tagung, die das 'Institut für Europäische Kulturgeschichte' vom 23.-25. Juli 1992 zum Thema 'Die Juden im Alten Reich' veranstaltete. In einem dichten Programm hatten sich 18 Referenten aus Augsburg, der Bundesrepublik Deutschland, Israel und den USA zum Ziel gesetzt, die Geschichte der jüdischen Gemeinden in Augsburg und Schwaben, eingebettet in den Zusammenhang des aschkenasischen Judentums im Alten Reich, aufzuhellen und damit Impulse für die weitere Forschung zu geben. Dem Geschäftsführenden Direktor des Instituts Jochen Brüning, der die Tagung angeregt und ihre Durchführung ermöglicht hat, sowie allen Referenten, die sich trotz vielfältiger Verpflichtungen spontan zur Mitarbeit bereit erklärt haben, gilt daher zunächst mein besonderer Dank. Die über Jahrhunderte andauernde, freilich vielfach eingeschränkte und bedrohte Präsenz jüdischer Kultur in Schwaben, die mit der Deportation und Vernichtung ausgelöscht wurde und an die nach dem Krieg nur mühsam angeknüpft werden konnte, war den Teilnehmern nicht nur aufgrund ihres wissenschaftlichen Interesses, sondern auch dadurch präsent, daß die Tagung zum großen Teil im Festsaal der Augsburger Gemeinde - neben der beeindruckend restaurierten Synagoge - stattfinden konnte. Dafür gilt der Israelitischen Kultusgemeinde Augsburg-Schwaben und ihrem Vorsitzenden, Senator Julius Spokojny, mein verbindlichster Dank. Dem Bezirkstag Schwaben, der unter der Leitung seines Präsidenten Dr. Georg Simnacher die Traditionspflege jüdischer Kultur bereits vielfach gefördert hat, ist für die großzügige finanzielle Unterstützung zu danken, die er für die Tagung und die Publikation ihrer Ergebnisse bereitgestellt hat. Die umsichtige organisatorische Betreuung des Vorhabens lag in den bewährten Händen von Cornelia Weber, Rosemarie Mix übernahm das Lesen der Korrekturen; die Hauptlast der redaktionellen Textbearbeitung, die Erstellung des Kartenentwurfs und des Registers trug Sabine Ulimann, die nicht nur die Wünsche der Autoren und des Herausgebers bereitwillig und sorgfältig umsetzte, sondern sich auch durch konstruktive Vorschläge um die Gestaltung des Bandes verdient gemacht hat. Ihnen allen sei dafür ebenso gedankt wie nicht zuletzt dem Akademie Verlag und dem für die Reihe zuständigen Lektor Herrn Manfred Karras für die problemlose Zusammenarbeit bei der Herstellung des Buches. Augsburg, im August 1994
Rolf Kießling
Inhaltsverzeichnis
Abkürzungsverzeichnis
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Einführung Rolf Kießling
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I. Städtisches Judentum im Mittelalter Christen und Juden im Augsburg des Mittelalters Bernhard Schimmelpfennig
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Zur wirtschaftlichen Lage und Tätigkeit der Juden im deutschen Sprachraum des Spätmittelalters Michael Toch
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II. Landjudentum in der Frühen Neuzeit Rechtliche Rahmenbedingungen jüdischer Existenz in der Frühneuzeit zwischen Reich und Territorium J. Friedrich Battenberg
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Medinat Schwaben. Jüdisches Leben in einer süddeutschen Landschaft in der Frühneuzeit Stefan Rohrbacher
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Zwischen Vertreibung und Wiederansiedlung. Die Reichsstadt Augsburg und die Juden vom 15. bis zum 18. Jahrhundert Wolfram Baer
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Die Judenpolitik der geistlichen Territorien Schwabens während der Frühen Neuzeit Wolfgang Wüst
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Zwischen Vertreibung und Emanzipation - Judendörfer in Ostschwaben während der Frühen Neuzeit Rolf Kießling
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III. Mechanismen der Diskriminierung Linguistik der Diskriminierung. Über die Agitation gegen Juden in Flugblättern der Frühen Neuzeit Hans Wellmann
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Verfahrensweisen sprachlicher Diskriminierung in antijüdischen Texten der Frühen Neuzeit. Aufgezeigt am Beispiel der Metaphorik Nicoline Hortzitz
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Persistenz und Wandel antijüdischer Vorurteile im 18. und frühen 19. Jahrhundert Rainer Erb
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IV. Emanzipation und Assimilation "...weil es gefährlich wäre, die Kette des groß gewachsenen Sklaven zu lösen". Lokalstudie zur Effektivität bayerischer Judenpolitik in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts Karl Filser
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Finanznot und Domizilrecht. Zur Aufnahme jüdischer Wechselhäuser in Augsburg 1803 Volker Dotterweich und Beate Reißner
282
Zur Situation der Juden in Augsburg während der Emanzipationszeit Hans K. Hirsch
306
Index der Orts- und Personennamen
325
Verzeichnis der Autoren und Referenten
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Abkürzungsverzeichnis
BayHStA Cod. Diss. fl. fol. GJ hebr. HHStA hl. HZ kr. Lit. Masch. MüB MB NA NF StaatsAAug SStBAug StadtAAug StadtANördlingen StadtAMemmingen Urk. ZBLG ZHF ZHVS(N) ZWLG
Bayerisches Hauptstaatsarchiv Codex Dissertation Gulden Folium Germania Judaica hebräisch Haus-, Hof- und Staatsarchiv Wien Heller Historische Zeitschrift Kreuzer Literalien maschinenschriftlich Münchener Bestand Monumenta Boica Neuburger Ausgabe Neue Folge Staatsarchiv Augsburg Staats- und Stadtbibliothek Augsburg Stadtarchiv Augsburg Stadtarchiv Nördlingen Stadtarchiv Memmingen Urkunde Zeitschrift für bayerische Landesgeschichte Zeitschrift für Historische Forschung Zeitschrift des Historischen Vereins für Schwaben (und Neuburg) Zeitschrift für Württembergische Landesgeschichte
Einführung Rolf Kießling
Als 1988 das Germanische Nationalmuseum in Nürnberg in Zusammenarbeit mit dem Haus der Bayerischen Geschichte in der Ausstellung 'Siehe der Stein schreit aus der Mauer' eine erste umfassende Präsentation über die 'Geschichte und Kultur der Juden in Bayern' vom Mittelalter bis zur Gegenwart unternahm,1 war auch in Bayern für dieses Thema ein öffentliches Interesse gewonnen, das im übrigen deutschsprachigen Raum bereits seit geraumer Zeit bestand.2 Die Forschung setzt zudem seit einigen Jahren neue Akzente: Nachdem zunächst begreiflicherweise das Schicksal der Juden im nationalsozialistischen Deutschland in den Mittelpunkt gerückt war und die Fragestellung auf die Geschichte des modernen Antisemitismus sowie die Probleme von Emanzipation und Assimilation gelenkt hatte,3 andererseits das städtische Judentum des Mittelalters als glanzvoller Höhepunkt jüdischer Kultur seine Faszination nicht verlor, blieb 1
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Siehe der Stein schreit aus der Mauer. Geschichte und Kultur der Juden in Bayern. Katalog. Hg. von Bernward Denecke. Nürnberg 1988; Geschichte und Kultur der Juden in Bayern. Aufsätze. Hg. von Manfred Treml, Josef Kirmeier. München 1988 (Veröffentlichungen zur Bayerischen Geschichte und Kultur 17); Geschichte und Kultur der Juden in Bayern. Lebensläufe. Hg. von Manfred Treml, Wolf Weigand. München 1988 (Veröffentlichungen zur Bayerischen Geschichte und Kultur 18). Vgl. auch Israel Schwierz: Steinerne Zeugnisse jüdischen Lebens in Bayern. Eine Dokumentation. München 1988. Vgl. etwa Monumenta Judaica. 2000 Jahre Geschichte und Kultur der Juden am Rhein. Hg. von Konrad Schilling. Köln 1963; Köln und das rheinische Judentum. Festschrift der Germania Judaica 1959-1984. Hg. von J. Bohnke u.a. Köln 1984; Neunhundert Jahre Juden in Hessen. Beiträge zum politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Leben. Wiesbaden 1983 (Schriften der Kommission für die Geschichte der Juden in Hessen VI); Die jüdischen Gemeinden in Württemberg und Hohenzollern. Denkmale - Geschichte - Schicksale. Hg. von Paul Sauer. Stuttgart 1966 (Veröffentlichungen der Staatlichen Archivverwaltung BadenWürttemberg 19). Vgl. für Bayern Stefan Schwarz: Die Juden in Bayern im Wandel der Zeiten. München, Wien 1983.
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das vorherrschende Landjudentum der Frühneuzeit vielfach unterbelichtet4 und drohte unter dem Signum des 'Verfalls' festgeschrieben zu werden. 5 Das bedeutete eine Fixierung in doppelter Hinsicht: Zum einen konnte die von jüdischen Rabbinern und Gelehrten des 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts geleistete Aufarbeitung, die die Wurzeln der eigenen Identität in den untergegangenen Gemeinden suchte, in Deutschland kaum eine Fortsetzung finden, zum anderen blieben die unter antisemitischen Vorzeichen konzipierten nichtjüdischen Darstellungen lange Zeit unkorrigiert, da die moderne Landesgeschichte sich dieses Themas nur sporadisch annahm.6 Während sich dieses Bild in anderen Teilen Bayerns, speziell in Franken, bis heute grundlegend geändert hat,7 galt es bis vor kurzem noch in besonderem Maße für Ostschwaben, also das bayerische Schwaben.8 Die letzte und einzige zusammenfassende Darstellung von Eduard Gebele 'Die Juden in Schwaben' von 19389 stand als antisemitisches Pamphlet so eindeutig im Dienst der nationalsozialistischen Propaganda, daß sie kaum mehr als Materialsammlung verwendet werden kann. Die eigenständige jüdische Geschichtsschreibung mit den Veröffentlichungen von Louis Lamm, Leopold Löwenstein, Richard Grünfeld, Fritz Steinthal um und nach der Jahrhundertwende war mit der Vernichtung des schwäbischen Judentums zu Ende gegangen. Lediglich in den orts- und territorialgeschichtlichen Darstellungen hielt sich eine gewisse Tradition, die von Ludwig Müller, Julius Mie-
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Vgl. dazu zuletzt Monika Richarz: Die Entdeckung der Landjuden. Stand und Probleme ihrer Erforschung am Beispiel Südwestdeutschlands. In: Landjudentum im Süddeutschen- und Bodenseeraum. Dornbirn 1992 (Forschungen zur Geschichte des Vorarlbergs Bd. 11). S. 11-21. So etwa noch in der Überblicksdarstellung von Hermann Greive: Die Juden. Grundzüge ihrer Geschichte im mittelalterlichen und neuzeitlichen Europa. Darmstadt 1980. S. 113f. Vgl. etwa Hans Hubert Hofmann: Ländliches Judentum in Franken. In: Tribüne 7 (1968). S. 2890-2904; Klaus Geissler: Die Juden in Deutschland und Bayern bis zur Mitte des vierzehnten Jahrhunderts (ZBLG Reihe B Beiheft 7). München 1976. Aus den zahlreichen jüngeren Veröffentlichungen seien beispielhaft genannt: Jüdische Gemeinden in Franken 1100 bis 1975. Hg. von Rudolf Endres (Frankenland. Sondernummer 1978). Würzburg 1978; Harm-Hinrich Brandt: Zwischen Schutzherrschaft und Emanzipation. Studien zur Geschichte der mainfränkischen Juden im 19. Jahrhundert. Würzburg 1987 (Mainfränkische Studien 39); Geschichte und Kultur des Judentums. Hg. von Karlheinz Müller, Klaus Wittstadt. Würzburg 1988 (Quellen und Forschungen zur Geschichte des Bistums und Hochstifts Würzburg 38); Christoph Daxelmüller: Jüdische Kultur in Franken. Würzburg 1988 (Land und Leute. Veröffentlichungen zur Volkskunde); Klaus Guth: Jüdische Landgemeinden in Oberfranken (1800-1942). Ein historisch-topographisches Handbuch. Bamberg 1988. Vgl. dazu auch Peter Fassl: Geschichte und Kultur der Juden in Schwaben. In: Aus Schwaben und Altbayern. Festschrift für Pankraz Fried zum 60. Geburtstag. Hg. von Peter Fassl u.a. Sigmaringen 1991 (Augsburger Beiträge zur Landesgeschichte Bayerisch-Schwabens Bd. 5). S. 21-30. Eduard Gebele: Die Juden in Schwaben. In: Schwabenland 5 (1938). S. 45-116.
Einfllhrung
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del, Heinrich Sinz begründet und von Wilhelm Volkert, Reinhard H. Seitz, Hans Böhm und Michael Piller weitergeführt wurde.10 Mit den 80er Jahren setzten neue Initiativen ein: zunächst auf der Ebene der Denkmalspflege durch die Restaurierung der Synagogen von Ichenhausen und Augsburg," dann durch die verdienstvollen übergreifenden Veröffentlichungen Gernot Römers über das Schicksal der Juden im 19. und 20. Jahrhundert,12 während die früheren Phasen jüdischer Gemeinden in einer Reihe von Einzelstudien von Ludwig Reissler, Gerhard Hetzer, Dana Koutnä-Karg und Reinhard Jakob neue Bearbeitungen fanden.13 Die Aufgabe, die Erforschung des schwäbischen Judentums in die längst etablierte allgemeine wissenschaftliche Diskussion einzubringen, erscheint überfallig. Dabei soll nicht übersehen werden, daß inzwischen wichtige Ansatzpunkte dafür geschaffen wurden: Eine Vortragsreihe im Rahmen der Neukonzeption des Jüdischen Kulturmuseums in Augsburg, von der damaligen Leiterin Tamar Minerbi 1988/89 ins Leben gerufen, gab ebenso Anstöße wie die von Peter Fassl seit 1989 jährlich organisierten Irseer Tagungen 'Zur Geschichte und Kultur der Juden in Schwaben', begleitet von verdienstvollen Grundlagenarbeiten.14 Seit 1991 ist zudem unter der Leitung von Rolf Kießling ein Forschungsprojekt 'Geschichte des Landjudentums in Ostschwaben während der Frühen Neuzeit' beim Institut für Europäische Kulturgeschichte angesiedelt, das längerfristig eine systematische Aufarbeitung der bisher unerschlossenen Quellen beabsichtigt.15 10
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Ich verzichte hier auf die Auflistung; die Arbeiten werden an entsprechender Stelle in den betreffenden Beiträgen zitiert. Vgl. auch Falk Wiesemann: Bibliographie zur Geschichte der Juden in Bayern. München, London, New York, Paris 1989. S. 136-138 für Schwaben sowie S. 138-201 für die einzelnen Orte. Vgl. dazu Synagoge Ichenhausen. Festschrift zur Eröffnung der ehemaligen Synagoge von Ichenhausen als Haus der Begegnung am 4. Dezember 1987; Hans-Uwe Rump: Jüdisches Kulturmuseum Augsburg. München, Zürich 1987 (Bayerische Museen 6). Gernot Römer: Der Leidensweg der Juden in Schwaben. Schicksale von 1933-1945 in Berichten, Dokumenten und Zahlen. Augsburg 1983; Ders.: Für die Vergessenen. KZ-Außenlager in Schwaben - Schwaben in Konzentrationslagern. Augsburg 1984; Ders.: Die Austreibung der Juden aus Schwaben. Schicksale nach 1933 in Berichten, Dokumenten, Zahlen und Bildern, Augsburg 1987; Ders.: Schwäbische Juden. Leben und Leistungen aus zwei Jahrhunderten. Augsburg 1990. Wie Anm. 10. Dokumentation zur Geschichte und Kultur der Juden in Schwaben. Bearbeitet von Doris Pfister. Hg. von Peter Fassl. Bezirk Schwaben. Archivführer Bd. I. Hausbesitz um 1835/40 Bd. II. Bibliographie Bd. III. Angekündigt für 1994. Vgl. dazu Susanne Braun: 'Von gemainer Judischhait in Schwaben'. Der rechtliche Rahmen für das Leben der Juden in der Markgrafschaft Burgau, untersucht an den Beispielen Ichenhausen und Fischach. Zulassungsarbeit Universität Augsburg 1991; Rosemarie Mix: 'Wider der Juden und Jüdinen wuocherliche gesuoch, Conträct und handlungen'. Die kaiserlichen Privilegien für die Reichsstädte Ulm, Memmingen und Augsburg und die geistlichen Terri-
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Auf diesem Hintergrund entstand auch die Konzeption der Tagung 'Die Juden im Alten Reich 1 , die mit dem vorliegenden Band dokumentiert wird. Sie verfolgte mehrere Ziele: Zum einen sollte sie die vielfältigen, speziell an der Universität Augsburg und ihrem Umkreis vorhandenen wissenschaftlichen Interessen, die auf Augsburg und Schwaben gerichtet sind, zusammenführen und den jeweils erreichten Stand der Forschung bilanzieren. Zum anderen wollte sie das interdisziplinäre Gespräch anregen, zunächst vor allem mit den Sprachwissenschaftlern eines parallelen Forschungsprojektes, um den historischen Blickwinkel auszuweiten. Zum dritten ging es darum, die spezifischen Beobachtungen mit generellen Thesen zu konfrontieren, um damit ein schärferes Profil für die zukünftige Regionalforschung zu gewinnen, zugleich aber auch auszuloten, inwieweit dieses räumlich begrenzte Untersuchungsfeld einen eigenständigen Beitrag zur allgemeinen Forschung zu leisten vermag. Eine Orientierung der Gliederung an der gängigen chronologischen Einteilung bot sich dabei insofern an, als sie unterschiedliche Phasen jüdischer Existenz in Deutschland spiegelt, die in ihrer Abfolge gleichzeitig aber auch einen inneren Zusammenhang aufweisen: Als Ausgangsbasis können die vorwiegend städtischen Gemeinden des Mittelalters gelten, ehe die Vertreibung im 15. und beginnenden 16. Jahrhundert einen Bruch in der Siedlungs- und Lebensweise nach sich zog. Freilich darf dabei nicht übersehen werden, daß gerade im spätmittelalterlichen Schwaben, im Ries und im Donauraum zwischen Augsburg und Ulm, daneben auch ländliche und kleinstädtische Gemeinden bestanden - erst jüngst hat Michael Toch anhand des Materials der 'Germania Judaica' herausgearbeitet, wie fließend die Übergänge zum Landjudentum der Frühen Neuzeit waren. 16 Der Schwerpunkt der Untersuchungen liegt auf diesem Landjudentum der Frühneuzeit innerhalb der Markgrafschaft Burgau. Sie erscheint gerade deshalb von besonderem Interesse, als ihre offene Struktur mit einem ausgeprägten Spannungsfeld von relativ schwachem Territorialstaat und starkem Herrschaftsanspruch der sogenannten 'Insassen' (Adel, Klöster und bürgerlich-städtische Herrschaftskörper) ein kleinräumiges Gefüge entstehen ließ, in dem sehr unterschiedliche Zielvorstellungen gegenüber den Juden realisierbar waren, wegen der dynastischen Verbindung der Markgrafschaft mit dem Haus Habsburg im Rahmen ihrer vorderösterreichischen Lande sich aber zugleich auch eine Verzahnung mit der
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torien Wettenhausen und Roggenburg als restriktive Maßnahmen gegenüber den Juden der Markgrafschaft Burgau in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts. Zulassungsarbeit Universität Augsburg 1993; Sabine Ullmann: 'Über der Juden schädlichen Wucher und Kipperey'. Die Beziehungen der Judengemeinden in Kriegshaber und Pfersee zur Reichsstadt Augsburg im 17. Jahrhundert. Magisterarbeit Universität Augsburg 1992. Michael Toch: Siedlungsstruktur der Juden Mitteleuropas im Wandel vom Mittelalter zur Neuzeit. In: Juden in der christlichen Umwelt während des späten Mittelalters. Hg. von Alfred Haverkamp, Franz-Josef Ziwes. Berlin 1992 (ZHF Beiheft 13). S. 29-40.
Einßhrung
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Tradition des kaiserlichen Schutzes einstellte. Während in der bisherigen Forschung geschlossene Territorien - etwa die Landgrafschaft Hessen oder die fränkischen Hochstifte - besonders akzentuiert wurden, muß hier zumindest als Ausgangsthese von einer andersartigen Herrschaftsstruktur ausgegangen werden. Der Übergang ins 19. Jahrhundert mit dem Doppelproblem von Emanzipation und Assimilation wurde mit einbezogen, weil an ihm deutlich wird, wie stark die Strukturelemente der Frühneuzeit noch weiterwirkten, obwohl die Rahmenbedingungen neuartige Verhältnisse schufen. Insofern läßt sich der summierende Hinweis 'Kontext des Alten Reiches' im Titel dieser Veröffentlichung als Bezugsrahmen rechtfertigen. Die einzelnen Zugriffe versuchen - abgesehen von der jeweiligen spezifischen Sicht der Autoren - zentrale Fragestellungen dieses Problemfeldes abzudecken. Obwohl sich durch alle Beiträge zwangsläufig die Frage nach dem Verhältnis von jüdischer Minderheit und christlicher Umwelt zieht, weil daraus entscheidende Koordinaten resultierten, solange die jeweilige Identität in ihrem Kern religiös bestimmt war, wurde dem Aspekt der Diskriminierung besonderes Gewicht beigemessen, weil in ihm ein Ansatz für die interdisziplinäre Analyse zu sehen ist. Wie fruchtbar die Gegenüberstellung von Detailstudien und generalisierender Fragestellung sein kann, wurde bereits im ersten Teil deutlich. Nach Georg Kreuzers einführendem Überblick über 'Die theologischen Begründungen der Judenfeindschaft im Mittelalter', zeichnete Bernhard Schimmelpfennig den Weg der Augsburger Juden von den ersten Nachweisen im 13. Jahrhundert bis zur Vertreibung 1438/40 nach, wobei er die auch in anderen Städten greifbare zunehmende rechtliche und ökonomische Einschränkung jüdischer Existenz herausarbeitete, die seit den oberdeutschen Pogromen, verbunden mit der fiskalischen Ausbeutung durch das Königtum, konsequent in die Austreibung führte - immerhin eine der frühesten im Reich. Alfred Haverkamp konnte aber anhand einer vergleichenden Analyse zur Siedlungstypologie und -topographie der spätmittelalterlichen Judengemeinden zeigen, daß Verfolgung und Verdrängung als komplexe Vorgänge nicht unbedingt "den Weg ins Ghetto" bedeuteten, vielmehr ein nachbarschaftliches Nebeneinander von Juden und Christen durchaus noch möglich war. Auch Michael Toch war darum bemüht, in seinem (öffentlichen) Vortrag das weitverbreitete Klischee vom 'reichen jüdischen Geldhändler' aufzubrechen; anhand des zum Teil noch unveröffentlichten Materials der 'Germania Judaica III' konnte er nachweisen, daß in den Gemeinden eine breite Palette von Berufen vor allem im Dienstleistungssektor zu berücksichtigen ist. Die in der Lokalgeschichtsschreibung häufig vorschnell angenommene personelle Kontinuität der mittelalterlichen Augsburger Gemeinde mit den ländlichen, insbesondere vorstädtischen Siedlungen in der Markgrafschaft Burgau konnte auch auf dieser Tagung nicht verifiziert werden: Die Lücke zwischen der Vertreibung aus Augsburg 1438/40 und den ersten Nachweisen von Juden auf dem Land im
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16. Jahrhundert ist bislang nicht zu schließen. Vieles deutet darauf hin, daß, zumindest was Augsburg betrifft, eher mit einem Bruch und mehrfachen Migrationen zu rechnen ist, während ein Abwandern von Ulm und Memmingen in die benachbarten Dörfer näherzuliegen scheint. Das frühneuzeitliche Landjudentum in Schwaben war in einem komplexen Gefüge verankert; neben der inneren Struktur jüdischen Lebens mußten als Bezugspunkte die jeweiligen Schutzherren, aber auch die Herrschaftsträger in die Betrachtung einbezogen werden, deren Politik primär von Abwehr bestimmt war. Friedrich Battenberg zeigte zunächst die im Alten Reich wirksamen Rahmenbedingungen auf: Aus der Spannung zwischen reichsrechtlichen Bindungen, die aus der spätmittelalterlichen 'Kammerknechtschaft' resultierten und zudem in der Vorstellung vom römischen Bürgerrecht ihren Niederschlag fanden, und der Territorialisierung des Judenrechts bzw. der Praktizierung des Judenschutzes durch die regionalen Gewalten leitete er als "Streitfrage der Zeit" den konkurrierenden Zugriff auf die Juden ab und stellte dabei heraus, daß diese keineswegs aus der allgemeinen Rechts- und Verfassungsordnung herausgelöst worden waren. Als Gegenpol zu dieser Fragestellung ging Stefan Rohrbacher die Situation aus der jüdischen Perspektive an und konnte erste Bausteine für den inneren, wenn auch losen Zusammenhang der Judengemeinden im "Medinat Schwaben" herausschälen: die landschaftliche Traditionsbildung in einem besonderen "Minhag Schwaben", die bewußtseinsbildende Wirkung, von den (ehemaligen) "städtischen Zentren jüdischen Lebens und jüdischer Gelehrsamkeit" abzustammen, wie die bindende Kraft herausragender Landesrabbiner. Um die konkreten Bedingungen für die Lebens- und Wirtschaftsmöglichkeiten in der mehrschichtigen Herrschaftssituation Ostschwabens, insbesondere in der Markgrafschaft Burgau zu analysieren, bedurfte es verschiedener korrespondierender Ansätze: So mußte die Judenpolitik verschiedener Herrschaftsträger charakterisiert werden. Dabei spielten zunächst die Reichsstädte als zentrale Orte nach wie vor eine wichtige Rolle. So bedeutete die Ausweisung aus Augsburg (und Memmingen bzw. Ulm)17 trotz restriktiver Abgrenzung keine völlige Ausschließung, vielmehr zog sie die Regelung der primär ökonomischen Kontakte zwischen Landjuden und städtischem Markt nach sich, deren wechselhafte Gestaltung, letztlich aber schrittweise Lockerung Wolfram Baer zwischen dem 16. und 18. Jahrhundert verfolgte. Parallelen dazu ergeben sich bei den geistlichen Territorien, die, wie Wolfgang Wüst zeigte, ebenfalls die herrschaftliche Abwehr mit einem pragmatischen Ausschöpfen des wirtschaftlichen Nutzens verbanden. Rolf Kießling ging demgegenüber in seinem Beitrag von den Judendörfern selbst aus 17
Vgl. dazu die Arbeiten von Julius Miedel: Die Juden in Memmingen. Aus Anlaß der Einweihung der Synagoge Memmingen 1909, und Peter Thaddäus Lang: Die Reichsstadt Ulm und die Juden 1500-1803. In: Rottenburger Jahrbuch für Kirchengeschichte 8 (1989). S. 39-48.
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und stellt die Größe der Gemeinden als wichtiges Merkmal heraus. Er versuchte, ihre Entstehung aus den Ansprüchen der Ortsherren auf die Schutzherrschaft abzuleiten und ihre zunehmende Stabilität mit den spezifischen ökonomischen Aufgaben zu erklären, die sie für die Infrastruktur des ländlichen Raumes leisten konnten. Obwohl ihre Existenz immer wieder durch Ausweisungen bedroht war, zeichnete sich doch nach und nach eine gewisse Akzeptanz ab, deren Grenzen aber in typischen Konfliktmustern zwischen Christen und Juden sichtbar werden. Daß eine derartige Einschätzung nicht als 'Entschärfung' des Konfliktpotentials mißverstanden werden darf, darauf verweisen die seit dem Mittelalter durchgängigen judenfeindlichen Stereotype,18 deren jederzeit mögliche Aktualisierung in der konkreten Ausweisung aus Pfalz-Neuburg 1740/42 aufscheint. Insofern war es wesentlich und aufschlußreich, ihre verschiedenartigen Ausformungen unter übergreifende Fragestellungen zu stellen, machen sie doch auf die latenten Spannungen aufmerksam, die bei der historischen Einzelanalyse beachtet werden müssen. Ruth Mellinkoff führte sie in ihrem Vortrag über 'Distortions and Deformities: Artistic Attributes used to Deprecate Jews' anhand der Tafelmalerei buchstäblich vor Augen. Die sprachlichen Muster der Diskriminierung in den Flugblättern und anderen Agitationstexten der Frühneuzeit deckten Hans Wellmann und Nicoline Hortzitz-Ernst auf. Den historischen Kontext dafür stellte der Beitrag von Rainer Erb bereit, wenn er der Frage nach 'Persistenz und Wandel antijüdischer Vorurteile im 18. und frühen 19. Jahrhundert' nachging und die Ablösung im Kern religiös motivierter Argumentationsmuster durch politische und soziale in der Modernisierung der Gesellschaft verankerte, wobei sich Beobachtungen für Schwaben mit generellen Überlegungen verzahnten. Die daraus abgeleiteten prinzipiellen Hindernisse für die Integration der Juden führten gleichzeitig über zu den abschließenden Regionalstudien für die 1. Hälfte des 19. Jahrhunderts, in denen die widerstrebenden Prinzipien von Emanzipationsbereitschaft und Abwehr konkretisiert wurden. Karl Filser exemplifizierte die Schwierigkeiten bei der Umsetzung des bayerischen Judenedikts von 1813 an den Judendörfern an der Iiier; er sieht in den Zwangselementen des Matrikelparagraphen, dem zähen Festhalten der Grundherren an ihren schutzherrlichen Rechten und Abgaben und der unvorbereiteten Vereinigung von christlicher und jüdischer Bevölkerung in der kommunalen Organisation wesentliche Faktoren, die eine intendierte Integration faktisch weitgehend verhinderten, zumindest aber belasteten. Für Augsburg arbeitete Volker Dotterweich die starken Vorbehalte im gehobenen Bürgertum heraus, auf die auch eine nur zögerliche Wiederzulassung von jüdischen Bankiers seit 1803 stieß. Daß die Einschränkung auf eine rein ökonomische Beziehungsebene die sich neu bildende jüdische Gemeinde bis zur Mitte des 19. 18
Vgl. dazu jüngst Stefan Rohrbacher, Michael Schmidt: Judenbilder. Kulturgeschichte antijüdischer Mythen und antisemitischer Vorurteile. Reinbek 1991.
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Jahrhunderts belastete, wies Hans Hirschs Analyse aus - eine Linie, die Peter Fassl in seinem Vortrag über 'Jüdische Unternehmer, Bankiers und Kaufleute' noch weiterführte. Insofern läßt sich auch für Schwaben die These bestätigen, daß der mühevolle Weg in die tatsächliche Emanzipation trotz des neuen Entwurfs einer aufgeklärten Bürokratie auch und nicht zuletzt aus der zu Ende gegangenen Phase des Alten Reiches erklärt werden muß. Konzeption und Durchführung der Tagung sind allerdings nicht vollständig in den vorliegenden Band eingeflossen, da einige Vorträge nicht aufgenommen werden konnten: Das gilt für die Beiträge von Georg Kreuzer und Peter Fassl, die aus verständlichen persönlichen Gründen der Autoren nicht rechtzeitig für den Druck fertiggestellt werden konnten; desgleichen Alexander Frieds Überlegungen zu 'Romantik und antijüdische Argumentation in Deutschland'. Die Einbeziehung der Vorträge von Alfred Haverkamp und Ruth Mellinkoff verhinderte die anderweitige Drucklegung 19 - sie ist umso bedauerlicher, als damit wichtige Vertiefungen des Problemfeldes ausgespart bleiben müssen. Andererseits - und das wurde in der Diskussion mehrmals artikuliert - spiegelt die Folge der Abhandlungen auch Defizite der bisherigen Forschung, die dem Herausgeber durchaus bewußt sind. So dominiert der Blickwinkel auf die jüdischen Gemeinden 'von außen', d.h. von Seiten ihrer Umwelt. Immerhin thematisieren Michael Toch und Stefan Rohrbacher die innerjüdische Perspektive, womit deutlich wird, daß die Geschichte der Juden integraler Bestandteil sowohl der deutschen wie der jüdischen Geschichte ist und daß erst ihre wechselseitige Analyse dem Gegenstand tatsächlich gerecht wird. Doch müßte das Gemeindeleben und das Wirken der Rabbiner - allen voran Rabbi Jakob Weil - im Spätmittelalter und in der ausgehenden Frühneuzeit ebenso in die Betrachtung einbezogen werden wie Elemente der Sprach- und Bildungsgeschichte. Aber auch sonst bleiben einige Fragen offen. Daß die Lücke zwischen mittelalterlich-städtischen und frühneuzeitlich-ländlichen Gemeinden (noch) nicht geschlossen werden konnte, wurde bereits erwähnt. Darüber hinaus bedarf es weiterer Studien, um die durch besonders hohe Labilität gekennzeichnete Lage im 16. Jahrhundert, insgesamt aber die Mobilität und Vernetzung des schwäbischen Judentums mit anderen Landschaften - etwa Vorarlbergs 20 - zu erhellen sowie die ökonomischen und sozialen Interaktionen zwischen Christen und Juden in den stabilisierten Gemeinden des 17. und 18. 19
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Ruth Mellinkoff: Outcasts. Signs of Otherness in Northern European Art of the Late Middle Ages. University of California Press 1993; Alfred Haverkamp: The Jewish Quarter in German Towns During the Late Middle Ages. In: In and Out of the Ghetto. Jewish-Gentil Relations in Late Medieval and Early Modern Germany. Hg. von Hartmut Lehmann und Ronnie Po-Chia Hsia (im Druck). Dies ergibt sich aus dem Vortrag von Karl Heinz Burmeister: Beziehungen von Juden und jüdischen Gemeinden in Schwaben und Vorarlberg vom 16.-19. Jahrhundert, gehalten auf der 5. Irseer Tagung über 'Geschichte und Kultur der Juden in Schwaben' am 20.11.1993.
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Jahrhunderts auszuleuchten, nicht zuletzt auch die Beziehungen zu Kaiser und Reich21 bzw. zum Schwäbischen Kreis22 genauer aufzudecken. Damit ist zugleich das Feld für zukünftige Forschungen zu den schwäbischen Judengemeinden abgesteckt. Denn es sollte nicht vergessen werden, daß mit der Tagung und ihrer Dokumentation beabsichtigt war, zunächst eine einigermaßen sichere Ausgangsbasis zu schaffen. Ob der Anfang tragfahig ist, mögen die Leser und Rezensenten des vorliegenden Bandes entscheiden.
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Vgl. dazu etwa Margit Ksoll, Manfred Hörner: Fränkische und schwäbische Juden vor dem Reichskammergericht. In: M. Treml, J. Kirmeier, Aufsätze (Anm. 1) S. 183-198. Vgl. dazu Hans Villinger: Die Tätigkeit des Schwäbischen Reichskreises auf dem Gebiet des Polizeiwesens (16. Jahrhundert). Diss. Heidelberg 1950. S. 52-69.
I. Städtisches Judentum im Mittelalter
Christen und Juden im Augsburg des Mittelalters Bernhard Schimmelpfennig
Toleranz im Mittelalter: Gab es sie in Augsburg und war sie damals lediglich eine "vorübergehende Gesinnung", wenn auch nicht im Sinne Goethes?1 Dieser Frage möchte ich im folgenden nachgehen, stimuliert durch die Art der überlieferten Zeugnisse: Sie wurden gewöhnlich von Mitgliedern der herrschenden, christlichen Mehrheit verfaßt, spiegeln demzufolge deren Verhalten gegenüber Andersdenkenden und Anderslebenden wider. Doch seien zuerst ein paar Stationen aus der Geschichte der Juden Augsburgs rekapituliert! Nach sporadischen Nennungen von Juden im frühen 13. Jahrhundert deuten spätere Nachrichten an, daß vor und nach 1300 eine relativ wohlhabende und auch vom Stadtregiment weitgehend tolerierte Judengemeinde bestand. Doch wenige Jahrzehnte später, Ende 1348, wurden fast alle in Augsburg lebenden Juden ermordet; lediglich wenige Juden, die sich zur Zeit des Pogroms gerade außerhalb der Stadt aufhielten, überlebten. Zwar bildete sich binnen kurzem wieder eine neue Gemeinde; doch neunzig Jahre nach dem Pogrom, also 1438, beschloß der Stadtrat, alle Juden aus der Stadt zu vertreiben. Dies gelang und hatte zur Folge, daß für etwa vierhundert Jahre keine Judengemeinde mehr in Augsburg bestand. Die Fakten sind bekannt,2 weniger jedoch die Faktoren, die dazu beitrugen, daß der Status der Juden sich änderte. 1
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Johann Wolfgang von Goethe: Gesammelte Werke. Hamburg 3. Auflage 1958 (Hamburger Ausgabe Bd. 12). S. 385, Nr. 151: "Toleranz sollte eigentlich nur eine vorübergehende Gesinnung sein: sie sollte zur Anerkennung führen. Dulden heißt beleidigen." Vgl. Guido Kisch: Toleranz und Recht. Umriß eines Problems. In: Guido Kisch: Forschungen zur Rechts-, Wirtschafts- und Sozialgeschichte der Juden. Sigmaringen 1979. S. 17. Vgl. besonders Fritz Leopold Steinthal: Geschichte der Augsburger Juden im Mittelalter. Berlin 1911; Richard Grünfeld: Ein Gang durch die Geschichte der Juden von Augsburg. Festschrift zur Einweihung der neuen Synagoge in Augsburg am 4. April 1917. Augsburg 1917; Raphael Straus: Regensburg and Augsburg. Philadelphia 1939; GJ Bd. I. Tübingen 1963. S. 14-16; GJ Bd. II/l. Tübingen 1968. S. 30-41; GJ Bd. III/l. Tübingen 1987. S 39-
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Beginnen wir mit der Frage: Wo und ab wann siedelten Juden in Augsburg? Zumindest seit der zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts gab es zwei verschiedene Judensiedlungen in Augsburg.3 Die eine lag zwischen dem Elias-Holl-Platz im Norden und der Weißen Gasse im Süden, im Gebiet Augsburger Handwerker. Mit der vornehmen Hauptstraße, der heutigen Maximilianstraße, war die Siedlung durch eine Hanggasse verbunden, den noch heute so genannten 'Judenberg', der 1366 erstmals erwähnt wurde.4 Die andere Siedlung befand sich im Gebiet der heutigen Karlstraße und trug seit 1361 den Namen "Judengasse".5 Wichtig für unser Thema ist, daß beide Bereiche damals auch von Christen bewohnt wurden, abgeschlossene Judensiedlungen, also Ghettos, noch nicht existierten. Kontakte zwischen Juden und Christen waren demzufolge auch im Alltag möglich. Von der Siedlung unterhalb des Judenberges erfahren wir vor 1366 nichts. Es kann daher sein, daß sie erst entstand, als das jüdische Wohngebiet in und bei der Judengasse nicht mehr erweitert werden konnte, weil das Gelände schon völlig bebaut war. Jedenfalls muß die Judengasse die ältere Siedlung darstellen. 1361 lagen dort die Zentren der Judengemeinde: die juden schul, die Synagoge also, und - für öffentliche Veranstaltungen - das Tanzhaus. Wahrscheinlich war die Synagoge identisch mit der, die das Stadtrecht von 1276 nannte.6 Und schon zuvor, nämlich 1259, erwähnte eine Urkunde Bischof Hartmanns7 ein 'Haus der Juden' (domus Judeorum) südlich der Domimmunität, also im Gebiet der späteren Judengasse. Nordwestlich davon, zwischen Katzenstadel und Klinkertorstraße, lag der 1298 erstmals erwähnte Friedhof der Juden.8 Die topographischen Angaben zei-
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65. Wenig hilfreich ist der vom Jüdischen Kulturmuseum Augsburg veröffentlichte Katalog: Zeugnisse jüdischer Geschichte und Kultur. Augsburg 1985. Zu den Judensiedlungen vgl. besonders Helmut Veitshans: Kartographische Darstellung der Judensiedlungen der schwäbischen Reichsstädte und der württembergischen Landstädte im Mittelalter. 2 Hefte. Stuttgart 1970 (Arbeiten zum Historischen Atlas von Südwestdeutschland. Heft 5 und 6). Heft 1. S. 35-38 und Heft 2. S. 3 und 18 (Karte); Walter Groos: Beiträge zur Frühgeschichte Augsburgs 300-1300. In: 28. Bericht der Naturforschenden Gesellschaft Augsburg. Augsburg 1973. S. 52-56, 58, 61-63. Unergiebig ist Detlev Schröder: Stadt Augsburg. München 1975 (Historischer Atlas von Bayern. Teil Schwaben. Heft 10). S. 58, 73, 102f. StadtAAug. MS Schätze 74 (Bürgerbuch), fol. 103 r (25.3.1366): Bei der Aufnahme eines neuen Bürgers fungiert als Bürge ein unter dem Judenberg wohnender Christ. H. Veitshans, Heft 1 (Anm. 3) S. 36 mit Anm. 356. Das Stadtbuch von Augsburg. Hg. von Christian Meyer. Augsburg 1872. S. 53 und 126. H. Veitshans, Heft 1 (Anm. 3) S. 36 mit Anm. 357; GJ Bd. II/l (Anm. 2) S. 35; Druck: MB Bd. 33a. S. 92-95, Nr. 88f Urkundenbuch der Stadt Augsburg Bd. 1. Hg. von Christian Meyer. Augsburg 1874. S. 129f. Nr. 167 (23.8.1298).
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gen, daß sich - wie in anderen Bischofsstädten9 so auch in Augsburg - die ursprüngliche Judensiedlung direkt vor der frühmittelalterlichen Bischofsstadt befand, in verkehrsgünstiger Lage, denn im Osten grenzte sie an die in die Bischofsstadt führende Straße, im Westen an die Nord-Süd-Handelsstraße. Es ist daher zu vermuten, daß die Judensiedlung während der Ausbauphase der bischöflichen Hof- und Grundherrschaft entstand, in der Nachbarschaft früher Märkte und Hofhandwerkerhäuser; von ihnen zeugen noch heute Straßennamen wie Kesselmarkt, Obstmarkt oder Schmiedberg. Die Vermutung wird noch dadurch gestützt, daß die schon genannte Urkunde von 1259 angibt, das 'Haus der Juden1 läge in der Nachbarschaft der Häuser der Schuster und Krämer und alle Häuser gehörten dem Domkapitel. Und wenn auch damit noch nichts über das Alter der Judensiedlung ausgesagt ist, so ist doch anzunehmen, daß die Siedlung infolge des gesteigerten kirchlichen Bedarfs an gehobenen Handelsgütern und an Kapital spätestens im 12. Jahrhundert entstanden ist, gebildet vielleicht anfangs von Flüchtlingen aus den Rheinlanden oder aus Mainfranken, die den dortigen Pogromen von 1096 oder 1147 entronnen waren. Unterstanden die Juden als Siedler dem Bischof, so als Juden - d.h. als Mitglieder einer nichtchristlichen Glaubensgemeinschaft - dem König.10 Wie Friedrich Barbarossa es formulierte, gehörten sie zur königlichen Kammer. Sein Enkel Friedrich II. konkretisierte 1236 diese Stellung mit kirchenrechtlicher Begründung und bezeichnete die Juden als königliche Kammerknechte, wobei die Knechtschaft sehr konkret zu verstehen ist: Der König war zwar für den Schutz der Juden verantwortlich, konnte jedoch - außer der Schädigung an Leib und Leben - über sie nach Gutdünken verfügen. Daher konnten Juden nicht nur verpfändet, sondern auch in ihrer Freizügigkeit beschnitten werden.11 Als Zeichen ihrer Knechtschaft, zugleich als Schutzgebühr, mußten sie an den Herrscher Steuern zahlen.12 Kompliziert wurde die Lage der Augsburger Juden dadurch, daß nach Friedrichs II. Tod im Jahre 1250 der Bischof versuchte, herrscherliche Rechte zu usurpieren, und gleichzeitig die Stadt die Chance der Thronwirren nutzte, königliche wie bischöfliche Ansprüche abzuwehren und sich selbst anzueignen. Das hatte zur Folge, daß fortan die Juden zum Spielball in Macht- und Kompetenzkämpfen zwischen König, Bischof und Stadt wurden. Dies war um so schlimmer, weil
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Außer H. Veitshans, Heft 1 (Anm. 3) passim, vgl. z.B. für Würzburg: Winfried Schich: Würzburg im Mittelalter. Studien zum Verhältnis von Topographie und Bevölkerungsstruktur. Köln, Wien 1977 (Städteforschung A/3). S. 158-161. Vgl. z.B. G. Kisch (Anm. 1) S. 13-90. Monumenta Germanica Histórica. Constitutiones Bd. 3. Hannover, Leipzig 1904/06. S. 368f., Nr. 388f. (Urkunde Rudolfs von Habsburg 1286). Verzeichnis von 1241: Constitutiones (Anm. 11) S. 1-5 (Augsburg: S. 4, Nr. 68).
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gleichzeitig die religiösen Aversionen gegen die Juden zunahmen, wenn auch nicht bei allen Christen.13 Im Vergleich zur Lage vieler ihrer Glaubensgenossen ging es den Augsburger Juden noch relativ gut.14 Doch auch bei ihnen lassen sich frühe Ansätze zur Diskriminierung feststellen. Dies zeigt sich schon an ihrer Rechtsstellung. Wie andernorts waren in Augsburg die Juden rechtlich in einer Gemeinde organisiert, deren Leiter nach jüdischem Recht Konflikte zwischen Gemeindemitgliedern regelte und in beschränktem Maße auch Verbrechen ahnden konnte. Die Beziehungen zu ihren christlichen Mitbürgern regelte das sogenannte Judenrecht.15 Weil sich die Stadt infolge der jahrzehntelangen Thronwirren weitgehend vom bischöflichen Stadtherrn und vom König emanzipiert hatte, konnte sie 1276 mit Billigung durch den neuen Herrscher, Rudolf von Habsburg, das städtische Recht, damit auch das Judenrecht, selbst definieren.16 Ein wichtiger Punkt betraf Rechtsstreitigkeiten zwischen Christen und Juden: War ein Jude angeklagt, so erfolgte die Befragung in der Synagoge; christliche Zeugen befragte der Stadtvogt, jüdische der sogenannte Judenmeister; Urteilsfinder waren - wohl in paritätischer Zusammensetzung - Juden und Christen; es galt der Spruch der Mehrheit (Art. XIX § 1, Art. LVII § 1). Nachteiliger für die Juden war die Situation, wenn einer von ihnen gegen einen Christen klagte (Art. XIX § 2, Art. LVII § 1 und 4), denn dann benötigte der Jude vier Eidhelfer, von denen zwei Christen sein mußten, während bei der vorher genannten Klage eines Christen gegen einen Juden nur zwei Eidhelfer, darunter ein Jude, nötig waren. Der Beischlaf eines Juden mit einer Christin sollte mit dem Feuertod - der typischen Strafe für rückfällige Ketzer und iudaizantes geahndet werden (Art. XIX § 11). In der Öffentlichkeit hatten Juden den Judenhut zu tragen (Art. XIX § 13). Daher ist dieser Hut auch auf dem noch erhaltenen
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Dazu vgl. z.B. G. Kisch (Anm. 1); Klaus Geissler: Die Juden in Deutschland und Bayern bis zur Mitte des vierzehnten Jahrhunderts. In: ZBLG Beiheft B 7. München 1976. S. 115-117, 206-208, 221-223; Hans Liebeschütz: Synagoge und Ecclesia. Religionsgeschichtliche Studien über die Auseinandersetzung der Kirche mit dem Judentum im Hochmittelalter. Hg. von Alexander Patschovsky. Heidelberg 1983 (Veröffentlichungen der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung. Darmstadt 55); F. Graus: Historische Traditionen über Juden im Spätmittelalter. In: Zur Geschichte der Juden im Deutschland des späten Mittelalters und der frühen Neuzeit. Hg. von Alfred Haverkamp. Stuttgart 1981 (Monographien zur Geschichte des Mittelalters 24). S. 1-26; GJ Bd. II/l (Anm. 2) S. XXXIV. Vgl. die in Anm. 2 genannte Literatur. Vgl. dazu G. Kisch (Anm. 1); Rolf Schmidt: Judeneide in Augsburg und Regensburg. In: Zeitschrift für Rechtsgeschichte (Germanistische Abteilung Bd. 93). 1976. S. 322-339. C. Meyer, Stadtbuch (Anm. 6) S. 52-58, 126f., 218; vgl. Rolf Schmidt: Das Stadtbuch von 1276. In: Geschichte der Stadt Augsburg. Hg. von Gunther Gottlieb u.a. Stuttgart 1984. S. 140-144.
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Siegel der Judengemeinde von 1298 zusammen mit dem doppelköpfigen Reichsadler, dem Zeichen der Kammerknechtschaft, zu sehen.17 Allerdings konnte sich ein anderes Zeichen der Diskriminierung lange Zeit in Augsburg nicht durchsetzen: die Sauhaut. Obwohl gerade eine in Augsburg, wohl im Franziskanerkonvent, verfaßte Version des 'Schwabenspiegels' forderte, ein den Eid leistender Jude müsse auf der Haut einer frisch geschlachteten Sau stehen, wurde diese Forderung erst im 15. Jahrhundert in das Augsburger Strafrecht übernommen. 18 Die im älteren Stadtrecht erkennbare Mischung aus Toleranz und - noch zurückhaltender - Diskriminierung zeigen auch zwei Urkunden von 1290 und 1298. Ende des Jahres 1290 ließ sich die Judengemeinde vom Stadtrat erlauben, ein eigenes Badhaus zu errichten.19 Wie die Urkunde ausführt, begründeten die Juden ihren Wunsch damit, daß sie uns [d.h. den Christen] kein Ungemach täten in unseren Badhäusern und dort keine Gemeinschaft mit uns hätten. Liest man nur die Urkunde, so könnte es scheinen, als hätten sich die Juden auf eigenen Wunsch von den Christen abgesondert. Doch trügt dieser Eindruck, denn schon im Stadtrecht von 1276 hatte die Stadt den Juden verboten, zusammen mit Christen zu baden (Art. XIX § 14). Das Vorbringen der Juden war demnach nur eine verständliche Folge des Verbotes. Daher wurde die Urkunde auch als Ergänzung dem entsprechenden Paragraphen des Stadtbuches beigefügt. Doch enthält sie zugleich wieder Anzeichen einer scheinbaren Toleranz. Während es nämlich dem Pfleger des jüdischen Badhauses bei Strafe untersagt wurde, christliche Bürger oder Gäste in das Badhaus einzulassen, durften christliche Dienstboten von Juden deren Badhaus nutzen. Diese Erlaubnis erstaunt in zweifacher Weise: zum einen, daß es in Augsburg noch als selbstverständlich galt, Juden hätten christliches Dienstpersonal; zum anderen, daß Juden mit ihnen untergeordneten Christen gemeinsam baden durften. Doch kann es sein, daß die patrizischen Ratsmitglieder Dienstboten nicht als vollgültige Rechtspersonen und vollwertige Christen ansahen. In der Urkunde von 1298 versprach die Judengemeinde, innerhalb von vier Jahren einen Teil der Stadtmauer zu errichten,20 und zwar bei ihrem Friedhof zwischen dem Heilig-Kreuz-Stift und dem Stadtgraben. Die Baukontrolle sollten zwei Patrizier ausüben; bis zur Vollendung des Baus war die Synagoge und jedes andere Eigentum der Judengemeinde dem Rat verpfändet. Schon diese beiden Bestimmungen zeigen, daß die Juden ihr Versprechen nicht aus eitel Liebe zu Augsburg gemacht hatten. Ursache waren vielmehr - wie in der Urkunde formuliert ist
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Vgl. R. Grünfeld (Anm. 2) Titelblatt; GJ Bd. II/1 (Anm. 2), Tafel zwischen S. 32 und 33; G. Gottlieb (Anm. 16) Abb. 37. R. Schmidt (Anm. 15) S. 326 und 335. C. Meyer, Stadtbuch (Anm. 6) S. 58 (5.12.1290). C. Meyer, Urkundenbuch Bd. 1 (Anm. 8) S. 129f., Nr. 167 (23.8.1298).
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- der Dank an Stadtrat und Stadtgemeinde, daß sie uns [d.h. den Juden] kein Leid angetan haben noch unrechte Gewalt über uns zugelassen haben, und die Hoffnung, die Stadt würde zusammen mit König Albrecht I. die Juden auch künftighin schützen. Die Hoffnung war begründet, denn in derselben Urkunde gelobte der Rat, die Juden treulich vor Unrecht und Gewalt zu schirmen. Die Urkunde bezeugt also einen Vertrag zwischen Stadtrat und Judengemeinde; daher war sie von beiden Partnern gesiegelt. Allerdings zeigt der Stil der Urkunde, daß sie von einem Christen, wohl dem Ratsschreiber, aufgesetzt war. Und die finanziellen Kosten gingen einseitig zu Lasten der Juden. Kraß formuliert: Zahlt, sonst gibt es keinen Schutz! Angesichts der widrigen Zeitumstände blieb den Juden nichts anderes übrig.21 Schon am 12. Oktober 1285 waren etwa 100 Münchener Juden in der dortigen Synagoge verbrannt worden; Anlaß: ein angeblicher Ritualmord. Im Jahr des Vertrages selbst hatte nach einer vorgeblichen Hostienschändung in Röttingen ein fränkischer Adliger namens Rindfleisch mit seinen Anhängern vom April bis Oktober in 146 Orten Frankens, Hessens, Thüringens, Schwabens und in der Oberpfalz die dortigen Juden heimgesucht; allein in Würzburg sollen dabei mehr als 800 Juden umgekommen sein. Die Verpflichtung der Augsburger Juden war für sie also das weitaus geringere Übel. Dem Stadtrat deshalb Judenfreundlichkeit zu attestieren, dürfte übertrieben sein. Während die anderen Teile der Stadtmauer auf städtische Kosten - ohne besondere Schröpfung der jeweiligen Anwohner - finanziert werden mußten,22 bekam der Rat den 1298 versprochenen Mauerzug umsonst. Damit wird deutlich, warum der Augsburger Rat im Gegensatz zu anderen Städten die Juden jahrzehntelang schützte, sie also tolerierte: sie waren ihm als Kapitalgeber nützlich. Es ist allgemein bekannt, daß Juden als Kreditgeber eine große Rolle spielten, während sie aus Handel und Gewerbe seit dem 11. Jahrhundert immer mehr verdrängt worden waren. Allerdings darf aus dieser Stellung kein Kapitalmonopol der Juden in Deutschland gefolgert werden. Auch Lombarden oder Südfranzosen betätigten sich als Bankiers; Zinsdarlehen gaben - trotz aller kirchlichen Verbote christliche Bürger und sogar kirchliche Institutionen.23 Und auch sie konnten Op21
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Vgl. zum folgenden K. Geissler (Anm. 13) S. 222f.; W. Schich (Anm. 9) S. 160; GJ Bd. II/l (Anm. 2) S. XXXIVf. und die Karte am Schluß des Bandes. Vgl. z.B. die Finanzierung der Stadtmauer bei St. Georg ab 1321 und beim Gögginger Tor ab 1327: Die Augsburger Baurechnungen von 1320-1331. Hg. von Robert Hoffmann. In: Zeitschrift des Historischen Vereins für Schwaben und Neuburg Bd. 5. 1878. Besonders S. 42f. und 115-117; vgl. Robert Hoffmann: Die Tore und Befestigungen der Stadt Augsburg von dem 10.-15. Jahrhundert. In: Zeitschrift des Historischen Vereins für Schwaben und Neuburg Bd. 13. 1886. Besonders S. 31. Vgl. dazu und zum folgenden: K. Geissler (Anm. 13) S. 167-205; Franz Irsigler: Juden und Lombarden am Niederrhein im 14. Jahrhundert. In: A. Haverkamp (Anm. 13) S. 122-162;
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fer von Haß und Verfolgungen werden, wenn es den Schuldnern richtig erschien. Was bei den Juden hinzukam, war, daß sie keine Christen waren, so daß ihre Verfolgung auch religiös gerechtfertigt werden konnte. Wir müssen also prüfen, ob und wie lange Juden wichtige Kapitalgeber in Augsburg waren. Weil aus der Zeit vor 1320 keine Rechnungsbücher der Stadt erhalten sind, läßt sich leider über die Bedeutung der Juden für die städtischen Finanzen, abgesehen vom Mauerbau, für die damalige Zeit nichts Sicheres aussagen. Doch ist zu vermuten, daß zumindest einzelne Juden der Stadt als Kreditgeber dienten. Denn warum sollte der Stadtrat versäumen, was die benachbarten Herzöge von Bayern eifrig taten?24 Schon Ende des 13. Jahrhunderts gehörten Augsburger Juden zu den Gläubigern der Herzöge von Oberbayern und Niederbayern. Besonders die beiden Juden Lamb und Jüdlin liehen seit 1300 den oberbayerischen Herzögen mehrere tausend Pfund, so daß ihnen 1304 und 1314 jeweils für mehrere Jahre die Münchener Stadtsteuer verpfändet wurde. Auch der Graf von Tirol, bayerische Adlige und der Eichstätter Bischof waren damals bei den beiden verschuldet. Zwar zählten zu den Gläubigern der Herzöge zeitweise auch Augsburger Christen aus den Familien Langenmantel, Lang oder Schongauer - 1291 bildete sich sogar ein Finanzierungskonsortium aus Christen und Juden -, doch scheint jüdisches Kapital gewöhnlich überwogen zu haben. Es verwundert daher nicht, daß in den von 1320 bis 1331 erhaltenen Baumeisterbüchern Augsburgs gleichfalls vor allem Juden als Kreditgeber der Stadt genannt sind.25 So lieh z.B. im Rechnungsjahr 1320/21 das von dem Juden Suter und anderen Glaubensgenossen gebildete Konsortium der Stadt 1.200 Pfund Heller, das waren 600 Pfund Augsburger Pfennige.26 Wie hoch die damaligen Gesamteinnahmen der Stadt waren, läßt sich nur schwer erkennen. Doch wenn wir berücksichtigen, daß sich im folgenden Jahr die städtischen Einnahmen auf knapp 900 Pfund Augsburger Pfennige beliefen27 und das Sutersche Darlehen vor allem für Soldzahlungen und für die Tilgung von Krediten anderer Juden und von Christen verbraucht wurde, so wird schon an diesem Beispiel die Bedeutung von Juden für den Stadthaushalt deutlich. Ihr Risiko war freilich groß. Suter wurde später nie wieder erwähnt. Wahrscheinlich erhielt er sein Geld nicht zurück und ging
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Reinhard Schneider: Güter- und Gelddepositen in Zisterzienserklöstern. In: ZisterzienserStudien Bd. 1. Berlin 1975. S. 97-126. Vgl. GJ Bd. II/1 (Anm. 2) S. 34; Peter Lengle: Handel und Gewerbe bis zum Ende des 13. Jahrhunderts. In: Geschichte der Stadt Augsburg (Anm. 16) S. 168f.; MB Bd. 35b. S. 28f., Nr. 22f. (1304 und 1307). S. 34-36, Nr. 28f. (1314). S. 48f., Nr. 40 (1315). R. Hoffmann (Anm. 22) S. 15, 23, 27, 31f., 49, 62, 65, 69, 73, 76, 81, 85, 91, 94, 99f„ 103, 105, 111-113, 127f., 130, 138f„ 153f., 156, 168, 173-175, 181, 183-185, 187f„ 195197. R. Hoffmann (Anm. 22) S. 34 Anm. 4: Währungsvergleiche. R. Hoffmann (Anm. 22) S. 35.
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deshalb bankrott. Andere Juden - darunter auch Frauen - hatten es in den elf Jahren nicht viel besser: Die Jüdin Sprintzin - vielleicht die Frau des Rabbiners, denn sie hieß später schulmaisterin - lieh der Stadt knapp 785 Pfund, erhielt aber nur 30 Pfund zurück; von den Juden Köphlin, Gansar, Kratzer und Ysac Lamb in wechselnder Zusammensetzung gebildete Konsortien hatten zusammen am Schluß ein Guthaben von etwa 440 Pfund bei der Stadt. Hinzu kamen noch Gelder, deren Zahlung von der Judengemeinde auf Druck 'versprochen' wurde, also erpreßte Schutzgebühren: insgesamt mindestens 400 Pfund. 28 Rechnen wir noch kleinere Ausstände hinzu, so schuldete die Stadt den Juden 1331 knapp 3.000 Pfund, das war gut ein Viertel mehr als die damaligen Gesamteinnahmen der Stadt in Höhe von etwa 2.365 Pfund. Zwar schickte der Rat im selben Jahr drei Patrizier nach Nürnberg zu Kaiser Ludwig dem Bayern - einem anderen Schuldner Augsburger Juden -, um die Freilassung einiger festgesetzter jüdischer Gläubiger zu erreichen, 29 doch sollte sich auch die Toleranz des Augsburger Rates alsbald drastisch verringern. Diese Minderung der Toleranzschwelle deutete sich schon im folgenden Jahr an. Anfang 1332 nahm nämlich der Rat bei einer Augsburger Witwe ein Leibgedinge auf, 30 also eine Art von Anleihe: gegen Zahlung von 20 Pfund versprach er ihr und zwei Töchtern eine jährliche Leibrente von vier Pfund. Die Leibrente war doppelt so hoch wie langfristige Zinsen bei von Christen gewährten Darlehen, 31 entsprach aber in etwa der Verzinsung langfristiger Judenkredite. 32 Finanziell war diese Kreditpolitik also nicht günstiger. Warum der Rat dennoch diesen Weg einschlug, begründete er selbst in der Urkunde: Wegen jahrelanger Kriege war unsere Stadt Augsburg in großen Geldnöten und der Schaden durch die Juden und deren Wucher wuchs täglich, so daß wir befürchten, daß, wenn wir dies nicht ändern, der Schaden für uns und unsere Nachkommen zu groß und zu schwer wird. Daher habe man beschlossen, daß wir einiges Geld aus Steuerund anderen Mitteln, die unsere Stadt hat, zu Leibrenten verkaufen und daß wir unsere Stadt damit von den Juden lösen und mit dem kleineren Schaden dem größeren Schaden zuvorkommen. Mit der gleichen Begründung verkaufte der Rat 1341 eine Leibrente - diesmal in Höhe von 50 Pfund - an Konrad Langenmantel.33 Weil andere entsprechende Ur28 29 30 31
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R. Hoffmann (Anm. 22) S. 113, 127. R. Hoffmann (Anm. 22) S. 189f. C. Meyer, Urkundenbuch Bd. 1 (Anm. 8) S. 284-286, Nr. 313 (28.2.1332). Vgl. R. Hoffmann (Anm. 22) S. 16: 18 Pfund Zinsen an C. Raembot für ein Darlehen von 202 Pfund = ca. 8,9 %. R. Hoffmann (Anm. 22) S. 128: an die Firma Lamb-Söhne LXX lib. in capitali et XII lib. pro usura = ca. 17 %. C. Meyer, Urkundenbuch Bd. 1 (Anm. 8) S. 364-366. Nr. 382 (18.1.1341).
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künden ebenso wie die Baumeisterbücher ab 1332 für drei Jahrzehnte nicht erhalten sind, bleibt unsicher, wie sehr der Rat seine Schulden umschichtete. Doch die Tendenz, die Kreditaufnahme bei Juden einzuschränken, ist wohl deutlich geworden. Ob auch andere Schuldner diesen Wechsel vornahmen, ist unbekannt. Fest steht hingegen, daß auch politisch einflußreiche Bürger wie Heinrich Portner sowie Bischof und Domkapitel noch 1348 bei Juden verschuldet waren. 34 Und es ist anzunehmen, daß selbst der Rat nur einen Teil seiner Schulden bei den Juden getilgt hatte. Beziehen wir noch den bei Augsburger Juden hoch verschuldeten Kaiser Ludwig den Bayern in unsere Überlegungen mit ein, so wird deutlich, daß alle in Augsburg wichtigen Machtträger 1348 Schuldner dortiger Juden waren. Unsicher ist jedoch, ob auch Handwerker und andere Mitglieder der Mittelschicht bei Juden Schulden hatten. Vergleiche mit anderen, besser dokumentierten Städten etwa Würzburg 35 - lassen dies eher als unwahrscheinlich erscheinen. Mittlerweile verschlechterte sich auch die allgemeine Lage der Juden. Stärker als seine Vorgänger nutzte Ludwig der Bayer sie finanziell aus. 36 Im Jahre 1342 dekretierte er, daß jeder erwachsene Jude pro Jahr einen Gulden - den sogenannten Goldenen Pfennig - an ihn zu zahlen habe; diese erste Kopfsteuer im Reich zogen auch die späteren Könige ein. Schon vorher, nämlich ab 1315, war Ludwig dazu übergegangen, Günstlingen Judenschulden zu erlassen, sie brauchten also weder die Zinsen noch das ihnen geliehene Kapital zurückzuzahlen. Verständlich, daß Judenschuldner auch von sich aus beim Kaiser versuchten, derartige Vergünstigungen zu erlangen oder mit seiner Hilfe den Gläubigern die Schuldbriefe mit Gewalt abzupressen. Auch der Augsburger Rat nutzte die Situation.37 Anfang 1337 erwirkte er beim Kaiser die Erlaubnis, sogenannte 'Trostbriefe', in denen er sich zuvor gegenüber Augsburger Juden für Schulden des Kaisers verbürgt hatte, den Gläubigern wieder abzunehmen. Die reichsten und natürlich am meisten widerstrebenden Juden - so etwa die schon genannte Sprintzin - hielt der kaiserliche Landvogt Peter von Hoheneck bis zur Herausgabe der Briefe gefangen. Der Vogt profitierte gleichfalls von Ludwigs Ausnutzung der Juden, hatte ihm doch schon 1330 der Kaiser die Augsburger Juden zur Zahlung von Leibrenten versetzt; 1338 wurde dem Vogt
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Vgl. dazu die Schuldlösungen nach 1348 durch Karl IV.: Urkundenbuch der Stadt Augsburg Bd. 2. Hg. von Christian Meyer. Augsburg 1878. Nr. 459, 463 , 467, 495; MB Bd. 33b. München 1842. Nr. 148. Vgl. Stuart Jenks: Judenverschuldung und Verfolgung von Juden im 14. Jahrhundert: Franken bis 1349. In: Vierteljahresschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte 65. 1978. S. 309356. Vgl. z.B. GJ Bd. II/l (Anm. 2) S. XXVI und XXVIIf. C. Meyer, Urkundenbuch Bd. 1 (Anm. 8) S. 318f., Nr. 344f. (8. und 10.1.1337); GJ Bd. II/l (Anm. 2) S. 31.
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außerdem die Judensteuer verpfändet.38 Gleichzeitig wuchs die Lebensgefahr für die Juden: zwischen 1335 und 1337 hatten von dem sogenannten König Armleder, einem Ritter, stimulierte Banden als Rache für Christi Tod Juden vor allem in Franken und in den Rheinlanden, aber auch in Schwaben, Österreich und der Steiermark, ausgeraubt und erschlagen; 1337 hatten in Deggendorf und Straubing Adlige und Bürger, angeblich auf Geheiß des Herzogs von Niederbayern, ihre Juden verbrannt.39 Zwar war es im nächsten Jahrzehnt ruhig. Als sich dann aber seit 1348 von Italien und Südfrankreich her die Pest ausbreitete und Juden als Brunnenvergiftern die Schuld am großen Sterben zugewiesen wurde, hatte auch den Augsburger Juden die Stunde geschlagen.40 Der für den Judenpogrom in Augsburg überlieferte Tag ist das früheste exakte Datum für Judenverfolgungen dieser Zeit in ganz Deutschland: der 22. November 1348. Ob in der Stadt zuvor oder danach die Pest wütete, ist unbekannt. Wahrscheinlich genügten Anregungen aus Burgund, Savoyen und aus eidgenössischen Städten, um im November in Augsburg die Juden zu verfolgen; ähnlich handelten im selben Monat Stuttgart, Landsberg, Kaufbeuren, Memmingen und Burgau. Schwäbische Städte stehen somit in Deutschland am Anfang des Judenschlachtens. Es ist wahrscheinlich, daß die Initiatoren die latente Pestangst nutzten, um Anhänger für die geplanten Pogrome zu gewinnen. Daß in Augsburg der Pogrom geplant war, geht schon aus dem Datum hervor, denn der 22. November war ein Sabbat, an dem also die Juden zu ruhen hatten und daher leicht zu ergreifen waren. Auch andere Städte nutzten später diesen für ihr Vorhaben günstigen Wochentag.41 Wie groß die Augsburger Judengemeinde damals war, ist unbekannt. Da jedoch im Jahr 1346 etwa 18 jüdische Steuerzahler genannt waren,42 können wir die Zahl aller Juden - einschließlich jüdischer Diener - auf etwa 150 schätzen, eine vergleichsweise geringe Zahl. Außer der Schulmeisterin Sprintzin nebst Familie, Joseph Kratzer, Lemlin von Speyer und Johlin Schonmann, die damals anscheinend außerhalb Augsburgs weilten,43 kamen alle
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C. Meyer, Urkundenbuch Bd. 1 (Anm. 8) S. 261f., Nr. 295f. (8.6.1330) und S. 328, Nr. 352 (28.1.1338). Vgl. z.B. K. Geissler (Anm. 13) S. 223-225. Vgl. zur allgemeinen Situation GJ Bd. II/l (Anm. 2) S. XXXVII-XXXIX; Alfred Haverkamp: Die Judenverfolgungen zur Zeit des Schwarzen Todes im Gesellschaftsgefuge deutscher Städte. In: A. Haverkamp (Anm. 13) S. 27-93; F. Graus: Pest - Geißler - Judenmorde. Das 14. Jahrhundert als Krisenzeit. Göttingen 1987 (Veröffentlichungen des Max-PlanckInstituts für Geschichte 86). S. 155-340. A. Haverkamp (Anm. 13) S. 50-59; F. Graus, Pest - Geißler - Judenmorde (Anm. 40) S. 159-167. StadtAAug. Steuerbuch 1346. fol. 17*'™; vgl. die Liste bei R. Grünfeld (Anm. 2) S. 39f. MB Bd. 33b. S. 146f„ Nr. 149 (22.12.1348).
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Juden um, darunter auch die reiche Familie der Lamb, insgesamt etwa 130 Personen. Motive und Urheber des Pogroms sind umstritten. In offiziellen städtischen Quellen wie dem Achtbuch44 wird des Ereignisses nur kurz gedacht: ze der zit, do die Juden geschlagen wurden; kein Bedauern, aber auch kein Frohlocken, erst recht keine Nennung von Gründen und Initiatoren. Doch glaube ich, daß die Aktion vom Rat selbst geplant war. Und geplant war sie bestimmt. Dafür sprechen die Wahl des Sabbats, das rechtzeitige Bekanntwerden bei Auswärtigen und vielleicht auch die Flucht einiger reicher Juden wie der Sprintzin. Wenige Monate später, im März 1349, sprach der nun auch von Augsburg als König anerkannte Karl IV. auf Antrag der Stadt diese frei von aller Schuld, falls sie eine solche hatte am Tod der Juden, die entleibt sind.45 Und noch 1353 wies der König - wiederum auf Bitten der Stadt - Wiedergutmachungsforderungen von Juden als böse Briefe ab.46 Die Absicht des Rates war wohl, sich das jüdische Vermögen einschließlich der Pfandbriefe anzueignen. Doch wurde der Pogrom auch von anderen zu nutzen versucht, die deshalb wenig später aus der Stadt verbannt wurden: 47 Der ehemalige Bürgermeister Heinrich Portner und sein gleichnamiger Sohn probten mit Anhängern aus Adligen und Bauern einen Aufstand, vielleicht mit Billigung des neuen Bischofs Markward von Randeck;48 Einwohner aus Haunstetten und Bobingen wollten zusammen mit einem Auswärtigen Juden plündern. Beide Vorhaben mißlangen. Nutznießer des Mordes war außer dem Stadtrat vor allem der neue Bischof. Dieser ließ sich schon einen Monat nach dem Pogrom durch den König von allen Judenschulden lossprechen und die überlebenden Juden mit Leib und Gut übertragen. 49 1350 erhielt er die Erlaubnis, neue Juden aufzunehmen. 50 Noch fixer als der Bischof waren Adlige, denen Ludwig der Bayer oder Karl IV. Einkünfte von den Juden verpfändet hatte, und die daher durch den Pogrom finanziell geschädigt waren. Karl IV. befahl schon zwei Wochen nach dem Morden der Stadt, diese Adligen aus dem heimgefallenen Judenvermögen zu entschädigen;51 auch beim König kein Wort des Bedauerns. Allen Beteiligten ging es nur um Besitzrechte
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StadtAAug. MS. Schätze 81 (Achtbuch), fol. 14 ra/b ; vgl. auch C. Meyer, Urkundenbuch Bd. 2 (Anm. 34) S. 2 1 f „ Nr. 459 (24.1.1349). C. Meyer, Urkundenbuch Bd. 2 (Anm. 34) S. 24f., Nr. 463 (29.3.1349). C. Meyer, Urkundenbuch Bd. 2 (Anm. 34) S. 51, Nr. 495. Wie Anm. 44. MB Bd. 33b. S. 145f., Nr. 148 (21.12.1348): Der Bischof setzte sich vor allem für Heinrich Portner ein. MB Bd. 33b. S. 145-147, Nr. 148f. (21.12.1348). MB Bd. 33b. S. 171-173, Nr. 171 (24.5.1350). C. Meyer, Urkundenbuch Bd. 2 (Anm. 34) S. 17-20, Nr. 452-455 (6. und 15.12.1348). S. 28f., Nr. 466 (30.5.1349). S. 32f., Nr. 469 (16.6.1349).
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und Geld. Die Folge war, daß die Stadt 1349 an die adligen Gläubiger 1.200 Silbermark zahlte. Daraufhin war die Stadt mit königlicher Zustimmung Eigentümer des restlichen jüdischen Vermögens. 52 Schließlich erhielt sie 1355 von Karl IV. das Recht, in den nächsten zwölf Jahren Juden in die Stadt aufzunehmen. 53 Seit demselben Jahr sind wieder die Steuerbücher erhalten. Sie bezeugen, daß auch die Ende 1348 dem Bischof zugesprochenen Juden an die Stadt ihre Steuern zahlten; anscheinend war der Versuch des Bischofs, sich mittels der Judenherrschaft stärker in der Stadt durchzusetzen, gescheitert. Fortan war der Stadtrat alleiniger Schutzherr der Juden. Vom König ließ er sich das Aufnahmerecht je nach Bedarf bestätigen, dafür war der Herrscher zur Hälfte an der Judensteuer beteiligt. 54 Das Recht der Stadt, gekoppelt mit ihren fiskalischen Interessen, ging soweit, daß sie Juden bestrafte, die die eidlich versprochene Dauer ihres Aufenthalts nicht eingehalten hatten. 55 Die rechtliche Stellung der Juden innerhalb der Stadt war so ambivalent wie vor 1348: Sie konnten christliche Dienstboten haben, 56 gerieten aber unschuldig in Verdacht, wenn sie infolge von Intrigen plötzlich allein mit einer Christin in einem Raum waren, 57 oder wurden bestraft, wenn sie ein mit Christinnen ausgestattetes Bordell besuchten. 58 Bis 1385 wuchs die Anzahl der Juden - wenn auch mit Schwankungen - auf 65 Steuerzahler, also auf gut 300 Personen. Auch das Steueraufkommen war in diesem Jahr beträchtlich: 833 Gulden. 59 Als Darlehensgeber waren Juden für den Stadtrat weiterhin wichtig, vor allem der schon vor 1348 ansässige Johlin Schonmann und sein Sohn Süzzkint mit Darlehen von insgesamt etwa 900 Gulden, sowie Samuel mit seinem Schwiegersohn Baruch, die Darlehen in Höhe von etwa 600 Gulden gewährten. 60 Vielleicht zur Pflege der Geschäftsbeziehungen stiftete 1369 der Rat für eine Hochzeit im Hause des Samuel Wein im Wert von 36 Schilling. 61 Doch schon bald hatte dieses Glück ein Ende. Als Karl IV. 1374 - nach dem Kauf der Mark Brandenburg von den Wittelsbachern - die schwäbischen Reichs-
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C. Meyer, Urkundenbuch Bd. 2 (Anm. 34) S. 2 4 f „ Nr. 463 (29.3.1349). S. 29f., Nr. 467 (2.6.1349). S. 51, Nr. 495 (6.9.1353). C. Meyer, Urkundenbuch Bd. 2 (Anm. 34) S. 6 5 f „ Nr. 510 (8.12.1355). Vgl. z.B. R. Grünfeld (Anm. 2) S. 26-28; F.L. Steinthal (Anm. 2) S. 20-22. StadtAAug. MS Schätze 81 (Achtbuch) fol. 108* (16.1.1375), fol. 112™ (18.1.1379). Schätze 81 (Anm. 55) fol. 91™ (11.10.1365). Schätze 81 (Anm. 55) fol. 74™ v b (1355), fol. 104 vb (20.10.1372). Schätze 81 (Anm. 55) fol. 105* (26.10.1372), fol. 115* (18.10.1379). Vgl. R. Grünfeld (Anm. 2) S. 39. Allerdings müssen die dort genannten Zahlen z.T. nach den Steuerbüchern korrigiert werden. Vgl. StadtAAug. Baumeisterbuch 1368-1379. fol. 4 r , 39 r , 4 0 \ 54 r , 66 r , 184 v , 1 8 5 \ 203 v , 28 l v . Baumeisterbuch 1368-1379 (Anm. 60) fol. 31 r .
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städte aussaugte, mußte die Stadt Augsburg 36.000 Gulden, ihre Judengemeinde 10.000 Gulden zahlen. 62 Die zweite Summe wurde direkt nach München an die Herzöge gezahlt und von der Stadt durch Inhaftierung von den Juden erpreßt. Mangels Masse konnten diese vorerst keine weiteren Darlehen geben, so daß der Stadtrat für seine eigene Zahlung mindestens 6.000 Gulden von auswärtigen Juden leihen mußte. Der nächste Schlag erfolgte zehn Jahre später, während des Konfliktes des Schwäbischen Städtebundes mit den Fürsten. 63 Während Nördlingen seine Juden umbrachte, verhielt sich der Augsburger Rat 'menschlicher': Wieder ließ er die Juden gefangensetzen und erpreßte von ihnen 22.000 Gulden. 64 Im Jahr darauf, also 1385, vereinbarten der Städtebund und der König, ein Viertel aller Judenschulden zu erlassen. 65 Und als der König fünf Jahre später den Fürsten und sich zuliebe alle Judenschulden tilgte und anschließend auch Augsburg freie Hand gegenüber den Juden gewährte, 66 war zumindest den Augsburger Juden das finanzielle Rückgrat gebrochen. Nicht nur die Zahl der jüdischen Steuerzahler ging von 65 im Jahre 1385 auf 18 im folgenden Jahr und 17 im Jahr 1390 zurück, 67 sondern auch die möglichen Leistungen der einzelnen. Hatten noch 1384 Samuel von Donauwörth 110 Gulden und der Alte Baruch 80 Gulden an Steuern gezahlt, so war es ab 1390 viel, wenn einmal jemand 10 oder 12 Gulden zahlte. 68 Daher kamen Augsburger Juden auch kaum noch als Kreditgeber in Betracht. Entweder wandte sich der Stadtrat jetzt mehr als zuvor an christliche Mitbürger und kirchliche Institutionen69 oder er nutzte jetzt verstärkt das Instrument des Leibgedinges. Allein 1389 beliefen sich seine Verpflichtungen aus der zuletzt genannten Einnahmequelle auf 14.890 Gulden!70 Wegen ihrer geschwundenen Funktion als Kapitalgeber reduzierte sich der Status der Juden immer stärker auf den einer religiösen Randgruppe, deren durch eigene Interessen bedingte Tolerierung der Stadt nicht mehr notwendig zu sein schien. Und wie der Rat versuchte, den Klerus stärker unter sein Regiment zu
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Dazu und zum folgenden vgl. Baumeisterbuch 1368-1379 (Anm. 60) fol. 1 8 7 \ 188 r , 1 9 5 \ 1 9 6 \ 197 r , 200 r , 202 v . Vgl. auch C. Meyer, Urkundenbuch Bd. 2 (Anm. 34) S. 189, Nr. 657 (21.12.1374). Vgl. dazu A. Süßmann: Die Judenschuldtilgungen unter König Wenzel. Berlin 1907. S. 3286; Wolfgang von Stromer: Oberdeutsche Hochfinanz 1350-1450. Wiesbaden 1970 (Vierteljahresschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte. Beiheft 55-57). S. 155-177. Chronik von 1368-1406: Deutsche Städtechroniken Bd. 4. Leipzig 1865. S. 74. Deutsche Städtechroniken Bd. 4. S. 77; vgl. auch Anm. 63. W. v. Stromer (Anm. 63); außerdem A. Süßmann (Anm. 63) S. 109-189. R. Grünfeld (Anm. 2) S. 39. Vgl. StadtAAug. Steuerbuch 1384. fol. 14 r/v , 16r; Steuerbuch 1390. fol. 25 r etc. Vgl. Rolf Kießling: Bürgerliche Gesellschaft und Kirche in Augsburg im Spätmittelalter. Augsburg 1971 (Abhandlungen zur Geschichte der Stadt Augsburg 19). S. 182-193. StadtAAug. Baumeisterbuch 1389 (Anm. 60) fol. 25 r -27 v .
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bringen 71 und religiöse Abweichler, also 'Ketzer', zu eliminieren, 72 so kontrollierte er allmählich auch das Leben der Juden. Genauer gesagt: er sorgte für eine striktere Trennung zwischen Christen und Juden. Weil seiner Meinung nach die Juden in ihrer Tracht von Christen nicht unterschieden werden könnten und vor allem von Fremden als vermeintliche Priester gegrüßt würden, erwirkte der Rat 1434 bei Kaiser Sigmund die Verordnung, daß die Juden künftighin in der Öffentlichkeit einen gelben Ring für alle sichtbar an ihrer Kleidung tragen müßten. 73 Gut christlich ist die Begründung: das Gebot geschehe, damit die Christen ständig an den Martertod Christi erinnert würden. Die Juden sollten sich jetzt öffentlich als Verschmäher Gottes und des Christen-Glaubens zeigen, wie der Kaiser formulierte. Spätestens seit diesem Jahr war die Judengasse durch Seile begrenzt, die Ghettoisierung der Juden also auch lokal fixiert.74 Mit der diskriminierenden Verordnung des Judenringes spielte Augsburg in Deutschland den Vorreiter. Zwei Jahre später verbot der Rat, daß weiterhin - wie im Stadtbuch von 1276 angeordnet - Klagen von Christen gegen Juden in der Synagoge verhandelt würden; vielmehr käme jetzt für alle Prozesse nur das Rathaus in Frage. Auch dürfe kein Jude mehr dem Gericht angehören. 75 Anlaß des Verbots waren Reden von Geistlichen in der Beichte gewesen, denn es sei wider Satzung und Ordnung der Christenheit, wenn Christen in der Synagoge zusammen mit Juden Recht sprächen. So war es nur konsequent, daß der Rat 1438 die Austreibung der Juden beschloß. 76 Die Situation war insofern günstig, als der neue König, Albrecht II., selbst schon ab 1420 Juden aus seinem österreichischen Herzogtum vertrieben hatte. 77 Aber auch für die Juden hatte Augsburg an Attraktion verloren: 1428 hatte sich zum letzten Mal ein Jude als Bürger aufnehmen lassen - und das wohl auch
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Vgl. R. Kießling (Anm. 69). R. Kießling (Anm. 69) S. 316-319; Friedrich Zoepfl: Das Bistum Augsburg und seine Bischöfe im Mittelalter. München, Augsburg 1955 (Geschichte des Bistums Augsburg und seiner Bischöfe Bd. 1) S. 342-344, 356; Bernhard Schimmelpfennig: Religiöses Leben im späten Mittelalter. In: Geschichte der Stadt Augsburg (Anm. 16) S. 223 mit Anm. 18f. Zu den sodomitischen 'Ketzern' von 1409 vgl. auch: StadtAAug. Baumeisterbuch 1409. fol. 56 r , 5 6 \ 57', 57 v , 60 r . StadtAAug. Urkundensammlung Fasz. 1434, Nr. 32 (23.9.1434); StadtAAug. Judenakten, Fasz. I. fol. 239 r . Vgl. auch Guido Kisch: The Yellow Badge in History. In: G. Kisch (Anm. 1) S. 126ff.; Hektor Mülich zu 1434: Deutsche Städtechroniken Bd. 22. Leipzig 1882. S. 76. Vgl. z.B. R. Grünfeld (Anm. 2) S. 33. C. Meyer, Stadtbuch (Anm. 6) S. 260f. (26.2.1436). Vgl. dazu: R. Straus (Anm. 2) S. 190-193; Deutsche Städtechroniken Bd. 5, Beilage III. Leipzig 1866. S. 372-381 (Die Augsburger Juden im 15. Jahrhundert). Zur Vertreibung vgl. Markus Wenninger: Man bedarf keiner Juden mehr. Ursachen und Hintergründe ihrer Vertreibung aus den deutschen Reichsstädten im 15. Jahrhundert. Wien, Köln, Graz 1981 (Beihefte zum Archiv für Kulturgeschichte. Bd. 14).
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nur, weil er in eine Familie Augsburger Juden eingeheiratet hatte.78 Und hatten die Augsburger Juden noch 1434 und 1435, wenn auch unter Zwang, 1.500 Gulden Krönungssteuern an den Kaiser gezahlt - weitaus weniger als die Nürnberger (4.000) aber weitaus mehr als etwa die Ulmer Juden (600)79 -, so war nun doch ihre Zahlungsfähigkeit anscheinend völlig erschöpft. 1439, als der Rat schon ihre Vertreibung beschlossen hatte, notierte der königliche Rat Konrad von Weinsberg, die Augsburger Juden seien zu arm, als daß sie ihre Reichssteuer zahlen könnten. 80 Zwar versprach er ihnen, die endgültige Vertreibung aus Augsburg zu verhindern. 81 Doch scheint er ein stärkeres Engagement nicht für lohnend gehalten zu haben, denn noch im selben Jahr verhandelte er mit Augsburg über die Entschädigung des Königs wegen der Vertreibung der Juden.82 Mittlerweile hatte nämlich der Rat vollendete Tatsachen geschaffen - dies gerade auch auf Druck des Klerus hin. Denn wie der Rat selbst am 7. Juli 1438 die Vertreibung begründete, hatte er seinen Beschluß gefaßt sunderlich umb des willen, das man an den cantzeln offennlich von in [d.h. den Juden] prediget, wievil Übels darus komme, des man si in Stetten und ouch anderschwa enthielte,83 Ein anderer Grund war, daß sich die Juden nicht an die Gebote und Gesetze der Stadt gehalten hätten - was immer darunter zu verstehen ist. Immerhin vertrieb der Rat die Juden nicht bei 'Nacht und Nebel 1 , sondern gestattete ihnen, vor ihrem Wegzug ihre Liegenschaften zu veräußern, was jedoch deren Preise bestimmt nicht in die Höhe trieb. Schon 1439 waren von den 22 steuerzahlenden Juden sechs weggezogen.84 Die Steuersumme der noch verbliebenen betrug nur gut 56 Gulden. Spätestens ab 1440 wohnte kein Jude mehr in Augsburg; nach 1445 wurde auch der Judenfriedhof nicht mehr genutzt, so daß dessen Grabsteine bald zum Rathausbau verwendet wurden. 85 Wahrscheinlich wanderten die meisten vertriebenen Juden in andere Städte in Schwaben, Franken und am Mittelrhein aus; der berühmte Rabbi Jakob ben Juda Weil wirkte nach 1438 erst in Bamberg, dann in Erfurt. 86 Daß sich einige Juden
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StadtAAug. MS Schätze 74 (Bürgerbuch), fol. 180 v (22.7.1426). F.L. Steinthal (Anm. 2) S. 47. Deutsche Reichstagsakten Bd. 14. Hg. von Helmut Weigel. Göttingen 2. Auflage 1957. Nr. 143. S. 264. Deutsche Reichstagsakten (Anm. 80) Nr. 146. S. 266. Deutsche Reichstagsakten (Anm. 80) Nr. 121. S. 238 u.ö. Deutsche Städtechroniken Bd. 5. Beilage III. S. 377f. Deutsche Städtechroniken Bd. 5. S. 380; vgl. die 'recessit'-Vermerke im StadtAAug. Steuerbuch zu 1438. fol. 20 v . Vgl. z.B. Burkhard Zink (Deutsche Städtechroniken Bd. 5) S. 162; R. Grünfeld (Anm. 2) S. 35; F.L. Steinthal (Anm. 2) S. 50f. GJ Bd. III/l (Anm. 2) S. 47 und 49.
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schon damals in Augsburg nahen Dörfern wie Pfersee oder Kriegshaber niederließen, ist eher unwahrscheinlich. Und wenn sich auch in der folgenden Zeit vereinzelt Juden tagsüber als Händler oder Hausierer in Augsburg betätigt haben dürften, so gerieten sie als reale Gruppe doch zunehmend in Vergessenheit. Daher konnten nun auch stärker als zuvor Berichte über vorgebliche Schandtaten verbreitet und geglaubt werden. So berichtete z.B. ein Chronist des 16. Jahrhunderts über einen angeblichen Ritualmord: Am Gründonnerstag 1475 (also etwa zeitgleich mit Trient und dem auch inhaltlich entsprechend) hätte ein Jude den zweieinhalbjährigen Sohn eines Augsburger Schusters entführt und gemeinsam mit acht Gefährten gequält und getötet. Am Ostertag hätte man den Knaben gefunden und die neun Juden gefangen. Deren Bestrafung: Einer - wohl der Hauptschuldige - sei gerädert, sechs andere seien verbrannt worden; lediglich zwei, die sich hätten taufen lassen, seien gnädigerweise enthauptet worden. Fazit des Chronisten: unnd man behiellt das Kind [in verehrungsvollem Gedächtnis], da wirkket got gross wunderzeichen durch das Kind, wann es ist ain grosser Marterer.*1
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StadtAAug. Reichsstadt Chroniken Nr. 55. fol. 284 r / v .
Zur wirtschaftlichen Lage und Tätigkeit der Juden im deutschen Sprachraum des Spätmittelalters Michael Toch
Stereotypen von Juden und jüdischem Leben sind heute keine Seltenheit und waren es auch im Mittelalter nicht. Unter den zahlreichen geläufigen Stereotypen mögen die folgenden zwei unsere Thematik besonders eng berühren: 1) Juden sind Geldhändler; 2) Juden sind reich. 1 Wie potent solche Stereotypen in der Geschichte des christlich-jüdischen oder deutsch-jüdischen Verhältnisses waren, brauche ich hier und heute nicht zu erklären. Es soll jedoch zumindest auf ihre Potenz auch im modernen jüdischen Selbstverständnis hingewiesen sein. Die Frühgeschichte des Zionismus oder auch die Geschichte der israelischen Arbeiterbewegung und Kooperative ist nicht verständlich ohne die von der Aufklärung übernommene Idee der Reproduktivisierung der Juden, ohne die im vorigen und zu Beginn unseres Jahrhunderts bei jüdischen Liberalen wie Sozialisten weit verbreitete Vorstellung, daß die auf dem Kopf stehende Berufspyramide von jüdischen Handelstreibenden und Freiberuflichen auf die Basis gestellt werden müßte, daß eben ein jüdisches Arbeiter- und Bauerntum zu schaffen sei. Theodor Herzl hat das gleiche etwas emotionaler mit dem Postulat nach der jüdischen Dirne und dem jüdischen Dieb ausgedrückt. So interessant und diskussionswürdig, so problematisch vielleicht aber auch in unserer heutigen Sicht solche Versuche des social engineering sein mögen, meine Fragestellung berühren sie nicht. Mir geht es allein um die Feststellung und Erklärung des historisch Gewesenen: Enthalten die Stereotypen vom jüdischen Geldgeschäft und Reichtum einen historischen Kern? Diesen Fragen möchte ich für den deutschen Sprachraum des Spätmittelalters nachgehen. Anders formuliert,
Rainer Erb: Stereotype Vorstellungen über Juden in der Bundesrepublik Deutschland heute. In: Besucherforschung und Vermittlungsstrategien in historischen Ausstellungen. Hg. vom Haus der Bayerischen Geschichte. München 1991. S. 20-24, hier S. 21. Die höchste Übereinstimmung gab es unter den Befragten aller Altersgruppen zu folgendem: "Juden sind erfolgreich im Geschäftsleben (75%)."
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geht es um die bis jetzt nur in begrenzten Ortsstudien angesprochene Frage der Berufsstruktur und um das damit eng verbundene Problem der wirtschaftlichen Lage der Juden. Ich glaube, daß wir nunmehr an die Synthese gehen können, aus eben jenen Gründen, die meinen geographischen und chronologischen Rahmen bestimmen. Für den deutsch-aschkenasischen Sprachbereich, politisch das Alte Reich mit den Niederlanden, der Schweiz, Osterreich, Böhmen, Mähren, Slowenien, Südtirol, liegt für die Periode von 1350 bis etwa 1520 das Monumentalwerk der 'Germania Judaica III' vor. Es gründet auf einer im Vergleich zu früheren Versuchen ausgesprochen breiten und systematisch erschlossenen Quellenbasis, die zwar nicht überall gleicherweise vollständig, dennoch sowohl die innerjüdischen wie auch die nichtjüdischen Quellen umfaßt. 2 Auf dieser Quellengrundlage hat sich mir schon früher die Gelegenheit zur synthetischen Betrachtung der jüdischen Siedlungsgeschichte wie auch der Wirtschaftstätigkeit der jüdischen Frau ergeben. 3
I. Zum ersten Stereotyp des jüdischen Geldhandels brauchen wir nicht das gesamte Quellenmaterial der 'Germania Judaica III' einzusetzen, können nunmehr jedoch auf ihrer Grundlage ein gesichertes Urteil abgeben. Der Geldhandel war zweifellos und mit großem Abstand der wichtigste in allen Regionen verbreitete Beruf der Juden des Spätmittelalters. Er war es, der die Existenzgrundlage des aschkenasischen Judentums bildete. Mehr noch, er war der eigentliche Grund, warum Juden in jener Zeit der zunehmenden Anfeindungen und Austreibungen überhaupt Boden unter den Füßen und ein Dach über dem Kopf finden konnten. Wie aus unzähligen Schutzbriefen hervorgeht, wurden Juden in deutschen Städten und Territorien zunehmend nur mehr in ihrer Eigenschaft als Geldhändler aufgenommen. Jede andere berufliche Betätigung minderte die Chancen der 'Stättigkeit', der ersehnten und immer mit viel Geld zu bezahlenden Aufenthaltsgenehmigung.
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Zur Methode der Erschließung siehe das Vorwort des Herausgebers, Arye Maimon: GJ Bd. III/1. Tübingen 1987. S. VII-X. Michael Toch: Siedlungsgeschichte der Juden Mitteleuropas im Wandel vom Mittelalter zur Neuzeit. In: Juden in der christlichen Umwelt während des späten Mittelalters. Hg. von Alfred Haverkamp, Franz-Josef Ziwes. Berlin 1992 (ZHF Beiheft 13) S. 29-39; M. Toch: Die judische Frau im Erwerbsleben des Spätmittelalters. In: Truma. Heidelberg. Im Druck. Wiederum danke ich den Herausgebern der 'Germania Judaica' für die Erlaubnis, das Material des im Druck befindlichen zweiten Teilbandes (Ortsartikel, Buchstaben M-Z) wie auch die Regionalartikel einsehen und auswerten zu dürfen.
Zur wirtschaftlichen
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War der Geldhandel der einzige und ausschließliche Beruf der Juden? Auch dazu können wir nunmehr eine eindeutige Antwort geben. Sie lautet nein. In vielen, auch kleinen Gemeinden finden wir Juden, deren Tätigkeit wir heute als gehobene bzw. niedere Dienstleistungsberufe kennzeichnen würden. Am besten bekannt sind die Rabbiner und Gelehrten; sodann die niedriger gestellten Kultusfunktionäre: Vorsänger, Schulklopfer, Synagogendiener und Schreiber; sodann koschere Fleischer und Bäcker, deren Tätigkeit eine rituelle wie auch eine handwerkliche Dimension besaß. Ihr aller Wirken war dem jüdischen Selbstverständnis nach Voraussetzung für eigentliches jüdisches Leben, darum war ihre Ansässigkeit immer Anliegen der ganzen Gemeinde. Diese war zumeist bereit, den Obrigkeiten den geforderten Preis zu zahlen, und aus dem schriftlichen Niederschlag der Verhandlungen wissen wir über solche berufliche Tätigkeiten. Nur aus größeren Gemeinden sind weitere Dienstleistungsberufe quellenmäßig belegt: Friedhofswärter und Totengräber, 4 Leichenwäscherin, 5 männliche und weibliche Bedienstete beim rituellen Bad, 6 Herbergs- bzw. Spitalleiter,7 Gemeindeschulmeister, 8 Gemeindekoch 9 und Wirt, 10 Wasserträger, 11 Pferdewärter, 12 Botenläufer, 13 Karrenmann, 14 Bartscherer, 15 Lohnwäscherinnen. 16 Diese Tätigkeiten gehören zum Teil der rituellen Sphäre an (etwa der Totengräber und Badewärter), andere sind Dienstleistungen im Sinne einer modernen Gemeindeverwaltung (so der Wasserträger und Pferdewärter), andere wiederum würden wir heute den privaten Dienstleistungen zuordnen, so die Bartscherer. Gab es diese niedrigen Dienstleistungsberufe nur in den größeren Gemeinden und damit nur an relativ wenigen Orten? Anders formuliert, brauchen wir den ausdrücklichen Quellenverweis oder können wir uns darauf verlassen, daß es, der inneren Logik jüdischen Gemeindelebens folgend, solche Tätigkeiten unentdeckt vom wachsamen Auge der Obrigkeit an weitaus zahlreicheren, wenn nicht an allen Orten jüdischer Siedlungen gab? Nehmen wir einen Aspekt des jüdischen Rituallebens, die Reinigung der Frau nach der monatlichen Regel, wozu natürlich ein 4
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In Erfurt, Frankfurt a.M., Heilbronn, Nürnberg, Regensburg, Ulm, Windecken; in Prag gab es dazu noch Verwalter des Friedhofs. Nürnberg. Erfurt, Magdeburg, Nürnberg, Worms. Bamberg, Frankfurt a.M., Koblenz, Magdeburg, Mainz, Prag. Frankfurt a.M. Augsburg, Erfurt, Nürnberg. Cilli, Krems, Wien. Nürnberg, Regensburg. Nürnberg. Bamberg, Breslau, Nürnberg. Rothenburg ob der Tauber. Minden, Nürnberg, Prag, Worms. Wiener Neustadt.
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rituelles Bad notwendig ist. Ausdrückliche Quellenerwähnungen der Existenz solcher 'Mikvaot' habe ich an dutzenden Orten gefunden, beinahe überall wo topographische Nachrichten zum Judenviertel erhalten sind. Das zum Betrieb des rituellen Bades nötige Dienstpersonal wird jedoch nur an drei Orten erwähnt. Die Erklärung dieser Diskrepanz, die Klärung der Frage, wo sich die jüdischen Dienstleistungsberufe verbergen, ist weit mehr als nur technischer Natur, sie führt uns direkt zum zentralen Problem der jüdischen Sozial- und Wirtschaftsstruktur. Die neuere Forschung hat darauf aufmerksam gemacht, daß sich ein guter Teil der mittelalterlichen Bevölkerung, besonders in den niedrigeren Sozialschichten der städtischen Handwerke, von verschiedenen gleichzeitig oder abwechselnd betriebenen Berufen ernährt hat.17 Es ist nicht nur möglich, sondern auch in den Quellen belegt, daß dies auch und gerade unter den Juden verbreitet war, daß zum Beispiel Kultpersonen gleichzeitig mehrere Kultfunktionen ausübten. Eine hebräische Autobiographie notiert für das Jahr 1382 wie folgt: Ich ließ mich in Koblenz nieder [...] und diente dort der Gemeinde als Vorsänger, Schlächter, Prüfer (der Lebensmittel) und Wirt.18 Eine erste Erklärung liegt also in der Tatsache, daß eine Person gleichzeitig oder abwechselnd mehrere Berufe ausübte, ohne daß diese sich alle fein säuberlich in den Quellen niederschlugen. Zweitens müssen wir die Besonderheiten der obrigkeitlichen Verwaltungsschriftlichkeit in Betracht ziehen. Zum Bürgerrecht zugelassen, besteuert und daher regelmäßig aufgeschrieben wurden beinahe ausschließlich nur die Geldhändler. Der Rest der jüdischen Bevölkerung war nicht von fiskalischem Interesse. Meistens wurden diese Bevölkerungsgruppen unter den privilegierten Haushalten subsumiert. An anderen Orten wiederum, so in Frankfurt am Main, wurde das Aufenthaltsrecht der Gemeindebediensteten grundsätzlich nicht beurkundet. 19 Zuweilen waren diese Gruppen Gegenstand von punktuellen Untersuchungen, wenn es sich, wie es gegen Ausgang des Mittelalters periodisch der Fall war, darum handelte, die jüdische Bevölkerung zu kontrollieren und zahlenmäßig auf die wohlhabenden zu beschränken. Auf jeden Fall ist die Quellenüberlieferung zu diesen Dienstleistungsberufen sehr dünn gesät, eben weil solche Menschen nur sporadisch ins obrigkeitliche Augenmerk gelangten. Wo wir nun solche Erhebungen besitzen, zeigt sich, daß die Gemeindebediensteten und Handwerker durchaus zahlreich vorhanden waren. So etwa in Nürnberg, wo unter den am Sabbath, dem 14. März 1489, von einem Stadtschreiber namentlich in der Synagoge aufgezeich-
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H. Swanson: Medieval Artisans. An Urban Class in Late Medieval England. Oxford 1989. Israel Jacob Yuval: A German Jewish Autobiography from the 14th Century. In: Tarbiz 55. 1986. S. 565; siehe auch GJ Bd. III/l (Anm. 2), Eintrag Höchstädt/Donau. GJ Bd. III/2 (Anm. 2), Einträge Triest, Windecken. GJ Bd. III/l (Anm. 2), Eintrag Frankfort a.M. S. 354.
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neten männlichen, über 13 Jahre alten Juden, insgesamt 11, das sind 14 % der Anwesenden, in diese Kategorien gehörten. 20 Mit den für die Gemeinde Wirkenden ist das Problem der versteckten jüdischen Bevölkerung, die nicht im Geldhandel tätig war, noch längst nicht abgeschlossen. Wir wissen heute mit Sicherheit, daß es in beinahe jedem zum Geldhandel privilegierten Haushalt jüdisches Dienstpersonal gab. In Nürnberg, das uns für das Jahr 1489 einen einmaligen Einblick in solche Verhältnisse erlaubt, waren von insgesamt 15 Haushalten 14 mit Bediensteten bestückt, darunter 10 Hauslehrer und 9 Knechte. Nur ein Haushalt, der einer Witwe, mußte ohne Hilfe auskommen. 21 In der Mehrzahl der acht Familien, die sich nach dem Pogrom 1350 in Osnabrück niederließen, gab es je eine ledige Magd, einen ledigen Knecht und einen ledigen Kinderhauslehrer. 22 Ähnliche Verhältnisse finden wir in Nördlingen oder in Worms, wo 1495/96 74 erwachsene Frauen gezählt wurden, von denen 19 als Mägde dienten. 23 Ein letzter Blick auf Prag, gegen Mitte des 16. Jahrhunderts eine Großgemeinde, die im Vergleich zu den mittelalterlichen Gemeinden sehr viele Arme beherbergte. Von den im Jahre 1546 aufgezeichneten 126 mit Geleitbrief privilegierten Haushaltungen besaßen mindestens die Hälfte eindeutig Dienstboten, die zum allergrößten Teil als Köchinnen gekennzeichnet waren. 24 Warum so viele Hauslehrer, Knechte und Mägde? Einmal, weil die Haushalte und Familien von Geldhändlern per definitionem begütert waren und deshalb die Mittel zur Beschäftigung von Dienstpersonal besaßen. Der hohe Stellenwert, der in der traditionellen jüdischen Gesellschaft der Gelehrsamkeit beigemessen wurde und immer noch beigemessen wird, erklärt die Anwesenheit der so zahlreichen Hauslehrer. 1498 waren es in Nürnberg 13 % der erwachsenen Männer, mehr als die Kultus- und Gemeindebediensteten zusammengenommen. 25 Ein zusätzlicher Grund für die Anwesenheit so vieler Bediensteter liegt in einer weiteren Besonderheit der jüdischen Siedlungsstruktur. Sehr viele der jüdischen Gemeinden waren winzig klein und bestanden aus nicht mehr als einer Handvoll privilegierter Familien, oft nur aus einer einzigen Familie. 26 Solche Familiengemeinden zogen jüdisches Dienstpersonal an, manchmal Familienangehörige, die sonst nicht die
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Michael Toch: Die soziale und demographische Struktur der jüdischen Gemeinde Nürnbergs im Jahre 1489. In: Wirtschaftskräfte und Wirtschaftswege. Festschrift für Hermann Kellenbenz. Bd. V. Hg. von Jürgen Schneider. Stuttgart 1981. S. 79-91. M. Toch, Struktur (Anm. 20) S. 82f. GJ Bd. III/2 (Anm. 3) Eintrag Osnabrück. GJ Bd. III/2 (Anm. 3) Einträge Nördlingen, Worms. Gerson Wolf: Zur Geschichte der Juden in Österreich. I. Verzeichnis der Prager Juden, ihrer Frauen, Kinder und Dienstboten im Jahre 1546. In: Zeitschrift für die Geschichte der Juden in Deutschland 1. 1887. S. 176-189. M. Toch, Struktur (Anm. 20) S. 80. M. Toch, Siedlungsgeschichte (Anm. 3) S. 33-35.
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Aufenthaltsberechtigung erlangen konnten, zuweilen Waisen und Arme, die in dieser Weise versorgt werden konnten. Nur mit einer ganzen Peripherie von abhängigen Personen konnten solche Kleingemeinden die zum öffentlichen Gebet notwendigen zehn erwachsenen männlichen Personen zusammenbringen. Nur so konnten auch winzige Gruppen von Juden, deren Haupt vollberuflich als Geldhändler tätig war, rituelle Gebote erfüllen, ohne die jüdisches Leben undenkbar war. In der Kleinstadt Osterburg (Bezirk Magdeburg) etwa lebten 1510 zumindest zehn erwachsene jüdische Männer, von denen vier Angehörige einer Großfamilie waren, vier 'Diener' des Hauptes dieser Familie und ein Rabbiner. 2 7 W i r können annehmen, daß auch der Rabbiner in irgendeinem Dienstverhältnis zum Haupt der Großfamilie stand. Ich möchte daher die insgesamt spärlichen, aber über ein breites Spektrum gestreuten Angaben zu den Dienstleistungsberufen und Privatbediensteten in den privilegierten Geldhändlerhaushalten als die Spitze eines Eisbergs verstehen, dessen wahre Ausmaße sich unter den Besonderheiten der Quellenüberlieferung verbergen. Auch von der Sache her haben wir es mit einer Grauzone zu tun, die kaum auslotbar ist. Die spezifisch vormoderne Struktur der Hauswirtschaft, des 'ganzen Hauses', verdeckt sehr viel von dem, was wir heute als eigenständige berufliche Tätigkeit verstehen würden. Was den Umfang dieser versteckten jüdischen Bevölkerung betrifft, so sind wir geneigt, diesen auf bis zur Hälfte der überlieferten Seelenstärke der Gemeinden anzusetzen. 28 Falls ich mit dieser Vermutung recht haben sollte, was allerdings kaum j e zu beweisen sein wird, müßten wir unsere Schätzungen der jüdischen Bevölkerung im Mittelalter (auch vor 1 3 5 0 , denn die grundsätzlichen Konturen bestanden schon vorher) um etwa 3 0 % bis 4 0 % anheben.
IL Mit dem nächsten Aspekt der jüdischen Berufstätigkeit befinden wir uns auf weitaus sichererem Boden. Dies aus dem einfachen Grund, weil die jüdischen Doktoren der Medizin im Mittelalter auch in der christlichen Umgebung einen hohen R u f besaßen und sehr oft von Fürsten und Stadtobrigkeiten herangezogen wurden, oft sogar als fest angestellte Leib- und Stadtärzte. All das und besonders auch ihre Besoldung hat sich im Quellenmaterial niedergeschlagen. Insgesamt
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GJ Bd. III/2 (Anm. 2) Eintrag Osterburg. Eine gewisse statistische Stützung bieten die Zahlen, die von Yacov Guggenheim beigebracht wurden: Social Stratification of Central European Jewry at the End of the Middle Ages: The Poor. In: Proceedings of the Tenth World Congress of Jewish Studies. Proceedings Division B. Vol. I. Jerusalem 1990. S. 130-136, Anm. 2. [hebr].
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habe ich im deutschsprachigen Raum für das Spätmittelalter 167 namentlich bekannte jüdische Ärzte gezählt, eine immens hohe Zahl, auch wenn diese vielleicht ein wenig herabgesetzt werden muß. Da die Ärzte zu den geographisch mobilsten Elementen der jüdischen Bevölkerung zählten, mag ich einige von ihnen an verschiedenen Orten mehrfach gezählt haben. Nach den Rabbinern, deren Ruhm im innerjüdischen Schrifttum überliefert ist, sind die Ärzte die einzige Berufsgruppe, deren Mitglieder durchweg dem Namen nach bekannt sind, ein Zeichen für das Ansehen, das sie in ihrer wie auch in der christlichen Umgebung genossen. Solche Ärzte kommen auch und gerade in Regionen vor, die im Spätmittelalter sonst kaum jüdische Gemeinden beherbergten, so die Niederlande mit dem deutschen Nordwesten, die heutige Schweiz und Altbayern. Es brauchte ihrer besonderen Fähigkeit, um die extrem starke Judenfeindschaft dieser Gegenden zu überwinden. Neben den Rabbinern sind die Ärzte wiederum die einzige Gruppe, die mit Leichtigkeit von Kulturkreis zu Kulturkreis wechselten: Ein Moses kam aus Rom über Aschaffenburg nach Frankfurt am Main, wo er 1523 als Stadtarzt angestellt wurde und anscheinend einer der Pioniere der Syphilisbehandlung war. 29 Feifei, landfarer und Wundarzt von der heiligen Stadt Jerusalem, kam auf seinen Wanderungen auch nach Prag, wo er 1417 Leibarzt König Wenzels wurde. Er war auch, und damit schließen wir einen früheren Kreis, Schächter. 30 Bei einigen im Schweizer Raum tätigen jüdischen Ärzten sind weniger weitläufige Wanderungen festzustellen. Falls wir den Herkunftsnamen trauen können, dürften sie aus Frankreich, vielleicht auch aus Savoyen eingewandert sein. Vielleicht sind es diese fremden Wurzeln, die Verbindung zur hochentwickelten südeuropäischen medizinischen Kultur, die im mittel- und westeuropäischen Raum den Ruhm der jüdischen Heilkunst begründet haben. Die jüdische Medizin schloß auch bescheidene Arzneihändler, Apotheker und Wundärzte ein, eine gute Zahl von Spezialisten in der Augenheilkunde, nicht wenige Arznei praktizierende Frauen und Hebammen, sowie zahlreiche Zahnärzte. Und es gab auch einen hochrenommierten Tierarzt, Ytzinger der Junge von Kronberg, der 1486 um seiner Kunst willen vom Mainzer Erzbischof im rheinischen Flecken Vallendar aufgenommen wurde. Er war vielleicht identisch mit dem 1487 nach Köln berufenen Tierarzt David und mit dem zwischen 1489 und 1509 zeitweise in Frankfurt am Main bezeugten Isaak (Hitzing) von Kronberg. 31 Jedoch nicht immer ging es um Prominenz und Superstars. Aus Weinheim an der Bergstraße sind wir 1365 von der Absicht des Rabbiners Lebelang unterrichtet, beim Orte aussätzige Juden anzusiedeln, die er als ihr truwenhelder betreuen und die von jüdischen oder christlichen 'Pflegern und Boten1 gepflegt werden 29 30 31
GJ Bd. III/l (Anm. 2), Eintrag Frankfurt a.M. GJ Bd. III/2 (Anm. 3), Eintrag Prag. GJ Bd. III/2 (Anm. 3), Eintrag Vallendar.
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sollten. Wahrscheinlich kam dieser Plan sogar in kleinerem oder größerem Maße zur Ausführung. Die jüdische Heilkunst wirkte eben auch nach innen, nicht nur in die christliche Umgebung, wie uns der einseitige Gebrauch der Quellen suggerieren könnte.
III. Die spätmittelalterlichen Juden trieben, das können wir nunmehr gesichert sagen, nicht nur Geld-, sondern auch Warenhandel. Dies geht aus häufigen, wenn auch örtlich und chronologisch vereinzelten Quellenerwähnungen klar hervor. Sehr oft erscheint dieser Handel als Ausfluß und Ergebnis der Kreditoperationen, der Pfandleihe, als Verkauf von zu Pfandern gesetzten und verfallenen Gegenständen des täglichen Lebens, im Gegensatz zur Struktur, die sich dann in der Frühneuzeit herausbilden sollte. 32 Der an vielen Orten erwähnte Handel mit Gebrauchtkleidern, Kleinoden, Möbeln und anderen Gegenständen der Hauseinrichtung fallt in diese Kategorie. Gegen Ende des Mittelalters scheint diese Beschäftigung zugenommen zu haben, als Nebenergebnis der zunehmenden Marginalisierung der jüdischen Geldleihe, die immer stärker dazu führte, die ausgegebenen Kapitalien durch Pfander sichern zu müssen. 33 Jedoch nicht die Pfandleihe allein war für den jüdischen Handel typisch. Wir können auch die Anfange eines frühmodernen Typus wahrnehmen in der zunehmenden Verbreitung des jüdischen Engagements im Wein-, Lebensmittel-, Vieh- und Pferdehandel. 34 Solcher Weinhandel konzentriert sich notwendigerweise auf die Rebengebiete, wie etwa das Elsaß, Franken und Niederösterreich, er erscheint aber auch in Randgebieten wie Slowenien und Kärnten. Dort scheint es sich um umfangreiche, wohlorganisierte und kapitalintensive Importgeschäfte gehandelt zu haben, im Gegensatz zu den mehr als Gele-
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Michael Toch: Die ländliche Wirtschaftstätigkeit der Juden (in Vorbereitung). Diese Entwicklung wird im chronologischen Vergleich sichtbar: Michael Toch: Geld und Kredit in einer spätmittelalterlichen Landwirtschaft. Zu einem unbeachteten hebräischen Schuldenregister aus Niederbayern (1329-1332). In: Deutsches Archiv für Forschung des Mittelalters 38. 1982. S. 499-550; Wolfgang v. Stromer, Michael Toch: Zur Buchführung deutscher Juden im Spätmittelalter. In: Wirtschaftskräfte und Wirtschaftswege. Festschrift für Hermann Kellenbenz. Bd. I. Hg. von Jürgen Schneider. Stuttgart 1978. S. 387-410; siehe auch Michael Toch: Der jüdische Geldhandel in der Wirtschaft des deutschen Spätmittelalters. Nürnberg 1350-1499. In: Blätter für deutsche Landesgeschichte 117. 1981. S. 283-310; Michael Toch: Jüdische Geldleihe im Mittelalter. In: Geschichte und Kultur der Juden in Bayern. Aufsätze. Hg. von Manfred Treml, Josef Kirmeier. München 1988 (Veröffentlichungen zur bayerischen Geschichte und Kultur 17/88). S. 85-94. M. Toch, Wirtschaftstätigkeit (Anm. 32).
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genheitsgeschäfte erscheinenden Tätigkeiten im westlichen Altsiedelgebiet. Die Schwerpunkte systematischer jüdischer Handelstätigkeit haben im Spätmittelalter gerade im Osten, besonders in Böhmen, gelegen. Im Westen hatten die Juden keine Chance gegen die christliche Kaufmannskonkurrenz, die die Obrigkeiten nachdrücklich beeinflußte, an manchen Orten ja bekannterweise sogar direkt beherrschte. Nur ganz selten, in einigen größeren Gemeinden, finden wir Anzeichen einer jüdischen Infrastruktur des Handels. Es gab jüdische Maklerinnen in einigen Orten, an denen der Handel mit verfallenden Pfändern wohl eine gewisse kritische Masse erreicht hat. 35 Einzig in der jüdischen Metropole Prag des frühen 16. Jahrhunderts, einer in ihrer Komplexität einzigartige Gemeinde, die überhaupt sehr starke frühmoderne Züge besaß, gab es auch spezialisierte jüdische Geschäfte: Eishauer, Greisler, Gänsehändler, Pferdehändler und Schenkwirte. 36
IV. Wie stand es um Handwerksberufe? Wir haben bereits beträchtliche Zahlen von jüdischen Fleischern und Bäckern kennengelernt. Besonders die ersteren sind quellenmäßig in sehr zahlreichen Gemeinden bezeugt, und zusätzliche Ausübende dieses für jüdisches Leben ganz notwendigen Berufs mögen sich unter anderen kultischen Dienstleistungen versteckt haben. Nunmehr geht es uns um solche Berufe, die nicht nur auf das jüdische Publikum ausgerichtet waren, die auch oder wenigstens zum Teil für den allgemeinen Markt produzierten. Das Problem des Berufsverbotes stellt sich hier noch klarer als beim Handel, die Tatsache, daß die in Zünften organisierten christlichen Handwerker sehr oft mit handfestem Druck auf die Obrigkeiten erreichten, den Juden die Ausübung verschiedener Handwerke zu verbieten. In zahlreichen Fällen sind solche Verbote das einzige Indiz für die vorherige Ausübung des Berufes durch Juden. Andererseits ist ganz am Ausgang des Mittelalters, im Gefolge des starken öffentlichen Druckes gegen die jüdische Geldleihe, bei manchen Obrigkeiten eine entgegengesetzte Tendenz festzustellen. Sie kommt z.B. ganz klar in einem Aufnahmeschutzbrief zum Ausdruck, den 1497 der Straßburger Bischof einem Juden für sein Dorf Schäfersheim erteilte: Der Empfänger sollte hier solange siedeln, wie Juden im Bistum geduldet werden. Er durfte den bischöflichen Untertanen kein Geld auf Zinsen leihen, sondern sich nur mit "Fenster- oder Kartenmachen oder Schwertfegen" beschäftigen. 37 35 36
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In Augsburg, Basel, Nürnberg, Perchtoldsdorf, Regensburg, Schlettstadt (?) und Wien. Jan Herman: Die wirtschaftliche Betätigung und die Berufe der Prager Juden vor ihrer Ausweisung im Jahre 1541. In: Judaica Bohemia IV/1. 1968. S. 20-63, hier S. 57-61. GJ Bd. III/2 (Anm. 2), Eintrag Schäfersheim.
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Damit sind wir bei den Handwerksberufen, die von Juden ausgeübt wurden. Ganz grob gegliedert, habe ich folgende Gruppen gefunden: Beutler, Gürtler, Kürschner, Sattler, Schuster, Futteralmacher und (in Magdeburg) vielleicht auch zwei Hersteller von Blasbälgen. In der Textilbranche: Weber, Schleierhersteller und Schneider. In der Metallverarbeitung: Glöckner, Schleifer, relativ zahlreiche Schwertfeger und Goldschmiede. Dann gibt es eine Gruppe von Berufen, in denen die Juden anscheinend besonders stark vertreten waren: Spielkartenmacher (unter ihnen auch eine Frau in Worms), Würfelmacher, Maler, Buchdrucker (erstmals in Prag), Buchbinder. Als kurios seien vermerkt die Hersteller von Schofaroth, aus Widderhörnern hergestellte Blasinstrumente, die in der Synagogenliturgie zur Anwendung kommen; und auch ein Mausefallenmacher (in Prag). Es gab jüdische Brauer, Branntweinbrenner, einen Müller, Drechsler und Maurer. Ein jüdischer Beruf dürfte der des Fenstermachers und Glasers gewesen sein, der an acht verschiedenen Orten erwähnt wird. Was die Verbreitung des jüdischen Handwerks betrifft, so scheint der Straßburger Bischof also ganz recht gehabt zu haben: Fenstermacher, Kartenmacher und Schwertfeger sind tatsächlich neben den Goldschmieden am häufigsten belegt. Allerdings war das jüdische Handwerk im Westen noch ein relativ seltener und anscheinend eher gelegentlich ausgeübter Lebenserwerb. In Böhmen dagegen massieren sich die Quellenerwähnungen sowohl mit konkreten Angaben wie auch in der Feststellung des allgemein breiten Engagements der Juden in den Handwerksberufen. Wiederum war Prag der einzige Ort, wo eine ganze Struktur jüdischer Handwerker bestand. Außerhalb Böhmens war es der Widerstand der christlichen Konkurrenz, der wie beim Handel so beim Handwerk die Tätigkeit der Juden kaum zur Entwicklung gelangen ließ. Wiederum müssen wir jedoch den methodischen Zweifel walten lassen: Sehr oft erfahren wir von solchen Tätigkeiten erst im Augenblick ihres Verbots. Das jüdische Handwerk hat möglicherweise wie der jüdische Handel eine weit größere Verbreitung besessen, als wir aus unseren Quellen schöpfen können. Der Erwähnung wert sind auch die hier und dort erwähnten jüdischen Ingenieure und Besitzer von exotischem Fachwissen: So Sammel von Kassel, der mit seinem Dienstherrn, einem Nürnberger Patrizier, am Rammeisberg in Goslar arbeiten sollte; der Büchsenmacher Moyses aus Mühlhausen in Thüringen, der 1486/87 für den Göttinger Rat ein Geschütz fertigte; nach Nürnberg holte der dortige Rat 1426 den Erbauer eines Mühlwerkmodells, 1431 einen Kanalisationsexperten, 1458 einen unbenannten Juden, der etliche kunst und arbait beherrschte; in Trier ließen sich die Bürgermeister 1466/67, lange nach der Vertreibung der Juden aus der Stadt, von einem Juden in einer nicht näher bezeichneten Kunst unterweisen; und der Herzog von Berg nahm 1516 die Fertigkeiten eines Juden Zymmelgen für den Abbau eines Bleiwerks in seinem Amt Windeck in An-
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spruch. 38 Wiederum waren es die besonderen Fähigkeiten einzelner, die zuweilen die grundsätzlich judenfeindliche Einstellung unterlaufen konnten. Wo und wie diese Menschen solche lebensrettenden Qualifikationen erworben haben, können wir, im Gegensatz zum sonst ähnlichen Fall der Ärzte, nicht einmal vermuten.
V. Wenn also die jüdische Bevölkerung weitaus stärker beruflich differenziert war, als es die bisher geläufige Vorstellung vom Geldhandel als einzigen Lebenserwerb zuläßt; wenn die dienenden Schichten einen so großen Teil der jüdischen Bevölkerung darstellten, wie ich versucht habe zu zeigen; wenn Kleinhandel und Handwerk, Großhandel und die gehobenen Berufe der Ärzte und Ingenieure ebenso ihren Platz in der jüdischen Berufsstruktur besaßen, obzwar auch ungleichmäßig in den verschiedenen Regionen des aschkenasischen Judentums; wenn dazu noch die Juden, wie ich an anderem Ort ausgeführt habe, bereits im Spätmittelalter zunehmend über das flache Land zerstreut waren, und die jüdische Bevölkerung zu gutem Teil in einer gänzlich ländlichen Umgebung existierte; 39 wenn all dies zutrifft, dann können wir den reichen Geldleiher, der bis jetzt die Literatur und unser Bewußtsein beherrscht hat, keineswegs als allein typisch ansehen. Dann sind auch bedeutende Korrekturen in unseren Forschungsstrategien gefordert. Die sich zunehmend als stark stratifiziert herausstellende Sozialstruktur erfordert eine Neudeutung der so zahlreichen Konflikte innerhalb der jüdischen Gemeinden. Solche Konflikte wurden bis jetzt, unter der stillschweigenden Annahme einer viel ausgeglicheneren Sozialstruktur als ich sie hier postuliert habe, als Streitigkeiten unter mehr oder weniger Gleichen um die Steuerumlage und um soziale Statussymbole gedeutet. Die gesamte, schwierige und oft beschworene Frage der inneren jüdischen Solidarität in einer immer feindlicheren Umwelt muß nunmehr unter dem sozialen Vorzeichen neu durchdacht werden. Das Problem der Mobilität, der erzwungenen Wanderungen, muß ebenfalls neu betrachtet werden, nicht nur als technische Frage von Herkunftsnamen und Herkunftsorten, sondern als ein sozial differenzierter und über große Räume strukturierter Bestandteil jüdischen Lebens. Dabei werden sich wichtige Einblicke zur Mentalität ergeben, ebenso wie aus der Untersuchung der konkreten Lebensbedingungen der Juden. Fragen wie Bevölkerungsdichte, Wohnbedingungen, Zusammensetzung der Haushalte und Familien sind dabei unbedingt zu klären. Die 38
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GJ Bd. III/1 und 2 (Anm. 2), Einträge Kassel, Mühlhausen in Thüringen, Nürnberg, Rinteln, Trier, Grafschaft Berg. M. Toch, Siedlungsgeschichte (Anm. 3).
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Quellenlage ist dabei weitaus günstiger, als man bei der bisherigen weitgehenden Vernachlässigung dieser Aspekte eigentlich annehmen könnte. Ein weiteres, unserer Aufmerksamkeit würdiges Problem betrifft die geschlechtliche Rollenverteilung unter den Juden. Jüdische Mägde in fast jedem Haushalt, jüdische Witwen, die zum Teil beherrschende wirtschaftliche Positionen einnahmen, zum Teil jedoch eindeutig diskriminiert waren: sie alle fordern von uns eine neue Sicht der jüdischen Familie, die ja traditionell als harmonischer und enggefügter Bereich angesehen wurde, in den man sich angesichts des Druckes der nichtjüdischen Umgebung flüchten konnte. Auch hier wird das Konzept der so oft beschworenen inneren jüdischen Solidarität neu zu befragen sein. Vielleicht wird es sich als ein weiteres Stereotyp herausstellen. Ein letztes abschließendes, chronologisch sehr spät angesiedeltes und in die Frühneuzeit weisendes Quellenzitat mag diese Problemkreise, diese Anforderungen an eine neue jüdische Sozial- und Mentalitätsgeschichte verdeutlichen. 40 1570 klagt die Jüdin Schönle zu Windecken (Hessen), die seit sechs Jahren verwitwet ist, der hanauischen Obrigkeit, daß sie sich mit ihren sechs kleinen Kindern ohne Mann nicht ernähren kann und bittet um Erlaubnis zur Wiederheirat. Da ihr Bräutigam Gutmann von Worms fünf Kinder mit in die Ehe bringt, haben die Räte zunächst Bedenken und geben den Heiratskonsens erst, als Schönle erklärt, daß drei ihrer Kinder bereits im Dienst sind und nicht mehr bei ihr leben. Das Einzugsgeld für den Bräutigam wird auf zwanzig Taler festgelegt. Am 4.12.1570 bittet Schönle um schriftlichen Bescheid über die erteilte Genehmigung, da Gutmann in Worms ihr sonst keinen Glauben schenkte.
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Quellen zur Geschichte der Juden im Hessischen Staatsarchiv Marburg. Hg. von Uta Löwenstein. Nr. 2061, II. S. 161.
II. Landjudentum in der Frühen Neuzeit
Rechtliche Rahmenbedingungen jüdischer Existenz in der Frühneuzeit zwischen Reich und Territorium J. Friedrich Battenberg
I. Wenn in diesem Beitrag von den rechtlichen Rahmenbedingungen jüdischer Existenz die Rede ist, so muß zunächst ein mögliches Mißverständnis geklärt werden. Im allgemeinen wird unter 'Recht' das gesetzlich oder statuarisch normierte Regelsystem verstanden, das kraft staatlicher Sanktion oder obrigkeitlicher Legitimierung für den einzelnen Geltung beanspruchen darf. Wollte man sich für den Bereich des Heiligen Römischen Reiches auf die Suche nach derartigen Regeln machen, so müßte man sehr bald resignieren. Es gab zwar eine Fülle von schriftlich fixierten Normen unterschiedlichster Art und Geltungskraft, die von den verschiedensten Herrschaftsträgern erlassen wurden. Ihre Geltung in der sozialen Wirklichkeit aber war vielfach höchst ungewiß, zumal sie nicht selten durch Vereinbarungen und Einzelverträge, durch Privilegien und Dispensationen unterlaufen wurden. Für den Bereich der Landgrafschaft Hessen-Darmstadt etwa konnte festgestellt werden, daß die als unverändertes und überzeitliches Recht geltende Judenordnung, die von jedem Herrscher neu bekräftigt und in zum Teil undatierten Druckausgaben immer neu verkündet wurde, von ihr widersprechenden und sie ergänzenden Polizeiverordnungen begleitet wurde, die ein praxisnäheres Recht schufen, weil sie auf unmittelbare Bedürfnisse der sozialen Wirklichkeit reagierten. 1 Inwieweit die Regelsätze dieser Polizeiverordnungen von den Zeitgenossen als 'Recht' verstanden wurden, kann dahingestellt bleiben. Jedenfalls spiegelt sich in ihnen, mehr als in den sorgfaltiger redigierten Ordnungen, die in Gewohnheiten und Sitten zum Ausdruck kommende alltägliche Praxis des Rechtslebens wider. Mit den 'rechtlichen Rahmenbedingungen' soll also nicht nur das formale Recht des Reiches und der Territorien gemeint sein. Vielmehr soll damit zugleich der Gesamtkomplex der gesellschaftlichen Normen angesprochen werden, die mit Friedrich Battenberg: Judenverordnungen in Hessen-Darmstadt. Das Judenrecht eines Reichsfürstentums bis zum Ende des Alten Reiches. Eine Dokumentation. Wiesbaden 1987 (Schriften der Kommission für die Geschichte der Juden in Hessen VIII). S. 62.
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denen des formalen Rechts in einer Wechselbeziehung standen. Jede Gesellschaft verfugt - in der Geschichte Alteuropas sehr viel mehr noch als im modernen Staatensystem - über ein Gesamtsystem sozialer Kontrollen, das neben dem Bereich des formalen, staatlichen bzw. herrschaftlichen Rechts auch ein Regelsystem engerer menschlicher Gemeinschaften wie der Familie, der Nachbarschaft oder der Dorfgemeinschaft kennt. 2 Die sich in der Frühen Neuzeit herausbildende Rechtsordnung konnte das System sozialer Normen nur überlagern, ihm andererseits in einer Zeit der Krisen und der Verunsicherung überkommener Traditionen neue Sicherheit und Stabilität verleihen. Sie hatte den Vorteil größerer Legitimität und Autorität, da sich der neue Juristenstand auf diese berufen und damit fixierte Rechtsnormen als Argumente in die Prozeßpraxis einbringen konnte. Man muß also auch hinsichtlich des für die Juden geltenden Rechts von einer Konkurrenz verschiedener 'rechtlicher Rahmenbedingungen 1 ausgehen, die teils in obrigkeitlicher Autorität ihren Ursprung hatten, teils aber auch in einer Fülle von Rechtssätzen kraft sozialer Geltung, die sich in Verträgen und Privilegien finden lassen, teils aber auch in Polizeiverordnungen und Einzeldekreten ihren Niederschlag gefunden hatten. Das für die Landgrafschaft Hessen-Darmstadt für die Zeit vom 16. bis zum 18. Jahrhundert geltende Judenrecht konnte, soweit es aus solch letzteren ermittelt werden konnte, in einer Edition exemplarisch vorgestellt werden. 3 Das für die Juden geltende Recht bestand im alteuropäischen Herrschaftssystem zunächst und in erster Linie in dem für alle, eben für die Christen in gleicher Weise geltenden Recht. Die Juden waren Teil der allgemeinen Rechts- und Sozialordnung, einbezogen in die feudal-strukturierten Lebensbedingungen der Zeit. 4 Selbstverständlich nahmen sie durch Abschluß von Verträgen, durch Erhebung gerichtlicher Klagen, durch Nutzung von öffentlichen Straßen, aber auch z.B. durch die Begehung von strafrechtlich relevanten Delikten an den Pflichten und Rechten teil, die durch die Städte, die Landesherrschaften, das Reich und die Korporationen festgesetzt wurden. Das von Schöffen in den Dorf- und Stadtge-
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Winfried Hassemer: Über nicht-juristische Normen im Recht. In: Zeitschrift für vergleichende Rechtswissenschaft 81. 1982; S. 84-86. Bernhard Diestelkamp: Zur Krise des Reichsrechts im 16. Jahrhundert. In: Säkulare Aspekte der Reformationszeit. Hg. von Heinz Angermeier. München, Wien 1983. S.49-64, hier S. 49f. F. Battenberg, Judenverordnungen (Anm. 1). Dem widerspricht nicht, daß die Juden, obwohl Teil der Rechtsordnung, außerhalb der ständischen Ordnung standen: Als eine soziale Gruppe waren die Juden mit festen und scheinbar unveränderlichen Merkmalen unbezweifelbarer Bestandteil der göttlichen Ordnung, als deren Bestandteil das weltliche Normensystem begriffen werden kann; siehe Friedrich Battenberg: Des Kaisers Kammerknechte. Gedanken zur rechtlich-sozialen Situation der Juden in Spätmittelalter und Früher Neuzeit. In: HZ 245. 1987. S. 545-599, hier S. 551f. und 555.
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richten in Form von Urteilen und Weistümern gefundene Recht bezog Juden in gleicher Weise mit ein. Dieser Grundsatz muß stets im Auge behalten werden, wenn von dem Recht der Juden die Rede ist. Eine Folge davon ist, daß letzteres nicht als ein selbständiges Regelsystem verstanden werden kann, das isoliert neben dem allgemeinen System Bestand hatte. Es war dies vielmehr ein System ergänzender Regeln, das der besonderen Situation einer andersgläubigen, nichtchristlichen Minderheit Rechnung tragen sollte. Freilich war es geprägt vom ideologischen Denken der Zeit, das die Juden als minderberechtigt ansah und sie von der sozialen Kommunikation mit den Christen ausschließen wollte, das sie, wo immer es ging, dämonisierte und zum Gegentyp christlicher Ideale erklärte. Wenn man sich ihrer schon nicht entledigen konnte und auch ihre Dienste in Anspruch nehmen mußte, so wollte man doch wenigstens ihre Lebensbedingungen soweit wie möglich einschränken. Kennzeichen für das vor der Emanzipation geltende Judenrecht, wie es zur Unterscheidung vom 'Jüdischen Recht' als dem innerjüdischen Regelsystem genannt wird, ist also nicht die Existenz eines Sonderrechts, das den Juden von außen auferlegt wurde - wie noch Guido Kisch meinte.5 Vielmehr ist es durch seinen ergänzenden Charakter gekennzeichnet, durch den im wesentlichen lediglich diejenigen Konsequenzen geregelt wurden, die sich durch den Ausschluß der Juden aus der christlichen Gemeinschaft ergaben. Dies bedeutet z.B., daß die Judenordnungen der Territorien nicht als Sonderrechtsordnungen auf die gleiche Stufe wie allgemeine Landesordnungen gestellt werden dürfen. Sie standen vielmehr als supplementäres Recht unterhalb von diesen und waren deshalb häufig auch in die allgemeinen Landesordnungen einbezogen. Dies gilt etwa für die Bayerische Landesordnung von 15536 sowie die Württembergische Landesordnung von 1621.7 Adressaten dieser Ordnungen waren Juden ebenso wie Christen, und was der einen Gruppe zugestanden wurde, wurde der anderen Gruppe als Verpflichtung auferlegt, und wo die eine Gruppe mit einem Verbot belegt wurde, hatte die andere zumindest einen mittelbaren Vorteil davon. Gleichwohl bildeten sich bestimmte Rechtsprinzipien heraus, die im Laufe der Zeit eine Eigengesetzlichkeit innerhalb der allgemeinen Rechtsordnung des Reiches entfalteten, auch wenn diese stets im Hinblick auf die letztere interpretiert werden müssen. Es waren dies die sogenannte 'Kaiserliche Kammerknechtschaft' (II), das besondere jüdische Bürgerrecht (III), die Konsequenzen des Judenregals 5
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Guido Kisch: Forschungen zur Rechts- und Sozialgeschichte der Juden in Deutschland während des Mittelalters. Sigmaringen 1978. 1. Auflage 1954. S. 191f. Polizei- und Landesordnungen. 1. Halbband: Reich und Territorien. Bearbeitet von Gustav Klemens Schmelzeisen. Köln, Graz 1968 (Quellen zur Neueren Privatrechtsgeschichte Deutschlands. Hg. von Wolfgang Kunkel, Gustav Klemens Schmelzeisen, Hans Thieme. Bd. 2). S. 263-324, hier S. 292f. (Teildruck). Polizei- und Landesordnungen (Anm. 6) S. 423-537, hier S. 447-451.
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(IV) und schließlich das System des Schutzjudentums (V). Es sind dies nicht vier logisch nebeneinander stehende Regelungsbereiche, sondern sich teilweise überschneidende und auch in der praktischen Konsequenz sich bisweilen widersprechende Aspekte, die als Regelungsmotive und Orientierungspunkte für das supplementäre Judenrecht angesehen werden können. Durch sie wurden ideologischtheologische Vorstellungen, z.B. zur Knechtschaft der Juden, 8 gefiltert und juridifiziert; sie hatten aber zugleich rechtsschützende Bedeutung, wenn es Diskriminierungen, Verfolgungen und Vertreibungen abzuwehren galt. Es muß allerdings zugleich hinzugefügt werden, daß durch die im folgenden gegebene Beschreibung der vier mitgeteilten Rechtsprinzipien nicht die ganze soziale Wirklichkeit eingefangen werden kann. Das von Stereotypen bestimmte Judenbild der christlichen Gesellschaft in der Frühen Neuzeit, 9 in dem z.B. die Ritualmordlegende eine große Rolle spielte,10 war nicht durch die Ordnungsvorstellungen der Herrschaftsjuristen zu zähmen, und der theoretisch geforderte besondere Schutz der Juden wurde nicht selten zu einem Schutz nichtjüdischer gewerblicher Korporationen vor der gefürchteten jüdischen Konkurrenz in Handel und Gewerbe. 11 Die sozial und politisch schwächere Minderheitengruppe der Juden wurde für die Mängel des frühneuzeitlichen Wirtschaftssystems insgesamt verantwortlich gemacht und zum Gegenbild der kirchlich sanktionierten Werteordnung erklärt. Auch dies muß im Auge behalten werden, um einer allzu euphorischen Beurteilung frühneuzeitlichen Rechtsdenkens im Hinblick auf die Juden zuvorzukommen.
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Vgl. dazu G. Kisch (Anm. 5) S. 62f.; Friedrich Battenberg: Zur Rechtsstellung der Juden am Mittelrhein in Spätmittelalter und Früher Neuzeit. In: Zeitschrift für Historische Forschung 6. 1979. S. 129-183, hier S. 133f. Vgl. dazu zuletzt: Stefan Rohrbacher, Michael Schmidt: Judenbilder. Kulturgeschichte antijüdischer Mythen und antisemitischer Vorurteile. Reinbek 1991. Siehe dazu zuletzt: Wolfgang Treue: Schlechte und gute Christen. Zur Rolle von Christen in antijüdischen Ritualmord- und Hostienschändungslegenden. In: Aschkenas. Zeitschrift für Geschichte und Kultur der Juden. Bd. 2. Wien, Köln 1992. S. 95-116; Friedrich Battenberg: Die Ritualmordprozesse gegen Juden in Spätmittelalter und Frühneuzeit. Verfahren und Rechtsschutz. In: Die Legende vom Ritualmord. Zur Geschichte der Blutbeschuldigungen gegen Juden. Hg. von Rainer Erb. Berlin 1993 (Dokumente, Texte, Materialien. Hg. vom Zentrum für Antisemitismusforschung. Bd. 3). S. 95-132. F. Battenberg, Kaisers Kammerknechte (Anm. 4) S. 553; Markus Wenninger: Man bedarf keiner Juden mehr. Ursachen und Hintergründe ihrer Vertreibung aus den deutschen Reichsstädten im 15. Jahrhundert. Wien, Köln, Graz 1981 (Beihefte zum Archiv für Kulturgeschichte. Bd. 14) S. 199-204.
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II. Die kaiserliche Kammerknechtschaft, die zunächst erläutert werden soll, ist ein Relikt aus dem mittelalterlichen Rechtssystem, das in der staufischen Gesetzgebung Kaiser Friedrichs II. als servitus camere imperialis erstmals rechtstechnisch normiert und reichsweit zur Anerkennung gebracht wurde. 12 In diesem Institut hat die Auffassung des Mittelalters von der rechtlichen Stellung der Juden ihren typischen Ausdruck gefunden. 13 Die theologisch begründete Knechtschaft der Juden wurde in die politisch praktizierbare und gerichtlich durchsetzbare Kammerknechtschaft umgesetzt, aus der sich Schutz- und Herrschaftsrechte des Kaisers ableiten ließen, die zugleich zu einer Einnahmequelle gemacht werden konnten. Als Kammerknechte des Kaisers waren die Juden noch in der Auffassung der frühneuzeitlichen Juristen von zahlreichen üblichen Untertanenpflichten befreit, doch zugleich mit komplementären Schutzabgaben an die kaiserliche Kammer belastet. Der Begriff der Kammerknechtschaft freilich kam wegen seines anrüchigen Inhalts und dem Widerspruch zur postulierten Territorialbeziehung der Juden bereits im 16. Jahrhundert außer Gebrauch. Die hinter dem Begriff stehenden Rechtsvorstellungen jedoch blieben als politisch wirksamer und handlungslegitimierender Anspruch erhalten. Vier Aspekte aus ihrem Regelungsbereich sind es, die für die Frühneuzeit eine besondere Erörterung verdienen. Es ist dies einmal die Vorstellung von einer besonderen Beziehung der Juden zu Kaiser und Reich, von einer quasi reichsunmittelbaren Stellung, die diese aus der allgemeinen Untertanenschaft heraushob (1). Aus dieser Vorstellung folgt der Anspruch einer exemten gerichtlichen Stellung der Juden, da diese ihren besonderen Gerichtsstand vor dem Kaiser und dessen zentralen Reichsgerichten haben sollten (2). Dem gerichtlichen 'Sonderrechtszug' entsprach die Forderung auf Erhebung einer einheitlichen kaiserlichen Steuer, die die Schutzverpflichtung des Reichsoberhauptes in ihrer praktischen Durchführung ermöglichen sollte (3). Und schließlich sollte dem Kaiser noch eine Kontrollfunktion über die territoriale Judenpolitik zustehen, da diese als vom Reich abgeleitet gedacht wurde und das kaiserliche Judenregal als Ausprägung der Kammerknechtschaft ihrer Substanz nach unberührt lassen mußte (4). Im einzelnen sind dazu die folgenden Gesichtspunkte hervorzuheben:
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F. Battenberg, Kaisers Kammerknechte (Anm. 4) S. 559; Dietmar Willoweit: Vom Königsschutz zur Kammerknechtschaft. Anmerkungen zum Rechtsstatus der Juden im Hochmittelalter. In: Geschichte und Kultur des Judentums. Hg. von Karlheinz Müller, Klaus Wittstadt. Würzburg 1988. S. 151-174; siehe dazu demnächst die Beiträge von Dietmar Willoweit und Karlheinz Müller. In: Aschkenas. Zeitschrift für Geschichte und Kultur der Juden. Bd. 4. Wien, Köln 1994. Alex Bein: Die Judenfrage. Biographie eines Weltproblems. Bd. 1. Stuttgart 1980. S. 96.
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1) Die politische Instrumentalisierung einer reichsunmittelbaren Stellung der Juden geht - nach älteren Vorläufern - im wesentlichen auf Kaiser Friedrich III. zurück. Seine Regierungszeit, wie überhaupt die zweite Hälfte des 15. Jahrhunderts, wurde prägend für die Fortentwicklung der Reichsinstitutionen und die Verfestigung der ständischen Beziehungen. Der kaiserliche Hoftag als Beratungsgremium des Herrschers wandelte sich in seiner Zeit zum Reichstag, in dem die Stände in festen Kurien mit Sitz und Stimme vertreten waren, 14 und aus der am jeweiligen Hofe ausgeübten Gerichtsbarkeit des Kaisers wurde mit dem Kammergericht ein von Juristen dominiertes Kollegium, das an einer festen Dingstätte nach einer berechenbaren Prozeßordnung tätig wurde.15 Der auf Reichsebene allenthalben sich zeigende 'Verdichtungsprozeß 1 , 16 durch den die personalen Beziehungen in institutionelle Systeme überführt wurden, konnte natürlich auch an den Juden nicht vorübergehen, da diese mehr als andere Gruppen des Reiches seit eh und je eng mit dem Kaiser verbunden waren. Noch war allerdings offen, ob sich ihr gleichsam überterritorialer Status verfassungsrechtlich einbinden ließ, oder ob mit der Ausbildung der Landesherrschaften auch ihre Territorialisierung befestigt wurde. Zweifellos hat Kaiser Friedrich III. jede sich ihm bietende Gelegenheit genutzt, um die reichsunmittelbare Stellung der Juden des Reiches festzuschreiben. In immer wieder ähnlichen, fast stereotyp gebrauchten Formulierungen ließ er diesen Anspruch durch seine Hofkanzlei formulieren. Nur drei Beispiele sollen herausgegriffen werden: 1470 äußerte sich der Kaiser aus Anlaß des Endinger Ritualmordprozesses 17 wörtlich, daß die gemaine judischeyt uns als römischen keyser von des Heyligen Reichs wegen on mittel allain und niemands anders unterworffen sein und zugehören.n Sechs Jahre später, aus Anlaß des Regensburger Ritual-
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Peter Moraw: Hoftag und Reichstag von den Anfängen im Mittelalter bis 1806. In: Parlamentsrecht und Parlamentspraxis in der Bundesrepublik Deutschland. Ein Handbuch. Hg. von Hans-Peter Schneider, Wolfgang Zeh. Berlin, New York 1989. S. 3-47, hier S. 15f.; Peter Moraw: Versuch über die Entstehung des Reichstages. In: Politische Ordnungen und soziale Kräfte im Alten Reich. Hg. von Hermann Weber. Wiesbaden 1980. S. 1-36. Bernhard Diestelkamp: Vom Königlichen Hofgericht zum Reichskammergericht. In: Recht, Gesetz, Genossenschaft und Policey. Symposion für Adalbert Erler. Hg. von Reiner Schulze. Berlin 1986. S. 44-64; Peter Moraw: Rechtspflege und Reichsverfassung im 15. und 16. Jahrhundert. In: Schriftreihe der Gesellschaft für Reichskammergerichtsforschung 10. Wetzlar 1990, hier S. 8-11; Friedrich Battenberg: Reichshofgericht. In: Handwörterbuch zur Deutschen Rechtsgeschichte. Bd. 4. Hg. von Ekkehard Kaufmann, Adalbert Erler. Berlin 1990. Spalte 615-626 (dort mit zahlreichen weiteren Literaturangaben). Peter Moraw: Von offener Verfassung zu gestalteter Verdichtung. Das Reich im späten Mittelalter 1250-1490. In: Propyläen Geschichte. Bd. 3. Berlin 1985, hier S. 15f. Neueste Darstellung: Ronnie Po-chia Hsia: The Myth of Ritual Murder. Jews and Magic in Reformation Germany. New Häven, London 1988. S. 14-41. Nachweise bei F. Battenberg, Ritualmordprozesse (Anm. 10) S. 118.
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mordprozesses, 19 schrieb er an die Stadt Regensburg,20 daß dieselben juden [von Regensburg] mitsambt aller iudischeit in dem Heiligen Reich uns als römischem keyser on mittel zugehörig sind. In einem Mandat an den Bürgermeister und den Rat zu Worms schließlich machte der Habsburger deutlich, daß er die von der Stadt beabsichtigte Vertreibung der Juden nicht dulden werde, nach dem sy unns und dem Heiligen Reiche on mittel zugehören, und auch ihre Wohnung in der Stadt dem alten Herkommen entspräche.21 In allen drei Fällen ging es dem Kaiser darum, eine juristische Handhabe zur Einwirkung auf Prozesse gegen Juden zu finden, die in deren Vertreibung enden konnten. Es wurde hier noch nicht mit der Tatsache des Mißbrauchs des Judenregals argumentiert, sondern die aus der Kammerknechtschaft erklärte Zuständigkeit wurde direkt in Anspruch genommen. Der Endinger Fall macht zudem deutlich, daß der Kaiser nicht als Territorialherr über Reichsstädte agierte, sondern kraft einer überterritorialen Kompetenz über eine an einen Ort nicht gebundene Personengruppe durchgriff. Daß es ihm dabei in erster Linie um die Absicherung einer Einnahmequelle gehen konnte, ist in diesem Zusammenhang ohne Belang. Wichtiger für den hier erörterten Problembereich erscheint, daß durch die stets von Fall zu Fall betonte 'Reichsunmittelbarkeit' der Juden Präjudizien zugunsten einer Territorialisierung verhindert werden und die Stabilisierung einer traditionell kaisernahen Sozialgruppe erreicht werden sollte. Die Festschreibung der 'Reichsunmittelbarkeit' durch die kaiserliche Kanzlei schuf die Grundlage, die als Legitimationsfaktor zunächst argumentativ eingesetzt werden konnte, die in der konkreten Ausgestaltung aber dann doch disponibel blieb. Es ist bemerkenswert, daß dieser Grundsatz von den Juristen der Stadt Regensburg ohne weiteres anerkannt wurde. Die Juden nämlich seien, wie es in einem von der Stadt in Auftrag gegebenen Gutachten hieß,22 dem der Verfügung des römischen Kaisers anheimgestellten Gemeinen Rechts unterworfen (iudei subiciuntur iuris communis disposicione romano imperatori). Nur wurde dann eben weiter argumentiert, daß sich der Kaiser in früheren Privilegien der Blut- und Hochgerichtsbarkeit zugunsten der Stadt begeben habe; durch eine Abforderung der des Ritualmordes beschuldigten Juden vom Regensburger Gericht wolle er diese überhaupt der Bestrafung entziehen, weil der Kaiser für den Bereich von Regensburg keine eigene Blutgerichtsbarkeit mehr ausüben könne. De facto wurde hier ein Argument des Territorialstaatsrechts des 16. und 17. Jahrhunderts vor19 20 21
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Dazu zuletzt R. Hsia (Anm. 17) S. 66-85. Nachweise F. Battenberg, Ritualmordprozesse (Anm. 10) S. 116. Urkunde von 1487 Juli 15, Stadtarchiv Worms, Abt. IA Nr. 575. Regest in: Quellen zur Geschichte der Juden im Hessischen Staatsarchiv Darmstadt 1080-1650. Bearbeitet von Friedrich Battenberg. Wiesbaden 1994 (Quellen zur Geschichte der Juden in hessischen Archiven 2. Bd. 1). Nr. 1103. F. Battenberg, Ritualmordprozesse (Anm. 10) S. 116.
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weggenommen: Daß nämlich die Wahrnehmung von Schutzaufgaben gegenüber Einzelpersonen nur im Zusammenhang mit tatsächlich bestehenden Hoheits- und Herrschaftsrechten zulässig sei, in der Regel damit nur zusammen mit der Landeshoheit. 23 Die Folge davon war, daß das kaiserliche Zugriffsrecht auf Randbereiche abgedrängt und die Reichsunmittelbarkeit ausgehöhlt wurde. Was Kaiser Friedrich III. von Fall zu Fall als Anspruch formuliert und auch teilweise durchgesetzt hatte, wurde von Kaiser Karl V. unter anderen politischen Voraussetzungen normativ festgeschrieben und hinsichtlich seiner Einzeldimensionen deutlich gemacht. Dies geschah vor allem in einem 1544 der Judenschaft des Heiligen Römischen Reiches erteilten umfangreichen Privileg, das diese in Ablösung eines älteren Privilegs und zur Abwehr von Ritualmordbeschuldigungen und anderer judenfeindlicher Aktionen auf Betreiben ihres Vorstehers Josel von Rosheim 2 4 erreichen konnte. 25 Auf die juristische Konstruktion einer reichsunmittelbaren Stellung der Juden wurde hier allerdings verzichtet, da die verschiedenen, ihnen gewährten Einzelrechte ohne diesen Umweg unmittelbar aus der kaiserlichen Schutzgewalt abgeleitet werden konnten. Nach der Formulierung des Privilegs hat der Kaiser unser gemaine Judischeit von neuem in unser und des Heiligen Reichs Verspruch, Schutz und Schirm genomen und empfangen,26 Dieses Privileg war den Juden so wichtig, daß sie es von späteren Herrschern nach ihrem jeweiligen Regierungsantritt erneuern ließen. 27 Es wurde damit zugleich Teil des Reichsrechts, das nur dem Kaiser zur Disposition stand. 28
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Friedrich Battenberg: Assenheimer Judenpogrome vor dem Reichskammergericht. Die Prozesse der Grafschaften Hanau, Isenburg und Solms um die Ausübung des Judenregals 15671573. In: Neunhundert Jahre Geschichte der Juden in Hessen. Beiträge zum politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Leben. Hg. von der Kommission für die Geschichte der Juden in Hessen. Wiesbaden 1983. S. 123-149, hier S. 135. Hierzu mit ausführlicher Analyse des Privilegs vgl. Selma Stern: Josel von Rosheim. Befehlshaber der Judenschaft im Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation. Stuttgart 1959. S. 160-165; siehe dazu auch Friedrich Battenberg: Das Europäische Zeitalter der Juden. Zur Entwicklung einer Minderheit in der nichtjüdischen Umwelt Europas. Von den Anfängen bis 1650. Bd. 1. Darmstadt 1990. S. 188-190; Ludwig Feilchenfeld: Rabbi Josel von Rosheim. Ein Beitrag zur Geschichte der Juden in Deutschland im Reformationszeitalter. Straßburg 1981. S. 59. Urkunde von 1544 April 3, bei F. Battenberg, Quellen zur Geschichte der Juden (Anm. 21) Nr. 1285 (nach Abschrift im Staatsarchiv Darmstadt, A 2 Nr. 255/2057). Text nach Vorlage des Generallandesarchivs Karlsruhe, 67/894. Blatt 171-176. Ermittelt wurden Bestätigungsurkunden von 1560, 1562, 1577 und 1612. Nachweise bei F. Battenberg, Ritualmordprozesse (Anm. 10). Z u r Funktion des kaiserlichen Privilegienrechts vgl. Elmar Wadle: Gewohnheitsrecht und Privileg. Allgemeine Fragen und ein Befund nach Königsurkunden des 12. Jahrhunderts. In: Gewohnheitsrecht und Rechtsgewohnheiten im Mittelalter. Hg. von Gerhard Dilcher u.a. Berlin 1992. S. 117-148.
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2) Eine weitere Konsequenz aus der zur Reichsunmittelbarkeit gewordenen Kammerknechtschaft bestand in der Möglichkeit zur unmittelbaren Inanspruchnahme der Reichsgerichtsbarkeit, seit dem 16. Jahrhundert besonders des Reichskammergerichts, des Reichshofrats und auch des kaiserlichen Hofgerichts in Rott-weil. Schon in einem Mandat von 147029 hatte Kaiser Friedrich III. allen Reichsuntertanen geboten, daß sie diejenigen Juden, die ihre Prozeßsachen für uns zu wysen begerten, vor den Kaiser wiesen und gegen sie nicht weiter prozessierten. Diese damit statuierte, gleichsam außerordentliche und supplementäre Gerichts-barkeit des Kaisers über die Juden war in der mittelalterlichen Gesellschaftsordnung freilich noch kaum praktikabel, da ein beständiges kaiserliches Gericht fehlte und auch die Urteile des mit dem Kaiser von Ort zu Ort ziehenden Gerichts kaum vollstreckbar waren. Die Beteiligung von Juden am kaiserlichen Hofgericht des 15. Jahrhunderts entsprach deshalb auch, wie anhand der Acht- und Anleiteverfahren als der wichtigsten Prozeßgruppe dieses Gerichts nachgewiesen werden konnte, der auch bei anderen Prozeßparteien üblichen Praxis. 30 Erst die Installation des königlichen Kammergerichts (später Reichskammergericht) in Worms und bald darauf auch des Reichshofrates in Wien, schließlich auch die reichsweite Kompetenzausweitung des Rottweiler Hofgerichts, ermöglichten eine Realisierung der gerichtlichen Zentralkompetenz über die Juden. Und in der Tat scheinen die Juden des Reiches die sich ihnen bietende Chance in beträchtlichem Maße ergriffen zu haben. Ausweislich der Eintragungen des Wetzlarer Generalrepertoriums der Reichskammergerichtsakten 31 waren an den danach nachgewiesenen Kammergerichtsprozessen weit über 1.000 Juden als Kläger beteiligt. Geht man von knapp 75.000 erfaßten Prozessen aus, 32 so kommt man auf einen Anteil von etwa 1,5 Prozent der kammergerichtlichen Verfahren mit jüdischer Beteiligung auf der Aktivseite. Da die als Streitgenossen an zweiter oder dritter Stelle auftauchenden Juden in dieser Statistik nicht erfaßt sind, lag ihr 29
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Urk. von 1470 August 1, Regest bei F. Battenberg, Quellen zur Geschichte der Juden (Anm. 21) Nr. 1071. Friedrich Battenberg: Reichsacht und Anleite im Spätmittelalter. Ein Beitrag zur Geschichte der höchsten königlichen Gerichtsbarkeit im Alten Reich, besonders im 14. und 15. Jahrhundert. Köln, Wien 1986. (Quellen und Forschungen zur Höchsten Gerichtsbarkeit im Alten Reich 18); hier S. 176, 191 und 195 (Tabellen). Heute im Original in der Außenstelle Frankfurt a.M. des Bundesarchivs Koblenz. Eine Inventarisierung der vom Generalrepertorium erfaßten, auf regionale Archive verteilten Kammergerichtsakten, aus denen sich näherer Aufschluß über die Beteiligung der Juden ergibt, wird zur Zeit mit Mitteln der Deutschen Forschungsgemeinschaft durchgeführt, vgl. Friedrich Battenberg: Reichskammergericht und Archivwesen. Zum Stand der Erschließung der Reichskammergerichtsakten. In: Das Reichskammergericht in der Deutschen Geschichte. Hg. von Bernhard Diestelkamp. Köln, Wien 1990 (Quellen und Forschungen zur Höchsten Gerichtsbarkeit im Alten Reich 21). S. 173-194. F. Battenberg, Reichskammergericht und Archivwesen (Anm. 31) S. 176.
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Anteil eher noch etwas höher. Berücksichtigt man nun, daß der gesamte Bevölkerungsanteil der Juden im Bereich des Heiligen Römischen Reiches von einem halben Prozent im 17. auf höchstens 1,4 Prozent im beginnenden 19. Jahrhundert stieg, so läßt sich durchaus behaupten, daß die Juden im Vergleich zur christlichen Bevölkerung offenbar eher bereit waren, die neu geschaffene Reichsgerichtsbarkeit in Anspruch zu nehmen. Die überprozentuale Zunahme derartiger Prozesse im 18. Jahrhundert, die nicht mit dem Bevölkerungswachstum erklärt werden kann und dieses auch bei weitem überschritt, kann als Indiz dafür gewertet werden, daß die Juden sich ihrer Rechte und auch der noch immer bestehenden Rechtsdefizite bewußter wurden und nun einen Weg fanden, teilweise unter Übergehung der landesherrlichen oder städtischen Obrigkeiten eine Stabilisierung ihrer rechtlichen Situation zu erreichen. 33 In noch stärkerem Maße trifft diese These für die Möglichkeit zur Inanspruchnahme des Hofgerichts in Rottweil zu, jedenfalls was das 16. Jahrhundert anbelangt, auch wenn bisher kein statistisches Material darüber ermittelt werden konnte. Nach dem Urteil Georg Grubes machten dort die Prozesse von Juden gegen Darlehensschuldner einen wesentlichen Teil des Gerichtsbetriebes aus. 34 Ein Blick in hessische Akten des 15. und 16. Jahrhunderts bestätigt dieses Bild: Weit über 300 Nachweise über Prozesse von solchen Juden, die Schuldforderungen gegen Untertanen der Grafschaft Hanau geltend machen konnten, wurden für die Zeit von 1465 bis 1595 ermittelt. 35 Allerdings stieß diese Situation bereits im 16. Jahrhundert zunehmend auf den Widerstand der Landesherren und sonstigen Herrschaftsinhaber. Durch Ausdehnung ihrer Gerichtsstandsprivilegien auf die Juden36 ließen sie ihre eigene Kompetenz reichsweit absichern. Allmählich wurden die Juden so, auch hinsichtlich ihrer persönlichen Gerichtsbarkeit, in die Territorien eingebunden. Die von Kammergericht und Hofgericht Rottweil wahrgenommenen gerichtsherrlichen Rechte über die Juden blieben als leere Hülse zurück. Der Rechtsschutz bei Klagen gegen die Obrigkeit, der ihnen am Kammergericht und am Reichshofrat gewährt wurde, entsprach im übrigen demjenigen, den auch andere erhielten. Man hat den Eindruck,
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Friedrich Battenberg: Das Reichskammergericht und die Juden des Heiligen Römischen Reiches. Geistliche Herrschaft und korporative Verfassung der Judenschaft in Fürth im Widerspruch. Wetzlar 1992 (Schriftenreihe der Gesellschaft für Reichskammergerichtsforschung 13). S. 5f. Georg Grube: Die Verfassung des Rottweiler Hofgerichts. Stuttgart 1969. (Veröffentlichungen der Kommission für Geschichtliche Landeskunde in Baden-Württemberg. Bd. 55). S. 46. Quellen zur Geschichte der Juden im Hessischen Staatsarchiv Marburg 1267-1600. Bearbeitet von Uta Löwenstein. Wiesbaden 1989 (Quellen zur Geschichte der Juden in hessischen Archiven 1. Bd. 3). S. 582f. F. Battenberg, Reichskammergericht (Anm. 33) S. 6.
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daß dieser Rechtsschutz Juden gegenüber im allgemeinen sehr zurückhaltend praktiziert wurde. 37 3) Eine dritte Konsequenz der alten kaiserlichen Kammerknechtschaft bestand in der Möglichkeit zur Inanspruchnahme eines unmittelbaren, kaiserlichen Besteuerungsrechts. Im 15. Jahrhundert war diesbezüglich vor allem Kaiser Sigmund von Luxemburg erfinderisch, der außer dem üblichen 'Goldenen Opferpfennig' besondere Krönungs- und Konzilsteuern von den Juden des Reiches erhob. 38 An dieser Praxis hielt auch Kaiser Friedrich III. fest, mit dem Unterschied freilich, daß er seinen Anspruch von Fall zu Fall bei passenden Gelegenheiten durch Erhebung von Büß- und Ablöseleistungen von den Juden zu realisieren versuchte, den generellen Anspruch auf Steuerpauschalen aber nicht mehr einsetzte. Daß der kaiserlichen Hofkanzlei auch in der Frühen Neuzeit die Judensteuern aus den Freien Reichsstädten zustanden, daran bestand kein Zweifel. Da es jedoch nur noch wenige Reichsstädte gab, in denen sich Juden auf Dauer aufhalten konnten - darunter befanden sich die wetterauischen Reichsstädte Frankfurt am Main, Friedberg, Gelnhausen und Wetzlar, die beiden mittelrheinischen Freistädte Speyer und Worms sowie die rheinisch-pfalzischen Reichsstädte Hagenau und Landau, nicht aber Augsburg, wo sich im 17. und 18. Jahrhundert nur vereinzelt Juden aufhalten konnten -, war das besagte Steuerrecht kaum einträglich. Dies gilt umso mehr, als die verbliebenen Judensteuern über die meiste Zeit an lokale Herrschaftsträger verpfändet waren. Anderes jedoch galt für die seit 1342 eingeführte Kopfsteuer von einem Gulden je Haushalt, den schon genannten 'Goldenen Opferpfennig'. Bis mindestens 1721 ist nachweisbar, daß die Kaiser ihn unabhängig von Territorialgrenzen beanspruchten, wenn auch nicht unbedingt durchsetzen konnten. 39 Im Jahre 1635 z.B. erging ein von dem kaiserlichen Kommissar Bertram Sturm unterzeichnetes gedrucktes Ausschreiben an die Stände des oberrheini37 38
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F. Battenberg, Reichskammergericht (Anm. 33) S. 35-37. Hierzu F. Battenberg, Rechtsstellung (Anm. 8) S. 147f.; Friedrich Battenberg: Heilbronn und des Königs Kammerknechte. Zu Judenschutz und Judennutzung in Stadt, Region und Reich. In: Region und Reich. Zur Einbeziehung des Neckar-Raumes um Heilbronn in das Karolingerreich und zu ihren Parallelen und Folgen. Hg. von Helmut Schmolz. Heilbronn 1993 (Veröffentlichungen des Archivs der Stadt Heilbronn 33, zugleich Heilbronner Historische Symposien 1); Barbara Suchy: Vom 'Güldenen Opferpfennig' bis zur 'Judenvermögensabgabe'. Tausend Jahre Judensteuern. In: Mit dem Zehnten fing es an. Eine Kulturgeschichte der Steuer. Hg. von Uwe Schultz. München 1986. S. 114-129, hier besonders S. 116-119; Isert Rösel: Die Reichssteuern der deutschen Judengemeinden von ihren Anfängen bis zur Mitte des 14. Jahrhunderts. In: Monatsschrift für Geschichte und Wissenschaft des Judentums NF 17. 1909. S. 679-708, und NF 18. 1910. S. 206-223, hier besonders NF 17. S. 682; Leopold Rothschild: Die Juden-Gemeinden zu Mainz, Speyer und Worms von 13491438. Ein Beitrag zur Geschichte des Mittelalters. Marburg 1904. S. 83f. Heinz Duchhardt: Karl VI., die Reichsritterschaft und der 'Opferpfennig' der Juden. In: ZHF Bd. 10. 1983. S. 149-167, hier S. 151f.
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sehen Reichskreises, mit der Aufforderung, auffjeden Kopffeinen Goldgulden gerechnet einzufordern und zur kaiserlichen Feldkriegscassa zu verschaffen.40 Doch blieb dieses Ausschreiben offensichtlich ohne Erfolg, wie das Darmstädter Beispiel zeigen kann. Der hessen-darmstädtische Landgraf, dem diese Aufforderung zur Kenntnis kam, protestierte vorsichtshalber zunächst zur Wahrung seines Rechtsstandpunktes, weil diese Steuerforderung den Freiheiten der Stände zuwiderlaufe, und weil schon sein verstorbener Vater Landgraf Ludwig V. auf eine entsprechende Aufforderung Kaiser Rudolfs II. ablehnend reagiert und aufgrund dessen nicht mehr in Anspruch genommen worden sei.41 Da jedoch noch Unsicherheit über das Herkommen hinsichtlich der Schutzverhältnisse bestand, wurde zunächst die Beamtenschaft und die Judenschaft selbst befragt. 42 Der um Aufschub der Reichsexekution wegen Steuerverweigerung gebetene Kommissar ließ sich daraufhin auf Verhandlungen ein.43 Obwohl eine Rücknahme des an die Darmstädter Judenschaft ergangenen Mandats nicht erfolgte, die Eintreibung vielmehr zwei Jahre erneut versucht wurde, 44 konnte der Landgraf die angedrohte militärische Exekution verhindern. Selbst die Drohung des Kaisers, die gemeine Ju-denschafft zu einer ansehnlich-erglöcklichen Darleyhung und Anticipation von etlichen tausend Gülden zu vermögen und anzuhalten, also ein Zwangsdarlehen von ihnen aufzunehmen, blieb ohne Eindruck. Stattdessen wies Georg II. seine Darmstädter Regierung an, den Juden die Bezahlung der Steuer zu verbieten. 45 Anders als die kaiserlichen Gerichtsrechte brachten die Besteuerungsrechte den Juden selbst keine Vorteile, da ein Junktim zur Schutzgewährung nicht mehr bestand. Die Erhebungsversuche von 1635 und 1637 wurden mit den Erfordernissen des 'Gemeinen Wohls', nicht des Judenschutzes, begründet. Selbst aus einer militärisch günstigen Position heraus, wie sie nach der Schlacht bei Nördlingen für die kaiserliche Seite bestand, war der Kaiser allein nicht mehr in der Lage, seinen Anspruch auf Steuern von 'territorialisierten' Juden durchzusetzen, selbst nicht bei
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F. Battenberg, Quellen zur Geschichte der Juden (Anm. 21) Nr. 1793, datiert von 1635 Dezember 4, als in offenbar hoher Auflage vervielfältigter Druck mit handschriftlicher Adresse. F. Battenberg, Quellen zur Geschichte der Juden (Anm. 21) Nr. 1794, landgräfliches Schreiben vom 1635 Dezember 5 an den kaiserlichen Kommissar. F. Battenberg, Quellen zur Geschichte der Juden (Anm. 21) Nrn. 1795-1797, Schreiben von Dezember 1635. F. Battenberg, Quellen zur Geschichte der Juden (Anm. 21) Nr. 1798, Schreiben von 1635 Dezember 29. F. Battenberg, Quellen zur Geschichte der Juden (Anm. 21) Nrn. 1802 und 1804, Mandat an die Butzbacher und Darmstädter Judenschaft, erwähnt in Schreiben von 1637 April 17 und 30. F. Battenberg, Quellen zur Geschichte der Juden (Anm. 21) Nr. 1804, Ausschreiben von 1637 April 30.
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einem mit ihm verbündeten Territorialherrn. 46 So machte sich die Territorialisierung der Juden in diesem Bereich am deutlichsten bemerkbar: Wer nicht mehr in der Lage war, effektiven politischen Schutz auszuüben, dem wurden auch keine Judensteuern mehr zugestanden. Der vor den Reichsgerichten gewährte rechtliche Schutz wurde offensichtlich nur noch mittelbar dem Kaiser zugerechnet. 4) Eine letzte hier zu behandelnde Auswirkung der alten kaiserlichen Kammerknechtschaft bestand in dem Schutz des freien Wohnrechts der Juden im Reichsgebiet. Zwar konnte der Kaiser zumeist die hauptsächlich im späten 15. und frühen 16. Jahrhundert durchgeführten Vertreibungen der Juden aus den Städten, teilweise auch den Territorien, nur in den wenigsten Fällen verhindern oder verzögern, 47 doch scheint sich hier seit Karl V. eine Umorientierung der kaiserlichen Politik angebahnt zu haben. Dem Wirken Joseis von Rosheim, des Befehlshabers der deutschen Judenheit in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts, 48 ist es zu verdanken, daß die deutschen Kaiser seit Karl V. wieder stärker ihre Schutzrechte über die Juden zur Geltung brachten, auch wenn die konkurrierenden Schutzrechte der Territorien einen Durchgriff auf die 'mediatisierten' Juden des Landes nicht mehr unbedingt zuließen. Jedenfalls hat das schon angesprochene Privileg von I54449 di e fQr ¿ig Zukunft maßgebenden und zur Legitimierung geeigneten normativen Regelungen getroffen. Wörtlich wurde hier festgesetzt: Es sollen auch hinfuro kain Jud oder Judin, die nach unser kaiserlichen Crönung in dem Heiligen Reiche, desselben Furstenthumben, Grafschaften, Herschaften, Land und Gebieten, sonderlich in unsern und des Reichs Stetten, Marckten, Dörfern und Weilern, heußlichen gewont haben und gesessen sein oder jetzt darinnen wonen und sitzen, von jemandas [...] an unsern sonder Zulassung und Erlaubnis nit aufgetrieben oder eingesetzt werden, sonder nach Außweisung und Vermuge dißer und anderer [...] Freihaiten [...] also ruhlich, sie und ir Nachkhomen, unvertrieben pleiben, sitzen und wonen. Damit behielt sich der Kaiser die Entscheidung über die Ansiedlung von Juden in den Städten und Territorien vor, garantierte aber vor allem seinen Schutz, falls die Ansiedlung einmal rechtmäßig erfolgt war. Als periodisch wiederholtes General-
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Zur hessen-darmstädtischen Politik gegenüber dem Kaiserhaus im Dreißigjährigen Krieg vgl. Karl-Heinz Frohnweiler: Die Friedenspolitik Landgraf Georgs II. von Hessen-Darmstadt in den Jahren 1630-1635. Darmstadt 1964 (zugleich erschienen in: Archiv für Hessische Geschichte NF 29. 1965/66. S. 1-186). Vgl. dazu demnächst Friedrich Battenberg: Aus der Stadt auf das Land. Zur Vertreibung und Neuansiedlung der Juden im Heiligen Römischen Reich. In: Jüdisches Leben auf dem Lande - Ein vergessenes Kapitel der deutsch-jüdischen Geschichte. Hg. von Reinhard Rürup, Monika Richarz. Tübingen 1994. Dazu vgl. die unter Anm. 24 angegebene Literatur. Vgl. die Nachweise unter Anm. 25 und 26.
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Privileg fand diese Garantie auch vor den Reichsgerichten Beachtung. In einigen Prozessen, die von ausgewiesenen Juden im 16. Jahrhundert vor das Reichskammergericht und den Reichshofrat gebracht wurden, 50 wurde deshalb dieses Privileg stets allegiert und als maßgebende Rechtsgrundlage für die jüdische Existenz im Reich angesehen. Daß dennoch Austreibungen durchgesetzt werden konnten, ändert an der grundsätzlich bestehenden Rechtslage, die auch von den Territorialherrschaften als Ausgangspunkt anerkannt wurde, nichts.
III. Ein zweites wichtiges Rechtsprinzip, das die Situation der Juden in der Frühneuzeit prägte, war das der nach römischem Recht bestehenden Bürgerschaft der Juden. Hier gilt es zunächst zu beachten, daß Juden in den mittelalterlichen Städten des Reiches von der Bürgerschaft ausgeschlossen blieben. Wenn es eine Bürgerschaft für sie gab, wie etwa ausdrücklich in der Freien Stadt Worms, so waren sie jedenfalls von der Ausübung politischer Partizipationsrechte in der Stadtgemeinde ausgeschlossen und im Rechtsverkehr mit den Christen einschränkenden Bestimmungen unterworfen. 51 Nach der sich im 16. Jahrhundert unter den Juristen des Heiligen Römischen Reiches allmählich durchsetzenden Rechtsauffassung unterstanden die Juden als cives Romani dem römischen Recht und hatten infolgedessen insbesondere im Gerichtsverfahren gleiche Rechte und Pflichten wie die Christen. 52 Diese Lehrmeinung wurde erstmals von Johannes Reuchlin 1511 vertreten. 53 Unter Bezugnahme auf seine gutachtliche Stellungnahme im Streit um die Vernichtung hebräischer Bücher legte er dar, daß es den Juden, obwohl sie eigentlich Sklaven sein müßten, erlaubt sei, mit den Christen in Freiheit das römische Recht zu gebrauchen. Darin sehe er den allgemeinen Bürgerstand civilitas communis im Sinne des römischen Rechts, das ja auch ius civile genannt werde. Daß mit diesem von Reuchlin angenommenen Bürgerrechtsstatus der Juden die alte Kammerknechtschaft, die auch in Angleichung an die kirchliche Lehre von 50
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Hierzu vgl. Sabine Frey: Rechtsschutz der Juden gegen Ausweisungen im 16. Jahrhundert. Frankfurt a.M., Bern, New York 1983 (Rechtshistorische Reihe 30). S. 47. G. Kisch (Anm. 5) S. lOlf. F. Battenberg, Reichskammergericht (Anm. 33) S. 5. Hierzu im einzelnen Wilhelm Güde: Die rechtliche Stellung der Juden in den Schriften deutscher Juristen des 16. und 17. Jahrhunderts. Sigmaringen 1981, hier S. 61; vgl. dazu Friedrich Lotter: Der Rechtsstatus der Juden in den Schriften Reuchlins zum Pfefferkornstreit. In: Reuchlin und die Juden. Hg. von Arno Herzig, Julius H. Schoeps, Saskia Kohde. Sigmaringen 1993 (Pforzheimer Reuchlinschriften 3). S. 65-88.
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der servitus perpetua iudeorum als Sühne für die angebliche Schuld am Gottesmord verstanden wurde, nicht verdrängt wurde, ergibt sich deutlich aus einer späteren, deutschen Fassung des Reuchlin'sehen Werkes von 1511. In dieser schrieb er wörtlich: Item durch das Wort Burger hob ich den ludert kain sunndere Ere erbotten, dann sie sindt kainer Eren werdt. Diewyl sie aber in gemainen Römerrechten, das gehaissen wurt 'ius civile Romanum', ledig gelassen sitzend und sich des auch gebrauchent, so werden sie genent 'cives Romani', das ist, des Römischen Rychs Burgere.54 Letzten Endes sollte durch die Annahme eines Bürgerrechts kein zusätzlicher Vorteil für die Juden geschaffen werden, sondern nur deren Teilnahme am allgemeinen Rechtsverkehr im Interesse der Christen erleichtert werden. Insbesondere im Gerichtsverfahren sollten sie gleiche Rechte und Pflichten wie Christen innehaben, wie diese klagen können und beklagt werden dürfen. Soweit Besonderheiten ihrer Religion betroffen waren, etwa im Hinblick auf die Eidesleistung, hatten sie sich besonderen Prozeduren zu unterwerfen, die demütigenden Charakter haben konnten, ohne daß sie deshalb den Ausgang des jeweiligen Verfahrens für die Juden negativ beeinflussen mußten.55 Allerdings muß auffallen, daß das Mißtrauen gegen Juden im Prozeß auch im 16. Jahrhundert fortbestand. Bezeichnend dafür ist die Äußerung des von der Judenschaft beklagten Reichsritters Ulrich von Rechberg in einem 1554 vor das Reichskammergericht zu Speyer anhängig gemachten Verfahren des Inhalts, daß Judenpersonen zu Gezeugknus nit anzunehmen [seien], weil sie dazu nicht qualificirt seien.56 Die Zeugnisunfähigkeit der Juden wurde auch von einzelnen Juristen behauptet und noch 1731 von dem Nürnberger Ratskonsulenten Johann Jodocus Beck in seinem 'Tractatus de Juribus Judeorum' als umstrittene Rechtsregel zitiert. 57 Wilhelm Güde nun hat von einem positivistischen Rechtsverständnis her behauptet, 58 die Benachteiligung der Juden in der Frühen Neuzeit sei wesentlich im außerrechtlichen Gebiet geschehen; das ihnen zuerkannte römische Recht habe den Juden dagegen einen Schutz vor schrankenloser Willkür geboten. Dies ist 54 55
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Zitiert nach W. Güde (Anm. 53), mit Einzelnachweisen. Hierzu Walter Roll: Zu den Judeneiden an der Schwelle zur Neuzeit. In: Zur Geschichte der Juden im Deutschland des späten Mittelalters und der frühen Neuzeit. Hg. von Alfred Haverkamp. Stuttgart 1981 In: Zur Geschichte der Juden im Deutschland des späten Mittelalters und der frühen Neuzeit. Hg. von Alfred Haverkamp. Stuttgart 1981 (Monographien zur Geschichte des Mittelalters 24). S. 163-204, hier S. 186f. S. Frey (Anm. 50) S. 79. S. Frey (Anm. 50) S. 130. W. Güde (Anm. 53) S. 74.
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zwar nicht ganz auszuschließen; doch erscheint dieser Blickwinkel dennoch etwas zu eng. Die Unterwerfung der Juden des Reiches unter die Rechtsregeln des römischen Rechts - soweit sie sich überhaupt durchgesetzt hatten - war eine juristische Fiktion und in dieser Funktion letztlich nur als eine für den Gebrauch vor Gerichten gedachte Verfahrenserleichterung geeignet. Sie ging davon aus, daß Richter und Anwälte jeweils objektivierte Rollen übernahmen und diese von ihren persönlichen Anschauungen und Emotionen abstrahierten. Bestehende Vorurteile gegen Juden konnten so vielleicht aus dem Sprachgebrauch der juristischen Schriftsätze und Protokolle verbannt werden, nicht jedoch aus dem Denken und der Mentalität der Gerichtspersonen. Diese Auffassung wird durch ein in einem Kammergerichtsprozeß von 1564 abgegebenes Gutachten bestätigt.59 Nach der Meinung des Gutachters stehe den Juden alles dasjenige zu, was auch römischen Bürgern zustehe (iudei habent ea, que sunt civium Romanorum), und vor einem christlichen Richter sollen sie deshalb auch klagen und beklagt werden können {et coram christiano iudice agere et conveniri debent). Infolgedessen sei auch mit ihnen ebenso wie mit den Christen nach Gerechtigkeitsregeln zu verfahren, wenngleich sie verachtenswürdig und mitunter von den Regeln der Billigkeit ausgeschlossen sind (igitur iis perinde atque christiani iusticia iudice administranda est, licet maiori odio digni sint et quandoque a regulis equitatis excludantur). Um in diesem Widerspruch eine sachdienliche Lösung zu finden, sei das Augenmerk auf die Eigenheiten des Rechtsfalles und nicht auf diejenigen der Prozeßparteien zu richten, also etwa darauf, ob auch ein Jude Anspruch auf Gerechtigkeit habe (considerande sunt igitur nobis magis causae qualitatis quam personae, hoc est an iudeus iusticiam foveat). In erster Linie komme es auf den geltend gemachten Anspruch an (inprimis de actione dicendum). Vorgeschlagen wurde damit eine geradezu modern anmutende Differenzierung, die das positivistische Rechtsdenken bis in die jüngste Vergangenheit beherrscht hat: Eine Trennung nämlich zwischen Prozeßpartei und Streitgegenstand, zwischen persona und causa, in der Absicht nämlich, letztere von der ersteren so weit zu emanzipieren, daß eine deduktive Argumentation durch Anwendung von abstrakten Rechtsregeln möglich werden sollte. Theoretisch war dieses Prinzip zur Abschirmung der Prozeßposition von Juden vor diskriminierenden Anschauungen und zur Verhinderung des Eingangs von stereotypisierten Urteilen über die Juden geeignet. Die Erkenntnis jedoch, daß auch der frühneuzeitliche Juristenprozeß von Menschen getragen wurde, die selbst im täglichen Rechtsverkehr mit Juden zu tun hatten, denen sicher auch die antijüdischen Traktate der maßgebenden Theologen bekannt waren, und die deshalb die bestehenden Vorurteile keineswegs aus Anlaß eines Gerichtsverfahrens aufgaben, 59
W. Güde (Anm. 53) S. 59; F. Battenberg, Reichskammergericht (Anm. 33) S. 5.
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auch im Prozeß die Glaubwürdigkeit der beteiligten Personen überprüfen mußten, muß zu dem Schluß führen, daß das dergestalt konstruierte Bürgerrecht zwar einer rationalisierten Denkweise entsprach, nicht aber den Juden ausreichenden Schutz vor Diskriminierungen und Repressionen bot. Das Prinzip der römischen Bürgerschaft, so ist im Ergebnis festzuhalten, war also keineswegs eine voremanzipatorische Entwicklungsstufe auf dem Weg zur Verbürgerlichung der Juden. Die Sonderstellung der Juden in der Rechtsordnung blieb bestehen. Die auf anderen Grundlagen beruhenden politischen Partizipationsrechte, wie sie etwa in Fürth durch beratende Teilnahme an den Gemeinderatssitzungen möglich war, 60 blieben bis zur Emanzipationszeit die Ausnahme.
IV. Wenn jetzt als ein drittes für die Situation der Juden des Reiches relevantes Rechtsprinzip die Regalität vorgestellt wird, so muß zunächst gesagt werden, daß dieses eigentlich nichts anderes als eine spezifische juristische Ausformung der kaiserlichen Kammerknechtschaft darstellte. Dem Ursprung nach war das Judenregal eine besondere Variante der kaiserlichen Regalien, die durch die Lehre von der Kammerknechtschaft durch das Vorhandensein zusätzlicher Schutzpflichten des Rechtsinhabers über Person und Vermögen der Schutzbefohlenen gekennzeichnet war. Anders als bei den üblichen Zoll,- Geleits- und Münzregalien bildete beim Judenregal die Nutzungsbefugnis nur die eine Seite des ihnen innewohnenden Rechtsgehalts. Der Pflicht zur Substanzerhaltung bei den genannten Regalien entsprach beim Judenregal die Pflicht zum Schutz der betroffenen Juden. Indes nahm das - erst in der Frühen Neuzeit als solches bezeichnete - Judenregal seit dem 13. Jahrhundert und besonders seit der Regierungszeit Kaiser Karls IV. eine Sonderentwicklung gegenüber der Kammerknechtschaft. Es wurde durch Verpfandung und Verleihung zu einem Instrument in den Händen von Territorialherren, Städten und anderen Herrschaftsträgern. Die Territorialisierung des Rechts unter dem Vorbehalt der Kammerknechtschaft in kaiserlichen Händen bedeutete de facto eine Aushöhlung der letzteren, da mit der Regalübertragung auch Schutzrechte auf die Juden übergingen und der kaiserlichen Kompetenz entzogen wurden. Als juristisches Prinzip wurde das Judenregal erst im 16. Jahrhundert von den Territorialstaatsjuristen zur rechtlichen Untermauerung der Elemente der landes60
Vgl. dazu Gerhard Renda: Die jüdische Gemeinde in Fürth. In: Siehe der Stein schreit aus der Mauer. Geschichte und Kultur der Juden in Bayern. Hg. von Bernward Deneke. Nürnberg 1988. S. 239-270, hier S. 239.
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hoheitlichen Gewalt formuliert. 61 Es befand sich zunächst in den Händen von Herrschaftsträgern, die nicht unbedingt identisch mit den Inhabern der Landeshoheit oder der städtischen Obrigkeit sein mußten. Vielmehr spielten zufallige Pfandschafts- und Lehnsbeziehungen zum Kaiser eine Rolle, so daß auch Angehörige des reichsritterschaftlichen Niederadels und des städtischen Patriziats Regalinhaber wurden. Da von der Territorialstaatslehre der Zeit die Regalität als Teil der Landeshoheit angesehen wurde und die dignitas regalis, die Regaliengewalt, ergänzend zum merum imperium, der hochgerichtlichen Jurisdiktionsgewalt, hinzutrat, 62 bestand auch beim Judenregal seit dem 16. Jahrhundert eine Tendenz zur Synchronisierung dieser Berechtigung mit der landeshoheitlichen Gewalt. Dies konnte recht deutlich hinsichtlich der Herrschaft Assenheim in Oberhessen beobachtet werden. Dort hatten die Grafen von Solms und Isenburg-Büdingen gemeinsam die Landeshoheit inne, während das Judenregal kraft kaiserlicher Belehnung den Grafen von Hanau zustand. Im 16. Jahrhundert konnten erstere ihre landeshoheitlichen Rechte vor dem Reichskammergericht auch gegenüber den Juden durchsetzen. Sie argumentierten damit, daß ihnen in Assenheim die Erbhuldigung, die Hohe und Niedere Obrigkeit, Gebot und Verbot zuständen, desgleichen - wie sie wörtlich vortrugen - Schutz, Schirm und in Summa, was der Obrigkheyt von rechter und guter Gewonheyt wegen anhangen kan, soll und möge. Daraus folge, daß auch die Assenheimer Judenschaft unter ihrem Schutz, Schirm, Gericht und Recht stehe, weil sie innerhalb des von ihnen verwalteten Raumes wohne. Sie sei deshalb in Assenheim geleich andern gemainen Underthanen [ihnen] pro debita porcionis verhafftet und verpflichtet. Die bestehenden Personalbeziehungen hatten sich, so ist aus diesem Vortrag zu folgern, in Territorialbeziehungen gewandelt, weil alle, die in einem bestimmten geographischen Bereich wohnten, nur von denjenigen praktisch geschützt werden konnten, die in diesem Bereich hoheitliche Rechte ausübten.63 Dies ging natürlich nicht immer ohne Konflikte ab, und nur mühsam konnte die juristische Konzeption der flächendeckenden Landeshoheit gegenüber personalen Sonderrechtsbeziehungen durchgesetzt werden. Ein Beispiel für die Schwierigkeiten der Durchsetzung dieser Lehre bildet der Marktflecken Fürth, in dem sich das Domstift Bamberg, die Markgrafschaft Brandenburg-Ansbach und die Reichsstadt Nürnberg die Wahrnehmung der Hoheitsrechte teilten. Hier gelang es zwar dem Domstift 1715 am Ende eines jahrzehntelangen Reichshofratsprozesses, die eigenen Hoheitsrechte mit den vom Judenregal abgeleiteten Schutzrechten über die
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Zu allem vgl. Dietmar Willoweit: Rechtsgrundlagen der Territorialgewalt. Landesobrigkeit, Herrschaftsrechte und Territorium in der Rechtswissenschaft der Neuzeit. Köln, Wien 1975 (Forschungen zur deutschen Rechtsgeschichte 11). S. 47-63. D. Willoweit (Anm. 61) S. 54. Dazu ausführlich F. Battenberg, Assenheimer Judenpogrome (Anm. 23) S. 137.
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dortigen Juden zu vereinigen. Die der Markgrafschaft vorbehaltenen Geleitsregalien beeinträchtigten jedoch mittelbar wieder die Judenschutzrechte, so daß sich letzten Endes keine der Seiten durchsetzen konnte.64 Wichtig erscheint in diesem Zusammenhang aber, daß sich die Kaiser unter Anerkennung der landeshoheitlichen Rechte bemühten, das Judenregal der Kammerknechtschaft derart unterzuordnen, daß die Landesherren und sonstigen Schutzinhaber nur insoweit als zur Ausübung des Judenschutzes berechtigt angesehen wurden, als nicht übergreifende kaiserliche Rechte über die Juden betroffen waren. Dies legten die beiden Reichspolizeiordnungen der Jahre 1548 und 1577 deutlich fest, indem sie statuierten, daß hinfüro niemandem] luden anzunehmen oder zu halten gestattet werden soll, dann denjenigen, die von uns [seil, dem Kaiser] und dem Heiligen Reich regalia haben oder insonderheit derhalben privilegirt seynd.65 Die Kaiser leiteten aus diesem Grundsatz das Recht ab, die Einhaltung von Schutzpflichten gegenüber den Juden durch die Regalinhaber selbst oder mittels Einschaltung der kaiserlichen Gerichte überwachen zu können. Im Falle von willkürlichen Vertreibungen nahmen sie ein Widerspruchsrecht für sich in Anspruch, da der Landesverweis ganzer Judenschaften aus einem Territorium oder einem Schutzbereich die Regalitätsverhältnisse in ihrer Substanz beeinträchtigen mußte. Als 1626 etwa der hessen-darmstädtische Landgraf Georg II. die Juden aus den landgräflichen Städten austreiben wollte, schaltete sich auf Betreiben der dortigen Judenschaft der Kammergerichtsfiskal im Namen des Kaisers ein. Unter Berufung auf das Privileg von 1544, das von Kaiser Rudolf II. 1605 bestätigt und dann auch im Kammergericht insinuiert worden sei, bestritt er dem Landgrafen ein Vertreibungsrecht. Georg II. freilich lehnte einen derartigen Vorbehalt als Teil des Judenregals ab. Das Privileg von 1544, an dessen Geltung er im übrigen keinen Zweifel hatte, dürfe keineswegs zu Praejudicz und Schmälerung der Fürsten des Reichs Superiorität und jurium territorialium dahin extendirt werden, daß - so ein Fürst des Reiches [...] niemahls durch einigen verbindlichen actum zu ewiger Fortbehaltung der Juden adstringirt, sondern habenden Juris Regalis reeipiendi Judaeos aus freiwilliger Beleihung mit gewissermas ad tempus etliche Juden aufgenommen und toleriret, er sein Land ewig mit Juden belasten müsse.66
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F. Battenberg, Reichskammergericht (Anm. 33) S. 34-37. F. Battenberg, Kaisers Kammerknechte (Anm. 4) S. 572, mit Einzelnachweisen. Hierzu vorläufig Friedrich Battenberg: Schutz, Toleranz oder Vertreibung. Die Darmstädter Juden in der frühen Neuzeit (bis zum Jahre 1688). In: Juden als Darmstädter Bürger. Hg. von Eckhart G. Franz. Darmstadt 1984. S. 33-49, hier S. 41f.; S. Frey (Anm. 50) S. 99f.
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Nur dort, wo der Kaiser sich eigene Hoheitsrechte bewahren konnte, wie in den Freien Reichsstädten, konnte er sich gegenüber der lokalen Obrigkeit durchsetzen und Vertreibungen verhindern oder wieder rückgängig machen. Dies war z.B. in den Jahren 1612 in Frankfurt am Main und 1615 in Worms der Fall, wo die Juden nach ihrer Ausweisung aus der Stadt unter kaiserlichem Geleitschutz zurückkehren konnten und jeweils eine vom Kaiser sanktionierte Ordnung erhielten, die sogenannte 'Judenstättigkeit', die ihr Wohnrecht auf Dauer absicherte. 67
V. Konnte mit dem Vorstehenden das 'Judenregal' als Rechtsprinzip gekennzeichnet werden, das auf der Grenze zwischen Reichsgewalt und Territorialhoheit stand, gewissermaßen die übergreifende Klammer zwischen beiden bildete, so stellt sich das schon mehrfach angesprochene Schutzjudentum als letztes hier vorzustellendes Rechtsprinzip in seiner frühneuzeitlichen Ausprägung als ein territoriales, wenn nicht gar lokal-personales Recht dar. Es bildete sozusagen das Pendant zur kaiserlichen Kammerknechtschaft, mit der es auch durch die Regalitätsbeziehung verbunden war. Dieses territoriale Schutzverhältnis wurde für das frühneuzeitliche, voremanzipatorische Judentum des Heiligen Römischen Reiches derart prägend, daß der Begriff des 'Schutzjuden' den des 'Juden' in zahlreichen Fällen verdrängte. 68 Wer durch einen Schutzbrief des Regalinhabers Wohn- und Geleitsrechte erhielt, wurde auch den eigenen Glaubensgenossen gegenüber, denen der Brieferwerb nicht gelang, bevorrechtet. Er bedurfte allerdings auch kaum noch des kaiserlichen Schutzes. Die Bündelung der Schutzverhältnisse über die Juden in der Hand eines Landesfürsten oder einer größeren Territorialherrschaft hatte jedoch noch einen weiteren verfassungsgeschichtlich weittragenden Effekt: Sie führte zu einer gewissen Kollektivierung der Judenschaft eines Landes oder eines abgegrenzten Bezirks. Ansätze hierzu sind bereits im späten 15. Jahrhundert in den beiden Reichsstädten Frankfurt am Main und Worms feststellbar. Hier wurden zur Rationalisierung des Verwaltungsaufwandes die zahlreichen Schutzverträge mit einzelnen Juden anein-
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Dazu F. Battenberg, Das Europäische Zeitalter (Anm. 24) S. 249-253;. Christopher R. Friedrichs: Politics or Pogrom? The Fettmilch Uprising in German and Jewish History. In: Central European History 19. 1986. S. 186-228; Friedrich Battenberg: Anti-Jewish Politics in Early Modern Germany: The Uprising in Worms 1613-1617. In: Central European History 23. 1990. S. 91-132. Friedrich Battenberg: Schutzjuden. In: Handwörterbuch zur deutschen Rechtsgeschichte. Hg. von Ekkehard Kaufmann, Adalbert Erler. Bd. 4. Berlin 1990. Spalte 1535-1541.
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ander angeglichen und schließlich in einen einheitlichen Geleitsbrief für alle Juden gefaßt. Nur besonders vermögende und für den Handel der Stadt wichtige Juden erhielten Sonderverträge, die individuelle Bedingungen festlegten. Der damit formularmäßig generalisierte Schutzvertrag wurde unter dem Begriff der 'Judenstättigkeit' zu einer immer umfangreicher werdenden Ordnung ausgebaut, die Anfang des 17. Jahrhunderts für den Fall von Frankfurt am Main bereits über 100 detaillierte Artikel umfaßte. 69 Eine ganz ähnliche Entwicklung auf territorialer Ebene kann für verschiedene nord- und mitteldeutsche Territorien beobachtet werden. Hier wurde es seit Herzog Julius von Braunschweig-Lüneburg ab 1578 üblich, die vorher an einzelne Juden erteilten Geleitbriefe in einem einzigen Generalgeleit zusammenzufassen. 70 Die Formulierung der Einzelgeleitbriefe war mit diesem identisch und wurde in einem aufwendigen, mit einem Titelholzschnitt versehenen Formular festgelegt. 71 Formal wurde die Befugnis zur Schutzgewährung ausdrücklich von Kaiser Maximilian II. hergeleitet. Der Übergang zu einer weiteren Entwicklungsstufe, zur Einschätzung der Judenschaft einer Herrschaft als Kollektiv, kann am besten anhand der Situation im Marktflecken Fürth demonstriert werden. Hier gab es bis zum beginnenden 18. Jahrhundert individuell-persönliche Schutzbeziehungen der dort wohnenden Juden mit den verschiedenen Herrschaftsinhabern. Nachdem es Dompropst Otto Philipp von Guttenberg 1715 gelungen war, aufgrund eines Reichshofratsurteils die Schutzrechte in seiner Hand zu vereinigen, stellte er in einem 1719 ausgestellten Generalprivileg seine Herrschaftsbeziehungen zu den Juden auf eine neue Grundlage. 72 Die wichtigste Neuerung bestand darin, daß die individuelle Vereinbarung des Schutzgeldes in eine jährliche Schutzgeldpauschale für die gesamte Gemeinde in Höhe von 2.500 rheinischen Gulden umgewandelt wurde. Für die Gesamtsumme sollte die Judenschaft in solidum haften, hatte dafür aber das Recht, die Einzelbelastungen nach Vermögen und Zweckmäßigkeit innerhalb der Gemeinde 69
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Judenstättigkeit von 1617 Januar 3. F. Battenberg, Quellen zur Geschichte der Juden (Anm. 21) Nr. 1689, nach einem von Kaiser Joseph I. 1705 Dezember 7 bestätigten Exemplar, abschriftlich überliefert Staatsarchiv Darmstadt, E 3 A Nr. 3/1 (58). Hans-Heinrich Ebeling: Die Juden in Braunschweig. Rechts-, Sozial- und Wirtschaftsgeschichte von den Anfängen der jüdischen Gemeinde bis zur Emanzipation (1282-1848). Braunschweig 1987. S. 114f. M(eir) Wiener: Geschichte der Juden in der Residenzstadt Hannover, vorzugsweise während des 16. Jahrhunderts. In: Monatsschrift für Geschichte und Wissenschaft des Judentums 10. 1861 (Nachdruck 1969). S. 121-258, hier S. 254-258. Ein Exemplar im Staatsarchiv Wolfenbüttel, Urk. abt. 9 Nr. 372, Judengeleitbriefformular, Blatt 30-35. Die Kenntnis dieses Aktenstücks verdanke ich Frau Dr. Rotraut Ries, der an dieser Stelle dafür gedankt sei. Auf ihre noch ungedruckte Dissertation über 'Soziale und politische Bedingungen jüdischen Lebens in Niedersachsen im 15. und 16. Jahrhundert'. Diss. Münster 1990, in der auf die Frage der Geleitbriefe ausführlich eingegangen wird, sei ausdrücklich hingewiesen. F. Battenberg, Reichskammergericht (Anm. 33) S. 10-12.
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zu verteilen. Die de facto den einzelnen treffende höhere Belastung wurde dadurch ausgeglichen, daß für den Zeitraum von zehn Jahren der freie Zuzug möglich sein sollte, was der Judenschaft die Chance zu einer drastischen Verminderung der Individualbelastung einbrachte. Wichtig in dem hier interessierenden Zusammenhang ist, daß damit der entscheidende Schritt zur Kollektivität der Juden auf Herrschaftsebene vollzogen wurde. Es wurde damit allerdings nur nachgeholt, was in vielen anderen Territorien bereits seit der Mitte des 17. Jahrhunderts praktiziert wurde: Die landesherrliche bzw. obrigkeitliche Verwaltungsvereinfachung bei der Steuereinziehung hatte zur Folge, daß die Judenschaft eigenständige Organe ausbilden mußte, die sich vor allem der Frage der Steuerumverteilung annehmen mußten. Dies waren die seit den Untersuchungen von Fritz Baer73 und Daniel Cohen74 näher erforschten Landjudenschaften bzw. Judenlandtage als Versammlungen der jüdischen Familienoberhäupter und Schutzbriefinhaber eines Territoriums auf Landes- oder auch Provinzialebene. Sie übernahmen nach und nach weitere Funktionen der Gerichtsbarkeit und Verwaltung, gliederten die bestehenden Rabbinate mit ein75 und entwickelten spezifische Instrumente zur Disziplinierung der ihnen unterstehenden Judenschaft.76 Mit den sogenannten Takkanot, innerjüdischen Statuten zur Regelung der Sitten und Gebräuche einer Gemeinschaft, betätigten sie sich jetzt sogar in Konkretisierung ihrer autonomen Stellung als Gesetzgeber. Ein Beispiel hierfür bildet das sogenannte Tekkunos Büchlein der Juden im Amt Fürth, das aus einer
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Fritz Baer: Das Protokollbuch der Landjudenschaft des Herzogtums Kleve 1: Die Geschichte der Landjudenschaft des Herzogtums Kleve. Berlin 1922 (Veröffentlichungen der Akademie für die Wissenschaft des Judentums. Historische Sektion 1). S. 85-89; darauf basierend auch der Aufsatz von Berthold Altmann: The Autonomous Federation of Jewish Communities in Paderborn. In: Jewish Social Studies 3. New York 1941. S. 159-188. Daniel Cohen: Die Landjudenschaften der brandenburg-preußischen Staaten im 17. und 18. Jahrhundert - ihre Beziehungen untereinander aufgrund neu erschlossener Quellen. In: Ständetum und Staatsbildung in Brandenburg-Preußen. Hg. von Peter Baumgart. Berlin, New York 1983. S. 208-229; Daniel Cohen: Die Landjudenschaften in Hessen-Darmstadt bis zur Emanzipation als Organe der jüdischen Selbstverwaltung. In: Neunhundert Jahre Geschichte der Juden in Hessen. Beiträge zum politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Leben. Wiesbaden 1983. S. 151-214; wichtig ist auch Daniel Cohen: Die Entwicklung der Landesrabbinate in den deutschen Territorien bis zur Emanzipation. In: Zur Geschichte der Juden im Deutschland des späten Mittelalters und der Frühen Neuzeit. Hg. von Alfred Haverkamp. Stuttgart 1981 (Monographien zur Geschichte des Mittelalters 24) S. 221-242. D. Cohen, Landesrabbinate (Anm. 74). Hierzu vgl. jetzt Friedrich Battenberg: Jews in Ecclesiastical Territories of the Holy Roman Empire. In: In and out of the Ghetto. Jewish-Gentile Relations in Late Medieval and Early Modern Germany. Hg. von Hartmut Lehmann, Ronnie Po-Chia Hsia. Cambridge, New York 1993.
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Übersetzung des Nürnberger Geschichtsschreibers Andreas Würfel von 1754 bekannt ist. 77 Die Herausbildung eines übergreifenden, die Einzelgemeinde überschreitenden Gruppenbewußtseins unter den Juden war gleichsam die positive Folge der Kollektivierungsentwicklung. Eine negative Folge bestand darin, daß die Juden nunmehr stärker als bisher dem Zugriff eines Landesherrn oder sonstigen Herrschaftsträgers ausgesetzt wurden. Für die hessischen Landgrafschaften etwa ist zu beobachten, daß die Judenlandtage vom Landesherrn dazu benutzt wurden, dort eigens dafür ausgebildete protestantische Prediger zu installieren. Diese hatten die Aufgabe, vor der zwangsweise zum Gottesdienst versammelten Judenschaft eine Missionspredigt zu halten, um möglichst viele der auf dem Landtag vertretenen Schutzjuden zur Taufe zu veranlassen. 78 Eine diesbezügliche Instruktion Landgraf Georgs II. von 1642 an seinen Marburger Theologieprofessor Dr. Meno Hannekius hat sich ebenso erhalten79 wie ein Teilnehmerverzeichnis aus dem Folgejahr mit einer genauen Aufzählung der An- und Abwesenden, bei letzteren unter Angabe des jeweiligen Grundes der Abwesenheit. 80 Aus den Landjudenschaften wurden so von Fall zu Fall Judenkonvente, die im Zeitalter der Konfessionalisierung zur Durchsetzung der festgesetzten Landesreligion dienen sollten. Diente die Kollektivierung der Judenschaft als Basis für eine soziale Disziplinierung zur Schaffung einer einheitlichen Untertanenschaft im Rahmen der Grenzen des Landesfürstentums, so sollte die allgemeine Gesetzgebungs- und Verordnungstätigkeit des Landesherrn eine stärkere Einbindung der Juden in den Territorialverband bewirken. 81 Sie kümmerte sich zwar zumeist um die Rechte und Pflichten einzelner Schutzjuden, soweit gegenüber dem allgemeinen Landesrecht supplementäre Bestimmungen notwendig waren. Doch bewirkte auch sie im Effekt
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F. Battenberg, Reichskammergericht (Anm. 33) S. 40f.; und F. Battenberg, Reichskammergericht und Archivwesen (Anm. 31). Siehe etwa das Schreiben des Darmstädter Regierungsrats und späteren Kanzlers Konrad Fabricius an den Kasseler Geheimen Rat von 1659 Mai 27 (Hessisches Staatsarchiv Marburg, 4 a Hessen-Damstadt Nr. 1304), in dem eine Zusammenkunft der Juden angesprochen wurde, auf der diese eine geistliche Sermon anhören mästen, die vom Superintendanten abzuhalten sei. F. Battenberg, Quellen zur Geschichte der Juden (Anm. 21) Nrn. 1841 und 1836 (Schreiben an Theologische Fakultät), 1837 (Predigtanleitung), 1838 (Änderung der Judenordnung), 1839 (Schreiben an die Definitoren des Oberfürstentums), 1840 (Anweisung zur Ausführung der Ladung) und 1843 (Schreiben an die Definitoren) weitere Aktenstücke aus dem Jahre 1642 zur Vorbereitung der Judenversammlung. Wilhelm Diehl: Judenkonvente. In: Kirchenbehörden und Kirchendiener in der Landgrafschaft Hessen-Darmstadt von der Reformation bis zum Anfang des 19. Jahrhunderts. Bearbeitet von Wilhelm Diehl. Darmstadt 1925 (Hassia Sacra 2. Hg. von Wilhelm Diehl). S. 605619, hier S. 607-619. Vgl. F. Battenberg, Judenverordnungen (Anm. 1) S. 16.
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durch die Differenzierung zwischen inländischen und ausländischen Juden sowie die Beschränkung des landesherrlichen und regalitätsbedingten Schutzes auf die ersteren die Entstehung eines handlungsfähigen Kollektivs auf Landes- oder Herrschaftsebene. Die Auswirkungen der Polizeigesetzgebung auf die jüdische Existenz sind bislang nur wenig untersucht, da es vielfach noch an Übersichten über die überlieferten Quellen fehlt.82 Wenn allein für ein mittleres Reichsfürstentum wie die Landgrafschaft Hessen-Darmstadt für den Zeitraum von zweihundert Jahren zwischen 1600 und 1800 eine Anzahl von weit mehr als 300 einschlägigen Ordnungen und Verordnungen ermittelt werden konnten,83 so kann damit wenigstens ein Eindruck über die Intensität der herrschaftlichen Reglementierungssucht gegenüber den Juden vermittelt werden.
VI. Zusammenfassend ist das Folgende festzuhalten: Nur die wichtigsten Rechtsprinzipien, die die soziale Existenz der Juden in der Frühen Neuzeit konstituierten, konnten erläutert werden. Auf die Auswirkungen der dargestellten Prinzipien im einzelnen konnte kaum näher und allenfalls beispielhaft eingegangen werden. Offen bleiben mußten etwa Fragen nach der Gestaltung der Wirtschaftsordnung durch Pfand- und Darlehnsbestimmungen sowie die Begrenzung des Grundstücksverkehrs, Probleme der rechtlichen Einflußnahme auf das religiöse Leben der Juden durch Bücherinquisitionen, Besteuerungen, Beschränkungen der Friedhofsanlagen und des Synagogenbaus sowie auch Fragen nach dem sozialen Zusammenleben der Juden durch Kleiderordnungen und Berufsbeschränkungen. Antworten auf diese keineswegs vollständig aufgeworfenen Fragen lassen sich zum Teil von den dargestellten Rechtsprinzipien herleiten, und Hinweise zu ihrer Relevanz ergeben sich jedenfalls aus der zeitgenössischen 'Judengesetzgebung', auf die in vorstehendem Beitrag von Fall zu Fall hingewiesen wurde. 84 Trotz des fragmentarischen Charakters des vorstehenden Beitrags sollte deutlich geworden sein, daß die Juden auch im Ancien Régime keine isolierte Sonderexistenz führten, gewissermaßen ausgegliedert aus der feudalen Ordnung der Zeit. Gewiß bildeten die Juden des Heiligen Römischen Reiches und auch an82
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Vgl. dazu Friedrich Battenberg: Gesetzgebung und Judenemanzipation im Ancien Régime. Dargestellt am Beispiel Hessen-Darmstadt. In: ZHF 13. 1986. S. 43-63. Nachweise bei F. Battenberg, Judenverordnungen (Anm. 1). Hierzu allgemein im Überblick: Friedrich Battenberg: Judengesetzgebung. In: Neues Lexikon des Judentums. Hg. von Julius H. Schoeps. Gütersloh, München 1992. S. 240-242.
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derswo Traditonsgemeinschaften heraus, 85 die ihre eigenen subkulturellen Beziehungsgeflechte entwickelten und zu ihrem Schutz in der Galuth-Existenz Abwehrmechanismen aufbauen mußten, die ein Überleben ermöglichten. 86 Doch auch die Überlebensinstrumentarien konnte die jüdische Gemeinschaft nur in Auseinandersetzung mit der christlichen Umwelt und in Abwehr einer stets repressiven europäischen Kultur entwickeln. Sie mußte die Formen der Mehrheitsgesellschaft annehmen, weiterentwickeln und für die eigenen Bedürfnisse umbilden. Umgekehrt ging auch die Separierungs- und Diskriminierungstendenz der nichtjüdischen Umwelt gegenüber den Juden niemals so weit, daß diese in rechtliche, soziale und mentale 'homelands' verpflanzt wurden, die aus den feudalen Strukturen herausgegliedert und einer eigengesetzlichen Entwicklung überlassen wurden. Die Juden waren selbstverständlich Teil der allgemeinen Rechtsordnung, und dies ist auch die Kernaussage der Rezeptionsjuristen des 16. Jahrhunderts, wenn sie die Juden dem allgemein gedachten, universell geltenden römischen Bürgerrecht unterwerfen wollten. Die gesamtgesellschaftliche Entwicklung hatte ungeachtet etwaiger Abschottungsbestrebungen ipso iure Auswirkungen auf die Existenz der Juden, und allgemeine Rechtsänderungen machten vor ihrer Existenz nicht halt. Bezogen auf die Verhältnisse des Heiligen Römischen Reiches heißt dies, daß die Territorialisierung ursprünglich kaiserlicher Herrschaftsrechte, die räumliche Radizierung ursprünglich personaler Rechtsverhältnisse und auch die Entleerung von feudalen Schutzbeziehungen durch Verstärkung des Gesichtspunkts ökonomischer Nützlichkeit selbstverständlich auch die rechtliche und soziale Verfaßtheit der Judenschaft einer gründlichen Umorientierung unterwarf. Wenn es dennoch berechtigt ist, die rechtlichen Rahmenbedingungen hervorzuheben, die in besonderem Maße die jüdische Existenz tangierten, so deshalb, weil angesichts der selbstgewählten religiösen Sonderordnung der Juden supplementäre Rechtsregeln als erforderlich angesehen wurden, die der Unterschiedlichkeit zur christlichen Herrschaftskonzeption Rechnung tragen sollten. Im Kern sind alle diese Regelungen auf die alte, von den Kirchenvätern begründete und von Thomas von Aquin endgültig ausformulierte Lehre von der minderberechtigten, aber doch angesichts eschatologischer Erwartungen im Hinblick auf eine schließliche Bekehrung der Juden, aber auch angesichts der angenommenen Zeugenschaft für die Existenz Christi schutzbedürftigen Stellung der Juden zurückzuführen. 87 Minder85 86
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Hierzu F. Battenberg, Das Europäische Zeitalter (Anm. 24) S. 9-11. Völlig verfehlt ist es, die Ghettoisierung der Juden in der Vergangenheit auf deren eigene Tendenz zur Abkapselung zurückzuführen. Hiermit werden Ursache und Wirkung verwechselt. So aber Konrad Low: Im heiligen Jahr der Vergebung. Wider Tabu und Verteufelung der Juden. Osnabrück 1991. S. 47. Siehe die Überblicksdarstellung dazu von F. Battenberg, Das Europäische Zeitalter (Anm. 24) S. 14-16, mit weiteren Nachweisen.
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berechtigung und Schutzzusage standen dabei in einem komplementären Verhältnis. 88 Die hauptsächlichste Streitfrage der Zeit aus der Sicht der konkurrierenden Herrschaftsträger war eine Kompetenzfrage: Nämlich die Frage danach, wer im Einzelfall und unter einem zureichenden Rechtstitel den Schutz über die Juden ausüben und als Entgelt dafür die in Form von Schutzgeldern anfallenden Nutzungen einziehen könne. Wirtschaftstheoretisch formuliert, könnte man das gleiche als Problem der Verteilung knapper Ressourcen ansehen, das durch die begrenzte Anzahl leistungsfähiger Juden und durch deren eingeschränkte wirtschaftliche Betätigungsmöglichkeiten entstanden war. Die Kompetenzregelung sollte eine Maximierung des Nutzens erreichen, ohne damit eine Störung der christlichen Feudalordnung zu riskieren. Der in diesem Beitrag erläuterte ständige Streit um Regalien und Schutzrechte läßt sich auf diese Weise erklären, wenn daneben auch religiös-dogmatische Fragen nach der Reichweite der von der christlichen Lehre her zu verantwortenden Duldung der Juden eine Rolle spielten. Der Gesichtspunkt der Nutzenmaximierung war damit auch der eigentliche Regelungsgesichtspunkt für die von den Juristen im 16. Jahrhundert erstrebte Einführung des allgemeinen Bürgerrechts auch für Juden. Schon Reuchlin betonte sehr deutlich, daß es ihm nicht um eine rechtliche Besserstellung der Juden ginge, sondern nur um eine Erleichterung des allgemeinen Rechtsverkehrs. Und auch die in diesem Beitrag so benannte Kollektivierung der Judenschaften auf Herrschaftsund Landesebene entsprang keineswegs der Absicht christlicher Potentaten, die jüdische Gemeinschaft in irgendeiner Weise institutionell zu stärken. Vielmehr sollten nur die Beziehungen des Landesherrn zu seinen Untertanen, zu denen ja auch die Juden zählten, in disziplinierender Absicht rationalisiert werden. Auf diese Weise konnten steuerliche Abschöpfungen mit geringem Verwaltungsaufwand durchgeführt, religiöse Indoktrinationen erleichtert und die Abgrenzung des Untertanenverbandes nach außen hin perfiziert werden. Im Ergebnis kann also festgehalten werden, daß die kaiserliche Kammerknechtschaft, das römische Bürgerrecht der Juden, die Ausgestaltung des Judenregals und die Ausbildung des Schutzjudentums als supplementäre Rechtsprinzipien die rechtlichen Rahmenbedingungen jüdischer Existenz im Ancien Régime der Frühen Neuzeit bildeten, daß diese Prinzipien jedoch nicht losgelöst von der allgemeinen Rechts- und Verfassungsordnung der Zeit gesehen werden dürfen, die bis in das beginnende 19. Jahrhundert hinein von feudalen Strukturen geprägt war. Die Emanzipation der Juden seit dem Ende des 18. Jahrhunderts repräsentierte deshalb auch nicht einen isolierten Entwicklungsbruch jüdischer Sonderexistenz. Sie war vielmehr Teilaspekt der Entstehung der bürgerlichen Gesellschaftsordnung, wie 88
Hinsichtlich des Ausschlusses der Juden vom Waffenrecht mit der Wirkung einer Schutzverstärkung nach Rechts- und Ehrminderung vgl. G. Kisch (Anm. 5) S. 39f.
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sie bis heute existent ist. Die Metamorphose der Rechtsbedingungen jüdischer Existenz war und ist mit der der europäischen Zivilisation stets in engster Weise verknüpft. Die Ausführungen dieses Beitrags sollten diesen übergreifenden Gesichtspunkt deutlich gemacht haben.
Medinat Schwaben. Jüdisches Leben in einer süddeutschen Landschaft in der Frühneuzeit* Stefan Rohrbacher
Jüdische Quellen, die über jüdisches Leben in der hier in Frage stehenden Zeit Auskunft geben können, sind rar; aber sie sind doch auch wieder bei weitem nicht so selten, wie es die Lektüre der hierzulande erschienenen Sekundärliteratur vielfach vermuten lassen könnte. Es geht im folgenden um den Versuch, am Beispiel Schwabens die Bedeutung einer Frage zu erhellen, die bislang vor allem von israelischen Historikern gelegentlich gestellt,1 aber von ihren deutschen Kollegen noch kaum aufgegriffen worden ist: Der Frage nach den Prämissen, den Konturen und weißen Flecken eines Bildes jüdischer Geschichte, das sich fast ausschließlich auf die Kenntnis 'externen' Quellenmaterials nichtjüdischer Provenienz stützt, während das 'interne' Quellenmaterial jüdischer Provenienz dem Historiker gemeinhin verschlossen bleibt. Wir müssen uns an den Gedanken gewöhnen, daß eine Annäherung an unseren Gegenstand ohne eine Einbeziehung der jüdischen, also zumeist hebräischen Quellen letztlich nicht möglich sein wird - wenn wir uns nicht mit einem verkürzten Bild begnügen wollen, das wesentliche Aspekte weitgehend ausblendet. Und wir haben allen Grund zu der Überlegung, ob nicht vielleicht gerade die nur über dieses interne Quellenmaterial zu erschließenden Ge-
*
1
Dieser Beitrag wurde im Rahmen eines aus Mitteln der German-Israeli-Foundation geförderten, von Prof. Dr. Stefi Jersch-Wenzel (Berlin) und Prof. Dr. Mordechai Breuer (Jerusalem) geleiteten Forschungsprojekts 'Germania Judaica IV' zur Geschichte der Juden in der Markgrafschaft Burgau erarbeitet. Abkürzungen: b. = ben ("Sohn des ...") R. = Rabbi[ner; entspricht dem hebr. Morenu-Titel] RGA = Rechtsgutachten (rabbinische Responsa) Vgl. etwa Daniel J. Cohen: Die Entwicklung der Landesrabbinate in den deutschen Territorien bis zur Emanzipation. In: Zur Geschichte der Juden im Deutschland des späten Mittelalters und der frühen Neuzeit. Hg. von Alfred Haverkamp. Stuttgart 1981 (Monographien zur Geschichte des Mittelalters 24). S. 221-242, hier S. 221f.
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sichtspunkte für die Juden selbst von ganz besonderer Wichtigkeit gewesen seien. Nun darf man sich gewiß nicht auf eine imaginierte jüdische Binnenperspektive zurückziehen und den ausschließlichen Gebrauch externer durch den ausschließlichen Gebrauch interner Quellen ersetzen - zumal auch dieses Material wieder nur punktuelle Aufschlüsse gibt. Es geht vielmehr darum, beide Blickwinkel einzunehmen und stärker als bisher dem Umstand Rechnung zu tragen, daß die Geschicke der jüdischen Minderheit in Deutschland gleichermaßen in die deutsche wie in eine jüdische Geschichte eingebunden waren. Wenn also im folgenden die Binnenperspektive ganz im Vordergrund steht, so soll dies nicht etwa die künftig allein anzustrebende Art des Umgangs mit der Geschichte der Juden in Deutschland aufzeigen, sondern Möglichkeiten und Begrenzungen dieser zweiten Sichtweise andeuten. Beginnen wir mit einem Blick auf die Landkarte. Wenn wir uns jüdischem Leben in einer bestimmten Region widmen, so ist keineswegs gesagt, daß die uns vertrauten Räume und deren Abgrenzungen dafür jeweils den einzig sinnvollen Rahmen vorgeben. Die 'jüdische Landkarte' hatte ihre eigenen Konturen, sie kannte gewissermaßen ihre eigenen historisch gewachsenen Landschaften mit mehr oder weniger stark ausgeprägtem demographischem und religiös-kulturellem Profil, mit eigenen Zentren und eigenem Hinterland, und nicht zuletzt auch mit eigenen organisatorischen Verklammerungen. Im Falle von Schwaben liegen die Dinge noch relativ einfach; denn in den jüdischen Quellen der Frühneuzeit meint diese sonst so vage Bezeichnung für gewöhnlich ein recht klar umrissenes und überschaubares Gebiet, das im Kern die von der vorderösterreichischen Markgrafschaft Burgau beanspruchten Territorien zwischen Lech und Donau umfaßt. Hier stimmt also eine interne Grenzziehung mit einer externen weitgehend überein - wie kompliziert die Herrschaftsverhältnisse in diesem Gebiet tatsächlich waren, muß uns hier zunächst nicht bekümmern. 2 Die gemeinsame Zugehörigkeit zu einem Herrschaftsgebiet, zumal zu Vorderösterreich, trug gewiß wesentlich dazu bei, daß sich die schwäbischen Juden schon früh als eine recht festgefügte Einheit verstanden. So ist Medinat Schwaben, das Land Schwaben, bereits im frühen 16. Jahrhundert mehr als nur eine Landschaft: Es ist der Verbund der Judenheit zwischen Ulm und Augsburg. Schon um 1525 amtiert in Günzburg R. Jona b. Jakob Weil als schwäbischer LanEinblicke in diese sehr verwickelten Verhältnisse bietet Wolfgang Wüst: Günzburg. München 1983 (Historischer Atlas von Bayern. Teil Schwaben Bd. 13), besonders S. 41-72, S. 105190; vgl. auch Gerhart Nebinger: Entstehung und Entwicklung der Markgrafschaft Burgau. In: Vorderösterreich. Eine geschichtliche Landeskunde. Hg. von Friedrich Metz. Freiburg 3. Auflage 1977. S. 753-772; Wolfgang Wüst: 'Ius superioritatis territorialis'. Prinzipien und Zielsetzungen im habsburgisch-insässischen Rechtsstreit um die Markgrafschaft Burgau. In: Vorderösterreich in der frühen Neuzeit. Hg. von Hans Maier, Volker Press. Sigmaringen 1989. S. 209-228.
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desrabbiner.3 Damit ist die Konstituierung einer solchen Gebietskörperschaft, die wir uns freilich als eine äußerst lose Organisationsform zu denken haben,4 hier sehr viel früher greifbar als anderswo in Deutschland. Aber während in Schwaben externe Faktoren bei der internen Raumbildung offenbar besonders bedeutsam waren, sind doch auch andere, innere Anstöße als identitätsstiftende Momente anzunehmen. Im Einzelfall ist das nur vage faßbar; doch sei hier zumindest angedeutet, was man sich unter solchen inneren Anstößen vorzustellen hat. Es liegt auf der Hand, daß wie bei der christlichen auch bei der jüdischen Bevölkerung landschaftliche Besonderheiten gewisse Anpassungen der Lebensführung ermöglichten oder erforderten. Vielfach berührte dies Fragen der religiösen Observanz, wodurch solche regionalen Besonderheiten naturgemäß eine besondere Bedeutung erlangten. So wird schon in den 'Scha'are Dura1 des R. Isaak Düren (um 1300) ein offenbar spezifisch schwäbisches Problem erwähnt, das auch in späterer Zeit die Aufmerksamkeit der Gelehrten finden sollte: Da ich im Königreich Schwaben gesehen habe, daß sie [dort] die Butter der Nichtjuden essen und sich dem nicht entgegenstellen, weil man sie von den Bergen bringt, [wo diese Butter in der Weise produziert wird] daß sie auf einmal ein [ganzes] Faß zubereiten, deshalb schreibe ich [hier] jedes Gesetz in Bezug auf Butter nach dem Wissen der großen Geonim nieder [...].5 Solche Besonderheiten besaßen also in den Augen der jüdischen Zeitgenossen eine erhebliche Signifikanz. Vor allem aber war es die Ausstrahlung der alten städtischen Zentren, die bei der Diversifizierung der 'jüdischen Landschaft' wirksam 3
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Leopold Löwenstein: Nathanael Weil, Oberrabbiner in Karlsruhe, und seine Familie. Frankfurt a.M. 1898 (Beiträge zur Geschichte der Juden in Deutschland Bd. 2). S. 4. Der Günzburger Landesrabbiner war ein Urenkel des berühmten Augsburgers R. Jakob Weil; sein Vater hatte in Donauwörth, sein Großvater in Ulm als Rabbiner amtiert. Die Herausbildung solcher Gebietskörperschaften in der Frühneuzeit ist bislang nur in vagen Umrissen greifbar. Am Ende dieses Prozesses stehen die organisatorisch vergleichsweise hochentwickelten Landesjudenschaften der Zeit nach dem Dreißigjährigen Krieg, deren Existenz nicht nur den religiösen, politischen und sozialen Bedürfnissen der Juden, sondern auch den politischen und fiskalischen Interessen der Territorialherren entsprach und die in der Abgrenzung ihres jeweiligen Einzugsbereichs nun in der Tat an Herrschaftsgebieten und Landesgrenzen orientiert waren. Auf die frühere Zeit, in der die weltliche Obrigkeit kaum jemals Interesse für die Formen und Institutionen jüdischer Selbstorganisation zeigte, ist dieses Bild jedoch nicht übertragbar; vgl. Daniel J. Cohen: Die Organisationen der Landesjudenschaften in Deutschland im 17. und 18. Jahrhundert. Masch. Diss. Jerusalem 1968 [hebr.]. Scha'are Dura. Nr. 78; Übersetzung aus dem Hebräischen hier und im folgenden durch den Verfasser. - Die in Schwaben verbreitete Almenwirtschaft ließ eine Herstellung von Butter unter jüdischer Kontrolle kaum zu. Offenbar war man dazu übergegangen, die auf den Almen produzierte Butter dennoch zu verwenden, da andere wohl nicht oder nicht immer erhältlich war; vgl. auch RGA Jakob Mölln Nr. 35.
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wurde und auch nach dem Untergang dieser Zentren wirksam blieb. So war die Gegend zwischen Lech und Donau seit jeher das Hinterland der Ulmer und mehr noch der Augsburger Gemeinde. In seinem 'Leket Joscher1 schreibt Joslin b. Moses aus Höchstädt an der Donau, einer unserer wichtigsten Zeugen für die Lebensverhältnisse und Gebräuche süddeutscher Juden während der ersten Hälfte des 15. Jahrhunderts: Ich erinnere mich, daß mein seliger Vater in einem [bestimmten] Jahr in seinem Haus kein Hafermehl verzehrte, weil es der Rabbiner verboten hatte; wie mir scheint, war es der selige Rabbiner Jakob Weil. Denn es war nicht vor dem Omer gesät worden. Und mein seliger Vater wohnte in einer Siedlung namens Höchstädt nahe der heiligen Gemeinde Augsburg, etwa einen Tagesmarsch [entfernt], und das war der Ort des seligen Rabbiners Jakob Weil.6 Und an anderer Stelle: Ich erinnere mich, daß ich zu der Zeit, als meine selige Mutter, Frau Feiga, starb, noch kein Bar-Mizwa war. Und sie wurde auf dem unteren Friedhof in der Stadt Augsburg beerdigt, denn mein seliger Vater wohnte ungefähr 28 Jahre in einer Siedlung namens Höchstädt am Fluß Donau [...], und dort bin ich geboren. Und er zahlte dem Herzog von Bayern Steuer und verfuhr in allem nach den Bräuchen [der jüdischen Gemeinde] von Augsburg, wie etwa, keine Butter von den Nichtjuden zu essen; auch in Lauingen ist es verboten [diese] zu essen. Und 30 Tage nach dem Ableben meiner seligen Mutter schickte mich mein seliger Vater in die heilige Gemeinde Augsburg, um Tora zu lernen und Kaddisch zu sagen [...].7 Wie diese Zitate illustrieren, gehorchte die Ausrichtung der verstreut in der weiteren Umgebung lebenden Juden auf Augsburg sowohl den Erfordernissen der religiösen Lebensführung im weitesten Sinne, die in vielfacher Hinsicht die Anbindung an eine funktionierende Gemeinde und die Nutzung ihrer Institutionen wie 6
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Leket Joscher: I. 96f. - Am zweiten Tag des Pessachfestes wurde einst im Tempel zu Jerusalem die Erstlingsgarbe (Omer) dargebracht. Das Verbot gründet sich auf Talmud, Traktat Challah I. 1. Leket Joscher: II. 97. - Mit vollendetem 13. Lebensjahr wird der Knabe religiös volljährig (Bar-Mizwa); zu seinen Pflichten gehört es nun auch, nach dem Tod der Eltern während des Trauerjahres das Totengebet (Kaddisch) zu sagen. Daß der noch nicht 13jährige Joslin für seine Mutter Kaddisch sagen sollte, ist als Zeugnis besonderer Frömmigkeit zu verstehen. Kaddisch kann jedoch nur in Anwesenheit des für den gemeinschaftlichen Gottesdienst erforderlichen Quorums von mindestens zehn erwachsenen männlichen Betern (Minjan) gesagt werden, das in Höchstädt nicht gegeben war. - Das hier als prägnantes Beispiel Augsburger Observanz genannte Verbot, das erneut das schon in den Scha'are Dura erwähnte Problem der Butter berührt, war von R. Jakob Weil gegen die Landessitte und den Wunsch seiner Gemeinde ergangen; Leket Joscher: II. 11.
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Lehrhaus und Friedhof bedingte, als auch der gewichtigen Autorität des dortigen Rabbiners. In der Tat kommt dem zwischen 1429 und 1438 in Augsburg amtierenden R. Jakob Weil, der zu den größten deutschen Talmudisten seiner Zeit gehörte, eine weit über Augsburg und Schwaben hinausstrahlende Bedeutung zu. Die für die aschkenasischen Gemeinden maßgeblichen Glossen des R. Moses Isseries zum Ritualwerk 'Schulchan Aruch' (1569/71) berufen sich immer wieder auf seine Entscheidungen, und seine Rechtsgutachten wurden häufig gedruckt. Angesichts dieser weit über seinen Tod und sein unmittelbares Wirkungsfeld hinausreichenden Bedeutung nimmt es nicht Wunder, daß seine Dezisionen in religiösen Zweifelsfragen unter den schwäbischen Juden schon zu seinen Lebzeiten weithin verbindlichen Charakter besaßen; und wenn in späterer Zeit davon die Rede ist, daß es einen regelrechten Minhag Schwaben gegeben habe, also eine für diese Region kennzeichnende Ausprägung von Ritus, Brauchtum und religiöser Observanz, so dürfen wir getrost annehmen, daß die Dezisionen des R. Jakob Weil einen wesentlichen Ausgangspunkt für die Ausbildung dieses Minhag dargestellt und ihn entscheidend bestimmt haben.
Die Familie Ulma-Günzburg Gemeinsamkeiten in der religiösen und lebenspraktischen Ausrichtung stellten zweifellos ein starkes identitätsstiftendes Band dar. Die Erinnerung an gemeinsame historische Wurzeln kam hinzu, insbesondere nach dem Ende der Gemeinden von Augsburg (1438/40) und Ulm (1499), als deren Söhne sich die zwischen Lech und Donau ansässigen Juden späterer Zeit weitgehend verstanden - und hier ist weniger die Faktizität der Abkunft aus diesen glanzvollen städtischen Zentren jüdischen Lebens und jüdischer Gelehrsamkeit ausschlaggebend, als vielmehr die bewußtseinsbildende Wirkung solcher Postulate. Die Mitglieder der über Jahrhunderte hinweg bedeutendsten und vornehmsten Familie des jüdischen Schwaben, die Ulma-Günzburg, haben die Erinnerung an ihre städtische Vergangenheit noch gepflegt, als sie bereits seit 300 Jahren nicht mehr in Ulm lebten und auch aus Günzburg schon längst vertrieben waren. Als schlichte Händler und nur gelegentlich noch als ansehnliche Kaufleute saßen diese Ullmann schließlich in zahlreichen Verästelungen in den Dörfern vor den Toren Augsburgs oder auch auf dem platten Land. In der jüdischen Welt hatte ihr Name freilich noch immer einen besonderen Klang. Einer der Ulma-Günzburg, R. Juda Löb Ullmann aus Ichenhausen, im späten 18. Jahrhundert Rabbiner zu Hohenems in Vorarlberg, gewährt uns mit seiner Ahnentafel nicht nur Einblick in Selbstverständnis und Geschichtsbewußtsein eines
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'jüdischen Landadels', sondern er vermittelt uns auch ein sprechendes Dokument jüdischen Schicksals in der Frühneuzeit, wenn er seine Vorfahren in den schwäbischen Dörfern bis zu jenem Abraham Ulma zurückzuverfolgen weiß, der 1617 aus der Stadt Günzburg in die heilige Gemeinde Hürben zog in der Stunde der Vertreibung, Gott bewahre. Als dessen Großvater nennt er den hochberühmten Magnaten Simon Günzburg, der sogar in dem 1592 in Prag gedruckten Geschichtswerk 'Zemach David' des David Gans gepriesen wird; und dessen Vater wiederum sei R. Elieser Günzburg gewesen, der zu den aus Ulm vertriebenen Juden gehört habe. Und nach einigen freilich nicht ganz stichhaltigen Ausführungen über diese und andere Verfolgungen fügt der Hohenemser Rabbiner an: Und weil diese Familie ehedem zu den Bewohnern Ulms gehörte, zeichnen sie bis auf den heutigen Tag als 'Ulma'. Und die Form ihres Siegels ähnelt dem Wappen der Stadt Leipheim, nahe Günzburg, und diese Stadt gehört bis heute zu Ulm.8 Mit anderen Worten: Auch die Heraldik lieferte einen Beweis für die direkte Abstammung aus der Stadt Ulm. Die Mitglieder dieser Familie haben in der Tat das Gesicht der schwäbischen Judenheit in der Frühneuzeit wesentlich geprägt und ihre Geschicke immer wieder gelenkt oder doch entscheidend mitbestimmt. Die kleine, aber bedeutende Gemeinde zu Günzburg, während des 16. Jahrhunderts die Muttergemeinde des Landes Schwaben, wurde augenscheinlich ganz von ihnen dominiert, und auch das Landesrabbinat stand zeitweise unverkennbar unter ihrem Einfluß. So erscheint es angemessen, etwas länger bei den Ulma-Günzburg zu verweilen. Vielleicht haben wir den Stammvater dieser Familie in jenem Günzburger Arzt Elieser, d.i. Lazarus, zu sehen, der um 1534 am Hof zu Innsbruck tätig war, wo er offenbar die Kinder des Königs kurierte. Im Jahre 1542 erwirkte er, da er in der Ertzeney für etfaren und geschickht beruembt wurde, von den bayerischen Herzögen einen Schutzbrief, der ihn bei seinen Reisen durch Bayern von der Entrichtung der Maut- und Zollgebühren befreite.9 Im folgenden Jahr war Lazarus vorübergehend beim Bischove von Augspurg, zu Dillingen wonhafft. Seit 1545 finden wir ihn dann in Wien, wo er von den Ärzten der Universität heftig befehdet, 8
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Nach der hebräischen Fassung bei Leopold Löwenstein: Günzburg und die schwäbischen Gemeinden. In: Blätter für jüdische Geschichte und Litteratur. Jg. 3. 1902. S. 4f. Central Archives for the History of the Jewish People. Jerusalem: P 17/185. - Er war damals offenbar nicht der einzige jüdische Arzt in der Stadt; ein 1542 in Isny gedrucktes jüdischdeutsches Sittenbuch ist der ehrbaren und züchtigen Frau, Frau Morada, Doktorin der freien Kunst der Arznei, wohnhaft zu Günzburg gewidmet. Sefer Midot. fol. 99 v ; zu diesem kulturhistorisch bedeutsamen Büchlein vgl. Moritz Güdemann: Geschichte des Erziehungswesens und der Cultur der Juden in Deutschland während des 14. und 15. Jahrhunderts. Wien 1888 (Geschichte des Erziehungswesens und der Cultur der abendländischen Juden während des Mittelalters und der neueren Zeit Bd. 3). S. 223-238 mit umfangreichen Auszügen aus dem jüdisch-deutschen Text in Transkription.
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von König Ferdinand aber offenbar protegiert wurde. 10 Nun ist zwar die Identität des Arztes Lazarus mit dem gleichnamigen Urvater der Ulma-Günzburg nicht gesichert; aber ihn hier vorzustellen, erscheint doch auf jeden Fall gerechtfertigt, denn seine Großfamilie, der 1544 neben einem Stiefsohn auch vier Schwiegersöhne mit ihren Familien angehörten, bildete damals gewissermaßen den Kern der jüdischen Gemeinde zu Günzburg. In dieser Zeit steigt auch der Stern seines mutmaßlichen Sohnes, des berühmten Simon Günzburg, dessen sagenhafter Reichtum nach dem Zeugnis des 'Zemach David' unter den Juden in Deutschland seinesgleichen nicht hatte. In der Tat scheint er geradezu sprichwörtlich gewesen zu sein.11 Wir wissen nicht, worauf sein Aufstieg gegründet war und wie er vonstatten ging, aber er muß Klugheit mit einem sicheren Gefühl für vorteilhafte Verbindungen vereint und gelegentlich auch auf allzu empfindsame Rücksichtnahme gegenüber Konkurrenten gleich welcher Konfession verzichtet haben. Die wenigen erhaltenen Geschäftsbriefe von eigener Hand weisen ihn als einen weitläufigen Finanzmann aus, der mit Personen von Stand und Adel ebenso selbstverständlich umzugehen wußte wie mit der deutschen Sprache und Schrift. Günzburg war gewiß kein überregional bedeutender Handels- und Finanzplatz, aber das Kontor im Oberstock seines Hauses in der Judengasse war jahrzehntelang eine erste Adresse in der Welt von Finanz und Kommerz. Das Memorbuch von Pfersee rühmt Simon nach, er sei mehr als vierzig Jahre für die jüdische Gemeinschaft tätig gewesen, habe für die Abschaffung von Zöllen gesorgt, aus seinen Mitteln ein Grundstück für die Errichtung des Friedhofs in Burgau angekauft und mit einer Mauer einfrieden lassen, zahlreiche Gefangene aus den Händen der Nichtjuden gelöst. 12 Der 'Zemach David' preist ihn als in Künsten erfahren, klug, im Talmud bewandert, wohltätig, fromm und sehr bescheiden. Wie immer man über letztere Epitheta denken mag - und es gab Zeitgenossen, die anderer Ansicht waren -, Simon war unter den Juden Deutschlands eine bemerkenswerte und unter jenen Schwabens Zeit seines Lebens (er starb 1585) wohl die herausragende Gestalt.
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Central Archives for the History of the Jewish People. Jerusalem: P 17/185. So heißt es in einem 1627 im Moselgebiet entstandenen Lehrgedicht des Alexander b. Isaak Treis von dem Armen, er glaube, wenn er nur einen Gulden besitze, schon reich zu sein wie Simon Günzburg; vgl. Erika Timm: Graphische und phonische Struktur des Westjiddischen unter besonderer Berücksichtigung der Zeit um 1600. Tübingen 1987. S. 468. Seelengedächtnisbücher des 16.-19. Jahrhunderts in den Gemeinden Binswangen, Pfersee, Neuburg, Fischach, Öttingen, Oberdorf, Erdheim, Wallerstein, Kriegshaber, Harburg, Steppach, Hürben, Kleinerdlingen, Sontheim im Land Schwaben. Hg. von Moritz Stern. Jerusalem 1941 (Schriften des Gesamtarchivs für die Geschichte des jüdischen Volkes Bd. 1) [hebr.]. S. 6; vgl. Joseph Perles: Das Memorbuch der Gemeinde Pfersee. In: Monatsschrift für Geschichte und Wissenschaft des Judentums. Bd. 22. 1873. S. 508-515.
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Daß die Ulma-Günzburg zu den vornehmsten Familien in der aschkenasischen Welt gehörten, wird nicht zuletzt durch ihre Heiratspolitik verdeutlicht, die sie vor allem mit der Führungsschicht der Gemeinde zu Frankfurt am Main, aber auch mit bedeutenden rabbinischen Autoritäten in Deutschland und Polen verband. Simon selbst war ein Schwiegersohn des R. Isaak Linz, einer der führenden Persönlichkeiten der Frankfurter Gemeinde. Von seinen acht Töchtern war eine, Ella, mit dem berühmten Gaon R. Akiba Frankfurter verheiratet, der nach ihrem Tod ihre jüngere Schwester Fromet ehelichte und sich nach seinem illustren Schwiegervater selbst den Namen Günzburg beilegte; eine weitere Tochter des Simon Günzburg, Bonlin, wurde mit dem Gaon R. Eliahu Ottingen in Frankfurt verheiratet, und Edel war die Gattin des Wormser Gemeindevorstehers Naftali Hirtz. Die glänzendste Verbindung aber war wohl jene zwischen einem seiner acht Söhne, R. Elieser, und einer Tochter des berühmten Krakauer Dezisors R. Moses Isseries. Neben R. Elieser, der fromm und gelehrt war, schließlich ins Heilige Land zog und in Safed starb, sind von den Söhnen des Simon Günzburg zu nennen: Abraham, dem das Pferseer Memorbuch nachrühmt, er habe zur Auslösung von Gefangenen beigetragen und mit seinen Brüdern den Bau der Synagoge in Burgau gestiftet; R. Ascher Aron, genannt Lemle, der vielleicht um 1600 als Landesrabbiner von Schwaben amtierte;13 der hochgelehrte R. Isaak in Pfersee, der seine Tage in Jerusalem beschloß; Samuel, der 1630 in hohem Alter als Gemeindevorsteher zu Worms starb; und Salomon, dessen Name sich mit einem der berühmtesten hebräischen Manuskripte verbindet, der Pferseer Talmudhandschrift.14
Einige Handschriften Wenn der Name der Ulma-Günzburg auch lange nach ihrer eigentlichen Glanzzeit in der jüdischen Welt noch einen besonderen Klang hatte, so verdankte die Familie dies nicht zuletzt einem Schatz von wahrhaft unermeßlichem materiellem und insbesondere immateriellem Wert, der über viele Generationen hinweg von ihr gehütet wurde: Zahlreiche Gelehrte und Fromme selbst aus Jerusalem wallfahrteten im Lauf der Jahrhunderte nach Pfersee, um dort die einzigartige Handschrift
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David Maggid: Zur Geschichte der Familien Günzburg. St. Petersburg 1899 [hebr.] S. 176; vgl. Jüdische Privatbriefe aus dem Jahre 1619. Hg. von Alfred Landau, Bernhard Wachstein. Wien, Leipzig 1911 (Quellen und Forschungen zur Geschichte der Juden in DeutschÖsterreich Bd. 3). Nachtrag Nr. 29. Ein weiterer Sohn des Simon Günzburg, Moses Abraham, gelangte zu eher mißlicher Bekanntheit, weil sich seine Familienangelegenheiten in den Responsen großer zeitgenössischer Rabbiner behandelt finden; vgl. RGA Salomon Luria Nr. 11; RGA Moses Isseries Nr. 17.
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des babylonischen Talmud zu sehen. Dieser berühmte Kodex hat seine eigene, für die Geschicke der Juden wie für die ihrer Bücher im christlichen Europa bezeichnende Geschichte. Die zahlreichen Konfiskationen und Verbrennungen machten den Talmud, dieses nächst der Bibel wichtigste Werk des Judentums, auch im Zeitalter des Buchdrucks noch zu einer gesuchten Rarität - selbst bedeutende Rabbiner klagten in der Frühneuzeit häufig, daß sie seit vielen Jahren kein Talmudexemplar in Händen gehabt oder nur einzelne Traktate in ihrem Besitz hätten. Aus älterer Zeit ist, von Fragmenten abgesehen, überhaupt nur das später in Pfersee aufbewahrte, nahezu vollständige Exemplar gerettet worden. Im Spätjahr 1342 wohl in Frankreich vollendet, gehörte diese Handschrift zunächst dem Oberrabbiner R. Matatia b. Josef in Paris. Nach der Ausweisung der französischen Juden von 1394 kam sie offenbar mit den Flüchtlingen nach Italien. Im Jahre 1480 in Padua augenscheinlich an einen deutschen Juden verkauft, war sie seit 1588 nachweislich im Besitz der Familie Ulma-Günzburg, bis sie um 1800 in das Kloster Polling bei Weilheim (Oberbayern) und schließlich 1806 in die königliche Bibliothek zu München gelangte. 15 Auch einige bedeutsame hebräische und jüdisch-deutsche Handschriften der Frühneuzeit stammen aus dem Besitz der Ulma-Günzburg, so ein Pentateuch, als dessen Eigentümer um 1588 gleichfalls Salomon b. Simon Günzburg zeichnete. 16 Ein 1589 vollendetes, reich illustriertes Gebetbuch war sicher eine Auftragsarbeit für die Familie, vermutlich für den Zweig des Moses Abraham b. Simon Günzburg; 17 auch dieses Manuskript war offenbar sehr lange in Familienbesitz. 18 Wenn wir hier etwa eine Hawdala-Szene sehen, eine Beschneidung, eine Hochzeit, eine Kappara- und eine Hollekreisch-Szene, 19 so dürfen wir davon ausgehen, daß der Künstler diese Szenen mehr oder weniger getreulich so gestaltet hat, wie sie sich in der Welt seiner schwäbischen Auftraggeber abspielten. Von einigem kultur- und sprachgeschichtlichem Interesse ist eine zwischen 1580 und 1600 entstandene jüdisch-deutsche Sammelhandschrift. Ihre einzelnen 15
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Vgl.: Der babylonische Talmud nach der Münchener Handschrift Cod. hebr. 95 mittelst Facsimile-Lichtdrucks. Hg. von Hermann Strack. Leiden 1912. Einleitung S. III-VII. Bayerische Staatsbibliothek München. Cod. hebr. 2. Germanisches Nationalmuseum Nürnberg. Handschrift 7058; vgl. Hebräische Handschriften. Teil 2. Bearbeitet von Ernst Röth. Hg. von Hans Striedl. Wiesbaden 1965 (Verzeichnis der orientalischen Handschriften in Deutschland Bd. VI/2). S. 315-316. - Das Seelengedächtnis für Moses Abraham b. Simon findet sich fol. 45 r , und zwar in nahezu völliger Übereinstimmung mit dem Wortlaut im Pferseer Memorbuch; vgl. Seelengedächtnisbücher (Anm. 12) S. 6. Darauf läßt der Besitzvermerk - wohl kaum vor dem 18. Jahrhundert - schließen, der Efraim b. Tewli Ulman [so!] aus Pfersee nennt. Hawdala: Eigentlich der Segen, im weiteren Sinn die Zeremonie am Sabbatausgang. Kappara: Sühnopfer am Vortag des Versöhnungstages. Hollekreisch: Zeremonie, mit der dem Neugeborenen der profane Name verliehen wird.
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Abb. 2. Illustration aus dem 1589 vollendeten Gebetbuch der Familie Ulma-Günzburg. Germanisches Nationalmuseum Nürnberg: Hs. 7058. Hochzeit. Unter dem Traubaldachin mit der Aufschrift „Viel Glück" steckt der Bräutigam der Braut den Trauring an den Finger. Links ein Musikant, rechts wohl ein Rabbiner mit der charakteristischen Kopfbedeckung, der Gugel, die im 14 /15. Jahrhundert allgemein in Mode gewesen war, seither aber vornehmlich noch von Juden und insbesondere von jüdischen Gelehrten getragen wurde, fol. 34v.
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Abb. 3. Illustration aus dem 1589 vollendeten Gebetbuch der Familie Ulma-Günzburg. Germanisches Nationalmuseum Nürnberg: Hs. 7058. Beschneidung. Links der Stuhl für den Propheten Elia. Auf den Knien des Gevatters das Kind, das von dem Mohel (mit Gugel) beschnitten wird. Rechts wohl die Kindsmutter bei der Bereitung von Wundsalbe, fol. 36v.
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Abb. 4. Illustration aus dem 1589 vollendeten Gebetbuch der Familie Ulma-Günzburg. Germanisches Nationalmuseum Nürnberg: Hs. 7058. Jakobssegen. Isaak, Jakob und Rebekka in der Tracht wohlhabender, süddeutscher Juden des ausgehenden 16. Jahrhunderts. Unten: Jagdszene, fol. 41 r.
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Teile stammen zwar von verschiedenen Schreibern - als solche nennen sich Isaak b. Juda Reutlingen und der Arzt Benjamin b. Josef Merks in Thannhausen -, doch ist sie mit hoher Wahrscheinlichkeit in allen Teilen schwäbischer Herkunft und insgesamt von der Familie Ulma-Günzburg in Auftrag gegeben worden, in deren Besitz sie jedenfalls nicht lange nach Fertigstellung war. 20 Sie enthält eine Adaption des deutschen Volksbuchs von Kaiser Oktavian, verschiedene genuin jüdische Erzählungen sowie Adaptionen der Volksbücher von den sieben weisen Meistern und vom Eulenspiegel. 21 Als humorvoll-hintersinnige Reverenz an seine Auftraggeber läßt Isaak Reutlingen in die Erzählung von Josef, der den Sabbat heiligte, übrigens einfließen, dieser fromme Josef sei mit solchem Reichtum belohnt worden, daß er sich fast mit Simon Günzburg messen könne.
Mobilität und Gelehrsamkeit Die Söhne des Simon Günzburg führen uns in die Welt der frommen Gelehrsamkeit; und spätestens hier müssen wir immer wieder weit über den Bezirk des Landes Schwaben hinausschweifen. Die jüdische war ohnehin eine in hohem Maße mobile Gesellschaft, der Landesgrenzen als Barrieren wenig bedeuteten und in der weite Reisen, die Kenntnis ferner Städte und Länder nicht für ungewöhnlich galten. Die Pilgerfahrt oder Auswanderung ins Heilige Land, wie sie R. Elieser und sein Bruder R. Isaak unternommen haben, war freilich eine besonders fromme Übung. Aber eine völlige Ausnahme war sie auch unter den schwäbischen Juden nicht, berichtet doch gut anderthalb Jahrhunderte zuvor schon Joslin aus Höchstädt von seinem Vater Moses, daß er auf dem Weg ins Heilige Land gestorben, und von seinem Bruder, daß er dort gewesen sei.22 Häufig hören wir davon, wie scheinbar unvermittelt und ohne äußere Notwendigkeit der Wohnsitz einer Familie in entfernte Gegenden verlegt wird. Geographische Distanzen zählten wenig,
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Bayerische Staatsbibliothek München. Cod. hebr. 100; vgl. die akribisch genaue Zuordnung bei E. Timm, Graphische und phonische Struktur (Anm. 11) S. 464-475. Zwei der Volksbuch-Adaptionen wurden bereits nach dieser Handschrift in Transkription ediert. Thomas Friderichs-Müller: Die 'Historie von dem Kaiser Octaviano'. Transkription der Fassung des Cod. hebr. monac. 100. Hamburg 1981; nur bedingt brauchbar ist die Edition von John A. Howard: Wunderpariich und seltsame Historien Til Eulen Spiegels. Würzburg 1983; vgl. auch Hermann-Josef Müller: Eulenspiegel bei den Juden. Zur Überlieferung der jiddischen Eulenspiegel-Fassungen. In: Eulenspiegel-Jahrbuch. Bd. 30. 1990. S. 33-50, insbesondere S. 34-36; eine der Erzählungen auch in der Fassung dieser Handschrift bietet in einer Paralleledition Erika Timm: Beria und Simra. Eine jiddische Erzählung des 16. Jahrhunderts. In: Literaturwissenschaftliches Jahrbuch. Neue Folge Bd. 14. 1973. S. 1-94. Leket Joscher: I 9. II 85.
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wenn es galt, Geschäfte zu tätigen oder Familienbande anzuknüpfen oder zu erhalten. Im 16. und 17. Jahrhundert erstreckten sich diese Bande oft über mehrere Länder; die Ehe zwischen R. Elieser in Günzburg und der Tochter des R. Moses Isseries aus Krakau ist nur ein besonders illustres, aber keineswegs seltenes Beispiel. Immer noch gab es auch eine kontinuierliche Auswanderung, die auch aus den schwäbischen Dörfern vor allem nach Osteuropa führte, wo längst die wichtigsten Zentren der aschkenasischen Judenheit zu finden waren; eine Auswanderung, die allerdings nicht mehr wie in etwas früherer Zeit den Charakter einer umfassenden Wanderungsbewegung besaß, sondern sich auf der Ebene individueller Übersiedlungen vollzog. In Thannhausen etwa saß um 1600 Schimmeil gimmppell Judt; wenige Jahre später heißt es von ihm: hat den Süz uflcünndt und Ist In Pollen sambt seinem weib gezogen.™ Von seinem Zeitgenossen und Nachbarn, R. Eliakum Götz, Sohn des großen, verehrungswürdigen Raw R. Meir Thannhausen, 24 wissen wir, daß er nach seinen schwäbischen Jugendjahren als Rabbiner in Posen wirkte, während von seinen zahlreichen Brüdern Akiba im schlesischen Hotzenplotz (Osoblaha) und R. Löb Chaneies in Lublin lebte, R. Jakob Temerles hingegen in Wien, wo Familien schwäbischer Herkunft in der jüdischen Gemeinde eine recht bedeutende Rolle spielten. Bezeichnend ist wohl auch eine Zeugenaussage, die 1637 vor dem Wiener Rabbinatsgericht abgelegt wurde. Es ging um die Angelegenheit der in Hrubaschow zurückgelassenen Frau eines gewissen Zwi Hirsch b. Isaak, der aus dem Lande Schwaben stammen sollte und dessen Identität es festzustellen galt. Der Zeuge war Simon aus Pfersee, Sohn des mehrfach genannten R. Elieser Günzburg, und er sagte aus: Daß ich weiß, Itzak Fischach hat drei Söhne gehabt, der eine namens Simon und der zweite Hirsch, und der hat eine Frau aus dem Land Polen geheiratet, und der dritte Moses Singer. Und es ist mir als sichere Kunde bekannt, daß Itzak keine weiteren Söhne hatte als diese drei. Und Simon starb in der heiligen Gemeinde Fischach, und Moses Singer starb in der Stadt Darmstadt [in der es keine jüdische Gemeinde gab und die daher von unserem Zeugen genauer lokalisiert wurde:] nahe der heiligen Gemeinde Worms.25 Jener Hirsch aber war offenbar in Polen geblieben, und obwohl sein Neffe, Wolf b. Simon aus Fischach, noch anzugeben wußte, sein Vater habe oft Briefe von ihm gehabt, war die Verbindung schließlich doch abgerissen. So wie in dieser Fischacher Familie des frühen 17. Jahrhunderts waren geographisch entfernte Verwandtschaftsverhältnisse, die nicht nur einen weitläufigen BriefVerkehr hervorriefen, sondern auch weite Reisen unternehmen ließen, bei
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Stadtarchiv Thannhausen. Urbar 1603/1610. Vorrede zu RGA Eliakum Götz (Even haSchoham). RGA Joel Sirkis Nr. 76.
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den deutschen Juden der Frühneuzeit ganz an der Tagesordnung. Vor allem aber war es das Streben nach Gelehrsamkeit, das damals Schüler jeden Alters auf die Landstraßen trieb. Vielleicht sollte man hier daran erinnern, daß ja auch die intellektuelle Schicht der christlichen Gesellschaft in hohem Maß mobil war und die Scholaren oft einen guten Teil ihres Lebens auf den Landstraßen umherzogen. Bei den Juden war der Erwerb höherer Bildung freilich ein Anliegen, das nicht auf eine bestimmte, dünne Schicht beschränkt blieb; und die Wege, die sie zu diesem Ende zurücklegten, waren im allgemeinen wohl weiter. Schon Joslin b. Moses aus Höchstädt folgte einst seinem Lehrer R. Jakob Weil von Augsburg nach Erfurt, ließ später seine Frau bald nach der Hochzeit in Landau zurück und begegnet uns dann - ohne daß die Reihenfolge der Stationen eindeutig wäre - als Schüler rabbinischer Autoritäten in Bamberg, Regensburg, in Ulm oder Venedig, in Wiener Neustadt, wo er längere Zeit bei R. Israel Isserlein studierte, endlich in Mestre, Cremona und Padua. Solche Wege wurden auch später von süddeutschen Juden gegangen. Die Verbindung zu den Lehrhäusern der kleinen, aber ob ihrer Gelehrsamkeit hoch angesehenen aschkenasischen Gemeinden Norditaliens war gerade für Schwaben lange kaum minder bedeutsam als jene zu den Schulen Böhmens und Polens. 26 In der Tat müssen die Beziehungen besonders eng gewesen sein; denn wenn wir auch nicht wissen, wo etwa die gelehrten Söhne des Simon Günzburg ihre rabbinische Ausbildung erhalten haben, so ist es doch auffallend, daß sich das Land Schwaben im 16. Jahrhundert gleich zweimal hintereinander seinen Landesrabbiner unter den Gelehrten Italiens wählte.
Schwäbische Landesrabbiner der Frühneuzeit Der erste dieser beiden aus Norditalien berufenen schwäbischen Landesrabbiner, R. Isaak b. Josef Segal (Eisik haLevi Günzburg), war wohl der direkte Nachfolger des 1525 erwähnten R. Jona Weil. Er scheint in Mantua geboren zu sein und war ein Schüler des berühmten R. Meir Katzenellenbogen in Padua. Seine Zeitgenossen erwähnen ihn mehrfach unter den führenden rabbinischen Autoritäten in
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Zu den - insbesondere kulturellen - Verbindungen in der aschkenasischen Welt vgl. Jakob Elbaum: Offenheit und Abgeschlossenheit. Die geistig-literarische Produktion in Polen und in den deutschen Landen am Ende des 16. Jahrhunderts. Jerusalem 1990 [hebr.]. S. 33-64; speziell zu der hier angesprochenen Frage länderübergreifender Verflechtungen der jüdischen Gelehrsamkeit vgl. Eric Zimmer: Die Rabbiner Deutschlands im 16. Jahrhundert und ihre Beziehungen zu den Rabbinern in anderen Ländern der Diaspora [hebr.]. In: Verhandlungen des 9. Kongresses für jüdische Studien. Sektion B 1. Jerusalem 1986. S. 127-134.
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Deutschland, doch von seinem langen Wirken in Günzburg, das wohl bald nach 1530 begann und erst mit seinem Tod (1567/68) endete, wissen wir wenig. Bei zwei Gelegenheiten allerdings begegnet er uns auf recht spektakuläre Weise: Zunächst im Zusammenhang mit einem bemerkenswerten Versuch, den Druck und Absatz hebräischer Werke zu fördern, und schließlich als einer der Hauptkontrahenten in einem Streit, der in der aschkenasischen Judenheit weiteste Kreise zog und in den die größten Gelehrten dieser Zeit verstrickt wurden. In Augsburg war unter bislang unklaren Umständen seit etwa 1531 der Wanderdrucker Chaim Schwarz tätig, der in dieser den Juden sonst verschlossenen Stadt verschiedene Ausgaben des hebräischen Gebetbuchs, einen hebräischen Briefsteller und andere, offenbar vornehmlich auf einen jüdischen Kundenkreis berechnete Druckwerke erzeugte. 27 Im Jahre 1542 schloß Paulus Aemilius, ein getaufter Jude, mit Schwarz eine Geschäftspartnerschaft, um gemeinsam in Ferrara die Möglichkeiten für den Druck und Verkauf hebräischer Bücher zu erkunden, da sich die Bedingungen hierfür in Augsburg offenbar verschlechtert hatten. Die Reise nach Italien fand tatsächlich statt, doch das Unterfangen endete alsbald mit einem Zerwürfnis. Was diese ohnehin bemerkenswerte Partnerschaft des Täuflings und des jüdischen Buchdruckers besonders merkwürdig erscheinen läßt, ist der Umstand, daß die Verbindung durch den schwäbischen Landesrabbiner R. Isaak Segal hergestellt und auch die Geschäftsvereinbarung offenbar in seinem Beisein abgeschlossen worden ist.28 Nun ist das große Interesse christlicher Humanistenkreise, mit denen auch Paulus Aemilius in Verbindung stand, an hebräischen Schriften bekannt; und auch aus Schwaben läßt sich in diesem Zusammenhang ein Parallelbeispiel für eine Kooperation von christlichen und jüdischen Gelehrten anführen. Einige Jahrzehnte zuvor hatte sich der in Lauingen residierende Provinzialpräses der Augustiner, Kaspar Amman (gestorben 1524), auf der Suche nach hebräischen Büchern auch an einen gewissen Isaak Kohen in Günzburg gewandt, der zusagte, ihm das lexikographische Werk 'Sefer Aruch 1 des Nathan b. Jechiel innerhalb von acht Tagen zu beschaffen. In der Tat findet sich ein Manuskript des 'Aruch' ebenso in der Bibliothek des Humanisten wie die von ihm zu Übungszwecken in etwas ungelenker hebräischer Schrift kopierten und mit lateinischer Ubersetzung versehenen Schreiben eines Elchanan Bacharach aus Burgau, der religiöse Fragen behandelt, und des berühmten Kabbalisten R. Naftali Hirtz Treves in Worms, der Amman weitere hebräische Bücher leihweise nach 27
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Vgl. Mosche N. Rosenfeld: Der jüdische Buchdruck in Augsburg in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts. London 1985. S. 7-11. Vgl. Hans Striedl: Paulus Aemilius an J.A. Widmanstetter. Briefe von 1543/44 und 1549. In: Ars iocundissima. Festschrift für Kurt Dorfmüller zum 60. Geburtstag. Hg. von Horst Leuchtmann, Robert Münster. Tutzing 1984. S. 333-356. - Chaim Schwarz betätigte sich wenig später (1544/45) in Ichenhausen, dann in Heddernheim bei Frankfurt a.M. und schließlich in Lublin als Drucker hebräischer Werke.
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Lauingen zu schicken verspricht, wobei Lazarus in Günzburg als Mittelsmann fungieren soll. 29 Während der Verkauf hebräischer Bücher zweifellos ein lukratives Geschäft darstellte und auch die Bemühungen auf christlicher Seite um hebräischen Sprachunterricht und um Kenntnis wichtiger jüdischer Schriften oder gar der Kabbala unmittelbar plausibel erscheinen, bedarf die Bereitwilligkeit wohl der Erklärung, mit der ein R. Naftali Hirtz Treves seine wertvollen Bücher einem christlichen Geistlichen lieh oder ein R. Isaak Segal gar das Odium des Umgangs mit einem Getauften auf sich nahm. Dies ist wohl nicht nur als Reaktion auf die von Seiten christlicher Gelehrter ungewohnte Freundlichkeit und Ehrerbietung zu begreifen, mit der sich die Humanisten ihren jüdischen Ansprechpartnern näherten, oder als Resultat des als drückend empfundenen Büchermangels, der stets nach Möglichkeiten zur Drucklegung hebräischer Schriften suchen ließ. Vielmehr haben wir in dieser Bereitschaft zur Zusammenarbeit mit christlichen Theologen und selbst mit einem vom Glauben abgefallenen Juden wohl auch einen Ausdruck messianischer Erwartungshaltung zu sehen, die in den jüdischen Gelehrten die Hoffnung nährte, eine bessere Kenntnis des Judentums und das Studium insbesondere der kabbalistischen Schriften möge die Christen am Ende der Tage der Erkenntnis der Wahrheit näherbringen. Schließlich hatte zu Beginn des 16. Jahrhunderts das Auftreten des Pseudomessias Ascher Lemlein die Judenheit gerade in deutschen Landen in große Aufregung versetzt; und seither wurde die jüdische Welt immer wieder von Ereignissen erschüttert, die den messianischen Hoffnungen starken Auftrieb gaben. So vermerkt R. Naftali Hirtz Treves in seinem kabbalistischen 'Dikduk Tefila', daß 1531 die Kunde zu ihm gedrungen sei von der Erlösung, die nun begonnen habe; von Jerusalem bis Saloniki hätten die Juden Büß- und Fasttage festgesetzt und besondere Gebetsversammlungen angeordnet, und selbst die Frauen schütten ihr Herz aus, während sie fasten.30 Und wenn wir auch bislang nichts davon wissen, wie die Juden Schwabens auf das Auftreten des Pseudomessias David Re'ubeni reagiert haben, der damals durch Europa reiste, so sei doch daran erinnert, daß der letzte Akt dieses Dramas in ihrer Nachbarschaft spielte: Im Jahre 1532 zogen Re'ubeni und sein Prophet Salomon Molcho nach Regensburg, wo sie jedoch nicht die erhoffte Unterstützung des Kaisers fanden, sondern in Ketten geschlagen wurden. Ein Jahrzehnt später, zur Zeit jener denkwürdigen Verbindung zwischen Chaim Schwarz, Paulus Aemilius und R. Isaak Segal, war zwar diese
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Bayerische Staatsbibliothek München. Cod. hebr. 4 2 6 . fol. 196 v , 2 0 4 v - 2 0 5 r , 2 0 6 v ; Cod. hebr. 4 2 8 (Sefer Aruch); vgl. Eric Zimmer: Jewish and Christian Hebraist Collaboration in Sixteenth Century Germany. In: Jewish Quarterly Review. Bd. 71. 1980. S. 6 9 - 8 8 , hier S. 7 3 - 7 9 .
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Siddur Tiengen fol. 78 r .
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konkrete Hoffnung längst zerstoben, aber die Ankunft des wahren Messias mochte deshalb nicht weniger sehnlich und gewiß erwartet werden. Zu weit über seinen unmittelbaren Wirkungskreis hinausreichender Berühmtheit gelangte R. Isaak Segal in seinen letzten Lebensjahren als eine der Hauptpersonen in einer Affäre, die als der Streit zwischen den Rabbinern Schwabens und Frankfurts Eingang in die Annalen der deutschen Juden gefunden hat. Den auch im Hinblick auf unser Bild von der Genese jüdischer Niederlassungen aufschlußreichen Ausgangspunkt bildete ein Konflikt zwischen Simon Günzburg und seinem einstigen Geschäftspartner Nathan Schotten, dem Simon im Spätjahr 1553 durch seine Verbindungen zu Bischof und Domkapitel die Ansiedlung in Oberhausen bei Augsburg ermöglicht hatte. Dafür hatte sich Nathan verpflichtet, Simon an allem Gewinn zu beteiligen, den er an seinem günstig gelegenen neuen Wohnort erwirtschaften würde, und ihm halbjährlich in Günzburg Rechnung zu legen. Doch 1564 entwich Nathan nach Frankfurt am Main. Während die schwäbischen Rabbiner neben R. Isaak Segal werden R. Moses Zabern, gleichfalls in Günzburg und R. Gutlieb b. Jakob Segal in Neuburg an der Kammel genannt - die Ansprüche Simons verfochten und Nathan Schotten vor das Günzburger Rabbinatsgericht zu ziehen suchten, fand dieser die Protektion des Frankfurter Rabbinerkollegiums. So führte die Auseinandersetzung zwischen Geschäftsleuten, die ihre Sache zugleich vor den weltlichen Gerichten austrugen, alsbald einen Gelehrtenstreit herbei, der essentielle Fragen wie jene der Autonomie der Länder und der rabbinischen Gerichte berührte. Trotz der Bedeutung, die diesem Konflikt in der Geschichte der deutschen Juden in der Frühneuzeit zukommt, kann er an dieser Stelle nicht näher geschildert werden. 31 Hier sei nur erwähnt, daß sich die Schwaben in ihrem Kampf gegen die Hegemonie des Frankfurter Rabbinatsgerichts, das damals in den deutschen Gemeinden weithin als eine Art Oberinstanz der jüdischen Gerichtsbarkeit angesehen wurde, auch den Umstand zunutze machten, daß sie als in der habsburgischen Markgrafschaft Burgau gesessene Juden in einem besonderen Verhältnis zum kaiserlichen Hof standen. So erbaten sie 1566 von Kaiser Maximilian II. eine förmliche Bestätigung ihres Landesrabbiners, die ihnen auch - in offenkundiger Unkenntnis des eigentlichen Zwecks - ausgefertigt wurde. 32 Diese kaiserliche Konfirmation seiner Amtsbefugnisse, die auch die exklusive Gerichts31
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Vgl. Eric Zimmer: Aus der Geschichte des Rabbinats in Deutschland im 16. Jahrhundert. Der Konflikt zwischen den Rabbinern Frankfurts und Schwabens (1564-1565). Jerusalem 1984 [hebr.]; Moritz Stern: Die Wormser Reichsrabbiner Samuel und Jakob 1521-1574. Berlin 1937. S. 17-25; Markus Horovitz: Frankfurter Rabbiner. Ein Beitrag zur Geschichte der israelitischen Gemeinde in Frankfurt a.M. 2. Auflage. Mit Ergänzungen von Josef Unna. Hildesheim, New York 1972. S. 30-34 und der hebräische Dokumententeil. S. 65-76. Abschrift in Haus-, Hof- und Staatsarchiv Wien. Reichshofrat: denegata antiqua Karton 178 (alt 168). Als "kaiserlicher Rabbiner" firmiert R. Isaak Segal deshalb fälschlich bei E. Zimmer, Rabbiner Deutschlands (Anm. 26) S. 129.
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barkeit und das Bannrecht über alle schwäbischen Juden einschloß, hob nun R. Isaak Segal aus dem Kreis der deutschen Landesrabbiner deutlich hervor und stützte seinen Anspruch auf Unabhängigkeit gegenüber dem Frankfurter Rabbinerkollegium. Als R. Isaak Segal wenig später starb, war der Streit zwischen Simon Günzburg und Nathan Schotten keineswegs beigelegt; und es scheint, als habe die Affäre auch bei der Wahl seines Nachfolgers eine entscheidende Rolle gespielt. Viele rabbinische Autoritäten, selbst Polens und Italiens, hatten in den zurückliegenden Jahren für die eine oder andere Seite Partei ergriffen. Zu jenen, bei denen R. Isaak Segal Unterstützung gesucht hatte, zählten sein greiser Lehrer R. Meir Katzenellenbogen in Padua, R. Moses Isseries, der damals freilich mit Simon Günzburg noch nicht verschwägert war, und R. Jakob b. Josef Reiner, einer der Leiter der aschkenasischen Talmudhochschule zu Mantua. 33 In der Tat waren die polnischen und italienischen Gelehrten, zumal jene, die unter dem Einfluß R. Meirs von Padua standen, vielfach geneigt gewesen, die Unabhängigkeit der Rabbinatsgerichte zu betonen und dem schwäbischen Landesrabbiner zur Seite zu treten. So mochte man sich nach dem Tod des streitbaren R. Isaak Segal von der Wahl des R. Jakob Reiner zum neuen Landesrabbiner (1568) in Schwaben auch eine energische Fortführung des Kampfes um größtmögliche Autonomie, um einen privilegierten Sonderstatus innerhalb der deutschen Judenheit versprochen haben. Abermals wurde eine kaiserliche Urkunde erlangt, die Wahl und Amtsbefugnisse des schwäbischen Obristen Rabi mit höchstherrscherlicher Beglaubigung versah. 34 Doch wie sich alsbald zeigen sollte, war R. Jakob Reiner an der Auseinandersetzung mit den Frankfurter Rabbinern nicht interessiert; er verstand es wohl auch besser als sein Vorgänger, sich dem Einfluß des mächtigen Simon Günzburg zu entziehen, der seine Sache freilich unbeirrbar weitertrieb. Wenn sich R. Jakob Reiner auch nicht wie R. Isaak Segal in spektakuläre Konflikte mit starken politischen Obertönen verwickeln ließ, so ist er doch für uns von besonderem Interesse; denn aus seiner Amtszeit haben sich einige Dokumente erhalten, die Einblick in die Art und Weise geben, in der die Juden in den kleinen schwäbischen Gemeinden ihre inneren Angelegenheiten regelten - und sie vermitteln einen insgesamt charakteristischen Eindruck von dem damaligen Zustand des Rabbinats und der rabbinischen Rechtsprechung in Deutschland.
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Vgl. Shlomo Simonsohn: History of the Jews in the Duchy of Mantua. Jerusalem 1977 (Publications of the Diaspora Research Institut. Bd. 17). S. 503, 583, 587, 730; Eric Zimmer: R. Jakob Reiner. Landesrabbiner von Schwaben im 16. Jahrhundert [hebr.]. In: Sinai. Bd. 87. 1980. S. 119-134. Irrtümlich "Josef Rainer" bei D.J. Cohen, Entwicklung der Landesrabbinate (Anm. 1) S. 233. Abschrift in Haus-, Hof- und Staatsarchiv Wien. Reichshofrat, denegata antiqua Karton 178 (alt 168); vgl. D. J. Cohen, Landesjudenschaften (Anm. 4) Bd. 3: Appendices. S. 12If.
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Freilich muß man aus unserem hebräischen Quellenmaterial, das in aller Regel recht komplizierte Rechtsfälle zum Gegenstand hat, die aus der Sicht des Historikers in erster Linie interessierenden Punkte zumeist erst mühsam herausdestillieren. So soll hier auch, weil zu verwickelt und von eher geringem Belang, gar nicht auseinandergesetzt werden, um welches religionsgesetzliche Problem es im folgenden Zusammenhang eigentlich ging. Im Jahre 1575 jedenfalls kam es zu einem schweren Konflikt zwischen dem Landesrabbiner und der jüdischen Gemeinde zu Neuburg an der Kammel. Wir erfahren in diesem Kontext von einer Institution, die einen wichtigen Lebensbereich der schwäbischen Juden intern reglementierte; und es steht zu vermuten, daß ähnliche Einrichtungen auch für andere Bereiche bestanden: Die Eheschließung war im Land Schwaben an eine Erlaubnis gebunden, eine Art Unbedenklichkeitsbescheinigung des Landesrabbiners. Zugleich scheinen in diesem Zusammenhang die Alltagsgeschäfte, aber auch der Autoritätsverlust des Rabbinats auf; am Rande wird das schwäbische Schul- und Hochschulwesen gestreift, und wir finden einen Hinweis auf die - in diesem Fall offenbar vom Frankfurter Rabbinerkollegium ausgehenden - Bestrebungen, politisches Handeln zu koordinieren. Im Herbst 1575 erbat Jakob b. Moses Krumbach aus Neuburg von dem schwäbischen Landesrabbiner für seinen verwitweten Vater die Erlaubnis, zu Beginn des Monats Cheschwan, also noch im Oktober, erneut heiraten zu dürfen. Denn seit jeher, schreibt R. Jakob Reiner, holten sich die Einwohner von Neuburg die Erlaubnis von dem Vorsitzenden des Rabbinatsgerichts in Günzburg, und so haben sie sie auch stets bei mir eingeholt, seitdem ich hierher gekommen bin. Doch in diesem Fall verweigerte er aus bestimmten Gründen seine Zustimmung. Am Montag, 28. Tischri, heißt es weiter, ging ich nach Neuburg in Angelegenheiten des Landes, um sie gemäß der jüdischen Tradition dahin zu bringen, daß sie sich zu einer Ratsversammlung des Landes Schwaben einfänden wegen des schrecklichen Tages [gemeint ist der Reichstag] in Regensburg, wie die Gelehrten Frankfurts schrieben. Doch die Neuburger, angeführt von dem angesehenen Gemeindemitglied Mayer Backh, weigerten sich, dieser Aufforderung zu folgen. Es kam zu heftigen Auseinandersetzungen wegen jenes Hochzeitstermins, und R. Jakob Reiner sagte schließlich zu, daheim noch einmal die Schriften zu studieren und sich mit den Gelehrten zu beraten; und wenn sich eine Möglichkeit fände, die Erlaubnis zu erteilen, so wolle er sie ausstellen. Doch zunächst ruhte die Sache, denn: Ich ging von dort zu einer Ratsversammlung in einer Ansiedlung außerhalb meines Wohnortes [Günzburg], und von dort war ich gezwungen in eine Ansiedlung bei Augsburg zu reisen wegen einer Meinungsverschiedenheit und Zwistigkeit, die es dort gab. Und ich kehrte am Freitag, dem 3. Cheschwan, nach Hause zurück. Dort fand ich alle Knaben vor, die in die Klasse gehen, und die Jünglinge [die die Talmudhochschule besuchen] - der Ewige, gepriesen sei er
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möge sie beschützen -, und ich war gezwungen, am Sonntag nach ihrer Ordnung zu sehen und für sie [bei den jüdischen Einwohnern Günzburgs] Unterkünfte für die Sabbattage zu bekommen und die Schüler [auf die Haushalte] zu verteilen, so daß ich keine freie Zeit hatte, mich dieser Sache zuzuwenden Als wenig später jene Trauung dennoch vollzogen wurde, belegte R. Jakob Reiner den Bräutigam und den Haupträdelsführer der Neuburger mit dem Bann und entzog den beiden in die Sache verwickelten Beisitzern am dortigen jüdischen Gericht - in Anlehnung an ein Bibelwort nennt er sie rauchende Brennholzstummel - die rabbinische Approbation. Die Neuburger wandten sich nun an ihre Ortsherrschaft, und der von Vöhlinsche Beamte kam nach Günzburg und ließ R. Jakob Reiner vor den Stadtrat zitieren, um ihn zu zwingen, den Bann aufzuheben und die Approbation zurückzugeben. Während sich der Landesrabbiner auf seine kaiserlich konfirmierten Amtsbefugnisse berief, sah der Beamte in dessen Handeln einen Eingriff in die Rechte seiner Herrschaft und erklärte - wohl ganz im Sinne des Mayer Backh und seiner Parteigänger -, die in Neuburg gesessenen Juden sollten sich nicht mit dem Rest des Landes Schwaben vermischen, sollten also eine autonome Einheit bilden und nicht dem Günzburger Landesrabbiner unterstehen. So griffen die gerade in der Markgrafschaft Burgau allgegenwärtigen konkurrierenden Rechts- und Herrschaftsansprüche nicht nur immer wieder in das innere Leben der Juden ein, sondern sie ließen sich gelegentlich auch in deren eigenem Interesse gegeneinander ausspielen. 36 In den externen Quellen hat R. Jakob Reiner, wie so mancher schwäbische Landesrabbiner vor und nach ihm, so gut wie keine Spuren hinterlassen; und da auch die interne Uberlieferung schwach ist, verschwindet seine Gestalt wieder aus unserem Gesichtskreis, ohne daß wir etwa sagen könnten, wie lange er nach den hier beleuchteten Vorgängen noch gelebt oder in Günzburg amtiert hat. Auch sein
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Zentralbibliothek Zürich. Ms. Heid. 65. fol. 66 r v ; vgl. E. Zimmer, R. Jakob Reiner (Anm. 33) S. 129-131. Nur am Rande sei erwähnt, daß die in dieser Zeit so häufigen Konflikte um den Gerichtsort auch die jüdische Gerichtsbarkeit berührten. So hatte 1574 ein in einen Rechtsstreit verwickelter Neuburger Jude ein Dokument vorgewiesen, wonach ihm die von Vöhlinsche Herrschaft verboten hatte, sich an anderem Ort vor Gericht ziehen zu lassen; daraufhin wurde in Neuburg ein jüdisches Gericht etabliert. Zentralbibliothek Zürich. Ms. Heid. 65. fol. 97 r . Auch die Einrichtung weiterer jüdischer Friedhöfe neben dem bis dahin einzigen zu Burgau - in Neuburg spätestens 1561, in Thannhausen und Ichenhausen 1566/67 - ist vor dem Hintergrund der Bestrebungen der Insassen zu sehen, ihre Herrschaftsrechte auch im Hinblick auf ihre jüdischen Untertanen zu dokumentieren und letztere aus Anbindungen an die Markgrafschaft zu lösen.
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Amtsnachfolger R. Isaak b. Elieser Lippmann Mise'a 37 verdient unser besonderes Augenmerk. Denn die als Manuskript von eigener Hand erhaltene, umfangreiche Sammlung seiner Rechtsgutachten unter dem Titel "Sefer Jefe Nof" gibt recht detaillierten Aufschluß über seine Tätigkeit als Dezisor, und sie vermittelt vielfältige, wenn auch stets nur punktuelle Einblicke in das Alltagsleben süddeutscher Juden im späten 16. Jahrhundert.38 So erfahren wir hier von jüdischen Maklern und Geldleihern, von Agenten, die letzteren gegen Provision nichtjüdische Kunden zuführen, von solchen, die sich vom An- und Verkauf von Schuldscheinen ernähren, aber auch von einem, der seinem christlichen Ortsherrn die passende Lebensgefahrtin vermittelt. Recht häufig erwähnt werden Immobiliengeschäfte zwischen Christen und Juden. Aber nicht nur auf der geschäftlichen Ebene gibt es Kontakte. Die Juden leben in ihren eigenen Kreisen und in ihrer eigenen Kultur; doch sie schließen sich von ihrer christlichen Umgebung nicht hermetisch ab, sondern sie nehmen stets vielfaltige Einflüsse von ihr auf. Die Rechtsgutachten dieser Zeit, in deren hebräischen Text immer wieder (jüdisch-)deutsche und, soweit sich das auf dem Umweg über die hebräischen Lettern noch ablesen läßt, auch mundartlich gefärbte Worte und Passagen einfließen, legen davon kaum weniger beredtes Zeugnis ab als die jüdisch-deutsche Eulenspiegel-Fassung des Benjamin Merks oder ein etwas später ebenfalls in Thannhausen entstandenes jüdischdeutsches Purimlied. 39 Und es gibt die ganz alltäglichen, gänzlich unspektakulären Arrangements, die das Leben in den kleinen, zerstreuten jüdischen Siedlungen
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Lesung und Deutung des Namens dieser Gelehrtenfamilie sind strittig. Der Vater, Vorsitzender des Rabbinatsgerichts in Friedberg (Hessen), starb dort 1562 als Märtyrer. Ein Großonkel, R. Samuel b. Elieser Mise'a, war Vorsitzender des Rabbinatsgerichts in W o r m s und wurde 1521 von Kaiser Karl V. zum Reichsrabbiner ernannt. Ein weiterer Großonkel, R. Rafael Wolff, war Vorsitzender des Rabbinatsgerichts zu Hagenau im Elsaß und stand mit Kaspar Amman in Lauingen in Verbindung, dem er den Kontakt zu dem großen Kabbalisten R. Naftali Hirtz Treves in Worms vermittelte. Als Rabbiner amtierte R. Isaak Mise'a zunächst in Hechingen, 1576/77 begegnet er uns als Vorsitzender des Rabbinatsgerichts und Haupt einer Talmudhochschule in Aach im Nellenburgischen, wo den Juden jedoch 1583 das Schulehalten verboten wurde. Wahrscheinlich war dies der Grund, aus dem R. Isaak Mise'a mit seiner Familie nach Günzburg übersiedelte.
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National- und Universitätsbibliothek Jerusalem. Ms. heb. 4 ° 522; vgl. Eric Zimmer: Das Sefer Jefe Nof des R. Isaak Mise'a [hebr.]. In: Kirjat Sefer. Bd. 56. 1981. S. 529-545. Die Sammlung liegt inzwischen auch gedruckt vor: RGA Isaak Mise'a (Jefe Nof). Hg. von Avigdor Berger. Jerusalem 1986. In Auszügen mitgeteilt bei Moritz Steinschneider: Jüdische Litteratur und Jüdisch-Deutsch. In: Serapeum. Zeitschrift für Bibliothekswissenschaft, Handschriftenkunde und ältere Litteratur. Jg. 25. 1864. S 102. - Angeblich wird Josef Merks, Vater des (vor 1610 in offenbar hohem Alter gestorbenen) Benjamin, als Verfasser eines Purimliedes genannt; vgl. J . A . Howard, Wunderpariich und seltsame Historien (Anm. 21) S. VII. Es war mir nicht möglich, dies nachzuprüfen; doch dürfte es sich kaum um das vorliegende Lied handeln, das Ereignisse aus dem Jahre 1620 parodiert.
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überhaupt erst ermöglichen: Man schächtet beim christlichen Metzger, und für die den Juden verbotenen Fleischteile finden sich christliche Käufer. Selbst den Versand von geschächtetem Fleisch, das durch einen Davidstern und das hebräische Wort kascher (tauglich) gekennzeichnet ist, vertraut man bedenkenlos christlichen Flußschiffern an, ohne eine unabsichtliche oder gar böswillige Verunreinigung zu fürchten. Daß sich in jüdischen Familien entgegen obrigkeitlichem und kirchlichem Verbot auch christliche Dienstmädchen finden, sei nur am Rande bemerkt. Die weltlichen Behörden haben in dieser Zeit von den inneren Angelegenheiten der Juden und damit auch von Person und Amt des Landesrabbiners kaum jemals Notiz genommen. R. Isaak Mise'a allerdings macht hier eine Ausnahme, denn mit seinem Namen verbindet sich eine Affare, die die vorderösterreichische Regierung in Innsbruck und den Landvogt und die Amtleute in Burgau lange beschäftigte. Im Juni 1594 wurde ruchbar, daß die burgauischen Juden allerlay hebrayische unnd verfälschte Puech drucken ließen und sie in Künigreich Pollen unnd Sibenpürgen auch annderer ortten verschickten.40 Die Nachforschungen ergaben, daß sich die verdächtige, unkonzessionierte Druckerei in Thannhausen befand, was die Sache insofern komplizierte, als die dortigen Ortsherren die hohe und niedere Gerichtsbarkeit besaßen und die burgauischen Beamten die Angelegenheit dort nicht eigenmächtig verfolgen konnten. Tatsächlich waren in Thannhausen zwischen 1592 und 1594 gedruckt worden: Der Machsor, das Festtagsgebetbuch, nach aschkenasischem Ritus mit kurzem Kommentar und einer Betrachtung über den Zweck der Meditation von R. Isaak Mise'a; und einige Blatt liturgische Hymnen, Sulatot, für die Sabbattage zwischen Pessach- und Wochenfest. Die beiden Druckherren, der schwäbische Landesrabbiner und der Frankfurter Simon Levi Günzburg zur Gembs, 41 hatten sogar gehofft, in Thannhausen den Talmud herausbringen zu können. Doch nun wurden auf Veranlassung der burgauischen Landvogtei die vorgefundenen Bücher eingezogen und dem Ehinger Probst Melchior Zanger zur Begutachtung vorgelegt; R. Isaak Mise'a aber wurde in Haft gesetzt und von Günzburg geen Burgaw, in des Eisenmaisters Stubl verordnet, während der Drukker entwichen war und man den Schue[\]khlopffer, als Corrector42 nicht greifen konnte, solange er sich in Thannhausen aufhielt. Das Gesuch des Landesrabbiners um Haftverschonung wurde abgelehnt, nur sollte man ihn, weil beruerter Isac Jud, ein alt verlebter Mann sei, in der Haft desto leidenlicher halten. Erst im 40 41
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StaatsAAug. Vorderösterreich: Lit. 649. fol. 416 v . Eine verwandtschaftliche Beziehung zu den Ulma-Günzburg ist nicht gesichert, doch ist er jedenfalls ihrem Umfeld zuzurechnen. Der von ihm geplante Druck des Talmud wurde von Simon Günzburg maßgeblich unterstützt. Der 1593 in Venedig gedruckten zweiten Ausgabe des von ihm verlegten Minhagim-Buchs ist ein von R. Jakob b. Elieser Ulma, einem Enkel des Magnaten, verfaßtes Brautlied in hebräischer und jüdisch-deutscher Fassung beigegeben. 'Schulklopfer' wurde der Gemeindediener genannt, zu dessen Aufgaben es gehörte, durch Klopfen an die Fensterläden zum Gottesdienst in der Synagoge ('Schul') zu rufen.
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Oktober wurde er in ansehung seines alters und leibs gebrechlichkeit, gegen erstattung des angepottnen Judischen Aydts und eine Kaution von 500 fl. aus der Haft entlassen.43 Er wurde dann bald nach Fulda berufen, wo er kurz nach 1600 starb. Wenn R. Isaak Mise'a und sein Kompagnon ihre Druckerei nicht in Günzburg oder Burgau, sondern in dem Marktflecken Thannhausen einrichteten und sie dort immerhin zwei Jahre lang ungestört betreiben konnten, so verweist dies abermals auf die Tatsache, daß die bunte Stückelung kleiner und kleinster territorialer Einheiten und die komplizierte Gemengelage konkurrierender Rechtsansprüche in dem Gebiet zwischen Lech und Donau für die jüdische Bevölkerung ihre unbestreitbaren Vorteile besaß und auch jenseits der Frage der Niederlassungsbewilligung manche Möglichkeiten bot, die sich ihnen in einem einheitlicher obrigkeitlicher Kontrolle unterstehenden Territorium kaum eröffnet haben würden. Ohnehin waren die beiden Städte zu dieser Zeit längst nicht mehr die allein bevorzugten Wohnplätze im Land Schwaben. Lange vor der Vertreibung von 1617 setzte eine merkliche Abwanderung aus dem unfreundlicher gewordenen Günzburg in die vor den Toren Augsburgs gelegenen Dörfer Pfersee, Kriegshaber und Steppach ein; eine Abwanderung, die offenbar weniger der Not gehorchte, als sie den Konjunkturen folgte. Und in Thannhausen bestand dank einer großzügigen Ansiedlungspolitik der ansonsten wegen der rigiden Behandlung ihrer Untertanen berüchtigten Ortsherren um 1600 eine jüdische Gemeinde, die jenen in den Städten an Größe kaum nachstand und die nach 1617/18, als die Juden aus Günzburg vertrieben worden und auch aus Burgau teilweise abgezogen waren, zur größten im Lande Schwaben wurde. 44 Doch schon zuvor hatte Günzburg seine Vorrangstellung im Land Schwaben an Thannhausen abtreten müssen. Wir wissen nicht sicher, wer der unmittelbare Nachfolger des R. Isaak Mise'a war - vielleicht R. Ascher Aron (Lemle) b. Simon Günzburg - und wo er seinen Amtssitz nahm; aber um 1610 finden wir dann den schwäbischen Landesrabbiner R. Eliakim Gottschalk b. Ge-
43
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StaatsAAug. Vorderösterreich: Lit. 649. Fol. 430 v -431 r , 432 r , 437 v . Nach seiner Haftentlassung sah sich R. Isaak Mise'a den Regreßforderungen der beiden christlichen Druckergesellen Stephan Schormann und Peter Grässel ausgesetzt, die für ihn und Simon Levi Günzburg in Thannhausen gearbeitet hatten. Angaben über die Größe der jüdischen Gemeinde zu Günzburg liegen nicht vor, sie dürfte jedoch kaum größer gewesen sein als jene zu Burgau, die 1594-1617/18 stets etwa 30 Haushaltungen und nach dem Vertreibungsversuch letzteren Jahres noch etwa 20 Haushaltungen zählte. In Thannhausen zählte man zu Beginn des 17. Jahrhunderts etwa 30 Haushaltungen, das Urbar von 1603/1610 nennt 45 jüdische Steuerzahler, die jedoch keinesfalls alle zu gleicher Zeit hier wohnten.
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dalia Rothenburg als Aliancum Jud Land Rabin mit seinem Vatter so khein aignen Rauch fiert in Thannhausen.45 Zu diesem Zeitpunkt ist die einst selbstverständliche Weitläufigkeit der jüdischen Gelehrten kein so hervorstechender Charakterzug mehr. Frühere Landesrabbiner hatten bei den großen Lehrern ihrer Zeit in Deutschland und Italien studiert, waren von weither nach Schwaben gekommen und auch von hier aus noch weit gereist oder an bedeutende Gemeinden außerhalb des Landes berufen worden. Hier aber haben wir es mit einer bodenständigen schwäbischen Rabbinerdynastie zu tun. R. Gedalia Rothenburg, der Vater des Aliancum Jud Land Rabin, war bereits in jungen Jahren - wohl aus dem Elsaß - nach Schwaben zugewandert, hatte hier eine Tochter des seinerzeitigen Landesrabbiners R. Jakob Reiner geheiratet und vermutlich selbst zeitweilig als Landesrabbiner amtiert. Sein Sohn war in Schwaben, vielleicht in Binswangen, geboren und aufgewachsen, und wenn er auch bei dem berühmten Hohen Rabbi Low in Prag gelernt hat, dem sagenhaften Schöpfer des Golem, so scheint R. Eliakim sein restliches Leben doch fast ausschließlich hier zugebracht zu haben. Da sich seine Korrespondenz zumindest in Bruchstücken erhalten hat,46 wissen wir einiges über seine Familienverhältnisse: In Thannhausen lebten nicht nur R. Eliakim und sein Vater, sondern auch sein Bruder R. Abraham; ein Neffe, Jakob b. Josef, schrieb ihm aus Leipheim; in Marm Jud, der von 1614 bis 1631 in Burgau und dann in Lauingen bezeugt ist, begegnet uns sein Bruder;47 und sehr wahrscheinlich waren auch weitere Verwandte wie sein Vetter Todros b. Mordechai in Schwaben zu finden. Es wäre freilich verfehlt, von diesen sehr auf Seßhaftigkeit ausgerichteten Verhältnissen, dieser starken Einbindung in ein schwäbisches Umfeld und ein letztlich ländliches Milieu, die für die schwäbische Judenheit dieser Epoche sicherlich nicht untypisch waren, unmittelbar auf einen provinziellen Zuschnitt der jüdischen Bevölkerung Schwabens und ihrer Gelehrten zu schließen. In einer Zeit, in der die Juden immer noch aus - selbst kleinen - Städten auf das Land abgedrängt wurden, war die Tendenz zu einem allgemeinen Niedergang der Lebensverhältnisse und
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Stadtarchiv Thannhausen. Urbar 1603/1610; inkorrekt bei L. Löwenstein, Günzburg (Anm. 8) Jg. 1. 1899/1900. S. 43; vgl. Eric Zimmer: R. Eliakim Gottschalk Rothenburg und seine Auseinandersetzung mit R. Jesaja Horowitz [hebr.]. In: Sinai. Bd. 88. 1981. S. 138-154. Entgegen der dort vertretenen Annahme stammte die Familie nicht aus Thannhausen; R. Eliakim Rothenburg ist offenbar erst zur Zeit seines Amtsantritts (ca. 1609) hierher übergesiedelt. Der frühere Wohnort (Binswangen?) ist nicht bekannt, dürfte aber in Schwaben zu suchen sein. Zentralbibliothek Zürich. Ms. Heid. 65. 66. Unter den Nachfahren des berühmten R. Meir von Rothenburg (gest. 1293) wird dessen hebräisches Akronym 'Maharam' bis auf den heutigen Tag in ehrendem Gedenken an den illustren Ahnen als Männername weitervererbt, oft in verschliffenen Formen wie 'Maram' oder 'Marum'.
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zur Marginalisierung sicher unausbleiblich; aber andererseits wollte vor dem Hintergrund dieses allgemeinen Verdrängungsprozesses der dörfliche Wohnsitz allein für die Marginalität und Provinzialität seiner jüdischen Bewohner zunächst noch nicht viel besagen. Mancher den Christen ganz belanglose Ort hatte in der jüdischen Welt einen bedeutenden Namen, eben weil er eine der Stätten war, an die sich jüdische Gelehrsamkeit zurückgezogen hatte. Auch R. Eliakim Rothenburg war in dem entlegenen Marktflecken nicht von der Welt abgeschnitten. Offenbar zog es eine sehr beachtliche Zahl von Schülern zu ihm nach Thannhausen; 48 sein Briefwechsel verband ihn mit zahlreichen Gelehrten in entfernten Gegenden - aus Venedig etwa erbaten im Jahre 1609 drei Rabbiner von ihm und seinem Vater die Approbation eines von ihnen getroffenen Rechtsentscheides; und sein 'Ge'ulat haGer', ein Kommentar zu der aramäischen Ubersetzung der fünf Megillot,49 wurde 1618 in Prag gedruckt. Dennoch läßt es sich nicht übersehen, daß das jüdische Leben in Schwaben wie auch andernorts in Deutschland einen Niedergang erlebte, daß die erschwerten äußeren Existenzbedingungen und auf längere Sicht auch die Entfernung von den großen Zentren jüdischer Gelehrsamkeit schließlich eine kulturell-religiöse Verarmung mit sich brachten und auch die ohnehin stets fragilen internen Organisationsstrukturen in ihrer Funktionsfähigkeit erheblich beeinträchtigten. Vielleicht wurde diese allgemeine Entwicklung zusätzlich durch spezifisch schwäbische Faktoren gefördert. Die bereits vor den Kriegswirren einsetzende Rezession im ostschwäbischen Wirtschaftsraum ist hier ebenso zu nennen wie die exponierte Lage des Landes Schwaben, das im Süden, Westen und Osten von Gegenden umgeben war, in denen keine oder nur sehr wenige Juden lebten. Anzeichen einer tendenziellen Isolation scheinen sich schon für das späte 16. Jahrhundert etwa an einer gewissen sprachlichen Erstarrung jüdisch-deutscher Texte schwäbischer Provenienz ablesen zu lassen; in späterer Zeit wird das schwäbische JüdischDeutsch zur 'passivsten' Mundart des Westjiddischen werden. 50 Der Landesrabbiner, der - gewiß mit wechselndem Eifer und in unterschiedlicher Qualität - über Generationen hinweg strittige Rechtsfragen begutachtet und entschieden, die Erziehung der Jugend beaufsichtigt, die fortgeschrittenen Schüler 48
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Nach den Burgauer Stadtrechnungen wurden dort Den 16. Octob. Ao. 1611 von der Juden Rabbi, wegen 28 Schueler, und seinen Vatters, von iedem 50 kr. empfangen; Stadtarchiv Burgau. Raittung 1611/12. Bei der Juden Rabbi, der einen so bedeutenden Lehrbetrieb unterhielt, handelte es sich jedoch sicher nicht um den Burgauer Lehrmaister Isaak, zumal dessen Vater bereits 1603 verstorben war. So ist zu vermuten, daß R. Eliakim und sein Vater in Thannhausen die Abgaben für ihre Schüler nach Burgau abführen mußten. Fünf Megillot: Hoheslied, Buch Ruth, Klagelieder, Prediger und Buch Esther. Vgl. E. Timm, Graphische und phonische Struktur (Anm. 11) S. 452; Franz J. Beranek: Die fränkische Landschaft des Jiddischen. In: Jahrbuch für fränkische Landesforschung. Bd. 21. 1961. S. 267-303, hierS. 301.
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unterrichtet, die Versuche politischer Einflußnahme koordiniert hatte, tritt bald kaum noch in Erscheinung; das Land Schwaben scheint schon im Zustand fortschreitender Auflösung, bevor der Dreißigjährige Krieg über diese Gegend hereinbricht. Kriegshandlungen und Pest bringen dann die entscheidende Erschütterung. Die Juden in Pfersee, Kriegshaber und Steppach konnten sich wenigstens teilweise hinter den Mauern der Stadt Augsburg in Sicherheit bringen; in anderen Dörfern war man nicht so glücklich, bedeutete die Flucht vor den Kriegsscharen oft die endgültige Aufgabe des Wohnsitzes und den Verlust aller Habe. Der Schwedeneinfall des Jahres 1632 beendete die Geschichte der jüdischen Gemeinde zu Burgau. Die wenigen noch in Günzburg lebenden Juden wurden im Juni 1636 vertrieben; für einige Zeit boten Lauingen, Höchstädt und Gundelfingen Asyl. Auch dort, wo seine unmittelbaren Auswirkungen eher unbedeutend waren, brachte der Krieg Elend und Verfall. In Thannhausen verzeichnet 1633 ein Juden Register waß sie schuldig bleiben. Der Obermiler Hanß Haffner Hanß Deisenhauer und Ulrich Mair haben den Juden von wegen einer gemein dargelihen 8 Reichstaler wie man die 120 Taler von wegen des Viehs erlegen miessen. Den 19. Mai ist uff 200 Reichstaler ein steur angelegt worden, daran solen die Juden bezalen - 60 fl. davon dito von dem Hitzig Juden Empfangen -19. Den 25. Juni ist abermalen uff 200 Reichstaler ein Steur angelegt worden von wegen Ritmaisters Dissehausen. Solen die Judenschafft bezalen 60 fl. davon haben Sie geben 17fl. 13 1/2 xr. Den 13. Juli ist uff 100 Reichstaler Steur angelegt worden, davon sollen die Judenschafft erlegen: 30 fl. davon Empfangen: 5 fl. 30 xr. Ditto nacheinander sein die Juden 3 Salva quart Steurn schuldig. 30 fl. Den 15. Juli sein die Juden ein Salva quart Steur schuldig - 10 fl. davon Empfangen - 5 fl. 43 1/2 xr. Den 21. Juli sein die Juden ein Salva quart Steur schuldig - 10 fl. davon Empfangen von des Schulkhlopfers Bube - 4 fl. 30 xr. Von datto an den 27. Juli get der Juden anlagen und Salva quardi geltt von neuen an [...].51 Und so weiter und so fort. Längst waren die Geldmittel der Juden wie jene der Christen erschöpft, doch der ihnen aufgebürdete Anteil an den zu erlegenden außergewöhnlichen Abgaben wurde bald noch weiter erhöht. Und nach den Kriegsleuten kamen 1635 Hungersnot und Pest. In manchen schwäbischen Dörfern soll annähernd die gesamte Bevölkerung dahingerafft worden sein, aus verschiedenen Orten liegen Berichte über Fälle von Kannibalismus vor, allenthalben waren Men51
Stadtarchiv Thannhausen. Register der Austendigen Anlag und Salva guardi Steuer 1633.
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sehen auf der Flucht. Zur Jahreswende 1635/36 zählte man in Thannhausen, Christen und Juden zusammengerechnet, nicht mehr als 70 Seelen. 52 Die Spur des R. Eliakim Rothenburg hat sich, wie die so vieler seiner christlichen und jüdischen Nachbarn, endgültig verloren. Im Herbst 1643 wird der schließlich gescheiterte Versuch unternommen, die Judenschaft des Landes Schwaben abermals unter einem Landesrabbiner zu organisieren. In jenem R. Maram, der mit beihilf seiner Schwäger zuwider der Merern Zahl selbiger Judenschaffi für ain Rabini sich aufgeworffen hat, 53 begegnet uns wohl der greise Bruder des R. Eliakim, der sich aus Burgau nach Lauingen geflüchtet hat und dort in dem Haus wohnt, da sie die Judenschul haben. 54 Das Land Schwaben muß sich nach den Erschütterungen der Kriegs- und Pestjahre erst wieder mühsam konstituieren. Das alltägliche Leben in Pfersee und Kriegshaber, Ichenhausen und Buttenwiesen scheint bald wieder seinen gewohnten Gang zu gehen, und auch in Thannhausen entsteht eine neue Gemeinde. Doch der Schnitt ist tief. Es vergeht fast ein Menschenalter, ehe sich die Gemeinden zwischen Lech und Donau erneut als schwäbische Landesjudenschaft formieren und sich abermals einen Landesrabbiner wählen. Das Leben der Juden hat im Alten Reich bei der weltlichen Obrigkeit wie überhaupt bei den christlichen Zeitgenossen stets nur geringe und immer punktuellen Interessen folgende Aufmerksamkeit gefunden. Eine umfassende, auf nahezu alle wichtigen Lebensbereiche reflektierende Beobachtung, wie sie Johann Jacob Schudt mit seinen 'Jüdischen Merckwürdigkeiten' für die Frankfurter Juden der Frühneuzeit liefert, stellt wohl ein Unikum dar. Tatsächlich beleuchten die Quellen nichtjüdischer Provenienz bei nüchterner Betrachtung oft weniger das jüdische Leben als vielmehr die äußeren Rahmenbedingungen, innerhalb derer sich ein über die bloße Existenzsicherung hinausgehendes jüdisches Leben im günstigen Fall überhaupt erst entfalten konnte. Die nahezu ausschließliche Benutzung dieser 52
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Hans Bronnenmaier: Thannhauser Heimatbuch. Hg. von Leo Fendt. Thannhausen, Augsburg 1960. S. 65. StaatsAAug. Vorderösterreich: Lit. 656. fol. 32 v . - Die offenbar einflußreichen Schwäger gehörten vielleicht der Familie Ulma-Günzburg an. Für eine familiäre Verbindung zwischen den Rothenburg und den Ulma-Günzburg und damit für eine allerdings bemerkenswerte, aber keineswegs einzigartige Verflechtung rabbinischer und ökonomisch-politischer Führungsschicht spricht jedenfalls ein Besitzvermerk in der Pferseer Talmudhandschrift, fol. 511', wonach der Kodex 1619 im Besitz des Todros b. Mordechai war, eines Vetters von R. Eliakim und R. Maram Rothenburg. Danach zu korrigieren ist der Stammbaum bei E. Zimmer, R. Eliakim Gottschalk Rothenburg (Anm. 45) S. 140. Vgl. Louis Lamm: Geschichte der Juden in Lauingen und anderen pfalz-neuburgischen Orten. Berlin 2. Auflage 1915. S. 45. - Judenschul meint stets die Synagoge, nicht etwa den Ort des Knabenunterrichts oder eine Talmudhochschule.
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externen Quellen, das bislang noch kaum als problematisch empfundene 'hebraica non leguntur' in der Erforschung der Geschichte der jüdischen Minderheit hat diese von punktuellen Interessen und oft genug auch von überkommenen christlichen Wahrnehmungsmustern geprägte Sichtweise tendenziell bis heute fortgeschrieben. Die jüdischen Quellen sind rar und zerstreut und eher zufallig überliefert, und schon von daher bleiben die Möglichkeiten, die sie dem Historiker zur Erfassung jüdischer Lebenswirklichkeit an die Hand geben, beschränkt. Sie werfen jedoch immer wieder Schlaglichter auf die anders kaum faßbaren Aspekte des 'inneren' jüdischen Lebens - eines auch abseits der großen Zentren wie Prag oder Frankfurt facettenreichen Lebens, wie dieser Beitrag am Beispiel Schwabens zu zeigen suchte. Viele - auch zentrale - Aspekte werden freilich eher gestreift als beleuchtet; was wir etwa über das Schul- und Hochschulwesen der schwäbischen Juden erfahren, geht kaum über die Nennung von Stichworten hinaus. So muß es das Resümee schließlich schon bei der Feststellung belassen, daß hier zumindest die Umrisse einer 'Geschichte in der Geschichte' erahnbar werden; einer partikularen Geschichte, die sich nicht losgelöst 'neben' der allgemeinen Geschichte vollzog, die aber doch innerhalb eines im vorabsolutistischen Zeitalter recht großen Spielraums weitgehend und in wesentlichen Belangen eigenen Gesetzmäßigkeiten, Koordinaten und Konjunkturen folgte. Erst der Versuch einer alle Quellengattungen nutzenden, gewissermaßen synoptischen Betrachtung wird es ermöglichen, diese partikulare Geschichte sowohl in ihrer Abhängigkeit von externen Faktoren als auch in ihren eigenständigen Zügen und schließlich im Zusammenspiel von beidem zu begreifen. Von einer solchen Betrachtung der Geschichte der Juden im Alten Reich sind wir freilich noch weit entfernt.
Zwischen Vertreibung und Wiederansiedlung. Die Reichsstadt Augsburg und die Juden vom 15. bis zum 18. Jahrhundert Wolfram Baer
Im ältesten Ratsbuch der Stadt Augsburg1 findet sich unter der Überschrift der Juden vßtryben zum Jahre 1438 folgender Eintrag: Item uff Mentag nach St. Ulrichs tag [7. Juli] haut clainer und alter Rant ainhelliclich erkennet, als von der Juden wegen, das man der hinfüro gantz müßig gan und die nit lenger hie in des Statt laußen solle, denn heit dem tag über zway Jare und das von haubtmarschallks wegen und wenn auch die zway Jar en weg und vergangen sind, so sollen si alle baide alt und jung, kainer ußgenomen nach hin dan gesetzt hinus faren und komen, an alle Gnad. Und das von mänigerlay vrsach wegen und sunderlich umb des willen, das man an den Cantzlen offenlich von in prediget wievil Übels darus komme, das man si in Stetten und ouch anderschwa enthielte und ouch von ungehorsamkeit wegen, die si wider der Statt Bott und gesatzte in vil wege getan hätten und ist ouch nämlichen mit in beredt worden, daß si gewarlichen davon syen, daß si als darüber werben nochwerben laußen sullen umb kainerlay gnad noch fryhait von unserm herrn, dem Kunig, noch sunst von yement anderm. zeer werben oder vßzebringen in dehain wyse [...]. Alsbald wandte man sich dann an König Albrecht II., um sich dieses Ratsdekret bestätigen zu lassen; denn man war fest entschlossen, die Juden zu vertreiben. Dies war jedoch nicht so ohne weiteres möglich, da einerseits die Rechte des Reichserbmarschalls von Pappenheim, dem die Reichsabgaben der Augsburger Juden verpfändet waren, tangiert worden wären und andererseits der König auch nicht auf seine Rechte gegenüber den Augsburger Juden und die damit verbundenen Einnahmen verzichten wollte.2
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StadtAAug. Reichsstadt: Ratsbücher I 1392-1441. Vgl. im einzelnen den vorhergehenden Beitrag von Bernhard Schimmelpfennig.
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Die erste im Druck erschienene Augsburger Chronik, 3 die Welser-Chronik, die sich im wesentlichen auf die Annalen des Arztes und Geschichtsschreibers Pirmin Gasser stützt und damit die in Augsburg maßgebliche Traditionsbildung wiedergibt, bemerkt zu diesem Vorgang: Und nachdem er [gemeint ist König Albrecht II.] aufffleissiges und embsiges ansuchen und begeren gemeiner unserer Statt Gesandten [...] die altz Freyheiten dieser Statt bestettiget hatte, bewilligte er auch, daß der Rath die Juden allhie außtreiben möchte. Wie man nun dise macht bekommen, ward alsbald gleich an St. Ulrichs Tag den Gottlosen Juden angekündet und aufferlegt, daß sie ihren Sachen anderer Orthen rath schaffen, ihre Häuser verkauffen, und nach ablauffung zweyer Jahren, mit ihren Weib unnd Kindern auß dieser Stat, darein sie sich vor etlich hundert Jaren nidergelassen hatten, ziehen solten. Damit endete für die Augsburger Juden ein Kapitel von Mißgunst, Haß und Verfolgung, das zuletzt in dem Erlaß von 1434 eskaliert war, wonach die Juden eigene Erkennungszeichen zu tragen hätten. Die Augsburger Steuerbücher, in denen die Juden gesondert aufgeführt sind, enthalten zunächst noch ganz wenige, später gar keine Eintragungen von Juden mehr. So findet sich 1438 noch gelegentlich der Eintrag recessit, d.h. ist weggezogen, und im Steuerbuch von 1439 sind schließlich keine Einträge von Juden mehr verzeichnet. 4 Die Stadt Augsburg zog den Gemeindebesitz, wie Synagoge, Judenschule, Judenbad, Tanzhaus und Friedhof, ein. Als im Jahre 1449 das Augsburger Rathaus erneuert und großzügig umgestaltet wurde, verwendete man Grabsteine des jüdischen Friedhofes für den Bau. Zum gleichen Jahr berichtet wiederum die Welser-Chronik: Zu welchem Gebäuw [gemeint ist das Rathaus] so erst folgenden Jars gar endet worden viel Sachen von der vertriebnen Juden eingerissenen Schuel Kirchhoff angewandt und gebraucht worden, wie die Stiegen, darauff man dem Berlachmarckt under dem Ercker auff gmeltes Rathhauß gehet, noch zu Tag Augenschein gibt.5
vollund von heut
Der Judenfriedhof selbst wurde aufgelassen und in die Stadtbefestigung mit einbezogen. Die Judenschule und die Synagoge wurden dagegen in normale Wohnhäu-
3
Chronica der weitberuempten keyserlichen freyen und deß H. Reichs-Statt Augspurg. Gedruckt bei Engelbert Werlich. Frankfurt a.M. 1595. S. 173; so im Ergebnis auch Paul von Stetten: Geschichte der Heil. Rom. Reichs Freyen Stadt Augspurg. Bd. 1. Frankfurt, Leipzig 1743. S. 164.
4
Nach der Welser-Chronik (Anm. 3) S. 175 sollen von der Ausweisung 300 Juden betroffen gewesen sein, eine Zahl, die wohl zu hoch gegriffen ist, denn im Steuerbuch von 1437 finden wir nur 27 Juden; StadtAAug. Reichsstadt: Steuerbücher 1437, 1438, 1439. Welser-Chronik (Anm. 3) S. 182.
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ser umgewandelt. Aus dem Tanzhaus wurde 1447 eine Mühle, und das Badehaus, das man schon früher dem in der Nähe gelegenen Heilig-Geist-Spital überlassen hatte - hier sind sich die Quellen nicht ganz einig -, wurde nun endgültig aufgehoben und umfunktioniert. 6 In einem Privileg Kaiser Friedrichs III. vom 5. November 1456,7 wird der angebliche Rechtszustand der Juden bestätigt, aber doch etwas relativiert. Aufgrund einer Botschaft der Stadt Augsburg an den Kaiser mit der Bitte, ein Privileg zu erteilen, Juden aufnehmen zu dürfen, sie jederzeit in der Stadt behalten, sie aber auch jederzeit ausweisen zu dürfen, erklärt der Kaiser: Die Stadt Augsburg darf für immer beliebig viele Juden aufnehmen und sie als Hausbesitzer wohnen lassen. Ebenso freizügig, wie die Stadt die Juden aufnehmen darf, kann sie sie auch vertreiben. Die Vertreibung allerdings habe in der Form zu erfolgen, daß den Juden körperlich kein Leid zugefügt werde. Sie sollen mit ihrem Vermögen nach eigenem Bedarf und Gutdünken verfahren dürfen, ohne von der Stadt daran gehindert zu werden. Offenbar hatte sich Kaiser Friedrich III. seines alten Rechts, des Judenschutzes für die königlichen Kammerknechte, besonnen. Als aber die Stadt die Erteilung des Privilegs entsprechend honorierte - die Stadt Augsburg hatte für das Privileg 13.000 Gulden bezahlen müssen, weil sie sich urkundlich nicht mit einem Privileg König Albrechts II. zur Austreibung der Juden hatte ausweisen können 8 -, gab sich der Kaiser offenbar doch zufrieden, obwohl er die Stadt ursprünglich wegen ihrer Eigenmächtigkeit bei der Judenaustreibung gerügt hatte. Die Stadt Augsburg machte nur von dem einen Teil ihres Rechts Gebrauch, nämlich von dem, die Juden jederzeit ausweisen zu dürfen. Aber deren Rechtsstatus wurde nun wenigstens offiziell gewahrt, sie durften nicht mehr wie Geächtete behandelt werden. Hab und Gut konnten sie veräußern, ihre bewegliche Habe mitnehmen und, was besonders wichtig war, persönlich durften sie nicht behelligt werden. Sie konnten sogar ihr Recht vor Gericht durchsetzen. So ist etwa aus den Urgichten der Stadt Augsburg das Geständnis eines Hans Bader bekannt, der unter anderem einem Juden zu Winterspach - den Namen des Juden kann er nicht nen-
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Richard Grünfeld: Ein Gang durch die Geschichte der Juden in Augsburg. Festschrift zur Einweihung der neuen Synagoge in Augsburg am 4. April 1917. Augsburg 1917. S. 35; Detlev Schröder: Stadt Augsburg. München 1975 (Historischer Atlas von Bayern. Teil Schwaben. Heft 10), passim besonders S. 102 und S. 165. Neue Forschungen mit neuen Ergebnissen zur Topographie des Bades liegen vor, sind aber noch nicht veröffentlicht. Damit wäre auch nicht mehr das sogenannte Rabenbad am Roten Tor mit Rabinerbad zu identifizieren. StadtAAug. Herwart'sche Urkundensammlung III. R. Grünfeld (Anm. 6) S. 35; vgl. auch Markus J. Wenninger: Man bedarf keiner Juden mehr. Ursachen und Hintergründe ihrer Vertreibung aus den deutschen Reichsstädten im 15. Jahrhundert (Beihefte zum Archiv für Kulturgeschichte. Bd. 14). Wien, Köln, Graz 1981. S. 123-134.
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nen - an Jakobi, an Michaeli und um den St. Bartholomäustag herum nacheinander drei Kühe gestohlen habe. 9 Peter Schäffler von Wimpfen, der innerhalb des Stadtgebiets Augsburg einen Juden bestohlen hat, wird vom Rat zu lebenslangem Verweis aus der Stadt verurteilt, außerdem wird ihm die rechte Hand abgeschlagen. 10 Der Wollwirker Ulrich Arnold wird mit Stadtverweis belegt, weil er Garn, welches ihm die Stammlerin zum Wirken überlassen hatte, an die Juden versetzte. Nur wenn er der Stammlerin das Garn bzw. den aus dem Geschäft entstandenen Schaden ersetzt habe, dürfe er die Stadt wieder betreten. 11 Diese Fälle zeigen einerseits, daß man die Juden und ihr Recht wohl zu respektieren wußte und andererseits, und das erscheint besonders wichtig, daß sie nach wie vor nicht völlig aus dem Stadtbild verschwunden waren. In den Jahren 1514 bis 1543 wurde eine ganze Reihe hebräischer Bücher in Augsburg gedruckt, 12 was zumindest die gelegentliche Anwesenheit von Juden voraussetzt. 13 Der Rat der Stadt Augsburg wendet sich in einem Schreiben vom 28. Mai 1535 gegen Geldverleihgeschäfte, die im Fürstentum Pfalz-Neuburg ansässige Juden mit Untertanen, die auf außerhalb der Stadt gelegenen städtischen Spitalgütern sitzen, betreiben. Der Rat fordert darin, Geldleihe auf Mobilien und Immobilien sowie die Pfandleihe in diesem Fall ausdrücklich zu verbieten. 14 Schließlich gewährt Kaiser Rudolph II. am 20. März 1599 der Stadt Augsburg das Privileg, daß künftig kein Jude mit den Untertanen des Rats, der Augsburger Spitäler und mit Augsburger Dienstboten in Stadt und Land auf irgendeinem Gut Pfand- oder Brief-, Leih-, Tausch-, Wechselgeschäfte und Anleihen tätigen noch andere Verträge abschließen dürfe ohne Wissen und Erlaubnis des Rats, der Pfleger und Bürgermeister der Stadt Augsburg. Käufe und Verkäufe auf Barzahlungsbasis sind von dieser Beziehung jedoch ausgenommen, soweit sie zur Deckung der Grundbedürfnisse nötig sind. Dies gilt auch für Handelsgeschäfte auf freien und offenen Märkten und Messen. Juden, die gegen diese Bestimmung verstoßen, haben 15 Mark lötigen Goldes zur Hälfte an die Kammer des Reiches und zur Hälfte an den Rat der Stadt Augsburg zu bezahlen. 15 Dieses Privileg wurde immer wieder, wie üblich, bestätigt, letztmals am 9. Juli 1732 von Kaiser Karl VI. zu Prag. 16 Aber nicht nur außerhalb des engeren Stadtgebiets bestanden weiterhin Kontakte mit
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StadtAAug. Strafamt: Urgichten 1507-1520. Nr. 2 (ca. 1510). Urgichten: Hans Bader. StadtAAug. Strafamt: Urgichten 1507-1520. Nr. 2. 1518 November 5-9. Urgichten: Peter Schäffler (Verrüfe 1518). StadtAAug. Strafbuch 1543-1553. fol. 73. Mosche N. Rosenfeld: Der jüdische Buchdruck in Augsburg in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts. London 1985. S. 5. R. Grünfeld (Anm. 6) S. 44. StadtAAug. Judenakten I: Die Judenschaft in genere 1298-1802. Varia. Fasz. I. StadtAAug. Judenakten I: Die Judenschaft in genere 1298-1802. Varia. Fasz. I. StadtAAug. Herwart'sche Urkundensammlung IX.
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den Juden, auch innerhalb der Stadt gab es offenbar Berührungspunkte, ein Zeichen dafür, daß die diversen Privilegien zur Judenaustreibung nie vollständig durchgesetzt werden konnten und die Vorschriften des Magistrats von den Juden nur bedingt befolgt wurden. Wie sonst konnte man sich den Protest der Reichsstädte gegen die von Kaiser Rudolph II. auf dem Augsburger Reichstag am 8. Juli 1582 erlassene Taxordnung erklären? 17 Denn in ihrer Appellationsschrift tragen sie folgendes vor: Wenn der Artikel, daß niemand einen Fremden in seinem Hause ohne eine Beherbergungsgenehmigung aufnehmen dürfe, vom Erbmarschall so ausgelegt werde, daß er auch Juden, fremden Krämern und Handwerkern eine Beherbergungsgenehmigung erteile, so verstoße dieses gegen altes Herkommen und dürfe nicht weiter geduldet werden. Dies ist umso verwunderlicher, als der Augsburger Bischof Eglof von Knöringen im November 1574 endgültig die Juden aus Oberhausen bei Augsburg, wo sie sich neben Pfersee, Kriegshaber und Steppach offenbar besonders zahlreich niedergelassen hatten, sowie aus dem gesamten sonstigen Herrschaftsbereich von Hochstift und Domkapitel austrieb. 18 Somit war ihnen der Zugang zum gesamten Stadtgebiet verwehrt, nicht nur der zu reichsstädtischem Territorium. Besonders in Notzeiten, wie etwa der Zeit des Dreißigjährigen Krieges, wurden alle diese Bestimmungen gewöhnlich gelockert, 19 und das Problem, ob Juden sich in Augsburg aufhalten durften oder nicht, trat naturgemäß in den Hintergrund. Aber der Friedensschluß 1648 brachte für die Juden, die neue Hoffnungen auf eine Besserstellung hegten, wiederum eine Enttäuschung. 20 Die Stadt Augsburg wollte den Juden zeigen, daß man keine Rücksicht auf sie zu nehmen gewillt war und dies auch nicht nötig hatte. Dies geschah schon rein äußerlich, da man ihnen nach wie vor eine eigene Tracht vorschrieb, dazu den bekannten gelben Tuchring, der entweder am Gürtel oder am Hut getragen werden mußte, wie er schon zu Zeiten Kaiser Sigismunds in Gebrauch war. Der Grund dafür war die angebliche Verwechslungsgefahr mit dem Klerus, da beide, Juden und Klerus, schwarze Kleidung zu tragen pflegten. 21 Begründungen dieser Art kehrten stereotyp wieder.
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StadtAAug. Urkundensammlung 1582 Juli 8. Friedrich Zoepfl: Das Bistum Augsburg und seine Bischöfe im Reformationsjahrhundert. München 1969 (Geschichte des Bistums Augsburg und seiner Bischöfe. Bd. 2) S. 541; R. Grünfeld (Anm. 6) S. 44; vgl. auch den Beitrag von Wolfgang Wüst in diesem Band. [Johann Melchior Hoscher]: Geschichte der Juden in der Reichsstadt Augsburg. Augsburg 1803. S. 20. In Kriegszeiten durften die Juden zeitweilig Wohnung in Augsburg nehmen. R. Grünfeld (Anm. 6) S. 46; J.M. Hoscher (Anm. 19) S. 22. J.M. Hoscher (Anm. 19) S. 16f.
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Die gesellschaftliche Diskriminierung der Juden kam auch darin zum Ausdruck, daß sie beim Betreten der Stadt ständig kontrolliert wurden. 22 Sie wurden sowohl beim Eintritt als auch beim Verlassen der Stadt auf ein Stadttor, nämlich das Gögginger Tor, beschränkt und mußten oft lange warten, bis sie nach Bezahlung der Einlaßgebühr die Stadt betreten durften. Mehr noch als dieses - und um so mehr ein Grund dafür, daß sich der 'ehrbare' Augsburger Bürger regelrecht scheute, mit einem Juden zusammen gesehen zu werden - trug die Tatsache zu ihrer Diskriminierung bei, daß sie sich seit 1536 bei Besuchen in der Stadt ständig von einem Stadtsoldaten begleiten lassen mußten. 23 Dies empfanden sie nicht zu Unrecht als Angriff auf ihre Ehre, denn sie wurden damit ja fast wie Gefangene behandelt. Später (1741) freilich lockerte man diese demütigende Behandlungsweise wenigstens soweit, als man verordnete, daß bei Juden, die in höfischen Diensten standen, die Begleitung durch Stadtgardesoldaten ohne Obergewähr erfolgen sollte, also nicht mehr so, daß man auf den Transport eines Verbrechers schließen konnte. 24 Alle diese Bestimmungen waren nicht nur dazu gedacht, die Juden in der Öffentlichkeit als solche zu brandmarken, um sie gegenüber den Christen zu unterscheiden, sondern sie sollten sie vor allem in ihrer Handlungsfähigkeit einschränken. Geht man dabei den tieferen Gründen für die Ausgrenzung der Juden nach, die nichts anderes als eine Diskriminierung darstellte, so wird sichtbar, daß vor allem wirtschaftliche Gesichtspunkte die Ursache waren. So waren es in erster Linie die gewerbetreibenden Kaufleute in der Stadt Augsburg, die sich damit eine gefahrliche Konkurrenz vom Halse schaffen wollten. Dazu war ihnen jedes Mittel recht, auch das der moralischen Verunglimpfung. Den Juden wurde Betrug, Verführung von Minderjährigen und Diebstahl vorgeworfen; kein Wort sei ihnen heilig, Eide hielten sie nicht für verbindlich. In diese Richtung gingen auch die immer wieder geäußerten Stellungnahmen und Eingaben der Kaufleute und Krämer an den Rat der Stadt Augsburg. 25 Diese verstiegen sich sogar zu der Behauptung, daß es für die Juden ein verdienstvolles Werk sein solle, die Christen zu betrügen. Ein Schreiben der Krämerzunft vom 3. Mai 173226 an den Rat gibt nur das wieder, was offenbar breite Bevölkerungsschichten dachten. Es richtete sich besonders gegen die freie Hereinpassierung der Juden in die Stadt und ist bezeichnend für die allgemein judenfeindliche Stimmung: 22
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Ausführlich darüber Richard Hipper: Die Reichsstadt Augsburg und die Judenschaft vom Beginn des 18. Jahrhunderts bis zur Aufhebung der reichsstädtischen Verfassung (1806). Diss. masch. Erlangen 1923. S. 13; J.M. Hoscher (Anm. 19) S. 18. J.M. Hoscher (Anm. 19) S. 18. R. Hipper (Anm. 22) S. 14. R. Hipper (Anm. 22) S. 17. StadtAAug. Judenakten II: Judengebühren.
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[...] da nun dieses bey dem neuerdings wiederum, durch den freyen Eingang der Juden, und was demselben anhangt nicht nur, nicht geschehen kan, sondern wie vielmehr, in denen ohnehin gegenwätigen Nahrungs-loßen Zeiten unsere Gewerber immer mehr gesperret sehen mäßen, unsere Kinder und Angehörigen wegen auf Opferung unseres Vermögens, die betrübteste Aussichten vor sich haben, unsere Läden und Boutiquen, vor welche unsere Nahrungs Verderber die Juden, mit unverschämter Stimme über unseren Mangel frolocken, oder, wann Je eine Persohn kaufs wegen dahin gekommen, wie raubbegierige Löwen um dieselbe herumstreichen, biß Sie uns auch diß wenige, noch aus dem Munde reißen, um Ihren unersättlichen Rachen zu stillen, ganze Wochen Wüst, Öde, und Leer stehen, und darinnen die Zeit mit Weib und Kindern in Seufzen, Jammer und Wehklagen, bloß der gewißenlosen Juden, und ihrem schlechten Anhang wegen, welche uns sogar an Sonn- und Feyertagen, die Weeg biß zu denen vornehmsten Passagiers durch ihren einschlich in und um die Stadt, frech, und ohne scheu, nach ihrer längst bekannten gewißenlosigkeit, abschneiden zubringen mäßen [...]. In diesem Tenor ist das ganze Schreiben gehalten. Auch sonst versuchte man, den Juden das Leben so schwer wie möglich zu machen und sie vor allem am Betreten der Stadt zu hindern. Das ging so weit, daß man ihnen in einem Erlaß vom 4. März 1700 gänzlich das Betreten der Stadt verbot. 27 Ansonsten durften sie nicht nur an dem den Christen heiligen Sonntag nicht in die Stadt, sondern auch an gewöhnlichen Freitagen in memoriam Passionis Dominicae und des von den Juden an unserem Heyland verübten Frevels, wie es in einem Bericht der Einnehmer vom 5. Februar 1763 heißt. 28 Die städtische Obrigkeit, von einigen wenigen Ausnahmen wie etwa der verordnete Einnehmer der Stadt Augsburg, Franz Albrecht von Zech, der immer wieder gegenüber den Juden zur Mäßigung riet,29 abgesehen, hatte sich im wesentlichen in der sozialen Beurteilung der Juden der immer wieder geäußerten öffentlichen Meinung angeschlossen. Bis in die Mitte des 18. Jahrhunderts waren deswegen die Juden auf den Schutz der Territorialherren angewiesen, in deren Gebiet sie sich nach der Vertreibung aus Augsburg niedergelassen hatten. Auch dort ging man, was Steuer und sonstige Abgaben anbelangte, nicht gerade großzügig mit ihnen um, aber man ließ sie wenigstens unbehelligt wohnen und ihren Geschäften nachgehen. Gerade als Kaufleute und Lieferanten machten sich die Juden dort alsbald unentbehrlich. 27
J.M. Hoscher (Anm. 19) S. 22f.; StadtAAug. Judenakten I: D i e Judenschaft in genere 12981802 (gedruckter Anschlag, der mehrmals z.B. am 15.12.1718 und am 1 8 . 3 . 1 7 3 2 wiederholt wurde).
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StadtAAug. Judenakten XI: Juden, deren Hereinpassierung 1761-1804. R. Hipper (Anm. 22) S. 19.
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Die aus Augsburg vertriebenen Juden hatten sich möglicherweise in den westlich der Stadt gelegenen Ortschaften Pfersee, Kriegshaber und Steppach niedergelassen, die zur vorderösterreichischen Markgrafschaft Burgau gehörten, um weiter ihren Geschäften in Augsburg nachgehen zu können. 30 Die Zeugnisse für die Anwesenheit von Juden in der Nähe von Augsburg aus der Zeit ihrer Vertreibung aus Augsburg bis in die zweite Hälfte des 16. Jahrhunderts sind allerdings äußerst dürftig. In Oberhausen sind Juden erst ab 1555 nachweisbar, in Pfersee ca. ab 1530 und in Steppach ca. ab 1570. Dasselbe gilt auch für Kriegshaber, wo erstmals 1570 ein Judenhaus nachgewiesen ist.31 Einzelne Juden sind nach ihrer Vertreibung aus Augsburg weiter weg, in andere Städte, gezogen. 32 Aber besagen diese zufalligen ersten Quellen, daß es nicht schon vorher eine Judenansiedlung in den drei Ortschaften gegeben hat? Neben den bereits oben angeführten Belegen findet sich in den Judenakten des Stadtarchivs eine Supplikation der Stadtgardesoldaten Melchior Schmid und Heinrich Knodel von 1550, die Spesen beim Herumgehen in der Stadt zur Begleitung eines Juden, wohl aus einem der Augsburger Vororte, anmahnte. 33 Pfersee unterstand neben der Hochgerichtsbarkeit der Markgrafschaft Burgau seit 1682 der Jurisdiktion der Augsburger St. Jakobspfründe, die den dortigen Besitz von der Augsburger Familie Zobel erworben hatte, und dem Hochstift Augsburg. Durch diese Verbindung hatten die Juden von Pfersee näheren Kontakt zu Augsburg als die von Kriegshaber und Steppach, denn diese beiden Orte wurden damals gewissermaßen schon als Ausland betrachtet, was sich besonders durch höhere Einlaßgebühren und andere Abgaben bemerkbar machte. 34 Alle drei Judengemeinden kamen jedenfalls nach der schlimmen Zeit der Vertreibung in der Mehrzahl wieder zu Wohlstand, wohl in erster Linie aufgrund des regelmäßigen Handels mit der Stadt Augsburg, deren größte Wirtschaftsblüte bekanntlich in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts herrschte. Zwar sind Juden um diese Zeit in unmittelbarer Nähe der Stadt Augsburg so gut wie nicht faßbar, kann man sich aber diese Zeit ohne Juden in der näheren Umgebung Augsburgs vorstellen? Im 18. Jahrhundert scheinen die Juden im Augsburger Umland zunehmend stärker vertreten gewesen zu sein, denn in Kriegshaber wurden z.B. im Jahre 1732 allein 402 Juden gezählt, wobei man freilich nicht vergessen darf, daß 30
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So die früher herrschende Ansicht, etwa bei Adolf Layer: Die Juden und ihre Niederlassungen. In: Handbuch der Bayerischen Geschichte Bd. III/2. Hg. von Max Spindler. München 1971. S. 1056. Anders Reinhard H. Seitz: Augsburg. In: GJ Bd. III/1. S. 65: "Die Meinung, daß die Vertriebenen in Dörfer der Umgebung Augsburgs zogen, bewahrheitet sich nicht." Vgl. Louis Dürrwanger: Augsburg - Kriegshaber. Kulturhistorische Beiträge zur Ortsgeschichte. Diss. München. Augsburg 1935. S. 27; vgl. auch D. Schröder (Anm. 6) S. 175. Vgl. GJ Bd. III/l S. 49 mit Belegen. StadtAAug. Die Judenschaft im allgemeinen 1418-1869. Nr. 12. R. Hipper (Anm. 22) S. 23f.
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Kriegshaber mit Abstand die größte Judengemeinde war. 35 Und dies, obwohl sie auch in den Augsburger Vororten von ihren jeweiligen Herren kräftig zur Kasse gebeten wurden. Eine Liste, mit der Uberschrift Judengebühren in Speele, führt neben Einlaß- und Geleitsgebühren auch Neujahrs- und Kirchweihgebühren, Krönungssteuer und Opferpfennig sowie für die drei Judengemeinden burgauische Jägereigelder an. 36 Wenn die Juden, ob arm oder reich, wenn es insgesamt gegen sie ging, in der Regel zusammenhielten, so gab es doch gewaltige Unterschiede in der Sozialstruktur. Die Juden beispielsweise, die inzwischen gut situiert waren, blickten mit Verachtung auf die 'Betteljuden' herab, die vom Hausierhandel lebten. Statistisch sind die Juden recht gut erfaßt, vor allem als 1751 die 'Akkordierung' allgemein eingeführt wurde, d.h. die Zulassung der Juden in die Stadt Augsburg erfolgte gegen Zahlung eines jährlichen Pauschalbetrages anstelle von Einlaßgebühren und Geleit. Dies galt jedoch nicht für das sogenannte 'Judengesind', die armen und besitzlosen Juden, mit denen man in der Stadt nichts zu schaffen hatte und auch nichts zu schaffen haben wollte, vor denen man sich allenfalls schützen zu müssen glaubte. Diese ständig wechselnde Schar von Juden war auch gar nicht faßbar. Im Oktober 1722 war ein angeblich beim Judenfriedhof in Kriegshaber 37 speziell eingerichtetes Lazarett Gegenstand mehrerer Verhandlungen der Obrigkeit, die die Befürchtung äußerte, man ziehe sich "nichtsnutziges Judengesind" heran. Auch wenn man dies als polemische Äußerung zu werten hat, ist dies doch ein Beleg dafür, daß es solche verarmten Juden, "vagierende Betteljuden", in nicht geringer Zahl in den drei Judengemeinden gegeben hat. 38 Einige Juden hatten es früh zu Reichtum und Ansehen gebracht, und sie gaben natürlich auch den Ton an in ihren Gemeinden. Zu ihnen gehörten in Pfersee etwa die Ulmann, einen Namen, den die Hälfte aller dort ansässigen Familien im 18. Jahrhundert führten. Samuel Ulmann, das Oberhaupt der Familie, betrieb ausgedehnte Geschäfte in kaiserlichen, kurbayerischen, badischen und anderen fürstlichen Diensten. 39 In Kriegshaber ragte besonders die Familie Mändle hervor, deren bedeutendster Vertreter Abraham Mändle 40 sogar eine eigene Handelsgesellschaft
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R. Hipper (Anm. 22) S. 25. StadtAAug. Judenakten II: Judengebühren. Zum Judenfriedhof in Kriegshaber: Louis Lamm: Die jüdischen Friedhöfe in Kriegshaber, Buttenwiesen und Binswangen. Ein Beitrag zur Geschichte der Juden in der ehemaligen Markgrafschaft Burgau. Berlin 1912. S. lOf. StadtAAug. Markgrafschaft Burgau. Akten. Fasz. 25.; vgl. dazu auch R. Hipper (Anm. 22) S. 26; sowie L. Lamm (Anm. 37) S. 12, der nur von einem Wachhäuschen neben dem Friedhof spricht. Dazu R. Hipper (Anm. 22) S. 27. Louis Dürrwanger: Der kurbayerische Hoffaktor Abraham Mendle aus Kriegshaber. In: Zeitschrift des Historischen Vereins für Schwaben 49. 1933. S. 163-167.
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gründete, mit der er, in kurbayerischen Diensten stehend, einen schwungvollen Pferdehandel aufbaute. Aber auch andere Familien, wie die Familie Neuburger, besaßen schon früh eigenen Grund und Boden in Kriegshaber und betrieben lebhafte Handelsgeschäfte in Augsburg. Die zahlreichen Kriegshändel des 18. Jahrhunderts lassen die Zahl der zugezogenen Juden mehr und mehr steigen, denn hier konnten sie sich vor allem als Heereslieferanten einen Namen machen. Dabei zeichnete sich der kaiserliche Kriegsoberfaktor Samuel Oppenheimer aus, der seine Familie in Pfersee und Kriegshaber nach dem Spanischen Erbfolgekrieg ansässig machte. 41 Der sicherlich bedeutendste Jude, der in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts nach Augsburg zugewandert war, war Amsel Isaak Goldschmied in Kriegshaber, der spätestens 1764 in der Liste der Akkordjuden erschien. 42 Dieser Goldschmied, ein Textilgroßhändler aus Frankfurt am Main, machte sich bei den Augsburger Händlern besonders unbeliebt, wovon ein eigener Aktenbestand im Stadtarchiv zeugt, der allein die Beschwerden der Augsburger Baumwoll- und Kattunhändler gegen ihn enthält.43 Mit anderen jüdischen Textilgroßhändlern, die besonders Frankfurt, den damals größten deutschen Kattunmarkt, kontrollierten, erlangte er großen Einfluß auch in Augsburg, sehr zum Neid und Verdruß der Augsburger Kaufleute, aber auch der Augsburger Weber, denen er Brot und Arbeit wegzunehmen schien, wobei sich in diesem Zusammenhang auch nichtjüdische Augsburger Textilfabrikanten unrühmlich hervortaten. Allerdings kam es auch vor, daß Goldschmied den Webern direkt große Partien abnahm oder mit ihnen Tauschhandel betrieb, was wiederum die Augsburger Kaufleute verärgerte, da gewissermaßen ihr Bemühen, die jüdische Konkurrenz auszuschalten, von den Webern unterlaufen wurde. 44 Bei den Augsburger Großhändlern ist besonders an Johann Heinrich Schüle45 zu den-
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Dazu und zum Folgenden R. Hipper (Anm. 22) S. 27f. StadtAAug. Judenakten XI: Juden, deren Hereinpassierung betr. 1761-1804. Akkordvertrag vom 11. Februar 1764. StadtAAug. Weberhaus. Fasz. 98: Beschwerden der hiesigen Baumwoll- und Kottonhändler wider den Schutzjuden J.A. Goldschmid 1774-1803. Peter Fassl: Geschichte und Kultur der Juden in Schwaben. In: Aus Schwaben und Altbayern. Festschrift für Pankraz Fried zum 60. Geburtstag. Hg. von Peter Fassl, Wilhelm Liebhart, Wolfgang Wüst. Sigmaringen 1991 (Augsburger Beiträge zur Landesgeschichte Bayerisch-Schwabens. Bd. 5). S. 21-30, hier S. 26; sowie Peter Fassl: Konfession, Wirtschaft und Politik. Von der Reichsstadt zur Industriestadt. Augsburg 1750-1850. Sigmaringen 1988 (Abhandlung zur Geschichte der Stadt Augsburg. Bd. 32). S. 161-164. Jacques J. Whitfield: Johann Heinrich von Schüle. In: Lebensbilder aus dem Bayerischen Schwaben. Bd. 9. München 1966. S. 211-230; vgl. auch Rainer A. Müller: Johann Heinrich von Schüle. Aufstieg und Fall des Kattunfabrikanten im zeitgenössischen Urteil. In: Arbeitnehmer und Unternehmer. Lebensbilder aus der Frühzeit der Industrialisierung in Bayern. München 1985. S. 160-170; oder auch Gerhard P. Woeckel: Der Augsburger Kattunfabrikant
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ken, der zunächst mit Goldschmied zusammenarbeitete, bald aber sein erbitterter Gegner wurde. Der Jude Amsel Isaak Goldschmied schaffte es im Jahre 1774, daß ihm die Stadt Augsburg gestattete, mehr oder weniger freien Baumwoll-, Farbwaren- und Kattunhandel in ihren Mauern zu betreiben und damit die jahrhundertealte Zunfttradition zu durchbrechen, nach der nur Augsburger Bürger und Mitglieder der Kaufleutestube dieses Privileg in Anspruch nehmen konnten. Es waren also nicht die alteingesessenen Juden, die die allmähliche Besserstellung in Augsburg erstritten, sondern in erster Linie die neu zugezogenen, die sich erst im 18. Jahrhundert in den vor den Toren Augsburgs gelegenen Orten niedergelassen hatten. Sie erreichten diese Besserstellung und letztlich sogar auch Gleichstellung schließlich zu Beginn des 19. Jahrhunderts. Aber nach wie vor galten die alten kaiserlichen Privilegien des Ausschlusses der Juden aus der Stadt und auch der Zutritt wurde ihnen so schwer wie möglich gemacht, auch wenn sie immer wieder kaiserliche oder fürstliche Hilfe für sich in Anspruch nahmen. Das ging soweit, daß man den Juden sogar den Aufenthalt bzw. den Abschluß von Geschäften ausserhalb der Stadtmauern, wie etwa in den westlich der Stadt gelegenen Anlagen des Schießgrabens oder in dem nördlich von Augsburg gelegenen Dorf Oberhausen, untersagte. 46 Aber trotz der Bemühungen des Rates, die besonders durch die Intervention der Kaufleute und Krämer hervorgerufen wurden, die Juden überhaupt aus der Stadt fernzuhalten, wurde der Verkehr zwischen ihnen und der Stadt Augsburg nie ganz unterbunden. Es gab immer wieder gewisse Einschränkungen der generellen Aufenthaltsverbote, die es den Juden erlaubten, nach Augsburg zu kommen, vor allem dann, wenn sie in Geschäften eines 'hohen Herrn' tätig waren. Man könnte fast annehmen, daß es gar nicht im Sinne des Rates der Stadt war, die Juden völlig aus der Stadt zu entfernen. So war es nur eine Frage der Zeit, bis das strikte Einlaßverbot erstmals unterlaufen wurde. Per Ratsdekret vom 6. Mai 1700 wurde dem kaiserlichen Hoflieferanten Samuel Moses Ulman aus Pfersee, der im Namen des Kaisers Einlaß in die Stadt Augsburg forderte, nach langem Hin und Her sein Begehren erfüllt. 47 Vom Standpunkt der Stadt aus war dieses Nachgeben natürlich verhängnisvoll, es war der berühmte Präzedenzfall geschaffen. Alle Juden wollten nun im Auftrag eines 'hohen Herrn' nach Augsburg kommen und auch die Bürger der Reichsstadt selbst versuchten nun, in die Rolle dieser bevorzugten Auftraggeber zu schlüpfen und verlangten für diejenigen Juden, mit denen sie Geschäfte abschließen wollten, den Zutritt.
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Johann Heinrich Edler von Schüle (1720-1811). In: Zeitschrift des Historischen Vereins für Schwaben 82. 1989. S. 157-173. StadtAAug. Judenakten: Juden von 1544-1813. Varia. D l . 221. 16. März 1700; R. Hipper (Anm. 22) S. 50. StadtAAug. Judenakten VII: Juden, deren Hereinpassierung betreffend 1570-1701.
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Aber auch sonst konnte das Zutrittsverbot in die Stadt nicht restlos durchgeführt werden. Mancher Jude konnte sich vor allem in Kriegszeiten, in denen Augsburg als Handelsplatz für die Versorgung eine wichtige Rolle spielte, zu Geschäften heimlich nach Augsburg begeben. Bei den größten Heereslieferanten und Faktoren, die sich auf den Schutz des Kaisers berufen konnten, war überhaupt kein städtischer Widerstand möglich. Dazu kam noch, daß der Verlust der jüdischen Einlaßgebühren wohl von der Stadt zu verschmerzen gewesen wäre - sie waren nicht sehr hoch -, aber nicht von den sonstigen Beamten, wie Stadtvogt, Torschreiber, Amtsdiener etc., die vor dem strengen Ausschließungserlaß vom 4. März 1700 von den Juden umfangreiche jährliche Bestechungsgelder bezogen hatten.48 So war ein striktes Einlaßverbot nicht aufrechtzuerhalten, und man kehrte bald zu dem bequemeren Mittel der beschränkten Zulassung zurück, während offiziell das Dekret vom 4. März 1700 nie aufgehoben wurde. Immerhin wurde der Eintritt von Juden nach wie vor dadurch erschwert, daß sie sich von einem Stadtgardesoldaten begleiten lassen mußten. Daß hierbei Mißstände vorkamen, wie der, daß sich ein solcher Begleiter durch eine Maß Bier überwinden ließ,49 liegt auf der Hand. Der Magistrat bestrafte solche Übertritte hart, wie etwa in dem Fall des Juden Lazarus Neuburger aus Kriegshaber, der seinen Begleiter sechs Stunden in Sturm und Regen vor der Tür des bischöflichen Rentenverwalters warten ließ und sich selbst durch ein Hintertürchen fortschlich und seine Geschäfte auf eigene Faust durchführte. Hier wie in anderen Fällen gab es für die Täter schwere Strafen.50 Es war eine ständige Gratwanderung, die der Rat in seiner Judenpolitik praktizierte. Trotz der strengen Ausschließungserlasse - der vom Jahre 1700 wurde durch Verordnungen vom 15. Dezember 1718 und 18. März 1732 erneuert51 kann man in der Praxis eigentlich eher von einer beschränkten Einlassung sprechen. Diejenigen Juden, die es sich aufgrund ihrer wirtschaftlichen Stellung leisten konnten, kamen in die Stadt, gegen die ärmere Klasse der Judenschaft wurde das Ausschlußgesetz praktiziert. Übrigens wurde das sogenannte Ausschaffungsedikt vom 29. August 1713 nur vorübergehend in Anwendung gebracht. Denn damals herrschte in Augsburg die Pest, und man fürchtete durch die Juden An-
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R. Hipper (Anm. 22) S. 52. StadtAAug. Judenakten V: Juden, deren Wohnung und Aufenthalt in hiesiger Stadt, auch deren Ausschaffung betreffend von 1732-1745 (Gutachten des Ratskonsulenten Zwerger vom 29.8.1743); vgl. R. Hipper (Anm. 22) S. 54. R. Hipper (Anm. 22) S. 54. StadtAAug. Judenakten I: Die Judenschaft in genere von 1298-1802 (gedruckte Anschläge vom 15. Dezember 1718 und vom 18. März 1732).
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steckungsgefahr, 52 eine Begründung, die auch schon in früheren Zeiten als Motiv für die Judenausweisungen gedient hatte.53 Man hat mehr und mehr den Eindruck, daß sich im Laufe des 18. Jahrhunderts die Bürgerschaft nicht darüber einig war, ob die Ausschaffung der Juden zu ihrem Nutzen oder zu ihrem Schaden erfolge. Aber immer wieder war es vor allem der Handelsstand, der sich gegen eine Wiederzulassung der Juden in der Stadt zur Wehr setzte. Auf der anderen Seite waren es die Fürsten, die sich für ihre Juden verwandten. 54 Bald regte sich bei den Juden im Hinblick darauf ein neues Selbstbewußtsein, und sie forderten die völlige Befreiung von den demütigenden Vorschriften der Eintrittsgebühren in die Stadt, was ihnen schließlich auch mit Hilfe der Fürsten, in deren Diensten sie standen, gelang. Unter Berufung auf die Fürsten und besonders den obersten Herrscher des Reiches, den Kaiser, begehrte man zunächst die Freipassierung, d.h. den gebührenfreien Eintritt in die Stadt; von einer Aufhebung des Geleits war noch nicht die Rede. Aber schon in dem erwähnten Fall des Juden Samuel Moses Ulmann aus Pfersee aus dem Jahre 1700 wurde die Forderung erhoben, ihn unaufgehalten und frei passieren zu lassen, wobei die Vorderösterreichische Regierung in Innsbruck das Begehren an die Stadt dahingehend präzisierte, daß Ulmann auch des costbaren Gleiths zu entledigen sei. 55 Vermutlich wegen seines großen Einflusses beim Kaiser war es auch dem Kriegsoberfaktor Samuel Oppenheimer gelungen, die völlige Freipassierung in Augsburg zu erlangen, die sogar noch auf seine nächste Begleitung ausgedehnt wurde. Allerdings hatte dabei der Rat auch nicht zu befürchten, daß Oppenheimer mit seinen Geschäften der städtischen Bürgerschaft Konkurrenz machte, was seine Entscheidung sicherlich erleichterte. 56 Mit der Zeit konnte man den Eindruck gewinnen, die Fürsten versuchten in dem Bemühen, das freie Geleit 'ihrer' Juden in der Stadt zu erreichen, sich gegenseitig zu überbieten. Rang und Einfluß des Fürsten - so hatte es den Anschein - wurde daran gemessen, wie oft es ihm gelang, die städtischen Bestimmungen gegen die Juden zu unterlaufen. 57 Signifikant ist der Streit der Reichsstadt Augsburg mit dem Augsburger Bischof, dessen Hoflieferanten Lazarus Neuburger aus Kriegshaber und Low Simon Ulmann aus Pfersee im Jahre 1721 den freien Zugang zum bischöflichen Hof, der
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StadtAAug. Judenakten VII: Juden, deren Hereinpassierung betreffend 1570-1701: Den Juden wird bei der Contagion halben sehr gefährlichen Zeiten [..] der Zutritt Handl und Wandl [...] völlig verboten. Stadt Augsburg. Judenakten: Juden ca. 1544-1813. Varia. R. Hipper (Anm. 22) S. 55. Hierzu und zum Folgenden R. Hipper (Anm. 22) S. 58f. StadtAAug. Judenakten VII: Juden, deren Hereinpassierung betreffend 1570-1701. Schreiben des vorderösterreichischen Geheimen Rats vom 2. August 1708. StadtAAug. Judenakten VII; R. Hipper (Anm. 22) S. 62. R. Hipper (Anm. 22) S. 64f.
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bekanntlich innerhalb der Mauern der Reichsstadt gelegen war, verlangten. 58 Als der Magistrat den beiden Juden den Zutritt nur gegen Bezahlung einer Einlaßgebühr und mit Geleit erlauben wollte, setzte sich der Bischof, ebenso unabhängiger Reichsstand wie die Stadt, gegen die Verwehrung des freien Eintritts wegen Beeinträchtigung seiner standesherrlichen Rechte zur Wehr. Nun kam es zu einem regelrechten Machtkampf. Der Bischof versuchte, die Stadt unter Druck zu setzen, indem er bestimmte von ihm zu leistende Zahlungen einstellte. Dabei zeigte sich, daß die Vorenthaltung des Betrags doch mehr Wirkung erzielte als ihr Beharren auf eigenen, inzwischen doch recht zweifelhaften Rechtspositionen. Am 5. Februar 1727 erließ der Geheime Rat eine Verordnung mit dem Inhalt, daß die Stadt Dero Hofjuden den freyen Zugang zu dero Hoffstatt allein und zwar ohne allen entgelt und Gleit [...] erlauben wolle.59 Die für die Stadt negativ verlaufene Auseinandersetzung entzündete sich erneut nach dem Ausschlußdekret von 1732, aber 1735 gab die Stadt wiederum nach, um allerdings zehn Jahre später nochmals auf ihr altes vermeintliches Recht zu pochen. Es war nichts anderes als ein reines Prestigeduell. Aber auch andere Fürsten des Reiches, wie der Fürsterzbischof von Konstanz und ganz besonders die bayerischen Kurfürsten, an ihrer Spitze Max Emanuel, der sich für seinen Pferdelieferanten, die Mändlesche Kompanie in Kriegshaber, einsetzte, wandten sich mit einer Fülle von Beschwerdebriefen an den Rat der Stadt Augsburg, sobald ihre Hofjuden irgendwie behindert wurden. 60 Mit der Zeit schien die Stadt Augsburg in ihrem Bemühen, die Juden fernzuhalten, zu resignieren. Da man zwischen der Ungnade der Fürsten und dem Schutz der eigenen Bürger zu wählen hatte, wie man glaubte, tat man sich schließlich mit der Reichsstadt Nürnberg zusammen, die ähnliche Probleme hatte. Der Kaiser hatte 1750 nicht nur die Stadt Augsburg, sondern auch die Stadt Nürnberg aufgefordert, die Gebrüder Isaak und Meier Landauer aus Pfersee frei und unentgeltlich passieren zu lassen und ihnen obendrein auch noch eine Wohnung zur Verfügung zu stellen, womit er sich aber nicht durchsetzten konnte.61 Augsburg schloß sich der Praxis der Stadt Nürnberg an, welche nur von Fall zu Fall punktuelle Erleichterungen für die Juden zuließ. Um schließlich nicht das Gesicht zu verlieren, hatte man sich in Augsburg 1751 endgültig zu dem System der sogenannten 'Akkordierung' entschlossen, was man schon früher gelegentlich prakti58
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StadtAAug. Judenakten VIII: Juden, deren Hereinpassierung betreffend 1702-1732; dazu im einzelnen R. Hipper (Anm. 22) S. 65. StadtAAug. Judenakten VIII (Anm. 58). Reichliches Aktenmaterial zeugt von diesen Auseinandersetzungen. StadtAAug. Judenakten VIII, IX und X: Juden, deren Hereinpassierung betreffend 1702-1732, 1733-1750, 17511760. StadtAAug. Judenakten IX: Juden, deren Hereinpassierung betreffend 1733-1750; R. Hipper (Anm. 22) S. 70.
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ziert hatte, etwa in den Jahren 1706 bis 1718. Aber dies waren vergleichsweise nur Versuche, die sich wohl noch nicht bewährten, zumal sie doch noch sehr an Knebelungsverträge der Juden erinnerten. Damit aber war die Freipassierung gewissermaßen präjudiziell. Mit der 'Akkordierung' suchte man dem zu erwartenden Bestreben um endgültige Aufhebung der Eintrittsgebühr zuvorzukommen, die immerhin für die Juden aus Pfersee bisher 40 kr., für die Juden aus Kriegshaber und Steppach dagegen 1 fl. 6 kr. 62 betragen hatte. Dieser an sich recht stattliche Betrag stand freilich allzuoft nur auf dem Papier, denn viele Juden wandten sich an ihre Patronatsherren, die dann auf die Stadt Augsburg Druck ausübten, von der Einlaßgebühr abzusehen. Mit der 'Akkordierung' wurden die finanziellen Belastungen der Juden zwar nicht geringer, aber die Tatsache, daß nun vor allem der bisher so entwürdigende Geleitzwang beim Betreten der Stadt entfiel, führte dazu, daß sie ihre Zahlungen nun viel bereitwilliger erbrachten. Das 1751 begonnene und reformierte Akkordierungssystem trug jedenfalls dazu bei, daß sich das Verhältnis der Stadt zur Judenschaft zu bessern begann. Die Zahl der Paktjuden wurde bei dieser Gelegenheit nicht mehr wie früher nach Familien, sondern pro Kopf festgelegt und von 1751 bis 1803 wurden die Akkorde jeweils alle sechs Jahre erneuert. Aber Akkordverträge erhielten nur die wohlhabenden Juden, wie etwa Low Simon Ulmann aus Pfersee oder Abraham und Josef Mändle sowie Lazarus Neuburger aus Kriegshaber. 63 Auch die allgemeine 'Akkordierung', die der Rat anstrebte, wurde in der Praxis so gehandhabt, daß doch nur der vermögende Teil der Juden in die Stadt eingelassen wurde. Man wollte auf eine bestimmte Paktgeldhöhe kommen, die möglichst unabhängig von der Anzahl der eingelassenen Juden sein sollte, was aber in der Praxis nicht gelang, da immer weniger Juden Paktgeld zahlen konnten oder wollten. Im Jahre 1797 wurde der Akkord für nur mehr 30 Personen auf 1.000 fl. angesetzt, eine wesentlich geringere Summe als ursprünglich. 64 Es war dies der letzte Akkord, denn 1803 erlangten erstmals drei Juden endgültig das Privileg, festen Wohnsitz in Augsburg nehmen zu dürfen. Sie hatten sich freilich auch schon früher, vor allem in Kriegszeiten, wie der Zeit des Spanischen Erbfolgekrieges, in der Stadt längere Zeit aufgehalten, wobei man ihnen dann immer zur Auflage machte, nicht in der Nähe von Gotteshäusern und Schulen zu wohnen, da es hier mehrfach Beschwerden gegeben hatte. Es hatte sich hier aber nur um das vorübergehende Wohn- und Aufenthaltsrecht gehandelt. Nun wurden die unruhigen politischen Verhältnisse sowie die schwierige wirtschaftliche Lage der Stadt Bundesgenossen der Juden bei ihrem Bemühen, dauernd in der Stadt wohnen zu
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StadtAAug. Judenakten von ca. 1544-1813. Zum Ganzen R. Hipper (Anm. 22) S. 72-90. StadtAAug. Judenakten XI: Juden, deren Hereinpassierung betreffend 1761-1804. Ratsdekret vom 13. Mai 1797.
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dürfen. Die Stadt Augsburg hatte hohe Schulden, und Gläubiger waren vielfach die Juden, wie das Bankhaus Veit Kaula in Kriegshaber oder die beiden vereinigten Banken Obermayer und Kaula. Aber auch andere reiche Juden, wie Henle Ephraim Ulmann aus Pfersee, Hirsch Wolf Levi und Simon Wallerstein aus Kriegshaber sowie die Bankiers Westheimer und Strassburger aus München hatten sich nicht nur um den dauernden Wohnsitz in Augsburg beworben, sondern sich auch erboten, die Schulden der Stadt zu übernehmen. 65 Da zudem in Frankfurt am Main und München inzwischen schon Juden angesiedelt waren, konnte man auch in Augsburg trotz anfänglichen Widerstrebens, die Aufnahme der Juden nicht mehr verweigern. Mit dieser Ansiedlungsmöglichkeit hatte allerdings nur ein ganz geringer Teil der gesamten Judenschaft das dauernde Aufenthaltsrecht in Augsburg erlangt. Nur die finanzielle Not der Stadt Augsburg hatte ermöglicht, was zahlreiche Gesuche der Juden über Jahrzehnte und der Druck der Fürsten nicht bewerkstelligen konnten. Das Dekret des Rates vom 10. November 180366 für die Bank- und Wechselhäuser Westheimer und Strassburger, Henle Ephraim Ulmann und Jakob Obermayer-Kaula verschaffte diesen in 38 Paragraphen trotz gewisser Einschränkungen endlich das lang ersehnte Aufenthaltsrecht. Sie erhielten zwar nicht das Bürgerrecht, waren aber den Augsburger Beisitzern gleichgestellt. Sie hatten plötzlich auch gesellschaftlich eine bessere Stellung erlangt, sie hießen nicht mehr 'Schutzjuden', sondern wurden mit 'Herr' betitelt. Die jüdische Bevölkerung selbst begann sich nun anzupassen, was nicht zuletzt in der Namensgebung zum Ausdruck kam. Hirsch Wolf Levi nannte sich nun Heinrich Wolf Levinau und der Jude Arnold Seligmann, der 1814 sogar in den Adelsstand erhoben wurde, nannte sich Arnold Freiherr von Eichthal. 67 Als Ergebnis ist festzuhalten: 1. In Notzeiten und besonders in den zahlreichen Kriegen des 18. Jahrhunderts konnten die Juden ihre Chancen beim Unterlaufen des Aufenthaltsverbotes recht gut nutzen und vor allem als Heereslieferanten an Einfluß gewinnen, sehr zum Verdruß der Augsburger Kaufleute.
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Wolfgang Zorn: Handels- und Industriegeschichte Bayerisch-Schwabens 1648-1870. Augsburg 1961 (Studien zur Geschichte des bayerischen Schwabens. Bd. 6) S. 68f. StadtAAug. Judenakten: Die Judenschaft im allgemeinen 1418-1869. Nr. 12. Sowie Judenakten Via: Juden, deren Wohnung und Aufenthalt in hiesiger Stadt, Domiziliengesuche, auch deren Ausschaffung 1803-1806. R. Grünfeld (Anm. 6) S. 53; vgl dazu auch den Begleitband zur Ausstellung: Siehe der Stein schreit aus der Mauer. Geschichte und Kultur der Juden in Bayern. Lebensläufe. Hg. von Manfred Treml und Wolf Weigand unter Mitarbeit von Evamaria Brockhoff. München 1988. (Veröffentlichungen zur Bayerischen Geschichte und Kultur. Nr. 18 1988).
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2. Während es ursprünglich vor allem religiöse Motive waren, die für die Judenhetze verantwortlich zeichneten, so wurden im Laufe des 17. und 18. Jahrhunderts mehr und mehr wirtschaftliche Gründe maßgebend. 3. Auch nach ihrer Vertreibung waren die Juden wohl weiter an Handelsgeschäften in der Stadt Augsburg beteiligt, wenn ihnen auch spätestens nach dem Jahre 1574, als die Juden aus dem Hochstift vertrieben wurden, das Betreten der gesamten Stadt äußerst erschwert wurde. Aus der Augsburger Umgebung ganz und gar verschwunden sind sie wohl nicht. Nach wie vor unklar und bisher quellenmäßig auch nicht belegbar ist, wohin die Juden nach ihrer Vertreibung 1438/40 zogen; sowohl in andere Städte als auch in die unmittelbaren Vororte der Stadt Augsburg. Vielleicht ergeben hier bisher schwer zugängliche innerjüdische Quellen ein klareres Bild. Es bleibt doch immerhin unverständlich, warum die Augsburger Juden ausgerechnet in der Zeit der größten Wirtschaftsblüte Augsburgs wenn schon nicht in der Stadt selbst nicht wenigstens in der näheren Umgebung wohnhaft gewesen sein sollten. Ein anonymer Autor, der sich für die Aufnahme der Juden in Augsburg ausspricht, gibt in seinen Äußerungen ein besonders schönes Beispiel von Liberalität und Toleranz und lieferte damit wohl auch die letztlich ausschlaggebenden Argumente dafür, daß die Juden sich wieder in Augsburg niederlassen durften. 68 Daraus einige Zitate: Die Kaufleute glauben, daß es nur von dem Magistrate abhange, die Juden von der Stadt abzuhalten, ihre Gewölbe oder Schreibstuben auszuschaffen, und ihren Handel allein auf alte Kleider einzuschränken. Hat man die gänzliche Abhaltung der Juden nicht schon seit mehr als 3 Jahrhunderten gewollt? Die Geschichte zeigt, wie vergebens alle die Bemühungen waren. Man hat zehnmal ihre gänzliche Ausweisung statuirt, mit dem besten Willen aber sich niemals hierbey manuteniren können. Was in vorigen Jahrhunderten gegen die Juden mit Effekt nicht hat zu Stand gebracht werden können, wird dieß jetzt besser gelingen? Jetzt, wo die meisten Städte Deutschlands Juden in ihren Mauern herbergen? Bey der jetzigen allgemein gewordenen Toleranz und herrschenden Aufklärung, die seinen Menschen der Religion wegen hintanzusetzen oder gar zu verfolgen erlaubt? - Jetzt, wo selbst das Thema, wie das Schicksal der Juden zu verbessern sey, ganz neuerlich an den deutschen Reichstag gebracht worden ist? - Wo in mehreren Landen die Juden als förmliche Bürger aufgenommen werden? [...] Es ist schon bürgerliche Freiheit, welche die Juden genießen, da sie den ganzen Tag ihre Wechselgeschäfte hier treiben dürfen, [...] das man ihnen nicht entzie68
J.M. Hoscher (Anm. 19) S. Ali. Vgl zur Diskussion um den Autor der anonym erschienenen Schrift den Beitrag von Volker Dotterweich in diesem Band.
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hen kann. Es kommt also nur noch darauf an, daß sie auch des Nachts hier sein dürfen. Was sie hierdurch für bürgerliche Rechte besonders mehr erhielten, ist nicht abzusehen. [...] Je größer die Zahl solcher Wechselhändler ist, [...] desto mehr blüht der Handel [...]. Daß der Jud wohl feilere Preise machen könne, als der christliche Kaufmann, ist kein Grund, das nachgesuchte Domicil zu verweigern. Jetzt existieren überall in den meisten Orten Juden. Sind denn in allen diesen Orten die christlichen Kaufleute zu Bettlern geworden? Behaupten die Kaufleute noch, [...] daß eine hochgepriesene Toleranz auf den hiesigen Staat schlechterdings unpassend sei [...]. Ich möchte niemals den Satz aufstellen, daß Intoleranz auf irgendeinen Staat passe.
Die Judenpolitik der geistlichen Territorien Schwabens während der Frühen Neuzeit Wolfgang Wüst
Eine Analyse der Beziehungen geistlicher Territorialstaaten zum Land- und Stadtjudentum in Ostschwaben wirft zunächst die Frage auf, ob wir dort angesichts der territorialen, wirtschaftlichen, sozialen und volkskundlichen Vielfalt innerhalb der Suevia Sacra überhaupt ein generalisierendes Bild der Judenpolitik geistlicher Landesfürsten entwerfen können. Diese Frage kann sicherlich verneint werden, nicht nur weil vor der Vereinheitlichung des Judenrechts durch den bayerischen Staat 1813 ein landesweiter Vergleich ohnehin unmöglich erscheint, sondern weil selbst innerhalb des Hochstifts eine genuin landesfürstlich motivierte Politik im Umgang mit schwäbischen Juden nicht betrieben werden konnte. Große Teile der hochstiftischen, domkapitelischen und reichsstiftischen Staatenwelt hatten als landständische Korporationen in der vorderösterreichischen Markgrafschaft Burgau nolens volens die habsburgische Judenpolitik zu tolerieren. Die Augsburger Fürstbischöfe mußten aber neben der Markgrafschaft Burgau, deren 'Innenleben' sie als temporäre Administratoren während der langjährigen Verpfandungen mitgestalten konnten, auch die reichsstädtisch-augsburgische Judenpolitik anerkennen. Bischofsresidenz, Domimmunität und die Stadthöfe schwäbischer Klöster und Stifte waren als exterritoriale Inseln in der Reichsstadt abhängig von den Augsburger Toreinlaßregelungen für jüdische Händler, ohne daß sie diese in ihrer rigiden Handhabung hätten umgestalten oder beeinflussen können. Dennoch sind dort im Vergleich zu den weltlichen Territorien graduelle Unterschiede festzustellen, die aber keine Auswirkungen auf jenen Bereich haben, den Christoph Daxelmüller als the inner field ofjewish life and identity umschrieb. 1 Hochstiftische, domkapitelische oder reichsstiftische Hintersassen erlebten in Ostschwaben mit wenigen Ausnahmen jüdisches Leben aus der exterritorialen Perspektive, die wesentlich einfacher in das Schema einer fortlaufend innovativ betriebenen Christoph Daxelmiiller: Jewish popular culture in the research perspective of European ethnology. In: Ethnologia Europaea XVI (1986). S. 106f.
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Mandatspolitik zu pressen war, als wenn es im Umgang mit innerterritorialen Judenorten zahlreiche Reichsprivilegien oder das System des Schutzjudentums zu beachten galt. Vergleiche mit anderen bayerischen Bischofsstaaten, insbesondere mit den Hochstiften Bamberg und Würzburg, sind aus diesen Gründen ebenfalls schwierig. So stellte sich z.B. die Situation im Fürstbistum Bamberg so dar, daß es in der Frühen Neuzeit zur Ausformung einer jüdischen 'Landschaft' (Landstände) kam, die im Hochstift als bischöfliche und ritterschaftliche Judenschaft mit je vier Landesdeputierten in verfassungsmäßigem Rang stand. 2 Im Hochstift Würzburg setzten die Fürstbischöfe ein Mitglied der weltlichen Regierung als Judenamtmann ein, zu dessen wichtigsten Aufgaben die Begutachtung der Aufnahmegesuche als Schutz- oder Schirmjuden zählte. Diesem hochstiftischen Beamten blieben die Repräsentanten der jüdischen Gemeinden im Stiftsgebiet, Rabbiner und Landvorgänger, administrativ nachgeordnet. Die große Zahl hochstiftisch-jüdischer Gemeinden und Gemeindeanteile läßt sich in Unterfranken auch daran erkennen, daß zur Zeit Fürstbischofs Franz Ludwig von Erthals (1779-1795)3 im Hochstift allein sieben jüdische Landvorgänger - jüdische Distriktsvögte - agierten, denen ihrerseits eine größere Zahl an Ortsvorgängern - jüdische Gemeindeschultheiße - unterstanden. Im Kurfürstentum Mainz sollte unter dem letzten Kurfürsten vor der Säkularisation, Friedrich Karl Joseph von Erthal (1719-1802), die Judenemanzipation nicht zuletzt infolge französischer Einflüsse und staatsutilitaristischer Beweggründe energisch vorangetrieben werden. Der bürgerlichen Gleichstellung der Juden, wie sie dann für die säkularisierten Teile der rheinischen Kurstaaten 1791 in der französischen Nationalversammlung beschlossen wurde, war die kurmainzische Regierung sehr nahe gekommen. 4 Schließlich lohnt es, der Frage nachzugehen, inwieweit sich der Augsburger Bischofsstaat an der Dogmatik der Römischen Kurie und des Kirchenstaates bei der Ausformung territorialer Judenpolitik orientierte. In der Frühen Neuzeit verschärfte sich das antijüdische Element in der kirchlichen Gesetzgebung unter den
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Adolf Eckstein: Geschichte der Juden im ehemaligen Fürstbistum Bamberg. Bearbeitet auf Grund von Archivalien nebst urkundlichen Beilagen. Bamberg 1898. Nachdruck Bamberg 1986. S. 63-66; Siegfried Bachmann: Die Landstände des Hochstifts Bamberg. Ein Beitrag zur territorialen Verfassungsgeschichte. Goslar 1962. Hildegunde Flurschütz: Die Verwaltung des Hochstifts Würzburg unter Franz Ludwig von Ertal (1779-1795). Würzburg 1965 (Veröffentlichungen der Gesellschaft für Fränkische Geschichte IX/19). S. 29-32; vgl. zur Integration der jüdischen Gemeinden als hochstiftische Landstände: David Weger: Die Juden im Hochstift Würzburg während des 17. und 18. Jahrhunderts. Würzburg 1920; Markus Bohrer: Die Juden im Hochstift Würzburg im 16. und am Beginne des 17. Jahrhunderts. Freiburg i.Br. 1922. Bernhard Post: Judentoleranz und Judenemanzipation in Kurmainz 1774-1813. Wiesbaden 1985 (Schriften der Kommission für die Geschichte der Juden in Hessen VII). S. 476-499.
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Päpsten Paul IV. (1555-1559) und Pius V. (1566-1572), wobei die 1555 im Jahr des Augsburger Religionsfriedens erlassene Bulle Cum nimis absurdum, die sich stark an die Ausführungen des Vierten Lateranums von 1215 anlehnte, die Abgrenzung zwischen Christen und Juden am deutlichsten formuliert hatte. 5
1. Judenpolitik des Hochstifts und Domkapitels Augsburg Territoriale und rechtliche Rahmenbedingungen Vor Antritt der burgauischen Pfandschaft 1498 durch Bischof Friedrich II. Graf von Zollern (1486-1505) und sein Domkapitel ist die territoriale Frage für Juden im Hochstift von einer sich schnell ändernden Rechtslage gekennzeichnet, da Austreibung und Ansiedlung der Judenschaft im Wechselspiel standen. So folgte auf die hochstiftische Judenausweisung zum Jahreswechsel 1348/49 bereits am 24. Mai 1350 ein judenfreundliches Privileg König Karls IV. für Bischof Marquart von Randeck: Und darumb so haben wir gehaizzet [...] Marquart, byschoff zu Augspurk unserm lieben fursten und andechtigen und erhüben ouch und gunnen im und seinem gotzhus, [...] daz er in sein und seines gotshus ziehen und setzten wellen und er der gehaben mag.6 Seit diesem Zeitpunkt findet sich im Hochstift und Domkapitel eine zahlenmäßig geringe Judenschaft, deren Größe in enger Verbindung zur reichsstädtischaugsburgischen Judenpolitik stand. So wuchs die Zahl hochstiftischer Juden während der reichsstädtischen Exilationen der Jahre 1432 bis 1438 unter Kardinal Petrus von Schaumberg kurzfristig auf eine Größe an, deren steuerliche Abgaben (Drittpfennigsteuer) wir in Relation zur reichsstädtischen Judengemeinde setzen können. 1434 zahlten die bischöflichen Juden 200 Gulden, während die Reichsstadt Augsburg immerhin 1.200 Gulden Judensteuer für das Reich aufbrachte. 7 5
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J. Friedrich Battenberg: Das Europäische Zeitalter der Juden. Zur Entwicklung einer Minderheit in der nichtjüdischen Umwelt Europas. Von den Anfängen bis 1650. Bd. 1. Darmstadt 1990. S. 202f.; vgl. demnächst auch unter spezieller Thematisierung der geistlichen Staaten: Friedrich Battenberg: Jews in ecclesiastical territories of the Holy Roman Empire. In: In and out of the ghetto. Hg. von Hartmut Lehman, Ronnie Po-Chia Hsia. Los Angeles 1993. MB Bd. 33b. München 1842. S. 171, Nr. 171 (Nürnberg, 24. Mai 1350); Walter E. Vock: Die Urkunden des Hochstifts Augsburg 769-1420. Augsburg 1959 (Veröffentlichungen der Schwäbischen Forschungsgemeinschaft 2/7). Nr. 360; StaatsAAug. Hochstift Augsburg: Urkunden. Nr. 332. Vgl zur vorangegangenen Judenausweisung: Walter E. Vock, Nr. 340. Zur Situation in der Reichsstadt vgl. die Beiträge von Bernhard Schimmelpfennig und Wolfram Baer in diesem Band. Als komparatistisch angelegte Einzeluntersuchungen mit Berücksichtigung der Augsburger Verhältnisse außerdem: Helmut Veitshans: Die Judensiedlungen
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1382 hatte das königliche Landgericht auf der Leutkircher Heide, dessen Sitzungsorte sich in Leutkirch, Lindau, Wangen8 und Ravensburg befanden, andererseits eine Schuldenlast des regierenden Bischofs Burkhard von Ellerbach (1373 bis 1404) gegenüber zwei Memminger Juden bestätigt, denen als Abgleichung Nutzungsrechte im Hochstift zu Bernbeuren, Buchloe, Denklingen und Roßhaupten zugestanden wurden. Die Tatsache, daß Augsburger Bischöfe sowohl 1348 als auch 1382 massiv bei exterritorialen jüdischen Kreditgebern verschuldet waren, läßt zunächst auf eine wirtschaftlich bedeutungslose hochstiftische Judenschaft schließen.9 Damit sollte auch, selbst wenn ein städtearmes Territorium mit einem wenig entwickelten konkurrierenden christlichen Kaufmannsstand zugrunde lag, eine restriktiv betriebene Ansiedlungspolitik einhergehen. Eine Wende dieser Gegebenheiten sollte sich erst Ende des 15. Jahrhunderts einstellen, als mit der burgauischen Pfandschaft plötzlich zahlreiche Judenorte wie Binswangen, Burgau, Günzburg, Hürben, Ichenhausen, Neuburg a.d. Kammel oder Thannhausen bis zum Jahre 1559 - dem Jahr der Auslösung der Pfandschaft anfielen. Gesicherte Erkenntnisse zur Gründungsphase dieser und anderer, erst nach 1559 genannter burgauischen Judensiedlungen (Buttenwiesen, Fischach, Kriegshaber, Pfersee, Schlipsheim, Steppach) wird es freilich erst dann geben, wenn die Migrationsströme nach den Augsburger, Donauwörther und Ulmer Judenexilationen, soweit sie quellenmäßig belegt sind, näher untersucht werden. 10 Obwohl die Judenschaft in der Pfandübertragungsurkunde von 1498 nicht expressis verbis Erwähnung fand, bestätigte Bischof Friedrich für sich und sein Stift, die unnderthanen unnd hindersässen, in der gemellten Marggraveschaft Burgaw bei iren freyhaiten, aUten herkommen und gewonheiten bleiben [zu] las-
ier schwäbischen Reichsstädte und der württembergischen Landstädte im Mittelalter. Stuttgart 1970; Markus Wenninger: Man bedarf keiner Juden mehr. Ursachen und Hintergründe ihrer Vertreibung aus den deutschen Reichsstädten im 15. Jahrhundert. Köln, Wien, Graz 1981 (Beihefte zum Archiv für Kulturgeschichte. Bd. 14) S. 115-134. 8
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Die Tatsache, daß das Hochstift bis zur Säkularisation einen agenten (Jurist im diplomatischen Dienst) in die Reichsstadt Wangen beorderte, unterstreicht die Bedeutung dieses Landgerichts als erst- und zweitinstanzielle Gerichtsstelle im Hochstift. Ein Vertrag vom 6. März 1516 regelte im einzelnen die fürstbischöfliche Anerkennung dieses Gerichts. Vgl. Alfred Wolff: Gerichtsverfassung und Prozeß im Hochstift Augsburg in der Rezeptionszeit. In: Archiv für die Geschichte des Hochstifts Augsburg 4 (1931). S. 205-209. StaatsAAug. Hochstift Augsburg: Urkunden. Nr. 311 (1348 XII 21) und Nr. 497 (1382 IV Vgl. hierzu die Übersicht 'Jüdische Gemeinden in der Markgrafschaft Burgau'. In: Juden auf dem Lande. Beispiel Ichenhausen. Ausstellungskatalog. Hg. vom Haus der Bayerischen Geschichte. München 1991 (Veröffentlichungen zur bayerischen Geschichte und Kultur Nr. 22). S. 51.
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sen.11 Damit blieben auch die tradierten Judenregalien vom neuen Pfandherrn unangetastet. Der hochstiftische und domkapitelische Souverän konnte so als burgauischer Pfandherr der aktiven insässischen oder landständischen Judenpolitik des Adels nur passiv gegenüberstehen. Die bischöfliche Haltung selbst blieb aber eher reserviert. So nahm Fürstbischof Christoph von Stadion auf seinem Huldigungsritt die jüdischen Gastgeschenke zu Burgau und Günzburg im Mai 1517 nicht an und ließ sie an die Armen verteilen.12 In einigen kleineren Orten sollten sich dagegen gerade während der bischöflichen Pfandschaft die ersten Juden ansiedeln. So sind der Güter- und Geldhändler David 1541 und der Buchhändler Chajim ben David Schwarz 1543 unter der Ortsherrschaft Heinrichs von Roth die ersten belegten Ichenhausener Juden. 13 In anderen Dörfern wie Binswangen agierten zwar schon vor 1498 ortsansässige Juden, doch erfuhr ihre Ansiedlung gerade in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts einen beachtlichen Aufschwung. So mußte der neuburgische Pfalzgraf Ottheinrich 1525 zum Handelsboykott gegen die Binswanger Judenschaft aufrufen, um das landeseigene merkantile Bemühen zu schützen.14 Andererseits wurde zur Zeit der hochstiftischen Pfandschaft die rechtliche und wirtschaftliche Einschränkung der burgauischen Schutzjuden vorangetrieben, immer dann, wenn dies die Reichsgesetzgebung forcierte. So erließ König Ferdinand mit Duldung des burgauischen Pfandherrn in der judenordnung für die jüdischait der markgrafschaft burgau und ihrer Nachbarterritorien von 1534, die Vorschrift, daß Juden sich mit einem gelben Ring zu kennzeichnen hatten, um Geldgeschäfte zu unterbinden. 15 Christoph von Stadion fügte sich dabei dem Drängen Anton Fuggers und des städtischen Rats zu Augsburg, der unter wirtschaftlichen Gesichtspunkten die Ausweisung der Juden aus dem Burgauischen vorantrieb. Im Jahr 1550 erhielt der burgauische Insasse Erhard Vöhlin außerdem das Recht, Maßnahmen wider der juden contract und handlung in der Herrschaft Neuburg an der Kammel zu ergreifen, die mit der Vertreibung zahlreicher Juden endeten.16 1543 schließlich erhielt Bischof Otto Truchseß von Waldburg das Privileg, daß künftig kein bischöflicher (nicht insässischer) Hintersasse ohne landesfürstliches
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J. F. v. Lohr: Gründlich- und vollständiger Unterricht von [...] der Marggrafschaft Burgau. Wien 1768. Beylage Nr. XV. StaatsAAug. Hochstift Augsburg: Münchener Bestand. Lit. 222. Silvester Lechner: Juden auf dem Lande - die Geschichte der Ichenhausener Juden. In: Juden auf dem Lande (Anm. 12) S. 18-39; Eugen Ganzenmüller: Ichenhausen. Vom Dorf zum Markt zur Stadt. Ichenhausen 1970. S. 153-156. Karl Öhlschläger: Binswangen - lebendiges Zeugnis reicher Vergangenheit. Binswangen 1982. S. 184-189. StaatsAAug. Vorderösterreich: Lit. 646. fol. 107-114. StaatsAAug. Vorderösterreich: Lit. 646. fol. 107-114.
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Placet von Juden Geld entlehnen oder mit Juden Verträge abschließen dürfe. 1 7 Jetzt erst konnten im Hochstift und im Domkapitel entsprechende Verbotsmandate erlassen werden. Die Tatsache, daß der Handel mit Juden aber bis zur Säkularisation mit Einschränkungen legalisiert blieb, zeugt von der wirtschaftlichen Abhängigkeit dieser beiden geistlichen Staaten von der ostschwäbischen Judenschaft. Mit der sukzessiven Abgeltung jüdischer Schuldforderungen durch den Landesherrn ging aber ihre vollständige Ausweisung aus dem hochstiftischen Territorium einher. So wurde zwischen Domkapitel und Kardinal Otto Truchseß 1557/58 vereinbart, daß Juden aus Dillingen und aus dem hochstiftischen Ortsteil Oberhausen bei Augsburg innerhalb von drei Monaten bzw. drei Jahren ausgeschafft werden sollten. Die vollständige Judenausweisung, zu der sich der Nachfolger Ottos Truchseß von Waldburg (1543-1573), Bischof Johann Eglof von Knöringen, in Artikel 37 der Wahlkapitulation 18 verpflichtet hatte, sollte jedoch erst 1574 durchgeführt werden. Dieser Zeitpunkt, der offenbar auch durch das Domkapitel bestimmt worden war, kann nicht mehr als unmittelbare Folge der Bulle Cum nimis absurdum interpretiert werden. Anders verlief dagegen die Entwicklung beispielsweise im Hochstift Würzburg unter der Ägide des Gegenreformators Fürstbischof Melchior Zobel von Giebelstadt (1544-1558), wo mit der dortigen frühen Judenaustreibung die kuriale Vorgabe sofort in der eigenen Territorialpolitik umgesetzt worden war. 19 Im November dieses Jahres ließ Johann Eglof von Knöringen vor allem die Oberhausener Juden - dort war die hochstiftische Ortsherrschaft bis 1602 durch zahlreiche Verpfandungen geschwächt - und die Reste der im übrigen hochstiftischen Territorium verbliebenen Judenschaft exilieren. 20 Ob die in zahlreichen Mandaten aktualisierte Exilierung des Jahres 1574 allerdings tatsächlich durchgeführt wurde, wird eine noch ausstehende vollständige Bearbeitung der Judenprotokolle zeigen. Zweifel sind zumindest angebracht, wenn wir freilich unter einer veränderten zeitlichen Rahmenbedingung ein Gremheimer Judenprotokoll aus dem Jahre 1771 heranziehen. Als am 21. Februar 1771 der Gremheimer Söldner Caspar Zelfle dem Wirt der Lammgaststätte zu Dillingen
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Friedrich Zoepfl: Das Bistum Augsburg und seine Bischöfe im Reformationsjahrhundert. Augsburg 1969 (Geschichte des Bistums Augsburg und seiner Bischöfe Bd. 2). S. 194. Eine zusammenfassende Analyse der Wahlkapitulationen des Augsburger Domkapitels steht noch aus. Klaus Wittstadt: Die Juden unter den Würzburger Fürstbischöfen und Bischöfen. Vom Mittelalter bis zur Gegenwart. In: Geschichte und Kultur des Judentums. Hg. von Karlheinz Müller, Klaus Wittstadt. Würzburg 1988. S. 151-174. Paul von Stetten: Geschichte der heil [igen] römischen] reichsfreyen Stadt Augspurg aus bewährten Jahr-Büchern und tüchtigen Urkunden gezogen. Franckfurt, Leipzig 1743. Teil 1/1, S. 611; Zoepfl (Anm. 13) S. 541.
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Vieh verkaufte, protokollierte der Gremheimer Vogt das Geschäft in anweßenheit des Verkäufers und Moses's Wendl, burger zu Dillingen ,21 Die verbrieften Rechte für die burgauischen Schutzjuden blieben auch nach Auslösung der Pfandschaft für das Hochstift ein aktuelles Problem, da die Bischöfe auch nach 1559 dem Engeren und Weiteren Ausschuß der Landstände in der Markgrafschaft Burgau zugehörten.22 In dieser Funktion erließ Fürstbischof Heinrich von Knöringen am 13. April 1617 auch ein Mandat, in dem er sich zum Anwalt jener insässischen Territorien machte, in denen keine Juden saßen. Demnach ihre [...] gnaden durch täglich einkommende bericht und vilfältige klagen ihrer im bezürck der Marggrafschafft Burgau, geseßner underthonen in genügsame etfahrung gebracht. Wie höchlich sie fast insgemein von der hochschädlich - und verderblichen judenschafften ein lange zeit hero beschweret und mit ubermessig unleydenlichen wucher sowol den gemeinen geschribnen rechten als deß HfeiligenJ Reichs abschiden und wohl publicierten heylsamen policeyund Ordnungen stracks zu wider [...läuft]. Auch dieselbige dermassen eyngewurtzlet, daß an etlichen orten die juden mit der anzahl den Christen beynahendt zu vergleichen [ist]. Derohalben wol - und hochgedachte Ihr [...] Gnaden sollichem unheyl abzuhelffen und gebürendt Wendung zu thun nicht umgehen könden, nit allein auff alle bey gemeiner judenschafft gegen ihrer [...] christlichen underhanen predendierende schulden ernstliches fleiß inquiriern, auch derselben ursprung und wie sie aufgeschwollen, vermittelst ordenlicher liquidation erforschen, sondern, auch von angeregten schulden sowoln das bezalte als unbezalte interesse [Zins] auff zehen percento ohne uberzinß reduciern und abraiten, wie zugleich auch allen ihren beampten der marggrafschafft Burgaw [...] ein ordentliche verzeichnuß und außzug [...] zustellen lassenP Der hochstifitische Landesherr ging in dieser Frage nach der Ausweisung der Juden aus den burgauischen Kameralorten 1617, entgegen seinem als Insasse und Reichsstand ansonsten häufig inszenierten separatistischen Selbstverständnis, völlig konform mit der markgräflich-burgauischen Politik: "herrn marggrafens L.
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StaatsAAug. Augsburger Pflegämter: Nr. 55. Protokoll vom 21. Februar 1771. Die burgauischen Insassen wählten 1569 einen vierköpfigen Ausschuß (Engerer Ausschuß), der sich ursprünglich aus je einem Vertreter des Hochstifts und Domkapitels Augsburg, des Prälatenstands, der Reichsritterschaft sowie der Reichsstädte Augsburg und Ulm zusammensetzte. 1576 konstituierte sich außerdem ein großer Ausschuß (Weiterer Ausschuß), dem theoretisch alle Insassen in der Markgrafschaft Burgau angehörten. Die landsässigen und reichsständischen Gegenkräfte zur habsburgischen Landesherrschaft blieben seitdem in diesen Ausschüssen administrativ gebündelt. Vgl. Wolfgang Wüst: Günzburg. München 1983 (Historischer Atlas von Bayern, Teil Schwaben 1/13) S. 54. StadtAAug. Reichsstadt: Judenakten Nr. 12. Judenschaft im Allgemeinen 1418-1869, Nr. 25. Mandat vom 13. April 1617.
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vnnd Fr. Gn. gottwolgefälligem rühmlichem exempel vnd fiießstapffen nach gehn vnd zu gemeinen nutzens schuldiger befürderung / so woln mit außweisung / mit einlassung mehrernanter hochschädlicher judenschaft / im werck wol eyfferig sehen lassen.24 Zur Finanzierung der burgauischen Maßnahmen gegen die Günzburger Judenschaft stellte Heinrich von Knöringen (1598-1646) aus seinen Landesteilen in Vorderösterreich sogar eine Feuerstattguldensteuer25 in Aussicht, und er sorgte für eine strikte Unterstützung der Judenpolitik des Markgrafen Karl 1617/18 in den Territorien des Domkapitels und der bischöflichen Mediatklöster. Die Bearbeitung der in bayerischen Archiven liegenden Reichskammergerichtsakten führte in den letzten Jahren zu einer intensiveren Beschäftigung mit den vielschichtigen Prozeßverfahren, in die auch schwäbische Juden verstrickt waren. Juden, die innerhalb des hochstiftischen und domkapitelischen Territoriums in Rechtsstreitigkeiten verwickelt waren, wandten sich im 16. und 17. Jahrhundert in der Regel an das kaiserliche Hofgericht zu Rottweil. Das Gerichtsverfahren an diesem Hofgericht, dessen Kompetenz gerade auch von Vorderösterreich anerkannt werden sollte, kam Gläubigern besonders entgegen. Allerdings appellierten reichsständische Schuldner danach an das Reichskammergericht, so daß der Gerichtszug zwischen 1520 und 1612 in 114 Fällen von 178 Prozessen von Rottweil nach Speyer und seit 1689 nach Wetzlar ging. Interessant ist dabei, daß das bischöfliche Hofgericht zu Dillingen von Juden selten angegangen wurde, so daß im genannten Zeitraum nur einmal vom Dillinger Hofgericht an das Reichskammergericht appelliert wurde. Dies spricht für eine wenig judenfreundliche Rechtssprechung seitens der bischöflichen Territorialgerichte. Trotzdem wurde den hochstiftischen Juden keineswegs der Rechtszug verwehrt. So führte der Jude Simon aus Günzburg, das ja bis 1559 unter hochstiftischer Verwaltung stand, zwischen 1540 und 1572 eine wesentlich größere Anzahl an Prozessen (17 Fälle) als die übrigen zeitgenössischen Financiers in Ostschwaben.26 Trotz einer im Vergleich zur reichsritterschaftlichen und der vorderösterreichisch-burgauischen Staatenwelt relativ judenfeindlichen Territorialpolitik existierte zwischen der hochstiftischen und domkapitelischen Verwaltung auf der einen und den Ortsherrschaften mit jüdischem Bevölkerungsanteil auf der anderen Seite eine intakte Rechtshilferegelung für Kriminalfälle. Sie intensivierte sich am Ende des Alten Reiches, als in anderen deutschen Hochstiften, Stifts- und geistlichen Kurstaaten unter aufklärerischen Vorzeichen über die Benachteiligung der
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StaatsAAug. Kloster Fultenbach: Akt 73. Mandat vom 13. April 1617. Sie betrug 15 Kreuzer von jeder Hofstatt. Margit Ksoll, Manfred Hörner: Fränkische und schwäbische Juden vor dem Reichskammergericht. In: Geschichte und Kultur der Juden in Bayern. Aufsätze. Hg. von Manfred Treml, Josef Kirmeier. München 1988 (Veröffentlichungen zur bayerischen Geschichte und Kultur 17/88). S. 183-197.
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Juden in den Rechtsinstanzen und in der Steuerpraxis offen diskutiert wurde, 27 auch im Augsburger Hochstift. Als Beispiel für diesen Bereich sei der Mordfall des im österreichischen Vogtamt Hochwang (Landkreis Günzburg) ansässigen Juden Baruch Hirsch angeführt, der die hochstiftischen Ämter Aislingen und Gundremmingen 1797/98 intensiv beschäftigte. Das burgauische Oberamt zu Günzburg, in dessen Zuständigkeit die Aufklärung des Verbrechens fiel, und das Rabbinat zu Ichenhausen baten den Dillinger Hofrat um Inquisationsbeistand, da der vermeintliche Täter Andreas Gering aus dem Hochstift Augsburg stammte. Der zuständige Aislinger Pfleger leitete in diesem Mordfall im August 1797 neun Verhöre ein, wobei ihn seine Amtsgeschäfte sogar in den exterritorialen oettingisch-wallersteinschen Ort Mönstetten führten und er diesbezüglich um einen Reisekostenzuschuß bei der fürstbischöflichen Hofkammer anhielt. Die Aislinger Pflege korrespondierte mit der Fuggerherrschaft Glött, um auch dort ansässige Zeugen zu erfassen, und übersandte alle im eisenhaus zu Aislingen aufgezeichneten Protokolle dem recherchierenden Vogt zu Hochwang, um den flüchtigen Täter zu fassen. Im Januar 1798 wurden, nachdem die Ichenhausener Judenschaft den Kreis der Tatverdächtigen erweitert hatte, zu Aislingen weitere dreizehn Verhöre mit zahlreichen verificationes eingeleitet; der Dillinger chyrurgus steuerte ein ausführliches medizinisches Gutachten für die Zeugen bei und der betagte Aislinger Pfleger Gallus Joseph Contamin pflegte einen sehr entgegenkommenden Korrespondenzstil mit den exterritorialen Ermittlungsbehörden. So entschuldigte er sich für seinen angeschlagenen Gesundheitszustand im Frühjahr 1798 beim Günzburger Oberamt. Auf die von dem k. k. [...] oberamt Günzburg hier den 28. "v.M. eingegangene requisition vom 24. hornung [Februar], der man aber wegen kränklichen umständen von hofrath und pflegverwalter Contamin sogleich, wie man es wünschte, zu deferiren außerstand war, hat man den in dem wirthshaus zu Gundremingen termal sich befindenden bräuen Anton Demeter vorberufen.2i Die Antwort auf die Ladung wurde immerhin noch am 3. März expediert, so daß insgesamt nur vier Tage vergangen waren - wahrlich kein zwingender Grund für eine derartige Entschuldigung bei den Zeitvorstellungen Ende des 18. Jahrhunderts. Der Mordfall Baruch Hirsch beschäftigte schließlich das hochstiftische Pflegamt zu Aislingen vom August 1797 bis zum April des Folgejahres 1798. Die willfahrige Haltung des Hochstifts und seiner Beamten im Mordfall Baruch Hirsch
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Bernhard Post (Anm. 4) S. 225-234. Vgl. zu den vorangegangenen Zitaten: StaatsAAug. Hochstift Augsburg: NA, Akt 835. Journal über die inquisitions-ackten gegen die Geringische familie wegen verdächtigen mords.
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gründete vor allem auch auf dem Umstand, daß die ermittelnde habsburgische Herrschaft sowohl die Interessen des Judenschutzes als Reichsbehörde als auch des örtlichen Hochgerichts als Landesbehörde (Markgrafschaft Burgau) vertrat.
Wirtschaftliches und handelspolitisches Umfeld Die hochstiftischen und domkapitelischen Judenakten mit sozial- und wirtschaftshistorischer Aussagekraft für alle Pfleg- und Obervogtämter - also der Land- und Unterbehörden des größten geistlichen Doppelterritoriums in Ostschwaben - sind überwiegend Ausfluß eines fürstbischöflichen Mandats vom 30. Oktober 1693.29 In diesem Mandat leitete der noch sehr junge geistliche Landesherr, Pfalzgraf Alexander Sigmund von Pfalz-Neuburg (1690-1737) auf Anraten der Dillinger Hofkammer 30 eine neue Judenpolitik unter polizeistaatlichen merkantilen Gesichtspunkten ein. Erstmals legalisierte ein zentralörtlicher Gesetzesakt den Handel hochstiftischer Gerichts- und Grunduntertanen mit der schwäbischen Judenschaft, wenn verfügt wurde, daß künftig alle juden-handlungen so zwischen unnseren underthannen unnd dessen juden umb waß sachen es seye [...] unnd über 2ß antreffen, vor ambt angezaigt unndprothocolliert werden mußten.31 Der hochstiftische Landesherr ließ diese Regelung auch im Territorialbereich seiner landsässigen Klöster und Stifte einführen und kontrollierte insbesondere dort deren Einhaltung. So ermahnte er 1735 den Fultenbacher Abt Michael (17231765), daß künftig alle nicht protokollierten Kontrakte so in die Handlung kommen, es seye geldt oder gelts werth, für verfallen gehalten und confisciert werden sollen. Eine Ausnahmeregelung hatte nur für den Besuch der Fultenbacher Jahrund Wochenmärkte Gültigkeit.32 Merkantile Gesichtspunkte dieser neuartigen Besteuerung der Judenschaft zeigten sich auch bei der Forderung nach einer grossen schreibtax33 für die Zwangsprotokollierung. 29 30
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Die Edition der hochstiftischen und domkapitlischen Mandate steht noch aus. Vgl. Wolfgang Wüst: Die Hofkammer der Fürstbischöfe von Augsburg. Ein Beitrag zum Verwaltungs- und Regierungsstil geistlicher Staaten im 18. Jahrhundert. In: ZBLG 50. 1987. S. 543-569. StaatsAAug. Augsburger Pflegämter: Nr. 44. Judenprotokoll des Pflegamts Schönegg mit beigehefteten Fürstenschreiben vom 20. Januar 1697, in dem auf das Mandat von 1693 Bezug genommen wird. StaatsAAug. Kloster Fultenbach: Akt 73. Mandat vom 28. Juli 1735. Handschriftliche Exemplare bischöflicher Kanzleisteuerordnungen liegen bereits in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts vor, während gedruckte Taxordnungen für das Domkapitel seit 1772 und für das Hochstift Augsburg mit spezieller Berücksichtigung der Residenzstadt Dil-
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Der regierende Fürstbischof minderte jene Protokollgebühr für Schuldforderungskontrakte zwischen Juden und Christen erst, nachdem die Judenschaft gegen das hochstiftische prothocollgelt wider altes herkommen vor den Reichsgerichten Klage erhoben hatte.34 Künftig berichteten insbesondere die Pfleger, an deren Sprengel landständische Territorien mit einer eigenen jüdischen Population grenzten, von Übertretungen der Protokollierungspflicht, wobei im Unterlassungsfall die Konfiskation der jeweiligen Vertragssumme oder des Vertragsgegenstandes vorgeschrieben war. So zeigte der Schönegger Pfleger 1701 z.B. folgenden Fall an: Wann dann vor 4 wochen Michael Miller, pader alhir zue Schönegg, mit Abrahamb Land[a.uer], juden von Hirben [=Hürben], im wirthshauß zue Closterbeyren [ = Klosterbeuren], ross getauscht. Der bader dem Juden 20 fl [...] versprochen; die handlung aber weder bey hießigen ambt noch im closter angezaigt [noch] weniger prothocollirt worden [ist] .35 Trotz dieses allgemeinen Vollzugs der Protokollierungspflicht wurden offenbar bei weitem nicht in allen Kanzleien des Domkapitels und des Hochstifts eigene Judenprotokolle geführt. Überliefert sind selbständig geführte Protokollierungen dieses Inhalts für das domkapitelische Territorium nur im Pflegamt Dinkelscherben36 und im Propstamt Großaitingen, 37 während in anderen Orten christliche und jüdische Protokolleinträge in chronologisch vermengter Reihenfolge zusammengeführt wurden. Unterhalb der Ebene der Pflegämter wurden Judenbriefprotokolle aber auch von den domkapitelischen Vogtämtern geführt. Besonders interessant sind hierbei die von 1696 bis 1779 aufgezeichneten, von Michael Piller ausgewerteten Handelsquellen für das kleine domkapitelische Vogtamt Breitenbronn, dem der Grundund Lehensbesitz der Dompropstei in dem Judenort Fischach zugeordnet war. Für das Hochstift sind entsprechende Protokolle nur im Pflegamt Schönegg38 und in der Vogtei Gremheim (Landkreis Dillingen)39 geführt worden, wobei Gremheim jedoch zeitweise administrativ dem Pfleger zu Schönegg unterstellt blieb. Grem-
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iingen u.a. seit 1792 kursierten. Vgl. StaatsAAug. Hochstift Augsburg: MüB. Lit. 1045; Wolfgang Wüst: Eine Taxordnung für die Stadt Dillingen vom 3. Dezember 1790. In: Jahrbuch des Vereins für Augsburger Bistumsgeschichte 20. 1986. S. 264-288. StaatsAAug. Augsburger Pflegämter: Nr. 44. Schreiben vom 28. September 1697. StaatsAAug. Augsburger Pflegämter: Nr. 44. Schreiben vom 16. März 1701. StaatsAAug. Augsburger Pflegämter: Nr. 1287. Judenprotokoll 1773-1780; vgl. zur allgemeinen Entwicklung Walter Pötzl: Geschichte und Volkskunde des Marktes Dinkelscherben. Von den Anfängen bis zum Beginn des 19. Jahrhunderts. Dinkelscherben 1987. StaatsAAug. Augsburger Pflegämter: Nr. 1050, 1051. Judenprotokolle 1601-1612. StaatsAAug. Augsburger Pflegämter: Nr. 44. Judenprotokolle 1693-1779. StaatsAAug. Augsburger Pflegämter: Nr. 55. Judenprotokolle 1753-1781.
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heim spielte überdies im Hochstift eine konfessionelle Sonderrolle, da dort das Fürstentum Pfalz-Neuburg im 16. Jahrhundert trotz der Präsenz eines bischöflichen Vogts die Reformation eingeführt hatte. Nach der Konversion des neuburgischen Pfalzgrafen Wolfgang Wilhelm zum katholischen Glauben 1613 sah sich dann der hochstiftische Vogt zu Gremheim sowohl mit kryptoprotestantischen als auch mit semitisch-abrahamitischen Strömungen konfrontiert. Auffallend ist, daß außerhalb der genannten Amter keine gesonderten Judenprotokolle geführt wurden, obwohl gerade die in der Markgrafschaft Burgau liegenden geistlichen Amtssprengel wie Aislingen, das Rentamt zu Augsburg, Bobingen, Rieden an der Kötz, Weisingen oder Zusmarshausen mit ihrer geographischen Nähe zu traditionsreichen Judensiedlungen naturgemäß christlich-jüdische Kontakte pflegten. Im südlich gelegenen Teil des Hochstifts bestanden Handelsbeziehungen zwischen den Pflegen Oberdorf (Marktoberdorf), Füssen und Sonthofen vermutlich in erster Linie zur jüdischen Finanzschicht in den oberdeutschen Reichsstädten Kempten, Lindau und Memmingen vor den dortigen Exilationen. 40 In diesen Pflegen hatten zwar Kardinal Otto Truchseß von Waldburg und das Augsburger Domkapitel 1543 fast zeitgleich mit den Judenfreiheiten in den Reichsstädten Memmingen (1541) und Kaufbeuren (1550) das Privileg erhalten, daß die stiftischen Untertanen künftig mit Juden weder gegen Pfand noch gegen Güterversetzung Finanzgeschäfte abschließen durften. 41 Doch schon 1568 bemühte sich das bischöfliche Hauskloster St. Mang zu Füssen bei der Dillinger Landesregierung zunächst vergeblich um die Rückzahlung einer vom Kloster für hochstiftische Judenschulden übernommenen Bürgerschaft - ein Ansinnen, das zur Absetzung des benediktinischen Klosteradministrators David Aicheier führte. 42 Die jüdische Händlerschaft versuchte in den mittel- und nordschwäbischen Besitzungen des Hochstifts, nach Einschätzung des hochstiftischen Kanzlers Joseph Xaver Epplen von Härtenstein, 43 wiederholt über Gantverfahren oder direkte Käufe, Liegenschaften und Anwesen zu erwerben. Dabei folgte die Judenschaft dem Beispiel anderer Territorien, in denen ihr Aufkäufe mit der Bedingung des anschließenden Wiederverkaufs an nicht-jüdische Personen vorübergehend gestattet wurden. Die soziale Situation der kleinbäuerlichen Hintersassenschaft bot hierzu in allen Pflegämtern Anlaß; konkrete Angebote sind uns aber nur aus der Zusmarshausener Pflege überliefert.
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Vgl. zu den heute noch sichtbaren baulichen Hinterlassenschaften jüdischen Lebens in diesen beiden Reichsstädten: Israel Schwierz: Steinerne Zeugnisse jüdischen Lebens in Bayern. Eine Dokumentation. München 1988. S. 250f., 253f.
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Franz Ludwig Baumann: Geschichte des Allgäus. Kempten 1894. Bd. 3. S. 543. Zoepfl (Anm. 17) S. 607f. StaatsAAug. Hochstift Augsburg: NA. Akten 761. Mandatsentwurf vom 25.12.1794.
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1794 versuchte der Streitheimer Bauer (Pflege Zusmarshausen) Bernhard Loyer, der damals dermassen mit schulden überhäuft ist, daß er ohne glücklichen verkauf seines hofs sich und seine 9 kinder nicht mehr zu retten44 vermochte, seinen leibfälligen Hof für 9.500 fl. an jüdische Immobilienhändler zu verkaufen. Der Dillinger Hofrat reagierte sofort mit einem landesweit gültigen Generalmandat: Da man sich aber von dieser nur schaden und verderben des unterthanen, so wie manch andere unordnung beförderender meklerey aus nachbarschafts beispielen und mehr übrigen sach bezielenden ruksichten, vollkommen überzeugt hält; so wird anmit verfügt, daß die Juden vom ankauf jeder gattung unbeweglicher guter im fürstl. hochstift Augsburg vollkommen ausgeschlossen sein sollen.*5 Fürstenstaat und Gemeindeverband zogen dabei an einem Strang, denn auch die Gemeinde Streitheim erwartete Gewinne durch die Zertrümmerung überschuldeter größerer gutsherrlicher Komplexe und setzte der jüdischen Händlerschaft ein fast ebenbürtiges Angebot entgegen. Fiskalische und landeshoheitliche Argumente bestimmten letztlich das negative Votum des Hofrats, der jegliche Güterzertrümmerung ablehnte, besonders wenn sie zweileibfällig seynd [...] zumal die darauf haftenden gülten und gefalle durch so starke vertheilung in der Zeitfolge oft der verlustsgefahr ausgesetzt werden und selbst die leibfelligkeit ausser augenmerk zu kommen pflegt,46 1795 wurde aus dem Pflegamt Zusmarshausen erneut ein Gesuch um Güterverkäufe über die burgauische Judenschaft gestellt. Diesmal trat der Zusmarshausener Wirt zum Mondschein an den Hofrat mit der Absicht heran, nur einen Teil seines Besitzes an Juden zu veräußern. In einem keineswegs einmütigen Votum wurde aber dieser letzte Versuch vor der Säkularisation des Hochstifts, Liegenschaften an Andersgläubige zu verkaufen, im Hofrat zu Fall gebracht. Der Grundsatz, daß es ja in unbeschränkter macht des Supplikanten [stehe], die walzenden güter willkürlich - nur nie an juden - zu verkaufen, ließ sich am Ende des Ancien Regime vor allem in territorialstaatlich gemischten Ortschaften des Hochstifts immer unwirksamer vertreten.
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Rolf Kießling: Der Markt Zusmarshausen im Mittelalter und in der Frühen Neuzeit. In: Zusmarshausen. Markt, Pflegamt, Landgericht und Bezirksamt. Hg. von Walter Pötzl. Zusmarshausen 1992. S. 44-90, hier S. 76f.; StaatsAAug. Hochstift Augsburg: NA. Akten 761. Entwurf des Hofrats Joseph Heinrich von Epplen vom 25.11.1794, der noch im gleichen Jahr in ein fiirstbischöfliches Mandat Eingang fand. Vgl. StaatsAAug. Hochstift Augsburg: NA. Akten 761. StaatsAAug. Hochstift Augsburg: NA. Akten 761. Votum vom 22. November 1794.
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Die Hoffaktoren Innerhalb der hochstiftisch-domkapitelischen Ämterlaufbahn wäre der Einfluß jüdischer, unter Umständen nobilitierter Finanzkreise47 am ehesten im Bereich der fürstbischöflichen Hofkammer vorstellbar gewesen. Soweit jedoch der Personalschematismus dieser in Dillingen und Augsburg angesiedelten Fachbehörde archivalisch faßbar ist, folgten die Fürstbischöfe nicht dem Beispiel anderer Territorialstaaten bei der Berufung ihrer Hofkammerpräsidenten und -direktoren bzw. Hoffaktoren. So standen am Ende des Alten Reiches, z.B. im Hofdienst der Markgrafschaft Baden (Residenz Karlsruhe), die jüdischen Financiers Oppenheimer, Seligmann, Baer, Levi und Model, die als Hoffaktoren bzw. Agenten inner- und außerhalb der Residenzstadt agierten.48 Jüdische Hoffaktoren nahmen auch in den Residenzen der näheren geographischen Umgebung wie in Oettingen oder Wallerstein einflußreiche Positionen wahr. 49 Die Leitung der hochstiftisch-augsburgischen Hofkammer 50 lag dagegen zu dieser Zeit in Händen der freiherrlichen Familien von Hornstein51 und von St. Vincent[z], deren Vorfahren einem gänzlich anderen Kulturkreis zuzuordnen sind. So entstammten ihren Familien zahlreiche Dignitäre in den Domkapiteln zu Augsburg und Chur. Für die Augsburger und Dillinger Hofversorgung spielten jedoch
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Der ständische Aufstieg in den Adel für getaufte Hoffaktoren war bereits in der Zeit vor der rechtlichen Judenemanzipation des 19. Jahrhunderts möglich. Zu dieser Gruppe sind u.a. die Edlen von Ahrenfeld (nobilitiert 1787), die Edlen von Hönigstein/von Hönigshof (1784) oder die Edlen von Sonnenfels (1746) zu zählen. Weitere Beispiele bei: Heinrich Schnee: Hoffaktoren an süddeutschen Fürstenhöfen nebst Studien zur Geschichte des Hoffaktorentums in Deutschland. Berlin 1963 (Die Hoffinanz und der moderne Staat. Geschichte und System der Hoffaktoren an deutschen Fürstenhöfen im Zeitalter des Absolutismus. Bd. 4). S. 311-345. Staats- und Addreßhandbuch des Schwäbischen Reichskraises auf das Ja[h]r 1799. Bd. 1. Ulm 1799. S. 323f. In der Grafschaft Oettingen agierten die Hoijuden Hirsch Neumark und Daniel Oppenheimer, der durch einen gescheiterten Prozeß bekannt wurde. Nachdem er 1672 der wittelsbachischen Residenz zu Heidelberg verwiesen worden war, berief ihn Graf Albrecht von Oettingen als Münzjuden in seine Dienste, bis ihm dort nach fünfzehn Jahren ebenfalls der Prozeß gemacht wurde. In der Residenz Wallerstein blieben bis zu Beginn des 19. Jahrhunderts ebenfalls jüdische Faktoren tätig, wobei der letzte Hoffaktor Jakob Lippmann Hechinger sogar den Titel eines Landparnasses beantragte. Vgl. hierzu: Louis Dürrwanger: Der kurbayerische Hoffaktor Abraham Mendle aus Kriegshaber. In: ZHVSN 49. 1933. S. 163-167; Claudia Prestel: Jüdische Hoffaktoren in Bayern. In: Geschichte und Kultur der Juden in Bayern. Aufsätze. Hg. von Manfred Treml, Josef Kirmeier. München 1988 (Veröffentlichungen zur bayerischen Geschichte und Kultur 17/88). S. 199-207. W. Wüst (Anm. 30) S. 550. Vgl. zur Familiengeschichte: Eduard Freiherr von Hornstein: Die Freiherren von Hornstein und Hertenstein. Konstanz 1911.
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jüdische Hoffaktoren keine unbedeutende Rolle, wenngleich einzelne Familien keine Monopolstellungen wie am benachbarten kurbayerischen Hof erhalten sollten. Die Lieferungen (insbesondere Pferde, Uniformen und Livreen) gingen in erster Linie in das Hofmarschall-, Hofmeister- und Stallmeisteramt. Die Fürstbischöfe beauftragten, soweit Nachweise über die Hofzahlamtsrechnungen möglich sind, 52 jüdische Händler aus Pfersee und Kriegshaber, die auch den Münchener Hof belieferten und zu denen Josef Mändle, Lazarus Neuburger, Low Simon Ulimann und die Gebrüder Landauer (Isaac Moses und Mayr Landau) zählten. 1729 erhielt Josef Mändle aus Kriegshaber 1.400 fl. für acht dänische Stiletten, 1739/40 zahlte das Hofzahlamt 5.190 fl. 40 kr. an die Hoffaktoren Landauer für 5 stuekh blew mourant damast, sambt 3 stuekh gelben vnd 5 stuekh blauen daffet [Taft], 412 stuekh spalier silber [...], 40 stuekh tuecher zur campagne livree, sambt darzue gehörig untetfuetter, wie auch denen braith- vndt sammeten bortten vndt 256 1/2 eilen Wollstoffe im Farbton blew mourant.53 In den Jahren 17661768 lieferte Low Simon Ulimann aus Pfersee Hoflivreen (campagne livree u.a.) im Wert von über 40.603 fl., wobei seitens des Hochstifts für die Zwischenfinanzierung das Augsburger Bankhaus Obwexer beauftragt wurde. Der Anteil der Zahlungen an jüdische Hoffaktoren erreichte im Rechnungsjahr 1767/68 mit über 30.234 fl. bzw. 18,3 % der gesamten Hofzahlamtsausgaben (165.247 fl. 5 kr. 7 1/2 hl.) seinen Höhepunkt. 54 In anderen Jahren spielten aber finanzielle Transaktionen mit Juden mit weniger als fünf Prozent 55 des höfischen Ausgabeetats keine übergeordnete Rolle. Inwieweit der fürstbischöfliche Hof zu Dillingen und Augsburg im Umgang mit jüdischen Händlern innerhalb der Suevia Sacra eine Sonderrolle einnahm, ließe sich nur nach einer Untersuchung der Hofhaltung im Fürststift Kempten 56 klären, denn lediglich die Fürstäbte hatten einen annähernd vergleichbaren höfischen Aufwand in der Frühen Neuzeit betrieben. Die territoriale und finanzielle Grundlage der übrigen ostschwäbischen Reichsstifte war dagegen zu klein, als daß sie einen direkten Vergleich zuließe. Die Position hochstiftisch-augsburgischer Hoffaktoren 52
Fürstbischöfliche Hofkammer- und Hofzahlamtsrechnungen sind für folgende Jahrgänge überliefert: StaatsAAug. Augsburger Pflegämter: Nr. 2061 (1729/30), 2062 (1739/40), 2063 (1749/50), 2064 (1759/60), 2065 (1764/65), 2066 (1765/66), 2067 (1767/68), 2068 (1768/69), 2069 (1769), 2070 (1770), 2071 (1771), 2072 (1772), 2073 (1773), 2074 (1774), 2075 (1776), 2076 (1777), 2077 (1778), 2078 (1779), 2079 (1780), 2080 (1792/93), 2081 (1793/94), 2082 (1794/95), 2083 (1795/96), 2084 (1796/97), 2085 (1797) und 2086 (1797/98).
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StaatsAAug. Augsburger Pflegämter: Nr. 2062, S. 206. StaatsAAug. Augsburger Pflegämter: Nr. 2067, S. 108,109,185. Zum Beispiel im Rechnungsjahr 1739/40: 4,29% (5.190 fl. 40 kr. bei Gesamtausgaben von 120.922 fl. 1 kr.). Vgl. hierzu: Volker Dotterweich: Das Fürststift und die katholische Reform der Barockzeit. In: Geschichte der Stadt Kempten. Hg. von V. Dotterweich u.a. Kempten 1989. S. 257-273.
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wurde aber im Gegensatz zu vielen weltlichen Territorialstaaten nie in den landesfürstlichen Diener- und Besoldungsbüchern festgeschrieben. Zu einer Bankengründung im Bereich der Residenz, wie sie andernorts unter jüdischer Mitwirkung erfolgt war, kam es angesichts der reichsstädtischen Konkurrenz57 im Hochstift ebenfalls nicht. Neben der Bischofspfalz spielten aber auch die zahlreichen Augsburger Domherrenhöfe, die Residenzen der Domdignitäre, das hochstiftische Rentamt und die Stadthöfe schwäbischer Klöster und Stifte eine nicht unbedeutende Rolle als Auftraggeber für das schwäbische Landjudentum und die etablierten jüdischen Hoffaktoren. Die Tagesregister der an den reichsstädtischen Toren einpassierenden Juden geben darüber exakten Aufschluß. So deklarierte z.B. am 13. März 1741 Low Simon Ulmann von Pfersee Waren für den Oberschönenfelder Hof und die Bischofspfalz und Moses Neuburger aus Kriegshaber passierte die Stadttore ausschließlich für Domherrn Freiherrn von Rodt im Spenglergäßchen, wobei bei ihm der Torwächter eigens bescheinigte: nach hof [Bischofsresidenz] ist er keinen tritt gekommen.58 Blieb auch das Reichsvikariat59 in der Stadt die meist genannte Anlaufsstelle der meist aus Pfersee und Kriegshaber kommenden Juden, so hielten sich Handelsjuden allein in einem Untersuchungsmonat (13.3. - 19.4.1741) zehnmal in der Bischofsresidenz, fünfmal im dortigen Rentamt, dreimal in der Domdekanei, einmal in der Propstei und einmal im Pfaffenkeller bei St. Barbara, einer Brauereigaststätte, in der nur die bischöfliche und geistliche Hofdiener- bzw. Beamtenschaft verkehrte, sechsmal in Domherrenhöfen innerhalb der Domimmunität, einmal im Stadthof des Zisterzienserinnenklosters Oberschönenfeld und viermal in nicht näher genannten auswärtigen Agenden. 60 Die Dunkelziffer geistlich-jüdischer Kontakte in Augsburg dürfte allerdings höher gewesen sein als die offiziellen Angaben, denn ein Augsburger Torwächter bemerkte am 19.4.1741 sicherlich in Zusammenhang mit dem Stadtbesuch Hertz Ulmanns aus Pfersee nicht untypisch: der soldat beschwehret sich, daß da der jud diese 3 [angemeldeten] gäng gar leicht in einer halben stund hätt machen können, er doch den ganzen tag mit 57
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Vgl. Peter Fassl: Konfession, Wirtschaft und Politik. Von der Reichsstadt zur Industriestadt. Augsburg 1750-1850. Sigmaringen 1988 (Abhandlungen zur Geschichte der Stadt Augsburg 32). S. 123-136. StadtAAug. Reichsstadt: Judenakten. In genere. Register vom 13. März 1741. In der Mehrzahl handelte es sich wahrscheinlich um rechtliche Sondierungen, die dann in Einzelfällen vor dem Reichskammergericht oder dem Reichshofrat letztinstanzlich entschieden wurden. Vgl. hierzu neuerdings: Wolfgang Wüst: Kurbayern und seine westlichen Nachbarn. Reichsstadt und Hochstift Augsburg im Spiegel der diplomatischen Korrespondenz. In: ZBLG 55. 1992. S. 255-278.
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ihm in der statt [habe] herum lauffen müssen, ohne daß er die mindeste Verrichtung gehabt, ihm conductori auch kein Ir. [lucrum?] gegeben.61 Angesichts der hohen Besteuerung der innerstädtischen Handelskontakte, würden Bestechungsgelder für die reichsstädtische Wachgarde in Einzelfallen sicherlich nicht überraschen.
2. Die Situation in den bischöflichen Mediatklöstern Die Augsburger Bischöfe nahmen in einer Reihe ostschwäbischer Klöster und Stifte landeshoheitliche Funktionen wahr, die die Frage aufwerfen, ob die hochstiftische Judenpolitik grundsätzlich auch auf dieses Herrschaftsfeld übertragen werden darf. Das Verhältnis dieser landsässigen Institutionen zur ostschwäbischen Judenschaft interessiert um so mehr, da ein großer Teil dieser Klosterstaatlichkeit in der näheren Umgebung traditionsreicher Judenorte lag. Hierzu zählten vor allem die in der Markgrafschaft Burgau situierten Klöster Holzen, Fultenbach und Oberschönenfeld bzw. Hl. Kreuz zu Donauwörth, das nur knapp außerhalb der habsburgischen Territorialansprüche lag. Ähnliches wird man cum grano salis für die unter oettingen-wallersteinischer Hoheit stehenden Klöster Anhausen (Diözese Eichstätt), Christgarten, Kleinerdlingen, Kirchheim, Maihingen, Mönchsdeggingen und Zimmern feststellen dürfen. 62 Schließlich hatten die Bischöfe mit den beiden Dominikanerinnenklöstern Maria Mödingen und Obermediingen zwei weitere mediate Positionen in der Nähe der in den oettingen-wallersteinischen Grafschaften liegenden Judenansiedlungen zu kontrollieren. In den bischöflichen Mediatklöstern mußten demnach die Beschlüsse der sogenannten Judenprivilegierung von 1543 und die Protokollierungspflicht für jegliche Vertragsform mit Juden von 1693 umgesetzt werden. So führte das Kloster Oberschönenfeld nach dem Muster hochstiftischer Pflegen ein Judenprotokoll, in das allerdings auch die wechselseitigen Taxgebühren eingetragen wurden. Dort wird die Abhängigkeit der Hintersassenschaft von der Fischacher Judenschaft deutlich. Zeitweise saturierten sogar einzelne jüdische Händler den örtlichen Markt, wenn z.B. Abraham Elias aus Fischach 1781 mit Hintersassen der Oberschönenfelder Grundherrschaft aus den Orten Gesseltshausen, Wollishausen und Wollmetshofen Kaufverträge in Höhe von 132 Gulden und beachtlichen Naturalleistungen (Holz, Roggen, Gerste) abschloß. Dabei mußten
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StadtAAug. Reichsstadt: Judenakten. In genere. Tagesregister vom 19. April 1741. Pankraz Fried: Zur Ausbildung der reichsunmittelbaren Klosterstaatlichkeit. In: ZWLG 65. 1982. S. 4 1 8 - 4 3 5 , hier S. 423.
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die Geldzahlungen im Gegensatz zur hochstiftischen Praxis innerhalb von vier Wochen abgewickelt sein, da den Klosteruntertanen nur solange ein Rücktrittsrecht bei Vertragsbruch (Der judt stehet auf 4 wochen auf die gewöhnlichen 4 hauptmangel gueth,)63 möglich war. Die Klosterherrschaft unterstützte demnach auch die marktbeherrschende Position gut beleumundeter Juden, denn die Fischacher Handelskonkurrenz kam in der Regel in der Kanzlei des Oberschönenfelder Klosterpflegers nur in Marginalverträgen zum Zug. So verkaufte der Fischacher Jude Simon Isaac dem Bauern Melchior Zott 1781 ein blindes balachen pferdt für sechs Gulden, ein Metzen Gerste und ein Klafter Brennholz, wofür keiner dem andern vor etwas gueth gestanden,64 Dagegen gönnte man im gleichen Rechnungsjahr Abraham Elias einen Vertragsabschluß mit derselben Person über 18 Gulden und mit anderen Grundholden über 30 Gulden. Im Judenprotokoll des Benediktinerklosters Fultenbach tritt dagegen eine Marktabhängigkeit von Binswangen deutlich hervor. 65 Sie stand im Gegensatz zur Argumentation des Abts im Vorfeld des Fultenbacher Judenprivilegs von 1594, wenn dort behauptet wurde, daß die Juden aus Binswangen, Burgau, Buttenwiesen, Emersacker, Günzburg, Ichenhausen und Neuburg an der Kammel, so alle vmb vnd nit fahrer von Fultenbach gelegen, den Klosterstaat wirtschaftlich kontrollierten. Sie hätten so tags, so nachts, bevorab hin und wider auf den jar- vnd wochenmärkhten nach, hinderganngen die armen ainfeltigen paursleut vnd bringen sy mit irem betruegerlichen geschwez vnd geschwinden lüstigen praktiken dahin, das der wenigste Heller, so sy haben, nit inen, sonder den boßhafftigen verßuechten juden zuestendig ist.66 Kann man für die kleinräumigen geistlichen Staaten67 in der Markgrafschaft Burgau generell eine weitgehende Abhängigkeit von einem Judenort feststellen, so tritt uns am Benediktinerkloster Fultenbach ein zweites Wesenskonstitutivum im Umgang mit der Judenschaft gegenüber. Da eigene Steuereinnahmen mit Ausnahme der Vertragstaxationen fehlten, schöpfte man den nieder- bzw. hochgerichtlichen Rahmen gegen durchziehende Juden in seiner monetären Wirkung voll
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StaatsAAug. Kloster Oberschönenfeld: Lit. 41. Eintrag vom 8. Januar 1781. StaatsAAug. Kloster Oberschönenfeld: Lit. 41. Eintrag vom 6. August 1781. Vgl. außerdem zur Fischacher Judengemeinde: Michel Piller: Fischach. Geschichte einer mittelschwäbischen Marktgemeinde. Weißenhorn 1981. StaatsAAug. Kloster Fultenbach: Akten 73. StaatsAAug. Kloster Fultenbach: Akten 73. Privilegierung vom 10. Oktober 1594. Hans Eberlein: Das Kloster Oberschönenfeld in seiner Bedeutung als Grundherrschaft und Kulturträger. Augsburg 1961; vgl. zur Typologie geistlicher Staaten: Peter Wende: Die geistlichen Staaten und ihre Auflösung im Urteil der zeitgenössischen Publizistik. Lübeck, Hamburg 1966 (Historische Studien 396).
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aus. So bezichtigte das Kloster Fultenbach in einem nicht außergewöhnlichen Gerichtsverfahren den Binswanger Schutzjuden Lewle Levi/Lefi 1739 eines im Ort Hennhofen begangenen Delikts, das die Konfiskation der Barschaft und die Einforderung hoher Strafsummen rechtfertigte. Dabei mußte der Abt die Intervention der burgauischen Herrschaft (Hochgericht) in Kauf nehmen, die in ihrer Oberamtskanzlei ratione attentatae deflorationis einen Akt anlegen ließ, der den Vermerk trägt: Dießer leidige Vorfall hat zu einer langwührigen strittigkeit mit hochlöbl. oberamte [zu Burgau] anlaß gegeben.68 Die Bemühungen der Ortsherrschaft zu Binswangen - der Ort unterstand von 1677 bis 1769 der Gerichtsherrschaft der Herren von Knöringen unter der Lehenshoheit des Fürststifts Kempten 69 -, unter Rückgriff auf das Reichsrecht die Überstellung Levis zu erzwingen, fruchteten nicht. Sprach der Binswanger Vogt von einer ungerechtfertigten Arretierung, der behörige messures seiner Herrschaft gegen Fultenbach folgen würden, so erregte sich sein Fultenbacher Widerpart [...] auch einzucassieren [sei ihm von der Herrschaft] zugedacht, und wäre eines beambten sein ambtl. delivet [Erwägung] schlecht, wan [man] einen so insolenten und massiven judten10 mit keinem arrest belegen dürfte.71 Die Strafgeldzumessung, die bei der Auslösung durch seinen Bruder Heyumb Levi schließlich hinterlegt werden mußte, richtete sich ganz nach der Barschaft des Inhaftierten, 72 so daß in diesem Fall von einer unter merkantilen Gesichtspunkten geführten Gerichtspraxis auszugehen ist. Von den insgesamt fast 87 Gulden Straf- und Verhörgeldern, sollte die betroffene Magd vor abgenommene ehren mit 7 fl. 30 kr. freilich nur einen Bruchteil erhalten. Als erstaunlich darf auch der Informationstransfer zwischen Hochstift Augsburg und den bischöflichen Mediatklöstern in Angelegenheiten mit jüdischen Händlern gelten. Als ein Fultenbacher Bauer zu Ellerbach 1790 von dem Binswanger Pferdehändler Jakob Low einen braunen Wallach aus Altdorf in der Allgäuer Pflege (Markt-)Oberdorf ankaufte, wurden durch das entfernt gelegene hochstiftische Pflegamt Oberdorf die Verkaufsangaben des Binswanger Juden überprüft. So sagte der Altdorfer Wirt unter Eid in Oberdorf aus, daß er ein gutes pferd, aber 9 jähr alt wäre, in Kempten am jahrmarkt an einen, deponirten wie
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StaatsAAug. Kloster Fultenbach: Akt 131. Klaus Fehn: Wertingen. München 1967 (Historischer Atlas von Bayern, Teil Schwaben 1/3). S. 27f. Danach gestrichen: dessen hoche principalen jedterzeit zu respectiren gedenckhet. StaatsAAug. Kloster Fultenbach: Akt 131. Bei Lewle Levi fanden sich folgende Barschaften und Sachwerte: ausbezahlte Raten aus älteren Kaufverträgen (57 fl. 15 kr.), Schuldgelder aus Hennhofen (19 fl. 38 kr.), Tuchware (5 fl. 20 kr.) und Tierfelle (13 fl. 30 kr.). Der Gesamtwert belief sich somit auf 95 Gulden und 43 Kreuzer.
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dessen söhn, unbekannten Juden vor 84 fl. verkauft hatte. Der geschäftstüchtige Jakob Low aber hatte den Hengst um drei Jahre verjüngt. 73
3. Die Reichsstifte Das Reichsstift Wettenhausen erhielt wie andere Land- und Reichsstände in der Markgrafschaft Burgau von Karl V. Mitte des 16. Jahrhunderts das Privileg zugesprochen, daß kein jud oder jüdin auf deß gottshauß unterthanen ligende güetter, wie die nammen haben, uff keinerley contract kauffen oder tauschen oder handien sollen.1* Die Reichsgesetzgebung vollzog dabei nur Schritte, die sich in der Markgrafschaft Burgau bereits in der Judenordnung von 1534 und in der stiftischen Legislative in der Wettenhausener Polizeiordnung von 1525 angekündigt hatten. Die Privilegierung Wettenhausens durch Kaiser Karl V. im Jahr 1555 enthält keine regionalen Spezifika im Gegensatz zu einer verschärften Regelung unter Kaiser Rudolf II. 1577 für Konvent und Propst Hieronymus von Roth, 75 die auch die beweglichen oder fahrenden Güter einschloß und die Eingang fand in die Formulierungen herrschaftlicher Lehens- und Bestandsverträge. So rezipierte ein Bestandsbrief schon 1578 anläßlich der Belehnung der Taferne im wettenhausischen Amtsort Kemnat das rudolfinische Privileg.76 Obwohl die Privilegien von 1555 und 1577 zahlreiche spätere Konfirmierungen erfuhren, 77 konnte der innerstiftische Handel mit Juden nie vollständig unterbunden werden, ja es wurde vor 1740 - seit dieser Zeit sind die wettenhausischen Judenprotokolle überliefert78 - der jüdisch-christliche Handel seitens der Territorialherrschaft schließlich legalisiert. Dabei entwickelte sich eine eindeutige Dominanz im Marktgeschehen durch die Ichenhausener Judengemeinde, der für das Stiftsgebiet spätestens seit 1617 eine Monopolstellung zukam, die erst durch den Herrschaftsanfall Hürbens bei Krumbach in den Jahren 1759-1767 gebrochen wurde. Alle Verträge mit der Ichenhausener Judenschaft mußten aber innerhalb von 14 Tagen dem Oberamt in Wettenhausen angezeigt werden, wobei die Vertrags73
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StaatsAAug. Kloster Fultenbach: Akten 73. Schreiben des Oberdorfer Pflegamtsverwalters von Schaden an das Kloster Fultenbach vom 13. Juli 1790. StaatsAAug. Kloster Wettenhausen: Lit. 103. Judenprivilegierung vom 1. März 1555. Vgl. zur Bedeutung der Pröpste für den grund- und gerichtsherrlichen Ausbau der Wettenhauser Stiftsherrschaft: Wolfgang Wüst: Das Reichsstift Wettenhausen. In: Kloster Wettenhausen. Weißenhorn 1983 (Günzburger Hefte 19). S. 29-44. Franz Mayer: Geschichtsbilder vom ehemaligen Reichsgotteshaus Wettenhausen. Illertissen 1928. S. 186. So in den Jahren 1582, 1627, 1654, 1679, 1712 und 1759. StaatsAAug. Kloster Wettenhausen: Lit. 103.
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summe in der Polizeiordnung von 1788 auf zwölf und mehr Gulden festgelegt worden war. 79 Eine Negierung dieser Bestimmungen wurde aber im Gegensatz zu Hochstift und Domkapitel nicht mit der Konfiskation des Vertragsgegenstands, sondern bis zur Säkularisation lediglich durch geringere Geldstrafen80 geahndet. Auch dominierten z.B. für das Jahr 1740 in den Orten Ettenbeuren, Goldbach, Hammerstetten, Kemnat, Schönenberg und Wettenhausen - somit in einem topographisch sehr differenzierten Gebiet - in den Verbriefungsprotokollen keine marktbeherrschenden jüdischen Viehhändler. In diesem Punkt hob sich die Situation in Wettenhausen und den anderen Reichsstiften von den bischöflichen Mediatklöstern ab. Die Herrschaft bediente sich außerdem, im Gegensatz zu ihrer Hintersassenschaft, überregionaler Bezugsquellen, wenn z.B. 1764 von dem jüdischen Hoffaktor Abraham Mändle aus Kriegshaber vier Kutschpferde und ein Wallach für über 1.000 fl. geordert wurden.81 Vielleicht lag es an der differenzierten Marktsituation innerhalb des großen Ichenhausener Rabbinats (seit 1792: Oberrabbinat), verstärkt durch die örtliche Konkurrenzsituation in den Jahren der Ortsteilung82 von 1657 bis 1784, daß die stiftischen Vertragspartner öfter als im hochstiftischen und domkapitelischen Landeshoheitsbereich Vertragsmängel gegenüber der Judenschaft geltend machen konnten. So löste sich 1740 der Wirt zu Schönenberg mit Hilfe des protokollierenden Vogts aus einem Vertrag mit dem Ichenhausener Schutzjuden Abraham Großle: Nachdeme nun ihm das pferdt nicht gefallen, hatt er ein solches dem juden 3 tag nach dem khauff wider nacher Ichenhausen gebracht. Er aber ein solches nicht annemen wollen, worüber als das pferdt auf der waid gewesen, dis an den 8.,en tag alda gefallen, undt endlich gahr crepiert, bittet dahero die aigentliche beschau darüber ergehen zu lassen. Demme dan auch willfahrt worden.83 Die Herrschaft bestellte daraufhin zwei Schmiedemeister als beschauer, die einen der vertragslösenden sogenannten Hauptmängel84 (völlig herzschlechtig) konsta79
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StaatsAAug. Hochstift Augsburg: NA. Akten 766. Wettenhausische Polizeiordnung vom 4. November 1788. 1 788 beliefen sich die Strafgelder für Juden auf zehn und für Stiftsuntertanen auf drei Gulden. Vgl. StaatsAAug. Hochstift Augsburg: NA. Akten 766, § 3. F. Mayer (Anm. 65) S. 187. Heinrich Sinz: Geschichtliches vom ehemaligen Markte und der nunmehrigen Stadt Ichenhausen. 3 Bde. Ichenhausen 1926, 1928, 1930, hier: Bd. 1. S. 244; Silvester Lechner: Juden auf dem Lande - die Geschichte der Ichenhausener Juden. In: Juden auf dem Lande. Beispiel Ichenhausen. Ausstellungskatalog. Hg. vom Haus der Bayerischen Geschichte. München 1991 (Veröffentlichungen zur bayerischen Geschichte und Kultur Nr. 22). S. 18-39. StaatsAAug. Kloster Wettenhausen: Lit. 103. Eintrag vom 12. Mai 1740. Im Pferdehandel bezogen sich die Hauptmängel auf die Eigenschaften: hirnritzig, herzschlächtig, lungenfaul und grätisch/wurmig. Vgl. StaatsAAug. Kloster Wettenhausen: Lit. 104.
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tierten. Für die vier Hauptmängel im Pferde- und Viehhandel hafteten zwar auch in anderen geistlichen Territorien die Juden, doch erfahren wir nur über wettenhausische Quellen etwas über das tatsächliche Eintreten solcher Vertragsannullierungen. Das Reichsstift Wettenhausen hatte angesichts der Nähe zu Ichenhausen, das sich bis zum 18. Jahrhundert zur größten Judenansiedlung in der Markgrafschaft Burgau entwickelt hatte85 und dessen Pfarrei zudem noch von den Augustinerchorherren inkorporiert worden war, zunächst eine sehr rigorose Judenpolitik betrieben, die aber nach dem Dreißigjährigen Krieg im handelspolitischen Umfeld liberalisiert wurde. Die Sicherung des territorialen Wirtschaftsraumes sollte aber unverhofft neue Brisanz erhalten, als mit der Übernahme der Pfandherrschaft in der vorderösterreichischen Lehensherrschaft zu Krumbach in den Jahren 17591767 ein weiterer wichtiger Judenort - Hürben - sogar vorübergehend Bestandteil des stiftischen Territoriums werden sollte.86 Noch im Jahr 1756 während des Konkursverfahrens der Vorgängerherrschaft und drei Jahre vor der förmlichen Übernahme der Pfandschaft richtete der Wettenhausener Propst an den Ortspfleger eine Beschwerde, daß entgegen dem in der synagog [in Hürben] schon ehedeme publicierten kay. privilegio in hiesigen herr- und ortschafften von denen dorthigen juden die mehrere contract und handlungen mit disseithigen unterthanen nur clandestine abgemacht werden, ohne hievon das mindeste uns oder nachgesezten landämbtern anzuzeigen, weniger behörig einprotocolliren zu lassen [...].87 Die Stiftsherrschaft erhöhte daraufhin das Strafmaß für alle sogenannten winckhl contract als nicht protokollierte und versteuerte Verträge. Mit dem Antritt der Pfandherrschaft durch Propst Melchior Gast (1740-1755) ging schließlich auch das der Krumbacher Herrschaft zustehende ius recipiendi Judaeos (Judenaufnahme) an Wettenhausen über, das in der Folge dieses reichsrechtliche Privileg sehr restriktiv handhabte, zumal die Hürbener Judenschaft mit ihrer Unterstützung für die Krumbacher Marktherrschaft im Vorfeld des wettenhausischen Herrschaftsantritts eine prälatische Vorherrschaft zu verhindern versuchte.88 Das Prämonstratenserstift Ursberg hatte durch die Nähe zur Krumbacher Schranne und zum benachbarten Judenort Hürben, ähnlich wie Wettenhausen, zahlreiche wirtschaftliche Kontakte zu jüdischen Händlern. Entgegen der Krumba85 86
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S. Lechner (Anm. 82) S. 18-39. Vgl. demnächst: Wolfgang Wüst: Krumbach. Die Epoche zwischen Dreißigjährigem Krieg und dem Ende des Alten Reiches. In: Stadtgeschichte Krumbach. Vom vorderösterreichischen Markt zur bayerischen Stadt. Krumbach 1993. S. 59-118. StaatsAAug. Kloster Wettenhausen: Lit. 103. Copia des Schreibens an das Oberamt Ichenhausen et mutatis mutandis an herrnpflegern zu Krumbach etc. vom 17.8.1755/6.3.1756. W. Wüst, Krumbach (Anm. 86) S 69.
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eher Schrannenordnung wurden im dortigen Pflegamt auch jüdisch-ursbergische Transaktionen getätigt, die mitunter den Unwillen der Krumbacher Ortsherrschaft unter den Grafen von Liechtenstein (1630-1759) erregten. So ahndete der Krumbacher Pfleger 1699/1700 ein solches Vergehen mit 2 fl. 30 kr., als die Hürbener Juden Samuel Ulman und David Leb wieder villfeltig ergangenes obrigkeitliches gebott in festo dedicationis [Michaelstag und Patronatsfest der Pfarrkirche] under wehrenten gotsdienst in den markht khomen undpfert gehandelt hatten.89 Das Reichsstift Ursberg reagierte darauf, indem es in Ergänzung zur üblichen Judenprivilegierung durch die Reichsgesetzgebung ausführende Bestimmungen im Territorialrecht regelte. So sah die ursbergische Polizeiordnung von 1777, die älteres Recht fortschrieb, vor, daß alle Verträge mit Juden über 5 fl. bei Schuldverlust für den Juden und ebenso hoher Strafe für den Christen ohne Protokollierung nichtig seien. Wer aber ausser einem öffentlichen markt bey fremden obrigkeiten solche judenschulden prothocolieren lasset, hat ausser obiger geldbuß noch eine scharfe leibsstraff zu gewarten.90 Begnügten sich andere ostschwäbische Reichsstifte im Sanktionskatalog gegen Verstöße der zeitgenössischen jüdisch-christlichen Vertragsethik meist mit Konfiskationen oder Strafgeldern - also fiskalischen Instrumentarien - so tritt uns in Ursberg mit der Hochgerichtssprechung ein neues strafrechtliches Phänomen gegenüber. In Kaisheim (Zisterzienserabtei), dessen Hauptterritorium unweit der Judenorte der Grafschaften Oettingen-Oettingen und Oettingen-Wallerstein lag, und dessen südlich gelegener Splitterbesitz weit in die Markgrafschalt Burgau hineinreichte, stützten sich Judenausweisung und -diskriminierung ebenfalls auf reichsrechtliche Privilegien von 1551 bzw. 1559, die jüdische Händler nur noch zu Kaisheimer Wochen- und Jahrmärkten zuließen. Kaisheimer Mandate jüngerer Zeit grenzten diesen Grundsatz allerdings ein, so verfügte z.B. Abt Coelestin 1762, daß künftig alle juden-contract und dergleichengeding über zehn Gulden innerhalb von drei oder vier Tagen vor Amt anzuzeigen waren. Zuwiderhandlungen hatten auch für die Pfleger und Vögte des Klosterstaates finanzielle und berufliche Nachteile. Die Kaisheimer Judenmandate sollten wie bei anderen Reichsklöstern an den Synagogen der angrenzenden Judenorte bekannt gemacht werden. Über die von den jeweiligen Ortsherrschaften rückgesendeten Aushangsbestätigungen, kennen wir auch den Verbreitungsgrad der Kaisheimer Judengesetze bzw. den prätendierten geographischen Rahmen jüdisch-kaisheimischer Handelsaktivitäten. So bestätigte z.B. 1762 neben den nordschwäbischen Judenorten auch der von Stainsche Ober-
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StaatsAAug. Vorderösterreich: Lit. 291. Fol. 14. StaatsAAug. Kloster Ursberg: Akten 20. Polizeiordnung vom 12. April 1777, § 31.
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amtmann zu Ichenhausen F.J.A. Molitor, daß der Kaisheimer Gerichtsschreiber J.M. Diehle das reichsstiftische Dekret in hierorthiger synagoge publiziert habe. 91 Flankiert wurden diese Maßnahmen durch innerterritoriale Verordnungen, die das Schulden- und Hypothekenwesen reorganisierten. Abt Coelestin II. Angelsprugger (1771-1783)92 und seine Nachfolger verfügten deshalb u.a. als einschneidenste Bestimmung, daß künftig jeglicher Leihkauf über 25 fl. - dies betraf insbesondere den Pferdehandel - verboten sei.93 Andere Reichsstifte imitierten diesen Schritt offenbar nicht, wenn z.B. im Wettenhausener Oberamt im April des Jahres 1800 ein Kauf protokolliert wurde, bei dem ein stiftischer Bauer aus Hammerstetten von dem Ichenhausener Schutzjuden Joseph Mendle einen Wallach mit folgendem Ratenzahlungsmodus erwarb, der als typisch gelten darf: gab ihm überhin noch an geld 40 fl. - als empfinge [ich, der Schreiber] heute hieran 5 fl. -15 fl. hat er nach 4 wochen und 20 fl. bis kommende St. Joan Baptist [24. Juni] zu beziehen, und an getreid 1 mitle roggen, dan an holz 2 schuber bischl, welche ihm [dem Juden] der baur unentgeldlich künftigen herbst nach Ichenhausen führen mus.94 Die Erforschung reichsstiftisch-jüdischer Beziehungen bleibt, da die reiche ostschwäbische Klosterkultur durch die landesgeschichtliche Forschung bisher nur in Ansätzen untersucht werden konnte, weiterhin ein Desiderat. Innerhalb der übrigen ostschwäbischen Reichs- und Fürststifte wäre vor allem ein Vergeich mit dem Kemptner Fürststift lohnend, da dort die Fürstäbte die Reichsgesetzgebung durch innerterritoriale Landesverordnungen wesentlich ergänzten. So wurde 1587 der Handel mit Juden verboten, um ihn nach der Widerrufung des Verbots 1681, 1711 und 1731 erneut einzuschränken. 95 Jüdischer Hausierhandel blieb außerhalb der Quatembertage gänzlich verboten, und die Beeinträchtigung des bedeutenden Dietmannsrieder Fasten-Markts durch jüdische Viehaufkäufer blieb nicht ohne legislative Folgen. Das Fürststift Kempten wurde ebenso wie das Augsburger Hochstift durch eine eigenständige reichsstädtische 91
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StaatsAAug. Kloster Kaisheim: Akt 636. Dekret vom 3. September 1762 mit handschriftlichem Vermerk vom 10. Oktober 1762. Pirmin Linder: Monasticon episcopatus Augustani antiqui. Verzeichnisse der Äbte, Pröpste und Äbtissinnen der Klöster der alten Diözese Augsburg. Bregenz 1913. S. 105. StaatsAAug. Kloster Kaisheim: Akt 636. Verfügung vom 29. November 1788. StaatsAAug. Kloster Wettenhausen: Lit. 104. Eintrag vom 7. April 1800. Josef Rottenkolber: Geschichte des Hochfürstlichen Stiftes Kempten. München 1933. S. 227. Zur fürststift-kemptischen Geschichte in der Frühen Neuzeit vgl. außerdem u.a.: Johann Baptist Haggenmüller: Geschichte der Stadt und der geforsteten Grafschaft Kempten von den ältesten Zeiten bis zu ihrer Vereinigung mit dem Bayerischen Staate. Bd. 2. Kempten 1847. Nachdruck Kempten 1988; Peter Blickle: Das Fürststift Kempten: Ein typischer Kleinstaat in der Frühneuzeit. In: Geschichte der Stadt Kempten. Hg. von Volker Dotterweich u.a. Kempten 1989. S. 184-202.
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Handelspolitik mit Juden in seinem Handlungsspielraum eingeengt, und es sah sich am Ende des Ancien Régime nach dem dynastischen Anfall des burgauischen Judenorts Binswangen 1769 mit einer fürststiftischen Judengemeinde konfrontiert. Vielleicht war auch dies ein Grund für das vitale kemptische Interesse, das neugewonnene nördlich gelegene Obervogteiamt gegen die südlicher liegende Herrschaft Apfeltrach vor der Säkularisation noch auszutauschen.96 Das Reichsstift St. Ulrich und Afra 97 hingegen scheint nach der Privilegierung 1552 gegen jüdische Handelsrechte durch Karl V. keine genuin ulrikanische Judenpolitik betrieben zu haben. Mit der Privilegierung Mitte des 16. Jahrhunderts war festgelegt worden, das nun hinfüro kain jud oder judin iren vnnd ires gotshaus vnnderthanen vnnd verwanndten, auffainige ligende oder vnbewegliche haab oder guetter [...] weder auff wucher noch wucherliche hanndlung, verschreybung, contract kauffen oder vertauschen, on ire vnnd irer nachkommen vorwissen [...] nit leihen [dürfe]. 98 Zieht man abschließend einen Vergleich zwischen der Judenpolitik innerhalb des bischöflichen Landeshoheitsbereichs bzw. einiger ostschwäbischer Reichsstifte und der von wirtschaftlichen Gesichtspunkten geprägten Ansiedlungspraxis jüdischer Kaufmanns- und Handelsschaft in den weltlichen Territorien Markgrafschaft Burgau, Fürstentum Pfalz-Neuburg oder oettingischen Territorien im Ries, so lassen sich graduelle Unterschiede feststellen. Weltliche Landesherren jener Staaten mittlerer und kleinster Größe, wobei sich letztere vor allem in reichsritterschaftlichen Herrschaften manifestierte, taten sich im Umgang mit der Judenschaft leichter als die geistlichen Territorialherren, die sich im Zeitalter der Konfessionalisierung mit Ausnahmen kirchenrechtlich stärker zu engagieren hatten. So herrschte im Hochstift, im Domkapitel und in den bischöflichen Mediatklöstern in der Mandatspolitik eine unzweideutige restriktive Ausgrenzungsthematik gegenüber der Judenschaft bis zur Säkularisation vor, die in der Realität aufgrund der Billigung zahlloser Geschäftsbeziehungen zu jüdischen Viehhändlern allerdings unterlaufen wurde. Um diese Grauzone der hochstiftisch-domkapitelischen Staatspraxis im Zeitalter des Merkantilismus allerdings nicht grenzenlos wuchern zu lassen, erließen die Augsburger Fürstbischöfe und der ihnen nachgeordnete Klientelverband in
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StaatsAAug. Lehen und Adel: Akt 422; Klaus Fehn: Wertingen. München 1967 (Historischer Atlas von Bayern, Teil Schwaben 1/3). S. 28f. Wilhelm Liebhart: Die Reichsabtei St. Ulrich und Afra zu Augsburg (1006-1803). Studien zur Klostergeschichte, mit besonderer Berücksichtigung von Besitz und Herrschaft. München 1982 (Historischer Atlas von Bayern, Teil Schwaben II/2). Dort blieb dieser Themenbereich ausgespart. MB Bd. 22 (1814). S. 685-689.
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diesem Bereich die schärfsten Protokollierungsbestimmungen im gesamten administrativen Feld. In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts ist dann ein vorsichtiges Maß an Toleranz seitens der hochstiftischen Administration festzustellen, dem sich allerdings das Verhalten einzelner Beamter wie des Zusmarshauser PflegsVerwalters, Licentiatus Joseph Mayr, konträr entgegenstellte, wenn jener noch 1802 an den regierenden Fürstbischof berichtete: was das schwein in einem angebauten aker ist, das ist der jud im gemeinen wesen." Die geistlichen Staaten Ostschwabens folgten im allgemeinen dem Beispiel der Reichsstädte, die ohne selbst Juden als Bürger zu dulden, die intensivsten Handelsbeziehungen zur ostschwäbischen Judenschaft aufrecht erhielten. Der bischöfliche Hof, die reichsstiftischen Residenzen und die Domherrenhöfe grenzten sich hierbei als Auftraggeber für jüdische Hoffaktoren nicht aus. Die Reichsstifte zeigten hingegen ein uneinheitlicheres Vorgehen, das sich vor allem durch die Tolerierung unprotokollierter Abschlüsse bis zu zehn Gulden - der fünffachen Summe der hochstiftischen Bestimmungen - kennzeichnete. Es wäre freilich im einzelnen noch zu untersuchen, inwieweit dynastische Elemente oder genuin hochstiftische bzw. reichsstiftische Erfahrungen die Mandatspolitik gegenüber Juden beeinflußten. Die Mehrzahl der Augsburger Fürstbischöfe, der Domkapitulare und der schwäbischen Reichsprälaten entstammte schließlich reichsritterschaftlichen Familien. So verbrachten die für den Klerikerstand auserwählten nachgeborenen Prinzen und Dynasten ihre Kinder- und Jugendjahre in Kleinterritorien, in denen sich mitunter Judenorte in unmittelbarer Nachbarschaft zu den Adelsresidenzen befanden. Noch ausstehende komparatistische Studien werden vielleicht zeigen, ob das von aufklärerischen katholischen wie pietistischen Publizisten (Philipp Anton von Bibra, Friedrich Carl Freiherr von Moser oder Joseph Edler von Satori) pauschal postulierte fehlende Toleranzverhalten gegenüber Juden in geistlichen Staaten zu einer Typologisierung der Germania Sacra beitragen kann.
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StaatsAAug. Hochstift Augsburg: NA. Akten 694; R. Kießling (Anm 44) S. 77.
Zwischen Vertreibung und Emanzipation Judendörfer in Ostschwaben während der Frühen Neuzeit Rolf Kießling
In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, als die Emanzipationsdebatte über die Stellung der Juden auch in Bayern bereits in v o l l e m G a n g e w a r , 1 charakterisierte H i r s c h Fürth 2 - S o h n des Bankiers und Gemeindevorstehers M o s e s aus Fürth -, Rabbiner in B i n s w a n g e n , w o er die dortige Rabbinertochter geheiratet hatte 3 , d i e Situation der J u d e n g e m e i n d e n folgendermaßen: In Schwaben in Franken wohnen,
finden oder
sondern
wir die Eigentümlichkeit,
in der Rheingegend daß
Gemeindeeinrichtungen sche
Gemeinden
den vorgenannten hört. Die Hebräer,
1
2
3
sie stärkere
Provinzen,
bilden,
Kultusbeamten
bis zweihundert mit Ausnahme
wie der Schwabe
Verbänden
Gemeinschaften
mit den nötigen
mit hundert
daß dort die Israeliten
in kleinen
Familien der Städte,
die Israeliten
oder
nicht
gar
die alle
besitzen. nichts
kulturellen
Da sind Seltenes, sind
jüdi-
was
zu den Seltenheiten
zu nennen pflegt,
wie
vereinzelt
in ge-
spora-
Aus der Vielzahl der allgemeinen Literatur vgl. Jakob Katz: Aus dem Ghetto in die bürgerliche Gesellschaft. Jüdische Emanzipation 1770-1870. Frankfurt a.M. 1986; Reinhard Rürup: Emanzipation und Antisemitismus. Studien zur "Judenfrage" in der bürgerlichen Gesellschaft. Göttingen 1975 (Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft, Bd. 15); speziell zu Bayern Stefan Schwarz: Die Juden in Bayern im Wandel der Zeiten. München, Wien 1963. S.77-295. Harm-Hinrich Brandt: Das Problem der Judenemanzipation in Bayern im 19. Jahrhundert. In: Emanzipation und Diskriminierung. Beiträge zu Einzelfragen jüdischer Existenz. Hg. von Ulrich Wagner. Würzburg 1988 (Schriftenreihe des Stadtarchivs Würzburg, Bd. 4). S. 9-26; Manfred Treml: Von der "Judenmission" zur "Bürgerlichen Verbesserung". Zur Vorgeschichte und Frühphase der Judenemanzipation in Bayern. In: Geschichte und Kultur der Juden in Bayern. Aufsätze. Hg. von Manfred Treml, Josef Kirmeier. München 1988 (Veröffentlichungen zur Bayerischen Geschichte und Kultur, Bd. 17). S. 247-265. Jüdisches Leben in Deutschland. Selbstzeugnisse zur Sozialgeschichte 1780-1871. Hg. von Monika Richarz. Stuttgart 1976. S. 360-366, die folgenden Zitate S. 361f.; der Bericht stammt vom Ende des 19. Jahrhunderts, vermutlich von einem Sohn Hirsch Fürths. Zur Person M. Richarz (Anm. 2) S. 360.
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disch in voneinander entfernten Gemeinden stark vertreten, und der Schwabe betrachtet sie nicht im Gegensatze zu seinem feststehenden Glauben, sondern ist sie gewohnt als Handelsleute, als Vermittler in Geschäften und wohl auch bei Heiraten, weil sie jeden Bauern und Söldner, sogar Gütler in allen Orten und den zahlreichen Einzelhöfen kennen. Sodann sind sie die unvermeidlichen Käufer seines Viehes und aller sonstigen Produkte. In Schwaben ist die jüdische Bevölkerung auf dem Lande mehr vertreten, als in den Städten. Daher diese auffallende Erscheinung, daß die zwischen Hunderten von Bauernhöfen, die fast wie ein Ei dem andern gleichen, höchstens durch einen besonderen Kirchturm, zuweilen durch einen Schloßbau mit Park sich unterscheiden, ein Ort erscheint, von dem dir nicht ganz klar wird, ob du ihn für eine Stadt oder einen Flecken ansehen sollst. In seiner Mitte ragt noch ein eigentümliches Gebäude hervor, dem man wohl den öffentlichen Charakter ansieht, das aber gleichwohl des Turmes entbehrt, der es zu einer Kirche stempeln könnte. Es ist dieses aber die Synagoge, für welche bisher kein bestimmter Baustil gefunden ist, und die sich daher überall anders präsentiert. So überragt in Binswangen, wo unsere Erzählung spielt, ein mit Doppelreihen von Bogenfenstern übereinander versehener, auf den Giebeln mit eheren Schlangen geschmückter Bau alle übrigen Häuser des Ortes, und wie ein Fragezeichen steht dieser Tempel an der frequenten Straße, die sonst meistens durch Bauernhöfe föhrt [...]. Am Beispiel des Revolutionsjahres 1848 demonstriert der Berichterstatter anschließend, wie gemütlich die Konfessionen damals zusammenwohnten. Er erzählt von der Rebellion gegen den Pfarrer wegen der Zehnterhebung und von der Einstellung der Dorfbewohner gegenüber dem Rabbiner: Da meinten sie nun, wenn sie einen solchen Herrn wie den Rabbiner haben könnten, das wäre ihr Mann, es wäre schade, daß er nicht ihr Pfarrer sei. Während sich aber der Pfarrer wegen der herrschenden, feindseligen Gesinnung nicht aus dem Hause wagte, ging der Rabbiner ganz gegen seine sonstige Gewohnheit in der politisch aufgeregten Zeit täglich in den 'Adler', um die Zeitung zu lesen. Als er sich anstandshalber ein Glas Bier dabei geben ließ, sagte der Adlerwirt, der wußte, daß Hirsch kein Biertrinker war, das habe er nicht nötig, er mache sich die größte Ehre daraus, wenn der Herr Rabbiner nur bei ihm einkehre, das wäre auch den Gästen weit lieber als der Pfarrer mitsamt seinem untertänig wedelnden Schulmeister, die gut daran täten, sich nicht sehen zu lassen. War diese fast als Idylle anzusprechende Darstellung das Produkt einer neuen Einstellung, die die Emanzipationsdiskussion ermöglicht hatte? Oder resultierte die Bewertung nur aus der besonders sympathischen Erscheinung des Rabbiners? Die vergleichende Charakterisierung der schwäbischen und fränkischen Gemein-
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den am Anfang verweist demgegenüber auf ein strukturelles Phänomen sehr viel einfacherer Art: auf die Größe der Gemeinden. Hierzu 4 einige Zahlen: In Binswangen 5 betrug die Zahl der Schutzjuden 1807 67 (nach der Matrikel von 1813 auf 65 festgeschrieben), die der jüdischen Einwohnerschaft 1811/12 327 Personen - und das entsprach gut einem Drittel der Gesamtbevölkerung von 894 des Ortes. Dies war noch keineswegs das Maximum. In Buttenwiesen 6 betrug der Anteil der Juden 1811 81 Familien mit insgesamt 360 Personen, denen 191 Christen gegenüberstanden - also fast zwei Drittel; in Fischach 7 immerhin mit 250 Personen etwa die Hälfte - in den anderen Dörfern und Märkten wie Ichenhausen, Hürben und selbst in Kriegshaber stellten sich ebenfalls hohe Konzentrationen ein. Die Gesamtzahl von 855 Familien mit 4226 Seelen im Oberdonaukreis von 1822 (Schwaben ohne das Ries) bei einem guten Dutzend Orten, in denen Juden lebten, 8 bestätigt das Bild, dessen bestimmende Merkmale sich vor allem im 17. und 18. Jahrhundert entwickelt haben. Hirsch Fürth gewann seine Einschätzung nicht zuletzt aus dem Vergleich mit Franken, 9 wo eine viel stärkere Verteilung kennzeichnend war. Vor allem im 4
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Für die ostschwäbischen Judengemeinden der Frühen Neuzeit fehlt bisher eine moderne Darstellung. Der letzte unter stark antisemitischen Vorzeichen konzipierte Überblick von Eduard Gebele: Die Juden in Schwaben. In: Schwabenland 5. 1938. S. 45-116 ist nur bedingt als Faktensammlung verwendbar. Material liefert bisher vor allem die ortsgeschichtliche Literatur; sie wird im folgenden genauer nachgewiesen. Neue, wenn auch sehr knappe Überblicke bei Adolf Layer: Die Juden und ihre Niederlassungen. In: Handbuch der bayerischen Geschichte Bd. III/2. Hg. von Max Spindler. München 1971. S. 1055-1058; Martina Illian: Die jüdischen Landgemeinden in Schwaben. In: M. Treml, J. Kirmaier (Anm. 1) S. 209-218; Peter Fassl: Geschichte und Kultur der Juden in Schwaben. In: Aus Schwaben und Altbayern. Festschrift für Pankraz Fried zum 60. Geburtstag. Hg. von Peter Fassl u.a. Sigmaringen 1991 (Augsburger Beiträge zur Landesgeschichte Bayerisch-Schwabens, Bd. 5). S. 21-30. Ludwig Reissler: Geschichte und Schicksal der Juden in Binswangen, einem Dorf in der ehemals österreichischen Markgrafschaft Burgau im heutigen Bayrisch-Schwaben. Ein Beitrag zum Problem ethnisch-religiöser Minderheiten. Zulassungsarbeit München 1982 (masch.). S. 97, 189. Franz Neuner: Die Juden in Buttenwiesen. In: Nordschwaben 9. 1981. S. 128-132, hier S. 131. Michael Piller: Die Juden in Fischach. Teil I - III. In: Jahresbericht des Heimatvereins für den Landkreis Augsburg e.V. 1976. S. 302-363, 1977. S. 295-393, 1978/79. S. 256-317; Michael Piller: Fischach. Geschichte einer mittelschwäbischen Marktgemeinde. Weißenhorn 1981. Die Bevölkerungsdaten in Piller, Juden II. S. 307f. S. Schwarz (Anm. 1) S. 350. Vgl. die Überblicke von Hanns Hubert Hofmann: Ländliches Judentum in Franken. In: Tribüne 7. 1968, S. 2890-2904 und Rudolf Endres: Zur Geschichte der Juden in Franken. In: Archiv für die Geschichte von Oberfranken 69 (1989). S. 49-61; Jüdische Gemeinden in Franken 1100 bis 1975. Hg. von Rudolf Endres. Würzburg 1978 (Frankenland. Sondernummer 1978); Klaus Guth: Jüdische Landgemeinden in Oberfranken (1800-1942). Ein historisch-topographisches Handbuch. Bamberg 1988.
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Hochstift Würzburg 10 und in Kurmainz, 11 aber auch in den Territorien des Hochstifts Bamberg 12 und der Markgrafschaft Ansbach 13 suchte man die Zahlen seit dem 18. Jahrhundert eher gering zu halten, wenn sich auch in den mediaten Orten und insbesondere in den Reichsritterschaften 14 zuweilen ebenfalls größere Populationen einstellten. Die "Atomisierung" 15 war nach der Judenstättigkeit von 1744 in Hessen-Kassel 16 besonders ausgeprägt, lebten danach doch insgesamt 842 Familien in 177 Orten, meist (148 Orte) in Kleingruppen bis zu lediglich 5 Familien. Dieser andersartigen Verteilung in Schwaben entsprach das Siedlungsbild: städtische Bauformen, 17 mehrfach relativ geschlossene Judengassen bzw. -viertel, und nicht zuletzt, wenn auch nicht generell, weiträumige Friedhöfe und repräsentative Synagogen. Man hat deshalb - etwa am Beispiel von Ichenhausen, Hürben und Altenstadt - eine eigene schwäbische Synagogenarchitektur abgeleitet, "ungewöhnlich stattliche, im Ortsbild dominierende Bauten in der Tradition der schwäbischen Kirchenbaukunst an der Wende von Rokkoko zum Klassizismus". 18
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Gisela Krug: Die Juden in Mainfranken zu Beginn des 19. Jahrhunderts. Statistische Untersuchungen zu ihrer sozialen und wirtschaftlichen Situation. In: Zwischen Schutzherrschaft und Emanzipation. Studien zur Geschichte der mainfränkischen Juden im 19. Jahrhundert. Hg. von Harm-Hinrich Brandt. Würzburg 1987 (Mainfränkische Studien, Bd. 39). S. 19137.
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Bernhard Post: Judentoleranz und Judenemanzipation in Kurmainz 1774-1813. Wiesbaden 1985 (Schriften der Kommission für die Geschichte der Juden in Hessen VII). S. 137-151. Adolf Eckstein: Geschichte der Juden im ehemaligen Fürstbistum Bamberg. Bamberg 1898. Beilage XVIII. S. 323. Siegfried Haenle: Geschichte der Juden im ehemaligen Fürstenthum Ansbach. Ansbach 1867. S. 191f. Vgl. dazu neben H. Hofmann (Anm. 9) und G. Krug (Anm. 10) vor allem Hartmut Heller: Die Peuplierungspolitik der Reichsritterschaft als sozialgeschichtlicher Faktor im Steigerwald. Erlangen 1971 (Erlanger Geographische Arbeiten, Bd. 30); sowie Hartmut Heller: Jüdische Landgemeinden im 18./19. Jahrhundert. Ansiedlung, Erwerbsleben, Mobilität. In: Jüdische Gemeinden (Anm. 9) S. 6-13.
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Der Begriff von Daniel J. Cohen: Die Landjudenschaften in Hessen-Darmstadt bis zur Emanzipation als Organe der jüdischen Selbstverwaltung. In: Neunhundert Jahre Geschichte der Juden in Hessen. Beiträge zum politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Leben. Wiesbaden 1983 (Schriften der Kommission für die Geschichte der Juden in Hessen VI). S. 151-214, h i e r S . 151f. Karl E. Demandt: Die hessische Judenstättigkeit von 1744. In: Hessisches Jahrbuch für Landesgeschichte 23. 1973. S. 292-332. Die folgende Auswertung nach den dort angegebenen Zahlen f ü r die jeweiligen Orte. Dies stellte bereits Utz Jeggle: Judendörfer in Württemberg. Tübingen 1969 (Volksleben Bd. 23). S. 40, 168 heraus. In Gerhard Renda: Siehe der Stein schreit aus der Mauer: Geschichte und Kultur der Juden in Bayern. Ausstellungskatalog. Hg. von Bernward Deneke. Nürnberg 1988. S. 224; unter Bezug auf Harold Hammer-Schenk: Synagogen in Deutschland. Geschichte einer Baugattung im
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D i e s e einfachen Beobachtungen warnen davor, das Bild von den Judendörfern in der Frühneuzeit vorschnell zu generalisieren - nachdem ihre Existenz seit geraumer Zeit wieder stärker in das Bewußtsein gerückt wurde und damit die lange Zeit dominierende latente Abwertung b z w . weitgehende Ausklammerung in der Geschichtsschreibung 1 9 überwunden war. Werner Cahnmann hat zurecht im D o r f und Kleinstadtjuden den bis weit ins 19. Jahrhundert reichenden Typus aschkenasischen Lebens porträtiert 20 - inzwischen hat sich die Aufarbeitung seiner Geschichte etabliert. 2 1 Bekanntlich setzte die Phase der Landjuden mit der Vertreibung aus den Reichsstädten und einer Reihe von Territorien im 15. Jahrhundert ein: 2 2 Lindau 1430, Augsburg 1438/40, U l m 1499, Nördlingen 1507, M e m m i n g e n (wohl 15.
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19. und 20. Jahrhundert. 2 Bde. Hamburg 1981. Bd. I. S. 24-27; vgl. auch zu Franken Christoph Daxelmüller: Fränkische Dorfsynagogen. In: Volkskunst 4. 1981. S. 234-241. So etwa Wanda Kampmann: Deutsche und Juden. Studien zur Geschichte des deutschen Judentums. Heidelberg 1963; und noch Hermann Greive: Die Juden. Grundzüge ihrer Geschichte im mittelalterlichen und neuzeitlichen Europa. Darmstadt 1980. Werner J. Cahnmann: Der Dorf- und Kleinstadtjude als Typus. In: Zeitschrift für Volkskunde 70. 1974. S. 169-193. Vgl. neben schon genannten Einzelarbeiten speziell für den engeren süddeutschen Bereich etwa die verschiedenen Ansätze der Volkskunde von U. Jeggle (Anm. 17) über C. Daxelmüller (Anm. 18) und C. Daxelmüller: Jüdische Kultur in Franken. Würzburg 1988 (Land und Leute. Veröffentlichungen zur Volkskunde), u.a.m. bis K. Guth (Anm. 9); sodann: Juden auf dem Lande. Beispiel Ichenhausen. Ausstellungskatalog. Hg. vom Haus der bayerischen Geschichte (Veröffentlichungen zur bayerischen Geschichte und Kultur Nr. 22). München 1991; Landjudentum im Süddeutschen und Bodenseeraum (Forschungen zur Geschichte des Voralbergs Bd. 11). Dornbirn 1992. Schließlich der für 1994 angekündigte Tagungsband: Jüdisches Leben auf dem Lande - Ein vergessenes Kapitel der deutsch-jüdischen Geschichte. Hg. von Reinhard Rürup, Monika Richarz. Tübingen. Vgl. dazu die entsprechenden Passagen in: GJ Bd. III: 1350-1519. Hg. von Ayre Maimon. 1. Teilband: Ortschaftsartikel Aach - Lychen. Tübingen 1987; sowie bei Helmut Veitshans: Die Judensiedlungen der schwäbischen Reichsstädte und der württembergischen Landstädte im Mittelalter (Arbeiten zum Historischen Atlas von Südwestdeutschland Heft V, VI). Stuttgart 1970; sodann Markus J. Wenninger: Man bedarf keiner Juden mehr. Ursachen und Hintergründe ihrer Vertreibung aus den deutschen Reichsstädten im 15. Jahrhundert. Wien, Köln, Graz 1981 (Beihefte zum Archiv für Kulturgeschichte Bd. 14); zu Bayern S. Schwarz (Anm. 1) S. 51-60; Josef Kirmeier: Aufnahme, Verfolgung und Vertreibung. Zur Judenpolitik bayerischer Herzöge im Mittelalter. In: Treml, Kirmeier (Anm. 1) S. 95-104; zu Württemberg Paul Sauer: Die jüdischen Gemeinden in Württemberg und Hohenzollem. Denkmale Geschichte - Schicksale. Stuttgart 1966 (Veröffentlichungen der Staatlichen Archivverwaltung Baden-Württemberg, Bd. 18). S. lf. Zu beachten bleibt freilich, daß sich bereits nach dem Pogrom von 1348/49 eine Strukturveränderung in dieser Richtung vollzog, vgl. Michael Toch: Siedlungsstruktur der Juden Mitteleuropas im Wandel vom Mittelalter zur Neuzeit. In: Juden in der christlichen Umwelt während des späten Mittelalters. Hg. von Alfred Haverkamp, Franz-Josef Ziwes. Berlin 1992 (ZHF Beiheft 13). S. 29-40.
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Jahrhundert), Donauwörth 1518; Herzogtum Bayern-München 1442, BayernLandshut 1450, dann endgültig im Gesamtherzogtum 1553; Herzogtum Württemberg 1498, um nur die für unseren Raum wichtigen zu nennen. Erst die formelle Emanzipation 1813 und schließlich die Aufhebung des Matrikelparagraphen in Bayern 1861 bereitete die Rückkehr in die Stadt vor. 23 Die Thematisierung unter dem Titel 'Zwischen Vertreibung und Emanzipation' meint aber nicht nur diese zeitliche Phase, sondern gleichzeitig auch das innere Spannungsfeld der jüdischen Existenz in Schwaben zu dieser Zeit: Die latente Bedrohung durch die Ausweisung, die sich immer wieder offenbarte (ob realisiert oder nicht), einerseits und das steigende Selbstbewußtsein andererseits, das das Wachstum und die innere Ausgestaltung der Gemeinden nach sich zog. Die Beantwortung der Frage, ob und inwieweit sich in Schwaben also eine eigenständige Form jüdischer Gemeinden in der Frühen Neuzeit festmachen läßt, soll in vier Schritten erfolgen: 1) Zunächst sollen die rechtlichen Rahmenbedingungen im Dreieck von Reich, Territorien und Ortsherrschaft analysiert werden, woraus die realen Möglichkeiten und Grenzen für die Juden abzuleiten sein müßten. 2) Dabei ist zu überlegen, inwieweit sich an der Abfolge von Ansiedlungsbereitschaft und Austreibungstendenz eine Zunahme der Konsolidierung der Gemeinden beobachten läßt. 3) Mit der Beschreibung der ökonomischen Funktionen der Juden in der ländlich-agrarischen Gesellschaft soll der Grad der 'Symbiose' bestimmt werden, der die Uberlebenschance entscheidend beeinflussen mußte. 4) Abschließend wird versucht, anhand der Konfliktmuster zwischen Juden und Christen, die im alltäglichen Leben auftraten, den Stellenwert der 'Fremdheit' jüdischer Existenz in einer dominierenden christlichen Gesellschaft festzumachen. Im Mittelpunkt der folgenden Überlegungen steht dabei die Markgrafschaft Burgau, weil sich hier - vor dem Hintergrund eines Vergleichs mit den benachbarten Territorien von Pfalz-Neuburg und der Grafschaft Oettingen, aber auch der unabhängigen reichsritterschaftlichen Herrschaften an der Iiier, Fellheim und Illereichen, 24 - die Komplexität des Problemfeldes besonders markant auszuprägen scheint.
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S. Schwarz (Ann. 1) S. 187-190, 287-292; H. H. Brandt (Anm. 1); K. Guth (Anm. 9) S. 40f. und passim; vgl. auch W. Cahnmann (Anm. 20) S. 169f. Vgl. dazu die Darstellungen Ludwig Müller: Aus fünf Jahrhunderten. Beiträge zur Geschichte der jüdischen Gemeinden im Ries I und II. In: Zeitschrift des Historischen Vereins für Schwaben und Neuburg 25. 1898. S. 1-124, 26. 1899. S. 81-182 (auch als selbständige Veröffentlichung erschienen Augsburg 1900); Louis Lamm: Zur Geschichte der Juden in Lauingen und in anderen pfalz-neuburgischen Orten. Berlin 2. Auflage 1915; Wilhelm Volkert: Die Juden im Fürstentum Pfalz-Neuburg. In: ZBLG 26. 1963. S. 560-605; für die
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1. Die rechtlichen Rahmenbedingungen Im gesamten Ostschwaben scheint für die Zeit bis zum Ende des Dreißigjährigen Krieges eine Phase der Labilität und der Wechsellagen kennzeichnend. Jonathan Israel kommt zu einem ähnlichen Ergebnis, wenn er die Konsolidierung und damit einen Aufstieg der Judengemeinden in und nach dem Krieg generell herausstellt. 25 Die Ausgangssituation in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts markieren zunächst die restriktiven Maßnahmen. Sie gingen von den Reichsstädten in Fortsetzung der Ausweisungspolitik des 15. Jahrhunderts aus: Nördlingen verbot seit 1509 seinen Bürgern im Umkreis von drei Meilen den Geschäftsverkehr mit den Juden in der Grafschaft (Dettingen,26 Memmingen folgte 1522 in gleicher Weise nach, wobei die Bestrafungen von Einzelfallen auch ihre tatsächliche Handhabung belegt, 2 7 Augsburg erließ seit 1536 strenge Verordnungen gegen den Zutritt von Juden in die Stadt und versuchte auch das Wohnrecht auf den bürgerlichen Besitzungen auf dem Land zu unterbinden, 28 für Ulm wird gleiches seit 1528 nachweisbar. 29 Die geistlichen Territorien griffen diese Politik auf und führten sie weiter, wie sich an der Haltung des Hochstiftes Augsburg und der Reichsstifte ablesen läßt. 30 Doch die territoriale Vielfältigkeit des deutschen Südwestens bot zweifellos auch positive Chancen. Tendierte die eine Herrschaft zu einer Ausweisung, so konnte der Nachbar möglicherweise seine Interessen in einer Ansiedlungserlaubnis decken. Denn übergreifende regionale Lösungsmuster standen nur sehr bedingt
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reichsritterschaftlichen Dörfer im Memminger Umland Julius Miedel: Die Juden in Memmingen. Aus Anlaß der Einweihung der Memminger Synagoge. Memmingen 1909. Jonathan I. Israel: Central European Jewry during the Thirty Year's W a r . In: Central European History 16. 1983. S. 3-30; vgl. auch J.I. Israel: European Jewry in the Age of Mercantilism 1550-1750. Oxford 1985. S. 87-122. Das Mandat Kaiser Maximilians I. von 1506 Okt. 27 StadtA Nördlingen Urkundensammlung 3041; der Vollzug 1507 März 14 StadtA Nördlingen Ordnungsbuch III. fol. 42 r ; vgl. L. Müller (Anm. 24) I 99-102; Dietmar H. Voges: Die Reichsstadt Nördlingen. 12 Kapitel aus ihrer Geschichte. München 1988. S. 154-174, hier S. 162-167. Zahlreiche Einträge finden sich in den Ratsprotokollen (StadtA Memmingen), z.B. 1522 Mai 7, Juni 6, Juni 18; 1524 Nov. 14; 1534 Sept. 7; vgl J. Miedel (Anm. 24) S. 15-20. Zuletzt Sabine Ullmann: "Über der Juden schädlichen Wucher und Kipperey." Die Beziehungen der Judengemeinden in Kriegshaber und Pfersee zur Reichsstadt Augsburg im 17. Jahrhundert. Magisterarbeit Augsburg 1992. S. 16-35; vgl. auch den Beitrag von W . Baer in diesem Band. Peter Thaddäus Lang: Die Reichsstadt Ulm und die Juden 1500-1803. In: Rottenburger Jahrbuch f ü r Kirchengeschichte 8. 1989. S. 39-48, hier S. 44f. Vgl. Wolfgang Wüst: Die Judenpolitik geistlicher Staaten im Augsburger Umland. In: Jahresbericht des Heimatvereins für den Landkreis Augsburg e.V. 22. 1989/90. S. 142-162, und den Beitrag des gleichen Autors in diesem Band.
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zur Verfügung. Im Vorfeld des Augsburger Reichstages 1530 schalteten die schwäbischen Reichsstädte und Reichsstifte den Schwäbischen Bund ein, der zwar einen Beschluß, aber keine Aktion ins Auge faßte. 31 Seit 1556 erwog schließlich der Schwäbische Kreis, die Juden ganz auszuweisen - Anlaß dafür war die Neigung der Juden, ihre Forderungen am kaiserlichen Hofgericht in Rottweil durchzusetzen, was als Mißachtung der ordentlichen Obrigkeit interpretiert wurde -, doch trotz des förmlichen Beschlusses 1560 funktionierte dieser Ansatz zu einer restriktiven regionalen Politik nicht.32 In diesen Kontext gehört auch die Ordnung der oberösterreichischen Regierung von 1534 für die Markgrafschaft Burgau gegen die wucherlichen Contraete der Juden. 33 Entstanden wegen Beschwerden des Bischofs Christoph von Stadion samt dem Augsburger Domkapitel, der Stadt Augsburg einschließlich der unter seiner Pflegschaft stehenden Klöster, Spitäler und Bürger, dann des Inhabers der Herrschaft Seyfriedsberg, Karl Villinger, sowie den Fuggern, sollte sie für alle Gerichte innerhalb der Markgrafschaft, seien sie von Adi und sunst gelten. Die Ritterschaft wird damit als politischer Gegenpol bereits erstmals greifbar. Inhaltlich richtete sie sich vor allem gegen den unkontrollierten Geldverleih: Die Juden durften keine Kredite mehr auf liegende Güter ausgeben, während die Pfandleihe weiterhin erlaubt blieb. Zur Überwachung waren alle Kredite schriftlich zu fixieren, die Gläubiger hatten dann aber auch Anspruch auf Rechtsschutz. Zum anderen beschränkte die Ordnung die Klagen von Juden auf die ordentlichen Gerichte der Markgrafschaft - und schnitt sie damit von dem ansonsten häufig gebrauchten Weg nach Rottweil ab. Drittens verfügte sie die Kennzeichnungspflicht mit dem gelben Ring, damit man die Juden von den Christen erkennen mug, nahm aber auch die ansässigen Juden gegen Beleidigungen und Angriffe in Schutz und gestattete den Fremden den Durchzug. Ziel dieser Ordnung - die wesentliche Bestimmungen der Reichspolizeiordnung von 1530 übernahm 34 - war es offensichtlich nicht, eine umfassende Judenordnung 31 32
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L. Müller I (Anm. 24) S. 82f. L. Müller II (Anm. 24) 116-121; zu den Maßnahmen und Erörterungen 1556-1577 ausführlicher Heinz Villinger: Die Tätigkeit des Schwäbischen Reichskreises auf dem Gebiet des Polizeiwesens (16. Jahrhundert). Diss. (masch.) Heidelberg 1950. S. 52-69; bei Adolf Laufs: Der Schwäbische Kreis. Studien über Einungswesen und Reichsverfassung im deutschen Südwesten zu Beginn der Neuzeit (Untersuchungen zur deutschen Staats- und Rechtsgeschichte NF, Bd. 16). Aachen 1971 allerdings nicht behandelt. StaatsAAug. Vorderösterreich Lit. 646; sie hat bisher in der Literatur kaum Erwähnung gefunden; eine Edition ist vorgesehen. Einen ersten Zugang versucht Susanne Braun: "Von gemainer Judischhait in Schwaben". Der rechtliche Rahmen für das Leben der Juden in der Markgrafschaft Burgau, untersucht an den Beispielen Ichenhausen und Fischach. Zulassungsarbeit Augsburg 1991. S. 18-24. Neue und vollständigere Sammlung der Reichs-Abschiede [...] in vier Theilen. 1747. Neudruck Osnabrück 1967, hier Bd. II. S. 340; zu ihrer Bedeutung vgl. Friedrich Battenberg:
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zu erlassen, sondern die Konflikte zu begrenzen und eine gewisse Sicherheit herzustellen, zugleich aber manifestierte sie den Anspruch der Markgrafschaft auf die Landeshoheit - für die der Judenschutz ein Merkmal darstellte.35 Mit dieser Ordnung konnte die Markgrafschaft gleichzeitig zu einer Art 'Rückzugsgebiet' für vertriebene Juden werden - auch wenn eine direkte Wanderbewegung in die unmittelbare Nachbarschaft aus den Reichsstädten Augsburg oder Ulm bisher nicht nachzuweisen ist. 36 Die verstreuten Erwähnungen für erste Ansiedlungen von Juden in den Dörfern stehen jedoch vielfach im Kontext mit dieser restriktiven Politik und lassen einen inneren Zusammenhang vermuten: etwa in Binswangen, dessen Juden 1525 Pfalzgraf Ottheinrich Handelsbeschränkungen in Höchstädt auferlegte; 37 sodann in einer Serie von Privilegien, die Reichsstädte und Reichsstifte gegen die Kreditaufnahme ihrer Bürger bei Juden erwirkten und die in Orten mit jüdischer Bevölkerung verkündet wurden, wie z.B. das von 1541 für Memmingen, abgesehen von den stadtnahen Dörfern, in Thannhausen, Neuburg an der Kammel und Krumbach; das von 1561 für Ulm unter anderem in Binswangen, Emersacker, Ehingen, Ortlfingen, Lauterbrunn, Scheppach, Münsterhausen, Thannhausen, Neuburg an der Kammel, Ichenhausen, Burgau, Günzburg, Leipheim, Krumbach und Hürben; das für Wettenhausen von 1582 in Krumbach-Hürben, Neuburg an der Kammel, Thannhausen und Ichenhausen. 38 Daraus ergibt sich
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Judenordnungen der frühen Neuzeit in Hessen. In: Neunhundert Jahre Geschichte der Juden in Hessen. Beiträge zum politischen wirtschaftlichen und kulturellen Leben. Wiesbaden 1983 (Schriften der Kommission für die Geschichte der Juden in Hessen VI). S. 83-122, hier S. 88; vgl. auch zur Umsetzung in der Grafschaft Oettingen L. Müller I (Anm. 24) S. 85-87. Zum Judenschutz im Rahmen der Landeshoheit Wolfgang Wüst: Günzburg. München 1983 (Historischer Atlas von Bayern, Teil Schwaben Heft 13). S. 69f. Entgegen den in der älteren Literatur mehrfach geäußerten Vermutungen über eine solche unmittelbare Kontinuität zurecht kritisch Reinhard H. Seitz: Augsburg. In: GJ (Anm. 22) S. 65, Anm. 331. Bezüglich Ulm ergibt sich ebenfalls nur eine indirekte Verbindung über andere Stationen, vor allem aufgrund der Personennamen, Leopold Löwenstein: Günzburg und die schwäbischen Judengemeinden. In: Blaetter für jüdische Geschichte und Litteratur IIII (1899/1900-1902), hier I S. 26; vgl. auch R.H. Seitz: Günzburg. In: GJ (Anm. 22) S. 479. Zu Binswangen L. Reissler (Anm. 5) S. 34, 37-40; zu Ichenhausen Juden auf dem Land (Anm. 21) S. 53f. Einzelnachweis bei J. Miedel (Anm. 24) S. 20-35; Heinrich Sinz: Beiträge zur Geschichte des ehemaligen Marktes und der nunmehrigen Stadt Krumbach (Schwaben). Krumbach 1940. S. 253-258; Heinrich Sinz: Geschichtliches vom ehemaligen Markte und der nunmehrigen Stadt Ichenhausen. Ichenhausen 1926. S. 240-245; Eugen Ganzenmüller: Ichenhausen. Vom Dorf zum Markt zur Stadt. Ichenhausen 1970. S. 153f.; vgl. auch Joseph Hahn: Krumbach. München 1983 (Historischer Atlas von Bayern, Teil Schwaben Heft 12). S. 131f. Ausführlich dazu jetzt Rosemarie Mix: "Wider der Juden und Jüdinen wuocherliche Gesuoch, Conträct und handlungen". Die kaiserlichen Privilegien für die Reichsstädte Ulm, Memmingen und Augsburg und die geistlichen Territorien Wettenhausen und Roggenburg als restriktive
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aber auch, daß eine erhebliche Fluktuation vorauszusetzen ist, da viele bei diesen Gelegenheiten genannten Orte später nicht mehr begegnen. 3 9 Die Faktoren, die im Konkreten die Ansiedlung in den Territorien bestimmten, lagen sicher zum einen in der jeweiligen persönlichen Haltung der Herrscherindividualitäten. Besonders günstig aber - wenn dies auch keine Sicherheit bedeutete, sondern zuweilen mit prekären Folgen verbunden war - konnte sich die Situation für die Juden in Kondominaten oder bei strittiger Herrschaft gestalten, w o jede Seite mit der Judenansiedlung ihre Hoheitsrechte demonstrieren wollte - das Beispiel Fürth ist das bekannteste. 40 Im größeren Rahmen gilt das auch für die komplexe Rechtssituation in der Markgrafschaft Burgau als typischem territorium non clausuni:41 einer lockeren Rahmenkonstruktion in der Hand des Hauses Habsburg mit nur schwach ausgebildeter Landeshoheit und wenigen Besitzverdichtungen in den 'Kameralorten 1 auf der einen Seite und ausgeprägter Selbständigkeit der 'Insassen', der adeligen und kirchlichen (Orts-) Herrschaften, andererseits. Einen wesentlichen Markstein auf dem Weg der konkurrierenden Herrschaftssituation stellten die 'Interimsmittel' von 1587 dar, einem Vertrag zwischen Erzherzog Ferdinand und den Insassen über die umstrittenen Rechtsverhältnisse, insbesondere die Gerichtsbarkeit. 42 Die Artikel 40, 41, und 46 betrafen auch die Ansiedlung der Juden: Sie sahen vor, die Juden sollen von beeden theilln, nach außgang Irer bestimbte jar ausgeschaffi [...] werden', bis dahin aber der gerichtsbarkeit halben, den Christen gleich gehalten werden für ihren Handel sollte das ver-
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Maßnahmen gegenüber den Juden in der Markgrafschaft Burgau in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts. Zulassungsarbeit Augsburg 1993. R. Mix (Anm. 38) Kartenbeilage. Gegenüber der Karte von Wolfgang Wüst: Die Markgrafschaft Burgau in der Epoche des Absolutismus. In: Historischer Atlas von Bayerisch-Schwaben. Hg. von Wolfgang Zorn, Pankraz Fried. Augsburg 2. Auflage 1985. Karte IV, 5. Eine Ausnahme stellt offenbar Emersacker dar, wo zwischen 1685 und 1700/01 kurzfristig eine nicht unbedeutende Judensiedlung wiedererstand; vgl. Dana Koutnä-Karg: Emersacker im späten 17. Jahrhundert. Bemerkungen zu der jüdischen Gemeinde. In: Jahrbuch des Historischen Vereins Dillingen 93. 1991. S. 404-419. Vgl. etwa zuletzt Friedrich Battenberg: Das Reichskammergericht und die Juden des Heiligen Römischen Reiches. Geistliche Herrschaft und korporative Verfassung der Judenschaft in Fürth im Widerspruch. Wetzlar 1992 (Gesellschaft für Reichskammergerichtsforschung 13); ähnlich F. Battenberg: Assenheimer Judenpogrome vor dem Reichskammergericht. Die Prozesse der Grafschaften Hanau, Isenburg und Solms um die Ausübung des Judenregals 15671573. In: Neunhundert Jahre (Anm. 34) S. 123-150. W. Wüst, Günzburg (Anm. 35) S. 29-72; Wolfgang Wüst: "Ius superioritatis territorialis". Prinzipien und Zielsetzungen im habsburgisch-insässischen Rechtsstreit um die Markgrafschaft Burgau. In: Vorderösterreich in der frühen Neuzeit. Hg. von Hans Maier, Volker Press. Sigmaringen 1989. S. 209-228. L. Reissler (Anm. 5) S. 25-29; S. Braun (Anm. 34) S. 25-27; W . Wüst: Günzburg (Anm. 35) S. 53, 69f.
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schärfte Hehlerrecht der Reichspolizeiordnung von 1548 gelten, wonach die Rückgabe gestohlener Güter ohne Entgelt vorgesehen war. 43 Die Inanspruchnahme des Judenregals war und blieb damit im Schwebezustand zwischen der habsburgischen Landeshoheit und dem Insassenrecht der Ortsherrschaften - zumal die in Aussicht genommene Ausweisung nicht in generellem Sinne vollzogen wurde. Damit erwiesen sich immer wieder Interpretationen der Interimsmittel als notwendig:44 So etwa 1653, als die weitere Aufnahme von Juden erneut gestoppt wurde, oder im Rezeß von 1682, in dem die ohne Erlaubnis des burgauischen Oberamts von den Insassen angesiedelten Juden nicht tolleriti oder des Schutzes und Freyheit fähig geachtet wurden. Die Präzisierung dieser Bestimmung im Jahre 1690 bestätigte, daß nur solche Juden den übergeordneten 'Hochschutz' genießen sollten, die formelle Aufnahme gefunden hatten; nur sie erhielten auch die Zusage, daß ihnen keine neuerlichen und mehrere Beschwärden aufgebürdet werden durften. Wer sonst aufgenommen wurde, mußte zwangsläufig in noch intensiverer Abhängigkeit von seiner Ortsherrschaft stehen. Andererseits konnten sich die tolerierten Juden im Konfliktfall auf den Schutz des Oberamts bzw. des burgauischen Landvogts und damit das Haus Habsburg berufen. Gleichzeitig fehlte eine umfassende Regelung auf der Ebene der Landesherrschaft; sie kam offensichtlich nie zustande, so daß die einzelnen Herrschaftsträger als Insassen die Lücke ausfüllen mußten, was jedoch nur teilweise und relativ spät erfolgte: in Binswangen 1694 durch die Freiherren von Knöringen,45 in Ichenhausen 1717 durch die Freiherren vom Stain46 - beide bezeichnenderweise jeweils wieder konzipiert als Rezesse, die aus Streitigkeiten zwischen der Judengemeinde und der Ortsherrschaft resultierten und die mit Hilfe des burgauischen Landvogtes bzw. einer kaiserlichen Kommission geschlichtet wurden. Dort aber, wo die Markgrafschaft selbst eine starke grundherrschaftliche Stellung im Ort aufzuweisen hatte, wie in Fischach, begnügte man sich mit der Regelung einzelner Konfliktfälle: vor allem einer Serie von Verträgen über die Weiderechte (1586, 1678, 1732, 1766, 1775, 1789, 1799).47 Ähnlich scheinen die Dinge in Hürben gelegen zu haben in der Zeit, als die Grafen von Liechtenstein den Ort zu Lehen innehatten (1630-1750/56) und einzelne Regelungen trafen, ehe der Ort wieder burgauischer Kameralbesitz wurde, ebenso in Schlipsheim unter der Herrschaft der 43
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Zitiert nach der Fassung StaatsAAug. Hochstift Augsburg NA Akt 569 bei S. Braun (Anm. 33) S. 25f.; vgl. Reichs-Abschiede II (Anm. 34) S. 599. Zum folgenden S. Braun (Anm. 33) S. 32-34 mit Korrekturen an der Interpretation von L. Reissler (Anm. 5) S. 29. L. Reissler (Anm. 5) S. 61-64; vgl. unten zu Anm. 63. Sinz, Ichenhausen (Anm. 38) S. 249-253; E. Ganzenmüller (Anm. 38) S. 157; Juden auf dem Lande (Anm. 21) S. 18f., S. 55-57; S. Braun (Anm. 33) S. 40-42, 56-60. M. Piller, Juden I (Anm. 7) S.305, 324-331; M. Piller, Fischach (Anm. 7) S. 203-206; S. Braun (Anm. 33) S. 69-74.
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Rehlingen Anfang des 18. Jahrhunderts 48 und möglicherweise auch in Buttenwiesen, wo die Markgrafschaft ein eigenes Gerichtsvogteiamt einrichtete. 49 Die Rechtssituation der Juden war somit sehr unterschiedlich: Nachdem die Judenordnung von 1534 ohnehin nur erste Konflikte auf der Basis des Reichsrechts geregelt hatte, setzten sich in den verschiedenen Orten unter dem Dach des Judenregals der Markgrafschaft, das sich im 'Hochschutz' realisierte, die insässischen Ortsherrschaften faktisch mit ihren Ordnungsvorstellungen weitgehend durch. Die Spannbreite reichte dabei von umfassenden Vertragsformen bis zu lediglich sporadisch in Einzelurkunden fixierten und damit kumulativ gehandhabten Regelungen. Genau diese Verhältnisse gestalteten aber die Situation für die Juden labil und provozierten neue Auseinandersetzungen, zumal bei steigenden jüdischen Populationen. Der Vergleich mit den benachbarten Territorien Pfalz-Neuburg und der Grafschaft Oettingen vermag das andersartige Strukturprinzip zu verdeutlichen. In der Grafschaft Oettingen 50 vollzog sich - wie auch anderswo51 - im Laufe der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts der Übergang von den individuellen Schutzbriefen zu den Generalschutzbriefen, wobei vor allem die Ausfertigung von 1695 die Maßstäbe für das ganze 18. Jahrhundert setzte. In ihnen wurden die Aufnahmebedingungen und die Abgaben festgeschrieben, zusätzlich aber in einer Reihe von Mandaten die sonstigen Verhaltensnormen einheitlich fixiert. Wie in Oettingen erwies sich im Fürstentum Pfalz-Neuburg 52 die landesherrliche Ebene als dominierender Faktor, auch wenn hier die Situation der Juden über die Jahrhunderte wesentlich labiler ausfiel, weil die politische Zielsetzung der Fürsten häufig wechselte. In den beiden übrigen Judendörfern Ostschwabens, in Fellheim und Altenstadt an der Iiier, fehlte dagegen das übergeordnete territoriale Dach ganz. Freilich sorgte hier - wie das auch in sonstigen Reichsritterschaften häufig vorkam 53 - das 48
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H. Sinz, Krumbach (Anm. 38) S. 262, 268; vgl. J. Hahn (Anm. 38) S. 116f. zur Herrschafitsgeschichte. Zu Schlipsheim Gerhard Hetzer: Anmerkungen zur Geschichte der Judensiedlungen in Steppach und Schlipsheim. In: Neusäß. Die Geschichte von acht Dörfern auf dem langen Weg zu einer Stadt. Hg. von Manfred Nozar, Walter Pötzl. Neusäß 1988. S. 239-260, hier S. 243f. F. Neuner (Anm. 6) gibt darüber keinen Aufschluß; vgl. Louis Lamm: Ortsgeschichte von Buttenwiesen. In: Jahrbuch des Historischen Vereins Dillingen 15. 1902. S. 1-21, hier S. 1013; W. Wüst, Günzburg (Anm. 35) S. 88-93 zum Vogteiamt. L. Müller II (Anm. 24) S. 88-100. Vgl. dazu allgemein F. Battenberg: Das Europäische Zeitalter der Juden. Zur Entwicklung einer Minderheit in der nichtjüdischen Umwelt Europas. Von den Anfängen bis 1650. Bd. 1. Darmstadt 1990. S. 142f., 177-179. W. Volkert (Anm. 24) passim. Vgl. etwa zu Oberhessen Rosy Bodenheimer: Beitrag zur Geschichte der Juden in Oberhessen von ihrer frühesten Erwähnung bis zur Emanzipation. Diss. Gießen 1931; zu Franken H. Heller, Reichsritterschaft (Anm. 14) S. 167-186.
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ausgeprägte fiskalische Interesse für eine Kontinuität: die Herrschaftsinhaber starteten im Zuge einer umfassenden Peuplierungspolitik erst nach dem Dreißigjährigen Krieg die Ansiedlung. In Fellheim suchte der Ortsherr Philipp Bernhard Reichlin von Meldegg, nachdem sein Dorf von den Schweden fast ganz niedergebrannt worden war, neue Siedler und gewährte 1670 fünf jüdischen Familien eigenständige Schutzbriefe. Eine besonders detaillierte Form nahm der Schutzbrief des Grafen Maximilian Wilhelm von Limburg-Styrum von 1719 für Altenstadt54 an, als dort nach einem ersten Anlauf 1650 fünf neue Familien aufgenommen wurden, die ihrerseits 1718 von der Ausweisung des Grafen Johann Philipp von Stadion aus Thannhausen 55 betroffen waren; er umfaßte in 17 Punkten alle wesentlichen Aspekte des Gemeindelebens sowie der wirtschaftlichen Aktivitäten und war zunächst für 15 Jahre gültig.
2. Ansiedlung und Austreibung Alle diese Dörfer mit jüdischem Bevölkerungsanteil standen in einem mehr oder weniger ausgeprägten Spannungsfeld von Ansiedlungspolitik und Ausweisungstendenz, denn die faktische Kontinuität vieler Judengemeinden in Schwaben darf nicht dazu verführen, eine unbestrittene und zumindest prinzipiell ungefährdete Existenz vorauszusetzen. Auch in dieser Beziehung verhielten sich die Territorien recht unterschiedlich. Am stärksten erscheint noch die Kontinuität in der Grafschaft Oettingen, genauer gesagt in der Teilgrafschaft Oettingen-Wallerstein. 56 Trotz wechselnder Nennungen von Orten war hier den Juden der Aufenthalt zugestanden, wenn auch gelegentlich beeinträchtigt, während sich in der Teilgrafschaft Oettingen-Oettingen ihre Lage im 16. Jahrhundert schwieriger gestaltete. Ausweisungsbestrebungen der Grafschaft Wallerstein um 1605 wurden offenbar nicht durchgreifend realisiert, im Gegenteil: 1614 gestanden schließlich beide Teilgrafschaften Oettingen und Wallerstein den Aufenthalt ausdrücklich zu. Die schwierigen Jahre des Dreißigjährigen Krieges unterbrachen zwar häufig die Siedlungskontinuität, und im Anschluß daran sorgte auch eine restriktive Politik in den 50er Jahren für eine zeit- und teilweise Ausschaffung aus Oettingen-Baldern, doch seit 1671 setzte sich der Gedanke durch, sich der Juden und ihrer Wirtschaftskraft zu bedienen.
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V g l . J. Miedel (Anm. 24) S. 54-60. J. Hahn (Anm. 38) S. 1 2 5 f „ 132. L. Müller II (Anm. 24) S. 81-88.
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Demgegenüber hat Wilhelm Volkert für das Fürstentum Pfalz-Neuburg gezeigt, wie wechselhaft die Lage sein konnte. 57 Die einigermaßen judenfreundliche Phase bis zur Mitte des 16. Jahrhunderts wurde wohl von der Landschaft unterlaufen; der Ausweisung 1552/53 folgte eine Reihe von Mandaten der Landesherrn, um den wirtschaftlichen Kontakt mit Handelsjuden im Territorium ganz zu unterbinden oder doch einzuschränken. Um 1620 finden sich wieder Juden im Land, die sich jedoch ebenfalls - vor allem die in Lauingen - seit den 50er Jahren erneut Ausweisungsbestrebungen ausgesetzt sahen, was 1671 zu einer drastischen Reduzierung der jüdischen Gemeinden führte. Nach der Übernahme der Kurpfalz durch die Neuburger Fürsten 1685 setzte sich die dort gehandhabte liberalere Judenpolitik durch, doch noch 1740/42, als sich in den meisten deutschen Territorien längst eine Konsolidierung der Verhältnisse eingestellt hatte, erfolgte eine erneute Generalausweisung. Das bekannte Wechselspiel von Fürst und Hofrat auf der einen und den Ständen auf der anderen Seite58 läßt sich auch hier vor allem im 18. Jahrhundert als grundlegendes Muster verfolgen; in der Landschaft wandten sich vor allem die Städte und Märkte mit der zeittypischen Begründung gegen die Juden, sie rissen Handel und Wandel an sich, so daß die eingesessenen Bürger keine Erwerbschancen mehr besäßen. Doch auch in der Markgrafschaft Burgau, wo die meisten Ansiedlungen des 16. Jahrhunderts auf Dauer erhalten blieben, stellten sich Situationen ein, in denen die Bedrohung der Existenz wie ein Damoklesschwert über den Gemeinden hing. Die Fälle von 1617/18 und 1622 sind dabei insofern besonders aufschlußreich, als sie das Kräftespiel in markanter Weise offenlegen. Nachdem bereits die Interimsmittel von 1587 eine allgemeine Ausweisung der Juden angekündigt hatten, setzten sich 30 Jahre später die Judengegner durch wohl nicht zufällig in der Zeit des Markgrafen Karl von Burgau, 59 der selbst in Günzburg residierte und sich damit 'vor Ort' mit den Spannungen konfrontiert
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W. Volkert (Anm. 24) passim; vgl. auch L. Lamm, Lauingen (Anm. 24) passim. W. Volkert (Anm. 24) S. 596-598; vgl. dazu etwa Selma Stern: Der Preußische Staat und die Juden. Die Zeit des Großen Kurfürsten und Friedrichs I. Teil 1. Erste Abteilung: Darstellung. Tübingen 1962. S. 62-75. Zu seiner Person vgl. Eduard Widmoser: Markgraf Karl von Burgau (1560-1618). In: Lebensbilder aus dem Bayerischen Schwaben. Bd. 3. Hg. von Götz Freiherr von Pölnitz. München 1954. S. 269-284; Wilhelm Hauser: Karl Markgraf von Burgau (1560-1618). Sein Leben und Begräbnis in Günzburg/Donau. In: Jahrbuch des Historischen Vereins Dillingen an der Donau 82. 1980. S. 166-200; zu den wirtschaftlichen Zusammenhängen Rolf Kießling: Günzburg und die Markgrafschaft Burgau - die Entwicklung eines ländlichen Raumes im Spannungsfeld der Großstädte. Günzburg 1990 (Heimatkundliche Schriftenreihe für den Landkreis Günzburg, Bd. 10). S. 36f.; vgl. auch Paul Auer: Geschichte der Stadt Günzburg. Günzburg 1963, S. 56-59.
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sah. Diesmal waren die Klagen der Stadt Günzburg der Auslöser:60 übermäßig, unleidliche Wucherzinsen bis zu 25 % wurden moniert, während der Markgraf 1616 lediglich 10 % als Maximum erlaubt hatte. Daneben beschwerte man sich gegen die laufende Zunahme der jüdischen Familien. Dieses Ausweisungsbemühen stieß jedoch auf den Widerstand der oberösterreichischen Regierung, die ihre Schutzpflicht betonte. Markgraf Karl realisierte jedoch die Ausweisung zumindest aus den Kameralorten Günzburg, Burgau, Scheppach und Hochwang, also seinem unmittelbaren Herrschaftsbereich. Andererseits erließ Kaiser Matthias 1618 als Reaktion auf die Vertreibung seinerseits einen Schutzbrief51 für die Judenschaft in Neuburg an der Kammel, Thannhausen, Hürben, Binswangen, Ichenhausen und Pfersee, also den Orten adeliger bzw. bürgerlicher Herrschaften. Die unterschiedliche Interessenlage war offensichtlich: Während die Landesherrschaft den Judenschutz eher bejahte, nicht zuletzt um damit ihre Landeshoheit zu stärken, vor allem aber der Kaiser die prinzipielle Schutzherrschaft ins Spiel brachte, sahen die Untertanen in den Juden weitgehend nur die lästige Konkurrenz. Markgraf Karl gab diesem Drängen in einer besonderen Situation nach, doch beschränkte sich die Ausweisung auf seinen unmittelbaren Einflußbereich. Die Ritterschaften betrieben wiederum eine eigenständige Politik, die eher zugunsten der Ansiedlung ausfiel, weil sie vorwiegend von fiskalischen Erwägungen ausgingen. Das schloß nicht aus, daß auch in reichsritterschaftlichen Orten die Lage der Juden prekär blieb. Hierfür bietet Ichenhausen ein Beispiel.62 1622 eröffnete der neue Ortsherr Bruno vom Stain den Juden im Huldigungsinstrument ihre Ausweisung bis Ostern des folgenden Jahres 1623. Wieder wird das Kräftedreieck Kaiser und Landesherrschaft (Regierung von Innsbruck), Ortsherrschaft (Bruno vom Stain) und Judenschaft greifbar: Der Ortsherr berief sich auf seine Privilegien die Gerichtsbarkeit und die Kontrolle über die Judengeschäfte - und leitete daraus das Recht der Ansässigmachung bzw. Vertreibung ab. Der angebliche jüdische Wucher und der Handel mit Diebesgut, dann die Verstöße der Juden gegen die Auflage, sich an Sonn- und Feiertagen zurückhaltend zu bewegen, dienten als Argumente. Die Juden ihrerseits wehrten sich gegen diese Vorwürfe mit Bittschriften an die österreichische Regierung, beriefen sich auf die bisherige Duldung und den traditionellen Schutz, wiesen zugleich auch die Anschuldigungen als unbegründet zurück. Der Konflikt eskalierte, die Juden wurden schikanös in ihrer wirtschaftli-
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P. Auer (Anm. 59) S. 59-61; W. Hauser (Anm. 59) S. 188f.; R.H. Seitz (Anm. 36) S. 478480; S. Braun (Anm. 34) S. 27-32. Abgedruckt bei H. Sinz, Ichenhausen (Anm. 38) S. 246f.; J. Hahn (Anm. 38) S. 133f. H. Sinz: Ergänzungen zur Ortsgeschichte von Ichenhausen. Ichenhausen 1928. S. 74-76; bei E. Ganzenmüller (Anm. 38) S. 155, und Juden auf dem Lande (Anm. 21) S. 18 nur erwähnt; jetzt ausführlich anhand der Quellen S. Braun (Anm. 33) S. 44-52.
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chen Entfaltung gehindert, und es gibt Anzeichen dafür, daß die Ortsherrschaft auch die christlichen Bewohner des Ortes gegen die Juden aufhetzte. Die oberösterreichische Regierung dagegen bezog eindeutig zugunsten der Juden Stellung: Sie widersprach der Rechtsauslegung Brunos vom Stain und mahnte ihn, die Austreibung zu unterlassen - und konnte sich schließlich durchsetzen; ein Vergleich von 1625 bestätigte den Ichenhausener Juden das Ansiedlungsrecht. Eine weitere Variante des Phänomens 'Austreibung' bietet der Fall Binswangen 63 in den 90er Jahren des 17. Jahrhunderts. Hier hatte die Ortsherrschaft, die Freiherren von Knöringen, entgegen der Auffassung des burgauischen Oberamts Juden ausgewiesen, angeblich um der unkontrollierten Vermehrung durch die Heirat der Nachkommen gegenzusteuern; man sprach von mehr als 100 Kindern, denen das Jus indiginatus zustehe. Die Burgauer Beamten dagegen hatten in Erfahrung gebracht, daß von Knöringen einheimische Schutzjuden ausschaffe, demgegenüber aber fremde zusätzlich aufnehme, um starke Einlaß-Gelder zu kassieren. Freiherr von Knöringen wehrte sich gegen den Eingriff in seine Hoheitsrechte, daß Burgau sechs namentlich genannte Juden gegen seinen Willen eingesetzt habe - mußte sich aber im Endeffekt doch mit ihrer Aufnahme abfinden. Freilich legte der anschließende Vergleichsvertrag von 1694 auch fest, daß der herrschaftliche Konsens zur Verheiratung und Niederlassung erforderlich war und daneben bei der Aufnahme Fremder grundsätzlich freie Konditionen vereinbart werden konnten - damit hatten die Knöringen ihren prinzipiellen Spielraum offengehalten.
3. Wirtschaftliche 'Symbiose' Daß sich das Interesse der Landes- und Ortsherren seit dem 17. Jahrhundert von der bloßen Duldung auf ein pragmatisches Ausschöpfen der wirtschaftlichen Potenz verschob, ist am Aufstieg der Hofjuden in den Territorien vielfach beschrieben worden, 64 dieses Phänomen läßt sich auch in Schwaben an verschiedenen Beispielen nachweisen. 65 Der Wandel der Interessen ist jedoch auch bis hinunter zu den vielen reichsritterschaftlichen Judendörfern zu verfolgen. 63 64
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L. Reissler (Anm. 5) S. 56-61. Vgl. das umfangreiche Werk von Heinrich Schnee: Die Hoffinanz und der moderne Staat. Geschichte und System der Hoffaktoren an deutschen Fürstenhöfen im Zeitalter des Absolutismus. 6 Bde. Berlin 1953-1967; zu Bayern Ausstellungskatalog (Anm. 18) S. 271-287; Claudia Prestel: Jüdische Hoffaktoren in Bayern. In: M. Treml, J. Kirmeier (Anm. 1) S. 199-208; u.a.m. Louis Dürrwanger: Der kurbayerische Hoffaktor Abraham Mändle aus Kriegshaber. In: Zeitschrift des Historischen Vereins für Schwaben 49 (1933). S. 163-167; S. Ulimann (Anm. 28)
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Die Betonung des fiskalischen Aspekts als entscheidendem Motiv hat sicher ihre Berechtigung. In einem anonymen, 1670 erschienenen Discurs zweyer vom Adel aus der freyen Reichs-Ritterschaft /Wie man die Unterthane tractiren und recht nützlich gebrauchen!nicht weniger auch/Wie man sich der Juden bedienen solle, auf den Max Freudenthal hingewiesen hat,66 zählt einer der beiden Gesprächspartner auf, was man alles aus den Juden herauspressen könne: Schutz- und Neujahrsgeld, Meß- und Küchengeschenke, Synagogenabgaben und Sterbegelder. Bei den Territorien ergaben sich dazu noch die als besonders entehrend angesehenen Leibzölle sowie die ordentlichen und außerordentlichen Steuern, während die Pfarrer auf einen Ersatz für die entgangenen Stolgebühren pochten. Zusammenstellungen wie etwa für Ichenhausen oder Harburg67 vermitteln einen Eindruck von den hohen Belastungen - ein detaillierter Vergleich zwischen den verschiedenen Gemeinden einerseits und den Christen andererseits wäre sicher aufschlußreich, bedarf aber noch einer genaueren Abklärung. Daneben ist als zweite wesentliche Komponente der Judensiedlungen ihre Funktion für die Binnenstruktur der ländlichen Wirtschaftsräume besonders wichtig - und auch hier werden zumindest indirekt die Interessen sichtbar. Die Vergabe von Kleinkrediten und die Pfandleihe auf dem Land durchlief allenthalben eine Kontinuität bis ins frühe 19. Jahrhundert. Die Bedeutung wurde schon von den Zeitgenossen gesehen, wenn dafür gesorgt wurde, wie 1742 im hessischen Solms-Laubach, daß die Exekution bei Schuldprozessen zugunsten der Juden reibungslos vonstatten ging, zur Erhaltung des im Lande so nöthigen Kredits,68 Auch in der Grafschaft Oettingen war die Kreditvergabe im ländlichen Bereich weit verbreitet: Die Harburger und Kleinerdlinger Juden bestritten nach Reinhard Jakob gemäß Auflistungen von 1681 und 1702 einen erheblichen Anteil69 am Ratenkredit im Zusammenhang mit Naturalienverkäufen, was diese "soziale Funktion ersten Ranges" belegt.70 Wilhelm Volkert hat für Pfalz-Neuburg eine
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S. 80-83, zur Familie Ullmann aus Pfersee; zur Grafschaft Oettingen L. Müller II (Anm. 24) S. 142-151; Reinhard Jakob: Die jüdische Gemeinde von Harburg (1671-1871). Nördlingen 1988. S. 37f.; zu Pfalz-Neuburg, speziell zu Elias Model von Monheim W. Volkert (Anm. 24) S. 594-596. Max Freudenthal: Die Verfassungsurkunde einer reichsritterschafitlichen Judenschaft. Das Kahlsbuch von Sugenheim. In: Zeitschrift für die Geschichte der Juden in Deutschland 1. 1929. S. 44-68, hier S. 53. Juden auf dem Lande (Anm. 21) S. 55-57 für Ichenhausen aufgrund des burgauischen Rezesses von 1717; vgl. R. Jakob (Anm. 65) S. 17-27 für Harburg. R. Bodenheimer (Anm. 53) S. 41. R. Jakob (Anm. 65) S. 144-146; vgl. L. Müller II (Anm. 24) S. lOOf. zu den generellen Bestimmungen für Kapitalverleih in der Grafschaft Oettingen. So am Beispiel Niedenstein vor allem für die Zeit nach dem Siebenjährigen Krieg Karl E. Demandt: Bevölkerungs- und Sozialgeschichte der jüdischen Gemeinde Niedenstein 16531866. Ein Beitrag zur Geschichte des Judentums in Kurhessen. Darstellung und Dokumente
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Zusammenstellung der Judenschulden von 1653 analysiert 71 und dabei festgestellt, daß sich von den 1404 fl. Gesamtkapital ca. 400 fl. aus kleinen und kleinsten Beträgen auf der Basis von Handelsgeschäften mit Tuch, Getreide und Vieh zusammensetzten, die restlichen 1000 fl. aber an drei nahe vor dem Konkurs stehende Bürger ausgegeben waren, wobei der Zinssatz nicht höher als 5 % ausfiel. Eine erst jüngst von Sabine Ulimann am Beispiel von Pfersee und Kriegshaber vorgenommene Untersuchung der wirtschaftlichen Funktionen dieser typischen Vorstadtgemeinden 72 hat gezeigt, daß trotz des restriktiven Vorgehens der Reichsstadt Augsburg mit dem Verbot der Pfandleihe seit 1602 und der Einrichtung eines eigenen Leihhauses 1605 die Praxis jüdischer Kreditvergabe weiterlief. Wenn in den Strafakten der Stadt wegen Verstößen gegen das Verbot immer wieder der Topos von der 'dringenden Not' auftaucht, dann liegt die Vermutung nahe, daß die diskrete Handhabung der Geschäfte mit geringen Pfandsummen dafür sorgte, daß man nach wie vor diese Dienstleistung in Anspruch nahm. Die im Zeitraum zwischen 1592 und 1645 erfaßten 77 Personen erhielten vor allem Kleinkredite mit einem Durchschnittswert von ca. 4 fl., Pfänder waren vor allem Textilien und Hausrat von Webern und Kramern - das bestätigt die Parallele zu den ausgesprochen ländlichen Geschäftspraktiken. Daneben verweist eine andere Gruppe von Fällen, bei denen zwei sogenannte Unterkäufel als Vermittler auftraten, daß auch wertvolle Preziosen als Pfänder für Kredite mit einem hohen Durchschnittswert von 380 fl. an eine soziale Mittelschicht vergeben wurden; an diesen Geschäften waren aber nicht nur Juden aus Pfersee, Steppach und Kriegshaber beteiligt, sondern auch aus Fischach, Binswangen, Günzburg, Burgau und sogar Wassertrüdingen. Die Mehrzahl der Juden wurde freilich auf den Kleinhandel zurückgeworfen, der ihnen allerdings nur einen begrenzten Spielraum ließ, und trotzdem erfüllten sie gerade im ländlichen Raum ganz spezifische Funktionen. Zur Domäne wurde in der Regel der Viehhandel. Eine Erwerbsstatistik für das oettingische Wallerstein von 1687 verzeichnet zum Beispiel von den 35 ansässigen Familien 17, die vom Pferde- und Viehhandel lebten. 73 Die Palette der Möglichkeiten reichte dabei bis zur Praxis der Meier- und Lehenkühe und der Vieheinstellung bei Bauern, aber auch herab bis zum Nothandel, bei dem Juden lediglich einzelne Tiere als Makler vermittelten. 74 Neben der Kreditvergabe verband sich damit häufig der
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Wiesbaden 1980 (Schriften der Kommission für die Geschichte der Juden in Hessen V). Zitat S. 47. W. Volkert (Anm. 24) S. 587. S. Ulimann (Anm.28) S. 59-70 sowie ihre Tabelle im Anhang. L. Müller II (Anm. 24) S. 106. Dieses allgemeine Phänomen hat besonders eindrucksvoll K.E. Demandt, Niedenstein (Anm. 70) S. 49 aufgezeigt; ähnlich R. Bodenheimer (Anm. 53) S. 32 für die hessischen Viehmärkte; vgl. auch Ausstellungskatalog Bayern (Anm. 18) S. 198-200.
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Fleischverkauf, wohl aus der rituell bestimmten Praxis, die nicht koscheren Fleischteile abzustoßen; ein ausgesprochenes Schlachtmonopol hatten z.B. die Juden von Illereichen-Altenstadt seit 1658 inne: Die unterthanen sollen fleisch bei den Juden nemen und nicht einlegen bei straf von 10 fl. heißt es dort in einem Strafprotokoll. 75 Die von Michael Piller analysierten Geschäftsabschlüsse der Fischacher Juden im 18. Jahrhundert76 zeigen den Viehhandel ebenso wie die Tatsache, daß der Handel mit Getreide, Hülsenfrüchten, Bier, Obst, Salz, nicht zuletzt mit Textilien, Holz, Kesseln und Pfannen das Warenrepertoire ergänzte. Für Mittelschwaben wäre es zudem wichtig, der Rolle der Juden für den Flachs-, Garn- und Textilhandel, wie er etwa bei Altenstadt 1719 belegt ist, im Zusammenhang mit den Problemen der sogenannten Protoindustrialisierung genauer nachzugehen. 77 Denn gerade die Bedeutung der Landjuden für den Aufbau der Infrastruktur nach dem Dreißigjährigen Krieg und ihre Aufrechterhaltung dürfte nicht zu unterschätzen sein, wie das Hartmut Heller für Dörfer im Steigerwald gezeigt hat.78 In zahlreichen Fällen läßt sich zudem nachweisen, und das erscheint symptomatisch, daß bei Störungen dieses Netzes, wenn Absatzchancen und Versorgung stockten, die Forderungen nach restriktiven Verordnungen gegen die Juden sehr schnell ins Gegenteil umschlugen. 79 Der Aktionsradius der Dorfjuden konnte dabei recht weiträumig ausfallen: In Altenstadt verzeichnen die Amtsprotokolle von 1787 und 1790 Besuche der Mes75
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Hans Böhm: Die Altenstadter Juden. In: Illereichen-Altenstadt. Beiträge zur Geschichte der Marktgemeinde. Weißenhorn 1965. S. 52-62, hier S. 53. M. Piller, Juden I (Anm. 7) S. 350-357. Erste Belege in dieser Richtung bieten die Judenordnung von 1719 für Altenstadt, die ihnen erlaubt Schneller auf den Wochen- und Jahrmärkten feilzuhalten, J. Miedel (Anm. 24) S. 57f. sowie die Ordnung von 1785 für Oettingen-Spielberg, die den Groß- und Kleinhandel mit Leinenwaren und den freien Einkauf von Schnellern, Garn und Federn auf den Wochenmärkten gestattete: L. Müller II (Anm. 24) S. 105. Zum Problemzusammenhang vgl. Rolf Kießling: Die Stadt und ihr Land. Umlandpolitik, Bürgerbesitz und Wirtschaftsgefüge in Ostschwaben vom 14. bis ins 16. Jahrhundert. Köln, Wien 1989 (Städteforschung A 29). S. 213234, 479-504, 610-617, 677-684, 721-741; R. Kießling, Burgau (Anm. 59) S. 17-35; R. Kießling: Entwicklungstendenzen im ostschwäbischen Textilrevier während der Frühen Neuzeit. In: Gewerbe und Handel vor der Industrialisierung. Regionale und überregionale Verflechtungen im 17. und 18. Jahrhundert. Hg. von Joachim Jahn, Wolfgang Härtung. Sigmaringendorf 1991 (Regio histórica. Forschungen zur süddeutschen Regionalgeschichte, Bd. 1). S. 27-48. H. Heller (Anm. 14) S. 210-224 arbeitet diesen Aspekt mit seinem spezifisch sozialgeographischen Ansatz sehr deutlich heraus. Besonders markant am Fall Bamberg 1699: vgl. Rudolf Endres: Antijüdischer Bauernaufstand im Hochstift Bamberg 1699. In: Bericht des historischen Vereins Bamberg 117. 1981. S. 67-81; ähnlich in Memmingen 1756, wo die Kramer und Gerber aussagen, sie seien auf die Fellheimer Juden angewiesen, J. Miedel (Anm. 24) S. 66.
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sen in Zurzach und Frankfurt, sie hatten Kunden vom Ries über Württemberg und Vorarlberg bis Passau. 80 Der Kampf um den Markt paßte sich dabei in das Muster jener Stadt-Land-Beziehungen ein, das sich seit dem Spätmittelalter ausgebildet hatte:81 Abwehr fremder Konkurrenz, seien es ländliche Hausierer und Handwerker, Savoyarden oder eben Juden. Nicht allein die spezifisch antijüdische Komponente kam zum Tragen, sondern auch die Aufrechterhaltung eines städtisch-zünftischen Monopols. Die Anti-Wucher-Kampagnen richteten sich ebenfalls nicht nur gegen die Juden, vielmehr reichen sie zurück zu den allerorten üblichen Versuchen, den sogenannten Fürkauf einzudämmen, und speziell in Augsburg wurde 1569 im Weberhaus ein Pfandgewölbe eingerichtet, das die Verlagsbeziehungen im Textilgewerbe mildern sollte. 82
4. Konfliktmuster im Verhältnis von Juden und Christen Trotzdem: diese ökonomische Symbiose verhinderte nicht die Einschätzung der Juden als 'Fremde'. Max Webers bekannte Formel von Juden als "Pariavolk", 83 das sein Verachtetsein mit dem Bewußtsein der Auserwähltheit kompensierte und ein "Gefühl der Überwachheit begründete, stets auf der Hut zu sein vor dem übermächtigen und erbarmungslosen Feind", ist für die Juden der Frühneuzeit mehrfach aufgegriffen worden. Für sie spricht die prekäre Rechtslage, das endogame Verhalten, problematisch dagegen erscheint es, die Verachtung der Juden und deren Ethik des geduldigen Ausharrens und passiven Sichanpassens als allgemeine Merkmale herauszustellen. Deshalb korrigierte Werner Cahnmann ihn mit dem Begriff des "Fremden", 84 der durchaus respektiert werden kann und dem zudem nicht durchgängig die soziale Deklassierung anhaftet. Auch Utz Jeggle muß für die Württem-
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H. Böhm (Anm. 75) S. 57; demgegenüber zeigt H. Heller (Anm. 14) S. 216 für die fränkischen Dörfer im Steigerwald um 1840 lediglich einen Umkreis von ca. 6 km für die Schnittwarenhändler in Adelsdorf und Mühlhausen auf. Ähnliches ergibt sich für die Emersacker Juden: D. Koutnä-Karg (Anm. 39) S. 413-417. R. Kießling, Die Stadt und ihr Land (Anm. 77) in den Passagen über die wirtschaftlichen Aspekte der Stadt-Land-Beziehungen. Claus-Peter Clasen: Die Augsburger Weber. Leistungen und Krisen des Textilgewerbes um 1600. Augsburg 1981 (Abhandlungen zur Geschichte der Stadt Ausburg, Bd. 27). S. 286307. Max Weber: Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriß einer verstehenden Soziologie. Hg. von Johannes Winckelmann. Studienausgabe. Tübingen 5. revidierte Auflage 1980. S. 300f. W. Cahnmann, Dorf- und Kleinstadtjuden (Anm. 20) S. 179-191.
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berger Dörfer zugestehen, "daß die Pariakaste nicht wie eine Pariakaste reagierte." 85 Auffällig ist jedenfalls für Ostschwaben, daß trotz - oder gerade wegen? - der prekären Stellung der Juden zwischen Markgrafschaft und Ortsherren ihr Verhalten von einem ausgeprägten Selbstbewußtsein gekennzeichnet war. Die Ichenhausener klagten 1622 bei der oberösterreichischen Regierung in Innsbruck die Einhaltung der Schutzzusage ein, die von den Ortsherren in Frage gestellt wurde, der Freiherr von Knöringen stufte sie 1684 als hartnäckiges Gesindel ein, das mit sträflicher Insolenz auf dem uneingeschränkten Einheiratsrecht beharre; er warf ihnen vor, daß selbst restriktive Maßnahmen wegen solch bezaigter hochstrafbarer Widerspenstigkeit nutzlos seien, ja daß sie ihn allerorten verhöhnten. 86 Man darf also aus der insgesamt labilen Rechtslage nicht unbedingt den Schluß ziehen, daß die Juden sich ausschließlich passiv anpaßten, vielmehr durchaus aus den strittigen hoheitlichen Ansprüchen Nutzen zu ziehen suchten und ihren Standpunkt vehement verteidigten. Die Kategorie des 'Fremden' wird für unseren Untersuchungsbereich deshalb verwendbar, weil das ländliche Judentum offenbar keinerlei Züge der Assimilation annahm. Folgt man Jacob Katz in der Zusammenstellung der Merkmale des vorassimilierten Zustandes, 87 nämlich der sprachlichen Sonderstellung, der besonderen Tracht, der rechtlichen Lage, der religiösen Hoffnung auf den zukünftigen Messias, so muß für die Alltäglichkeit sicher die Konsequenz einer strengen Gesetzestreue berücksichtigt werden, die sich in der Einhaltung der Sabbat- und Feiertagsgebote und der rituellen Speisegesetze bis hinunter zum jüdischen Gaunertum nachweisen läßt. Man wird gegenüber Phasen einer zumindest ansatzweise freieren Begegnung von Juden und Christen in und nach der Aufklärung während der Frühen Neuzeit von einer verstärkten Selbstabgrenzung ausgehen dürfen. Schon die landläufige Vorstellung vom Ghetto trifft nur sehr bedingt die Wirklichkeit - die bekannten Verhältnisse von Frankfurt 88 dürfen nicht unbesehen auf die Landjuden übertragen werden, schon gar nicht in Schwaben. So hatten die Juden in der Regel einen Anteil an den Gemeindegründen und -rechten, zumindest
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U. Jeggle (Anm. 17) S. 28. L. Reissler (Anm. 5) S. 60; vgl. oben zu Anm. 45. Jacob Katz: Die Entstehung der Judenassimilation in Deutschland und deren Ideologie. Diss. Frankfurt 1934. Wiederabdruck in J. Katz: Zur Assimilation und Emanzipation der Juden. Ausgewählte Schriften. Darmstadt 1982. S. 1-82, hier S. 13-21; vgl. dazu auch Mordechai Breuer: Jüdische Orthodoxie im Deutschen Reich 1871-1918. Sozialgeschichte einer religiösen Minderheit. Frankfurt a.M. 1986. S. 41-60, besonders S. 48f. zur 'volkstümlichen Orthodoxie'. Vgl. etwa die Darstellung bei Wanda Kampmann: Deutsche und Juden. Die Geschichte der Juden in Deutschland vom Mittelalter bis zum Beginn des Ersten Weltkrieges. Heidelberg 1963. Frankfurt 1979. S. 89-97.
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für die Hausstellen, die ihnen am Anfang zur Verfügung gestellt wurden. In Fischach entfaltete sich an diesem Kristallisationskern die gesamte Ordnung in der Gemeinde, wie sich aus der Analyse von Susanne Braun ergibt: 89 Nach der ersten Ansiedlung von 1570 regelte ein Weidevertrag von 1586 die Verhältnisse so, daß mit zwei jüdischen Hausstellen die Dorf- und Gemeindegerechtigkeit verbunden war; damit waren aber die Juden in die Dorfordnung integriert. Dieses Prinzip wurde beibehalten, als nach der Unterbrechung des Dreißigjährigen Krieges die Neuansiedlung im sogenannten Judenhof erfolgte; Kernpunkt der Auseinandersetzungen blieb vor allem die Nutzung der Weide im Zusammenhang mit dem ausgedehnten Viehhandel. Daß dies kein Einzelfall ist, belegen die Verhältnisse in Hürben, wo 1760 acht Häuser Gemeindegerechtigkeit besaßen, 90 vielleicht auch in Buttenwiesen, Kriegshaber und Schlipsheim, 91 während in Binswangen 92 die Juden immerhin zu ihren sonstigen Nutzungen im Krautgarten 1773 weitere 77 3/4 Jauchert Land erwerben konnten - das freilich verpachtet wurde -, und in Altenstadt 93 zumindest die Weidenutzung und der Holzbezug von der Herrschaft zugestanden waren. In der Grafschaft (Dettingen94 sollte die Teilhabe an den "Gemeinde-rechten, z.B. Trieb, Trab und Weidbesuchung" bescheidentlich gehandhabt wer-den (1695). Immer wieder wird jedoch greifbar, daß der Kauf von Häusern aus Christenhand auf Widerstand stieß, so daß von einer freien Entfaltung selbstverständlich nicht die Rede sein kann. Doch mehrfach konnte auch ein Zuerwerb von Hausstellen durchgesetzt werden. Die Konzentration der Judenfamilien in eigenen Vierteln und Gassen ging deshalb oft auf den Ansiedlungsakt zurück, so daß die zugestandenen Plätze und Häuser aufgesiedelt und mehrfach geteilt werden mußten und dabei städtische Bauformen erhielten wie in Fischach, wo sich auf ursprünglich zwei Anwesen im Ortskern Mitte des 18. Jahrhunderts die Mehrzahl der 32 Haushalte samt Synagoge und Mikwe zusammendrängte. 95 Trotzdem standen Häuser von Juden und Christen oft nebeneinander wie in Binswangen. 96 Auffallig er89
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S. Braun (Anm. 33) S. 65-75; vgl. M. Piller, Juden I (Anm. 7) S. 324-331; vgl. oben zu Anm. 47. H. Sinz, Krumbach (Anm. 38) S. 268. L. Lamm, Buttenwiesen (Anm. 49) S. 13f; F. Neuner (Anm. 6) S. 130 (aber ohne Nachweis); zu Steppach und Schlipsheim G. Hetzer (Anm 48) S. 244 und S. 250. L. Reissler (Anm. 5) S. 74f. Holzrechte besaßen die Juden jedoch nicht; das von Reissler S.74 angegebene Holzmachergeld, aus dem ein solches Recht abgeleitet werden könnte, hält der Nachprüfung an den Quellen nicht stand (frdl. Auskunft von S. Ullmann). J. Miedel (Anm. 24) S. 58f. nach der Judenordnung von 1719. L. Müller II (Anm. 24) S. 100; vgl. speziell zu Harburg R. Jakob (Anm. 65) S. 168-173. M. Piller, Fischach (Anm. 7) S. 126f., 155-158, 196-203; zum Häuserbesitz der Grundherren um 1800 Plan im Vorsatz. L. Reissler (Anm. 5) S. 76-78 Auswertung des Ortsplanes von Kolleffel um 1750; weitere sind auch für die anderen Orte diesbezüglich aufschlußreich; vgl. Johann Lambert Kolleffel:
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scheint jedoch, daß in vielen Orten die Abdrängung von der Kirche und dem Marktplatz als Zentren der Öffentlichkeit propagiert wurde. So konnte in Ichenhausen der erste Jude erst nach dem Übergang an Bayern 1806 gegen den erbitterten Widerstand und die Bezahlung eines überhöhten Preises ein Haus am Mittelmarkt erwerben, der bisher für Judenbesitz tabu war. 97 Andererseits kam die Tendenz zur Separierung den Juden insofern entgegen, als zusammenhängende Baugruppen, mit dem sogenannten Eruw umgeben, einer durch Schnüre und Drähte angedeuteten Abgrenzung, Erleichterungen für die strengen Sabbatgebote ermöglichten, da das Tragen von Gegenständen hier wie im Haus erlaubt war. 98 Die christliche Bevölkerung wiederum wehrte sich vielfach dagegen, daß Juden und Christen unter einander laufen, und wir unsere lieben Kinderlein von der Juden Kindern nicht mehr absondern könnten, wie es in einer Eingabe der Gemeinde Neresheim von 1658 heißt.99 Bezeichnenderweise wurde aber der Plan von 1714, die Juden der Stadt Oettingen in einer abgelegenen Vorstadtgasse neu anzusiedeln, nicht realisiert; das Nebeneinander war geläufig. 100 Diese alltägliche Lebenssituation wurde freilich von der Kategorie der 'Fremdheit' überlagert - und das führte zu typischen Konfliktmustern. Die Fremdheit wurde in der Regel von der christlichen Umwelt akzeptiert, als Vollzug eines Aberglaubens zwar vielfach beargwöhnt und verspottet, aber nur mehr selten grundsätzlich in Frage gestellt,101 solange sie sich im privaten Bereich bewegte. Reibungsflächen ergaben sich vorwiegend dort, wo die dominierende christliche Öffentlichkeit tangiert war. Dabei ist in Rechnung zu stellen, daß die-
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Schwäbische Städte und Dörfer um 1750. Geographische und Topographische Beschreibung der Markgrafschaft Burgau 1749-1753. Tafelband. Hg. von Robert Pfaud. Weißenhorn 1974 (Beiträge zur Landeskunde von Schwaben, Bd. 2). H. Sinz, Ikenhausen (Anm. 38) S. 256f.; E. Ganzenmüller (Anm. 38) S. 158. Daß dies nicht immer galt, zeigt das Beispiel Harburg, wo seit 1689 Hausbesitz am Markt bestand: R. Jakob (Anm. 65) S. 116-122. H. Böhm (Anm. 75) S. 55; M. Piller, Juden I (Anm. 7) S. 340-342; L. Reissler (Anm. 5) S. 60 im Zusammenhang mit dem Rezeß von 1694 (dabei wird aber der Ausdruck Schnier nicht verstanden); G. Hetzer (Anm. 48) S. 251 für Kriegshaber; L. Müller II (Anm. 24) S. 111 für Oettingen. L. Müller II (Anm. 24) S. 85, bei einer Judenschaft von zehn Haushalten und acht Hausgenossen (Mietern), d.h. etwa 80 Seelen, das entsprach etwa einem Viertel der christlichen Bevölkerung. Derartige Klagen sind häufig, vgl. etwa 1639 in Bamberg A. Eckstein (Anm. 12) S. 282f. L. Müller II (Anm. 24) S. 87; auch in Harburg sind lediglich Tendenzen greifbar: R. Jakob (Anm. 65) S. 118; vgl. auch den Fall von Lichtenfels, wo 1755 ein Versuch, die Juden in ein Ghetto einzuweisen, auf den Einwand stieß, im ganzen Hochstift Bamberg sei kein Ghetto üblich, A. Eckstein (Anm. 12) Nachtrag S. 53f. Dies war etwa der Tenor der revidierten Judenordnungen seit dem 17. Jahrhundert in Hessen, vgl. F. Battenberg, Judenordnungen (Anm. 34) S. 93f., 97f.
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ses Spannungsfeld von Abwehr und Anerkennung durch die verfestigten Vorurteile jederzeit in aktuelle Ressentiments umschlagen konnte. Die noch in der Reichspolizeiordnung von 1530 und in der Burgauer Judenordnung von 1534 festgeschriebene Kennzeichnungspflicht war im 17./18. Jahrhunderts bereits aufgehoben oder stillschweigend gelockert. In der Grafschaft (Dettingen war sie offenbar nicht mehr üblich, in Pfalz-Neuburg konnte sie bereits 1627 auf Antrag erlassen werden; für die Markgrafschaft Burgau hatte der Schutzbrief Kaiser Matthias' von 1618 das Tragen besonderer Zeichen außerhalb des Ortes beseitigt.102 Dagegen war eine besondere Tracht - weißer Kragen, langer Rock, Haube mit Samt - in Ichenhausen noch 1740 üblich.103 Die durch die jeweilige Religion festgelegten Kontaktbereiche beinhalteten allerdings empfindliche Reibungsflächen. Die Sonntagsheiligung und die Prozessionen an Festtagen boten insbesondere den christlichen Pfarrern immer wieder Anlaß, gegen ein drohendes Ubergreifen einer vermeintlichen jüdischen Dominanz zu predigen. Im Vorfeld der Ausweisung durch Markgraf Karl 1617 werden derartige Predigten in Günzburg greifbar. 104 Das Muster gegenseitiger Vorwürfe zeigt der Fischacher Vertrag von 1678:105 Während die Juden sich beschwerten, Gemeindearbeiten würden vorwiegend am Samstag zu ihrem Nachteil angesetzt, bezichtigten die Christen sie, an hayligen Sonntägen undfeyrtägen [...] holzscheiten, waschen und anderen unzimbliche arbeithen zu verrichten. Umgekehrt gestalteten die Juden ihrerseits die Hochzeiten - oder die Einweihung neuer Zehn-Gebote-Tafeln 106 - besonders festlich und aufwendig mit Musik und Tanz, was regelmäßige Proteste auslöste. Wenn aber 1659 das Augsburger Ordinariat den Christen den Besuch von Hochzeiten, Beschneidungen und anderen Gottesdiensten verbieten wollte,107 so wird daraus auch ersichtlich, daß die Verhältnisse vor Ort die offizielle kirchliche Haltung mehrfach unterliefen. Ein spezifischer Konflikt entstand durch die Beschäftigung der christlichen Arbeitskräfte am Sabbat. Auch hier hatte das Ordinariat 1682 ein Verbot durchzuset102
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L. Müller II (Anm. 24) S. 108f.; L. Lamm, Lauingen (Anm. 24) S. 13: Eingabe des Juden Güssle von Gundelfingen an den Rat von Lauingen, gewöhnliche Kleidung tragen zu dürfen; zur Markgrafschaft Burgau 1618 vgl. oben zu Anm. 61. H. Sinz, Ichenhausen (Anm. 38) S. 253f. zum Jahr 1740; vgl. aber das Bild von der Vereinigung der beiden Ortsgemeinden Ichenhausen 1784, wonach die Juden lediglich Bärte trugen; Juden auf dem Lande (Anm. 21) S.56f. L. Reissler (Anm. 5) S. 46f. S. Braun (Anm. 33) S. 75f.; zu ähnlichen Vorwürfen 1741/49 vgl. M. Piller, Juden I (Anm. 7) S. 336-340. G. Hetzer (Anm. 48) S. 251 für Kriegshaber; vgl. Thomas Michel: Die Juden in Gaukönigshofen/U nterfranken (1550-1942). Wiesbaden 1988 (Beiträge zur Wirtschafts- und Sozialgeschichte Bd. 38). S. 114-127. So bei L. Reissler (Anm. 5) S. 64f. - belegt aber erst in Aufzeichnungen des Pfarrers von 1826; für Steppach 1746 G. Hetzer (Anm. 48) S. 252.
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zen versucht, wogegen die Juden sich beim Burgauer Oberamt beschwerten, so daß es teilweise wieder zurückgenommen werden mußte.108 Bezüglich der Einhaltung der christlichen Feiertage blieb dieser Streitpunkt freilich bestehen. 1748 erreichte der Pfarrer von Ichenhausen, daß die Arbeitskräfte ihre Tätigkeit einstellten, so daß die Juden im benachbarten (evangelischen!) Burtenbach Aushilfen holen mußten.109 Zu diesem Muster zählte schließlich nicht zuletzt die Errichtung der EruwZäune am Sabbat bzw. an jüdischen Feiertagen. Schon im Vorfeld des Binswanger Vertrags von 1694 beklagte der Freiherr von Knöringen die vergeblichen Versuche, dies zu verbieten.110 In Fischach polemisierte der Pfarrer seit 1767 mehrmals dagegen, daß die Porta Jerusalem aufgerichtet wurde - bezeichnenderweise lagen die Judenhäuser nahe der Pfarrkirche, und die Stangen und Drähte schlössen in der Karwoche die Kirche, den Pfarrhof und weitere Christenhäuser ganz ein der Streit zog sich weiter bis ins 19. Jahrhundert.111 Mutwilligkeiten, extensive Auslegungen von Rechten und Empfindlichkeiten waren möglicherweise auf beiden Seiten vorhanden. Trotzdem sollte man aus den spezifisch christlichen Vorwürfen nicht den Schluß einer Dauerfeindschaft ziehen. Denn andererseits verhinderten sie nicht, daß mehrfach die Pfarrer oder sonstige Amtsträger ihrer Gemeinde die vorbildliche Einhaltung der Sabbatgebote durch die Juden als Muster vorhielten.112 Grundsätzliche Dimensionen werden allerdings beim Synagogenbau sichtbar, galt er doch als Beweisstück für eine expansive öffentliche Religionsausübung, weshalb die Gebäude in der Regel nach außen nur den Charakter eines Privathauses aufweisen durften. 113 Als die jüdische Gemeinde in Altenstadt114 1719 an die Verwirklichung des Baues ging, für den der Schirmbrief von 1719 bereits einen Platz samt Holzbezug von der Herrschaft vorgesehen hatte, protestierte das Ordinariat gegen den Bauplan: sowohl die langen Fenster als auch das Gewölbe sollten abgethan und geändert werden, mithin alles in den Stand eines andern gemeinen Bauernhauses hergestellt werden, dazumalen von keinerlei Obrigkeit gestattet werden könne, den Juden seine Tempel zu ihrer Superstition auftauen zu
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L. Reissler (Anm. 5) S. 65f. E. Ganzenmüller (Anm. 38) S. 155f.; schon 1668 wurde ein gleichartiger Vorwurf erhoben; vgl. auch G. Hetzer (Anm. 48) S. 252f. für gleichgerichtetes Vorgehen in Steppach 1746. L. Reissler (Anm. 5) S. 60 vgl. oben zu Anm. 45 und 63. M. Piller, Juden I (Anm. 7) S. 341f., II S. 323-327; M. Piller, Fischach (Anm. 7) S. 302304. So etwa der Nördlinger Stadtamtmann 1669 und der Rat 1695: L. Müller I (Anm. 24) S. I05f.; ähnlich der Ichenhausener Pfarrer 1668: E. Ganzenmüller (Anm. 38) S. 155. So etwa in den hessischen Judenordnungen vgl. F. Battenberg, Judenordnungen (Anm. 34) S. 98. H. Böhm (Anm. 75) S. 59.
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lassen. Doch bezeichnenderweise wurde anscheinend trotz nochmaligen Protests keine wesentliche Änderung vorgenommen. Der anfangs schon angesprochene Typus der stattlichen schwäbischen Synagogen des 18. Jahrhunderts spricht in diesem Zusammenhang dafür, daß das Gewicht der Gemeinden inzwischen so stark geworden war, daß sie ihre Vorstellungen nach außen durchsetzen konnten. Auch in Fischach115 versuchte das Domkapitel 1729/39 den Bau zu verhindern, und der Pfarrer beschwerte sich zudem beim Ordinariat darüber, daß die Dorfbewohner beim Bau behilflich waren und sich an den Festlichkeiten zur Einweihung beteiligten, ja sogar katholische Spielleute vom Ort in der Synagoge aufspielen sollten. Die Stabilisierung der Judengemeinden nach dem Dreißigjährigen Krieg beseitigte nicht die Reibungsflächen der gegenseitigen 'Fremdheit' - von Toleranz zu sprechen, wäre sicher unzutreffend. Doch die alltägliche Begegnung reduzierte die Spannungen auf ritualisierte Verhaltensmuster, in denen das Unverständnis und die Vorwürfe leidlich kanalisiert werden konnten - aufgehoben wurden sie nicht, im Gegenteil: die Vorurteile blieben latent erhalten und konnten jederzeit wieder aufbrechen. Dies soll ein abschließendes Beispiel demonstrieren; es betrifft die Generalausweisung aus Pfalz-Neuburg 1740/42'16 - ein zu dieser Zeit selten gewordenes Ereignis. Sie wurde von der Landschaft mit dem Argument erreicht, nur dadurch sei der religiöse Friede wieder herzustellen, da täglich die zweite Person Gottes in den Synagogen und Wohnhäusern mit Blasphemien überhäuft werde.117 Der Abschluß der Ausweisung bestand in einem öffentlichen Fest" 8 in Monheim mit einer Lob- und Danckpredigt. Ihre Argumentation greift das ganze Register der über lange Zeit tradierten Vorwürfe auf: die Ausbeutung der Bauern durch betrügerischen Wucher, die blutdürstigen Christenräuber, die Ritualmordlegende, den Hostienfrevel, die Vorwürfe der Zauberei und des teuflischen Gebetes, um mit historischen Fällen an die Verworfenheit der zwölf jüdischen Stämme zu erinnern. Beim abschließenden Festakt im Wirtshaus unter Anwesenheit der Honoratioren mit Umtrunk, Musik und Freibier wurde auch eine gemahlte Scheiben mit einem diskriminierenden Spottbild enthüllt - worauf von her ein mit Fux-Bart, und Haren versechener Jud mit der Uberschrijft: Adjeu ich räume die Stadt. Hinterselben aber eine S. V. Schwein, und hinter dieser wiederumb ein Rabbiner mit einem in der Hand haltenden Glas, den S. V. Schweins-Unflat auffangend, deme die besagte Schwein durch die Uberschrijft zusprichet: Zum letzten Trunck/proficiat - und am folgenden Tag zum Schützenfest auf dieses Ziel geladen und so schön geschossen,
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M. Piller, Juden I (Anm. 7) S. 318-320; M. Piller, Fischach (Anm. 7) S. 200f.; S. Braun (Anm. 33) S. 76-78. W. Volkert (Anm. 24) S. 597f.; vgl. auch L. Lamm, Lauingen (Anm. 24) S. 35f. W. Volkert (Anm. 24) S. 597. Referiert und zitiert nach dem Druck von 1741 StaatsAAug. Depot Heimatverein Akt 97.
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das selbe hinach einem Igel mehrers, als einem Schwein gleichete. Doch auch in Neuburg gab es Stimmen der Besonnenheit, denn als 25 Jahre später der Landschaftskanzler Freiherr von Rummel den seither greifbaren wirtschaftlichen Aufschwung als Segen Gottes für die Judenausweisung interpretierte, hielt ihm ein Hofrat entgegen: Niemand wird unter dem angenommenen Zwang eines abergläubischen Argwohnes die Verbesserung der Camerales der Emigration der Juden verdanken.119 Kehren wir zu unserem Ausgangspunkt zurück - zur Erzählung des Hirsch Fürth, des Rabbiners von Binswangen in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Wenn er das Zusammenleben von Juden und Christen als gemütlich charakterisiert, war das sicher eine etwas verklärte Erinnerung - die Aufzeichnung stammt von seinem Sohn aus späteren Jahrzehnten. Und doch spiegelt sich darin auch ein besonderer Typus von Judendörfern, was sich in objektivierbaren Sachverhalten dieser Zeit niederschlug: Während in Franken bis weit in die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts die Integration der Juden in den politischen Gemeinden und in den Vereinen kaum Fortschritte machte, 120 lassen sich in den schwäbischen Gemeinden zuweilen relativ frühe Ansätze beobachten: in Fischach121 zog bereits 1822 Hirsch Günz als Mitglied in den Gemeindeausschuß ein, 1837 stellten die Juden bereits zwei von vier Bevollmächtigten. In Krumbach-Hürben 122 waren unter den ersten Mitgliedern des Gewerbevereins 1837 bereits zwei Juden, ein Seifensieder und ein Lebzelter, denen bald weitere folgten - wobei aufschlußreich erscheint, daß die jüdischen Meister auch christliche Lehrjungen ausbildeten. Hat die Entwicklung der schwäbischen Judengemeinden während der Frühen Neuzeit, wie sie an einigen Punkten zu verfolgen war, das Doppelproblem von Emanzipation und Assimilation erleichtert? Ihre zahlenmäßige Größe und damit ihr Gewicht im Ort mochte eine gewisse Bereitschaft zur Akzeptanz von seiten der christlichen Gemeinde mit sich bringen, vielleicht auch ein selbstbewußteres Verhalten der Juden auslösen, als es anderswo möglich war. Noch sind wir nicht in der Lage, schlüssige Antworten darauf zu geben, doch ist zu hoffen, daß die im Gang befindliche Erforschung der schwäbischen Judendörfer dies in absehbarer Zeit zuläßt.
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W. Volkert (Anm. 24) S. 599. So z.B. in Gaukönigshofen vgl. Th. Michel (Anm. 106) S. 239-249, 309-328. M. Piller, Fischach (Anm. 7) S. 292f. Herbert Auer: D i e Einbindung der Juden in das öffentliche Leben und örtliche Vereinsgeschehen am Beispiel der Gemeinde Hürben/Krumbach. In: Geschichte und Kultur der Juden in Schwaben I. Hg. von Peter Fassl (Irseer Schriften). In Vorbereitung.
III. Mechanismen der Diskriminierung
Linguistik der Diskriminierung. Über die Agitation gegen Juden in Flugblättern der Frühen Neuzeit Hans Wellmann
Wer sich mit der 'Publizistik' der Frühen Neuzeit beschäftigt, sieht sich einer großen Vielfalt von Streit- und Agitationstexten mannigfacher Meinungskämpfe gegenüber. Am stärksten sind sie von religiösen und sozialen Gegensätzen bestimmt. Motive des ideologischen, ökonomischen und politischen Handelns verbinden sich mit ihnen. Wo sich der publizistische Meinungsstreit in charakteristischen Sprachformen der Zeit niederschlägt, die Wirkungen auf das Handeln gegen Mitmenschen haben, kann die Sprachwissenschaft nicht umhin, diesen Zusammenhängen nachzugehen und dabei herauszufinden zu suchen, welche Rolle die sprachliche Gestaltung der Texte, die spezifische Verbindung zwischen ihrer Ausdrucksseite und inhaltlichen Prägung dabei gespielt hat. Die Erforschung der Diskriminierung von Minderheiten gehört seit etwa zehn Jahren zu den Aufgaben, denen sich die 'Deutsche Sprachwissenschaft' an der Universität Augsburg im Rahmen ihrer Untersuchungen zur Sprachgeschichte der Neuzeit stellt. Unsere Arbeit hat damit begonnen, daß wir vor allem Texte erhoben, gesichtet und analysiert haben, die im Dienst von Aktionen gegen Schwächere (bestimmte Gruppen von Frauen als 'Hexen'; 'Juden') gestanden haben. Die Geschichte der Judenverfolgung in Deutschland macht es der Germanistik auch zur Aufgabe, sich mit den Anfangen des publizistischen Antisemitismus bzw. Antijudaismus zu beschäftigen - gerade deshalb, weil das alles so unverständlich und unbegreiflich wirkt. Einzelne Untersuchungen, die sich mit sprachlichen Aspekten dieser Art von Agitation beschäftigen, gibt es schon. In ihrem Mittelpunkt stehen Fragen der Lexik. Besonderes Augenmerk beanspruchten immer schon einige Spätschriften Luthers. Den Grund dafür hat schon R. Lewin 1911 in seiner Arbeit 'Luthers Stellung zu den Juden' erkannt und genannt: "Wer immer aus irgendwelchen Motiven gegen die Juden schreibt, glaubt das Recht zu besitzen, triumphierend auf
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Luther hinzuweisen." 1 Dabei ist seit langem bekannt, daß Luthers Schriften gegen Juden, zumindest von ihrer Motivation, nicht aber von ihrer Wirkung her, vor allem - wie W. Maurer 1968 teilweise überzeugend dargelegt hat - theologische Traktate darstellen. 2 Vom Gegenstand der Theologie des Neuen und des Alten Testaments ist dabei aber in Wahrheit wenig zu spüren. H. Oberman hat dann 1981 nachzuweisen versucht, daß die Schriften gegen Juden auch in den Kontext der Türken- und Papstschriften gehören, die für Luther zum Kampf gegen den "Antichrist" gehören. 3 Daß Luther die Juden nicht als Juden, sondern als Feinde 'seiner' neuen Religion bekämpft, scheint auch die Wortschatzanalyse D. Berings zu erweisen. Sein Beitrag 'Gibt es bei Luther einen antisemitischen Wortschatz?' weist nach, daß die "polemische Dichte" der Schriften gegen den Papst und gegen die Juden vergleichbar ist. In seiner Erhebung zu "polemischen Wörtern" kommt heraus, daß auf jede Seite "gegen die Juden 4 verschiedene Wörter, gegen den Papst 3 verschiedene Wörter" kommen; d.h. "12,8 Attacken pro Seite gegen den Papst und 11,4 Angriffe pro Seite gegen die Juden." 4 Von den ersten 40 polemischen Wörtern, die er in Schriften gegen den Papst erhoben hat, finden sich 29 wieder, die in den Schriften gegen Juden zu den allerhäufigsten gehören, "und von den ersten 40 der Judenliste stehen auch auf der des Papstes [...] 33, also 72,5 bzw. 82,5 %." 5 Der theologische Hintergrund kommt auch darin zum Ausdruck, daß in den Schriften gegen den Papst und gegen die Juden "Wörter" dominieren, "die aus biblisch-theologischem Raum stammen: Teufel, lästern, fluchen, Abgötterei und lügen." 6 Bering ist sich dabei aber selbst nicht ganz sicher, ob der Wortschatz dieser Schriften selbst die weitere Wirkungsgeschichte des Antisemitismus so bestimmt habe, wie die lexikalisch orientierten Untersuchungen glauben machen. Für den "Wortschatz, den Luther spezifisch gegen die Juden richtet", zieht er es in Zweifel. 7 Methodisch freilich ist einzuwenden, daß diese Reduktion der Analyse auf die Wörter keine linguistisch zuverlässigen Ergebnisse verspricht.
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Reinhold Lewin: Luthers Stellung zu den Juden. Ein Beitrag zur Geschichte der Juden in Deutschland während des Reformationszeitalters. Aalen 1973. Nachdruck von 1911. Wilhelm Maurer: Die Zeit der Reformation. In: Kirche und Synagoge. Handbuch zur Geschichte von Christen und Juden. Darstellung mit Quellen. Bd. I. Hg. von Karl Heinz Rengstorf, Siegfried von Kortzfleisch. Stuttgart 1968. S. 363-449. Hier S. 378ff. Heiko A. Oberman: Wurzeln des Antisemitismus. Christenangst und Judenplage im Zeitalter von Humanismus und Reformation. Berlin 1981. S. 155. Dietz Bering: Gibt es bei Luther einen antisemitischen Wortschatz? In: Zeitschrift für Germanistische Linguistik 17. 1989. S. 148. D. Bering (Anm. 4) S. 149. D. Bering (Anm. 4) S. 152. D. Bering (Anm. 4) S. 156.
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Für die Wirkungsgeschichte diskriminierender Schriften gegen Juden der Frühen Neuzeit ist auf jeden Fall noch ein anderer Gesichtspunkt entscheidend: Der wenn man so will - zweifache Medienwechsel, der die Textgeschichte durch den Ubergang von der Schreibfeder zur Druckerplatte und -presse bestimmt hat: Der 1 Medienwechsel 1 von der Handschrift zum Druck hat nicht nur, wie die Sprachgeschichtsschreibung von Jakob Grimm bis zu Peter von Polenz herausgearbeitet hat, ihre Auswirkung auf die Standardisierung und Vereinheitlichung der neuhochdeutschen Schriftsprache gehabt, er hat auch den Übergang vom Lateinischen als der Sprache der Gebildeten zum Deutschen als der Sprache breiter Bevölkerungsschichten gerade im 16. Jahrhundert beschleunigt, und im Zusammenhang damit hat dann auch - nicht zuletzt dank Luther - die gesprochene Sprache des Alltags gegenüber der 'Buchsprache' der Gelehrten zunehmend an Einfluß gewonnen. Dies hat sich besonders die neu aufkommende Publizistik zunutze gemacht, die nicht nur durch weitere Verbreitung von Büchern, sondern gerade in den 20er und 30er Jahren des 16. Jahrhunderts durch eine Unmenge von Flugschriften und auch durch Flugblätter ein immer breiteres Publikum erreicht hat. Ihre Inhalte wurden so auch den 'illiterati' im Wortlaut bekannt, wozu das Vorlesen im Familienkreis, im Wirtshaus und auf öffentlichen Plätzen beigetragen hat. Auf die 'illiterati' ist auch der hohe Anteil bildlicher Darstellungen in frühneuhochdeutschen Flugblättern abgestimmt. Manchmal nehmen sie hier sogar mehr Raum als der Text selbst ein. Die Vielfalt der Textarten, deren Herausbildung der Buchdruck gefördert hat, macht es darüber hinaus erforderlich, den vielfältigen Verzweigungen in der Textgeschichte des sprachlichen Antijudaismus nachzugehen, angefangen von den religiösen Spielen und Schwänken des ausgehenden Mittelalters über (pseudowissenschaftliche Traktate bis zu den Pasquillen und Flugblättern, von historischen Episodenerzählungen über Predigten und 'Schandzeichnungen' ('pitture infamante') bis hin zu den 'direktiven' Textarten von 'Judenordnungen', 'Judenerlassen 1 usw., die in unterschiedlichem Grad und Umfang zur Ausgrenzung jüdischer Minderheiten geführt haben. Die folgende Darstellung soll aus diesem Spektrum die publizistisch wirksame Gattung des Flugblattes behandeln. Dabei geht es um ein Textgenre, das besonderes Augenmerk verdient, weil es auf die Tagesaktualität abgestimmt ist. Welche sprachlichen Mittel die Wirkung des frühen Flugblatts über pejorative Wortbedeutungen hinaus bestimmen, soll dabei an einigen charakteristischen Textproben dargestellt werden. Neben der Lexik und den Bedingungen der Textbildung ist noch eine dritte Ebene der Sprache in die Untersuchung einzubeziehen: die des Satzes und der syntaktisch vermittelten Aussagen. Damit stellt sich auch die Frage nach den Spielarten der 'Prädikation', die - implizit oder explizit - in die Diskriminierung von Juden eingehen. Den Ausgangspunkt dazu bilden prädikative Satzmuster des
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Typus er ist ein jüd, die der klassifizierenden Einordnung und Ausgrenzung dienen. Mit der Klassifizierung verbinden sich dann oft Aussageformen der Generalisierung wie alle Juden [...] und der (Dis)Qualifizierung, angefangen mit Prädikativsätzen wie weil sie des Teufels sind. Um die Arten der Diskriminierung - die weitgehend über die Sprache läuft angemessen zu erfassen, ist es also notwendig, zumindest neben der Ebene des (polemischen) Wortes auch die des Satzes (insbesondere mit seinen Formen generalisierender, (dis)qualifizierender und klassifizierender Prädikation) und die des Textes (Textgattung, -Verbreitung und -Wirkung) zu untersuchen. Dafür bietet sich die Textgattung des Flugblattes geradezu an. Johannes Schwitalla hatte sie in seiner grundlegenden Habilitationsschrift über 'Deutsche Flugschriften 1460-1525' bewußt ausgespart. 8 Dafür bieten uns neben den Beständen der Bibliotheken (insbesondere: Oettingen-Wallerstein) auch Veröffentlichungen wie die von G. Ecker eine wertvolle Hilfe. 9 Die meisten Flugblätter und Flugschriften waren anfänglich in lateinischer Sprache erschienen. Die Absicht, eine breitere Öffentlichkeit zu erreichen, förderte aber früh die Verbreitung von Texten in deutscher Sprache. Auf die breite Schicht der 'illiterati' ist auch abgestimmt, daß unter ihnen bildliche Darstellungen, die zum Teil sehr einfach und auch primitiv gehalten sind - sie erinnern gelegentlich an die Comics unserer Zeit - so viel Raum einnehmen. Das bekannteste frühe Beispiel dafür ist die 'Historie von Simon' aus dem Jahr 1475 als das erste (in Trient) gedruckte Buch, das in diesem Zusammenhang zu erwähnen ist. Die Schilderung des angeblichen Ritualmordes an einem zweijährigen Kind wurde dann selbst über so berühmte Werke der Zeit wie die - u.a. vom jungen Dürer illustrierte - 'Schedeische Weltchronik' aus dem Jahre 1493 weiter verbreitet, wonach die Juden in der marter ausgesagt hätten, wie sie dise mißtat begangen hetten. vund darauff warden sie mit gepürlicher straff außgetilgt.10 Im Textartenbereich der 'Flugschriften' (meist in Prosa; von 4 bis über 100 Seiten Umfang; oft in einer Auflage von 200 bis 300 Exemplaren) wurde aus der zunächst 'privaten' Auseinandersetzung zwischen Johannes Pfefferkorn ('Handspiegel', 1511; Wider vnd gegen die Jüden, vnd Judischen Thalmudischen schafften [...]) und Johannes Reuchlin ('Augenspiegel', 1511; mit seiner Warhafftigen entschuldigung gegen vnd wider ains getaufften iuden genant Pfefferkorn vormals vßgangen vnwarhaftigs schmachbüchlin) der "einzige große Flugschriftenstreit vor
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Johannes Schwitalla: Deutsche Flugschriften 1460-1525. Textsortengeschichtliche Studien. Tübingen 1983. Gisela Ecker: Einblattdrucke von den Anfängen bis 1555. Untersuchungen zu einer Publikationsform literarischer Texte. Bd. I und II. Göppingen 1981. Hartmann Schedel: Das Buch der Chroniken und Geschichten. Nürnberg 1493. fol. 254 v .
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der Reformation." 11 In diesen und weiteren durch sie angeregten Flugschriften, die größtenteils zwischen Theologen und Lehrern ausgetragen wurden, treten vielfaltige Formen der Disputation mit Anklage, Verteidigung, Spottrede und Ironie hervor, die formal weitgehend durch Darstellungsverfahren der Erörterung (Argumentation) bestimmt sind. Daß Pfefferkorn trotz der geschliffenen und entlarvenden Gegenschriften Reuchlins eine beträchtliche Wirkung haben konnte, hängt vor allem damit zusammen, daß seine Sprache viel breitere Kreise erreichte. Während der Flugschriftenstreit nach 1512 im wesentlichen auf Lateinisch - in der Sprache der Gelehrten - erfolgte, schrieb Pfefferkorn weiterhin in der Volkssprache, auf deutsch. 12 Obwohl die Flugschriftenliteratur dieser Zeit meistens religiöse und politische Auffassungen, Dogmen und ideologische Inhalte zum Gegenstand hatte, liegt die Flugblattpublizistik, um die es im folgenden geht, auf einer ganz anderen Ebene. In den antijüdischen Flugblättern der Frühen Neuzeit geht es nicht um Aussagen, Auffassungen oder Glaubensinhalte, sondern um Personen. Es handelt sich um eine Publizistik, die gegen Juden gerichtet ist und dem Zweck dient, sie zu diskriminieren. Das hat nur noch wenig mit den geistigen Auseinandersetzungen der Humanisten zu tun, denen die Flugschriftenproduktion zwischen 1515 und 1525 ihre breite und starke Resonanz verdankt. Danach ging sie stark zurück. Es gibt weitere Gründe, die eine gesonderte Untersuchung der Flugblätter erfordern: Sie sind zum größten Teil nicht so persönlich oder individuell geprägt, sondern zeigen auffällige 'kollektive' Züge. Die Verfasser sind meistens gar nicht genannt, und wenn, ist ihre Sprache austauschbar. Wortwahl und Satzbau fallen ebenso wie natürlich die Textbildung - ungleich schlichter und primitiver aus, die Aussagen sind oft bildlich und weniger abstrakt, vor allem erscheinen sie öfter in Gestalt fester Stereotype. Manche Flugblätter wirken auch schon von ihrer graphischen Gestaltung her mehr als kollationierte Aufschriften oder Spruchbänder. Diesen Eindruck vermitteln jedenfalls die bisher untersuchten Texte. Der größte Teil dieser Flugblätter (Einblattdrucke) ist im Textteil durch Themakonstanz bestimmt, ein kleinerer durch Themaentfaltung oder -entwicklung. Im Vergleich mit den Streitschriften der Frühen Neuzeit fallt dann auch noch eines besonders ins Auge: Diese Flugblätter sind weitgehend ikonisch gehalten. Sie sollen weniger etwas über 'die Juden' aussagen, eine Behauptung über sie erläutern oder gar begründen, sondern - stereotype - Bilder von ihnen transportieren. Der hohe Anteil bildlicher Darstellungen in den Flugblättern der Frühen Neuzeit scheint von daher nicht nur als Ergebnis des Versuchs, die 'illiterati' zu erreichen - das ist gewiß ein wichtiger Aspekt ihrer Wirkung -, sondern er ist vor allem unter dem Gesichtspunkt zu interpretieren, daß sie - wirksame - Mittel der 11 12
J. Schwitalla (Anm. 8) S. 251. J. Schwitalla (Anm. 8) S. 255.
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' Alltagsrhetorik' sind. In ihr kommt der Bildlichkeit ja eine besonders große Bedeutung zu. Um es mit den Begriffen Watzlawicks zu sagen: Was die Verfasser ausdrücken wollen, vermitteln sie dann oft weniger 'digital' (also im Nacheinander der Gedanken), sondern vielmehr 'analogisch' (d.h. über Ähnlichkeiten, insbesondere bildlicher Darstellung). In den Flugblättern wirkt der Text dementsprechend oft als Illustration zum Bild, nicht umgekehrt. Von da aus liegt es nahe, die Analyse der Flugblätter mit dem Einblattdruck 'Judensau' (um 1470; nach einem Holzschnitt) zu beginnen. Er stellt geradezu den Archetyp der antijüdischen Verunglimpfung dar. Im Mittelpunkt steht das überlebensgroße Schwein (mit seinen großen Hauern, einem Rückenkamm, wie ihn auch Drachenabbildungen zeigen, und dem großen Gesäuge), das von jüdischen Männern und Kindern (an ihren Hüten und der Kleidung kenntlich) umgeben ist. Auf spruchbandartigen Inschriften steht, was sie zueinander sagen. Es betrifft ihr Aussehen ([...] sind wir gel [...]), ihre Essensgewohnheiten (vm dz [weil] wir nit essen suinin brotten [Braten]) und sexuelle Perversion (nun sehen lieben lut/ wie ich vnser muotter truett). Die einzige Aussage, die sich auf etwas Religiöses bezieht, ist bei ihrer abstrakteren Formulierung gleichwohl bildbezogen gehalten: Wir juden soellen all ansehen/ wie vnz mit Jesu ist geschehen. Dahinter steht eine mittelalterliche Tradition, die sich letztlich bis auf Hrabanus Maurus (gestorben 856) zurückführen läßt, der in 'De universo' "dem Schwein analogisch die Juden zur Seite stellt." 13 Merkwürdigerweise findet sich die Darstellung der 'Judensau' als Mittel der antijüdischen Demagogie schon früh an und in Kirchen (z.B. heute noch in Brandenburg und Wittenberg zu sehen). Das Schwein galt ursprünglich als Zeichen für zwei menschliche Laster, nämlich Unmäßigkeit und Unkeuschheit. Daneben wird der Jude gelegentlich im kirchlichen Kontext auch als Reiter auf einem Ziegenbock dargestellt, so z.B. im flämischen Aerschot. 14 Etwas stärker 'digital' im Sinne von 'argumentativ' geprägt scheint das nächste Beispiel eines Flugblatts zu sein: 'Meßkram vor die Juden, oder Jüdischer gelber. Ring.' Den Ausgangspunkt bildet die Frage: Was wird in einem Kramladen für die Juden verkauft? Es sind kleine gelbe Ringlin. Auf insgesamt vier Kupferstichausschnitten wird die Antwort dann bildlich gegeben, und gereimte Vierzeiler unterstützen deren Aussage. Ihr Wortlaut ist formal im Stil des Diskurses gehalten, der Text beginnt mit einer Frage: Es thuot iederman nachfragen./ Warumb die Juden Ringlin tragen? Dann folgt (im Präsens und mit begründenden Kon-
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Stefan Rohrbacher, Michael Schmidt: Judenbilder. Kulturgeschichte antijüdischer Mythen und antisemitischer Vorurteile. Reinbek 1991. S. 161. Dazu Joshuaw Trachtenberg: The Devil and the Jews. The medieval conception of the Jew and its relation to modern antisemitism. Cleveland, New York, Philadelphia 2. Auflage 1961. S. 44ff. Zur Tradition des Motivs siehe im übrigen Isaiah Shachar: The Judensau. A medieval anti-Jewish motif and its history. London 1974.
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junktionen) die dreiteilige Antwort auf die Frage, wie es zu der Anordnung komme, daß die Juden gelbe Ringe an ihrer Kleidung tragen mußten, um als solche kenntlich zu sein. Trotz der argumentativen Anlagen des Textes sind die Antworten dann wieder stereotyp und bildlich formuliert. Sie stellen insofern ein Analogon zu den Kupferstichabbildungen dar. Die Antworten haben die Form einer Begründung, aber den Inhalt der Behauptung, die durch das darüberstehende Bild jeweils drastisch illustriert wird: Alle Figuren, die gelbe Ringe tragen, sind von den Flammen der Hölle umlodert und vom Teufel bedroht. Ganz ähnlich wirkt die Kernaussage des zweiten Antwortblocks weil sie sehr schinden vnd schabn. Das Bild zeigt Bürger mit einem gelben Ring auf der Kleidung, die andere quasi beim Handel 'bis aufs Hemd ausziehen'. Die alte alliterierende Formel schinden vnd schabn beschreibt keinen Vorgang, sondern - durch die Art der Formulierung - eine Gewohnheit. Sie findet sich in ähnlicher Bedeutung bei Hans Sachs und Luther, Hutten und Dedekind, Ayrer und Alberus, und zwar mit der pragmatischen, durch den Kontext bestimmten Bedeutung, daß ein mächtiger Mann (auch ein Fürst, Ritter oder Papst) Schwache unterdrückt. Von daher kommt also auch eine Komponente sozialer Anklage hinein. Die Antwort des dritten Versblocks ist ebenfalls als Zustandsprädikation, diesmal aber antithetisch formuliert, und zwar so, daß die Zweiteilung der Welt in Gut und Böse, die das Bild zeigt, in folgender Weise verbal ausgedrückt ist: Also diß Nota zeigt vns fein, Daß Juden nichts gegn Christen sein. Die Prädikationen, die mit dem Subjekt die Juden verbunden werden, stellen Grundtypen antijüdischer Diskriminierung durch Aussagen dar: Zwei von ihnen dienen der Ausgrenzung; sie werden dem Bereich des Teuffels zugeordnet und damit der Gegenwelt, die den Christen als feindlich gegenübergestellt ist. Auch die dazugehörigen Abbildungen leben von dem Gegensatz zwischen Hölle und Christenwelt. Und die dritte Prädikation zeigt - auch im Bild - die Juden als diejenigen, die nichts anderes tun als schinden vnd schabn. Zwei der drei Prädikationen dienen also ihrer Ausgrenzung, eines ihrer Diffamierung. Die beiden ersteren haben insofern eine ähnliche ikonische Funktion wie der kleine gelbe Ring, den die Juden auf dem Bild tragen, ebenso übrigens wie in der Schedeischen Weltchronik und auf vielen anderen Darstellungen, die historische Wirklichkeit abbilden: Diskriminierung durch semiotische Ausgrenzung in der Öffentlichkeit, wie sie dann im 20. Jahrhundert unter dem NS-Terror durch den gelben Stern erfolgt ist. Selbst auf Altarbildern des späten Mittelalters, die die Kreuzigung darstellen, werden Juden durch einen gelben Ring (oder Fleck) abgehoben, in historischen Darstellungen des Heilsgeschehens außerdem durch hebräische Schriftzeichen (wie auf dem zuerst besprochenen Flugblatt). Eine dritte Gruppe von Flugblättern hat die 30 Silberlinge und den Wucher zum zentralen Thema der bildlichen und verbalen Darstellung von Juden. Zu ihnen gehört der frühe Einblattdruck (aus dem Jahr 1491) von hans foltz barbirer, der sich - was sonst bei Flugblättern seltener ist - am Schluß selbst nennt. Die
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bildliche Darstellung, ein Holzschnitt, nimmt etwa 1/5 des Blattes ein: Gezeigt wird ein Jude, der sich dem Kind in der Wiege (und den Frauen daneben) mit einem kostbaren Ring nähert. Auf dem Tisch ist ein Haufen Geld abgebildet. Der Titel kündigt formal den Bericht über einen Einzelfall an: Die rechn g Ruprecht Kolpergers v d gesuch der iuden auf 30 d. Der erste Satz des Textes nennt die zentrale Intention: Etwas zu sag von den iud [also generalisierend!] v den v'fluchtteuf eis rueden [also metaphorisch-klassifizierend]. Die grammatischen Mittel der Generalisierung, Qualifizierung und Klassifizierung bestimmen die Prädikationen des - 270 Reimpaarzeilen langen - Textes. Vorausgeschickt wird ein Zahlenspiel, das das Anwachsen des Zinses für 30 Silberlinge von einem Jahr auf das andere aufzeigt, und zwar so, daß sich die Schuldsumme jeweils verdoppelt. Dieses Verdoppeln der Schuldsumme wird für jedes Jahr durch mehrere Reimpaarzeilen verbal ausformuliert. Das nimmt den größten Teil des Textes ein und bekommt auf diese Weise zugleich die ikonische Funktion, zu signalisieren, was bei Juden im Mittelpunkt und Zentrum all ihres Sinnens stehen soll. Deren christliche Gegenwelt wird - wie schon in der 'Historie von Simon' - durch das unmündige, schutzlose und unschuldige Christenkind bildlich und verbal verkörpert. Textkonstitutiv ist das Motiv des Wuchervorwurfs für die Flugblattproduktion durch Jahrhunderte, wobei Bild und Begriff des 'Geldsacks' häufig wiederkehren. Das Flugblatt Christliche Trewhertzige Warnung An die Gotts- vnd Gwissenlose Geltwucherer: daß Sie doch jhrer Seelen Ewig Seeligkeit besser in acht nemmen woellen aus dem Jahr 1622 zum Beispiel teilt die Welt in die Vertreter des Bürgertums und Adels auf der einen Seite und die jüdischen Geldhändler (mit langem Bart, vielen Geldsäcken und dahinter einem teuflischen Tierwesen mit Drachenkrallen, Teufelsstab, Hörnern und Raubtiergesicht) auf der anderen Seite. Dementsprechend wird der jüdische Geldhändler im Text mit dem Begriff Teuffelsbrut belegt, mit Schlangen in Verbindung gebracht und dem Bereich von Schwefel vnd Bech des Teufels zugeordnet. Viele dieser Flugblätter führen im Titel - als formale Begründung - das Wort Warnung, während der Text tatsächlich in Verbindung mit dem Bild dem Zweck der Aussonderung und Diskriminierung untergeordnet ist. Der Text, der aus 27 Reimpaaren besteht, lebt weitgehend von Sprechakten des Drohens und der Verurteilung: Du seyest Hanß oder klein/ dem Beelzebub gilt alles gemein [...]/ Als sey das Gelt yr hymelriech. Optische und verbale Mittel wirken zusammen, um ein mittelalterlich geprägtes Weltbild darzustellen, dessen eine Hälfte von Gott und christlichen Bürgern und dessen andere Hälfte von Juden und dem Teufel bestimmt wird, derart, daß Thema und Abbild des Geldhandels lexikalisch (durch die vielen Zahlwörter und Währungsbezeichnungen), syntaktisch und textlich wie bildlich im Mittelpunkt der Darstellung stehen. Von 'plakativen' Flugblättern wie diesen führt der Weg zu Einblattdrucken, in denen die Diskriminierung von Juden durch eine Art Bilderbogen erfolgt, wie ihn
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zum Beispiel auch der spätere Bänkelsang - freilich mit anderen Themen - verwendet hat. Als exemplarische Textprobe sei das Flugblatt Der Juden Badstub (von 1629) angeführt. Wie schon in der gleichnamigen, hundert Jahre älteren Flugschrift von Philipp von Allendorf aus dem Jahre 1534 ist das eigentliche Thema des Flugblattes die Tatsache, daß Juden (später) auch Tätigkeiten ausüben konnten, die ursprünglich den Zünften vorbehalten waren. Hier geht es also schon, wie später dann auch in den antisemitischen Schriften des 19. Jahrhunderts 15 , um den Kampf gegen die berufliche Konkurrenz. Hinter der Warnung steht vordergründig der Vorwurf, daß sie viel zu teuer seien. Die Behandlung in einer jüdischen Badestube führe dazu, daß dem Christen, der dort hingehe, am Ende weder Gelt noch seckel bleibt. Die fiktive oder reale Perspektive des Verfassers ist auch in diesem Falle die aller Christen bzw. all der frommen, und das wird einleitend nach Art eines Slogan hervorgehoben, der auf ein christliches Gebet anspielt: Bhüt lieber Gott, bhüt all frommen/ Das sie nicht in dis Badstub kommen. Dieser Text unterscheidet sich von dem anderer Flugblätter auch durch seine graphische, optische und szenische Darstellungsweise, damit durch die thematische Entfaltung des Textgeschehens. Am Beispiel des wohlhabenden Kaufmanns, der eine jüdische Badstube aufsucht, werden im Wechsel von Autorenund Figurenrede die verschiedenen Teilhandlungen bildlich und verbal dargestellt: Reiben ihn - schrepffen ihm - Zwagen ihm - weschen ihn ab, an deren Ende dann die Situation steht, in der ihm viel Geld dafür abgenommen wird. Es zeigt sich hier, daß viel von dem, was die moderne Werbung als persuasive Mittel einsetzt, schon in den frühen Druckschriften vorkommen kann. Um diese Modernität zu verdeutlichen, verwende ich einmal dafür - nur experimentell - die (besonders amerikanisch geprägte) Terminologie der Werbewirtschaft von heute: Es handelt sich also um eine Art Plakat, das aus 20 Bildern und umrahmendem Text verschiedener Art besteht. Als 'Bilder' sind sie schon durch ihre Rahmenornamente hervorgehoben: Bilder zeigen Ausschnitte von Wirklichkeit. Über ihnen steht ganz oben - quasi als 'headline' - das Thema Der Juden Badstub. Optisch in Form von kleinen Transparenten erscheint rechts und links davon je ein zweizeiliger Merkvers. Einige Stilmerkmale erinnern darin an Textelemente des 'slogan', etwa die gestanzte Kürze, die Verwendung von Zwillingsformeln (weder Gelt noch seckel) und auch die Allusion auf einen bekannten Vers. Was dann im ersten Bildrahmen steht, ist ein zwölfzeiliger Verstext mit volkstümlichen Elementen, quasi als Zitat appellativischer Art (Bock bock geiß ich lauff dz ich schweiß) und appellativischen Formen des Bänkeltons (Kompt her [...]). Wie der Slogan vermittelt auch diese transparentartige Überschrift die zentrale 'message' des Textes. Dieses 'Eingangsbild' korrespondiert mit den plakativen Schlußzeilen, die sich 15
Nicoline Hortzitz: > Früh-Antisemitismus < in Deutschland (1789-1871/72). Untersuchungen zu Wortschatz, Text und Argumentation. Tübingen 1988.
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unten quer über das Blatt ziehen und - quasi als 'Info-Teil' - den Inhalt der Bilddarstellung (des 'visual') noch einmal informativ vermitteln sollen. Der ausformulierte Text (Werbesprache: 'copy') der plakativen Darstellung ist gleichermaßen eng auf Bild (Bilderbogen) und Wort (Kommentar) bezogen. Stilmerkmalen moderner Werbung entspricht weiter, daß auch Elemente in den Text eingebaut werden, die inhaltlich (denotativ) gar nichts mit dessen Thema zu tun haben. Sie werden vielmehr einmontiert, um beim Leser bestimmte bildliche Assoziationen zu wecken. Dieses Mittel wird ja vor allem dazu eingesetzt, um Werturteile des 'Senders' zu vermitteln. Und so ist es auch hier. Die dargestellte Geschehensabfolge endet beim 16. Bild mit der Zeile Zuschwitzen da ihn Ewigkeit. Angefügt sind nun noch drei Bilder, die gar nichts mit der Sache Badstub zu tun haben, deshalb aber umso direkter Aufschluß über die tatsächliche Intention des Verfassers geben. Sie bilden stereotype Motive ab, die wir aus den zuvor genannten antijüdischen Blättern schon kennen, nämlich den Kindermord (von Trient), die Judensau und den Bock, auf dem in diesem Fall eine Jüdin reitet. Von der Analogie her, die ich hier bewußt künstlich zu modernen Werbetexten hergestellt habe, liegt es nahe, in diesen drei angeschlossenen Bildern so etwas wie das 'Logo' der Werbung zu suchen, wenn es so etwas mit umgekehrter Zielrichtung gibt: Bei dem Logo handelt es sich ja um ein Erkennungszeichen (oft ein Firmensymbol), das dazu dient, das vertraute Produkt oder die vertraute Firma gleich wiederzuerkennen und im Gedächtnis zu fixieren. In Werbekampagnen ist es oft das durchgängige Identifikationsmerkmai, das auch dazu dient, die Aufmerksamkeit des Lesers über lange Zeit auf dieses Objekt zu zentrieren. In Analogie dazu könnte man fragen, ob diese drei abschließenden Bildmotive, die sich durch die antijüdische Flugblattliteratur ziehen, hier quasi die Stelle eines 'Logo' einnehmen, d.h. im diskriminierenden Text eines 'Stigma', als Zeichen einer Kampagne - d . h . also, mit negativen Konnotationen und nicht auf den 'Sender' des Textes bezogen, sondern auf sein (diskriminiertes) Objekt. Die sprachliche Wirkung dieser Flugblätter resultiert so aus dem Zusammenwirken von - lexikalischen Mitteln der begrifflichen Nomination und der Konnotationen, die insbesondere durch bildliche Ausdrücke und Bilder selbst vermittelt werden - bestimmten syntaktischen Typen der Prädikation, in der Verfahrensweisen der Generalisierung, Klassifizierung und (Dis)Qualifizierung besonders hervortreten, die aber oft nicht über begriffliche Kategorien, sondern analogisch verstandene Bilder laufen, - und verschiedenen Formen der Textbildung, die - gemessen am engen Rahmen eines Flugblattes - eine große Vielfalt der Formen zeigen, wie wir sie in persuasiven Texten bis in die Werbung des 20. Jahrhunderts hinein verfolgen können.
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Linguistik der Diskriminierung
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Hirsch Wolf Levinau
Hirsch Wolf Levi
Kriegshaber
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Wechselgeschäfte
Alter Erwerbsart
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verh.
Samson Binswanger
Samson Binswanger
Kriegshaber
verh.
Isidor Obermayer
Isidor Obermayer
Kriegshaber
Stand
künftiger Vorund Geschlechtsname
Familien-Haupt
bisheriger Vorund Geschlechtsname
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