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German Pages 292 [293] Year 2012
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Beiträge zur Wissenschaft vom Alten und Neuen Testament Elfte Folge Herausgegeben von Walter Dietrich Ruth Scoralick Reinhard von Bendemann Marlis Gielen Heft 1 · Der ganzen Sammlung Heft 201
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Walter Dietrich
Die Samuelbücher im deuteronomistischen Geschichtswerk Studien zu den Geschichtsüberlieferungen des Alten Testaments II
Verlag W. Kohlhammer
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Alle Rechte vorbehalten © 2012 W. Kohlhammer GmbH Stuttgart Umschlag: Gestaltungskonzept Peter Horlacher Gesamtherstellung: W. Kohlhammer Druckerei GmbH + Co. KG, Stuttgart Printed in Germany ISBN 978-3-17-022548-0
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Herrn Professor Rudolf Smend meinem Lehrer (nicht nur in Sachen Deuteronomismus!)
zum 80. Geburtstag
Inhalt Vorwort ..........................................................................................................
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Die Eigenart deuteronomistischer Geschichtsschreibung Vielfalt und Einheit im deuteronomistischen Geschichtswerk ......................
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Israel in der Perspektive des deuteronomisch-deuteronomistischen Literaturkreises ..............................................................................................
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Achans Diebstahl (Jos 7) – eine Kriminalgeschichte aus frühpersischer Zeit ...................................................................................
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Die Samuelbücher als Text und als Literatur Tendenzen neuester Forschung an den Samuelbüchern ................................
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Doch ein Text hinter den Texten? Vorläufige textkritische Einsichten eines Samuelkommentators ...................
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Essen und Trinken – ein zentrales Nebenthema in den Samuelbüchern ........
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Der Königsmord als Motiv in den Samuel- und Königsbüchern ...................
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Haupt- und Nebenfiguren der Samuelbücher Samuel – ein Prophet? ................................................................................... 115 König Saul – eine ambivalente Gestalt .......................................................... 131 An König David denken ................................................................................ 140 David und die Philister .................................................................................. 148 Die zweifache Verschonung Saulsd (1Sam 24 und 1Sam 26). Zur „diachronen Synchronisierung“ zweier Erzählungen .............................. 171
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Inhalt
Die Überführung der Lade nach Jerusalem (2Sam 6) – Geschichten und Geschichte .......................................................................... 191 David, Amnon und Abschalom (2Sam 13). Literarische, textliche und historische Erwägungen zu den ambivalenten Beziehungen eines Vaters zu seinen Söhnen ............... 207 Davids Fünfte Kolonne beim Abschalom-Aufstand ...................................... 227
Facetten aus der Wirkungsgeschichte der Samuelbücher Prophet und Gesalbter. König David im Neuen Testament ........................... 257 „Le Roi David“. Ein modernes Oratorium und seine biblische Textvorlage .................................................................... 265 Goliat und die Baleks. Ein intertextueller Essay über Gerechtigkeit und Gewaltlosigkeit ........................................................ 276
Bibelstellenregister ........................................................................................ 287 Schlagwortregister ......................................................................................... 289 Nachweise ...................................................................................................... 291
Vorwort Nach meiner Erfahrung ist es hilfreich, wenn weit verstreut publizierte Aufsätze eines Autors zu einer bestimmten Thematik noch einmal zusammengefasst veröffentlicht werden; dann sieht man „auf einen Blick“, welche Einzelthemen behandelt worden sind, und hat „mit einem Griff“, was man etwa noch einmal verifizieren möchte. In meinem Fall wären es zwei Blicke und zwei Griffe. Vor zehn Jahren erschien als BWANT 156 mein erster Band mit gesammelten „Studien zu den Geschichtsüberlieferungen des Alten Testaments“. Die hier vorgelegte zweite Sammlung enthält achtzehn, im letzten Jahrzehnt entstandene Arbeiten zur deuteronomistischen Geschichtsschreibung sowie zu Texten, Themen und Figuren aus den Samuelbüchern und deren Wirkungsgeschichte. Sie waren teilweise an abgelegenen Orten veröffentlicht: in Zeitschriften oder Sammelbänden, die nicht jedermann bekannt oder leicht zugänglich sind und in denen man sie nicht unbedingt sucht. Ein Beitrag war nur in einer kürzeren englischen Version gedruckt, einer ist bisher unveröffentlicht. Der vorliegende Band vereint Studien recht unterschiedlichen Charakters: Untersuchungen größerer Themen und Analysen einzelner Texte, eher essayistische Darstellungen und betont fachwissenschaftliche Abhandlungen. Eines liest sich leichter, anderes bedarf konzentrierter Aufmerksamkeit; einmal erfolgt die Annäherung ans Sujet auf direktem Weg, exegetisch und analytisch, das andere Mal über Seitenzugänge, perspektivisch und spielerisch. Es spiegelt sich darin der Facettenreichtum des biblischen Gegenstandes und die Methodenvielfalt heutiger Exegese. Man kann dieses Buch lesen oder nutzen als eine aus achtzehn Kapiteln bestehende, exemplarisch angelegte Einführung in die Samuelbücher und ihr biblisches Umfeld. Ein solches Buch muss und kann nicht „aus einem Guss“, es muss auch formal nicht bis ins Letzte einheitlich sein. Das duldet schon seine auch dokumentarische Absicht nicht: Man soll aus ihm und aus den Erstfassungen im gleichen Wortlaut zitieren können. Andererseits sollte der Eindruck eines äußeren Durcheinanders vermieden werden, denn immerhin halten sich Thematik und Grundintentionen des Autors ja durch. Um beidem gerecht zu werden, wurde eine „gemässigte Vereinheitlichung“ vorgenommen. Aneinander angeglichen wurden die Schreibung der Bibelstellen (einschließlich der Abkürzungen für die biblischen Bücher) und der biblischen Eigennamen (nach den sog. „Loccumer Richtlinien“) sowie die Art der bibliographischen Nachweise (weitestgehend nach dem System der TRE unter Verwendung von deren „Abkürzungsverzeichnis“, erarbeitet von Siegfried Schwertner). Nicht vereinheitlicht wurden orthographische Eigenheiten (z.B. deutsches „ß“ und schweizerisches „ss“), die Kürzel für die Textversionen (z.B. MT oder M für den hebräischen, LXX oder G für den griechischen Text), das Ausschreiben oder Abkürzen von Verfasser-Vornamen, sowie die Unterbringung der bibliographischen Nachweise in den Fußnoten oder in der Schlussbibliographie eines Beitrags (Ersteres mit Rückverweisen, Letzteres mit Kurzaufrufen in den Fußnoten).
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Vorwort
Stillschweigend verbessert wurden offensichtliche kleine Fehler im Erstdruck, verzichtet aber wurde auf tiefgreifende sachliche Nachbesserungen oder auf die Nachführung der Sekundärliteratur. Dies schien umso mehr vertretbar, als die Erstpublikationen jeweils ja höchstens zehn Jahre zurückliegen. Hingegen schien die Beifügung von Registern zur Erschließung des Bandes angebracht. Danken möchte ich an dieser Stelle denen, die zum Erscheinen des Bandes beigetragen haben: dem Verlag und meinen MitherausgeberInnen der „Beiträge zur Wissenschaft vom Alten und Neuen Testament“ für die Aufnahme in diese Reihe, dem Berner Theologiestudenten Tobias Rentsch für die Vereinheitlichung der Manuskripte und die Einarbeitung von Korrekturen, Florian Specker bei Kohlhammer für die Betreuung vom Fließtext bis zum druckfertigen Satz. Das Buch als ganzes möchte ein kleiner Dank an Rudolf Smend sein, der mich in jungen Jahren in die biblische Exegese und Theologie eingewiesen hat und mich bis heute auf meinem wissenschaftlichen Weg mit Neugier und Zuspruch begleitet. Bern, im Sommer 2012
Walter Dietrich
Die Eigenart deuteronomistischer Geschichtsschreibung
Vielfalt und Einheit im deuteronomistischen Geschichtswerk 1.
Einleitung
Kaum ein anderer hat in neuerer Zeit die Erforschung des deuteronomistischen Geschichtswerks intensiver betrieben und weiter vorangebracht als Timo Veijola.1 Mit nur wenigen Angaben sei dieser wichtige Sektor seiner Forschungstätigkeit in Erinnerung gerufen. Seine ersten beiden exegetischen Werke galten der deuteronomistischen Redaktionsarbeit in den Samuelbüchern.2 Von da ausgehend erarbeitete er zahlreiche Einzelstudien zu deuteronomistischen Texten und Themen, großenteils erfasst in (bisher) zwei Sammelbänden3. Zuletzt erschienen ein etwa 130 Seiten starker Bericht über die neueste Deuteronomismusforschung4 und schließlich sein (leider nur bis Dtn 16,17 gediehener) Deuteronomiumkommentar.5 Timo Veijola wurde der „Göttinger Schule“ zugerechnet, einer in sich keineswegs homogenen Forschergruppe, die das sog. Schichtmodell zum dtr Geschichtswerk entwickelt und ausgearbeitet hat. Bei vielen Unterschieden im Einzelnen war und ist ihr gemeinsamer Nenner die Annahme, dass die große, von Dtn bis 2Kön reichende Geschichtsschreibung nicht auf einer, sondern auf mehreren Redaktionsstufen zustande gekommen ist (deren späteste sich – nicht zuletzt unter Veijolas Händen – zunehmend in eine Mehrzahl eher punktueller Bearbeitungen bzw. Fortschreibungen aufgliederte). Dieses Erklärungsmodell ist, wie andere auch,6 eine Weiterentwicklung der großen Hypothese Martin Noths von einem die Bücher Dtn bis 2Kön umfassenden deuteronomistischen Geschichtswerk (dtrGW).7
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Dieser Beitrag war ursprünglich verfasst für eine Festschrift, dann für eine Gedenkschrift zu Ehren des im Jahr 2005 viel zu früh verstorbenen finnischen Alttestamentlers. Veijola, Ewige Dynastie, und: Beurteilung des Königtums. Veijola, Davidüberlieferungen, und: Moses Erben. Ein weiterer Sammelband mit Aufsätzen Veijolas – teilweise wiederum zu deuteronomistischen Fragen – ist inzwischen erschienen: Veijola, Leben nach der Weisung. Exegetisch-historische Studien zum Alten Testament, 2008 (FRLANT 224). Veijola, Deuteronomismusforschung. Veijola, Deuteronomium. Hervorzuheben sind daneben vor allem das sog. „Blockmodell“, das sich das Geschichtswerk sukzessive angewachsen denkt, sowie an „Einheitsmodelle“, die nach wie vor mit nur einem, großen Historiographen rechnen, der das Geschichtswerk in einem einzigen Durchgang geschaffen hätte. Näheres findet sich in den Forschungsberichten von Weippert (Geschichtswerk), Preuss (Geschichtswerk) und Frevel (Geschichtswerk) sowie in den Einleitungsbüchern von Zenger (Einleitung) und Gertz (Grundinformation). Noth, Überlieferungsgeschichtliche Studien.
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2.
Die Eigenart deuteronomistischer Geschichtsschreibung
Martin Noths Hypothese und ihre Bestreitungen
Es waren drei Grundentscheidungen, die Martin Noth getroffen hat: 1. Entschlossen wandte er sich statt den älteren Quellen deren redaktioneller Bearbeitung zu (die zuvor oft wie etwas Störendes beiseite geschoben worden war) und wurde so zu einem der Väter der modernen redaktionsgeschichtlichen Forschung. 2. Seine Grundthese war, dass ein Redaktor bzw. Autor („der Dtr“) in der Exilszeit ein historiographisches Werk geschaffen hat, das die Bücher Dtn, Jos, Ri, Sam und Kön umschloss und so die Geschichte Israels von der Landnahme bis zum Landverlust beschrieb. 3. Indem „Dtr“ in sein Werk vielfältiges älteres Quellenmaterial aufnahm, half er das literarische und geschichtliche Erbe des vorexilischen Israel wahren und zugleich die gegenwärtige Katastrophe geistig verarbeiten.8 Martin Noth hat seinen großen Wurf sorgfältig begründet und gesichert. Ihm entgingen keineswegs die vielerlei Divergenzen, die dem für antike Verhältnisse ungewöhnlich umfangreichen Werk des „Dtr“ innewohnten. Noth führte sie einerseits auf das äußerst heterogene Quellenmaterial zurück, das „Dtr“ verwendete, andererseits auf verschiedenartige Nachträge zu der von „Dtr“ erstellten Grundfassung des Werkes.9 Von einem literarischen Traditionswerk, wie es „Dtr“ laut Noth schuf, darf man nicht ein Maß an Einheitlichkeit und Geschlossenheit erwarten, wie sie einer frei entworfenen Geschichtsschreibung eignen mögen. Immerhin gab sich „Dtr“ nach Noth erhebliche Mühe, seiner Darstellung einen sprachlich wie gedanklich möglichst einheitlichen Charakter zu verleihen. Eine besonders wichtige Rolle hierbei spielen längere, von ihm selbst formulierte Zentraltexte, die er an Geschichtszäsuren einsetzte10 und die nicht nur die typisch dtr Sprache, sondern auch unverkennbar dtn-dtr Gedankengut – voran das Gebot der Alleinverehrung Jhwhs – aufweisen. Dazu kommt ein durchgehendes chronologisches Gerüst, das praktisch lückenlos die Zeit von der Wüstenwanderung Israels bis zum Untergang der israelitischen Staaten erschließt. Bei einem Durchgang durch die einzelnen biblischen Bücher erläutert Noth an den konkreten Texten, was welcher Quelle und was „Dtr“ zugehört, um schließlich eine zusammenfassende Würdigung der Denk- und der Vorgehensweise dieses bedeutsamen Autors zu bieten, der in entscheidender Weise dazu beigetragen habe, dass Israel die schwerste Krise seiner (biblischen) Geschichte überwinden konnte. Noths Entwurf hat schon zu seiner Zeit neben breiter Zustimmung auch vereinzelte Kritik gefunden. Abgesehen von Forschern, die gern die damals noch allgemein für existent gehaltenen Pentateuch-„Quellen“ bis in die Bücher der
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Man bedenke, dass dies mitten in der sich abzeichnenden bzw. schon eingetretenen Katastrophe Deutschlands und Europas geschrieben wurde. Vgl. die Auflistung der von Noth als sekundär eingestuften Textpassagen bei Dietrich, Martin Noth 182 Anm. 3. Jos 1; 23; Ri 2; 1Sam 12; 1Kön 8; 2Kön 17.
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Vorderen Propheten hinein verfolgen wollten, wandte etwa Gerhard von Rad11 ein, die im dtrGW verarbeiteten Stoffe wie auch die Methoden ihrer redaktionellen Bearbeitung seien allzu disparat, als dass man all dies auf eine einzige, planvoll ordnende Hand zurückführen könne; es wäre womöglich besser, für die verschiedenen biblischen Bücher mit je eigenen dtr Redaktionen zu rechnen. In eben diese Kerbe schlagen seit den 1990-er Jahren immer mehr Forscher, hauptsächlich in der deutschsprachigen alttestamentlichen Wissenschaft. Claus Westermann12 hebt die Unterschiede hervor, die zwischen den einzelnen Abschnitten des vermeintlich zusammenhängenden Werkes bestehen, und hält Noth vor, die von ihm für „Dtr“ beanspruchten Texte seien weder sprachlich noch gedanklich einheitlich; es handle sich um eher sporadische und erbauliche Anhänge zu älteren Textbeständen, und mitnichten um wirkliche Historiographie. Hartmut Rösel13 vertritt eine je separate Entstehung der Bücher Jos bis Kön und begründet dies einerseits mit unterschiedlichen theologischen Überzeugungen in den jeweiligen Bearbeitungen (etwa zu Sünde und Strafe), andererseits mit der unterschiedlich intensiven redaktionellen Bearbeitung etwa von Sam und Kön. Reinhard Gregor Kratz wiederum hält gerade den (zusammenhängenden) Block Sam-Kön für die älteste Stufe der dtr Geschichtsschreibung, der spätere Redaktoren die anderen Bücher sukzessive vorgeschaltet hätten.14 Anscheinend unter Kratz’ Einfluss erklärt Reinhard Müller15 aus der dtr Geschichtsschreibung einzig die Rahmung (und damit die Grundverfasserschaft) der Kön-Bücher für exilisch; der Ri- Rahmen und die pro-königlichen Texte in 1Sam 8–11 dagegen seien frühnachexilisch, die Königtumskritik in Ri 8–9, das sog. Königsrecht in 1Sam 8,11–17 und das Königsgesetz in Dtn 17,14–20 gar noch jünger. Ähnlich und doch wieder anders postuliert A. Graeme Auld16 ein proto-dtr Geschichtswerk aus exilischer Zeit, das lediglich von David bis zum Untergang Jerusalems (also von 1Sam 16 bis 2Kön 25) gereicht habe und in nachexilischer Zeit stufenweise in zwei Richtungen ausgebaut worden sei: einerseits zur dtr, andererseits zur chr Geschichtsschreibung. Erik Eynikel17 wiederum sieht die Königsbücher für sich allein entstanden, freilich über längere Zeit hinweg und in mehreren Blöcken: 1Kön 3 – 2Kön 18 im 8. Jh., 2Kön 21–23 im 7. Jh., 2Kön 24–25 im 6. Jh.; erst auf dieser jüngsten Ebene sei die Darstellung der frühköniglichen und der vorstaatlichen Zeit vorgeschaltet worden, die auch ihrerseits aus zwei Blöcken mit je eigener Vorgeschichte bestehe (Jos 1 – 1Sam 12 und 1Sam 13 – 1Kön 2). Ansgar Mönikes18 rechnet mit relativ frühen Vorstufen der jetzigen Gesamtdarstellung: einem „Efraimitischen Geschichtswerk“ (Jos 24 – 1Sam 12) und einem „Hiskijanischen Geschichtswerk“ (1Kön 15 –2Kön 19) aus dem 8. Jh. sowie einem „Joschijanischen Geschichtswerk“ 11 12 13 14 15 16 17 18
von Rad, Hexateuch. Westermann, Geschichtsbücher. Vgl. dazu meine Rezension in ThLZ 123 (1998) 364– 370. Rösel, Von Josua bis Jojachin. Kratz, Komposition. Müller, Königtum und Gottesherrschaft. Auld, Kings without Privilege. Eynikel, Reform. Moenikes, Redaktionsgeschichte.
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(Dtn 1 – 2Kön 23) aus dem 7. Jh., das im 6. Jh. bis 2Kön 25 erweitert worden sei. Alle genannten und noch weitere neuere Entwürfe stellen die Grundannahme Martin Noths, dass eine dtr Redaktion in der Exilszeit die in den Büchern Dtn bis 2Kön enthaltenen Stoffe erstmals zusammengestellt, durchgehend bearbeitet und zu einem großen Geschichtswerk ausgestaltet habe, in Frage. An die Stelle von „Dtr“ tritt eine Mehrzahl oder Vielzahl teils älterer, teils jüngerer Autoren. Das große Geschichtswerk löst sich in eine prinzipiell unendliche Menge kleiner und kleinster Schriften und Bearbeitungen, Fragmente und Fortschreibungen auf. Damit wird die Noth’sche Hypothese nicht modifiziert oder differenziert, sondern im Kern attackiert.19 Noth hatte im geschichtlichen Treibsand alttestamentlicher Literaturbildung (bzw. der exegetischen Thesenbildung darüber) einen markanten Pflock eingeschlagen: „Dtr“ schrieb um die Mitte der Exilszeit; die von ihm verwendeten Quellen waren mithin vorexilisch, d.h. sie konnten sehr wohl zutreffende Informationen über Ereignisse der Königs- und womöglich gar noch der vorstaatlichen Zeit enthalten. Heute erscheint dieser Pflock manchen als zu grob, anderen als hinderlich bei der freizügigen Verschiebung biblischer Texte und Daten in späte und späteste Zeiten. Im Folgenden sei versucht, Noths ‚Pflock’ wieder etwas zu befestigen. In Aufnahme, Weiterführung und Vertiefung Noth’scher Beobachtungen soll aufgezeigt werden, dass und wie das deuteronomistische Geschichtswerk durch eine große Zahl verbindender geistiger Elemente und literarischer Klammern innerlich und äußerlich zusammengehalten wird; sie haben dieses eindrucksvolle literarische Bauwerk von Anfang an stabilisiert20 und wehren auch heute seiner Demontage.
3.
Durchlaufende Grundzüge im dtr Geschichtswerk
Hier ist an erster Stelle der fortlaufende Erzählfaden zu nennen, an dem die verschiedenen Epochen und die einzelnen geschichtlichen Episoden aufgereiht sind. Die narrativen Rahmenteile des Deuteronomiums schildern (teils im Rückblick) die Wanderung vom Horeb/Sinai bis nach Moab, östlich des Jordan, und die dort stattfindende Tora-Verkündung Moses sowie dessen Tod (Dtn 1–3; 34,1–12). Josua, der bereits als Moses Nachfolger eingesetzt ist (Dtn 1,8; 3,21– 28; 34,1–4.9), leitet dann die Landnahme im Westjordanland (Jos 1–12) und 19 20
Eine besonders schneidige Attacke gegen sie reitet Knauf, Historiographie Deutéronomiste. Mit Bedacht werden im Folgenden überwiegend solche Elemente hervorgehoben, die m.E. schon zur dtr Grundschrift DtrH gehörten – und nicht so sehr zu den Erweiterungsschichten DtrP und DtrN (zu deren Abgrenzung vgl. Dietrich, Prophetie und Geschichte, und: Niedergang und Neuanfang). Andererseits schwächt es die Beweiskraft der nachfolgenden Ausführungen nicht, wenn gelegentlich auch jüngere Elemente bzw. relativ späte Belegstellen beigezogen werden; denn die späteren Redaktoren konnten textübergreifende Zusammenhänge am ehesten in ein schon bestehendes Gesamtwerk einbringen.
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verteilt anschließend das Land an die Stämme (13–22), ehe er letzte Anordnungen trifft und stirbt (23–24). Das Richterbuch handelt zu Beginn noch von Problemen der Landnahme (1,1 – 2,5), danach aber vom Leben der Stämme im Land: von der Abwehr äußerer Feinde durch „große Retter“ (2,6 – 16,31*) und der Regentschaft „Kleiner Richter“ (10,1–5; 12,8–15), dann vom Versinken Israels in völligem Chaos (17–21). Die beiden letzten „Richter“, Eli und Samuel, treten im 1. Samuelbuch auf (1Sam 1–7). Samuel, kürt den ersten König, Saul, verwirft ihn dann freilich bald wieder (8–15) und leitet sogleich den Aufstieg Davids (16–31) ein. Von dessen Königtum berichtet das 2. Samuelbuch (2Sam 1–24), von dem seines Sohnes und Nachfolgers Salomo der Anfang des 1. Königebuchs (1Kön 1–11), und daraus entfaltet sich die Geschichte des Königtums bis zum Untergang der Staaten Israel und Juda (1Kön 12–22; 2Kön 1–25). Unverkennbar ist dieser Erzählfaden aus unterschiedlichen Stücken zusammengesetzt, und doch bildet er ein zusammenhängendes Ganzes. Die historiographische Zielsetzung dieser Darstellung gibt sich besonders deutlich in dem allüberall sichtbaren chronologischen Gerüst zu erkennen, welches das Ganze durchzieht. Im Grundsatz verlässliche, mit Ereignissen aus der Umwelt Israels synchronisierbare Daten liegen für die Regierungsjahre der Könige von Israel und Juda vor. Mit ihrer Hilfe gelangt man, mit nur wenigen Unsicherheiten, zurück von einem bestimmten Vorfall „im 37. Jahr nach der Wegführung des Königs Jojachin von Juda“ (d.h. 562 v.Chr., 2Kön 25,27) über den Untergang Jerusalems (587/86) und die Eroberung Samarias (722) zum Auseinanderbrechen der davidisch-salomonischen Personalunion (926). Die Daten für diese Zeitspanne waren in Gestalt der quellenmäßig vorgegebenen Regierungsjahre der Könige relativ leicht zu haben.21 Für die frühe Königszeit hingegen22 und für die „Amtszeiten“ einiger ‚Großer Richter’23 benutzte oder setzte die Redaktion gerundete Zahlen, konnte daneben aber auch auf überlieferte Daten über die ‚Kleinen Richter’24 zurückgreifen. Von Josua und Mose teilt sie immerhin noch das erreichte Alter mit: 110 bzw. 120 Jahre. Das ergibt einen im Prinzip lückenlosen chronologischen Ablauf von Dtn bis 2Kön bzw. vom 13. bis ins 6. Jahrhundert. Zu den eher äußerlichen Verknüpfungen des Geschehnisablaufs kommen innere, theologische Verbindungslinien. Die wichtigste ist die eines unlösbaren Zusammenhangs von Tun und Ergehen, genauer: zwischen dem Handeln Israels gegenüber seinem Gott und der Lenkung der Geschicke Israels durch diesen 21
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Die dtr Redaktion entnahm sie den „Tagebüchern“, d.h. den res gestae der Könige von Israel und von Juda, sei es, dass diese zunächst noch zwei getrennte Chronologien boten, die erst redaktionell ‚synchronisiert’ wurden, oder dass es eine bereits „synchronistische Chronik“ für beide Reiche gab (so Jepsen, Quellen) Für die Regierungszeit Sauls lässt die Redaktion gewissermaßen eine Lücke (1Sam 13,1), für Salomo nimmt sie runde 40 Jahre an (1Kön 11,42), für David ebenfalls (1Kön 2,10) – obwohl in seinem Fall die ältere Überlieferung offenbar exaktere Daten enthielt (2Sam 2,11; 5,4). Eli habe 40 Jahre geamtet (1Sam 4,18), ebenso Otniel (Ri 3,11), während Simson 20 Jahre gegeben werden (Ri 16,31). Jiftach soll sechs Jahre regiert haben (Ri 12,7); der Rundung gänzlich unverdächtige Zahlen finden sich in den Listen der ‚Kleinen Richter’ (Ri 10,1–3; 12,8–11).
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Gott. Was Israel widerfährt, erklärt sich daraus, wie es sich gegen Jhwh verhalten hat. Nicht immer und in jedem Fall geht dieser Tun-Ergehen-Zusammenhang glatt und umgehend auf. Ein König kann sehr negativ beurteilt werden und doch lange regieren, ein anderer wird gerühmt und stirbt vorzeitig.25 Saul wird zuerst erwählt und dann verworfen, zunächst hoch verdiente „Retter“ können sich verfehlen. Es begegnen höchst schillernde Figuren (wie etwa Simson oder Salomo). Bei den verschiedenen Dynastien – wechselnden im Norden, der davidischen im Süden – gibt es kein einfaches Schwarz und Weiß, kein klares Do ut Des. Kurzum: Die Geschichte wird nicht konsequent vorgefassten ideologischen Meinungen angepasst (wie es in der Chronik weitgehend der Fall ist), und doch wohnt dem Geschichtsverlauf eine gewisse Gerechtigkeit – fast könnte man sagen: Logik – inne. Es lässt sich erklären (bzw. die Redaktion erklärt), warum Feindeinfälle oder blutige Umstürze stattfinden, warum ein übler König nicht schon zu Lebzeiten seine verdiente Strafe erfährt, warum eine Dynastie über eine bestimmte Zahl von Gliedern an der Macht bleibt, warum Israel untergeht und warum Juda zunächst verschont bleibt, dann aber doch mit Recht ebenfalls untergeht. Der innere Maßstab solcher Urteile sind bestimmte religiöse Maximen. Israel und Juda sind als ganze das erwählte Volk Jhwhs. Dieses erfährt Jhwhs freundliche Zuwendung und hat im Gegenzug ihm allein zu dienen. Der einzige Ort voller göttlicher Präsenz und damit der einzig legitime Kultort ist Jerusalem. Bei Beachtung dieser Grundsätze kann Jhwhs Volk Heil, bei ihrer Missachtung muss es Unheil gewärtigen. Im Einzelnen: Die Tora und das Land sind vorgängige Gaben Jhwhs an sein Volk. Das Land wird gewonnen in einem fulminanten Siegeszug der geeint vorgehenden Stämme. Der große Feldherr bei der Landnahme verabschiedet sich mit eindringlichen Appellen zur Treue gegen den Gott, dem dies alles zu verdanken ist. Nach ihm, in der Richterzeit, fällt Israel jeweils in toto von seinem Gott ab und wird von diesem mittels äußerer Feinde zur Räson gerufen; die Retter und Richter führen aus Not und Unterdrückung heraus, und Israel dankt ihnen das zu Lebzeiten mit Treue gegen Jhwh, ehe es dann wieder abfällt und neuem Gericht verfällt. Das Königtum erscheint als dauerhafte Rettung aus der Not, aber auch als permanente Versuchung zur Eigenmächtigkeit. Die Könige haben von Anfang an in Propheten ihre gottgesandten Gegenüber, die über ihrer Einstellung zu Jhwh wachen. Saul wird, als er versagt, seine Erwählung wieder entzogen. Anders David; er erscheint als vorbildhafter Herrscher. Salomo folgt zunächst des Vaters Spuren, um sie aber – nach Vollendung des zentralen Heiligtums – nachhaltig zu verlassen. Die nachfolgenden Könige beider Reiche bekommen jeweils im Vorspann zu ihrer Darstellung eine Note: je nachdem, ob sie Jhwh oder anderen Göttern gedient und ob sie ihm allein in Jerusalem gedient haben (was für Nordreichskönige naturgemäß unmöglich war). Dass hinter dieser Darstellung deuteronomische Leitbilder stehen, ist unverkennbar.26 25 26
So Manasse bzw. Joschija in 2Kön 21–23. Vgl. insbesondere Dtn 6,4–5; 12; 28. Diese Leitlinien prägen nicht nur die von Noth stark hervorgehobenen dtr Zentraltexte, sondern die gesamte Geschichtsdarstellung. Das ist umso beachtlicher, als sich die verwendeten Quellentexte den dtn Maximen oft gar
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4.
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Literarische Klammern im Geschichtswerk
Abgesehen von den übergreifenden Grundzügen, gibt es eine Vielzahl kleinerer Klammern, die zwei oder mehr Bücher des deuteronomistischen Geschichtswerks untereinander verbinden.27 Bereits in Dtn 1,8 spricht Mose von der Landnahme, deren Hergang dann im Jos-Buch erzählt wird. In Jos 1,2 wird an die Nachricht über den Tod Moses in Dtn 34,5 angeknüpft; Josua (der General!) soll Nachfolger Moses (des Gottesmannes!) sein (Dtn 1,8; 3,21–28; 34,1–4.9, vgl. Jos 1,2–9).28 Im Dtn wird immer wieder voraus- und in späteren Teilen des Geschichtswerks wird zurückverwiesen auf die Gabe des Landes: als „Erbe, das Jhwh, dein Gott, dir gibt“,29 als „Land, in das du kommst, es zu besitzen“,30 als „Besitz“,31 als „gutes Land“,32 aus dem „Völker (z.T.: mächtigere als du) vertrieben wurden“,33 damit Israel in ihm „Ruhe“ finde.34 Rudolf Smend35 führt als herausragendes Merkmal eines einheitlichen Geschichtswerks die enge Verwandtschaft zwischen den Richter- und den KönigsRahmenformeln an. Nachdem der dtn Mose den Israeliten wiederholt eingeschärft hat, sie sollten „das in den Augen Jhwhs Rechte tun“ bzw. „das in den Augen Jhwhs Böse nicht tun“ (Dtn 6,18; 12,25; 13,19; 21,9 bzw. 4,25; 17,2; 31,29), wird im Richter-Rahmen immer wieder festgestellt, dass die Israeliten „das Böse in den Augen Jhwhs taten“ (Ri 3,7.12; 4,1; 6,1; 10,6; 13,1; schon 2,11), und im Königs-Rahmen, dass Könige „das in den Augen Jhwhs Böse“, in selteneren Fällen auch, dass sie „das in den Augen Jhwhs Rechte taten“ (z.B. 1Kön 11,6; 16,30; 2Kön 13,2; 15,9; 21,2; 23,37; 24,9, 19 bzw. 1Kön 15,11; 2Kön 12,2; 18,3; 22,2). Dieser Sachverhalt, so Smend, verdiene umso mehr Beachtung, als die genannten Ausdrücke nie in älteren Überlieferungen, sondern immer nur in verknüpfenden, d.h. redaktionellen Textelementen auftauchten.
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nicht recht fügen wollen. Die Redaktion hat durch Auswahl, Anordnung und Kommentierung das in ihren Augen Nötige getan, um dem Gesamtwerk die beabsichtigten theologischen Konturen zu geben. Was speziell die Verteilung der dtn-dtr Phraseologie über die Bücher Dtn bis 2Kön betrifft, ist alle nötige Vorarbeit bei Weinfeld, Deuteronomy 320–359, geleistet. Noort (Forschungsgeschichte, 119) macht darauf aufmerksam, dass außer diesem noch weitere Themenfelder von Dtn nach Jos weiter laufen: der Jhwh-Krieg, die Verteilung des Landes, die Einheit Israels, der Bund mit Jhwh. Hinzu ließe sich noch das Thema „Asylorte“ nehmen (vgl. Dtn 19,1–13 mit Jos 20). Dtn 4,21; 15,4; 19,10; 20,16; 21,23; 24,4; 26,1; 25,19; 1Kön 8,36. Dtn 4,1; 6,18; 28,21.63; 30,16 u.ö.; Jos 1,11; 18,3. Dtn 2,5.9.12.19; 3,20; Jos 1,15; 12,6.7. Dtn 1,35; 3,25 u.ö.; Jos 23,13.15.16; 1Kön 14,15. Dtn 4,38; 7,1.17; 9;1.3.4.5.11; 11, 23; Jos 23,5.9.13; Ri 2,21.23; 1Kön 14,24; 2Kön 16,3; 17,8; 21,2. Zu den Termini militärischer Eroberung und ihrer Verbreitung speziell in Dtn und Jos siehe Weinfeld, Deuteronomy 343–344. Dtn 3,20; 12,10; 25,19; Jos 1,13.15; 21,44; 22,4; 23,1; 2Sam 7,1.11; 1Kön 5,18. Auf diese Klammer hat auch Veijola (Deuteronomismusforschung, 32) hingewiesen. Smend, Entstehung 112.
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Die Eigenart deuteronomistischer Geschichtsschreibung
Das dtn Gebot der Kultzentralisation an der „Stätte“, die Jhwh aus allen Stämmen Israels „erwählen“ wird (Dtn 12, vgl. auch 16,6.16; 17,8 u.ö.), weist voraus auf die Berichte von der Einnahme Jerusalems durch David (2Sam 5,6– 11) und der Überführung der heiligen Lade dorthin ([1Sam 4–6;] 2Sam 6). Salomo wird dann die Lade in das Allerheiligste des von ihm errichteten JhwhTempels bringen lassen, dem damit eine besonders hohe Würde zukommt (1Kön 5–7; 8,1–13). Nachdem immer wieder beklagt worden ist, die Könige Judas hätten neben dem Jerusalemer Heiligtum auch Kult-„Höhen“ überall im Land zugelassen,36 schreiten endlich Hiskija und vor allem Joschija zur Umsetzung der mosaischen Anordnung (2Kön 18,4; 23,13, überhaupt der Bericht von seiner Kultreform 2Kön 22–23). Das Königtum ist ein weiteres, das gesamte Geschichtswerk durchziehendes Thema. Schon Mose erlässt im Deuteronomium die entsprechende verfassungsmäßige Regelung (Dtn 17,14–20). Vor und bei der tatsächlichen Einführung der Institution wird über deren Tora-Gemäßheit und über ihre Entbehrlichkeit oder Unentbehrlichkeit ausgiebig diskutiert (Ri 8–9; 17,6; 18,1; 19,1; 21,25; 1Sam 8– 12). Dabei springen wortwörtliche Entsprechungen zwischen dem dtn Königsgesetz und den Berichten einerseits über die Einsetzung des ersten Königs, Saul (vgl. Dtn 17,14f mit 1Sam 8,5; 10,24), andererseits über die Herrschaft des dritten Königs, Salomo (vgl. Dtn 17,16f mit 1Kön 5,6; 10,14.26–29; 11,1–3), ins Auge.37 Der zwischen diesen beiden regierende König David schafft laut 2Sam 8 ein Reich von etwa der Ausdehnung, von der Gott dem Josua in Jos 1,4 gesprochen hat, die aber bei der Landnahme bei weitem nicht erreicht wurde. Nach dem Zerbrechen der vereinten Monarchie folgt die lange Doppelreihe der israelitischen und judäischen Könige, von denen nur wenige seitens der Redaktion eine uneingeschränkt positive Wertung erhalten (1Kön 12 – 2Kön 25); das heißt aufs Ganze gesehen, dass die Einführung des Königtums in Israel aus dtr Sicht wohl unvermeidlich, dabei aber hoch problematisch war. Im Kriegsgesetz des Deuteronomiums (Dtn 20,10–18) werden Anordnungen zur Durchführung der sog. Bannweihe erlassen. Bei der Eroberung des Landes in Jos 6–12 kommt sie in großem Stil zur Anwendung.38 In Jos 7; 1Sam 15 und 1Kön 20,35–43 jedoch finden sich Erzählungen, die zeigen, wie schwer sich Israel mit der Härte der Banngebote tat. Vollkommen unversöhnlich soll laut Anweisung des dtn Mose Israels Feindschaft gegen Amalek sein (Dtn 25,17– 19); viel später wird sich am Verhalten gegenüber den Amalekitern das Schicksal der ersten beiden Könige, Saul und David, entscheiden (1Sam 15; 30; 2Sam 1).39 36 37 38
39
Z.B. 1Kön 11,7; 14,23; 2Kön 21,3. Vgl. im Näheren Dietrich, Geschichte und Gesetz. Crüsemann, Gewaltimagination, vertritt, gut begründet, die These, die dtn Banngebote bezögen sich einzig und allein auf die (einmalige) Situation der Landnahme, nicht auf spätere kriegerische Auseinandersetzungen Israels. Diese Klammer quer über das dtr Geschichtswerk hinweg (und noch darüber hinaus: Ex 17,8–16; Num 14,39–45) betont Tanner, Amalek; doch sind gegen seine These, alle alttestamentlichen Amalek-Texte lägen auf einer, nämlich dtr, Ebene, Vorbehalte anzumelden.
Vielfalt und Einheit im deuteronomistischen Geschichtswerk
21
Eine Reihe von Nachbar- bzw. Feindvölkern begleitet Israel auf seinem Weg durch die Geschichte (und taucht deswegen in den verschiedenen Teilen des Geschichtswerkes immer wieder auf): im Osten die Edomiter (Dtn 2,1–8; 2Sam 8,13–14; 1Kön 11,14–22; 22,48), Moabiter (Dtn 2,8–9; Ri 3,12–30; 2Sam 8,2; 2Kön 3) und Ammoniter (Dtn 2,18–20; Ri 10–11; 1Sam 11; 2Sam 11–12), im Westen die Philister (Ri 3,31; 13–16; 1Sam 4–6; 13–14; 17–18; 21,11–16; 31; 2Sam 5,17–25; 8,1; 18,8; 1Kön 5,4; 2Kön 18,8), im Norden die Aramäer (Ri 3,7–11; 2Sam 8,3–12; 1Kön 11,23–25; 20; 22; 2Kön 5–6; 16,5–9). Die gefährlichsten Feinde indes, denen die beiden israelitischen Staaten schließlich zum Opfer fielen, die Assyrer und die Babylonier, kommen – ganz sachgemäß – erst dann in den Blick, als sie tatsächlich in den Horizont Syrien-Palästinas einbrechen, d.h. ab der Mitte des 8. Jahrhunderts bzw. ab der Mitte des 2. Königsbuches; die auf sie vorausweisende Drohung aber, Israel könne seine selbstständige Existenz und sein Land wieder verlieren, hängt wie ein Damoklesschwert von Beginn an über seiner Geschichte (z.B. Dtn 8,18; 28,32–33, 50–53; Jos 23,13, 15; 1Sam 12,15; 1Kön 9,7–8). In den Berichten 2Kön 17 und 2Kön 24– 25 wird nur Wirklichkeit, was sich schon lange angekündigt hat. Laut Jos 6,26 hat Gott nach der Eroberung Jerichos bei schwerer Strafe untersagt, dass irgend jemand diese Stadt je wieder aufbaue; laut 1Kön 16,34 hat dies zur Zeit des Königs Asa doch jemand gewagt und dadurch schwere Strafe auf sich gezogen. In Dtn 18,10f wird Israel die Befragung von Totenbeschwörern und Wahrsagern untersagt. Laut 1Sam 28,3 hat Saul eben solche Mantiker aus Israel entfernt – um dann aber doch selbst heimlich eine Totenbeschwörerin aufzusuchen (28,7–25). Statt auf Mantiker solle Israel sich auf Propheten verlassen, heißt es im dtn Prophetengesetz (Dtn 18,15–22). Als erster Prophet nach Mose erscheint in 1Sam 3,20 Samuel.40 Er genügt – wie alle, die ihm folgen werden (sofern sie nicht falsche Propheten sind!) – dem in Dtn 18,22 aufgestellten Kriterium wahrer Prophetie: dass ihre Worte unweigerlich in Erfüllung gehen; entsprechend zieht sich über die Sam- und Königsbücher ein Netz von Weissagungen und Erfüllungen.41 Bereits ein namenloser Gottesmann, der schon vor Samuel Eli entgegentritt, besitzt ein erstaunliches Zukunftswissen: Er sagt nicht nur eine unmittelbar bevorstehende Katastrophe des Hauses Eli, sondern auch Ereignisse voraus, die Jahrzehnte, ja Jahrhunderte später eintreffen werden.42
40 41
42
Auf diesen Brückenschlag von Dtn 18,15 zu 1Sam 3,20 weist mit Recht Rendtorff, Kontinuität, hin. Vgl. 2Sam 12,11.14 mit 2Sam 12,15 und 16,21.22; 1Kön 11,30–39 mit 1Kön 12,1–15; 1Kön 14,10–16 mit 1Kön 14,17 und 15,29; 1Kön 16,1–4 mit 16,12; 2Kön 1,6 mit 2Kön 1,17 usw. Zu dieser dtr Technik, Prophetenworte durch Geschichtsereignisse in Erfüllung gehen zu lassen und dies ausdrücklich durch Erfüllungsvermerke zu deklarieren, vgl. Dietrich, Prophetie und Geschichte. Dort wird dieses Element dtr Geschichtsschreibung einer eigenen Redaktionsschicht (DtrP) zugewiesen. Vgl. 1Sam 2,31–36 mit 1Sam 4; 21–22; 2Kön 23,5.9 und dazu Dietrich, Samuel 140– 152.
Die Eigenart deuteronomistischer Geschichtsschreibung
22
5.
Resümee
Vielleicht nicht schon jedes einzelne der aufgewiesenen verbindenden Elemente, doch alle zusammen sprechen klar für die Existenz eines nicht erst peu à peu und mehr oder minder zufällig zustande gekommenen, sondern eines von vornherein planmäßig angelegten, von Dtn bis 2Kön reichenden Geschichtswerkes. Da die letzte darin berichtete Episode, die Begnadigung des in Babylon gefangenen Königs Jojachin (2Kön 25,27–30), ins Jahr 562 v.Chr. fällt, wird dieses Werk, wie schon Martin Noth es angenommen hat, in der mittleren Exilszeit entstanden sein.43 Laut Noth wäre damit die dtr Geschichtsschreibung allerdings weitgehend schon abgeschlossen gewesen. Diese Position ist wohl dahingehend zu modifizieren, dass damals erst eine erste Fassung des Geschichtswerks vorlag, an der dann Autoren späterer Generationen weiter arbeiteten. Deren geistiges Profil, ihre Arbeitstechniken und theologischen Intentionen hat nicht zuletzt Timo Veijola mit erhellen geholfen. Seine jüngsten Arbeiten galten gerade den Spätwirkungen und Nachwirkungen des Deuteronomismus, den er fast nahtlos in das frühjüdische Schriftgelehrtentum übergehen sah. Diese Sichtweise ist so anregend wie viel versprechend. Ihr droht aber der feste Ausgangspunkt verloren zu gehen und damit eine klare Perspektive abhanden zu kommen, wenn die Grundeinsicht Martin Noths von einem zur Exilszeit entstandenen, die Geschichte Israels von der Landnahme bis zum Landverlust beschreibenden dtr Geschichtswerk aufgegeben wird.
Bibliographie Auld, A. Graeme, Kings without Privilege, Edinburgh 1994. Crüsemann, Frank, Gewaltimagination als Teil der Ursprungsgeschichte. Banngebot und Rechtsordnung im Deuteronomium, in: Friedrich Schweitzer (Hg.), Religion, Politik und Gewalt, Gütersloh 2006, 343–360. Dietrich, Walter, Prophetie und Geschichte. Eine redaktionsgeschichtliche Untersuchung zum deuteronomistischen Geschichtswerk, 1972 (FRLANT 108). Dietrich, Walter, Martin Noth und die Zukunft des deuteronomistischen Geschichtswerkes, in: Ders., Von David zu den Deuteronomisten. Studien zu den Geschichtsüberlieferungen des Alten Testaments, 2002 (BWANT 156), 181–198. 43
Diese Feststellung richtet sich gegen die zahlreichen, namentlich von Vertretern des sog. „Blockmodells“ unternommenen Versuche, erste Fassungen des Geschichtswerks schon auf die Zeit Joschijas (640-609) oder gar Hiskijas (725-696) zurückzuführen. Für derartige Frühdatierungen fehlt die entscheidende literarkritische Grundlage: nämlich eine klare literarische Zäsur hinter 2Kön 23 bzw. 2Kön 20; dies hat van Keulen (Manasseh) überzeugend nachgewiesen. Auch mein eigener früherer Versuch, die Erstfassung des Geschichtswerks schon in die beginnende Exilszeit zu datieren und die (Gedalja- und die) Jojachin-Episode einer späteren Bearbeitung zuzuweisen (Prophetie und Geschichte 139–144), beruhte auf verfehlter Literarkritik. Vielmehr gelangt man, wenn DtrH auf etwa 560 anzusetzen ist, mit jüngeren dtr Schichten in die spät- oder (früh-)nachexilische Zeit.
Vielfalt und Einheit im deuteronomistischen Geschichtswerk
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Dietrich, Walter, Geschichte und Gesetz. Deuteronomistische Geschichtsschreibung und deuteronomisches Gesetz am Beispiel des Übergangs von der Richter- zur Königszeit, in: Ders., Von David zu den Deuteronomisten. Studien zu den Geschichtsüberlieferungen des Alten Testaments, 2002 (BWANT 156), 217–235. Dietrich, Walter, Niedergang und Neuanfang. Die Haltung der Schlussredaktion des deuteronomistischen Geschichtswerkes zu den wichtigsten Fragen ihrer Zeit, in: Ders., Von David zu den Deuteronomisten. Studien zu den Geschichtsüberlieferungen des Alten Testaments, 2002 (BWANT 156), 252–271. Dietrich, Walter, Samuel, 2005 (BKAT VIII/1,2). [Inzwischen liegt der erste Band zu 1Sam 1–12 vor: BKAT VIII/1, 2011.] Eynikel, Erik, The Reform of King Josiah and the Composition of the Deuteronomistic History, 1996 (OTS 33). Frevel, Christian, Deuteronomistisches Geschichtswerk oder Geschichtswerke?, in: Udo Rüterswörden (Hg.), Martin Noth – aus der Sicht der heutigen Forschung, 2004 (BThSt 58), 60–95. Gertz, Jan Christian (Hg.), Grundinformation Altes Testament, Göttingen 2006. Jepsen, Alfred, Die Quellen des Königsbuches, Halle 1953, 21956. Knauf, Ernst Axel, L’ ‘Historiographie Deutéronomiste’ (DtrG) existe-t-elle?, in: Albert de Pury etalii (éds.), Israël construit son histoire. L’histoire deutéronomiste à la lumière des recherches rècentes, 1996 (La Monde de la Bible 34), 409–418. Kratz, Reinhard Gregor, Die Komposition der erzählenden Bücher des Alten Testaments, Göttingen 2000. McKenzie, Steven L. / Graham, M. Patrick (eds.), The History of Israel’s Traditions. The Heritage of Martin Noth, 1994 (JSOT.S 182). Moenikes, Ansgar, Zur Redaktionsgeschichte des sogenannten Deuteronomistischen Geschichtswerks: ZAW 104 (1992) 333–348. Müller, Reinhard, Königtum und Gottesherrschaft. Untersuchungen zur alttestamentlichen Monarchiekritik, 2004 (FAT 2/3). Noort, Ed, Das Buch Josua. Forschungsgeschichte und Problemfelder, 1998 (EdF 292). Noth, Martin, Überlieferungsgeschichtliche Studien. Die sammelnden und bearbeitenden Geschichtswerke im Alten Testament, Tübingen 1942, 21957. Preuss, Horst Dietrich, Zum deuteronomistischen Geschichtswerk: ThR 58 (1993) 229–264. 341–395. Rad, Gerhard von, Hexateuch oder Pentateuch?: VF 1947/48 (1949) 52–56. Rendtorff, Rolf, Kontinuität und Diskontinuität in der alttestamentlichen Prophetie: ZAW 109 (1997) 169–187. Rösel, Hartmut, Von Josua bis Jojachin. Untersuchungen zu den deuteronomistischen Geschichtsbüchern des Alten Testaments, 1999 (VT.S 75). Smend, Rudolf, Die Entstehung des Alten Testaments, Stuttgart u.a. 41989. Tanner, Hans Andreas, Amalek. Der Feind Israels und der Feind Jahwes. Eine Studie zu den Amalektexten im Alten Testament, Zürich 2005. Keulen, Percy S.F.van, Manasseh through the Eyes of the Deuteronomists. The Manasseh Account (2 Kings 21:1–18) and the Final Chapters of the Deuteronomistic History, 1996 (OTS 38). Veijola, Timo, Die ewige Dynastie. David und die Entstehung seiner Dynastie nach der deuteronomistischen Darstellung, 1975 (AASFB 193). Veijola, Timo, Das Königtum in der Beurteilung der deuteronomistischen Historiographie. Eine redaktionsgeschichtliche Untersuchung, 1977 (AASFB 198). Veijola, Timo, David. Gesammelte Studien zu den Davidüberlieferungen des Alten Testaments, 1990 (Schriften der Finnischen Exegetischen Gesellschaft 52). Veijola, Timo, Moses Erben. Studien zum Dekalog, zum Deuteronomismus und zum Schriftgelehrtentum, 2000 (BWANT 149). Veijola, Timo, Deuteronomismusforschung zwischen Tradition und Innovation: ThR 67 (2002) 273–327.391–424; 68 (2003) 1–44.
24
Die Eigenart deuteronomistischer Geschichtsschreibung
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Israel in der Perspektive des deuteronomischdeuteronomistischen Literaturkreises 1
Vorklärungen
1.1
Zum „deuteronomisch-deuteronomistischen Literaturkreis“
Die Titelformulierung leitet dazu an, den Fokus der folgenden Darlegungen hauptsächlich auf das Deuteronomium und die Bücher der Vorderen Propheten zu richten, daneben aber auch das Jeremiabuch und das (mutmaßliche) „deuteronomistische Vierprophetenbuch“ (Hos, Am, Mi, Zef)1 im Blick zu behalten. Hingegen muss die unzweifelhaft auch im Tetrateuch festzustellende deuteronomistische Bearbeitungstätigkeit außer Betracht bleiben. Es ist hier auch nicht die Gelegenheit, auf die diversen Schulstreitigkeiten darüber einzutreten, was „deuteronomistisch“, „deuteronomistisches Geschichtswerk“, „deuteronomistische Bearbeitung von Prophetenbüchern“ usw. des Näheren sei.2 Für den vorliegenden Zusammenhang genügt es, einen breiten wissenschaftlichen Grundkonsens festzuhalten: a) Es hat eine deuteronomistische Bewegung oder auch Schule gegeben, die relativ weite Teile der alttestamentlichen Literatur – mindestens in dem oben skizzierten Umfang – geschaffen oder doch wesentlich beeinflusst hat. b) Diese Bewegung oder Schule begann vielleicht in spätvorexilischer Zeit zu wirken, gelangte in der Exilszeit zur Blüte und wirkte in der (früh-)nachexilischen Zeit noch weiter. Unbedingt nötig und sinnvoll ist es, zwischen den von den Deuteronomisten selbst verfassten Texten und den jeweils von ihnen benutzten Quellen zu unterscheiden. Was „Israel“ in der dtn-dtr Literatur sei, wird nicht nur durch die jüngsten, die dtr, sondern auch durch die älteren Textschichten mitbestimmt. Und gerade die gegenseitige Profilierung von beidem verspricht ein Bild mit Tiefenschärfe zu ergeben.
1 2
Siehe dazu unten Punkt 5. Hierzu nur einige wenige Literaturverweise: Albertz, Exilszeit; Veijola, Deuteronomismusforschung; Frevel, Deuteronomistisches Geschichtswerk; Römer, So-Called Deuteronomistic History.
Die Eigenart deuteronomistischer Geschichtsschreibung
26
1.2
Zu „Israel“
ישׂראלist eines der häufigsten Wörter in der hebräischen Bibel. Auch in den Schriften des „deuteronomisch-deuteronomistischen Literaturkreises“ gibt es erdrückend viele Belege: insgesamt 1268.3 Es macht Sinn, diese Fülle etwas zu untergliedern. So lassen sich etwa verschiedene sprachliche Wendungen unterscheiden. Am häufigsten steht ישׂראלfür sich, oft ergänzt um כל, „(ganz) Israel“. Recht häufig werden, gleichsam als die zu dem Kollektiv Gehörigen, die „Israeliten“ benannt ()בני־ישׂראל, viel seltener die „Israelitinnen“ ( – בנות־ישׂראלworaus erhellt, dass die altlutherische, geschlechtsneutrale Wiedergabe von בני־ישׂראלmit „Kinder Israels“ [oder die altenglische mit „children of Israel“] eigentlich treffender ist als die scheinbar korrekte mit „Söhne Israels“ oder „Israeliten“). Weitere Spezifizierungen sind „ עם־ישׂראלdas Volk Israel“, „ בית־ישׂראלdas Haus Israel“, אישׁ־ישׂראל/„ אנשׁיder Mann/die Männer Israels“, „ זקני־ישׂראלdie Ältesten Israels“, „ שׁבטי־ישׂראלdie Stämme Israels“. Diese sprachlichen Differenzierungen werfen für die Frage, welcher Personenkreis jeweils im Blick ist, einiges ab, jedoch nicht viel für die hier vor allem interessierende Frage, wer oder was dieses „Israel“ sei. Einen wichtigen Schritt weiter führt in dieser Hinsicht die überaus häufige Verbindung „ יהוה אלהי־ישׂראלJhwh, der Gott Israels“: Diese Wendung bestimmt „Israel“ als eine gewissermaßen theologische Größe: das zu dem Gott Jhwh gehörende Volk, das Gottesvolk. Demgegenüber ist aber an vielen Orten mit „Israel“ eine empirische Größe gemeint: ein wie auch immer näher zu bestimmendes historisches Volk. Diese beiden Grundkategorien lassen sich jeweils noch einmal untergliedern. Als Gottesvolk kann die reale Bevölkerung eines bestimmten Gebiets gesehen sein – oder ein ideales Israel, zu dem etwa auch die Juden Kappadokiens gehören können, oder die „werteste Christenheit“ des Jahres 1644 n. Chr., welche Matthäus Apelles von Löwenstern mit den Worten „Freue dich, Israel, seiner Gnaden“ zum Erntedank aufruft.4 Und dort, wo „Israel“ eine innerweltliche Größe bezeichnet, da kann dies das konkrete, auf Mittel- und Nordpalästina begrenzte, zuerst als Stämmebund, dann als Königreich organisierte Nordisrael sein – oder ein mehr oder minder virtuelles Gesamtisrael, das jedenfalls die Bevölkerung Nord-, Mittel und Südpalästinas und womöglich noch die babylonische Gola oder gar die Diaspora umfasst.
2
Jhwh als „der Gott Israels“
Die Deuteronomisten gingen zu Werk, als das Nordreich Israel längst nicht mehr existierte. Gleichwohl war ihnen dessen einstiges Vorhandensein wohlbewusst und gab es unter den Überlieferungen, mit denen sie sich befassten, auch spezi3 4
Aufgeschlüsselt nach Büchern: Dtn 72×, Jos 160×, Ri 184×, 1/2Sam 270×, 1/2Kön 367×, Jer 125×, Vierprophetenbuch 90×. EKG 380, „Nun preiset alle Gottes Barmherzigkeit“.
Israel in der Perspektive des dtn-dtr Literaturkreises
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fisch nordisraelitische. So meint der Begriff „Israel“ in den von ihnen bearbeiteten und auch in den von ihnen geschriebenen Texten häufig Nordisrael; man denke nur an das von ihnen immer wieder aufgerufene „Tagebuch der Könige von Israel“, in dem sich über den betreffenden König Weiteres nachlesen lasse. Damit stellt sich die Frage, ob vielleicht auch dort, wo es um das Gottesvolk Israel geht, Nordisrael im Blick sei. In nordisraelitischen Quellentexten ist das durchaus der Fall. Das Deboralied hebt an mit der Selbstaufforderung „Ich will singen Jhwh, dem Gott Israels“ (Ri 5,3) und fährt fort mit einer Theophanieschilderung, der zufolge die Berge wankten „vor Jhwh, dem Gott Israels“ (5,5). Sechs weitere Male begegnet im Lied der Begriff ישׂראל, und klar sind dabei die – sämtlich nordisraelitischen – Stämme und ihre Vertreter im Blick, die sich an der Debora-Schlacht beteiligten;5 einmal heißen die Krieger Israels förmlich „Volk Jhwhs“.6 Dem angesichts dessen nahe liegenden Schluss, die Nordstämme allein könnten das Volk des Gottes Jhwh sein, wehren die deuteronomistischen Redaktoren nicht durch Eingriffe in den Text des alten Liedes, sondern weiter vorne im Richterbuch dadurch, dass sie der Reihe der (wiederum rein nordisraelitischen) „Retter“ einen Judäer bzw. Kalibbiter voranstellen: Otniel, der „Israel“ aus den Händen des (sonst nirgendwoher bekannten) Aramäerkönigs Kuschan-Rischatajim errettet habe (Ri 3,7–11). Damit sind die Leser gehalten, in das „Israel“ der Richterzeit immer Juda mit eingeschlossen zu denken. Eine andere, höchst aufschlussreiche Stelle findet sich in 1Kön 12. Der erste König des Nordreichs, Jerobeam I., richtet in Bet-El und Dan zwei Staatsheiligtümer ein, lässt dort zur Repräsentation Jhwhs jeweils einen goldenen Stier aufstellen und weiht diesen mit den Worten ein:7 „Siehe, das ist dein Gott, Israel, der dich aus dem Land Ägypten heraufgeführt hat“ (1Kön 12,28). Hier wird feierlich der Gott des Exodus zum Staatsgott des neu gegründeten Königreichs und das Staatsvolk (Nord-)Israels zum Volk dieses Gottes erklärt. Das ließen die Deuteronomisten so nicht stehen: Sie änderten die singularische Verbform ֶה ֶעלְָך „er hat dich heraufgeführt“ in die pluralische „ ֶהעֶלוָּךsie haben dich heraufgeführt“, womit sie nicht nur dem israelitischen König einen Vielgottglauben unterstellen, sondern auch seinen Untertanen den Status des (alleinigen) Volkes Jhwhs entziehen. Von diesen Stellen her lässt sich schon erahnen, wie es bei den von den Deuteronomisten selbst formulierten Belegen für )יהוה( אלהי־ישׂראלin den Vorderen Propheten8 steht: Nie ist hier speziell an Nordisrael, immer ist an ein Gesamtisrael gedacht, das auch Juda umgreift. Im Josua- und im Richterbuch9 liegt das ohnehin auf der Hand, weil die Deuteronomisten die Landnahme- und 5 6 7 8 9
Ri 5,2.7[bis].8.9.11. Ri 5,11, wobei bekanntlich die Bedeutung von עםzwischen „Volk“ und „Kriegsvolk“ schillert. Vgl. auch 5,13, eine freilich textlich und sprachlich schwierige Stelle. Im Folgenden eine Rekonstruktion; zum jetzigen Wortlaut siehe gleich danach. Im Dtn begegnet die Wendung nicht, dafür aber ausgiebig das in der Moserede äquivalente „unser Gott“ oder „euer Gott“. Belege in sicher dtr Kontexten: Jos 7,13.19.20; 10,40.42; 13,14; 24,2.23 sowie Ri 6,8; 11,21.23; 21,3.
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Die Eigenart deuteronomistischer Geschichtsschreibung
Richterzeit für eine dezidiert gesamtisraelitische Epoche gehalten haben.10 Mutatis mutandis gilt das auch für die frühe Königszeit: Wenn hier die Deuteronomisten vom „Gott Israels“ reden,11 ist dies der Gott Nord- und Südisraels. Umso überraschender erscheint es auf den ersten Blick, dass ab der Reichsteilung der Ausdruck אלהי־ישׂראלnur noch auf das Nordreich bezogen wird. Doch dies geschieht nicht etwa in der Absicht, Nordisrael mit Jhwh besonders eng liiert sein zu lassen, ganz im Gegenteil: Es hat Jhwh gereizt, er sendet seine Propheten gegen es usw.12 Das bedeutet: Das Königreich, das sich „Israel“ nennt, hat den „Gott Israels“ nicht für, sondern gegen sich. Kein Wunder, dass es alsbald untergeht. Wenn die Deuteronomisten danach noch vom „Gott Israels“ sprechen, dann weniger im Rückblick auf das ausgelöschte Nordreich als auf das dann allein noch bestehende Juda. Schon das ist erstaunlich: Juda kann nicht nur zusammen mit (Nord-)Israel, sondern auch allein das Gegenüber des „Gottes Israels“ sein.13 Doch ist dies wiederum nicht etwa beglückend, sondern beunruhigend; denn auch das Juda der späten Königszeit hat laut der deuteronomistischen Darstellung Jhwh gereizt, dieser hat seine Unheilspropheten gesandt usw.14 So ist auch Judas Untergang unvermeidlich. Der Sachverhalt im Jeremiabuch ist ganz ähnlich: Wo hier deuteronomistische Autoren oder Redaktoren vom „Gott Israels“ reden, meinen sie nicht spezifisch den Gott des Nordreichs (das es zur Zeit Jeremias und erst recht der Redaktion längst nicht mehr gab). Und auch hier hat die Bezeichnung einen überwiegend unheilsprophetischen Klang.15 Der Befund ist in doppelter Hinsicht aufschlussreich: Der „Gott Israels“ ist auch (und vielleicht zuerst) der Gott Judas. Doch dies ist keine Bestandsgarantie für den Staat. Jhwh ist der Gott nicht eines Staates, sondern eines Volkes. Und „Israel“ ist weniger ein Staats- als ein
10
11 12 13
14 15
Daher wird von der Eroberung auch des palästinischen Südens (in Jos 10) und der Zuteilung von Land auch an Juda (Jos 15) berichtet und wird eigens ein judäischer bzw. kalibbitischer Retter erfunden, der die sonst rein nordisraelitische Reihe von Rettern ergänzt (Ri 3,7–11). Eindeutig dtr sind die folgenden Belege: 1Sam 2,30; 10,18; 2Sam 7,26.27; 12,7; 1Kön 8,15.17.20.23.25.26; 11,9.31. 1Kön 14,7.13; 15,30; 16,13.26.33; 17,1; 22,54; 2Kön 9,6; 10,31; 14,25. Die einzigen positiven Beispiele betreffen Elijas Gottesverhältnis: 1Kön 17,14; 18,36. Im dtr Sprachgebrauch kann mit „Israel“ geradezu „Juda“ gemeint sein: – in 1Kön 2,4; 8,20.25; 9,5; 10,9 wird auf die doch eigentlich judäische NatanVerheißung mit der Wendung vom Sitzen „auf dem Thron Israels(!)“ angespielt; – laut 1Kön 12,17 wurde bei der sog. Reichsteilung der Davidide Rehabeam König über die Israeliten(!) in den Städten Judas(!); – gemäß 1Kön 14,24; 2Kön 16,3; 21,2.9 ließen sich judäische Könige auf die Götter der Völker ein, die Jhwh vor Israel(!) vertrieben hatte; – laut 2Kön 18,4 haben bis zur Zeit Hiskijas „die Israeliten“ Nehuschtan geopfert. 2Kön 21,12; 22,15.18. Die positiven Beispiele betreffen das Gottesverhältnis Hiskijas und Jesajas: 2Kön 18,5; 19,15.20. Klar dtr Belege sind etwa Jer 7,3.21; 11,3; 16,9; 19,3.15; 23,2; 24,5; 29,8. Anders ist der Sachverhalt im Zef-Buch. Hier sind sämtliche Israel-Belege – Zef 2,9; 3,13.14.15 – wohl nach-dtr, und alle tragen heilvolle Konnotation; offenkundig ist hier nicht mehr Nord-Israel, wohl überhaupt kein reales, sondern ein rein ideales Israel im Blick.
Israel in der Perspektive des dtn-dtr Literaturkreises
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Gottesvolk – leider ein zumeist versagendes Gottesvolk.16 Das den Deuteronomisten anscheinend vorschwebende ideale Israel war (bis dahin) kein reales Israel. Im Folgenden sollen drei – in sich jeweils wieder gebrochene – Facetten des Israel-Bildes in der deuteronomisch-deuteronomistischen Literatur aufgezeigt werden.
3
Das moralische und das historische Israel (Dtn und 2Sam)
Im Deuteronomium begegnet der Begriff ישׂראלvergleichsweise am wenigsten. Die Belege sind zudem innerhalb des Buches recht ungleich verteilt. Auf das eigentliche Gesetzeskorpus Dtn 12–26 entfällt nur ein Viertel von ihnen.17 Dies erstaunt insofern nicht, als das deuteronomische Gesetz in seinem Kern für das Juda der ausgehenden Königszeit geschaffen wurde. Umso interessanter ist es, dass – und vor allem: wie – hier der Begriff „Israel“ doch verwendet wird: Ein vollkommen missratener Sohn soll von seinen Eltern angezeigt und vom Ortstribunal gesteinigt werden; „so sollst du das Böse aus deiner Mitte ausrotten, und ganz Israel soll es hören“ (21,21); wird eine israelitische (!) Frau von ihrem Ehemann fälschlich verdächtigt, nicht jungfräulich in die Ehe gekommen zu sein, muss er ein Bußgeld bezahlen (22,19); war sie indessen wirklich keine Jungfrau, ist sie zu steinigen, weil sie „eine Torheit in Israel“ begangen hat (22,21); ehebrecherische Paare müssen sterben, damit „das Böse aus Israel ausgerottet“ wird (22,22); unter den Söhnen und den Töchern Israels darf es keine Kadeschen geben (23,18); wer einen „Israeliten“, seinen „Bruder“, raubt und in die Sklaverei verkauft, muss sterben – damit „das Böse ausgerottet werde aus deiner Mitte“ (24,7); die Schwagerehe ist zu vollziehen, damit ein „Name“ – nämlich der des früh verstorbenen Ehemannes und Bruders – „in Israel nicht erlösche“ (25,6). „Israel“ ist in all diesen Fällen offenbar keine politische, sondern eine religiöse oder moralische Größe. In diesem „Israel“ soll es keine Männer ohne Erben, keine verunglimpften, freilich auch keine ungesitteten Frauen, keine Ehebrecherinnen und Ehebrecher, keine Kultprostitution, keine Torheiten 16
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In Jos 1–12 zeichnet die dtr Redaktion noch ein positives Bild von Israel – allerdings nur ein Teil von ihr. Die erste dtr Version der Landnahme (im sog. Schichtmodell die exilszeitliche Grundredaktion „DtrH“, im sog. Blockmodell die joschijanische Redaktion) zeigt „Israel“ unter Josuas Führung und mit Jhwhs Hilfe immer nur sieg- und erfolgreich. Erst eine spätere Bearbeitung (im Schichtmodell: DtrN) bringt in das leuchtende Bild dunkle Schatten: die Warnung schon an Josua, die Tora stets zu beachten (Jos 1,7–9); dann die Geschichte vom Diebstahl des Bannguts (Jos 7 – mit 14 Belegen für „Israel“! Vgl. zur Einordnung dieser Erzählung Dietrich, Achans Diebstahl); ferner die Bemerkungen über die doch nicht vollständige Einnahme des Landes (Jos 13,1bb–6a) und endlich die große, mahnende, mitunter sogar drohende Schlussrede in Jos 23; grundlegend hierzu Smend, Gesetz. 18 von 72 Belegen.
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Die Eigenart deuteronomistischer Geschichtsschreibung
(im Sinne von Schandtaten) geben. Aus diesem „Israel“ soll „das Böse ausgerottet“ sein. Es ist gewiss dieses religiös-moralische Israel, das in dem häufigen, eindringlichen „Du“ der deuteronomischen Paränese angesprochen wird. Die deuteronomistischen Bearbeiter des Deuteronomiums geben in ihren Zusätzen dem Begriff Israel einen anderen Klang. In den Einleitungsreden ist Israel schlicht Adressat der Moserede, wird immer wieder aufgefordert, zu „hören“, die Tora entgegenzunehmen, anschließend das Land zu besetzen usw. Dies ist das quasi-historische Israel damals, im Ostjordanland, nach der Wüstenwanderung und vor der Landnahme. Eine besondere moralische Qualität eignet ihm nicht, im Gegenteil, es muss dringlich ermahnt und gewarnt werden.18 Genauso ist es in den Schlusskapiteln:19 Israel hat Moses große Rede angehört, wird auf die Einhaltung der Tora verpflichtet, empfängt den Segen, wird zum Zeugen der Einsetzung Josuas und bereitet sich auf die Landnahme vor. „Mose“ legt allen Wert darauf, dass wirklich alle, die da vor ihm stehen, zum Bundesvolk Jhwhs gehören: „Ihr steht heute alle vor Jhwh, eurem Gott: eure Häupter, eure Stämme, eure Ältesten und Amtleute, jeglicher Mann Israels, eure Kinder, eure Frauen, der Fremde in eurem Lager, vom Holzfäller bis zum Wasserschöpfer“ (Dtn 29,9f). Dieselben beiden Israel-Bilder, das des ideal-moralischen und das des quasihistorischen Israel, begegnen auch im 2. Samuelbuch. Als der liebestolle Amnon sich an seiner Halbschwester Tamar vergreifen will, setzt diese sich zur Wehr mit den Worten: „Nicht doch, mein Bruder, tu mir keine Gewalt an; denn so etwas macht man nicht in Israel; begehe nicht diese Torheit … Du wärest (sonst) wie einer der Toren in Israel“ (2Sam 13,12f). Diese Formulierungen sind gerade im Mund Tamars bemerkenswert, ist ihre Mutter doch Aramäerin20 und ihr Vater Judäer (wenn auch König über Israel). Der von ihr beschworene Maßstab ist offenbar an politische Grenzen nicht gebunden. Fast möchte man sagen, hier gehe es um universelle Menschenrechte, in diesem Fall: um das Recht einer jungen Frau auf Selbstbestimmung und körperliche Integrität. Indem Amnon dann tut, was „man nicht macht in Israel“, indem er zum „Toren in Israel“ wird, stellt er sich außerhalb der Grenzen der Menschlichkeit; er wird dafür mit dem Leben bezahlen. In diesem Sinn redet das 2. Samuelbuch nicht immer von Israel.21 Sehr oft geht es ganz real um das politische Nordisrael. Mit Nachdruck betreibt David am Anfang dessen militärische und politische Destabilisierung (2Sam 1–5), und nur mit größter Mühe und dem Einsatz von viel List und Gewalt kann er es spä-
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Beim Letzteren ist etwa an die drohende Schilderung des Untergangs von Datan und Abiram „mitten in ganz Israel“ zu denken: Dtn 11,6. Beiseite können hier das Moselied (Dtn 32,1–43) und der Mosesegen (Dtn 33,1–29) bleiben, die dem Dtn wohl erst nach-dtr zugewachsen sind, vgl. Römer, Deueronomistic History 181f. Sie heißt Maacha und ist die Tochter Talmais, des Königs von Geschur: 2Sam 3,3. Vielleicht kann man noch 2Sam 12,12 hierher rechnen, wo Natan ankündigt, Abschalom werde sich der Nebenfrauen Davids „im Angesicht ganz Israels und im Angesicht der Sonne“ bemächtigen.
Israel in der Perspektive des dtn-dtr Literaturkreises
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ter unter seiner Herrschaft halten (2Sam 15–20).22 Eine immer noch real-politische Betrachtungsweise liegt auch dort vor, wo mit „Israel“ die Gesamtbevölkerung der davidischen Doppelmonarchie gemeint ist: So, wenn Huschai Abschalom den vergifteten Rat gibt, David nicht sofort zu verfolgen, sondern zuerst „ganz Israel von Dan bis Beerscheba“ aufzubieten (2Sam 17,11); Beerscheba markiert die Südgrenze Judas!23 Ähnlich heißt es am Schluss des Summariums über Davids Herrschaft: „Und David war König über ganz Israel. Und David übte beständig Recht und Gerechtigkeit für sein ganzes Volk“ (2Sam 8,15).24 Auch die Deuteronomisten denken bei „Israel“ nicht an moralische Normen, sondern an das reale, freilich in einem besonderen Verhältnis zu Jhwh stehende Volk. In dem stark deuteronomistisch bearbeiteten Kapitel 2Sam 725 lassen sie Natan David darüber belehren, wie treulich Jhwh Israel durch die Geschichte geleitet habe, und lassen sie David Jhwh für die Erwählung Israels zu seinem Volk rühmen.26
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Das kriegerische und das theologische Israel (Ri)
Das Richterbuch handelt, auf der deuteronomistischen Oberfläche betrachtet, klar von Gesamtisrael. Doch am Grund der Darstellung liegen ältere Überlieferungen, die nicht eigentlich von ganz Israel, schon gar nicht unter Einschluss des judäischen Südens, sondern nur von einzelnen Stämmen oder gar Sippen handeln. Die „Israelitisierung“ bzw. Nationalisierung scheint indes nicht erst von der deuteronomistischen Redaktion vorgenommen worden zu sein. Das lässt sich sowohl an den Listen der sog. Kleinen Richter als auch an den Erzählungen über Retter aufweisen. Die Liste der Kleinen Richter wurde von der Redaktion in zwei Teilen um die Jiftach-Erzählung herum angeordnet (Ri 10,1–5; 12,7–15), weil Jiftach als beides figuriert: als „Kleiner Richter“ und als „Großer Retter“. Den Abschluss 22
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In den Erzählungen von Abschaloms Aufstand spielt das Wort „Israel“ eine auffällig große Rolle, z.B. 2Sam 15,2.6.10.13; 18,6.7.16.17 – so, als seien die Nordstämme die hauptsächlichen Träger der Revolte gewesen. Hinzu kommen die Anspielungen auf das zwielichtige Verhalten des Sauliden Meribaal in den damaligen Turbulenzen (16,1–4; 19,25–31), ferner die bizarre Szene vom Streit der „Männer Judas“ und der „Männer Israels“ um das Privileg, den siegreichen David zuerst ehren zu dürfen (19,42–44), und schließlich die Erzählung vom Aufstand des Benjaminiten Scheba mit dem bezeichnenden Signalruf „Ein jeder zu seinen Zelten, Israel!“ (20,1–22). „Politisch korrekt“ müsste es lauten wie in 2Sam 3,10: „Israel und Juda von Dan bis Beerscheba“. Vgl. auch 2Sam 5,12.17; 6,20. Gesamtisraelitisch dürfte auch das militärische Aufgebot „Israels“ gegen die Ammoniter sein: 2Sam 10,9.15.17.18.19; 11,1. „Politisch korrekt“ heißt es demgegenüber in 11,11, „die Lade, Israel und Juda“ befänden sich im Feld gegen Ammon. Vgl. schon McCarthy, II Samuel 7, sowie Dietrich, David 114–136. 2Sam 7,6.7.8.10.11 resp. 7,23.24.26.27.
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Die Eigenart deuteronomistischer Geschichtsschreibung
der Liste, die Nachrichten über den „Richter“ Samuel, platzierte die Redaktion sachgerecht im 1. Samuelbuch.27 Die von den Deuteronomisten vorgefundene Liste weist bereits eine klar gesamtisraelitische, genauer: nordisraelitische Perspektive auf: Von jedem der genannten Männer heißt es, er habe „Israel gerichtet“. Nach Meinung der Forschung fungierten sie indes als „Richter“ (oder Schlichter oder Anführer oder Tribune) nur in einer bestimmten Ortschaft, vielleicht in einer kleineren Region, die allenfalls die Grenze zwischen zwei Stammesgebieten übergriff.28 Wann genau diese Männer wirkten, ist völlig unsicher. Die Liste aber erweckt den Eindruck, es habe zwischen ihnen eine Sukzessionsfolge bestanden, und das vorstaatliche Israel sei kontinuierlich von „Richtern“ aus verschiedenen Landesteilen „regiert“29 worden. Mit großer Sicherheit ist dies eine Rückprojektion aus staatlicher Zeit, und kaum überhörbar ist ihr königs- bzw. staatskritischer Unterton: Schon, als es keinen König gab in Israel, wurde das Land korrekt und erfolgreich verwaltet. Die deuteronomistische Redaktion korrigiert dies: Sie fügt dem Richterbuch einen Anhang an,30 der die ausgehende Richterzeit als gottlos-blutiges Chaos schildert, und kommentiert dies viermal mit der Mitteilung, es habe damals „noch keinen König in Israel“ gegeben, so dass „jedermann tat, was in seinen Augen recht war“.31 Auch der – nach deuteronomistischer Rechnung – vorletzte Richter Israels, Eli, versagt, bis endlich der letzte, Samuel, die Weichen in Richtung Königtum stellt. Auch die Erzählungen von den Großen Rettern wurden schon vor-dtr zusammengefasst zu einem „Retterbuch“32 bzw. einem „Buch der Kriege Jhwhs“.33 Dabei wurden ursprüngliche Stammeshelden zu Rettern ganz Israels umgeformt und damit der Eindruck erweckt, Jhwh habe Israel – wiederum: Nordisrael! – durch von ihm erweckte charismatische Helden immer wieder aus prekären Situationen herausgeholfen. Eines Königs bedurfte es dazu nicht. Die deuteronomistische Redaktion korrigierte auch dieses Bild auf zweierlei Weise: Sie erklärte das Erstarken äußerer Feinde Israels und damit die Notwendigkeit des Auftretens von „Großen Richtern“34 mit dem offenbar unüberwindlichen Hang „Israels“ zum Abfall von Jhwh; diese Wurzel allen Übels vermochten die „Richter“ nicht auszureißen. Sodann ließ sie als letzten „Großen Richter“ einen Mann wirken, dem diese Ehre nur sehr bedingt zukam: Simson, zwar bärenstark, aber religiös und moralisch ein zweifelhafter Charakter, der denn auch den Phi27 28
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Genauer: in 1Sam 7,15–17a; 8,1f; 25,1; vgl. dazu Mommer, Samuel 35f.44–46; Scherer, Richter; Dietrich, Samuel 311f (nur Letzterer rechnet 1Sam 8,1f hinzu). So am deutlichsten bei Samuel: Die in 1Sam 7,16 genannten Orte – Bet-El, Gilgal, Mizpa und Rama – liegen teils auf benjaminitischem, teils auf (süd-)efraimitischem Gebiet. Scherer, (Richter) sieht Ähnliches auch bei einigen „Kleinen Richtern“ gegeben. Zu dieser zweiten Bedeutung der Wurzel ( שׁפטder politischen neben der juridischen) vgl. Niehr, Herrschen. Vgl. Veijola, Königtum 15–29. Ri 17,6; 18,1; 19,1; 21,25. Richter, Traditionsgeschichtliche Untersuchungen, zusammenfassend 319ff. Scherer, Überlieferungen, zusammenfassend 413ff. Erst DtrH machte auch die Helden zu „Richtern“, wie er sie aus der Liste der „Kleinen Richter“ kannte, und schuf damit eine Institution, die – mehr schlecht als recht – Israel nach innen wie gegen außen zu sichern versuchte.
Israel in der Perspektive des dtn-dtr Literaturkreises
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listern zum Opfer fiel. Gleiches gilt dann für Eli und sogar noch für Saul – kurzum, die „Richter“ konnten Israels äußere Sicherheit nicht gewährleisten, erst David konnte dies. Als konkretes Beispiel für die Verschiebungen im Israel-Bild kann die erste der älteren Rettergeschichten in Ri 3,11–30 dienen. Sie weist ingesamt acht Belege für den Begriff ישׂראלauf. Zum ältesten Überlieferungskern – der Sage vom Terroranschlag eines Benjaminiten namens Ehud auf den Moabiter-„König“ Eglon (3,16–26) – gehört keiner von ihnen. Beim Einbau der Ehud-Sage in die Reihe der Rettergeschichten erhielt sie eine (nord-)israelitische Rahmung: „Die Israeliten“ (nicht nur die Benjaminiten) senden durch Ehud einen Tribut nach Moab (*3,15), was dieser für seinen Mordanschlag nutzt; nach vollbrachter Tat folgen ihm vom „Gebirge Efraim“ aus „die Israeliten“ in einen Krieg gegen Moab, der deutliche Züge eines Jhwh-Kriegs trägt (3,27–29). Einen zweiten Rahmen legt die dtr Redaktion um die Erzählung, und hierhin gehören die restlichen sechs Israel-Belege: Nach dem Tod des (von ihr erst eingebrachten) Otniel taten „die Israeliten das Böse in den Augen Jhwhs“, worauf dieser Eglon von Moab „gegen Israel“ stärkte, so dass er, zusammen mit den Ammonitern und den Amalekitern, „Israel“ schlug und Jericho besetzte; danach mussten ihm „die Israeliten“ 18 Jahre dienen. Als dann „die Israeliten zu Jhwh schrieen“, erweckte er ihnen Ehud (3,12–15a). Am Ende ist Moab unter „die Hand Israels gebeugt“, und das Land hat 80 Jahre Ruhe (3,30). Der traditionsgeschichtliche Dreischritt ist vor Augen: Eine (benjaminitische) Stammes-Sage wird zuerst (nordisraelitisch) nationalisiert und dann (gesamtisraelitisch) theologisiert.
5.
Das beschuldigte und das begnadigte Israel (Vierprophetenbuch)
Die Forschung am Dodekapropheton ist sich weitgehend darin einig, dass während der Exilszeit ein deuteronomistisch redigiertes Vierprophetenbuch entstand, das die Schriften Hos, Am, Mi und Zef umfasste.35 Die drei ersten dieser Schriften sind nach Propheten benannt, die laut Überschrift im 8. Jahrhundert gewirkt haben, zu einer Zeit also, da das Nordreich Israel noch existierte. Tatsächlich beziehen sich die allermeisten der hier begegnenden „Israel“-Belege mehr oder minder eindeutig auf Nordisrael. Klar ist dies ohnehin dann, wenn neben Israel auch Juda oder Zion in Erscheinung tritt36 und so die Dualität von Nord und Süd
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Die Annahme, dass diese vier Prophetenschriften (in den Grundbeständen) während der Exilszeit zu einem Vierprophetenbuch zusammengestellt wurden, hat Nogalski plausibel gemacht: zu Amos, Literary Precursors 84–88, zu Micha, Literary Precursors 139–144, zu Zefanja, Literary Precursors 181–187.190f; zusammenfassend, Literary Precursors 278–280; Redactional Processes 274f. Vgl. auch die überblickende Darstellung bei Albertz, Exilszeit 163–185. Neben Juda bzw. Zion: Hos 4,15; 5,5; Am 6,1; Mi 1,5; 5,1.
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Die Eigenart deuteronomistischer Geschichtsschreibung
markiert wird. Vielleicht hat die recht häufige Verbindung בית־ישׂראל37 in vielen Fällen sogar die prägnant staatsrechtliche Bedeutung „Staat Israel“38. (Nord-)Israel erscheint an diesen Stellen überwiegend in einem sehr ungünstigen Licht. Der Staat und das Volk, insbesondere die politische und wirtschaftliche Elite, stehen unter schwerer Anklage; zahlreich und detailliert sind die gegen sie erhobenen Vorwürfe. Das Urteil ist vernichtend. Für Micha sind „die Anführer des Hauses Israel“ Leute, die „das Recht verabscheuen“ (Mi 3,9);39 laut Hosea wird Jhwh „kein Erbarmen mehr haben mit dem Haus Israel“ (Hos 1,6); und Amos sieht schon, wie „die Jungfrau Israel gefallen ist und nicht mehr aufsteht“ (Am 5,2). Doch neben dieser düsteren eignet „Israel“ im Vierprophetenbuch auch eine lichte Seite. Positiv wird mehrfach von der Anfangszeit gesprochen, in der Jhwh und Israel sich fanden und das Verhältnis ungetrübt war.40 Doch auch jetzt, da es sich getrübt hat, wird hier und da Hoffnung laut, es werde sich wieder bereinigen lassen.41 Und schließlich finden sich in allen drei Schriften messianische Weissagungen, die ausdrücklich (auch) Israel gelten.42 Laut dem Michabuch wird aus Davids Heimatort Betlehem einer hervorgehen, der „Herrscher sein wird über Israel“ (Mi 5,1); das Amosbuch mündet in die Verheißung, Jhwh werde die „zerfallene Hütte Davids wieder aufrichten“ und „das Geschick [s]eines Volkes Israel wenden“ (Am 9,11.14); und der erste Teil des Hoseabuchs schließt mit der Ankündigung, „die Israeliten“ würden „Jhwh, ihren Gott, wieder suchen – und David, ihren König“ (Hos 3,5). Am Ende der Zeiten also wird, spiegelbildlich zur davidisch-salomonischen Doppelmonarchie, wieder ein Nord und Süd umfassendes Gesamtisrael erstehen.43 Auch die vier Israel-Belege des Zefanjabuchs zeigen eine positive Erwartung: Es wird die Zeit kommen, da „Israel“ – nicht etwa nur Nordisrael, sondern das ganze Gottesvolk – von allen Feinden, ja sogar von der Sünde befreit sein wird.44 Die im Blick auf „Israel“ lichtesten Farben sind in die Schriften des Vierprophetenbuches wohl erst nach der deuteronomistischen Redaktion eingetragen worden. Gleichwohl hat der Deuteronomismus als ganzer einen wesentlichen Beitrag dazu geleistet, dass das Wort „Israel“ am Ende wieder zu dem wurde, 37 38
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Hos 1,4.6; 5,1 (hier im Parallelismus mit dem „Königshaus“); 6,10; Am 5,1.3.4.25; 6,1.14; 9,9; Mi 1,5; 3,1.9. Vgl. das „Haus Davids“ in der Tel-Dan-Inschrift; Bit-adini; Bit-Ammanu; Bit-Humri; im Alten Testament Bet-Rehob, Bet-Maacha u.a. Ein Gegenbeleg ist Am 5,25, wo „Haus Israel“ deutlich in Bezug auf die vorstaatliche Zeit gebraucht wird. Möglicherweise ist an dieser Stelle mit „Israel“ (auch) Juda gemeint. Hos 9,10; 11,1; 12,14; Am 9,7. Hos 11,8; 13,9; 14,2.6; Am 5,4; Mi 2,12. Vgl. Zobel, jiśrā’el 994: „seit dem Untergang des Nordreichs ist Israel mehr eine ideelle Größe, die in Juda, den Verbannten, der nachexilischen Gemeinde und nicht zuletzt auch immer wieder in dem Volk der Heilszeit in Erscheinung tritt“. In ähnlicher Weise werden in der „Vorhalle“ zur Chronik, 1Chr 1–9, die Genealogien der Nordstämme – obgleich damals für Juda verschollen bzw. zu Samaria geworden – mitgeführt, um ein virtuelles Gesamtisrael am Leben zu erhalten. Zef 2,9; 3,13.14.15.
Israel in der Perspektive des dtn-dtr Literaturkreises
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was es am Anfang (etwa im Deboralied) war: ein mit Stolz getragener Ehrenname für das Gottesvolk.45
Bibliographie Albertz, Rainer, Die Exilszeit. 6. Jahrhundert v. Chr., Stuttgart 2001 (Biblische Enzyklopädie 7). Dietrich, Walter, David, Saul und die Propheten. Das Verhältnis von Religion und Politik nach den prophetischen Überlieferungen vom frühesten Königtum in Israel, 21992 (BWANT 122). Dietrich, Walter, Samuel, 2003–2007 (BKAT 8.1, Lieferungen 1–4). Dietrich, Walter, Achans Diebstahl (Jos 7) – eine Kriminalgeschichte aus frühpersischer Zeit, in: Friedhelm Hartenstein (Hg.), Sieben Augen auf einem Stein (Sach 3,9). Studien zur Literatur des Zweiten Tempels, FS Ina Willi-Plein, Neukirchen-Vluyn 2007, 57–67. Dietrich, Walter, Vielfalt und Einheit im deuteronomistischen Geschichtswerk, in: J. Pakkala / M. Nissinen (eds.), Houses Full of All Good Things. Essays in Memory of Professor Timo Veijola, Göttingen 2008, 169–183 [im hiesigen Band der vorangehende Artikel]. Frevel, Christian, Deuteronomistisches Geschichtswerk oder Geschichtswerke?, in: Udo Rüterswörden (Hg.), Martin Noth – aus der Sicht der heutigen Forschung, 2004 (BThSt 58), 60–95. McCarthy, Dennis J., II Samuel 7 and the Structure of the Deuteronomic History: JBL 84 (1963) 131–138 = Ders., Institution and Narrative. Collected Essays, 1985 (AnBib 108), 127–134. Mommer, Peter, Samuel. Geschichte und Überlieferung, 1991 (WMANT 65). Niehr, Herbert, Herrschen und Richten. Die Wurzel špṭ im Alten Orient und im Alten Testament, 1986 (FzB 54). Nogalski, James, Literary Precursors to the Book of the Twelve, 1993 (BZAW 217). Nogalski, James, Redactional Processes in the Book of the Twelve, 1993 (BZAW 218). Richter, Wofgang, Traditionsgeschichtliche Untersuchungen zum Richterbuch, 1966 (BBB 18). Römer, Thomas, The So-Called Deuteronomistic History. A Sociological and Literary Introduction, London/New York 2005/2007. Scherer, Andreas, Überlieferungen von Religion und Krieg. Exegetische und religionsgeschichtliche Untersuchungen zu Richter 3–8 und verwandten Texten, 2005 (WMANT 105). Scherer, Andreas, Die „kleinen“ Richter und ihre Funktion: ZAW 119 (2007) 190–200. Smend, Rudolf, Das Gesetz und die Völker, in: Hans Walter Wolff (Hg.), Probleme biblischer Theologie, FS Gerhard von Rad, München 1971, 494–509 = Ders., Die Mitte des Alten Testaments, 1986 (BEvTh 99), 124–137. Thiel, Winfried, Die deuteronomistische Redaktion von Jeremia 1–25, 1973 (WMANT 41). Thiel, Winfried, Die deuteronomistische Redaktion von Jeremia 26–45, 1981 (WMANT 52). Veijola, Timo, Das Königtum in der Beurteilung der deuteronomistischen Historiographie. Eine redaktionsgeschichtliche Untersuchung, 1977 (AASFB 198). Veijola, Timo, Deuteronomismusforschung zwischen Tradition und Innovation: ThR 67 (2002) 273–327.391–424; 68 (2003) 1–44. Zobel, Hans-Jürgen, Art. ישׂראלjiśrā’el: ThWAT 3, 1982, 986–1012.
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Verstärkend in dieser Richtung hat dann Deuterojesaja gewirkt, bei dem regelmäßig Juda bzw. die Gola „Israel“ oder „Jakob“ heißen, vgl. Zobel, jiśrā’el 1008.
Achans Diebstahl (Jos 7): eine Kriminalgeschichte aus frühpersischer Zeit 1.
Die Deuteronomisten und der „Bann“
In der dtr (Grund-)Darstellung der Landnahme ist die „Bannung“ ( חרםHif.) ein Leitmotiv. Gebannt werden Jericho (6,21), Ai (8,26; 10,1), Makkeda (10,28), Eglon (10,34), Debir (10,39), alle Städte des Negev und der Schefela (10,40), Hazor (11,11) sowie alle von ihm abhängigen Stadtkönigtümer (11,12.20).1 Das „Bannen“ besteht jeweils in der vollständigen Auslöschung der gesamten Bewohnerschaft. Eben so hielt es bekanntlich auch der Moabiterkönig Mescha bei der Eroberung der israelitischen Ortschaften Atarot und Nebo um die Mitte des 9. Jahrhunderts: Er tötete die gesamte Bevölkerung – einmal ausdrücklich, weil er sie „Kamosch geweiht ( חרםHif.)“ hatte – und „schleppte“ obendrein Kultgeräte aus Jhwh-Heiligtümern „vor Kamosch“.2 Nach alledem und gemäß der Grundbedeutung von חרם3 meint „Bannen“ etwas wie das „Abtrennen“ vom üblichen Gebrauch, das „Abtreten“ von Menschen, u.U. auch von Dingen, an die Gottheit. Ein sprechendes Beispiel ist jene Erzählung von einem israelitischen König, der mit einem besiegten Aramäerkönig, statt ihn zu töten, ein Handelsabkommen trifft und dafür von einem Propheten im Namen Jhwhs hart angegangen wird: „Du hast den Mann meines Banns ( )חרמיaus der Hand gegeben – und nun steht dein Leben für sein Leben“ (1Kön 20,42).4 In das dtn Kriegsgesetz hat eine etwas mildere Fassung des Instituts der Bannweihe Eingang gefunden: Israel habe im Kriegsfall einer feindlichen Stadt immer zuerst die freiwillige Unterwerfung anzubieten; erst wenn sie dies ausschlage, sei sie zu belagern und zu erobern: „Und Jhwh, dein Gott, wird sie dir in die Hand geben, und du sollst alles, was darin männlich ist, mit der Schärfe des Schwertes schlagen.5 Doch die Frauen und die Kinder, das Vieh und alles, was sich in der Stadt an Beute findet, darfst du rauben und darfst die Beute genießen, die Jhwh, dein Gott, dir gibt“ (Dtn 20,10–14). Anders als Mescha, der in Nebo ausdrücklich auch die „Frauen, Beisassinnen und Sklavinnen“ tötete,6 1
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In Jos 11,21 werden schließlich noch – in offenbarem Rückgriff auf Num 13f – die Enakiter gebannt, offenbar eine Bezeichnung für die autochthone Bevölkerung Hebrons. Der Passus Jos 11,21–23 ist augenscheinlich ein Zusatz zu dem von der dtr Grundredaktion gestalteten Resümee 11,16–20; vgl. Fritz, Buch Josua 125f. Vgl. TUAT I/6, 648f; das Verb חרםHif. findet sich in Zeile 17 der Inschrift, vgl. Jaroš, Inschriften 44f. Der Begriff ist ausführlich untersucht von Lohfink, ḥāram 192–213. Denselben Vorwurf soll schon Samuel dem Saul gemacht haben (1Sam 15). Vgl. zum Ganzen Dietrich, Bannkriege 146–156. Das Stichwort חרםfehlt hier, doch ist es gedanklich präsent. Das belegt die Wendung von der Schärfe (wörtlich: dem Mund) des Schwertes ()פי־חרב, die fast alle חרם-Belege in Jos begleitet. TUAT I/6, 649.
Achans Diebstahl (Jos 7) – eine Kriminalgeschichte aus frühpersischer Zeit
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sollen die Israeliten den Bann auf die Männer, also das kriegerische Potenzial der eroberten Stadt, beschränken. Dann hätte also Israel, als es bei der Landnahme viel rabiater vorging, gegen göttliches Gebot verstoßen? Mitnichten. Ein Zusatz zum dtn Gesetz stellt die Landnahme unter eine Sonderregelung: „So [wie in V.13f angeordnet] sollst du an allen Städten handeln, die sehr weit von dir entfernt liegen, die nicht zu diesen Völkern hier gehören.7 Doch von den Städten dieser Völker, die Jhwh, dein Gott, dir zum Erbbesitz gibt, sollst du keine Menschenseele am Leben lassen ( חיהHif.), sondern sie restlos bannen (( “)החרם תחרימםDtn 20,15f.*17aa).8 Es kann kaum ein Zweifel daran sein, dass diese Erweiterung des dtn Banngesetzes die dtr Landnahmeschilderung vorbereitet, also selbst dtr ist. Genauer: Hier wie dort wird die Hand des Grundverfassers des dtr Geschichtswerks sichtbar, der eine betont radikale Vorstellung von der Landnahme Israels hatte.9 Das erste Exempel für die Anwendung der verschärften Bannvorschrift ist die Stadt Jericho. Vor deren Erstürmung gibt Josua den Befehl: „Und die Stadt mit allen, die darin sind,10 soll zum Banngut (חרם, Subst.) für Jhwh werden; nur ( )רקdie Hure Rahab soll am Leben bleiben ( חיהQal), sie und alle, die bei ihr im Haus sind, weil sie die Boten versteckt hat, die wir geschickt haben“ (Jos 6,17). Mit der letzten Bestimmung wird die Abweichung von der harten Regel begründet, die die Verschonung einer Familie in Jericho darstellt. Soweit verläuft alles in den vorgezeichneten Bahnen. Dann aber folgt, angefügt durch ein nochmaliges רקund schon dadurch als Zusatz erkennbar, eine weitere Anweisung: „Ihr jedoch, hütet euch vor dem Banngut (חרם, Subst.), dass ihr nicht bannt und (etwas) von dem Banngut nehmt und (so) das Lager Israels zum Banngut macht und ins Unglück stürzt! Und alles Silber und Gold und bronzene und eiserne Geräte: heilig ist es für Jhwh, zum Schatz Jhwhs soll es kommen“ (Jos 6,18f). Von sächlichem Banngut war an keiner der zuvor betrachteten Stellen die Rede.11 Es wird hier eine neue Dimension des „Bannens“ erreicht. Nicht nur Menschen dürfen sich die Sieger nicht zunutze machen, sie dürfen auch keinerlei Beutegut an sich nehmen. Menschen und wertvolle Güter: alles gehört ausnahmslos Jhwh. Diese denkbar radikalste aller Bannvorstellungen – ihre konsequente Anwendung würde wohl fast alle Kriege verhindern! – begegnet in besonders aus7 8
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Die fiktive Situierung des Dtn lässt diese Worte im Angesicht des alsbald zu erobernden Landes gesprochen sein. Es folgt hier noch die konventionell (spät-?)dtr Aufzählung der Völker, die vor Israel in Kanaan lebten, und die Warnung, sie könnten Israel zum Abfall von Jhwh verführen. Crüsemann (Gewaltimagination) leitet daraus die These ab, das dtn Banngebot gelte dezidiert nur für die ‚historische’ Situation der Landnahme, nicht aber als reale politische bzw. militärische Option für die Folgezeit. Um dafür je einen Vertreter des sog. Block- und des sog. Schichtmodells geltend zu machen, seien genannt: Nelson, Josiah 531–540; und Smend, Gesetz 124–137. An sich könnte man auch übersetzen „mit allem, was darin ist“, so dass auch Sachgüter eingeschlossen wären, doch verbietet sich dies angesichts der Fortsetzung, wo nur noch von Personen die Rede ist. Wohl aber begegnet dieses Motiv in Dtn 13,17f – innerhalb des ebenfalls spät-dtr Passus 13,13–19.
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geführter Form hier (und in Jos 7). Wo Bann-Überlieferungen sonst über das Töten von Menschen hinausgehen, tun sie das nur in begrenzter Weise. Mescha „schleppt“ zwar Gegenstände „vor Kamosch“, doch sind dies Geräte aus dem Jhwh-Kult, deren Übereignung an den Siegergott eine zusätzliche Demütigung für die Besiegten bedeutet.12 In Amalek sollen nach der Erzählung von 1Sam 15 (wie es scheint: nicht auf ihrer frühesten Stufe) neben sämtlichen Menschen auch alle Nutztiere „gebannt“ werden; doch von Gegenständen aus (Edel-)Metall ist nicht die Rede. Demgegenüber ist die Erzählung von Achans Diebstahl in Jos 7 ganz und gar getragen von der in 6,18f entwickelten, extremen Bann-Idee. Es kann kaum ein Zweifel daran bestehen, dass beide Texte literarisch ein und derselben Ebene angehören.13 Da diese Textebene unterhalb bzw. nach der dtr Grundschicht liegt, die in 6,17 zu greifen ist, drängt sich die Annahme auf, dass Jos 7 eine spät-dtr Lehrerzählung ist. In der Geschichte der Forschung hat es durchaus andere Einordnungen gegeben. Als man im Jos-Buch noch die Pentateuchquellen weiterlaufen sah, wurde das Kapitel gern „J“ (Dillmann) bzw. dessen ältestem Strang „L“ (Eissfeldt) zugewiesen.14 Als im Zeichen der Formgeschichte die Gattung der ätiologischen Erzählung hoch in Kurs kam, schloss man aus dem Steinhaufen über Achans Grab (7,26) auf eine uralte Sage.15 Nach Martin Noth ist Jos 7 „eine ätiologische Sage“, die bereits der „Sammler“ benjaminitischer Landnahmegeschichten (Jos *2–9) im 9. Jh. vorgefunden hat.16 In neuerer Zeit mehren sich die Stimmen, die das Kapitel für dtr erklären. Volkmar Fritz weist es – mit knappen späteren Zusätzen in V.6abb.8f.25ba – der dtr Grundredaktion zu. Timo Veijola verteilt den Text auf den Grundredaktor DtrH (7,1b–5; 8,1) und den jüngeren Redaktor DtrN (7,1a.6–26).17 M.E. sind solche Trennungen unnötig,18 ist vielmehr das gesamte Kapitel einheitlich spät-dtr. Dies hat Konsequenzen für die zeitliche Einordnung. Nach dem sog. Blockmodell der dtr Redaktionsgeschichte hätte die zweite dtr Redaktion das aus der Joschijazeit stammende Geschichtswerk etwa zur Mitte der Exilszeit überarbeitet. Nach dem sog. Schichtmodell (und bereits nach Martin Noth!) entstand damals das Geschichtswerk überhaupt erst und wurde in spätexilischer bzw. frühnachexilischer Zeit mehrfach überarbeitet. DtrN, die nach dem Schichtmodell jüngste Textschicht, der Jos 7 zugehört, dürfte auf die frühpersi12 13
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Vgl. die Verbringung der Lade in den Dagon-Tempel von Aschdod nach 1Sam 5. Besonders augenfällig wird dies in der Verwendung des Verbs „ עכרins Unglück stürzen“ in 6,18 und 7,25; an der letzteren Stelle dient sie der etymologischen Ätiologie des Geländenamens Achor und zugleich des Personennamens Achan. Nachweise bei Noort, Buch Josua 73.83.86. Golka, Aetiologies 416f. Ausgelöst hatte diese Fragerichtung Albrecht Alt mit seiner Bezeichnung der Ätiologien als „Antworten auf die große Kinderfrage aller Zeiten ‚Warum?’“ (Alt, Josua 182f). Mittlerweile hat man gelernt, dass gerade Ätiologien späte Konstrukte sein können; Bieberstein (Josua – Jordan – Jericho 58–63. 418–427) rechnet sogar mit einer eigenen, jungen „ätiologischen Bearbeitung“. Noth, Buch Josua 43. Fritz, Buch Josua 79–85; Veijola, Klagegebet 188f. Jos 7,1b–5 passt nicht in die triumphalistische Landnahmedarstellung von DtrH. Mit welcher Absicht sollte dieser vom fehlgeschlagenen Angriff auf Ai berichtet haben?
Achans Diebstahl (Jos 7) – eine Kriminalgeschichte aus frühpersischer Zeit
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sche Zeit anzusetzen sein.19 Wie nimmt sich vor diesem zeitgeschichtlichen Hintergrund die Geschichte von Achans Diebstahl aus?
2.
Der Fall Achan und seine Lösung
Die Erzählung beginnt mit einem Paukenschlag: „Es veruntreuten die Israeliten etwas von dem Banngut“ (7,1a). Das hier verwendete Verb מעלbegegnet rund 40-mal im Alten Testament – notabene fast nur in spät- und nachexilischen Schriften20 – und meint allermeist21 „‚Treulosigkeit’ gegen Jahwe/Gott/den Gott Israels“.22 Der Griff nach dem Banngut wird damit als religiöse Verfehlung deklariert. Es folgt die Präzisierung: „Achan ben Karmi ben Sabdi ben Serah aus dem Stamm Juda“ war es, der von dem Banngut nahm (7,1ba). Der lange Stammbaum deutet normalerweise auf vornehme Abkunft.23 Schon damals also galt Habgier als Schwäche nicht nur und nicht einmal in erster Linie der kleinen Leute. Im hiesigen Fall werden die Angaben zudem noch später gebraucht (vgl. V.16–18). Die Erwähnung des „Stammes Juda“ fällt auf: nicht nur, weil seine Existenz in der erzählten Zeit rein fiktional ist, sondern weil die umgebenden Landnahmegeschichten alle benjaminitisch sind.24 Doch da ab der Exilszeit von allen „Stämmen“ faktisch nur noch „Juda“ existierte, wird der judäischen bzw. jüdischen Leserschaft in dem Judäer Achan eine – freilich klar negative –Identifikationsfigur angeboten: Wie er soll man sich als Jude nicht verhalten. In dem Erzählbeginn liegt eine bemerkenswerte Leserlenkung. Die Spannung wird im Folgenden nicht auf die Frage gerichtet: „Wer war der Täter?“, sondern auf die andere, eher subtilere: „Wie wird der Täter überführt?“ Nach modernem Jargon wäre Jos 7 als Detektivgeschichte zu bezeichnen – nur dass der eigentliche „Detektiv“, Gott, den Täter natürlich nicht lange suchen muss, sondern längst kennt; offen ist nur, wie er seine menschlichen „Hilfsdetektive“ auf die Spur setzt und den Täter zur Strecke bringt. Die Erzählung von Achans Entlarvung setzt sachgemäß bei Gott ein: „Und der Zorn Jhwhs entbrannte über Israel“ (7,1bb). Ohne Jhwhs Allwissenheit und seine Empfindlichkeit gegen Israels „Untreue“ wäre Achans Tat vermutlich nie ans Licht gekommen – mit verheerenden Folgen für Israel; denn wie selbstverständlich wird das ganze Volk für die Tat eines Einzelnen in Haft genommen. 19 20 21 22 23 24
Vgl. Dietrich, Niedergang und Neuanfang. 3-mal Lev, 7-mal Ez, 10-mal Chr, 4-mal Esr-Neh, 3-mal Jos 22. Einzige wahrscheinliche Ausnahme: Spr 16,10. Ausnahmen: Num 5,12.27; Spr 16,10; Hiob 21,34. Knierim, m‘l 921. Z.B. 1Sam 1,1; 9,1; Zef 1,1. Diese Spannung lässt Noth (Buch Josua 43) ausführliche Überlegungen darüber anstellen, wie eine judäische Geschichte in den benjaminitischen Kontext gelangen und überdies, obwohl sachlich und räumlich an Jericho gebunden, mit der Eroberung Ais verknüpft werden konnte.
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Die Eigenart deuteronomistischer Geschichtsschreibung
So verlieren denn beim ersten, fehlgeschlagenen Versuch zur Eroberung Ais (V.2–5a) „etwa 36 Mann“ das Leben.25 Die intensiven (exilszeitlichen) Debatten um Kollektiv- und Individualhaftung, wie sie in Gen 18,17–33 und Ez 18 geführt werden, sind dem Autor von Jos 7 entweder (noch) nicht bekannt, oder sie haben ihn nicht sonderlich berührt. Jhwhs harter Wink, dass zwischen Israel und ihm etwas nicht stimme, tut seine Wirkung. Das Volk verfällt in namenlose Trauer (V.5b),26 während sich Josua an die richtige Adresse wendet. Sein Gebet (V.6–9) ist ein für die exilische Zeit typisches Klagegebet mit den Elementen Anrede Gottes – Anklage Gottes – Klagender Bericht – Bitte.27 Jhwhs Antwort lässt nicht lange auf sich warten.28 Fast etwas gereizt fragt er, warum Josua vor ihm auf dem Angesicht liege (V.10) – es gebe zu tun! Zunächst erfährt Josua, was vorgefallen ist (V.10– 12): Durch einen Übergriff auf das Banngut sei Israel nunmehr selbst dem Bann verfallen – eine wiederum unerhörte Wendung der Bannvorstellung.29 Den Namen des Schuldigen nennt Gott nicht. Stattdessen folgt eine detaillierte Anweisung, wie dieser zu ermitteln ist (V.13f): Josua soll das Volk antreten lassen und ihm mitteilen, was er soeben erfahren hat. (Dies gäbe Achan die Gelegenheit, sich freiwillig zu stellen; dass er das nicht tut, wirft ein zusätzliches schlechtes Licht auf ihn.) Danach ist ein Losverfahren durchzuführen, bei dem vom Stamm an abwärts immer die nächstkleinere Einheit und schließlich der einzelne Mann festgestellt wird – der Täter. Seine Bestrafung soll hart sein: „Und wer mit dem Banngut angetroffen wird, ist mit Feuer zu verbrennen, er und alles was sein ist, weil er den Bund Jhwhs übertreten und weil er eine Torheit in Israel begangen hat“ (V.15). Verbrennung ist als Hinrichtungsart in Israel ganz unüblich; die ausdrückliche Aufforderung dazu (und der Bericht von der Durchführung in 7,25) hat wie die ins Äusserste gesteigerte Bannvorstellung viel mit ideologischer Radikalität und kaum etwas mit historischer Realität zu tun. Im Ausdruck „Übertreten des Bundes Jhwhs“ verrät sich der (späte) geistesgeschichtliche 25
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Bei der Gestaltung dieser Episode wurde einerseits von Jos 2 (Aussendung von Kundschaftern vor dem Angriff auf eine Stadt), andererseits von Num 14,39–45 (leichtfertige Unterschätzung eines Gegners aufgrund eines günstigen Kundschafterberichts) Gebrauch gemacht. Dass „das Herz des Volkes zerfloss und zu Wasser ward“, ist eine eindrückliche Metapher. Deren zweite Hälfte, das „Zu-Wasser-Werden“ der Herzen, begegnet nur hier und bezeugt eine beachtliche Sprachkraft des Verfassers. Die Wendung vom „Zerfließen“ der Herzen ( מססNif.) freilich war ihm vorgegeben: angewandt auf einzelne ängstliche Israeliten in Dtn 20,8 und auf Israels Feinde in Jos 2,11; 5,1. Indem er sie auf das ganze (Kriegs-)Volk Israels überträgt, verrät er ein recht distanziertes Verhältnis zu dessen kriegerischer Tüchtigkeit. Vgl. dazu die ausgezeichnete Untersuchung von Veijola, Klagegebet, bes. 188f. Gottes Antwort an Josua ist so wenig verumständet wie viele spät-dtr (und übrigens auch priesterschriftliche) Gottesreden, vgl. z.B. Ri 2,1–5; 1Kön 9,1–9; 11,9–13; 2Kön 10,30f (bzw. Gen 6,13–22; 9,1–17; 17,1–22; Ex 6,2–8; 7,1–13). Diesen späten Autoren des Alten Testaments ist, zumindest was die Darstellung Gottes angeht, viel mehr an Theologie und viel weniger an anschaulicher Erzählweise gelegen als den älteren Erzählern. Sie begegnet außer hier und in Jos 6,18 noch in dem gleichfalls spät-dtr Text Dtn 7,26. Vgl. dazu Veijola, Das fünfte Buch Mose 205: Der „bundestheologische Bearbeiter“ schafft in 7,25f „eine vorausgehende Warnung für den Fall Achans“.
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Standort des Verfassers zusätzlich, ist doch die Verwendung von בריתim Sinne von „Vorschrift, Gebot“ Kennzeichen des späten Deuteronomismus.30 Josua tut, wie ihm geheißen. Er lässt am nächsten Morgen das Volk antreten, das Weitere erledigt das (natürlich von Gott gelenkte) Los. Zielsicher trifft es nacheinander den Stamm Juda, die Sippe Serah, die Familie31 Sabdi und schließlich Achan (V.16–18). Diese Methode der Findung eines Gesuchten ist detailgetreu32 aus 1Sam 10,20–22 kopiert, wo der erste König Israels, Saul, auf die gleiche Weise ermittelt wird.33 Josua tritt nun Achan als Untersuchungsrichter gegenüber. Er hat keine Zweifel, dass das Los im Recht ist, er ordnet aber auch nicht die umgehende Bestrafung des Beschuldigten an, sondern er führt ein Verhör, das einerseits auf ein Geständnis, andererseits auf die Sicherung handfesten Beweismaterials zielt: Achan möge doch sagen, was er getan hat, und er möge durch dieses „Bekenntnis“ ( )תודהJhwh die „Ehre“ ( )כבודgeben (V.19).34 Trotz des beschwörenden Tons35 und der religiösen Obertöne in Josuas Worten bleibt das Verfahren transparent und fair. Der Beschuldigte kann sich frei äußern; er könnte sogar leugnen. Doch Achan verhält sich von jetzt an vorbildlich. Als erstes bekennt er seine religiöse Schuld: „Ich, wahrhaftig, ich habe mich gegen Jhwh, den Gott Israels, verfehlt“ (V.20ba).36 Gerhard von Rad hat das gesamte dtr Geschichtswerk als „eine große, aus dem Kultischen ins Literarische transponierte ‚Gerichtsdoxologie’“ bezeichnet.37 Der dtr Autor von Jos 7 stellt Achan als ein – freilich besonders schwer belastetes – Exempel des an seinem Gott schuldig gewordenen Gottesvolkes hin, das Buße zu tun hat. Bei Achan kommt die gezeigte Einsicht 30
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Außer in Jos 7,11.15 z.B. noch 1Kön 11,11; 2Kön 13,23; 17,15 (alles DtrN). Im Dtn gibt es eine eigene, zeitlich noch unterhalb der DtrN-Ebene liegende „bundestheologische Redaktion“, zu der solche Stellen und auch unser Text offenbar unterwegs sind; vgl. Veijola, Bundestheologische Redaktion. Den Begriff „Torheit in Israel“ kannte unser Autor aus anderen Partien des dtr Geschichtswerkes: Dtn 22,21; Ri 20,6, auch Ri 20,10; 1Sam 25,25; 2Sam 13,12. Besonders interessant ist die Dtn-Stelle, weil dort als Strafe für die aufgedeckte Untat die Steinigung festgelegt wird – die in Israel übliche Hinrichtungsart, die dann ja in Jos 7,25 (auch) zum Zuge kommt. In V.17f gehen „Häuser“ und „Männer“ etwas durcheinander. Doch das Problem lässt sich, in Analogie zu V.14, textkritisch lösen, s. BHS und Fritz, Buch Josua 78. Vgl. die hier wie dort gebrauchten Leitverben קרבHif. und לכדNif.. Die Analogie ist schon immer beobachtet, meist aber nicht zutreffend interpretiert worden. Es ist eben nicht so, dass „Dtr“ in 1Sam 10 „nach dem literarischen Vorbild von Jos. 7,16ff. Saul ausgelost werden läßt“ (Noth, Überlieferungsgeschichtliche Studien 58), und auch nicht so, dass beide Loswahlgeschichten aus einer „frühen Zeit“ stammen (Mommer, Samuel 88); vielmehr ist 1Sam 10 das (vor-dtr) Vorbild und Jos 7 die (spät-dtr) Nachbildung. Zur literargeschichtlichen Situierung von 1Sam 10,17–27 s. Dietrich, Frühe Königszeit 237–239. Josuas Beschwörung „Verbirg nichts vor mir!“ ( )אל־תכחד ממניbegegnet ebenso in 1Sam 3,17. Zweimal sind Josuas Aufforderungen von dem drängenden (nicht aber zwängenden!) ־נא begleitet. Vgl. dazu die fein differenzierenden Ausführungen von Ernst Jenni, Höfliche Bitte. Die Formulierung חטאתי ליהוהfindet sich als dtr Formulierung noch in 2Sam 12,13, die Versicherung „ אמנהwahrhaftig“ in dem gleichfalls jungen Passus Gen 20,12. von Rad, Theologie 355.
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zu spät, bei der Leserschaft der Achangeschichte nicht; Achan wird für seine Schuld büßen müssen, das Gottesvolk hat für die seine bereits im Exil gebüßt und kann nunmehr auf Gottes neue Zuwendung hoffen. (Tatsächlich wird in Kürze ja der Siegeszug bei der Landnahme weitergehen.) Im Anschluss an die religiöse gesteht Achan seine materiale Schuld;38 er teilt minutiös mit, was von dem Banngut er genommen und wo er es versteckt hat (V.21). Nachdem seine Angaben überprüft und als zutreffend erwiesen sind (V.22f), wird die von Jhwh festgesetzte Strafe vollstreckt (V.24–26).39 Mit dem über der Hinrichtungsstätte aufgetürmten Steinhaufen (V.26) entsteht ein warnendes Mahnmal: So ergeht es einem, der „den Bund Jhwhs übertritt“! Zugleich schafft sich der Verfasser die Gelegenheit, eine Ortsätiologie zu konstruieren, wie es sie in den umgebenden Landnahmegeschichten in größerer Zahl gibt; seine Lehrerzählung soll sich in ihr textliches Umfeld einfügen und darin nicht wirken wie ein erratischer Block.40 Die Erzählung findet zu ihrem inneren Abschluss nicht so sehr in der ätiologischen Formel עד היום הזהals vielmehr in der reziproken Wiederaufnahme des Anfangs: „Und Jhwh wandte sich vom Brennen seines Zorns“. Der Fortgang lässt sich denken: Ai erliegt dem zweiten – freilich viel besser geplanten – Angriff Israels (Jos 8), die Landnahme kann ihren Verlauf nehmen.
3.
Der „Schatz Jhwhs“ und die frühe Perserzeit
Laut Josuas Anordnung vor dem Sturm auf Jericho soll alles, was sich dort an „Silber und Gold und bronzenen und eisernen Geräten“ findet, als „heilig für Jhwh“ gelten und „in den Schatz Jhwhs kommen“ (Jos 6,19). Mit Geräten aus Bronze oder Eisen hat sich Achan nach eigenem Geständnis nicht abgegeben; wohl aber lockten ihn neben einem schönen Sinear-Mantel „200 Schekel Silber und eine Goldzunge von 50 Schekel Gewicht“41 (7,21); das sind über zwei bzw. ein gutes halbes Kilogramm.42 38
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Voran geht in V.20bb die pauschale Formulierung: „Das und das habe ich getan“, worauf in V.21 noch die genauere inhaltliche Ausführung folgt. Dieses Nacheinander ist nicht etwa eine zur Literarkritik nötigende Unebenheit, sondern eine Stilform, vgl. Ri 18,4; 2Kön 9,12. Dass die Familie mit Achan hingerichtet wird, könnte anzeigen, dass sie involviert war (wie hätte das Banngut im Zelt vergraben werden können, ohne dass die Familie es merkte?); es könnte sich darin aber auch das oben schon festgestellte Kollektivdenken des Autors äußern. Vielleicht gab ihm dafür eine ihm bekannte, an der „Ebene Achor“ haftende Lokalüberlieferung von einem dort hingerichteten Verbrecher „Achan“ Anlass. Dafür könnte sprechen, dass in Hos 2,17 anscheinend verheißen wird, die „Ebene Achor“ solle von einem Schreckens- in einen Hoffnungsort verwandelt werden. Fritz (Buch Josua 78) meint, der Goldbarren sei erst nachträglich in den Text gekommen, da er im Folgenden keine Rolle mehr spiele. Das stimmt aber nur dann, wenn man in V.24 LXX folgt; MT hat dort sehr wohl die „Goldzunge“. Nach Fritz (ebd. 83) wog ein Schekel gemäß aufgefundenen Gewichtssteinen 11,4 g, was
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Der Text verrät nicht, wo Achan diese Wertgegenstände gefunden haben soll. In Dtn 7,25, einem ebenfalls spät-dtr Text, wird bestimmt, dass Israel die Bilder fremder Götter zu „verbrennen“ habe und sich davon nicht durch das in ihnen verarbeitete „Silber und Gold“ abbringen lassen dürfe.43 Sollen wir also verstehen, dass Achans Diebesgut nicht aus einem Privathaus in Jericho stammte, sondern aus einem ‚heidnischen’ Tempel oder einer zugehörigen Werkstatt? War der Mantel vielleicht nicht nur schön, sondern auch mit ‚heidnischen’ Symbolen besetzt? Zumindest wirkt Jhwh, als er Josua das Vorgefallene eröffnet, geradezu erregt, so als ginge es um mehr als bloßen Diebstahl: „Verfehlt hat sich Israel, und auch haben sie meinen Bund übertreten, den ich ihnen auferlegt habe, und auch haben sie von dem Banngut genommen und auch haben sie gestohlen und auch verheimlicht und auch zu ihren Geräten gelegt“.44 Vielleicht waren es religiös kontaminierte Dinge, die Achan an sich genommen hatte. Man erinnere sich an Mescha von Moab, der Geräte aus dem Jhwh-Kult nicht selbst behielt, sondern „vor Kamosch schleppte“.45 Die Boten, die Josua zu Achans Zelt geschickt hat, um dort das Diebesgut sicherzustellen, bringen dieses herbei und „legen es vor Jhwh hin“ (Jos 7,23). „Vor Jhwh“ meint vermutlich „vor die Lade“. Diese war laut Jos 3 und 6 bei der Landnahme dabei, und vor ihr hatte Josua laut 7,6 zu Jhwh gebetet. Bei der Lade bzw. in dem für sie errichteten Zeltheiligtum dürfte sich nach Meinung des Erzählers der אוצר יהוה, der „Schatz Jhwhs“ befunden haben, dem das in Jericho erbeutete (Edel-)Metall zuzuführen war (6,19) und tatsächlich auch – bis auf das von Achan Entwendete – zugeführt wurde (6,24b46). Das ist sicher pure Fiktion47, doch später stand die Lade als zentraler Kultgegenstand im salomonischen Tempel48, und in diesem gab es in der Tat einen Tempelschatz, dem man-
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für das von Achan entwendete Silber exakt 2,28 kg, für das Gold 0,57 kg ergibt. Dass der Verfasser die Menge des Edelmetalls in Schekeln angibt und nicht etwa in den von Darius eingeführten Münzwerten (der Gold-„Dareike“ und dem Silber-„Siglos“), beweist nichts für das Alter unseres Textes; denn erstens wurde im Perserreich ab 500 v.Chr. keineswegs reichsweit und ausschließlich nur noch in Münzen bezahlt (vgl. Mildenberg, Münzwesen 4–6), und zweitens darf man einem dtr Schriftsteller den krassen Anachronismus nicht zutrauen, den es bedeutet hätte, wenn er Achan persische Münzen hätte finden lassen. Überhaupt ist in der dtr Literatur das Verbrennen vorgesehen für die Ausmerzung religiös kontaminierter Gegenstände und Personen (z.B. Dtn 7,5; 9,21; 12,3; 13,17; 2Kön 10,21; 23,4.6.11.15.20). In 1Sam 4,17 berichtet ein Bote mit mehrfachem „und auch“ ( )וגםvon einer Niederlage Israels gegen die Philister, worin sich offensichtlich Aufregung kundtut. Dieselbe Vorstellung findet sich in 1Sam 5,1, wo die von den Philistern erbeutete Lade in den Tempel Dagons gestellt wird, und noch in Dan 1,2, wo es heißt, Nebukadnezar habe die Geräte aus dem Jerusalemer Jhwh-Tempel „in das Schatzhaus seines Gottes“ gebracht. Hier ist im MT sogar vom „Schatz des Hauses Jhwhs“ die Rede: ein klarer Anachronismus, der unserem Erzähler kaum unterlaufen sein dürfte, weshalb der Text nach LXX, S und V in „Schatz Jhwhs“ zu korrigieren ist, vgl. BHS. Gegen Delcor, der „l’existence d’un trésor de Yahweh pour très plausible déjà au temps de Josué“ hält und von einem „trésor sacré de l’amphictyonie des tribus israélites“ spricht (Trésor 356 bzw. 358). Vgl. 1Kön 8,1–13.
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che Könige fromme Stiftungen zukommen ließen und den andere im Notfall wieder leerten49. Ist die Idee von einem „Schatz Jhwhs“, der aus dem Beutegut bei der Landnahme zu füllen war, eine pure ‚historische’ Fiktion, oder hat sie auch etwas mit der Gegenwart des Verfassers zu tun? In Esr 2,68f und Neh 7,69–71 wird festgehalten, dass und wie viel von den Juden seinerzeit für den Wiederaufbau des Tempels bzw. für die Durchführung des Kultbetriebs in Jerusalem gespendet wurde. Vorrangig geht es dabei um Gold und Silber,50 daneben noch um Priestergewänder. Interessanterweise begegnet in diesem Zusammenhang der Terminus אוצר המלאכה. Der „Schatz“ zugunsten des Gotteshauses muss also in frühpersischer Zeit ein bedeutsames Thema gewesen sein. Den Propheten Haggai sieht man um 520 v.Chr. mit Nachdruck gegen die mangelnde Motivation zum Bau des Tempels ankämpfen (Hag 1): Die Leute wollten – nach der Katastrophenzeit des Exils wohl verständlich – zunächst für ihre eigenen Häuser sorgen, dann erst für das Gotteshaus. In diesem Kontext wäre die Achan-Geschichte als indirekter Appell an die Spendebereitschaft der Leserschaft gut verständlich.51 Es lässt sich noch eine weitere Überlegung anschließen, die sich aus der Analogie der beiden Situationen – der vorgestellten bei der Landnahme und der realen nach dem Exil – ergibt. Wie einst das aus der ägyptischen Sklaverei entkommene Israel unter Josua das Gelobte Land eroberte, so war auch jetzt, nach dem Ende der babylonischen Gefangenschaft, das Land gewissermaßen neu in Besitz zu nehmen. Diesmal wohnten nicht Kanaaniter darin, wohl aber Angehörige nichtjüdischer Gruppen und Ethnien, die sich nach dem Untergang des Staates Juda in dessen ehemaligem Staatsgebiet breit gemacht hatten: voran die Edomiter, die von ihren angestammten Siedlungsgebieten im Süden und Südosten hereindrängten (wozu sie ihrerseits durch die Araber bzw. Nabatäer gedrängt wurden),52 sicher aber auch im Gefolge der babylonischen Fremdherrschaft zugewanderte und sesshaft gewordene Kaufleute, Fachleute, Beamte, Militärs. Die Präsenz dieser Fremden wurde von vielen Juden offenbar als so problematisch, ja bedrohlich empfunden, dass sich in der frühnachexilischen Zeit ein rigider, mitunter militanter jüdisch-jahwistischer Partikularismus herausbildete.
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Vgl. z.B. 1Kön 14,25–28; 2Kön 12,18; 18,15. Solche Nachrichten dürften den königlichen Annalen, den sog. „Tagebüchern der Könige von Juda“, entnommen sein. Esr 2,68f spricht von 61.000 Golddrachmen und 5.000 Silberminen; Neh 7,69–71 differenziert zwischen Spenden des Statthalters, besonderer Gönner und des übrigen Volkes und kommt insgesamt auf 41.000 Golddrachmen und 4.200 Silberminen. Die Mine wog 50 Schekel (à 11,4 g); die Drachme könnte ein Wechselbegriff für die Dareike sein (vgl. Esr 8,27), welche 8,28 g wog. Ähnlich ist es bei der Erzählung von Ananias und Saphira Apg 5,1–11. Sie ist wie die Achan-Geschichte als Detektivgeschichte angelegt, nur dass Petrus, anders als Josua, offenbar von vornherein alles weiß und dass die beiden Übeltäter, anders als Achan, sich nicht zu ihrer Tat bekennen. Vgl. Dietrich, Edom 1062f.
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Gerade in spät-dtr Kreisen wurde er mit Nachdruck vertreten,53 und er setzte sich fort bis in die rigorose Abgrenzungspolitik Esras.54 Die Provinz Jehud sollte nach Ansicht dieser Kreise rein jüdisch und jahwistisch sein. Bevölkerungselemente, die sich in dieses Programm nicht fügten, waren zu verdrängen. Ihr Besitz (ganz zu schweigen vom etwaigen Besitz ihrer Heiligtümer) – Gold, Silber, wertvolle Metallgegenstände, womöglich auch Gewänder aus edlem Tuch – waren zu konfiszieren: freilich nicht zu privatem Gebrauch, sondern für den „Schatz Jhwhs“.55 Wozu wurde dieser „Schatz“ benötigt? In der Achangeschichte findet sich keine Andeutung dazu. Sollte es, wie in Esr 2 und Neh 7, um den Bau und Betrieb des Zweiten Tempels gehen, gehörte unser Deuteronomist also zu den Unterstützern dieses Unternehmens? Dem steht ein Text entgegen, der auf der gleichen Textebene liegen dürfte und eine ganz andere Tendenz verrät: die Rückweisung des Tempelbauwunsches Davids durch Natan in 2Sam 7,1–10. Gerade der Passus, der die Notwendigkeit eines Tempelbaus in Jerusalem am grundsätzlichsten in Frage stellt, 7,5b–8aa, stammt von DtrN.56 So wird der „Schatz Jhwhs“ in Jos 6f kaum eine Chiffre für einen Tempelbaufonds sein.57 An welche Zweckbestimmung könnte sonst gedacht gewesen sein? Aus der (dtr) Darstellung der Königszeit ist ersichtlich, dass der Tempel- und der Palastschatz die Funktion einer Staatsbank hatten, die große Schwankungen in der Wirtschaftsproduktivität oder im Staatshaushalt auszugleichen, zumindest abzufedern vermochte.58 Warum sollten weit blickende Köpfe derlei nicht auch für die im Entstehen begriffene Provinz Jehud sinnvoll und sogar nötig gefunden haben? Wären diese – zugegeben: tastenden – Erwägungen nicht ganz verfehlt, dann stellte die Erzählung Jos 7 mitsamt ihrer Vorbereitung in Jos 6,18f.24b einen Beitrag zur Gestaltung des politischen und wirtschaftlichen Lebens in nachexilischer Zeit dar. Im „historischen“ Bild Achans, des Diebes am Banngut, würde sie dazu auffordern, das Vermögen nichtjüdischer Bevölkerungsteile, die während der Exilszeit in Juda ansässig geworden waren, ohne jeden Abzug einem „Schatz Jhwhs“ zuzuführen: einem beim Zweiten Tempel angelegten Fonds, aus dem öffentliche Aufgaben der im Entstehen begriffenen Provinz Jehud bestritten werden konnten. Freilich, diese (wirtschafts-)politische Ebene der 53
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Hierher gehören die DtrN-Texte, die vor einer Kontamination des Jhwh-Volkes durch fremde Kulte warnen (z.B. Dtn 7,1–6; Ri 2,1–5; 1Kön 9,6f; 11,*1–8). Zum Thema insgesamt vgl. Pakkala, Intolerant Monolatry. Vgl. Esr 10. Die Verbindungslinien vom späten Deuteronomismus zu Esra hat Timo Veijola überzeugend nachgewiesen: Deuteronomisten. Dieses Muster wiederholt sich bei jedem Vorgehen, jedem Progrom gegen eine Bevölkerungsminderheit. Besonders verheerend wirkt sich aus, wenn die Angehörigen der Mehrheit – gar noch ermuntert von den jeweiligen Machthabern – bei solcher Gelegenheit ihre privaten Besitzwünsche befriedigen können. Diese letzte Zuspitzung wäre in unserem Fall gerade ausgeschlossen. Vgl. dazu Dietrich, David 132–136. Dies passte auch nicht zu der gedachten Situation: Zur Zeit der Landnahme war die Möglichkeit eines Tempelbaus in Jerusalem auch nicht von weitem im Blick. Zu denken wäre etwa an Teuerungsperioden oder Tributzahlungen. Vgl. im Übrigen die oben Anm. 48 angegebenen Stellen.
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Die Eigenart deuteronomistischer Geschichtsschreibung
Erzählung von Achans Diebstahl liegt weniger deutlich zutage als die der geschichtlichen und religiösen Belehrung – und, ja, der spannenden Unterhaltung.
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Achans Diebstahl (Jos 7) – eine Kriminalgeschichte aus frühpersischer Zeit
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Die Samuelbücher als Text und als Literatur
Tendenzen neuester Forschung an den Samuelbüchern Unter „neuester Forschung“ sind im Folgenden Arbeiten aus den 2000-er und den 1990-er Jahren verstanden, gelegentlich auch noch etwas frühere. Anspruch auf Vollständigkeit kann ich nicht erheben, auch keine ausführlichen Beurteilungen bieten,1 sondern eben nur Forschungstendenzen anzeigen. Ich unterteile in fünf Sachgebiete:
1.
Zur Textgeschichte
Bekanntlich weichen in den Samuelbüchern der masoretische Text und die Septuaginta oft und z.T. erheblich voneinander ab. Überdies gibt es auf beiden Seiten eine variantenreiche Handschriftenüberlieferung. Der Streit, welche von beiden Texttraditionen den Vorzug verdient, setzte bei ehrwürdigen Vätern der Forschung ein (Tiktin, Wellhausen) und geht bis heute weiter. Von den neueren Kommentaren bevorzugen STOEBE und CAQUOT / DE ROBERT den hebräischen, MCCARTER den griechischen Text; selbstverständlich hat auch die von GRILLET/LESTIENNE herausgegebene „Bible d’Alexandrie“ mit ihrem ausführlichen textkritischen Apparat eine starke Präferenz für den griechischen Text. Neuerdings (und endlich) sind auch die aus der 4. Höhle von Qumran stammenden hebräischen Samuel-Handschriften in einer zuverlässigen und vollständigen Edition publiziert (CROSS u.a.). Die Qumran-Texte gehen bei Differenzen häufiger mit der LXX überein als mit dem MT. Für die LXX-Freunde unter den Textforschern – so meinen Fribourger Kollegen ADRIAN SCHENKER und seinem Mitarbeiter PHILIPPE HUGO, der an einem Forschungsprojekt zum Text der Samuelbücher arbeitet – dürfte damit die Präferenzfrage grundsätzlich entschieden sein. Doch dem ist wohl nicht so. Zwar ist jetzt endgültig gesichert, dass LXX auf eine eigene, gegenüber MT selbstständige hebräische Textvorlage zurückgeht (die offenbar mit der Q-Überlieferung verwandt ist). Doch umfassen die QHandschriften nicht den gesamten Sam-Text, und sie stützen nicht immer den LXX-Text, sondern manchmal auch den MT oder keinen von beiden. So können die Gründe für Textabweichungen prinzipiell auf jeder der drei Seiten liegen. Komplizierend kommt hinzu, dass zu manchen Passagen der Samuelbücher eine Parallelversion in der Chronik vorliegt (etwa zu 2Sam 7 oder 24) – von späteren Übertragungen (etwa im Targum Jonatan) oder Sekundärübersetzungen ganz zu schweigen. Das textkritische Puzzle zu den Samuelbüchern bleibt also kompliziert. Grundsätzlich muss jede Textdifferenz für sich geprüft werden. Für die Kapitel 1
Hierzu kann ich mittlerweile auf meinen dreiteiligen Literaturbericht in ThR 77 (2012) verweisen; erster Teil 135–170, die beiden weiteren Teile im Druck.
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Die Samuelbücher als Text und als Literatur
1Sam 1–2 hat das mit in Gründlichkeit mein Mitarbeiter JÜRG HUTZLI in seiner Dissertation getan und dabei unabsichtliche wie absichtliche Veränderungen auf allen beteiligten Seiten festgestellt. (Glücklicherweise unterstützt er mich als textkritischer Experte bei meiner eigenen Kommentararbeit.)
2.
Zur Literaturgeschichte
Nicht zufällig ist die in diesem Abschnitt zu nennende Literatur eigentlich rein deutschsprachig. Auch von den Kommentaren sind, abgesehen von dem französischen von CAQUOT/DE ROBERT, nur deutsche zu nennen: STOEBE, HENTSCHEL, auch mein eigener. Es scheint, als wäre die überlieferungs-, literar- und redaktionskritische, kurz: die diachrone Analyse der Texte eine Domäne (andere würden sagen: ein Tummelplatz) fast nur der deutschsprachigen Exegese. Seit den Tagen Rosts, Noths, Weisers und von Rads galt lange Zeit als ausgemacht, dass die Sam-Bücher in einem breiten Grundbestand – nämlich in den Geschichtswerken über den Aufstieg und über die Thronnachfolge Davids – auf die frühe Königszeit zurückgehen; nur an wenigen Stellen habe die dtr Redaktion eingegriffen. Dann warf, in den 70-er Jahren, TIMO VEIJOLA sein großes und engmaschiges deuteronomistisches Fangnetz über die Texte und fing damit sehr vieles, vielleicht zu vieles ein. Was er mit sicherem Blick als redaktionell erkannte, dürfte sich zu einem guten Teil schon vor-deuteronomistischer Redaktionstätigkeit verdanken. In eben diese Richtung dachten schon ERNST WÜRTHWEIN und FRANCOIS LANGLAMET – im Gefolge des Letzteren auch SOPHIA BIETENHARD –, als sie in der Thronfolgegeschichte einen alten, königskritischen Kern von einer späteren prodynastischen Überarbeitung meinten unterscheiden zu können. (Ähnliches versuchte für die Aufstiegsgeschichte OTTO KAISER.) Nachdem STEFAN SEILER zum traditionellen Bild einer frühkönigszeitlichen Thronfolgegeschichte zurückgekehrt war, löst sie THILO RUDNIG auf in eine Folge „facettenreiche[r] theologische[r] Reflexionsprozesse, die“ zwar – in Gestalt kurzer königlicher Propagandatexte – schon nahe an den Ereignissen einsetzte, dann aber „bis weit in die nachexilische Zeit andauer[te]“. Ich selbst habe vorgeschlagen, die Idee umfassender frühkönigszeitlicher Geschichtswerke gänzlich aufzugeben und statt dessen mit eher kleinräumigen, älteren Überlieferungen zu rechnen, die im 8., allenfalls im 7. Jh. durch einen so genannten „Höfischen Erzähler“ zu einer „Geschichte der frühen Königszeit in Israel“ zusammengefügt wurden. Diese Spur nimmt INA WILLI-PLEIN auf, will darunter freilich eine noch ältere wahrnehmen: eine aus dem 10. Jh. stammende „Davidshausgeschichte“, die bereits den Großteil der Texte zwischen 1Sam 18 und 2 Sam 21 sowie in 1Kön 1f umfasst habe (eine kleine Aufstiegs- und Thronfolgegeschichte in einem also). AHUIS wiederum hält schon diese „Davidhausgeschichte“ und dann das „Höfische Erzählwerk“ für „Fortschreibungen“ einer von ihm postulierten, den „Frauen um Batscheba“ zu verdankenden ursprünglichen Thronfolgegeschichte. JOHANNES KLEIN legt ein feinmaschiges Geflecht von David-Saul-Vergleichen frei, das sich weit über die Samuelbücher spannt
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und nach seiner Einsicht von einem Redaktor wohl des ausgehenden 8. Jh.s stammt. STEFAN ARK NITSCHE arbeitet an den Kapiteln 1Sam 18f ein patchworkartiges literarisches Profil heraus, das einem in gehörigem zeitlichem Abstand zu den geschilderten Ereignissen arbeitenden Schriftsteller zugehören könnte. ALEXANDER ACHILLES FISCHER entdeckt in den Erzählungen von 2Sam 1–5 eine nach seiner Meinung ins 7. Jahrhundert zu datierende schriftstellerische Aktivität, von der er nicht ausschließt, dass sie noch weitere Textbereiche umfasst hat. DAVID WAGNER löst sich von der Vorstellung eines dtr Geschichtswerks und sieht die Samuelbücher für sich im späten 6. Jh. entstanden: als eine in historisches Gewand gekleidete Debatte um Fug und Unfug des Königtums (das damals gewisse Kreise in Juda wieder einführen wollten). DIANA EDELMAN setzt die Saul-David-Erzählungen in dieselbe Zeit an, sieht in ihnen aber die Auseinandersetzung zwischen Gola-Juden (= David) und Altjudäern (= Saul) widergespiegelt. Demgegenüber hält KLAUS-PETER ADAM sie für eine ab dem 7. bis hinunter ins 3. Jh. stufenweise entstandene, rein fiktive Vorgeschichte zur ‚synchronistischen Chronik’ der Könige von Juda und Israel; David sei ein idealer König und stehe für Juda, Saul für Israel, der eine ein legitimer, der andere ein illegitimer König. Einen wieder anderen, eher konservativeren Weg beschreitet BERNHARD LEHNART, indem er in den Samuel- und Königsbüchern vordeuteronomistische, teils sehr alte prophetische Textstraten verfolgt. Ich habe in dieser Kurzdarstellung zu vereinfachen und zu bündeln versucht. Gleichwohl dürfte der Eindruck zurückbleiben, dass es zur Literargeschichte der Samuelbücher eine verwirrende Vielzahl differenter Hypothesen gibt. Offenbar ist die diachrone Untersuchungsmethodik nicht dagegen geschützt, sich selbst ad absurdum zu führen. Damit ist zwar ihre Sinnlosigkeit noch nicht erwiesen, doch können ihre einzelnen Ergebnisse nicht schon deswegen, weil sie publiziert sind, als verifiziert gelten. Davon abgesehen, ist mit der Feststellung bzw. Behauptung von Textstufen für die Textinterpretation noch gar nicht viel gewonnen. In dieser Hinsicht ist die synchrone der diachronen Textbehandlung eher überlegen.
3.
Zur Literaturwissenschaft
Die Analysen, die den vorliegenden Endtext synchron auf seine Gestaltung und seinen Aussagewillen befragen, haben sich mittlerweile (auch im deutschsprachigen Bereich) fest etabliert, ja, weltweit haben sie sogar eine Dominanz inne. Von den Kommentaren sind hier etwa ALTER, BAR-EFRAT, BRÜGGEMANN, CAMPBELL, auch mein eigener zu nennen. Die synchrone Textanalyse hat eine alte Tradition vor allem im Bereich jüdischer, aber auch vor- oder nicht-aufklärerischer christlicher Exegese. Heute herrscht in der alttesta-mentlichen Wissenschaft eine dezidiert nicht-konfessionelle, rein literaturwissenschaftliche Betrachtungsweise vor: einmal mit mehr strukturalistischer Ausrichtung (so namentlich JAN FOKKELMAN in seinem
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Achtung gebietenden, vierbändigen Werk), einmal mit mehr spielerisch-postmodernen Akzenten (so etwa CLINES, ESLINGER, JOBLING oder KURZ). Den Forschungen auf dieser Basis verdanken sich wesentliche Einsichten nicht nur in die Erzählkunst der Samuelbücher, sondern auch in ihre weit reichende innere Geschlossenheit und wohldurchdachte Anlage sowie in ihre äußerst vielfältigen und oft verwirrenden anthropologischen und theologischen Aussagen. ROBERT POLZIN und JOACHIM VETTE beschreiben etwa den biblischen Samuel als einen fanatischen und eigensüchtigen Griesgram, der nicht zum wenigsten Schuld am Niedergang seines Protegés Saul trägt. DAVID GUNN und CHERYL EXUM lehren vice versa Saul als tragische Gestalt, ja als Opfer prophetischer und göttlicher Arglist sehen. Die Davidüberlieferungen werden von DALLMEYER als eine Art Entwicklungsroman gelesen, der das Heranreifen eines ungebärdigen Jünglings zum verlässlichen Mann beschreibt. ILSE MÜLLNER wiederum erkennt im biblischen David den patriarchalen Versuchungen erliegenden Macho, CONROY hingegen die tragische Figur des leidenden Vaters. Es ist deutlich, dass diese Fragerichtung auch weiterhin aller Mühe wert ist: Noch lange sind nicht alle Beobachtungen am Text gemacht! Freilich warnen die auch hier disparaten Ergebnisse vor einem Optimismus, der meint, die Aussage des Textes sicher fassen zu können (so wie diachrone Analyse oft zu optimistisch die Position des jeweiligen Autors meint feststellen zu können). Grundsätzlich bedarf es der Korrelierung des synchronen und des diachronen Ansatzes. (Ein Anlauf dazu ist in dem von mir herausgegebenen Sammelband von 2004 unternommen.) Denn wahrscheinlich verdanken sich überzeugende Einsichten des literary reading dem Vorhandensein literarkritisch nachweisbarer Redaktionen. Und dem close reading würden wertvolle Perspektiven entgehen, wenn es sich nur auf die Textoberfläche bezöge und über Form und Inhalt diachroner Textstufen einfach hinwegginge.
4.
Zur Geschichte
Das einst von Albrecht Alt entworfene, historische Bild der frühen Königszeit war in sich schlüssig: Der noch von tribalen Idealen geprägte Heerkönig Saul begann den Kampf um Befreiung von den Philistern; David führte diesen Kampf zu Ende, begründete die judäisch-israelitische Doppelmonarchie mit Jerusalem als Gelenkstück und schuf ein ganz Syrien-Palästina umfassendes Großreich; Salomo gab diesem Reich feste Strukturen und sorgte für eine florierende Wirtschaft und eine blühende Kultur. Dieses Bild ist inzwischen vielfach revidiert und redimensioniert worden. Die Philister waren kaum eine derart geschlossene und militante Macht, wie sie in den Samuelbüchern erscheinen (ED NOORT). Bei der Staatsgründung spielten nicht nur außenpolitische und militärische Gesichtspunkte eine Rolle, sondern auch soziale, ethnische, ökonomische und ökologische (FINKELSTEIN, FRICK). Das davidische Reich war im Innern kaum so gefestigt und nach außen kaum so
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erfolgreich, wie man sich das von einem großen Gründerkönig vorstellen möchte, und erst recht war die Zeit Salomos kein Goldenes Zeitalter (FRITZ/DAVIES). Freilich, ein gar zu weitgehender Reduktionismus dürfte kaum angebracht sein. David war (bzw. blieb) kein kleiner Bandit (HALPERN), und sein Jerusalem war (bzw. blieb) kein unbedeutendes Bergnest (NA’AMAN, STEINER). Darauf gibt es vielfältige Hinweise. In der archäologischen „black box“ Jerusalem werden neuerdings zunehmend materielle Überreste aus dem 10. Jh. und anscheinend sogar von Davids Palast sichtbar (vgl. den Sammelband von VAUGHN / KILLEBREW sowie die Sensationsmeldung von EILAT MAZAR). Dazu kommt die Stele von Tel Dan, in der schon um die Mitte des 9. Jh.s ein Aramäerkönig wie selbstverständlich das Königreich Juda „Haus Davids“ nennt. Last not least ist da eine Wolke biblischer Zeugen – auch relativ frühe und unverdächtige –, die auch die tüchtigsten Archäologen nicht versuchen sollten, allesamt beiseite bzw. in die Zeit Joschijas und danach zu schieben (FINKELSTEIN/SILBERMAN). Versuchen dieser Art haben in gewisser Weise Exegeten vorgearbeitet, indem sie die Berichte der Samuelbücher weitgehend als Ausdruck royalistischer Propaganda einzustufen beliebten (MCCARTER, MCKENZIE, zum Teil auch HALPERN). Es scheint fast zu einem Sport geworden zu sein, den historischen David (und auch Salomo) als politisch möglichst kleinformatig und ethisch möglichst bösartig hinzustellen. Vermutlich wird man den Samuelbüchern nicht gerecht, wo man in ihnen bloße Schwarz-Weiß-Malerei sieht (vgl. BOSWORTH). Die Texte sind viel zu differenziert und ambivalent, als dass man sie als plump-tendenziös auffassen und prägnanten historischen Interessen zuordnen könnte. Eine sachgerechte Einschätzung der Geschichte der frühen Königszeit bedarf einer unaufgeregten Wahrnehmung und Auswertung der biblischen wie der außerbiblischen Quellen und Daten. Im Ergebnis wird sich ein weder übermäßig glanzvolles noch ein besonders schäbiges Bild der Gründerzeit des Staates Israel einstellen.
5.
Zur Wirkungsgeschichte
Die Samuelbücher wirken nicht nur durch ihren Text, sondern auch durch dessen Wirkungsgeschichte. REGINE HUNZIKER-RODEWALD hat die Rezeption der Saul-Gestalt in Musik, bildender Kunst und Literatur verfolgt, ähnlich auch GEORG HENTSCHEL in seiner kleinen Monographie. Zwei Bücher befassen sich allein mit der Ausstrahlung der Natanverheißung 2Sam 7 in biblischer Zeit (AVIOZ, PIETSCH – letzterer mit enormer Gelehrsamkeit und Gründlichkeit). Die wenigen Nachrichten der Samuelbücher über den musizierenden und dichtenden David haben die Idee vom königlichen Psalmisten hervorgebracht, welche den biblischen Psalter nicht unwesentlich prägt (KLEER); von da aus ergießt sich ein breiter wirkungsgeschichtlicher Strom über Qumran und das Neue Testament in die frühjüdische und frühchristliche Zeit bis hinein in zahlreiche Psalmenhand-
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schriften des Mittelalters und Daviddarstellungen der Karolinger- und der Stauferzeit. Die buchstäblich über Jahrtausende anhaltende Rezeptionsgeschichte der Davidgestalt ruft nach dem Einbezug verschiedenster theologischer und geisteswissenschaftlicher Disziplinen: Exegese, Dogmen- und Philosophiegeschichte, Judaistik, Islamwissenschaft, Geschichts-, Kunst-, Musik- und Literaturwissenschaft (jeweils wieder in mannigfacher Untergliederung und unter Einschluss vielfältigen ikonographischen Materials); von alldem gibt der von dem Mediävisten HUBERT HERKOMMER und mir herausgegebene Sammelband einen Eindruck; kleinere Facetten des Gemäldes bilden Arbeiten von ILSE MÜLLNER und MARTIN O’KANE ab. Auch meine neue Monographie über David hat einen wirkungsgeschichtlichen Schwerpunkt. Der Reichtum, der hier zu heben ist, scheint unerschöpflich. Die exegetische Wissenschaft sollte ihn nicht gering achten, ist er doch vielfach durch festere Gegenwerte gedeckt als ihre eigenen Hypothesen. Und oft genug zeigt sich, dass Nicht-Exegeten dort, wo Bibelwissenschaftler nur mehr einzelne Bäume vor Augen haben, den ganzen Wald sehen: die Samuelbücher in ihrer Fülle und Schönheit.
Bibliographie 0.
Neuere Kommentare
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5.
Zur Wirkungsgeschichte
Avioz, Michael, Nathan’s Oracle (2 Samuel 7) and Its Interpreters, 2005 (Bible in History). Dietrich, Walter / Herkommer, Hubert (Hg.), König David – biblische Schlüsselfigur und europäische Leitgestalt, Fribourg / Stuttgart 2003. Dietrich, Walter, David. Der Herrscher mit der Harfe, 2006 (Biblische Gestalten 14). Eckstein, Pia, König David. Eine strukturelle Analyse des Textes aus der Hebräischen Bibel und seine Wiederaufnahme im Roman des 20. Jahrhunderts, Bielefeld 2000. Hentschel, Georg, Saul. Schuld, Reue und Tragik eines „Gesalbten“, Leipzig 2003 (Biblische Gestalten 7). Hunziker-Rodewald, Regine, König Saul und die Geister. Zur Entwicklung des Saulbildes in der Bibel und in der Geschichte ihrer Rezeption, Habil. Bern 2005. Kleer, Martin, „Der liebliche Sänger der Psalmen Israels“. Untersuchungen zu David als Dichter und Beter der Psalmen, 1996 (BBB 108). Müllner, Ilse, Blickwechsel. Batseba und David in Romanen des 20. Jahrhunderts: Bibl. Int. 6 (1998) 348–366. O´Kane, Martin, The Biblical King David and His Artistic and Literary Afterlives: Bibl. Int. 6 (1998) 313–347. Pietsch, Michael, “Dieser ist der Sproß David …” Studien zur Rezeptionsgeschichte der Nathanverheißung im alttestamentlichen, zwischentestamentlichen und neutestamentlichen Schrifttum, 2003 (WMANT 100).
Doch ein Text hinter den Texten? Vorläufige textkritische Einsichten eines Samuel-Kommentators Die Auslegungen im „Biblischen Kommentar Altes Testament“, worin mir die Kommentierung der Samuelbücher obliegt,1 gliedern sich jeweils in fünf Abschnitte: Text – Form – Ort – Wort – Ziel. Unter „Text“ wird eine eigene Übersetzung geboten, die anschließend textkritisch zu begründen ist. Angesichts der nicht unkomplizierten textlichen Verhältnisse in den Samuelbüchern habe ich mich entschieden, grundsätzlich alle auch nur halbwegs nennenswerten Abweichungen unter den Textzeugen aufzuführen. Meine Übersetzung folgt nicht – was in gewisser Weise ein sicherer Weg wäre – einer einzigen Texttradition (der masoretischen oder derjenigen der Septuaginta), um dann fallweise Abweichungen in den anderen Traditionen zu diskutieren. Vielmehr versuche ich einen ‚Urtext’ zu rekonstruieren, der hinter den konkreten Textausformungen liegt. Diese Vorgehensweise hat ihren Grund darin, dass ich die Überlieferungen und auch den Text der Samuelbücher für relativ alt halte. Die großen formativen Phasen der Textentstehung lagen in der mittleren bis späteren Königszeit (hier postuliere ich ein sog. „Höfisches Erzählwerk“) und in der exilisch-frühnachexilischen Zeit (die deuteronomistischen Bearbeitungen). Gegen Ende des 5. Jahrhunderts dürfte der Textbestand so gut wie abgeschlossen vorgelegen haben. Er war damals noch nicht kanonisiert, doch werden die Möglichkeiten zu weiterer Veränderung relativ begrenzt gewesen sein. Vermutlich hat es nicht sehr viele Abschriften gegeben: sicher eine beim Tempel in Jerusalem, mit der Zeit vielleicht auch eine bei der ägyptischen oder bei der babylonischen Gola. Möglicherweise haben sich aus solchen Verzweigungen die drei Haupttextzeugen entwickelt. Diesen voraus liegt aber ein ‚Urtext’ aus der Zeit zwischen dem 5. und dem 3. Jahrhundert, der sich zu großen Teilen – nämlich dort, wo die Textzeugen übereinstimmen, und das betrifft die weit überwiegende Quantität des Textkorpus – mühelos ablesen lässt, der aber dort, wo die Textzeugen voneinander abweichen, erschlossen werden muss. Die folgenden Darlegungen wollen über das eingeschlagene Vorgehen und die bisherigen Einsichten in Sachen Textkritik Rechenschaft ablegen. Dazu wurde eine Anzahl der im Kommentar diskutierten Textdifferenzen ausgewählt, geordnet, gebündelt und in einen hoffentlich nachvollziehbaren Argumentationszusammenhang gebracht.
1
Bis 2007 lagen vier Lieferungen des Kommentars vor (1–320), die fünfte, bis an 1Sam 10 heranführende, befand sich in Arbeit. Damit konnten für die vorliegende Studie die Kapitel 1Sam 1–10 in den Blick genommen werden.
Doch ein Text hinter den Texten
1.
61
Nicht zu entscheidende Fälle
Textkritik, namentlich in den Samuelbüchern, ist keineswegs ein nur trockenes Geschäft. Sehr bald kommen übergreifende Hypothesen ins Spiel, mehr oder weniger grundsätzliche Bekenntnisse werden laut, es bilden sich förmlich Lager (namentlich der Verfechter des Vorrangs der Septuaginta und der Verteidiger des masoretischen Texts). Angesichts dessen ist eingangs das Eingeständnis angebracht, dass bei manchen Textvarianten eine Entscheidung in die eine oder die andere Richtung kaum zu fällen ist. Gleich die allererste Differenz zwischen dem masoretischen Text und einem griechischen ist ein Beispiel dafür. Die Vorstellung Elkanas in 1Sam 1,1 wird hebräisch mit den Worten ויהי אישׁ אחד, eröffnet, im Vaticanus hingegen mit einer invertierten Wortstellung: [kai\] a)/nqrwpoj h]n; die hebräische Vorlage hierzu dürfte אישׁ היהgelautet haben. In eben dieser Weise werden in der hebräischen Bibel auch Hiob und Mordochai vorgestellt (Hi 1,1; Est 2,5). McCarter – nicht zufällig er, der sehr häufig der Septuaginta folgt – hält dies auch in 1Sam 1,1 für angemessen, da „ ויהיthe introduction of one narrative in a chain of similar narratives“ 2 sei. Doch es gibt Gegenbeispiele, die den masoretischen Text stützen (in Ri 13,2; 17,1; Ez 1,1; Rut 1,1). Für unsere Stelle besonders wichtig ist 1Sam 9,1, die Einführung Kischs bzw. Sauls, die derjenigen von Elkana bzw. Samuel äußerst ähnlich ist. Dies wäre ein Argument für die Ursprünglichkeit von M, doch halte ich es nicht für schlagend, so dass ich diesen Dissens lieber nicht entscheiden möchte. In 1,9, nach Elkanas Ermahnung an seine Frau Hanna, heißt es in M: „Und Hanna stand auf nach dem Essen in Schilo und nach dem Trinken“, bei G hingegen: „Und Hanna stand auf nach dem Essen des Kochfleisches“. Wenn sie später von Eli der Trunkenheit bezichtigt wird, ist ihre Antwort „Wein und Bier habe ich nicht getrunken“ (1,15) nach G die volle, nach M nicht ganz die Wahrheit. Nicht leicht zu sagen, ob Hanna hier durch G entlastet oder durch M belastet werden soll. Kurz danach, in Hannas Gelübde (1,11), findet sich bei M, nicht aber bei GB, eine negativ formulierte Bedingung an Gott: „… und wenn du deine Magd nicht vergisst“. Wiederum ist schwer zu sagen, ob M hier eine Frau etwas ungehörige Töne gegenüber Gott anschlagen lässt – oder ob GB sie gerade gegen diesen möglichen Vorwurf schützen will. In dem Satz „Und der Junge Samuel machte beständige Fortschritte darin, groß und gut zu werden“ ( ְוגָדַ ל וָטוֹב, 1Sam 2,26) bietet der Vaticanus kein Äquivalent für גדל. Es erscheint beides möglich: dass M in Angleichung an 2,21 ( ויגדל )הנער שׁמואלerweitert oder dass der Vaticanus bzw. sein hebräischer Gewährsmann wegen des in der Tat etwas merkwürdigen Nebeneinanders von „groß werden“ und „gut werden“ gekürzt hat. In 10,4 kündigt Samuel Saul als zweites von drei „Zeichen“ an, er werde drei Männern begegnen, die sich auf einer Pilgerreise nach Bet-El befänden und 2
McCarter, I Samuel 51.
62
Die Samuelbücher als Text und als Literatur
die ihm schenken würden, was sie bei sich trügen. Von einem bekomme er, darin sind sich alle Textzeugen einig, „drei Brotlaibe“, doch G bezeichnet diese als a)parxa/j, was hebräisch תנופותentspricht, genau so in 4QSama belegt ist und „geweiht“ bedeutet. Wie aber kann jemand Saul geweihte Brote überlassen?3 Beides lässt sich denken: dass M das Wort weggelassen hat, um es hier nicht zu einem Tabubruch kommen zu lassen, oder dass umgekehrt G es hinzugefügt hat, um eben einen solchen Tabubruch zu unterstellen. Allzu häufig sind solche Fälle von textkritischer Unentscheidbarkeit in den Samuelbüchern allerdings nicht.4 In der Regel scheint eine Entscheidung zugunsten der einen oder der anderen Textform sehr wohl möglich und gut begründbar – und somit ein ‚Urtext’ erreichbar.
2.
Unbeabsichtigte Änderungen
2.1
Lese- und Abschreibversehen
2.1.1 Zunächst seien hier Beispiele aus der M-Tradition aufgeführt. Ein Fall von Haplographie liegt in 1Sam 10,1 vor. Dort, in der Rede Samuels an den von ihm gesalbten Saul, fehlt in M ein mehrzeiliger Passus mit dem Wortlaut: „… zum נגידüber sein Volk, über Israel. Und du, du wirst über das Volk Jhwhs herrschen. Und du, du wirst es retten aus der Hand seiner Feinde ringsum. Und das soll dir zum Zeichen sein, dass Jhwh dich gesalbt hat …“5 Diesem Passus voran geht und auf ihn folgt die genau gleiche Wendung (שׁחֲָך יהוה ָ )כִּי ְמ, und ein masoretischer Tradent dürfte versehentlich mit dem Auge von der einen zur anderen Stelle abgeglitten sein.6 Auch in 1Sam 4,2 dürfte eine Haplographie vorliegen. Dort stellen sich die Philister zum Kampf auf, griechisch: parata/ssein ei)j po/lemon. Das gängige hebräische Pendant und terminus technicus für „(in) Schlachtordnung aufstellen (gegenüber…)“ wäre (ערך מלחמה )לקראת. Nun fehlt aber in M das מלחמה: vermutlich, weil es im vorangehenden Satz geheißen hatte, dass „Israel auszog gegen die Philister zum Kampf“ ()לקראת פלשׁתים למלחמה.
3 4
5
6
In 1Sam 21,5–7 wird dies als Sakrileg erkennbar. Nennen ließe sich etwa noch 1Sam 3,20, wo M und anscheinend auch 4QSama eine singularische Verbform haben, G aber eine pluralische. Möglich ist beides, weil das Subjekt „Israel“ ein Kollektivum ist. Griechisch: ei)j a)/rxonta e)pi\ to\n lao\n au)tou= e)pi\ Israhl kai\ su\ a)/rceij e)n law|= kuri/ou kai\ su\ sw/seij au)to\n e)k xeiro\j e)xqrw=n au)tou= kuklo/qen kai\ tou=to/ soi to\ shmei=on o(/ti e)/xrise/n se ku/rioj; hebräisch wäre das: לנגיד על עם יהוה על ישׂראל ואתה תעצר בעם יהוה ואתה תושיעו מיד איביו מסביב וזה לך האות משׁחך יהוה. Denkbar, aber m.E. weniger wahrscheinlich ist die Gegenthese, dass der wiedergegebene Passus, der fast ebenso schon in 9,16–17 als Jhwh-Rede begegnet, in 10,1 nicht noch einmal wiederholt war, sondern erst in G nachgetragen wurde.
Doch ein Text hinter den Texten
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In 1Sam 5,8 schreibt G: kai\ le/gousin oi( Geqqai~oi, in der hebräischen Vorlage wohl: הגתים/ויאמרו גת. M trennt den Satz anders bzw. falsch: „Und man sagte: (Nach) Gat soll die Gotteslade weggehen“.7 Verschiedentlich sind den M-Tradenten auch Leseversehen unterlaufen. In 2,29 haben sie ein ursprüngliches ( לפניG: e!mprosqe/n mou) als לעמיgelesen, was sachlich keinen Sinn macht, und in 6,4 statt ( לכםG: u(mi=n) ein לכלם, doch harmoniert das Suffix ם-" nicht mit dem Suffix ־כםim nächstfolgenden Wort. Laut 6,18 G haben die Leute von Bet-Schemesch die Lade auf einem großen „Stein“ abgesetzt (li/qoj); das dem entsprechende hebräische אבןwurde von M verlesen zu אבל, was vom Nomen „Wiese“ oder von der Verbwurzel „trauern“ hergeleitet werden kann; im nächsten Vers, nach Jhwhs Schlag gegen die Betschemeschiten, ist denn auch von der Trauer des Volks die Rede (ויתאבלו העם, 6,19). Im Hannalied (2,3) hat die masoretische Tradition den bei G und Q belegten Singular gnw/sij / דעתabgewandelt in den recht künstlichen und einzig noch in Hi 36,4 belegten Plural דעות. In 7,16 werden die Orte aufgezählt, an denen Samuel seine Richtertätigkeit ausübte. Bei M heißt es dann zusammenfassend, er habe „Israel und alle diese Orte (bzw. Heiligtümer)8“, bei G dagegen – und sicher korrekt –, er habe „Israel an allen diesen Heiligtümern“ gerichtet (e)n pa=si toi=j a(giasme/noij tou/toij). 2.1.2 Nunmehr folgen Fälle aus der Q- und der G-Tradition. In 1Sam 2,21 fehlt bei Q das (Leit-)Wort „Knabe“ ()נער, doch stimmen in diesem Fall M und G gegen den Textzeugen aus Qumran überein. In 1,4 vergisst der Vaticanus die Töchter (neben den Söhnen) Peninnas, doch M erwähnt beide; dies ist wohl ein Ausfall wegen Homoioteleuton ( בָניהund בְנותיהin der Vorlage). In 2,8–9 fehlt bei G ein ganzer, vier Stichen umfassender Textpassus, der in M erhalten ist und den anscheinend auch Q geboten hat9: „Ja, Jhwhs sind die Säulen der Erde, und er hat auf sie das Festland gelagert. Die Füße seiner Frommen bewahrt er, und die Übeltäter kommen in Finsternis um“. Vermutlich unterlief in G eine aberratio oculi von dem כיam Anfang von V.8b zu dem am Anfang von V.9b.10 – Ähnliches lässt sich über den Passus in 4,9 sagen, der bei G fehlt, während er bei M und bei Q vorhanden ist: „… Philister, damit ihr nicht den Hebräern dient, wie sie euch gedient haben. Und erweist euch als Männer und kämpft!“ Vermutlich glitt hier der Blick des Übersetzers von einem ersten zu einem zweiten לאנשׁים. Eine Art Haplographie dürfte in 4,21 vorliegen. In der Namensgebung der Schwiegertochter Elis für Ikabod fehlt bei G ein ganzer Passus: „… indem sie
7 8 9 10
Der Vers endet bei M mit: „Und sie brachten hinüber die Lade des Gottes Israels“; G und Q fahren sachgemäß fort: „nach Gat“. Das Nomen מקוםkann bekanntlich beides bedeuten; G wird dann die zweite Bedeutung wählen. Allerdings mit דרךstatt רגליםam Anfang von V.9. So Klein, Samuel 676.
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Die Samuelbücher als Text und als Literatur
sagte: Weggeführt ist die Herrlichkeit aus Israel“. Der Satz fiel wohl weg, weil er ähnlich in V.22 noch einmal folgt.11 Ein anderes Versehen scheint in 3,13 unterlaufen zu sein. Dieser Vers schließt in G mit der Wendung kai\ ou)d )ou3twj, was ולא כןentspräche („nicht aber so“); die Wendung ist an der hiesigen Stelle sinnlos.12 Vermutlich handelt es sich um eine Verlesung; denn für das erste Wort des nachfolgenden Verses, ו ָלכֵן, fehlt in G ein Äquivalent. In 5,11 findet sich bei M die Zeile „( כבדה מאד יד האלהים שׁםSehr schwer lastete dort die Hand Gottes“). In GB lesen wir etwas anderes: w(j ei)sh~lqen kibwto\j qeou~ Israhl e)kei~ („als die Lade des Gottes Israels dorthin kam“), wobei unklar bleibt, wohin die Lade gekommen sein soll. Die hebräische Vorlage des Satzes lautete wohl: כבוא ארון אלהי ישׂראל שׁמה.13 Offenbar wurde das in M erhaltene כבדהin כבואverlesen.
2.2
Übersetzungsprobleme
In einer Reihe von Fällen sind Schwierigkeiten bei der Übertragung hebräischer Phrasen ins Griechische zu bemerken. In 1Sam 2,31 hat G das Nomen ז–ר–עals ז ֶַרעverstanden, also mit spe/rma, „Same, Nachkommenschaft“, übersetzt, während es in M als zerō‛a, „Arm“, vokalisiert ist – sicher zu Recht, da das verbum regens „( גדעabhauen, abschlagen“) sonst keine personalen Objekte bei sich hat, sondern eher materiale wie „Baum“, „Pfahl“, „Horn“.14 In 5,11 führt der Übersetzer eine Verbform auf hebräisch ישׁבzurück ([a)po]kaqisa/tw, die Lade „soll sich niederlassen“), während M zutreffend auf שׁובhin punktiert: sie soll „zurückkehren“. In 3,11, innerhalb einer Gottesrede, ist in M von דבר, „einer Sache“, die Rede. GB spricht von ta\ r(h/mata/ mou (hebr. דְ ב ָָרי.), doch dürfte hier kaum an Worte Jhwhs, sondern generell an sein bevorstehendes Unheilshandeln gedacht sein. Emphatische Ausdrucksweisen des Hebräischen missversteht oder übergeht die Übersetzung verschiedentlich. Der Bote, der Eli von der Niederlage bei Eben-Ezer berichtet, wiederholt mehrfach das Wörtchen גם, „auch“, worin sich das Atemlose seines Redens andeutet (4,17); G gibt das nicht wieder. Ebenso ist in 6,21 die atemlose, asyndetische Reihung zweier Imperative durch ein dazwischen gestelltes kai/ G aufgehoben worden.
11 12
13 14
Gegen McCarter, I Samuel 113, der den Passus bei M streichen möchte „as an alternative reading to v 22“. Der Übersetzungsversuch der Bible d’Alexandrie „… et il ne les réprimandait pas, pas même après cela“ möchte – etwas gewaltsam – einen Rückbezug auf 2,27–36 konstruieren. In 4QSama scheint die Zeile mit einem ה-locale zu schließen, was zum שׁמהder Rekonstruktion passte (entgegen dem שׁםvon M). Mit Stoebe, Buch Samuelis, gegen McCarter, I Samuel, jeweils z.St.
Doch ein Text hinter den Texten
65
we-qatal-Formen, die im Hebräischen oft einen Durativ ausdrücken, werden im Griechischen gern durch schlichten Narrativ wiedergegeben, so in 3,19: ויהוה היה עמוbei M, kai\ h=n (= )ויהוbei GBL.15 Schwierigkeiten hat G mit dem Namen „Ikabod“, der in 4,21 von M in zwei Wörtern geschrieben wird: אי־כבוד. GB gibt dies wieder mit Ou0ai/ barxabwq. Das ou0ai/ ist wohl ein Äquivalent zu אי, das allerdings als „ א ֹיwehe“ gelesen wurde.16 Ob bar- aramaisierend „Sohn“ bedeutet (also: „Wehe, Sohn der Ehre“) oder auf baru/j „schwer“ anspielt und damit das Leitwort des Kapitels, כבוד, aufnimmt, kann offen bleiben. In 1,5–6 ist GB wortreicher als die übrige Textüberlieferung: „Und Hanna gab er eine einzige Portion, weil sie kein Kind hatte, obwohl (plh\n o(/ti – offenbar von אפסanstelle von אפים, ‚ein doppeltes Stück’) Elkana Hanna mehr liebte als jene, und der Herr hatte ihren Mutterleib verschlossen, weil ihr der Herr kein Kind gab in (? kata/) ihrer Not (qli=yij) und in der Verdrossenheit (a)qumi/a) (infolge) ihrer Not, und es machte sie verdrossen (a)qumei=n), dass der Herr ihren Mutterschoß verschlossen hatte, so dass er ihr kein Kind gab“. GL ist noch etwas ausführlicher. Offenbar hatte man schon früh Schwierigkeiten mit Syntax und Aussage der Verse. In 1Sam 4,2 hat M die seltene Verbform ( וַיּטּוֹשׁmit מלחמהals Subjekt), was wohl besagen soll, dass sich der Kampf „ausbreitete“.17 Die griechischsprachigen Übersetzer hatten anscheinend Schwierigkeiten mit diesem Verb und schrieben – sehr elegant, aber nicht ganz zutreffend –: e//)klinen o( po/lemoj, „der Kampf neigte sich, nahm eine (für Israel unglückliche) Wendung“. In 6,3.4 haben die Übersetzer das Wort „ אשׁםSühnopfer“, das M wie auch Q bieten, offenbar als Ableitung von „( שׁמםquälen, zerstören“) missverstanden und to\ th~j basa/nou übersetzt („betreffs der Verwüstung“).18 In 5,4, in der Erzählung vom Sturz der Dagon-Statue in Aschdod, heißt es bei M: רק דגון נשׁאר עליו, meist wiedergegeben als: „Nur Dagon blieb von ihm zurück“. Diesen merkwürdigen Satz ändert G ab in: „Der Rücken/Rumpf (r(a/xij) Dagons blieb übrig“. Das übernehmen viele, manche halten sogar „Rücken“ für ursprünglich gegenüber „Dagon“ (z.B. McCarter, I Samuel 119). Doch ist der M-Text entgegen McCarters Urteil keineswegs „meaningless“, wenn man
15
16 17
18
In 6,15 scheint die Vorzeitigkeit in der (Plusquam-) Perfektform הורידוnicht erkannt und deshalb ein anderes Wort gewählt worden zu sein: a)nh/negkan, „sie hoben hinauf“ statt „sie hatten abgesetzt“; dem Übersetzer mag es widersinnig erschienen sein, dass man die Lade (scheinbar) von einem nicht mehr existierenden, weil zuvor verbrannten Wagen herunterhob. In dieser Weise defektiv (statt )אויwird die Partikel nur noch in Koh 10,16 geschrieben. Diese Wiedergabe lehnt sich an den Gebrauch des Verbs נטשׁin 1Sam 30,16; 2Sam 5,18.22 an – wo sich allerdings Menschen „ausbreiten“ und kein Kampf; auch sind dort Passiv- und Nif.-Formen gebraucht anstelle des Qal. Stoebes Annahme eines „aramaisierende[n] Impf. von “טוּשׁmit der Übersetzung „der Kampf ging hin und her“ (Buch Samuelis 129) führt auf mindestens ebenso gewagtem Weg zu einem ähnlichen Ergebnis. Diese Bedeutung erhellt aus 5,3, wo G das von M (in 5,6!) gebrauchte שׁמםmit basani/zein wiedergibt.
Die Samuelbücher als Text und als Literatur
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das Suffix in עליוnicht auf Dagon bezieht, sondern auf die Schwelle, „auf“ der Dagon liegt.19
3.
Beabsichtigte Änderungen
Es sollen im Folgenden sechs Arten gezielter Abänderung des ursprünglichen Textes unterschieden werden.
3.1
Kürzungen
In 1Sam 1,20 gibt Hanna ihrem Sohn den Namen „Samuel“ mit der Begründung: „Von Jhwh Zebaot habe ich ihn erbeten“. Das Epitheton „Zebaot“ findet sich freilich nur in G; dagegen bietet M allein das Tetragramm. Doch wurde gemäß der Gesamterzählung in Schilo speziell „Jhwh Zebaot“ verehrt;20 an einer so wichtigen Stelle wie der Namensgebung für den „Helden“ Samuel ist der volle „Titel“ der Gottheit wohl am Platze. Die M-Tradenten mögen das in Anbetracht dessen, dass es hier eher um familiär-private Dinge zu gehen scheint, anders gesehen haben. In 2,14 wird in M eine Reihe von Kochgeschirren aufgezählt, die bei den Opfermahlzeiten in Schilo Verwendung fanden. Ich habe sie, angelehnt an HALAT, wiederzugeben versucht mit „Kessel, Topf, Tiegel und Schüssel“21. Aus den vier Sorten sind in GBL drei und in 4QSama zwei geworden. Offenbar fand man solche Einzelheiten mancherorts nicht so wichtig, vielleicht auch nicht mehr verständlich, und kürzte dementsprechend. M schreibt in 2,14: „… ganz Israel, die dorthin nach Schilo kamen“ – kein sehr eleganter Satz. GB bietet eine abweichende Formulierung: toi=j e)rxome/noij qu=sai kuri/w| e)n Shlwm („die kamen, um Jhwh in Schilo zu opfern“) – zweifellos glatter als M, damit aber lectio facilior. In 3,16 lässt G weg, dass Eli nach Samuel „gerufen“ hat; doch hat Samuel bisher immer dann mit „Hier bin ich“ geantwortet, wenn er zuvor „gerufen“ worden war.
3.2
Glättungen
In der Geschichte von Samuels Traumoffenbarung (3,1–18) informiert G von Anfang an darüber (in V.4 und V.6), mit welchen Worten Gott Samuel angerufen habe: „Samuel, Samuel!“ M teilt dies erst beim dritten Anruf mit (V.10), wo G es verschweigt. Nach meiner Meinung ist die Version von M erzählerisch 19 20 21
Vgl. dazu Dietrich, Samuel 270–272. Vgl. 1Sam 1,3.11; 4,4. Dietrich, Samuel 109.
Doch ein Text hinter den Texten
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raffinierter, freilich auch anspruchsvoller; G hingegen möchte die Leser bzw. Hörer nicht so lange hinhalten. Gegen Ende dieser Erzählung, in 3,15, hat G ein Plus gegenüber M: kai\ w!rqrisen to\ prwi\ „Und er [Samuel] stand am Morgen auf“. Vermutlich hat G (bzw. die hebräische Vorlage) hier bei M eine Lücke gespürt und diese aufgefüllt.22 G bietet in 3,17 nicht wie M einen Singular ()דָּ בָר, sondern den Plural lo/goi. Da dies aber im näheren Kontext das Gängige ist, erscheint die Lesung von M als lectio difficilior.
3.3
Abschwächungen
Im Hannalied (2,1–10) schwächt GB zwei Ausdrücke gegenüber M (im ersten Fall auch gegenüber Q) ab: In V.4 spricht GB statt vom „Zerbrechen“ ( )חתתdes Bogens der Starken von dessen „Schwachwerden“ (a)sqenei=n), in V.5 statt von „Hungrigen“ ( )רעביםvon „Schwachen“ (wiederum von a)sqenei=n). Ermahnt Eli seine Söhne laut M mit den Worten: „Wenn sich ein Mensch gegen einen anderen verfehlt, mag ein Gott sein Sachwalter sein“ (2,25), so wandelt GB das letzte Sätzchen vorsichtig ab in: „… wird man für ihn zum Herrn beten“.
3.4
Verdeutlichungen
Hier bietet 1Sam 2,16 ein schönes Beispiel dafür, wie in ein und demselben Vers einmal die M-, einmal die G-Tradition den Text verändert hat. Es geht um das Fehlverhalten der Eliden beim Opferdienst. Sie schicken zu den Opfernden einen Diener, um durch ihn ein Stück noch unzubereiteten Fleisches zu verlangen. „Und erwiderte der Mann ihm: ‚Zuerst räuchert man das Fett – und (danach) nimm dir von allem, was du begehrst’, dann sagte er: ‚Nein, jetzt gibst du her! Und wenn nicht, nehme ich mit Gewalt!’“23 In diesen Vers haben alle Versionen hier und da Verdeutlichungen eingebracht: G sagt nicht nur „der Mann“, sondern „der Mann, der opferte“ (o( a)nh_r o( qu/wn); nach Q antwortet dieser Mann nicht nur „ihm“, sondern „dem Priestergehilfen“ ( ;)אל נער הכהןlaut Q sagt er nicht, „man“ räuchert zuerst, sondern „der Priester“ räuchert (was offenbar nicht der Aussageabsicht des Textes entspricht); G fügt die (zutreffende) Interpretation ein: „wie es sich gehört“ (w(j kaqh/kei); laut Q und G bietet der Opfernde dem Priesterdiener an „von allem, was du begehrst“, während M abschwächt zu „wie ( )כאשׁרdu begehrst“; schließlich stimmen G, Q und auch noch das Qere in M in dem abwehrenden „Nein!“ des Opfernden überein (ou)xi/ bzw. )לא, während das Ketib abmildert zu לו: „(er sagte) zu ihm“. 22 23
Entgegen McCarter, I Samuel z.St., der für M mit einem Textausfall wegen Haplographie rechnet. So meine Übersetzung, Samuel 109.
Die Samuelbücher als Text und als Literatur
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In der Philippika des namenlosen Gottesmannes gegen Eli lautet der Vorwurf bei M (2,29): „Warum missachtet ihr mein Schlachtopfer?“ Dabei wird das sonst nur noch in Dtn 32,15 belegte Verb בעטgebraucht. 4QSama und G haben bzw. lasen stattdessen נבטHif., „blicken“, was G noch verdeutlicht durch ein nachgeschobenes a)neidei= o)fqalmw|~ „mit schamlosem Auge“.24 In 4,11 setzen M und G zu der Angabe „und die beiden Eli-Söhne starben“ deren Namen hinzu: „Hofni und Pinhas“. In 4QSama, so ist aus Platzgründen anzunehmen, fehlten die Namen.25 Tatsächlich klappen sie an dieser Stelle derart unschön nach, dass man an eine Glosse in M und G zu denken geneigt ist. (Diese muss, notabene, in den Text geraten sein, bevor sich die M- und die GTradition voneinander, aber nachdem sich beide von der Q-Tradition getrennt hatten.) In 1,12 fügt G für Eli den Priestertitel ein, was nach dessen Nennung in 1,3G, 9 unnötig ist. In 1,13 setzt M ein verdeutlichendes, über unnötiges „Und Hanna, sie sprach“ hinzu. In 1,24 bieten G und Q ein ebenfalls verdeutlichendes, aber eher störendes „nach Schilo“. In 5,5, beim ätiologischen Abschluss der Dagon-Erzählung, findet sich in G ein Plus, deutlicher: eine erklärende Glosse: o#ti u(perbai/nontej u(perbai/nousin („sie steigen nämlich sorgfältig darüber hinweg“, in der hebr. Vorlage sicher eine Konstruktion mit infinitivus absolutus).
3.5
Ausschmückungen
Es ist merkwürdig: Unter dieser Rubrik kann ich bisher nur Beispiele aus G, teilweise auch aus Q, nicht aber aus M anführen. Dieser Befund widerspricht einem nicht zuletzt aus 1Sam 17 (und auch aus dem Jeremiabuch) genährten Vorurteil, die masoretische Tradition habe noch in sehr später Zeit zu Wucherungen geneigt. Jedenfalls im ersten Drittel des 1. Samuelbuches trifft das eher auf G zu. Hier die Belege: M hat in 1,3 die Gottesbezeichnung ( יהוה צבאותwie in 1Sam 1,11; 4,4; 2Sam 6,2.18), GB schreibt ku/rioj qeo\j sabawq (hebräische Vorlage: יהוה אלהי – )ה(צבאותso in den Sam-Büchern einzig in Sam 5,10 belegt), GL gar ku/rioj sabawq qeo/j. In 1,11 findet sich bei G–O ein Plus: „Und er soll keinen Wein und keinen Rauschtrank trinken“. Auch der Text von 4QSama weist an dieser Stelle eine Lücke auf, in der ein entsprechendes Kolon Platz hätte. Es dürfte sich um einen Eintrag von Ri 13,7 her handeln, der Samuel – wie Simson – zum Nasiräer machen will. Nicht zu folgen ist G auch in der Zufügung des Wortes doto/n, einem 24 25
Für G plädiert – wie gewohnt – McCarter (I Samuel 29), für M – in diesem Fall zu Recht – Fokkelman (Art and Poetry 569f). Vgl. McCarter, I Samuel 104, der dazu auf 4,17 verweist, wo die Namen in G fehlen, und urteilt: „The shorter reading in each context is probably original“.
Doch ein Text hinter den Texten
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Hapaxlegomenon, das vielleicht נזיר,26 wahrscheinlicher aber נתוןwiedergibt: den Namen einer Untergruppe der Leviten, zu denen Samuel nach 1Chr 6 gehört haben soll.27 In 1,21 lässt G Elkana außer den Gelübdeopfern (ta\j eu)xa/j, entsprechend את־נדרוin M) auch noch „den ganzen Zehnten seines Landes“ darbringen (pa/saj ta\j deka/taj th=j gh=j au)tou=), stellt ihn also als vorbildlich frommen Mann hin. Das Plus von Q in 1,22 [ ]ונת[תיהו נזיר עד עולם כול ימי ]חייוenthält wieder das Motiv des Nasiräats für Samuel, das aber in der weiteren Samuel-Überlieferung keinerlei Rolle spielt. In 2,9 ist ein großes und ebenfalls sekundäres G-Plus auszumachen, das analog auch 4QSama bietet: didou\j eu)xh\n tw|= eu)xwme/nw| kai\ eu)lo/ghsen e)/th dikai/ou (GAL: dikai/wn), also: „der gibt das Erbetene dem Bittenden (4QSama und vielleicht auch die Vorlage von G verwendet hier zweimal die Wurzel )נדר und segnet die Jahre des/der Gerechten“. Am Ende des Hannaliedes, in 2,10, findet sich ein weiteres umfangreiches Plus bei G: „Der Herr ist heilig. Nicht rühme sich der Verständige seines Verstandes und nicht rühme sich der Mächtige seiner Macht und nicht rühme sich der Reiche seines Reichtums, sondern dessen rühme sich der sich Rühmende, dass er den Herrn verstehe und erkenne und Recht und Gerechtigkeit übe mitten im Land.“ Die gleiche Mahnung steht, in charakteristisch prophetischer Abwandlung, in Jer 9,22f: „So spricht Jhwh: Nicht rühme sich der Weise seiner Weisheit und nicht rühme sich der Starke seiner Stärke und nicht rühme sich der Reiche seines Reichtums, sondern dessen rühme sich der sich Rühmende, verständig zu sein und mich zu erkennen, dass ich Jhwh bin, der Solidarität und Recht und Gerechtigkeit übt im Land; denn an solchen habe ich Gefallen, Spruch Jhwhs.“ Aller Wahrscheinlichkeit nach liegt die Priorität bei Jer, und die Sätze wurden von dort ins Hannalied hinüberkopiert.28 Am Schluss der Szene vom Kultfrevel der Eliden, in 2,16, bietet Q ein großes Mehr: כבשׁלת ]ה[בשׂר יקח את מזלג שׁלושׁ השׁנים ]בידו וחכה[ בסיר בפרור]כו[ל אשׁר יעלה המזלג „( יקט אם ]רע הוא ואם[ טוב לבד מ]חזה התנופה ושׁו[ק הימיןWährend das Fleisch kochte, nahm er [d.h. der Priestergehilfe] eine dreizinkige Gabel in seine Hand und stieß sie in den Topf oder den Kessel. Was immer die Gabel heraufbrachte, Schlechtes oder Gutes, er nahm es, dazu die Brust als Weihegabe und die rechte Keule“). Mit ganz ähnlichen Worten war schon in 2,13–14 das regelmäßige Fehlverhalten der Eliden geschildert worden; Q stellt hier – umständlich genug – klar, dass nicht nur generell, sondern in jedem Einzelfall so verfahren wurde. Q weiß nicht nur, wie die anderen Textzeugen, dass Eli seinerzeit „sehr alt“, sondern dass er 90 Jahre alt war (2,22). Die Angabe ist offensichtlich aus dem zwei Kapitel später (in 4,15) angegeben Todesalter – 98 Jahre – geschlossen. G hat in 3,21gegenüber M einen großen Überschuss, dessen erster Satz lautet (nach GB): 26 27 28
So etwa Ulrich, Qumran 39; Caquot / de Robert, Livres 35. So Wellhausen, Text 38; Tsevat, Samuel 199; Rofé, Correction 251. Gegen Kutsch, Weisheitsspruch 171–174, und mit Tov, Editions 167.
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Die Samuelbücher als Text und als Literatur
kai\ e)pisteu/qh Samouhl profh/thj gene/sqai tw|= kuri/w| ei)j pa/nta Israhl a)p )a1krwn th=j gh=j kai\ e3wj a1krwn („dass Samuel Prophet für Jhwh geworden war, wurde ganz Israel bestätigt von einem Ende des Landes zum andern“), was nichts anderes ist als eine (im Griechischen etwas elegantere) Wiederholung von V.20. Darauf folgen noch zwei weitere Mitteilungen: kai\ Hli presbu/thj sfo/dra kai\ oi( ui(oi\ au)tou= poreuo/menoi e)poreu/onto kai\ ponhra\ h( o(do\j au)tw=n e)nw/pion kuri/ou: „Und Eli war sehr alt (geworden), und seine Söhne gingen immer weiter, und übel war ihr Weg vor Jhwh“, etwas freier übersetzt: „… ihr Wandel vor Jhwh wurde immer übler“. Eine hebräische Vorlage dieses Passus dürfte etwa so gelautet haben: ועלי זקן מאד ובניו הלוך הלכו ורע]ה[ דרכם לפני יהוה.29 Das wäre kein schlechter Abschluss von 1Sam 2–3 und eine passende Überleitung zu 1Sam 4, sofern dort für die hier beklagte Sünde die Strafe erfolgt. Gerade dies aber stimmt nachdenklich, steht bei dieser Abfolge doch deutlich das Denkschema des Richterbuch-Rahmens Pate (so J. Hutzli). Zudem war Elis hohes Alter schon in 2,22 und wird es noch einmal in 4,15, 18 erwähnt. So wird sich auch dieser zweite Teil des Überschusses in G kaum einer eigenständigen Texttradition verdanken.30 Ein weiteres G-Plus liegt in 4,15 vor: „Und Eli sagte zu den umstehenden Männern: ‚Was bedeutet das Geräusch dieses Schalls?’ Und der Mann kam eilends zu Eli und sagte zu ihm…“. Dieser Passus doppelt sich mit schon Erzähltem und dient offenbar der Ausschmückung. Außer den Beulen, die laut M wegen der Entführung Lade über die Bewohner von Aschdod kamen (5,6), kennt G – genauer: GBA – noch eine weitere Plage: kai\ e)ph/gagen au)toi~j kai\ e)ce/zesen au)toi~j ei)j ta\j nau~j kai\\ me/son th~j xw/raj au)th~j a)nefu/hsan mu/ej kai\ e)ge/neto su/gxusij qana/tou mega/lh e)n th|~ po/lei („und er führte herauf gegen sie und ließ auf ihre Schiffe ausschwärmen und es breiteten sich aus auf ihren Ländereien – Mäuse! Und es entstand eine große, tödliche Panik in der Stadt“). Nun tauchen zwar auch in M „Mäuse“ auf, aber viel später, in 6,4, und zwar als „goldene Mäuse“, die der Lade mit auf den Weg in die Heimat zu geben sind. Nach McCarter setzt dieser Erzählzug voraus, dass Mäuse zuvor die Philister in Not gebracht hätten; also sei das G-Plus in 5,6 korrekt.31 Doch genau diese Überlegung könnten bzw. werden auch die Verfasser von GBA (bzw. von deren hebräischer Vorlage) angestellt und den Text in 5,6 entsprechend erweitert haben.32 Ursprünglich war von Mäusen nur im Zusammenhang der Sühnegaben an die Lade erzählt worden: Nicht weil eine Mäuseplage zu beheben war, sondern weil die Sühnegaben in Mausform gestaltet sein sollten, um den Geschwüren, die es wegzuzaubern galt, zu gleichen. G machte aus den bloßen Abbildungen wirkliche Mäuse: nicht nur in 5,6, sondern auch in 6,1.
29 30 31 32
So Adair, Method 280, etwas abweichend von I McCarter, Samuel 103. Gegen Klein, Samuel 30. McCarter, I Samuel 119; so letztlich auch Schenker, Textgeschichte. Eben dies nahm der sonst durchaus LXX-freundliche Wellhausen (Text 63–64) an und wies darauf hin, dass seit jeher der Zusammenhang zwischen Seuchen und Mäuse- bzw. Rattenplagen bekannt war.
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In 6,1 steht GB mit einem Überschuss gegen M und Q allein: kai\ e)ce/zesen h( gh~ au)tw~n mu/aj („und es wimmelte ihr Land von Mäusen“; als hebräische Vorlage ließe sich rekonstruieren: )והתשׁרץ ארצם עקברים. Mag Herodot von Mäuseplagen berichtet haben: die Bibel tat es nur in der griechischen Texttradition. An verschiedenen Stellen der Ladegeschichte steigert G das Wunderhafte über M hinaus: Bei dem umgestürzten Dagon waren nicht nur Kopf und Hände an der Schwelle abgebrochen, sondern „die beiden Gelenke seiner Hände lagen vor der Tür“ (5,4). – Die Kühe, die für den Divinationstest mit der Lade ausersehen waren, hatten nicht nur eben erst, sondern sie hatten zum ersten Mal gekalbt (prwtotokou/saj, 6,7, 10), was ihren Lauf in Richtung Israel umso wunderbarer macht.
3.6
Aktualisierungen
Diese Motivation für Textänderungen habe ich bisher nur bei G beobachten können. In der Traumoffenbarungsgeschichte, 1Sam 3,3, redet M (und übrigens auch S und V) vom „Erlöschen“ der Lampe im Allerheiligsten ( כבהPi.), GBA hingegen von ihrem „Zurichten“ (e)piskeua/zein), was wohl eine Anpassung an die Verhältnisse zur Entstehungszeit des Textes ist. Denn im Zweiten Tempel durfte die Lampe im Allerheiligsten gerade nicht erlöschen. In der Ladegeschichte ersetzt G – gegen M und Q – „Ekron“ und die „Ekroniter“ regelmässig durch „Aschkelon“ und die „Aschkeloniter“ (5,10; 6,16.17). Aschkelon ist in der Ladegeschichte im Rahmen des Fünfbundes mitgedacht, aber nicht namentlich erwähnt. In der hellenistisch-römischen Ära jedoch spielte die Stadt eine herausgehobene Rolle, weswegen sie wohl in G genannt werden sollte.33 Demgegenüber war Ekron zwar in der Eisenzeit I und in der Assyrerzeit ein wichtiges Zentrum, verlor aber nach seiner Zerstörung durch die Babylonier alle Bedeutung.34 Offenbar trägt G diesem Wandel Rechnung. In 1Sam 7,3f redet M, gut deuteronomistisch, von der Beseitigung von „Baalen und Aschtarten“, G aber von ta\ a)/lsh Astarwq, „Astarten-Hainen“, was doch wohl hellenistischen Zeitgeist atmet.
4
„Dogmatisch“ bedingte Änderungen
Eine Kategorie absichtlicher Textabänderungen verdient besonderes Interesse: die theologisch oder in einem weiteren Sinne ideologisch oder überhaupt positionell bedingten Korrekturen. Sie finden sich bei allen drei Haupttextzeugen. Ich folge beim Aufweis den einzelnen biblischen Erzählungen. 33 34
Vgl. Stager, Ashkelon 103–112, bes. 104–105. Vgl. Dothan / Gitin, Miqne 30–35.
72
4.1
Die Samuelbücher als Text und als Literatur
In der Erzählung von Hanna und Samuel
Die vielgliedrige Genealogie Elkanas (1,1) schließt M mit „… des Sohnes Zufs, ein Efratiter“, G dagegen mit „in Nezib in Efraim“ (e)n Naseib Efraim). Dahinter könnte eine Reihe von Versehen stecken35 – oder aber die Absicht, die in 1Chr 6,16–23 behauptete levitische Abkunft Samuels zu schützen, indem statt seiner Vorfahren nur deren Wohnort als efraimitisch deklariert wird.36 Nachdem Hanna auf die ständigen Kränkungen beim Opfermahl in Schilo mit Essensverweigerung reagiert hat, heißt es bei allen Textzeugen: „Und Elkana, ihr Mann, sagte zu ihr: Hanna“ (1,8). Nur bei G reagiert Hanna auf diese Anrede: kai\ ei]pen (au)tw=|) i)dou\ e)gw\ (ku/rie). In M fährt Elkana danach fort: „Warum ist dein Herz böse?“, in GB mit der Frage: ti/ tu/ptei se h( kardi/a sou; „Warum schlägt dir dein Herz / dein Gewissen?37“ Das ist viel zurückhaltender ausgedrückt – nur: Woraus sollte sich Hanna ein Gewissen machen? Offenbar wollte G, dass Hanna und Elkana höflicher miteinander umgingen, als es im überkommenen Text der Fall war.38 Im Fortgang der Erzählung spielt Hanna nach G eine kultisch weit aktivere Rolle als nach M. Nur G berichtet, dass sie nach der Zurechtweisung durch Elkana „vor Jhwh getreten“ sei (kai\ kate/sth e)nw/pion kuri/ou, 1,9). Bei G verhandelt sie in ihrem Gelübde mit Gott ganz partnerschaftlich (wenn du mir einen Knaben schenkst, dann bringe ich ihn wieder „vor dich“, e)nw/pio/n sou), während sie bei M distanzierter von einer Rückgabe „an Jhwh“ redet. Anders als in M weist Eli sie in G nicht nur an, ihren vermeintlichen Rausch auszuschlafen, sondern „von Jhwh wegzugehen“ (poreu/ou [a)/pelqe] e)k prosw/pou kuri/ou, 1,14) – vor den sie nach M überhaupt gar nicht getreten war. Als es später um die Einlösung ihres Gelübdes geht, spricht Elkana laut M von einem „Wort (Jhwhs)“, das aufgerichtet werden solle (1,23; הקים דברist eine gängige Formel vom Erfülltwerden von Jhwh-Worten, die aber hier nicht passt, weil zuvor keine Jhwh-Verheißung mitgeteilt worden ist). In G dagegen sagt Elkana: „Möge Jhwh (alles) aufrichten, was aus deinem Mund hervorgegangen ist“.39 Nach GB ist es dann zwar Elkana, der das Kind „hinzubringt“, aber dezidiert Hanna, die es Eli übergibt (kai\ prosh/gagen Anna h( mh/thr tou= paidari/ou pro\j Hlei, 1,25); M hat hier ein scheinbar partnerschaftliches, in Wahrheit die Rolle der Frau schwächendes ַויָּבִיאוּ. Am Ende des denkwürdigen Besuchs in Schilo fällt laut 4QSama Hanna vor Jhwh nieder ([ותשׁתח]ו, 1,28); die anderen Textzeugen haben hier maskuline Verbformen: M ein masc. sing. (wobei unklar bleibt, wer gemeint ist: Eli oder Samuel oder Elkana), einige hebräische Handschriften so35 36 37 38
39
Dann hätte G בן־צוףbzw. בנצוףals ein Wort gelesen, für וein י, für פein בgesetzt und ב als Präposition missverstanden: so Barthélemy, Critique 137; McCarter, I Samuel 51. So Grillet / Lestienne, Bible 27. So in 1Sam 24,6. So berichtet M zum Abschluss der Eli-Hanna-Szene auch nur: „Und sie aß“, während sie nach G „mit ihrem Mann aß und trank“ (kai\ e)/fagen meta\ tou= a)/ndroj auth=j kai\ e)/pien). sth/sai ku/rioj (pa=n) to\ e)celqo\n e)k tou= sto/mato/j sou. Q bietet entsprechend: []יהוה … היוצא מפיך
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73
wie GL, S, V ein masc. pl. (was besser, aber wohl eine Glättung ist); GB lässt das Sätzchen ganz weg. In diesem Fall hat also einzig Q den ursprünglichen, Hannafreundlichen Text bewahrt. Am Ende der Erzählung, in 2,11, findet sich bei G etwas, das nicht fehlten sollte, bei M aber fehlt: dass die Mutter das Kind im Tempel zurücklässt, selbst aber nach Hause zurückkehrt (kai\ kate/lipen au)to\n e)kei= e)nw/pion kuri/ou kai\ a)ph=lqen ei)j Armaqaim). Das Letztere teilt M immerhin mit, freilich mit Elkana als Subjekt: wieder eine Schwächung der Rolle Hannas. Bei einer späteren Wallfahrt nach Schilo dann wünscht Eli dem Elkana: „Gebe Jhwh dir Nachkommenschaft von dieser Frau anstelle des Erbetenen, den sie zu etwas von Jhwh Erbetenem gemacht hat“ (2,20); in dieser Form berichtet dies freilich einzig Q (mit einer Verbform 3. fem. sing.: )השׁאיל ]ה לי[הוה, während die anderen Haupttextzeugen die Aussage abändern: M zu אשׁר שׁאל ליהוה, was unübersetzbar ist, weil Jhwh nicht „für Jhwh“ etwas erbitten kann, G (und V) zu einer Anrede an Elkana („den du bei Jhwh erbeten hast“), was weder grammatisch noch kontextuell angemessen ist. In seinem Segenswunsch für Hanna (2,20) spricht Eli laut Q davon, Gott möge ihr „zurückerstatten“ ( שׁלםPi.), was sie ihm gegeben habe: nämlich ihr Kind. Bei M heißt es vorsichtiger, Gott möge ihr „zur Verfügung stellen“ (שׂים Qal), was sie ihm gegeben habe. Es soll nicht der Eindruck entstehen, Gott sei zu irgendetwas verpflichtet.40 In 2,21 schreiben 4QSama und G: „Samuel wuchs heran vor Jhwh“ (לפני יהוה bzw. e)nw/pion kuri/ou). M dagegen bietet עִם־יהוה, was die Aussage prätentiöser macht: „Samuel wurde groß [d.h. bedeutend] bei Jhwh“ – doch so weit ist die Erzählung an dieser Stelle noch nicht.
4.2
In der Erzählung von den Eliden
Die Textgeschichte zeigt an mehreren Stellen etwas wie ein Ringen um die Rolle und das Verhalten der Eliden. Vermutlich spiegeln sich darin weniger historische Differenzen als vielmehr die Besorgnis um eine angemessene Wahrnehmung des Priesteramtes, welches für das Judentum des Zweiten Tempels von so zentraler Bedeutung war. Vor allem in der G-Tradition spürt man immer wieder Versuche zu einer begrenzten Ehrenrettung jenes alten Priestergeschlechts. Zweimal wird fehlerhaftes Verhalten von den Priestern weg- und ihrem paida/rion, dem Gehilfen, zugeschoben. In 1,14 war es nach G nicht Eli, sondern der Gehilfe, der Hanna zurechtwies.41 Und in 2,15 sagt der Gehilfe den Opfernden nicht, der Priester wolle statt gekochtem nur rohes Fleisch, sondern: „Ich nehme von dir nichts Gekochtes aus dem Kessel“ (kai\ ou) mh\ la/bw para\ sou= e(fqo\n e)k tou= le/bhtoj).42 40 41 42
So Jürg Hutzli in einem mündlichen Hinweis an mich. Dies erweist sich dadurch, dass hernach auch in G Hanna mit dem Priester selbst spricht, als kleiner Versuch einer Ehrenrettung. Die Forderung nach rohem (wörtlich: „lebendigem“, )חיFleisch lässt G weg: vielleicht, um Reminiszenzen an gewisse griechische Kulte (etwa für Dionysos) auszuschließen, bei denen rohes Fleisch verzehrt wurde (Hinweis von Jürg Hutzli).
74
Die Samuelbücher als Text und als Literatur
Einige Male wird nicht das Priestergeschlecht als ganzes, wohl aber dessen Haupt, Eli, in Schutz genommen. In 2,22 war er gemäß M über das Treiben seiner Söhne lang anhaltend informiert (ausgedrückt durch die iterativische weqatal-Form )ושׁמע. In 4QSama dagegen hörte er nur ein einziges Mal davon (ausgedrückt durch den Narrativ ;וישׁמעvermutlich sah bzw. las G das genauso, doch sind im griechischen Aorist h)/kousen Iterativ und Narrativ nicht unterscheidbar). Als Eli daraufhin seine beiden Söhne ermahnt (2,24), tut er es nach M ganz knapp („Nicht so, meine Söhne!“), nach Q und analog nach GB hingegen ausführlicher und eindringlicher: ]אל תעשׂון כן כי לו[א טוב]ות השׁמועות[ אשׁר אני שׁומע („Handelt nicht so, denn nicht gut sind die Gerüchte, die ich höre“). Und später, in der nächtlichen Offenbarung an Samuel, begründet Gott seinen Gerichtsbeschluss gegen die Eliden in der Fassung von M mit der „Schuld, die ihm (Eli) bewusst war“, bei GBA aber mit der „Schuld seiner Söhne“ (3,13). Nicht Eli und sein ganzes Haus waren also verderbt, sondern nur die beiden EliSöhne, die in der Schlacht gegen die Philister umkamen. Bemüht sich also die G-Tradition um ein differenziertes Bild der Eliden, so gibt es umgekehrt einen Fall drastischer Einschwärzung dieses Bildes in der MTradition. In 2,22 bietet M ein Plus, demzufolge die Eli-Söhne nebst allen kultischen Verfehlungen auch noch anrüchigen Umgang mit Frauen am Heiligtum hatten.43 In der Gerichtsrede des namenlosen Gottesmannes gegen das Haus Eli heißt es bei M: „Die große Mehrzahl deines Hauses wird im besten Mannesalter sterben“ (2,33). G hat stattdessen pesou=ntai e)n r(omfai/a| a)ndrw~n („werden durch Männerschwert fallen“), eine Version, die durch 4QSama gestützt wird. Ihr folgen viele Exegeten,44 doch dürfte sie nicht ursprünglich, sondern eine Dramatisierung bzw. eine Heroisierung des bevorstehenden Schicksals der Eliden sein, die vielleicht durch 1Sam 21–22 inspiriert ist.45 Dass die Eliden einerseits entlastet, andererseits zusätzlich belastet werden, kann man mit generellen theologischen Erwägungen erklären: dem grundsätzlichen Respekt für das Priesteramt auf der einen, dem Bedürfnis, das Gericht über das Haus Eli noch plausibler zu machen, auf der anderen Seite. Es könnte sich darin aber auch etwas anderes spiegeln: Differenzen im Umfeld der Priesterschaft des Zweiten Tempels. In Jerusalem war das Priestergeschlecht der Zadokiden tonangebend,46 bis im Jahr 174 v. Chr. der zadokidische Hohepriester Onias III. abgesetzt wurde; seine Nachkommen lebten im ägyptischen bzw. ptolemäischen Exil. In Jerusalem fungierten fortan proseleukidische Amtsträger. Nun besaß nach der biblischen Darstellung schon Zadok, der Ahn der Zadokiden, einen Widerpart: den Priester Abjatar, jenen getreuen Gefolgsmann Davids, der sich in den Nachfolgestreitigkeiten auf die Seite Adonijas schlug und dar43
44 45 46
Denkbar wäre, dass hier nicht M die Eliden (durch einen Zusatz) belastet, sondern G sie (durch eine Streichung) entlastet. Aber warum hätte G dann nicht noch viel mehr gestrichen? So z.B. McCarter, I Samuel 89; Alter, Translation 15. So Nelson, Role 138 n. 22. Zadoks Nachfahren unterstrichen nachexilisch ihren Führungsanspruch durch ihre Herleitung von Aaron, vgl. 1Chr 5,27–38; 6,35–38; 24,1–3; Hag 1,1.
Doch ein Text hinter den Texten
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aufhin von Salomo zu Zadoks Gunsten relegiert wurde.47 Diesen Abjatar aber leitet die biblische Überlieferung geneaologisch von Eli her.48 Genau hier könnte ein Motiv für M liegen, die Eliden in ein möglichst negatives Licht zu rücken. Wäre es so, dann gelangte man mit der M-Tradition ins Umfeld des zadokidischen Priestertums. Umgekehrt könnte sich im differenzierteren ElidenBild der G-Tradition eine gewisse Distanz zu den Zadokiden andeuten.49
4.3
In der Erzählung von Samuels Berufung
Gemäß M (aber auch nach S, T und V) lag Samuel, als ihn der Anruf Gottes erreichte, „im Haus (bzw. im Tempel) Jhwhs“ (3,3). GB und anscheinend auch 4QSama lassen hier das Tetragramm weg,50 so dass Samuel nur mehr „im Haus“ schläft. Damit wird die bedenkliche Aussage vermieden, dass da einer, der noch nicht einmal Priester war, die Nacht an einem Ort zubrachte, den später einzig der Hohepriester, und auch das nur einmal im Jahr und nach gehörigen kultischen Vorkehrungen, betreten durfte.51 Wohl aus dem gleichen Grund lässt Q auch die nächstfolgenden Worte weg: „… dort, wo sich die Gotteslade befand“ ()אשׁר־שׁם ארון אלהים. In 3,13 wird das Gericht am Haus Elis damit begründet, dass der Vater die Söhne nicht daran gehindert habe, „Gott verächtlich zu behandeln“ ( מקללים )אלהים. So stand dies aber wohl nur in der hebräischen Vorlage von G. In M ist אֱֹלהִיםabgeändert in – ָלהֶםwas keine sinnvolle Aussage ergibt, aber verhindert, dass Gott zum Objekt von קללwird. Schon die Rabbinen orteten an dieser Stelle ein Tiqqun-ha-soferim.
4.43
In der Erzählung vom Verlust der Lade
Zu Beginn der Erzählung 1Sam 4 heißt es bei allen Textzeugen, Israel sei „ausgezogen gegen die Philister“ (4,1). G jedoch schickt dem den Satz voraus: „Und die Philister sammelten sich zum Krieg gegen Israel“ (kai\ sunaqroi/zontai a)llo/fuloi ei)j po/lemon e)pi\ Israhl; in der hebräischen Vorlage wohl: )ויקבצו פלשׁתים למלחמה על ישׂראל. Soll hier nachträglich den Philistern die Kriegsschuld zugeschoben werden?52 Es ist eher umgekehrt: M hat
47 48 49 50 51 52
Vgl. 2Sam 20,25; 1Kön 1,7; 2,35; 4,2. 1Sam 14,3; 22,20. Seltsamerweise wird aber in 2Sam 8,17 auch Zadok mit den Eliden in Verbindung gebracht. Ob in Jerusalem oder in Ägypten, mag offen bleiben. Dies wird nicht der ursprüngliche Text sein: gegen Adair, Method 275. So Rofé, Methods 262–263. So etwa Pisano, Additions 34.
76
Die Samuelbücher als Text und als Literatur
diese Aussage weggelassen,53 um so Israel zum Aggressor zu stempeln und damit seine spätere Niederlage zu erklären.54 Als die Philister von der Ankunft der Lade erfahren, rufen sie gemäß M: „Ein Gott ist ins Lager gekommen“ (בא אלהים אל־מחנה, 4,7). In GBA dagegen heißt es: „Diese Götter sind zu ihnen gekommen“ (ou[toi oi9 qeoi\ h#kasin pro_j au0tou/j, hebräisch wohl: )באו האלהים האלה אלהם. Hier wird, anders als in M, den Philistern ein polytheistischer Fehlglaube unterstellt. Gewiss ist die unpolemische Variante in M primär. Laut M hat Eli Israel „vierzig“, laut G „zwanzig“ Jahre gerichtet (4,18). In den (dtr) Angaben über die Regentschaftsdauer von Richtern begegnen beide Zahlen (jeweils auch mit dem Verb שׁפט, z.B. Ri 8,28 bzw. 15,20). Warum sollte man dem so alt gewordenen Eli nicht vierzig Jahre zugetraut haben? Die Halbierung der Zeit in G erklärt sich gut aus dem letztlich negativen Eli-Bild der Erzählungen.
4.5
In der Erzählung vom Aufenthalt der Lade im Philisterland
Bei G wie bei M finden sich Versuche, das Bild der Philister einzudunkeln: ein vielleicht nicht chauvinistischer, aber doch xenophober Zug. Während nach dem Ketib von M Jhwh die Bewohner der verschiedenen Philisterstädte „mit Beulen schlägt“ (נכה בעפלים, 5,6.9.12), ohne dass betont wird, welche Körperzonen davon speziell betroffen waren, legt das Qere dies fest, indem es dazu anweist, עפליםregelmäßig durch טחוריםzu ersetzen: „Hämorrhoiden“ – was weniger appetitlich, aber auch weniger tödlich wäre als die „Beulen“. G geht noch einen Schritt weiter und lässt die Philister jeweils zusätzlich „auf ihre Hinterteile geschlagen“ werden (kai\ e)pa/tacen au)tou\j ei)j ta\j e#draj au)tw~n, 5,9; e)plh/ghsan ei)j ta\j e#draj, 5,12).55 Setzt G gegen die Philister derbe Anatomie ein, so M (in 6,3) subtile Theologie. Die philistäischen Religionsfachleute empfehlen ihren Landsleuten, die Lade nicht einfach so wegzuschicken, sondern ihr „Sühnegaben“ zu entrichten; „dann wird euch ‚Heilung/Sühnung’ widerfahren“ – so G bzw. Q (e)cilasqh/setai u(mi~n bzw. )ונכפר לכם. Bei M tönt es anders: „… dann wird euch 53 54
55
Gegen Stoebe, Buch Samuelis 129; Smelik, Messages 45; Fokkelman, Art and Poetry 197. Denkbar wäre auch ein Homoioarkton, vgl. ויהיin 4,1a. – Dass nach der ursprünglichen Erzählung tatsächlich die Philister den Krieg begonnen haben, bestätigen einerseits das nachfolgende לקראת, das ohne das G-Mehr „in der Luft steht“ (Wellhausen, Text 54), andererseits die qatal-Form חנוin V.1bb, die das Ausrücken der Philister als vorzeitig kennzeichnet. Schon in der Dagon-Szene, 5,3, findet sich bei GBA ein Plus, das im Wortlaut weitgehend dem M-Text von 5,6 entspricht, aber bereits von den „Hintern“ redet: kai\ e)baru/nqh xei\r kuri/ou e)pi\ tou\j Azwti/ouj kai\ e)basa/nisen au)tou\j kai\ e)pa/tacen au)tou\j ei)j ta\j e#draj au)tw~n th\n Azwton kai\ ta\ o#ria au)th~j („und die Hand des Herrn lag schwer auf den Aschdoditern und er verwüstete sie und er schlug sie auf ihre Hinterteile: Aschdod und sein Gebiet“).
Doch ein Text hinter den Texten
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bekannt werden, warum seine Hand nicht von euch weicht“ ( ונודע לכם למה )לא־תסור ידו מכם. Diese letzte Aussage ist bei G wieder bemerkenswert anders formuliert: „Wird dann56 die Hand Jhwhs nicht von euch weichen?“ (mh\ ou)k a)posth= h( xei\r au)tou= af’ u(mw=n). Kurz danach (in 6,5) werden die Philister aufgefordert: „Gebt dem Gott Israels die Ehre, damit (o(p / wj) er seine Hand leicht mache über euch“ – so wiederum G; M formuliert viel zurückhaltender: „Vielleicht ( )אוליmacht er seine Hand leicht über euch“. Gar zu viel Anteil sollen die Heiden nach M an Jhwhs Grossmut nicht bekommen!
4.6
In der Erzählung vom Kommen der Lade nach Bet-Schemesch
Eine in 6,19 vorliegende Textdifferenz wird man gegen M und für G zu entscheiden haben. G bereitet ein göttliches Strafgericht unter den Bewohnern von Bet-Schemesch so vor: „Und nicht erfreut waren die Söhne Jechonjas unter den Männern von Bet-Schemesch, als sie die Lade des Herrn sahen. Und er schlug unter ihnen …“ Dagegen liest man bei M: „Und er schlug unter den Männern von Bet-Schemesch, denn sie hatten auf die Lade Jhwhs geschaut“ ( כי ראו בארון )יהוה. Das Unheil wird in M also nicht mit dem Fehlverhalten einer einzelnen Sippe erklärt, sondern mit einem einigermaßen rätselhaften Vergehen seitens der gesamten Bewohnerschaft von Bet-Schemesch. Warum hätten die Leute nicht „auf die Lade schauen“ dürfen? Vielleicht, weil diese es nach Meinung der MTradenten generell nicht ertrug, begafft zu werden.57 In der ungewöhnlichen Wendung ( ראה בstatt üblichem )ראה אתkönnte sich auch die Auffassung andeuten, man habe die Lade damals auf ungebührliche Weise betrachtet58 oder gar in sie hinein geschaut.59 Wie auch immer, das große Sterben in Bet-Schemesch wird auf den mangelnden Respekt der Leute vor der Heiligkeit dieses Kultgegenstandes zurückgeführt. Das aber steht in Spannung zu dem vorangegangenen Bericht, wonach die Leute von Bet-Schemesch die Lade freudig und ehrfurchtsvoll in Empfang genommen haben (6,13-14). Vielleicht fanden die MTradenten dieses Bild zu positiv für eine Stadt, die doch gleich so hart „geschlagen“ werden sollte und die zudem in der späteren biblischen Geschichte keine herausgehobene Rolle mehr spielt. 56 57 58
59
mh\ ou)k gibt gewöhnlich nicht למה לאwieder, sondern ( הלאz.B. Ri 6,13; 9,38; 10,11; 14,3; Koh 6,6). So Hertzberg, Samuelbücher 46 mit Verweis auf Num 4,15–20. Wellhausen, Text 65: „Unvermeidlich … war es wohl, die Lade zu erblicken, aber nicht, sie sich zu besehen, wovon hier allein die Rede ist“. Laut Caquot / de Robert, Livres 97, hat der Ausdruck „une nuance péjorative“. HALAT 1080f führt für ראה בals Übersetzungsmöglichkeiten u.a. auf: „den Blick auf jmdm/etw. haften lassen“, „sich weiden an“; für 1Sam 6,19 allerdings wird angegeben: „mit Freude betrachten“: eine unzulässige Vermischung von G und M. Diese Position – die sich allerdings auf keine überzeugenden sprachlichen Seitenbelege in der Hebräischen Bibel stützen kann – wird vertreten u.a. von Barthélemy, Critique 156; Tsumura, Book of Samuel 226; Fokkelman, Art and Poetry 289; Bar-Efrat, Buch Samuel 129.
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4.
Bilanz
Beim Überblick über die vorstehend diskutierten Textdifferenzen in den Samuelbüchern zeigt sich zweierlei: 1. Abweichungen vom vermuteten ursprünglichen Text sind bei G zahlenmäßig eher häufiger als bei M. Doch gerade an kulturgeschichtlich interessanten Stellen ist der ‚Urtext’ auffallend häufig gerade in G erhalten. Dies deutet auf ein relativ hohes Alter der G-Tradition bzw. auf einen relativ frühen Verzweigungspunkt zwischen M und G hin – unbeschadet dessen, dass beide Texttraditionen danach noch eine recht intensive Veränderungsgeschichte durchlaufen haben. 2. Q (soweit vorhanden) stützt die Lesungen von G oft, aber keineswegs immer. Es gibt auch Stellen, an denen Q mit M gegen G zusammengeht, und solche, an denen Q gegen M und G allein steht. Da zuweilen gerade Q (allein oder mit G oder mit M) die älteste Textform bewahrt hat, muss die Q-Tradition ebenfalls weit zurückreichen – was wiederum nicht hindert, dass sie nachträglich noch manche, z.T. midraschartige Anreicherungen erfahren hat. Anscheinend hat sich Q bereits abgetrennt, als M und G noch nicht voneinander getrennt waren. So lässt sich folgendes Schaubild skizzieren: ‘URTEXT’ Q
GM
Q
G-Vorlage
M
Q
G
M
Was unabsichtliche und absichtliche Textänderungen anlangt, ergibt sich folgendes Bild:60 2.1 Lese- und Schreibversehen 3.1 Kürzungen 3.2 Glättungen 3.3 Abschwächungen 3.4 Verdeutlichungen 3.5 Ausschmückungen 3.6 Aktualisierungen
60
M × ×
Q × ×
× × ×
G × × × × × × ×
Es sei ausdrücklich bemerkt, dass die folgenden Schaubilder nicht Quantitäten spiegeln. Wenn also bei einer Textversion häufiger ein Kreuz erscheint als in der anderen, besagt das noch nichts über die jeweilige Fehlerhäufigkeit. Zudem bleiben hier Übersetzungsfehler (oben 2.2) außer Betracht, weil sie naturgemäß nur in der griechischen Textversion zu Buche schlagen.
Doch ein Text hinter den Texten
79
Von besonderem Interesse ist die Verteilung der ‚dogmatischen’ Korrekturen auf die Haupttextzeugen: M 4.1 4.2 4.3 4.4 4.5 4.6
Mehr Höflichkeit zwischen Elkana und Hanna Weniger kultische Rechte für Hanna Aufhellung des Bildes der Eliden bzw. Elis (als Priester) Eintrübung des Bildes der Eliden (zwecks Bestrafung) Samuel darf nicht im Allerheiligsten geschlafen haben Gott darf nicht verflucht werden (Tiqqun-ha-soferim) Israel beginnt den Krieg (um ihn zu verlieren) Die Philister erscheinen als heidnische Polytheisten Die Philister werden verunglimpft (krank am „Hintern“) Den Philistern darf keine Sühnung zuteil werden In Bet-Schemesch wurde die Heiligkeit der Lade missachtet
Q
G ×
× × × ×
×
× × × × × ×
×
Überblickt man diese Tabelle, gewinnt man den Eindruck, dass bei den G-Tradenten gewissermaßen „bürgerliche“ Werte im Vordergrund stehen (guter Umgang zwischen Mann und Frau, Wahrung der Würde des Priesterstandes und des Heiligtums, Spott für Gegner der Juden), während M streng religiös wirkt, konzentriert auf Fragen der Rechtgläubigkeit und des rechten Kultes (Rückbindung der kultischen Rolle der Frau, Verurteilung unheiligen Verhaltens, Begrenzung des Heils auf die Juden). Aus alledem lassen sich nur sehr bedingt Rückschlüsse auf den historischen oder regionalen Wurzelgrund der verschiedenen Texttraditionen ziehen. Zu der oben geäußerten Erwägung, die M-Tradition sei im Umfeld der Zadokiden zu verorten, treten Züge in M, in denen sich deutlich der Kultbetrieb des Zweiten Tempels spiegelt. So mag man, mit aller Vorsicht, die Wurzeln von M im Jerusalem des 3. oder frühen 2. Jahrhunderts suchen. Bei G, auf der anderen Seite, ist recht deutlich eine Auseinandersetzung mit dem hellenistischen Zeitgeist zu spüren. Anlass dazu gab es natürlich auch in Jerusalem, mindestens ebenso jedoch in der Diaspora, speziell in Alexandria, aber auch in Antiochia. Doch empfiehlt sich hier – und erst recht bei Q – (noch) Zurückhaltung im Urteil.
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80
Die Samuelbücher als Text und als Literatur
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Essen und Trinken – ein zentrales Nebenthema in den Samuelbüchern 1.
Verkehrte Welt, richtige Welt: Hunger und Sattsein im Hannalied
Das Hannalied (1Sam 2,1–10) ist eine Art Introitus zur biblischen Königsgeschichte. Wahrscheinlich wurde es erst spät zusammen- und den Samuelbüchern als Deute- und Lesehilfe vorangestellt.1 Seinen Kern bildet eine Reihe von Sätzen, in denen gängige Werte und gegebene Strukturen auf den Kopf (bzw. auf die Füße) gestellt werden:2 Der Bogen von Starken zerbricht, und Strauchelnde gürten sich mit Kraft. Satte verdingen sich um Brot, und Hungrige ruhen sich aus für immer.3 Die Unfruchtbare gebiert Sieben, und die Kinderreiche verwelkt. Jhwh tötet und macht lebendig, schickt hinab ins Totenreich und führt herauf. Jhwh macht arm und macht reich, er bringt zu Fall und er erhöht; er lässt aufstehen aus dem Staub den Niederen, aus dem Kot erhöht er den Armen, um (ihnen) einen Platz zu geben bei den Edlen und sie einen Ehrenthron erben zu lassen. (1Sam 2,4–8a)
Im Neuen Testament, im Magnificat der Maria, hallen diese Sätze wider: „Macht übt er (Gott) aus mit seinem Arm, zerstreut, die hochmütig sind in ihres Herzens Sinn. Er stürzt die Mächtigen vom Thron und erhöht die Niedrigen. Er füllt die Hungrigen mit Gütern und lässt die Reichen leer ausgehen“ (Lk 1,51– 53). Zweierlei fällt ins Auge: erstens, dass in beiden Testamenten solch rebellische Gedanken gerade Frauen zugeschrieben werden, deren Teilhabe an gesellschaftlichem Wohlstand und Einfluss damals noch wesentlich krasser beschränkt war als heute; zweitens, dass sich in beiden Liedern die Frage nach dem Oben und Unten in der Gesellschaft, nach sozialer Gerechtigkeit oder Ungerechtigkeit, im Problem von Hunger und Sattsein konkretisiert. Wo Hunger herrscht, sind die Frauen (mit ihren Kindern) davon meist besonders betroffen. Es ist nicht recht und kann nicht so bleiben, verkünden Hanna und Maria, dass die einen Hunger leiden, während andere satt sind. Diesem Unrecht wäre nicht abgeholfen, wenn die bisher Hungernden eines Tages satt würden, die Satten 1 2 3
Siehe dazu Mathys, Dichter 126–146; Dietrich, Samuel 74–82. Tournay (Cantique 560) spricht treffend vom “renversement des conditions humaines”. Zur Begründung dieser Übersetzung Dietrich, Samuel 68.
82
Die Samuelbücher als Text und als Literatur
aber dafür Hunger litten. Vielmehr das ist die Erwartung, dass die verzweifelt um Essen und Trinken Kämpfenden in Ruhe leben und sich schöner Güter erfreuen dürfen, während die bisher ohne ihr Zutun Satten dann um Essen und Trinken arbeiten und nicht immer weitere Güter bei sich aufhäufen sollen. In Zeiten der Bankenkrise wirken solche Erwartungen höchst aktuell. Doch die Frage nach einer gerechten Verteilung der Güter, voran der Nahrungsmittel, war und ist immer aktuell. Sie verbindet sich mit den anderen, im Hannalied angesprochenen Themen: dass die einen stark, die andern schwach, die einen mit Kindern gesegnet, die andern kinderlos, die einen reich, die andern arm, die einen im Kot, die andern auf Ehrenthronen sind. Eine Ungerechtigkeit stützt und verstärkt die andere. Soll sich etwas ändern, muss das ganze System verändert werden. Die Aussicht einer solchen Veränderung richtet sich im Hannalied einerseits auf Jhwh, andererseits auf das Königtum. Nicht von ungefähr endet das Lied mit den Zeilen: „Er (Jhwh) gebe Stärke seinem König und erhöhe das Horn seines Gesalbten“ (1Sam 2,10). Die dem König von Gott gegebene Stärke soll ihn in die Lage versetzen, die ungerechte Ordnung der Gesellschaft zurechtzurücken. Hannas eben auf wundersame Weise zur Welt gekommener Sohn Samuel wird zwar nicht selbst König sein, er wird aber die ersten beiden Könige Israels installieren. Und deren Aufgabe – wie die aller ihrer Nachfolger – wird es nicht zuletzt sein, im Land für gerechte Verhältnisse zu sorgen. Die Vorstellung, dass der König derlei will und kann, ist so weit hergeholt nicht. Von frühester Zeit an ist es ein fester Topos der altorientalischen Königsideologie, dass der Herrscher seinem Land soziale Gerechtigkeit bringt und erfolgreich gegen den Hunger vorgeht. In einer Elogie auf Schulgi von Ur (21. Jh. v. Chr.) heißt es: „Damit er die Gerste-Häuser des Landes mit Gerste fülle, damit er in den Vorratshäusern des Landes die Waren zahlreich mache … damit er die Gerechtigkeit kein Ende finden lasse, damit er das Böse … im TiefseeOzean festhalte, damit einer den anderen nicht zum Mietling mache, hat Schulgi … auf dem leuchtenden Thron Platz genommen“.4 Ähnlich rühmt sich Idrimi von Alalach (18. Jh.): „Bewohner, die in meinem Land bereits eine Wohnstätte hatten, ließ ich besser wohnen; die aber keine Wohnstätte hatten, denen gab ich eine. Ich ordnete mein Land“.5 Diese Tradition setzt sich im 1. Jahrtausend fort, bei kleinen wie bei großen Herrschern. Der Danunäerfürst Azitawadda sagt von sich, er habe seinen Untertanen „Wohlstand, Sättigung und Wohlsein“ gebracht; „ich zerbrach die Übermütigen, und ich zerschlug all das Böse, das im Lande gewesen war“.6 Panammu von Sam’al will bei seinem Herrschaftsantritt die Getreidespeicher leer und die Gefängnisse voll vorgefunden haben, während es später genau umgekehrt gewesen sei.7 Der Perser Kyros behauptet von sich, er habe in Babylon
4 5 6 7
Zitiert nach Dietrich (/ Dietrich), Gott und Volk 232. TUAT I/5, 504. TUAT I/6, 641. TUAT I/6, 628f. Kilamuwa, ein Vorgänger Panammus, weist mit offenkundiger Befriedigung darauf hin, dass er den muschkabîm, einer bestimmten, wahrscheinlich sozial niede-
Essen und Trinken – ein zentrales Nebenthema in den Samuelbüchern
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„Recht und Gerechtigkeit“ durchgesetzt, „keinen Störenfried aufkommen“ lassen und den Menschen, die unter „Erschöpfung“ litten, „Ruhe“ verschafft.8 In der Hebräischen Bibel finden sich ganz ähnliche Königsporträts. Josef bzw. der Pharao, den er beriet, sollen durch kluge Vorratspolitik verhindert haben, dass Ägypten „vor Hunger zugrunde ging“ wie seinerzeit Kanaan.9 Zu Salomos Zeiten saß in Juda und Israel angeblich „ein jeder unter seinem Weinstock und seinem Feigenbaum“;10 die Menschen „aßen und tranken und waren glücklich“.11 Jeremia attestiert König Joschija, er habe zwar „gegessen und getrunken“ und es sei „ihm gut gegangen“, doch habe er es nicht versäumt, „Recht und Gerechtigkeit“ zu üben und „für das Recht des Elenden und des Armen“ zu sorgen.12 Die hohen sozialen Erwartungen ans Königtum kleidet der 72. Psalm in die Form eines Gebets:13 „Jhwh, gib dein Recht dem König und deine Gerechtigkeit dem Königssohn, dass er dein Volk richte in Gerechtigkeit und deine Elenden nach dem Recht. Die Berge mögen Frieden tragen und die Hügel für das Volk durch [des Königs] Rechttat.14 Er schaffe Recht15 den Elenden des Volkes, helfe den Armen und zermalme die Unterdrücker … Ja, er rette den Armen, der um Hilfe schreit, den Elenden, dem keiner hilft. Er erbarme sich des Schwachen und Armen, das Leben der Armen rette er. Aus Bedrückung und Gewalttat erlöse er ihr Leben, und kostbar sei ihr Blut in seinen Augen“ (Ps 72,1–4.12–14). Man sollte dieses hehre Bild vom Königtum nicht vorschnell als elegisch und ideologisch abtun. Ein Monarch war dank seiner – prinzipiellen – Unantastbarkeit und Unabsetzbarkeit tatsächlich in der Lage, zumindest gelegentlich den Interessen der Mächtigen und Reichen zu widerstehen und sich den Niederen und Armen als Schutzherr zu empfehlen. (Freilich finden sich im Alten Testament genügend Zeugnisse für die Einsicht, dass dem bei weitem nicht immer so war.16)
8 9 10 11 12 13
14
15
16
ren Klasse in seinem Land, zu Vieh, Gold und Silber verholfen habe, vgl. TUAT I/6, 639. TUAT I/4, 408f. Gen 41,36, vgl. 42,1f. 1Kön 5,5. 1Kön 4,20. Jer 22,15f. Zur etwas komplizierten Textgestalt in MT vgl. BHS. Die folgende Übersetzung lehnt sich an die der neuen Zürcher Bibel an, weicht aber gelegentlich auch davon ab. Sorgfältige Erwägungen zur Sprachgestalt des Psalms, insbesondere zu den Zeitebenen, finden sich bei Arneth, „Sonne der Gerechtigkeit“ 20–23. An dieser Stelle folgt die Zürcher Bibel, wie viele, der LXX und lässt die „Hügel“ Subjekt des zweiten Halbsatzes sein: sie „tragen“ – dieses Verb wird ergänzt aus V.3a – „Gerechtigkeit“. Nun heisst aber צדקהnicht „Gerechtigkeit“ (das wäre )צֶדֶ ק, sondern „Rechttat“; ausserdem bietet MT vor dem Nomen eine Präposition: „durch Rechttat“ – nämlich die des Königs. So auch Arneth, „Sonne der Gerechtigkeit“ 21. Arneth („Sonne der Gerechtigkeit“ 21f) übersetzt hier und in V.12–14 indikativisch; doch dürfte eine durchgehende Wiedergabe der gesamten Verbreihe mit Jussiven angemessener sein, vgl. Hossfeld / Zenger, Psalmen 51–100 304f. Am schärfsten sticht hier die Jotam-Fabel in Ri 9,8–15 hervor, die Martin Buber „die stärkste antimonarchische Dichtung der Weltliteratur“ genannt hat.
Die Samuelbücher als Text und als Literatur
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2.
Der König und die Volkswohlfahrt in den Samuelbüchern
In den Erzählungen der Samuelbücher wird immer wieder die Frage ventiliert, ob und wie die Könige für das Wohl des Volkes sorgten – oder ob nicht vielmehr umgekehrt das Volk für das Wohl der Könige zu sorgen hatte.
2.1.
Der König sorgt für seine Untertanen
Von Saul wird berichtet, er habe einmal in ohnmächtiger Wut auf David seine eigenen, ihm eigentlich treu ergebenen Stammesgenossen angeherrscht: „Hört doch, ihr Benjaminiten! Der Sohn Isais wird wohl auch euch allen Felder und Weinberge geben …, dass ihr euch alle gegen mich verschworen habt!“ (1Sam 22,7) Der Vorwurf lässt erkennen, dass Saul seinen Getreuen Landlehen zu verleihen pflegte, von denen diese sich ernähren konnten. Offenbar sammelte schon der erste König Israels (wie die späteren auch) Ländereien an, von deren Erträgen er einerseits den eigenen Hof versorgen und die er andererseits den in seinem Dienst Stehenden als eine Art Entlöhnung überlassen konnte.17 Die Ländereien des Hauses Saul fielen offenbar bei dessen Entmachtung an David, und es wird als besonderer Gnaden- und Freundschaftserweis gewertet, dass David sie Meribaal, dem Enkel Sauls und Sohn seines Freundes Jonatan, übereignete: „Ich werde dir das ganze Land deines (Groß-)Vaters Saul zurückgeben.“18 Für den gelähmten Meribaal soll die Bewirtschaftung ein gewisser Ziba übernehmen; dieser hat fünfzehn Söhne und zwanzig Diener, was auf recht große Landflächen schließen lässt. Später dann, in Zusammenhang mit dem Abschalom-Aufstand, kommt es zu Querelen um den Erbbesitz des Hauses Sauls: Bei seiner Flucht spricht David ihn insgesamt Ziba zu,19 bei seiner Rückkehr aber teilt er ihn zwischen Ziba und Meribaal auf.20 Ein weiterer Gunsterweis Davids gegenüber Meribaal ist es, dass er ihn auf Dauer an die königliche Tafel einlädt.21 Dasselbe Vorrecht räumt der König auch einem Mann ein, der ihn in der Krise des Abschalom-Aufstands tatkräftig unterstützt hat: dem Gileaditer Barsillai. Dieser lehnt das Angebot zwar wegen seines fortgeschrittenen Alters ab, empfiehlt David aber einen gewissen Kimham – wohl seinen Sohn22 – als Höfling: eine Bitte, die der König akzeptiert.23 17
18 19 20 21 22
Martin Noth (Krongut) sprach, in Anlehnung an mittelalterliche Gepflogenheiten, von königlichem „Krongut“. Rainer Kessler (Sozialgeschichte) hält diese Terminologie für anachronistisch und empfiehlt, auf den Begriff zu verzichten (91). 2Sam 9,7. 2Sam 16,4. 2Sam 19,30. Bei ungünstiger Deutung könnte man dies auch als Internierung betrachten: 2Sam 9,11; 19,29. Kimhams Verhältnis zu Barsillai wird hier nicht qualifiziert; es könnte irgendeine Person sein, welcher der Alte wohlwill. Doch Shimon Bar-Efrat (Das Zweite Buch Samuel 202)
Essen und Trinken – ein zentrales Nebenthema in den Samuelbüchern
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Die hohe Verantwortung und die sozialen Implikationen, die die Pflicht des Königs zur Versorgung seiner Leute mit sich brachte, beleuchtet schlaglichtartig die große Erzählung 1Sam 25. In ihr agiert David noch nicht als König, sondern als Anführer einer Freischärlertruppe (mit deren Hilfe er freilich am Ende auf den Thron gelangen wird). Er versorgt seine Leute, indem er bei wohlhabenden Grundbesitzern und Viehzüchtern der Gegend eine Art Naturalsteuer eintreibt. Ein reicher Mann namens Nabal weist ein entsprechendes Ansinnen schroff zurück; statt anderen von seinem Wohlstand abzugeben, feiert er lieber selbst ein „Gastmahl wie das Gastmahl eines Königs“ (1Sam 25,36). So ist er unfähig, die Gefahr wahrzunehmen, die ihm und seinem Haus droht:24 David rückt zu einer blutigen Vendetta an, doch dank der Geistesgegenwart und Tatkraft von Nabals Gattin Abigajil wird das Unheil abgewendet. Es sind einerseits sanfte, kluge Reden, andererseits aber beträchtliche Mengen an Lebensmitteln, durch die sie David umzustimmen vermag: „Zweihundert Brote, zwei Schläuche Wein, fünf zubereitete Schafe, fünf Sea25 geröstetes Korn, hundert Traubenkuchen und zweihundert Feigenkuchen“ gehen an Davids Leute (1Sam 25,18). Man ahnt, was die regelmäßige Versorgung einer Truppe von 400 bis 600 Mann deren Kommandanten an Anstrengung (und die betroffenen Viehzüchter und Bauern an Lebensmitteln) gekostet haben mag. Eine ganz andere Dimension königlicher Fürsorge für die Untertanen kommt in der Erzählung von der Überführung der heiligen Lade in Davids neue Residenz Jerusalem zum Vorschein.26 Im Zuge einer feierlichen Prozession werden Hekatomben von Stieren und Kälbern geopfert – und gewiss, mindestens teilweise, der Festgemeinde zum Verzehr freigegeben. Zum Abschluss der Feierlichkeiten lässt David an „das gesamte Volk“ – es sollen 30.000 Menschen gewesen sein – „pro Kopf ein Fladenbrot, einen Dattelkuchen und einen Rosinenkuchen“ verteilen: rein logistisch eine gewaltige Leistung und von den Leuten gewiss als Akt enormer fürstlicher Großzügigkeit wahrgenommen.
2.2.
Die Untertanen versorgen den König
Die Fürsorge des Königs für seine Untertanen hat eine Kehrseite: Was der König abgibt, muss er irgendwo eingenommen haben. In der Abigajil-Geschichte (1Sam 25) wird das überaus deutlich: Der reiche Viehzüchter soll sich am Unterhalt von Davids Miliztruppe beteiligen. Über deren Rekrutierung berichtet die Bibel: „Und es sammelten sich um ihn (David) alle, die bedrängt waren, und
23 24 25 26
verweist auf 1Kön 2,7, wo David seinem Nachfolger die Fürsorge für „die Söhne des Gileaditers Barsillai“ anempfiehlt, und schließt daraus, Kimham sei Barsillais Sohn. 2Sam 19,32–40. Zu diesem bedrohlichen Aspekt der Trunkenheit – die sonst im Alten Testament durchaus nicht generell verurteilt wird – vgl. Dubach, Trunkenheit 94. Das sind über 60 Liter, vgl. BHH 1163. Der – vermutlich recht alte – Kern der Erzählung 2Sam 6 liegt in den Versen 1.2aba.*12.13.15.17–19. Ihm entstammen die oben gemachten Angaben. Vgl. dazu Dietrich, Überführung.
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Die Samuelbücher als Text und als Literatur
alle, die verschuldet waren, und alle, die verbittert waren“ (1Sam 22,2). Wenn David dafür sorgt, dass diese Leute durch Abgaben Wohlhabender ernährt werden, ist das faktisch eine (teilweise) Umschichtung wirtschaftlicher Ressourcen von oben nach unten – eine überraschende Realisierung der im Hannalied geäußerten Hoffnung auf eine Umwertung der gesellschaftlichen Werte. David trieben zu solchem Handeln wohl weniger altruistische oder (proto-) sozialistische Motive als vielmehr dezidierte Macht- und Herrschaftsinteressen. Er brauchte für seinen Weg nach oben eine Truppe, und für deren Unterhalt hatten Leute wie Nabal aufzukommen. Nabals Widerstand muss nicht als bloßer Geiz, sie kann auch als Widerstand gegen die Herrschaftsambitionen Davids interpretiert werden. Eben solchen Widerstand hatte schon sein Vorgänger Saul erfahren: Als dieser zum König gekürt wurde, weigerten sich einige Leute – der königtumsfreundliche Erzähler nennt sie benê belijja‘al: etwa „gesellschaftsschädigende Elemente“27 –, ihm eine „Gabe“ (minchah) zu überreichen (1Sam 10,27). Im kultischen Bereich bezeichnet minchah ein pflanzliches Opfer. Dort, wo der Begriff für Abgaben an irdische Machthaber steht,28 kann es sich sehr wohl ebenfalls um Naturalabgaben handeln.29 Dann hätten jene benê belijja‘al es abgelehnt, zum Unterhalt des Königs und seiner (unter Saul noch sehr bescheidenen!) Hofhaltung beizutragen. Sie dürften dabei aus ähnlichem Antrieb gehandelt haben wie später Nabal gegenüber David: aus materiellem Eigennutz, aber auch aus Distanz gegenüber dem sich etablierenden, die bisherige Freiheit der Stämme begrenzenden und absehbar Kosten generierenden Königtum. In einer Tribalgesellschaft ist kein Platz vorgesehen für eine Zentralmacht, die Ressourcen für sich abschöpft. Das sollte nach Meinung dieser frühen Gegner des Königtums so bleiben.30 Tribaler und antimonarchischer Geist prägt auch das sog. „Königsrecht“ in 1Sam 8,11–17. Nach dem jetzigen literarischen Zusammenhang soll bzw. möchte Samuel durch seine Verkündung die Ältesten, die ihm gerade den Wunsch nach einem König vorgebracht haben, von diesem Gedanken abbringen. Ursprünglich handelt es sich um ein antikönigliches Pamphlet eher aus der früheren als aus der späteren Königszeit.31 In ihm ist zwar nicht direkt von Naturalabgaben an den Königshof die Rede, immerhin aber von Äckern, Weinbergen 27
28 29 30
31
Renate und Johannes Klein ( ויהי כמחרישׁ191f) äußern die Vermutung, damit werde verdeckt bereits auf das spätere Ringen zwischen Saul und David angespielt, in dem der Ausdruck benê belijja’al wiederholt eine Rolle spielen wird (z.B. 1Sam 25,17.25; 2Sam 16,7; 20,1). Laut HALAT 569 ist dies in Ri 3,15–18; 2Sam 8,2; 1Kön 5,1; 2Kön 17,3f der Fall. Ganz klar trifft dies im mehr privaten Bereich zu: Gen 32,21; Ri 6,18. In seiner Monographie über den „Widerstand gegen das Königtum“ hat einst Frank Crüsemann allzu viele Texte für die Zeit der Entstehung des Königtums in Anspruch genommen. Zu weit in die Gegenrichtung geht Reinhard Müller (Königtum), wenn er die gesamte Königskritik im Alten Testament für eine erst nachstaatliche Erfindung erklärt; vgl. dagegen die Kritik in ThLZ 132 (2007) 306–309 sowie die ausgewogenen Ausführungen Rainer Kesslers über den „Widerstand gegen das Königtum“ (Sozialgeschichte 81–83). Mit Timo Veijola (Königtum 60–66) gegen Reinhard Müller (Königtum), der 1Sam 8,11–17 für insgesamt deuteronomistisch hält (137–146). Vgl. auch den Exkurs und die Einzelauslegung bei Dietrich, Samuel 363–371.
Essen und Trinken – ein zentrales Nebenthema in den Samuelbüchern
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und Ölbäumen, die der König seinen Gefolgsleuten zu Lehen geben wird (1Sam 8,14). Zudem müssen Männer aus dem Volk für ihn pflügen und ernten, und Frauen werden von ihm als Köchinnen und Bäckerinnen32 eingesetzt (1Sam 8,12f). Äußert sich in solchen Texte eine starke Reserve gegen das Königtum, so scheinen sich die meisten Menschen von dieser Institution doch mehr Nutzen als Schaden versprochen und die damit verbundenen Kosten mehr oder weniger willig auf sich genommen zu haben. Von Saul, als er gerade erst heimlich gesalbt war, wird erzählt, drei Männer seien ihm unterwegs begegnet und hätten ihm aus freien Stücken Nahrung angeboten, die sie mit sich führten: Fleisch, Brot und Wein (1Sam 10,4.9). Im Erzählablauf fungieren diese Gaben als Huldigungsgeschenk an den neuen König. Saul baute sich alsbald eine Söldnertruppe auf, die – wie später Davids Freischärlertruppe – gewiss durch Abgaben aus dem Volk ernährt werden musste. Als der König von einem betlehemitischen Bauern namens Isai dessen Sohn David als Gefolgsmann anfordert, schickt ihm der Vater „einen Esel, Brot, einen Schlauch Wein und ein Ziegenböckchen“ mit: offenbar eine Art Einstandszahlung für die Aufnahme in den königlichen Dienst.33 Die Erzählung von Davids Sieg über Goliat gibt in einem kleinen Detail zu erkennen, dass die Bürger auch die im Feld stehende Armee zu unterstützen hatten: David wird von seinem Vater Isai ausgesandt, um seinen älteren Brüdern, die mit Saul im Kampf gegen die Philister stehen, „ein Epha34 geröstetes Korn und zehn Brote“ zu überbringen, dem zuständigen Truppenführer aber „zehn Stücke Käse“ (1Sam 17,17f). Wie Saul, so erscheint auch David wiederholt als auf die Versorgung durch Untertanen angewiesen. Auf der Flucht vor Saul soll er den Priester des Heiligtums zu Nob durch eine Lüge dazu gebracht haben, ihm die heiligen Schaubrote als Wegzehrung auszuhändigen – was hernach von Saul als Unterstützung eines Rebellen ausgelegt wird und zu einem Massaker an der Priesterfamilie führt (1Sam 21f). Nicht so tragisch endet eine andere Episode, in der drei Krieger ihrem Anführer David aus einem von den Philistern bewachten Brunnen Wasser holen (2Sam 23,13–17): ein höchst riskanter Beweis der Gefolgschaftstreue und der Liebe. Risikobehaftet war auch die Unterstützung, die einige Leute dem vor Abschalom fliehenden David gewährten; denn hätte am Ende Abschalom gesiegt und nicht David: sie hätten für ihre Parteinahme gewiss schwer büßen müssen. Der Support für David war erheblich: Ziba, der Verwalter der saulidischen Ländereien, überbrachte ihm „ein Paar gesattelter Esel, zweihundert Brote, hundert getrocknete Trauben, hundert Früchte und einen Schlauch Wein“ (2Sam 16,1). Und drei offenbar begüterte Ostjordanier – die Ammoniter Schobi und Machir 32 33
34
Vgl. dazu den schönen Aufsatz von Schottroff, Zugriff. Ganz ähnlich hatte Hanna, als sie ihren Sohn Samuel zum Tempeldienst nach Schilo brachte, „einen dreijährigen Stier, ein Epha Feinmehl und einen Schlauch Wein“ mitgenommen (1Sam 1,24): als Teilabgeltung der Kosten, die der Knabe am Heiligtum verursachen würde. Ein Trockenmaß von gegen 40 Litern: eine nicht unbeträchtliche Menge also.
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Die Samuelbücher als Text und als Literatur
und der Gileaditer Barsillai –, stellten ihm „Betten, Schalen, Tongeschirr, Weizen, Gerste, Mehl, geröstetes Korn, Bohnen, Linsen, Geröstetes, Butter, Honig, Schafe und Käse aus Kuhmilch“ zur Verfügung (2Sam 17,27–29). All diese Szenen zeigen den König in Notlagen, in denen er auf die Unterstützung ergebener Anhänger dringend angewiesen ist. Doch natürlich hatte die Bevölkerung auch in ruhigen Zeiten den König und seinen Hof zu versorgen. Die Kosten dafür werden in der Zeit, über die die Samuelbücher berichten, noch geringer gewesen sein als in späterer Zeit, als sich das Staatswesen in Israel voll entfaltete.35 Doch von Anfang an benötigten die Könige und ihre Entourage Nahrung und Unterhalt. Davon geben die Samuelbücher einen lebendigen Eindruck. Das Thema „Essen und Trinken in den Samuelbüchern“ erweist sich insofern als ein durchaus politisches Thema. In ihm veranschaulicht und konkretisiert sich die Frage nach der Verteilung von Einfluss und Wohlstand in einer Gesellschaft. Wer hat oder bekommt genug zu essen und zu trinken, und wer zu wenig? Wer hat welchen Bedarf, und wie lässt er sich decken? Wie steht es um die Solidarität der Wohlhabenden mit den Darbenden? Wie kann staatliches Handeln zu einer gerechten Verteilung der Ressourcen beitragen? Solch elementare Fragen entscheiden über das Wohl und Wehe einer Gesellschaft, über Recht oder Unrecht eines Staates.
3.
Mahlzeiten als narrative Wegmarken
Nun sind die Samuelbücher aber nicht (nur) der Bericht nüchterner Historiographen über die Entstehung des Staates in Israel, sondern (auch) das Werk hochbegabter Künstler, die diese historischen Vorgänge in ein narratives Gewand von unvergänglicher Schönheit gehüllt haben. Unter ihren Händen hat die Thematik von Essen und Trinken über die gesellschaftlich-politische Funktion hinaus eine narrativ-künstlerische Dimension erhalten. Vom Esterbuch ist längst bekannt, dass der Gang der Erzählhandlung durch große Mahlszenen markiert wird. Immer, wenn Königin Ester zum Mahl lädt, nimmt das Geschehen eine entscheidende Wende.36 Die Samuelbücher sind, anders als wohl das Esterbuch, nicht Autoren-, sondern Traditionsliteratur: nicht dem Gestaltungswillen eines einzelnen Schriftstellers entsprungen, sondern aus einem vielstufigen Traditions- und Redaktionsprozess erwachsen. Umso er35
36
Die Bibel behauptet das schon für die Hofhaltung Salomos (vgl. insbesondere die horrenden Zahlen über die täglich benötigte Menge an Lebensmitteln in 1Kön 5,2f). Die neuere historische Forschung ist gegenüber solchen Angaben zurückhaltend und tendiert dazu, den voll entfalteten Staat in Nordisrael erst für die Omridendynastie im 9. Jh., in Juda gar erst für das 8. Jh. anzunehmen, vgl. z.B. Niemann, Herrschaft. Vgl. aber den wohlbegründeten und differenzierten Widerspruch von Mazar, Spade. Erich Zenger spricht von vier „Festgelagepaaren“ (1,3 und 1,5; 1,9 und 2,18, 5,4–8 und 6,14–7,8; 9,18 und 9,19), die chiastisch angeordnet seien und „einen wichtigen hermeneutischen Schlüssel für das Gesamtverständnis des Buches“ darstellten (Einleitung 305f).
Essen und Trinken – ein zentrales Nebenthema in den Samuelbüchern
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staunlicher ist, dass auch in den Samuelbüchern Mahlzeiten etwas wie Wegmarken sind, die auf Höhe- und Wendepunkte des Geschehens hinweisen. Dabei entfaltet das Thema „Essen und Trinken“ auch eine generell anthropologische Perspektive, sofern sich in ihm unterschiedlichste Beziehungen von Menschen zueinander spiegeln.
3.1.
Mahlzeiten in den Samuelgeschichten
In der Eingangserzählung der Samuelbücher (1Sam 1) spielt Essen und Trinken eine herausgehobene Rolle. Der Efraimit Elkana pilgert jährlich einmal zum Heiligtum von Schilo, um dort Jhwh zu verehren und Opfer darzubringen. Es zieht jeweils die ganze Familie mit ihm: die beiden Frauen und die Kinder (die freilich alle von der einen stammen – die andere, Hanna, ist kinderlos). Nach der rituellen Schlachtung findet ein Festmahl statt, bei dem fröhlich gegessen und nicht zu wenig getrunken wird.37 Elkana pflegt allen Familiengliedern ein Fleischstück zu reichen – der armen Hanna ein besonders gutes.38 Zwischen den beiden Frauen schwelt ein Eifersuchtskonflikt, und einmal flammt er bei einem solchen Anlass offen auf. Hanna bricht in Tränen aus, Elkana sucht sie zu beruhigen, doch sie steht, „nachdem man gegessen und getrunken hat“ (1Sam 1,9), wortlos auf, um sich verzweifelt-zielstrebig an Gott zu wenden: Wenn er ihr zu einem Sohn verhelfe, sei sie bereit, ihn seinem Dienst zu weihen. Bald danach wird Samuel geboren und ein paar Jahre später an den Tempel von Schilo übergeben. Kulminations- und Wendepunkt des Geschehens war eine Mahlzeit. Samuel wird zum mustergültigen Diener des Priesters Eli und des Gottes Jhwh. Dabei hebt er sich vorteilhaft von Elis eigenen Söhnen ab. Deren Verderbtheit zeigt sich darin, dass sie bei den Opfermahlzeiten von den Pilgern jeweils die besten Fleischstücke für sich verlangen (1Sam 2,12–17) – was nicht nur eigensüchtig, sondern (nach damaligem Opferrecht) offenbar ein regelrechtes Sakrileg ist. Gott ist über die Priesterfamilie so erzürnt, dass er sie durch die Philister auslöscht und durch Samuel ablöst. Ihr Schicksal entschied sich an ihrem Verhalten bei Mahlzeiten.
3.2.
Mahlzeiten in den Saulgeschichten
In den Erinnerungen an Sauls Aufstieg zum Königtum spielt eine geheimnisvolle Mahlzeit eine wichtige Rolle.39 Auf der Suche nach entlaufenen Eselinnen 37 38 39
Das zeigt sich daran, dass der Priester Eli, als Hanna sich im Tempel seiner Meinung nach ungehörig benimmt, sofort übermäßigen Alkoholkonsum annimmt (1Sam 1,14). Zum Verständnis des betreffenden, schon linguistisch schwierigen Passus in 1Sam 1,5 vgl. Dietrich, Samuel, 17.38f. Ob die betreffenden Passagen in 1Sam 9,19.22–24 zur ältesten Erzählebene gehörten oder auf einer späteren Stufe nachgetragen wurden, ist in der Forschung strittig. Für die Zugehörigkeit zur primären Textstufe plädieren etwa Birch (Development) und Mommer (Samuel 103), für die zu einer sekundären Textstufe Schmidt (Menschlicher Erfolg 84f) und Fischer (Saul-Überlieferung 163–181).
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Die Samuelbücher als Text und als Literatur
seines Vaters gerät er zu Samuel, der ihn merkwürdig zielsicher in eine „Halle“ auf der „(Opfer-)Höhe“ einlädt, wo sich „Geladene“ (qeru’îm) versammelt haben (1Sam 9,13.19.22). Offenbar war ein besonderes Fleischstück aufbewahrt worden, das jetzt Saul vorgesetzt wird; „so aß Saul mit Samuel an jenem Tag“ (1Sam 9,23f). Über dem Geschehen liegt eine Aura des Konspirativen. Tatsächlich salbt Samuel Saul am nächsten Morgen zum „Bevollmächtigten“ (nāgîd) und erteilt ihm einen Kampfauftrag gegen die Philister (1Sam 10,1.7). Diese Erzählung von einem, „der auszog, seines Vaters Eselinnen zu suchen und eine Königskrone fand“,40 hat ihre Fortsetzung einige Kapitel später, in 1Sam 13–14: Saul nimmt den Kampf gegen die Philister überraschend erfolgreich auf, gerät zugleich aber in ein seltsames Zwielicht, und dabei spielt wieder eine – freilich eher symbolische – Mahlzeit eine besondere Rolle. Saul hat nämlich vor der Schlacht ein rituelles Speiseverbot erlassen, wohl, um dem Kampf eine religiöse Dimension zu verleihen. Sein Sohn Jonatan jedoch – nach der jetzigen Erzählung41 der eigentliche Sieger der Schlacht – übertritt das Verbot, indem er auf dem Feld wilden Honig zu sich nimmt. Als er auf die Anordnung des Vaters hingewiesen wird, kritisiert er diese als Maßnahme, die nur die Schwächung der Krieger bewirkt habe (1Sam 14,24–30). Um ein Haar hätte der Konflikt mit Jonatans Hinrichtung geendet, die das Kriegsvolk mit knapper Not abwenden kann (1Sam 14,36–45). Damit fallen auf die Souveränität und Autorität Sauls schwere Schatten.42 Als einige Zeit später David an den Königshof gekommen und in die Königsfamilie aufgestiegen ist, ereignet sich, wiederum in Verbindung mit einer Mahlzeit, ein weiterer, beinahe tödlicher Zusammenstoß zwischen Saul und Jonatan (1Sam 20,25–34). Nachdem Davids Platz in der königlichen Tafelrunde zweimal leer geblieben ist, wird Saul misstrauisch und erkundigt sich bei seinem Sohn nach dem Verbleib des Freundes. Als Jonatan vorgibt, David sei dringend in eine andere Tischrunde gerufen worden – mit seinen Brüdern in Betlehem –, bricht es aus Saul heraus: Der Isaisohn wolle die Königswürde an sich reißen, und der Königssohn gewähre ihm auch noch Schutz! Jonatan widerspricht – und der Vater schleudert den Speer nach ihm, freilich ohne zu treffen. Schließlich berichtet die Bibel noch von einer Art Henkersmahlzeit für Saul. Als dieser vor der Entscheidungsschlacht mit den Philistern voller Angst ein Orakel bei einer Totenbeschwörerin einholt und dieses vernichtend ausfällt, bricht er kraftlos zusammen. Die Frau gibt sich daraufhin die größte Mühe, den König durch eine reichhaltige Mahlzeit wieder zu Kräften zu bringen und für seinen letzten Gang zu stärken (1Sam 28,21–25). 40 41 42
Dies die gewinnende Formulierung von Gressmann, Schriften 29. Wahrscheinlich wurde eine alte Saul-Erzählung in eine Jonatan- und damit in eine AntiSaul- und Pro-David-Geschichte umgefärbt. Vgl. Jobling, Saul’s Fall. Vgl. hierzu Hentschel, Saul 82–84. Merkwürdig unverbunden mit diesen Erzählzügen findet sich in 1Sam 14,32–35 eine Episode, nach der Saul die Soldaten vom Genuss blutigen Fleisches abgehalten haben soll: aus kultischer Sicht gewiss ein verdienstvoller Akt. Vielleicht will die jetzige Erzählung sagen, dass er nur nötig wurde, weil die Krieger vorher allzu lange hatten hungern müssen und sich deswegen allzu gierig auf die Beute stürzten.
Essen und Trinken – ein zentrales Nebenthema in den Samuelbüchern
3.3.
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Mahlzeiten in den Davidgeschichten
Davids Aufstieg ist, wie derjenige Sauls, mit einem konspirativen Mahl verbunden. Samuel, der von Gott den Auftrag erhalten hat, noch zu Lebzeiten Sauls dessen Nachfolger zu inaugurieren, fürchtet sich mit Recht vor Sauls Rache. Gott selbst gibt ihm daraufhin den Rat, eine junge mit Kuh nach Betlehem zu nehmen und die Familie Isais zu einem Opfermahl aufzubieten (1Sam 16,1–3). Die feierliche Mahlzeit ist indes nur der Deckmantel, unter dessen Schutz das eigentliche Ziel verfolgt werden kann: die Findung und Salbung Davids. Später kommt es zu quälend langen Auseinandersetzungen zwischen dem regierenden und dem designierten König. Schließlich verliert Saul, zusammen mit den meisten seiner Söhne, im Kampf gegen die Philister sein Leben. Sein Onkel, der Armeechef Abner ben Ner, setzt daraufhin einen überlebenden SaulSohn, Eschbaal, als Nachfolger ein; doch alsbald überwirft er sich mit ihm und trägt daraufhin David die Führung über Nordisrael an. Zur Besiegelung der Übereinkunft kommt Abner persönlich nach Hebron, und David gibt für ihn und seine 20-köpfige Delegation ein festliches Gastmahl (2Sam 3,20). Damit scheint eine weitere Stufe beim Aufstieg zur Macht genommen: David soll nun Herr nicht mehr nur über Juda, sondern auch über Israel sein – doch die hochfliegenden Pläne zerstört Joab, indem er Abner ermordet (2Sam 3,22–27). Damit wächst dem Gastmahl zu Ehren Abners im Nachhinein ein Motiv zu, das manchen literarischen Mahl-Schilderungen innewohnt (und dem auch wir sogleich noch mehrfach begegnen werden): das Motiv vom Mahl als Ort des Scheinfriedens und des Verrats. Ein Hauch davon ist bereits in der nächsten Mahlszene der Davidgeschichten zu spüren: derjenigen, in der der König den Offizier Urija in der Absicht trunken macht, ihn mit seiner Gattin Batscheba zusammenzubringen (2Sam 11,13).43 Batscheba ist von David schwanger, und dessen Manöver verfolgt den Zweck, dem rechtmäßigen Gatten die Vaterschaft unterzuschieben – was aber misslingt und in einem heimtückischen Mord endet. Die Mahl-Motivik bleibt im Fortgang der Erzählung präsent. Der Prophet Natan erzählt David die Parabel von einem armen Mann, der sein einziges Schäfchen so liebt, dass er es „von seinem Bissen essen und aus seinem Becher trinken“ lässt (2Sam 12,3), dem sein Liebstes aber von einem reichen, selbstsüchtigen Nachbarn entrissen wird – eine verdeckte Anspielung auf Davids ruchlosen Einbruch in die Ehe Batschebas und Urijas. Und weiter: Als das aus dem Ehebruch hervorgegangene Kind krank wird und zu sterben droht, ringt David mit Gott um sein Leben – u.a. dadurch, dass er die Nahrungsaufnahme verweigert (2Sam 12,16). Nach sieben Tagen stirbt das Kind doch – woraufhin er sein Fasten umgehend beendet und verlangt, „dass man ihm Speise auftrage. Und er aß“ (2Sam 12,20). 43
Beim ersten Versuch dieser Art hat Urija unter Verweis auf die Lade und auf Joab, die im Felde stehen, gesagt: „Und ich soll in mein Haus gehen, um zu essen und zu trinken und um bei meiner Frau zu liegen? So wahr du lebst, bei deinem Leben, das werde ich nicht tun“ (2Sam 11,11). Unter dem Aspekt der Trunkenheit beleuchtet diese Episode Manuel Dubach in seiner einschlägigen Arbeit (Trunkenheit 95f).
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Die Samuelbücher als Text und als Literatur
Gleich das nächste Kapitel (2Sam 13) bringt zwei weitere Mahlszenen, die voller Täuschung und Heimtücke sind. Der Kronprinz Amnon lockt Tamar, die Schwester Abschaloms und seine eigene Halbschwester, in sein Haus unter dem Vorwand, dass sie ihn durch das Backen spezieller Kuchen von einer (vorgetäuschten) Krankheit heilen solle. Als sie nahe genug ist, packt er sie und vergewaltigt sie (2Sam 13,1–14). Abschalom zügelt seine Wut, wartet zwei Jahre, um dann anlässlich der Schafschur auf seiner Farm ein Festmahl zu veranstalten, zu dem er alle seine Brüder, also auch Amnon, einlädt. Als Amnon vom Wein guter Dinge geworden ist, lässt Abschalom ihn umbringen – und wird damit zum Kronprinzen (2Sam 13,23–29). Doch auch Abschalom kommt um, und Adonija wird Kronprinz.44 Eines Tages veranstaltet er ein großes Festmahl und lädt dazu alle seine Brüder (bis auf Salomo) und fast die gesamte Führungselite Judas ein. Seine Gegner verstehen dies als Krönungsmahl und inszenieren einen kalten Putsch zugunsten Salomos (1Kön 1,9f). So gibt letztlich ein Mahl den Anstoß zur Klärung der Frage nach Davids Nachfolge. Alle drei Hauptgestalten der Samuelbücher werden von ihren Erzählern als zuerst Auf- und dann wieder Absteigende geschildert. Samuel steigt zum geistlichen und politischen Führer Israels auf, überlässt aber diese Rolle, zumindest teilweise, den Königen. Saul steigt zum ersten König Israels auf, doch entgleitet ihm die Führungsrolle Stück um Stück. David steigt zum Herrscher einer Doppelmonarchie auf, doch wird er nach und nach zu einem tragischen Führer: hinters Licht geführt durch seine eigenen Söhne und in Bedrängnis gebracht durch breite Oppositionsbewegungen, am Ende alt und schwach geworden, manipuliert durch seine engste Umgebung und überrollt von Ereignissen, die er nicht mehr selbst zu steuern vermag. Die drei „Biographien“ von Samuel, Saul und David werden in eigentümlicher Weise begleitet und markiert durch Berichte von Mahlzeiten. Dabei finden sich jeweils am Anfang einer Karriere erfreuliche, festliche Mahl-Szenen, während sich an ihrem Ende bedrückende und bedrohliche häufen. Was auf den ersten Blick als zufällig oder nebensächlich erscheinen könnte, erweist sich bei näherem Zusehen als „zentrales Nebenthema in den Samuelbüchern“, das seltsam genau analog zum Gang der Gesamterzählung verläuft. Das ist insofern besonders erstaunlich, als an der Entstehung der Samuelbücher viele Köpfe und Hände beteiligt waren. Gerade die Mahl-Szenen dürften überwiegend dem relativ ältesten Textstratum angehören:45 Einzelerzählungen, die zuerst mündlich in Umlauf gewesen sein mögen, dann aber in kleinere Erzählkränze und schliesslich in die Gesamt-„Geschichte von den ersten Königen
44 45
Die Erzähler schildern ihn wie eine Zweitausgabe Abschaloms, vgl. 1Kön 1,5f mit 2Sam 14,25; 15,1. Im jüngsten Textstratum, dem deuteronomistischen, findet sich bezeichnenderweise nichts zum Thema „Essen und Trinken“. Die Deuteronomisten haben solche Themen zwar in ihren Quellen vorgefunden, waren aber selbst mit anderen, ‚höheren’, nämlich geschichtstheologischen Fragen befasst. Zur Darstellung der frühen Königszeit durch die deuteronomistische Geschichtsschreibung siehe Dietrich, Königszeit 18–33.
Essen und Trinken – ein zentrales Nebenthema in den Samuelbüchern
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in Israel“ integriert wurden.46 Dass „Essen und Trinken“ in so vielen Erzählungen der Samuelbücher eine wichtige Rolle spielt, entspricht dem Umstand, dass dies eine zentrale Lebensäußerung ist. Dass die betreffenden Szenen (bzw. Erzählungen) aber so angeordnet sind, dass sie den Gang der Gesamterzählung spiegeln, das dürfte sich der auswählenden, ordnenden und bearbeitenden Hand jenes großen Literaten verdanken, den ich den „Höfischen Erzähler“ genannt habe47 und der wohl im ausgehenden 8., evtl. im 7. Jahrhundert in Jerusalem gewirkt hat. Er gab den Samuelbüchern ihre Grundform, unter seinen Händen wurden sie zu einem der großen Texte der Weltliteratur, in denen viele „Nebenthemen“ sorgfältig untereinander und mit dem Hauptthema – der Entstehung des Staates in Israel – abgestimmt sind und so das facettenreiche und doch schlüssige Bild hervorrufen, das ungezählte Leserinnen und Leser, aber gerade auch Künstler in seinen Bann gezogen hat.48 Zuweilen freilich gingen die Phantasien der Künstler und die Bedürfnisse ihrer Zeit noch über das hinaus, was die Samuelbücher von sich aus bieten. Dies betrifft auch das Thema „Essen und Trinken“. In einem Bamberger Codex aus der Zeit um 1170/80 n. Chr. findet sich, als Beigabe zu einer Abschrift des Psalmenkommentars von Petrus Lombardus, ein Bildzyklus über König David.49 Diese herrliche Bilderreihe – in manchem vergleichbar einem modernen Comic – will offenbar die Psalmen im Leben ihres (vermeintlichen) Dichters verankern und sie auf diese Weise der damaligen Leserschaft veranschaulichen.50 Zu diesem Zweck werden verschiedene zentrale Geschichten der Samuelbücher ganz unbefangen in die Welt des Mittelalters transponiert.51 Unverkennbar zeigt sich dabei ein aristokratischer, ritterlicher Kontext des Künstlers und seiner Adressaten. Frauen und Männer tragen mittelalterliche Gewänder, Krieger mittelalterliche Kettenhemden. Was ritterlicher Gesinnung nicht entspricht – etwa Meuchelmorde oder Davids Zwist mit Saul oder sein Beiseitestehen bei dessen Tod oder seine eigene Altersschwäche –, bleibt weg; umso ausführlicher wird typisch Ritterliches ausgebreitet: Schlachten etwa (ganz selbstverständlich gezeichnet als Ritterkämpfe) oder höfische Szenen – und, nicht zuletzt, ein aristokratisches Festmahl aus Anlass der Heirat Davids mit Sauls Tochter Michal – über das sich freilich in der Bibel kein Wort findet. Umso animierender ist es, sich ein solches Bankett mit den Augen eines mittelalterlichen Künstlers auszumalen.
46 47 48
49 50 51
Vgl. dazu Dietrich, Königszeit 229–272 („Das Erzählwerk über die frühe Königszeit und seine Vorstufen“). Zu seinen Konturen vgl. Dietrich, David 26–39. Ein vielstimmiges Echo dessen findet sich in dem interdisziplinären Sammelband: Dietrich / Herkommer, König David. Ein geschlosseneres Porträt bietet Dietrich, David 201– 357. Zu seiner Veröffentlichung und Besprechung s. Stolz, Sichtweisen des Mittelalters 497– 530. Diese Absicht entspricht durchaus der „Davidisierung“ schon des biblischen Psalters selbst, vgl. Kleer, „der liebliche Sänger“. Vgl. zum Folgenden die Kurzcharakteristik in Dietrich, David 11–19.
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Festmahl aus Anlass der Verheiratung Davids mit Michal (Aus einem Bamberger Bildzyklus über das Leben Davids, ca. 1170/80 n. Chr.)
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Essen und Trinken – ein zentrales Nebenthema in den Samuelbüchern
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Der Königsmord als Motiv in den Samuel- und Königsbüchern Für Winfried Thiel nachträglich zum 70. Geburtstag1
Das Grundthema der Samuel- und Königsbücher ist die Entstehung und Geschichte des Königtums in Israel und Juda. In lückenloser Folge werden sämtliche Herrscher der beiden langen Königsreihen vorgestellt und in mehr oder minder großer Ausführlichkeit wichtige Daten und Geschehnisse aus ihrer Regierungszeit präsentiert. Über rund hundert biblische Kapitel und über ein halbes Jahrtausend hinweg erstreckt sich dieser große Darstellungsbogen. Es entsteht der Eindruck eines ununterbrochen fließenden Stroms königlicher Herrschaft und staatlicher Geschichte. Doch die scheinbare Kontinuität wird von Beginn an immer wieder durch abrupte Abrisse unterbrochen: Die Samuel- und Königsbücher wissen von erstaunlich vielen Königsmorden zu berichten, denen hier nachgegangen werden soll. Bei der Betrachtung können ausländische Könige außer Betracht bleiben, die gewaltsam ums Leben kamen, sei es mit oder ohne israelitisches Zutun: der Amalekiterkönig Agag (durch die Hand Samuels, 1Sam 15), der Aramäerkönig Benhadad (durch die Hand eines eigenen Offiziers, 2Kön 8) oder der Assyrerkönig Sanherib (durch die Hand seiner Söhne, 2Kön 19). Abzusehen ist auch von den Fällen, in denen israelitische oder judäische Könige im Krieg, d.h. von auswärtigen Feinden, getötet wurden: etwa Ahab (von den Aramäern, 1Kön 22) oder Joschija (von den Ägyptern, 2Kön 23). Nur um solche Könige Israels und Judas soll es im Folgenden gehen, die von innenpolitischen Gegnern umgebracht wurden (oder werden sollten). Das Motiv des Königsmords ist insofern besonders spannungs- und aufschlussreich, als in ihm gegenläufige Tendenzen aufeinander treffen: Tötungsscheu, Ehrfurcht vor dem Monarchen, Staats- und Monarchietreue auf der einen, Tötungsbereitschaft, Recht auf Widerstand, Staats- bzw. Monarchiekritik auf der anderen Seite. Und da die Samuel- und Königsbücher nicht in einem Zuge niedergeschriebene Autorenliteratur sind, sondern über viele Stufen hinweg zu1
Durch eine Verkettung unglücklicher Umstände – man verlasse sich nicht zu sehr auf Datenübermittlung im Internet! – ist dieser Beitrag nicht in ein Buch gelangt, für das er geschrieben wurde: Peter Mommer / Andreas Scherer (Hg.), Geschichte Israels und deuteronomistisches Geschichtsdenken. Festschrift zum 70. Geburtstag von Winfried Thiel, Münster 2010 (AOAT 380). Der Jubilar ist ein von mir hoch geschätzter Fachkollege, den ich schon in seiner Ostberliner Zeit kennenlernen durfte und dessen wissenschaftlicher und persönlicher Weg sich in Marburg, Bochum und vor allem in NeukirchenVluyn mit dem meinen immer wieder gekreuzt hat. Im Herausgeberkreis des „Biblischen Kommentars Altes Testament“ ist er derjenige, der meinen dort erscheinenden Kommentar zu den Samuelbüchern jederzeit kompetent, kooperativ und speditiv betreut. Er selbst schreibt (in der Nachfolge von Martin Noth) den Nachbarkommentar zu den Königsbüchern. Insofern sind die „Samuel- und Königsbücher“ eine uns gemeinsam übertragene Aufgabe.
Der Königsmord als Motiv in den Samuel- und Königsbüchern
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stande gekommene Traditionsliteratur, ist nur zu erwarten, dass sie zu einer solchen Thematik nicht nur eine Meinung bieten, sondern verschiedene und einander womöglich widersprechende.
1.
Wertfreie Darstellungen von Königsmorden
In den Königsbüchern berichtet eine Reihe vergleichsweise lakonischer Notizen von Königsmorden im Nordreich Israel:
1Kön 15,27 1Kön 16,9 1Kön 16,18 2Kön 12,21f 2Kön 14,19 2Kön 15,10 2Kön 15,14 2Kön 15,25 2Kön 15,30 2Kön 21,23
Ermordeter König Israel Juda Nadab Ela, Sohn Baschas Simri Joasch Amasja Sacharja Schallum Pekachja Pekach Amon
Reg.-Zeit
Mörder
2 J. 2 J.
Bascha Simri (Streitwagenkommandeur) Omri (Armeeführer) Höflinge ? Schallum Menachem Pekach (Streitwagenkämpfer) Hosea Höflinge
7 T. 40 J. 29 J. 6 M. 1 M. 2 J. 2 J.2 2 J.
Es fällt auf, dass die meisten der ermordeten Könige, jedenfalls diejenigen aus Israel, nur kurze Zeit – von wenigen Tagen bis zu „zwei Jahren“3 – den Thron innehatten. Offenbar sank die Gefahr eines Putsches, wenn sich ein Herrscher erst einmal fest eingerichtet hatte. Putschbereite Personen oder Kreise erkannten anscheinend rasch, wenn ein Herrscher schwach war bzw. schwachen Rückhalt hatte, und schlugen bald zu. Ferner fällt ins Auge, dass mehrere der gewaltsamen Umstürze ausdrücklich Militärs zugeschrieben werden.4 Das ist so bezeichnend wie glaubhaft. Zumal in vordemokratischen Staaten ist die Armee natürlicherweise ein starker Machtfaktor. In Monarchien, in denen die Thronfolge erblich geregelt ist, sprechen dann, wenn dieses Prinzip aus irgendwelchen Gründen nicht greift, Waffen die klarste Sprache. Auffällig ist schließlich, dass sich die einschlägigen Notizen am Anfang und gegen Ende der Geschichte des Nordreichs häufen. Erst nach einigen Thronstürzen konnte sich die erste kraftvolle Dynastie, die der Omriden, in Samaria etab2 3 4
MT bietet hier irrtümlich „zwanzig Jahre“. Was bekanntlich zwischen 12 und 24 Monaten alles bedeuten kann. Bei einigen Putschisten wird nur ihre Herkunft benannt, doch können auch sie Offiziere gewesen sein.
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lieren.5 Doch schon nach wenigen Jahrzehnten wurde auch sie wieder gewaltsam gestürzt: durch den Streitwagenkommandeur Jehu (wovon unten ausführlicher die Rede sein wird). Die von Jehu begründete Dynastie hielt sich rund ein Jahrhundert an der Macht, bis sich in einer Serie von Thronstürzen der Untergang des Nordreichs ankündigte, den die assyrische Armee vollzog. An den Machtkämpfen, aus denen die Omridendynastie hervorging, waren ausschließlich Militärs beteiligt. Simri war Kommandeur über die Hälfte der Streitwagentruppe, einer seit Salomo in Israel existenten Waffengattung,6 deren technische Komplexität nur von Berufssoldaten zu bewältigen war. Kaum, dass Simri den zuvor amtierenden König Ela ermordet hatte, bildete sich im (Miliz-) Heer, das gegen die Philister im Feld stand, eine Gegenbewegung – doch diese war gespalten. Die eine Hälfte des (Kriegs-)Volks7 favorisierte einen gewissen Tibni ben Ginat, die andere den Armeechef8 Omri. Tibni „starb“ auf nicht erklärte Weise und Omri „wurde König“ (1Kön 16,22). Darauf zog „ganz Israel“ mit Omri aus der philistäischen Grenzregion zur israelitischen Königsstadt Tirza, belagerte und erstürmte diese, und Simri nahm sich das Leben (1Kön 16,17f). Offenbar eliminierte hier das Volksheer den Führer einer Eliteeinheit. Die zweite Serie kurz vor Untergang des Nordreichs wird von Schallum eröffnet, dem Totengräber der Jehu-Dynastie. Doch er kann sich seines Erfolges nur einen Monat erfreuen, dann wird er seinerseits erschlagen: von Menachem. Dieser regiert immerhin zehn Jahre, und nach seinem Tod besteigt sein Sohn Pekachja den Thron. Doch die sich zaghaft andeutende Dynastiebildung wird sogleich durch den nächsten Königsmord abgebrochen. Der Putschist Pekach wird allerdings selbst wieder kurze Zeit später von Hoschea umgebracht. Hinter dem blutigen Wechselbad sind langfristige politische Tendenzen erkennbar: Die Omriden hatten sich Seite an Seite mit den Aramäern gegen das damals erstarkende neuassyrische Reich zur Wehr gesetzt; Salmanassar III. nennt in seinen Annalen den Omriden Ahab als einen seiner stärksten Gegner in der Schlacht von Qarqar (853 v. Chr.).9 Als Jehu ben Nimschi die Omriden beiseite fegte, riss er auch außenpolitisch das Steuer herum; Salmanassar III. zählt ihn zu den ihm Tribut zahlenden Vasallen.10 Schallums Putsch gegen den Nimschiden Sacharja erfolgte womöglich mit ägyptischer Hilfe, suchten doch die Pharaonen immer wieder, ihren Einfluss in der Levante zu erhalten. Dagegen sicherte Schallums 5
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Alt (Königtum 122) spricht im Blick auf diese frühe Zeit Israels von einem „charismatischen Königtum“ und einem „Reich der gottgewollten Revolutionen“. Eher dürften für die vielen Thronwechsel regionale und personale Rivalitäten ursächlich gewesen sein. Thiel (Entwicklungen 155) spricht zusätzlich noch von „politischen Präferenzen“. Vgl. 1Kön 5,6; 10,26. David dagegen wusste mit Wagen und Pferden noch kaum etwas anzufangen: 2Sam 8,4. Mit dieser spezifischen Bedeutung von עַםist dem Kontext zufolge in 1Kön 16,21f zu rechnen. So 1Kön 16,16: שׂר־צבא. Ein Patronym wird nicht angegeben; vielleicht war Omri Ausländer, jedenfalls lässt sich für seinen Namen eine innerhebräische Etymologie kaum finden, vgl. Timm, Dynastie Omri, 21f. Vgl. Galling, Textbuch 50. Galling, Textbuch 51. Die „Regierungskonzeption“ der Omriden und die „Neuorientierung“ unter Jehu beschreibt konzise Thiel (Entwicklungen 158–167).
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Mörder Menachem laut 2Kön 15,19 seine Herrschaft mit einem Tribut an die Assyrer; er erscheint denn auch als Vasall auf einer Tributliste Tiglatpilesers III.11 Das nötige Geld brachte Menachem durch eine Sondersteuer zulasten der freien und wohlhabenden Bürger auf; womöglich war der Putsch gegen seinen Sohn Pekachja eine Reaktion auch auf diese innenpolitischen Vorgänge.12 Wie zu erwarten, betrieb Pekach, der Mörder Pekachjas, wieder eine antiassyrische und proaramäische Außenpolitik.13 Er bzw. Israel wurde prompt von den Assyrern im Zuge des sog. syrisch-efraimitischen Krieges mit schweren Landverlusten bestraft: dies wohl wieder der Grund, warum Hoschea gegen ihn putschte. Zwar gebärdete sich dieser als assyrischer Paladin,14 doch revoltierte er alsbald – typischerweise mit ägyptischer Unterstützung (2Kön 17,4) – gegen seinen Oberherrn und stürzte Nordisrael so in den endgültigen Untergang. All diese Putschnachrichten zeigen nicht nur politische Folgerichtigkeit, sondern auch hohe historische Glaubwürdigkeit. Sie treffen sich denn auch mehrfach mit außerbiblischen Zeugnissen. Offenbar entstammen sie den sog. „Tagebüchern der Könige von Israel“, Annalen, in denen wichtige Daten und Fakten aus der Geschichte des Königreichs festgehalten wurden und die der deuteronomistischen Redaktion als Quelle dienten. Bemerkenswert ist ihre hier wie sonst zu beobachtende Nüchternheit in der Berichterstattung. Wertende Töne fehlen. Die Königsmorde werden weder verurteilt noch gerechtfertigt. Sie fanden schlicht statt, das ist alles. Anscheinend gehörte solche Sachlichkeit und Neutralität zum Duktus dieser Annalentexte,15 sei es, weil ihre Verfasser zu Stellungnahmen nicht befugt waren, sei es, weil sie es für geraten hielten, solche zu vermeiden. Gleiches gilt von den Berichten über die jeweils von Höflingen erschlagenen Davididen Joasch, Amasja und Amon. Offenkundig stammen sie aus den „Tagebüchern der Könige von Juda“, und auch sie enthalten keine deutliche Wertung. Höchstens darin, dass in zwei der drei Fälle vom umgehenden Eingreifen des „Volkes von Juda“ bzw. des Am-ha-aretz, vermutlich des judäischen Landadels, zur Wiederherstellung der Ordnung erzählt wird, könnte eine stillschweigende – freilich wiederum nicht explizite – Verurteilung der Königsmorde liegen. Bei DtrH, dem Grundverfasser des dtr Geschichtswerks, der die „Tagebücher“ als Grundlage für seine Darstellung der Königszeit benutzte, ändert sich im Blick auf die Beurteilung von Königsmorden wenig. Zwar erhalten bei ihm sämtliche dann ermordeten Könige (bis auf Joasch und Amasja) negative Zensuren: Der Judäer Amon wandelte angeblich in den Spuren seines Vaters Manasse, des im dtr Geschichtswerk am schlechtesten beleumundeten Davididen, alle 11 12 13 14 15
Galling, Textbuch 55. Wir befinden uns in der Zeit des Amos, in dessen Botschaft soziale Fragen eine wichtige Rolle spielen (z.B. Am 2,6f; 5,10–12). Vgl. 2Kön 15,29.37; 16,5. Vgl. Galling, Textbuch 59. Darin unterscheiden sie sich kategorial von den neuassyrischen Annalen, die unverkennbar dem Ruhm des jeweiligen Herrschers bzw. der propagandistischen Einschüchterung möglicher Gegner dienen.
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seine nordisraelitischen Schicksalsgenossen ließen nicht von der „Sünde Jerobeams“, dem Staatskult in Bet-El und Dan. Doch Amon ist keineswegs der einzige negativ beurteilte Davidide, und die nordisraelitischen Könige leiden samt und sonders an dem Makel, Jhwh nicht in Jerusalem verehrt zu haben.16 Da nun mitnichten sämtliche negativ beurteilten Könige ermordet worden sind, verbirgt sich hinter jenen Formeln keine Legitimierung des Königsmords. Im Grunde belässt es DtrH bei der Nichtbewertung dieses Phänomens durch die „Tagebücher“.17 Eben dies scheint auch für eine der großen vor-dtr Erzählungen der Königsbücher, die Jehu-Novelle 2Kön 9f, zu gelten. Freilich ist sie literarisch von ganz anderer Machart – um nicht zu sagen: von anderem literarischem Kaliber – als die Geschichtsschreibung der „Tagebücher“ und des DtrH. Sie schildert gleichsam in Nahaufnahmen den für die Geschichte Israels so einschneidenden Wechsel von der Omriden- zur Nimschiden-Dynastie. Die Darstellung gliedert sich in mehrere Teilszenen: A Jehu wird gesalbt und zum König ausgerufen (2Kön 9,1–13.15b)18 B Jehu tötet die Könige Joram von Israel und Ahasja von Juda (2Kön 9,16–29) C Jehu tötet die Königsmutter Isebel (2Kön 9,30–37) D Jehu tötet 70 Angehörige des israelitischen und 42 des judäischen Königshauses (2Kön 10,1–14) E Jehu tötet Baalsdiener in Samaria (10,15f.1918–2720). Erstaunlicherweise lässt sich nicht mit Bestimmtheit sagen, welche Haltung der Erzähler zu den von ihm berichteten, von Blut förmlich triefenden Ereignissen einnimmt. Er enthält sich aller eindeutigen Bewertungen. Als Leserin oder Leser wird man Zeuge eines rasenden, furiosen Geschehens – und weiß nicht, ob man Jehu bewundern und die Ausschaltung seiner Gegner billigen oder ob man ihn für einen skrupellosen Massenmörder halten und seine Opfer bedauern soll. In der Forschung wird überwiegend die Meinung vertreten21, hier beschreibe ein Anhänger der Nimschiden die heroischen Taten des Dynastiegründers; doch gibt es auch die Gegenposition,22 wonach dies die wortlos-schreiende Anklage entfesselter Mordlust sei. Vielleicht ist die Darstellungsweise in 2Kön 9f am 16 17 18
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So erhalten auch Simri, der nur eine Woche regierte, und sogar der Baal-Bekämpfer Jehu jene Negativzensur: 1Kön 16,19 bzw. 2Kön 10,29. Siehe oben Abschnitt 1. Die Salbungsszene ist kräftig dtr ausgeweitet worden, vgl. dazu unten Abschnitt 3. In 2Kön 9,14.15a scheint ein Passus aus den „Tagebüchern“ eingefügt zu sein, der erkennen lässt, wie kurz und trocken auch diese Vorgänge in dieser Quelle abgehandelt waren. Hierhin gehört auch 2Kön 8,28f. 10,17 dürfte von DtrP als „Erfüllungsvermerk“ eingeschoben sein, vgl. Dietrich, Prophetie und Geschichte 22f. Auch dieser Abschnitt ist nachträglich erweitert worden, sodass Jehu nicht mehr nur, wie im ursprünglichen Bericht, Funktionäre des Baalskultes, sondern sämtliche Baalsverehrer in Israel umbringt, vgl. Dietrich, Jehus Kampf. So weist Susanne Otto die Einschätzung der Novelle als eines „objektiven Berichts“ ausdrücklich zurück und charakterisiert sie als „Werbung für Jehus Königtum“ (Jehu 104), wofür sie sich auf eine Wolke von Zeugen beruft (105, Anm. 442). So schildert laut Würthwein der Grundbestand von 2Kön 9f Jehu als „grausamen pietätlosen Usurpator“ (Könige 339f).
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ehesten ambivalent zu nennen. Literatur von hohem Rang – und solche haben wir hier unzweifelhaft vor uns – enthält sich oft klarer Anweisungen an die Lesenden, was sie zu fühlen und zu denken haben; vielmehr zieht sie diese in die geschilderten Vorgänge hinein und lässt sie selbst nach einem Urteil darüber suchen. In unserem Zusammenhang interessiert am meisten die Szene B, die von einem doppelten Königsmord berichtet. Aus den „Tagebüchern“ wissen wir23, dass der vierte Herrscher der Omridynastie, Joram, in einem Krieg gegen die Aramäer verwundet worden war und sich auf der Militärbasis Jesreel24 auskurieren wollte. Die Novelle schildert, wie Jehu diese Gelegenheit zum Aufruhr nutzt.25 Von der Front in Gilead rast er auf dem Streitwagen nach Jesreel, erschiesst dort Joram und sorgt für den Tod auch des mit Joram verbündeten (und verwandten) Judäers Ahasja. Was Jehu zu seinem Furor treibt, erfährt man (zunächst) nicht. Beschrieben wird nicht seine Motivation, sondern – seine Fahrweise auf dem Streitwagen: „Da fährt einer wie Jehu ben Nimschi“, meldet in einer großartigen Teichoskopie-Szene der Turmwächter dem beunruhigten Joram, „er fährt wie ein Verrückter“ (2Kön 9,20). Joram ist mutig (oder leichtsinnig) genug, dem Heranbrausenden persönlich entgegenzufahren und ihn nach dem „Schalom“ zu fragen. Jehu weist dies zurück und spricht von der „Hurerei Isebels“, der Königsmutter – womit nicht sexuelles, sondern kultisches Fehlverhalten gemeint ist (9,22). Damit gibt die Erzählfigur Jehu (nicht der Erzähler selbst!) als Motiv für den gleich folgenden Königsmord religiöse Gründe an.26 Wie aufrichtig das (auf historischer, aber auch schon auf narrativer Ebene) ist, steht dahin; später jedenfalls, als Jehu die Verantwortung für den Tod von 70 Omriden abweist (2Kön 10,9), mag man ihm nicht glauben. Als Jehu seinen Adjutanten auffordert, den toten Joram aus dem Streitwagen zur Erde zu werfen, begründet er dies mit einem „Spruch Jhwhs“, wonach „das Blut Nabots und seiner Söhne auf diesem Ackerstück vergolten“ werden sollte (2Kön 9,25f). Offenbar ist dies eine Anspielung auf einen skandalösen Vorfall, von dem wir auch aus 1Kön 21 erfahren – freilich in einer abweichenden Fassung; denn Jehu spricht nicht von Elija, dafür aber von den Söhnen Nabots, von denen in 1Kön 21 nicht die Rede ist. Diese Differenzen widerraten einer vorschnellen Einschätzung des Passus als eines sekundären literarischen Bindeglieds.27 Gehören die Verse aber zur ursprünglichen Novelle, dann scheint hier ein weiteres Motiv für den Königsmord auf: Rache für einen Justizmord. Doch auch dies sagt nicht der Erzähler selbst, lässt es vielmehr Jehu sagen. Ob er ihm zutraut, es damit ehrlich zu meinen, bleibt wieder offen. 23 24
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2Kön 8,28f; 9,14.15a. Na’aman (Northern Kingdom 407) bezeichnet Jesreel als „the kingdom’s military headquarters”; die Ortslage sei bei Hasaëls Angriffen auf Israel (vgl. 2Kön 10,32f; 13,7.22) zerstört und danach nicht mehr genutzt worden. Ob ihn, wie in 2Kön 9,1–7 behauptet, ein Prophet(enschüler) dazu ermuntert hat oder ob dies insgesamt oder teilweise ein späterer Einschub ist, wird uns noch beschäftigen. Dass dieser Faktor beim Umsturz Jehus tatsächlich eine Rolle spielte, ist durchaus plausibel, vgl. Dietrich, Jehus Kampf. Gegen Fritz, der vorschnell von einer „Nachinterpretation“ spricht (Könige 52).
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Von unerwarteter Seite sind neuerdings ganz andere Gründe für Jehus Bluttat in den Blick gekommen. In der berühmten, Ende des letzten Jahrhunderts aufgefundenen Stele von Tel Dan28 rühmt sich ein Aramäerkönig (mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit Hasaël von Damaskus) dessen, „[Jo]ram, den Sohn des […]“ und „[Ahas]jahu, Sohn des […]“ umgebracht zu haben. Die hier vorgenommene Ergänzung der Namen gründet darauf, dass an anderer Stelle des Textes von „Israel“ und „Davidshaus“, d.h. Juda, die Rede ist; es gibt nur ein Königspaar aus dem Norden und dem Süden, das zeitgleich regierte und dessen Namen so endeten wie auf der Stele: Joram von Israel und Ahasja von Juda. Ob der aramäische Auftraggeber der Stele zu Recht den Anspruch erhebt, diese beiden Könige getötet zu haben, oder ob die Bibel bzw. die Jehu-Novelle Recht hat, die Jehu zu ihrem Mörder erklärt, ist strittig.29 Selbst wenn die biblische Darstellung fiktiv und der Tod der beiden Könige ohne Zutun Jehus erfolgt wäre, bliebe offen, ob eine solche biblische Fiktion dem Ruhm oder der Anklage Jehus dienen sollte. Doch müssen sich die beiden Versionen keineswegs kategorial ausschließen: Jehu könnte im Auftrag Hasaëls oder doch mit seinem Einverständnis gehandelt haben.30 Dann aber wäre seine Motivation vorrangig außenund machtpolitischer Art gewesen, und seine Hinweise auf die „Hurerei“ Isebels und den Mord an Nabot erschienen eher als Vorwand zur Rechtfertigung des Königsmords. Doch wie gesagt: Die biblische Novelle selbst enthält sich einer solchen Deutung.
2.
Warnungen vor Königsmorden
Anders als der Jehu-Erzähler lässt der Prophet Hosea keinen Zweifel an seiner Einschätzung der Vorgänge rund um den Putsch Jehus. Hosea kündigt an, demnächst werde Jhwh „die Blutschuld von Jesreel am Hause Jehu ahnden“ und dem Königtum in Israel ein Ende bereiten (Hos 1,4). Das ist eine scharfe Verurteilung der Königsmorde Jehus. Dessen Saat der Gewalt wird bald in schrecklicher Weise aufgehen. Fast könnte man daraus eine vorweggenommene Rechtfertigung des Putsches Schallums gegen den letzten Nimschiden Sacharja entnehmen, jedenfalls eine düstere Ahnung vom Ende des Nordreichs Israel, dessen Geschichte Jehu entscheidend mitgeprägt hat. Eine ähnlich negative Wertung des Königsmordes wie bei Hosea wird auch in den Samuelbüchern entwickelt, allerdings nicht in einem knappen prophetischen Diktum, sondern in breiter narrativer Diktion. Anschauungsmaterial bot sich den Erzählern genug, kamen doch schon in der frühen Königszeit Israels einige gekrönte Häupter beinahe oder tatsächlich gewaltsam ums Leben. Von 28
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Vgl. die Erstveröffentlichung Biran/Naveh, Aramaic Stele, sowie Tel Dan Inscription. Sie löste eine homerische Forschungsdebatte aus, auf die hier nicht weiter eingetreten werden soll. Für Lemaire (Inscriptions 294–296) liegt die historische Präferenz bei der Jehu-Novelle, für Na’aman (Northern Kingdom 414f) bei der aramäischen Stele. Susanne Otto (Jehu 101) meint, Jehus Aufstand sei „mit Unterstützung Hasaels“ erfolgt.
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David wird berichtet, er habe sich mehrfach in Lebensgefahr befunden, doch wurde er nicht ermordet – so wie er selbst sich mehrfach geweigert haben soll, seinen Vorgänger und Rivalen Saul zu ermorden. Vom Tod Sauls gibt es zwei Versionen: Nach der einen fiel er, von den Philistern in tödliche Bedrängnis gebracht, von eigener Hand (1Sam 31), nach der anderen gab ihm auf seine Bitte hin ein zufälliger Zeuge des Geschehens den Todesstoß: faktisch auch eine Art Königsmord (2Sam 1). Sauls Sohn und Nachfolger, Eschbaal, wurde von eigenen Offizieren im Mittagsschlaf gemeuchelt (2Sam 4), und Abschalom, den immerhin zum König ausgerufenen Sohn und Rivalen Davids, brachten Knechte des Generals Joab zu Tode (2Sam 18). Die Thematik ist also breit präsent in den Samuelbüchern, und zwar, wie es scheint, insbesondere in einer bestimmten literarischen Schicht, die grundlegend für die Endgestalt der Samuelbücher geworden ist: dem von mir so genannten „Höfischen Erzählwerk über die Geschichte der frühen Königszeit in Israel“.31 Folgen wir den einschlägigen Texten in der kanonischen Abfolge! Als David noch gar nicht König ist, sondern sein Aufstieg gerade erst beginnt, droht ihm mehrfach tödliche Gefahr. Saul versucht zweimal, ihn an die Wand zu spießen, verfehlt ihn aber.32 Schließlich bleibt David, der biblischen Darstellung zufolge, nur mehr die Flucht. Er führt ein Vagabundendasein in der judäischen Wüste; von Saul erbarmungslos gejagt, setzt er sich in dem Ort Keïla fest, zieht sich aber von dort, als ihm ein göttliches Orakel den Zugriff Sauls ankündigt, wieder zurück,33 wird schließlich in Ziklag Stadtfürst von der Philister Gnaden – und soll, als einmal Wüstenbanditen den Ort überfallen haben, von den eigenen Leuten gesteinigt werden.34 Es ist ein wechsel- und gefahrvolles Leben, das David damals mit Glück und Geschick bestanden haben soll. Der Gesamterzähler, eben der „Höfische Erzähler“, lässt von Anfang an keinen Zweifel daran, dass nichts und niemand den zum kommenden König Ausersehenen ernsthaft bedrohen oder gar beseitigen kann. Sein ärgster Feind, Saul, wird als zum Scheitern verurteilt, er selbst als von Gott erwählt hingestellt.35 Die sog. Mitseins-Formel („Jhwh war mit David“) durchzieht die Darstellung wie ein roter Faden.36 Der Mord an dem präsumtiven König findet also deshalb nicht statt, weil Gott seine schützende Hand über ihn hält. Doch auch der amtierende König Saul entgeht mehrfach der Ermordung, weil David diese Möglichkeit mehrfach und ausdrücklich abweist. Zwei Anekdoten schildern, wie er als der Gejagte den Jäger Saul in die Hand bekommt und mühelos töten könnte, es aber nicht tut. Offenbar hielt man sich in David-nahen Kreisen etwas darauf zugute (oder meinte eine Erklärung dafür finden zu müssen), dass Saul noch so lange weiterregierte, als Davids Ambitionen auf den 31
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Es entstand im späten 8., evtl. im frühen 7. Jh. und umfasste, ungeachtet einiger späterer dtr und nach-dtr Erweiterungen, bereits den Grundbestand von 1Sam 1 bis 1Kön 2, evtl. bis 1Kön 12. Vgl. Dietrich, Frühe Königszeit 259–273; BK-Samuel 47*–51*. 1Sam 18,10f; 19,10. 1Sam 23,1–13; vgl. dazu die gründliche Analyse von Veijola, David in Keïla. 1Sam 30,6. Vgl. 1Sam 13,8–15a; 15,1–35; 16,1–13. 1Sam 16,18; 17,37; 18,12.28; 2Sam 8,6.14; 1Kön 1,37.
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Thron längst schon deutlich waren. Der Höfische Erzähler hat die beiden Szenen insbesondere durch direkte Reden stark ausgeweitet und dabei Davids Weigerung, den „Gesalbten Jhwhs“ anzurühren (1Sam 24,7; 26,9), in den Mittelpunkt gerückt.37 Die mit Händen zu greifende ‚Moral von der Geschicht’: Gekrönte Häupter, gleich welche Untaten sie sich haben zuschulden kommen lassen und wer sich als Alternative zu ihnen anbietet, sind unter allen Umständen sakrosankt. Wenn selbst der ‚erwählte’ David den ‚verworfenen’ Saul nicht hat töten dürfen, dann kann Königsmord niemals eine politische Option sein. Gleichwohl starb Saul und starb dann auch sein Sohn Eschbaal eines gewaltsamen Todes. Bei Saul ist freilich sehr die Frage, ob von einem Mord zu sprechen ist. Die Exegese ging zumeist davon aus, dass der Amalekiter von 2Sam 1 seinen Todesstoß gegen Saul nur erfunden habe, um sich dadurch Vorteile bei David zu verschaffen.38 In diesem Fall wäre Saul nur von eigener bzw. von der Hand der Philister gestorben. Doch selbst, wenn die Darstellung jenes Amalekiters – zumindest aus der Sicht des Erzählers – korrekt wäre,39 ist es doch fraglich, ob seine Handlung als Mord zu bewerten ist; denn es wäre ja nicht sicher, ob er aus niederen Motiven (wie der Hoffnung auf Lohn) und nicht vielmehr aus echtem Mitleid mit dem unrettbar verlorenen und verwundeten König handelte. David interessieren die subjektiven Beweggründe des Mannes allerdings nicht. Ihm genügt das – vermeintliche oder wirkliche – Faktum der Tötung des Königs für ein Todesurteil gegen den Täter. Seine Urteilsbegründung erinnert an seine eigenen Begründungen dafür, warum er Saul seinerzeit verschont hat: Der Amalekiter habe es gewagt, „den Gesalbten Jhwhs zu töten“ (2Sam 1,14). Unverkennbar bewegen wir uns hier wie dort auf derselben literarischen Ebene: der des Höfischen Erzählers. Analoges gilt für die Ermordung Eschbaals und die anschließende Bestrafung der Mörder durch David. Dieser verweist zur Begründung des Todesurteils ausdrücklich auf die Parallele zu jenem Amalekiter: Wenn er diesen schon habe hinrichten lassen, dann umso mehr zwei Männer, die ihren König hinterlistig erdolchten (2Sam 4,11). Diesmal bezeichnet David freilich den Getöteten nicht als „Gesalbten“– vermutlich, weil in der vorangehenden Erzählung von einer Salbung Eschbaals nicht die Rede war. Stattdessen qualifiziert er ihn als „Gerechten“ ( )צדיקund seine Mörder als „Frevler“ ()רשׁעים. Dies lässt keinerlei Raum für eine Rechtfertigung ihrer Tat. Dabei finden sich im Text Andeutun37
38 39
Zur literarischen Schichtung und zur Intention von 1Sam 24 und 1Sam 26 vgl. Dietrich, Zweifache Verschonung. Dort sind (zusammenfassend 247) die Passagen 1Sam 24,3a.5a.6–8a.9b–11.12–17a.18–23a sowie 1Sam 26,1.*3.8–11,12bβ.16a.18–20a.*21. 23–25a als sekundär, d.h. vom Höfischen Erzähler stammend, ausgegrenzt. Bar-Efrat (Death 274) zählt als Vertreter dieser Position auf: Levi ben Gershon, David Kimhi, Clericus, Thenius, Keil, Klostermann, Kittel, McCarter, Fokkelman, Alter. Die Darstellung des Amalekiters in 2Sam 1 steht in deutlicher Spannung zu derjenigen des Erzählers in 1Sam 31. Bar-Efrat allerdings (Death 275–278) meint, beide Versionen des Todes Sauls schlössen sich nicht aus, sondern ergänzten sich: Zwar habe Saul sich ins Schwert gestürzt (1Sam 31), doch sei er daran nicht gestorben – woraufhin er den Amalekiter bat, seinen Qualen ein Ende zu machen (2Sam 1). Denkbar ist freilich auch in diesem Fall, dass Sauls Bitte eine Erfindung des Amalekiters ist und dieser in Wahrheit den verwundeten König von sich aus zu Tode gebracht hat.
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gen, wonach diese aus Rache, womöglich aus Blutrache, für eine vorangegangene Gewalttat Sauls geschah.40 Doch wieder kann aus der Sicht des Höfischen Erzählers Königsmord nie legitim sein. Schließlich der Abschalom-Aufstand. Im biblischen Bericht über ihn klingt mehrmals an, dass es damals um nicht weniger als um Davids Kopf und Kragen ging. David selbst sagt zu seinen mit ihm aus Jerusalem flüchtenden Begleitern, sein Sohn trachte ihm nach dem Leben (2Sam 16,11). Und der berühmte Ratgeber Ahitofel bietet dem in Jerusalem einrückenden Abschalom an, David sofort mit 12.000 Mann nachzusetzen, ihn zu isolieren und zu töten (2Sam 17,2). Doch sein von David eingeschleuster Gegenspieler Huschai hintertreibt diesen Rat, woraufhin der Höfische Erzähler vermerkt, Jhwh habe dies „angeordnet“, damit er „das Unheil über Abschalom brächte“ (2Sam 17,14b). Jhwh selbst also verhinderte den geplanten Königsmord – ermöglichte jedoch zugleich damit den Mord an Abschalom, der immerhin auch zum (Gegen-)König ausgerufen worden war (2Sam 15,10). War also der eine (Königs-)Mord illegitim, der andere hingegen gerechtfertigt? Keineswegs. Der jetzige Text, wie ihn der Höfische Erzähler gestaltet hat, setzt alles daran, die Liquidierung Abschaloms als eigenmächtige und verbrecherische Tat Joabs hinzustellen, die David mit allen Mitteln zu verhindern versuchte, die er, als sie doch geschehen war, laut und öffentlich beklagte, und die er durch Joabs Absetzung vom Posten des Armeechefs ahndete. Auch von der Ermordung dieses gekrönten Hauptes distanziert sich David (bzw. der Erzähler) also in aller Schärfe. Die Samuelbücher, in denen es an Gewalttaten wahrlich nicht mangelt, problematisieren nicht nur den Königsmord, sondern rohe Gewalt ganz allgemein. David, in seiner Jugend Elitekrieger, Rebellenhauptmann und Söldnerführer, lernt es nach und nach, seine Neigung zu rücksichtsloser Selbstdurchsetzung zu beherrschen, Blutvergießen nach Möglichkeit zu vermeiden, Gewalt eher hinzunehmen als selbst auszuüben.41 (So jedenfalls das literarische Bild, das wiederum wesentlich vom Höfischen Erzähler geprägt ist; inwieweit es historisch zutreffend ist, steht auf einem anderen Blatt.42) In diesem Bild des Königs David haben Königsmorde keinen Platz. Da David eine paradigmatische, vorbildhafte Gestalt ist, lässt sich verallgemeinern: Die Ermordung von Königen 40
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Anscheinend gehörte Beerot zu den Gibeoniterstädten, die laut Jos 9 unter dem Schutz eines Eides Josuas standen, laut 2Sam 4,2f; 21,2.5 aber von Saul gewaltsam in das Gebiet seines Stammes Benjamin eingemeindet wurden. Wichtige Marksteine auf diesem Weg sind Davids Schuldeinsicht beim Massaker an den Priestern von Nob (1Sam 22,22) und sein Verzicht auf ein selbst angerichtetes Massaker aufgrund der Belehrung durch die kluge Abigajil (1Sam 25). Mit einigem Grund kann Dallmeyer (Königsweg) die Samuelbücher als eine Art Entwicklungsroman interpretieren, der das Heranreifen Davids vom jungen, wilden Schlagetot zum starken, selbstbeherrschten Mann zeigt. Die Exegeten McCarter (Apology), McKenzie (King David), Halpern (Secret Demons), auch schon der Romancier Heym (David Bericht) folgen einer ‚Hermeneutik’ des Verdachts, der zufolge die vielfältigen Textaussagen über Davids Bereitschaft zum Gewaltverzicht die zahlreichen, von ihm tatsächlich verübten Morde verschleiern sollen. Abgesehen davon, dass der Beweis dafür kaum mehr zu führen sein wird, zerstört eine solche Argumentation eine besonders kostbare Seite der Samuelbücher: ihr Werben für den Gewaltverzicht.
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scheidet als Mittel politischer Auseinandersetzung aus – eine angesichts der ganz andersartigen Realität in Israel und Juda (wie auch in deren Umwelt) bemerkenswerte Position.
3.
Rechtfertigung von Königsmorden
Der prinzipiellen Ablehnung des Königsmordes in den Samuelbüchern steht eine Reihe von Texten in den Königsbüchern gegenüber, in denen die Ermordung von Königen (in einem Fall auch einer Königin) als angemessen, ja als gottgewollt hingestellt wird. Oben haben wir die Jehu-Novelle als wertneutrale Darstellung eines doppelten Königsmordes interpretiert. Dieser Einschätzung tut keinen Abbruch, dass die Erzählung mit dem Auftritt eines Propheten eröffnet wird, der Jehu salbt und damit zum Gegenkönig macht; denn ein gesalbter Gegenkönig muss, wie gerade das Beispiel Davids lehrt, den regulären König keineswegs umbringen. Im Grundbestand der Novelle hat jener Prophet Jehu denn auch nicht zur Ermordung des Königs aufzufordern; vielmehr lautet die Weisung Elischas an ihn lediglich, er solle Jehu aus dem Kreis seiner Offizierskameraden herausbitten, ihn in eine hintere Kammer führen, ihn dort im Namen Jhwhs zum König über Israel salben und dann sofort „fliehen“ (2Kön 9,1–3). Was Jehu mit dieser Botschaft bzw. dieser Beauftragung anfängt, bleibt ihm überlassen. Er könnte gelassen seine Stunde abwarten. Stattdessen schlägt er sofort nicht nur gegen Joram, sondern gegen die Königshäuser sowohl Israels als auch Judas los. Im jetzigen Text von 2Kön 9 indes findet sich eine ausdrückliche Rechtfertigung nicht nur des Königsmordes, sondern des gesamten Blutbades, das Jehu angerichtet hat – allerdings erst von zweiter Hand. Entgegen der Weisung Elischas hält nämlich jener Prophet Jehu eine flammende Rede: „So spricht Jhwh, der Gott Israels: Ich habe dich gesalbt zum König über das Volk Jhwhs, über Israel.43 Und nun erschlage das Haus Ahabs, deines Herrn, und ich will rächen das Blut meiner Knechte, der Propheten, und das Blut aller Diener Jhwhs von der Hand Isebels. Und zugrunde gehen soll das Haus Ahabs, und ich rotte dem Ahab aus, was an die Wand pisst, Unmündige und Mündige in Israel. Und ich mache das Haus Ahabs wie das Haus Jerobeam ben Nebat und wie das Haus Baschas ben Ahija. Und Isebel sollen die Hunde auf der Gemarkung Jesreel fressen und niemand soll sie bestatten“ (2Kön 9,6b–10a). Nachdem er dies alles gesagt hat, öffnet der Prophet endlich die Tür und „flieht“ (9,10b). Die knappe Anweisung durch Elischa und die umständliche Ausführung durch seinen Beauftragten erweisen dessen Brandrede als Einschub. Ein dtr Bearbeiter – nach meiner alten Auffassung DtrP – wollte Jehus Königs- und Massenmord als von Gott gewollt, als durch und durch berechtigt und notwendig hinstellen. Wie es scheint, waren schon vor ihm die Elija-, Elischa- und Jehu43
Laut 9,3 hätte er nur sagen sollen: „So spricht Jhwh: Ich habe dich zum König über Israel gesalbt“.
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Geschichten zu einem „Prophetischen Erzählwerk vom Kampf Jhwhs gegen Baal“ verbunden worden.44 Schon in diesem Werk war durch Auswahl und Anordnung der Stoffe angedeutet, dass Jehus Wüten die verdiente Strafe für die (angebliche) Gottlosigkeit und Ruchlosigkeit der Omriden – insbesondere Isebels – war. Doch ausdrücklich gesagt und bis ins Einzelne ausbuchstabiert hat dies erst DtrP. Dieser dtr Bearbeiter hat in das dtr Geschichtswerk weitere Prophetenreden ganz ähnlicher Art und mit weithin gleichem Wortlaut eingesetzt,45 mit denen er die gewaltsamen Thronstürze im Nordreich Israel regelmäßig als göttliche Antwort auf die vornehmlich kultischen Verfehlungen der nordisraelitischen Königshäuser hinstellt. Damit gewinnen die Königsmorde den Status der Gottgewolltheit und der religiös begründeten Legitimität. Der Umstand, dass dies erst nachträglich, in der Exilszeit, geschah, nimmt dem Vorgang etwas vom Anschein des Fanatischen und bedenkenlos Gewalttätigen. Gleichwohl bleibt der Eindruck – und er ist von DtrP gewollt! –, dass das Königtum (in Israel, im Grunde aber auch in Juda) eine höchst bedenkliche, von Gott immer wieder hart zurechtgestutzte Institution ist. Im Königtum lauert die Sünde, also müssen immer wieder Königshäuser fallen. Mit dieser Deutung der Königsmorde in der Geschichte Israels vollzieht die dtr Historiographie eine Wende hin zu dezidierter Königskritik.46 Die Erzählung von Aufstieg und Fall der Königin Atalja in 2Kön 11 ist in vielfacher Hinsicht ein Sonderstück in den Königsbüchern. Atalja ist die einzige Frau, die in der Geschichte Judas und Israels den Königsthron bestiegen und immerhin über sechs Jahre innegehabt hat. Die Umstände, unter denen dies geschah, waren außergewöhnlich. Über Nordisrael war der Sturm der Jehu-Revolution hinweggebraust, dem nicht nur das Königshaus der Omriden, sondern auch das omridisch durchsetzte judäische Königshaus weitgehend zum Opfer gefallen waren. Atalja selbst war Omridin.47 Dass gerade sie – als sicher nur eine von mehreren Gattinnen des Königs Joram – Königsmutter war, verrät etwas von der dominanten Stellung, welche die Omriden gegenüber Juda hatten. Davon zeugen auch mehrere Erzählungen, die Juda zur damaligen Zeit förmlich im Schlepptau Israels zeigen.48 Atalja dürfte als Mutter des Erbprinzen und erst recht nach der Thronbesteigung ihres Sohnes Ahasja49 sehr direkten Einfluss auf die Politik Judas genommen haben.50 Nicht von ungefähr zogen, als Joram gegen die Aramäer Krieg führte und dann verwundet wurde, nicht nur Ahasja, 44 45 46
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Vgl. Dietrich, Prophetie im Geschichtswerk. Dort ist auch die Auffassung begründet, dass erst DtrP dieses Erzählwerk ins dtr Geschichtswerk eingebaut hat. 1Kön *11,29–39; 14,7–11; 16,1–4; 21,20bβ–24, auch 2Kön 21,10–15; 22,16f. Dazu Dietrich, Prophetie und Geschichte 9–20. Auf der redaktionellen Endstufe des Geschichtswerks, DtrN, ist die Ablehnung von Königtum und Staat manifest: am augenfälligsten in den königsfeindlichen Passagen von 1Sam 8; 10 und 12. Darin stimmen trotz mancher Unterschiede die Analysen von Veijola (Königtum) und Müller (Königtum) überein. Vgl. 2Kön 8,26. Vgl. insbesondere 1Kön 22 und 2Kön 3. 2Kön 8,25. Dies besagt explizit die Bemerkung in 2Kön 8,18.
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sondern eine große Delegation des Jerusalemer Königshauses nach Norden51 – so, als wollten Vasallen ihrem Oberherrn in einer schwierigen Situation zur Seite stehen und ihn ihrer Ergebenheit versichern. Nur leider fielen nicht nur König Ahasja, sondern auch jene Delegation Jehu in die Hände, was keiner von ihnen überlebte.52 Vermutlich gab es danach kaum mehr jemanden, der in Jerusalem die Regierungsgeschäfte übernehmen konnte – außer Atalja, die Königsmutter. Dass sie den Thron bestieg, dürfte somit kaum Anmaßung gewesen sein, sondern pure Notwendigkeit. In der Person Ataljas hatte die Familie der Omriden, nachdem sie im Norden eliminiert war, im Süden noch eine Zeitlang eine Machtposition inne. Die biblische Überlieferung findet für sie kein gutes Wort. DtrH (und vielleicht schon die judäischen „Tagebücher“) verweigert ihr die üblichen Rahmenformeln und deklariert sie damit stillschweigend als Unkönigin. In 2Kön 11,1 heißt es von ihr, sie habe in Jerusalem die gesamte „königliche Nachkommenschaft“ ausgerottet. Diese Behauptung ist nicht ausgeglichen mit der Nachricht von der Ermordung jener 42-köpfigen Delegation des judäischen Königshauses durch Jehu in 2Kön 10,12–14. Zwar wäre denkbar, dass Atalja das blutige Werk Jehus vollendete, um selbst an die Macht zu kommen und keinerlei Konkurrenz mehr fürchten zu müssen. Wahrscheinlicher aber ist, dass es sich nicht um zwei Massenmorde handelt, sondern um ein und denselben, der aber in 2Kön 11 Atalja angelastet wird, während er in 2Kön 10 (in typisch nicht-wertender Manier) Jehu zugeschrieben ist. Es kann wohl kaum ein Zweifel sein, dass dieser zweiten, der israelitischen Version höhere Glaubwürdigkeit zukommt.53 In der judäischen Version 2Kön 11 wird also Atalja zur Massenmörderin, der aber eine Frau stillen Widerstand leistet: die Schwester des ermordeten Königs Ahasja, Joscheba. Sie habe, so wird erzählt, einen kleinen Neffen vor dem Massaker in Sicherheit gebracht, indem sie ihn mit seiner Amme zusammen in der Bettenkammer54 versteckte. Vermutlich war dies nur ein vorübergehender Fluchtort und kein Langzeitversteck; denn das Kind musste sechs Jahre lang verborgen bleiben,55 ehe der Oberpriester Jojada es den Offizieren der Garde als Thronanwärter präsentierte und gemeinsam mit ihnen zum Schlag gegen Atalja ausholen konnte. Dazu inszeniert Jojada eine förmliche Königsinthronisation, und als Atalja des Vorgangs gewahr wird und ihn als das benennt, was er ist – „Verrat, Verrat!“ –, wird sie verhaftet, abgeführt und auf dem Gelände der königlichen Burg liquidiert. Der Mord an Königin Atalja wird im biblischen Bericht nicht aus neutraler, sondern aus dezidiert parteilicher Sicht geschildert.56 Mit den ersten Sätzen 51 52 53 54 55 56
2Kön 10,13; vgl. auch 8,29. 2Kön 10,14. So mit Levin, Atalja 87. חדר המטות. HALAT 543 bemerkt dazu: „Kammer, in der Decken, Tücher für ִמטָּהaufbewahrt werden“. In 2Kön 11,3 ist vom Tempel die Rede, in dessen Räumlichkeiten der junge Prinz vielleicht versteckt gehalten wurde. Dies spricht gegen die These Levins (Atalja 82), die Erzählung stamme in ihrem Grundbestand aus den judäischen Annalen. Wie trocken diese über Königsmorde zu be-
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schon werden die Lesenden gegen die Frau auf dem Thron eingenommen, indem diese als „blutdurstige Hexe“57 erscheint. Alle Sympathien werden auf den Prinzen Joasch und seine Förderer Joscheba und Jojada gelenkt. Auf deren Seite habe nicht nur die Palastgarde, sondern die gesamte Priesterschaft und der Amha-Aretz,58 ja, Gott selbst gestanden: Von Jhwhs „Haus“ nahm die Revolte ihren Ausgang, zwischen ihm und dem Volk von Juda vermittelte Jojada einen förmlichen „Bund“, und angeblich kam es damals noch zu Ausschreitungen gegen die Baalsverehrer und den Baalskult.59 Der Berichterstatter reiht sich erkennbar in diese national-religiöse Front der Atalja-Gegner ein. Aller Wahrscheinlichkeit nach ist er in priesterlichen Kreisen zu suchen. Sein Held ist der Oberpriester Jojada, der das davidische Königtum von dem Ruch befreit hat, einer Frau, noch dazu einer Omridin und Baalsverehrerin, in die Hände gefallen zu sein. Ihre Liquidierung war in seinen Augen nichts als recht und billig.
4.
Resümee: Die Diskussion um den Königsmord in den Samuel- und Königsbüchern
In der Atalja-Erzählung haben wir einen (und wohl den einzigen) vor-dtr Text der Samuel- und Königsbücher vor uns, in dem ein Königsmord – bzw. der Mord an einer regierenden Königin – mehr oder weniger unverblümt gebilligt wird. Zwar handelt es sich, wie vorhin festgestellt, um einen in vieler Hinsicht exzeptionellen Fall. Dennoch ist erstaunlich und auch ein wenig irritierend, mit welcher Unbedenklichkeit hier ein Vorgehen gutgeheißen wird, das in den Samuelbüchern so nachhaltig problematisiert und insgesamt als unzulässig qualifiziert worden ist. Doch möglicherweise entspricht die kanonische Textabfolge nicht der Geschichte der Textentstehung. Womöglich war es gerade die Kenntnis so mancher gewaltsamen Umstürze in Israel und Juda, die den „Höfischen Erzähler“ skeptisch machte gegen den Königsmord als Mittel der Politik. Vielleicht redete er dem Legalitätsprinzip und der Gewaltbegrenzung bei Thronwechseln das Wort, weil ihn die blutigen Gegenbeispiele in der Geschichte Israels schreckten. Im dtr Geschichtswerk kamen, der erzählten Ereignisfolge gemäß, die Samuel- vor den Königsbüchern zu stehen, woraus sich eine Art Leserlenkung ergibt: Wer von den Samuelbüchern mit ihren schweren Skrupeln vor Gewalt
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richten pflegen, geht aus den Notizen über Joasch, Amasja und Amon (2Kön 12,21f; 14,19; 21,23) hervor. So Levin, Atalja 87. Aus 2Kön 11,20 blitzt noch die Information auf, dass auch Atalja über eine Anhängerschaft verfügte: nämlich in der Residenzstadt Jerusalem, in der es nach dem Sturz der Königin „ruhig“ geblieben sei, während sich das Volk des Landes „freute“. Diese Opposition ist klassisch in Juda, vgl. die Auseinandersetzung zwischen Salomo (Stadt) und Adonija (Land): 1Kön 1,7f.25f.40f. Die betreffenden Passagen – namentlich in 2Kön 11,7.9f.16–19 – weist Levin (Atalja 79) allerdings jüngeren Textebenen zu.
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gegen gekrönte Häupter herkommt, wird über die Skrupellosigkeit der vielen Königsmörder in den Königsbüchern erschrecken. Dieser Wandel fügt sich in das dem dtr Geschichtswerk eingeschriebene Gefälle von der hoffnungsvollen Staatsgründung zum Untergang der Staaten, darüber hinaus: vom Gewinn zum Verlust des Landes bestens ein. Es ist eine zwar nicht geradlinige, aber doch unentwegte Geschichte des Niedergangs, die DtrH geschrieben hat und die folgerichtig in seiner, der exilischen Zeit endet.60 Dahinein passen die vielen Königsmorde, von denen DtrH mit seiner Quelle, den „Tagebüchern“, berichtet und die sich jeweils vor dem Untergang eines der Staaten merkwürdig häufen. DtrP61 hat die Negativtendenz im Werk des DtrH verstärkt, indem er das „Prophetische Erzählwerk vom Kampf Jhwhs gegen Baal“ einbaute, das mit Jehus mörderischem Dreinschlagen gegen die Omriden (und den Baalskult) endete.62 Was die alte Jehu-Novelle noch mit einer gewissen scheuen Ambivalenz geschildert hatte, erschien nun, im größeren Kontext, als göttliche Strafe für begangene Sünde. In den Augen von DtrP waren somit die Königsmorde Jehus (wie auch die Morde an Isebel und Atalja) gerechtfertigt.63 Dies wiederum gab ihm Anlass, weitere gewaltsame Thronstürze durch Propheten angekündigt und als göttliche Strafakte gedeutet werden zu lassen. Die weitgehende Unempfindlichkeit eines DtrP gegen die Skrupel, die in den Samuelbüchern gegenüber dem Königsmord entwickelt wurden, war verursacht durch die Überzeugung, das Königtum sei grundsätzlich keine dem Gottesvolk Israel angemessene Organisationsform. Wenn die meisten Könige in der Geschichte Israels und Judas sündig waren und nun eben einige von ihnen mit dem Leben dafür bezahlten, und wenn auch aus diesen von Gott herbeigeführten Umstürzen nicht etwa Besserung resultierte, sondern immer neue Verschlechterung – was sollte dann Israel an dieser Staatsform verlockend finden? Die Schlussredaktion des Geschichtswerks, DtrN, erhob solche Überlegungen ins Grundsätzliche und formulierte eine prinzipielle Monarchiekritik, die für das Selbstverständnis des nachexilischen Judentums bestimmend wurde. Abgesehen von dem kurzen hasmonäischen Intermezzo war der Traum von einem
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Das ist die unaufgebbare Grundeinsicht Martin Noths (Überlieferungsgeschichtliche Studien). So viele ältere Quellen es gegeben haben mag (und gegeben hat): die erste umfassende dtr Geschichtsschreibung fand erst in der Exilszeit statt – und nicht, wie die sog. Cross-Schule nicht müde wird zu meinen, in vorexilischer Zeit. (Ein ähnliches Urteil bei Thiel, Rückblick 69–75). Ein Kompromissvorschlag, wie ihn Thomas Römer zwischen beiden Grundrichtungen vorgeschlagen hat – ein Vorgängerwerk aus der Zeit Joschijas und das Hauptwerk aus der Zeit des Exils (Deuteronomistic History) –, ist ein ehrenwerter Versuch zur Quadratur des Kreises, ohne dass die Ecken wirklich rund würden. Ich gebe bei dieser Gelegenheit meinem Bedauern Ausdruck, dass Winfried Thiel dem Göttinger Drei-Schichten-Modell zur Entstehung des dtr Geschichtswerks nicht folgen mag und speziell DtrP „das schwächste Glied in der Kette der drei Redaktionen“ nennt (Thiel, Rückschau 75–79, bes. 77). M.E. ist es wegen der mancherlei Berührungspunkte zwischen Jehu- und Atalja-Geschichte wahrscheinlich, dass auch 2Kön 11 erst von DtrP (und nicht schon von DtrH) aufgenommen wurde. Er selbst verstärkte diese Rechtfertigung noch in der (dtr) Schelt- und Drohrede, die Elija dem Ahab auf dem Grundstück des ermordeten Nabot hält (1Kön 21,20bβ–24).
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machtvollen Königreich Israel ausgeträumt. Israel hatte seinen König im Himmel, wo es weder Sünde noch Mordlust gibt.
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Die Samuelbücher als Text und als Literatur
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Haupt- und Nebenfiguren der Samuelbücher
Samuel – ein Prophet? War Samuel ein Prophet? Was für eine Frage! Die Antwort scheint für alle, die das Neue Testament kennen, klar zu sein. Der Verfasser des Hebräerbriefs nennt, als er eine Wolke alttestamentlicher Zeugen für die Kraft des Glaubens aufruft, nach vielen anderen „Samuel und die Propheten“, Samuel also geradezu als Erstling und Anführer der Propheten (Hebr 11,32). Entsprechend lässt Lukas den Apostel Petrus sagen, „alle Propheten von Samuel an“ hätten Christus angekündigt (Apg 3,24), und Paulus lässt er erzählen, wie Gott dem Volk Israel „etwa 450 Jahre lang Richter gab bis zu Samuel, dem Propheten“ (Apg 13,20). Hier allerdings gerät Samuel schon in eine Doppelrolle: Wohl ist er Prophet, zugleich aber, wie es scheint, auch der letzte der Richter oder Retter Israels. Komplexer noch erscheint das Samuel-Bild des Jesus Sirach. In seinem sog. Lob der Väter lässt er eine große Ahnenreihe des jüdischen Volkes Revue passieren, von Noach und Abraham bis zum Hohenpriester Schimon (218-192 v. Chr.). Samuel wird vorgestellt als „Geweihter des Herrn im Prophetenamt“, doch fährt der Text dann fort: „Samuel, ein Richter und Priester. Durch das Wort Gottes errichtete er das Königtum“ (Sir 46,13). Geweihter, Prophet, Richter, Priester, Königsmacher – das ist eine recht bunte Reihe, und doch ist es bereits eine Vereinfachung der Darstellung Samuels in den Samuelbüchern.
1.
Samuel in den Samuelbüchern
Das Bild Samuels in den nach ihm benannten Büchern der Hebräischen Bibel1 setzt sich aus sieben Facetten zusammen. Keineswegs alle von ihnen zeigen ihn als Propheten – und wenn, dann in irritierend unterschiedlichen Attitüden.
1.Facette: Samuel kommt unter wunderbaren Umständen zur Welt (1Sam 1f) Das Samuelbuch setzt mit dem Stammbaum von Samuels Vater Elkana ein (1Sam 1,1). Es war offenbar eine vornehme Familie; darauf deutet der viergliedrige Stammbaum, der hier geboten wird. Elkana hat zwei Frauen, doch die, die er liebt, Hanna, hat keine Kinder. Dann aber erkämpft sich Hanna von Gott ein Kind: mit dem Versprechen, es ihm später zurückzugeben. Leitwort der gesamten Erzählung ist das Verb š-’-l, „(er)bitten“. Hanna „bittet“, der Priester Eli verheißt ihr die Erfüllung des „Erbetenen“, und als das ersehnte Kind geboren ist, nennt sie es Schemu’el. Dieser Name wird vom Verb š-’-l hergeleitet; doch 1
Vgl. dazu Mommer, Peter, Samuel, in: TRE 30, 1999, 1–5; Dietrich, Walter, Die frühe Königszeit in Israel, Stuttgart 1997, 34–43.
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Haupt- und Nebenfiguren der Samuelbücher
hätte darauf mindestens ebenso gut der Name Scha’ul gepaßt, der Name des ersten Königs, den Samuel einsetzen wird. So zeichnet sich von Anfang an eine schicksalhafte Verbundenheit zwischen Samuel und dem ersten König Israels ab.
2. Facette: Samuel wird von Gott einer Traumvision gewürdigt (1Sam 3) Hanna gibt ihr Kind, wie versprochen, nach einigen Jahren Jhwh zurück, indem sie es zu dem Heiligtum bringt, wo sie es Gott abgerungen hat: Schilo. Der Kleine wird zum Priesterzögling und Gehilfen Elis. Als dessen zwei Söhne (und eigentlich auch der Vater) im Priesteramt versagen, beschließt Gott, sich an den jungen Samuel zu halten. Es ist eine wundervoll erzählte Geschichte: Wie Gott des Nachts den Samuel ruft (aber nur wir Lesenden wissen, dass es Gott ist – Samuel und Eli wissen es nicht); wie daraufhin der Knabe jedes Mal brav (allerdings mit merklich abnehmendem Eifer) zu Eli läuft und sich meldet, weil der ihn ja gerufen habe. Und Eli sagt jedes Mal (allerdings mit zunehmender Anteilnahme für das arme Kind, das offenbar Schlafstörungen hat), er habe nicht gerufen. Beim dritten Mal endlich merkt er, dass Gott mit Samuel reden will, und weist ihn entsprechend ein. Samuel erfährt dann, dass Gott mit Israel und speziell mit den Eliden Schreckliches im Sinn hat. Wider Willen muss er es seinem Lehrmeister mitteilen. Am Ende heißt es, ganz Israel habe nun gewusst, dass Samuel Prophet (nabî’) sei, und Gott habe nie auch nur ein Wort von ihm „zur Erde fallen lassen“.
3. Facette: Samuel wird als Retter und Richter der Stämme Israels mit dem Wunsch nach einem König konfrontiert (1Sam 7f) Das angekündigte Unheil trifft, natürlich, ein. Bei einem Krieg gegen die Philister wird die Priesterfamilie der Eliden fast völlig ausgelöscht, und die heilige Lade, die von ihr gehütet wurde, geht verloren. Gut zwei Jahrzehnte später beruft Samuel – gleich einem Volkstribun –eine Volksversammlung ein. Als die Philister davon erfahren, greifen sie an. Sie treffen Israel bei einer Art Gottesdienst an, den Samuel als Priester leitet. Eher von Gott als von Israel werden die Feinde schwer geschlagen. So wird Samuel, wie zuvor die Kriegshelden Gideon oder Jiftach, zum Retter Israels. Er fungiert dann aber auch als Richter, und zwar zieht er im Gebiet des Stammes Benjamin von Ort zu Ort und spricht Recht: angeblich über ganz Israel. Im Innern wie nach außen scheint damit alles in Ordnung zu sein; doch Samuel wird alt, bereitet die Übernahme seiner Aufgaben durch seine Söhne vor – und die versagen (genau wie einst die Söhne Elis). Da kommen, gewarnt durch die früheren, schlimmen Erfahrungen, die Ältesten Israels zu Samuel und fordern von ihm einen König „wie die Völker um uns
Samuel – ein Prophet?
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her“. Das ist einerseits verständlich, andererseits bedenklich. Samuel warnt in Gottes Auftrag vor den sozio-ökonomischen Kosten der Monarchie, gibt sich also als Königtumskritiker, doch die Volksvertreter bleiben dabei: Sie wollen mehr innere und äußere Sicherheit. Da fordert Gott Samuel auf, ihrem Wunsch nachzukommen, und der schickt sie, vorerst, nach Hause.
4.Facette: Samuel setzt Saul ein (1Sam 9–11) Der Erzählfokus schwenkt zu dem Ort Gibea in Benjamin, zu einem gewissen Kisch, auch er offenbar vornehmen Geschlechts. Eines Tages schickt er seinen Sohn Saul los, um entlaufene Eselinnen zu suchen. Nach langer Irrwanderung möchte Saul in einer bestimmten Stadt einen „Gottesmann“ oder „Seher“ befragen (wie den Lesern erklärt wird: eine ältere Bezeichnung für Propheten: 9,9). Und dann steht er unversehens Samuel gegenüber, der schon auf ihn gewartet hat (weil Gott ihn vorweg aufgeklärt hatte). Nach einer geheimnisvollen Szene bei einem Festmahl, wo Saul von Notabeln als Fürst behandelt wird, salbt Samuel ihn zum König, wird also zum Königsmacher. Einige „Zeichen“, die Saul seiner Berufung gewiss machen sollen, gehen prompt in Erfüllung. Danach beruft Samuel wieder eine Volksversammlung ein: wieder ganz der Volkstribun. Nach einer strengen Rede, dass die Einsetzung eines Königs doch eine höchst problematische Angelegenheit sei, wird per Loswahl aus den Stämmen, Sippen, Familien schließlich Saul ausgewählt. Als er unters Volk tritt und von Samuel als der von Gott „Erwählte“ bezeichnet wird, ist der Jubel groß; nur einige Querköpfe verweigern Saul die Gefolgschaft. Doch als dieser, zusammen mit Samuel als Königsberater, einen glänzenden Sieg über die Ammoniter erringt (ein Nachbarvolk im Osten, das sich aggressiv benommen hat), sind alle Zweifel verflogen, und Saul wird feierlich inthronisiert.
5. Facette: Samuel tritt zurück und alsbald Saul entgegen (1Sam 12–15) Samuel tritt von seinem Amt als Richter und Volkstribun zurück und klärt noch einmal in einer großen Versammlung über die Hauptgefahr des Königtums auf: dass Israel sich statt auf Gott auf den König verlasse. Hier erscheint Samuel als Königskritiker. (Die Entgegensetzung von Königsherrschaft und Gottesherrschaft ist übrigens im Alten Orient einmalig; normalerweise arbeiten die irdischen Könige mit den himmlischen Hand in Hand.) Prompt kommt es alsbald zum Konflikt. Bei der Eröffnung eines Kampfes gegen die Philister wartet Saul (angeblich oder wirklich) nicht geduldig genug auf das Erscheinen und Mitwirken des Königsberaters und Priesters Samuels. In einem zweiten Fall, als Saul vom Propheten Samuel aufgefordert war, die Amalekiter mit Mann und Maus auszurotten, verschont er den König und die besten Beutetiere. Beide Male tritt ihm Samuel entgegen und erklärt ihm, Gott habe ihn verworfen und einen Ande-
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Haupt- und Nebenfiguren der Samuelbücher
ren zum König ausersehen. Samuel, wird berichtet, sei darüber sehr traurig gewesen.
6. Facette: Samuel salbt David und nimmt ihn vor Saul in Schutz (1Sam 16,1–13; 19,18–24) Gott reißt Samuel aus seinem Kummer und befiehlt ihm, einen neuen König zu salben. Samuel wendet ein, das sei zu gefährlich; vielleicht widerstrebt ihm der Auftrag auch. Auf Gottes Rat tarnt er sich als eine Art Priester, der in Betlehem ein Opfer zelebrieren will. Er lässt sich die Söhne eines gewissen Isai vorstellen und muss von Gott daran gehindert werden, den Falschen zu salben. Am Ende holt man den Kleinsten, David, und der ist es! Samuel wird zum zweiten Mal zum Königsmacher. – Nur einmal kreuzen sich in der Folgezeit die Wege der drei Männer: Samuel, Saul und David. David ist mittlerweile bei Saul aufgestiegen, dann aber in Ungnade gefallen. Er flieht zu seinem Mentor Samuel, der jetzt Leiter einer Prophetenschule zu sein scheint. Als Saul David dort festnehmen lassen will, fallen zuerst seine Häscher, dann er selbst in prophetische Trance. So entkommt David.
7. Facette: Samuel kündigt Saul aus dem Totenreich heraus sein Ende an (1Sam 28) Als Samuel stirbt, hält ganz Israel um ihn Totenklage. Kurz darauf stellen die Philister Saul zum Endkampf. Dieser sucht angesichts der Überlegenheit der Feinde mit Gott Kontakt aufzunehmen – ohne Erfolg. In seiner Not wendet er sich an eine Totenbeschwörerin, die ihm tatsächlich Samuel aus der Unterwelt heraufzuholen vermag. Doch Saul bekommt von ihm nicht guten Rat, sondern ein vernichtendes Orakel: Er sei von Gott verworfen, und morgen werde er mit seinen Söhnen bei Samuel in der Totenwelt sein. Auch diese letzten, postumen Worte des Propheten und Königsgegners Samuel gehen unerbittlich in Erfüllung. Dies sind die sieben Facetten des Bildes Samuels in den Samuelbüchern; jede von ihnen lässt nochmals mehrere Teilfacetten an der Gestalt Samuels aufleuchten. Unweigerlich stellt sich die Frage: Ist das denn alles historisch korrekt? Ist Samuel wirklich alles zugleich gewesen: Priester, Kriegsherr, Richter, Volkstribun, Orakelmedium, Königsmacher, Königsberater, Königsgegner – und obendrein noch Gottesmann, Seher, Prophet? Und wenn er Prophet war: War er dann für das Königtum oder dagegen, war er für Saul oder für David? Diesen Fragen soll jetzt in einem zweiten, historischen Durchgang nachgegangen werden.
Samuel – ein Prophet?
2.
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Die Frage nach dem historischen Samuel
Samuel lebte gemäß der biblischen Darstellung zur Zeit der Staatengründung Israels, d.h. um 1000 v. Chr. Das ist in der Geschichte Israels fast etwas wie „graue Vorzeit“. Israel war ein kleines Völkchen, und es lebte nicht in den Wiegen der altorientalischen Kultur (am Eufrat und am Nil). Seine Anfänge waren sehr bescheiden:2 Kleine Dörfer im unwegsamen und unwirtlichen Bergland der südlichen Levante, noch kaum Möglichkeiten zu künstlicher Bewässerung, daher eine sehr karge Landwirtschaft, verbunden mit Kleinviehzucht: kleine Bergbauern also mit bescheidenen Häuschen, einigen winzigen, steinigen Äckerchen und ein paar Schafen und Ziegen. Solch eine Lebensweise lässt von vornherein keine anspruchsvollen Geschichtszeugnisse erwarten. Derlei gab es bei den Ägyptern und Babyloniern, auch noch bei den Phöniziern. Aus Israel haben wir bis ins 9. Jahrhundert so gut wie keine schriftliche Hinterlassenschaft. Und auch die übrigen materiellen Zeugnisse aus dem israelitischen Bergland – Hausfundamente, Keramik, Schmuckstücke – sind äußerst bescheiden. Erst aus späteren Epochen, als sich auf dem Boden Israels Staaten herausgebildet und gefestigt hatten, tauchen nach und nach einigermaßen verlässliche schriftliche Quellen auf. Es kann also, das ist vornherein klar, zeitgenössische Textzeugnisse über Samuel nicht geben. In Israel hätte sie niemand herstellen können, in den Nachbarvölkern interessierte sich wohl niemand dafür. Und die biblischen Texte? Nun, die Hebräische Bibel, jedenfalls deren Geschichtserzählungen, sind Traditionsliteratur: Man erzählt sich über diese oder jene Gestalt, über dieses und jenes Ereignis, die Erzählungen wachsen und verändern sich. Irgendwann gehen erste Sammler ans Werk, entstehen Erzählreihen, vielleicht auch einmal etwas wie ein durchgehendes Erzählwerk: mit Geschichten über die ersten Könige oder über Kämpfe mit den Philistern oder über Heldentaten israelitischer Krieger, über die ersten Könige Israels. Und in einigen solchen Erzählungen könnte ein gewisser Samuel eine Rolle gespielt haben, der irgendwo im Grenzbereich zwischen den Stämmen Benjamin und Efraim lebte und wirkte. Aber man bedenke: Bis derlei das erste Mal in größerem Stil aufgeschrieben wurde – vermutlich im Umfeld der Königshöfe –, vergingen nicht Jahrzehnte, sondern wohl Jahrhunderte. In dieser Zeit haben sich mit den geschichtlichen Erinnerungen die in diesen aufbewahrten Gestalten verändert, haben neue Geschichten an sich gezogen, haben Tradentenkreise gefunden, die ganz bestimmte Absichten verfolgten und dies genau an dieser Gestalt deutlich machen wollten. Mir scheint, es ist kein Wunder, dass unter diesen Umständen nicht nur das biblische Bild Samuels äußerst facettenreich ist, sondern dass auch die Forschungsmeinungen darüber, wer Samuel gewesen sei, weit auseinander gehen. Einig sind sich allerdings alle Forscher darin, dass aus den Angeboten, die die Bibel zur Bestimmung der Identität Samuels macht, ausgewählt werden muss. 2
Vgl. dazu Finkelstein, Israel, The Archaeology of the Israelite Settlement, Jerusalem 1988; Zwingenberger, Uta, Dorfkultur der frühen Eisenzeit in Mittelpalästina, 2001 (OBO 180).
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Haupt- und Nebenfiguren der Samuelbücher
Es ist kaum möglich, dass ein Mann all das gewesen ist und getan und gedacht hat, was von Samuel erzählt wird. Offensichtlich verlangte die Darstellung dieser höchst brisanten Übergangszeit – von einem dezentralen Stämmesystem zu einem zentral gelenkten Staat3 – nach einer geradezu übermenschlich großen und vielschichtigen Gestalt, die das damalige Hin und Her, alles Für und Wider in sich vereinigen und ausgleichen und zu einem am Ende einigermaßen überzeugenden Ergebnis führen konnte. So wurde Samuel im Lauf der Traditionsgeschichte zu mehr, als ein Mensch sein kann. Drei Positionen aus der neueren Forschungsgeschichte sollen hier kurz nachgezeichnet werden. Artur Weiser4 meinte in den 1960-er Jahren, Samuel sei tatsächlich Prophet gewesen und habe als solcher wesentliche Hilfestellung gegeben zur Einrichtung des Königtums in Israel. Andererseits sei er aber dafür eingestanden, dass die neue Institution nicht einfach so wurde, wie sie bei den Nachbarvölker und auch im Land Kanaan schon seit vielen Jahrhunderten war. Genau das aber hatten laut 1Sam 8 ja die Ältesten von Samuel ausdrücklich verlangt – und Samuel als treuer Prophet des Gottes Jhwh wollte genau das nicht; vielmehr wollte er ein besonderes, ein spezifisch israelitisches, ein gewissermaßen jahwistisches Königtum. Eben diesem Ziel dient die lange Suchbewegung in den Texten: Gott muss dem Königsmacher einen geeigneten Mann zuschicken, dieser muss vom Volk gekürt werden, er muss sich als mit Gottes Kraft begabt ausweisen. Und wenn er sich ins Bild Gottes, wie ein König Israels zu sein habe, nicht mehr fügt, dann muss er verworfen und es muss ein neuer König gesucht werden, der „nach Gottes Herzen ist“. Für all dies sorgt eben der Prophet Samuel. Peter Mommer5 schrieb etwa 30 Jahre später eine Monographie, in der ein völlig anderes Bild des historischen Samuel gezeichnet wird. Hier ist Samuel nicht Prophet, sondern ein religiös-politischer Volkstribun, der „letzte Richter Israels“. Er war auch nicht Königsmacher, sondern gerade Königskritiker. Keineswegs hat er (und natürlich schon gar nicht hat Gott) Saul ausgewählt und zum König erhoben, sondern das Heeresvolk: nach dem glanzvollen Sieg über die Ammoniter. Samuel stand damals auf der Gegen-, der königtumskritischen Seite. Kein Wunder, war bis dahin doch er es, der in Israel das Sagen hatte (und der sicher auch überzeugt war, dass seine Führung bzw. die seines Gottes Israel besser bekommen würde als die eines Königs). So „konkurrieren der neu entstehende Staat und die vorstaatliche Ordnung miteinander, was sich im Konflikt der jeweiligen Repräsentanten niederschlägt“ (216). Der Crash wird historisch korrekt im Kern der Überlieferungen 1Sam 13,7–15 und 1Sam 15 wiedergegeben. All diejenigen Erzählungen dagegen, die Samuel in einem positiven Verhältnis zu Saul (und erst recht zu David) zeigen, sind Ausfluss späterer Legitimationsbemühungen zugunsten einer Institution, die sich schon sehr bald als 3
4 5
Vgl. dazu Alt, Albrecht, Die Staatenbildung der Israeliten in Palästina, in: Ders., Kleine Schriften zur Geschichte des Volkes Israel, München 31964, 1–65; Dietrich, Walter, David. Der Herrscher mit der Harfe, Leipzig 2006, 98–119. Weiser, Artur, Samuel. Seine geschichtliche Aufgabe und religiöse Bedeutung, 1962 (FRLANT 81). Mommer, Peter, Samuel. Geschichte und Überlieferung, 1991 (WMANT 65).
Samuel – ein Prophet?
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problematisch erweisen sollte: das Königtum. Prokönigliche Kreise also sorgten dafür, dass Samuel nachträglich zum Königsmacher und zum Mentor Sauls und Davids wurde. In Wirklichkeit war er all das nicht. Bernhard Lehnart6 hat in jüngster Zeit das Ruder wieder herumgeworfen. Er erklärt Samuel erneut zum Propheten (statt zu einem Richter), und zwar dezidiert zu einem Einzelpropheten (im Unterschied zu Gruppenpropheten, wie sie in den Saul-Überlieferungen verschiedentlich auftreten und sekundär auch mit Samuel in Verbindung gebracht worden sind: etwa bei der Szene, in der er David vor Saul beschützt). Samuel war also ein prophetischer Einzelgänger – aber nicht einer, der gegen den König antritt (wie das von späteren Propheten immer wieder berichtet wird), sondern einer, der diese Institution stützt, ja gerade erst einführt. Er ist also der Königs-, ja der Königtumsmacher. Dabei gibt es viele Widerstände zu überwinden; eine Eidgenossenschaft lässt sich ja nicht ohne weiteres die Einsetzung eines Monarchen gefallen. (Solche Widerstände spiegeln sich etwa in dem alten, bissigen „Königsrecht“ in 1Sam 8,11–17, das nur von Rechten, nicht aber von Pflichten des Königs redet, oder darin, dass einige Leute dem frisch gekürten Saul die Gefolgschaft verweigern, 1Sam 10,27). Samuel nun war ein hoch angesehener „divinatorischer Spezialist“7 (171), einer, dem die Leute zutrauten, dass er mit der Gottheit in enger Verbindung stand und deren Willen sicher ausfindig zu machen vermochte. Diese Fähigkeit zeigt Samuel vor allem in der Eselinnen-Geschichte; sie zeigt auch den ungeheuren Respekt, den er bei den Menschen damals genoss. Wenn dieser Mann Saul zum König kürt, dann hat das enormes Gewicht, und sein Protégé wird auch beim Volk Erfolg haben. Was tun angesichts dieses Dissenses in der Forschung? Am besten erneut in die Texte schauen, diese kritisch prüfen und zu einer eigenen, begründeten Meinung kommen. Diese sieht bei mir wieder etwas anders aus als in allen drei referierten Fällen. Bei einem Durchgang durch die biblischen Samuel-Texte will ich versuchen, zwischen erkennbar oder wahrscheinlich fiktiven und historisch plausiblen Angaben zu unterscheiden, wobei sich beides in einzelnen Texten mischen kann. 1Sam 18: Samuels Eltern werden oder können zumindest wirklich Hanna und Elkana geheißen und in dem Dorf Ramatajim (im Süden des Wohngebietes des Stammes Efraim) gelebt haben. Anscheinend war es eine wohlhabende Familie. Ob Hanna wirklich zunächst kinderlos war und dann wie durch ein Wunder Samuel bekam, ist historisch kaum zu verifizieren; oft dienen Geschichten dieser Art zur Hervorhebung der Besonderheit des dann geborenen Kindes. 1Sam 2: Dass Hanna ihren kleinen Sohn in die Obhut der Priester von Schilo (ebenfalls in Südefraim) gegeben habe, ist nicht undenkbar. Wir wissen über solche Gepflogenheiten nicht viel. Sicher ist, dass manchmal Kinder armer 6
7 8
Lehnart, Bernhard, Prophet und König im Nordreich Israel. Studien zur sogenannten vorklassischen Prophetie im Nordreich Israel anhand der Samuel-, Elija- und ElischaÜberlieferungen, 2003 (SVT 96), 13–176. Kursivierung durch W.D. Zu den drei ersten Kapiteln des 1. Samuelbuches vgl. die ersten drei Lieferungen meines Kommentars: Samuel, 2003/2005/2006 (BKAT VIII/1).
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Haupt- und Nebenfiguren der Samuelbücher
Eltern an Heiligtümern abgegeben wurden, warum aber nicht auch einmal aus einer gut situierten Familie? Dabei könnte ein frommer oder auch Bildungs-Eifer eine Rolle gespielt haben – man denke an Analogien aus der Zeit der Klöster und Orden. Die in 1Sam 3 erzählte Traumoffenbarung an Samuel lässt sich historisch nicht verifizieren. Und gerade sie endet mit der Festellung, dass Samuel fortan „Prophet“ (nabî) war; doch diese Notiz ist überdies noch redaktionell. Im Kern allerdings macht die Geschichte klar, dass Samuel Distanz nahm zur Priesterfamilie der Eliden, die alsbald unterging, wobei auch das Heiligtum von Schilo seine überregionale Bedeutung verlor. Samuel wurde in dieses Desaster offenbar nicht verwickelt. In 1Sam 79 agiert Samuel zunächst als wunderbarer Retter gegen die anstürmenden Philister. Das ist eine historisch nicht greifbare und auch sehr unwahrscheinliche Wundergeschichte (wenn man nur allein an die militärische Kraft denkt, die die Philister hernach noch entfaltet haben). Bemerkenswerterweise zeigt sie Samuel aber in der Rolle eines Priesters, dem Gott bei der Durchführung eines Opferzeremoniells zu Hilfe kommt. Im Fortgang dann wird er dann als Richter geschildert, der seine Runden über die Dörfer der Umgebung macht und vermutlich Recht in schwierigen Fällen spricht. Sein Wohnort ist Rama (in Benjamin – vielleicht, weil die Philister Efraim zu fest im Griff haben?). Diese Mitteilungen gelten weithin als historischer Kern der SamuelÜberlieferungen, und gegen diese Einschätzung spricht nichts. Aus 1Sam 8 ragt wie ein erratischer Block die Nachricht heraus, Samuel habe zwei Söhne in Beerscheba, also ganz im Süden, im Negev, als Richter eingesetzt, doch diese seien korrupt gewesen. So schwer eine solche Notiz zu fassen ist, sie betont wieder das richterliche Element an der Person Samuels. Die gesamten langen Passagen über Sauls (und Gottes) Bedenken gegen das Königtum sind hingegen eindeutig spät, erst in oder nach der Exilszeit hinzugefügt.10 In der prächtigen Geschichte von der Suche nach den Eselinnen und der Salbung Sauls (1Sam 9,1 – 10,16) scheint der „Seher“, der hier für Saul die Fäden zieht, erst sekundär mit „Samuel“ identifiziert worden zu sein.11 Dass es historisch eine geheime Inauguration Sauls durch die Notabeln der Gegend unter Führung eines „Sehers“ gegeben haben könnte, ist nicht unmöglich – nur eben, dass dies Samuel gewesen wäre, scheint zweifelhaft (gegen Lehnart). Gesalbt hat Saul wohl weder ein Seher noch Samuel; bei David zeigt sich, dass dies damals Volksvertreter zu tun pflegten (bei Salomo dann im königlichen Dienst stehende Priester).12 9
10
11
12
Vgl. Eynikel, Erik, The Place and Function of 1Sam 7,2-17 in the Corpus of 1Sam 1-7, in: W. Dietrich (Hg.), David und Saul im Widerstreit – Diachronie und Synchronie im Wettstreit. Beiträge zur Auslegung des ersten Samuelbuches, 2004 (OBO 206), 88–101. Vgl. Veijola, Timo, Das Königtum in der Beurteilung der deuteronomistischen Historiographie. Eine redaktionsgeschichtliche Untersuchung, 1977 (AASFB 198), 53– 72. Vgl. Schmidt, Ludwig, Menschlicher Erfolg und Jahwes Initiative. Studien zur Tradition, Interpretation und Historie in Überlieferungen von Gideon, Saul und David, 1970 (WMANT 38), 58–102. Vgl. 2Sam 2,4; 5,3 bzw. 1Kön 1,39.
Samuel – ein Prophet?
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Nicht zu eliminieren ist Samuel aus der nächsten Erzählung: der von der Loswahl Sauls, seiner Auffindung durch ein Orakel und seiner Kür durch das Volk 1Sam 10,20–27.13 Hier agiert Samuel wieder nicht als Prophet, sondern als Leiter eines Volks-Things, vielleicht auch als Priester, der ein kultisches Losund Orakelverfahren leitet. Als solcher wäre er hier also Königsmacher. In die Erzählung von Sauls Ammonitersieg 1Sam 11 ist Samuel offensichtlich erst nachträglich eingebracht worden; dieser Feldzug war ursprünglich allein Sauls Sache. Darin sind sich alle Exegeten einig. Samuels Rücktrittsrede 1Sam 12 ist wieder komplett exilstheologisch. Die beiden Verwerfungsgeschichten 1Sam 13,7–15 und 15 setzen die faktische Ablösung Sauls durch David und die Überzeugung von der Überlegenheit des davidischen über das saulidische Königtum voraus – und damit können sie kaum mehr historisch, sondern müssen nachträgliche Legitimierungsversuche für jenen Wechsel sein (gegen Mommer). Dass Samuel David gesalbt und dann gar noch gegen Saul in Schutz genommen habe (1Sam 16,1–13; 19,18–24), ist historisch so gut wie ausgechlossen. Wenn, dann hat der Nordisraelit Samuel etwas mit dem israelitischen König Saul zu tun, nicht mit dessen judäischem Gegenspieler und Nachfolger David. Zudem ist die Erzählung von Davids Salbung erkennbar eine prodavidisches Gegenstück zu der prosaulischen Eselinnen-und Salbungsgeschichte 1Sam 9f, und die Geschichte von Samuels Schutz für David mündet in eine antisaulische Erklärung des Sprichworts „Ist auch Saul unter den Propheten?“, das in 1Sam 10,9–23 prosaulisch erklärt wird. Beide Texte dienen der Legitimierung des einen Königtums wider das andere. Dass der tote Samuel in Rama beigesetzt wurde (1Sam 25,1), wird zutreffend sein. Über sein Leben im Reich der Toten und seine gelegentlichen Besuche in der Welt der Lebenden wird sich historisch kaum mehr Sicheres ausfindig machen lassen.14 Im Überblick über all dies schält sich eine Figur des historischen Samuel heraus, von der man folgendes tabellarisches Curriculum vitae schreiben könnte: – Geboren um die Mitte des 11. Jh.s v.Chr. in Ramatajim – Eltern: Elkana und Hanna – Zögling am Heiligtum von Schilo bei den elidischen Priestern – Übersiedlung von Efraim nach Rama in Benjamin – Tätigkeit als Richter und religiöser Stammesführer im Gebiet von Benjamin (mit Ausstrahlung auch in den Heimatstamm Efraim und vielleicht noch darüber hinaus – etwa gar bis nach Juda/Beerscheba?)
13
14
Vgl. dazu Hunziker-Rodewald, Regine, König Saul und die Geister. Zur Entwicklung des Saulbildes in der Bibel und in der Geschichte ihrer Rezeption, Habilitationsschrift Bern 2005. Zum historischen und geographischen Setting der Erzählung 1Sam 28 vgl. aber Veijola, Timo, Geographie im Dienst der Literatur in ISam 28,4, in: W. Dietrich (Hg.), David und Saul im Widerstreit – Diachronie und Synchronie im Wettstreit. Beiträge zur Auslegung des ersten Samuelbuches, 2004 (OBO 206), 256–271.
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Haupt- und Nebenfiguren der Samuelbücher
–
Leiter eines Stämme-Things in Mizpa (Benjamin), das Saul ben Kisch aus Gibea (Benjamin) auf den Königsschild hob – Nach dem Tod beklagt von Israel und bestattet in Rama. Das ist gemessen an dem, was die Samuelbücher von Samuel zu erzählen wissen, nicht eben viel – es ist aber auch nicht nichts. Wenn, dann war Samuel am ehesten Richter (im ausgeweiteten Sinn von Volkstribun) und wurde als solcher zum Königsmacher für Saul. Den Prophetenmantel hingegen hat man ihm erst später umgehängt – wozu wohl die Geschichte von einem Seher, der Saul die Eselinnen seines Vaters finden half und ihn dabei zum König salbte, den Anstoß gab; denn was lag näher, als den Leiter des Stämme-Things, das die Königswahl Sauls vollzogen hatte, mit diesem Seher gleichzusetzen und damit Samuel zum Propheten zu machen? Ferner gab es eine Erzählung über eine Traumoffenbarung an Samuel in Schilo; warum sollte er dabei nicht zum Propheten berufen worden sein? Und wenn schon einmal Prophet, dann konnte er – ganz im Stile späterer, kritischer Propheten – auch den problematisch gewordenen Saul im Namen Gottes verurteilt und – ganz im Stile späterer Hofpropheten – zuerst Saul und dann auch David zum neuen König gesalbt haben.
3.
Samuel in der neuesten Wirkungsgeschichte
Nachdem wir das biblische Bild Samuels und seine mögliche historische Rolle ins Auge gefasst haben, soll abschließend noch ein weiterer Aspekt in den Blick kommen: Wie wird Samuel in unserer Zeit wahrgenommen – und zwar nicht von der historisch-kritischen Exegese (davon wurde im Vorangehenden einiges sichtbar), sondern von unserer Gegenwartskultur in einem weiteren Sinne. Ich wähle dafür vier sehr unterschiedliche Beispiele aus.
3.1
Samuel in einem modernen Oratorium15
Im Jahr 1921 erhielt der in Paris lebende Schweizer Komponist Arthur Honegger den Auftrag, ein musikalisches Bühnenstück „Le Roi David“ zu komponieren, das später zu einem Oratorium umgestaltet wurde. Die Grundlage des von dem Westschweizer Dichter André Morax geschriebenen Librettos bildet eine knappe, von einem Sprecher dargebotene Nacherzählung der Samuelbücher; in diese eingestreut sind zahlreiche Chor- und Sologesänge, deren Texte weitgehend dem Psalter entnommen sind.
15
Morax, André / Honegger, Arthur, „Le Roi David“, 1921. Vgl. dazu Lichtenhahn, Ernst, David im Musiktheater des 20. Jahrhunderts. Bemerkungen zu Werken von Carl Nielsen, Arthur Honegger, Kurt Weill und Darius Milhaud, in: W. Dietrich / H. Herkommer (Hg.), König David – biblische Schlüsselfigur und europäische Leitgestalt, Fribourg/Stuttgart 2003, 731–757.
Samuel – ein Prophet?
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Der Erzählertext entspricht nach Umfang und Reihenfolge recht genau der Darstellung Davids in den Samuelbüchern: Am Anfang steht die Salbung des Hirtenknaben durch Samuel (1Sam 16), am Ende der Tod des Königs (1Kön 2). Schon daran ist ersichtlich, dass Samuel in diesem Oratorium nicht mehr sein kann als eine Nebenfigur zur Hauptfigur David – immerhin aber gleich die erste, die in Erscheinung tritt. Die ersten Worte des Erzählers nämlich lauten: „Es war zu der Zeit, als Jehova zu seinem Volk sprach durch den Mund des Propheten. Zu dieser Zeit wandte sich der Geist Gottes vom König Saul ab und redete zu dem Seher („voyant“) Samuel: ‚Auf, Samuel, fülle dein Ölhorn und geh hinauf zu Jesse in Betlehem. Ich habe mir ersehen unter seinen Söhnen den König, den ich mir wünsche.’“ Es folgt eine Vertonung des 23. Psalms vom Guten Hirten; den hat nämlich David als Hirtenjunge gedichtet und beim Schafeweiden gesungen. Danach fährt der Sprecher fort: „Und Samuel wählte David unter seinen Brüdern aus. Und er salbte ihn mit seinem Ölhorn“. So einfach ging das; Samuel hatte keine Schwierigkeiten, unter Isais Söhnen den Richtigen zu finden, erst recht natürlich keine Trauer um Saul und keine Angst vor dessen möglicher Rache. Auch kein Wort über die Herkunft und die Funktionen Samuels – nur eben dies, dass er ein Prophet war und David zu salben hatte. Später wird dann noch erwähnt, dass David zu „den Propheten“ floh – nicht aber, dass deren Vorsteher Samuel ist. Sehr viel Aufmerksamkeit findet schließlich die Szene von der Heraufrufung des Totengeistes Samuels. Meines Wissens ist dies der einzige Ort in der Literatur- und Musikgeschichte, an dem die Beschwörung im Wortlaut und gar im Wortklang wiedergegeben wird. In tiefer Alt-Lage geht „la pythonisse“, die Wahrsagerin, zu Werk. Das Auffälligste ist ein immer wiederkehrender, unartikulierter Laut, ein unheimliches „Om! Om!“, gefolgt von Beschwörungsformeln („par le feu et par l’eau“, beim Feuer und beim Wasser, beim Wort und beim Wind, beim Gesicht und beim Gehör … usw.). Dies weiter auszuführen, ist hier nicht der Ort, weil unser Thema ja nicht die Technik der Totenbeschwörung ist, sondern der Prophet Samuel. Diesem bzw. seinem Totengeist gibt das Oratorium wieder in nüchterner Erzähler-Rede das Wort: Ganz nah an der biblischen Vorlage, beschwert er sich, dass er aus der Totenruhe aufgestört wurde, um dann die Niederlage Israels und den Tod Sauls und seiner Söhne auf dem Berg Gilboa anzukündigen. Wir stellen fest: Samuel ist in „Le Roi David“ Prophet und Königsmacher für David. Es fällt kaum ein differenzierendes Licht auf diese Nebengestalt des Oratoriums. Am Schluss freilich, sozusagen postum, rückt er – durch den dumpfen Gesang der Beschwörerin – in ein düster-unheimliches Licht.
126
3.2
Haupt- und Nebenfiguren der Samuelbücher
Samuel in den Augen eines Romanciers16
Der Schriftsteller Stefan Heym wurde 1913 als Sohn eines jüdischen Kaufmanns in Zwickau geboren, emigrierte 1933 in die USA, kehrte 1945 nach Deutschland zurück, arbeitete zunächst als Journalist in München und siedelte 1952 in die DDR über. 1959 erhielt er den Nationalpreis der DDR. Doch während der Auseinandersetzungen um den „Sozialistischen Realismus“ fiel er in Ungnade. In den Wende-Monaten von 1989 und bald danach im Deutschen Bundestag spielte er eine auch politisch bedeutsame Rolle. Mittlerweile ist er verstorben und in Berlin bestattet. Heyms Roman „Der König David Bericht“ spielt in der Zeit Salomos. Der König, gerade erst unter ziemlich undurchsichtigen Umständen an die Macht gekommen, beauftragt eine Kommission, die aus einigen hohen, ihm ergebenen Beamten und dem „Autor und Historiker“ Ethan ben Hoshaja besteht, mit der Ausarbeitung des „Einen und Einzigen Wahren und Autoritativen, Historisch Genauen und Amtlich Anerkannten Berichts über den Erstaunlichen Aufstieg, das Gottesfürchtige Leben, sowie die Heroischen Taten und Wunderbaren Leistungen des David ben Jesse …, des Erwählten GOttes und Vaters von König Salomo“ (11). Dieser „Bericht“ sind – die Samuelbücher, und von Stefan Heym erfahren wir, wie sie zustande gekommen sind. Die Hauptrolle in seinem Roman spielt jener Ethan, der einerseits von einem unbändigen Eros zur geschichtlichen Wahrheit besessen ist, andererseits aber keinen Drang zum Märtyrertum besitzt – und es mit Intelligenz und Witz schafft, in den (biblischen) Report die Wahrheit über David und Salomo und auch über Samuel subversiv hineinzumischen. (Man spürt, dass Heym Erfahrungen mit totalitären Systemen gemacht hat.) Ethan stößt auf die Gestalt Samuels schon ganz zu Beginn seiner Recherchen. Zu seiner Zeit ist der Mann längst tot, doch von Leuten, die ihn noch kannten, erfährt er, dass er „ein langer, hagerer Mensch [war], die graue, strähnige Mähne und der schüttere Bart unberührt vom Messer des Baders, Eifererblick, der Mund ohne Güte – ein Mann, der einen Gegner sah in jedem, der nicht sofort bereit war, sich seinem überlegenen Willen oder der Macht GOttes zu beugen, denn GOtt war König in Israel und Samuel sein Bevollmächtigter vor dem Volke. … Ich glaube nicht [vermutet Ethan], dass Samuel je begriff, warum das Volk auf seiner Forderung nach einem König aus Fleisch und Blut verharrte, und warum ausgerechnet er, nicht der Geringste in der langen Folge von Richtern [!] in Israel, sein Amt aufgeben und einen Menschen zum König salben musste“ (17). „Warum“ nun aber „wurde König Jahweh ersetzt durch Saul, den Sohn des Kish?“ Heym (resp. Ethan) vermutet hinter diesem Systemwechsel einerseits den Wandel der Zeit, andererseits einen von langer Hand geplanten 16
Heym, Stefan, Der König David Bericht, München 1972 (und viele spätere Auflagen). Vgl. hierzu meine Besprechung: Von einem der zuviel wusste. Versuch über Stefan Heyms „König David Bericht“ (1976 =), in: W. Dietrich, Von David zu den Deuteronomisten. Studien zu den Geschichtsüberlieferungen des Alten Testaments, 2002 (BWANT 156), 100–112. Ferner: Rusterholz, Peter, Stefan Heym – Der König David Bericht, in: W. Dietrich / H. Herkommer (Hg.), König David – biblische Schlüsselfigur und europäische Leitgestalt, Fribourg/Stuttgart 2003, 809–830.
Samuel – ein Prophet?
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Coup israelitischer Priesterkreise. Sie brachten „Samuel, den Priester, Seher und Richter“,17 dazu, das in ihren Augen Nötige zu tun. „[E]r war ein ehrenhafter Mann, erfüllt von den höchsten Grundsätzen. … Doch kann just so einer mehr Unheil durch seine Geradheit anrichten als irgendein Sohn Belials durch seine Schurkerei“ (16). Wohl hat er „versucht, Gerechtigkeit walten zu lassen nach bestem Gewissen, hat versucht, den Seinen zu helfen: nun aber ist eine neue Zeit angebrochen … Die neue Zeit brach herein über Samuel, und ob er gleich ein Seher war, sah er sie nicht“ (18). Samuel lässt sich nämlich dazu bringen, Königsmacher zu werden – ohne vorauszusehen, was das für schlimme Folgen haben würde. Unter Saul war es noch nicht so schlimm. Doch nach ihm kam David, und nach diesem dann Salomo – und das war ein absolutistischer Tyrann. Ethan schaffte es mit knapper Not noch, seinen Bericht fertig zu stellen und zu verstecken. Denn König Salomo in seiner Weisheit hatte beschlossen, den aufsässigen Schriftsteller zwar nicht totzuschlagen, aber – totzuschweigen (wiederum liegen die Analogien zu unserer Zeit auf der Hand). Ethans Klugheit ist es zu danken, dass nicht nur er selbst überlebte, sondern auch sein „Bericht“ – die Samuelbücher mit all ihren Haken und Spitzen, auch gegen die Herren und Könige jener Zeit. Samuel kommt dabei noch relativ gut weg. Er, der ein ehrenwerter und frommer, aber auch starrer und letztlich unbeweglicher Richter und Prophet war, geriet eher nolens als volens in die Rolle des Königsmachers und brachte dadurch viel Unheil über sein Volk.
3.3
Samuel in den Augen eines Psychoanalytikers18
Hans-Jürgen Dallmeyer ist ein in Göttingen lebender und lehrender Psychoanalytiker. Er hat den Versuch unternommen (und ich habe ihn dabei begleitet und ihm als exegetischer und theologischer Gesprächspartner gedient), die Samuelbücher als eine Art Entwicklungsroman zu lesen: Wie kommt Israel aus der tristen Situation der vorköniglichen Zeit (Mord und Totschlag unter den Stämmen, Leiden unter auswärtigen Feinden) zu einer gesicherten Existenz? Und wie entwickelt sich einer aus diesem Volk heraus zu einem hoch geehrten und beeindruckenden Mann und Herrscher: David? Dallmeyer ist erklärtermaßen kein frommer Mann. Gleichwohl ist ihm die Figur Gottes, die nach der biblischen Darstellung über Israel und David auf diesem Entwicklungsweg waltet, sehr wichtig. Der Begriff „Gott“ ist dem Analytiker eine Chiffre für transpersonale, tief in der Welt und im Menschen wirkende positive Kräfte, die nötig sind, um positive Entwicklungen, wie sie in den Samuelbüchern geschildert werden, zu bewirken. Welche Funktion nun hat die Gestalt Samuels in dem Geschehen? Er ist, ähnlich wie bei Heym, der Sachwalter einer alten Welt: aber nicht historisch, sondern psychologisch gesehen. Es ist eine „relativ primitive“, nach einem „bipolaren, dyadischen Muster“ strukturierte Welt: „Freund-oder-Feind; Oben17 18
Kursivierung durch W.D. Dallmeyer, Hans-Jürgen / Dietrich, Walter, David – ein Königsweg. Psychoanalytischtheologischer Dialog, Göttingen 2001.
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Haupt- und Nebenfiguren der Samuelbücher
oder-Unten; Ja-oder-Nein; Schwarz-oder-Weiß; Tod-oder-Leben; Alles-oderNichts“ (63). In dieser Welt haben Kategorien wie Anteilnahme, Kreativität, Differenziertheit und Kompromissfähigkeit keinen Platz. David wird dann diese Eigenschaften verkörpern – Samuel aber und auch Saul noch nicht. Sie bleiben gefangen im Herkömmlichen, sie entwickeln sich nicht zu „positiven schöpferischen Persönlichkeiten“ (57). Beide verkörpern etwas wie einen hoffnungsvollen Anfang und ein enttäuschendes Ende. Samuel hat liebevolle Eltern, doch dann, nach seiner Überstellung an den Tempel, hat er ein „Trennungstrauma“ zu bewältigen, was ihm nicht gut gelingt. Zwar kann er sich von dem Ersatzvater Eli noch rechtzeitig lösen, doch nimmt er danach zunehmend die Rolle „des reinen und prinzipienstrengen Gottesmannes“ ein, der notfalls Menschen eigenhändig in Stücke haut (den Amalekiterkönig Agag) oder sein eigenes Geschöpf verwirft (Saul). Saul ist Samuel psychisch ganz ähnlich. Brav tut er, was Samuel ihm sagt – bis er eines Tages beschließt, das Oben und das Unten zu verkehren: Er will selbst befehlen, die andern sollen gehorchen (z.B. Jonatan und David und auch Samuel). Die Welt Samuels und Sauls hat keine Zukunft, und Israel hat unter der Leitung dieser beiden keine Aussicht auf eine gesicherte Existenz. Es wird höchste Zeit, dass David kommt… Es sei noch einmal betont: Das alles sind keine historischen Aussagen, sondern Ergebnisse einer tiefenpsychologischen Lektüre des Bibeltextes. Dieser will, so Dallmeyer, vor Augen stellen, was eine zukunftsträchtige, lebensförderliche Entwicklung im sozialen wie im individuellen Bereich ist. Und in dieser Hinsicht ist Samuel (der literarische Samuel, wohlgemerkt) nur sehr begrenzt ein Vorbild. (Ob er Prophet ist oder Richter oder sonst etwas, interessiert Dallmeyer übrigens wenig.)
3.4
Samuel in den Augen eines Literaturästhetikers19
Der amerikanische Literatur- und Religionswissenschaftler Robert Polzin malt ein noch viel einseitiger negatives Bild von Samuel, oder besser: Er interpretiert das Bild, das die Bibel von Samuel malt, vollkommen negativ. Er geht davon aus, dass die Samuelbücher insgesamt ein später Text sind: verfasst von einem Autor der Exilszeit („the Deuteronomist“), also rund 500 Jahre nach dem Geschehen. In Polzins flächiger Sicht gibt es keine älteren Quellen und schon gar keine historische Zuverlässigkeit; alles ist pure literarische Fiktion, deren Intention der Interpret zu erheben hat. In Polzins Interpretation bleibt an Samuel kein gutes Haar. Die Erzählung von der Traumoffenbarung (1Sam 3) schildert Samuel als „passiven“ und ahnungslosen Burschen, der nichts weiter will als schlafen, und den Gott kaum wach kriegt, um ihm Wichtiges mitzuteilen. (Dabei erklärt uns der Erzähler ausdrücklich [und entschuldigend], dass Samuel damals noch jung war und keine Erfahrung hatte mit Gottesoffenbarungen: 1Sam 3,7.)
19
Polzin, Robert, Samuel and the Deuteronomist, Bloomington / IN 1989.
Samuel – ein Prophet?
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Die Erzählung vom Königsbegehren (1Sam 8) zeichne Samuel als „obstructive in a self-interested way“ (84): Er wolle sein eigenes Führungsamt nicht abgeben. Wiederholt muss Gott ihn auffordern, dem Willen des Volkes nachzukommen. Und schließlich schickt Samuel die Leute, statt ihnen einen König zu geben, nach Hause – was Polzin als glatte Gehorsamsverweigerung interpretiert. (Man kann indes auch anders deuten: Samuel muss warten, bis Gott ihm den Richtigen über den Weg schickt: nämlich Saul bei der Eselinnensuche; diese aus anderer Quelle stammende Erzählung folgt im nächsten Kapitel.) Bei der Salbung Sauls prahlt Samuel, Polzin zufolge, mit seinen „prophetic powers“, indem er drei „Zeichen“ ankündigt, die sich dann prompt alle erfüllen (105f zu 1Sam 10,1ff; schlichte Leser werden demgegenüber denken, dies werde zum Ruhm und nicht zum Nachteil Samuels erzählt.) Geradezu boshaft sei Samuels Befehl an Saul, einen Krieg gegen die Philister anzuzetteln, ihn dann aber überlang warten zu lassen (1Sam 10,8; 13,8). Samuel lege es darauf an, Saul an der kurzen Leine zu führen (…„strict royal dependence upon prophetic direction“…, 107). Es ist, als stelle er Saul eine Falle, in die er ihn genüsslich tappen lässt.20 Als es später zum endgültigen Bruch kommt und Gott Samuel auffordert, dem König seine Verwerfung mitzuteilen, „schreit Samuel die ganze Nacht zu Gott“ (1Sam 15,11) – für Polzin ein klarer Akt des Widerstands (146). Nach der dann doch erfolgten Verwerfung „trägt Samuel Leid um Saul“ (1Sam 15,35) – schon wieder eine Widersätzlichkeit gegen Gott. (Andere werden für diese Bemerkungen im Text förmlich dankbar sein: Samuel wirft Saul nicht achtlos weg, sondern zeigt Leid um ihn; für Polzin indes gibt es nichts, was nicht zum Nachteil Samuels auszulegen wäre.) Schließlich erteilt Gott dem Samuel Befehl, in Betlehem einen neuen König zu salben. Natürlich opponiert der widerspenstige Samuel auch dagegen; in diesem Sinn jedenfalls deutet Polzin seinen Einwand an Gott, das sei ein zu gefährlicher Auftrag (1Sam 16,2). Und dann hat Gott alle Mühe, ihn davon abzuhalten, den ersten Besten und Größten zu salben; denn Samuel sieht nur, was „vor Augen“ ist, wohingegen Gott das „Herz“ ansieht (157)! Kurzum: In Polzins Augen macht Samuel falsch, was er nur falsch machen kann.
20
Eine sehr spezielle Interpretation bietet Polzin zu 1Sam 11,12. Angeblich besinnt sich hier das Volk nach Sauls Sieg über die Ammoniter darauf, dass es lieber doch keinen König möchte, ja, es will sogar diejenigen umbringen, die Samuel diesen Wunsch vorgebracht haben. Polzin folgt hier einer Lesart bzw. einem Verständnis des hebr. Textes, die nur er allein vertritt; alle anderen sagen, es sollten die umgebracht werden, die gegen Sauls Königtum waren – und Saul habe dies generös verhindert. Laut Polzin aber verhindert Samuel (auch dies wieder eine fragwürdige Lesart), dass – nun nicht die Königtumsgegner, sondern die Königtumsbefürworter umgebracht werden. Das bedeutet: Samuel hat inzwischen die Front gewechselt: Er ist nicht mehr gegen das Königtum, sondern will unbedingt den König Saul behalten – als weiches Wachs in seinen Händen.
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Haupt- und Nebenfiguren der Samuelbücher
Das ist ein kleines Kaleidoskop moderner Rezeptionen des biblischen Samuel-Stoffs. Auffälligerweise trübt sich das Bild Samuels immer mehr ein; mit Polzin hat er den Tiefpunkt seines Ansehens erreicht21. Es ist zu hoffen, dass künftig auch wieder differenziertere Bilder dieser biblischen Gestalt entstehen werden.
21
Wenigstens anmerkungsweise sei noch vermerkt, dass neuerdings auch ein deutschsprachiger Exeget in den biblischen Texten ein ganz ähnlich negatives Bild von Samuel meint finden zu können: Vette, Joachim, Samuel und Saul. Ein Beitrag zur narrativen Poetik des Samuelbuches, Münster 2005 (Beiträge zum Verstehen der Bibel 13).
König Saul – eine ambivalente Gestalt 1.
Polaritäten in der Wahrnehmung Sauls und ‚Ambivalenz’ als heuristisches Mittel
Über lange Strecken der Auslegungsgeschichte hatte Saul, der erste König Israels, eine schlechte Presse. Zu sehr stand er im Schatten seines glücklicheren und erfolgreicheren Nachfolgers, David. Die biblischen Samuelbücher scheinen David alles zum Guten, Saul aber alles zum Schlechten anzurechnen. Und so erschien vielen Auslegern der eine als lichte, der andere als düstere Gestalt am Eingang der Königsgeschichte Altisraels. Doch früh schon gab es auch gegenläufige Wahrnehmungen an den Texten, und diese verstärken sich in neuster Zeit immer mehr. Gewissermaßen die erste Exegese der Saul-Gestalt in den Samuelbüchern erfolgte in den biblischen Chronikbüchern. In ihnen ist Saul nur ein einziges Kapitel vorbehalten (1Chr 10), und dieses handelt nicht von seinem Aufstieg und seiner Herrschaft, sondern einzig von seinem Tod im Kampf gegen die Philister und von den Gründen für dieses schlimme Ende. Sehr viel differenzierter ging der jüdisch-römische Historiograph Flavius Josephus zu Werk. In seinen „Jüdischen Altertümern“ spielt Saul eine recht prominente Rolle:1 Er erscheint anfangs als durchaus sympathisch und erfolgreich, vor allem als tüchtiger Krieger und Feldherr. An Sauls Ende beeindruckte Josephus, wie er, wohl wissend, dass es der Weg in den Tod war, tapfer in die Schlacht gegen die Philister ging. Auf der einen Seite also war Saul ein echter Held. Andererseits kommt Josephus, der keine anderen Quellen als die biblischen benutzt, um die biblischen Nachrichten über das Versagen, die Verwerfung und das Scheitern Sauls nicht herum. Bekanntlich hat Samuel, der anfängliche Mentor Sauls, diesen bei zwei Gelegenheiten für von Gott verworfen erklärt: einmal, als er eine ihm auferlegte Wartefrist angeblich nicht voll eingehalten hatte (1Sam 10,8; 13,7b–15a), ein zweites Mal, als er einen Bannauftrag gegen die Amalekiter nicht voll umgesetzt hatte (1Sam 15). Die Erzählungen sind jeweils so gehalten, dass man an der Schwere der Vergehen Sauls und an der Verhältnismäßigkeit der mit ihnen begründeten Absetzung mit Fug und Recht zweifeln kann. Und tatsächlich nimmt Josephus Saul gegen Samuels Anwürfe vorsichtig Schutz. Ebenso lässt er Saul für die blindwütige Verfolgung Davids – eine weitere Missetat – zwischendurch ausdrücklich Reue üben. Unverzeihlich jedoch ist das Massaker an einem ganzen Priestergeschlecht (1Sam 22); dieses Verbrechen, so Josephus, musste gesühnt werden. Die altjüdische, rabbinische Literatur rückte Saul in ein eher noch positiveres Licht als Josephus. Im Talmud werden nicht nur seine Tapferkeit, sondern auch seine Schönheit und seine Bescheidenheit, an einer Stelle gar ausdrücklich 1
Vgl. zum Folgenden Hentschel, Saul 211–217.
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seine Unschuld gerühmt.2 Natürlich sahen auch die Rabbinen Sauls dunkle Seiten – doch waren sie zu einer höchst überraschenden Bewertung fähig: Ein in Sünde verstrickter Herrscher sei einem makellosen vorzuziehen! Denn während der Letztere nicht bei Fehlern zu behaften sei und darum zur Selbstherrlichkeit neige, sei der schuldbeladene auf seine Mängel ansprechbar und könne zur Räson kommen.3 Demgegenüber sah die christlich-altkirchliche Tradition Saul „durchweg in einem negativen Licht. In der Bibelauslegung der ausgehenden Antike und des Mittelalters, welche die Ereignisse und Personen des Alten Testaments als Vorausbilder (typoi) von Ereignissen und Personen des Neuen Testaments verstand, wurden Saul und David gern als ‚Typen’ für den Gegensatz Altes – Neues Testament gedeutet. Man sah eine Parallele zwischen Saul als Verfolger des unschuldigen David und den Feinden Jesu, die den ‚Sohn Davids’ trotz seiner Unschuld verfolgten. Die Prediger machten Saul gerne zum abschreckenden Exempel für einen Mann, der ‚im Geiste begonnen, aber im Fleisch geendet hatte’.“4 Im Gefolge der Aufklärung löste sich die Exegese weitgehend von solchen dogmatischen Schemata. Man wollte wissen, wer Saul wirklich war, auch: ob in der Bibel vielleicht verschiedene Autoren Verschiedenes über ihn mitteilen wollten. Insgesamt und in letzter Zeit stark zunehmend lässt sich eine Tendenz zur ‚Rehabilitierung’ Sauls (was auf der Kehrseite bedeutet: auf eine ‚Relativierung’ von Sauls Gegenspieler David) feststellen. Dieser Trend kann sich auf verschiedene Weisen niederschlagen: Zuweilen wird versucht glaubhaft zu machen, dass Saul historisch viel bedeutender und viel erfolgreicher (und dass David viel weniger bedeutend) war, als die biblischen Berichte es hinstellen.5 Andere meinen hinter dem jetzigen Bibeltext ältere Vorformen oder Quellen ausmachen zu können, in denen Saul in einem sehr vorteilhaften Licht erschien, das aber später durch eine prodavidische Apologetik und Propaganda verdunkelt wurde.6 Wieder andere glauben, der vorliegende Bibeltext sei anders zu deuten, als es in der Exegese in der Regel geschah: viel stärker zum Vorteil Sauls (und entsprechend zum Nachteil Davids). Hier führt dann eine Hermeneutik der Sympathie (mit Saul und der Antipathie gegen David) die Feder. Saul werden etwa sein anfänglich bescheidenes Auftreten, sein Edelmut und seine Tapferkeit zugute gehalten, vor allem aber die unverkennbar tragische Seite seiner biblischen Biographie.7 Gott erhält bei diesen Interpreten zuweilen aufreizend ungerechte, geradezu dämonische Züge.8 2 3 4
5 6 7 8
Vgl. die Belege bei Hentschel, Saul 218. Siehe dazu Klein, Sündlosigkeit. Krauss/Küchler, Saul 256. Hentschel (Saul 221–224) befasst sich im Abschnitt „Saul bei den Kirchenvätern“ einzig mit den Auseinandersetzungen um 1Sam 28 (die Erzählung von Saul und der Totenbeschwörerin). Shalom Brooks, Saul and the Monarchy. Humphreys, Rise; Humphreys, Tragic Hero; Vermeylen, La loi; Mobley, Glimpses. Exum, Tragedy; Amit, Balance. Gunn, King Saul; Couffignal, Saül, bes. 73–78.
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Offensichtlich fühlen sich Exegetinnen und Exegeten durch die Saulerzählungen dazu herausgefordert, zu Ungunsten oder zugunsten des (bzw. der) Hauptprotagonisten Stellung zu beziehen. Dabei wäre m.E. auch eine andere Haltung gegenüber den Texten möglich, wohl sogar angemessener – scheinen diese doch Saul weder als (rein) negative noch als (rein) positive Gestalt zu zeichnen, seine Handlungen weder (einseitig) zu verurteilen noch (einseitig) zu verteidigen; auch geben sie kaum die Mittel in die Hand, um ein klares, glattes Urteil über Saul fällen zu können. Vielmehr wollen sie offenbar die Lesenden in Unruhe darüber versetzen, was aus diesem ersten, immerhin von Gott selbst ausgewählten König geworden bzw. was ihm widerfahren ist. Setzt man sich den Texten aus, hat man fast unweigerlich ambivalente Empfindungen, sieht man Saul als ambivalente Gestalt, die immer wieder in ambivalente Situationen gerät. Die Kategorie der Ambivalenz – entwickelt in der Disziplin der Tiefenpsychologie – scheint mir außerordentlich gut geeignet, die biblische Darstellung Sauls und die Gefühle, die ihre Betrachtung auslöst, zu beschreiben. Was ist Ambivalenz? Es ist von ihr „zu sprechen, wenn Menschen auf der Suche nach der Bedeutung von Personen, sozialen Beziehungen und Tatsachen, die für Facetten ihrer Identität und dementsprechend für ihre Handlungsbefähigung wichtig sind, zwischen polaren Widersprüchen des Fühlens, Denkens, Wollens oder sozialer Strukturen oszillieren, die zeitweilig oder dauernd unlösbar scheinen. Dabei können persönliche Beeinflussung, Macht und Herrschaft von Belang sein.“9 Der so umschriebene Begriff der Ambivalenz soll als heuristisches Instrument zur Betrachtung und zum Verständnis der Saul-Texte im ersten Samuelbuch eingesetzt werden. Dies geschieht natürlicherweise in sogenannt „synchroner“ Lektüre, d.h. am jetzt vorliegenden biblischen Endtext. „Diachrone“ Fragestellungen nach hinter dem jetzigen Text liegenden Traditionen und dessen mündlichen und schriftlichen Vorstufen stehen dabei nicht im Vordergrund, so wenig wie Fragen nach dem historischen Plausibilitätsgrad einzelner Erzählungen oder der Gesamtdarstellung Sauls.10 Viele Texte haben unzweifelhaft eine längere literargeschichtliche Entwicklung durchlaufen, und manche haben mit hoher Wahrscheinlichkeit Anhalt an der faktischen Geschichte. Doch sind die einzelnen Textstufen und ihr jeweiliges Verhältnis zur Geschichte nur schwer sicher festzustellen und entsprechend strittig. „Ambivalenzen“ im Bild des Königs Saul sind davon unberührt.
9
10
So der Soziologe Kurt Lüscher im Eröffnungskolleg des „Collegium generale“ (einer interdisziplinären Ringvorlesung) an der Universität Bern im Herbstsemester 2011 unter dem Titel „Eindeutig zweideutig. Ambivalenzen in Wissenschaft und Lebenspraxis“. (In diesem Rahmen entstand eine Vorfassung der hier vorliegenden Studie). Zu verweisen ist ferner auf den Beitrag Lüschers in dem gemeinsamen Buch von Dietrich/Lüscher/Müller, Ambivalenzen 17–67; dort 44 ein noch etwas weniger elaborierter Definitionsversuch. Zahlreiche Facetten dieser Thematik werden in zwei Sammelbänden beleuchtet, die von Dietrich (David und Saul im Widerstreit) und von Ehrlich (Saul in Story and Tradition) herausgegeben wurden.
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2.
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Die Gestalt Sauls als Ausdruck der Ambivalenz des Politischen: Autonomie oder Heteronomie?
Sauls Aufstieg wird in der biblischen Darstellung vorbereitet durch den bei den Stämmen Israels aufgekommenen Wunsch nach Einheit und Stärke. Dafür meint man einen Staat zu brauchen, damals selbstverständlich mit einem König an der Spitze. Der Priester, Prophet und Volkstribun Samuel findet diesen Wunsch bedenklich: nicht nur, weil er seine beiden Söhne als seine Nachfolger aufzubauen begonnen hat, sondern auch, weil er mit dem Königtum ungute Entwicklungen heraufziehen sieht: menschliche Selbstherrlichkeit, soziale Ungerechtigkeit und Selbstentfremdung von Gott. Doch das Volk lässt sich nicht beirren – und Gott weist Samuel an, seinem Willen zu folgen (1Sam 8). Das sind halb gute, halb schlechte Vorzeichen für das Königtum Sauls. Das Volk ist dafür, Samuel ist dagegen, Gott anfangs auch, doch schließlich schlägt er sich auf des Volkes Seite. Gott selbst führt dann Samuel einen jungen, auffällig hoch gewachsenen Mann aus gutem Hause zu und bedeutet ihm, das sei der von ihm Ausersehene, den solle er salben (1Sam 9,1 – 10,16). Saul macht bei dieser ersten Begegnung mit Samuel keinen besonders souveränen Eindruck – doch wen wundert das bei einem, der von einem Tag auf den andern vom Bauernsohn zum Staatsführer gemacht wird? Kaum gesalbt, erhält Saul von Samuel sofort genaue Anweisungen: Er solle gegen die philistäischen Besatzer losschlagen und danach sieben Tage warten, bis er, Samuel, ihm weitere Instruktionen gebe (1Sam 10,7f): eine bemerkenswerte Konstellation zwischen einem Gottes- und einem Staats- bzw. Kriegsmann. Zunächst aber beruft Samuel eine Volksversammlung ein, um Saul öffentlich zu präsentieren (1Sam 10,17–27). Er inszeniert ein Loswahl-Verfahren, und als das Los, von Gott gelenkt, zielsicher Saul trifft – ist dieser nicht aufzufinden! Endlich einmal ein Machthaber, denkt man, der sich nicht nach der Macht drängt. Oder muss man sich besorgt fragen, warum dieser Mann sich vor der ihm zugedachten Aufgabe versteckt? Als er endlich gefunden ist und, um ein Haupt höher als die anderen, unter das Volk tritt, bricht Königsjubel aus. In den Jubelbecher fallen indes sofort Wermutstropfen: „Nichtsnutzige Leute“, wie sie genannt werden, wollen Saul keine „Gaben“ bringen (Steuern, würde man heute sagen), weil der ihnen nichts „nütze“ (1Sam 10,27). Wieder ein ambivalentes Bild: Saul, der neue König, umjubelt – und schon umstritten. Bald darauf gelingt es Saul, die anfänglichen Zweifel zu zerstreuen, indem er einen glanzvollen Sieg gegen die Ammoniter im Osten erringt (1Sam 11). Danach verabschiedet sich Samuel aus seinem Amt – mit einer großen Rede, in der er noch einmal die Gefahren eines autonomen, nicht nach Gottes Weisung handelnden Königtums an die Wand malt (1Sam 12). Gleichsam sich selbst überlassen, wendet Saul sich nunmehr gegen den Hauptfeind, die Philister. Er erringt nicht mehr als einen Pyrrhussieg: sowohl in militärischer Hinsicht als auch im Blick auf seine Stellung im Volk, bei Samuel und vor Gott. Wie erwähnt, sollte er nach einer ersten Attacke auf einen Philis-
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tergouverneur sieben Tage warten, bis ihm Samuel genauere Anweisungen erteilte. Tatsächlich wartete er, in höchst bedrängter Lage, diese sieben, langen Tage, doch als dann Samuel immer noch nicht da war, übermannte ihn sein militärischer Sachverstand: Er vollzog die nötigen Opfer, um endlich den Kampf gegen die machtvoll anrückenden Philister aufzunehmen (1Sam 13,5–9). Da, wie aus dem Boden gestampft, steht Samuel vor ihm, hört sich seine Erklärungen kurz an – und verwirft ihn gnadenlos vom Königsamt; Gott habe sich jetzt einen anderen ausgesucht, der „nach seinem Herzen“ sei (1Sam 13,10–15a). Man fragt sich verblüfft: Was hat Saul getan? Hat er nicht die festgesetzte Zeit gewartet (obwohl freilich der siebte Tag noch nicht zu Ende war)? Wittert Samuel in Sauls (nur zu begreiflicher!) Ungeduld das erste Anzeichen einer nach seinem Urteil verhängnisvollen politischen und militärischen Autonomie des Königtums? Die Darstellung weckt ambivalente Gefühle: Ist ein König (oder General oder Präsidenten) wünschbar, der absolut fügsam ist gegenüber geistlichen Taktgebern? Ist in politischen und militärischen Fragen nicht Sachverstand mindestens so wichtig wie religiöser Gehorsam? Andererseits: Hat die (Militär-)Politik nicht seit je eine fatale Tendenz zur Verselbstständigung? Verbergen die Mächtigen ihre Interessen nicht allzu gern hinter Sachzwängen? Neigen Machthaber nicht immer zu Autokratie und am Ende zu Tyrannei? Nur höchst ungern lassen sich die Mächtigen auf andere Normen ein als die selbst festgelegten. So ist die Frage wohlberechtigt: Wie autonom soll Politik sein? Könnte ein Stück Heteronomie (d.h. die Unterwerfung unter gewissermaßen politikfremde, z.B. ethische oder auch religiöse Normen) wünschenswert sein? Saul jedenfalls beginnt die Schlacht gegen die Philister als Verworfener – und unter der Ankündigung, Gott habe bereits seinen Nachfolger auserwählt. Israel siegt, aber eigentlich ist Sauls Sohn Jonatan der Held, der mit einem Husarenstreich das Kriegsglück gewendet hat. Allerdings hat er dabei einen von seinem Vater erlassenen und vor Gott beschworenen Befehl missachtet. Saul zögert nicht, über den Schuldigen, als er durch göttliches Orakel herausgefunden ist, die Todesstrafe zu verhängen (1Sam 14,1–44). Das ist ein klassisch tragischer Konflikt: Sohnesliebe versus Staats- bzw. Kriegsräson. Soll man das Todesurteil als heroischen – oder als wahnsinnigen Entscheid werten?11 Sah Saul in Jonatan womöglich den von Samuel Angekündigten und wollte ihn unschädlich machen, auch wenn es der eigene Sohn war?12 Die Erzählung verrät über Sauls Beweggründe nichts. Sie teilt nur mit, das (Kriegs-)Volk habe dem Eid des Königs einen eigenen entgegengesetzt: „So wahr Jhwh lebt, kein Haar von seinem [Jonatans] Haupt soll zu Boden fallen! Denn mit Gott hat er es an diesem Tag vollbracht“ (1Sam 14,45). Und Saul? Er fügt sich. Wieder kann man zweifeln: Ist auch dies ein geradezu heroischer Akt (wann steckt ein Herrscher schon zurück und hört auf sein Volk)? Oder ist Saul insgeheim froh, seinen tapferen Sohn behalten zu können? Oder erweist er sich hier als inkonsequenter und 11
12
Fast alle Ausleger meinen, Saul handle hier absolut unzulässig. Einzig White (Saul 135) schert aus der Reihe: Sauls „willingness to have Jonathan put to death can only be admirable. A vow must be fullfilled“. So Fokkelman, Crossing Fates 77.
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schwacher Führer? Wieder sagt der Erzähler nicht, was die Lesenden denken sollen. Er will, dass sie Saul hin- und hergerissen sehen (und mit ihm hin- und hergerissen sind) zwischen gegenläufigen Erwägungen und Zielsetzungen. Einen weiteren Krieg hat Saul gegen die Amalekiter zu führen (1Sam 15), nach biblischer Tradition seit alters ein Erzfeind Israels (und des Gottes Israels!).13 Saul soll erbarmungslos alles Leben dort ausrotten – ein furchtbarer göttlicher Befehl, gegenüber dem man eigentlich nicht einmal mehr Ambivalenz empfinden kann. Saul tut alles gehorsamst – lässt dann aber ein paar fette Schafe und den feindlichen König am Leben. Man hätte lieber gelesen, dass er Frauen und Kinder verschonte, doch die Bibel (genauer: Samuel) hält ihm nicht etwa allzu große, sondern zu geringe Härte vor. Samuel zerhackt den Amalekiterkönig noch persönlich (1Sam 15,32f). Dieser stählern prinzipientreue Prophet erklärt nun Saul zum zweiten Mal, dass Gott ihn verworfen und sich bereits einen Nachfolger gesucht habe, der ihm mehr entspreche. So etwas, einem Monarchen gesagt, trägt nicht zu dessen innerer Stabilität und äußerer Gelassenheit bei. Saul wird von jetzt an zu einer Furie, die verbissen den zu fassen und zu vernichten sucht, der ihn da beerben soll: in gewisser Weise verständlich, wenn in der Ausführung auch verwerflich. Es fällt in diesem Zusammenhang übrigens ein bemerkenswerter Ausdruck: Gott habe es „bereut“, Saul zum König gemacht zu haben (1Sam 15,11.35). Doch gleich danach versichert Samuel dem Saul, Gott sei kein Mensch, dass er etwas zu „bereuen“ habe (1Sam 15,29). Wie ist mit einem derart eklatanten Widerspruch in ein und demselben Text umzugehen? Die meisten Exegeten versuchen ihn aufzulösen, indem sie den beiden Aussagen verschiedene Geltungsbereiche oder einen unterschiedlichen Rang zumessen, etwa so, dass der eine originär, der andere eine später zugesetzte Glosse sei. Könnte sich aber in dieser textlichen Spannung etwas ausdrücken wie Ambivalenz in Gott, oder vorsichtiger: im Gottesbild der Schreibenden?14 Sie wären dann in Unruhe geraten angesichts von Fragen wie: Kann Gott einen Erwählten plötzlich verwerfen? Wie steht es dann um seine Verlässlichkeit? Kann er nicht auch etwas zeigen wie Geschmeidigkeit, die Fähigkeit zum change-of-mind? Wieder sind die Lesenden gefragt: Welche Bilder von Gott mögen angemessen sein, welche nicht?
3.
Ambivalente Empfindungen Sauls gegenüber David: Liebe oder Hass?
Wie Saul und David das erste Mal zusammentreffen, ist sprechend: Saul, so die Bibel, ist von „Jhwhs Geist“ verlassen und wird von einem „schlimmen Geist von Jhwh her“ gequält (1Sam 16,14). Anscheinend hat Gott diverse Geister zur Verfügung, durch die er einen Erwählten aufbauen, einen Verworfenen zerstö13 14
Vgl. Tanner, Amalek. Vgl. die ausführliche Diskussion der Frage bei Jeremias, Reue Gottes 27–36, sowie in der demnächst erscheinenden 3. Lieferung von: Dietrich, Samuel (BKAT 8.2).
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ren kann. Der gequälte König holt, in der Hoffnung auf Linderung, einen jungen Leierspieler als Musiktherapeuten an den Hof – ausgerechnet David, seinen inzwischen von Samuel gesalbten Nebenbuhler und Nachfolger. Und siehe da, Saul wird bei der Musik wohler, er „liebt“ David (oder David ihn, die Formulierung ist uneindeutig) und macht ihn zu seinem Waffenträger (1Sam 16,15–23). Das schöne Anfangsbild vollkommener Harmonie zwischen den beiden trübt sich schnell. In der nächsten Erzählung (1Sam 17) marschieren die Philister auf, voran Goliat, ein scheinbar unbesiegbarer Recke. Kein Israelit wagt den Zweikampf, auch Saul nicht, obwohl er selbst ein Hüne ist. Aber David, ein Jüngling noch, traut sich – und siegt. Sauls Eifersucht wächst ins Maßlose, als die Frauen, wie im Orient üblich, bei der Rückkehr der Krieger tanzen und dazu singen: „Saul hat seine Tausende geschlagen, David seine Zehntausende“ (1Sam 18,7). Ein weiterer Geistanfall sucht Saul heim, David spielt vor ihm auf – und plötzlich zückt der König den Speer gegen ihn, vermag ihn freilich nicht zu treffen (1Sam 18,10f): ein Vorgang, der sich später wiederholt (1Sam 19,9f). Anscheinend wittert der geplagte König in seinem Geistheiler den ihm von Samuel angekündigten Nachfolger. – Wieder sind die Gefühle des Lesers ihm gegenüber gespalten: Ein „schlimmer Geist“ hat ihn befallen, die Ankündigung eines Kontrahenten hat ihn rasend gemacht; das weckt Mitgefühl. Andererseits: Ist ein von einem schlimmen Geist Befallener ein tragbarer Regent? Und: Berechtigt die Sorge um den eigenen Machterhalt zu Mordanschlägen? Saul versucht auf alle möglichen Weisen, David aus dem Weg zu räumen, freilich ohne Erfolg, im Gegenteil, David eilt von Erfolg zu Erfolg; in den Augen Sauls wird er immer unheimlicher, er habe sich, heisst es, regelrecht vor ihm „gefürchtet“ und sei ihm doch spinnefeind geblieben (1Sam 18,12–30): Bild einer verwirrten, zerklüfteten Seele. Endlich bleibt David nur mehr die Flucht, er beginnt mit einer Bande von Outlaws ein Freibeuterdasein in der Wüste Juda (1Sam 22,1f). Saul jagt ihn auch dort, unter Aufbietung aller militärischen Mittel (die er doch dringend im Kampf gegen die Philister gebraucht hätte). Zunehmend leidet er an Verfolgungswahn: Er bezichtigt alle und jeden, auch seine treuesten Anhänger und sogar den Kronprinzen Jonatan, der Konspiration mit David (1Sam 21,30; 22,7f). Einmal lässt er ein 85-köpfiges Priestergeschlecht abschlachten, weil dessen Oberhaupt es angeblich mit David hielt (1Sam 21f).15 Ein einsam gewordener Massenmörder auf dem Thron: In die Abscheu vor einem solchen Mann mischt sich wieder Mitempfinden. Saul wirkt wie ein verwundeter, aber immer noch urstarker Bär, der mit seinen Pranken überall hin schlägt, wo er den Gegner vermutet. Doch der ist wendig und gewitzt (oder von Gott beschützt) und wird nie getroffen. Zweimal kehrt sich der Spieß geradezu um: Der Verfolgte bekommt seinen Verfolger durch Zufall oder durch Kühnheit in die Hände und könnte ihm den Garaus machen (1Sam 24 und 26). Er tut es nicht, und widerwillig muss der Verschonte anerkennen, dass der andere „gerechter“ sei als er und gewiss an seiner Statt König werde (1Sam 24,18–21). Fast liebevoll nennt er David seinen „Sohn“ (1Sam 24,17; 26,21) und lädt ihn ein, zu ihm zurückzukehren (worauf sich David freilich nicht einlässt). So blit15
Allerdings meint Hutzli (Saul als Feind Jhwhs), der blutrünstige Teil dieser Geschichte (1Sam 22,6–23) sei eine späte Ausweitung des Textes, die Saul gezielt verunglimpfe.
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zen in Sauls umwölktem Gemüt Einsichten auf, die ihn eher wieder sympathisch machen – und doch mag man ihm nicht recht trauen. Am Ende fällt der labil und unberechenbar Gewordene im Kampf gegen die Philister, genauer: er stürzt sich, um den Torturen der Sieger zu entgehen, ins eigene Schwert (1Sam 31).
Schlusserwägung Es sollte klar geworden sein: Vom ersten Augenblick an, da Saul die Bühne der biblischen Erzählung betritt, bis zu dem, da er sie verlässt, erscheint er als ambivalente Figur: einmal mehr licht und anziehend, einmal mehr düster und abstoßend, einmal mehr Mitleid, einmal mehr Abscheu erweckend – aber nie nur das eine oder das andere. (Übrigens wird es bei David ähnlich sein: bei ihm ist zwar mehr Helligkeit und weniger Dunkelheit als bei Saul, aber doch das eine nicht ohne das andere.) Die Bibel malt nicht Bilder von Schurken und von Helden, die einen düster, die andern licht, sondern Gestalten, in denen sich Licht und Schatten mischen, die in Situationen geraten, die sie nicht gesucht haben und unbegreiflicherweise doch bestehen, oder die sie gesucht haben und nicht überstehen. Die biblischen Helden sind immer zugleich Antihelden, sie treffen Entscheidungen, die man verstehen, aber nicht billigen kann, sie vollbringen Taten, die bewundernswert und zugleich erschreckend sind, oder die erschreckend sind und doch wohl begreiflich. Man kann kaum zu einem Urteil über sie gelangen – jedenfalls nicht zu einem abschließenden und glatten. So ist es auch bei Saul. Die Exegese, das wurde eingangs gezeigt, bringt es nur schwer über sich, ihn das sein zu lassen, was er in der biblischen Darstellung ist: eine durch und durch ambivalente Gestalt.16 Man sollte ihn weder verteufeln noch verherrlichen, sondern lernen, ihn als mit grossen Gaben ausgestatteten und zu Grossem berufenen, dann aber an seiner Aufgabe und an den Umständen, zutiefst jedoch an sich selbst gescheiterten Herrscher zu sehen. Solchermaßen geübt, kann der Blick auch die Ambivalenzen an den anderen, Saul umgebenden Figuren – namentlich Samuels, Davids und Gottes – wahrnehmen. Es gilt, die Spannungen in der biblischen Figurenzeichnung auszuhalten und zu begreifen, dass Ambivalenz ein Grundzug des biblischen Menschenbildes, ja, wohl des menschlichen Wesens überhaupt ist.
Literatur Amit, Yairah, The Delicate Balance in the Image of Saul and Its Place in the Deuteronomistic History, in: C.S. Ehrlich (ed.), in cooperation with M.C. White, Saul in Story and Tradition, 2005 (FAT 47), 71–79. 16
Als Ausnahme kann am ehesten Amit (Balance) gelten – vielleicht nicht zufällig eine jüdische Bibelwissenschaftlerin.
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Couffignal, Robert, Saül. Héros tragique de la Bible. Étude littéraire du récit de son règne d’après les Livres de Samuel (1Sa IX-XXXI et 2S I), Paris - Caen 1999 (Thèmes et mythes 19). Dietrich, Walter / Lüscher, Kurt / Müller, Christoph, Ambivalenzen erkennen, aushalten und gestalten. Eine neue interdisziplinäre Perspektive für theologisches und kirchliches Arbeiten, Zürich 2009. Dietrich, Walter (Hg.), David und Saul im Widerstreit – Diachronie und Synchronie im Wettstreit. Beiträge zur Auslegung des ersten Samuelbuchs, 2004 (OBO 206). Dietrich, Walter, Samuel. 1Sam 1–12, 2011 (BKAT 8.1). Ehrlich, Carl S. (ed.), in cooperation with M.C. White, Saul in Story and Tradition, 2005 (FAT 47). Exum, J. Cheryl, Tragedy and Biblical Narrative. Arrows of the Almighty, Cambridge 1992. Fokkelman, J.P., Narrative Art and Poetry in the Books of Samuel. A Full Interpretation Based on Stylistic and Structural Analyses, II: The Crossing Fates, 1986 (SSN 23). Gunn, David, The Fate of King Saul. An Interpretation of a Biblical Story, 1980 (JSOT.S 14). Hentschel, Georg, Saul. Schuld, Reue und Tragik eines „Gesalbten“, Leipzig 2003 (Biblische Gestalten 7). Humphreys, W. Lee, The Rise and Fall of King Saul. A Study of an Ancient Narrative Stratum in 1 Samuel: JSOT 18 (1980) 74–90. Humphreys, W. Lee, From Tragic Hero to Villain. A Study of the Figure of Saul and the Development of 1 Samuel: JSOT 22 (1982) 95–117. Hutzli, Jürg, Saul als Feind Jhwhs, David als Verehrer Jhwhs. Zum schriftgelehrten und polemischen Charakter von 1 Sam 22,6–23, in: T. Naumann / R. Hunziker-Rodewald (Hg.), Diasynchron. Beiträge zur Exegese, Theologie und Rezeption der Hebräischen Bibel. FS Walter Dietrich, Stuttgart 2009, 185–208. Jeremias, Jörg, Die Reue Gottes. Aspekte alttestamentlicher Gottesvorstellung, 21997 (BThSt 31). Klein, Johannes, Streben nach Sündlosigkeit als Mangel – Sündenverstricktheit als Vorzug eines Herrschers. Gedanken zur Talmudstelle bJoma 22b, in: W. Dietrich / H. Herkommer (Hg.), König David – biblische Schlüsselfigur und europäische Leitgestalt, Fribourg / Stuttgart 2003, 229–238. Krauss, Heinrich / Küchler, Max, Saul – Der tragische König, Fribourg 2010 (Erzählungen der Bibel IV). Mobley, Gregory, Glimpses of the Heroic Saul, in: C.S. Ehrlich (ed.), in cooperation with M.C. White, Saul in Story and Tradition, 2005 (FAT 47), 80–87. Shalom Brooks, Simcha, Saul and the Monarchy: A New Look, Aldershot / Burlington, VT 2005 (Society for Old Testament Study Monographs). Tanner, Hans Andreas, Amalek. Der Feind Israels und der Feind Jahwes. Eine Studie zu den Amalektexten im Alten Testament, Zürich 2005. Vermeylen, Jacques, La loi du plus fort. Histoire de la rédaction des récits davidiques de 1 Samuel 8 à 1 Rois 2, 2000 (BEThL 154). White, Marsha C., Saul and Jonathan in 1 Samuel 1 and 14, in: C.S. Ehrlich (ed.), in cooperation with M.C. White, Saul in Story and Tradition, 2005 (FAT 47), 119–138.
An König David denken Welchen Grund könnten Menschen haben, die nicht monarchistisch gesinnt sind, eines Monarchen zu gedenken, noch dazu eines jüdischen aus dem 10. Jahrhundert v.Chr.?1 Im spätmittelalterlichen Berner Münster begegnet man – trotz des Bildersturms, der über das Gebäude hinweg gegangen ist – zahlreichen Gestalten, welche die kulturelle Welt dieser zentraleuroäischen Stadt mit konstituiert haben, darunter zweimal (im Gewölbe des Haupteingangs und im Schnitzwerk des Chorgestühls) dem König David: unverwechselbar durch die Krone auf dem Haupt und die Harfe in der Hand. Weniger der Machthaber und Monarch war es offenbar, der die bürgerlichen Erbauer des Doms faszinierte (da wären andere Symbole angebracht gewesen als die Harfe), als vielmehr der königliche Sänger und Prophet. Sich seiner zu erinnern, bedeutete, jedenfalls im damaligen Bern, ein Stück kultureller Identitätsstiftung.
1.
„Gedenken“ nach dem Alten Testament
In der Hebräischen Bibel spiegelt sich eine ausgesprochene Erinnerungskultur. Israel erzählte von seiner Vergangenheit und reflektierte sie, um sich dadurch selber zu finden und zu definieren. Der dafür zentrale Begriff ist die Wortwurzel zkr, „gedenken“.2 Sie ist nicht spezifisch hebräisch, sondern begegnet in dieser oder jener Ausformung in allen wichtigen semitischen Sprachen. Wir haben es also nicht mit einem israelitisch-jahwistischen Proprium zu tun, sondern mit einem kulturellen Erbe des ganzen Alten Orients, an dem Israel Anteil hat – und uns durch seine Bibel Anteil gibt. Hebräisches bzw. gemeinsemitisches „Gedenken“ kann sich zwar auf Vergangenheitliches richten, also eine Erinnerungsleistung bzw. ein Vergegenwärtigen von Geschichte meinen, doch ist das bei weitem nicht alles. Hanna etwa, die spätere Mutter Samuels, bittet Gott, er möge ihrer in ihrer Kinderlosigkeit „gedenken“ (1Sam 1,11). Dabei ist nicht auf ein früheres Versprechen angespielt, an das Gott sich „erinnern“ solle – so als hätte er Gedächtnisprobleme.3
1 2
3
Dass David in Israel anlässlich der sog. 3000-Jahr-Feier der Stadt Jerusalem Konjunktur hatte, steht auf einem besonderen Blatt. Vgl. dazu die grundlegenden Monographien von Brevard S. Childs (Memory and Tradition in Israel, 1962 [SBT 37]) und von Willy Schottroff („Gedenken“ im Alten Orient und im Alten Testament, 1964) sowie die Artikel von Letzterem in THAT I (507–518) und NBL I (753–755) und von Georg Eising in ThWAT II (571–593, Lit.!). Es wäre ein Missverständnis, das hier und öfter (z.B. Gen 40,23, Dtn 8,18f; 1Sam 1,11) als Oppositum zum „Gedenken“ erscheinende „Vergessen“ zkr in diesem Sinne zu deuten. Vielmehr meint es ein aus-dem-Blick-Verlieren, ein nicht-Beachten. Das kommt be-
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Nein, er soll an sie denken, sie soll ihm wichtig werden, ihm im Sinn liegen.4 Und dies soll kein rein mentaler Vorgang bleiben, er soll handfeste Folgen haben: Die jahrelang enttäuschte Hoffnung auf ein Kind soll sich endlich (und wird sich dann tatsächlich) erfüllen. Biblisches zkr ist also viel mehr als bloßes Sich-Erinnern. Es ist in der Zeitrichtung nicht festgelegt, und ihm wohnt eine Wirkkraft inne. Es es ist ein „Denken-an“ im Sinne eines „Denken-für“ und „Dasein-für“.5 All dies gilt auch dort, wo es um das Denken an Geschehnisse oder Personen der Vergangenheit geht. Vor allem in den Psalmen ist immer wieder davon die Rede, dass Israel der früheren Heilstaten Gottes gedenke (Ps 77,6f.12f; 119,52; 143,5).6 Dahinter steht weniger historisches Interesse als vielmehr der Wunsch, die Vergangenheit bzw. das in ihr sichtbar Werdende für die Gegenwart fruchtbar und wirksam zu machen. Wenn Gott früher geholfen hat, wird er auch heute hilfsbereit sein.7 In diesem Sinne kann auch Davids „gedacht“ werden, vielmehr: soll Gott seiner gedenken, soll etwa seines Bemühens um die heilige Lade oder seiner eigenen Zusagen an ihn eingedenk – und daraufhin bereit sein, jetzt denen zu Hilfe zu kommen, die sich darauf berufen (Ps 132,1; 2Chr 6,42). David und die ihm zuteil gewordenen Gnadenerweisungen sind eine Art Unterpfand, das Israel in die Hand (bzw. ins Gedächtnis) gegeben ist, um immer neu Gottes Hilfsbereitschaft wecken zu können. Das „Denken-an“ hat Auswirkungen nicht nur auf die Gottesbeziehung, sondern auch auf die Beziehung zwischen den Subjekten und den Objekten des Gedenkens. Indem ich gedenke, richte ich mich aus auf das oder den, dessen ich gedenke. Ich nehme mich im Gegenüber dazu wahr und erwarte von der Beschäftigung mit ihm etwas für mich, verändere mich auch durch die Beschäftigung mit ihm. Und umgekehrt: Der oder das, dessen ich gedenke, ist nicht in natura, sondern nur in meiner Vorstellung präsent. Gedenken richtet sich auf Objekte, die in gewissem Sinne erst zu schaffen sind. Bezogen auf unseren Gegenstand bedeutet das, dass jede Person und jede Lese- oder Glaubensgemeinschaft, die sich auf ein Gedenken Davids einlässt – sei es aus wissenschaftlichem oder künstlerischem oder geistlichem Interesse, sei es aufgrund jüdischer oder christlicher Vorprägung –, bestimmte Vorstellungen von dem biblischen König schon mitbringt. Darin sind wiederum die Vorstellungen Früherer eingeflossen, und davon ist das Bild dessen mitbestimmt, dem das Gedenken gilt. So findet ein Prozess gegenseitiger Annäherung statt: Nähern kann man sich nur einem David, der sich aus historischer Ferne annä-
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sonders deutlich in Jes 47,7 zum Ausdruck, wo es heisst, Babel hätte seines Endes (also eines erst noch bevorstehenden Geschehens!) gedenken sollen. Entsprechend stehen in Parallele zu zkr zuweilen Begriffe wie „achten auf, verstehen, einsehen“ (z.B. Dtn 32,78; Jes 43,18), „sich zu Herzen nehmen“ (Jes 47,7; 57,11), „sich kümmern um“ (Jes 3,16; 14,10; Hos 8,13; Ps 8,5). Wie im Fall Hannas (1Sam 1,11.19), so bedeutet Gottes „Gedenken“ auch gegenüber Israel Helfen und Erbarmen (Jer 31,20). Negativ, als Versäumnis, ist davon in Ps 78,34f.42; 106,7; Neh 9,17 die Rede. Vgl. Jes 46,8: Der Gott Israels, der sich als der Einzige erwiesen hat, wird sein Volk auch in Notzeiten nicht im Stich lassen.
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Haupt- und Nebenfiguren der Samuelbücher
hert. Berühren kann nicht der David des 10. Jahrhunderts v.Chr., sondern nur ein je neu geschaffener David. Das war schon in biblischer Zeit so, wie sich im Folgenden zeigen wird.
2.
Davids gedenken in den Samuelbüchern
Irritierenderweise zeichnet die Bibel nicht ein Bild von David, sondern deren viele. Der David der Samuelbücher stellt sich ganz anders dar als derjenige der Chronikbücher oder der Psalmen oder der prophetischen Schriften – um nur die wichtigsten Textbereiche zu nennen; und von ihnen bietet einzig die Chronik ein einigermaßen geschlossenes Bild, die anderen Textfelder weisen in sich wiederum zahlreiche Farben und Facetten auf. Den biblischen David, dessen man etwa „gedenken“ könnte, gibt es also nicht. Schon das relativ älteste biblische Zeugnis über David, die Samuelbücher, führt nur zu einem kleinen Teil unmittelbar an die Davidszeit heran. Die Mehrzahl der Texte ist in erheblichem zeitlichem Abstand zu ihr auf mehreren literarischen Stufen entstanden. So ist schon das Davidbild der Samuelbücher nicht einheitlich, geschweige denn fotografisch genau. Die entscheidenden Konturen und Farben hat es in einem „Höfisches Erzählwerk“ erhalten, einem literarischen Meisterwerk, das zur mittleren Königszeit entstand und unter Aufnahme manchen älteren Materials die frühe Königszeit von Samuel bis Salomo beschrieb.8 Es zeichnet von David selbst, aber auch von vielen anderen der auftretenden Charaktere äußerst differenzierte und lebensvolle Porträts, die aber nicht vorschnell als biografisch exakte Abbildungen angesehen werden sollten. David betritt in dieser Darstellung die Bühne gewissermaßen durch drei Türen gleichzeitig: als von Gott Erwählter und durch Samuel Gesalbter (1Sam 16,1–13), als viel versprechender junger Höfling und kunstsinniger Unterhalter des Königs Saul (1Sam 16,14–23) sowie als Gott vertrauender und kühner Bezwinger des Philisterrecken Goliat (1Sam 17). Nicht ein flächiges, sondern ein mehrdimensionales, teilweise sogar widersprüchliches9 Bild Davids wird uns damit vor Augen gemalt. So geht es weiter: David ist ein erfolgreicher Offizier in Sauls Diensten und gewinnt die Herzen der Königsfamilie – und unterminiert gerade so deren Stellung (1Sam 18f). Vom Hof vertrieben, wird er schuldlos schuldig am Todesgeschick einer Priesterdynastie (1Sam 21f), lernt dann aber zunehmend, Schuld zu meiden und Gewalt zu entsagen (1Sam 24–26). Obwohl in den Dienst der Philister übergetreten, der ärgsten Feinde Israels, trägt er nicht bei zu deren Sieg über Israel und zum Tod Sauls (1Sam 27–31). Danach setzt er 8
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Vgl. meine ausführliche Darstellung in dem Buch „Die frühe Königszeit in Israel. 10. Jahrhundert v.Chr.“, (1997 [Biblische Enzyklopädie 3], Kap. III: „Die Literatur über die frühe Königszeit“) sowie die Kurzfassung in dem Lexikon-Artikel „Samuel- und Königsbücher“: TRE 30, 1998, 5–20. Wie kann der Waffenträger Sauls (16,21) als Unbekannter in die Philisterschlacht spazieren (17,12ff)? Und wie kann Saul den jungen David, den er „liebte“ (16,21), nach seinem Kampf gegen Goliat nicht wieder erkennen (17,55)?
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zwar Sauls Erben politisch und militärisch unter Druck, vergreift sich aber nie an ihnen persönlich – und doch kommen sie alle, einer nach dem anderen und sehr zu seinem Vorteil, ums Leben (2Sam 1–4). Mit diplomatischem Geschick führt er die Königtümer Juda und Israel in einer Personalunion zusammen, doch erwächst aus der Doppelherrschaft nicht nur großer Machtgewinn, sondern schwerer politischer Schade (2Sam 3; 5; 8; 20; 1Kön 12). Obschon der Gatte vieler Frauen und Vater vieler Kinder, geht er eine illegale Verbindung mit der Offiziersgattin Batscheba ein – und ausgerechnet dieser Liaison entstammt sein späterer Nachfolger Salomo (2Sam 11f). Er liebt alle seine Söhne, lässt ihnen aber zu viel freie Hand und verstrickt sich so in Mitschuld an ihren Fehltritten und ihrem schließlichen Untergang (2Sam 13–19; 1Kön 1f). Mit Gott steht er in bestem Einvernehmen, doch muss er erleben, dass dieser ihm seine Grenzen weist (2Sam 7; 12). Dieses David-Bild ist nicht einlinig-plakativ, sondern gleicht einem Vexierbild, das sich je nach Betrachtungswinkel verändert. Wer immer des hier geschilderten David „gedenkt“, wird je verschiedene Farben und Facetten wahrnehmen, sieht mehr die lichten oder die dunklen Seiten der Hauptgestalt, lässt sich stärker von der Sympathie mit ihr oder von der kritischen Distanz ihr gegenüber beeindrucken. Unverkennbar steht in dieser antiken David-Biographie nicht der äußere Ereignisablauf im Vordergrund, sondern die innere Entwicklung des Helden:10 von dem vor Kraft strotzenden Jüngling zu dem vor Kälte zitternden Greis, vom unbedachten Draufgänger zum gereiften Mann, von einem, der sich unbedenklich durchsetzt, zu einem, der fähig ist zu Selbstbeherrschung, Trauer und Reue, von einem, der Leid eher zufügt, zu einem, der lernen muss, es zu ertragen.11 Dieses paradigmatischen David, des (Mit-) Menschen mehr als des überlegenen Herrschers, lohnt es sich zu „gedenken“. In mancher Hinsicht ist das Davidbild der Psalmen zu alledem eine Fortführung und Vertiefung.
3.
Davids gedenken in den Psalmen
Verschiedentlich ist in den Samuelbüchern davon die Rede, dass David gesungen und gebetet habe; freilich sind es relativ wenige Texte, die das bezeugen.12 Gegen Ende der alttestamentlichen Zeit aber – in der Gemeinde von Qumran und bei den Christen des Neuen Testaments – hielt man ihn für den Verfasser sämtlicher biblischer Psalmen und gar noch vieler weiterer Lieder. Und schon das Lied 2Sam 23,1–7 tituliert ihn summarisch als den „lieblichen Sänger der 10 11
12
Analoges gilt übrigens auch für die Porträts so mancher Nebenfigur, etwa Sauls, Michals, Joabs, Abschaloms usw. Vgl. näherhin Hans-Jürgen Dallmeyer / Walter Dietrich David – ein Königsweg. Psychoanalytisch-theologischer Dialog über einen biblischen Entwicklungsroman, Göttingen 2002. 1Sam 16,14–23 (hier ist allerdings ‚nur‛ vom Musizieren die Rede); 2Sam 1,17ff; 7,18ff; 22; 23,1–5.
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Haupt- und Nebenfiguren der Samuelbücher
Psalmen Israels“.13 Im Psalterbuch lassen sich noch einige Stufen des dorthin führenden Prozesses beobachten. Wenn nicht alles täuscht, begann die Davidisierung des Psalters nicht vor der Exilszeit, d.h. sie erfolgte, als in Jerusalem kein Davidide mehr auf dem Thron saß.14 Das David-Gedenken in den Psalmen war demnach nie staatlichpolitisch motiviert. Nicht um David, den Monarchen, ging es, sondern um David, den Mit- und Vorbeter. Von den 150 Psalmen des hebräischen Psalters tragen 73 die Überschrift ledawid.15 Lange hat man gemeint, die hebräische Präposition vor dem DavidNamen als „le auctoris“ und damit David als (vermeintlichen) Autor ansprechen zu können. Mittlerweile ist diese Auffassung widerlegt.16 Die verantwortlichen Redaktoren wollten nicht David als Verfasser kennzeichnen, sondern die Leser oder Beterinnen dazu auffordern, die betreffenden Psalmen „auf David hin“ zu lesen und zu beten.17 Im Gedenken an ihn18 sollte man sich an Gott wenden, die Aussagen der Psalmgebete an seiner Gestalt sich veranschaulichen, sich David gleichsam betend zur Seite stellen. Die in dieser Weise David zugeordneten Psalmen finden sich gebündelt in mehreren sog. David-Psaltern. In dessen erstem (Ps 3–41) steht der leidende und klagende David im Vordergrund – und bietet sich so als Identifikationsfigur für andere Leidende an; den zweiten (Ps 51–72) 19 kennzeichnen vorwiegend Volksklagen – womit David als Klagender an die Seite des leidenden Gottesvolkes tritt; im dritten (Ps 101–104)20 wird der Lobpreis Gottes bestimmend, und der vierte (Ps 108–110) und fünfte (Ps 138–145) – kaum zufällig Anfang und Schluss des fünften und letzten Psalmbuchs – nehmen eine heilvolle messianische Zukunft in den Blick, hier ist des David redivivus zu „gedenken“. Die Akzentverschiebungen passen zum inneren Gefüge und Gefälle des Gesamtpsalters, womit David zur Leitgestalt wird in der großen Bewegung von Not und Leid zu Sieg und Glück.21 13 14 15 16 17
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Hiervon hat das wichtigste einschlägige Buch seinen Titel genommen: Martin Kleer, „Der liebliche Sänger der Psalmen Israels“, 1996 (BBB 108), Vgl. Frank-Lothar Hoßfeld / Erich Zenger, Die Psalmen I. Psalm 1–50, 1993 (NEBK 29), 14; Kleer (vorige Anm.), 126. Beim griechischen Psalter sind 80 von 151 Psalmen mit der entsprechenden Überschrift versehen. Vgl. Ernst Jenni, Die hebräischen Präpositionen, Bd.3. Die Präposition Lamed, Stuttgart u.a. 2000, 71. Vgl. die intensive Diskussion bei Martin Kleer (Anm. 13), 78–86. Beat Weber (Werkbuch Psalmen I, Stuttgart u.a. 2001) gibt den Ausdruck ledawid regelmäßig mit „David zugehörig“ wieder. Dieser Bezug zum vorhin Gesagten scheint angemessen, umso mehr, als das Objekt des Verbs zkr meist mit purem Akkusativ, manchmal aber auch durch le (wie in ledawid) angefügt wird. Das ledawid fehlt allerdings in Ps 66; 67; 71; und Ps 72 wird Salomo zugewiesen, doch steht in 72,20 die ausdrückliche Notiz, hier endeten die „Lieder Davids“. In Ps 102 und 104 fehlt die David-Notiz, wofür sie in den Einzelpsalmen 86; 122; 124; 131; 133 steht: vermutlich ein weiterer Schritte auf dem Weg zur Davidisierung des Gesamtpsalters. Vgl. dazu die gründliche Untersuchung von Martin Kleer (Anm. 13), 87–127.
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Freilich, glatt und gerade verläuft diese Linie nicht. Nicht nur, dass so gut wie alle Klagelieder, die sich am Anfang des Psalters häufen, auch Vertrauens, Dank- und Lobäußerungen enthalten. Es begegnen bereits in der ersten Teilsammlung des ersten David-Psalters (Ps 15–24) auch drei königliche Siegeslieder (Ps 18; 20; 21). Diese sind gerahmt durch Klagelieder22 (Ps 16; 17; 22) und werden gleichsam gekrönt durch ein Schöpfungs- und Toralied (Ps 19). So ist das hier sich abzeichnende David-Porträt weder das eines geplagten und geschlagenen Mannes noch das eines siegreichen Herrschers. Vielmehr zeigt er mehrere Profile: Ihm ist Leid auferlegt, ihm ist aber auch Erfolg beschieden; in allem beugt er sich Gott, dem Schöpfer der Welt und Geber der Tora. Ähnlich kommen im zweiten David-Psalter, der in seinem Anfang befrachtet ist mit schwermütigen Klagen, gegen Ende tröstlichere Töne auf (v.a. Ps 64–68), und sein Schlusslied (Ps 72) entwirft das Bild eines Gott wohlgefälligen und sein Volk gerecht und erfolgreich leitenden Königs.23 Es scheint auf einer fortgeschrittenen Davidisierungsstufe gewesen zu sein, dass man eine Reihe von Psalmen – zuerst des zweiten, dann auch des ersten (in der Septuaginta auch des fünften) David-Psalters – mit bestimmten Situationen aus der „Biographie“ Davids in Verbindung brachte, wie sie die Samuelbücher schildern.24 Es wurde dabei freilich nicht die biographische Reihenfolge eingehalten;25 offenbar stand die Abfolge der Psalmen fest, ehe einzelne von ihnen genauer im Leben Davids situiert wurden. Dennoch ist es von nicht zu unterschätzender Bedeutung, dass das „Gedenken“ jetzt in konkrete Bahnen gelenkt und dazu auf die Samuelbücher verwiesen wird. Gleichwohl weicht das Davidbild der Psalmen von dem der Samuelbücher weit ab. Die David-Rezeption in den Psalmen kreierte also gewissermaßen den, dessen da „gedacht“ werden sollte. 22 23
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Freilich enthalten hier wie sonst allermeist die Klagelieder Anteile an Vertrauens- und Dankäußerungen. Eine neue Monographie sieht den Grundbestand dieses Psalms aus der Kontradiktion gegen das diktatorische Gehabe der neuassyrischen Könige erwachsen: Martin Arneth, „Sonne der Gerechtigkeit“. Studien zur Solarisierung der Jahwe-Religion im Lichte von Psalm 72, 2000 (BZAR 1). Vgl. hierzu die sorgfältige Analyse Kleers (Anm. 13), 87–127. Als nicht unbedingt zwingend indes erscheinen die Annahme einer redaktioneller Mehrstufigkeit bei diesen Notizen sowie die These, auch dieser Schritt impliziere noch nicht die Behauptung davidischer Autorschaft. Ps 3 wird mit 2Sam 15 in Verbindung gebracht (Flucht vor Abschalom), Ps 7 mit einem „Benjaminiter Kusch“ (ist der Benjaminit Schimi, 2Sam 16,5ff, gemeint, oder der Kuschit von 2Sam 18,19ff?), Ps 18,1 mit 2Sam 7 (? Rettung aus der Hand Sauls und aller Feinde), Ps 34 mit 1Sam 21 (der scheinbare Wahnsinn vor Abimelech – gemeint ist Achisch), Ps 51 mit 2Sam 12 (das Kommen Natans nach der Batscheba-Affäre), Ps 52 mit 1Sam 21 (der Verrat Davids an Saul durch Doëg), Ps 54 mit 1Sam 26 (Verrat an Saul durch die Sifiter), Ps 56 mit 1Sam 21 (Ergreifung durch die Philister in Gat), Ps 57 mit 1Sam 24 (Flucht vor Saul in die Höhle), Ps 59 mit 1Sam 19 (Verhaftungsversuch in Davids bzw. Michals Haus), Ps 60 mit 2Sam 8 (Kriege gegen Aram und Edom), Ps 63 mit 1Sam 22ff (Aufenthalt in der Wüste Juda). – In der Septuaginta kommen noch hinzu die Verknüpfungen von Ps 27 mit 1Sam 16 (vor der Salbung) sowie von Ps 144 und Ps 151 mit 1Sam 17 (der Goliatkampf).
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4.
Haupt- und Nebenfiguren der Samuelbücher
Heute Davids gedenken?
Welches David wäre heute zu „gedenken“? Sicher nicht des machtvollen Herrschers, und zwar aus mehreren Gründen. Ein triumphalistisches Davidbild wäre nicht nur un- bzw. vordemokratisch, es wäre auch ethisch höchst bedenklich. Der Monarchismus wurde überwunden und dem Totalitarismus ist der Kampf angesagt nicht zuletzt aufgrund von Maximen, die der biblisch-jüdisch-christlichen Tradition entstammen. Wenn heute mit christlich gefärbter Argumentation Weltherrschaftsansprüche verbrämt werden, wenn israelische Machtpolitik nicht nur mit dem sog. Davidstern geziert wird (der übrigens erst seit dem 19. Jahrhundert mit Jüdischem in Verbindung gebracht wird), sondern mitunter mit der angeblich weit ausgedehnten Herrschaft Davids legitimiert wird, dann bewegen sich solche Rezeptionen der Davidgestalt aus den Bahnen der biblischen Rezeptionsgeschichte deutlich heraus. Wir sahen: Der David der Samuelbücher und erst recht derjenige der Psalmen ist kein glanzvoller Triumphator.26 Neben ethischer Kritik steht einem cäsarenhaften Davidbild auch historische Kritik entgegen. Zwar ist inzwischen nicht mehr strittig, dass es im 10. Jahrhundert einen judäischen König namens David gegeben hat. In einer unlängst gefundenen aramäischen Stele des 9. Jahrhunderts v.Chr. heißt das Königreich Juda „Haus Davids“, 27 was eine gewisse Vorzeitigkeit von dessen Begründer voraussetzt. Für alle Einzelheiten über Person und Werk Davids stehen uns jedoch keine außerbiblischen Quellen zur Verfügung, sondern nur die biblischen. Diese fließen zwar reichlich, können aber nicht einfach als bare historische Münze genommen werden. Historische Objektivität – ein in sich durchaus nicht unhinterfragbares Ideal! – ist nicht das Hauptziel der biblischen Autoren. Gewiss enthalten namentlich die Samuelbücher vielerlei historisch zuverlässige oder zumindest glaubwürdige Nachrichten über König David. Die Frage ist indes, wieviele und welche Texte man hierzu rechnet und wie man die in ihnen gegebenen Informationen gewichtet und bewertet. Neuerdings hat sich in der Forschung ein doppelter Trend herausgebildet: das geschichtliche Wirken Davids einerseits als möglichst unbedeutend28 und andererseits als möglichst krude 26 27
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Vollkommen deutlich ist dies ohnehin für den Christus des Neuen Testaments, der bisweilen den Davidsohn-Titel trägt. Erstveröffentlichung: Avraham Biran / Joseph Naveh, An Aramaic Stele Fragment from Tel Dan: IEJ 43 (1993) 81–98; Dies., The Tel Dan Inscription. A New Fragment: IEJ 45 (1995) 1–18. Aus der mittlerweile fast unabsehbaren Sekundärliteratur verweise ich hier nur auf Walter Dietrich, Der Name „David“ und seine inschriftliche Bezeugung (1997), in: Ders., Von David zu den Deuteronomisten. Studien zu den Geschichtsüberlieferungen des Alten Testaments, 2002 (BWANT 156), 74–87. So u.a. Heike Friis, Die Bedingungen für die Errichtung des Davidischen Reiches in Israel und seiner Umwelt, Heidelberg 1986; David W. Jamieson-Drake, Scribes and Schools in Monarchic Judah, 1991 (JSOT.S 109); Hermann Michael Niemann, Herrschaft, Königtum und Staat. Skizzen zur soziokulturellen Entwicklung im monarchischen Israel, 1993 (FAT 6). – Eine detailllierte Auseinandersetzung mit dem sog. „Minimalismus“ wird geführt in V.P. Long / D.W. Baker / G.J. Wenham (eds.), Windows into Old Testament History. Evidence, Argument, and the Crisis of “Biblical Israel”, Grand Rapids, MI / Cambridge, UK, 2002.
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hinzustellen.29 Demnach wäre David kaum mehr gewesen als ein lokaler Machthaber mit ausgeprägtem Killerinstinkt. Eines solchen zu „gedenken“, wäre nur von begrenztem Reiz.30 Nun muss allerdings, wer zu einem derartigen Davidbild gelangen will, die biblischen Quellen äußerst selektiv und weitestgehend gegen ihre eigene Intention lesen. Wer weniger stark negativ vorbefangen ist, wird ihren historischen Wert und die historischen Verdienste Davids weniger skeptisch beurteilen.31 Gleichwohl: Zum glanzvollen Großkönig wird den David des 10. Jahrhunderts niemand machen können, der mit dem Textmaterial sorgfältig umgeht. Um eines solchen „gedenken“ zu können, fehlen also schlicht die gesicherten Fakten. So wird sich heutiges David-Gedenken mit Vorteil nicht an einem hypothetischen historischen David orientieren, sondern an den Davidbildern, welche die Bibel entwirft. Der von ihnen gewiesenen Linie sind schon viele gefolgt. David wurde zu einem Leitbild der europäischen Religions-, Kultur- und Geistesgeschichte32 – und zwar weniger der Sieger und Herrscher als vielmehr der „andere David“: der Leidende und Lernende, der Musizierende und Menschliche, der Bereuende und Betende. Dieser David ist es, der seit je die empfindsamen Menschen fasziniert.
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James C. Vanderkam, Davidic Complicity in the Deaths of Abner and Eshbaal. A Historical and Redactional Study: JBL 99 (1980) 521–539; Steven L. McKenzie, King David. A Biography, Oxford 2000; Baruch Halpern, David’s Secret Demons. Messiah, Murderer, Traitor, King, Grand Rapids, MI / Cambridge, UK 2001. Diese Äußerung sei nicht dahin gehend missverstanden, dass die Bibel und speziell die Samuelbücher bei der Darstellung Davids vorwiegend politisch-apologetische Interessen hätten, wie dies verschiedentlich behauptet wird, vgl. etwa P. Kyle McCarter, The Apology of David: JBL 99 (1980), 489–504; Ders., „Plots, True or False“. The Succession Narrative as Court Apologetic: Interp. 35 (1981), 355–367; Arthur Weiser, Die Legitimation des Königs David: VT 16 (1966), 325–354. Solche Hypothesen gehen viel zu stark von der Voraussetzung aus, die David-Literatur der Bibel sei zeitgenössisch. Vgl. dazu Walter Dietrich, Die frühe Königszeit in Israel (s. oben Anm. 8); dort S. 143– 148 eine Tabelle zur Einstufung der historischen Verlässlichkeit der Texte. Davon gibt einen recht umfassenden Eindruck der Sammelband von Walter Dietrich / Hubert Herkommer (Hg.), König David – biblische Schlüsselfigur und europäische Leitgestalt, Fribourg / Stuttgart 2003. In 31 Beiträgen werden Facetten des Davidbilds im Alten Testament, in Judentum, Islam und Christentum sowie in der Kunst-, Musik- und Literaturgeschichte aufgewiesen.
David und die Philister Vor einiger Zeit kursierte im Internet folgende Meldung:1 BETHLEHEM, ISRAEL, January 13, 2010 – Archaeologists have announced the discovery of a text written by King David shortly following his defeat of Goliath, authenticating the biblical story narrated in 1 Samuel 17. Excavation directors, Dr. Benny bar Throom and Dr. Eilat Mezimah unveiled a tenth century ostracon uncovered only days ago, in Bethlehem, David’s hometown. “The Bethlehem Ostracon appears to be a short letter written by David to his mother, shortly after killing Goliath,” explained Dr Mezimah. “This remarkable and hitherto unparalleled letter not only proves the historical existence of David, but also of the giant Goliath. It also sets out David's ambition to become king over the entire region from Egypt to Babylon” … The main body of the Ostracon reads as follows: “What a great day! I killed the giant, Goliath. And now I will be king over all Israel, from the Wadi of Egypt to the River Euphrates” … Reactions from Old Testament scholars in this country have been universally positive. Professor James Digmore of Dallas Seminary welcomed news of the Bethlehem Ostracon as “the archaeological find of the century.” Commenting on highly skeptical scholars who “only want to cause trouble” by denying biblical truths (the so-called “minimalists”), Professor Digmore proclaimed, “It is not too much to say that it sounds the death-knell of minimalism as we know it.”
So wären endlich die vielgescholtenen Minimalisten widerlegt. Ausgerechnet die Erzählung von Davids Sieg über Goliat (die historisch wohl zweifelhafteste aller biblischen Nachrichten über Kontakte Davids mit den Philistern!) wäre als historisch zutreffend erwiesen – vorausgesetzt, es handelt sich nicht um einen Ulk. Schon das Wort „wrong“ in der Internetadresse ist auffällig. Und die im Text genannten Wissenschaftlernamen führen bei Google zu keinem Treffer; dafür sind zwei von ihnen sehr sprechend – Bathroom, Dig more! –, während der dritte dem Namen einer Archäologin ähnelt, die in Jerusalem „King David’s Palace“ gefunden zu haben meint.2 Abgesehen von dieser angeblichen Inschrift gibt es Informationen über das Thema “David und die Philister” nur in der Bibel. Auf sie werden wir uns nun konzentrieren, und zwar insbesondere auf die Samuelbücher. Die einschlägigen Nachrichten in der Chronik3 sind davon abhängig. Sekundär bzw. tertiär sind auch zwei weitere spätbiblische Texte, die David als Philister-, genauer: als Goliat-Sieger feiern: ein Passus im „Lob der Väter“ des Jesus Sirach (Sir 46,4–8)
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Archaeological Find of the Century. Letter written by King David: http://ntwrong.blogspot.com/2010/01/archaeological-find-of-century-letter.html (20.01.2010). Eilat Mazar, Did I Find King David’s Palace?: BAR 32 (2006) 17–27.70. Im chronistischen Abschnitt über David (1Chr 11–29) finden sich relativ wenige Belege des Wortes פלשׁתים: 1Chr 11,13–15.18; 12,20; 14,8–10.13.15f; 12,19; 18,1.11; 20,4f.
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und der Abschluss des sog 151. Psalms, eines Zusatzes zum Psalter in der Septuaginta (Ps 151,6f).4
In der Bibelexegese kann man zwei methodische Hauptrichtungen unterscheiden: die synchrone und die diachrone Analyse von Texten. Die erste fragt nach der literarischen Art und dem kanonischen Ort der Texte, nach ihrer Art, bestimmte Themen und Geschichten zu präsentieren, nach ihrer literarischen Kunstfertigkeit. Die andere fragt nach dem Ort von Texten oder Textschichten in der biblischen Literaturgeschichte, nach ihrer historischen Nähe oder Ferne und ihrer ideologischen Einstellung zu den in ihnen verhandelten Gegenständen. Im Folgenden werde ich beide Perspektiven anwenden.
1.
Synchrone Analyse
Das Gentilicium פלשׁתיםbzw. פלשׁתיkann geradezu als ein „Leitwort“ in den David-Erzählungen der Samuelbücher gelten. Es findet sich in 1Sam 16 – 2Sam 24 nicht weniger als 157-mal. Davon machen die Belege im Singular 33 aus, von denen 32 auf Goliat gehen.5 Die 124 Plural-Belege häufen sich in den Erzählungen von Davids Aufstieg (1Sam 18 – 2Sam 8) und im sog. Anhang zu den Samuelbüchern (2Sam 21–24). In der sog. Thronfolgegschichte (2Sam 9– 20; 1Kön 1–2) gibt es nur ganz wenige Belege.6 Das Wort „Philister“ begegnet in den Davidgeschichten oft innerhalb bestimmter Wortfelder. Das wichtigste von ihnen ist das militärische (mit Verben wie „sich sammeln“, „mustern“, „ausrücken“, „kämpfen“, „schlagen“, „fliehen“ usw.). Damit figurieren die Philister vorrangig als Feinde, als Kriegsgegner Israels. Der Eindruck ihrer (militärischen) Gefährlichkeit wird verstärkt durch den ihrer ethnisch-religiösen Fremdheit; immer wieder verbindet sich mit dem Nomen פלשׁתים/ פלשׁתיdas Adjektiv ערל, „unbeschnitten“,7 womit die Philister dezidiert außerhalb des durch die Beschneidung besiegelten Bundes Jhwhs mit Israel stehen.8 4
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Der griechische Text der beiden Verse lautet: εξηλθον εις συναντησιν τω αλλοφυλω και επικατηρασατο με εν τοις ειδωλοις αυτου εγω δε σπασαμενος την παρ' αυτου μαχαιραν απεκεφαλισα αυτον και ηρα ονειδος εξ υιων ισραηλ. „Ich ging hinaus zum Treffen mit dem Philister, und er fluchte mir bei seinen Götzen; ich aber riss das Schwert an seiner Seite heraus, enthauptete ihn und nahm die Schmach von den Söhnen Israels.“ Ps 151 wurde mittlerweile auf Hebräisch in Qumran gefunden, wobei aber nur die Verse 1–5 (über Davids Jugend und Salbung) vollständig, die Verse 6–7 dagegen bloss fragmentarisch erhalten sind. Die einzige Ausnahme ist 2Sam 21,17. 2Sam 19,10. Dazu kommen 2Sam 15,18–22; 18,2, wo von einer 600 Mann starken Söldnertruppe aus der Philisterstadt Gat die Rede ist. Gat – die Heimat Goliats, vgl. 1Sam 17,4; 2Sam 21,19 – begegnet mehrfach in der sog. Aufstiegsgeschichte Davids (1Sam 21,11.13; 27,2–4.11; 2Sam 1,20; 4,3) und in der sog. Ladegeschichte (1Sam 5,8; 6,17; 2Sam 6,10.11). Die Belege: 1Sam 17,26.36; 18,25.27; 31,4; 2Sam 1,20; 3,14. Vgl. Gen 17,9–14.
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Haupt- und Nebenfiguren der Samuelbücher
Im Blick auf Davids Verhältnis zu den Philistern lässt sich ein auffälliges Hin und Her zwischen Konflikt und Kooperation beobachten: Konflikt: Zu Beginn seiner Karriere erscheint David als dezidierter Philisterfeind. Nachdem er deren Vorkämpfer Goliat erschlagen hat (1Sam 17), rückt er im Auftrag Sauls immer wieder zu Kämpfen gegen sie aus (1Sam 18,17–30; 19,8). Ein Versuch, vor dem ihn verfolgenden Saul zu ihnen zu flüchten, scheitert, weil er bei ihnen viel zu verhasst und gefürchtet ist (1Sam 21,11–16). So sucht er sich in dem Städtchen Keïla festzusetzen, das er vor philistäischem Zugriff gerettet hat, muss sich aber wieder zurückziehen, weil Saul ihn dort fassen will (1Sam 23,1–13). Kooperation: In der Zeit der Verfolgung durch Saul sind es die Philister, die David faktisch das Leben retten (1Sam 23,27f; 24,2) und ihm am Ende für längere Zeit Unterschlupf gewähren, ja ihn zum Stadtkönig von Ziklag machen (1Sam 27). Als ihr Vasall müsste er eigentlich mit ihnen in die entscheidende Schlacht gegen Saul ziehen, doch wollen ihn die Philister dann nicht dabeihaben (1Sam 29). Konflikt: Als König von Juda und Israel schüttelt David die Abhängigkeit von den Philistern ab. Schon ihren Sieg über Israel auf den Bergen von Gilboa beklagt er als persönliche und politische Katastrophe (1Sam 1,19–27). Bei seiner Annäherung an Eschbaals Israel spielen seine Verdienste im Kampf gegen die Philister eine Rolle (2Sam 3,14.18).9 Als er sich in Jerusalem niedergelassen hat, rücken die Philister zu zwei Schlachten an, die sie verlieren (2Sam 5,17–25). Danach hat David „Ruhe vor allen Feinden ringsum“ (2Sam 7,1), und in der Liste der von ihm besiegten Feinde rangieren die Philister an erster Stelle (2Sam 8,1, vgl. auch 8,12). Kooperation: In den Berichten über Davids weitere Regierungszeit treten die Philister zurück. Nur in der höchst bedrohlichen Krisensituation des Abschalom-Aufstandes spielen sie eine bedeutsame Rolle. Damals hielten laut biblischem Bericht zu David faktisch nur mehr seine Berufstruppen. Zu diesen gehörte die Eliteeinheit der כרתי ופלתי, die „Kreti und Pleti“ (2Sam 15,18); dass die zweite Bezeichnung „Philister“ meint, ist möglich,10 wenn auch nicht sicher.11 Unzweifelhaft ist dagegen die Herkunft einer 600 Mann starken Truppe unter 9
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Hierher gehört auch schon Davids diplomatische Note an die Leute von Jabesch-Gilead (2Sam 2,4–7), die sich um die Ehrenrettung Sauls gegen die Philister verdient gemacht hatten (1Sam 31,11–13). פלתיwäre dann eine wegen des ‚Reims’ mit כרתיerfolgte Abschleifung aus פלשׁתים. כרתי wird meist als „Kreter“ verstanden, was sich zu der wohl unbezweifelbaren Herkunft der Philister aus dem ägäischen Raum gut fügen würde. J. Van Seters (The Biblical Saga of King David [Winona Lake, IN 2009], 106f) bringt den Doppelbegriff in Zusammenhang mit dem griechischen Söldnerwesen, genauer: mit den “Peltastes”, Leichtbewaffneten, und mit „kretischen Bogenschützen“, wie sie aus hellenistischen Quellen bekannt – und darum in Erzählungen, die vom 10. Jh. handeln wollen, komplett anachronistisch seien. Zur Kritik an Van Seters’ radikaler Spätdatierung s. meine Rezension in RBL 2010 (http://www.bookreviews.org/BookDetail.asp? TitleId=7252). Zur Kritik der ähnlich rabiaten Thesen der sog. Kopenhagener Schule s. L. E. Stager, Biblical Philistines: A Hellenistic Literary Creation?: A.M. Maeir / P. de Miroschedji (eds.), “I Will Speak the Riddles of Ancient Times.” FS Amihai Mazar, vol. 1, Winona Lake, IN 2006, 375–384.
David und die Philister
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dem Kommando eines gewissen Ittai aus der Philisterstadt Gat (2Sam 15,18– 22). David ist diese Unterstützung wichtig genug, dass er Ittai neben Joab und Abischai, zwei bewährten judäischen Kommandeuren, die Führung seiner Truppen in der Schlacht gegen Abschalom anvertraut (2Sam 18,2). Konflikt: Im sog. Anhang zu den Samuelbüchern finden sich zwei Anekdotenreihen, die von zahlreichen glücklich bestandenen Kämpfen mit den Philistern berichten. Meist sind Recken Davids die handelnden Subjekte (2Sam 21,16–21; 23,9–12), doch deutlich genug fungiert dieser selbst als Anführer in den Kämpfen (21,15.22; 23,13–17). Hier erscheint er wieder, wie zu Beginn, als ausgemachter Philisterfeind. Dieses Hin und Her widerspiegelt ein Dilemma, in dem sich die Autoren der Samuelbücher befanden: Einerseits waren die Philister zur Zeit der Staatsgründung der gefährlichste Gegner Israels, war sogar Israels erster König samt dreien seiner Söhne (und sicher einer grossen Zahl von Kriegern) im Kampf gegen sie gefallen. Andererseits war bekannt, dass David zu eben diesen Philistern enge Beziehungen unterhielt. So lag der Gedanke nur allzu nahe, er könne zusammen mit den Philistern für den Untergang des ersten israelitischen Königshauses verantwortlich gewesen sein.12 Die Verfasser der Samuelbücher begegnen dieser Befürchtung mit grosser Umsicht. Eine ihrer Strategien ist es, den frühen und den späten David als bedingungslosen Philisterfeind hinzustellen, die dazwischen liegenden kooperativen Phasen aber durch pure Not verursacht sein zu lassen: einmal durch die unerbittliche Feindschaft Sauls, einmal durch den hochgefährlichen Aufstand Abschaloms. Das bedeutet: David war den Philistern von Grund auf feind, war zuweilen aber gezwungen, sich mit ihnen zu arrangieren. Freilich entsteht auf diese Weise ein neues Problem: Wenn David doch von frühan ein so entschiedener Feind der Philister war, wie konnten diese ihn dann zum Vasallen und sogar zum Stadtkönig machen? Eine erste Antwort gibt die kleine Szene 1Sam 21,11–16: Hier scheitert ein erster Anlauf Davids, sich in den Schutz der Philister zu begeben, eben daran, dass diese ihn als Feind kennen; sie wissen ein Liedchen zu zitieren, wonach Saul zwar Tausende, David aber Zehntausende erschlagen hat. David ist also der zehnmal gefährlichere Gegner als Saul. Nur mit Mühe und Not kann David den Kopf aus dieser Schlinge ziehen. Einige Kapitel später wagt David einen zweiten Anlauf: nicht leichthin, o nein. Was die Erzähler sehr selten tun, tun sie hier: Sie geben Einblick in das Innenleben einer Erzählfigur: „David sprach zu seinem Herzen: Nun, eines Tages werde ich durch die Hand Sauls gefasst. Es bleibt mir nichts Besseres, als dass ich mich ins Land der Philister rette. Dann wird Saul davon ablassen, mich weiterhin im ganzen Gebiet Israels zu suchen, und ich bin aus seiner Hand gerettet“ (1Sam 27,1).13 In seiner letzten Begegnung mit Saul eröffnet David ihm, 12
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Dieser Verdacht wird – freilich ohne Erwähnung der Philister – in der Bibel unmissverständlich formuliert: von Schimi, einem Sauliden, der David im Augenblick seiner höchsten Gefährdung eine „Blutschuld am Hause Sauls“ vorhält (2Sam 16,8). D. Jobling (David and the Philistines. With Methodological Reflections, in: W. Dietrich [Hg.], David und Saul im Widerstreit – Diachronie und Synchronie im Wettstreit. Bei-
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Haupt- und Nebenfiguren der Samuelbücher
was ihm mit der erzwungenen Flucht zu den Philistern angetan wird: „Man vertreibt mich heute, dass ich nicht mehr teilhabe am Erbe Jhwhs, indem sie sagen: Geh, diene andern Göttern!“ Der erzwungene Seitenwechsel bedeutet für David also den Verlust nicht nur der Heimat, sondern Gottes.14 Dieses Mal wird David in Gat problemlos aufgenommen (1Sam 27,2f) – warum?15 Denken die Erzähler, inzwischen sei sein zerrüttetes Verhältnis zu Saul auch dort bekannt geworden? Oder machen die 600 Mann, die er diesmal bei sich hat,16 dem König Achisch von Gat Eindruck? Jedenfalls wird David dessen Vasall und Stadtkönig von Ziklag. Als solcher treibt er fortan mit seinem Lehnsherrn ein Katz-und-Maus-Spiel. Das beginnt damit, dass er Raubzüge nicht, wie er Achisch vorspiegelt, nach Osten, in die Region von Juda, sondern nach Süden, in Richtung Ägypten, unternimmt (1Sam 27,8–12) – offenbar, um es sich mit den Judäern (und Israeliten) nicht zu verderben.17 Zu einer dramatischen Zuspitzung kommt es vor der Entscheidungsschlacht gegen Saul. Dem Leser stockt der Atem, wenn er hört, wie Achisch seinen Vasallen im Blick darauf an seine Pflicht zur Heerfolge erinnert (1Sam 28,1). David reagiert sehr diplomatisch: „Du weisst, was dein Knecht zu tun vermag“ (28,2). Weiss Achisch es wirklich? Der Leser weiss, dass er in Wahrheit nichts weiss.18 Und was David diesmal zu „tun“ gedenkt, verschweigt er. Als wenig später bei der Truppenmusterung auch David mit seinen Mannen vorüberzieht, erwacht plötzlich das alte Misstrauen der Philister; erneut wird das Liedchen zitiert von den Zehntausenden, die er erschlagen hat (1Sam 29,1–5). Achisch muss den unheimlichen Kombattanten nach Hause zu schicken. Und wieder reagiert dieser mit bemerkenswerter Doppelbödigkeit: Er hätte unbedingt mit in die Schlacht ziehen wollen, um „gegen die Feinde meines Herrn, des Königs, zu kämpfen“
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träge zur Auslegung des ersten Samuelbuches, 2004 [OBO 206], 74–85, spez. 83) sieht hier (den literarischen) David abweichen von der ihm mehrfach gegebenen Verheissung (1Sam 23,17; 25,30; 24,20). Nach Jobling ist das zu werten als “subterranian presence … of an antimonarchical current” in der Deuteronomistischen Geschichte. Das mag stimmen, wenn man gleichsam mit den Augen eines Deuteronomisten auf den Text sieht; doch dieser ist vor-dtr, wie weiter unten zu zeigen sein wird. Dahinter steht die noch recht archaische, jedenfalls deutlich vor-monotheistische Vorstellung, wonach ein Gott nur für ein bestimmtes Territorium und dessen Bewohnerschaft zuständig ist. Vgl. dazu W. Dietrich, Die Grenzen göttlicher Macht, in: Ders., Theopolitik. Studien zur Theologie und Ethik des Alten Testaments, Neukirchen-Vluyn 2003, 43– 57. Zu dieser Frage vgl. den Aufsatz von J. Klein, Davids Flucht zu den Philistern (1 Sam. XXI 11ff; XXVII–XXIX): VT 55 (2005) 176–184. Nach Wortlaut und Kontext von 1Sam 21,11–16 unternahm David den ersten Übertrittsversuch als einzelner Flüchtling; erst in 22,1f ist davon die Rede, dass er eine Truppe (von zunächst 400 Mann) um sich sammelte. Hierhin gehört auch die Nachricht von 1Sam 30,26–31, wonach David Beute aus einem erfolgreichen Amalekiter-Feldzug in Juda verteilte. R. Polzin (Samuel and the Deuteronomist. A Literary Study of the Deuteronomic History, Part 2, 1 Samuel [Bloomington, IN 1989], 217) spricht mit Blick auf den genarrten Achisch von “David’s growing duplicity”; die Erzählungen von seinem Aufstiegs seien “as much against him as for him” ausgerichtet. Auf der anderen Seite erklärt P.D. Miscall Davids moralisch fragwürdiges Verhalten aus seiner Angst vor Achisch (1 Samuel. A Literary Reading [Bloomington, IN 1986], 166).
David und die Philister
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(1Sam 29,8). Achisch denkt natürlich, er sei gemeint, David aber könnte (und der Leser soll) an Saul denken.19 Hätte also David mit den Philistern nach Norden ziehen dürfen, er hätte sie zusammen mit Israel aufs Haupt geschlagen! Doch leider durchschauten und verhinderten die Philister dies.20 In der Folge betonen die Erzähler bzw. Kompositoren, dass David vom Schlachtfeld so weit wie nur möglich entfernt war. Von dem Musterungsplatz bei Afek21 aus zieht er nach Süden, die Philister nach Nordosten. Als er nach drei Tagesmärschen in Ziklag ankommt und feststellt, dass der Ort inzwischen überfallen und geplündert worden ist, zieht er noch weiter, tief in den Negev hinein, um den Räubern ihre Beute wieder abzujagen – was auch gelingt (1Sam 30). Am dritten Tag nach seiner Rückkehr taucht in Ziklag ein Mann auf, der ihm, zusammen mit entsprechenden Beweisstücken, die Kunde von Sauls und Jonatans Tod bringt (2Sam 1,1–10). Dieser Bote kann von Gilboa nach Ziklag wiederum kaum weniger als drei Tage gebraucht haben; also muss die Schlacht im hohen Norden genau dann stattgefunden haben, als David sich im allertiefsten Süden aufhielt.
2.
Diachrone Analyse
Die Samuelbücher sind – wie biblische Literatur oft – Traditions-, nicht Autorenliteratur. Das heisst, sie sind nicht von einem einzigen Verfasser im Stil eines Historienromans niedergeschrieben, sondern über verschiedene Traditionsstufen angewachsen. Nach meiner bisherigen Einsicht lassen sich drei Hauptstufen unterscheiden:22 Im 6. und 5. Jahrhundert Zeit bereicherte die deuteronomistische Redaktion die Samuelbücher um einige substanzielle Texte23 und machte sie zu einem Teil der grossen Geschichtsschreibung von der Landnahme Israels bis zum Exil (Dtn–2Kön). Im ausgehenden 8. oder im beginnenden 7. Jahrhundert entstand ein “Höfisches Erzählwerk über die frühe Königszeit in Israel”. Sie schilderte die Geschichte von Samuel bis Salomo und enthielt bereits grosse Teile des jetzigen Textbestands von 1Sam 1 – 1Kön 2 oder 12 (abzüglich der dtr Texte und des Anhangs 2Sam 21–24). 19
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Demgegenüber meint P. D. Miscall (a.a.O. 175): “we will not finally know whether David would or would not desert the Philistines and fight with Saul and Israel. Is David servant to Achish or Saul, to both, to neither?” Jobling (David and the Philistines 82) wendet gegen eine solche Lesung ein, dass eine von David erwirkte Niederlage über die Philister auf Gilboa “would presumably have left Saul and Jonathan alive. Where could the story go then?” Doch diese Frage lag ausserhalb des Horizonts des Erzählers; Gott hätte, so dürfte er gemeint haben, schon einen Weg zu dem von ihm gesetzten Ziel – David auf dem Thron Israels – gefunden. Dieses Afek dürfte in der Küstenebene zu suchen sein, vgl. 1Sam 4,1. Vgl. dazu W. Dietrich, Samuel, 2011 (BKAT VIII.1), 38*–58*. Hier sind vor allem 1Sam 8; 12; 15; 2Sam 7 zu nennen.
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Haupt- und Nebenfiguren der Samuelbücher
Der Verfasser des „Höfischen Erzählwerks“ nahm Quellen verschiedener Art und unterschiedlichen Umfangs auf, die ihre je eigene Traditionsgeschichte hatten. Bis ins 10. Jahrhundert dürften nur wenige zurückreichen, und wenn, dann wurden sie in der Folgezeit und bei der Aufnahme ins „Höfische Erzählwerk“ verändert. Es sei nun versucht, die Texte zum Thema „David und die Philister“ auf diese drei literarhistorischen Ebenen aufzuteilen.
2.1
Die Deuteronomistische Redaktion
Die deuteronomistische Redaktion war an der Philister-Thematik offenbar nicht mehr sonderlich interessiert. Sie tradierte die davon handelnden Texte in der grossen Stoffmenge mit, die sie über die Geschichte der Davidzeit vorfand, ohne erkennbar eigene Akzente hinzuzufügen. Dieser Gesamteindruck würde sich allerdings ändern, wenn der Anhang 2Sam 21–24 von dieser Redaktion (und nicht erst später) eingestellt worden wäre.24 Die vielen Anekdoten über Philisterkämpfe in diesen Kapiteln lassen sich als Korrektiv zum Zurücktreten des Philister-Themas in den späteren Davidgeschichten verstehen. In dem Anhang tritt es noch einmal in den Vordergrund, und zwar so, dass die Beziehungen zwischen David und den Philistern in scharfer Konfrontation enden.
2.2
Das Höfische Erzählwerk
Sehr grosse Bedeutung kommt dem Philister-Thema dagegen im „Höfischen Erzählwerk“ zu. Das ist insofern nicht verwunderlich, als in diesem Literaturwerk das Gegenüber von Saul und David, von Sauliden und Davididen, von Israel und Juda ein Leitthema ist – und beide Seiten es mit den Philistern zu tun hatten. Saul war von Anfang bis Ende seiner Karriere ein unbedingter Philisterfeind, David war dies nur zeitweilig. Saul scheiterte an den Philistern, David nicht. Meiner Meinung nach war diese Konstellation für den Verfasser des Höfischen Erzählwerks transparent auf seine eigene Zeit hin. Um das zu erkennen, muss man sich anstelle der Philister die Assyrer denken. Diesen fiel im Jahr 722 v. Chr. das Nordreich Israel zum Opfer. Dabei spielte das Südreich Juda eine aus israelitischer Sicht zweifelhafte Rolle.25 Juda wurde damals zwar selbst assyrischer Vasall, existierte als solcher aber weiter. Flüchtlinge aus dem Norden 24
25
So T. Veijola (Die Ewige Dynastie. David und die Entstehung seiner Dynastie nach der deuteronomistischen Darstellung, 1975 [AASF.B 193], 124–126), der hier DtrN – die letzte von drei formgebenden deuteronomistischen Redaktionen – am Werk sah. Im sog. Syrisch-efraimitischen Krieg 734/33 v.Chr. hatte Juda die Assyrer gegen die verbündeten Nordisraeliten und Aramäer zu Hilfe gerufen (vgl. 2Kön 16,5–9), die daraufhin Israel auf einen Rumpfstaat reduzierten (2Kön 15,29); und beim letzten, verzweifelten Kampf Rumpf-Israels gegen die Assyrer stand Juda allem Anschein nach tatenlos abseits (vgl. 2Kön 17,4–6).
David und die Philister
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strömten in den Süden, Juda wurde zum Sachwalter nicht nur des judäischen, sondern auch des israelitischen Erbes.26 Es scheint, als setze sich das Höfische Erzählwerk mit diesen Gegenwartsproblemen im Spiegel der frühen Königszeit auseinander. Der Standort des Verfassers ist ein judäischer, doch zeigt er erstaunlich viel Offenheit für die israelitischen Belange. Die gesamte Geschichte von Samuel und Saul (1Sam 1–3; 7– 14) spielt im Norden. Sauls Ringen um den Erhalt seiner Macht, die zunehmende Deformation seiner Persönlichkeit und das Desaster im Kampf gegen die Philister werden mit Empathie beschrieben. Doch eine wirkliche Chance hatte der Norden unter den Sauliden nicht. Seine Zukunft lag bei David, der den Philistern mit List und Kraft standzuhalten vermochte. Den untergründigen Sinn dieser Botschaft konnte im ausgehenden 8. oder beginnenden 7. Jahrhundert kaum jemand verkennen. Der Höfische Erzähler verhandelt die Philister-Thematik vor allem an zwei Stellen der Samuelbücher: am Beginn von Davids Aufstieg und am Ende von Sauls Leben. Das eine Mal wird klargestellt, dass David (der spätere Philistervasall) von Haus aus ein erbitterter Philisterfeind war, das andere Mal, dass er (wiewohl Philistervasall) mit der Katastrophe Israels nichts zu tun hatte. Wir beginnen mit dem zweiten Textbereich. Zweimal, so sahen wir, äussert sich David darüber, dass und warum er zu den Philistern flüchten musste und wie schwer ihm das fiel: das eine Mal in einer Rede an Saul, das andere Mal in einer Rede zu sich selbst (1Sam 26,19f; 27,1). Es ist eine Grunderkenntnis redaktionsgeschichtlicher Forschung, dass Redaktoren oder Kompositoren in ältere Erzähltraditionen gern direkte Reden der Erzählfiguren einsetzten, um eigene Überlegungen und Deutungen einzubringen.27 Hier ist es der Höfische Erzähler, der das unbequeme Faktum, dass David eine Zeitlang Vasall der Philister war, in ein davidfreundliches Licht zu rücken versucht. Das Kapitel 1Sam 29 besteht fast völlig aus direkten Reden: Die Philister diskutieren untereinander, ob David zu trauen sei (1Sam 29,3–5); und Achisch führt ein Gespräch mit David, in dem er ihm die Notwendigkeit seiner Umkehr erläutert (1Sam 29,6–10). Lediglich in den Rahmenversen gibt es ein paar knappe Erzählerberichte: Die philistäischen Truppen sammeln sich bei Afek, die israelitischen an der Quelle von Jesreel (29,1); die Philister veranstalten ein Defilee (29,2a), an dem auch David und seine Leute teilnehmen (29,2b); am Ende bricht David nach Ziklag auf (29,11a), die Philister nach Jesreel (29,11b). Lässt man von diesen Nachrichten einmal diejenigen über David beiseite (29,2b.11a) – und mit ihnen die langen Reden (29,3–10) –, dann bleibt eine äusserst knappe Grunderzählung übrig, die nur vom Aufmarsch und Vormarsch der Philister 26
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Israelitische Traditionen liegen in den Erzählungen über Jakob, Mose-Exodus, Landnahme und die Retter vor. Im Zusammenhang damit steht auch die in vielen biblischen Büchern vertretene Idee eines 12-Stämme-Israel. Im Falle der Reden Davids (und Sauls) in 1Sam 26 und 1Sam 24 habe ich das ausführlich nachgewiesen: W. Dietrich, Die zweifache Verschonung Sauls durch David (I Sam 24 und I Sam 26). Zur ‚diachronen Synchronisierung’ zweier Erzählungen“, in: W. Dietrich (Hg.), David und Saul im Widerstreit – Diachronie und Synchronie im Wettstreit. Beiträge zur Auslegung des ersten Samuelbuchs 2004 (OBO 206), 232–253 [wieder abgedruckt in diesem Band].
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Haupt- und Nebenfiguren der Samuelbücher
handelt (29,1.2a.11b). Das ist es, was der Höfische Erzähler vorgefunden hat; alles andere ist von ihm beigefügt mit dem Ziel, David aus der Gilboa-Schlacht herauszuhalten. Auch für die subtile geographische Strategie, mit der David möglichst weit vom Ort der Niederlage Sauls und Israels entfernt wird, ist mit hoher Wahrscheinlichkeit er verantwortlich. Dabei arrangiert er die (älteren) Stoffe so, dass Nachrichten aus dem Norden sich regelmässig und übergangslos mit solchen aus dem Süden abwechseln, wodurch der Eindruck grosser räumlicher Distanz verstärkt wird: Nord: Die Philister marschieren gegen Israel (1Sam *29) Süd: David kehrt zurück nach Ziklag, jagt die Amalekiter im Negev und verteilt Beute an Ortschaften in Juda (1Sam 30) Nord: Die Israeliten werden von den Philistern besiegt, Saul und seine Söhne getötet, ihre Leichen zuerst geschändet und dann doch beigesetzt (1Sam 31) Süd: David erfährt von der Katastrophe und beklagt sie bitterlich (2Sam 1).28
Die Botschaft an die Leserschaft ist überdeutlich: David stand zwar zu jener Zeit im Dienst der Philister, mit der Niederlage Israels und dem Tod Sauls hatte er jedoch nichts zu tun. So sorgfältig wie die Nachrichten über David als Philistervasall hat der Höfische Erzähler auch die Passagen über den jungen David als Philisterfeind angeordnet und gestaltet. Insbesondere geschieht dies in dem Kapitel 1Sam 18. Saul, so lesen wir dort, bot David seine älteste Tochter Merab als Frau an und verlangte als Gegenleistung, dass David „tapfer“ sei ( )חילund „die Kriege Jhwhs“ führe (הלחם מלחמות יהוה: 1Sam 18,17a). Ein solcher Handel zwischen einem Soldatenkönig und einem tüchtigen Krieger ist gut nachvollziehbar. Gegen wen David kämpfen sollte, wird nicht gesagt; nach der Aufzählung in 1Sam 14,47f könnten es sämtliche Nachbarn sein: Moabiter, Ammoniter, Edomiter, Aramäer, Philister, Amalekiter. Im nächsten Halbvers wird hier eine Festlegung getroffen: „Denn Saul sagte [zu sich – ein Selbstgespräch!]: Nicht meine Hand soll gegen ihn sein, sondern die Hand der Philister soll gegen ihn sein“ (18,17b). Unschwer lässt sich die Handschrift des Höfischen Erzählers erkennen, der aus einem fairen Handel eine hinterlistige Handlung macht: Das Heiratsangebot war nichts als eine Finte, um David ans Messer der Philister zu liefern. Wenige Verse zuvor konnte man sehen, wie in Saul das Misstrauen gegen David erwachte. Als die Frauen Israels jenes Lied sangen, das David mehr Ehre gab als ihm (1Sam 18,7), „ergrimmte Saul und sagte [zu sich!]: Sie haben David Zehntausende gegeben, und mir haben sie Tausende gegeben. Am Ende fällt ihm noch das Königtum zu! Von da an betrachtete er David scheelen Blicks“ (1Sam 18,8f). Auch dies wieder ist ein vom Höfischen Erzähler formuliertes Selbstgespräch. Aus der Ehe mit Merab wurde nichts; Saul bevorzugte anscheinend einen anderen Schwiegersohn (1Sam 18,19).29 Als sich aber seine jüngere Tochter 28
Um David vom Tod Sauls nicht nur geographisch, sondern auch innerlich weit abzurücken, wird dieses Lied aus einem eigenen Liederbuch zitiert (2Sam 1,17–27) und wird der amalekitische Bote, der Saul den Todesstoss versetzt haben will, hingerichtet (2Sam 1,13–16).
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Michal in David verliebte (18,20), keimten in ihm angeblich sofort wieder Mordgedanken auf: „Saul sagte [zu sich – ein Selbstgespräch!]: Ich gebe sie ihm, damit sie ihm zum Fallstrick wird und die Hand der Philister gegen ihn ist“ (18,21). Kennte man dieses heimliche Motiv nicht, liesse sich auch das neuerliche Heiratsangebot als fairer Handel verstehen:30 David ist mittellos (18,23), aber ein tüchtiger Soldat; so soll der Brautpreis für die Königstochter in einhundert Philistervorhäuten bestehen (18,25a).31 Kaum hat Saul diese Bedingung benannt, erfährt man etwas über seine inneren Beweggründe: „Und Saul hatte im Sinn, David zu Fall zu bringen“ (18,25b) – was bekanntlich nicht gelang; David lieferte statt der geforderten einhundert Philistervorhäute zweihundert32 und wurde Sauls Schwiegersohn (18,27). Dies könnte nach einem versöhnlichen Schluss aussehen, doch bekommt man danach noch einmal Einblick in die Gemütslage Sauls: Es wurde ihm klar, dass Jhwh mit David war; so begann er David zu fürchten und wurde für immer sein Feind (18,28f). Diese Sätze dürften genauso vom Höfischen Erzähler stammen wie die abschliessende pauschale Notiz, David habe noch viele Kämpfe gegen die Philister gewonnen (18,30). Sieht man von den Zusätzen des Höfischen Erzählers ab, bleibt von dem Passus 1Sam 18,17–30 eine Doppelüberlieferung zurück, die von Davids Einheirat in das Haus Sauls handelt: von einem misslungenen (Merab) und einem gelungenen Versuch (Michal). Dies dürfte dem Höfischen Erzähler als Quellentext vorgelegen haben. Er formte daraus eine Konfliktgeschichte zwischen Saul und David, in der Sauls Töchter zu Ködern und die Philister zur Waffe werden, mit der David getötet werden soll.33 Hier wird Saul etwas unterstellt, was man in Israel David (und später, beim Sturz des Nordreichs, dessen Nachfolgern) unterstellt haben dürfte: Da sei mit Israels Feinden gemeinsame Sache gemacht worden, um Israel zu Fall zu bringen. Gegen diesen Vorwurf hat der Höfische Er-
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S. Bar-Efrat (Das Erste Buch Samuel. Ein narratologisch-philologischer Kommentar, 2007 [BWANT 176], 258) meint, David habe durch seine scheinbar bescheidenen Rückfragen in 1Sam 18,18 dieses Angebot zurückgewisen. Das nächste nahm er dann an – weil ihm an Michal mehr gelegen war? I. Willi-Plein (Michal und die Anfänge des Königtums in Israel, in: Dies., Sprache als Schlüssel. Gesammelte Aufsätze zum Alten Testament, Neukirchen-Vluyn 2002, 79–96, spez. 84f) beschreibt die Beziehung, die Saul zu David aufzunehmen gedenkt, als “Dienstehe”. Das bedeutet: Nicht eine reguläre Ehe zwischen zwei ranggleichen Familien wurde ausgehandelt, sondern der Herr überließ dem Untertan eine Tochter, um ihn an sich zu binden. Die Ehefrau und auch gemeinsame Kinder gehörten in solchen Fällen prinzipiell zum Haushalt des Herrn (und nicht des Ehemanns). Auch der mittellose Jakob muss sich Rahel (und schon Lea) durch harte Arbeit verdienen (Gen 29). Jakob arbeitet als Hirte, David als Soldat; ansonsten sind die beiden Fälle völlig analog. Dass die beiden Schwiegerväter sich vom Einsatz der Schwiegersöhne Vorteile versprechen, ist nur natürlich. Dass aber der eine von beiden (angeblich) Mordgedanken hegte, ist verwerflich. Die Beschneidung der männlichen Vorhaut war Brauch bei allen semitischen Stämmen und Völkern, d.h. bei Israel und allen seinen Nachbarn; die einzige Ausnahme bildeten die Philister, die aus der Ägäis zugewandert waren. Diese Konstellation erinnert stark an die Erzählung 2Sam 11, der zufolge David den missliebigen Urija durch die Ammoniter hat beseitigen lassen.
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zähler David (und Juda) vehement in Schutz genommen – und ihn hier an die Adresse Sauls (und verdeckt auch des späteren Nordreichs) zurückgegeben. Mit der Merab-Michal-Story hängt eine andere, hochberühmte zusammen: die von Davids Sieg über „den Philister“ Goliat (1Sam 17). In ihr taucht ein Motiv auf, das nach einer Weiterführung verlangt: Der aufs Schlachtfeld geratene David erfährt, König Saul habe auf die Tötung Goliats u.a. seine Tochter als Preis ausgesetzt (17,25). So wäre es sehr passend, wenn auf das Ende der Goliat-Geschichte (in 1Sam 18,1–5) sofort die Merab-Michal-Geschichte (in 18,17–27) folgte. Dazwischen hat der Höfische Erzähler eine Szenenfolge eingebaut, in der sich das Einverständnis zwischen dem König und seinem tüchtigsten Krieger in ein äusserst gespanntes Verhältnis verwandelt. Den ersten Anstoss gibt jenes Frauen-Liedchen (18,6b.7), das in Saul Misstrauen weckt (18,8f), woraus der erste Mordanschlag auf den Leier spielenden David erwächst (18,10f); als dieser misslingt, wird David wegbefördert – jedoch mit dem Ergebnis, dass er militärische Erfolge erringt und bei Gott und den Menschen an Beliebtheit gewinnt (18,12–16). Abgesehen vielleicht von dem Frauen-Lied, dürfte dieser gesamte Passus von der Hand des Höfischen Erzählers geformt sein.
2.3
Ältere Quellen
Einige Nachrichten zum Thema „David und die Philister“ hatten ihren ursprünglichen Ort in Einzelüberlieferungen. Wir folgen diesen in der kanonischen Reihenfolge. 1Sam 17–18: Von der Goliat-Erzählung und der mit ihr verbundenen Merab-MichalStory war soeben die Rede. Vielleicht hat man sich die Entstehung der Komposition so vorzustellen, dass die relativ alten Nachrichten von Davids Einheirat ins Haus Sauls in Gestalt der Goliat-Geschichte eine riesenhafte Einleitung erfahren haben: Wie konnte David Schwiegersohn Sauls werden? Durch den märchenhaften Sieg über „den Philister“, für den eine Königstochter als Preis ausgesetzt war. Der GoliatStoff hat in sich eine längere Traditionsgeschichte durchgemacht: Am Anfang stand der Sieg eines gewissen Elhanan aus Betlehem über „Goliat von Gat“, dessen „Spiess-Schaft war wie ein Weberbaum“ (2Sam 21,19). Sodann gab es ein legendenumwobenes, vermutlich besonders grosses „Schwert Goliats“ (1Sam 21,10; 22,10). Die Tötung Goliats wurde später David zugeschrieben: zunächst in der Rolle eines namenlosen Schleudersoldaten, der durch einen meisterlichen Schuss mit der Schleuder einen glanzvollen Sieg über die Philister ermöglichte, dann in der Rolle des Hirtenknaben, der wie von ungefähr aufs Schlachtfeld geriet und den riesenhaften Vorkämpfer der Philister mit der Hirtenschleuder und dessen eigenem Schwert den Geraus machte.34 In dieser Form wurde die Geschichte mit der von Merab und Michal verbunden und vom Höfischen Erzähler in sein Werk aufgenommen.
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Nach meiner Analyse (Die Erzählungen von David und Goliat in I Sam 17: ZAW 108 [1996] 172–191) gehörten zur einen Geschichte die Passagen 1Sam 17,1–9.48b.50.51b– 53, zur anderen der grosse Rest –abzüglich späterer Ergänzungen namentlich innerhalb von 17,34–47.
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1Sam 23: Die Doppelerzählung über „David in Keïla“ zerfällt in zwei Hälften: eine über Davids Einsatz zugunsten dieses in der Schefela gelegenen Ortes35 gegen die Philister (23,1–5), die zweite über seinen Rückzug aus ihm vor dem anrückenden Saul (23,6–13); die zweite Hälfte dürfte vom Höfischen Erzähler formuliert, die erste aus einer Quelle übernommen sein.36 Hiernach erfuhr einst David, dass Keïla von marodierenden Philistern belagert wurde; ermuntert durch zwei positive Orakel,37 brach er auf, schlug die Philister in die Flucht und nahm ihnen ihr Vieh ab (23,1–5). Im Grunde ist dies eine Art Bandenkrieg: Eine Bande wird bei einer Razzia durch die Gegenrazzia einer anderen Bande überrascht. In der zweiten Hälfte ergreift der Höfische Erzähler das Wort. Er führt den Priester Abjatar ein (23,6), von dem er in der vorangehenden Erzählung berichtet hatte (1Sam 22,20–23). Dann rückt er Saul ins Blickfeld – bezeichnenderweise mit einem Selbstgespräch: Auf die Nachricht von Davids Anwesenheit in Keïla hin (die aber in der Quelle gar nicht als dauerhaft geschildert war!) „sagte Saul [zu sich selbst]: Gott hat ihn in meine Hand geliefert; denn er hat sich selbst eingeschlossen, indem er in eine Stadt mit Tor und Riegel hineingegangen ist“ (21,7).38 Saul bietet ein grosses Heer auf, und David holt daraufhin erneut zwei Orakel ein – diesmal über Abjatar und mittels des von diesem verwalteten Efod.39 Jetzt stellt er nicht, wie vorher, zwei nüchterne Sachfragen, sondern spricht eher ein bewegtes Gebet. Zuerst will er wissen, ob Saul tatsächlich komme, und dann, ob die Bewohner Keïlas ihn, David, an ihn ausliefern würden. Als beide Antworten positiv ausfallen, zieht David sich aus der Stadt zurück, und Saul bricht das Unternehmen ab. Die Lehren aus dieser Doppelerzählung liegen auf der Hand: David wird mit den Philistern fertig, nicht aber mit Saul. Und: Saul kämpft, statt mit den Philistern, mit David.
1Sam 27: In den Versen 2, 3a, 6, 7 liegt ein trockener Bericht vor, demzufolge David mit seiner 600-Mann-Truppe in den Dienst Achischs von Gat trat, die Stadt Ziklag zum Lehen erhielt und ein Jahr und vier Monate im Philisterland blieb. Diese Nachrichten dürften alt sein; die spätere, davidfreundliche Tradition
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Keïla wird gern mit der heutigen Khirbet Qīla im Wādi es-Sūr, ca. 12 km nordwestlich von Hebron (Koordinaten 150.113), gleichgesetzt. Laut Jos 15,44 gehörte der Ort zu Juda, doch war dies in der fraglichen Zeit anscheinend noch nicht so. Veijola (David in Keïla, in: Ders., David. Gesammelte Studien zu den Davidüberlieferungen des Alten Testaments, Helsinki/Göttingen 1990, 5–42) möchte die Versteile 1bb, 2bb und 5b heraustrennen und für dtr erklären. Dies scheint möglich, aber nicht nötig. Sie lassen in ihrer Art auf die Benutzung eines Alternativorakels schliessen. Dieses antwortet auf eine vorgelegte Frage mit Ja oder Nein. Technisches Mittel sind zwei unterschiedlich gekennzeichnete Gegenstände (Hölzer, Steine), von denen einer aus einem Behältnis, das ein Priester schüttelt, zuerst herausspringt. Das bekannteste Orakel dieser Art hiess in Israel Urim und Tummim. Die andere grosse Möglichkeit ist das sog. Auswahlorakel, das bei einer Vielzahl möglicher Lösungen zur Anwendung kam. Vgl. zum Ganzen W. Dietrich, Samuel, 2011 (BK 8.1), 463–465. Das militärische Motiv der Selbsteinschliessung eines Gegners in einer befestigten Stadt begegnet in 2Sam 17,13 wieder – ebenfalls einem Text des Höfischen Erzählers (vgl. auch 2Sam 20,6.14f). Dieser Kultgegenstand taucht immer wieder in den Samuelbüchern auf – zuletzt bei Davids Tanz vor der Lade (2Sam 6,14).
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hätte ihrem Helden derlei niemals angedichtet. Es ehrt den Höfischen Erzähler, dass er diesen Überlieferungssplitter nicht unterdrückt hat. Freilich hat er ihn auf dreifache Weise zu entschärfen versucht: Mit der weit vorne platzierten Geschichte von einem ersten, gescheiterten Übertrittsversuch in 1Sam 21,11–1640 stellt er klar, dass Davids Seitenwechsel höchst schwierig und riskant war. Sodann flicht er in die Erzählung die Bemerkung ein, dass David in Ziklag von Saul nicht mehr verfolgt wurde (27,4)41 – womit die von ihm selbst formulierten Überlegungen Davids in 1Sam 27,1 als zutreffend erwiesen sind. Und abschliessend führt er den Nachweis, dass David von Ziklag aus nichts unternommen hat, was für Juda (und Israel) nachteilig gewesen wäre – seinen Lehnsherrn aber das Gegenteil glauben liess (27,8–12).42
1Sam 29: Aus diesem Kapitel haben wir bereits die Verse 1, 2a und 11 als schmalen Grundbestand ausgegrenzt. Sie sind der Auftakt zum Schlachtbericht 1Sam 31; David spielt in ihnen keine Rolle. 2Sam 1: Im Klagelied 2Sam 1,19–27 wird den Adressaten metaphorisch untersagt, die Kunde von der Katastrophe auf Gilboa in Gat und Aschakalon bekannt zu machen, damit sich die „Töchter der Philister“ nicht freuten (1,20). Der Autor – es zweifelt niemand daran, dass es David selbst ist – stellt sich damit neben das unterlegene Israel und gegen die Philister. Derjenige, der das Lied hier eingestellt hat – warum nicht der Höfische Erzähler? –, gibt dankenswerterweise Auskunft, aus welcher Quelle er es hat: dem „(Lieder-)Buch des Aufrechten“.43 2Sam 5: Die beiden Episoden von Philister-Schlachten in 2Sam 5,17–21 und 5,22–25 erinnern stark an diejenige von Davids Philister-Sieg bei Keïla (1Sam 23,1–5, s. oben). Diesmal rücken die Philister in die Ebene Refaim (etwa 5-7 km südwestlich von Jerusalem) vor. Auch diesmal wieder holt David Orakel ein, die ihm den Sieg ankündigen und einmal sogar taktische Anweisungen geben. Es ist gut möglich, dass die drei Erzählungen aus ein und derselben Quelle stammen. Nun fällt in 2Sam 5,17a („Als die Philister hörten, dass man David zum König über Israel gesalbt hatte, stiegen alle Philister herauf, David zu suchen“) die Doppelung des Subjekts „die Philister“ auf. Der Anfang der älteren Erzählung 40
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Diese Erzählung liegt ideologisch so klar auf der Linie des Höfischen Erzählers, dass man in ihr kaum einen älteren Kern wird annehmen können. Überdies besteht sie, ähnlich wie 1Sam 29, überwiegend aus wörtlicher Rede, und es wird in ihr – wie dann noch einmal in 1Sam 29,5 – das Frauen-Liedchen aus 1Sam 18,7 zitiert, was einen über den Einzeltext weit hinaus reichenden Erzählhorizont verrät. Das Motiv des vorgetäuschten Wahnsinns, mit dem sich jemand aus einer Notsituation rettet, begegnet auch in der klassisch-antiken Literatur (z.B. bei Odysseus, vgl. D.L. Christensen, Art. Achish: ABD I, 55f). Vom Höfischen Erzähler stammt auch die Erwähnung der beiden Frauen, die David mitgebracht habe (27,3b) – eine redaktionelle Rückkoppelung an 1Sam 25,39–43. Die direkte Rede Davids an Achisch in 27,5 nimmt nur vorweg, was in 27,6 als Faktum berichtet wird; durch sie wird die Betrauung mit dem Stadtkönigtum von Ziklag zur eigenen Idee Davids. Von einem moralischen Standpunkt aus wird man es indes bedenklich finden, dass David dazu das Mittel des Genozids anwendet. 2Sam 1,18. Diese Liedersammlung wird erwähnt auch in Jos 10,13 und 1Kön 8,13 (LXX).
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könnte gelautet haben: „Und die Philister stiegen herauf, David zu suchen. Und David hörte das und stieg hinunter zur Festung (“)מצודה. Zu welcher „Festung“ aber könnte David von Jerusalem aus „hinuntergestiegen“ sein? In 2Sam 5,7.9 wird zwar im Zusammenhang mit dem Zion und der Davidstadt eine מצודה erwähnt, doch war dies der höchste Punkt der (damaligen) Stadt. Nun ist mehrfach in den Davidüberlieferungen von einer anderen מצודהdie Rede: Laut 1Sam 22,1–5 lag sie in der Nähe von Adullam (knapp 30 km südwestlich von Jerusalem – nahe bei Keïla!); nach 1Sam 24,23 kehrte David von En-Gedi aus dorthin zurück. Der wohl aufschlussreichste Beleg findet sich im Anhang zu den Samuelbüchern, in 2Sam 23,13f, wo die Präsenz von Philistern in der Ebene Refaim und in Betlehem und die von David und seinen Leuten in der Höhle von Adullam (vgl. 1Sam 22,1!) sowie auf der מצודהberichtet wird. Dies ist die gleiche Topographie wie in 2Sam 5,17–25 – und auch in 1Sam 23,1–5.44 Nun führen aber die Erzählungen in 1Sam 23 und wohl auch in 2Sam 23 (s. unten) in eine Phase, in der David noch Milizenführer war – und nicht König. Es entsteht der Verdacht, 2Sam 5,17–25 sei am jetzigen Platz unzutreffend eingeordnet;45 diese Berichte über siegreiche Philisterschlachten gehörten in Wahrheit in eine frühere Phase des Lebens Davids. Es war der Höfische Erzähler, der sie durch das Einleitungssätzchen („Als die Philister hörten, dass man David zum König über Israel gesalbt hatte“) in die Zeit nach Errichtung der Doppelmonarchie datierte – vermutlich um zu zeigen, dass David damals die Fäden zu den Philistern durchtrennte. 2Sam 15: Laut 2Sam 15,18b–22 halfen 600 Soldaten aus Gat unter der Führung eines gewissen Ittai, den Aufstand Abschaloms niederzuwerfen. Der Passus beginnt und endet mit knappen Erzählberichten (15,18b.22b), die quellenhaft sein dürften.46 Das dazwischen liegende Gespräch zwischen David und Ittai muss im Kern quellenhaft sein, ist dies doch die erste von drei Unterhaltungen, die David beim Wegzug aus Jerusalem mit wichtigen Unterstützern führt und in denen er die Grundlage für seinen späteren Erfolg legt.47 In unserem Fall 44 45
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Keïla liegt knapp 3 km südlich von Adullam! P.K. McCarter (II Samuel, 1984 [AncB], 157f) gelangt zu einem ähnlichen Resultat, und seine Argumente sind bestechend: Die Philister, so heisst es in 5,17, seien „auf der Suche“ ( )בקשׁnach David gewesen – was kaum auf eine Situation passt, in der der Gesuchte in seiner Residenz Jerusalem sitzt. Und sie liessen ihre Truppen „umherstreifen“ (5,18.22: נטשׁNif.) – kein sehr passender Ausdruck für eine beginnende Belagerung. Die „Festung“ könne nicht Zion sein, “because in the Bible one always goes up, never down, to the eminence of Zion”. Weniger überzeugend ist dann McCarters Schlussfolgerung, 5,17–25 sei ursprünglich platziert gewesen “between the report of David’s accession to the northern throne in 5,1–3 and the description of the capture of Jerusalem in 5,6–10”. In Wirklichkeit gehört das in dem Text Berichete in eine frühere Lebensphase Davids. Die Grundlage von 2Sam 15–19 bildet eine ziemlich alte Erzählung vom AbschalomAufstand, vgl. W. Dietrich, Die Fünfte Kolonne Davids beim Abschalom-Aufstand, in: W. Dietrich (Hg.), Seitenblicke. Literarische und historische Studien zu Nebenfiguren im zweiten Samuelbuch, 2011 (OBO 249), 91–120; in diesem Band: 227–253. Es sind dies ausser dem Truppenführer Ittai der Priester Zadok (2Sam 15,24–29) und der Ratgeber Huschai (2Sam 15,32–37). Der Höfische Erzähler hat in diese Abschnitte hier und dort eingegriffen, sie aber nicht von Grund auf gestaltet. Anders dürfte dies bei den Begegnungen mit den Sauliden Meribaal (bzw. dessen Verwalter Ziba) und Schimi ben
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sind die Verse 15,19*, 21 und 22a unentbehrlich: Davids Aufforderung an Ittai umzukehren und dessen nibelungentreue Antwort, er wolle sein, wo David ist, ob zum Leben oder zum Tod, sowie Davids positive Reaktion darauf. Nach dem jetzigen Wortlaut fordert David Ittai zweimal zum Umkehren auf: „Kehre um und bleibe ( )שׁוב ושׁבbeim König [Abschalom]“ (15,19ba), und: „Kehre um und lass umkehren ( )שׁוב והשׁבdeine Brüder mit dir“ (15,20b). Der dazwischen liegende Satz dürfte vom Höfischen Erzähler eingefügt sein: David erklärt Ittai zum Exulanten, der „gestern“ erst eingetroffen sei und darum „heute“ nicht mit jemandem gehen solle, der nicht weiss, wohin ihn sein Weg führt; er möge umkehren, und Jhwh möge ihm gnädig sein.48 Diese Sätze fügen sich sehr genau in die Intentionen des Höfischen Erzählers: Wenn Ittai unfreiwillig und erst seit kurzem in Jerusalem ist, dann hat ihn weder der Herrscher von Gat dem bedrängten David zu Hilfe gesandt noch ist er mit seiner Truppe fester Bestandteil der davidischen Armee. David selbst aber erscheint als frommer und bescheidener Mann, der sich und ausdrücklich auch den Philister der Fürsorge Jhwhs anvertraut.49 Dies ist ein neuerliches Beispiel dafür, wie der Höfische Erzähler aus älteren Quellen unangenehme Sachverhalte aufnimmt, sie aber gegen ein für David ungünstiges Verständnis absichert. Durch den Zusatz 15,19bb–20 hat er die Aussage nicht unwesentlich verändert: Wenn Ittai ein aus Gat Verbannter ist, dann schwindet der Verdacht, der dortige König habe David philistäische Hilfstruppen gegen Abschalom gesandt.
2Sam 21 und 23: In den Abschnitten 2Sam 21,15–21 und 23,9–17 sind einige Anekdoten über Kämpfe von Mannen Davids mit Philister-Recken zusammengestellt, die möglicherweise aus einer umfangreicheren Quelle mit knappen Kriegs- und Kampferzählungen stammen.50 Manches hier klingt legendenhaft, anderes wirkt historisch plausibel. Offenbar kam es – wie es scheint: zur Frühzeit Davids und im Grenzgebiet zwischen der philistäischen Küstenebene und
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Gera in 2Sam 16,1–13 sein; sie hat der Höfische Erzähler (vielleicht unter Verwendung einer anderen Quelle) weitgehend selbst geformt. Vgl. T. Veijola, David und Meribaal, in: Ders., David. Gesammelte Studien zu den Davidüberlieferungen des Alten Testaments, Helsinki/Göttingen 1990, 58–83; F. Langlamet, David et la maison de Saül. Les épisodes ‘benjaminites’ des II Sam., IX; XVI, 1–14; XIX, 17–31; I Rois II, 36–46: RB 86 (1979) 194–213, 385–436, 481–513; RB 87 (1980) 161–210; RB 88 (1981) 321–333. LXX hat hier einen volleren Text als MT: kai\ ku/rioj poih/sei meta\ sou e)/leon kai\ a)lh/qeian, was als hebräische Vorlage voraussetzt: ויהוה יעשׂ עמך חסד ואמת. Die Kürzung in MT zu עמך חסד ואמתmag unabsichtlich (Homoioteleuton) oder absichtlich (wie kann David zu einem Philister so sprechen?) erfolgt sein. Dies gegen Kellenberger, häsäd wä’ämät als Ausdruck einer Glaubenserfahrung, 1982 (AThANT 69), 123, der die Kurzfassung in MT für ursprünglich halten und als ein “Gott befohlen!” deuten möchte. Dieses David-Bild des jetzigen Textes interpretiert Kellenberger (a.a.O. 124f) sehr schön nach. Er vermag Davids Rede an Ittai, so wie sie jetzt lautet, sogar einen chiastischen Aufbau zu entnehmen (ähnlich auch C. Conroy, Absalom Absalom! Narrative and Language in 2 Sam 13–20, 1981 [AnBib 81], 144; J.P. Fokkelman, Narrative Art and Poetry in the Books of Samuel,I, King David [Assen 1981], 180–182). Träfe das zu, zeigte es die Kunstfertigkeit des Höfischen Erzählers. Vielleicht gehören hierhin auch die Kurzberichte von Philisterschlachten in 1Sam 23,1–5 und 2Sam 5,17–23 sowie einige formal verwandte Anekdoten über Kämpfe mit anderen Nachbarn in 2Sam 8. Man kann sich eine solche Rolle (oder kleine Sammlung) gut im Jerusalemer Palastarchiv vorstellen.
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dem judäischen Bergland51 – immer wieder zu Scharmützeln zwischen Kriegern Davids und solchen der Philister. Es bildet sich ein Milieu ab, in dem bewaffnete Banden ein relativ schwach besiedeltes Gebiet durchstreifen, sich aus dem Land ernähren52 und dem Konkurrenten Beute und Einflusszonen abzujagen versuchen. Dabei erscheinen die Philister als die Aggressiveren und in der Regel Überlegenen, denen nur mit äusserster Kühnheit und Tapferkeit standzuhalten ist.
3.
Historische Auswertung
Bei dem Versuch, eine historische Skizze von Davids Beziehungen zu den Philistern zu zeichnen, haben wir uns in erster Linie an Informationen aus älteren Einzelüberlieferungen zu halten und das abzustreichen, was der Historische Erzähler daraus gemacht hat.
3.1
David als Bandenführer
Nach der biblischen Darstellung begann David seine Karriere im Dienst Sauls: zuerst als Leierspieler und Waffenträger (1Sam 16,14–23), dann als Truppenführer (Sam 18). Das ist nicht unglaubhaft, zog der erste König Israels doch nach glaubhaftem Bericht kampfstarke und tapfere Männer an sich, um ein (kleines) stehendes Heer zu bilden (1Sam 14,52). Dessen vorrangige Aufgabe war der Abwehrkampf gegen die ins Bergland hinein expandierenden Philister; Saul errang beachtliche Erfolge, erlag am Ende aber dem übermächtigen Feind. Gehörte David zu seiner Armee, musste unweigerlich auch er es mit den Philistern zu tun bekommen. Dass er den Hünen Goliat besiegt hätte, ist Legende; dessen wirklicher Bezwinger war laut 2Sam 21,19 ein anderer. Doch da ist noch die Überlieferung von den zweihundert Philistervorhäuten, um die er Sauls Tochter Michal gefreit haben soll. Natürlich konnte er diese Trophäen nicht allein beschaffen; falls an der Geschichte etwas Wahres ist, war David schon unter Saul eine Art Söldnerführer – und wohl der tüchtigste, sonst wäre er nicht des Königs Schwiegersohn geworden. Diese textlichen Spuren zurück in die Umgebung Sauls sind indes sehr vereinzelt und recht undeutlich.
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David muss dazu einmal (vom judäischen Gebirge) „hinabsteigen“ (2Sam 21,15). Erwähnt werden die Orte Gat (21,20, die damals bedeutendste Philisterstadt), Adullam (23,13, in der Schefela) und Betlehem (23,14, im judäischen Bergland). Kaum zu lokalisieren sind Lachaja (23,11) und Gob (bzw. Nob: 21,16.18f, in 1Chr 20,4–8 Gezer; vgl. A.S. Ehrlich, Art. Gob: ABD II, 1041). Vgl. hierzu die aufschlussreiche Erzählung von David und Nabal in 1Sam 25, aber auch die Nachrichten über vorgeschobene Philisterposten und marodierende Philistertrupps in 1Sam 13,3.17f; 14,1; 17,1; 23,27; 2Sam 5,18, 22; 23,13.
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Aus der Lebensphase Davids, die er als Freibeuter im Bereich des späteren Juda zubrachte, gibt es zahlreiche und markante Nachrichten über Begegnungen mit den Philistern. Generell gewinnt sein Bild als aufsteigender militärischer und politischer Führer hier schärfere Konturen: das Sammeln von Männern vorwiegend aus der eigenen Verwandtschaft, die „bedrängt, verschuldet und verbittert“ sind (1Sam 22,1f), das Anwachsen dieser Freischärlertruppe auf 400, mit Tross 600 Mann (1Sam 23,13; 25,13; 27,2; 30,10), der Unterhalt dieser kleinen – für damalige und dortige Verhältnisse aber beträchtlichen – Privatarmee durch mehr oder weniger freiwillig entrichtete Abgaben der Bevölkerung (1Sam 25) oder durch kriegerische Beutezüge (1Sam 23,1–5; 27,8f; 30,1–20): All das wirkt plausibel und gewinnt historische Glaubhaftigkeit durch das Treiben der sog. „Hapiru“, die ein paar Jahrhunderte früher in der Amarna-Korrespondenz von kanaanitischen Stadtkönigen bald als tüchtige Söldner, bald als gefährliche Räuber beschrieben werden. (Dass in 1Sam 14 philistäische Krieger ihre israelitischen Gegner als „Hebräer“ bezeichnen, lässt geradezu an historische Kontinuität denken.)
Dass der Bandenführer David es über kurz oder lang mit philistäischen Streiftrupps und Kampfgruppen zu tun bekam (oder diese mit ihm), ist nur zu erwarten. Die Keïla-Episode in 1Sam 23,1–5 wie auch die Kämpfe von 2Sam 5,17–21 und 2Sam 23,8–17 führen alle in die gleiche Gegend: das Grenzgebiet zwischen der von den Philistern kontrollierten Küstenebene und dem Bergland, in dem David sich festgesetzt hat. Weniger sicher ist, ob David damals auch in Auseinandersetzungen mit Saul verwickelt war. Unmöglich ist es nicht, dass israelitische Truppen gelegentlich in das politisch labile und umstrittene Südpalästina vorstiessen, um das Feld nicht kampflos Streiftrupps der Philistern oder Banden wie der Davids (oder der Amalekiter!53) zu überlassen. Einzelne Überlieferungen zeigen Saul bei Engedi (westlich des Toten Meers) oder in der „Wüste Maon“ (südwestlich von Hebron54), wie er David auf der Spur ist (1Sam 23,24–26; 24,2), doch wird er durch einfallende Philister abgelenkt (1Sam 23,27). Diese letzte Nachricht lässt aufhorchen. Könnte es sein, dass David und die Philister sich zwar generell konkurrenzierten, jedoch dann kooperierten, wenn es Saul abzuwehren galt? Bandenführer pflegen sich nicht an politische oder gar moralische Maximen zu halten, sondern das zu tun, was im Augenblick als nützlich erscheint. Mit der Zeit wurde die Lage im kargen und umkämpften Süden für David offenbar ungemütlich – die Philister zu stark, vielleicht auch Saul zu gefährlich –, und so setzte er sich in den Westen ab. Anscheinend boten die Philister günstige Konditionen – und hofften ihrerseits, den vagabundierenden 53
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1Sam 15 könnte einen (kleinen) historischen Kern enthalten, vgl. W. Dietrich, David, Saul und die Propheten 21992 (BWANT 122), 10–12; A. Giercke-Ungermann, Die Niederlage im Sieg. Eine synchrone und diachrone Untersuchung der Erzählung von 1Sam 15, 2010 (EThSt 97), 258–261. Dass sich auch David mit diesen räuberischen Nomaden auseinandersetzen musste, zeigt 1Sam 30. Die Ortschaft Maon, die der Gegend den Namen gab, wie auch das im gleichen Atemzug erwähnte Sif (1Sam 23,19, 24; 26,1) lagen am Westrand der Wüste Juda (vgl. Tell Ma’in, Koord. 162.090) und werden in Jos 15,55 unter den Städten des judäischen Berglandes aufgezählt.
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Kriegsmann in ihr politisches und ökonomisches System einzubinden. Damit hatten sie statt zweier Gegner nur noch einen, gegen den sich die Kräfte bündeln liessen. So wurde aus dem Bandenführer David ein Söldnerführer in philistäischen Diensten.
3.2
David als Philistervasall
Dass David gerade im Philisterfürsten von Gat seinen Lehnsherrn fand, ist eine historisch äusserst beachtenswerte und vertrauenswürdige Nachricht. Gat war nach archäologischem Befund eine blühende, ja die grösste und führende Stadt Philistäas – aber nur bis zum Ende des 9. Jahrhunderts. Damals machte es der Aramäerkönig Hazaël dem Erdboden gleich;55 danach gelangte es nie mehr zu nennenswerter Bedeutung, wurde vielmehr Ekron zur philistäischen Metropole.56 Wäre – was in sich schon unwahrscheinlich ist – Davids Übertritt zu den Philistern eine spätere Fiktion, dann hätte man kaum ausgerechnet Gat zur Anlaufstelle gemacht. Die Erzählungen nennen den damaligen „König“ von Gat Achisch.57 Nun trug laut 1Kön 2,39 einer seiner Nachfolger diesen Namen, im 7. Jahrhundert auch ein König von Ekron.58 Doch das besagt nicht viel: Derlei ist bei Königs- (oder Papst-) Namen nicht ungewöhnlich, und selbst wenn der Königsname aus späterer Zeit rückprojiziert wäre, litte darunter die Plausibilität des Vorgangs nicht. Es ist übrigens auffällig, dass nur in Erzählungen über das 10. Jh. und nur mit Blick auf Gat von einem „König“ bei den Philistern die Rede ist.59 Sonst heissen in Erzählungen über diese Zeit die Philister-Führer seren (1Sam 5,8.11; 6,4.12.16.18; 29,2.6f).60 Später dann,
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Vgl. 2Kön 12,18 und A.M. Maeir / C.S. Ehrlich, Excavating Philistine Gath. Have we Found Goliath’s Hometown?: BARev 27/6 (2001) 22–31, bes. 30f. Vgl. T. Dothan, Art. Tel Miqne (Ekron): NEAEHL 3, Jerusalem 1993, 1051–1059 Der Name ist nicht semitisch; man hat ihn mit dem bei Homer belegten (Ilias 2.819) griechischen Namen Agxioshj in Verbindung gebracht, vgl. D.L. Christensen, Art. Achish: ABD I, 55f. Auf einer 1996 in Tel Miqne / Ekron gefundenen Inschrift sowie in assyrischen Dokumenten ist die Namensform Ikausu belegt, vgl. Finkelstein / Silberman, David und Salomo 169. Doch die Annahme dieser beiden Autoren, der Achisch von Gat in 1Sam sei in Wirklichkeit der Achisch von Ekron im 7. Jh., ist übereilt. Zur Kritik dieses für Finkelstein kennzeichnenden “deconstructionist trend” vgl. S.M. Ortiz, Rewriting Philistine History. Recent Trends in Philistine Archaeology and Biblical Studies, in: R.S. Hess / G.A. Klingbeil / P.J. Ray (eds.), Critical Issues in Early Israelite History, Winona Lake, IN 2008, 191–204. Dies hebt I. Shai hevor: “The Political Organization of the Philistines,” in: A.M. Maeir / P. de Miroschedji (eds.), “I Will Speak the Riddles of Ancient Times.” FS Amihai Mazar, vol. 1, Winona Lake, IN 2006, 347–359, bes. 349f. Der textliche und archäologische Befund fürs 10. und 9. Jh. wird von Shai so zusammengefasst: “even if the Philistines were not united under a single monarchy, cooperation among the five Philistine cities was the norm, and their external relations were conducted collectively” (351). Zur Herkunft dieses Begriffs vgl. W. Dietrich, Samuel, 2011 (BKAT VIII.1), 277f. Eine umfassendere Sicht auf das Phänomen bietet V. Wagner, Die srnjm der Philister und die Ältesten Israels: ZAR 14 (2008) 408–433.
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Haupt- und Nebenfiguren der Samuelbücher in Textzeugnissen des 8. bis 6. Jh.s, treten die vier (!) Philisterstädte (ohne Gat) jeweils nur einzeln in Erscheinung, und jede von ihnen hat einen „König“.
Laut 1Sam 27 erhielt David das Städtchen Ziklag zum Lehen. Dessen Lage ist bis heute nicht gesichert, doch hat man es dem Kontext nach im Südosten Philistäas zu suchen.61 Offenbar diente es als Aussen- oder Grenzposten, der das Kernland vor Einfällen aus dem Negev schützen und zugleich den eigenen Einflussbereich ausdehnen sollte. Als dortiger Stadtkönig blieb David faktisch weiter Bandenführer – nur dass er von einer gesicherten Basis aus operieren konnte und die Philister nicht mehr zum Feind hatte. Den Lebensunterhalt für seine Truppe musste er nicht mehr ihnen abjagen, sondern konnte ihn mit ihrem Einverständnis beschaffen – angeblich nicht in seiner judäischen Heimat, sondern weiter im Süden (1Sam 27,8f). Über eine Auseinandersetzung mit den nomadischen Amalekitern gibt es einen ausführlichen Bericht, der im Kern durchaus historisch zutreffend sein könnte.62 Im Zusammenhang damit ist von einer Beuteverteilung an judäische Ortschaften die Rede (1Sam 30,26–31), die David auf diese Weise für sich zu gewinnen suchte.63 Bei grösseren Konflikten war David seinem Lehnsherrn zur Heerfolge verpflichtet. Mit Recht geht die biblische Überlieferung davon aus, dass er auch zum Entscheidungskampf mit dem Israel Sauls aufgeboten wurde. Freilich hat der Höfische Erzähler ihn damals ausdrücklich entpflichtet werden lassen. Streicht man diese ideologisch bedingte Überfärbung ab, dann bleibt es möglich, in gewisser Weise sogar wahrscheinlich, dass David und seine Mannen bei der Schlacht auf Gilboa dabei waren – auf der Seite der Philister. Freilich, einen klaren Beweis dafür gibt es nicht. Offen bleiben muss auch, inwieweit die Philister und insbesondere der König von Gat über Davids Wechsel von Ziklag nach Hebron und seine dortige Ausrufung zum König von Juda (vgl. 2Sam 2,1–4a) informiert oder ob sie gar in diese Vorgänge involviert waren. Aus einem kleinen Stadtkönig wurde so der
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V. Fritz (Where is David's Ziklag?: BAR 19 [1993] 58–61.76) wollte es mit Schicht V des Tell es-Seba identifizieren. Beerscheba wird in den Isaak-Geschichten (Gen 21,22– 34; 26,23–33) noch als philistäisch beschrieben, später wurde es zur judäischen Stadt (Jos 15,28; 19,2 sowie die Formel „von Dan bis Beerscheba“ in Ri 20,1; 1Sam 3,20; 2Sam 17,11; 24,2; 1Kön 5,1). Von Konflikten mit diesem Nomadenstamm handeln nur Berichte aus der bzw. über die Frühzeit Israels: Ex 17,8–16; Num 14,39–45; Jud 6,3, 33; 7,12; 1Sam 15; 30. Die These H.A. Tanners (Amalek, der Feind Israels und der Feind Jahwes. Eine Studie zu den Amalektexten im Alten Testament, Zürich 2005), alle diese Texte lägen auf einer späten, dtr Ebene, dürfte nicht zutreffend sein. A.A. Fischer (Beutezug und Segensgabe. Zur Redaktionsgeschichte der Liste in I Sam 30,26–31: VT 53 [2003] 48–64) zweifelt die historische Zuverlässigkeit jener Liste an. Laut Finkelstein / Silberman (David und Salomo. Archäologen entschlüsseln einen Mythos, München 2006, 172) steckt sie voller „Anachronismen“, derentwegen sie in die Joschija-Zeit gehöre. Doch was besagt es schon, dass Bet-El, Aroër und Ramat-Negev „zur Zeit Josias besonders bekannt“ gewesen seien? Schwerer scheint zu wiegen, dass Jattir „vor dem 7. Jahrhundert nicht einmal bewohnt“ gewesen sei; doch dies setzt die – zwar oft vertretene, aber kaum zu sichernde – Identifikation mit Chirbet ‘Attir (nicht: ’Attir!; vgl. J.L. Peterson, Art. Jattir: ABD III, 649–650) voraus.
David und die Philister
167
Herr eines doch recht ansehnlichen Territoriums.64 Den Philistern könnte das durchaus recht gewesen sein. Zumindest nominell war David immer noch ihr Vasall: Die Herrschaft über Ziklag hatte er offensichtlich nicht abgetreten, denn ausdrücklich heisst es, die Stadt habe den judäischen Königen gehört „bis auf diesen Tag“65 (1Sam 27,6). Auf diese Weise liess sich ein Gegengewicht zum Königreich Israel, dem gewichtigsten Gegner der Philister, schaffen, ja, der erstarkte David konnte als wirkungsvolle Speerspitze gegen Israel eingesetzt werden. In der Tat sieht man Truppen Davids alsbald in Scharmützel mit israelitischen Truppen verwickelt (2Sam 2,8–32). Die Kämpfe sind bezeichnenderweise bei Gibeon lokalisiert (2Sam 2,12–17): nicht etwa in der Mitte oder gar im Süden Judas, sondern an oder jenseits von dessen Nordgrenze. Dies liesse sich sehr wohl als Versuch zur Destabilisierung der saulidischen Herrschaft verstehen, was ganz im Sinne der Philister gewesen wäre.
3.3
David als König von Juda und Israel
Nach der jetzigen biblischen Darstellung hat David seine Haltung gegenüber den Philistern sehr bald nach Sauls Tod und spätestens nach seinem Herrschaftsantritt über Israel radikal geändert. Schon in seinem Klagelied auf Saul und Jonatan distanziert er sich vernehmlich von den siegreichen Philistern (2Sam 1,20). Der israelitische Heerführer (und Saulide!) Abner habe, so lesen wir, bei seinen Landsleuten für David so antichambriert: „Jhwh hat zu David gesagt: Durch die Hand meines Knechtes David will ich66 mein Volk Israel retten aus der Hand der Philister“ (2Sam 3,18).67 Kaum dass David König über Israel geworden ist, reagieren die Philister mit wiederholten Angriffen gegen seine neue Residenz Jerusalem, werden aber zurückgeschlagen (2Sam 5,17–25). Und endlich stehen die Philister an der Spitze der Liste der Kriege und Siege Davids: „Und David schlug die Philister und demütigte sie; und David nahm den meteg ha’ammah68 aus der Hand der Philister“ (2Sam 8,1). 64
65 66 67
68
Es hat den Anschein, dass „Juda“ als geschlossene Grösse erst damals in Erscheinung trat bzw. begründet wurde. David war es, der die verschiedenen, dort siedelnden Sippenverbände (namentlich Kalibbiter, Keniter und Jerachmeeliter, vgl. 1Sam 25,3; 27,10) zu einer politischen Einheit formte. Gemeint dürfte die Zeit des Höfischen Erzählers sein, also das 8., evtl. das 7. Jahrhundert. Textus emendatus, siehe BHS. Freilich, von einer solchen Aussage Gottes verlautet zuvor nichts. Es war vielmehr Saul, über den Gott solches gesagt hatte (1Sam 9,16a) – ein Satz, der vom Höfischen Erzähler formuliert ist (vgl. W. Dietrich, Samuel [BKAT 8.1], 402–405). Zwischen beiden Stellen besteht nicht etwa ein Widerspruch, sondern ein subtiles Wechselspiel: Die Zusage in 1Sam 9,16a hat sich durchaus erfüllt (1Sam 13–14), aber nur teilweise; mit Sauls Niederlage auf Gilboa ist sie obsolet geworden, so dass sie in 2Sam 3,18 von dem Sauliden Abner an David weitergegeben werden kann. Die abschliessende Wendung „… und aus der Hand aller seiner Feinde“ dient der Überbietung des Lebenswerks Sauls und der Vorbereitung auf 2Sam 8. Die Bedeutung des Ausdrucks ist nicht abschliessend geklärt. מתגist der „Zaum“ bzw. das Metallstück, das im Maul des Pferdes liegt und durch den es gelenkt wird. אמהkann
168
Haupt- und Nebenfiguren der Samuelbücher
Dieses Bild einer scharfen Distanz zwischen dem König David und den Philistern verdankt sich indes dem Höfischen Erzähler, der seine Quellen entsprechend geordnet und kommentiert hat. Die negative Äusserung über die Philister in 2Sam 1,20 ist einerseits der Gattung geschuldet (die Rühmung der Getöteten verlangt den Tadel derer, die für den Tod verantwortlich sind), andererseits politisch motiviert (David inszeniert sich als Freund Israels). Abners Worte in 2Sam 3,18 stammen vom Höfischen Erzähler selbst. Die beiden Schlachtberichte in 2Sam 5,17–25 hat er, historisch wohl unzutreffend, an ihren jetzigen Platz gestellt. Die Philister-Notiz 2Sam 8,1 ist einerseits sehr pauschal, andererseits sehr rätselhaft;69 vor allem aber fehlt ihr jede zeitliche Einordnung,70 so dass die hier allenfalls angedeuteten Feindseligkeiten mit den Philistern (wie bei 2Sam 5,17–25) sehr viel früher stattgefunden haben können.
Nach den älteren Quellen ist ein sehr anderes Szenarium im Verhältnis des Königs David zu den Philistern denkbar, als die Bibel (bzw. der Höfische Erzähler) es zeichnet: Die Philister könnten damit zufrieden gewesen sein, die Herrschaft über Juda und Israel in den Händen eines Verbündeten (oder immer noch: Vasallen?) zu wissen. Dies erlaubte es ihnen, fortan auf Militäraktionen im Bergland zu verzichten. Umgekehrt machte David keinerlei Anstalten, seinen Machtbereich in die Küstenebene hinein auszudehnen. Vielmehr bildeten sich zu den Küstenländern Phönizien und Philistäa offenbar rege Handelsbeziehungen.71 Insgesamt stellt sich das Bild einer friedlichen Koexistenz ein, in der zumindest ökonomisch, vielleicht auch politisch und militärisch, das Küstenland die Oberhand behielt. Verhielt sich David nach Westen defensiv, so nach Osten aggressiv. Es gibt eine Reihe detaillierter Nachrichten über militärische Konflikte mit den ostjordanischen Ländern.72 Die Philister musste das nicht beunruhigen, im Gegenteil: Wenn die
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72
„Elle“ bedeuten oder „Kanal“ (s. HALAT s.v.). So übersetzt man, einigermassen ratlos, „grosser Zaum“ o.ä. und stellt sich vor, dass David die philistäische Fremdherrschaft abgeschüttelt hätte. Oder man hält מתגfür einen nicht bekannten, den Philistern aber sehr wichtigen Gegenstand. Oder man folgt der Chronik (1Chr 18,1), die für מתגoffenbar מגת („aus Gat“) gelesen und von da aus „Gat und seine Tochterstädte“ verstanden hat. Oder man akzeptiert zwar „Gat“, sieht aber in אמהeinen Ortsnamen: „von Gat bis Amma“. Sehr gewinnend ist Baruch Halperns Vorschlag (David’s Secret Demons. Messiah, Murderer, Traitor, King, Grand Rapids, MI / Cambridge 2001, 320f), מתגals “a corruption of the term ptg-“ zu verstehen, „which appears as a name or title of the goddess of Ekron in an inscription of the early 7th century”, so dass “ מתגmay well be the icon (or one of several icons), which David captured from the Philistines according to 2Sam 5,21“. Um wie viel anschaulicher und detaillierter sind die folgenden Kurzberichte in 2Sam 8 und erst recht der Ammoniterkriegsbericht in 2Sam 10,1–19; 12,26–31! Der einleitende Satz „Und es geschah danach“ verweist, streng genommen, alle nachfolgend beschriebenen Siege in die Zeit nach 2Sam 5–7. Ausgrabungen an israelitischen und judäsichen Ortslagen der Eisenzeit IIA fördern regelmässig Handelsgüter, namentlich Töpferwaren philistäischer und phönizischer Provenienz zutage. Die Bibel berichtet ausführlich von Handelskontakten Salomos mit Phönizien (1Kön 5–7; 9,10–14.27); eine entsprechende Notiz über David in 2Sam 5,11 wird oft als anachronistisch verdächtigt, jedoch ohne zwingenden Grund. Vgl. 2Sam 8,2–14; 11,1; 12,26–31. Der Ammoniter- und Aramäerkriegsbericht in 2Sam 10 ist im Vergleich damit literarisch jünger und historisch mit Vorsicht zu bewerten. Eine
David und die Philister
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Kräfte des vereinigten Königreichs Juda-Israel im Osten gebunden waren, konnten sie sich nicht gegen Westen wenden. Und den zweiten wichtigen Nord-Süd-Handelsweg neben der Via Maris, den sog. Königsweg vom Golf von Akaba nach Damaskus, bekam man auch so unter Kontrolle – so wie natürlich auch die Ost-WestRouten von den Küstenstädten ins arabische Binnenland.
Ein starker Hinweis darauf, dass die Beziehungen zwischen König David und den Philistern eher durch Kooperation als durch Konfrontation gekennzeichnet waren, ist die Anwesenheit von Philistern, speziell von Gatitern, in und bei Jerusalem. Nach einer unprätentiösen und damit unverdächtigen Notiz in der Erzählung von der Überführung der Lade nach Jerusalem wurde dieses heilige Gerät nach einem unliebsamen Zwischenfall drei Monate lang in die Obhut eines Gatiters namens Obed-Edom gegeben, worauf dieser den Segen Jhwhs (!) erfuhr (2Sam 6,10–12). Noch gewichtiger aber ist die bereits diskutierte Nachricht von den 600 Gatitern unter Ittais Kommando, die David im Kampf gegen Abschalom unterstützten (2Sam 15,18–22). Wenn Ittai nicht, wie der jetzige Text es will, aus Gat expatriiert, sondern zur Unterstützung Davids entsandt worden wäre, dann rundete sich das Bild: Abschaloms Rebellion war wesentlich von (Nord-)Israel getragen.73 So mussten die Philister fürchten, es bahne sich eine für sie höchst unliebsame Reprise an: Ein siegreicher Abschalom konnte in die Fussstapfen Sauls treten, verstärkt freilich noch um Juda. Damit stellt sich eine fast unheimliche Entsprechung ein: Einst hatte David den Philistern (vielleicht) bei der Niederwerfung Sauls geholfen; jetzt halfen sie (sehr wahrscheinlich) David bei der Niederwerfung Abschaloms. Es ist keine einfache Aufgabe, in dieses Bild der Beziehungen Davids zu den Philistern die neuen archäologischen Entdeckungen in Chirbet Qeiyafa einzubeziehen: einer Ortslage 12 km östlich von Gat / Tell es-Safi im sog. Tal Ela, im Grenzbereich von Bergland und Küstenebene.74 Der Ort ist eingeschlossen durch eine 700 m lange Mauer und war hauptsächlich in zwei Epochen besiedelt: in der hellenistischen Ära und in der Eisen-IIA-Zeit. Diese frühe Besiedlung dauerte nur wenige Jahrzehnte an, danach wurde der Ort zerstört. Der Ausgräber, Yossi Garfinkel,75 interpretiert die Ortslage als „Stadt“ – besser wäre vielleicht der Ausdruck „militärischer Aussenposten“ –, gegründet vom Königreich Juda, d.h. praktisch: von König David. Radiokarbon-Messungen und Keramikanalysen machen das 10. Jh. als Gründungszeit relativ sicher.76 Weniger sicher ist, ob es sich wirklich um eine judäische Siedlung
73
74 75 76
Übertreibung dürfte indes auch die Behauptung von 2Sam 8,6 sein, Aram-Damaskus sei dauerhaft unterworfen worden. So A. Alt, Die Staatenbildung der Israeliten in Palästina, in: Ders., Kleine Schriften zur Geschichte des Volkes Israel, Bd. II, München 31964, 57f. H. Bardtke hingegen rechnet mit einer starken Beteiligung Judas an der Rebellion (Erwägungen zur Rolle Judas im Aufstand Absaloms, in: Wort und Geschichte. FS Karl Elliger, 1973 [AOAT 18], 1–8). F. Crüsemann behauptet eine Kooperation zwischen dem israelitischen und dem judäischen Heerbann (Der Widerstand gegen das Königtum. Die antiköniglichen Texte des Alten Testaments und der Kampf um den frühen israelitischen Staat, 1978 [WMANT 49], 96–98). Für einen ersten Einblick vgl. H. Shanks, Newly Discovered: A fortified City from King David’s Time: BARev 35,1 (2009) 38–43. Y. Garfinkel / S. Ganor, Khirbet Qeiyafa. Excavation Report 2007–2008, Jerusalem 2009. Die Kalibration ergibt einen Zeitraum zwischen 1050 and 975 v. Chr.
170
Haupt- und Nebenfiguren der Samuelbücher handelt – oder nicht vielmehr um eine philistäische. Die gefundenen Fauna-Reste77 sowie ein zutage gekommenes Heiligtum mit Hinweisen auf einen anikonischen Kult78 sprechen für die erste Möglichkeit.79 Auf die zweite hingegen verweisen schöne Stücke typisch philistäischer Keramik aus eben der fraglichen Siedlungsschicht.80 Doch angenommen, es wäre David gewesen, der Chirbet Qeiyafa als Grenzposten gegen die Philister errichtet hat: Wie fügte sich das zu unserem aus den biblischen Texten gewonnenen Bild? M.E. schliesst eine Beziehung wie die zwischen Achisch und David bzw. Gat und Jerusalem nicht aus, dass die eine Seite durch gezielte Angriffe ihr Einflussgebiet auszudehnen81 und die andere sich nach Kräften dagegen zu wehren versuchte. Die Zerstörung von Chirbet Qeiyafa – wahrscheinlich durch die Philister – wäre dann eine heftige Warnung an David gewesen, die gegenseitigen Beziehungen nicht zu sehr zu belasten und das wahre Kräfteverhältnis zwischen dem König von Gat und dem von Jerusalem nicht aus dem Gedächtnis zu verlieren.
Das hier entworfene Bild von „David und den Philistern“ unterscheidet sich nicht unerheblich von dem in der Bibel (d.h. hauptsächlich vom Höfischen Erzähler) gezeichneten. Davids Macht erschiene als nicht mehr gar so gross, freilich auch nicht als minim. David (und in seiner Nachfolge Salomo) wäre zwar nicht Gebieter eines Reiches „vom [Eufrat-] Strom bis zum82 Philisterland und an die Grenze Ägyptens“ (1Kön 5,1),83 aber immer noch Herr einer Doppelmonarchie, die „von Dan bis Beerscheba“ (1Kön 5,5) 84 reichte.
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Garfinkel / Ganor (a.a.O. Anm. 75), 205: “The Iron Age assemblage for the site is dominated by cattle and sheep/goat bones”; 204: “No pig bones were found in the Iron Age stratum”. So Garfinkel in einem Vortrag, den er im September 2010 in Bern hielt. Auch eine einigermassen rätselhafte Inschrift erhielte in einer von G. Galil vorgeschlagenen Lesung einen judäischen, geradezu biblischen Klang: The Hebrew Inscription from Khirbet Qeiyafa/Neta‘im: Script, Language, Literature and History: UF 41 (2009) [2010], 193–242. Andere Lesungen finden sich bei Garfinkel/Ganor, a.a.O. 243–270. Nach Garfinkel/Ganor (a.a.O. 151–158) repräsentieren sie ein lange vermisstes Bindeglied zwischen der “Philistine Bichrome Ware” des späten 11. und der “Late Philistine Decorated Ware” des 9. und 8. Jh.s. Für J. Uziel indes (The Development Process of Philistine Material Culture. Assimilation, Acculturation and Everything in between: Levant 39 [2007], 165–173, hier 168) ist gerade die Keramik “probably the most distinctive feature of the assemblage”. Die Küstenstädte hatten ein starkes Interesse an der Kontrolle der Ökonomie und der Märkte ihres Hinterlands im Gebirge. A. Shalit (“Settlement Patterns of Philistine CityStates,” in: A. Fantalkin / A. Yasur-Landau [eds.], Bene Israel. Studies in the Archaeology of Israel and the Levant during the Bronze and Iron Ages, FS Israel Finkelstein [Leiden 2008], 135–164) weist nach, dass es in der Umgebung der Philisterstädte kaum ländliche Siedlungen gab, so dass die benötigten Nahrungsmittel und Handelswaren von anderswoher kommen mussten. Textus emendatus, siehe BHS. Vgl. auch die Formulierung in dem eingangs angeführten (Scherz-) Brief Davids. Auch die übrigen Belege dieser Formel – abgesehen von Ri 20,1 noch 1Sam 3,20; 2Sam 17,11; 24,2 – finden sich ausschliesslich in Texten über die Frühe Königszeit.
Die zweifache Verschonung Sauls (1Sam 24 und 26). Zur „diachronen Synchronisierung“ zweier Erzählungen Nirgendwo in den Samuelbüchern wird das Bild des auf Gewalt verzichtenden David so eindrücklich gezeichnet wie in 1Sam 24–26. Es ist, als übe der künftige König Schritt um Schritt die Tugend der Gewaltlosigkeit ein. In 1Sam 24 gerät David einigermaßen unverhofft in die Lage, Saul töten zu können, als der zur Verrichtung seiner Notdurft in eine Höhle tritt, in der David und seine Mannen sich versteckt halten; David tastet den König (bzw. seine Kleidung) an, verletzt ihn aber nicht. In 1Sam 25 provoziert Nabal David durch seine schroffe Weigerung, die verlangten Abgaben zu entrichten, woraufhin dieser wutentbrannt alles auszulöschen beschließt, was in Nabals Anwesen „an die Wand pisst“; davon vermag ihn Nabals Gattin Abigajil gerade noch abzuhalten. In 1Sam 26 schließlich dringt David von sich aus zu dem im Feldlager schlafenden König vor, rührt ihn aber nicht an (auch nicht seine Kleidung), sondern nimmt ‚nur’ seinen Spieß und seinen Wasserkrug als Beweisstücke seines Verzichts auf Gewalt mit. Zwischen den drei Erzählungen besteht also eine Art Klimax.
1.
Die Parallelstruktur von 1Sam 24 und 26 im Rahmen der Trilogie 1Sam 24–26
Der Abschnitt 1Sam 24–26 ist nach der Art eines Triptychons aufgebaut: Die beiden Szenen von der Verschonung Sauls rahmen als Seitenbilder das Mittelbild von David, Nabal und Abigajil.1 Schon lange ist aufgefallen, dass die beiden Seitenteile eine verblüffend parallele Grundstruktur aufweisen, die bis zu einzelnen, identischen Begriffen reicht.2 I 24 1
1
2
David hält sich in einer Bergfeste bei En-Gedi auf
I 26 1
David hält sich am Hügel Hachila nahe der Einöde (in der Wüste Sif) auf
Den hohen ästhetischen Reiz und ethischen Rang dieser Anordnung haben schon andere erkannt, z.B. Levenson (1 Samuel 25), Gordon (David’s Rise), Cazeaux (Écriture biblique), auch Caquot / de Robert (Livres de Samuël 290), vgl. meinen Bericht in Dietrich/Naumann, Samuelbücher 102–108. Hentschel, Saul 169, bietet eine der folgenden ähnliche Vergleichstabelle, Koch, Formgeschichte 163–168 eine synoptisch angeordnete, volle Übersetzung beider Kapitel.
Haupt- und Nebenfiguren der Samuelbücher
172 2 3
Saul wird dies gemeldet
Saul wird Davids Aufenthalt von den Sifitern gemeldet Saul bricht mit 3000 erlesenen Kriegern aus ganz Israel auf, um David zu verfolgen Saul bezieht ein Lager am Wege.
Saul nimmt 3000 erlesene Krie- 2 ger aus ganz Israel, um David zu verfolgen 4 Saul betritt eine Höhle am 3a Wege, um seine Notdurft zu verrichten David und seine Mannen sitzen 3b.4 David sitzt in der Wüste, sieht hinten in der Höhle Saul kommen und lässt ihn auskundschaften 5–7 David schleicht nachts mit Abischai in das Lager Sauls 5a Davids Männer sagen, dies sei 8a Abischai sagt, dies sei die Gedie Gelegenheit, Saul zu töten legenheit, Saul zu töten 5b.6 David schneidet Saul einen Mantelzipfel ab, woraufhin ihm das Gewissen schlägt 7.8a David erklärt seine Zurückhal- 8b– David verbietet Abischai, Saul tung gegenüber Saul und verbie- 11a zu töten, und erklärt ihm, watet auch ihnen, ihn anzutasten rum dies nicht statthaft sei 11b. Die Beiden nehmen Sauls 12* Spieß und seinen Wasserkrug mit 8b. Zuerst Saul und dann David 12* David und Abischai gehen aus 9a gehen aus der Höhle dem Lager, niemand ist erwacht 9b David ruft hinter Saul her und 13. David ruft aus sicherem Abhuldigt ihm, als dieser ihn 14a stand Abner und das Kriegswahrgenommen hat volk an 14b. Dialog zwischen David und 15f Abner 12a David: „Schau hier den Zipfel 16b David: „Schau, wo ist der deines Mantels“ Spieß und der Wasserkrug des Königs?“ 10– Dialog zwischen Saul und Da17– Dialog zwischen Saul und Da23a vid 25a vid 23b Saul geht nach Hause, David 25b David geht seines Weges, Saul und seine Mannen gehen in ihre kehrt an seinen Ort zurück Bergfeste Beide Erzählungen haben also einen gemeinsamen Grund-Plot mit folgenden Elementen:3 3
Der Sachverhalt erinnert an andere Mehrfach-Überlieferungen in der Bibel: die Gefährdung der Ahnfrauen Sara und Rebekka (Gen 12,10ff; 20; 26); die Erweckung eines ver-
Die zweifache Verschonung Sauls durch David (1Sam 24 und 1Sam 26)
173
– – –
Saul jagt David in unwirtlichen Gegenden Judas David kommt in die Lage, Saul umbringen zu können David enthält sich der Gewalt, bemächtigt sich aber eines persönlichen Gegenstands Sauls – David setzt die Trophäe als Nachweis seiner Großmut ein – Die beiden Kontrahenten trennen sich voneinander Die Schriftsteller oder Redaktoren, die den jetzigen literarischen Zusammenhang 1Sam 24–26 geschaffen haben, empfanden das Nebeneinander zweier derart paralleler Geschichten offenbar nicht als nachteil-, sondern gerade als vorteilhaft.4 Dahinter mag eine Erwartung stehen, wie sie auch hinter dem wichtigsten Stilmittel der hebräischen bzw. altorientalischen Poesie, dem Parallelismus membrorum, zu vermuten ist: dass zwei parallel zueinander verlaufende Erzählungen, ähnlich wie zwei parallele Aussagen in einem Gedicht, einander bestätigen, ergänzen oder differenzieren können.5 Im Falle der Erzählungen 1Sam 24 und 26 hat es den Anschein, dass solche Effekte bewusst hergestellt und verstärkt worden sind. Das lässt sich an den hüben wie drüben vertretenen Begriffen zeigen, die nur auf einer der beiden Seiten unentbehrlich sind und also auf der anderen sekundär als Querverweis angebracht wurden. Die „3000 erlesenen Krieger“ etwa, die Saul begleiten, machen in 1Sam 26 Sinn, weil dort das Kriegslager mit vielen Soldaten eine Rolle spielen wird. Dass David mitten aus einem Armeelager Gegenstände aus dem persönlichen Besitz des Königs unbemerkt entwendet, ist ein Husarenstück, das beim Hörer bzw. der Leserin gewaltigen Respekt erwecken will. Nach vollbrachter Tat wendet sich David denn auch an das „(Kriegs-)Volk“ und dessen Befehlshaber Abner (26,14), um sie wegen ihrer Unaufmerksamkeit zu schelten. In 1Sam 24 hingegen ist es nicht bedeutsam, wie viele Soldaten Saul bei sich hat: Er geht in die Höhle naturgemäß ganz allein, und er allein führt hernach die verbale Auseinandersetzung mit David.6 – Umgekehrt ist die Bemerkung „am
4
5
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storbenen Knaben durch Elija und durch Elischa (1Kön 17,17ff; 2Kön 4,18ff); die wunderbare Speisung der 4000 oder der 5000 durch Jesus (Mk 6,35ff; 8,1ff). Mit Recht weist Edenburg (Murder) die vorschnelle diachrone Auflösung dieses Nebeneinanders in ein Nacheinander ab: Es sei ein und derselbe Autor gewesen, der sehr bewusst die beiden Erzählungen dort platziert habe, wo sie jetzt stünden. (Dass sie von eben diesem Autor allererst erschaffen worden seien, wie Edenburg meint [77. 81], wird sich im Folgenden als nicht zutreffend erweisen.) Dies ist offenbar die Ratio auch hinter dem Nebeneinander der drei Erzählungen, die den Beginn der Karriere Davids schildern: seine Salbung durch Samuel (1Sam 16,1–13), seine Berufung als Musiktherapeut an den Hof Sauls (1Sam 16,14–23) und sein Sieg über Goliat (1Sam 17). Jede dieser Geschichten rückt David in ein günstiges, aber doch je spezifisches Licht. Einmal ist er der von Gott Erwählte, dann der bei den Menschen – speziell beim König und bei Hofe – Beliebte und schließlich der über noch so starke Feinde Siegreiche. Campbell, 1 Samuel 252, bemerkt spöttisch: „David … is not seized by the three thousend who are out hunting for him“, um aus dieser Unwahrscheinlichkeit auf verschiedene, der Erzählung in 1Sam 24 zu Grunde liegende Erzählungen zu schließen. Die von mir vorgeschlagene Erklärung, dass in den „3000 Mann“ eine sekundäre Angleichung an 1Sam 26 vorliegt, scheint mir einfacher zu sein. Noch einfacher – und wohl gar zu einfach – ist Alters schlichte Bemerkung (David 148): „Saul could, after all, order his troops
174
Haupt- und Nebenfiguren der Samuelbücher
Weg“ ( )על־הדרךin 24,4 sinnvoll, um die Unvorhersehbarkeit der Begegnung zu betonen; in 26,3 dagegen ist sie unnötig, weil David die Örtlichkeit, an der Saul sich befindet, genau auskundschaftet. Ebenso ist die Mitteilung von 24,4, dass David mit seinen Mannen in der Höhle „sitzt“, die Saul betritt, unabdingbar; dass er aber laut der zweiten Erzählung „in der Wüste sitzt“ (26,3), ist eine weder sehr präzise noch im Erzählfortgang nötige Angabe.7 Offenbar also wurden die beiden Verschonungsgeschichten gerade in ihren Expositionen bewusst aneinander angeglichen. Die Lesenden sollten gleich am Beginn der zweiten merken, dass sich jetzt die erste leicht variiert wiederholen wird. Sie sollten gespannt sein darauf, wie Saul diesmal in Davids Hand geraten, ob David auch diesmal an sich halten, ob es auch diesmal zu einem Dialog zwischen beiden Kontrahenten kommen und wie dieser aussehen und ausgehen wird. In der Zwischenzeit, so weiß die Leserschaft, hat ja auch die Konfrontation Davids mit Nabal stattgefunden, die dank Abigajils mutigem und klugem Einsatz unblutig endete. Wer von 1Sam 24 und 25 her zu 1Sam 26 kommt, wird hoffen und erwarten, dass David der neuerlichen Versuchung zur Gewalt ganz sicher widerstehen wird. Und alsbald wird deutlich, dass David diese nächste Gelegenheit förmlich sucht – so als wolle er sich und anderen seine Standhaftigkeit gegen die Anfechtung der Gewalt beweisen.
2.
Eine umfangreiche prodavidische Bearbeitung der Dialoge von 1Sam 24 und 26
Der gemeinsame Grund-Plot von 1Sam 24 und 26 ist nun aber lediglich der Rahmen für eine intensive gedankliche Auseinandersetzung mit dem Thema Gewalt und Gewaltverzicht. Diese findet vornehmlich in den Dialogen statt, die wir bisher noch nicht näher ins Auge gefasst haben, obschon sie mehr als die Hälfte des Erzählumfangs ausmachen.8 In ihnen trifft man auf besonders viele verbale Berührungspunkte zwischen den beiden Verschonungserzählungen (und überdies mit der von David und Nabal). Wenn ich recht sehe, sind es vor allem
7
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to attack David and the men behind him in the cave“; dies unterbleibe deswegen, weil David sich sogleich äußerst ehrerbietig zeige … Die weiteren identischen Wörter – „sagen, gehen, rufen, schauen“ – mag man im Grundbestand beider Erzählungen unentbehrlich finden. Immerhin lässt sich erwägen, ob nicht 1Sam 26,14 eine unnötige Länge und in Angleichung an 1Sam 24,9 (vgl. das Verb קראhier und dort) geschaffen ist; David könnte sich auch gleich an Abner wenden (26,15). Ihrer Struktur und ihren Aussagen widmet sich Fokkelman in fast übergründlicher Weise – freilich ohne je die Möglichkeit diachroner Analyse auch nur zu erwägen (Art 451– 473. 529–551).
Die zweifache Verschonung Sauls durch David (1Sam 24 und 1Sam 26)
175
drei große Wort- bzw. Diskursfelder, in denen die Gesamtthematik der Trilogie entfaltet wird und aus denen ich die wichtigsten Leitbegriff heraushebe:9 – Auf der ethischen Ebene geht es um nicht weniger als um „Gut“ und „Böse“10, was sich konkret daran entscheidet, ob ein Mensch einem anderen – und sei es sein „Feind“11 – nach dem „Leben“12 trachtet, oder ob es ihm in dieser Hinsicht gelingt, „gerecht“ zu sein.13 – Auf einer politisch-ideologischen Ebene steht die Rolle des Königs zur Debatte. Immer wieder wird der amtierende Herrscher dezidiert als „Gesalbter Jhwhs“14 bezeichnet, gegen den man auf keinen Fall die „Hand ausstrecken“15 dürfe. – Auf der theologischen Ebene ist vom Handeln und vom Willen Gottes die Rede: Jhwh ist es, der Saul dem David „in die Hand gegeben“ bzw. „geliefert“16 hat, der aber seinen „Gesalbten“ geschützt sehen will17 und sich selber vorbehält, zwischen Saul und David zu richten18 und Saul allenfalls zu „schlagen“19. Diese Gedanken und Begriffe häufen sich in den Dialogen von 1Sam 24 und 26 derart stark, dass sich die Vermutung aufdrängt, es verdankten sich hier größere Passagen jenem Vorgang, dessen wir bereits ansichtig geworden sind: dem bewussten Aufeinander-Zuschreiben, der gewollten Parallelisierung der beiden Kapitel zum Zwecke der Verstärkung ihrer Aussage. Wäre es so, dann wären diese Partien als redaktionell anzusprechen; denn Redaktionstätigkeit gibt sich nicht zuletzt dadurch zu erkennen, dass sie über die Einzelerzählung hinausblickt, in unserem Fall: dass sie nicht nur eine der beiden Verschonungsgeschichten bearbeitet, sondern beide, um sie miteinander (und zugleich mit der
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In der folgenden Aufstellung sind solche Begriffe in Anführungszeichen gesetzt; Voraussetzung ist jeweils, dass sie in 1Sam 24 und 1Sam 26 (oder auch in 1Sam 25) vorkommen. Teilweise hat Gordon (David’s Rise) schon ähnliche Beobachtungen gemacht. Vgl. die Wurzeln טבin 1Sam 24,5.18.19.20; 26,16 und רעin 1Sam 24,10.12.18; 26,18.21. Dieses Motiv ist in 1Sam 25 teilweise noch recht unprätentiös gebraucht (z.B. 25,15.17.36, auch 25,3); eigentlich ethische Dimension scheint es hier erst auf einer jüngeren Textstufe anzunehmen (z.B. 25,26.28.30.34.39). Der Begriff איבbegegnet in allen drei Kapiteln: 1Sam 24,5; 25,22.26.29; 26,8. In 25,22 steht das Wort sogar syntaktisch anstößig und fehlt in LXX. Vgl. den Begriff נפשׁin 1Sam 24,12; 26,21.24. Die Wortwurzel צדקin 1Sam 24,18; 26,23. משׁיח־יהוהin 1Sam 24,7.11; 26,9.16. שׁלח ידin 1Sam 24,7.11; 26,9. Davids “Hand” kommt in den Samuelbüchern schon viel früher in den Blick: nämlich als die des Leierspielers, der Sauls düsteres Gemüt aufhellen soll (1Sam 16,16; 18,10; 19,9). Und jetzt, nach dem Zerwürfnis, tut seine Hand das “Böse” nicht, das so nahe läge (24,12; 26,18). Dabei handelt David ganz nach der Maxime Abigajils, die ihn dringend davor warnt, sich blutig “mit eigener Hand zu helfen” (25,26.33). נתן בידbzw. סגר ביד: 1Sam 24,5.11.19; 26,8.23. Zuvor hatte Saul verschiedene Male versucht, David in seine “Hand” zu bekommen (1Sam 23,7.11.14.17). Und in 24,16 zeigt sich David überzeugt, Gott werde ihn vor dem Zugriff der „Hand“ Sauls bewahren. „Davor bewahre mich Jhwh“ ()חלילה לי מיהוה: 1Sam 24,7; 26,11. 1Sam 24,16; 25,39. נגףin 1Sam 25,38; 26,10.
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Haupt- und Nebenfiguren der Samuelbücher
Abigajil-Geschichte) zu verbinden und auf diese Weise ein ebenso vielfarbiges wie in sich stimmiges Bild zu zeichnen zum Thema „David und die Gewalt“. Gleich der erste Dialog in 1Sam 24 wirkt im Kontext merkwürdig deplatziert.20 Man vergegenwärtige sich die Situation: Saul hockt in der Nähe des Höhleneingangs, um sich zu erleichtern; im Rückraum der Höhle sitzen David und seine Mannen. Und da entspinnt sich eine Debatte um die Frage, ob man Saul jetzt töten solle.21 „Die Männer Davids“ – etwa gar im Chor oder in aufgeregtem Durcheinander? – weisen auf die gottgegebene Gunst des Augenblicks hin (24,5). Saul muss das überhört haben, denn ahnungslos lässt er es geschehen, dass David sich ihm nähert und ihm etwas von seinem Gewand abschneidet. Und wie kann Saul die darauf folgende, feierliche Beteuerung Davids an seine Leute entgehen: „Davor bewahre mich Jhwh, dies meinem Herrn, dem Gesalbten Jhwhs anzutun, meine Hand gegen ihn auszustrecken! Er ist doch Jhwhs Gesalbter!“ (24,7)22 Nicht einmal das bekommt Saul mit, dass David seinen Männern – ausdrücklich „mit Worten“, nicht etwa nur mit energischen Gesten – verbietet, sich an Saul zu vergreifen (24,8a). Nein, von dem gesamten dramatischen Geschehen unberührt tritt der König aus der Höhle (24,8b)! Muss man sich diese als sehr groß vorstellen – oder Saul als sehr beschäftigt oder vielleicht nicht als voll wahrnehmungs- bzw. zurechnungsfähig?23 Wichtiger als solche Fragen dürfte dem Verfasser der Wunsch gewesen sein, der Leserschaft die Botschaft zu vermitteln, dass David kein bedenkenloser Gewalttäter und Königsmörder war. Dabei stehen ganz eindeutig die beschriebenen ethisch-ideologischtheologischen Aspekte im Vordergrund. Die gewisse Fremdheit dieser Passagen im Kontext weist auf sekundäre Einfügung.24 20
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Vgl. Stolz, Buch Samuel 153: „Daß diese Gespräche nicht in die ursprüngliche, unmittelbar anschauliche Erzählung hineinpassen, ist leicht einzusehen.“ Freilich sagt Stolz, es sei eine ältere „Überlieferung … vom Erzähler stark umgestaltet“ worden; hier sind die Kategorien und Textstufen nicht klar unterschieden. Noch verschwommener spricht Stoebe von „Motivhäufung“ und „Motiverweiterung“ (Buch Samuelis 440.442). Die bis heute noch nicht abgelöste – und hochwertige! – Übersetzung der Zürcher Bibel von 1942 hielt es für angebracht, in 1Sam 24,5–7 die Versfolge zu ändern: V.5a.7.8a.5b.6.8a. Das scheint vernünftig, spielt sich so doch zuerst die gesamte Auseinandersetzung zwischen David und seinen Leuten ab, ehe es zu Davids (zurückhaltender) Tat kommt. Doch auch so wird, wie Stoebe (Buch Samuelis 439) richtig feststellt, die Szene nicht viel wahrscheinlicher – und wenn sie es wäre: Wer hätte die unwahrscheinlichere Version hergestellt? Diese Äußerung steht in einem gewissen Kontrast zu dem, was Davids Leute nach V.5 tatsächlich gesagt haben (sollen): „They carefully avoid the plain word ‚kill‘“ (Alter, David 147). Schon der mittelalterliche jüdische Kommentator Qimchi hat die leise Spannung bemerkt und einen „unreported dialogue“ angenommen, wonach David mit V.7 auf den Tadel seiner Kumpane antwortete: „Warum hast du ihn nicht getötet?“ (Vgl. Edenburg, Murder 76 mit Anm. 33.) Vgl. die ähnlichen Fragen bei Stein (Saul 59) und Hentschel (Saul 160). Es liegt nahe, dem gleichen Ergänzer auch den Satz vom schlechten Gewissen Davids (24,6) zuzuschreiben. Er begründet im Zusammenhang das Reden und Handeln Davids gegenüber seinen Gefährten (24,7f) – so als sei David erst aufgrund des kecken Griffs nach Sauls Mantelzipfel bewusst geworden, was auf dem Spiel stand: das Leben des Königs und der Wille Jhwhs, vgl. Fokkelman: „Cutting off the corner of the cloak announces the end of Saul as king … [T]he act of cutting and its symbolism mediate between
Die zweifache Verschonung Sauls durch David (1Sam 24 und 1Sam 26)
177
Ähnlich steht es mit dem ersten Dialog in 1Sam 26. Abischai spielt hier die gleiche (Versucher-) Rolle wie die Kumpane in der Höhle, indem er den Königsmord als Jhwhs Willen hinstellt – wozu sonst hätte Jhwh David seinen „Feind in die Hand geliefert“ (26,8a)? Abischai bietet sich sogar als Handlanger für den Mord an (26,8b), doch David hält sowohl ihn (26,9a)25 als auch sich selber zurück und bringt dafür, leicht variiert, dieselben Begründungen vor wie schon in der Höhle von En-Gedi: „Wer könnte die Hand ausstrecken gegen den Gesalbten Jhwhs und unschuldig bleiben?“ (26,9b). „Jhwh bewahre mich davor, dass ich meine Hand ausstrecke gegen den Gesalbten Jhwhs“ (26,11a). Zudem sei es gar nicht nötig, Saul umzubringen, denn bestimmt werde Gott ihn „schlagen“ bzw. im Krieg „sterben“ lassen26 (26,10: ganz genau so hieß es in 1Sam 25,38, dass Jhwh Nabal „schlug, so dass er starb“). Wie schon bei der En-GediGeschichte, so fügt sich auch hier diese Diskussion nicht recht in die Situation. Man bedenke: nächtens im feindlichen Lager, unmittelbar neben Saul und seinem General Abner und umgeben von 3000 Soldaten! Anscheinend ist die Schwierigkeit auch dem vermuteten Bearbeiter bewusst geworden, weshalb er zum Abschluss der Szene bemerkt: „… ein Tiefschlaf Jhwhs war auf sie gefallen“ (26,12bb). In der Grunderzählung, in der David und Abischai Spieß und Wasserkrug des Königs lautlos an sich nahmen27 (26,12a), genügte die Feststellung: „Keiner sah es und keiner merkte es und keiner wurde wach, denn sie alle schliefen“ (26,12ba). Doch nicht nur die Anfangs-, auch die weiteren Dialoge sind erkennbar sekundär aufgefüllt. In 1Sam 26 wendet sich David nach der Erbeutung seiner Trophäen zuerst an Abner (26,14) und fragt ihn, warum er nicht besser aufgepasst habe auf seinen Herrn und König?!28 Saul wäre um ein Haar einem Atten-
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life and death“ (Art 459). Stolz (Buch Samuel 154) vermerkt, es sei „aus Assyrien der Brauch belegt“ (leider sagt Stolz nicht, wo), „dass das Abschneiden des Gewandes einen symbolischen Rechtsakt der Aberkennung der bürgerlichen Ehren darstellte“. Stoebe (Buch Samuelis 434) verweist auf den Mari-Text ARM VI, 45, „wo Haar und Gewandzipfel einer Prophetin abgeschnitten werden, offenbar, um sie unter Kontrolle zu halten“ – nicht etwa, um magische Macht auszuüben (439f). Immerhin vermögen solche Analogien die starke innere Reaktion Davids auf seine ‚Tat’ zu erklären. Genau so hat er in 24,8a die Gefährten in der Höhle gehindert, gegen Saul handgreiflich zu werden. Bekanntlich ist genau dies ja dann geschehen (1Sam 31); David, so wird uns bedeutet, hatte also eine Ahnung davon, was kommen würde. Damit fällt auch 26,11b, Davids Aufforderung an Abischai, Spieß und Krug zu nehmen, auf die sekundäre Textstufe; denn erstens ist in dieser Situation jedes Wort zu viel, und zweitens ergreift dann David die beiden Gegenstände (26,12a). Abischai – wenn er denn überhaupt von Anfang an dabei war und nicht erst sekundär, gleichsam als advocatus violentiae, eingeführt wurde (so Klein, David versus Saul 172f; Hentschel, Saul 171) – war wohl etwas wie eine Versicherung Davids für den äußersten Notfall; welchen Ruf dieser Mann (und Cousin Davids) als Elitekrieger genoss, verraten Stellen wie 2Sam 21,17; 23,18, aber auch 2Sam 10,10; 20,6f. Sachkundig bemerkt Stolz (Buch Samuel 166): „Wachvergehen werden überall auf das strengste bestraft.“ Textnäher stellt Fokkelman fest, dass Saul (und ebenso Abner) es eben gerade versäumt habe, Wachen aufzustellen; wenn er dies freilich als Zeichen dafür wertet, dass Saul sich faktisch schon aufgegeben habe, entfernt er sich psychologisierend wieder vom Text (Art 539f).
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Haupt- und Nebenfiguren der Samuelbücher
tat zum Opfer gefallen! Zum Beweis dieser Behauptung ruft David: „Schau doch, wo ist der Spieß des Königs und der29 Wasserkrug zu seinen Häupten?“ (26,14f.16b) Die herrliche Ironie dieser Sequenz wird jetzt unterbrochen durch einen schwergewichtigen Vorwurf Davids: „Das ist nicht gut, was du da getan hast. Bei Jhwh, ihr seid des Todes, weil ihr nicht auf euren Herrn, den Gesalbten Jhwhs, aufgepasst habt“ (26,16a). Hier haben wir wieder die ethisch-ideologisch-theologische Nomenklatur der Bearbeitungsschicht vor uns. Doch mittlerweile ist Saul auf den Disput aufmerksam geworden, den sein General mit einem Anderen führt. Er meint die „Stimme“ Davids zu erkennen und fragt zur Sicherheit noch einmal: „Ist das deine Stimme, mein Sohn David?“ worauf er die Antwort erhält: „Es ist meine Stimme, mein Herr König“ (26,17). Die gleiche Frage stellt Saul auch in der Parallelgeschichte (24,17a). Beide Stellen können unmöglich unabhängig voneinander entstanden sein. Wo liegt die Priorität? Während die Ereignisfolge in 1Sam 26 natürlich wirkt, kommt jene Frage in 1Sam 24 merkwürdig spät;30 und sie erfährt auch keine Antwort, vielmehr bricht Saul, kaum dass er sie gestellt hat, in Tränen aus (24,17b) – was ihn nicht daran hindert, gleich anschließend eine wohl gesetzte Rede zu halten. Sein Gefühlsausbruch wirkte viel plausibler, wenn er nicht auf lange Ausführungen Davids folgte (24,12–16), sondern sofort auf dessen Hochhalten des bewussten Mantelzipfels (24,12a). Darauf könnte Saul sehr wohl – erschrocken oder gerührt oder wütend – aufheulen. Ist es aber denkbar, dass die beiden langen Reden der Protagonisten, diejenige Davids in 24,12b–17a und diejenige Sauls in 24,18–22, sekundäre Auffüllung einer (dann äußerst knappen!) Grunderzählung sind? Tatsächlich weist der David-Saul-Dialog in 1Sam 2431 massiert jenen ethisch-königsideologisch-theologischen Tenor auf, den wir als typisch für die Ergänzungsschicht erkannt haben. Da betritt David zuerst die ethische Ebene: „Daran, dass ich den Zipfel deines Mantels abgeschnitten und dich nicht getötet habe, erkenne und nimm wahr, dass in meiner Hand nichts Böses (!) und kein Aufruhr ist und dass ich mich gegen dich nicht verfehlt habe – während du danach trachtest, mir das Leben (!) zu nehmen“ (24,12b). Desgleichen auch Saul: „Du bist gerechter (!) als ich, denn du hast mir mit Gutem (!) vergolten, während ich dir mit Bösem (!) vergolten habe. Heute hast du gezeigt, dass du Gutes (!) tust“; denn niemand sonst entlasse ja seinen Feind (!) auf gutem (!) Wege (24,18.19a.20a). Saul ist es, der sodann die königsideologische Dimension berührt: „Siehe, ich weiß, dass du gewiss König werden wirst und das Königtum Israel in deiner Hand Bestand haben wird“ (24,21): eine doch sehr ungewöhnliche Feststellung für einen amtierenden König – zumal dieser sein Gegenüber demnächst schon wieder jagen und danach sein Königtum verteidigen wird bis zum letzten Atemzug! Eine markant prodavidische Sicht verrät sich auch in 29 30 31
Erstaunlicherweise steht hier die Akkusativpartikel ;את־wahrscheinlich muss man hinzudenken: „Und wer hat entwendet …?“ So auch Edenburg, Murder 76f. Fokkelman (Art 461) konstatiert, dass dies, abgesehen von dem Gebet in 2Sam 7,18–29, die längste Rede ist, die David je in den Mund gelegt wird, und dass diejenige Saul recht genau halb so lang ist.
Die zweifache Verschonung Sauls durch David (1Sam 24 und 1Sam 26)
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Sauls abschließendem Wunsch, David möge seine Nachkommenschaft schonend behandeln – was dieser unter Eid zusagt (24,22.23a). Nicht nur der König, der „Gesalbte“, nein, die gesamte Königsfamilie soll physische Immunität genießen.32 Die theologische Ebene schließlich beschwören beide Protagonisten. Saul sieht ein, dass ihn kein anderer als Jhwh David „in die Hand geliefert“ habe und dass Jhwh David seine gute Tat gewiss vergelten werde (24,19b.20b). David seinerseits ruft wiederholt Jhwh zum Richter zwischen sich und Saul auf – in der festen Überzeugung natürlich, von ihm Recht zu bekommen (24,13f.16). Kann insoweit der gesamte David-Saul-Dialog in 1Sam 24 der vermuteten Ergänzungsschicht angehören, so scheint sich doch eine Aussage dagegen zu sperren: „Hinter wem“, fragt David, „ist der König Israels ausgezogen (?)יצא Wen verfolgst du? einen toten Hund? einen einzelnen Floh (“!?)פרעשׁ אחד (24,15) Das klingt situativ-handfest. Nun stellt aber David in 1Sam 26,20 fest: „Ausgezogen ( )יצאist der König Israels, um einen einzelnen Floh ( )פרעשׁ אחדzu suchen, wie man das Rebhuhn jagt in den Bergen“. Wieder gilt: Beide Stellen können kaum voneinander unabhängig sein. In 1Sam 26, wo zum Grund-Plot eine groß angelegte Suchaktion mit Tausenden von Soldaten gehört, macht die Aussage von der Suche nach einem Floh33 besseren Sinn als in 1Sam 2434 – zumal man ein solches Tier besser „sucht“ (בקשׁ, 26,20 ) als „verfolgt“ (רדף, 24,15). Lehrreich ist auch der Blick auf die beiden Nachbarmetaphern: Das „Rebhuhn“35 (26,20) begegnet im Alten Testament nur noch einmal, fernab von hier im Jeremiabuch;36 nach ihm in den Bergen zu suchen, ist durchaus sinnvoll, nicht aber nach einem Floh! Dem gegenüber ist es natürlich sinnlos, einen „toten Hund“ (24,15) zu jagen. Überdies wird diese Metapher noch mehrfach im Bereich der Davidgeschichten gebraucht;37 es könnte sich somit um die geprägte Wendung eines hier tätigen Schriftstellers handeln. Ist somit 26,20 gegenüber 24,15 primär, so wirkt auch die Reaktion Sauls auf die von David vorgebrachte Jagd-Metapher in 1Sam 26 höchst spezifisch: „Und Saul sagte: Ich habe gefehlt38. Kehre zurück, mein Sohn David!“ (26,*21a) Die Aussage ist durchaus doppelbödig: Bereut Saul wirklich, sucht er die Aussöhnung mit David – oder möchte er dessen nur auf (hinter)listige Weise 32
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Man weiß – nicht zuletzt auch aus dem Alten Testament (vgl. nur 2Kön 9f) –, dass dieses Axiom kaum der damaligen politischen Realität entsprach. Umso beachtlicher, dass es hier formuliert wird. Dieses doch gar nicht seltene Tier taucht in der Bibel nur an unseren beiden Stellen auf. Es wirkt eben gern im Verborgenen! Auch Edenburg (Murder 76) sieht in diesem Punkt die Prävalenz bei 1Sam 26 – freilich unter der irrigen Annahme, dass beide Stellen gleichursprünglich vom selben Autor stammten. ק ֵֺראist wörtlich „der Rufer“, sprechender Name für eine Vogelart, s. HALAT 1056. Jer 17,11. 2Sam 9,8; 16,9. Außerdem fragt in 2Sam 3,8 Abner (!) den Eschbaal empört, ob er ein „Hundskopf“ ( )ראשׁ כלבsei?! Und Nabal heißt in 1Sam 25,3 (Qere) sehr betont ׇכ ׅל ׅבּי “Kalibbiter“ (t. e.), worin jeder des Hebräischen Kundige „ ֶכּלֶבHund“ mitschwingen hört. Die religiöse Bedeutungssphäre von „( חטאsündigen“) ist hier nicht angesprochen. Es verdient Beachtung, dass David in 1Sam 24,12 umgekehrt von sich sagt, er habe sich in Bezug auf ( ) ְלSaul nicht verfehlt: wieder eine der Brücken, die der Schlussverfasser zwischen den beiden Verschonungsgeschichten angelegt hat.
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Haupt- und Nebenfiguren der Samuelbücher
habhaft werden?39 David scheint vom Letzteren überzeugt zu sein, er lässt sich auf nichts ein: „Und David antwortete und sprach: Hier ist der Spieß des Königs; es soll einer von den Knappen herüberkommen und ihn holen“ (26,22) – spricht’s „und ging seines Weges“, worauf auch Saul „an seinen Ort zurückkehrte“ (26,25b). Dies ist der Abschluss der zu postulierenden Grunderzählung von 1Sam 26. Jetzt freilich ist der Text wesentlich umfangreicher (und in gewisser Weise auch gehaltvoller). In den überschießenden Partien stoßen wir wieder auf die bekannten drei Ebenen: Saul bekennt in 26,*21, er habe „böse gehandelt“ an David, während David sein (Sauls) „Leben kostbar“ gefunden habe; er, Saul, sei „töricht“ gewesen und habe sich „schwer vergangen“ – alles Eingeständnisse, auf der ethischen Ebene gescheitert zu sein. David hingegen bescheinigt sich selbst „Gerechtigkeit und Verlässlichkeit“ (26,23a) – um dies sogleich auf die theologische Ebene zu heben: Er habe seine „Hand nicht ausgestreckt“ gegen den „Gesalbten Jhwhs“, obwohl dieser ihm von „Jhwh in die Hand gegeben“ war; so wie er Sauls „Leben“ verschont habe, so werde Jhwh auch sein „Leben“ aus aller Not retten (26,23b.24). Daraufhin erteilt Saul seinem „Sohn David“ den Segen und spricht ihm vollen Erfolg zu (26,25) – womit erkennbar die politisch-ideologische Ebene beschritten ist.
3.
Gestalt und Herkunft der Grunderzählungen von 1Sam 24 und 26
Unsere bisherigen Beobachtungen ermöglichen den Versuch, die Verschonungsgeschichten von 1Sam 24 und 26 in der Fassung zu rekonstruieren, die sie vor der angenommenen redaktionellen Bearbeitung hatten. Es ergeben sich (in Übersetzung) folgende Texte: Die Verschonung Sauls in der Höhle von En-Gedi 24,1 Und David ging von dort hinauf und setzte sich in den Bergfesten von En-Gedi fest. 24,2 Und es geschah, als Saul von den Philistern zurückgekehrt war, dass man ihm meldete: Siehe, David ist in der Wüste von En-Gedi. 24,3b Da ging er, um David und seine Männer zu suchen gegenüber den Steinbockfelsen. 24,4 Und er kam zu den Schafhürden am Wege, und da war eine Höhle. Und Saul ging hinein, um seine Füße zu bedecken. Und David und seine Männer saßen gerade im Rückraum der Höhle. 24,5b Und David stand auf und schnitt den Zipfel des Mantels Sauls heimlich ab. 24,8b Saul aber, er erhob sich aus der Höhle und ging auf den Weg. 24,9 Und David erhob sich danach und trat aus der Höhle. 39
Ich kann es mir nicht versagen, an dieser Stelle eine Parallele zur Gegenwart zu ziehen. David war Sauls Schwiegersohn. Der irakische Diktator Saddam Hussein hat seine beiden Schwiegersöhne, die sich ins Ausland abgesetzt und sich dort öffentlich von ihm distanziert hatten, zurückgelockt und töten lassen.
Die zweifache Verschonung Sauls durch David (1Sam 24 und 1Sam 26)
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Und er rief hinter Saul her: 24,12a Mein Vater, sieh doch, sieh den Zipfel deines Mantels in meiner Hand! 24,17b Und Saul erhob seine Stimme und weinte. 24,23b Und Saul ging nach Hause, und David und seine Männer gingen hinauf auf die Bergfeste.
Die Verschonung Sauls in der Wüste Sif 26,2 Und Saul machte sich auf und stieg hinab in die Wüste Sif, und mit ihm dreitausend erlesene Männer aus ganz Israel, um David zu suchen in der Wüste Sif. 26,*3 Und Saul lagerte beim Hügel Hachila, gegenüber der Einöde. 26,4 Und David schickte Späher und brachte in Erfahrung, dass Saul wirklich gekommen war. 26,5 Und David machte sich auf und kam zu dem Ort, an dem Saul lagerte. Und David sah den Ort, wo Saul lag und Abner, sein Heerführer. Saul nämlich lag im Lagerring, und das Kriegsvolk lagerte um ihn her. 26,6 Und David fragte daraufhin40 den Hethiter Ahimelech und Abischai ben Zeruja, Joabs Bruder: Wer steigt mit mir hinab zu Saul ins Lager? Und Abischai sagte: Ich steige mit dir hinab. 26,7 Und David mit Abischai kam bei dem Kriegsvolk nachts an, und siehe, Saul lag und schlief im Lagerring, und sein Spieß war in den Boden gesteckt zu seinen Häupten und Abner und das Kriegsvolk lagen rings herum. 26,12aba Und David nahm den Spieß und den Wasserkrug zu Häupten Sauls, und sie machten sich davon. Und niemand sah es und niemand merkte es und niemand wurde wach, sondern alle schliefen. 26,13 Und David ging hinüber zur anderen Seite und stellte sich fernab auf die Bergspitze, so dass genug Platz zwischen ihnen war. 26,14 Und David rief dem Kriegsvolk und Abner ben Ner zu: Antwortest du nicht, Abner? Und Abner antwortete und sagte: Wer bist du, dass du den König anrufst? 26,15 Und David sagte zu Abner: Bist du nicht ein Mann? Und wer ist wie du in Israel? Warum hast du nicht aufgepasst auf deinen Herrn, den König? Es ist nämlich einer gekommen aus dem Volk, um den König, deinen Herrn, umzubringen! 26,16b Nun schau doch: Wo ist der Spieß des Königs? und der Wasserkrug zu seinen Häupten? 26,17 Und Saul erkannte die Stimme Davids und fragte: Ist das deine Stimme, mein Sohn David? Und David antwortete: Es ist meine Stimme, mein Herr König! 26,20b Der König Israels ist ausgezogen, um einen einzelnen Floh zu suchen, wie man das Rebhuhn jagt auf den Bergen. 26,21a Und Saul sagte: Ich habe mich verfehlt. Kehre zurück, mein Sohn David! 26,22 Und David antwortete: Siehe, der Spieß des Königs! Soll einer von den Knappen herüberkommen und ihn holen! 26,25b Und David ging seines Weges, und Saul kehrte an seinen Ort zurück.
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Wörtlich: „antwortete und sprach“; David ‚antwortet’ nicht auf eine Rede, sondern auf eine Situation.
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Haupt- und Nebenfiguren der Samuelbücher
Die En-Gedi- ist demnach wesentlich kürzer als die Sif-Erzählung.41 In ihrer Urform könnte sie sogar noch etwas knapper gewesen sein. Wenn es in 24,1f heißt, David sei „von dort“ hinauf gegangen zu den Bergfesten und Saul sei „von den Philistern zurückgekehrt“, dann ist das eine Anknüpfung an die Episode 1Sam 23,24–28, nach der Saul David in der Wüste Maon verfolgt hat, dieser ihm aber beim „Fels des Entschlüpfens“ entkam, weil die Nachricht von einem Philistereinfall eintraf.42 Und wenn David in der Höhle „Männer“ bei sich hat, dann könnte damit an die Nachrichten von einer Freibeutertruppe angeknüpft sein, die David zuvor um sich versammelt hat.43 Diese Bindeglieder44 verraten keinerlei ethische, königsideologische oder theologische Intentionen, sondern dienen einzig der Kontextualisierung der En-Gedi-Erzählung. In meinem Buch über „Die frühe Königszeit in Israel“45 habe ich verschiedene Stufen der Überlieferungsbildung in den Samuelbüchern aufzuzeigen versucht. Danach standen am Anfang Einzelüberlieferungen; diese wurden nach und nach in Erzählkränzen gesammelt, die später wiederum zu Bausteinen eines großen Erzählwerks über die frühe Königszeit wurden. Die drei Erzählungen in 1Sam 24– 26 habe ich seiner Zeit noch nicht auf mündliche Vorformen untersucht, sondern sie summarisch dem so genannten „Erzählkranz vom Freibeuter David“ zugewiesen. Für die Grundüberlieferung von 1Sam 24 scheint sich diese Hypothese nun zu bestätigen: Sie wurde mittels der genannten Klammern in die Sammlung von Freibeuter-Geschichten eingepasst. Etwas anders stellt sich mir nun die Lage bei der zweiten Verschonungsgeschichte dar. Sie weist Verbindungen nicht zum Erzählkranz vom Freibeuter, sondern zu dem vom „Aufstieg und Niedergang der Sauliden“ auf, einer anderen von mir angenommenen Sammlung von Erzählungen, in der das Schicksal Sauls und seiner Familie mit einer gewissen Sympathie, aber doch unverkennbar unter dem Gesichtspunkt ihrer notwendigen Ablösung durch die Davididen geschildert wird.46 Abischai und Abner – die beiden Akteure in 1Sam 26, die neben David und Saul mit Namen genannt werden – spielen in diesem Erzählkranz wichtige Rollen. Abner,47 ein Onkel Sauls und somit Mitglied der Saulidenfamilie, wird später einer Intrige von Abischais Bruder Joab zum Opfer fallen.48 Abi41
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Hentschel (Saul) vermutet hinter 1Sam 24 „eine alte, derbe Geschichte“, die „ganz kurz gewesen sein“ könne und jedenfalls V.4.5b enthalten habe (alles Weitere bleibt offen: 162). Den Kern von 1Sam 26 sieht er in V.5.12–15.*16.22 (was sich mit der obigen gebotenen Rekonstruktion nur teilweise deckt: 171). Dieser Zusammenhang ist auffällig genug. Es ist, als starteten die Philister einen Entlastungsangriff zu Gunsten Davids – mit Erfolg. Vgl. 1Sam 22,1f. Wären die „Männer“ in der Höhle von En-Gedi nur deswegen anwesend, um David Mordgedanken einzuflüstern, dann wäre dafür allerdings erst die oben beschriebene Redaktion verantwortlich. Vgl. die analoge Erwägung zum Dabeisein Abischais in 1Sam 26, oben Anm. 27. Sie sind oben kursiv gesetzt. Dietrich, Königszeit 248–253. Vgl. dazu Dietrich, Königszeit 242–247. Abner wird außer in 1Sam 26 erwähnt in 1Sam 14,50f; 17,55.57; 20,25, um dann in 2Sam 2f geradezu zur Hauptfigur zu werden. Dies alles sind Texte aus dem postulierten Sauliden-Erzählkranz. 2Sam 3.
Die zweifache Verschonung Sauls durch David (1Sam 24 und 1Sam 26)
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schai, Cousin Davids und also Mitglied der Davididenfamilie, tritt in den Samuelbüchern auffällig oft zusammen mit Sauliden (genauer: bei deren erwogener oder vollzogener Ermordung) in Erscheinung.49 So legt sich die Vermutung nahe, dass die Grunderzählung von 1Sam 26 aus dem Sauliden-Erzählkranz stammt. Mit dieser Hypothese erklärt sich gut das Vorhandensein zweier, einander in den Grundlinien so ähnlicher Erzählungen: Sie gehörten zwei verschiedenen Erzählkränzen an,50 und als diese miteinander verwoben wurden, sollte keine von ihnen wegfallen – im Gegenteil: Ihre Parallelisierung erlaubte es nicht nur, eindrückliche erzählerische Effekte zu erzielen, sondern auf ethischer, politischideologischer und theologischer Ebene einen gewichtigen Diskurs über die Frage von Gewalt und Gewaltverzicht zu führen.51 Bevor wir darauf zurückkommen, wollen wir fragen, wie die Genese und das Verhältnis der beiden Grunderzählungen vorzustellen sein mag. Eindeutig sind beide aus einem prodavidischen Umfeld erwachsen; denn in beiden spielt David die Rolle des Überlegen-Edelmütigen, Saul aber – immerhin der König! – die des Unterlegen-Schonungsbedürftigen. Angesichts ihres gleichartigen Grund-Plots ist es nicht eben wahrscheinlich, dass beide Geschichten unabhängig voneinander entstanden sind (es sei denn, man wollte biblizistisch-faktizistisch argumentieren). Vermutlich ist in der En-Gedi-Variante die Grundversion zu sehen, von der sich die Sif-Version abgespalten hat. Denn der Kerntext von 1Sam 24 ist nicht nur kürzer, sondern auch urtümlicher und deftiger52 als der von 1Sam 26. Wie oft in alten Sagen, stehen sich die beiden Protagonisten allein gegenüber: zwar bei En-Gedi, aber doch wie außerhalb von Raum und Zeit. In äußerst knappen Strichen sind die wesentlichen Bedingungen und Handlungen skizziert: Saul, der Mächtige, verfolgt David, den Flüchtigen; in einer abgelegenen, unheimlichen Gegend und in einer für ihn demütigenden Situation wird der Jäger zum Gejagten; doch der Andere will ihn nicht töten, sondern sucht mit einer ebenso listigen wie großmütigen Geste sein Vertrauen zu gewinnen; Saul – weint; dann trennen sich beide. In der knappen, herb-folkloristischen Geschichte deuten sich große Themen und Emotionen an: Macht, 49
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Vgl. neben 1Sam 26 noch 2Sam 2,18.24; 3,30; 16,9.11; 19,22; 20,6. Dazu kommen Belege, in denen er einfach als hoher Offizier fungiert: 2Sam 10,10; 18,2.5.12; 21,17; 23,18. „Erzählkränze“ sind eine von mir bewusst nicht exakt definierte Kategorie. Die betreffenden Textreihen – zusammengestellt vorwiegend unter dem Gesichtspunkt inhaltlicher Zusammengehörigkeit – besitzen noch große Nähe zur Mündlichkeit, gehören aber wohl schon in den Bereich von Schriftlichkeit, sind auf dem Weg von bloßer Addition zu planvoller Komposition schon recht weit fortgeschritten. Auch Koch (Formgeschichte) hielt seiner Zeit Ausschau nach einer Erklärung für das Nebeneinander von 1Sam 24 und 26. Doch mischen sich sowohl in seiner Ausgangsposition (beide Erzählungen sind „kaum von demselben Schriftsteller aus der mündlichen Tradition übernommen und kaum zur gleichen Zeit erstmals niedergeschrieben worden“, 176) wie in seinen Schlussfolgerungen (1Sam 24 gehört „vermutlich einem Buch zu, dessen Anliegen es ist, die Entstehung des davidischen Königtums zu erklären“, 178, für 1Sam 26 ist der ursprüngliche „größere Zusammenhang unbekannt“, 180) Zutreffendes und Fragwürdiges. Stolz (Buch Samuel 153) konstatiert eine „derb-komische Note“.
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Haupt- und Nebenfiguren der Samuelbücher
Hass, Scham, Gewalt, Klugheit, Versöhnung. Vieles bleibt unausgesprochen, die Grundlinien aber sind klar: Gewaltverzicht ist besser als Gewalt; David hat das bessere Teil erwählt als Saul. Die Geschichte vom Freibeuter David, der dem König Saul das Leben geschenkt hat, machte Eindruck und wurde weiter erzählt, bis sie Eingang fand in einen Erzählkreis über Erlebnisse des jungen David vor seinem Aufstieg zum König. Sie wurde gleichwohl weiter und immer wieder auch neu erzählt. Womöglich gab es eine ganze Reihe Variationen des Grundmusters, von denen nur eine erhalten blieb: die von Sauls Verschonung in der Wüste Sif – einer Gegend, die etwa 50 km südwestlich von En-Gedi, bei Hebron, zu suchen sein dürfte.53 Auf dem Weg dorthin hat die Geschichte eine Reihe von Veränderungen durchgemacht. Sie wurde länger, Szenerie und Vorgang wurden konkreter, ausgefeilter, zur Begegnung von David und Saul kam es nicht mehr überraschend, sie wurde von David herbeigeführt, tollkühn und doch umsichtig; nicht mehr ein Stück Mantel nahm David Saul ab, sondern Kriegs-Assecoires,54 neben den beiden Hauptakteuren kamen weitere Figuren ins Spiel, Militärs allesamt, die Truppenführer Abner und Abischai und dazu Tausende von Soldaten. Kurzum, wir geraten (bzw. die Geschichte geriet) von einem eher volkstümlichen in ein eher militärisches Milieu – und schließlich in einen Erzählkranz über das Schicksal der Saulidenfamilie während und nach der Machtergreifung Davids. Ob und inwieweit es als historische Tatsache anzusehen ist, dass David einmal (oder gar zweimal) König Saul in die Hände bekam und laufen ließ, wird kaum mehr zu ergründen sein. Die Konkretheit der Ortsangaben darf nicht täuschen: Man zeigte sich, wenn man diese Geschichte erzählte, konkrete Örtlichkeiten. Doch immerhin lag En-Gedi, am Nordwestufer des Toten Meers, sozusagen in Greifweite des Benjaminiters Saul. Dass er dort in einer Überraschungsaktion einen Bandenführer zu fassen versuchte, der die Südgrenze seines Einflussgebiets verunsicherte, ist denkbar, dass er eine groß angelegte Militäroperation tief im judäischen Hinterland geführt hätte, viel unwahrscheinlicher. Angenommen, Saul wäre in En-Gedi gewesen (und hätte dann dort der Natur gemäß auch einmal seine Notdurft verrichtet55): dass ihm dabei David einen Mantelzipfel – und nicht mehr56 – abgeschnitten hätte, ist eher unwahrscheinlich: nicht nur wegen der fast märchenhaften Konstellation, derer es dazu be53 54
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Hebräisch זיף. 6 km südwestlich von Hebron liegt der tell zīf. In dem arabischen Namen könnte die alte Lokalbezeichnung erhalten sein, vgl. BHH III, 1808. Stolz (Buch Samuel 164) spricht von „persönlichsten Gegenständen“, Fokkelman (Art 537) bzeichnet sie als „symbol of death“ und „symbol of life“. Wenn Green (Enacting 9) behauptet, ihre Wegnahme bedeute nicht weniger als eine „lethal deed“, weil dadurch Saul „helpless before the desert elements“ gemacht werde, so scheint mir dies angesichts der 3000 Mann rund um Saul eine Überinterpretation zu sein. Dass er dazu in eine Höhle geht, erklärt Stolz als einen Akt der „Dämonenabwehr“; denn der Kot sei „besonders anfällig für dämonische Einwirkungen“ und müsse deswegen „vergraben oder in einer Höhle gelassen“ werden (Buch Samuel 154). Gibt es da nicht wesentlich einfachere Erklärungen? Hier liegen tiefenpsychologische Erwägungen natürlich recht nahe! Gunn (Fate 93–95) konstruiert eine untergründige Verbindung zwischen dem (verschonten) „Zipfel“ Sauls und seinem Wunsch nach Verschonung seiner Nachkommenschaft, 24,22f.
Die zweifache Verschonung Sauls durch David (1Sam 24 und 1Sam 26)
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durfte, sondern auch, weil sehr viele Sauliden die Berührung mit David und seinen Leuten nicht überlebt haben. Eben dies aber könnte das heimliche Movens hinter der Verschonungsgeschichte gerade in ihren frühesten Fassungen (wie auch hinter vielen weiteren Erzählungen der Samuelbücher) sein: deutlich zu machen, wie untadelig, ja großzügig David gegen Saul und seine Familie war. Davon zu erzählen, konnte man sich im davidischen Juda kaum genug tun.
4.
1Sam 24–26 als Teil des Höfischen Erzählwerks über die Frühe Königszeit
Die beiden Erzählkränze vom „Freibeuter David“ und vom „Schicksal der Sauliden“ (und damit auch die beiden Erzählungen von Sauls Verschonung) wurden, zusammen mit anderen Materialien (etwa der Erzählung von David, Nabal und Abigajil u.v.a.m.), verbunden zu einem großen Erzählwerk über die Frühe Königszeit in Israel, das einen Großteil der heutigen Samuelbücher umfasste. Dies geschah, wenn ich es recht sehe, im späten 8., allenfalls im früheren 7. Jahrhundert im Umkreis des Jerusalemer Hofes.57 Dem so genannten „Höfischen Erzählwerk“ (HE) bzw. seinem Verfasser sind m.E. die folgenden Textpartien zuzuschreiben: HE-Anteile in 1Sam 24–26 1Sam 24 3a.5a.6–8a.9b–11.12b–17a.18–23a 1Sam 2558 17b.*25a.5926.28b–34.*39a 1Sam 26 1.*3 (ab )על־הדרך.8–11.12bb.16a.18–20a.*21 (ab )כי לא־ארע.23–25a Diese Einträge60 leisten Verschiedenes. Bis dahin separate Erzählfäden werden durch sie zusammengeführt, unterschiedliche Einzelüberlieferungen aneinander angepasst. Hatten die beiden Verschonungsgeschichten bereits einen gemeinsamen Grund-Plot, so wurden jetzt noch zusätzliche gemeinsame Elemente einge57 58 59
60
Vgl. Dietrich, Königszeit 259–273. Für 1Sam 25 können die nötigen Begründungen hier kaum gegeben werden. Die obigen Angaben stehen denn auch unter einem gewissen Vorbehalt. Es geht um den Passus אל־אישׁ הבליעל הזה, der sich mit dem nachfolgenden על־נבלin der unterschiedlichen Präposition stößt. אישׁ בליעלist eine Art Leitbegriff im Höfischen Erzählwerk. Sie decken sich zu guten Teilen mit denen, die Veijola (Dynastie) in 1Sam 24 und 25 (auffälligerweise nicht in 1Sam 26) dem Erstverfasser des deuteronomistischen Geschichtswerks zugeschrieben hat. Es ist natürlich nicht unerheblich, ob diese Redaktionsschicht noch in die staatliche oder schon in die nachstaatliche Zeit datiert wird. Ich denke, sie hätte im Jerusalem der (späteren) Königszeit einen passenderen Sitz im Leben als im Mizpa der Exilszeit. Der mögliche Kompromiss, mit zahlreichen Forschern vor allem (aber nicht nur!) im englischsprachigen Raum eine Erstausgabe des deuteronomistischen Geschichtswerks schon in vorexilischer, genauer: in joschijanischer Zeit anzunehmen, scheint mir nicht gangbar. In dieser Hinsicht hat m.E. Martin Noth die grundlegenden Eckdaten definiert.
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Haupt- und Nebenfiguren der Samuelbücher
setzt: Saul wird der jeweilige Aufenthaltsort Davids „gemeldet“, er zieht mit 3000 Soldaten aus, ihn zu fangen, er kommt „bei Wege“ an den Ort der späteren Begegnung. Beide Male hört David die Einflüsterung, seinen Verfolger bei dieser günstigen Gelegenheit zu beseitigen. Beide Male weist er das mit ähnlichen Begründungen zurück, und beide Male führt er danach mit Saul ein ausführliches Gespräch (ursprünglich gab es zwischen Beiden nur in der Sif-Geschichte einen kurzen Wortwechsel). Beide Male zeigt Saul Einsicht in die Untadeligkeit Davids und seine eigene Verkehrtheit. Damit rückt Davids Gegenspieler in ein irritierendes Zwielicht: Wie kann er, nachdem er David in 1Sam 24,18 die ‚bessere Gerechtigkeit’ bescheinigt und in 24,21 faktisch zu dessen Gunsten abgedankt hat,61 ihn hernach wieder und eher noch erbitterter verfolgen?62 Dass man sich dies fragt, ist einer der Effekte, die der Höfische Erzähler durch das Nebeneinander von 1Sam 24 und 26 erzielte. Nun wurden aber die beiden Verschonungsgeschichten nicht nur miteinander, sondern auch mit der Abigajil-Geschichte verknüpft.63 Wie das geschieht, sei hier nur an zwei Beispielen aufgezeigt: am Vater-Sohn-Motiv und am Leitwort „Hand“. In der Grunderzählung von 1Sam 26 nennt Saul David zweimal seinen „Sohn“ (26,17.21), worin sich Verschiedenes ausdrücken könnte: die hoheitsvolle Anrede des Königs an einen Untergebenen oder ein betont freundschaftlich-warmherziger Sprachgestus oder eine Anspielung auf Davids Status als Schwiegersohn Sauls.64 Der Höfische Erzähler verstärkt das Motiv von Vater und Sohn, indem er es nicht nur im letzten Wort Sauls an David nochmals aufklingen lässt (26,25), sondern mehrfach schon in der En-Gedi-Geschichte. Da ist zunächst die aus 1Sam 26 übernommenen Frage Sauls: „Ist das deine Stimme, mein Sohn David?“ (24,17), da ist vor allem Davids ehrfurchtsvolle Anrede an Saul „Mein Vater“ (24,12). Kaum zufällig ist es, dass sich David ähnlich ehrerbietig auch Nabal als sein „Sohn“ vorstellt (25,8). 65 Überhaupt wird Nabal immer wieder mit Saul parallelisiert:66 ganz offenkundig durch die Bemerkung, er habe getafelt „wie ein König“ (25,36), sehr subtil aber dadurch, dass Abigajil ihren Gatten in die Nähe der „Feinde“ Davids rückt, deren prominentester Saul ist (25,26.29, vgl. 24,5.20; 26,8). Von Nabal wie von Saul heißt es denn auch, sie hätten David „Gutes mit Bösem vergolten“ (25,17, vgl. 24,18). Am Ende 61
62
63
64 65 66
Fokkelman (Art 473) sieht in 1Sam 24 geradezu den entscheidenden Kreuzungspunkt der beiden „crossing fates“: des absteigenden von Saul („rejection“) und des aufsteigenden von David („election“). Klein (David versus Saul 192f) erklärt solche Wankelmütigkeit als Symptom einer „Borderline-Persönlichkeit“. Dies wäre aber keine Einschätzung des historischen Saul, sondern des Bildes, das der Höfische Erzähler von ihm hatte bzw. malte. Zu dieser Unterscheidung s. Dallmeyer/Dietrich (Königsweg passim, bes. 9–19). Nach Green (Enacting 3f) wäre das vor allem in spiegelbildlich-gegensätzlicher Weise geschehen; in 1Sam 25 sei alles gegenüber 1Sam 24 und 26 „inverted“. Das mag auf der Plot-Ebene teilweise stimmen; doch was die Intention und auch die Formulierungen anlangt, ist sehr Vieles auch parallelisiert. Letzteres wäre gut möglich, wenn auch die betr. Nachrichten in 1Sam 18 zum Erzählkranz vom „Schicksal der Sauliden“ gehört hätten. Worauf sich Greens Vermutung stützt, aus dieser Formulierung könne auch ein drohender Ton zu vernehmen sein (Enacting 12), bleibt unklar. Vgl. z.B. Gunn, Fate 96–102.
Die zweifache Verschonung Sauls durch David (1Sam 24 und 1Sam 26)
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„schlägt“ Jhwh Nabal, so dass er „stirbt“ (25,38). Abigajils Rat an David, sich „nicht mit eigener Hand zu helfen“ (25,26.33), war also völlig angebracht. Weil David ein ähnliches Ende auch für Saul erwartet (25,38, vgl. 26,10), muss er seine „Hand“ auch gegen ihn nicht richten (24,7.14; 26,9.23). Diese „Hand“, die es vermeidet, das „Böse“ zu tun (24,12; 26,18), ist die, in der „das Königtum Bestand haben“ wird (24,21). Das unscheinbare Stichwort „Hand“ ( )ידist also ein Leitwort in der Erzähltrilogie 1Sam 24–26 und noch weit darüber hinaus. Davids Hand rückt erstmals in den Blick als die des Leierspielers, der Sauls düsteres Gemüt aufhellt (1Sam 16,16; 18,10; 19,9). Nach dem Zerwürfnis zwischen Beiden versucht Saul verschiedene Male, David durch die „Hand“ anderer töten zu lassen oder ihn selber in die „Hand“ zu bekommen (1Sam 18,17.21; 23,7.11.14.17) – vergeblich, bis er schließlich selber ihm „in die Hand gegeben“ wird (24,5.19; 26,8). An all diesen Stellen spricht der Höfische Erzähler. Er hat also nicht nur unsere drei Kapitel untereinander verknüpft, sondern sie in einen viel weiteren literarischen Horizont eingeordnet. Darauf gibt es außer dem Leitwort „Hand“ weitere Hinweise. In 26,19 verflucht David die Menschen, die Saul so gegen ihn eingenommen hätten, dass er nun „Jhwhs Erbe“ verlassen und außer Landes gehen müsse; damit wird klar der anschließend erzählte Übertritt Davids zu den Philistern (27,1–6) vorbereitet – und als ein Schritt hingestellt, den David niemals aus freien Stücken getan hätte, zu dem er vielmehr durch Sauls unnachgiebige Verfolgung gezwungen wurde: eine Darstellung, an deren historischer Korrektheit man sehr wohl zweifeln kann.67 An anderen Stellen werden noch größere literarische Bögen eröffnet: Die Vermutung Davids, Saul werde auf dem Schlachtfeld sterben (26,10), bewahrheitet sich in der Schlacht auf den Bergen Gilboas (1Sam 31). Sauls Erwartung, David werde sich durchsetzen und ihn beerben (26,25; 24,21), erfüllt sich spätestens mit der Inthronisierung Davids zum König Israels (2Sam 5,1–4). Sauls Bitte um Schonung seiner Nachkommenschaft (24,22) findet – jedenfalls dem Höfischen Erzählwerk zufolge – ebenfalls Gehör: Man denke an Davids unverlierbare Zuneigung zu Jonatan und seine Großzügigkeit gegen dessen Sohn Meribaal.68 Will heißen: die Fähigkeit zur Selbstbeherrschung, die David in 1Sam 24–26 erwirbt, wird ihm sein Leben lang erhalten bleiben.69 Dies wiederum kontrastiert wirkungsvoll mit der Mord67
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Nach Edenburg, Murder 79f, ist die Trilogie 1Sam 24–26 in eine größere Komposition „flight and pursuit“ verwoben, deren Anfang und Ende durch die beiden Erzählungen vom zunächst versuchten und dann gelungenen Übertritt Davids zu den Philistern (1Sam 21,11–16; 27,1–12) markiert sei. Vgl. schon 1Sam 20,12–17 und 23,16–18 und dazu Stolz, Buch Samuel 156. Wenn dieser freilich in diesem Zusammenhang vom „Autor der Aufstiegsgeschichte“ spricht, ist das irreleitend; denn jene Motivik durchzieht die gesamte Davidsgeschichte, vgl. 2Sam 1; 4,4; 9,1–13; 16,1–4; 19,25–31. Im Höfischen Erzählwerk werden die vielen Todesfälle in der Saulidenfamilie regelmäßig und sorgfältig weit von David abgerückt (z.B. 2Sam 3 und 4 sowie schon 1Sam 27 und 29). Vor dieser sorgfältig aufgebauten Kulisse wirkt die – außerhalb des Erzählwerks tradierte! – Geschichte von der Hinrichtung von sieben Sauliden (2Sam 21,1–14) wie ein erratischer Block. Dagegen sollte nicht eingewendet werden, dass die Samuelbücher alsbald wieder und mehr als genug von Gewaltanwendung durch David berichten. Es gilt hier zu differenzie-
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Haupt- und Nebenfiguren der Samuelbücher
lust Abischais, die David nicht nur in 1Sam 26, sondern auch hernach immer wieder zu schaffen macht.70 Es ist, als würde seine eigene finstere Seite ausgelagert in Abischai (und dessen Bruder Joab71). In 1Sam 24–26 wird indes nicht so sehr ein persönliches Charakterproblem Davids abgehandelt. Es geht vielmehr um die Grundsatzfrage, wie Macht vor dem Abgleiten in Gewalt bewahrt werden kann. Als Exempel dienen Saul und Nabal einerseits, David andererseits. Saul benutzt die ihm gegebene politische und militärische Macht, um einen Menschen, durch den er sich in seiner Position bedroht sieht, erbarmungslos zu verfolgen. Nabal benutzt seine ökonomische Macht, um seinen Reichtum zu mehren, ohne einem Anderen, und hätte er noch so berechtigte Ansprüche, davon etwas abzugeben.72 Auch David verfügt über Machtmittel, ihm zugespielt durch die Zeitumstände oder den Zufall (der Höfische Erzähler sagt freilich: durch Gott), und auch David ist versucht, gegen seine Widersacher Gewalt anzuwenden.73 Ihn aber halten seine ethischen Grundsätze, sein Bild von Königtum und Staat sowie seine Gottesfurcht zurück (wobei ihm Abigajil all dies noch einmal nachdrücklich einschärft). So übt er sich in der Haltung des Gewaltverzichts. Man kann hinter dieser Darstellung mehr oder minder plumpe Polit-Propaganda vermuten74 – müsste dazu freilich ein hohes Alter der Texte annehmen;
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74
ren: Einen wehrlosen Menschen, gar den „Gesalbten“, zu töten, wäre durch nichts zu rechtfertigende, zerstörerische Gewalt. Gleiches gilt offenbar für eine Vendetta gegen das Anwesen eines zu wenig fügsamen Bürgers (wie Nabal) oder für die Wegnahme der Frau eines anderen und dessen Tötung (2Sam 11f). Mit allen Anzeichen der Zustimmung hingegen wird von der Hinrichtung der Männer erzählt, die angeblich Saul und tatsächlich seinen Sohn Eschbaal umgebracht haben (2Sam 1; 4); hier handelt David als Richter, und er urteilt (jedenfalls vordergründig) nicht im eigenen Interesse. Es erhebt sich auch keine erkennbare Kritik an Razzien und Feldzügen Davids gegen äußere Feinde (z.B. 1Sam 17f; 27; 30; 2Sam 5; 8; 10); der Schutz des eigenen Volkes und Landes scheint als legitime Aufgabe des (angehenden) Königs zu gelten. Ab der Exilszeit freilich scheint man nicht nur die Affäre um Batscheba und Urija, sondern auch Davids viele Kriege als beschwerlich empfunden zu haben (1Kön 15,5; 2Sam 7,5; 1Kön 8,18; 1Chr 22,8; 28,3). S. oben Anm. 49. Klein David versus Saul 87–89, zeigt enge Berührungen zwischen 1Sam 26 und 2Sam 16,5–13, und zwar speziell in der Rolle Abischais, auf. Vgl. dazu Bietenhard, General. Frettlöh (Segen 351f) betont, dass es bei Davids Forderung an Nabal nicht etwa (nur) um eine rüde „Schutzgelderpressung“ geht, sondern um die Sicherung des „elementaren Lebensunterhalt[s] in einer Situation der Entrechtung und Verfolgung“, zutiefst um „ein Leben in Genüge (Schalom) für alle in Israel“. Dafür hat Abigajil, im Unterschied zu ihrem Gatten, ein Gespür. Mit Recht bemerkt Green (Enacting 19), dass David die in 1Sam 24 und 26 gezeigte Selbstbeherrschung in 1Sam 25 völlig vermissen lässt; in seinem Mordbeschluss gegen Nabal und dessen Haus werde recht unverhüllt angesprochen, was eigentlich „unthinkable“ sei: die Möglichkeit des Königsmords. Wenn Green freilich vermutet, hier werde insgeheim über das Schicksal des letzten, abgesetzten judäischen Königs, Jojachin, verhandelt, dann beruht das auf einer unzulässig flächigen Vorstellung des deuteronomistischen Geschichtswerks, so als wäre dieses von Anfang bis Ende erst um 560 v.Chr. ersonnen worden. Diese Sicht hat Vfn. von Polzin, Samuel, übernommen. So mit verschiedenen Begründungen und in unterschiedlicher Ausführlichkeit, jedoch mit ähnlicher Tendenz Weiser (Legitimation), McCarter (Apology), VanderKam (Davidic Complicity), McKenzie (King David), Halpern (David’s Secret Demons).
Die zweifache Verschonung Sauls durch David (1Sam 24 und 1Sam 26)
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denn gegen den akuten Vorwurf der Gewalttätigkeit konnte David am ehesten zu seinen Lebzeiten in Schutz genommen werden, vielleicht noch in der Salomozeit.75 Eine derartige Intention ließe sich nach unserer Analyse für die Grundversionen der beiden Verschonungsgeschichten annehmen, möglicherweise noch für die frühesten literarischen Schichten, in die sie eingegliedert wurden. Das Höfische Erzählwerk jedoch dürfte von der frühen Königszeit zu weit entfernt sein, um noch konkrete Botschaften über das Verhältnis zwischen David und Saul bzw. den Sauliden übermitteln zu wollen. Höchstens indirekt mochte es den Bewohnern des (ehemaligen) Nordreichs Israel bleibendes Wohlwollen und Fairness seitens des davidischen Südens signalisieren. Darüber hinaus hat es aber ganz andere Interessen, die sich nicht in bestimmten Zeitumständen erschöpfen. Da ist als erstes das spürbare Streben nach darstellerischer Vollkommenheit zu nennen. Die Samuelbücher, so wie sie wesentlich der Höfische Erzähler erschaffen hat, gehören erzählerisch zum Schönsten, was die Bibel, ja, was die Weltliteratur zu bieten hat. Dies belegt nicht zuletzt ihre ungemein reichhaltige Wirkungs- und Rezeptionsgeschichte.76 Doch weist das Höfische Erzählwerk nicht nur eine hohe narrative Ästhetik, sondern eine hochstehende Theologie und Ethik auf. Beides entwickelt der Erzähler an der frühen Königszeit als einer Art Modellzeit. An den lebensvollen Gestalten der Samuelbücher können und müssen sich die Späteren messen. In 1Sam 24–26 werden sie gefragt, wie sie es mit Gewalt und Gewaltverzicht halten – eine Frage, die heute wahrhaftig nicht weniger wichtig ist als in biblischer Zeit.
Bibliographie Alter, Robert, The David Story. A Translation with Commentary, New York/London 1999. Bechmann, Ulrike, Abigail. Prophetin – Weise Frau – Politikerin, Stuttgart 2001. Bietenhard, Sophia Katharina, Des Königs General. Die Heerführertraditionen in der vorstaatlichen und frühen staatlichen Zeit und die Joabgestalt in 2 Sam 2–20; 1 Kön 1–2, 1998 (OBO 163). Campbell, Antony F., 1 Samuel, 2003 (FOTL 7). Caquot, André / de Robert, Philippe, Les livres de Samuël, 1994 (CAT 6). Cazeaux, Jacques, Écriture biblique et dialectique. 1 Samuel 24–26, in: L. Derousseaux (éd.), La création dans l’Orient Ancien, 1987 (LeDiv 127), 451–461. Dallmeyer, Hans-Jürgen / Dietrich, Walter, David – ein Königsweg. Psychoanalytisch-theologischer Dialog über einen biblischen Entwicklungsroman, Göttingen 2002. Dietrich, Walter, Die frühe Königszeit in Israel. 10. Jahrhundert v.Chr., Stuttgart 1997 (Biblische Enzyklopädie 3). Dietrich, Walter, Von David zu den Deuteronomisten. Studien zu den Geschichtsüberlieferungen des Alten Testaments, 2002 (BWANT 156). Dietrich, Walter / Herkommer, Hubert (Hg.), König David – biblische Schlüsselfigur und europäische Leitgestalt, Fribourg/Stuttgart 2003. 75 76
Auf der letzteren Annahme beruht der ingeniöse Roman Stefan Heyms „Der König David Bericht“, vgl. dazu Dietrich (Von David zu den Deuteronomisten), 100ff. 120ff. Einen Eindruck davon vermag der interdisziplinär angelegte Sammelband Dietrich/Herkommer (König David) zu bieten.
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Haupt- und Nebenfiguren der Samuelbücher
Dietrich, Walter / Naumann, Thomas, Die Samuelbücher, 1995 (EdF 287). Edenburg, Cynthia, How (Not) to Murder a King. Variations on a Theme in 1 Sam 24; 26: SJOT 12 (1998) 64–83. Fokkelman, Jan P., Narrative Art and Poetry in the Books of Samuel, Vol. 2: The Crossing Fates (I Sam. 13–31 & II Sam. 1), 1986 (SSN 23). Frettlöh, Magdalene L., Der Segen Abigajils und die unmögliche Möglichkeit der Rache Davids, in: C. Hardmeier / R. Kessler /A. Ruwe (Hg.), Freiheit und Recht. FS Frank Crüsemann, Gütersloh 2003, 339–359. Gordon, Robert P., David’s Rise and Saul’s Demise. Narrative Analogy in 1 Samuel 24–26: TynB 31 (1980) 37–64. Green, Barbara, Enacting Imaginatively the Unthinkable. 1 Samuel 25 and the Story of Saul: Biblical Interpretation 11 (2003) 1–23. Grønbæk, Jakob H., Die Geschichte vom Aufstieg Davids (1.Sam.15 – 2.Sam.5). Tradition und Komposition, 1971 (AThD 10). Gunn, David M., The Fate of King Saul. An Interpretation of a Biblical Story, 1980 (JSOT.S 14). Halpern, Baruch, David’s Secret Demons. Messiah, Murderer, Traitor, King, Grand Rapids, MI / Cambridge, UK 2001. Hentschel, Georg, Saul. Schuld, Reue und Tragik eines „Gesalbten“ (Biblische Gestalten), Leipzig 2003. Klein, Johannes, David versus Saul. Ein Beitrag zum Erzählsystem der Samuelbücher, 2002 (BWANT 158). Koch, Klaus, Was ist Formgeschichte? Neue Wege der Bibelexegese, Neukirchen-Vluyn 2 1967. Levenson, Jon D., 1 Samuel 25 as Literature and as History: CBQ 40 (1978) 11–28. McCarter, P. Kyle, I Samuel, 1980 (AncB 8). McCarter, P. Kyle, The Apology of David: JBL 99 (1980) 489–504. McKenzie, Steven L., King David. A Biography, Oxford 2000. Polzin, Robert, Samuel and the Deuteronomist, Bloomington, IN 1989. Stein, Peter, „Und man berichtete Saul …“. Text- und literarkritische Untersuchungen zu 1. Samuelis 24 und 26: BN 90 (1997) 46–66. Stoebe, Hans Joachim, Das erste Buch Samuelis, 1973 (KAT 8.1). Stolz, Fritz, Das erste und zweite Buch Samuel, 1981 (ZBK.AT 9). VanderKam, James C., Davidic Complicity in the Deaths of Abner and Eshbaal. A Historical and Redactional Study: JBL 99 (1980) 521–539. Veijola, Timo, Die ewige Dynastie. David und die Entstehung seiner Dynastie nach der deuteronomistischen Darstellung, 1975 (AASF.B 193). Weiser, Arthur, Die Legitimation des Königs David: VT 16 (1966) 325–354.
Die Überführung der Lade nach Jerusalem (2Sam 6): Geschichten und Geschichte Für die Untersuchung des Verhältnisses von „Geschichten und Geschichte“ in den Samuelbüchern eignet sich das Kapitel 2Sam 6 in besonderer Weise. Es bietet beides: einerseits eine anschauliche, abwechslungsreiche, sogar spannende Erzählung, andererseits die Mitteilung von Sachverhalten bzw. Vorgängen, die, sollten sie nicht fiktiv sein, hoch bedeutsam wären für die Geschichte der Davidszeit. Im Folgenden soll zunächst die Gesamterzählung 2Sam 6 in den Blick genommen, dann nach möglichen literar- bzw. überlieferungsgeschichtlichen Vorstufen des Kapitels gefragt und schließlich dessen historischer Informationsgehalt kritisch überprüft werden.
1.
Die Gesamterzählung
Die Erzählung von der Überführung der Lade in die Davidstadt gehört zu den Kapiteln der Samuelbücher, die eine besonders reiche Wirkungsgeschichte – namentlich in der bildenden Kunst – hervorgerufen haben.1 Verschiedenes hat die Phantasie angeregt: die Lade, dieser geheimnisvolle Gegenstand, der, äußerlich eher unscheinbar, mit überirdischen Kräften ausgestattet gewesen sein soll; die Prinzessin Michal, die es wagte, den König David zu schelten; und David selbst, der sich nicht nur als frommer, gottwohlgefälliger Herrscher zeigt, sondern mit seinem Volk ausgelassen feiert und gar zur Musik tanzt – nicht eben alltäglich bei einem König. In der Erzählwelt der Samuelbücher nimmt 2Sam 6 in mehrfacher Hinsicht einen zentralen Ort ein. David strebt dem Höhepunkt seiner Macht entgegen; eben hat er in Jerusalem eine neue Residenz gewonnen und die Philister entscheidend geschlagen (2Sam 5) – beides Voraussetzung nicht nur für das in 2Sam 6 Erzählte, sondern auch für das äußerst gewichtige Kapitel 2Sam 7, das berichtet, wie David der Lade ein „Haus“ bauen will und zu seiner Überraschung erfährt, dass Jhwh stattdessen ihm ein „Haus“ bauen will.2 Auch fügt 1
2
Vgl. hierzu Schade, Herbert, Zum Bild des tanzenden David im frühen Mittelalter, Stimmen der Zeit 172 (1962/63) 1–16. – Salmen, Walter, Die Vielzahl der Attribute des musizierenden und „springenden“ David, in: W. Dietrich / H. Herkommer (Hg.), König David – biblische Schlüsselfigur und europäische Leitgestalt, Fribourg / Stuttgart 2003, 687–729. – Dietrich, Walter, David. Der Herrscher mit der Harfe, 2006 (Biblische Gestalten 14), 313–318. Zu diesem Kapitel vgl. die äußerst sorgfältige Arbeit von Pietsch, Michael „Dieser ist der Sproß Davids …“ Studien zur Rezeptionsgeschichte der Nathanverheißung im alttestamentlichen, zwischentestamentlichen und neutestamentlichen Schrifttum, 2003 (WMANT 100).
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2Sam 6 dem großen Davidporträt der Samuelbücher ganz spezifische Farben bei: nebst Frömmigkeit auch Begeisterungsfähigkeit, Großzügigkeit und Bescheidenheit. Mit der Linie Davids kreuzen sich in 2Sam 6 zwei weitere Erzähllinien der Samuelbücher. Michal war in 1Sam 18,20–26 an die Seite Davids getreten und ihm danach in komplizierter Weise verbunden geblieben (1Sam 19,11–17; 25,44; 2Sam 3,14–16); jetzt hat sie einen heftigen und folgenreichen Zusammenstoß mit ihm (V.16.20–23).3 Von den Geschicken der Lade war ganz am Anfang des 1. Samuelbuches ausführlich die Rede (1Sam 4–6), und sie wird, nachdem sie nunmehr nach Jerusalem geholt ist, auch in den nachfolgenden Erzählungen verschiedentlich eine Rolle spielen (2Sam 11,11; 15,24–29; 1Kön 8,1–13). 2Sam 6 zeigt einen dreiteiligen Aufbau: V.1–12 handelt vom Konflikt um Ussa, V.13–19 vom Verlauf der Ladeprozession, V.20–23 vom Konflikt um Michal.4 Der Mittelteil schildert einen gelungenen kultischen Akt, die Seitenteile handeln von Friktionen, die mit diesem Vorgang verbunden waren. Zwei Motivzüge ziehen sich durch alle drei Teile hindurch: Offenbar verkörpert sich in der Lade Jhwhs Gegenwart (vgl. das sechsmalige „ לפני יהוהvor Jhwh“ in V.5.14.16.17.21bis) und seine Segenskraft (vgl. ברךin V.11.12.18.20). Die Menschen, welche die Lade auf ihrem Weg begleiten (jedenfalls die meisten), geraten in eine festliche Stimmung: Sie machen Musik (V.5.15) und tanzen (V.5.14.16.21LXX). Zum fröhlichen Grundton der Erzählung stehen die in den Seitenszenen beschriebenen Konflikte in hartem Kontrast. So ebenmäßig das Kapitel aufgebaut und so sorgfältig es durch Leitmotive zu einem Ganzen geformt ist: Es weist doch Spuren literarischen Wachstums auf. Die Nahtlinien verlaufen ungefähr entlang den Grenzen der drei Kapitelteile.
2.
Die Michal-Szene
Auch wenn die Szene von Davids Streit mit Michal, wie eben gezeigt, in das Ganze von 2Sam 6 leidlich eingebunden ist, stellt sie darin doch einen Fremdkörper, zumindest etwas klar Abgrenzbares dar. Man könnte sagen: Die Erzählung von der Überführung der Lade diente als Anlass, um die Entfremdung zwischen David und seiner ersten Gemahlin ins Bild zu setzen. Die höchst komplizierte Beziehung zwischen diesem Mann und dieser Frau sollte als nunmehr endgültig gescheitert hingestellt werden. Der dafür verantwortliche Autor hatte einen literarisch weiten Horizont. Er kannte nicht nur die Ladegeschichte, die, 3
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Zur Gestalt Michals vgl. den facettenreichen Sammelband von Clines, David J. A. / Cohn Eskenazi, Tamara (eds.), Telling Queen Michal’s Story. An Experiment in Comparative Interpretation, 1991 (JSOT.S 119), sowie den empathischen Roman von Weil, Grete, Der Brautpreis, Zürich / Frauenfeld 1988. Fokkelman, Jan P. (Narrative Art and Poetry in the Books of Samuel, III, Assen / Maastricht 1990, 176) und Caquot, André / de Robert, Philippe (Les livres de Samuel, 1994 [CAT 6], 409–410) sehen vier Teile: V.1–5.6–12.13–19.20–23.
Die Überführung der Lade nach Jerusalem (2Sam 6)
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wie wir noch sehen werden, außer 2Sam 6 auch 1Sam 4–6 und vermutlich 1Kön 8,1–8 umfasste. Er muss auch die verschiedenen David-Michal-Episoden im 1. und 2. Samuelbuch gekannt haben, die er hier kulminieren lässt. Da er im letzten Satz des Kapitels hervorhebt, dass Michal (von David) keine Kinder hatte, ist er zudem mit einem Thema vertraut, das fast das gesamte 2. Samuelbuch prägt: das der leiblichen Nachkommenschaft und der Thronnachfolge Davids. Das bedeutet, wir haben es in der Michal-Szene mit einem Autor zu tun, der fast den gesamten Stoff der Samuelbücher vor Augen hat. Nach der von mir an anderer Stelle begründeten Hypothese handelt es sich um den Verfasser des „Höfischen Erzählwerks über die frühe Königszeit in Israel“.5 Von seiner Hand gibt es in 2Sam 6 relativ breite Bearbeitungsspuren. In V.16 wird mitgeteilt, wodurch der Bruch zwischen David und Michal ausgelöst worden sei: Michal beobachtete die Ladeprozession vom Fenster aus6 und nahm dabei etwas wahr, das sie in Empörung versetzte: dass nämlich David „vor Jhwh sprang und tanzte ()מפזז ומכרכר7“. Während dieser bei einem König höchst ungewöhnliche Anblick8 die Prinzessin unvorbereitet traf, hat der Höfische Erzähler den Leser darauf vorbereitet. Bereits im Bericht über den ersten, misslungenen Versuch der Ladeüberführung hieß es, dass „David und die Israeliten9 sprangen10 ( )משׂחקיםvor Jhwh“ (V.5).11 Beim endgültigen Einzug der Lade in Jerusalem dann ist der Fokus ganz auf den König gerichtet: „David tanzte mit aller Kraft ()מכרכר בכל־עז12 vor Jhwh“ (V.14).13 So sieht ihn Michal, „verachtet“ 5
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Vgl. Dietrich, Walter, Die frühe Königszeit in Israel, 1997 (Biblische Enzyklopädie 3), 229–273; Dietrich, Walter, Samuel- und Königsbücher, in: TRE 30, 1998, 5–20, bes. 9– 10. Auf den gleichen Verfasser sind noch andere gestoßen: Klein, Johannes, David versus Saul. Ein Beitrag zum Erzählsystem der Samuelbücher, 2002 (BWANT 158), 130– 139; Fischer, Alexander Achilles, Von Hebron nach Jerusalem. Eine redaktionsgeschichtliche Studie zur Erzählung von König David in II Sam 1–5, 2004 (BZAW 335), 269–318. Es dürfte eine Überinterpretation sein, wenn Fokkelman (Narrative Art [Anm. 4], 196) schreibt: „The window symbolizes her special frame of mind, which prevents her from empathetically and joyfully taking part in the sacred festivities“. Wer sagt, dass Frauen dazu überhaupt zugelassen waren? LXX liest: o)rxou/menon kai\ a)nakrouo/menon „springend und musizierend“; von dem musizierenden David ist noch einmal in V.14 LXX die Rede, s. unten Anm. 12. Auch in 1Chr 15,29 ist das erste Verb ersetzt: „( מרקד ומשׂחקhüpfend und springend“). Keel, Othmar (Davids „Tanz“ vor der Lade, in: BuK 51 [1996] 11–14) vermutet unter Verweis auf einschlägige Siegel-Abbildungen, der König habe mit seinem Tun die Gottheit erfreuen und der feiernden Gemeinde geneigt machen wollen. So mit LXX; in MT steht hier „das Haus Israels“. Darauf folgt eine längere Aufzählung von Musikinstrumenten, zu deren Klängen man sich offenbar bewegte. Die LXX gibt משׂחקיםtreffend mit pai/zontej („scherzend, spielend“) wieder. Laut HALAT 1226 hat das Verb die Bedeutungen „froh sein, scherzen, Kurzweil treiben, spielen“, dann auch „tanzen“, doch soll dieser Begriff im Folgenden כררPilp. vorbehalten bleiben. Auch Caquot / de Robert (Anm. 4), 419, halten V.5 für einen Nachtrag (der von ihnen so genannten „révision sadocide“). Nach LXX „tanzte“ David nicht (so MT mit כררPilp.), sondern „musizierte (wörtlich: schlug an) auf wohlgestimmten Instrumenten“ (a)nekrou/eto e)n o)rga/noij h(rmosme/noij). Von den „wohlgestimmten Instrumenten“ war in LXX schon in V.5 die
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Haupt- und Nebenfiguren der Samuelbücher
ihn (V.16) und hält ihm im anschließenden Disput vor, er habe sich benommen „wie einer von den Tänzern“14 (V.20). David stellt das gar nicht in Abrede, sondern versichert: „Vor Jhwh will ich tanzen“ (כרר15, V.21), und noch einmal: „Vor Jhwh will ich springen“ (שׂחק16, V.22). Warum beurteilen die königlichen Eheleute den Vorgang so unterschiedlich? Zunächst fällt auf, dass David zweimal betont, es gehe um ein Tanzen und Springen „vor Jhwh“. Anscheinend ist es die Präsenz der Gottheit – in bzw. über der Lade –, die den König zu seinem außergewöhnlichen Tun animiert. Michals Vorwürfe bewegen sich auf einer ganz anderen Ebene. Voll grimmigem Hohn bemerkt sie: „Wie hat heute der König Israels Ehre eingelegt, als er sich heute entblößt hat vor den Augen der Mägde seiner Knechte, so wie sich einer von den Tänzern entblößt“ (V.20). Nicht eigentlich um den Tanz ihres Gemahls ging es ihr also, sondern darum, dass er dabei ihrer Ansicht nach nicht hinreichend bekleidet war. Der Hinweis auf die „Augen“ anderer Frauen enthält deutlich eine erotisch-sexuelle Note: Sie haben etwas zu sehen bekommen, das zu sehen ihnen nicht zustand. In diesem Zusammenhang gilt es einen hintergründigen kleinen Texthinweis zu beachten. Laut V.14b war David während der Ladeprozession „mit einem leinenen Efod umgürtet“.17 Der Efod war ein Kleidungsstück, das Priester beim Kult- und Altardienst trugen.18 Im vorliegenden Fall ist weniger seine Funktion von Bedeutung als sein Zuschnitt: Es war ein knapper Schurz, der, würdevoll getragen, kaum etwas Anstößiges hatte, der aber bei einem „mit aller Kraft tanzenden“ Mann (V.14a) wohl nicht allzu viel verdeckt haben dürfte. In Michals Augen war Davids Darbietung nicht nur lasziv und obszön, sondern ordinär (im eigentlichen Sinn des Wortes). Nicht etwa Damen bei Hofe hatte er sich zur Schau gestellt, sondern den „Mägden“ seiner „Knechte“, d.h. dem weiblichen Dienstpersonal seiner Untergebenen. Zwei Stufen zu tief in der gesellschaftlichen Hierarchie hatte er sich bewegt, es fehlte ihm am nötigen Standesbewusstsein.19 (Spricht hier die stolze Königstochter – bzw. meint der
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Rede. McCarter, P. Kyle (II Samuel. A New Translation with Introduction, Notes and Commentary, 1984 [AncB 9], 161.171) folgt in beiden Fällen dem griechischen Text; er stützt sich für diese Deutung von כררPilp. auf ein ugaritisches Verb krkr (das freilich die Übersetzer der Septuaginta kaum kannten). Auch Stoebe, Hans-Joachim (Das zweite Buch Samuelis, 1994 [KAT 8.2], 198) hält V.14 für einen Nachtrag, der zusammen mit V.16 die Szene V.20–23 vorbereitet. So mit LXX (ei(=j tw=n o)rxoume/nwn); MT liest dagegen „einer von den Nichtigen/Nichtsnutzen“ ()אחד הרקים. Das Verb ist in MT ausgefallen, stehen geblieben ist nur der Satztorso לפני יהוה. LXX bietet noch den vollständigen Satz: e)nw/pion kuri/ou o)rxh/somai. LXX gibt dies, wie schon in V.5, mit pai/zomai wieder, hat darüber hinaus aber kai\ o)rxh/somai. Sollte auch MT einst zusätzlich כררgehabt haben? Dieser Ausdruck wird wortgleich in 1Sam 2,18 für den jungen Samuel verwendet; höchstwahrscheinlich hat ihn der Höfische Erzähler von dort nach hier übernommen. Dies war die eine Funktion eines Efods; die andere war die eines Orakelgeräts, vgl. Görg, Manfred, Efod, NBL I, (1991), 472–473; Dietrich, Walter, Samuel, 2005 (BKAT 8.1, Lief. 2), 133. Fokkelman (Narrative Art [Anm. 4], 198): „she hurls stinging abuse in the face of ‚the King of Israel’, making out, that she, not he, is the one who knows what royal dignity is“.
Die Überführung der Lade nach Jerusalem (2Sam 6)
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Autor, so müsste sie gesprochen haben?) Mit diesem Vorwurf kommt Michal bei David nicht gut an: „Und ich will mich noch geringer machen ( )ונקלתיund will niedrig ( )שׁפלerscheinen in deinen Augen20 und will bei den Mägden, von denen du sprachst, in Ehren stehen (( “)אכבדהV.22). Damit wendet er ihre bissige Bemerkung darüber, dass er „als König Israels heute Ehre eingelegt“ habe (נכבד, V.20), ins Positive: Ja, er hat Ehre eingelegt und will dies auch künftig tun – aber nicht in Michals Augen, sondern in den Augen derer, die sie geringschätzt. Man könnte sagen: Michal vertritt ein klassisches, David ein sehr untypisches Königsideal. Dieses ist nun kennzeichnend für das Davidbild des Höfischen Erzählwerks: Groß ist ein König nicht durch Großmächtigkeit, sondern durch Bescheidenheit; Demut steht ihm wohl an, nicht aber Hochmut.21 Schon ganz am Anfang des 1. Samuelbuches, lange bevor ein König im Blick ist, wird diese Anschauung grundgelegt und zugleich im Gottesbild verankert. Dem Priester Eli, der gegenüber seinen Söhnen versagt hat, verkündet ein Gottesmann im Namen Jhwhs: „Wer mich ehrt, den ehre ich, und wer mich verachtet, der wird gering geachtet“ (מכבדי אכבד ובזי יקלו, 1Sam 2,30bb). Dieses geschliffene Diktum gehört zur Ladegeschichte.22 Indem der Höfische Erzähler in 2Sam 6,20 darauf anspielt, gibt er zu verstehen, dass David jene Lektion verstanden hat, Michal aber nicht. Der Erzähler will mit dieser Darstellung nicht die Frauen allgemein herabwürdigen, es geht ihm speziell um Michal. Sie ist die Tochter Sauls, des von David abgelösten ersten Königs Israels. Ihre Verbindung mit David hätte theoretisch die Möglichkeit eröffnet, beide Königslinien, die saulidisch-israelitische und die davidisch-judäische, zusammenzuführen. Das aber sollte, um Gottes willen, nicht sein. Der Erzähler – der hier klar seinen judäischen Standpunkt zeigt – lässt David mit fast metallener Härte sagen: „Gesegnet sei Jhwh23, der mich erwählt hat vor deinem Vater und vor seinem ganzen Haus, um mich zu bestimmen zum Fürsten über sein24 Volk, über Israel“ (V.21). Dies ist einer der wenigen direkten Vergleiche zwischen David und Saul im Höfischen Erzählwerk.25 Meist werden indirekte Gegenüberstellungen bevorzugt, die Raum lassen für eine differenzierte Darstellung der beiden Antipoden. Hier jedoch geht es nicht um Differenzierung, sondern ums Ganze. „Erwählt“ ( )בחרhat Gott nur
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So LXX (e)n o)fqalmoi=j sou). MT hat „in meinen Augen“ ()בעיני. Ein besonders sprechendes Beispiel ist die – ebenfalls vom Höfischen Erzähler – geschaffene Szene 2Sam 16,5–13, in der David von dem Sauliden Schimi gedemütigt wird und dies demütig hinnimmt. In Europa wurde ein solches Königsbild erst im Gefolge der Aufklärung möglich; man denke an einschlägige Züge im Bild des „Alten Fritz“, wie sie in populärer Literatur gern hervorgehoben werden, oder an Lessings Bild von Saladin in „Nathan der Weise“. Vgl. Dietrich, BKAT 8.1 (Anm. 18), 123–126. Dieser (notwendige) Satzanfang fehlt in MT, ist aber in LXX erhalten (eu)loghto\j ku/rioj). MT schreibt: „über das Volk Jhwhs“. Die Änderung nach LXX ergibt sich aus dem in der vorigen Anmerkung Gesagten. Vgl. dazu Klein, David versus Saul (Anm. 5), 52–63, der aber merkwürdigerweise auf unsere Stelle nicht eingeht.
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einen: David!26 Eben darum kann Michal – jedenfalls von ihm und von jetzt an27 – keine Kinder bekommen (V.23).28
3.
Die Ussa-Episode
Nachdem wir die Michal-Szene samt den sie vorbereitenden Sätzen dem Höfischen Erzähler haben zuweisen können, wenden wir uns der eigentlichen Überlieferung vom Transport der Lade nach Jerusalem zu. Sie beginnt in V.1.2aba mit der Mitteilung, David habe „alle Erlesenen in Israel“, 30.000 Mann29, versammelt, um von Baale-Jehuda aus30 „die Gotteslade hinaufzuführen“. Wohin? fragt man sich unwillkürlich. Die Antwort erfolgt viel später, in den letzten drei Wörtern von V.12: „ עיר דוד בשׂמחהzur Davidstadt mit Freude“. Gesetzt einmal, diese Worte hätten einst unmittelbar an die Erzähleinleitung angeschlossen31, dann wäre die dazwischen liegende Ussa-Szene als Sonderüberlieferung zu betrachten. Lässt sich das wahrscheinlich machen? Schon bei der Betrachtung der Gesamterzählung ist uns aufgefallen, dass die Ussa- genauso wie die Michal-Episode in einem Kontrast zum Kern des Kapitels stehen. Dieser zeigt Gott und Mensch in ungestörtem Einvernehmen; die Lade lässt sich problemlos an den ihr zugedachten Ort bringen. Ganz anders die Ussa-Szene. Hier herrscht zwischen Gott und den Menschen Dissonanz, und die Lade verbreitet Furcht und Schrecken. Das erinnert an 1Sam 5–6, wo die Lade die Philister das Fürchten lehrt. Anscheinend soll am Beginn von 2Sam 6 deutlich gemacht werden, dass der Lade nicht nur in Philistäa, sondern auch in Israel bzw. Juda höchster Respekt entgegenzubringen ist. Am Geschick eines Priesters wird drastisch vor Augen geführt, was geschieht, wenn jemand dieser Forderung nicht voll nachkommt. Was genau damals vorgefallen sein mag, bleibt übrigens einigermaßen unklar. Anscheinend ist gemeint, dass es Probleme mit den Zug-
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Vgl. die ganz ähnliche Aussage in 2Sam 7,15 und dazu Dietrich, Walter, David, Saul und die Propheten, 21992 (BWANT 122), 127–129, sowie Klein, David versus Saul (Anm. 5), 54–55. In 2Sam 21,8 ist nach den meisten Textzeugen von fünf Söhnen Michals die Rede. Einige hebräische und griechische Handschriften sprechen hingegen von fünf Söhnen Merabs, der Schwester Michals (vgl. 1Sam 18,17–19). Zum Problem s. Stoebe, Hans Joachim, David und Mikal, in: Ders., Geschichte, Schicksal, Schuld und Glaube, 1989 (BBB 72), 91–110. Der Erzähler führt nicht aus, woran bzw. an wem das lag: an natürlich-biologischen Gegebenheiten oder an der jetzt zementierten gegenseitigen Abneigung zwischen Michal und David oder an Gott, der ihre Verbindung nicht segnen wollte. Laut LXX waren es „um 70.000“. Die LXX hat diesen Ortsnamen als „Herren Judas“ missverstanden. Dies widerspricht der ausdrücklichen Feststellung in V.1, dass Leute aus ganz Israel bei der Ladeeinholung dabei waren. Den sachlichen Zusammenhang sieht auch Fokkelman, Narrative Art (Anm. 3), 177, ohne aber literarkritische Konsequenzen zu ziehen.
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tieren gab (V.6),32 dass Ussa daraufhin nach der Lade griff, um sie festzuhalten, und dass dies in den Augen Jhwhs eine Unbotmäßigkeit war, die sich sofort rächte (V.7).33 Die Erzählung von Ussa ist mit den Ladeerzählungen des 1. Samuelbuches nicht nur allgemein durch die Vorstellung von der Gefährlichkeit der Lade verbunden, sondern durch ein bestimmtes Leitwort. Die Wortwurzel מותin ihren verschiedenen Ausformungen (Qal: „sterben“, Hif.: „töten“, Substantiv ָמוֶת: „Tod“) durchzieht die Erzählungen 1Sam 4–6 wie ein roter Faden – und kehrt nun in in der Ussa-Szene wieder: Jhwh hatte die Söhne des Ladepriesters Eli „töten“ wollen ( מותHif.: 1Sam 2,25); ein Gottesmann hatte angekündigt, sie würden an ein und demselben Tag „sterben“ ( מותQal: 2,34); sie „sterben“ dann wirklich ( מותQal: 4,11); als Eli gemeldet wird, dass sie „gestorben“ sind (und die Lade geraubt ist, מותQal: 4,17), „stirbt“ auch er ( מותQal: 4,18); als man seiner Schwiegertochter sein und ihres Mannes „Sterben“ meldet ( מותQal: 4,19), „stirbt“ auch sie ( מותQal: 4,20). Nach der Entführung der Lade nach Philistäa fürchten die Leute von Ekron, sie werde sie und andere „töten“ ( מותHif.: 5,10.11); tatsächlich schlägt der „Tod“ zu ( ָמוֶת: 5,11), und viele Leute sterben ( מותQal: 5,12). Diese Todes-Reihe wird nun fortgesetzt durch das „Sterben“ Ussas ( מותQal: 2Sam 6,7). Schließlich knüpft die Ussa-Geschichte noch in einer ganz speziellen Weise an die Ladegeschichten des 1. Samuelbuches an. In 2Sam 6,3 heisst es: „Und sie trugen sie (die Lade) aus dem Haus Abinadabs, das auf der Anhöhe (liegt);34 und Ussa und Achjo35, die Söhne Adinadabs, führten den Wagen“. Von einem Abinadab, dessen Haus „auf der Anhöhe“ lag, war auch im Abschlussvers der Ladeerzählungen des 1. Samuelbuches, 1Sam 7,1, die Rede. Allerdings heißt sein Wohnort dort Kirjat Jearim, nicht Baale-Jehuda, und sein Sohn, der die Lade betreut, heißt nicht Ussa oder Achjo, sondern Elasar. Wie immer die Übereinstimmungen und Unterschiede in den Namen zu erklären sind36: Die beiden Überlieferungen beziehen sich auf ein und denselben Sachverhalt: den Aufenthalt und die Versorgung der Lade in einem Grenzort zwischen Philistäa und Juda. So schließt die Ussa-Episode vielleicht nicht ganz glatt, aber doch recht gut an 1Sam 4–6 an. 32
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Hier gehen die Textversionen auseinander: Nach MT hatte man – ähnlich wie in 1Sam 6,11f – den Rindern „freien Lauf gelassen“ ()מתושׁ, und Ussa wollte darauf Einfluss nehmen, welche Richtung sie einschlugen. Nach LXX dagegen drohten die Tiere „auszubrechen“ bzw. „umzuwerfen“ (perie/spasen), und Ussa wollte das Herabfallen der Lade verhindern. Die andeutende Schilderung lässt alle möglichen Ausdeutungen zu: transrationale ebenso wie rationale (z.B. tödlicher Unfall oder krankheitsbedingter Todesfall). MT wiederholt diesen Satz noch einmal zu Beginn von V.4. Doch dürfte dies eine Dittographie sein, wie das Fehlen des Satzes in 4QSama, 1Chr 13,7 und LXXBL zeigt. LXX versteht אחיוnicht als Eigennamen, sondern als „ ֶאחָיוseine Brüder“. Kirjat-Jearim und Baale-Jehuda dürften identisch sein, wobei der zweite Name wohl der ältere ist und wegen der möglichen Assoziation mit Baal später vermieden wurde. Die unterschiedlichen Namen der Abinadab-Söhne könnten auf verschiedene Überlieferungen hinweisen, die unser Autor nicht ausglich. McCarter (II Samuel [Anm. 12], 169) hält indes auch für möglich, dass „Elasar“ und „Ussa“ ein und derselbe Name sind.
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Haupt- und Nebenfiguren der Samuelbücher
Schon seit langem wird in der Wissenschaft die These vertreten (gelegentlich freilich auch bestritten), dass die Ladeerzählungen des 1. und des 2. Samuelbuches ursprünglich einen gemeinsamen literarischen Zusammenhang bildeten.37 Es scheint, als sei die Arbeitsweise des Autors oder Redaktors, der diesen Zusammenhang schuf – wir nennen ihn den Lade-Erzähler –, am Anfang von 2Sam 6 noch recht genau festzustellen. Er ließ auf die Episode von der Verbringung der Lade nach Kirjat-Jearim (1Sam 6,21; 7,1) die Ussa-Überlieferung (2Sam 6,3ff) folgen, schaltete dazwischen aber den Anfang der Geschichte von der Ladeprozession (2Sam 6,1.2aba), die er dann in V.13ff fortführte. In V.2bb, so scheint es, ergriff er selbst das Wort: Die feierliche Ladetitulierung „… über der ausgerufen ist der Name38 Jhwh Zebaots, des Kerubenthroners“ wirkt in 2Sam 6 – und übrigens ebenso an der (einzigen) Parallelstelle 1Sam 4,439 – wie ein Fremdkörper. Inhaltlich werden die Keruben erst in 1Kön (6–7 und) 8,6.7 eine Rolle spielen, wo die Lade unter ihre Flügel gestellt wird. Offenbar hat der Lade-Erzähler in 1Sam 4,4 und 2Sam 6,2 redaktionelle Klammern eingesetzt, welche die verschiedenen Ladeüberlieferungen untereinander (und mit 1Kön 8) verbinden. Eine weitere Klammer dieser Art findet sich kurz danach, in V.3, wo es heißt, die Lade sei auf einem „neuen Rinderwagen“ ( )עגלה חדשׁהtransportiert worden.40 Dass für den Transport ein Wagen gebraucht wurde, mag noch einleuchten – warum aber ein neuer? Die Erklärung findet sich nicht hier, sondern in 1Sam 6,1–12. Dort empfehlen die Priester und Wahrsager der Philister ihren Fürsten, die ihnen unheimlich gewordene Lade selbst den Ort ihrer Bestimmung wählen zu lassen. Dazu bedarf es eines „neuen Rinderwagens“ (1Sam 6,7), den zwei Kühe dorthin ziehen sollen, wohin die Lade sie lenkt (6,8f). Hier muss der Wagen neu sein, damit der Divinationsprozess nicht durch Fremdeinflüsse gestört wird. In 2Sam 6 dagegen ist dieser Erzählzug ohne Bedeutung. Offenbar hat der Redaktor aus 1Sam 6 den Schluss gezogen, dass die Lade grundsätzlich nur auf neuen Wagen zu fahren wünschte. Ein dritter Eingriff des Lade-Erzählers in die von ihm aufgenommene UssaÜberlieferung ist in V.9 wahrzunehmen. Zuvor war berichtet worden, dass Jhwh 37
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Als erster hat Leonhard Rost die Erzählungen 1Sam 4–6; 2Sam 6 ausführlich gewürdigt – allerdings unzutreffenderweise als Unterquelle der von ihm postulierten Thronfolgegeschichte (Die Überlieferung von der Thronnachfolge Davids, 1926 [BWANT 42], 4–47). Spätere Arbeiten bestritten die Zusammengehörigkeit der beiden Teile (z.B. Schicklberger, Franz, Die Ladeerzählungen des ersten Samuel-Buches, 1973 [FzB 7]), andere hielten an ihrer Integrität fest (Campbell, Antony, F., The Ark Narrative [1 Sam 4–6; 2 Sam 6], 1975 [SBL.DS 16]) oder nahmen bestimmte Abschnitte aus 1Sam 2 (Miller, Patrick D. / Roberts, Jimmy J.M., The Hand of the Lord. A Reassessment of the „Ark Narrative“ of 1 Samuel, Baltimore/London 1977) und zusätzlich 1Kön 8,1–8 hinzu (Dietrich, Frühe Königszeit (Anm. 5), 220–221.239–242). Seltsamerweise wiederholt sich hier die Konsonantenfolge שׁםzweimal. Die LXX übersetzt sie nur einmal; einige Handschriften punktieren sie nicht beide Male mit Zere („Name“), sondern das erste Mal mit Kamez („dort“), was aber auch keinen rechten Sinn ergibt. Vgl. dazu Dietrich, Walter, Samuel, 2006 (BKAT 8.1, Lief. 3), 211. MT hat die Wendung sogar zweimal, doch ist beim zweiten Mal das Adjektiv „neu“ mit der LXX textkritisch auszuscheiden.
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auf Ussa erzürnt war und ihn schlug (ויחר־אף יהוה, V.7) und dass daraufhin David seinerseits zornig wurde (ויחר לדוד, V.841). Ein solcher Konflikt zwischen Gott und König ist durchaus ungewöhnlich im Alten Orient; üblicherweise erwarteten die Götter von den Königen, dass sie ihnen kultisch zu Diensten waren, und die Könige von den Göttern, dass sie ihnen dies honorierten. Bei Jhwh, lehrt die Ussa-Episode, gilt diese Do-ut-des-Regel nicht, Jhwh bleibt souverän – auch gegenüber David.42 In V.9 jedoch zeigt der König eine ganz andere Haltung: Er „fürchtet sich vor Jhwh“ ( – )יראganz so, wie sich die Philister vor der Lade gefürchtet haben (1Sam 4,7; 5,7; 6,13: )ירא. Vermutlich ist dies wieder einer der redaktionellen Brückenschläge von 1Sam 4–6 nach 2Sam 6.43 In v. 5abb wird eine Art Marschkapelle vorgestellt, die den Lade-Zug begleitet haben soll. Zu ihr gehören44 Zypressenholzklappern ()עצי ברושׁים, Leiern ()כנרות, Bassleiern ()נבלים, Trommeln ()תפים, Rasseln ( )מנענעיםund Becken ()צלצלים. Aufschlussreich ist ein Seitenblick auf Ps 150, wo zu einem rauschenden Schluss-Halleluja das Vollorchester des Zweiten Tempels vorgestellt wird. Dort kehren alle Register aus 2Sam 6,5 wieder – bis auf zwei: die Zypressenholzklappern und die Rasseln, gewissermaßen die volkstümlich-rustikalen Instrumente. Dafür kommen andere hinzu: das Widderhorn ()שׁופר45, die Längsflöte ( )עוגבsowie Holzblas- (? )מחולund Saiteninstrumente ()מנים. Im Vergleich damit wirkt die Kapelle von 2Sam 6,5 bescheidener und rustikaler.46 Sah so wie hier vielleicht das Orchester des Ersten Tempels aus? Sein Aufmarsch inmitten der Ussa-Episode wirkt jedenfalls recht überraschend; wäre dafür nicht die Szene von V.13ff mit ihrer betonten Feststimmung geeigneter gewesen? Die Lösung der Frage ergibt sich aus V.5aa. Es ist dies eine der Stellen, an denen 41
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Shimon Bar-Efrat hat mich brieflich darauf aufmerksam gemacht, dass חרה לan verschiedenen Stellen nicht mit „zornig sein/werden“, sondern mit „betrübt sein/werden“ zu übersetzen sei, und nannte als Belege neben unserer Stelle noch Gen 4,5.6; 34,7; 45,5 1Sam 15,11; Jona 4,1.4.9. HALAT gibt indes nur die Bedeutungen „zornig werden“ und „unmutig werden“ an. In jedem Fall besteht zwischen V.7 und V.8 ein beabsichtigtes Wortspiel. Vgl. zu diesem besonderen Zug Dietrich, Walter, Das biblische Bild der Herrschaft Davids, in: Ders., Von David zu den Deuteronomisten. Studien zu den Geschichtsüberlieferungen des Alten Testaments, 2002 (BWANT 156), 9–31, hier 28. Dass V.9 nachgetragen ist, zeigt sich auch an einer Doppelung mit dem nachfolgenden Vers: „Und David … sagte: ‚Wie soll zu mir kommen die Lade Jhwhs?’“ (V.9b) – „Und David wollte die Lade Jhwhs nicht zu sich in die Davidstadt leiten“ (V.10a). Übrigens halten auch Caquot / de Robert (Samuel [Anm. 4], 419) V.2bb.9 für sekundär, freilich für deuteronomistisch. Die Bezeichnungen im Folgenden nach Braun, Joachim, Die Musikkultur Altisraels/Palästinas. Studien zu archäologischen, schriftlichen und vergleichenden Quellen, 1999 (OBO 164), 36–53. Weitere einschlägige Arbeiten: Graetz, Heinrich, Die musikalischen Instrumente im Jerusalemischen Tempel und der musikalische Chor der Leviten: Monatsschrift für Geschichte und Wissenschaft des Judentums 30 (1881), 241– 259; Seidel, Hans, Ps 150 und die Gottesdienstmusik in Altisrael: NTT 35 (1981) 89– 100. Der קול שׁופרwird aber sogleich in 2Sam 6,15 erwähnt. Vgl. auch 1Chr 15,16–24, einen anderen, für die Musik am Zweiten Tempel wichtigen Text, wo die Klappern und Rasseln ebenfalls fehlen, dafür aber zu den Leiern und Bassleiern eherne Zimbeln ( )מצלתים נחשׁתund Trompeten ( )חצצרותhinzutreten.
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Haupt- und Nebenfiguren der Samuelbücher
der Höfische Erzähler die Michal-Szene vorbereitet: „David und die Israeliten sprangen vor Jhwh“ – nicht erst beim Einzug der Lade in Jerusalem, wird uns bedeutet, sondern schon bei ihrem Aufbruch aus Baale-Jehuda. Vor der Lade kann man gar nicht anders als „springen“ und „tanzen“ – und dies natürlich nicht ungeordnet, sondern zu den Klängen und Rhythmen der (künftigen) Tempelkapelle. Wir halten fest: In V.*3–12 ist eine ältere Tradition verarbeitet, der zufolge es bei der Überführung der Lade nach Jerusalem Schwierigkeiten gab. Ein Priester kam ums Leben, die Aktion musste abgebrochen und konnte erst nach längerer Wartezeit, in der man sich der Zustimmung der Gottheit versicherte, wieder aufgenommen werden. Die Überlieferung enthält einige Namen von Personen und Lokalitäten, die sonst nirgendwo begegnen: Ussa und Achjo, Söhne Abinadabs, die die Lade bedienten; die Tenne Nachons und der Platz PeretzUssa, wo sich das Unglück ereignete; der Gatiter Obed-Edom, bei dem die Lade drei Monate unterkam, ehe David es wagte, sie weiter zu transportieren. Diese Überlieferung hat der Lade-Erzähler, dessen Hand in V.2bb.*3.9 zu spüren ist, mit der Überlieferung vom Einzug der Lade in Jerusalem zusammengefügt und so zu deren fröhlichem Grundton einen ernsten Kontrapunkt gesetzt. Zugleich schuf er auf diese Weise eine Verbindung zu 1Sam 4–6 (und 1Kön 8).
4.
Die Lade-Prozession
Nach Separierung der Michal- und der Ussa-Episode bleibt der Bericht vom Einzug der Lade in Jerusalem übrig. Er umfasst die Verse 6,1.2aba.*12.13.15. 17–19 und hat folgenden Wortlaut: Und David versammelte ferner47 alle Erlesenen in Israel, 30’000 (Mann). Und David machte sich auf und ging, und das ganze Volk, das bei ihm war, von Baale-Jehuda aus, um von dort die Gotteslade in die Davidstadt hinaufzuführen mit Freude. Und es war so: Wenn48 die Träger der Lade Jhwhs sechs Schritte gegangen waren, opferte er einen Stier und ein Mastkalb. Und David und das ganze Haus Israel brachten die Lade Jhwhs hinauf unter Jubelgeschrei und Horngetön. Und sie brachten die Lade Jhwhs hinein und stellten sie an ihre Stätte in die Mitte des Zeltes, das David für sie aufgespannt hatte. Und David brachte Brandopfer dar vor Jhwh und Heilsopfer. Und als David das Darbringen von ‘Brandopfern’49 und Heilsopfern beendet hatte, segnete er das Volk im Namen Jhwh Zebaots. Und er verteilte an das gesamte Volk, an die gesamte Menge Israels, Mann wie Frau, pro Kopf ein Fladenbrot, einen 47
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49
Mit dieser von allen Textzeugen gebotenen Partikel (MT: ;עודLXX: e)/ti) wird die Erzählung – vermutlich durch den Höfischen Erzähler – an das vorangehende Kapitel angeschlossen, wo von einem Krieg gegen die Philister die Rede war (2Sam 5,17–25). Manche Ausleger (Hertzberg, Hans Wilhelm, Die Samuelbücher, 31965 [ATD 10], 229; zögernd auch Stoebe, Das zweite Buch Samuelis [Anm. 13], 195.197) wollen das כיnicht mit „(immer) wenn“, sondern mit „als“ wiedergeben; dann wäre nicht wiederholt, sondern nur einmal, nämlich nach den ersten sechs Schritten, geopfert worden. Vgl. dagegen die Argumentation McCarters, II Samuel (Anm. 12), 171. MT hat hier den Singular עולה, doch ist sicher mit LXX der Plural zu lesen.
Die Überführung der Lade nach Jerusalem (2Sam 6)
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Dattelkuchen und einen Rosinenkuchen. Und das ganze Volk ging, ein jeder in sein Haus.
Dies ist ein in sich geschlossener, aus sich heraus verständlicher Text. Der Anfang und der Schluss bilden eine Inklusio: Die große Menschenmenge, die David zum festlichen Akt der Ladeüberführung versammelt hat, geht am Ende wieder auseinander. Die Prozession nimmt ihren Ausgang in Baale-Jehuda und hat ihren Zielpunkt in der Davidstadt. Dort ist ein Zelt aufgestellt worden – kein festes Heiligtum also, sondern ein im Prinzip tragbares. Auch die Lade ist tragbar und wird getragen: nicht von einem Wagen, sondern von Männern, vermutlich Priestern. So ist es jedenfalls in 1Kön 8,4, wo vom Transport der Lade samt dem Zelt und den zugehörigen Geräten hinauf zum salomonischen Tempel berichtet wird. Dieselbe Vorstellung dürfte auch in 1Sam 4,4 im Hintergrund stehen, wo der Transport der Lade von Schilo nach Ebeneser beschrieben wird und die beiden Eli-Söhne Hofni und Pinhas als Begleiter der Lade erwähnt sind. Laut der – freilich nachexilischen und mit sehr viel Gold überlagerten – Bauanweisung für die Lade in Ex 25,10ff waren an den Seiten dieses „Kastens“ (dies die Wortbedeutung) je zwei Tragringe angebracht, durch die zwei lange hölzerne Tragstangen geschoben wurden. Laut 1Kön 8,8 waren diese Stangen so lang, dass ihre Enden hinter dem Vorhang, der das Allerheiligste vom Hauptraum trennte, herauslugten. So wird wohl auch bei der knappen Darstellung von 2Sam 6 daran gedacht sein, dass zwei Priester die Lade an Stangen hinter David her trugen. Die Stimmung bei dem Anlass wird als freudig beschrieben. Begleitet wird die Prozession vom feierlichen Ton des Widderhorns und von Jubelgeschrei. Das wirkt plausibel und vorstellbar. Von einem Orchester bzw. einer Marschkapelle verlautet nichts, auch nicht – die Richtigkeit unserer Analyse vorausgesetzt – von einem „Tanzen und Springen“ Davids. Dieser dürfte als würdig schreitend vorgestellt sein. Der Zug kommt nur langsam voran; denn alle sechs Schritte, die die Ladeträger gehen, sind zwei Tiere zu schlachten.50 Das grammatische Subjekt dieser Mitteilung ist David; vermutlich ist aber nicht gemeint, dass er persönlich das Schlachtmesser geführt, vielleicht geradezu als Priester geamtet habe,51 sondern dass für ihn als Spender bzw. Opferherrn (Kult-)Personal arbeitete. Es fällt auf, dass nur kostbare Tiere – Rinder und Kälber, nicht Schafe52 – geschlachtet werden. Nirgendwo in dem Text kommt der Eindruck auf, der Transport der Lade könne schwierig oder gar gefährlich gewesen sein.53 Alles verläuft gleich- und planmäßig. Am Ende steht die Lade dort, wo David sie haben möchte: in seinem 50 51
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Es ist kaum vorstellbar, dass dies von Baale-Jehuda bis Jerusalem eingehalten wurde; s. unten Anm. 72. So jedoch Stolz, Fritz (Das erste und zweite Buch Samuel, 1981 [ZBK.AT 9], 216), der von der „Konzeption eines Priesterkönigtums“ spricht; Beleg ist ihm u.a., dass der König einen Priester-Efod trägt – wofür nach unserer Analyse aber erst der Höfische Erzähler verantwortlich ist. So allerdings LXX: a)/rna. Dass die Opferhandlungen nach jeweils sechs Schritten aus Angst vor der Lade bzw. zu ihrer Besänftigung erfolgt seien (Fokkelman, Narrative Art [Anm. 3], 183), ist Eisegese; warum sollten sich darin nicht Freude und Großzügigkeit ausdrücken?
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Haupt- und Nebenfiguren der Samuelbücher
Palastareal unter einem Zelt.54 In 1Kön 1,39; 2,28 wird man erfahren, dass dort auch kultische Geräte (z.B. ein Salbhorn) sowie ein Altar Platz fanden. Nach Ankunft am Zielort werden, gleichsam als Inaugurationsritual,55 Brand- und Heilsopfer ( עולותund )שׁלמיםdargebracht. Beim Brandopfer ()עולה geht das Opfergut vollständig in Flammen und Rauch auf, während das Heilsopfer ( )שׁלםauf ein gemeinschaftliches Mahl zielt.56 Der König bedachte also sowohl die Gottheit als auch die Festgenossen mit schmackhaften Gaben, anders: die Überführung der Lade und die Einweihung des Zeltheiligtums war Kult- und Volksfest in einem. Dies wird noch unterstrichen durch das Abschiedsgeschenk bzw. die Wegzehrung, die David den Versammelten am Ende aushändigen lässt: Brot und Süßgebäck. Interessanterweise erscheinen speziell „Rosinenkuchen“ ( )אשׁישׁיםauch in Hos 3,1 als begehrte Speise bei Kultfesten. So wichtig diese gleichsam materielle Seite des Berichts von der Ladeüberführung ist: Zentral geht es doch um religiöse Fragen. Alles dreht sich um die Lade und damit um Jhwh, der über der Lade präsent ist. Ihm gelten die Brandopfer, seinen Segen hofft David mit der Lade in seine neue Residenz zu holen. Und auch das Volk segnet er zum Abschluss „im Namen Jhwh Zebaots“. Das Gottesprädikat צבאות, „(Gebieter der) Heere“, scheint eng mit der Lade und über diese dann mit dem Tempel von Jerusalem verknüpft gewesen zu sein.57 Zusammen mit dem Kultsymbol hält in Jerusalem also ein neuer Kult und eine neue Gottesvorstellung Einzug. So feierlich wie möglich hat David Jhwh Zebaot zum Residenz-, Dynastie- und Reichsgott ausgerufen.
5.
Der historische Gehalt
Als Ergebnis der literarhistorischen Untersuchung von 2Sam 6 können wir folgende Textschichtung festhalten: A Die Überlieferung von der Ladeprozession: V.1.2aba.*12 ()עיר דוד בשׂמחה. 13.15.17–19. B Die Überlieferung von einem Unfall beim Transport der Lade: V.3f.6–8.10– 12. C Die Verknüpfung von A und B durch den Lade-Erzähler: V.2bb.*3()חדשׁה.9. D Die Einfügung der Michal-Szene durch den Höfischen Erzähler: V.5.14.16.19–23. Viel spricht dafür, dass damit bereits die relative Chronologie zwischen den Textschichten benannt ist. Fraglich könnte das nur zwischen A und B sein; C 54
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Es ist unzutreffend, dass die Rede von einem Zelt „bewusst unpräzise“ sei und dass „[a]ller Wahrscheinlichkeit nach … die Lade in der bereits bestehenden Kultstätte Jerusalems untergebracht“ wurde (Stolz, Samuel [Anm. 51], 217). So wird später auch bei der Einweihung des Tempels Salomos berichtet, 1Kön 8,62f. Vgl. Willi-Plein, Ina, Opfer und Kult im alttestamentlichen Israel, 1993 (SBS 153), 89f. Der Titel fehlt im ganzen Pentateuch und in der gesamten Weisheitsliteratur, ist aber präsent vor allem in Lade- und Jerusalem-zentrierten Texten: 1Sam 1,3.11; 2,22; 4,4; 2Sam 6,2.18; Jes 1,9; 5,7; 6,3.5; 14,24; 51,15; Ps 24,10; 46,8; 80,8; 84,2.13; 89,9.
Die Überführung der Lade nach Jerusalem (2Sam 6)
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und D (in dieser Reihenfolge!) sind jedenfalls jünger. Wenn, wie an anderem Ort begründet,58 der Höfische Erzähler im ausgehenden 8. oder frühen 7. Jahrhundert und der Ladeerzähler nicht viel früher wirkte, gelangt man mit den Überlieferungen A und B mindestens ins 8., eher ins 9., vielleicht ins 10. Jahrhundert. Also sind historisch glaubhafte Informationen am ehesten in A und B zu suchen (was gleich näher zu prüfen ist). Zunächst aber gilt es zu betonen, dass die Schichten C und D in einem Abstand von mehr als zwei Jahrhunderten zu den geschilderten Ereignissen verfasst sind, dass es also besonders guter Gründe bedürfte, ihre Aussagen für historisch zutreffend erklären zu wollen. Wie steht es in dieser Hinsicht mit den Angaben in Schicht C? Dass die Keruben schon immer mit dem Ladekult verbunden gewesen wären und darum schon zur Davidzeit eine Rolle gespielt hätten (V.2bb), ist Rückprojektion des Ladeerzählers.59 Dass sich David vor der Lade bzw. vor dem über ihr thronenden Jhwh „gefürchtet“ habe (V.9), ist angesichts der in Schicht A geschilderten Stimmung zumindest fraglich. Nun zu Schicht D. Der Streit zwischen David und Michal (V.20–22) dürfte insgesamt eine Invention des Höfischen Erzählers sein. Darauf weist ohnehin schon, dass der Passus durchgehend aus direkter Rede besteht; es ist eine beliebte Technik von Redaktoren, die Protagonisten das sagen zu lassen, was sie selber denken.60 Ausgangspunkt ist das wohl historische Faktum, dass aus der Verbindung David–Michal kein Sohn und möglicher Thronfolger hervorgegangen ist (V.23).61 Der Höfische Erzähler ist überzeugt, dies habe an einem Zerwürfnis zwischen den beiden gelegen, das gewiss nicht durch eine Lappalie ausgelöst war, sondern durch einen Vorfall, der die Gegensätze zwischen den beiden Charakteren sowie zwischen davidischer und saulidischer Herrschaft zum Vorschein brachte. Dafür eignete sich die Ladeüberführung bestens. Immerhin war dieser Kultgegenstand schon vor Saul an die Philister verloren gegangen (1Sam 4) und erst von David zurückgeholt worden – sollte das für eine Tochter Sauls kein Anstoß sein?62 Und wenn David sich bei dem Anlass gar 58 59
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Dietrich, Frühe Königszeit (Anm. 5). Dem entspricht die Feststellung von Janowski, Bernd, Keruben und Zion. Thesen zur Entstehung der Zionstradition, in: Ders., Gottes Gegenwart in Israel, Neukirchen-Vluyn 1993, 247–280, hier 276: „Lade und Keruben … kamen erst im salomonischen Tempel … in Verbindung miteinander“. Für deuteronomistische Redaktoren vgl. z.B. Jos 23 und 1Sam 12, für den Höfischen Erzähler die Reden in 1Sam 24 und 26; hierzu im vorliegenden Band der Aufsatz: Die zweifache Verschonung Sauls durch David (1Sam 24 und 1Sam 26). Zur „diachronen Synchronisierung“ zweier Erzählungen. In den Listen der Davidsöhne in 2Sam 3,2–5; 5,13–15 wird keiner als ein Sohn Michals deklariert (wobei freilich in der zweiten Liste generell die Namen der Mütter fehlen). In diesem (politischen) Sinne deutet Gutmann, Joseph (The History of the Ark: ZAW 83 [1971] 22–30, hier 25) die heftige Reaktion Michals. Stolz (Samuel [Anm. 51], 217) wertet „Davids Nacktheit“ als typisch „kanaanäisch“, während sich Michal dem „Sittenkodex … Altisraels“ verpflichtet gefühlt habe. Auch andere vermuten bei Michal religiöse Empfindlichkeit: Porter, Joshua Roy, The Interpretation of 2 Samuel VI and Psalm CXXXII: JThS 5 [1954] 161–174; Phillips, Anthony, David’s Linen Ephod: VT 19 [1969] 485–487. Doch all diese Deutungen setzen vorschnell die Historizität der MichalSzene voraus.
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Haupt- und Nebenfiguren der Samuelbücher
noch anstößig benommen hätte? Aus anderer Quelle wusste der Höfische Erzähler von Davids Musikalität, und natürlich kannte er das Tempelorchester; von daher konnte er, dem daran lag, David als ungewöhnliche, nicht auszurechnende, seine Umgebung immer wieder verblüffende Persönlichkeit zu schildern,63 sehr wohl auf den Gedanken eines vor der Lade zur Musik „tanzenden und springenden“ David kommen.64 Die Wirkung auf die stolze Prinzessin ließ sich noch dadurch steigern, dass man ihm einen knappen Priesterschurz anzog, wie schon Samuel ihn getragen hatte (V.5.14.16). In ihrer Attacke und seiner Replik (V.19–22) konnte die Unvereinbarkeit der beiden Gestalten und ihrer Weltsichten bestens zum Ausdruck gebracht und daraus die Kinderlosigkeit erklärt werden (V.23). Wäre dies richtig, dann wäre der gedanklichen und schriftstellerischen Kreativität des Höfischen Erzählers ein Kleinod in der Davidüberlieferung zu verdanken, das seine Strahlkraft nie verloren hat.65 Wir kommen zu den älteren Textelementen in 2Sam 6, zunächst zum Bericht über die Ladeprozession (A). Daran, dass David die Lade nach Jerusalem hat bringen lassen, kann kein Zweifel sein. Ihre Anwesenheit dort und ihre Benutzung durch den König wird in verschiedenen alten Textzusammenhängen in unprätentiöser Weise bestätigt.66 Davids Nachfolger Salomo überführte sie dann in den Tempel (1Kön 8,1–13). Seit Albrecht Alt67 ist man sich eigentlich einig darüber, was David zu seiner Maßnahme bewogen haben wird: Er konnte das alte Kriegspalladium der Nordstämme, das durch die Verschleppung nach Philistäa kontaminiert und danach weitgehend in Vergessenheit geraten war, durch die öffentlichkeitswirksame Einholung in „seine“ Stadt zum Symbol religiöser und auch politischer Einheit der von ihm in Personalunion geführten Doppelmonarchie machen.68 Dass er, ein Judäer, gerade einem israelitischen Kultgegenstand so hohe Ehre zukommen ließ, war ein Akt politischer Klugheit, durch den er die Nordstämme mental an seine Herrschaft band (oder dies zumindest versuchte). Gleichzeitig mutete er auch seinen eigenen Landsleuten eine gewisse 63
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Besonders eindrücklich etwa in 2Sam 11f, wo David zuerst erschreckend rücksichtslos ist, dann erstaunlich einsichtsvoll, dann wieder – in der Szene vom Tod des Erstgeborenen Batschebas – fähig zu tiefer Trauer wie zu nüchternem Realismus. Vgl. weiter bei Dietrich, David. Herrscher mit der Harfe (Anm. 1), 201–328 („Die Gestalt Davids in Bibel und Kunst“). Flanagan, James W. (Social Transformation and Ritual in 2 Samuel 6, in: The Word of the Lord Shall Go forth, FS D.N. Freedman, Winona Lake, IN 1983, 361–372, hier 368f) versteht aufgrund angeblicher Parallelen im Enuma Elisch und im Königsritual des Tukulti-Ninurta Davids Tanz als Demutsgeste des Königs gegenüber der Gottheit. Vielleicht kannte ja der Höfische Erzähler diese Literatur? Vgl. oben Abschnitt 1. 2Sam 11,11; 15,24–29; auch 1Kön 1,38; 2,28. Alt, Albrecht, Jerusalems Aufstieg (1925), in: Ders., Kleine Schriften zur Geschichte des Volkes Israel III, München 21968, 243–257. Dieser Schritt ist nicht analogielos. McCarter, P. Kyle (The Ritual Dedication of the City of David in 2 Samuel 6, in: The Word of the Lord Shall Go forth, FS D.N. Freedman, Winona Lake, IN 1983, 273–278) weist darauf hin, dass assyrische Könige bei der Einweihung neuer Hauptstädte – Sargon II. in Dur-scharrukin und Sanherib in Ninive – den Staatsgott Assur rituell einluden und feierlich einführten, um ihrer Residenz eine religiöse Aura zu geben.
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Umstellung zu, indem er nicht nur seine Residenz aus ihrem Hauptort Hebron nach Jerusalem verlegte, sondern überdies die bisher mit ihnen selbstverständlich geteilte Verehrung des Gottes Jhwh69 auf eine neue Grundlage stellte.70 Jhwh Zebaot war der Name des Gottes über der Lade und nun des Gottes Davids. (Dass er in dem Wort „Heere, Heerscharen“ eine unverkennbar kriegerische Komponente trug, wird David recht gewesen sein.) Wie die großen religionspolitischen Linien, so sind auch viele der einzelnen Mitteilungen im Prozessionsbericht historisch plausibel. So ist ohne weiteres glaubhaft, dass David die Eliten der Nordstämme zur Installierung „ihres“ Kultsymbols in seiner Hauptstadt eingeladen hat; ob es wirklich 30.000 Mann waren, steht dahin.71 Nichts spricht gegen die Korrektheit des Ortsnamens Baale-Jehuda, auch nicht gegen den Festcharakter des Umzugs (Hornsignale, Jubelrufe). Skepsis mag man gegenüber der Angabe empfinden, dass jeweils nach sechs Schritten Tiere geschlachtet worden seien.72 Die weiteren Angaben aber leuchten vollkommen ein: dass am Ziel des Zuges ein großes Opferfest stattfand, dass der König die Anwesenden im Namen des Lade-Gottes segnete und dass zum Abschluss an jedermann (und jede Frau!) Wegzehrung verteilt wurde. Der Aufwand, der bei alledem getrieben wurde, ist beträchtlich. Eine in jedem Fall große Zahl von Menschen – die Bewohnerschaft Jerusalems, Davids Entourage (mit
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Es gibt keinen Anlass zu der Annahme, bis zum Zeitpunkt der Ladeüberführung hätte David oder hätte man in Juda Jhwh etwa nicht verehrt. Schon die Jhwh-haltigen Namen zweier in Hebron geborener Davidsöhne – Adonija und Schefatja – sprechen dagegen. Der Jahwismus südlicher Stammesgruppen wie der Keniter und der Kalibbiter ist in der Überlieferung tief verankert (z.B. Gen 4,15; Num 13f; Jos 14). Freilich mag das ein sehr anderer Jahwismus gewesen sein als derjenige der späteren biblischen Texte; mit strengem Monotheismus hatte er wohl wenig zu tun. Nach Stoebe (Das zweite Buch Samuelis [Anm. 13], 200f) könnte die Unterbringung der Lade in einem Zelt eine Konzession an den Süden gewesen sein, wo die Erinnerung an ein nomadisches Heiligtum angeblich noch lebendig war. McCarter (II Samuel [Anm. 12], 168) bemerkt: „That is, thirty units.“ In der Tat geht es bei der „Tausendschaft“ weniger um Numerik als um soziale bzw. tribale Ordnung. Vgl. de Vaux, Roland, Das Alte Testament und seine Lebensordnungen, II, Freiburg 1960, 17: Das „Heer ist genauso organisiert wie das Volk. Ordnungseinheit ist die Sippe…, die theoretisch ein Kontingent von 1000 Mann stellt (in Wirklichkeit war die Zahl viel geringer)“. Das Problem ließe sich durch ein anderes Textverständnis beheben, s. oben Anm. 48. Bleibt man bei der schwierigen Variante, erhebt sich doch die Frage, wie lange man diese Prozedur durchgehalten haben sollte. Sicher nicht von Baale-Jehuda bis Jerusalem! Vielleicht ist eine nur kurze Strecke im Blick: von der neuen Nordbegrenzung der Stadt auf dem Ofel bis zum Areal des dort neu errichteten Palasts. Von diesem sollen neuerdings bauliche Reste gefunden worden sein: Mazar, Eilat, Did I Find King David’s Palace?: BAR 32 (2006) 17–27. Über die Topographie und die Archäologie des damaligen Jerusalem unterrichten breiter B. Mazar / Y. Shiloh / H. Geva, Jerusalem. The Early Periods and the First Temple Period: NEAEHL II, 1993, 698–716, hier 699–704, sowie Cahill, Jane M., Jerusalem in the Time of the United Monarchy. The Archaeological Evidence, in: A.G. Vaughn. / A.E. Killebrew (eds.), Jerusalem in Bible and Archaeology. The First Temple Period, Leiden / Boston 2003, 15–80.
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ihren Familienangehörigen), dazu Festgäste und Pilger aus ganz Israel73 – war mit Fleisch und Brot und Kuchen zu versorgen. Das war allein logistisch eine beachtenswerte Leistung, die nicht nur erhebliche Ressourcen, sondern auch großes Organisationstalent erforderte. Kurzum, das Regime präsentierte sich den Untertanen in eindrucksvoller Manier. Wie steht es mit der Historizität der Ussa-Episode (B)? Ganz sicher gab es, nahe der (nicht mehr lokalisierbaren) „Tenne Nachons“, eine Örtlichkeit namens „Peretz Ussa“. Das in dem Namen steckende Wort „Riss“ bezeichnete ursprünglich gewiss eine topographische Eigenheit; jetzt aber bezieht es sich auf eine an dieser Stelle zu Schaden bzw. zu Tode gekommene Person namens Ussa. Dass dies ein Ladepriester war, lässt sich nicht mehr verifizieren – und noch weniger, dass die Todesursache das Berühren der Lade war. Immerhin ist es denkbar, dass das Palladium (vielleicht einschließlich zugehöriger Kultgeräte und Zeltplanen) über die lange Strecke vom philistäisch-judäischen Grenzland nach Jerusalem auf einem Wagen transportiert und dabei von Priestern begleitet wurde und dass sich dabei ein Unfall ereignete, der namentlich der Priesterschaft in Erinnerung blieb. Historisch einigermaßen sicheren Boden betritt man indes erst bei der Nachricht, die Lade sei eine Zeitlang vor den Toren Jerusalems im Haus des „Gatiters Obed-Edom“ untergebracht gewesen (V.10f). Was immer die Gründe dafür waren – ein Unfall oder ein notwendiger Zeitaufschub zur Vorbereitung des Festes oder andere Erwägungen –: Es ist und bleibt erstaunlich, dass die Überlieferung einem Ausländer, gar einem Philister,74 die Ehre zugesteht, er habe über Monate hinweg die Israel heilige Lade beherbergt und dafür den Segen des Gottes Israels empfangen.75 Aufs Ganze gesehen lässt sich also sagen, dass die Geschichte(n) in 2Sam 6 nicht Wort für Wort geschichtliche Fakten widerspiegeln, dass sie aber doch manches enthalten, das für die Rekonstruktion der Religions- und der politischen Geschichte der Davidszeit von hoher Bedeutung ist.
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LXX verwendet in V.19 die Formel „von Dan bis Beerscheba“; zumindest „von Dan bis Jerusalem“ dürfte zutreffend sein, handelte es sich bei der Lade doch um ein israelitisches Heiligtum. Aller Wahrscheinlichkeit nach handelte es sich um einen Gefolgsmann, genauer: einen Söldner Davids. Dass dieser mit der Philisterstadt Gat enge Beziehungen unterhielt, geht nicht nur aus den Erzählungen hervor, die ihn als Lehensnehmer des dortigen Königs schildern (1Sam 27; 29), sondern auch aus der Erwähnung einer 600 Mann starken Söldnertruppe, die nur aus Gatitern bestand und von dem Gatiter Ittai geführt wurde (2Sam 15,18). Die nahe liegende Annahme, dass Obed-Edom dieser Truppe angehörte, stützt wiederum die Historizität von 2Sam 6,10–12. Spätere Fromme hat dies denn doch so sehr gestört, dass sie Obed-Edom zum Leviten, Tempelmusiker und Torhüter erklärten (1Chr 15,18.21.24; 16,5); zudem wussten sie, dass Jhwhs Segen für ihn in acht Söhnen Gestalt gewann (1Chr 26,4–8).
David, Amnon und Abschalom (2Sam 13). Literarische, textliche und historische Erwägungen zu den ambivalenten Beziehungen eines Vaters zu seinen Söhnen 1.
Konflikte zwischen Vätern und Söhnen in den Samuelbüchern
Zwischen Vätern und Söhnen, so wissen wir spätestens seit Sigmund Freud, herrschen oft komplizierte Verhältnisse. Die Erzählungen der Samuelbücher sind voller Beispiele dafür. Der „Vatermord“, psychoanalytisch ein Ausdruck für das Erwachsenwerden des Jungen und sein Aufbegehren gegen den Alten, erscheint hier nicht als bloße Metapher oder als geheimer Wunschtraum, sondern als erklärte Absicht, reale Möglichkeit und konkretes Geschehen. Der Priester Eli ist höchst beunruhigt über das Treiben seiner Söhne, mit dem sie den Kult in Schilo in Misskredit bringen. Er stellt sie zur Rede: „Nicht doch, meine Söhne!“ (1Sam 2,24); und er ermahnt sie eindringlich, von ihrem Tun zu lassen. Sie aber „hörten nicht auf ihren Vater“ (2,26). Ist es Zufall, dass Eli seinen braven Zögling Samuel zweimal mit „mein Sohn“ anredet (1Sam 3,6.16)? Die tiefe Störung im Verhältnis zwischen dem Vater und seinen leiblichen Söhnen gibt Raum für den Aufbau einer neuen, geistigen Vater-Sohn-Beziehung. Am Ende wird der Ziehsohn den Vater beerben, nicht die eigenen Söhne. Diese kommen vielmehr mit dem Vater ums Leben, als Israel – angeblich aufgrund ihrer Verderbnis – gegen die Philister eine schwere Niederlage erleidet (1Sam 4).1 Ganz ähnlich ergeht es später Samuel mit seinen beiden Söhnen. Er will sie zu seinen Nachfolgern aufbauen, doch sie versagen kläglich. Waren die EliSöhne frevelhafte Priester, so sind die Samuel-Söhne bestechliche Richter (1Sam 8,1–3). Damals hatte ganz Israel darunter zu leiden, dass die Familie an der Spitze versagte. Jetzt soll sich das nicht wiederholen; darum kommen die Ältesten zu Samuel und verlangen einen König (1Sam 8,4f). Doch der Wechsel der Herrschaftsform wird in diesem Punkt keine Verbesserung bringen. Denn nicht nur in Priester- und in Richterfamilien gibt es Differenzen und Brüche zwischen Vätern und Söhnen, sondern auch in Königsfamilien. 1
Die literargeschichtlichen Verhältnisse in 1Sam 2–4 sind kompliziert. Aller Wahrscheinlichkeit nach gab es ursprünglich eine eigenständige Erzählung von den Eliden und der Lade (1Sam *2; 4), die später mit einer Erzählreihe über Samuel (1Sam 1; 3) verflochten wurde. 1Sam 4 liegt eine nochmals ältere Katastrophenerzählung zugrunde, in der von der Niederlage Israels, dem Verlust der heiligen Lade und dem Tod der Familie Elis berichtet wurde, ohne bereits den Eliden die Schuld an dem Debakel zu geben. Vgl. Dietrich, Walter, Samuel, 2005 bzw. 2006 (BKAT 8.1, Lief. 2.3).
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König Saul hat mehrere Söhne, von denen in der biblischen Literatur der Älteste, Jonatan, eine herausgehobene Rolle spielt. Zwischen Vater und Sohn kommt es mehrfach zu schweren Konflikten (1Sam 14; 19,25–34). In das Spannungsfeld zwischen beiden tritt David. Saul „liebt“ seinen jungen Hofmusikanten und Waffenträger (1Sam 16,21).2 Hier freilich komplizieren sich die Verhältnisse. David wird auch von Jonatan und dessen Schwester Michal und noch dazu von ganz Israel „geliebt“ (1Sam 18,3.20.28). Daraufhin beginnt ihn Saul zu „fürchten“3 und wird sein „Feind“ (1Sam 18,29). David flieht vor Sauls Nachstellungen. Die beiden Kontrahenten begegnen sich noch zweimal, wobei jeweils aus dem Verfolger der Verfolgte wird (1Sam 24; 26). Obwohl es also um Leben und Tod geht, reden sich die beiden auffälligerweise mit „mein Vater“ (1Sam 24,12) und „mein Sohn“ an (1Sam 24,17; 26,17.21.25).4 Am Ende jedoch ist es Jonatan, der an der Seite des Vaters gegen die Philister fällt, während David – beunruhigenderweise – im Dienst der Philister steht. Die komplexen Vater-Sohn-Beziehungen setzen sich bei David und seinen leiblichen Söhnen fort. Vier von ihnen – sein Erstgeborener Amnon, der Zweite, Abschalom, und der Dritte, Adonija, dazu der namenlose Erstgeborene Batschebas – sterben, ohne dass man sagen könnte, den Vater träfe an ihrem Tod keine Mitschuld. Umgekehrt machen mindestens zwei von ihnen Anstalten, ihn schon zu seinen Lebzeiten zu beerben; der eine, Abschalom, trachtet ihm sogar dezidiert nach dem Leben, verliert aber stattdessen sein eigenes. Zuvor hat er schon seinen älteren Bruder, Amnon, ums Leben gebracht. Doch dann beerbt nicht der Dritte, Adonija, den Vater, sondern der Zehnte in der Reihe, Salomo – allerdings unter etwas obskuren Umständen. Der Vater lebt noch, als er die Macht ergreift; angeblich hat er ihm sogar tatkräftig dabei geholfen. Dann stirbt er – und kurz nach ihm sein an sich erbberechtigter dritter Sohn: auf Befehl Salomos (1Kön 1f). Das restliche Dutzend an David-Söhnen5 hat in der biblischen Überlieferung kaum tiefere Spuren hinterlassen.6 Wir nehmen im Folgenden gezielt den Konflikt zwischen David, Amnon und Abschalom in den Blick, wie er in 2Sam 13 geschildert wird. Der literarisch meisterhaft gestaltete Text (Abschnitt 2) stellt hier und dort vor schwierige text2 3 4
5 6
Zum Begriff אהבvgl. Thompson, John A., The Significance of the Verb Love in the David-Jonathan Narratives in 1 Samuel: VT 24 (1974) 334–338. Hier begegnet die auffällige Schreibweise לרא, für die zwei Handschriften aber das gängige ליראbieten. Der Schriftsteller, der in diesen Passagen am Werk ist, dürfte der vor-deuteronomistische Verfasser eines großen „Höfischen Erzählwerks über die Frühe Königszeit“ sein, vgl. Dietrich, Walter, „Die zweifache Verschonung Sauls durch David (I Sam 24 und I Sam 26). Zur ‚diachronen Synchronisierung’ zweier Erzählungen“ [wieder abgedruckt in diesem Band]. Vgl. die Listen der siebzehn Davidsöhne in 2Sam 3,2–5; 5,13–16. Eine nicht näher benannte Reihe von Davidsöhnen kommt in 2Sam 13,29–36 als mögliche Mordopfer ihres Bruders Abschalom, in 1Kön 1 als Unterstützer der Thronansprüche ihres Bruders Adonija in den Blick. Einer davon könnte bei dem tatsächlichen Thronfolger, Salomo, Gnade gefunden haben, figurieren doch in der Ministerliste Salomos zwei Söhne eines gewissen Natan (1Kön 4,5); dabei könnte es sich um einen Bruder Salomos (2Sam 5,14), es könnte sich aber auch um den gleichnamigen Propheten gehandelt haben, der im Thronfolgekampf dezidiert auf Seiten Salomos stand (1Kön 1,10–27).
David, Amnon und Abschalom (2Sam 13)
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liche Probleme (Abschnitte 3 und 4) und eröffnet interessante Einblicke in die Geschiche der damaligen Zeit (Abschnitt 5).
2.
Der David-Batscheba- und der Amnon-Tamar-Skandal
Nach der Darstellung der Samuelbücher haben alle Probleme Davids mit seinen Söhnen ihren Ursprung in seiner Affäre mit Batscheba.7 Der Bericht darüber in 2Sam 11 ist, literarisch gesehen, ein Schlüsseltext. Bis heute streiten sich die Ausleger, wie in ihm die Rollen verteilt sind. Die einen (übrigens allesamt Männer!) meinen, Batscheba habe sich David bewusst beim Baden gezeigt und ihn verführt,8 die andern (nicht zuletzt Frauen) beschuldigen David, wissentlich und gewaltsam in eine fremde Ehe eingebrochen zu sein.9 Die Alternative ist schwer zu entscheiden, weil der Text in dieser Hinsicht bemerkenswert ambivalent ist und verschiedene Deutungen oder zumindest Assoziationen zu erlauben, ja fast zu provozieren scheint. Die Lesenden sollen – so wie es die Maler aller Zeiten getan haben – selbst ihren Standort in der Geschichte suchen und ihre eigene Perspektive auf die handelnden Figuren bestimmen.10 Untergründig freilich schränken die Erzähler die Deutungsmöglichkeiten nach und nach ein, und womöglich fühlt sich der Leser (vorwiegend der männliche) alsbald dabei ertappt, die falsche Perspektive gewählt zu haben. Dass David Urija aus dem Weg räumen lässt und wie er das tut: das ist klar verwerflich. Wo immer in der Weltliteratur das Motiv des „Uriasbriefs“ auftaucht,11 da dient es 7
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Das sahen bereits die rabbinischen Ausleger, die die vier zu Tode gekommenen Davidsöhne in Verbindung brachten mit seinem selbst gefällten Urteilsspruch gegen den Reichen aus Natans Parabel: „Vierfachen Ersatz soll er leisten“ (2Sam 12,6). Freilich besteht die ‘materielle’ Ersatzleistung Davids auf der Erzählebene zunächst in der Wegnahme seiner Nebenfrauen durch Abschalom (2Sam 12,11; 17,21f; 20,3), während das von ihm gefällte Todesurteil mit dem Tod des einen, des erstgeborenen Sohnes der Batscheba abgegolten wurde (2Sam 12,13–23). Heym, Stefan, Der König David Bericht, München 1972, 164–166. – Nicol, George G., Bathsheba. A Clever Woman?: ET 99 (1988) 360–363. – Nicol, George G., The Alleged Rape of Bathsheba. Some Observations on Ambiguity in Biblical Narratives: JSOT 73 (1997) 43–54. – Dallmeyer, Hans-Jürgen (und Dietrich, Walter), David – ein Königsweg. Psychoanalytisch-theologischer Dialog über einen biblischen Entwicklungsroman, Göttingen 2002, 173–178. Lindgren, Torgny, Bathseba, München/Wien 1987, 7–13. – Exum, J. Cheryl, Fragmented Women. Feminist (Sub)versions of Biblical Narrative, 1993 (JSOT.S 163), 177–201. – Exum, J. Cheryl, Bathsheba Plottet, Shot, and Painted: Semeia 74 (1996) 47–73. – Dallmeyer, Hans-Jürgen/Dietrich, Walter, David – ein Königsweg. Psychoanalytisch-theologischer Dialog über einen biblischen Entwicklungsroman, Göttingen 2002, 183–187. Vgl. Dietrich, Walter, David. Der Herrscher mit der Harfe, Leipzig 2006 (Biblische Gestalten 14), 241–259. Es ist weit verbreitet, vgl. Naumann, Thomas, David als exemplarischer König. Der Fall Urijas (2 Sam. 11) vor dem Hintergrund der altorientalischen Erzähltradition, in: A. de Pury / T. Römer (Hg.), Die sogenannte Thronfolgegeschichte Davids. Neue Einsichten und Anfragen, 2000 (OBO 176), 136–167.
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Haupt- und Nebenfiguren der Samuelbücher
dazu, einen Machthaber als besonders skrupellos und hinterhältig zu charakterisieren. David – der literarische David, wohlgemerkt – ist in diesem Fall also klar ein Mörder.12 Ebenso klar ist er ein Ehebrecher. Dieser beiden Vergehen wird er ja auch von Natan beschuldigt und bekennt er sich vor diesem schuldig. Er entschuldigt sich nicht mit einem Hinweis auf ein wie auch immer geartetes Verhalten Batschebas. Darum ist auch nicht, was Batscheba, sondern „was David getan hat, schlecht in den Augen Jhwhs“ (2Sam 11,27), ist schlecht also auch in den Augen der Erzähler – und hat schlecht zu sein auch in den Augen der Leser. Eine (Mit-)Schuld Batschebas steht nicht zur Debatte. Was dagegen vorerst aber noch offen bleibt, ist, ob David sich nicht nur eines Mordes und eines Ehebruchs, sondern auch einer Vergewaltigung schuldig gemacht hat; ob er also gegen deren Willen bei Batscheba „lag“ (2Sam 11,4). Der Text sagt in dieser Hinsicht nichts. Einzig David ist Subjekt; was Batscheba denkt oder sagt oder tut, bleibt unerwähnt. Das wird bei Tamar anders sein. Von ihr berichten die Erzähler, dass sie sich gegen ihren zudringlichen Halbbruder Amnon zur Wehr gesetzt habe: nicht mit Taten zwar (dazu war sie vermutlich nicht in der Lage), aber mit Worten, mit goldenen Worten, die nicht Abscheu signalisierten, sondern ihm einen Weg zur Legalisierung seiner Liebeswünsche wiesen (2Sam 13,12f). Nichts dergleichen verlautet von Batscheba. War sie also einverstanden damit, dass David sich zu ihr „legte“? Doch eben auch dies wird nicht gesagt. Der Text lässt offen, ob Batscheba den Bruch ihrer Ehe willig, willenlos oder widerwillig hinnahm. Doch aus der Vieldeutigkeit – die insbesondere Männer vielsagend finden mögen – wird im Fortgang der Erzählung Eindeutigkeit. Es gibt feine sprachliche Fäden von der David-Batscheba- über die DavidNatan- zur Amnon-Tamar-Geschichte (2Sam 13). Begonnen hatte alles damit, dass David unruhig auf seinem „Lager“ lag (משׁכב,11,2), aufstand, Bat-Scheba sah – das בתin ihrem Namen ist wichtig! – und nach ihr „schickte“ (שׁלח, 11,4): sie „kam hinein“ zu ihm (בוא אל, 11,4), er „nahm“ sie (לקח, 11,4)13 und „lag“ bei ihr (שׁכב, 11,4). Dann wurde Urija nach Jerusalem beordert, durfte mit David „essen“ ( אכלin 2Sam 11,11.1314) und „trinken“ ( שׁתהin 11,11.13), „legte“ sich aber partout nicht dorthin, wo David ihn haben wollte: zu seiner Frau ( שׁכבin 11,9.11.13). Darauf musste er sterben (מות, 11,15.17.21.24.26). Danach kommt Natan und erzählt seine Parabel: Ein armer Mann besaß ein einziges Schäfchen. Dieses „aß von seinem Bissen“ ()אכל, „trank aus seinem Becher“ ()שׁתה, „lag auf seinem Schoß“ ( )שׁכבund war ihm „wie eine Tochter“ (בת, alles 2Sam 12,3). Da „kam“ der reiche Nachbar (בוא, 12,4) und „nahm“ das Schäfchen des Armen weg (לקח, 12,4), um es zu schlachten und seinem Gast 12
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Darauf, dass etwa Batscheba hinter diesem Mord steckte, wie Heym (König David Bericht, 175–177) zu wissen meint, gibt die biblische Erzählung nicht den leisesten Hinweis. Schon dies lässt aufhorchen; es verlautet ja nichts davon, dass Batscheba etwas „gegeben“ oder von David gewünscht hätte. Gegen diese nahe liegende Erwägung wird indes gern eingewandt, dass „eine Frau nehmen“ oft nichts anderes bedeutet als „eine Frau wählen, eine Heirat eingehen“ (z.B. Gen 11,29). Vgl. auch das „Fressen“ des Schwerts, 11,25.
David, Amnon und Abschalom (2Sam 13)
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vorzusetzen. David, der dies für einen realen Rechtsfall hielt, urteilte, der Reiche müsse „sterben“ (מות, 12,5); in Wahrheit hätte er sterben müssen, doch „stirbt“ an seiner Stelle das Kind aus dem Ehebruch ( מותin 12,14.18.19.21). Diese Verbindungen zwischen 2Sam 12 und 2Sam 11 sind längst beobachtet worden; in ihnen drückt sich ja gerade die Hintersinnigkeit der Parabel aus, die David dazu bringt, über sich selbst das Urteil zu sprechen, ohne dass er es merkt. Nun kehren aber einige der genannten Begriffe auch in der nächsten, der Amnon-Tamar-Geschichte wieder. Der liebeskranke Prinz behauptet, er könne nur wieder gesunden, wenn er Speise von Tamars Hand zu „essen“ bekomme ( אכלin 13,5, vgl. 13,9.11). Der besorgte Vater „schickt“ nach der Prinzessin (שׁלח, 13,7), sie „kommt herein“ zu ihrem Halbbruder (בוא אל, 13,10.11), er „liegt“ in seinem „Bett“ und schließlich bei ihr (שׁכב/ משׁכבin 13,5.6.8.11.14). Danach ist die „Königstochter“ ( בתbzw. בנותin 13,18) zerstört. Ihr Vater ist über den Vorfall „außer sich“ ( ויחר לו מאד13,21) – so wie er seinerzeit „zornig“ gewesen war über die gemeine Tat des Reichen in Natans Parabel (ויחר אף דוד, 12,5).15 Einige Zeit später dann „schickt“ er Amnon zu Abschaloms Fest (שׁלח, 13,27), wo er „sterben“ muss (מות/ המיתin 13,28.32.33.39).16 Abgründe tun sich auf. Konnte, musste David nicht ahnen, was in Amnons Haus und was auf Abschaloms Fest passieren würde? So, wie die Erzähler es darstellen, war er beide Male vollkommen überrascht, als das Unglück eingetreten war.17 Wie ist das möglich? Sein Berater Jonadab hatte dem Antlitz Abschaloms die ganze Zeit angesehen, dass er gegen Amnon etwas im Schilde führte (13,32) – warum war dem Vater dies entgangen? Das Nacheinander der beiden Skandalgeschichten 2Sam 11f und 2Sam 13 bietet eine Erklärung dafür: Der durch die Affäre um Batscheba und Urija belastete David war nicht in der Lage zu sehen, dass sich wieder ein ganz ähnliches Drama anbahnte. Wieder handelte es sich um eine Dreiecksgeschichte zwischen zwei Männern und einer Frau, nur dass die Rollen etwas anders besetzt waren und die Geschichte anders endete. Wieder griff ein Mann nach einer Frau, die ihm verboten war (diesmal nicht, weil sie verheiratet, sondern weil sie eine Jungfrau war); wieder gab es einen anderen Mann, unter dessen Schutz die Frau stand (diesmal nicht der Ehemann, sondern der Vollbruder); wieder musste einer der beiden Männer das Leben lassen (diesmal nicht der rechtmäßige Beschützer der Frau, sondern ihr Vergewaltiger). Die Parallelität der Erzählungen erlaubt den Rückschluss, dass David wie 15
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Shimon Bar-Efrat hat mich darauf aufmerksam gemacht, dass ein Bedeutungsunterschied bestehe zwischen “ חרה לund ;חרה אףnur das Zweite meine „zürnen“, das Erste hingegen beschreibe lediglich eine heftige Gemütsbewegung, in 2Sam 6,8 etwa „traurig sein“. Mir scheint, das Bedeutungsspektrum sei weiter zu fassen: von „traurig“ über „enttäuscht“, „entsetzt“, „empört“, „außer sich“ bis „wütend sein“. Hier ist nicht der Ort für eine ausführliche Interpretation der Erzählung 2Sam 13, die allerdings ungemein lohnend ist. Vgl. dazu namentlich die Analysen von Fokkelman, Jan P., Narrative Art and Poetry in the Books of Samuel, vol. 1: King David, Assen 1981, 99–125, und Müllner, Ilse, Gewalt im Hause Davids. Die Erzählung von Tamar und Amnon (2 Sam 13,1–22), 1997 (HBS 13), 143–334. Dies wird jeweils in direkter Erzählerrede zum Ausdruck gebracht: David war außer sich über Amnon (13,21), und er zerriss vor Schreck und Trauer seine Kleider, als das Gerücht vom Tod der Königssöhne zu ihm drang (13,31).
Haupt- und Nebenfiguren der Samuelbücher
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Amnon ein Vergewaltiger war, dass jedenfalls die Erzähler dies dachten. Auf diese Weise erklären sie – nicht tiefenpsychologisch geschult, aber mit feinem psychologischem Gespür –, warum David sich so ahnungslos und ungeschickt verhielt, als es zwischen seinen Kindern zum Konflikt kam: Ein Mann, der selber Vergewaltiger und Mörder war, war kaum prädestiniert, anderen beim Vergewaltigen und Morden in den Arm zu fallen. Man muss nicht, darf nicht einmal unterstellen, dass er insgeheim einverstanden gewesen wäre mit der Liebesbzw. Rachgier seiner Söhne und ihnen deshalb etwa ihre Opfer in die Hände gespielt habe; derlei deutet der Text mit nichts an. Wohl aber gibt er zu verstehen, dass und warum David blind war für die Gefahren, die sich da unter seinen Augen anbahnten: Er selbst war den gleichen Gefahren erlegen. Dabei war er allerdings – dies möge nicht als Zynismus aufgefasst werden – cleverer und erfolgreicher als seine Söhne, sofern er die begehrte Frau dauerhaft für sich zu gewinnen und den Nebenbuhler auf raffinierte Weise auszuschalten verstand. Als seine Verbrechen aber aufgedeckt wurden, da tat er Buße, wie dies kaum je von einem Herrscher berichtet worden ist. Amnon dagegen tat alles, um sowohl Tamar als auch Abschalom gegen sich aufzubringen, und tat nichts, um dessen absehbarer Rache zu entgehen; Abschalom wiederum tat nichts, um die geschändete Schwester in ein ehrbares Leben zurückzuführen und den Mord an seinem Bruder zu verschleiern. Erst recht wird von keinem der beiden berichtet, dass sie auch nur ein Quentchen Reue gezeigt hätten. So blieben die Söhne in der Sünde wie in der Buße weit unter dem Niveau des Vaters.
3.
Davids Reaktion auf Amnons Untat
Wenn also David – noch einmal sei betont: der literarische David – aus den genannten Gründen die Untaten seiner beiden ältesten Söhne schwerlich verhindern konnte, hätte er sie dann nicht wenigstens im Nachhinein ahnden müssen? Denn auf den ersten Blick vermittelt die Erzählung den Eindruck, als sei der König in beiden Fällen auch post festum auffällig untätig geblieben. Nun sind freilich die beiden Stellen, die für die Beurteilung seines Verhaltens besonders wichtig sind, textlich recht schwierig. Sie sollen darum einer näheren Untersuchung unterzogen werden. Wie David auf Amnons Schandtat reagierte, darüber gibt es mindestens zwei verschiedene Textversionen. 2Sam 13,21b lautet in der LXX-Vorlage:18
כי אהבו כי בכורו הוא
in 4QSama: im masoretischen Text:
… …כי בכורו הוא ---
18
ולא עצב את־רוח אמנון בנו … ---
ויחר לו מאד … ויחר לו מאד
Der griechische Text, der oben ins Hebräische rückübersetzt ist, lautet: kai ouk eluphsen to pneuma Amnwn tou uiou autou oti hgapa auton oti prwtotokoj autou hn.
David, Amnon und Abschalom (2Sam 13)
213
Wir betrachten die einzelnen Elemente dieses Passus näher: Unstrittig zwischen den Versionen (wenn auch in 4QSama nicht direkt bezeugt19) ist der Satz: „David war sehr ungehalten über ihn [Amnon]“.20 Dies ist, narratologisch gesprochen, unmittelbare Erzählerrede. Die Aussage wird nicht einer Erzählfigur in den Mund gelegt. Es wird auch nicht davon erzählt, dass David, als er von Amnons Tat erfuhr, dieses oder jenes gesagt oder getan habe (woraus dann der Leser auf die dahinter stehende Absicht oder Haltung zu schließen hätte). Vielmehr wird klar und autoritativ festgestellt: David war ungehalten. Im masoretischen Text steht nicht mehr als das.21 Welchen Sinn hat diese Mitteilung? Sie wehrt in erster Linie dem Gedanken, den auch wir schon gestreift haben: dass David Amnons Handlung etwa für verständlich gehalten, dass er womöglich gar im Wissen um das, was geschehen würde, das arme Mädchen zu seinem Vergewaltiger „geschickt“ hätte. Diese Art übler Männerkumpanei gab es zwischen David und Amnon nicht.22 Vielmehr war der Vater überrascht23 und entsetzt über das, was sein Sohn angerichtet hatte; weder hatte er es vorausgesehen noch billigte er es nachträglich. Der Satz dient also der Ehrenrettung des Königs. Den Makel freilich, dass er an dem Geschehenen ohne es zu wollen und indirekt eine Mitverantwortung trägt, wird dadurch nicht von David genommen. LXX und 4QSama haben gemeinsam einen weiteren Satz: „[David li]ebte ihn, weil er sein Erstgebore[ner war]“.24 Auch diese Aussage wehrt einen Gedanken ab, den wir schon gestreift haben: David wird Amnon später an das Fest Abschaloms und damit faktisch in den Tod „schicken“ (2Sam 13,27). Sollte dies etwa eine klandestine Art der Bestrafung gewesen sein: der König, der als einziger das Recht und die Macht hätte, das Verbrechen eines Königssohnes zu ahnden, möchte dies nicht offen tun, sondern liefert den Täter der Rache seines Bruders aus? Bedenkt man, wie Urija zu Tode gekommen ist, erscheint eine solche Annahme nicht von vornherein als abwegig. Sie wäre aber widerlegt, wenn zuträfe, was hier (übrigens wieder in autoritativer Erzählerrede!) gesagt ist: David „liebte“ Amnon – also kann er ihn nicht seinem Mörder ans Messer geliefert haben. Die Aussage ist darüber hinaus von erheblicher Bedeutung für das Davidbild der Samuelbücher. In der Sekundärliteratur ist gelegentlich Ver19
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24
Vgl. die Wiedergabe bei Cross, Frank Moore u.a., Qumran Cave 4 XII. 1-2 Samuel, 2005 (DJD XVII), 147. Dort wird der Text zur vollen Länge der LXX-Version (bzw. ihrer hebräischen Vorlage) aufgefüllt. Zur Bedeutung von “ חרה לs. oben Anm. 15. Über das textkritische Verhältnis zwischen dieser kurzen und der längeren Fassung ist weiter unten noch zu reflektieren. In Am 2,7 scheint derlei angedeutet zu sein: „Der Mann und sein Vater gehen zum Mädchen“. Zur Interpretation vgl. Wolff, Hans Walter, Dodekapropheton 2. Joel und Amos, 2 1975 (BKAT 14/2), 202f. Laut van Dijk-Hemmes, Fokkelien (Tamar and the Limits of Patriarchy. Between Rape and Seduction. On 2 Samuel and Genesis 38, in: Dies., The Double Voice of Her Desire, Leiden 2004, 68–88) hätte Amnon David seine wahren Absichten klar zu erkennen gegeben, als er davon sprach, dass Tamar ihm „ לבבותHerzkuchen“ – angeblich “love cakes” – zubereiten sollte (13,6); dieser Wunsch bzw. diese Formulierung hätte David alles sagen müssen. Einer solchen Deutung widerspricht 13,21. Die Klammern deuten den fragmentarischen Erhaltungszustand in 4QSama an.
214
Haupt- und Nebenfiguren der Samuelbücher
wunderung darüber geäußert worden, dass David immer wieder als das Objekt von Liebe erscheine,25 nie aber als deren Subjekt; man meinte daraus auf eine Art Gefühlskälte bei ihm schließen zu können.26 Doch das ist vorschnell. Schon in Davids Klagegesang um Jonatan muss man den Satz פלאתה אהבתך לי מאהבת ( נשׁים2Sam 1,26b) nicht, wie es üblich ist, wiedergeben mit „Deine Liebe war mir kostbarer als Frauenliebe“; ebenso möglich wäre die Wiedergabe: „Die Liebe zu dir war mir kostbarer als die Liebe zu Frauen“.27 Ein klareres Zeugnis für Davids Liebesfähigkeit legt in 2Sam 19,7, wenn auch widerwillig, der General Joab ab; er hält nämlich dem König, der den Tod Abschaloms beweint, vor, dass er „Liebe“ empfinde für seine „Hasser“ (d.h. für Abschalom) und die hasse, die ihn liebten (d.h. seine Truppen, die für ihn gesiegt haben). Unsere Stelle wäre ein weiterer Beleg dieser Art: David „liebte“ Amnon. Man darf die Bedeutung des hebräischen Begriffs אהב/ אהבהnicht auf das Emotional-Erotische einengen; er enthält auch Konnotationen wie „Achtung, Ergebenheit, Loyalität“28. Darum kann es auch ein Grund ( )כיfür Davids Liebe sein, dass Amnon sein Erstgeborener ist. Denn an ihn, den Kronprinzen, knüpfen sich Empfindungen und Erwartungen, die über das Persönliche, über eine zärtliche Vater-SohnBeziehung, weit hinausgehen. Doch nun hat ausgerechnet der Erstgeborene des Königs, mit Tamar zu reden, eine „Torheit in Israel“ begangen (2Sam 13,12), d.h. er hat sich selbst für das Königsamt disqualifiziert. Damit hat er nicht nur seine eigene Zukunft und den Frieden im Königshaus, sondern das dynastische Prinzip und die Stabilität des Staates in Gefahr gebracht. Wie sollte der König darüber nicht „ungehalten“ sein? In der Textfassung der Septuaginta29 kommt noch ein dritter Satz hinzu: „David war sehr ungehalten über ihn. Und30 nicht kränkte er den Geist seines Sohnes Amnon; denn er liebte ihn, weil er sein Erstgeborener war.“ Was in der Fassung von MT einfach durch Schweigen angedeutet ist, kommt hier klarer zum Ausdruck: David schritt gegen Amnon nicht ein. Die Formulierung ist auffällig: kai ouk eluphsen to pneuma Amnwn tou uiou autou (hebräisch vermutlich: עצב את־רוח אמנון בנו31 )ולא. Namentlich das Wort רוחüberrascht. Offenbar soll es darauf hinweisen, dass es dem König um die Vermeidung nicht etwa
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Vgl. אהב/ אהבהin 1Sam 16,21; 18,1.3.16.20.22.28; 20,17. Exum, J. Cheryl, Tragedy and Biblical Narrative. Arrows of the Almighty, Cambridge 1992, 73. Vorsichtig abwägend: Naumann, Thomas, “David und die Liebe”, in: W. Dietrich und H. Herkommer (Hg.), König David – biblische Schlüsselfigur und europäische Leitgestalt, Fribourg / Stuttgart 2003, 51–83, bes. 55–60. Im einen Fall zeigte das Suffix in אהבתךeinen Genetivus possessivus, im anderen einen Genetivus obiectivus an. Vgl. Thompson, VT 24 (oben Anm. 2). Vielleicht ist auch die Fassung von 4QSama nach ihr zu ergänzen, s. oben Anm. 19. Dies ist sicher ein waw adversativum. So mit McCarter, P. Kyle, II Samuel, 1984 (AncB 9), 319, der für dieses Verb auf 1Kön 1,6 verweist. Freilich lautet das dort so wiedergegebene griechische Verb apokwluw, „abhalten, abweisen“. Das an unserer Stelle verwendete lupew bedeutet hingegen: „betrüben, wehtun, verletzen“. Man muss an obiger Rekonstruktion trotzdem nicht zweifeln, weil das hebräische עצבdie Bedeutungen beider griechischer Verben umfasst.
David, Amnon und Abschalom (2Sam 13)
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einer äußeren Bestrafung, sondern einer inneren Verletzung seines Sohnes32 ging. Worin hätte diese bestehen können? Nun, das Mindeste, was David hätte unternehmen können, wäre gewesen, dass er Amnon zu sich zitiert und ihm die Verwerflichkeit und die möglichen Folgen seines Tuns aufgezeigt hätte; daran hätten sich weitere Vorhaltungen, Verwarnungen und Sanktionen verschiedenster Art anschließen können. Was hätte Amnon daraus entnommen? Dass sein Vater von ihm tief enttäuscht und mit ihm hochgradig unzufrieden, eben „ungehalten“ war und dass letztlich seine, Amnons, Stellung als Erbbrinz und seine Eignung für das Königsamt in Frage stand.33 Dass dies eine schwere „Kränkung“ oder „Verletzung“ des „Geistes“ Amnons gewesen wäre, liegt auf der Hand. Hier gilt es zusätzlich zu bedenken, was für ein Bild die vorangehende Erzählung von Amnon gezeichnet hat: Er entbrennt in Liebe zu seiner hübschen Halbschwester Tamar; derlei kann passieren, ist aber bei einem Prinzen, der auch in Liebesdingen einen weiteren Horizont haben könnte als den seiner Familie, immerhin erstaunlich. Er wird krank vor Liebe; auch das ist verständlich, auch wenn es nicht gerade von Tatkraft und Einfallsreichtum zeugt. Er lässt sich von Jonadab beraten, wie er dem Objekt seiner Sehnsucht näher kommen kann; was immer die Absichten dieses undurchsichtigen Beraters gewesen sein mögen, der Prinz hätte merken müssen, dass er selbst in eine unkontrollierbare Situation zu geraten drohte. Er schafft es, den Vater und die Schwester zu täuschen, bis er ihrer habhaft werden kann; das deutet vielleicht auf eine gewisse Geschicklichkeit, eher wohl auf Verschlagenheit. Er lässt sich durch noch so kluge Worte Tamars von seiner sexuellen Gier nicht ablenken und vergewaltigt das Mädchen; das heißt, er ist unbeeinflussbar in seinen inferioren Absichten und brutal in deren Umsetzung. Er hasst sie gleich danach und wirft sie – wiederum trotz ihrer klugen Widerrede – aus dem Haus; damit erweist er sich als purer Affektmensch, egoistisch, bindungsunfähig und obendrein unbedacht. Er unternimmt nach seiner Tat nichts, was die Fähigkeit zur Einsicht oder den Willen zu Wiedergutmachung verriete, will offenbar einfach Gras über die Sache wachsen lassen und läuft am Ende seinem rachsüchtigen Bruder geradeswegs ins Messer. Kurzum: Amnon wirkt selbstbezogen und eitel, er verhält sich berechnend und brutal, in Wahrheit aber ist er unsicher und unreif und überdies sehr einfältig. Wie hätte David mit einem solchen Menschen über das Vorgefallene und die absehbaren Folgen ernsthaft reden sollen? Er hätte dessen „Geist“ damit gewiss tief verletzt – und das wollte er nicht; denn immerhin war Amnon sein „Sohn“ und noch dazu der „Erstgeborene“, dem er „Liebe“ schuldete. Es deutet sich hier ein geradezu tragisch zu nennender innerer Konflikt an: David müsste gegen Amnon intervenieren, aber er kann es nicht. Amnon wird zufrieden gewesen sein – bis Abschalom zuschlug. Abschalom aber wird dem Vater gram gewesen sein und gerade wegen dessen Untätigkeit selbst auf Rache gesonnen haben. So wurde der Vater schuldlos schuldig an dem Verhängnis, das sich jetzt Bahn brach. 32 33
Die Beifügung der Apposition tou uiou autou, die ja in der Erzählung keinen Neuigkeitswert hat, verstärkt die vermutete Intention. Insofern ist der nachfolgende Hinweis auf den Erstgeborenen-Status Amnons vollkommen angemessen.
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Haupt- und Nebenfiguren der Samuelbücher
Es bleibt noch die Frage zu beantworten, welche Textfassung von 2Sam 13,21b die ursprüngliche ist. Nach der Regel lectio brevior potior wäre MT vorzuziehen. Doch vom Inhalt her ist auch die Langfassung von LXX (und 4QSama) sinnvoll – und mehr als das, setzt sie doch über die MT-Fassung hinaus Bedeutungsgehalte frei, die sich bestens in den engeren und weiteren Kontext fügen: David bringt seinem Erstgeborenen „Liebe“ entgegen und scheut sich, ihn zu „verletzen“: das ist der Stoff, aus dem die Daviderzählungen gerade des 2. Samuelbuches gemacht sind. Es gibt auch eine einfache formale Erklärung für die mögliche Textauslassung in MT: Das Auge eines Abschreibers glitt von dem ולאam Anfang des fraglichen Passus („Und nicht kränkte er…“) zu dem ולאam Beginn von 13,22 („Und nicht redete Abschalom mit Amnon…“): eine klassische Haplographie aufgrund von Homoioarkton.34 Dabei musste dieser und mussten spätere Abschreiber des MT gar nicht stutzig werden. Denn der Abschreibfehler generierte, wie gezeigt, einen insofern durchaus sinnvollen Text, als er jedenfalls den Gedanken an eine Verwicklung Davids in die vorausgegangene Vergewaltigung und in den nachfolgenden Brudermord ausschloss. Warum David nicht aktiv gegen Amnon vorging, bleibt im MT freilich unerklärt – es sei denn, man sähe in dem aufgewiesenen inneren Zusammenhang von 2Sam 11f und 2Sam 1335 eine hinreichende Erklärung.
4.
Davids Reaktion auf Abschaloms Untat
Nach dem Mord an seinem Halbbruder flieht Abschalom „zu Talmai ben Ammihur, dem König von Geschur“ (2Sam 13,37).36 Die Situation ist durchaus brisant. Nachdem Amnon tot ist, ist Abschalom faktisch der Kronprinz.37 Stieße David jetzt etwas zu, hätte ein Mann Anspruch auf den Thron, der den Ruch nicht nur des Brudermörders, sondern eines Landesverräters an sich trägt; denn immerhin hält er sich im benachbarten Ausland auf und ist Enkel des dortigen Königs. Juda und Israel unter Geschurs Szepter – ein Gedanke, der nicht nur David schwer erträglich erschienen sein muss. Lag nicht sogar der Verdacht nahe, Talmai habe bei diesem Drama äußerst geschickt und von langer Hand Regie geführt? Nach der biblischen Darstellung reagierte David auf diese heikle Situation – überhaupt nicht! „Abschalom floh und ging nach Geschur, und er war dort drei 34
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So Barthélemy, Dominique, La Qualité du Texte Massorétique de Samuel, in: E. Tov (ed.), The Hebrew and Greek Texts of Samuel, 1980 (Proceedings IOSCS), 1–44, hier 3; McCarter, II Samuel (s. Anm. 31), 319f; Cross, Qumran Cave IV (s. Anm. 19), 419. Siehe Abschnitt 2. Einige Versionen haben den Vatersnamen „Ammihud“. Ohne die Nennung der beiden Königsnamen wird die Nachricht von Abschaloms Flucht in 13,38 noch einmal wiederholt: vermutlich als redaktionelles Bindeglied zu den folgenden Nachrichten. Nach der ersten der beiden Listen von David-Söhnen hat es zwischen diesen beiden noch einen weiteren gegeben: Kilab (2Sam 3,2). Über seinen Verbleib ist aber nichts bekannt; vielleicht starb er früh.
David, Amnon und Abschalom (2Sam 13)
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Jahre“, heißt es in 2Sam 13,38, worauf alsbald die bekannte Geschichte von der Rückholung Abschaloms durch Joab und die weise Frau von Tekoa in 2Sam 14 folgt. Dazwischen allerdings stehen zwei rätselhafte Sätze, die näherer Betrachtung bedürfen. MT bietet folgenden Wortlaut: ותכל דוד המלך לצאת אל־אבשׁלום כי־נחם על־אמנון כי־מת13,39 וידע יואב בן־צריה כי־לב המלך על־אבשׁלום14,1 Der Anfang des ersten Satzes ist grammatisch unkorrekt: Zur femininen Verbform ותכלpasst nicht das zweifellos maskuline Subjekt „David“. Die Versionen setzen teilweise anstelle von oder neben „David“ das Nomen ( רוחoder auch )נפשׁ voraus.38 Mit dieser Lesung wäre der grammatische Anstoß beseitigt. Allerdings wird dabei der Vorgang, um den es geht, anders als in MT zu einem klar innerseelischen. Das Verb כלהPi. hat von Haus aus einen handfesten Sinn: „fertig werden“, „beenden“, einmal auch: einen Plan „fertig haben“ (Spr 16,30). Es ist keineswegs unproblematisch, wenn man das Pi‘el des MT flugs in eine Qal-Form umpunktiert.39 Natürlich tut man das mit Grund; im Qal – nicht im Pi‘el! – kann das Verb nämlich reflexive Konnotation erhalten: „sich selbst fertigmachen“, „sich verzehren nach“ – womit man dann die Übersetzung erhält: „[Der Geist des] Königs David40 verzehrte sich danach, zu Abschalom hinauszugehen“, d.h. ihm entgegenzukommen, sich mit ihm zu versöhnen. Merkwürdig bleibt freilich, dass Davids Geist oder Seele „hinausgehen will“; wie macht sie das wohl? Allzu glatt übersetzt Fokkelman:41 „David longed intensely …“ Dann fährt Fokkelman fort: „… to march out“, denkt also an ein militärisches Ausrücken. Dabei vernachlässigt er, dass יצא אלüberwiegend in durchaus friedlichem Sinn gebraucht wird: „hinausgehen zu“, zuweilen sogar dezidiert: „sich (dem Feind) ergeben“42 – doch das wird ja wohl hier nicht gemeint sein?! Der Grund für Davids Wunsch nach freundlichem „Hinausgehen zu Abschalom“ wird gleich mitgenannt: „Er hatte sich nämlich getröstet über Amnon, dass er tot war“. Und Joab, so der nächste Satz, „merkte, dass sich Davids Herz (positiv43) auf Abschalom richtete“ (weswegen er dann dem König seinen heimlichen Wunsch zur Versöhnung erfüllen half). Verblüffenderweise kann man die beiden Sätze aber auch völlig anders übersetzen – vorausgesetzt lediglich, man ist bereit, das Feminin ותכלin ein Maskulin (zurück) zu verwandeln.44 Dann ergibt sich statt eines friedlich38
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LXX: kai ekopasen to pneuma tou basilewj. Dem folgt z.B. Driver, Samuel R., Notes on the Hebrew Text and the Topography of the Books of Samuel, Oxford 21913, 305. So Budde und Stoebe, jeweils zur Stelle; auch HALAT, s.v. Die ungewöhnliche Wortstellung – zuerst der Name, dann die Amtsbezeichnung – ist im Falle von Königen nicht unüblich, vgl. für David noch 1Chr 24,31; 26,26.32; 28,2; 29,1.29; 2Chr 7,6, für Salomo 1Kön 2,17 und für Joram 2Kön 8,29; 9,15. Fokkelman, King David (s. Anm. 16) 126. 1Sam 11,3; 2Kön 18,31. In ähnlich ‘positiver’ Bedeutung begegnet der Ausdruck לב עלnoch in Jer 22,17 und 1Chr 12,18. Dafür kann man sich immerhin auf den Großteil der LXX-Überlieferung berufen, die ohne Zufügung eines weiteren Nomens „David“ als Subjekt der Verbform ekopasen (von kopazw „müde werden“) hat.
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Haupt- und Nebenfiguren der Samuelbücher
versöhnlichen ein grimmig-kriegerischer Grundton: „Und der König David hörte auf damit,45 auszurücken gegen Abschalom46; denn er hatte sich getröstet über Amnons Tod [unter Umständen auch:47 er hatte sich Trost verschafft für Amnons Tod]. Und Joab, der Sohn der Zeruja, wusste, dass das Herz des Königs gegen Abschalom48 gerichtet war“ [weswegen er dann seinerseits einen Versöhnungsversuch unternahm]. Läse man die Stelle so, dann würde sie besagen, dass David (mehrmals?) seine Truppen hätte „ausrücken“ lassen „gegen Abschalom“. In diesem Sinne hat offenbar auch der Übersetzer der LXX den Text verstanden: kai ekopasen to pneuma tou basilewj tou ecelqein opisw Abessalwm „und der Geist des Königs war es müde geworden, hinter Abschalom her auszurücken“. Die beiden Versionen sind grammatisch und semantisch korrekt, und sie beide ergeben einen guten Anschluss sowohl zurück, zur Mordtat und Flucht Abschaloms, als auch nach vorn, zum Versöhnungsversuch Joabs. Dieses Ergebnis erscheint verblüffend. Man ist gewohnt zu denken, es gebe jeweils nur eine richtige Übersetzung. In unserem Fall sind es aber zwei. Wir stoßen hier auf ein Phänomen, das zunehmend geradezu als Qualitätsmerkmal der hebräischen Erzählkunst erkannt wird, das man aber in der Regel auf die Inhalte, nicht so sehr auf die Sprachgestalt bezieht: die Ambivalenz.49 Biblische Erzähler legen ihre Hörerinnen und Leser oft nicht auf eine bestimmte Verstehensmöglichkeit fest, sondern bieten ihnen verschiedene an – und geben ihnen so Mitverantwortung für den Verlauf und den Sinn einer Erzählung.50 Im vorliegenden Fall bleibt den Leserinnen und Lesern die Freiheit, selbst zu überlegen, wie David auf Abschaloms Mordtat und Flucht reagiert haben mag: eher zurückhaltend-beherrscht oder zornig-militant. Dachte er, die Zeit werde die Wunde heilen, die ihm Abschalom geschlagen hatte, indem er seinen 45
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Dies die übliche Bedeutung von כלהPi’el. Bemerkenswerterweise begegnet das Verb in Ez 5,13 sowohl im Qal wie im Pi’el und meint hier „fertig werden / zu Ende führen / sich voll auswirken / zum Ziel kommen“, was sich auf das Wirken des göttlichen Zorns bezieht. Ein solches Verständnis gäbe unserer Stelle eine noch militantere Note. יצא אלbezeichnet öfters klar das Ausrücken von Soldaten zum Kampf gegen Feinde: Ri 9,33; 1Sam 17,20; 2Sam 11,23; 2Chr 14,8. Trotzdem meint Stoebe, Hans-Joachim, Das zweite Buch Samuelis, 1994 (KAT 8/2), 335, mit Bestimmtheit sagen zu können, es sei „natürlich nicht wörtlich als Ausziehen gegen … zu verstehen – wovon ja auch nichts bekannt wäre –, sondern in übertragenem Sinne als zu deuten (so die meisten neueren).“ Die Parenthese ist vielsagend. Anstelle des üblichen „Trost, Reue, Mitleid empfinden“ bedeutet נחםNif. einmal auch „Rache nehmen“ Jes 1,24 (mit ;)מןähnlich auch Gen 27,42 (im Hitp. und mit )ל. – Nicht zulässig scheint mir Fokkelmans Übersetzung „ … for he was grieved [bekümmert] about Amnon, that he was dead“: King David (s. Anm. 16), 126. Zu diesem negativen Gebrauch der Wendung vgl. Hos 11,8; Dan 11,28. Vgl. das Kapitel “Gaps, Ambiguity and the Reading Process” bei Sternberg, Meir, The Poetics of Biblical Narrative. Ideological Literature and the Drama of Reading, Bloomington 1987, 186–229, das als Paradigma die Erzählung 2Sam 11 wählt und so spannende Zwischentitel enthält wie „What Does David Think That Uriah Thinks?” Zu diesem Ansatz vgl. McKnight, Edgar V., Reader Response Criticism, in: S.L. McKenzie / S.R. Haynes (eds.), To Each Its Own Meaning. An Introduction to Biblical Criticisms and Their Application, Louisville 1993, 197–210.
David, Amnon und Abschalom (2Sam 13)
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Erstgeborenen erschlug? Wollte er sich „trösten“ lassen über den Verlust und sich nach und nach dem schuldig gewordenen Abschalom wieder öffnen? Begrüßte er insgeheim das Aktivwerden Joabs, rannte dieser mit seinem Vermittlungsversuch beim König offene Türen ein? Oder war es ganz anders: Hatte David aus dem „Fall Amnon“ gelernt, dass es nicht gut war, die Untaten eines Sohnes mit Schweigen zu übergehen? Wusste er jetzt, dass Liebe den Blick für Gerechtigkeit und Recht nicht verstellen durfte? Ließ er also Abschalom nicht einfach laufen, sondern schickte Truppen hinter ihm her, immer wieder? Brannte er auf Genugtuung für den Mord an seinem Ältesten, so dass noch nach Jahren ein Aussöhnungsversuch mit dessen Mörder nur mit allergrößter List und Vorsicht in die Wege geleitet werden konnte? Der Wortlaut des biblischen Textes lässt beide Möglichkeiten offen. Anscheinend wollen die Erzähler nicht ausschließen – oder wussten sogar positiv davon –, dass es nach der Ermordung des Kronprinzen Amnon51 zu kriegerischen Auseinandersetzungen mit dem Fürstentum Geschur gekommen ist, in dem Abschalom Schutz gesucht hatte. Andererseits sollte David nicht als impulsiver Gewaltmensch und rabiater Rächer erscheinen, umso weniger, als er hier nicht nur als König, sondern auch als Vater agierte. So tauchen die Erzähler ihren Bericht an der entscheidenden Stelle in ein änigmatisches Zwielicht: Einerseits sah David die Notwendigkeit, diesmal nicht wieder (wie bei Amnon) mit Milde, sondern mit Härte zu reagieren; andererseits war er in seinem Herzen (wie schon bei Amnon) weich und sehnte sich nach Versöhnung mit Abschalom. Diese Ambivalenz, ja, innere Zerrissenheit der Figur Davids ist kennzeichnend keineswegs nur für 2Sam 13. Der König begehrt Batscheba und nimmt sie – strebt dann aber doch ein legales Verhältnis zu ihr an. Urija will er eigentlich nur ein Kind unterschieben – dann aber lässt er ihn töten. Er kämpft, als das Kind erkrankt, um sein Leben – als es aber tot ist, schickt er sich klaglos darein. Er ist ungehalten über Amnons Tat an Tamar – will ihn aber nicht kränken. Er möchte Abschalom für seinen Mord büßen lassen – söhnt sich dann aber mit ihm aus. Er sieht Abschalom die Fäden zum Aufstand spinnen – und lässt sich von diesem dann doch völlig überraschen. Er überlässt dem rebellischen Sohn die Residenz und zieht sich zurück – um sich dann aber unerbittlich zurückzukämpfen. Er lässt den Aufruhr militärisch niederschlagen – und ist dann untröstlich, als der Anführer erschlagen wird. Er lässt es scheinbar willenlos geschehen, dass Adonija sich als Nachfolger geriert und dass die Gegenpartei bei ihm dagegen intrigiert – doch dann regelt er selbst rasch und entschlossen die Thronfolge. Durch solche widersprüchlichen und ambivalenten, zuweilen auch tragischen Züge gewinnt die Gestalt Davids etwas Unauslotbares, Tiefgründiges und sehr Menschliches. So wird in 2Sam 13 absichtsvoll in der Schwebe gelassen, wie David auf den Brudermord Abschaloms reagiert hat. Dies dispensiert uns aber nicht von der historischen Nachfrage, was damals geschehen sein mag. Kaum aufgrund 51
Budde, Karl, Samuel, 1902 (KHC 8), 264, meint, erst MT habe – gegen den ursprünglich friedlichen Textsinn – versucht, „annähernd den Sinn zu gewinnen David hörte auf gegen Absalom zu Felde zu ziehen“. Die Überlieferungs- und Kompositionsgeschichte dürfte gerade andersherum verlaufen sein.
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Haupt- und Nebenfiguren der Samuelbücher
von 2Sam 13 allein, aber mit Hilfe anderer Informationen lässt sie sich einer Klärung näher bringen.
5.
David, Abschalom und Geschur – historische Mutmaßungen
Was in 2Sam 13 ganz unzweideutig gesagt wird, ist, dass Abschalom zu seinem Schwiegervater nach Geschur floh. Was weiß man über dieses Staatswesen? Im 11. und 10. Jahrhundert bildeten aramäische Stämme im Gebiet zwischen Eufrat und oberem Jordan verschiedene Fürstentümer, deren Namen auch in den Davidüberlieferungen auftauchen.52 Die meisten von ihnen lassen sich geographisch recht genau zuordnen.53 In nord-südlicher Reihenfolge handelt es sich um Aram-Nahrajim, -Hamat, -Zoba, -Damaskus, -Bet-Rehob,54 -Maacha und -Geschur. Nach der biblischen Darstellung wurden die meisten dieser „Königtümer“ in kriegerische Auseinandersetzungen mit David verwickelt. Sie bildeten dabei aber keine Einheitsfront, sondern schlossen wechselnde Bündnisse. Aram-Hamat stand sogar ganz abseits und gratulierte David zu seinem Sieg über die aramäischen Brüder, speziell über die von Zoba.55 Geschur wird bei alledem überhaupt nicht erwähnt; anscheinend konnte es sich aus den militärischen Konflikten mit Israel heraushalten. Schon in der Korrespondenz von Amarna wird Geschur bezeugt. Hiernach (wie auch nach den biblischen Quellen) hatte es sein Hauptwohngebiet im Bereich von Yarmuk und Golan.56 In Dtn 3,14; Jos 12,5; 13,11.13 wird Geschur (neben Maacha) mit den ostjordanischen Teilen des Stammes Manasse in Ver52 53
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2Sam 8,3–10; 10,6–19. Vgl. Noth, Martin, Die Welt des Alten Testaments, Berlin 1962, 73f; Halpern, Baruch, The Construction of the David State, in: V. Fritz / P.R. Davies (eds.), The Origins of the Ancient Israelite States, 1996 (JSOT.S 228), 44–75, bes. 59–67; Dion, Paul E., Les Araméens à l’Age du Fer, 1997 (Études Bibliques. Nouvelle Série 34), 171–177; Sader, Helen, The Aramean Kingdoms of Syria, in: G. Bunnens (Hg.), Essays on Syria in the Iron Age, 2000 (Ancient Near Eastern Studies. Supplement 7), 61–76, bes. 68–72; Lipiński, Edward, The Aramaeans. Their Ancient History, Culture, Religion, 2000 (OLA 100), 249–408; Lipiński allerdings hält Aram-Zoba und Bet-Rehob für identisch und rechnet hierzu auch gleich Bet-Maacha und Geschur (334–336). Bet-Rehob wird entweder in der Bekaa-Ebene oder im nördlichen Adschlun gesucht (vgl. aber Lipiński in der vorigen Anm.). Das auch noch genannte Aram-Tob ist historisch und geographisch kaum greifbar. 2Sam 8,9f. In EA 256, Z. 21–28 (vgl. Knudtzon, Jørgen Alexander, Die El-Amarna-Tafeln [Aalen 1964; Wiederabdruck der Originalauflage 1915], 817; ANET 486) beklagt sich ein Stadtfürst aus dem ostjordanischen Pella über Feindseligkeiten des „Landes Ga-[schu-]ri“, das offenbar nordwärts im Bereich von Yarmuk und Golan lag (vgl. Mazar, Benjamin, Geshur and Maacah: JBL 80 [1961], 16–28; Ma‘oz, Zvi U., Geshur: ABD 2, 996; Claire Epstein, The Cities of the Land of GaruGeshur Mentioned in EA 256 Reconsidered, in: M. Heltzer u.a., Studies in the Archaeology and History of Ancient Israel in Honour of Moshe Dothan [Haifa 1993], 83–90.*19–*20).
David, Amnon und Abschalom (2Sam 13)
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bindung gebracht. Im Golan-Yarmuk-Gebiet betreibt denn auch die Universität Tel Aviv seit Jahren ein breit angelegtes „Land of Geshur Project“.57 Oberflächen-Surveys und Einzelgrabungen lassen die Geschichte und die sehr eigenständige Kultur dieser von früh an aramäisch besiedelten Gegend immer deutlicher vor Augen treten. Hauptsächlich vier Ortslagen am Ost- und am Nordufer des Sees Gennesaret sind hier von Bedeutung: En Gev, Tel Hadar, et-Tell/Betsaida und Tell el‘Orēme/Kinneret. Sie hatten ihre Blütezeit in verschiedenen Epochen: Tel Hadar (Stratum IV) und Kinneret (Strata VI und V58) in der ausgehenden Eisenzeit I, En Gev und Betsaida in der mittleren Eisenzeit II. Drei dieser Orte wurden schon immer für aramäisch gehalten; einzig im Blick auf Kinneret herrscht bisher Unsicherheit. Dessen Bewohner konnten im Prinzip drei Bevölkerungsgruppen angehören: den Kanaanitern, den Israeliten (wenn, dann denen des Stammes Naftali59) oder den Aramäern (von diesen wiederum den Geschuritern). Die Variante „Kanaan“ leidet vor allem daran, dass es zur fraglichen Zeit nirgendwo sonst im kanaanitischen Kulturbereich derart prominente, wuchtige Städte-Neubauten gibt, wie Kinneret VI eine ist. Kanaan befand sich, wie archäologische und literarische Befunde60 übereinstimmend zeigen, längst im Niedergang; die ordnende ägyptische Hand fehlte.61 Immerhin gab es Hazor: eine große und allem Anschein nach die führende Kanaaniterstadt. Woher hätten das Potenzial und der Wille zu einer Stadtgründung auf dem nur gut 15 km Luftlinie entfernten Hügel von Kinneret kommen sollen? War Kanaan nicht mehr, so war Israel zur frühen Eisenzeit noch nicht in der Lage, große Städte aus dem Boden zu stampfen. Die israelitischen Siedler – die immerhin schon in der MerneptahStele (1209 v.u.Z.) als zusammengehörige Bevölkerungsgruppe gesehen werden – waren ausgesprochenermaßen Dörfler; ihre kleinbäuerlich-tribale Kultur 57
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Vgl. Kochavi, Moshe, The Land of Geshur Project: Regional Archaeology of the Southern Golan (1987–1988 Seasons), IEJ 39 (1989), 1–17; Ders., The Land of Geshur Regional Project: Attempting a New Approach in Biblical Archaeology, in: A. Biran / J. Aviram (eds.), Biblical Archaeology Today, Jerusalem 1993, 725–737. Die derzeitigen Ausgräber von Kinneret sprechen aufgrund der ineinander greifenden Abfolge der Siedlungsschichten von einem „Early Iron Age Horizon“, der die Strata VI bis IV umfasst; vgl. Münger, Stefan, Of Pots and Strata… A Reply to ‘Kinneret and Early Iron Age Chronology’ by E.A. Knauf, Jahrbuch des Deutschen Evangelischen Instituts für Altertumswissenschaft des Heiligen Landes 9/10 (2005) 77–91, bes. 88. Ihrem Gebiet wird Kinneret in Jos 19,35 ausdrücklich zugerechnet. Vgl. dazu Knauf, Ernst Axel, Kinneret and Naphtali, in: A. Lemaire / M. Sæbø (eds.), International Organization for the Study of the Old Testament: Congress Volume 1998, 2000 (VT.S 80), 219–233. Zu nennen sind hier die Amarna-Korrespondenz sowie namentlich das Deboralied Ri 5. Dazu, dass dieses Erinnerungen an die vorstaatliche Zeit bewahrt hat, vgl. Fritz, Volkmar, Die Entstehung Israels im 12. und 11. Jahrhundert v. Chr., 1996 (Biblische Enzyklopädie 2), 121–128.179–184, sowie Neef, Heinz-Dieter, Deboraerzählung und Deboralied, 2002 (BThSt 49). Allerdings spricht Israel Finkelstein mit Blick auf den Wiederaufschwung des städtischen Lebens in Megiddo, Kinneret (!), Tel Rehov oder Tel Dor von einem “New Canaan“ in der ausgehenden Frühen Eisenzeit: City States to States: Polity Dynamics in the 10th–9th Centuries B.C.E., in: W.G. Dever / S. Gitin (eds.), Symbiosis, Symbolism, and the Power of the Past, Winona Lake, IN 2003, 75–83.
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Haupt- und Nebenfiguren der Samuelbücher
grenzte sich gegen die urban-stadtstaatliche Kanaans gerade ab.62 Sollten sie zu großen Teilen ausgesiedelte Kanaaniter gewesen sein,63 hätte sie erst recht nichts dazu getrieben, sich am See Gennesaret ein neues Kanaan zu schaffen. Zudem besaß das früheste Israel eben keine zentrale Machtinstanz, die derartige Großbauvorhaben durchsetzen konnte; erst unter Salomo gab es (relativ bescheidene!) Ansätze zu neuer Urbanität.64 Schon diese überschlägige Einschätzung spricht dafür, dass Kinneret eine aramäische Stadt war. Das passt auch gut ins geopolitische Bild. Knapp jenseits der Mündung des Jordans in den See, nur rund 5 Kilometer ostwärts von Kinneret, ist mit et-Tell eine eisenzeitliche Stadt zutage gekommen, die unzweifelhaft aramäischen Charakter trägt. Es fanden sich dort ein Palast vom Typus des Bīt Ilāni65 und, neben dem Stadttor, eine Götterstele mit typisch syrischer Ikonographie.66 Freilich ist sofort klar: Diese beiden Städte, so dicht nebeneinander, können nicht gleichzeitig bestanden haben; vielmehr dürfte et-Tell die Nachfolgestadt von Kinneret sein.67 Offenbar war es jeweils so, dass mit der größeren Stadt am Nordufer des Sees eine kleinere am Ostufer assoziiert war, d.h. En-Gev mit et-Tell68 und Tel Hadar mit Kinneret.
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Vgl. Zwingenberger, Uta, Dorfkultur der frühen Eisenzeit in Mittelpalästina, 2001 (OBO 180). So Gottwald, Norman K., The Tribes of Yahweh. A Sociology of the Religion of Liberated Israel, 1250–1050 B.C.E., Maryknoll 1979; mit einer gewissen zeitlichen Verschiebung auch: Finkelstein, Israel, The Archaeology of the Israelite Settlement, Jerusalem 1988. Kinneret – gestützt auf die „low chronology“ – zur salomonischen Stadt erklären zu wollen, empfiehlt sich nicht; denn Salomo hat wenn, dann das zuvor zerstörte Hazor teilweise wieder aufgebaut (Stratum X; vgl. 1Kön 9,15 sowie Yigael Yadin und Amnon Ben-Tor, Art. Hazor: NEAHAL 2, 594–606). Zur Diskussion über den angeblichen oder wirklichen salomonischen Städtebau vgl. näherhin das BASOR-Heft 277/278 von 1990 mit Beiträgen von G.J. Wightman, John S. Holladay, David Ussishkin, Lawrence E. Stager, Israel Finkelstein und William G. Dever. Ferner Walter Dietrich, Die frühe Königszeit in Israel. 10. Jahrhundert v.Chr., Stuttgart 1997 (Biblische Enzyklopädie 3), 112– 127, und, mit ganz anderer Position, Finkelstein, Israel / Silberman, Neil Asher, David and Solomon, New York u.a., 2006. Vgl. Arav, Rami / Bernett, Monika, The bīt ilāni at Bethsaida: Its Place in Aramean/NeoHittite and Israelite Palace Architecture in the Iron Age II: IEJ 50 (2000) 47–81. Vgl. die gründliche Untersuchung von Monika Bernett und Othmar Keel unter Mitarbeit von Stefan Münger, Mond, Stier und Kult am Stadttor. Die Stele von Betsaida (et-Tell), 1998 (OBO 161). Dementsprechend weist die auf et-Tell gefundene Keramik in die Eisenzeit IIB, vgl. Bernett und Keel, Mond (s. vorige Anm.) 4f mit Anm. 17. Obwohl von den Ausgräbern mehrfach postuliert, fehlt bisher der Nachweis, dass die Stadt – die sie mit dem biblischen Zer (Jos 19,35) identifizieren und zur Hauptstadt von Geschur erklären – bereits in der Eisenzeit IIA gegründet worden ist; vgl. auch den jüngsten Vorbericht von Arav, Rami, Toward a Comprehensive History of Geshur, in: R. Arav / R.A. Freund (eds.), Bethsaida III, Kirksville, MO 2004, 1–48, bes. 6f; zur Identifikation vgl. Arav, Rami, Bethsaida, Tzer, and the Fortified Cities of Naphtali, in: R. Arav / R.A. Freund (eds.), Bethsaida I, Kirksville, MO 1995, 193–201. Das ca. 7 km südlich von Tel Hadar am östlichen Seeufer gelegene En Gev hatte seine Blütezeit in der mittleren Eisenzeit. Die Ortslage weist, ähnlich wie Tel Hadar, über-
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Im früheisenzeitlichen Tel Hadar69 schlossen starke Mauern ein Rund von knapp 100 m Durchmesser ein, in dem sich anscheinend keine eigentliche Wohnbebauung befand, dafür aber dicht nebeneinander zwei öffentliche Gebäude: ein Pfeilerhaus mit außergewöhnlich viel Keramik (vor allem von Vorratsgefäßen) sowie eine Silo-Anlage, in deren sechs turmartigen Speichern laut archäo-botanischem Befund Getreide aufbewahrt wurde.70 Auffällig ist nun, dass einige Grabungsbefunde in Tel Hadar verblüffende Ähnlichkeit mit solchen in Kinneret71 aufweisen. Ein bestimmter Krugtypus wurde bisher praktisch nur an diesen beiden Orten, sowie in Tel Dan und dann weiter in Hama in Mittelsyrien oder im nordsyrischen Tell Afis gefunden.72 Dazu kommt ein bestimmter Typus von Trennmauer aus geschichteten Steinen, die in regelmäßigen Abständen durch senkrecht stehende, lange Orthostaten unterbrochen ist (vielleicht bestimmt zum Aufsetzen von Stützpfosten); es ist kaum ein Zufall, dass diese seltene Art von Mauern gerade auch in Kinneret gefunden wurde. Die beiden Städte gehörten offensichtlich nicht nur in dieselbe Zeit, sondern in den gleichen kulturellen Kontext. Dabei ist Tel Hadar deutlich keine eigenständige Stadt, sondern etwas wie ein Verwaltungs-Außenposten einer anderen, größeren Stadt – eben Kinnerets. Dessen Beauftragte sammelten auf dem Ostufer des Sees, in Tel Hadar, landwirtschaftliche Güter aus dem Golangebiet ein – damals wie heute vorzugsweise Getreide und Wein – und sorgten für ihren Transport über den See: teils für den Konsum in Kinneret, teils für den Handel in Richtung Westen. Im Gegenzug ließen sich dafür Luxusgüter einhandeln: etwa wertvolle phönizische Keramik, wie sie in Kinneret gefunden wurde.73
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durchschnittlich viele öffentliche Gebäude auf und dürfte wiederum ein Nebenzentrum gewesen sein: wahrscheinlich zu dem inzwischen aufgeblühten Zentrumsort et-Tell. Die Bezeichnung des betreffenden Stratums wechselt in den verschiedenen Berichten: Nach Kochavi, Moshe, Hadar, Tel (NEAHAL 2, 551f) handelt es sich um Stratum II, nach Kochavi, Moshe, The Land of Geshur: History of a Region in the Biblical Period: Eretz-Israel 25 (1996) 184–201, *95, um Stratum IV (die letztere Nomenklatur wurde später beibehalten). Vgl. Kochavi, Moshe, The Eleventh Century BCE Tripartite Pillar Building at Tel Hadar, in: Seymour Gitin u.a. (ed.), Mediterranean Peoples in Transition, FS Trude Dothan (Jerusalem: Israel Exploration Society, 1998), 468–478. Vgl. vorerst Fritz, Volkmar / Münger, Stefan, Vorbericht über die zweite Phase der Ausgrabungen in Kinneret (Tell el-‘Orēme) am See Gennesaret, 1994–1999: ZDPV 118 (2002) 2–32, sowie Pakkala, Juha / Münger, Stefan, / Zangenberg, Jürgen, Kinneret Regional Project: Tel Kinrot Excavations. Tel Kinrot – Tell el-‘Oreme – Kinneret (Proceedings of the Finnish Institute in the Middle East 2004/2, Vantaa 2004). Zu den mitteleisenzeitlichen Befunden vgl. Fritz, Volkmar, Kinneret. Ergebnisse der Ausgrabungen auf dem Tell el-‘Orēme am See Gennesaret 1982–1985, 1990 (ADPV 15). Vgl. Münger, Stefan, Medien und Ethnizität, in: C. Frevel (Hg.), Medien im antiken Palästina, 2005 (FAT 2.10), 85–107, hier 86f. mit Anm. 9, sowie Münger in Pakkala, Münger und Zangenberg, Kinneret Regional Project (s. vorige Anm.) 19f. Zu den Schwierigkeiten, die sich Rückschlüssen von archäologischen Befunden auf ethnische Zugehörigkeit in den Weg stellen, vgl. Faust, Avraham, Ethnic Complexity in Northern Israel during Iron Age II: PEQ 132 (2000) 2–27. Zur ökonomischen Funktion Tel Hadars vgl. auch Kochavi, Moshe, The Ancient Road from the Bashan to the Mediterranean, in: T. Eskola / E. Junkkaala (eds.), From the An-
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Der archäologische Befund bestätigt also, dass Kinneret, zusammen mit Tel Hadar, aramäisch war. Angesichts der Prominenz und Größe der Stadt stellt sich wie von selbst der Gedanke ein, sie könnte die Hauptstadt des Fürstentums Geschur gewesen sein. Wäre es so, dann wäre Abschalom nach – Kinneret geflohen! Und David, was tat er? Die früheisenzeitliche Stadt Kinneret wurde kurz nacheinander zweimal zerstört.74 Nach dem ersten Mal wurde sie offenbar sehr rasch und genau nach dem alten Plan wiederaufgebaut; Stratum V gleicht Stratum VI bis in die Einzelheiten. Stratum IV ist im Vergleich damit nicht nur ungemein schütter und bescheiden, es folgt auch gar nicht mehr dem früheren Stadtplan. Wo es gerade günstig schien, wurden einfache Behausungen bzw. Hütten – und zwar meist nur auf einreihigen, groben Grundmauern – zwischen die noch verbliebenen Siedlungsreste gesetzt. Bald schon wurde die Ortslage für lange Zeit völlig aufgegeben. Darin dürfte sich ein grundlegender Wechsel der politischen Verhältnisse andeuten. Wann hat er stattgefunden? Die Fundkeramik weist Kinneret VI und V und erst recht IV an das Ende der frühen Eisenzeit. Nach dem herkömmlichen Ansatz führt das in das späte 11. oder beginnende 10. Jahrhundert. Doch die zuerst von Israel Finkelstein vorgeschlagene, inzwischen von vielen akzeptierte (von vielen aber auch bestrittene) „low chronology“ verschiebt die archäologischen Epochen um rund ein Jahrhundert nach unten.75 Danach hätte das früheisenzeitliche Kinneret jedenfalls bis ins 10. Jahrhundert hinein existiert – und das heißt: bis in die frühe Königszeit in Israel. David unterhielt, als er noch jung und Herrscher nur von Juda war, der biblischen Überlieferung zufolge freundschaftliche Beziehungen zu Geschur: Seine dritte Frau, die Mutter Abschaloms, hiess Maacha76 und war eine Tochter Talmais, des Königs von Geschur (2Sam 3,3).77 Die Absichten, die David bei der Liaison mit Geschur verfolgte, lassen sich leicht erraten. Zwischen Geschur und Juda lag das von ihm längst anvisierte, aber noch von Eschbaal, dem Sohn und Nachfolger Sauls, regierte Königreich Israel. Dieses umfasste laut 2Sam 2,9
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cient Sites of Israel – Gedenkschrift Aapeli Saarisalo, 1998 (Justitia Supplement Series), 25–47. Vgl. Dietrich, Walter / Münger, Stefan, Ausgrabungen in Kinneret/Israel, in: Schweizer Arbeitsgemeinschaft für klassische Archäologie (Hg.), Schweizer Ausgrabungen im Ausland, 2001, 45–61, hier 48–52. Vgl. Finkelstein, Israel, The Archaeology of the United Monarchy. An Alternative View: Levant 28 (1996) 177–187; Finkelstein, Israel, The Rise of Jerusalem and Judah. The Missing Link, in: A.G. Vaughn / A.E. Killebrew (eds.), Jerusalem in Bible and Archaeology. The First Temple Period, 2003 (Society of Biblical Literature), 81–102. Eine Bibliographie über die zu Finkelsteins Hypothese entbrannte Debatte bietet Lehmann, Gunnar, The United Monarchy in the Countryside. Jerusalem, Judah, and the Shephela during the Tenth Century B.C.E., in: Vaughn / Killebrew (eds.), Jerusalem, 117–162, hier 120 Anm. 6. Eine ausführliche Darstellung des Diskussionsstandes findet sich in: Levy, Thomas E., / Higham, Thomas (eds.), The Bible and Radiocarbon Dating, London 2005. Ist es Zufall, dass sie den Namen eines weiteren Aramäerstammes trägt? Diese Verbindung mag der Grund dafür gewesen, dass Geschur in keiner der Überlieferungen von Aramäerkriegen Davids (2Sam 8; 10) vorkommt; es wird damals abseits oder gar auf der Seite Davids gestanden haben. Die andere, weniger wahrscheinliche Möglichkeit ist, dass es zu dieser Zeit bereits nicht mehr existierte.
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kaum mehr als die Stammesgebiete von Benjamin, Efraim und Gilead.78 Es war in den Bergen eingekreist: von Ammon im Osten, von Davids Juda im Süden, von den Philistern (immerhin lange Zeit Lehnsherren Davids) im Westen und Norden79 – und von dem mit David alliierten Geschur im Nordosten.80 Als Eschbaal tot und David König auch über Israel war, als es ihm überdies gelungen war, die Philister zurückzuwerfen und Ammon zu besiegen,81 änderte sich die Lage für Geschur schlagartig. Statt mit widerstreitenden Kräften jonglieren zu können, sah es sich plötzlich mit einem einzigen, machtvollen Gegenüber konfrontiert. Umgekehrt musste sich Davids Blick nicht nur auf die fruchtbaren Landschaften um den See Gennesaret und auf dem Golan, sondern auch auf Galiläa richten; Geschur lag seinen Interessen im Weg wie ein Sperrriegel.82 Ungeachtet aller Familienbande war der Konflikt förmlich programmiert, und Abschaloms Flucht nach Geschur könnte ihn ausgelöst haben. Wir sahen, dass der biblische Bericht in 2Sam 13,39/14,1 durchaus Raum für diese Möglichkeit lässt. Dafür, dass David das kleine, mittlerweile völlig isolierte aramäische Fürstentum Geschur von der politischen Landkarte getilgt hat,83 gibt es keine direkten, aber immerhin indirekte Zeugnisse. In 2Sam 24, der Überlieferung von der Volkszählung, die er von seinem Armeechef Joab habe durchführen lassen, werden in Form eines Itinerars die Grenzen der davidischen Kernlande abgeschritten,84 wobei für uns speziell der Nordost-Abschnitt von Interesse ist. Die aus 2Sam 24,6 ablesbare Linienführung85 verläuft recht weit im Osten und hoch im Norden und schließt das (ehemalige) Siedlungsgebiet von Aram-Maacha ein-
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Vgl. die Gebietsbeschreibung 2Sam 2,9. Dort wird noch Jesreel am Nordrand des mittelpalästinischen Gebirges sowie „der Aschuriter“ erwähnt; dabei dürfte es sich kaum um den Stamm Ascher in Nordwestgaliläa handeln, sondern um eine Enklave in Efraim, vgl. Edelman, Diana, The ‚Ashurites’ of Eshbaal’s State (2 Sam. 2,9: PEQ 117(1985) 85–91. Die Philister agierten ungehindert in der Küsten- wie in der Jesreel-Ebene; das zeigt die Geschichte von Sauls Untergang 1Sam 31. Mit dem ostjordanischen Nachbarn Ammon führte Saul zwar Krieg (1Sam 11), doch auch seiner wurde erst David Herr. 2Sam 5,17–25; 12,26–31. Vgl. dazu auch Dietrich, Walter / Münger, Stefan, Zentrum und Peripherie – Die früheisenzeitliche Stadt Kinneret und ihr regionaler Kontext, in: J. Zangenberg u.a. (Hg.), Leben am See Gennesaret, 2003 (Sonderbände der antiken Welt), 43–46.206f. Es ist bemerkenswert, dass sämtliche verfügbaren Quellen – biblische wie außerbiblische, z.B. assyrische – ab dem 10. Jahrhundert nicht mehr von Aram-Geschur reden, sondern nur noch von dem aramäischen Zentralstaat, der von Damaskus aus gelenkt wurde. Zur historischen Glaubwürdigkeit des Überlieferungskerns vgl. Dietrich, Frühe Königszeit (s. Anm. 64) 163–165. Skeptisch urteilt demgegenüber Herbert Donner, Israel und Tyrus im Zeitalter Davids und Salomos: JNSL 10 (1979) 43–52, hier 48–50. Der Text lautet mit den nötigen Emendationen: „ … und sie kamen nach Gilead und zum Land ‘unten am’ See [lies תחת יםstatt ] תחתיםvon Kadesch (d.h. dem Hule-See), und sie kamen nach Dan ‘und Ijjon’ [lies עיוןstatt יען, vgl. 1Kön 15,20] und ‘bogen ab’ [lies mit LXX סבבוstatt ]וסביבin Richtung Sidon …“. Zu einem ähnlichen Ergebnis gelangt aufgrund einer sorgfältigen textkritischen Analyse Driver, Notes (s. Anm. 38), 374f.
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Haupt- und Nebenfiguren der Samuelbücher
deutig und dasjenige von Geschur mit hoher Wahrscheinlichkeit ein.86 Laut 2Sam 20 hat sich der Benjaminit Scheba nach dem Scheitern des AbschalomAufstands in Abel-bet-Maacha verschanzt. Vielleicht hoffte er dabei auf die Rückendeckung der nach wie vor auf Selbstständigkeit bedachten Aramäer – und erhielt sie anfangs auch. Als aber Davids Truppen unter Joabs Führung vor der Stadt auftauchten, flog alsbald Schebas Kopf über die Mauer. Auf ihrem Zug in den Norden wurden offenbar weder Scheba noch Joab durch irgendetwas aufgehalten; wie selbstverständlich agierten sie in ursprünglich aramäischem Siedlungsgebiet. Damals dürften Aram-Geschur und Aram-Maacha als eigenständige politische Größen nicht mehr existiert haben. Schließlich figurieren in dem von Salomo errichteten Provinzialsystem (1Kön 4,14–17) die Stammesgebiete von Naftali, Ascher und Issachar als Nummern 8, 9 und 10. Galiläa gehörte also fest zum salomonischen Staatsgebiet; unwahrscheinlich, dass Geschur und gar Kinneret diese Verbindung gestört hätten. Da nichts davon verlautet, dass erst Salomo die Nordprovinzen gewonnen und gesichert hätte, bleibt dieses Verdienst wohl David. Was Kinneret betrifft, so war es um diese Zeit schon verlassen – folgt man der herkömmlichen Chronologie. Nach der „low chronology“ aber könnte die Stadt des Stratums V bis in die Zeit Davids bestanden haben und von diesem zerstört worden sein. Und wer weiß: Vielleicht war der Grund dafür, dass sie dem Brudermörder Abschalom Schutz geboten hatte.
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Dass der See Gennesaret oder auch nur das Golangebiet ausgespart wäre, ist ja mit nichts angedeutet.
Davids Fünfte Kolonne beim Abschalom-Aufstand Als David sich vor Abschalom aus Jerusalem zurückzog, ließ er laut dem biblischen Bericht in 2Sam 15 eine Anzahl Menschen mit bestimmten Aufträgen in der Residenz bzw. schickte sie dorthin zurück: zehn Nebenfrauen, die Priester Zadok und Abjatar mit ihren Söhnen Ahimaaz und Jonatan sowie seinen „Freund“ und Berater Huschai. Sie alle, gleichsam hinter der gegnerischen Front abgesetzt, spielen keine unwesentlichen Rollen im Ringen zwischen David und seinem rebellischen Sohn. Im Folgenden soll zunächst in synchroner Betrachtung die Position dieser Figuren im Erzählablauf aufgezeigt und dann in diachroner Analyse ihr Ort in der Literatur- und womöglich auch in der Realgeschichte bestimmt werden.
1
Synchrone Lesung
1.1
Die Nebenfrauen
Laut 2Sam 15,16 blieben, als David Jerusalem verließ, „zehn Nebenfrauen“ ( )עשׂר נשׁים פלגשׁיםzurück, „um den Palast zu hüten“ ()לשׁמר הבית. Faktisch erfüllten sie noch eine andere Aufgabe: den herandrängenden Abschalom von wesentlicheren Dingen abzulenken; denn kaum dass dieser in die Stadt eingezogen war, riet ihm sein hoch angesehener Berater Ahitofel: „Geh ein1 zu den Nebenfrauen deines Vaters, die er hier gelassen hat, um den Palast zu hüten“ (2Sam 16,21). Prompt wird dieser Ratschlag befolgt: „Und man schlug für Abschalom das Zelt auf dem Dach auf, und Abschalom ging zu den Nebenfrauen seines Vaters ein vor den Augen ganz Israels“ (16,22). Dankenswerterweise verbirgt der Erzähler alles Weitere hinter einem diskreten Schleier; man(n) sieht nicht in das Zelt, man erfährt nicht, was da vonstatten ging, wie viel Zeit der Vorgang in Anspruch nahm usw. Gleichwohl fällt von dem Geschehen her ein eigentümliches Licht nicht nur auf den Hauptakteur, Abschalom, sondern auch auf Ahitofel, der ihm dazu geraten hat, und auf „Israel“, das die Rolle eines kollektiven Voyeurs einzunehmen scheint. Als David später siegreich vom Kampf gegen Abschalom nach Jerusalem zurückkehrt, findet er die zehn Nebenfrauen wieder vor. Anscheinend gelten sie ihm als durch Abschalom kontaminiert; denn er lässt sie wegsperren, sie eben noch ernähren, doch Umgang mit ihnen pflegt er nicht mehr. „Und sie wurden
1
Die sexuelle Konnotation von בואliegt, zumal angesichts der Ankündigung in 2Sam 12,11f. (dazu unten Näheres), auf der Hand.
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Haupt- und Nebenfiguren der Samuelbücher
zu Eingeschlossenen bis zum Tag ihres Todes: eine lebenslange2 Witwenschaft“ (2Sam 20,3). Mit dieser Mitteilung, der man ein gewisses Mitgefühl meint entnehmen zu können, werden die Frauen aus der Geschichte verabschiedet. Die ganze Zeit über sind sie nicht als Individuen erkennbar geworden, keiner von ihnen wurde auch nur ein einziges Wort zugestanden, nirgends sind ihre Empfindungen wiedergegeben. Ihre Existenz in der Erzählung verdankt sich einzig den Machtrankünen und Machtkämpfen von Männern. Während auf diese ein dunkler Schatten fällt, bleiben die Gesichter der Frauen fahl.
1.2
Die Priester und ihre Söhne (I)
Nachdem der König, gefolgt von seinem „Haus“, die Residenz verlassen hat (2Sam 15,16), hält er, zusammen mit dem „ganzen Volk“, beim letzten Haus der Stadt inne (15,17). Dort sieht er (und sieht die Leserschaft, wie in einem Monumentalfilm) eine Menschenmenge vorüberziehen:3 „alle seine Diener“ ()כל־עבדיו, die „Kreti und Pleti“ und 600 Krieger aus Gat (15,18). Kurzzeitig richtet sich das Augenmerk auf zwei einzelne Männer – David und den Gatiter Ittai, die ein denkwürdiges Gespräch führen (15,19–21) –, ehe sich der Fokus wieder weitet: zuerst auf die 600 Gatiter mit ihren Familien (15,22), danach auf „das ganze Land“, das „laut weint“, und „das ganze Volk“, das „vorüberzieht“ (15,23a). Schließlich sieht man den König selbst sich hinunter ins Kidrontal begeben, dieses mit dem „ganzen Volk“ durchqueren und über den Ölberg den „Weg zur Wüste“ nehmen (15,23b). Dann verengt sich der Fokus wieder. „Und sieh!“ ( – )והנהeine Anweisung, mit Davids Augen zu sehen: „[da war] auch Zadok und bei ihm alle Leviten, die Träger der Gotteslade4“. Diese „setzten die Lade Gottes nieder und Abjatar opferte [vor ihr],5 bis das gesamte Volk aus der Stadt fertig vorübergezogen war“ (15,24). Die Präsenz der Lade, des alten Kriegspalladiums,6 und die Darbringung von Opfern vor ihr sind sinnfälliges Symbol für die Erwartung, Jhwh werde auf der Seite Davids und nicht auf der seines Herausforderers stehen. Umso mehr überrascht es, dass David Zadok auffordert, die Lade in die Stadt zurückzubringen (15,25a). Ist das ein taktischer Winkelzug, mit dem die Gegenseite in Sicherheit gewiegt werden soll? Doch der Text läuft in eine andere Richtung: Wenn Gott es wolle, sagt David, werde er die Lade wiedersehen – sonst eben nicht (15,25b.26). Das ist die Äußerung eines frommen Mannes, dem die Trennung von dem heiligen Gegenstand schwer fällt, der es aber Gott an2
3 4
5 6
חיותkönnte sich auch auf die Lebenszeit Davids beziehen, doch redet der vorangehende Satz ja nicht von seinem, sondern vom Tod der Frauen. Das Verb עבדbildet im Folgenden ein Leitwort. „Die Lade des Bundes Gottes“ ist hier wie in 1Sam 4,4f u.ö. eine nachträglich aufgefüllte Formulierung, die darauf aufmerksam machen will, dass in der Lade (angeblich) die „Tafeln des Bundes“ waren, vgl. Dtn 9,9.11. Zu dem Sätzchen ויעלה אביתרgibt es keine Entsprechung in der LXX. Vgl. 1Sam 4 und 2Sam 11,11. Salomo hat die Lade später im Tempel sistiert (1Kön 8,3– 13).
Davids Fünfte Kolonne beim Abschalom-Aufstand
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heimstellt, ob sie eine endgültige sein wird oder nur eine vorübergehende. Damit deutet sich erstmals die Möglichkeit an, der Rückzug aus Jerusalem könne kein Abschied für immer sein. Prompt zeigen die folgenden Sätze David als gewiegten Taktiker: Zadok möge mit seinem Sohn Ahimaaz sowie mit Abjatars Sohn Jonatan (und gewiss auch Abjatar selbst7) in die Stadt zurückkehren, während er selbst sich umgehend an die Wüstenfurten (des Jordan) begeben und dort auf Nachricht warten wolle (15,27f). Das ist nichts anderes als ein Spionageauftrag, den Zadok und Abjatar ohne weiteres annehmen: Sie bringen die Lade nach Jerusalem zurück und bleiben in der Stadt (2Sam 15,29).
1.3
Der Ratgeber
Danach richtet sich das Augenmerk wieder auf David: wie er den Ölberg hinaufsteigt, weinend und barfuß, und das „ganze Volk“ mit ihm; wie ihm Ahitofels Übertritt auf die Gegenseite mitgeteilt wird8 und sich ihm daraufhin das Stoßgebet entringt, Jhwh möge den Ratschlag dieses Mannes vereiteln (2Sam 15,30f); wie er dann auf der Berghöhe anlangt, dort, „wo man Gott anzubeten pflegt“, und sich plötzlich – wieder werden die Lesenden mit einem והנהangewiesen, seinem Blick zu folgen – einem Mann gegenübersieht, dessen Auftauchen die Erfüllung des Gebetswunsches bedeutet (eine bemerkenswerte Art des Umgangs mit dem Thema Gebet und Gebetserhörung): „Und sieh, ihm gegenüber [war] Huschai der Arkiter, zerrissen sein Obergewand und Erde auf seinem Haupt“ (15,32). Auch ihn fordert David ohne Umschweife auf, nach Jerusalem zurückzukehren und dort einen doppelten Auftrag auszuführen: einerseits sich Abschalom als Berater anzubieten und Ahitofels Einfluss entgegenzuwirken, andererseits durch die beiden Priester und deren Söhne ihn, David, über das Geschehen in der Residenz auf dem Laufenden zu halten (15,33–36). Auch Huschai fügt sich Davids Wunsch ohne Rückfragen. So trifft er, „der Freund Davids“ () ֵרעֶה דוד, zeitgleich mit Abschalom in der Stadt ein (15,37). Danach begleitet der Erzähler zunächst David weiter auf seinem Weg vom Ölberg zum Jordan und weiter nach Mahanajim (2Sam 16,1–14), um dann mit einer knappen Rückblende zu dem Geschehen in Jerusalem überzuleiten: „Und Abschalom und das ganze Volk, jeder in Israel9, waren nach Jerusalem gekommen, und Ahitofel war bei ihm“ (16,15). Die Erwähnung des großen Gegenspielers bereitet den Auftritt Huschais vor:10 „Und es geschah, nachdem der 7 8 9 10
Warum dieser hier nicht erwähnt, warum überhaupt nur Zadok angesprochen wird, wird uns noch zu beschäftigen haben. MT hat hier die Hif.-Form ;הגידdoch ein hebräisches Manuskript bietet das Hof. הוגדund einige Versionen entsprechend Passiv-Formen, vgl. BHS. Zu dieser auffälligen Formulierung s. später. Im Blick auf die Erzählstruktur fällt auf, dass die Mitglieder von Davids Fünfter Kolonne gegenüber ihrem Auftreten in 2Sam 15 in der umgekehrten Reihenfolge aktiv werden: zuerst Huschai (2Sam 16,16–19; 17,5–14), danach Zadok und Abjatar und ihre Söhne (2Sam 17,15–21). Huschai ist gewissermaßen der am weitesten gegen Abschalom vorgeschobene Posten Davids. Hat er Erfolg, bedeutet dies im Fernduell Davids mit seinem
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Haupt- und Nebenfiguren der Samuelbücher
Arkiter Huschai, Davids Freund () ֵרעֶה דוד, zu Abschalom hineingekommen war …“ (2Sam 16,16a). Wieder trägt Huschai diesen Titel: in der gegebenen Situation geradezu ein Stigma. Prompt spielt Abschalom, als Huschai ihm huldigt (2Sam 16,16b), ironisch-lauernd auf dessen enges Verhältnis zu David an: „Das ist [also] deine Loyalität mit deinem Freund ( !)חסדך את־רעךWarum bist du nicht mit deinem Freund ( )את־רעךgegangen?“ (16,17). David hatte Huschai instruiert, was er sagen sollte, um Abschaloms Vertrauen zu gewinnen: „Dein Diener, König, will ich sein. Der Diener deines Vaters, das war ich bisher; jetzt aber will ich dein Diener sein“ (15,34). Huschai wiederholt jetzt diese Sätze sinngemäß, nur mit noch etwas gesteigerter Emphase: „Vor wem werde ich dienen? Doch wohl vor dem Sohn! Wie ich vor deinem Vater gedient habe, so werde ich jetzt vor dir dienen“ (16,19). Doch dies ist erst das zweite von zwei Argumenten. Ihm voran schickt Huschai ein anderes, das auf Abschaloms spitze Frage „Warum bist du nicht mit deinem Freund gegangen?“ direkt antwortet: „[Deswegen] nicht, weil ich bei dem, den Jhwh und dieses Volk und jedermann in Israel erwählt hat – weil ich bei dem11 sein und bei ihm bleiben will“ (16,18). Das ist ein rhetorisches Husarenstück. Huschai liefert für seinen (vermeintlichen) Seitenwechsel eine theologische und politische Begründung: Wenn Gott und Israel für Abschalom sind, wie könnte er, Huschai, nicht für ihn sein? So jedenfalls muss Abschalom den Satz verstehen, der in Wahrheit aber doppelbödig ist (wovon später noch die Rede sein wird); Abschalom aber lässt sich von dem Schimmer blenden, den Huschais Worte an der Oberfläche haben. Einer wie er fühlt sich immer erwählt und glaubt gern, dass jeder ihm zu Diensten sein will. Jedenfalls stellt er Huschai keine Fragen mehr; ich male mir aus, er habe ihn mit einem geschmeichelten Lächeln entlassen. Danach wendet sich Abschalom Ahitofel zu und fragt ihn um seinen Rat. Zu hören bekommt er zunächst jenen unsäglichen Vorschlag betreffs der zehn Nebenfrauen Davids. Doch es folgt – wann, wird nicht gesagt – noch ein zweiter: Umgehend müsse die Verfolgung Davids aufgenommen, seine Truppen auseinandergetrieben und er, er allein, getötet werden (17,1–4). Obwohl dieser Vorschlag allgemeinen Beifall findet (2Sam 17,4), möchte Abschalom noch den Rat Huschais hören (17,5). Warum? Ist er ein Zauderer? Oder ein Perfektionist? Oder hat er einen Grund für ein gewisses Misstrauen gegen Ahitofel? Man könnte einen solchen darin suchen, dass Ahitofel nicht nur einen Rat gegeben, sondern ihn gleich höchstpersönlich in die Tat umzusetzen angeboten hat: Er selbst wolle sich an die Spitze von 12'000 Mann setzen und gegen David ziehen (17,1)! Ist der Ratgeber plötzlich auch Heerführer? Warum der Übereifer? Hat der Mann vielleicht eine persönliche Rechnung mit David offen? Wer die gesamten Samuelbücher kennt, kann sehr wohl auf diesen Gedanken kommen: Laut 2Sam 11,3 war Batscheba „die Tochter Eliams“, und laut 2Sam 23,34 war
11
rebellischen Sohn eine vorentscheidende Wende. Laut Mann, ‘You’re Fired’, zeigt denn auch (der erzählte) David Huschai höhere Ehrerbietung als den Priestern. Das Ketib des MT hat hier statt des zu erwartenden (im Qere verlangten und offenbar auch von LXX gelesenen) „( לוihm“) ein sinnentstellendes „( לאnicht“); vermutlich ist es vom Satzanfang her ( )לא כיeingedrungen.
Davids Fünfte Kolonne beim Abschalom-Aufstand
231
„Eliam ben Ahitofel, der Giloniter,“ einer von den „Dreißig“, einer Elitetruppe Davids – genau wie auch „Urija, der Hethiter“ (23,39). Demnach war Batscheba die Enkeltocher Ahitofels und ihr Gatte ein Waffenbruder seines Sohnes! Davids Ehebruch mit Batscheba und sein Mord an Urija wären durchaus Motive für persönliche Rachewünsche Ahitofels!12 Freilich, ein königlicher Berater darf sich nicht durch persönliche Animositäten leiten lassen, er muss kühlen Kopf bewahren. Vielleicht also macht Ahitofels Übermotivation Abschalom misstrauisch, so dass er seinem zweiten Rat nicht unbesehen folgt. Wie auch immer, Abschalom lässt Huschai kommen, teilt ihm mit, was Ahitofel vorgeschlagen hat, und fordert ihn zur Stellungnahme auf (17,5f). Huschai liefert daraufhin sein zweites rhetorisches Meisterstück (17,7–13).13 Es beginnt mit einer harten und doch fein dosierten Attacke auf seinen Gegenspieler: „Diesmal“, sagt er, sei Ahitofels Rat „nicht gut“. Nicht, dass er nie gut wäre, er gilt ja normalerweise wie „Gottes Wort“ (16,23). Jetzt aber hat Ahitofel einen Fehler gemacht: David zu unterschätzen. Dieser sei umgeben von Elitekämpfern ()גבורים, er selbst sei ein kriegserfahrener Mann und wie eine gereizte Bärin. Solche Leute ließen sich nicht überraschen, sie hielten sich verborgen und fügten aus sicherem Versteck heraus den Verfolgern schwere Verluste zu, womit deren Moral gebrochen wäre; denn „ganz Israel weiß, dass dein Vater ein Held ( )גבורist und dass kampfstarke Männer ( )בני חילbei ihm sind“ (17,8–10). Das ist ein gewagtes Spiel: vor dem eitlen und ehrgeizigen Sohn den eben vertriebenen Vater so zu rühmen! Doch der kluge Huschai wird wissen, dass Söhne, die gegen ihre Väter rebellieren, in ihrem Herzen zuweilen zutiefst unsicher sind. Zudem hat er noch andere Adressaten im Blick: Abschaloms Entourage, die vor dem alten König wohl noch mehr Respekt hat, als dem neuen lieb sein kann. Nachdem er den Vorschlag seines Gegenspielers demontiert hat, muss er einen eigenen bieten. Der Hals über Kopf aus Jerusalem geflüchtete David braucht eines am dringendsten: Zeit, um sich und die in seinem Treck mitziehenden Frauen und Kinder in Sicherheit zu bringen, auch um seine Truppen zu formieren. So schlägt Huschai vor, „ganz Israel von Dan bis Beerscheba“ bei Abschalom zu versammeln, d.h. eine Generalmobilmachung durchzuführen. Mit hoch überlegener Truppenstärke werde man, wenn David sich in offenem Gelände aufhalte, „wie der Tau“ über ihn und seine Leute herfallen und keinen am Leben lassen; ziehe er sich aber in eine befestigte Stadt zurück, werde „ganz Israel Seile um sie legen und sie zu Tal schleifen“ (17,11–13). Anders als Ahitofel stellt Huschai nicht sich selbst in den Vordergrund, sondern einerseits Abschalom und andererseits Israel. Das schmeichelt dem Selbstwertgefühl des jungen Herrschers wie auch der Menge, die sich ja gern als Subjekt des Geschehens sieht, auch wenn sie nur für die Zwecke der Herrschenden missbraucht wird. In der Tat wird die israelitische Milizarmee hernach grausam dezimiert; 20'000 Mann sollen gefallen sein (18,7), und auch Abschalom stirbt einen elenden Tod. Kein Wunder – und doch ein Wunder –, dass Abschalom und „jedermann in Israel den Rat des Arkiters Huschai besser“ findet als denjenigen Ahitofels 12 13
So ausführlich auch Bodner, Motives, mit Rückgriff auf von Rad. Eine besonders feinsinnige Auslegung von Huschais Rede in 2Sam 17,7–13 bietet BarEfrat, Das Zweite Buch Samuel 172–176.
232
Haupt- und Nebenfiguren der Samuelbücher
(17,14a). Kein Wunder wegen des Raffinements von Huschais und der Schwächen von Ahitofels Vorschlag. Und doch ein Wunder angesichts des enormen Ansehens Ahitofels, das seine Desavouierung in einem so wichtigen Fall nicht erwarten ließ. Ein Wunder auch, weil in Wirklichkeit ja Ahitofels Plan „gut“ war (für Abschalom); das sagt nicht nur der Erzähler, das haben vor Huschais Gegenrede auch Abschalom und die Ältesten Israels befunden (17,4). Tatsächlich ein Wunder schließlich, weil „Jhwh es angeordnet hatte, dass der gute Rat Ahitofels vereitelt wurde“ (17,14ba). Nicht Davids oder Huschais Klugheit also war es letzten Endes, die Ahitofel um den Erfolg brachte und schließlich das Leben kostete;14 vielmehr war es der Wille Gottes, „über Abschalom das Unheil zu bringen“ (17,14bb). Der Halbvers 2Sam 17,14b ist, wie einst Gerhard von Rad mit Nachdruck feststellte, eine der wenigen und in seinen Augen hoch bedeutsamen theologischen Deutestellen in der sog. Thronfolgegeschichte. Der Erzähler tritt aus der Erzählung – man könnte auch sagen: aus dem narrativ erzeugten Bühnenbild – heraus, begibt sich kurzzeitig vorne an die Bühne und klärt das Publikum darüber auf, wie das Geschehen zu verstehen, genauer: wie es mit dem Wollen und Wirken Gottes in Verbindung zu bringen sei. Zuvor und hernach agieren Menschen auf der Bühne, klug und eitel, überzeugend und fehlerhaft, geschickt und grob; doch hinter der Bühne lenkt ein anderer, unsichtbar und unwiderstehlich, alles Handeln der Menschen zu dem von ihm vorgesehenen Ziel. Fürs erste ist das Ziel die Zerstörung der Ambitionen Abschaloms und damit der Erhalt der Herrschaft Davids. Irgendwann freilich muss diese enden und gemäß der Natanweissagung (7,11–16) in eine Herrschaft des Hauses David übergehen. Abschalom hat den Wechsel zu früh und zu eigensüchtig angestrebt; Gott wird dafür sorgen, dass er am Ende in geordneter Weise zustande kommt.15 Eine seltsam direkte und zugleich distanzierte Interaktion göttlichen und menschlichen Handelns ist es, die in 17,14b kurz zu Bewusstsein gebracht wird; im nächsten Satz schon ist der Erzähler wieder in der Erzählkulisse verschwunden. Derjenige, der sofort erkennt, wohin sich die Dinge nun entwickeln werden, ist Huschais Gegenspieler Ahitofel. Er sieht Abschaloms Scheitern voraus – und behält damit, einmal mehr, Recht. Für sich selbst sieht er keine andere Möglichkeit mehr als den Freitod (17,23): bei der außergewöhnlichen Urteilskraft dieses Mannes ein stillschweigender Hinweis darauf, welches Schicksal ihn, wäre er am Leben geblieben, bei Davids Rückkehr erwartet hätte.
14 15
Vgl. die ohne Emotion, erst recht ohne negative Wertung mitgeteilte Nachricht von seinem Suizid in 2Sam 17,23. Rost, Überlieferung, erklärte die Frage, „wer auf dem Thron Davids sitzen wird“ (1Kön 1,20.27) zur Leitfrage der von ihm postulierten, in 2Sam 7 anhebenden (und schon in der Ladegeschichte 1Sam 4–6; 2Sam 6 präludierten) Thronfolgegeschichte. Damit griff er weit – und doch literarisch noch nicht weit genug; zugleich führte er die Argumentation sachlich zu eng. Es geht in den Samuelbüchern nicht nur um den Thronfolger Davids, sondern um die Davididenherrschaft, ja, um die Findung einer dem Willen Gottes gemäßen politischen Struktur, die dem Leben und dem Wohl Israels und Judas einen sicheren Rahmen bot.
Davids Fünfte Kolonne beim Abschalom-Aufstand
1.4
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Die Priester und ihre Söhne (II)
Zadok und Abjatar werden von Huschai umgehend darüber informiert, was Ahitofel und was er selbst vorgeschlagen hat und was nun zu geschehen hat: David muss sich schleunigst vom Jordan weiter nach Osten zurückziehen (17,15f.); hätte Ahitofel sich durchgesetzt, wäre das nicht mehr möglich gewesen, dank Huschais Einsatz bleibt ihm jetzt begrenzte Zeit dafür. Bei Wege erfährt man, dass Davids Leute in Jerusalem ein regelrechtes Kassibersystem aufgebaut haben. Huschai informiert Zadok und Abjatar, die sich wie er in der Davidsstadt aufhalten. Ihre Söhne Ahimaaz und Jonatan warten außerhalb der Stadt, dort wo Hinnom- und Kidrontal zusammentreffen, beim Brunnen Rogel.16 Die Informationen von dort nach hier laufen über eine Sklavin, die zwischen der Stadt und En-Rogel hin- und herläuft. Das ist gut ausgedacht – und doch nicht unausspähbar. Ausgerechnet im konkreten Fall drohen die Häscher Abschaloms zuzugreifen. In einer vor Spannung knisternden Szene sieht man, wie die Priestersöhne im Dorf Bahurim – ausgerechnet dem Wohnort des David-Feindes Schimi17 – bei einem Bauernehepaar Unterschlupf finden, die Bäuerin sie in der Hofzisterne versteckt und die kurz darauf eintreffenden Verfolger in die Irre laufen (17,18–20).18 Die Boten gelangen so doch zu David und treiben ihn unter Verweis auf Ahitofels Ratschlag – von demjenigen Huschais ist, wohl zur Erhöhung der Dringlichkeit, gar nicht die Rede – zu höchster Eile an, und David reagiert sofort (17,21f). Danach scheint die Nachrichtenkette aus Jerusalem aufgehoben gewesen zu sein; denn die beiden Priestersöhne bleiben offenbar bei David. Der eine von ihnen, Ahimaaz ben Zadok, wird später als Botenläufer zwischen dem siegreichen Feldherrn Joab und dem in Mahanaim wartenden König figurieren. Noch einmal später wird auch sein Kompagnon Jonatan ben Abjatar eine Botenrolle spielen, indem er Adonija die Thronbesteigung Salomos meldet. So läuft dieser Erzählfaden über die Abschalom-Geschichte weit hinaus.
2
Diachrone Untersuchung
Das große Historienbild von Davids Ringen mit Abschalom gleicht einem kunstvoll gearbeiteten Teppich. Eine Vielzahl verschiedenfarbiger Fäden ist so verwebt, dass einerseits bestimmte Details prägnant hervortreten und andererseits doch die Gesamtübersicht nicht verloren geht. Davids Fünfte Kolonne beim 16
17 18
Jos 15,8 und 18,16 lokalisieren die Örtlichkeit als Grenzpunkt zwischen Juda und Benjamin. Aus 1Kön 1,9.41–43 geht hervor, dass dorthin zwar auffällige Geräusche aus der Stadt dringen können, dass genauere Informationen aber durch Boten übermittelt werden müssen. Vgl. 2Sam 16,5–13 und dazu Kipfer, Schimi. Ein bemerkenswerter Fall erzählerisch sanktionierter Lüge, der sich mit Gen 27 messen kann, freilich weniger bekannt ist.
Haupt- und Nebenfiguren der Samuelbücher
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Abschalom-Aufstand stellt ein bestimmtes Bündel solcher Einzelfäden dar, mit einer gemeinsamen Grundfärbung, in sich aber wieder unterschiedlich getönt und ausgerichtet. Sie werden untereinander, sie werden aber auch mit den anderen, stärkeren und schwächeren Fäden des Gesamtbildes verflochten – und bleiben doch je für sich gut erkennbar. Kurz leuchten sie auf, treten dann hinter andere zurück, um irgendwann wieder hervorzutreten; sie schimmern einmal funkelnd, einmal düster. Ohne Bild gesprochen: Die Erzählung zeichnet sich durch eine hohe Kunst der Figurenführung aus. Gleichwohl ist es sinnvoll, die Frage nach der Textgestalt um die nach der Textgenese zu ergänzen. Denn unter der fein gewebten Oberfläche des jetzigen Textes sind Anzeichen dafür wahrzunehmen, dass er nicht in einem Zuge entstanden ist. Seine insgesamt große Kohärenz lässt es nicht geraten erscheinen, sehr viele Entstehungsstufen anzunehmen. Nach meiner Auffassung kommt man mit zweien aus. Sie zu unterscheiden lohnt deshalb, weil der Text dabei an (literatur-)geschichtlicher Tiefenschärfe gewinnt. Methodisch gilt es vor allem auf die beiden Hauptmerkmale von Textdiachronie zu achten: Widersprüche und/oder Wiederholungen einerseits und unterschiedlich weitgespannte Erzählhorizonte andererseits.
2.1
Die Nebenfrauen
Das Schicksal der zehn Nebenfrauen Davids kündigt sich schon lange vor den Geschehnissen um Abschalom an: in 2Sam 12. Nachdem David sich des Ehebruchs mit Batscheba und des Mordes an Urija schuldig gemacht hat, sucht ihn der Prophet Natan auf und erzählt ihm die Geschichte von dem reichen Mann, der einem Armen sein einziges Schäfchen weggenommen hat. In seiner Empörung fällt David zwei Strafurteile: Der Täter müsse sterben, und er habe für das Lamm vierfachen Ersatz zu leisten (2Sam 12,5f) – eine etwas seltsame Reihenfolge: Logischer wäre, ihn zuerst Schadenersatz leisten zu lassen und dann hinzurichten. Natan spricht, nachdem er David als Täter identifiziert und die Missetat beim Namen genannt hat (12,7–9),19 zwei Drohungen aus: erstens, dass das Schwert nicht mehr von seinem Haus weichen werde (12,10), zweitens, dass ihm dereinst seine eigenen Frauen weggenommen werden sollten (12,11f). Die erste Ankündigung knüpft an das erste, das von David gesprochene Todesurteil an, wandelt es freilich in eine bleibende Todesdrohung gegen das Davidshaus um;20 diese wird sich in der Ermordung Amnons durch Abschalom, in Abschaloms Aufstand und Ermordung, weiter im Scheba-Aufstand, im Thronfolgekampf zwischen Adonija und Salomo und in noch manchen gewaltdurchtränkten Ereignissen erfüllen, die das Königshaus der Davididen erschüttern sollten. Die 19 20
Es muss hier nicht wiederholt werden, dass sich in 12,7–9 zwei Textschichten unterscheiden lassen: eine dtr und eine ältere; vgl. Dietrich, Prophetie 127–132. In 12,13f nimmt Natan, weil David Reue zeigt, diesen persönlich von der Drohung aus und verlagert sie auf das im Ehebruch gezeugte Kind: auch dies eine unverkennbar sekundäre Texterweiterung.
Davids Fünfte Kolonne beim Abschalom-Aufstand
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zweite Ankündigung bezieht sich offenbar auf das Schadensersatz-Urteil Davids. Sie hat den Wortlaut: „Ich werde gegen dich aus deinem [eigenen] Haus Unheil ( )רעהaufstehen lassen und deine Frauen ( )את־נשׁיךwegnehmen vor deinen Augen und sie deinem Nächsten21 geben, und er wird bei deinen Frauen ( )עם־נשׁיךliegen vor den Augen dieser Sonne; denn du hast es im Verborgenen getan, ich aber will diese Sache tun vor ganz Israel ( )נגד כל־ישׂראלund vor der Sonne.“ Diese Prophezeiung erfüllt sich offenkundig in der Episode von den Nebenfrauen Davids in der Abschalom-Geschichte. Die einzelnen Nachrichten über das Schicksal dieser Frauen lassen sich relativ leicht von ihrem Kontext abheben. Als Abschalom von Hebron her auf Jerusalem vorrückt, fordert David seine Getreuen auf: „Auf, lasst uns fliehen, denn es gibt für uns [sonst] keine Rettung vor Abschalom“ (15,14a). Seine Diener sind bereit, mit ihm zu gehen (15,15). Dazwischen schiebt sich ein weiterer Aufruf Davids: „Schnell, damit Abschalom uns nicht schnell erreicht und über uns das Unheil ( )רעהbringt“ (15,14b). Dieser Satz wäre nicht nötig, zeigt aber auffällige Nähe zu der zweiten Strafandrohung Natans. David (der literarische natürlich!) identifiziert die Rebellion Abschaloms als das von Natan angekündigte „Unheil“ (רעה, 12,11). Natan hatte damals angedroht, sein „Nächster“ werde ihm seine Frauen ( )נשׁיךwegnehmen. Offenbar deshalb hinterlässt David seinem Sohn jetzt zehn Nebenfrauen: ein Akt vorgängiger Schadensbegrenzung. Denn Nebenfrauen rangierten gesellschaftlich auf niedrigerer Stufe als Hauptfrauen. In einer alten Liste wird sprachlich klar unterschieden: „Und David nahm weitere Nebenfrauen und Frauen ( )ונשׁים פלגשׁיםaus Jerusalem …; und es wurden David weitere Söhne und Töchter geboren“ (2Sam 5,13); in der nachfolgenden Auflistung figuriert u.a. Salomo, dessen Mutter Batscheba klar eine Hauptfrau war. Eine weitere Liste aus Davids Hebroner Zeit zählt die ersten sechs Söhne und deren Mütter auf (2Sam 3,2–5) – zweifellos auch sie Hauptfrauen und darum ihre Söhne, voran Amnon und Abschalom, potentielle Thronerben. Söhne von Nebenfrauen hingegen waren anscheinend nicht voll erbberechtigt,22 und ihre Mütter hatten einen sozial vergleichsweise niederen Status.23 Da die Wahl von Frauen bei David (und überhaupt bei Königen) in erster Linie nach politischen Gesichtspunkten erfolgte,24 dürften diejenigen Sippen und Gruppen, die im königlichen Harem durch eine Hauptfrau vertreten waren, von größerem Gewicht gewesen sein als solche, die nur Nebenfrauen stellen durften. Die Abtretung solcher Frauen ist – was nicht zynisch klingen soll – ein politisch begrenzter Verlust.
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MT hat einen scheinbaren Plural, לרעיך, der aber in Wahrheit ein Singular sein dürfte (vgl. GK 271902, § 93ss). So muss man nicht auf die gemäß de Rossi „vielen Handschriften“ zurückgreifen, die den Singular לרעךbieten (vgl. BHS). Die LXX übersetzt entsprechend: tw|= plhsi/on sou. Die Söhne der Nebenfrauen Abrahams bleiben zugunsten Isaaks vom Erbe ausgeschlossen, Gen 25,6. Vgl. Engelken, Art. פלגשׁpilægæš, bes. 587f, sowie Plautz 1963, 9: „Die pîlægæš steht auf einer niedrigeren sozialen Stufe als die Hauptfrau.“ Bezeichnenderweise wird nirgendwo in den alttestamentlichen Rechtstexten der rechtliche Status der פלגשׁgeregelt. Vgl. Levenson/Halpern, Political Impact.
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Haupt- und Nebenfiguren der Samuelbücher
Nun ist interessant zu sehen, wie die betreffende Nachricht in den Kontext eingefügt worden ist. Die Verse 2Sam 15,16 und 17 beginnen beide mit den fast gleichen Worten: „Und der König zog aus, und das ganze … folgte ihm auf dem Fuß“ ( ;)ויצא המלך וכל־״ ברגליוabgesehen nur davon, dass ihm einmal „sein Haus“, einmal „das Volk“ folgte, handelt es sich um eine klassische Dublette. Der Gedanke liegt nahe, dass der dazwischen stehende Satz „Und der König ließ zehn Nebenfrauen zurück, das Haus zu hüten“ (15,16b) mittels einer (fast) wörtlichen Wiederaufnahme in die Erzählung eingesetzt wurde. Dabei werden die Nebenfrauen als נשׁים פלגשׁיםbezeichnet; normalerweise genügt פלגשׁים, doch durch die Beifügung von נשׁיםwird die Nähe des Vorgangs zur Androhung Natans unterstrichen. Als wenig später Abschalom mit den Seinen in Jerusalem eingerückt ist, gibt Ahitofel ihm als erstes den Rat, die Nebenfrauen Davids in Besitz zu nehmen, und Abschalom scheint diesen Vorschlag umgehend auszuführen (16,21f). Der Vorgang mutet einigermaßen skurril an: Gibt es mitten in einem politischen Umsturz nichts Anderes zu tun, als auf dem Palastdach ( )גגein Zelt aufzuschlagen und dann „ganz Israel“ ( )כל־ישׂראלzuschauen zu lassen, wie der neue Machthaber „eingeht zu den Nebenfrauen seines Vaters“?25 Nun hatte einst David von eben diesem Dach aus ( )גגdie schöne Batscheba sich waschen sehen (11,2), und Natan hatte angekündigt, die Vergeltung für den Ehebruch solle vor „ganz Israel“ ( )כל־ישׂראלgeschehen (12,11). Die befremdliche Szene auf dem Palastdach ist also nichts anderes als die Erfüllung von Natans zweiter Drohung. Befremdlich wie die Szene selbst mutet die Rolle an, die Ahitofel dabei spielt. Er, der in seinem zweiten Ratschlag Abschalom zu äußerster Eile treibt (17,1–3), soll zuvor die öffentliche Inbesitznahme von zehn Frauen durch Abschalom veranlasst haben. Gleich, wie dieser Vorgang im Einzelnen vorzustellen sein mag:26 Er bedeutete allemal eine zeitliche Verzögerung der Verfolgung Davids. So sitzt auch hier das Nebenfrauen-Motiv relativ locker im Erzählkontext. Auffällig ist überdies die von Ahitofel verwendete Terminologie: Abschalom werde sich durch die Inbesitznahme der Frauen bei David „stinkend machen“ ( באשׁNif.) und dadurch seine Anhänger noch fester an sich binden. Ganz Ähnliches wird von Sauls Revolte gegen die Philister (1Sam 13,4) und vom Konflikt der Ammoniter mit David (2Sam 10,6) berichtet. Jedenfalls dieser zweite Beleg gehört zu einem Textabschnitt, der der alten Erzählung vom Batscheba-Urija-Skandal sekundär vorgeschaltet worden ist, um die Kriegsschuld von David weg auf die Ammoniter zu schieben.27 Da auch der Auftritt Natans als Gerichtsprophet eine sekundäre Weiterung der Batscheba-Salomo-Novelle 25
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Würthwein (Erzählung 37–39) widerlegt plausibel die immer wieder geäußerte Behauptung, in Juda habe die Übernahme des Harems des Vorgängers gleichsam zum Ritual des Thronwechsels gehört; vielmehr sei das in 2Sam 16,22 Geschilderte nichts anderes als „eine in Israel unerhörte Beschimpfung Davids durch seinen Sohn“, und Ahitofel werde dadurch, dass man ihm solch „ruchlosen Rat“ zuschrieb, desavouiert (39). In der Vorankündigung in 2Sam 12,11 ist immerhin vom „Liegen“ ( )שׁכבbei den Frauen die Rede, so dass auch in 2Sam 16,22 nicht nur mit einer symbolischen und darum zeitlich kurz bemessenen Handlung zu rechnen ist. Hentschel, Kriege; Hübner, Ammoniter 174.
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ist,28 bewegen wir uns mit dem Motivzug von den zehn Nebenfrauen nicht auf einer primären, sondern einer sekundären Textebene. Als ob der dafür verantwortliche Autor die Verwunderung seiner Leserschaft über den merkwürdigen Rat Ahitofels und seine Befolgung durch Abschalom vorausgesehen hätte, bietet er selbst eine Erklärung an (wobei er wieder einmal aus den Kulissen tritt und das Publikum direkt anspricht): Der Rat dieses Mannes sei „in jenen Tagen gewesen, wie wenn man nach dem Wort Gottes fragt“29 (16,23). Hier werden zwei Motive gebraucht, die wiederum anderswoher aus den Davidgeschichten bekannt sind. Mehrmals – und immer in vom Höfischen Erzähler geformten Reden – wird David verglichen mit dem „Engel Gottes“ ()מלאך האלהים, dem nichts verborgen bleibe.30 Ganz so nah an „Gott“ wie David ist Ahitofel nicht, doch er kommt dem nahe. Auch die Befragung Gottes (Wurzel )שׁאלist in den David- (und Saul-) Geschichten ein immer wiederkehrendes Thema: David befragt Gott häufig und stets erfolgreich, Saul nicht häufig und wenig erfolgreich.31 Nun wird sich auch Ahitofels Rat, der angeblich so viel galt wie eine Gottesbefragung, als wenig glücklich erweisen. Schließlich die Schlussnotiz über die Nebenfrauen in 2Sam 20,3: Auch sie ist nicht fest im Kontext verankert. Dieser berichtet davon, wie der Benjaminit Scheba die Israeliten auf seine Seite zog und nur noch die Judäer zu David hielten (2Sam 20,2), und wie David daraufhin seinem neuen Heerführer Amasa befiehlt, umgehend die Judäer zur Verfolgung Schebas aufzubieten (20,4). Dazwischen ist, fast störend, von der Einschließung der durch Abschalom kontaminierten Nebenfrauen die Rede. Vermutlich sollte die Geschichte von Davids Flucht und Rückkehr zuerst abgeschlossen sein, ehe die nächste vom SchebaAufstand weiterverfolgt wird. Gleichwohl wirkt 20,3 wie ein Fremdkörper.32 Damit ist der gesamte Motivzug von den Nebenfrauen, die David dem andrängenden Abschalom überlassen haben soll, einschließlich seiner Vorbereitung in der Gerichtsrede Natans als sekundär erwiesen. Wer mag dafür verantwortlich sein? Sicherlich kein Deuteronomist (oder ein noch jüngerer Ergänzer); dafür gibt es weder ideologisch noch terminologisch Anhaltspunkte. M.E. könnte es sehr wohl der Höfische Erzähler gewesen sein, der über einen genügend weiten Erzählhorizont verfügte und den anscheinend sein Gerechtigkeitssinn zu der Annahme führte, dass David für sein Vergehen an Batscheba und Urija nicht nur an Leib und Leben (dem eigenen oder dem seiner Kinder) büßen, sondern gewissermaßen auch materiellen Schadenersatz leisten musste. Freilich konnte David erwirken, dass die Strafe weniger hart ausfiel, als von Natan angekündigt: Er verlor nicht alle seine Frauen, sondern „nur“ zehn Nebenfrauen. Eine Demütigung war dies gleichwohl, die deutlich macht, dass auch dieser Kö-
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Früher meinte ich (Prophetie 132): von DtrP. Mittlerweile denke ich: von HE – freilich erweitert um DtrP-Zusätze in 12,7–9. Vgl. Dietrich, David 56–59. So die wörtliche Übersetzung von כאשׁר ישׁאל בדבר האלהים. 2Sam 14,17.20; 19,28. Vgl. 1Sam 22,10.13.15; 23,2.4; 30,8; 2Sam 2,1; 5,19.23 bzw. 1Sam 10,22; 14,37; 28,6.16. So auch Würthwein, Erzählung 39f.
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Haupt- und Nebenfiguren der Samuelbücher
nig nicht über den göttlichen und gesellschaftlichen Gerechtigkeitsnormen stand. Der gleiche Grundgedanke kommt übrigens in der Erzählung vom Tod des Erstgeborenen Batschebas in 2Sam 12,15b–23 zum Ausdruck. Auch sie gehört nicht ursprünglich zur alten Batscheba-Salomo-Novelle, sondern wurde vom Höfischen Erzähler eingesetzt.33 Auch hier handelt es sich um eine abgemilderte Strafe, stand ursprünglich doch die Todesstrafe für David selbst im Raum. Seine Reue indes hat bewirkt, dass er verschont und dafür das Kind getroffen wird. David empfindet auch dies als Demütigung, gegen die er sich mit aller Kraft wehrt, unter die er sich aber am Ende beugt – um anschließend mit Batscheba ein zweites Kind zu zeugen: Salomo, den späteren Thronerben.
2.2
Die Priester und ihre Söhne
Die Priester Zadok und Abjatar treten in 2Sam 15,24–29 in die Abschalom-Geschichte ein. Dabei fällt auf, dass sie nicht gleichrangig behandelt werden, sondern Zadok anscheinend auf Kosten Abjatars in den Vordergrund tritt. Zunächst hört man nur von Zadok, dass er zusammen mit den Leviten34 die Lade bediente, dann wird wie nebenbei noch erwähnt, dass Abjatar opferte.35 Danach redet David scheinbar nur mit Zadok, um dann – fast meint man: ein wenig widerwillig – auch Abjatar einzubeziehen. Ähnliches geschieht interessanterweise in der Liste der davidischen Spitzenfunktionäre in 2Sam 8,16–18. Dort werden „Zadok ben Ahitub und Ahimelech ben Abjatar“ als Priester genannt (8,17).36 Sonst trägt Zadok nirgendwo einen Vatersnamen, und in diesem Fall ist es der Name – des Großvaters Abjatars! Das geht aus der Erzählung von Sauls Massaker an den Priestern von Nob in 1Sam 21f hervor. Korrekt hätte die Angabe also lauten müssen: „Zadok und Abjatar ben Ahimelech ben Ahitub [waren] Priester“.37 Der Grund für solche Ungleichbehandlung lässt sich erahnen. Abjatar hielt beim Ringen um die Thronfolge zu Adonija, Zadok zu Salomo,38 und Salomo vergaß es keinem von beiden. Wohl deshalb wird die Erinnerung an einen Priester, der zur Zeit Davids mit Zadok auf einer Stufe stand, wiederholt und absichtsvoll verdunkelt. Der literarische Horizont dieser ‚prozadokidischen’ 33 34
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Vgl. Dietrich, Königszeit 260–262. Die Erwähnung der Leviten als Träger der Lade wird gern als dtr Einschub (vgl. Dtn 31,9.25, auch Jos 3,3; 8,33; 1Kön 8,4) gewertet. Van Seters (Biblical Saga 310) nimmt sie dagegen als willkommenes Argument für seine – als solche kaum glaubhafte – Theorie, die gesamte sog. Thronfolgeerzählung sei ein nachexilischer Nachtrag zur Davidgeschichte. Das Sätzchen ויעל אביתרfindet sich sogar nur in MT. Die LXX scheint es entweder nicht vorgefunden oder überlesen zu haben. So MT, doch weichen die Versionen und auch 1Chr 18,16 nicht davon ab. Ganz schlicht lautet die entsprechende Angabe in der zweiten davidischen Beamtenliste im sog. Anhang zu den Samuelbüchern (also außerhalb von deren hauptsächlichem Erzählzusammenhang): „Zadok und Abjatar waren Priester“ (2Sam 20,25). 1Kön 1,7f.19.25.34.39.
Davids Fünfte Kolonne beim Abschalom-Aufstand
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Revision der Überlieferung reicht zurück bis 2Sam 8 (womöglich sogar bis 1Sam 21f) und voraus bis 1Kön 2 (oder 1Kön 4). M.E. muss man hier keinen eigenen Bearbeiter, sondern kann gut den Höfischen Erzähler am Werk sehen, der ja in der Nähe des Jerusalemer Palastes und Tempels tätig gewesen sein wird. Sein theologisches Profil tritt klar in der kleinen Rede zutage, die David dem Zadok hält: „Bring die Gotteslade zur Stadt zurück. Wenn ich Gnade in Jhwhs Augen finde, wird er mich zurückkehren und ihre Ruhestätte sehen lassen. Wenn er aber sagt: ‚Ich habe keinen Gefallen an dir’ – siehe, dann möge er mir tun, wie es gut ist in seinen Augen“ (2Sam 15,25f). Dieser Passus lässt sich aufgrund einer doppelten Redeeinleitung – in 15,25 wie in 15,27 heißt es wortgleich: „Und der König sagte zu Zadok“ – leicht herauslösen.39 Seine Formulierungen sind wohlerwogen. Die Wendung „Gnade finden in den Augen Jhwhs“ findet sich sonst nirgends in den Samuelbüchern,40 und auch, dass Jhwh an jemandem oder etwas „(keinen) Gefallen findet“ ()חפץ, wird selten gesagt.41 Zu der Formulierung „Er [Jhwh] tue mir, wie es gut ist in seinen Augen“ ( יעשׂה לי )כאשׁר טוב בעיניוgibt es indes signifikante Parallelen: In 1Sam 3,18 antwortet Eli auf die vernichtende Mitteilung dessen, was Gott dem Samuel während der Nacht eröffnet hat: „Es ist Jhwh. Er tue das Gute in seinen Augen“ ( הטוב בעיניו )יעשׂה. In 2Sam 10,12, nachdem er einen Schlachtplan gegen die Ammoniter und Aramäer entwickelt hat, sagt Joab unerwartet fromm und feierlich: „Und Jhwh wird/soll das Gute in seinen Augen tun“ ()יהוה יעשׂה הטוב בעיניו.42 In 2Sam 11,27b schließlich gibt der Erzähler das göttliche Urteil zur Batscheba-Urija-Affäre bekannt: „Böse war in den Augen Jhwhs die Sache [die David getan hatte]“ ( וירע )הדבר בעיני יהוה. Jedenfalls an den letzten beiden Stellen bewegen wir uns auf einer sekundären Textebene, genauer: haben wir es wohl mit keinem anderen zu tun als dem Höfischen Erzähler.43 Ob er auch 1Sam 3,18 formuliert oder sich die dortige Formulierung zum Vorbild genommen hat, kann offenbleiben. Durch den Einschub von 2Sam 15,25f44 betont der Höfische Erzähler, dass 39 40 41
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Eng verwandt damit ist die fromme Rede, die David dem Abischai auf den Vorschlag hin hält, den unbotmäßigen Schimi zu töten: 2Sam 16,10–12. Sonst geht es immer darum, in den Augen von Menschen Gnade zu finden: 1Sam 16,22; 20,3.29; 27,5; 2Sam 14,22; 16,4. Vgl. nur noch 1Sam 2,25 (Jhwh war darauf aus, die Eliden zu töten); 15,22 (Jhwh hat kein Gefallen an Opfern); 2Sam 22,20; 23,5 (Jhwh hat Gefallen an David – eine Aussage aus den beiden Liedern am Ende der Sam-Bücher). Im Übrigen sind immer Menschen das Subjekt, während die Objekte wechseln können: 1Sam 18,22 (Saul an David); 19,1 (Jonatan an David); 2Sam 20,11 (Soldaten an Joab); 24,3 (David an der Volkszählung). Ansonsten dominiert der profane Gebrauch, wonach etwas „gut in den Augen“ von jemandem ist: 1Sam 1,23 (in den Augen Hannas); 11,10 (der Ammoniter); 14,36.40 (Sauls); 29,6 (Achischs); 2Sam 3,19 (Israels und Benjamins); 19,19.28.38.39; 24,22 (Davids). Veijola hingegen (Dynastie 44f) hält 2Sam 15,25f für dtr. Nach Würthwein (Erzählung 43) wären auch noch die Verse 15,24 und 15,29 sekundär, womit die Lade aus der älteren Textfassung verschwände. Dies scheint mir aus literarkritischen und aus (literar-)historischen Gründen nicht plausibel: Für die Ausgrenzung auch des Anfangs- und des Schlussverses der Episode lassen sich keine textlichen Gründe benennen; und das uralte Element der Portabilität der Lade und ihrer Mitführung
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David auf die Lade nur mit Schmerzen und in tiefer Gottergebenheit verzichtete – und nicht etwa aufgrund irgendwelcher Nützlichkeitserwägungen. Um solche freilich geht es gleich im Anschluss. In 15,27f. fordert David die Priester auf, in die Stadt zurückzukehren, um dort zusammen mit ihren Söhnen ein verdecktes Nachrichtensystem aufzubauen. Offenbar gelangen wir hier auf eine ältere Textebene, in der es betont um die Priester als Mitglieder einer Fünften Kolonne geht. Hier hat der Höfische Erzähler höchstens insofern eingegriffen, als er auch jetzt wieder Zadok gegenüber Abjatar hervorzuheben scheint:45 David spricht von „deinem Sohn Ahimaaz und Jonatan, dem Sohn Abjatars“, als wäre dieser nicht in der Nähe (15,27) – obwohl er gleich danach eine pluralische Anrede gebraucht („Seht!“, 15,28). Auch der Abschluss wirkt etwas uneben: Es „brachte [!]46 Zadok und Abjatar die Gotteslade nach Jerusalem zurück und setzten [!]47 sie dort nieder“ (15,29). In 2Sam 17,15–22 dann sieht man den priesterlichen Nachrichtendienst in Aktion. Huschai informiert „Zadok und Abjatar, die Priester“ (jetzt einmal einträchtig nebeneinander, 17,15), und diese leiten die Information auf die beschriebene Weise weiter. Die spannende Episode über das knappe Entkommen der Priestersöhne vor den Häschern Abschaloms könnte in dem Dorf Bahurim lokal verankert sein. Anscheinend wird man hier eines weiteren alten Überlieferungsstücks ansichtig.48 Ein solches dürfte nicht in dem Botenwettlauf zwischen Ahimaaz ben Zadok und dem Kuschiter in 2Sam 18,19–32 vorliegen. Dafür ist die Szene zu sehr auf den um seinen Sohn bangenden David fokussiert und lehnt sie sich zu eng an andere, teils weit entfernt stehende Botenszenen an:49 beides Hinweise auf die Verfasserschaft des Höfischen Erzählers. Analoges gilt für die Botenszene mit Jonatan ben Abjatar, dem einstigen Kompagnon des Ahimaaz, nach Salomos Machtergreifung (1Kön 1,41–48). Sie ist bis in einzelne Begriffe parallel – besser: reziprok – zu Ahimaaz’ Botenlauf gestaltet: Von beiden wird erhofft, dass sie „gute Nachricht“ überbringen, doch beide sind in gewisser Weise Unheilsboten.50 Freilich stand Jonatan beim Thronwechsel auf der Verlierer-, Ahimaaz
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im Krieg (vgl. 1Sam 4 und 2Sam 11,11) wird Jahrhunderte nach ihrer Verbringung ins Allerheiligste des Salomonischen Tempels kaum mehr repristiniert worden sein. Vgl. den erwähnten, schwer erklärlichen Wechsel von singularischen und pluralischen Verbformen. MT: ;וישׁבLXXLA haben hier indessen den Plural a)pe/streyan, LXXB aber wiederum den Singular a)pe/streyen. Der Plural nur in MT, in den LXX-Versionen hingegen hier generell der Singular (mit verschiedenen Verben). Für Van Seters hingegen (Biblical Saga 315) ist sie der Kundschaftergeschichte von Jos 2 nachgebildet. Vgl. 1Sam 4,12–18; 2Sam 1,1–16; 4,9–12; 11,18–25; 12,18 und dazu den Beitrag von Tamarkin Reis (Messenger), in dem betont wird, dass David in all diesen Szenen als kühl kalkulierender Politiker erscheine: Er töte Boten nicht, wie man meinen könnte, wegen der schlechten Nachrichten, die sie überbringen (und damit irrational), sondern weil und sofern ihre Tötung für ihn politisch nützlich ist. Obwohl bedenkenswert, ist diese Sichtweise vielleicht zu stark historisch und zu wenig literarisch ausgerichtet. Näheres zur sprachlichen und formalen Gestaltung dieser beiden Botenszenen bei Dietrich, Königszeit 270f.
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dagegen auf der Siegerseite; entsprechend wird die Familie des einen aus Jerusalem verbannt, die des anderen aber zur führenden Priesterfamilie in Jerusalem (1Kön 2,26f.35; 4,2).51 Damit bewegen wir uns indes weit außerhalb der Geschichte von Abschaloms Rebellion. In dieser – genauer: in dem älteren Textstratum, das dem Höfischen Erzähler vorlag – gehören die beiden Priester mit ihren Söhnen einträchtig zur Fünften Kolonne Davids.
2.3
Der Ratgeber
Oben auf dem Ölberg trifft David auf „Huschai, den Arkiter“, der alle Zeichen von Trauer über den Weggang des Königs zeigt (2Sam 15,32). David sendet ihn nach Jerusalem zurück mit einem doppelten Auftrag: Er soll einerseits – offenbar als Ratgeber – dem Einfluss Ahitofels entgegenwirken, andererseits ihm, David, Nachrichten aus dem Königspalast zukommen lassen (15,33–36).52 Der Auftrag ist offensichtlich heikel, und Huschai geht ihn mit Raffinesse an. Zunächst huldigt er Abschalom emphatisch: „Es lebe der König! Es lebe der König!“53 (2Sam 16,16b). Als Abschalom lauernd fragt, warum Huschai seinen „Freund“ derart hintergehe, antwortet dieser: „Wen Jhwh, wen dieses Volk und wen jedermann in Israel erwählt hat, zu dem werde ich gehören, und bei dem werde ich bleiben!“ (16,18). Die Worte sind äusserst geschickt gesetzt. Der Huldigungsruf lässt offen, wer der „König“ ist, der „leben“ soll.54 Abschalom soll natürlich denken, er sei gemeint. Und wenn Huschai dem dienen will, den Jhwh und das Volk „erwählt“ haben, soll Abschalom wiederum denken, das sei er, doch könnte (und wird!) Huschai an David denken.55 Zu der von Huschai geübten Kunst doppeldeutiger Rede gibt es mehrere Parallelen in den Davidgeschichten. In 1Sam 29,8 erklärt David seinem Lehensherrn, dem König Achisch von Gat, vor der Entscheidungsschlacht gegen Saul, er wolle unbedingt mitziehen und gegen die „Feinde“ seines „Herrn“ kämpfen. Auch diese Worte sind doppelbödig, und Achisch bemerkt das nicht; er betrachtet natürlich sich als den „Herrn“ und die Israeliten als die „Feinde“, während David nach wie vor Saul 51
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In 1Kön 4,4 werden allerdings noch Zadok und Abjatar nebeneinander als Oberpriester im Dienst Salomos aufgeführt. Sollte die Ministerliste in 1Kön 4,2–5 aus der allerersten Zeit Salomos stammen – oder sind hier versehentlich die Angaben aus 2Sam (8,17 und) 20,25 fortgeschrieben? Der Auffassung Rudnigs (Davids Thron 223–233, überblickend 373), die Erzählzüge von „Huschai dem Berater“ und von „Huschai dem Spion“ seien literarkritisch voneinander zu trennen, vermag ich nicht zu folgen. Die Wiederholung fehlt in LXX und in zwei hebräischen Handschriften – eher zum Nachteil des Textes. Das ist schon mehrfach bemerkt worden, z.B. von Conroy, Absalom 114, und Hagan, Deception 315f. Gemäß den vorangehenden Erzählungen ist David der, der von Jhwh und Israel erwählt worden ist: verbaliter in 1Sam 16,8–10; 2Sam 6,21, der Sache nach in 2Sam 3,17–21; 5,1–3. Über Abschalom gibt es derartige Aussagen nicht, sondern nur die, dass er „das Herz der Männer Israels stahl“ (2Sam 15,6).
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für seinen „Herrn“ und die Philister für dessen „Feinde“ halten könnte (und nach Meinung des Autors gewiss gehalten hat). Der Erzähler legt uns nahe zu denken: Wären die Philister nicht misstrauisch geworden – David hätte die Niederlage Israels auf den Gilboa-Bergen abwenden können. Ein weiteres Beispiel verdeckter Rede findet sich im näheren Kontext: Nach der Schlacht gegen Abschalom weiß Ahimaaz ben Zadok genau, warum es gefährlich ist, David die Siegesbotschaft zu überbringen: Bei der Schlacht ist auch sein Sohn Abschalom ums Leben gekommen. Ahimaaz versteht es, seine Worte so zu wählen, dass dieser tragische Aspekt ausgeklammert bzw. vernebelt wird (2Sam 18,28f). So erhält David Gewissheit über das Schicksal seines Sohnes erst von dem zweiten Boten, dem Kuschiter. Der Kunst der zweisinnigen Rede bedienen sich noch zwei weitere Erzählfiguren. Der Prophet Natan möchte den König zur Rede stellen wegen des Batscheba-Urija-Skandals – und erzählt dazu die Geschichte von einem armen Mann, dem ein Reicher sein einziges, geliebtes Schäfchen weggenommen hat (2Sam 12,1–6). Und eine weise Frau aus Tekoa, die David zur Milde gegen den Brudermörder Abschalom bewegen will (bzw. dies im Auftrag Joabs tun soll), erzählt von ihren beiden Söhnen, von denen einer den andern getötet habe und nun seinerseits getötet werden solle, so dass sie beider Söhne beraubt werde (2Sam 14,5–7). In beiden Fällen nimmt David die Geschichten für bare Münze und fällt Entscheide, die ihn selbst betreffen. Es ist kein Zufall, dass es sich in allen genannten Fällen um Reden handelt. Reden sind in der erzählenden Traditionsliteratur der bevorzugte Ort, an dem Gesamterzähler oder Redaktoren ohne Störung des Handlungsablaufs in die von ihnen weiterzugebende Tradition eingreifen können. Gute Beispiele dafür sind etwa die Reden, die in den beiden Verschonungsgeschichten 1Sam 24 und 26 Saul und David und die in der Abigajil-Geschichte 1Sam 25 Abigajil und David führen. M.E. war es kein anderer als der Höfische Erzähler, der durch diese Redepartien den berichteten Ereignissen die ihm angemessen scheinende Deutung gab.56 In solchen Passagen erweist er sich als Meister einer Kunst, die man bei Hofe zu beherrschen hatte, wenn man an höherer und höchster Stelle schwierige Sachverhalte und unangenehme Wahrheiten vorzubringen beabsichtigte. In welchem Umkreis solche Redekunst gepflegt wurde, erhellt aus Weisheitsadmonitiven wie: „Fürchte Jhwh, mein Sohn – und den König!“ (Spr 24,21) oder: „Wessen Lippen anmutig sind, dessen Freund ist der König“ (Spr 22,11). Ist es Zufall, dass Huschai mehrere Male betont als der „Freund“ ([ )רע]הDavids bezeichnet wird?57 Laut der salomonischen Ministerliste 1Kön 4,2–5 war dies der offizielle Titel eines hohen Würdenträgers bei Hofe.58 Vermutlich war der „ רעה המלךeine Vertrauensperson, die den König berät und aktiv um die Sicherung seiner Herrschaft bemüht ist“.59 In den Ministerlisten Davids (2Sam 56 57 58 59
Vgl. Dietrich, Verschonung. 2Sam 15,37; 16,16.17. Vgl. 1Kön 4,5: „Sabud ben Natan, der Freund des Königs“. MT hat hier, anders als LXX, noch das Wort כהן, „Priester“, das wohl fehl am Platz ist. Rüterswörden, Beamten 73; dort in Anm. 12 weitere Spezialliteratur, danach eine ausführliche Diskussion der altorientalischen Parallelen (74–77).
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8,16–18; 20,23–26) fehlt zwar ein Träger dieses Titels, doch scheint eben Huschai die betreffende Funktion schon ausgeübt zu haben. Er gehörte der Sippe der Arkiter an, die offenbar in der Gegend von Atarot, westlich von Bet-El, ansässig war und zum Stamm Efraim zählte.60 Demnach war Huschai Israelit und damit Repräsentant des Nordens in der von David errichteten Doppelmonarchie. Sein Gegenspieler Ahitofel hingegen stammte aus der südlich von Jerusalem gelegenen, also judäischen Ortschaft Gilo.61 Da der Aufstand Abschaloms wesentlich von den Nordisraeliten getragen worden zu sein scheint, erklärt sich so vielleicht zu einem Teil der Triumph des Israeliten Huschai über den Judäer Ahitofel. Wir kommen mit all diesen Erwägungen wieder auf die älteste Textebene, die relativ nahe an die Ereignisse des Abschalom-Aufstandes heranzuführen scheint. Der Höfische Erzähler verlieh Huschais kühnem Einsatz für seinen „Freund“ David zusätzlichen rhetorischen Glanz. In der ursprünglichen Erzählung hatte er auf Abschaloms misstrauische Frage hin (2Sam 16,17) lediglich das geantwortet, was David ihm zu sagen empfohlen hatte: dass er eben die Seite gewechselt habe (vgl. 16,19 mit 15,34). Durch die vom Höfischen Erzähler eingefügten, raffiniert doppelbödigen Aussagen in 16,16.18 versteht er es nun, den nach der Macht gierenden, eitlen Abschalom zu blenden. Dieser hält sich an die schimmernde Oberfläche seiner Worte – und tappt prompt in die darunter liegende Falle. Vermutlich stellte sich der Höfische Erzähler vor, dass er Huschai mit einem geschmeichelten, zufriedenen Lächeln entließ. Es folgt die Szene vom Berater-Wettstreit vor Abschalom. Auch von ihr ist noch eine Grundfassung erkennbar, die der Höfische Erzähler auf markante Weise erweitert und verändert hat. Den ersten Hinweis gibt eine Spannung im Text von 2Sam 16,20: Seltsamerweise wendet sich Abschalom mit einer pluralischen Aufforderung an Ahitofel: הבו לכם עצה, „Gebt euren Rat!“ Nimmt man den Plural ernst,62 werden von mindestens zwei Leuten Ratschläge verlangt: von Ahitofel – und von Huschai (der eben nicht entlassen wurde, sondern wie Ahitofel vor Abschalom und seinen Leuten steht). Ahitofel nimmt zuerst das Wort. Es folgt die unsägliche Aufforderung, zu den zehn Nebenfrauen „einzugehen“. Wir haben sie bereits dem Höfischen Erzähler zugewiesen und können sie jetzt beiseite lassen. Ahitofel setzt ohne eigene Aufforderung erneut ein: „Und Ahitofel sagte zu Abschalom“ (2Sam 17,1, vgl. die wortgleiche Formulierung in 16,21). Es folgt jener Rat (bzw. Ahitofels persönliches Anerbieten), David sofort nachzusetzen, seine Krieger auseinanderzutreiben und ihn allein zu töten (17,2f), was Abschalom und alle „Ältesten Israels“ einleuchtend finden (17,4). Folgt man der eingeschlagenen Spur und denkt sich Huschai als neben Ahitofel stehend, dann würde darauf sofort sein Ratschlag folgen: „Und Huschai sagte zu Abschalom“ (17,7). Davor steht aber jetzt ein Passus, in dem Huschai 60 61 62
Vgl. Jos 16,2, dazu auch 16,5 und 18,13. Vgl. Mazar, Art. Giloh. Gleich, ob es sich bei הבוum einen regulären Imperativ des Verbs handelt (so HAHAT18, 445) oder um eine zur Interjektion erstarrte Wendung (so HALAT 236f, s.v. )הב: es ist ein Plural, was durch das Pluralsuffix in לכםnoch unterstrichen wird.
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als nicht anwesend vorgestellt ist, sondern eigens herbeigerufen, von Abschalom über Ahitofels Ratschlag informiert und zur Stellungnahme aufgefordert werden muss (17,5f), worauf Huschai tatsächlich ausgiebig zu Ahitofels Vorschlag Stellung nimmt, deutlicher: ihn destruiert (17,8–10). Auch dies ist wieder, wie in der synchronen Analyse gezeigt, ein besonderes rhetorisches Glanzstück: wie die Kampfkraft Davids und seiner Leute gerühmt und so Abschalom und seinen Leuten der Schneid abgekauft wird. Die Kunst, sich so haarscharf an einem Abgrund zu bewegen – ein Wort zuviel, und Huschai wäre als Propagandist seines „Freundes“ entlarvt –, ist dem Höfischen Erzähler wohl zuzutrauen. Die ältere Vorlage kommt wieder in 17,11 zum Zuge: „Ich rate …“. Mit dem nachfolgenden Rat (17,11–13) setzt Huschai einen Kontrapunkt zu demjenigen Ahitofels, den er zuvor nur knapp als „diesmal nicht gut“ qualifiziert hat (17,7). Die literarische Naht zwischen 17,7 und 17,8 ist noch an der doppelten Redeeinleitung „Und Huschai sagte“ erkennbar. Huschais Gegenvorschlag, der auf die Sicherheit überlegener Truppenstärke (in Wahrheit: auf Zeitverzug) abzielt, findet bei Abschalom „und der gesamten Mannschaft Israels“ Anklang (17,14a), während Ahitofel nur die „Ältesten“ überzeugt hatte. Huschais Vorzug war, dass er einerseits Abschalom die Führung des Feldzugs überlassen, andererseits gleichsam populistische Töne angeschlagen hatte: Wir alle (wir Israeliten) wollen die anderen (die Judäer und die Söldner Davids) vernichten! Der Höfische Erzähler indes sieht noch ganz andere Zusammenhänge. In dem theologischen Kommentar 2Sam 17,14b erklärt er das Scheitern Ahitofels (und mit ihm Abschaloms) als den Willen und das Wirken Jhwhs. Danach kann er wieder der älteren Erzählung das Wort lassen: Huschai instruiert die Priester und fordert durch sie David auf, sich schleunigst weiter in Richtung Osten zurückzuziehen (17,15–22). Hätte Ahitofel sich durchgesetzt, wäre ihm dazu keine Gelegenheit mehr geblieben. Nun aber, durch den Zeitgewinn, den Huschai ihm verschafft hatte, war ihm der Rückzug nach Gilead und die Konsolidierung seiner Truppen möglich. Logisch fügt sich daran der knappe Bericht von der Resignation und dem Suizid Ahitofels an (17,23), womit der Beraterwettstreit endgültig entschieden ist.
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Situierung der Ergebnisse im Forschungskontext
Die synchrone Analyse der Passagen über Davids Fünfte Kolonne zeigt ein eindrucksvoll geschlossenes und doch kunstvoll farbiges Bild. Die in die Umgebung Abschaloms eingeschleusten Frauen und Männer bringen die zunächst äußerst schwungvoll und erfolgreich verlaufene Rebellion ins Stocken und schließlich um ihren Erfolg, hauptsächlich, indem sie dem geflüchteten König die nötige Zeit verschaffen, sich und seine Entourage in Sicherheit zu bringen, seine militärischen Kräfte zu konsolidieren und den Schauplatz der bevorstehenden Schlacht zu bestimmen. So wird verständlich, warum ein König, dessen Volk weitestgehend zu seinem Gegner übergelaufen zu sein scheint, am Ende doch siegen und an die Macht zurückkehren kann.
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Die Stringenz der Abschalom-Erzählung – auch und nicht zuletzt in der Darstellung von Davids Fünfter Kolonne – bietet einer synchron operierenden Exegese ein hervorragendes Betätigungsfeld. Das haben schon die Väter der Hypothese von der sog. Thronfolgegeschichte – Leonhard Rost und, in geringerem Ausmaß, Gerhard von Rad – gewusst und genutzt. Sie datierten die literarisch und theologisch so hochstehende Gesamterzählung in die Salomozeit, trauten ihr hohen historischen Informationswert zu und ließen sie „in maiorem Salomonis et Davidi et Dei gloriam“ verfasst sein. An diesem Ansatz ändert sich nicht viel, wenn andere Autoren (wie der Romancier Stefan Heym oder auch Ernst Würthwein und John Van Seters) in der Erzählung subtile Kritik an David, andere gerade umgekehrt eine politisch fragwürdige „apology“ für seine zahlreichen Verbrechen (so Paul Kyle McCarter63 oder Steven L. McKenzie64) meinen erkennen zu können. In diesen und ähnlichen Arbeiten wird die Abschalom-Erzählung (im Kontext der Thronfolgegeschichte) auf einen hoch begabten, zeitnah schreibenden65 Autor zurückgeführt. Andere Exegeten, die sich ganz auf die Ebene des vorliegenden Endtextes konzentrieren, interessieren sich kaum oder gar nicht für dessen Entstehungszeit und seinen historischen Stellenwert, sondern einzig für seine sprachliche, strukturelle, literarische, narrative, auch psychologische Gestaltung (genannt seien Charles Conroy, Robert Polzin, Jan P. Fokkelman, Robert Alter, Hans-Jürgen Dallmeyer, Jean-Marie Carrière und Shimon Bar-Efrat). Auch sie kommen bei der Abschalom-Erzählung voll auf ihre Kosten.66 An exegetischen Arbeiten, die nach einer möglichen Textdiachronie fragen, lassen sich gemässigte und radikale unterscheiden. Die „radikalen“ sind neueren Datums. – Alexander A. Fischer spricht in einer kürzeren Studie nur relativ pauschal von einem „alten Kern“ der Abschalom-Geschichte, den er in 2Sam 18,1 – 19,9 sucht, d.h. im eigentlichen Schlachtbericht, wobei das kriegerische Geschehen seiner Meinung nach nicht weit nördlich von Jerusalem zu lokalisieren ist und David sich nirgendwo anders befand als in – Jerusalem. Die Idee eines Entweichens über den Jordan nach Mahanajim sei eine späte Erfindung, die den nach Babylonien deportierten Juden David als Leidensgenossen nahebringen sollte. Damit wird die gesamte hier untersuchte „Fünfte Kolonne Davids“ historisch obsolet. – Thilo A. Rudnigs detaillierte Untersuchung kommt zu kaum weniger radikalen Ergebnissen. Aus der Abschalom-Erzählung sind ein paar wenige, kurze Passagen als davidzeitlich anzusehen: zwei Teilverse in 2Sam 15, einer in 63 64
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McCarter, Plots. McKenzie, King David 162–169. Vgl. das bezeichnende Dictum 165: „While the outline of the Abschalom story may be basically historical, the stress on David’s gentleness is apologetic.“ Dieses Letzte gilt natürlich nicht für Van Seters (Search of History und Biblical Saga), der die gesamte „Thronfolgeerzählung“ nach-dtr entstanden, das heißt: frei erfunden sein lässt. Wie etwa Bar-Efrat (Das Zweite Buch Samuel 167–177) den „Kampf der Berater“ zwischen Ahitofel und Huschai nachgestaltet und ausinterpretiert, ist ein Glanzstück der Auslegungskunst.
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2Sam 17, ein ganzer und fünf Teilverse in 2Sam 18.67 Eine salomozeitliche Redaktion habe sich in einem einzigen Viertelvers, 2Sam 15,1aa, eingeschrieben. Dieses schmale Textkorpus sei bis ans Ende der Königszeit unverändert überliefert worden, um dann exilisch und nachexilisch vielfach überarbeitet und erweitert zu werden: etwa durch eine „Itinerarschicht“ (die das lokale Hin und Her Davids und Abschaloms eingetragen habe), eine dreistufige Ratgeber-Bearbeitung und eine zweistufige NachrichtendienstBearbeitung (aus dem 3. Jahrhundert!) – kurzum: Die Abschalom-Geschichte mitsamt der Fünften Kolonne Davids ist im Wesentlichen eine späte, phantasiereiche Fiktion. Ich brauche nicht zu betonen, dass mein Bild der Textentstehung sich von solchen Ansätzen stark unterscheidet. Es steht den „gemäßigten“ diachronen Ansätzen näher, von denen hier einige kurz skizziert seien. – Nach Ernst Würthwein wurde eine alte, politisch-profane, david- und salomofeindliche Thronfolgeerzählung durch eine Reihe von Zusätzen in eine theologische, prodavidisch-prosalomononische Darstellung umgewandelt. In dem hier behandelten Textbereich soll auf diese Überarbeitung das Nebenfrauen-Motiv, die Erwähnung der Lade, der Auftritt Huschais als Gegenspieler Ahitofels sowie die Nachricht von dessen Suizid zurückgehen.68 Fragwürdig daran ist die Entgegensetzung von „politischer“ und „theologischer Geschichtsschreibung“, die Herauslösung der Lade, des Ratschlags Huschais und des Selbstmords Ahitofels, während umgekehrt die Einführungsrede Huschais vor Abschalom (2Sam 16,16–19) komplett dem alten Text belassen wird. – François Langlamet rechnet zu einem alten „récit de la révolte“ zwar die Spionagetätigkeit der Priester (mit Lade, ohne Leviten), auch diejenige Huschais, schreibt aber vieles andere späteren Bearbeitern zu: das Nebenfrauenmotiv, Davids fromme Rede an Zadok, Huschais Vorstellung vor Abschalom, seine Beratertätigkeit, erstaunlicherweise auch die Episode vom Entkommen der Priestersöhne vor ihren Verfolgern sowie den Suizid Ahitofels.69 Man fragt sich, warum in der ältesten Fassung David nicht aufgrund des Rates Ahitofels noch am Jordan vernichtet wurde. – Sophia Katharina Bietenhard rechnet ebenfalls mit einem alten Bericht von Abschaloms Revolte, den sie aber materialiter nicht mehr näher zu umreißen wagt; jedenfalls habe er noch keine prodavidische, sondern eine proisraelitische Tendenz gehabt. Literarisch fassbar sei erst die Darstellung des „prodavidischen Thronfolgeerzähler[s] S 2“, der das „klägliche Scheitern des Aufstandes“ mit Mängeln Abschaloms und Vorzügen Davids erklärt. Die gesamte „Fünfte Kolonne“ jedoch – Frauen, Priester, Berater – sei erst zur 67 68 69
Genau: 15,1aβγb.12b; 17,22abα1; 18,1a.6.9b.15aαb.16a.17a; dazu einige Verse aus der Vorgeschichte: 13,*1.14b.23.28a.29.38; 14,23. Würthweins (Erzählung) Bearbeitungsschicht im Bereich der Texte zur „Fünften Kolonne“ in Ziffern: 2Sam 15.16b.(17a.)24–26.29.31; 16,21–23; 17,5–14.23; 20,3–5. Langlamets (Récension de F. Crüsemann 421.425) Grundtext, betreffend die „Fünfte Kolonne“, in Ziffern: 2Sam 15,15.16a.17b–22.23aαb.*24.27–30.32f.34aα.35–37; 16,15b.20a.20bβ; 17,*1–4.15a.16.*17.18bα.21aδb.22; 20,1–3aα.6f.
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Joschijazeit von einem „prodynastischen Redaktor S 3“ eingebracht worden.70 Warum aber, so fragt man sich, hat in den älteren Versionen Abschalom den Krieg verloren? – Stefan Seiler – ein Erlanger, der sich wieder ganz in den Spuren des Erlangers Leonhard Rost bewegt – glaubt an eine umfassende, frühkönigszeitliche Thronfolgegeschichte, die nur wenige jüngere Erweiterungen erfahren habe: in unserem Textbereich lediglich Davids fromme Rede an Zadok sowie das Motiv der Nebenfrauen.71 – Ina Willi-Plein weist noch mehr Textmaterial der ältesten Schicht zu, die ihrer Meinung nach aus dem 9. Jahrhundert stammt, von 1Sam 14 bis 1Kön 4 reicht, und die sie „Davidshausgeschichte“ nennt. Ihr werden aus den Texten über die Fünfte Kolonne lediglich vier Verse abgesprochen: Davids Weisung an die Priester, die Lade nach Jerusalem zurückzubringen und ihn von dort aus mit Nachrichten zu versorgen.72 Doch warum soll die Beauftragung der Priester in 2Sam 15 wegbleiben, wenn ihre Zusammenarbeit mit Huschai in 2Sam 17 doch ausführlich berichtet wird? Und gibt es nicht doch schlagende Argumente gegen die Ursprünglichkeit des Nebenfrauen-Motivs? – Ferdinand Ahuis73 möchte vor meinem „Höfischen Erzählwerk“ und vor Ina Willi-Pleins „Davidshausgeschichte“ eine noch ältere Quelle positionieren, die „Thronnachfolgeerzählung“ Rost’schen Angedenkens, die von Frauen um Batscheba verfasst sein soll. Ihr weist er von unseren Texten im Wesentlichen den zweiten Rat Ahitofels und dessen Verrat durch Huschai (über die Priester) an David zu. Huschais Auftreten als Ratgeber sowie das Nebenfrauenmotiv seien in der „Davidshausgeschichte“ nachgetragen worden, der Spionageauftrag an die Priester wie auch die Erwähnung der Lade im Höfischen Erzählwerk, die fromme Rede Davids an Zadok gar erst von einem Deuteronomisten. Somit ergeben sich, über ein halbes Jahrtausend verteilt, vier Schichten, von denen schon die allererste einen Erzählbogen von 2Sam 10 bis 1Kön 2 gespannt hätte. Innerhalb dieser Wolke mehr oder minder „gemäßigter“ Zeugen bewegt sich die oben von mir bezogene Position ungefähr in der Mitte. In ihr ist mit nur zwei Textschichten gerechnet: einer ersten, die mutmaßlich recht nah an der Frühen Königszeit, und einer zweiten, die nach dem Untergang des Nordreichs entstanden ist. Diese zweite Ansetzung ist anderswo mehrfach begründet worden.74 Deshalb hier nur ein paar Argumente für die relative Frühdatierung der älteren Schicht: Die Nachricht, eine Einheit von „Gatitern“ habe auf der Seite Davids gekämpft (genauso wie die frühere, David habe dem Stadtkönig von Gat als 70 71
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Bietenhards (Königs General 301f.) Redaktor in Ziffern: 2Sam 15,15a.16b.17a.24– 26.30–32; 16,16–19.20ba.21b.23; 17,2aβγb.3b.5–14.15b.17–23. Seiler 1998, 148f.214f. Erstaunlicherweise ist aber die Erwähnung der Lade inbegriffen. Seiler weist seiner zeitlich nicht näher bestimmten „Redaktion“ zu: 2Sam 15,16b.17a.*24–26.29; 16,21f.; 20,3. Sekundär laut Willi-Plein (Davidshausgeschichte 167): 2Sam 15,24–26.29. Ahuis, Grossreich 52–59. Dietrich, Königszeit und David.
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Vasall gedient), atmet historische Authentizität, wurde doch diese Philisterstadt nach übereinstimmenden textlichen und archäologischen Zeugnissen im späten 9. Jahrhundert von den Aramäern zerstört und spielte danach keine Rolle mehr.75 Die Notiz, die Priesterschaft habe die Lade mit in den Kampf gegen Abschalom nehmen wollen, zeigt insofern Zeitkolorit, als nach der Festsetzung der Lade im Tempel Salomos nie mehr etwas von ihrer Nutzung als tragbares Kriegspalladium verlautet. Das Hofamt „Freund des Königs“ scheint nach der Frühen Königszeit außer Gebrauch gekommen zu sein. Eine Figur wie der Giloniter Ahitofel – zuerst Chefberater Davids, dann von Abschalom angeworben, von diesem aber doch nicht gewürdigt und faktisch in den Selbstmord getrieben – wirkt in ihren scharfen Konturen authentisch; zudem taucht er in der Liste der „Dreißig“ als Vater eines der Elitekrieger Davids auf.76 Die tragende Rolle „Israels“, d.h. der Nordstämme, beim Aufstand Abschaloms ist so schwer erfindbar, wie sie plausibel ist, zeigen doch der Scheba-Aufstand und die sog. Reichsteilung den gleichen sezessionistischen Impetus des Nordens gegenüber dem davidischen Süden. Es scheint, dass die ältere Schicht nicht über die Darstellung des Abschalom-Aufstands hinausgereicht hat. Schon in ihr wird berichtet, dass David einige Vertraute ins gegnerische Lager eingeschleust habe. Die Priester hatten dabei die Funktion der Nachrichtenübermittlung. Die entscheidende Figur war Huschai, der sich im allerengsten Kreis um Abschalom festzusetzen und diesem den entscheidenden Vorteil zu entwinden vermochte: durch rasches, entschiedenes Handeln selbst den Gang der Dinge zu bestimmen. Seinem Gegenspieler Ahitofel war klar, dass es genau darauf ankam, wollte man den alten Fuchs David und seine kampferprobten Söldner ausschalten. Doch er scheiterte an Huschai und Abschalom – und nicht zuletzt an David, der Huschai auf Abschalom angesetzt hatte. Der Höfische Erzähler hat diesen Motivzug ausgeweitet. Die von David zurückgelassenen Nebenfrauen ziehen den anstürmenden Abschalom förmlich auf sich – und nehmen ihm den Schwung. Den Rest erledigt Huschai, der nunmehr zum glanzvollen Rhetor und doppelzüngigen Agitator aufgebaut wird. David bleibt nicht allein gewiegter Taktiker und zäher Kämpfer, er legt in dieser schweren Krise sein Schicksal vertrauensvoll in Gottes Hände – und wird nicht im Stich gelassen; denn Gott hat beschlossen, ihn obsiegen und seinen Sohn scheitern zu lassen. Es bleibt indes eine faszinierende Vorstellung, dass der Kampf zwischen David und Abschalom nicht allein im Himmel und nicht erst auf dem Schlachtfeld entschieden wurde, sondern wesentlich durch das Wirken einer Fünften Kolonne hinter der Front.
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Vgl. 2Kön 12,18 sowie die Ausführungen von Ehrlich, Suche nach Gat, und Finkelstein / Silberman, David und Salomo 38f. Van Seters (Biblical Saga 97f) schiebt dieses Argument mit leichter Hand beiseite: Ortsnamen hafteten eben zäh in der Erinnerung – doch warum gerade dieser und nicht der des später viel bedeutenderen Ekron? 2Sam 23,34.
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Anhang – Davids Fünfte Kolonne im Abschalom-Aufstand: Textübersicht nach Zürcher Bibel (2007)77 (mit angedeuteter Textdiachronie) 2Sam 15 10 Und Abschalom schickte Botschafter zu allen Stämmen Israels und sagte: Wenn ihr den Klang des Schofar hört, sollt ihr sagen: Abschalom ist König geworden in Hebron! 11 Mit Abschalom zogen zweihundert Mann aus Jerusalem, die eingeladen worden waren und nun arglos mitgingen, und sie wussten nichts von alledem. 12 Und Abschalom liess Ahitofel, den Giloniter, den Ratgeber Davids, aus seiner Stadt, aus Gilo, holen, als er die Schlachtopfer darbrachte. So wurde die Verschwörung stark, und das Volk um Abschalom wurde immer zahlreicher. 13 Und es kam einer zu David und berichtete: Das Herz eines jeden Israeliten hat sich hinter Abschalom gestellt. 14 David aber sagte zu allen seinen Dienern, die bei ihm in Jerusalem waren: Macht euch auf, und lasst uns fliehen! Denn sonst gibt es für uns kein Entkommen vor Abschalom. Beeilt euch, dass ihr fortkommt, damit nicht er sich beeilt und uns einholt und das Unheil über uns bringt und die Stadt schlägt mit der Schärfe des Schwerts! 15 Und die Diener des Königs sagten zum König: Ganz wie unser Herr, der König, will! Sieh, hier sind deine Diener. 16 So zog der König aus, und sein ganzes Haus folgte ihm. Zehn Nebenfrauen aber liess der König zurück, damit sie acht gaben auf das Haus. 17 So zog der König aus, und das ganze Volk folgte ihm. Beim letzten Haus blieben sie stehen, 18 alle seine Diener aber zogen an ihm vorüber; auch alle Kreter und alle Pleter und alle Gatiter, sechshundert Mann, die ihm aus Gat gefolgt waren, zogen vor dem König vorüber. 19 Und der König sagte zu Ittai, dem Gatiter: Warum willst auch du mit uns gehen? Kehr um und bleib beim König! Denn du bist ein Fremder und wurdest sogar aus deiner Heimat weggeführt. 20 Gestern erst bist du gekommen, und heute soll ich dich ins Ungewisse ziehen lassen, nur damit du bei uns bleibst? Ich aber gehe, wohin ich gehe. Kehr um und bring deine Brüder mit dir zurück in Barmherzigkeit und Treue! 21 Daraufhin aber sagte Ittai zum König: So wahr der HERR lebt, und so wahr mein Herr, der König, lebt: An dem Ort, wo mein Herr, der König, sein wird, es führe zum Tod oder zum Leben, da wird auch dein Diener sein! 22 Da sagte David zu Ittai: Geh, und zieh vorüber! Und Ittai, der Gatiter, zog vorüber mit allen seinen Männern und allen Familien, die bei ihm waren. 23 Und das ganze Land weinte laut, während alles Volk hinüberzog; auch der König zog über das Bachtal des Kidron, und alles Volk zog hinüber auf dem Weg zur Wüste. 24 Und sieh, da waren auch Zadok und mit ihm alle Leviten, sie trugen die Lade des Bundes Gottes. Und sie liessen die Lade Gottes nieder, und Abjatar brachte Opfer dar, bis alles Volk aus der Stadt vorübergezogen war. 25 Der König aber sagte zu Zadok: Bring die Lade Gottes zurück in die Stadt! Wenn ich Gnade finde in den Augen des HERRN, wird er mich zurückführen, und er wird mich sie und ihre Wohnstatt wiedersehen lassen. 26 Wenn er aber spricht: Ich habe kein Gefallen an dir!, sieh, dann bin ich bereit, dann soll er mit mir machen, was gut ist in seinen Augen.
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© 2007 Zürcher Bibel/Theologischer Verlag Zürich. Die Schreibung der biblischen Eigennamen in Zürcher Bibel (2007) wurde an diejenige der Loccumer Richtlinien angepasst.
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Haupt- und Nebenfiguren der Samuelbücher 27 Und der König sagte zu Zadok, dem Priester: Siehst du? Kehre in Frieden zurück in die Stadt, und Ahimaaz, dein Sohn, und Jonatan, der Sohn Abjatars, eure beiden Söhne, mit euch. 28 Seht, ich warte bei den Furten in der Wüste, bis ein Wort von euch kommt und mir Kunde bringt. 29 Und so brachten Zadok und Abjatar die Lade Gottes zurück nach Jerusalem, und dort blieben sie. 30 Unterdessen stieg David den Ölberg hinauf; als er hinaufstieg, weinte er, und er hatte sein Haupt verhüllt, und er ging barfuss. Und jeder im ganzen Volk, das bei ihm war, hatte sein Haupt verhüllt, und weinend stiegen sie hinauf. 31 Und man hatte David berichtet: Ahitofel ist unter den Verschwörern bei Abschalom. Und David sagte: HERR, vereitle doch den Plan Ahitofels! 32 Und als David oben angekommen war, wo man sich niederwirft vor Gott, sieh, da kam Huschai, der Arkiter, ihm entgegen, sein Leibrock war zerrissen, und auf seinem Kopf war Erde. 33 Und David sagte zu ihm: Wenn du mit mir ziehst, wirst du für mich eine Last sein, 34 wenn du aber in die Stadt zurückkehrst und zu Abschalom sagst: Dein Diener, König, ich will es sein; der Diener deines Vaters, das war ich bisher, nun aber, da bin ich dein Diener!, so kannst du für mich den Plan Ahitofels vereiteln. 35 Und sind dort bei dir nicht auch Zadok und Abjatar, die Priester? Jedes Wort, das du aus dem Haus des Königs hörst, sollst du Zadok und Abjatar, den Priestern, berichten. 36 Sieh, dort bei ihnen sind ihre beiden Söhne, Ahimaaz gehört zu Zadok und Jonatan zu Abjatar. Und durch sie sollt ihr mir jedes Wort senden, das ihr hört. 37 Und als Huschai, der Vertraute Davids, in die Stadt kam, zog Abschalom gerade in Jerusalem ein. 2Sam 16 […] 14 Und ermüdet kam der König mit allem Volk, das bei ihm war, ‘am Jordan’ [LXXL] an, und dort holte er Atem. 15 Abschalom aber und alles Volk, jeder von Israel, sie waren nach Jerusalem gekommen, und auch Ahitofel war bei ihm. 16 Und als Huschai, der Arkiter, der Vertraute Davids, zu Abschalom kam, sagte Huschai zu Abschalom: Es lebe der König! Es lebe der König! 17 Abschalom aber sagte zu Huschai: Das also ist deine Treue dem gegenüber, der dir Vertrauen schenkt! Warum bist du nicht mit dem gegangen, der dir Vertrauen schenkt? 18 Und Huschai sprach zu Abschalom: Nein! Sondern wen der HERR, wen dieses Volk und wen jeder von Israel erwählt hat, zu dem werde ich gehören, und bei dem werde ich bleiben! 19 Und das Zweite ist: Wem werde ich dienen? Wird es nicht vor seinem Sohn sein? Wie ich vor deinem Vater gedient habe, so will ich auch vor dir sein. 20 Und Abschalom sagte zu Ahitofel: Gebt euren Rat! Was sollen wir tun? 21 Und Ahitofel sprach zu Abschalom: Geh zu den Nebenfrauen deines Vaters, die er zurückgelassen hat, damit sie acht gaben auf das Haus. Dann wird ganz Israel hören, dass du dich bei deinem Vater verhasst gemacht hast, und die Hände aller, die bei dir sind, werden stark sein. 22 Und man schlug das Zelt für Abschalom auf dem Dach auf, und vor den Augen ganz Israels ging Abschalom zu den Nebenfrauen seines Vaters. 23 Und der Rat Ahitofels, den er in jenen Tagen gab, galt wie das Wort Gottes, das man einholt. So galt jeder Rat Ahitofels, bei David wie bei Abschalom. 2Sam 17 1 Und Ahitofel sagte zu Abschalom: Ich will mir zwölftausend Mann auswählen und mich aufmachen und David heute Nacht verfolgen. 2 Dann werde ich über ihn herfallen, wenn er noch ermattet ist und seine Hände müde sind. Und ich werde ihn in Schrecken versetzen, und alles Volk, das bei ihm ist, wird fliehen, und nur den König werde ich erschlagen. 3 Dann will ich alles Volk zu dir zurückbringen. Die Rückkehr aller ist den Mann wert, den du suchst; das ganze Volk aber wird unversehrt bleiben. 4 Und das Wort war recht in den Augen Abschaloms und in den Augen aller Ältesten von Israel.
Davids Fünfte Kolonne beim Abschalom-Aufstand 5 Abschalom aber sagte: Ruft doch auch Huschai, den Arkiter, wir wollen auch hören, was er zu sagen hat. 6 Und Huschai kam zu Abschalom, und Abschalom sagte zu ihm: Solches hat Ahitofel gesagt. Sollen wir tun, was er gesagt hat? Wenn nicht, so rede du! 7 Da sagte Huschai zu Abschalom: Der Rat, den Ahitofel diesmal gegeben hat, ist nicht gut. 8 Und Huschai sagte: Du selbst weisst, dass dein Vater und seine Männer Helden sind und dass sie verbittert sind wie eine Bärin auf dem offenen Land, der man die Jungen genommen hat. Und dein Vater ist ein Krieger, und er hält keine Nachtruhe mit dem Volk. 9 Sieh, jetzt hält er sich verborgen in einer der Gruben oder an irgendeinem anderen Ort. Wenn nun gleich zu Anfang einige von euch fallen, wird, wer davon hört, sagen: Es war ein Schlag gegen das Volk, das hinter Abschalom steht! 10 Und dann wird er ganz und gar verzagen, mag er auch tüchtig sein, mit einem Herzen wie dem Herzen des Löwen, denn ganz Israel weiss, dass dein Vater ein Held ist und dass die um ihn herum tüchtig sind. 11 Ich rate: Ganz Israel, von Dan bis Beer-Scheba, soll sich bei dir versammeln, so zahlreich wie der Sand am Meer, wenn du voranziehst in den Kampf. 12 Kommen wir dann zu ihm an einen der Orte, wo er sich befinden mag, so werden wir über ihm sein, wie der Tau, der auf den Erdboden fällt, und von ihm und von all den Männern, die bei ihm sind, soll niemand übrig bleiben, auch nicht ein Einziger. 13 Wenn er sich aber in einer Stadt sammelt, soll ganz Israel Seile an jene Stadt legen, und wir werden sie bis zum Talgrund schleifen, bis sich dort nicht einmal mehr ein Steinchen findet. 14 Da sagten Abschalom und alle Männer von Israel: Der Rat Huschais, des Arkiters, ist besser als der Rat Ahitofels. Der HERR aber hatte es so bestimmt, dass der gute Rat Ahitofels vereitelt würde, damit der HERR das Unheil über Abschalom bringen konnte. 15 Und Huschai sagte zu Zadok und zu Abjatar, den Priestern: Das und das hat Ahitofel Abschalom und den Ältesten Israels geraten, und das und das habe ich geraten. 16 Und nun sendet eilends hin und berichtet David und sagt: Bleib heute Nacht nicht an den Furten in der Wüste. Sogleich musst du hinübergehen, damit nicht der König und alles Volk, das bei ihm ist, aufgerieben werden. 17 Jonatan aber und Ahimaaz standen in En-Rogel, und immer wieder ging die Sklavin hin und brachte ihnen Bericht; dann gingen sie und berichteten es König David. Denn sie durften sich nicht sehen lassen und nicht in die Stadt kommen. 18 Ein junger Mann aber sah sie und berichtete es Abschalom. Da eilten beide fort, und sie kamen zum Haus eines Mannes in Bahurim. Und dieser hatte einen Brunnen in seinem Vorhof, und in den stiegen sie hinab. 19 Und die Frau nahm eine Decke und breitete sie über die Öffnung des Brunnens und streute Getreidekörner darauf, und so blieb es unbemerkt. 20 Und die Diener Abschaloms kamen zu der Frau ins Haus und sagten: Wo sind Ahimaaz und Jonatan? Und die Frau sagte zu ihnen: Sie sind am Wasserbehälter vorbeigegangen. Und sie suchten, fanden sie aber nicht und kehrten zurück nach Jerusalem. 21 Und nachdem sie gegangen waren, stiegen die beiden herauf aus dem Brunnen, gingen und berichteten alles König David und sagten zu David: Macht euch auf und überquert eilends das Wasser, denn einen solchen Rat hat Ahitofel gegen euch gegeben. 22 Da machte sich David auf mit allem Volk, das bei ihm war, und sie überquerten den Jordan. Als der Morgen anbrach, gab es nicht einen, der den Jordan nicht überquert hatte. 23 Ahitofel aber hatte gesehen, dass sein Rat nicht befolgt wurde; da sattelte er den Esel, machte sich auf und zog nach Hause, in seine Stadt, und bestellte sein Haus. Dann erhängte er sich. Und er starb und wurde im Grab seines Vaters begraben. […] 2Sam 20 1 Nun war dort zufällig ein ruchloser Mann, und dessen Name war Scheba, der Sohn des Bichri, ein Jaminit; und der blies den Schofar und sagte: Wir haben keinen Anteil an David, und am Sohn Isais haben wir keinen Erbbesitz! Ein jeder zu seinen
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Zelten, Israel! 2 Da liefen alle Männer Israels von David über zu Scheba, dem Sohn des Bichri; die Männer von Juda aber hielten an ihrem König fest, vom Jordan bis nach Jerusalem. 3 Und David kam in sein Haus in Jerusalem, und der König nahm die zehn Nebenfrauen, die er zurückgelassen hatte, damit sie acht gaben auf das Haus, und er brachte sie in ein bewachtes Haus und versorgte sie, aber er ging nicht zu ihnen. Und sie blieben eingeschlossen bis zum Tag ihres Todes - eine Witwenschaft zu seinen Lebzeiten. 4 Und der König sagte zu Amasa: Biete mir die Männer von Juda auf! Drei Tage, dann bist du hier zur Stelle!
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Davids Fünfte Kolonne beim Abschalom-Aufstand
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Facetten aus der Wirkungsgeschichte der Samuelbücher
Prophet und Gesalbter: David im Neuen Testament König David ist eine der am häufigsten im Neuen Testament aufgerufenen Gestalten des Alten Testaments.1 Er begegnet 59-mal (sein Nachfolger Salomo hingegen nur zwölf- und sein Vorgänger Saul lediglich einmal). Was macht diesen Mann für die neutestamentlichen Autoren so attraktiv? Zweifellos ist David schon im Alten Testament eine „Schlüsselfigur“.2 Von keiner Person bietet die Hebräische Bibel ein ausführlicheres Lebensbild als von ihm; er ist die Hauptfigur der Samuelbücher und überdies eine dominante Gestalt in den Chronikbüchern. Doch auch viele weitere alttestamentliche Schriften – neben den Königsbüchern vor allem Prophetenbücher – beziehen sich immer wieder auf ihn. Und nicht zuletzt wird ihm ein großer Teil der Psalmen zugeschrieben (was gleich näher zu bedenken ist). Trotz bestimmter Schwächen, die vor allem in den Samuelbüchern zum Vorschein kommen, erscheint sein Bild im Alten Testament als äußerst positiv: Tüchtig war er und mächtig, schön und gut, musisch und poetisch, edel und fromm. So ist es nur zu verständlich, dass das frühe Christentum, das sich ja auf die Schriften des Alten Bundes gründete, auch Züge des Davidbildes in sich aufnahm. Bisweilen erscheint David einfach als vorbildlicher Frommer, dem es nachzueifern gilt (Lk 1,69; Apg 4,25; 7,45f; 13,22; Hebr 11,32). Schon Jesus soll sich einmal in diesem Sinne auf ihn berufen haben: Als seinen Jüngern ein laxer Umgang mit den Sabbatgeboten vorgeworfen wurde, verwies er auf David, der sich in einer Notlage in einem Heiligtum mit geweihtem Brot proviantierte, obwohl dieses für den profanen Verzehr nicht zugelassen war (Mt 12,3; Mk 2,25; Lk 6,3; vgl. 1Sam 21,1–7). David also vorbildlich in seiner Unkonventionalität! In der Regel aber haben die Erwähnungen Davids im Neuen Testament eine ganz andere, nämlich christologische Dimension. Zwei Hauptlinien lassen sich dabei unterscheiden: Nach der einen ist David als Psalmist und Prophet Zeuge der Gottessohnschaft Jesu; nach der anderen ist er als König und Gesalbter der Urahn Jesu und das Urbild des Messias. Diesen beiden Aspekten soll im Folgenden nachgegangen werden.
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Vgl. Sinclair, Lawrence A., Art. David III. Neues Testament: TRE 8, 1981 387f. Vgl. den Sammelband: Dietrich, Walter / Herkommer, Hubert (Hg.), König David – biblische Schlüsselfigur und europäische Leitgestalt, Fribourg / Stuttgart 2003.
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1.
Facetten aus der Wirkungsgeschichte der Samuelbücher
David als Prophet Christi
Im Neuen Testament wird das Alte auf Jesus Christus hin gelesen. In den Augen der frühen Christenheit sind „die Schriften“ des Alten Bundes Zeugnis des Neuen Bundes in Christus, sind ihre Autoren in diesem Sinn also „Propheten“. Diese Würde fiel auch David zu. Zwar wird er in der Hebräischen Bibel selbst nirgends als Autor einer ihrer Schriften in Anspruch genommen. Doch in nachalttestamentlicher Zeit und so auch im Neuen Testament gilt er als Verfasser des Psalters. Als solcher wird er zum prophetischen Künder des Kommens Christi. David, der Psalmist: das ist keine christliche, sondern eine urjüdische Erfindung. Ausgangspunkt sind einige Abschnitte in den Samuelbüchern, in denen David als Musiker, Dichter und Beter dargestellt wird.3 In einem Nachtrag zu den Samuelbüchern, gleichsam vor dem Ende seines Lebens, betet David ein Siegesund Danklied (2Sam 22), dessen Text wortgleich ist mit dem 18. Psalm. Hier ist es gleichsam einem einzelnen Psalm noch gelungen, in die Samuelbücher und dadurch zur Ehre davidischer Verfasserschaft zu gelangen. Für das Gros der Lieder und Gebete, die in Israel in Umlauf waren und die nach und nach zu Sammlungen zusammengestellt wurden, war dies nicht möglich. Ihre Verfasser (vielleicht auch Verfasserinnen) blieben zunächst namentlich unbekannt. Bei einzelnen Psalmsammlungen allerdings gab man an, dass sie im Umkreis bestimmter Jerusalemer Sängergilden entstanden waren.4 Die noch ‚freien’ Lieder nun wurden, einzeln oder in Gruppen, zunehmend mit König David in Verbindung gebracht. Zunächst schrieb man einfach ledawīd über diese Texte, was vermutlich noch nicht hieß: „Von David (verfasst)“, auch nicht „Für David (und von ihm oder seinen Nachfolgern im Gottesdienst zu lesen)“, sondern „Mit Blick auf David (zu lesen bzw. zu beten)“.5 In diesem Sinne auf David bezogen wurden im hebräischen Psalter 73 Psalmen.6 Sie sind in fünf sog. David-Psaltern zusammengefasst, die über das gesamte Psalmenbuch verstreut sind.7 Ein nächster Schritt war, dass eine Reihe von Psalmen – genau dreizehn – bestimmten Situationen im Leben Davids zugeordnet wurden, so wie es in den Samuelbüchern erzählt ist. Spätestens damit deklarierte man natürlich ihn als Verfasser. Dies bestätigt auch der redaktionelle Abschlusssatz des zweiten David-Psalters (Ps 51–72): „Zu Ende sind (hier) die Gebete Davids, des Sohnes Isais“ (Ps 72,20); die Constructus-Verbindung (tefillôt dawīd) lässt keinen Zweifel daran, dass wir verstehen sollen: „Gebete des David“, d.h. Lieder, die er gedichtet hat. Kaum zufällig finden sich die meisten biografischen Zuordnungen eben im zweiten David-Psalter. Hier eine Aufstellung: 3 4 5
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Vgl. 1Sam 16,14–23; 18,10; 19,9; 2Sam 1,17–27; 3,33f; 7,18–29. Es gibt Sammlungen von Asaf-Psalmen (50; 73–83) und Korach-Psalmen (42–49; 84– 88). Dies hat Martin Kleer in seiner gründlichen Arbeit wahrscheinlich gemacht: “Der liebliche Sänger der Psalmen Israels“. Untersuchungen zu David als Dichter und Beter der Psalmen, 1996 (BBB 108). Im griechischen Septuaginta-Psalter sind es schon 83. Die fünf David-Psalter sind: Ps 3–41; 51–72; 101–103; 108–110; 138–145. Zuweilen sind hier merkwürdigerweise auch Nicht-David-Psalmen enthalten.
Prophet und Gesalbter. König David im Neuen Testament Pss 3 7 18 34
Sam-Bücher 2Sam 15 2Sam 16,5ff? 18,31ff?8 2Sam 7,1 1Sam 21,11ff9
Pss 51 52 54 56
Sam-Bücher 2Sam 12 1Sam 21,8; 22,9f 1Sam 23,19f 1Sam 21,11ff10
Pss 57 59 60 63 142
259 Sam-Bücher 1Sam 22,1 1Sam 19,11 2Sam 8,3ff 1Sam 22,5; 23,14 1Sam 22,1
Man sieht, dass sich die Abfolge der biografisch zugeordneten David-Psalmen nicht nach der Erzählfolge der Sam-Bücher richtet; das heißt, die jeweiligen Psalm-Sammlungen waren schon zuvor abgeschlossen. Auffälligerweise auch werden David weit überwiegend Klagelieder zugeschrieben und dementsprechend auch mit Verfolgungs- und Notsituationen in seinem Leben in Verbindung gebracht. Das ist erstaunlich, war er doch der ruhmreichste König Israels. Offenbar sollte so gerade Betenden, die sich nicht in komfortabler Lage befanden, ein Identifikationsangebot gemacht und Mut zugesprochen werden. Biblische Klagelieder enden (fast) immer in Dank und Gotteslob – wohl verständlich bei einem Autor wie David. Zudem ist ja mit Ps 18 auch ein Siegeslied vertreten, so dass der große, siegreiche König neben dem leidenden sehr wohl in den Blick kommt. Es war nur eine Frage der Zeit, dass man David für den Verfasser nicht nur von 13 oder 73 oder 83, sondern von sämtlichen Psalmen hielt – womöglich noch über das Psalterbuch hinaus. Jesus Sirach rühmt König David in seinem „Lob der Väter“: „Bei jeder seiner Taten stimmte er Lobgesänge an11 … Aus ganzem Herzen sang er und erwies so Liebe zu seinem Schöpfer“ (Sir 47,8). In Qumran traute man David die Dichtung von 3600 Psalmen (tehillîm) und 450 weiteren Liedern (schîrîm) zu.12 Nach rabbinischer Überzeugung wurden im Grunde alle Gebete der jüdischen Gemeinde von David gesprochen – und umgekehrt.13 Solcherart zum David psalmista geworden, konnte der große König dem jungen Christentum auch als David propheta gelten. Das trifft auf Paulus genauso zu (Röm 4,6; 11,9) wie auf Lukas (Apg 1,16; 4,25; 13,34). Besonders bemerkenswert ist die auf Ps 16,10 und Ps 110,1 gestützte Argumentation des lukanischen Petrus wie des lukanischen Paulus, dass David die Auferstehung Christi vorausgesagt habe (Apg 2,24–28.34f; 13,35–37).14 8
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Ps 7,1 bietet die merkwürdige Formulierung: „Lied Davids, das er Jhwh sang wegen des Benjaminiters Kusch“. Einen solchen Mann gibt es in den Samuelbüchern nicht. Ist damit Saul gemeint, der ein Benjaminit war und Sohn des Kisch (1Sam 1,9), oder der Saulide Schimi (2Sam 16,5), oder ist „Kusch“ beizubehalten bzw. in kuschî zu verbessern, was „Kuschiter“ bedeuten würde und an 2Sam 18,21ff denken ließe? Auch hier findet sich eine seltsame Angabe: David habe sich wahnsinnig gestellt vor „Abimelech“ – so der hebräische Text; der griechische Text bietet „Ahimelech“. Zu Abimelech vgl. Ri 9, zu Ahimelech 1Sam 21,1ff; 22,9ff. Vor beiden hat David sich nicht wahnsinnig gestellt. Es wird vielmehr auf 1Sam 21,11ff angespielt, wo das Gegenüber Davids aber Achisch von Gat ist. Freilich ist in 1Sam 21,11ff nicht davon die Rede, dass die Philister David „ergriffen“ hätten. Es ist interessant, dass das Element der Klage bei Jesus Sirach in den Hintergrund tritt. 11QPsa 5,27. Vgl. Thoma, Clemens, Art. David II. Judentum: TRE 8, 1981, 384–387. Vgl. hierzu die gründlichen Ausführungen von Pietsch, Michael, „Dieser ist der Sproß
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2.
Facetten aus der Wirkungsgeschichte der Samuelbücher
David als Urahn Christi und Urbild des Messias
Die neutestamentlichen Autoren legen großen Wert darauf, dass Jesus ein leiblicher Nachkomme König Davids war. So wichtig ist ihnen diese Vorstellung, dass sie dafür die Spannung zu der anderen von Jesu Jungfrauensohnschaft in Kauf nehmen.15 Gleich der erste Satz des Neuen Testaments stellt Jesus vor als „Sohn Davids des Sohnes Abrahams“ (Mt 1,1). Im darauf folgenden Stammbaum nimmt David eine zentrale Position ein: Vierzehn Generationen sind es von Abraham bis zu ihm, vierzehn Könige folgen ihm auf dem Thron, noch einmal vierzehn Generationen führen vom Exil zu Jesus Christus.16 So wird David zur tragenden Säule im weit gespannten Gebäude der göttlichen Heilsgeschichte. Im Fortgang des Matthäus-Evangeliums ist betontermaßen Betlehem der Geburtsort Jesu. In Mt 2,1–6 wird der Grund dafür sichtbar: Gemäß der Weissagung Mi 5,1–4 sollte der Messias aus der „Stadt Davids“ kommen; David aber stammte aus Betlehem (1Sam 16,1). Laut dem Lukasevangelium bewirkt ein von Kaiser Augustus angeordneter Zensus, dass Josef und Maria von ihrem Wohnort Nazaret nach Betlehem gelangen, wo dann Jesus zur Welt kommt (Lk 2,1–4.11). Dass Jesus ein Davidide gewesen sei, wird auch sonst verschiedentlich im Neuen Testament behauptet (Joh 7,42; Apg 13,22f; Röm 1,3; 2Tim 2,8). Und es ist nicht ausgeschlossen, dass dies zu Recht geschieht. Natürlich hatte sich die Davidfamilie über die vielen Generationen weit verzweigt, so dass auch ein Zimmermann in Nazaret weitläufig zu ihr gehören mochte. Vielleicht also wollte die junge Christenheit für ihren Herrn den Anspruch auf königliche Abstammung erheben.17 Wahrscheinlich aber besagt der Titel „Davidsohn“ noch mehr und anderes. In der Hebräischen Bibel und im nachbiblischen Judentum begegnet in vielfältiger Ausformung die Hoffnung auf das Kommen eines endzeitlichen Herrschers, der Israel von aller Fremdherrschaft befreien und nicht nur in seinem eigenen Volk, sondern auf der ganzen Welt für Gerechtigkeit und Frieden sorgen werde. Für unseren Zusammenhang wichtig ist, dass dieser Heilskönig aus dem Haus Davids kommen wird. Die über vier Jahrhunderte in Jerusalem regierende Dynastie der Davididen hat zwar mit dem Untergang des Staates Juda im Jahr 587
15 16
17
Davids …“ Studien zur Rezeptionsgeschichte der Nathanverheißung im alttestamentlichen, zwischentestamentlichen und neutestamentlichen Schrifttum, 2003 (WMANT 100), 281–316. Sie wird augenfällig im Nebeneinander von Mt 1,18 (Maria war „schwanger vom Heiligen Geist“) und Mt 1,20 (der Engel redet im Traum Josef als „Sohn Davids“ an). Dies wird ausdrücklich noch einmal in Mt 1,17 festgestellt. Dabei ist zu bedenken, dass die Vierzehn teilbar ist durch die heilige Zahl Sieben. Die beabsichtigte kunstvolle Periodisierung führt zu gewissen Gewaltsamkeiten vor allem in der ersten und zweiten Epoche, was hier nicht im einzelnen zu erläutern ist; vgl. aber die Kommentare, z.B. Luz, Ulrich, Das Evangelium nach Matthäus, Bd. 1, 52002 (EKK I/1), 129f. Dafür, dass schon Jesus selbst dies getan hätte, spricht wenig. Er nannte sich offenbar „Menschensohn“, nicht „Davidsohn“.
Prophet und Gesalbter. König David im Neuen Testament
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v.Chr. die Macht verloren, doch im Verborgenen existiert sie weiter und wird an dem von Gott bestimmten Tag jenen „Messias“ hervorbringen, der die Welt zum Guten verändern soll.18 Diese Erwartung, so behauptet die junge Christenheit, ist in Jesus in Erfüllung gegangen. Schon der häufigste Ehrentitel, den ihm die neutestamentlichen Zeugen beilegen und der geradezu die Qualität eines zweiten Namens bekommen hat, „Christus“, weist in diese Richtung. Das griechische christos ist bedeutungsgleich mit dem hebräischen māschîach; beides heißt „Gesalbter“. Von David werden mehrere „Salbungen“ berichtet: heimlich durch Samuel (1Sam 16,13), öffentlich durch die „Männer Judas“ (2Sam 2,4) und die „Ältesten Israels“ (2Sam 5,3). Die Salbung mit (geweihtem) Öl ist ein Symbol für die gottgewollte Zueignung der Königswürde.19 Jesus, dem „Christus“, wird also – wie David und in der Nachfolge Davids – königliche Würde zugesprochen. Die David-Christus-Typologie nimmt im Neuen Testament vielfältige Gestalt an.20 Schon vor der Empfängnis erfährt Maria vom Engel Gabriel, dass Gott ihrem Sohn „den Thron seines Vaters David geben“ werde (Lk 1,32). In den Evangelien flehen immer wieder leidende Menschen Jesus als „Davidsohn“ um Hilfe an (Mt 9,27; 15,22; 20,30f; Mk 10,47f; Lk 18,38f; vgl. auch Mt 12,23): offenbar in der Hoffnung, der „Messias“ könne nicht nur politische Machttaten, sondern auch soziale Wohl- und medizinische Wundertaten vollbringen.21 Beim legendären Einzug in Jerusalem begrüßt die Menge Jesus mit „Hosianna dem Sohn Davids!“ (Mt 21,9.15) bzw. bejubelt „das Kommen des Reiches unseres Vaters David“ (Mk 11,10). Der Esel, auf dem Jesus laut dieser Erzählung in die Heilige Stadt einreitet, erinnert an den sanften, gewaltfreien Messias von Sach 9,9. Gleichwohl sehen Jesu Gegner in dem Vorfall das Fanal zum Aufruhr; er wird zum Auftakt der Passionsgeschichte. Doch das Reich dieses Gesalbten ist „nicht von dieser Welt“ (Joh 18,36), ihn kann der Tod nicht aufhalten. Wenn einst der Auferstandene wiederkehrt, dann als triumphierender Davidspross (Offb 3,7; 5,5; 22,16). 18
19 20
21
Die wichtigsten alttestamentlichen Texte finden sich in Prophetenbüchern (Jes 9,1–6; 11,1–10; Jer 30,21; 33,14–17; Ez 34,20–24; Hos 3,5; Am 9,11–15; Mi 5,1–6; Sach 9,9f). Ihr gemeinsamer Ausgangspunkt dürfte die Natanweissagung 2Sam 7,11–16 sein. Seitenstücke finden sich auch im Psalter (z.B. Ps 2; 72; 110; 132). Zur Thematik vgl. Struppe, Ursula (Hgn.), Studien zum Messiasbild im Alten Testament, 1989 (SBAB 6); Waschke, Ernst-Joachim, Der Gesalbte. Studien zur alttestamentlichen Theologie, 2001 (BZAW 306); Schmid, Konrad (Hg.), Prophetische Heils- und Herrschererwartungen, 2005 (SBS 194). Vgl. 1Sam 10,1; 1Kön 1,39; 2Kön 9,6 sowie Kutsch, Ernst, Salbung als Rechtsakt im Alten Testament und im Orient, 1963 (BZAW 87). Vgl. zum Folgenden Van Caugh, Jean-Marie, Fils de David dans les évangiles synoptiques, in: A. de Pury / T. Römer / J.-D. Macchi (Hg.), Figures de David à travers la Bible, Paris 1999, 345–396. Martin Karrer (Von David zu Christus, in: W. Dietrich / H. Herkommer [Hg.], König David – biblische Schlüsselfigur und europäische Leitgestalt, Fribourg / Stuttgart 2003, 327–366, hier 343) weist darauf hin, dass im sog. Testimonium Salomonis (1,7; 20,1) dem „Nachfolger Davids, Salomo, neben Weisheit auch wunderbare Heilkraft“ zugeschrieben werde. Vielleicht schwingt dies an den oben genannten Stellen mit, so dass hier Jesus als „Sohn“ nicht nur Davids, sondern auch Salomos ausgewiesen würde.
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Facetten aus der Wirkungsgeschichte der Samuelbücher
Der Davidsohn-Titel war eng an die jüdische Tradition gebunden, und er konnte leicht politisch (miss)verstanden werden. So blieb er in der sich entfaltenden Christologie eine frühe und vorübergehende Erscheinung. Schon Paulus stellt klar, dass Jesus nur „dem Fleisch nach“ Davids Sohn war, während der auferstandene Christus ihn, Paulus, mit der Heidenmission betraut habe (Röm 1,3f22); die Christusbotschaft war also nicht nur dem Volk Davids, den Juden, zu überbringen, sondern allen Völkern der Welt – und was sollten die mit einem „Sohn Davids“ anfangen? In den Evangelien wird einmal die enge Verbindung zwischen David und Jesus sogar ausdrücklich in Abrede gestellt, und zwar auf dem Weg einer eigenwilligen Psalmexegese: In Ps 110,1 spreche David (als Verfasser der Psalmen23) in einem Atemzug von Gott dem Herrn und seinem eigenen Herrn; diese beiden könnten nur Gott und Christus sein – womit David klar zwischen sich und Christus unterscheide (Mt 22,42f.45; Mk 12,35.37; Lk 20,41). So werden David und sein „Sohn“ Jesus, die im Neuen Testament so vielfältig und eng miteinander verbunden sind, sehr bald und entschieden wieder voneinander getrennt. Es ist dies eine der Stationen beim „Auseinandergehen der Wege“24 zwischen Judentum und Christentum. In anderer Weise gilt das auch für das verwandte Motivgeflecht „Jesus (und) der Messias“. Dieses wurde nicht von der Christenheit wieder zerschnitten, sondern vom Judentum in seiner überwiegenden Mehrheit von Anfang an und bis heute für irrelevant gehalten. Das Hauptargument – dass sich die Welt, wäre Jesus der Messias gewesen, eindeutig zum Guten hätte ändern müssen – trieb auch die Christen um. Auch wenn sie in Jesus den Messias sahen, erwarteten sie doch dessen Wiederkehr am Ende der Zeiten, die eine Neuordnung der Welt mit sich bringen werde. Diese messianisch-apokalyptischen Züge – die das Neue Testament übrigens mit dem damaligen Judentum teilt25 – ziehen sich von den Evangelien über das Briefkorpus bis in die Johannesoffenbarung.26 Trotz aller traditionsgeschichtlicher Unebenheiten und Brüche blieb die Motivik von David als dem Urahn und Urbild Christi in der Christenheit lebendig. Als Beispiel möge die sog. „Wurzel-Jesse“-Ikonographie dienen. Sie verdankt sich einerseits alttestamentlichen David-Verheißungen wie 2Sam 7 und Jes 11, andererseits dem Stammbaum Jesu in Mt 1 und erfreute sich im gesamten europäischen Mittelalter einer großen Beliebtheit. Dies kann an zwei bewusst diametral gelegenen Exempeln veranschaulicht werden: dem Davidfenster im Chor der Kathedrale Selby Abbey in Nordwestengland und der Außenwandbemalung der Kirche des Moldauklosters Voronetz in Rumänien. In beiden Fällen entwächst der „Wurzel Jesse“ – das ist Isai, der Vater Davids, der jeweils am 22 23 24 25
26
Vgl. zu dem Passus Röm 1,3f die sorgfältige Untersuchung bei Pietsch (s. Anm. 14), 321–331. Siehe oben Abschnitt 1. Vgl. den gleichnamigen Aufsatz von Ulrich Luz in: Walter Dietrich / Martin George / Ulrich Luz (Hg.), Antijudaismus – christliche Erblast, Stuttgart 1999, 56–73. Frühjüdische Zeugnisse dafür – etwa das Jubiläenbuch, der qumranische Midrasch 4Q174, Flavius Josephus, das Achtzehn-Bitten-Gebet – sind zitiert und besprochen bei Walter Dietrich, David. Der Herrscher mit der Harfe (Biblische Gestalten 14), Leipzig 2006, 334–340. Vgl. z.B. Mt 24f; 1Thess 4,13–18; Offb 19,11–21.
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unteren Bildrand liegend dargestellt wird – nicht nur ein Spross (wie in Jes 11,1), sondern ein veritabler (Stamm-)Baum. Den Anfang macht jeweils David, nach ihm kommt Salomo, nach diesem Rehabeam usw. – es folgt die Reihe der Davididenkönige bis zum Exil.27 Weniger Raum erhalten die exilisch-nachexilischen Davididen;28 stattdessen strebt die Darstellung zielstrebig auf den entscheidenden David-Spross zu: Jesus. Dieser direkten David-Christus-Linie werden seitlich die verschiedensten Gestalten des Alten und des Neuen Bundes zugeordnet, so dass David als Urahn eigentlich aller Gläubigen erscheint.
Der „Stammbaum Jesse“ im David-Fenster der Kathedrale von Selby Abbey (um 1350) 27
28
So ist es jedenfalls tendenziell. Das David-Fenster in Selby Abbey, das sich in sieben senkrechte Bänder gliedert, widmet die mittleren drei den Davididen (die beiden linken den Propheten, die beiden rechten den Heiligen) und erreicht in deren Darstellung eine weitgehende Vollständigkeit. In diesem Punkt ist die Darstellung von Voronetz eklektizistischer. In Selby Abbey sind es nur einige, in Voronetz fehlen sie ganz; hier folgt gleich auf den letzten regierenden Davididen, Jojachin, die Jungfrau Maria, bemerkenswerterweise auf einem Holzthron. In Selby Abbey wird die David-Genealogie Jesu über „Josef, den Mann der Maria“ geführt.
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Facetten aus der Wirkungsgeschichte der Samuelbücher
Der „Stammbaum Jesse“ an der Außenwand der Klosterkirche von Voronetz (um 1480)
Es gibt noch mancherlei andere Adaptionen der David-Christus-Königstypologie, zumeist im Umkreis christlicher Fürsten- und Königshäuser, doch ist davon hier nicht zu handeln.29 Nur dies war zu zeigen, welche Virulenz die Vorstellung von David als Urahn und Urbild Christi weit über das Neue Testament hinaus entfaltet hat. Ein einziges, wohlbekanntes Beispiel dafür sei abschließend noch angeführt: Es ist ein Ros entsprungen wie uns die Alten sungen, Das Blümlein, das ich meine, hat uns gebracht alleine
29
aus einer Wurzel zart, von Jesse kam die Art … davon Jesaja sagt, Marie, die reine Magd.
Vgl. dazu Dietrich, Walter, David. Der Herrscher mit der Harfe, Leipzig 2006, 346–357.
„Le Roi David“. Ein modernes Oratorium und seine biblische Vorlage Die Aufnahme der Bibel in der Musik – das ist ein äußerst weitläufiges und vielfältiges Feld, auf dem sich nur wenige Alttestamentler so sicher und kundig bewegen wie der hier zu Ehrende.1 Der folgende Beitrag wagt sich kaum auf musikwissenschaftliches Terrain vor, sondern untersucht ein bestimmtes Musikstück – das Oratorium „Le Roi David“ von Arthur Honegger – vornehmlich unter dem Gesichtspunkt, wie in ihm biblische Textvorlagen verwendet werden. Daraus ergeben sich einige Aufschlüsse über die Intentionen des Komponisten (und seines Librettisten). Zugleich ist dies ein lehrreiches Beispiel für die Wirkkraft der Bibel und die Interpretationskraft ihrer Ausleger (und zwar der Künstler mindestens ebenso sehr wie der Bibelwissenschaftler).
1.
Zur Entstehung und Anlage des „Roi David“
Das Oratorium „Le Roi David“ entstand unter einigermaßen pittoresken Umständen. Im schweizerischen Waadtland, genauer in der Ortschaft Mézières, hatten in der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg der Dichter René Morax und einige kunstsinnige Freunde ein Volkstheater ins Leben gerufen, das „Théâtre du Jorat“. Dort wurden unter Beteiligung zahlreicher einheimischer Musikerinnen, Darsteller, Sängerinnen – eher Amateure als Professionelle –Jahr um Jahr sehr erfolgreich Bühnenstücke zur Aufführung gebracht. Nach einer durch den Krieg bedingten Unterbrechung und nach einer Indienreise reifte in Morax der Gedanke, ein „orientalisches“ Stück zu produzieren, wofür er auf den David-Stoff verfiel. Im Jahr 1921 sollte das Stück über die Bühne gehen. Man begann bereits Bühnenbilder zu malen – hatte aber noch keine Musik zum Text! Da gab der renommierte Dirigent Ernest Ansermet den entscheidenden Hinweis: auf den 1
Vgl. Rüdiger Bartelmus, Theologische Klangrede. Studien zur musikalischen Gestaltung und Vertiefung theologischer Gedanken durch J.S. Bach, G.F. Händel, F. Mendelssohn, J. Brahms und E. Pepping, Zürich 1998. Vgl. auch Bartelmus’ schönen Beitrag „Die David-Psalmen in der Musikgeschichte“ in: Walter Dietrich / Hubert Herkommer (Hg.), König David – biblische Schlüsselfigur und europäische Leitgestalt, Fribourg / Stuttgart 2003, 631–660. In demselben Sammelband (731–757) findet sich ein Beitrag eines Musikwissenschaftlers u.a. zum „Roi David“: Ernst Lichtenhahn, David im Musiktheater des 20. Jahrhunderts. Bemerkungen zu Werken von Carl Nielsen, Arthur Honegger, Kurt Weill und Darius Milhaud. Beachtenswert sind auch zwei Beiträge in „Musik und Kirche“ 67 (1997): Rainer Kessler, Arthur Honeggers „König David“. Bemerkungen eines Exegeten (314–317), und Christfried Brödel, „Le Roi David“ von Arthur Honegger. Beobachtungen zur Musik (318–324). Zur Wirkungsgeschichte der Davidgestalt sei noch hingewiesen auf Walter Dietrich, David. Der Herrscher mit der Harfe, Leipzig 2006, 201–357.
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Facetten aus der Wirkungsgeschichte der Samuelbücher
jungen, in Paris lebenden Schweizer Komponisten Arthur Honegger. Dieser ließ sich auf das Projekt ungeachtet des enormen Zeitdrucks ein. Er vertonte die Chorpartien zuerst und sandte sie Stück um Stück aus Frankreich in die Schweiz, um den Laienchören im Waadtland das sofortige Einstudieren zu ermöglichen. Bereits nach zwei Monaten war das Werk vollendet. Dabei gab es manche objektiven Schwierigkeiten zu überwinden, etwa die Zusammensetzung des Orchesters fast nur aus Bläserstimmen, deren es, im Unterschied zu Streichern, damals in der Waadt offenbar genug gab. Die Uraufführung am 11. Juni 1921 fand Aufmerksamkeit an allerhöchster Stelle: Neben dem waadtländischen Staatsrat (der Kantonsregierung) war der Gesamtbundesrat (die Landesregierung) anwesend. Die Aufführung wurde zum großen Erfolg. Gleichwohl hielten es Morax und Honegger im Interesse der Aufführbarkeit auch andernorts für angebracht, das Werk vom Bühnenstück in ein Oratorium umzuschreiben. In diesem neuen Gewand lag es im Jahr 1923 vor und erlebte von da an ungezählte Aufführungen. Das Oratorium umfasst insgesamt 27 Sätze von einer bis elf Minuten Aufführungsdauer. Durch das Geschehen führt ein „récitant“, der in knapper Form die Vita Davids etwa nach Vorgabe der biblischen Samuelbücher erzählt. Anders als in herkömmlichen – barocken oder romantischen – Oratorien sind im „Roi David“ die Erzähltexte nicht zu Rezitativen vertont, sondern werden „nur“ gesprochen. Der Komponist verzichtet hier auf jede musikalische Ausgestaltung und überlässt die Interpretation völlig dem Sprecher. Dessen Freiheit sind allerdings durch den nüchtern-knappen Stil, in dem die Erzählpassagen gehalten sind, enge Grenzen gesetzt. Die derart zurückhaltend ausgestaltete Rolle des „récitant“ gibt dem Oratorium eine betont moderne Note. In einer Reihe von Sätzen treten zu den Sprechertexten reine Instrumentalsätze hinzu. Es entstehen auf diese Weise Programmmusiken, was sich auch in den sprechenden Titeln einiger dieser Stücke verrät: „Introduction“ (Satz 1), „Cortège“ (5), „Le camp de Saül“ (10), „Marche des Philistins“ (13), „Marche des Hebreux“ (23), „Couronnement de Salomon“ (26). Weit überwiegend aber ist es (instrumental unterlegte) Vokalmusik, die den Sprechertext unterbricht und ausdeutet. Chor- und Solostücke halten sich dabei ungefähr die Waage. Die Chorsätze sind in der Regel für gemischten Chor geschrieben, zuweilen auch für Frauen- oder Männerchor. Die Solo-Arien verteilen sich auf Sopran, Alt und Tenor; ein Bass fehlt. Von der reinen Textmenge her besteht zwischen den Sprecher- und den Gesangspartien ein ungefähr ausgeglichenes Verhältnis – vielleicht mit einem leichten Übergewicht bei den Gesängen. Von der Aufführungszeit her liegt ein vielfaches Übergewicht bei den gesungenen Partien. Es ist, als wäre an einer schlanken (Erzähl-)Schnur eine Reihe von (Gesangs-)Perlen aufgezogen.
Ein modernes Oratorium und seine biblische Textvorlage
2.
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Der Sprechertext im „Roi David“
Der Librettist Morax hat es unternommen, auf vielleicht zwei Schreibmaschinenseiten die annähernd vierzig Kapitel zusammenzufassen, die in den Samuelbüchern von David handeln. Grundsätzlich ist er dabei der biblischen Vorlage treulich gefolgt. Die vom „récitant“ erzählte Vita Davids beginnt mit der Salbung des Hirtenknaben durch Samuel und endet mit dem Tod des Königs. Dies schließt die gesamte biblische David-Geschichte von 1Sam 16 bis 1Kön 2 ein. Auch in der Stoffabfolge hält sich Morax exakt an die biblische Vorlage – mit einer Ausnahme: Zum Kampf mit Goliat kommt es, bevor David Sauls Musiktherapeut geworden ist (Satz 3 vor Satz 6); in der Bibel ist es umgekehrt (1Sam 17 nach 1Sam 16,14–23) – ein bloßer Irrtum oder die bewusste Abänderung einer irritierenden Abfolge in der Bibel? (Schließlich erkennt Saul seinen Musiktherapeuten nach dessen Sieg über Goliat nicht wieder!) Es ist klar, dass angesichts der extremen Kürzung manche ausführliche Erzählungen der Bibel nur sehr knapp berührt werden. Die beiden langen Kapitel über Davids Trennung von Jonatan etwa, 1Sam 19–20, reduzieren sich auf einen einzigen Satz des Erzählers: „Car pour toujours il dit adieu à Jonathan qui l’aimait comme un frère“ (Satz 6). Bei aller Kürze steckt in der Formulierung eine nicht unerhebliche Ausdeutung: Die Bibel verwendet auf das Verhältnis zwischen David und Jonatan wohl den Begriff „Liebe“ (1Sam 18,1; 20,17; 2Sam 1,23), nicht aber den des „Bruders“ – was bekanntlich zu diversen Vermutungen geführt hat: Ist es Männerfreundschaft, was die beiden verbindet, oder Homosexualität oder Gefolgschaftstreue? Morax’ Deutung kann sich indes darauf berufen, dass es auch von Saul heißt, er habe David „geliebt“ (1Sam 16,21), und dass Saul David einmal als „Sohn“ bezeichnet (1Sam 26,21); auf diesem Wege würden Jonatan und David „Brüder“. Die ausgedehnten Berichte vom Aufenthalt Davids bei den Philistern gerinnen in der Kurzwiedergabe durch Morax zu der knappen Mitteilung, Sauls Heer sei beim Aufmarsch der Philister zur Entscheidungsschlacht in Not geraten, „car David est avec les Philistines“. Auch dieses Sätzchen enthält eine Deutung: Saul, so sagt es, hatte kaum eine Chance, weil David nicht an seiner Seite war. Demgegenüber legt die biblische Darstellung größten Wert darauf, dass Sauls Niederlage mit Davids Frontwechsel zu den Philistern nicht das Mindeste zu tun hatte. So weit wie manche heutige Exegeten geht Morax allerdings nicht, zu behaupten, David sei bei der Schlacht von Gilboa sehr wohl dabei gewesen – auf der Seite der Philister! Manche, z.T. größere biblische Passagen hat Morax vollkommen ausgelassen. Geschah auch dies unter dem Zwang zur Kürze, oder lassen sich andere Motive erkennen? Hier zunächst eine tabellarische Aufstellung:
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Facetten aus der Wirkungsgeschichte der Samuelbücher
Im „Roi David“ fehlende Erzählelemente aus 1Sam 16 – 1 Kön 2 Michals Liebe zu David, der Brautpreis von 200 Philister1Sam 18,17–27 vorhäuten Davids Rettung durch Michal 1Sam 19,11–17 David als Freibeuter, Sauls Massaker an den Priestern von 1Sam 21–23 Nob David und Saul in der Höhle von Engedi; Nabal und Abi1Sam 24–25 gajil Davids Aufenthalt bei den Philistern 1Sam 27; 29–30 Davids Bestrafung des Amalekiters 2Sam 1,13–16 Davids Auseinandersetzungen mit den Sauliden; Michals 2Sam 3–5 Rückkehr Davids Zerwürfnis mit Michal 2Sam 6,20–23 Davids Kriege und Siege 2Sam 8 David verschont Meribaal 2Sam 9; 16; 19 Amnons Untat an Tamar; Abschaloms Brudermord 2Sam 13 Abschaloms Aufstand gegen David 2Sam 14–17 Schebas Aufstand gegen David 2Sam 20 Hinrichtung der Sauliden; Rizpas große Tat 2Sam 21,1–14 Philisterkämpfe 2Sam 21,15–21 Heldentaten der Krieger Davids 2Sam 23,8–39 Abischag bei David; Intrigen Natans und Batschebas 1Kön 1 Davids Hinrichtungsaufträge an Salomo und deren Ausfüh- 1Kön 2 rung Es schälen sich vor allem zwei Sujets heraus, die in das Oratorium keinen Eingang gefunden haben. Das erste ist die Auseinandersetzung Davids mit Saul und den Sauliden. In der Bibel ist Davids Lebensweg ja von Anfang bis Ende eng mit deren Geschick verwoben. Dahinter steht der ernste Sachverhalt, dass David nicht regulärer Thronerbe, sondern Usurpator war. Solche Männer – meistens sehr tüchtige, jedenfalls skrupellose Leute – pflegten in der damaligen Zeit das von ihnen gestürzte Herrscherhaus planmäßig auszurotten, was das Risiko von Gegenputschen minderte. So verlor fast die gesamte Familie Sauls ihr Leben – nach der biblischen Darstellung allerdings nicht auf Betreiben Davids: Zunächst fielen Saul und drei seiner Söhne im Kampf gegen die Philister – wobei freilich David damals gerade deren Vasall war (1Sam 31; 2Sam 1); dann fielen Sauls Onkel und Heerführer, Abner, und sein Sohn und Nachfolger, Eschbaal, Meuchelmorden zum Opfer – wobei freilich die Mörder in Beziehung zu David standen (2Sam 3f); schließlich verloren sieben Sauliden durch eine rituelle Massenhinrichtung ihr Leben – wozu David, angeblich gezwungen durch den Zorn der Gottheit, die Erlaubnis gab (2Sam 21). Von alledem ist im „Roi David“ nichts zu hören. Auch nicht davon, dass Sauls Tochter Michal Davids erste Ehefrau war und gleichwohl nicht Mutter des Thronerben wurde. Michals Bruder, der Kronprinz Jonatan, wird kurz erwähnt: einmal als Davids Freund, dann als Gefallener, nicht aber als Vater eines Sohnes: ein gefährliches Subjekt für einen Usurpator. In diesem Fall allerdings handelt es sich um einen Körperbehinder-
Ein modernes Oratorium und seine biblische Textvorlage
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ten, den David zuvorkommend behandelt – auch als dieser bei sich bietender Gelegenheit prompt Machtgelüste entwickelt (vgl. 1Sam 20,14f; 2Sam 9; 16,1– 5; 19,25–31). All diese Sauliden-Geschichten bleiben in dem Oratorium beiseite – warum? Sollte das Bild Davids nicht zu zwielichtig erscheinen? Doch für ein schönfärberisches Davidbild wäre es durchaus von Vorteil gewesen, ein möglichst ungünstiges Bild von seinem Widersacher Saul zu malen – wozu die Bibel sehr wohl Anhalt bietet (vgl. 1Sam 22f; 19,18–24; 24; 28). Diesen Weg aber schlägt das Oratorium nicht ein; offenbar will es keine Moritat vom Machtkampf zweier Männer bieten. Das zweite, größere Sujet, das aus dem „Roi David“ konsequent ausgeblendet wird, sind Nachrichten rein kriegerischer und politischer Art: etwa die Auflistung der Kriege und Siege Davids sowie seiner Minister (in 2Sam 8) oder die Aufzählung seiner wichtigsten Krieger und die Anekdoten über ihre Heldentaten (2Sam 23) oder die Geschichte von Davids Zusammenprall mit dem reichen Herdenzüchter Nabal, den am Ende Gott um sein Leben und David um seine Frau bringt (1Sam 25). Beiseite bleiben auch die schlimmen und blutigen Verwicklungen innerhalb des Davidhauses: eine Vergewaltigung unter Königskindern, ein dadurch ausgelöster Brudermord, der spätere Versuch des Brudermörders, David vom Thron zu stoßen (2Sam 13–17). Keine Erwähnung finden auch der gleich anschließende Aufstandsversuch des Benjaminiten Scheba (2 Sam 20), das intrigante Ringen um die Nachfolge Davids (1Kön 1) und die blutigen Vorgänge nach der Machtergreifung Salomos (1Kön 2). Auch in diesen Fällen wird es nicht darum gegangen sein, das Davidbild etwas zu schönen. Denn die beiden Verfehlungen Davids, die ihm die Bibel ausdrücklich ankreidet – die Batscheba-Urija-Affäre (2Sam 11) und die Volkszählung (2Sam 24) –, werden im Oratorium nicht verschwiegen, bieten vielmehr Anlass zu nachdenklichen Gesängen (Sätze 17–21 bzw. 24–25). Neben dem Zwang zur Kürze dürfte auch hier das Hauptmotiv gewesen sein, kein Historiendrama, sondern ein Oratorium schreiben zu wollen.
3. Die Psalmgesänge im „Roi David“ Honeggers Zeitgenosse Igor Strawinsky schuf eine „Psalmen-Sinfonie“. Der „Roi David“ könnte mit gutem Recht ein „Psalmen-Oratorium“ genannt werden. Die gesungenen Texte sind mehrheitlich dem biblischen Psalter entnommen, wobei einmal ein längerer Ausschnitt aus einem Psalm wiedergegeben wird, ein anderes Mal ein „Verschnitt“ aus mehreren Psalmen. Wieder mag eine tabellarische Übersicht hilfreich sein:
Facetten aus der Wirkungsgeschichte der Samuelbücher
270 DavidPsalter
situierte Psalmen
Bezugsstelle in den Samuelbüchern
3–41
3
2Sam 15,17: Davids Flucht vor Abschalom 2Sam 16,51–13(?): der „Benjaminit Kusch“
7
18
34
51–72
51 52 54
56 57 59 60 63
2Sam 7,1: David hat Ruhe vor allen Feinden
PsalmZitate im „Roi David“
Satz Nr.
Kontext im Oratorium
11, 1f
6
18,3 18,47–49 18,1–6
2 3/26 24
23,1 24,7.9 27,1f
2 15 11
David vor Saul musizierend David als Hirte vor Goliats Auftritt Rückblick auf Davids Leben David, als Hirte Gesang vor der Lade vor der Gilboa-Schlacht
39,7 45,2f.17 46,1.4 51,3.4 51,8f
8 17 25 19 20
Prophetengesang vor der Batscheba-Affäre nach der Volkszählung nach der Batscheba-Affäre nach der Batscheba-Affäre
55,7.18 57,2.8f
7 9
Abschied von Jonatan David in der Wüste
62,8
2
David als Hirte
94,14 98,1.7f 103,15 104,2f
15 16 6 16
Festgesang vor der Lade Tanz vor der Lade Prophetengesang Tanz vor der Lade
118,10– 12.20 121
16
Tanz vor der Lade
21
vor dem Abschalom-Krieg
1Sam 21,11–16: David erstmals bei den Philistern
2Sam 12: nach der Batscheba-Affäre 1Sam 21,8; 22,9f: David wird von Doëg an Saul verraten 1Sam 23,19f: David wird von den Siphitern an Saul verraten 1Sam 21,11–16: David bei den Philistern 1Sam 24: David in der Höhle von Engedi 1Sam 19,11: David soll bei Michal verhaftet werden 2Sam 8,3ff: David besiegt Nachbarvölker 1Sam 22,5; 23,14: David in der Wüste Juda
101–103 108–110
138 - 145
142
1Sam 24: David in der Höhle (von Engedi?)
In der Tabelle sind der biblische Psalter (links) und das David-Oratorium (rechts) einander gegenübergestellt. Aus dem Psalter sind wiederum die sog. David-Psalter hervorgehoben: fünf Abschnitte (Ps 3–41; 51–72; 101–102; 108– 110; 138–145), in denen massiert Psalmen mit der Überschrift „von David“
Ein modernes Oratorium und seine biblische Textvorlage
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(bzw. „für“ oder „im Blick auf David“) begegnen. Sodann sind die dreizehn Psalmen aufgeführt, die mit einer Situationsangabe aus dem Leben Davids versehen sind (Ps 3; 7; 18; 34; 51; 52; 54; 56; 57; 59; 60; 63; 142). Vergleicht man damit die Textauswahl im Oratorium, zeigt sich, dass die Zuordnung von Psalmen zu David und seinem Leben keine starke Berücksichtigung findet. Offenbar wird auf die Psalmen nach inhaltlichen Gesichtspunkten zugegriffen, unabhängig von den jeweiligen Überschriften. So kommen auch solche Psalmen zum Zuge, die nicht als „David-Psalmen“ benannt sind (Ps 45; 46; 94; 98; 104; 118; 121) – so wie umgekehrt die „biographisch situierten“ Psalmen keineswegs bevorzugt aufgenommen werden, im Gegenteil: Aus dem Abschnitt Ps 52–63, in dem sie sich häufen, werden – zufällig oder nicht – gerade Psalmen ohne eine solche Angabe zitiert (Ps 55; 57). Im Fall von Ps 18 wird eine andere Situierung vorgenommen als in der Vorlage. Einzig im Fall von Ps 51 gibt es eine Übereinstimmung auf beiden Seiten. Es zeigt sich, dass Morax und Honegger nicht biblizistisch verfahren. Vielmehr ordnen sie sich in eine lange Traditionsreihe ein, nach der alle Psalmen als Psalmen Davids gelten. Und über die biographischen Zuweisungen von einzelnen Psalmen setzen sie sich großzügig hinweg. Zuweilen ist das erstaunlich. Warum betet David vor der Schlacht gegen Abschalom nicht gemäß der biblischen ‚Anweisung’ Ps 3 („Wie zahlreich sind meine Feinde, Jhwh“), sondern Ps 121 („Ich hebe meine Augen auf zu den Bergen“)? Der Grund könnte in Sätzen wie diesem liegen: „Allen meinen Feinden hast du das Kinn zerschmettert, die Zähne der Frevler hast du zerschlagen“ (Ps 3,8). Ps 121 ist von solchen martialischen Tönen frei. (Übrigens wird der Anfang dieses Psalms entgegen der lutherischen Tradition, nach welcher „von den Bergen Hilfe kommt“, zutreffend als bange Frage verstanden: „Woher kommt mir Hilfe?“) Der Hirtenknabe David stellt (in Satz 2) aus drei verschiedenen Psalmen (Ps 23; 18; 62) ein dreistrophiges Lied zusammen: allesamt zwar Davidpsalmen, alle aber ohne Situationsangabe und ganz gewiss nicht in der gleichen Situation entstanden. Doch gerade die Kombination bietet eine schöne Ausdeutung des Wesens Davids und eröffnet Blicke in das Herz eines Jünglings, mit dem Gott Großes vorhat. Bemerkenswert ist auch das Psalmzitat in Satz 17. Eben zuvor, in den Sätzen 15/16, hat die festliche Überführung der Lade nach Jerusalem stattgefunden (vgl. 2Sam 6). Nun erklingt im Oratorium Ps 45 – ein Königshochzeitslied. In den Samuelbüchern verlautet im Zusammenhang der Ladeüberführung nichts von einer Hochzeit. Im Oratorium jedoch folgt unmittelbar die Szene mit Batscheba. Durch die Rezitation von Ps 45 wird diese Thematik vorbereitet. Zudem heißt es im zitierten Psalmtext: „Tes fils auront la part du père“ – im Oratorium bereits eine feine Anspielung auf Salomo, den Sohn Batschebas und Davids und dessen Nachfolger. So entwickelt sich zwischen dem Gesangs- und dem Erzähltext ein feinsinniges Beziehungsgeflecht. Dagegen wiegt nicht schwer, dass Ps 45 kein ausdrücklicher David-Psalm und schon gar keiner mit biographischer Situationsangabe ist. Der 51. Psalm wird in der Bibel wie im Oratorium mit der Batscheba-Affäre in Verbindung gebracht (Sätze 19 u. 20). In der Tat sind die Bezüge zu 2Sam 12
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Facetten aus der Wirkungsgeschichte der Samuelbücher
derart augenfällig, dass sich sehr wohl die Meinung vertreten ließe, dieser Psalm sei im Blick auf jene Erzählung verfasst worden. In Ps 51,6 werden die genau gleichen Worte gebraucht, die David nach 2Sam 12,13 zu Natan gesagt hat: „Verfehlt habe ich mich gegenüber Jhwh“. Die Zerknirschung, ja Verzweiflung, die der Beter von Ps 51 zeigt („ich kenne meine Vergehen“, „in Schuld bin ich geboren“), und die Inständigkeit, mit der er Gott um Vergebung und künftige Bewahrung bittet („wasche mich rein“, „schaffe mir ein reines Herz“), würde man auch von David erwarten, doch sie fehlt in 2Sam 12. Dort folgt auf das knappe Schuldbekenntnis Davids sofort die Sündenvergebung durch Natan: „So hat Jhwh deine Verfehlung vergeben“. Wohl möglich, dass der Psalmist zwischen diesen beiden Sätzen eine Lücke spürte und diese zu füllen versuchte. Wäre es so, dann wäre die Situationszuweisung in Ps 51,1 gewissermaßen originär. Doch nicht ihretwegen ordnen Morax und Honegger den Psalm der Batscheba-Affäre zu; das zeigen die anderen Fälle, in denen sie sich über derartige Angaben hinweggesetzt haben. Noch in einem weiteren Punkt weicht der „Roi David“ von der biblischen Vorgabe ab: Dort muss Natan den fehlbaren König allererst zur Buße führen, wozu er das bekannte Gleichnis 2Sam 12,1–4 verwendet – das im Oratorium fehlt. Hier schlägt David sofort nach seinem Fehltritt das Gewissen, woraufhin er den 51. Psalm anstimmt (Satz 19); erst dann kommt der Auftritt Natans, und danach fährt David mit dem fort, was er zuvor schon getan hat: den 51. Psalm zu beten (Satz 20). Er erscheint hier also ein Stück bußfertiger als nach dem biblischen Bericht. Der 18. Psalm wird in den Sätzen 2, 3 und 24 aufgerufen, d.h. ganz am Anfang und kurz vor Ende des Oratoriums. Auf diese Weise legen Morax und Honegger einen Rahmen um das Gesamtwerk. Ps 18 ist ein königliches Dank- und Siegeslied, das in 2Sam 22 dem alten David in den Mund gelegt wird. Wenn es im Oratorium schon der junge David anstimmt, dann drückt sich darin aus, mit wieviel Gottvertrauen er seinen Lebensweg antritt. Und wenn er es dann im Alter wieder singt, zeigt das die Dankbarkeit, mit der er auf sein Leben zurückblickt. So wird der große König als Mensch in Gottes Hand gezeigt. – Zu bemerken ist noch, dass Honegger zu Beginn von Satz 3 deutlich hörbar eine Choralmelodie aufruft. Es ist, nur leicht abgewandelt, diejenige, die der große Komponist der Calvin’schen Reformation, Claude Goudimel (ca. 1514–1572), dem 18. Psalm im Hugenottenpsalter gegeben hat. Damit folgt der Komponist sehr feinsinnig seiner Textvorlage: Morax bietet die Zitate aus Ps 18 in einer Nachdichtung von Clément Marot aus dem Jahr 1543 – die eben Goudimel vertont hat! (Ähnlich nimmt Honegger in Satz 20, zu Ps 51, die betreffende Melodie aus dem Hugenottenpsalter auf. So hat dieses Oratorium nicht nur biblische, sondern auch betont reformierte Wurzeln.) Von den Psalm-Liedern singt „David“ selbst nur vier: eines als Alt (Satz 2) und drei als Tenor (Sätze 6, 9 und 21), irritierenderweise aber auch eines als Sopran (Satz 7) und drei als Chor (Sätze 19, 20 und 25). Offenbar soll sich die Vorstellung nicht auf den „historischen“ Mann und Herrscher David richten, sollen die Zuhörenden vielmehr eingeladen werden, sich mit dem „kerygmatischen“ David der Psalmen zu identifizieren.
Ein modernes Oratorium und seine biblische Textvorlage
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Gleich der erste Gesang im „Roi David“ (Satz 2) gehört David. Er singt ihn mit Alt-Stimme, ist also noch ein Knabe. Bekanntlich hütete er als solcher die Schafe seines Vaters (1Sam 16,11). Was die Bibel nicht berichtet, weiß das Oratorium: Schon damals sang er – passenderweise zunächst die Anfangsworte des 23. Psalms: „L’Eternel est mon berger“. Dann fährt er fort: „Ich bin bloß sein Lamm“; das steht nicht im Psalm, sondern höchstens als Vorstellung hinter ihm. David – Gottes Lamm: Eine ganze Gedankenwelt tut sich über den schlichten Worten auf. Es folgen in dem Gesang noch Worte aus anderen Psalmen, die den Sänger als geist- und musikerfüllten Jüngling erweisen – und wie nebenbei als Autor des ganzen Psalters. Auch in Satz 6 ist etwas zu vernehmen, das schlichten Bibellesern verschlossen ist: was David vor dem schwermütigen Saul gesungen hat und was auf diesen eine so große Wirkung hatte, dass er zu sich zurückfand: Es waren Worte aus dem 11. Psalm! In Satz 8 werden wir in den Kreis der Propheten um Samuel geführt, bei denen David auf der Flucht vor Saul Schutz suchte (1Sam 19,18–24). In der Bibel steht lakonisch, sie hätten „prophezeit“. Der Kontext zeigt, dass es sich dabei um ein ekstatisches Phänomen gehandelt haben muss; denn Sauls Häscher und am Ende der König selbst fallen in Verzückung, als sie zur Verhaftung Davids schreiten wollen. Im Oratorium jedoch sind die Propheten keine Ekstatiker; vielmehr rezitieren sie Lebensweisheiten aus den Psalmen: wie kurzlebig und hinfällig der Mensch sei – eine ernste Mahnung an den wutschnaubenden Saul (und alle, die sich den Plänen Gottes entgegenstellen). Wenn der „Roi David“ fast mehr ein Psalmen- als ein David-Oratorium ist, dann lässt sich jetzt präzisieren: Das Leben Davids wird hier anhand von Psalmtexten meditiert, oder umgekehrt: Psalmtexte werden im Blick auf Davids Leben rezitiert. Ist das der Grund, warum die Vita Davids hier ein wenig glatter und schöner wirkt als das rissige und sperrige Davidbild der Samuelbücher? Die Absicht von Morax und Honegger war ja nicht, das politische und persönliche David-Drama der Samuelbücher einschließlich aller seiner Abgründe und Abstürze nachzugestalten. Vielmehr sollte das vorbildhafte Leben des Psalmbeters David vor Augen geführt bzw. sollten Psalmgesänge in seiner Lebensgeschichte verankert werden.
4. Vorlagen zum „Roi David“ außerhalb der Psalmen Sind die meisten Gesangstexte im „Roi David“ aus dem Psalter genommen, so gibt es doch eine Reihe Ausnahmen. Die Mehrzahl von ihnen hat gleichwohl biblische Vorlagen – aber außerhalb des Psalters. Am Anfang mag wieder eine Auflistung stehen, und zwar geordnet nach den zugrunde liegenden Bibelstellen: Bibelstelle 1Sam 18,7; 21,12; 29,5 2Sam 1,19–27
Kontext im Oratorium Siegeslied der Frauen Tod von Saul und Jonatan
Satz 4/5 14
274 2Sam 7,12–13 2Sam 23,2–3 Jes 9,5–6 Jes 11,1 Hld 7,12–13
Facetten aus der Wirkungsgeschichte der Samuelbücher Tanz vor der Lade Davids Tod Tanz vor der Lade Davids Tod Batscheba-Affäre
16 27 16 27 18
Die von Morax getroffene Auswahl von Nicht-Psalmen-Texten wirkt auf den ersten Blick verblüffend, lässt sich bei näherem Zusehen aber gut nachvollziehen. So ist es begreiflich, dass er, der Dichter, sich von den wenigen Dichtungen angezogen fühlte, die in die David-Erzählungen eingestreut sind. Ist man bereit, auch dem Orakel in 2Sam 7,11–16 gehobene, poetische Sprache zu attestieren, fallen unter diese Kategorie sämtliche oben aufgeführten Zitate aus den Samuelbüchern. Poetisch geformt sind selbstverständlich auch die restlichen Passagen aus dem Jesajabuch und aus dem Hohenlied. Aus Jesaja werden hintergründigerweise die beiden berühmtesten messianischen Weissagungen aufgerufen: ein diskreter Hinweis auf die intensiven messianischen Erwartungen, die sich schon im Alten Testament, dann im Neuen und von da aus über Jahrtausende der Judentums- und Christentumsgeschichte an die Davidgestalt geknüpft haben. Das Zitat aus dem Hohenlied stammt aus einem Liebeslied, das die Geliebte für ihren Liebsten singt. Im Satz 18 des Oratoriums singt es eine Dienerin vor der badenden Batscheba, als wolle sie diese zur Liebe animieren. Das ist ein feiner Kunstgriff – und er enthält noch eine ganz besondere Feinheit: Das letzte Wort des Liedchens lautet „baiser“, „Kuss“. Mit demselben Wort endet auch Satz 22, der Klagegesang der Frauen (mit Sopran-Solo) um den toten Abschalom: Dessen trauriges Ende sei geschehen „wegen eines Kusses“ – eben wegen des damaligen Kusses und Ehebruchs mit Batscheba. Diesen Bogen von Davids Fehltritt zu den späteren Katastrophen in seiner Familie schlägt schon die Bibel: Der Prophet Natan kündigt in seiner Strafrede an, es solle, weil David durch das Schwert der Ammoniter den ihm lästigen Urija habe töten lassen, künftig das Schwert nicht mehr von Davids Haus weichen (2Sam 12,9f) – worauf alsbald die tödlichen Schläge gegen die Davidsöhne Amnon, Abschalom, Adonija folgen und sich später noch manche weitere Morde an Nachkommen Davids ereignen: alles um des einen, fatalen Kusses des Dynastiegründers willen. Einige wenige Vokalstücke des Oratoriums sind nun aber weder aus den Psalmen noch sonst aus der (Hebräischen) Bibel genommen, sondern anderswoher: sei es aus der dichterischen Phantasie von René Morax oder von unbekannten Vorlagen. Elemente im „Roi David“ ohne biblisches Pendant Wie die Totenbeschwörerin von En-Dor Samuel heraufbeschwor Welche Ernte- und Kampflieder bei der Überführung der Lade gesungen wurden Wie David nach dem Sieg über Abschalom seinem Heer dankte
Satz 12 15/16 23
Ein modernes Oratorium und seine biblische Textvorlage
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Aus dem „Roi David“ ist zu erfahren, was die Bibel zum Kummer der Exegetinnen und Religionsgeschichtler entschlossen verschweigt, weil sie den betreffenden Vorgang für religiös höchst problematisch hält: mit welchen Worten die Totenbeschwörerin von En-Dor den Totengeist Samuels aus der Unterwelt heraufzurufen vermochte. In einem Alt-Solo werden die dazu nötigen, unheimlichwirksamen Formeln, wiederholt unterbrochen durch ein schauriges „Omm!“, im Wortlaut mitgeteilt (Satz 12). Die Annahme liegt nahe, dass hinter diesem Text okkulte Praktiken aus dem Waadtland des frühen 20. Jahrhunderts stehen. Es ist dies wohl der auffälligste Überrest der ursprünglichen, der Bühnenfassung des „Roi David“. In Anbetracht dessen, dass im Oratorium sonst keine der großen Frauengestalten aus den Daviderzählungen zu Wort kommt – Michal, Abigajil, Batscheba, Tamar, die weisen Frauen von Tekoa und von Abel-bet-Maacha, Rizpa –, ist der Auftritt einer Frau, die in der Bibel sowohl ihres Namens als auch ihrer Sprache beraubt ist, umso eindrucksvoller. Ein weiterer derartiger Überrest lässt sich in den Liedern vermuten, welche die Israeliten anlässlich der Überführung der heiligen Lade nach Jerusalem gesungen haben sollen (Sätze 15 und 16). Von ihnen ist in 2Sam 6 nichts zu vernehmen. Angeblich waren es Erntelieder und Kriegsgesänge – und wieder sieht man das Waadtland förmlich vor sich (zumal eigens der Wein erwähnt wird, den die Bauern bringen). An mehreren Stellen, für die es keine biblische Vorlage gibt, zeichnet sich zeitgeschichtliches Kolorit ab. In Satz 23 dankt David (in einer Sprecher-Rede) ausdrücklich seinen über Abschalom siegreichen Soldaten und stimmt danach ein Danklied an (genommen aus Ps 18, gesungen vom Chor). Einige der oben erwähnten Instrumentalstücke sind reine Marschmusik: zum Defilee des Heeres nach dem Sieg über Goliat (Satz 5), zum Aufmarsch der Philister vor der Entscheidungsschlacht gegen Israel (Satz 13 – ein besonders eindrückliches Stück, weil es etwas wie brutale Überlegenheit ausstrahlt), schließlich zum Vorbeimarsch des Heeres Davids nach derAbschalom-Schlacht (Satz 23). Zweimal besingen Frauen – gedacht ist wohl an Klagefrauen – Gefallene: einerseits Abschalom (Satz 22), andererseits Saul und Jonatan (Satz 14); hier formen die Frauen keine Worte, sondern geben nur Klagelaute von sich, während der Sprecher das in 2Sam 1,17–27 überlieferte Klagelied Davids auf Saul und Jonatan rezitiert. Unverkennbar spiegelt sich in solchen Szenen Kriegserfahrung, auch Widerstandswille gegen einen hochmütigen Feind. (Honegger lebte in dem 1870/71 von Deutschland gedemütigten und 1914–1918 erneut bedrohten Frankreich; später, zur Nazizeit, hat er in einer für einen Komponisten deutlichen Art gegen den Faschismus Stellung bezogen: etwa mit einer Oper über Jeanne d’Arc.) So ist „Le Roi David“ von René Morax und Arthur Honegger ein nicht nur frommes, sondern auch volkstümliches und politisches Werk.
Goliat und die Baleks Ein intertextueller Essay über Gerechtigkeit und Gewaltlosigkeit1 Im Folgenden werden zwei Erzählungen zueinander in Beziehung gesetzt: eine biblische und eine nachbiblische. Die eine ist die wohlbekannte Geschichte von David und Goliat,2 die andere stammt von Heinrich Böll und trägt den Titel „Die Waage der Baleks“. Ihr Inhalt sei hier kurz wiedergegeben.3 Ein Ich-Erzähler berichtet von der Kindheit seines Großvaters, Franz Brücher: irgendwo im Böhmischen, in den Ländereien der Gutsherrenfamilie Balek. Dort „lebten die meisten Menschen von der Arbeit in den Flachsbrechen. Seit fünf Generationen atmeten sie den Staub ein, der den zerbrochenen Stengeln entsteigt, ließen sich langsam dahinmorden, geduldige und fröhliche Geschlechter“. Die Kinder trugen zum Familienunterhalt bei, indem sie in den Wäldern Beeren, Kräuter und Pilze sammelten. Die Gutsherrin nahm sie ihnen ab, wog sie auf einer großen alten Waage, schrieb einen Pfennigbetrag gut, schenkte den Kindern ein Bonbon und verkaufte die Ware in der Stadt mit vielfachem Gewinn. „Eines der Gesetze, die die Baleks dem Dorf gegeben hatten, hieß: Keiner darf eine Waage im Hause haben.“ Niemand hatte sich dabei je etwas gedacht. Doch als zu Neujahr 1900 die Familie Balek geadelt werden sollte, bekam jede Familie im Untertanenland ein Viertelpfund Kaffee geschenkt. Der damals zwölfjähige Franz sollte die Gratifikation für vier Familien abholen – und erhielt dabei unverhofft die Gelegenheit, die Waage der Baleks zu überprüfen. Jemand hatte nämlich „den Halbkilostein liegengelassen …, und mein Großvater nahm die vier Kaffeepaketchen, legte sie auf die leere Waagschale, und sein Herz klopfte heftig, als er sah, wie der schwarze Zeiger der Gerechtigkeit links neben dem Strich hängenblieb“. Rasch legte er zu den Kaffeepaketen Steine, die er in der Hosentasche trug, bis das Gleichgewicht hergestellt war, nahm dann schnell alles wieder herunter, wickelte die Steine in ein Sack1
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Dieser Essay war geschrieben als Gruß an den Kollegen und Freund Frank Crüsemann, der Sinn für Intertextualität besitzt und dessen Arbeit am Alten Testament um die Fragen nach „Gerechtigkeit“ und „Freiheit“, aber auch nach „Gewaltlosigkeit“ kreist. Die David-Goliat-Geschichte ist – in Kommentaren wie in Einzelabhandlungen – vielfach untersucht worden. Ich nenne hier nur die Monographie von Stefan Ark Nitsche, David gegen Goliath. Die Geschichte der Geschichten einer Geschichte. Zur fächerübergreifenden Rezeption einer biblischen Story, Münster 1998, sowie zwei kleinere Arbeiten von mir: Die Erzählungen von David und Goliat in I Sam 17: ZAW 108 (1996) 172–191 = W. Dietrich, Von David zu den Deuteronomisten, 2002 (BWANT 156), 58–73. – Der Fall des Riesen Goliat. Biblische und nachbiblische Erzählversuche, in: Jürgen Ebach / Richard Faber (Hg.), Bibel und Literatur, München 1995, 241–258 = ebd., 120–133. Natürlich ist es problematisch, einen präzise zugeschliffenen Kurztext in nochmals verkürzter Form wiedergeben zu wollen. Es sei darum in jedem Fall die Lektüre des Originaltexts empfohlen. Er findet sich in mancherlei Sammlungen, Schulbüchern u. dgl.; mir liegt er in folgender Ausgabe vor: Heinrich Böll, Nicht nur zur Weihnachtszeit. Erzählungen, dtv München, 1992, 11. Aufl. 2001, 88–96.
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tuch und lief durch die Winternacht: durch zwei Dörfer, in denen niemand eine Waage besaß, bis zum nächsten Städtchen, wo er den Apotheker bat, die Steine zu wiegen. Er hörte: „Fünfeinhalb Deka, genau“, lief nach Hause zurück, ließ sich verprügeln, verriet aber nichts, sondern rechnete stundenlang: Auf einem Zettel, auf dem er seine Lieferungen an Frau Balek festgehalten hatte, summierte er, um wie viele Gramm und Pfennig er betrogen worden war. Gerade „als es Mitternacht schlug, vom Schloß die Böller zu hören waren, … als die Familie sich geküßt, sich umarmt hatte, sagte er in das folgende Schweigen des neuen Jahres hinein: ‚Baleks schulden mir achtzehn Mark und zweiunddreißig Pfennig‘“ – ein für seine Verhältnisse ungeheurer Betrag. Seine Entdeckung sprach sich herum wie ein Lauffeuer, und am nächsten Morgen, als die Baleks zum Festgottesdienst in die Kirche kamen, wandten „sich die Gesichter der blassen Leute ihnen zu, stumm und feindlich.“ Franz hielt der Gutsherrin beim Hinausgehen jene Steine entgegen und erklärte: „So viel, fünfeinhalb Deka, fehlen auf ein halbes Kilo an Ihrer Gerechtigkeit.“ Mittlerweile war jemand ins Schloss eingedrungen und hatte die Waage samt dem großen Buch entwendet, in dem sämtliche Lieferungen der Kinder eingetragen waren. Und nun saßen die Männer des Dorfes den ganzen Neujahrstag zusammen und „rechneten, rechneten elf Zehntel von allem, was gekauft worden – aber als sie schon viele tausend Taler errechnet hatten und noch immer nicht zu Ende waren, kamen die Gendarmen des Bezirkshauptmanns, drangen schießend und stechend … ein und holten mit Gewalt die Waage und das Buch heraus“. Auch in den Nachbardörfern gab es Aufruhr, doch auch dort wurde er gewaltsam niedergeschlagen. Danach schien Ruhe einzukehren: „die Kinder sammelten wieder Pilze, sammelten wieder Thymian, Blumen und Fingerhut, aber jeden Sonntag wurde in der Kirche, sobald die Baleks sie betraten, das Lied angestimmt: ‚Gerechtigkeit der Erden, o Herr, hat Dich getötet‘, bis der Bezirkshauptmann in allen Dörfern austrommeln ließ, das Singen dieses Liedes sei verboten.“ Am Ende mussten Franz Brücher und seine Familie ihr Dorf verlassen und sich fortan als wandernde Korbflechter durchs Leben schlagen. „Und wer ihnen zuhören wollte, konnte die Geschichte hören von den Baleks …, an deren Gerechtigkeit ein Zehntel fehlte. Aber es hörte ihnen fast niemand zu.“ Diese – meisterhaft und anrührend erzählte – Geschichte weist mehrere biblische Bezüge auf. Natürlich spielt das zitierte Lied, das vom „getöteten Herrn“ handelt, auf die Passionsgeschichte an; wir kommen darauf später zurück. Nicht so leicht zu erkennen sind die Anklänge an die Goliat-Geschichte. Ein Vergleichspunkt springt freilich in die Augen: Hier wie dort kommt es zu einem Ringen zwischen zwei sehr ungleichen Gegnern.4 Einmal tritt dem hünenhaften, schwer bewaffneten Goliat der junge David entgegen, der wiederholt (von Saul und von Goliat!) ausdrücklich als na‘ar „Knabe“ bezeichnet wird (1Sam 4
Auf diese Analogie ist man schon von nicht-theologischer Seite aufmerksam geworden, vgl. Brigitte Frank, Die Waage der Baleks, in: Interpretationen zu Heinrich Böll, verfaßt von einem Arbeitskreis. Kurzgeschichten II., München 51972, 57–65, hier 61: „Die Beschreibung der Baleks“ im Gegenüber zu derjenigen Franz Brüchers will einen gewaltigen „Größenunterschied deutlich machen. Man könnte an das Bild Davids denken, der Goliath gegenübersteht.“ Mit dieser Bemerkung hat es dann aber sein Bewenden.
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17,33.42). Das andere Mal bekommt es die mächtige Gutsherrenfamilie der Baleks mit einem zwölfjährigen Knaben namens Franz Brücher zu tun. Sonst aber scheinen beide Texte durch Welten getrennt zu sein: nicht nur, was Raum und Zeit anlangt – tausende von Meilen und Jahren liegen zwischen ihnen –, sondern auch in ihrer Grundanlage. Die Goliat-Geschichte zeigt uns eine betont militärische Szenerie mit staatspolitischem Hintergrund: Zwei Nationen ringen um die Vorherrschaft, Heer steht gegen Heer, der Krieg mündet in das blutige Duell zweier Stellvertreter-Kämpfer. Die Balek-Geschichte hingegen schildert das entbehrungsreiche Leben einer ausgemergelten Landbevölkerung und ihr stilles Aufbegehren gegen eine ungerechte Feudalherrschaft. Auch der Ausgang des Konflikts ist grundverschieden: Die biblische Geschichte endet mit dem glänzenden Sieg Davids und Israels über Goliat und die Philister, während in der modernen Geschichte offenbar die Baleks über die Brüchers die Oberhand behalten. Ferner ist die biblische Erzählung stärker religiös getönt als die moderne: König Saul sagt dem in den Kampf ziehenden David zu, Jhwh werde mit ihm sein (1Sam 17,37), und dieser erklärt seinem Gegner, er trete gegen ihn an „im Namen Jhwhs der Heerscharen“ (1Sam 17,45); demgegenüber nimmt Franz Brücher den Kampf gegen die Baleks mutterseelenallein auf, und er beruft sich dabei nicht auf Gott, sondern auf die Gerechtigkeit. Freilich, auch in die Balek-Geschichte spielt Religiöses hinein: Die Feudalherren und ihre Untertanen treffen sich in der Kirche, bei der Messe. Während die einfachen Leute aufsässige religiöse Lieder singen, suchen die Adligen mit Hilfe des Pfarrers die Lage zu beruhigen: „und die Baleks zwangen den Pfarrer, öffentlich in der Schule die Waage vorzuführen und zu beweisen, daß der Zeiger der Gerechtigkeit richtig auspendelte … – aber niemand ging in die Schule, um den Pfarrer anzusehen: er stand ganz allein da, hilflos und traurig mit seinen Gewichtssteinen, der Waage und den Kaffeetüten.“ Religion also nicht als Ermutigung der Kleinen zum Kampf gegen die Mächtigen, sondern als Waffe der Mächtigen gegen die Kleinen: „Opium des Volkes“ – das von diesem aber im konkreten Fall verschmäht wird. Auch die militärisch-staatspolitische Dimension fehlt der Balek-Geschichte nicht. Zwar prallen nicht Ethnien und Heere aufeinander, sondern Dorfbewohner und Gendarmerie, dient also die Armee nicht der Bekämpfung von außen andringender Feinde, sondern der Unterdrückung im Innern schwelender sozialer Unruhe. Gleichwohl steht mit dem Aufruhr der Dörfler die staatliche Ordnung, repräsentiert durch die Baleks und den Bezirkshauptmann, auf dem Spiel – warum sonst das militärische Dreinschlagen? Die Parallelen verdichten sich, wenn man einige, scheinbar nebensächliche und darum bisher nicht hervorgehobene Züge der Balek-Geschichte in den Blick nimmt. Franz Brücher, so wird erzählt, war besonders „fleißig und klug“; er kroch beim Pilzesammeln „weiter in die Wälder hinein, als vor ihm die Kinder seiner Sippe gekrochen waren, er drang bis in das Dickicht vor, in dem der Sage nach Bilgan, der Riese, hausen sollte … Aber mein Großvater hatte keine Furcht vor Bilgan“. Auch wenn der biblische Goliat nicht wirklich als Riese geschildert wird, sondern ‚nur‘ als riesenhaft, ähneln sich die beiden Gestalten – namentlich in der Wirkung, die von ihnen ausgeht. Vor Goliat haben alle Israeliten Angst
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(bis auf David), vor Bilgan alle Dorfkinder (bis auf Franz). Bilgans Schatten liegt drohend über den Wäldern und dem Land der Baleks. Er wird nicht Fleisch und Blut, wie Goliat – weswegen er auch nicht direkt angegriffen und getötet werden kann. In gewisser Weise aber gewinnt der unheimliche Gegner doch konkrete Gestalt, insofern die Baleks nach ihrer Adelung „Balek von Bilgan hießen, weil der Sage nach Bilgan, der Riese, dort ein großes Schloß gehabt haben soll, wo die Gebäude der Baleks stehen“. So fahren denn die Baleks „am Neujahrstage zum Hochamt in die Kirche …, das neue Wappen – einen Riesen, der unter einer Fichte kauert – schon in Blau und Gold auf ihrem Wagen“. Die Herrenfamilie ist stolz auf den mythischen, furchteinflößenden Vorfahren, sie nennt sich jetzt „Baleks von Bilgan“. Damit ist deutlich: In den Baleks bekämpft Franz Brücher Bilgans Erben – und kommt damit David in seinem Kampf gegen Goliat sehr nahe. Ein weiteres Mal ist vom Riesen Bilgan in der zentralen Szene der BalekErzählung die Rede, als Franz die Waage der Baleks überprüft: Er handelt rasch und zielgerichtet, doch „sein Herz klopfte heftiger, als wenn er im Walde hinter einem Strauch gelegen, auf Bilgan, den Riesen gewartet hätte“. Die Baleks sind also bedrohlicher als Bilgan, die Realität gefährlicher als der Mythos, der Kampf um Gerechtigkeit riskanter als ein Zweikampf mit (eingebildeten?) Riesen. Umso verblüffender, dass Franz seinen Kampf gegen die Baleks von Bilgan mit just denselben Waffen führt wie einst David den seinen gegen Goliat: „und er suchte aus seiner Tasche Kieselsteine, wie er sie immer bei sich trug, um mit der Schleuder nach den Spatzen zu schießen, die an den Kohlpflanzen seiner Mutter herumpickten – drei, vier, fünf Kieselsteine mußte er neben die vier Kaffeepakete legen, bis die Schale mit dem Halbkilostein sich hob“. Bekanntlich sammelte David, als er durch das Bachbett des Terebintentals Goliat entgegenschritt, fünf Kieselsteine für seine Schleuder ein, um gleich mit dem ersten in die Stirn des übermächtigen Gegners zu treffen. Fünf Kieselsteine, eingesammelt für seine Schleuder, setzt auch Franz Brücher ein: freilich nicht als Schleuder-, sondern als Gewichtssteine; doch gerade so werden sie zu äußerst wirksamen Geschossen gegen die Baleks von Bilgan! Als sich Franz und die Schlossherrin zum Abschluss der Neujahrsmesse Aug in Aug gegenüberstehen, rücken noch einmal die fünf Steine in den Blick: „Und er zog die fünf Kieselsteine aus seiner Tasche, hielt sie der jungen Frau hin und sagte: ‚So viel, fünfeinhalb Deka, fehlen auf ein halbes Kilo an Ihrer Gerechtigkeit‘; und noch ehe die Frau etwas sagen konnte, stimmten die Männer und Frauen in der Kirche das Lied an: ‚Gerechtigkeit der Erden, o Herr, hat dich getötet …‘“ Die Steine haben getroffen: ins Herz – kaum in das der Frau von Bilgan, wohl aber in das der einfachen Leute, so dass sie ihr Widerstandslied anstimmen. Wiederum: die Differenzen zwischen beiden Geschichten sind auch in diesem Punkt unübersehbar. Franz benutzt Schleuder und Steine, um freche Spatzen zu vertreiben, David hingegen braucht sie als tödliche Waffe, sei es als Hirte gegen wilde Tiere oder als Schleudersoldat gegen feindliche Krieger. Es dürfte sich denn auch um technisch recht unterschiedliche Geräte handeln: hier eine einfache, Ypsilon-förmige Holzschleuder, wie Kinder sie benutzen, dort eine Bandschleuder, die in Kreisbewegungen geschwungen wird, bis eines der beiden
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Bandenden losgelassen und damit das Geschoss freigegeben wird; kurz, ein Spielzeug versus eine Distanzwaffe. Es würde denn auch wenig Sinn machen, wenn Franz mit seinem Gerät ein Mitglied der Familie Balek (oder gar den Riesen Bilgan, wenn es ihn denn gäbe!) physisch angriffe. Vielleicht könnte er jemanden verletzen, er würde aber nicht alle Baleks treffen und er würde schon gar nicht den Schatten Bilgans vertreiben können. Gegen übermächtige Feinde dieser Art vermögen Schleudersteine nichts auszurichten – höchstens, wenn sie in Gewichtssteine umfunktioniert werden. Allerdings kommt es auch in der Balek-Geschichte zu Gewaltanwendung: nicht nur seitens der Gendarmen, sondern auch durch einen Dorfbewohner. Es gibt da einen Wilderer namens Wilhelm Vohla, der eingeführt wird als einer der Menschen, die, um auf ihre Kosten zu kommen, „das Gesetz mißachteten“. Er war es auch, der, statt dem Hochamt in der Kirche beizuwohnen, ins Schloss der Baleks von Bilgan eindrang, die Waage und das große Buch entwendete – und damit nicht nur das kollektive Ausrechnen der Schulden der Baleks ermöglichte, sondern auch das Einschreiten des Bezirkshauptmanns und der Gendarmerie provozierte. Bei der Schießerei verlor Franz’ kleine Schwester Ludmilla das Leben, „und einer der Gendarmen wurde von Wilhelm Vohla, dem Wilderer, erstochen.“ Doch der Blutzoll war zu nichts nütze. Eine Familie hatte ein Kind verloren, und die Gendarmen holten trotz des Verlustes eines Kameraden „mit Gewalt die Waage und das Buch heraus“. Gegengewalt gegen die mit den Baleks verbündete Staatsgewalt: das bewirkt offenbar nichts Gutes. Was aber hat denn Franz Brücher mit seinen Kieselsteinen bewirkt? Bilgan oder die Baleks liegen am Ende nicht besiegt und tot am Boden. Immerhin aber wird gegen sie und ihre Machenschaften der Kampf aufgenommen. Da ist endlich einer, der ihrem ungerechten Treiben auf die Spur kommt: keiner der Männer im Dorf, auch nicht der Wilderer Vohla, sondern ein halbwüchsiger Junge. Seine Entdeckung führt zum Erwachen der Dorfbewohner. Die bisher so gutmütigen, geduldigen Untertanen beginnen aufzumerken, nachzurechnen, sich zur Wehr zu setzen. Die Baleks erleben bisher nie Dagewesenes: „in der Kirche wandten sich die Gesichter der blassen Leute ihnen zu, stumm und feindlich“. Beim Hinausgehen hören sie aus dem Munde „des kleinen blassen Franz Brücher“ die unangenehme Wahrheit. Danach dann ruhte „fast eine Woche lang … die Arbeit“; das Volk verweigert seinen Oberen, was sie am dringlichsten erwarten: die Arbeitskraft. Und dann dieser Choral: „Gerechtigkeit der Erden, o Herr, hat Dich getötet“, regelmäßig in der Kirche angestimmt, ohne Weisung des Pfarrers und ohne Begleitung des Organisten, Kampfgesang der betrogenen Menschen und von solcher Sprengkraft, dass er regierungsamtlich unterdrückt werden muss. Angespielt wird in dem Liedtitel (dass es einen solchen Choral gibt oder je gegeben hat, ist eher unwahrscheinlich5) auf das Leiden und Sterben Jesu Christi: ein Passionslied also, das in der aktuellen Auseinandersetzung plötzlich höchst konkrete Bedeutung erlangt. Das regt zu einer intertextuellen Verknüpfung der Balek-Erzählung nicht nur mit der Goliat-, sondern auch mit der Passionsge5
Ein tschechischer Doktorand hat für mich in Erfahrung gebracht, dass es den Choral tatsächlich nicht gab oder gibt.
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schichte an – und von da aus wieder ergeben sich überraschende Bezüge zwischen den auf den ersten Blick grundverschiedenen biblischen Geschichten. Der Tod des „Herrn“ erscheint in der Balek-Geschichte als Sinnbild des Kampfes auf Leben und Tod, wie er jetzt gegen Bilgan und seine Nachfahren zu führen ist. Die damals den „Herrn“ „getötet“ haben, wussten sich den Anschein der „Gerechtigkeit“ zu geben. Beim Prozess gegen Jesus wurden die ordentlichen Rechtsinstanzen eingeschaltet und das Urteil scheinbar rechtskonform gefällt. Die Evangelien lassen indes keinen Zweifel, dass die Verurteilung und Hinrichtung Jesu schreiendes Unrecht war. Ebenso bemänteln die Baleks das von ihnen verübte Unrecht mit dem Schein der Gerechtigkeit. Symbol dafür ist die große, alte, ehrwürdige und scheinbar unbestechliche Waage, auf der jedes Gramm der gesammelten Pilze und Kräuter genau abgewogen wird, um dann scheinbar korrekt vergütet zu werden. Doch die Waage ist gefälscht, und darum ist die vermeintliche Gerechtigkeit pure Ungerechtigkeit. Diese konnte so lange unentdeckt bleiben, weil sie sich geschickt, grammgenau, als Gerechtigkeit tarnte. Hinter dieser Tarnung wird auch heute, wie damals, „getötet“: nicht nur sozial, durch das Ausbeuten der kleinen Leute, der Kinder gar, sondern auch physisch, durch gesundheitszerstörende Arbeitsverhältnisse, und schließlich durch die Schüsse der Gendarmen, denen die kleine Ludmilla zum Opfer fällt. Von der modernen Geschichte aus eröffnen sich interessante Perspektiven auf die Jesusgeschichte. Das „Töten“ und Sterben unter der Herrschaft der Baleks hat eindeutig soziale Ursachen: Für den eigenen Vorteil opfert die Adelsfamilie bedenkenlos die Gesundheit und das Leben ihrer Untertanen. Verlor nicht auch Jesus sein Leben, weil die Mächtigen sich von ihm nicht genügend respektiert und durch ihn ihre Privilegien in Gefahr sahen? Nicht von ungefähr also erkennt die aufbegehrende Dorfbevölkerung in Jesus ihren Leidensgenossen und Verbündeten – und finden sich die Baleks von Bilgan unverhofft auf der Seite der Christusmörder wieder. „Gerechtigkeit der Erden“ war es, die den „Herrn“ „tötete“. Das ist eine ironische Verkehrung; es war irdische Ungerechtigkeit, die da einen Gerechten zu Tode brachte. Sollte es auch eine andere, himmlische Gerechtigkeit geben, die nicht „tötet“, sondern lebendig macht? Und wirkt sie etwa schon auf Erden: überall dort, wo Menschen aufstehen gegen ihnen zugemutete Ungerechtigkeit? Ist das mutige Handeln des kleinen Franz Brücher ein Ostergeschehen? Ist das von ihm ausgelöste Aufstehen gegen das Unrecht ein Auferstehen aus dem Grab stumpfen Hinnehmens und dumpfer Abhängigkeit? Ist Bilgan also – der Tod? (Nicht der normale Tod, der jedes Menschenleben abschließt und mit dem die alttestamentlichen Menschen zu leben wissen, sondern der ungerechte, aus dem Unrecht aufsteigende Tod, der immer zu früh kommt und mit dem sich niemand abfinden darf!) Von da aus ergeben sich wiederum zur Goliat-Geschichte intertextuelle Bezüge. Wenn Bilgan den Tod verkörpert – warum dann nicht auch Goliat? Wenn der Aufruhr gegen die Baleks von Bilgan Gegenwehr gegen soziale Repression war – warum dann nicht auch der Kampf gegen Goliat und die Philister? Binnentextliche Exegese der Goliat-Geschichte läßt sich leicht ablenken durch Phänomene im Textvordergrund: die Waffenrüstung Goliats, die Treffsicherheit
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Facetten aus der Wirkungsgeschichte der Samuelbücher
Davids, die kriegerische Szenerie, die ethnische Konfrontation. Schiebt man vor diese vermeintlich scharfen Konturen die analogen Züge der Balek-Geschichte, dann eröffnen sich plötzlich andere Sichtmöglichkeiten. Goliat ist nicht mehr eine (vermeintlich) konkret-historische Gestalt, er erweist sich als zeitlos-gegenwärtiger Albtraum. In Goliat die Baleks von Bilgan erkennen, heißt, nicht mehr jemanden zu sehen, den es (vielleicht) einmal gegeben hat, sondern etwas zu sehen, das es immer wieder und auch heute gibt: die lebensverachtende Selbstherrlichkeit der Mächtigen auf Kosten der Machtlosen, der Starken auf Kosten der Schwachen, der Reichen auf Kosten der Armen. Es ist sehr wohl möglich, dass die biblischen Erzähler eben dies im Sinn hatten: in den „Philistern“ nicht so sehr eine ausländische Invasion vor Augen zu malen als vielmehr die dreiste Ausbeutung einer wehrlosen Landbevölkerung und in „Goliat“ weniger einen bestimmten Einzelkrieger als vielmehr ein Sinnbild bedenkenlosen, massenhaften Tötens. Wie nun, wenn man vor „David“ die Gestalt Franz Blüchers rückt und vor „Israel“ die sanft leidenden und dann still aufbegehrenden Dörfler des Balek’schen Untertanengebietes? David wird dabei eher noch kleiner, noch unscheinbarer als der „Knabe“ der biblischen Erzählung. Aber entschlossen wäre er und zäh und klug. Und Israel erschiene keinesfalls mehr als triumphierendchauvinistische Siegermacht, sondern als fortwährend betrogenes und brutal gedemütigtes Untertanenvolk. Und war es nicht möglicherweise genau so? Israel unterdrückt von fremden und von eigenen Machthabern, seine Anführer nicht geboren zu ebenbürtigem Kämpfen und glanzvollem Siegen, sondern zum Gebrauch von List und Verstand – und oft genug zum Leiden … Der frappanteste Unterschied zwischen David und Franz Brücher ist, dass der eine von seiner Schleuder als einer gefährlichen und tödlichen Waffe Gebrauch macht, während der andere auf Waffengewalt völlig verzichtet. Franz schleudert seine Steine nicht, er wirft sie nicht einmal, er wiegt sie. Und dann rechnet er. Das ist seine Art des Zweikampfs mit Bilgan und den Baleks. Und seine Familie, die Bewohner seines Dorfes erschlagen die Gutsherrenfamilie nicht, man geht mit ihr in die Kirche, schweigt sie an und stimmt gegen sie ein Protestlied an. Ein Passionschoral wird zum Widerstandslied. Im Namen des Gekreuzigten kann man gegen Unrecht protestieren, nicht aber die Ungerechten liquidieren. Im Gefolge Davids – jedenfalls, wenn er die Züge eines Franz Brücher annimmt – ist Ungerechtigkeit wohl zu bekämpfen, dabei aber strikte Gewaltlosigkeit zu bewahren. Ohne diese ausdrückliche Klarstellung könnte die Goliat-Geschichte auch als Aufforderung zur Gewaltanwendung – wenn auch zu raffinierter – verstanden werden (und ist auch oft so verstanden worden). Zwar lässt sich David nicht auf die martialische Art des Kampfes ein, die Goliat vorschwebt: mit den schweren Waffen und plumpen Methoden des damaligen Elitekriegers; David legt vielmehr die Rüstung Sauls, die ihn zu solchem Zweikampf hätte befähigen sollen, wieder ab. Doch ist ja der Einsatz der Kampfschleuder so grundverschieden nicht von dem des Spießes oder des Schwertes, mit denen Goliat umzugehen gewohnt ist. Und am Ende ergreift David, in einer ziemlich makabren Form des Schwertkampfes, die Waffe des bereits am Boden liegenden Gegners, um ihm damit den Kopf vom Leib zu trennen. Dieses Motiv
Goliat und die Baleks. Über Gerechtigkeit und Gewaltlosigkeit
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vom siegreichen David, der das Haupt Goliats gerade abschlägt oder schon neben sich liegen hat oder es hoch in der Luft schwingt oder triumphierend vor sich her trägt, ist eines der beliebtesten in der kunstgeschichtlichen Rezeption der David-Goliat-Geschichte. Angesichts dessen ist es nicht leicht, die Erzählung als das wahrzunehmen, was sie (auch) ist: ein Appell zum Verzicht auf brutale kriegerische Gewalt. In diesem Sinn nämlich sind die zentralen (und wohl ziemlich spät in den Text gekommenen) Aussagen Davids unmittelbar vor dem Kampf verstehen: „Du (Goliat) kommst zu mir mit Schwert, Speer und Wurfspieß; ich aber komme zu dir im Namen Jhwhs der Heerscharen, des Gottes der Schlachtreihen Israels, die du verhöhnt hast. Am heutigen Tage wird dich Jhwh in meine Hände liefern, … damit alle Welt erkenne, dass Israel einen Gott hat, und damit diese ganze Versammlung erfahre, dass Jhwh nicht durch Schwert und Speer Sieg schafft; denn Jhwhs ist der Krieg“ (1Sam 17,*45–47). Liest man die Goliat- von der Balek-Geschichte her, dann rückt dieser gleichsam pazifizistische Aspekt der biblischen Erzählung in den Vordergrund – und werden die in ihr enthaltenen militaristischen Züge (namentlich die Schleuder und das Schwert Goliats in Davids Hand) in den Hintergrund gedrängt. David im Bild des Franz Brücher: das ist kein Kriegsheld, sondern ein Held des gewaltfreien Widerstands. Unsere intertextuelle Lektüre kann noch ein Weiteres leisten. Vermag man in der Balek- die Goliat- wie auch die Passionsgeschichte anklingen zu hören, dann kann man auch versuchen, diese beiden biblischen Texte unmittelbar zueinander in Beziehung zu setzen. Ohne das Zwischenglied der modernen Erzählung käme man nicht leicht auf diesen Gedanken; doch mit ihr als Bindeglied ergeben sich durchaus bedenkenswerte Gesichtspunkte. Vermittelt durch die Gestalt des sanften, aber starken Franz Brücher rücken die David- und die Christus-Gestalt zusammen. Der von der „Gerechtigkeit der Erden getötete Herr“ gewinnt in Franz Brücher und seinen Dorfgenossen neues Leben, so wie der gegen riesenhafte Ungerechtigkeit ankämpfende junge David in dem Jungen Franz einen Nachfahren findet. Schon lange und in vielfältiger Weise hat die Christenheit die Gestalten Davids und Christi in Beziehung gesetzt. Die DavidChristus-Typologie hat ihre Anfänge schon im Neuen Testament, etwa in der Einreihung Jesu in den Davididen-Stammbaum (Mt 1) oder in der Aufnahme messianischer Erwartungen des Alten Testaments (etwa von Mi 5,2.4 in Mt 2,6 oder von Sach 9,9 in Joh 12,15) oder in der Zitation des „David-Liedes“ Ps 22 in der Passionsgeschichte, am markantesten im Verlassenheitsschrei Jesu (Mk 15,34). Das christliche Mittelalter führte diese innerbiblische Typologie weiter, indem sie die herrscherlichen Attribute Davids und die hoheitliche Würde Christi hervorhob und auf dieser Grundlage eine David-Christus-Kaiser-Typologie schuf. Die in der Balek-Geschichte verborgenen Signale weisen indes in eine ganz andere Richtung: Im Bilde Franz Brüchers tritt uns ein pointiert nichtherrscherlicher David gegenüber, und mit Blick auf ihn empfiehlt sich uns eine dezidierte Niedrigkeits-Christologie. Von hier aus hätte man die David-GoliatErzählung nicht als Heldengeschichte vom kommenden siegreichen Herrscher zu lesen, sondern als Wundergeschichte von dem gefährdeten Kleinen und
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Schwachen, der dank Gottes Hilfe überlebte und seinem Volk das Überleben ermöglichte. Dennoch bleiben natürlich Differenzen. In der Goliat-Geschichte wird das Überleben gesichert, indem der, der das Leben bedroht, sein Leben einbüßt. Das scheint der normale, der am ehesten gangbare Weg zu sein, wenn es ein Schwacher mit einem Starken zu tun bekommt: dass er eine augenblickliche Chance nutzt, um stärker zu sein als er. Nicht so Jesus, auch nicht Franz Brücher. Jesus tötet nicht andere, sondern wird selbst „getötet“. Franz tötet auch nicht; ihm selbst bleibt zwar der eigene Tod erspart, doch ereilt er seine kleine Schwester. Die „(Un-) Gerechtigkeit der Erden“ kann hart zuschlagen gegen die, die gewaltlos gegen sie anzutreten wagen. Das Kreuz ist bleibendes Symbol dafür. Und auch die Brüchers werden hart betroffen: Außer einem Kind verlieren sie die Heimat. Als Vagabunden ziehen sie umher und erzählen, wohin sie kommen, die Geschichte „von den Baleks von Bilgan, an deren Gerechtigkeit ein Zehntel fehlte. Aber es hörte ihnen fast niemand zu.“ Dieser Erzählschluss wirkt traurig und pessimistisch. In der Tat wird über die wirklich wichtigen Botschaften oft hinweggehört. Oft, aber nicht immer. Unzählige haben die Geschichten von Davids Sieg über Goliat und vom „getöteten“, aber nicht im Tod gebliebenen „Herrn“ gehört. Und auch die Geschichte von den Baleks ging nicht verloren. Auf Menschen wie die Brüchers mag „fast niemand“ hören; Schriftsteller aber, die ihre Geschichten erzählen, finden mitunter Gehör. Dabei ist es nicht erheblich, ob sich diese Geschichten genau so, ja, ob sie sich überhaupt abgespielt haben. Die Balek-Geschichte ist fiktiv. An der Goliat-Geschichte scheint nicht viel mehr historisch zu sein als der Tod Goliats (vgl. 2Sam 21,19) – und das Überleben Israels. Historisch ist auch der Tod des „Herrn“ – und sein Weiterleben in der Gemeinde. An Bilgan, den Baleks und den Brüchers ist nicht wichtig, dass sie oder ob sie historisch existiert haben, sondern dass die in der Geschichte von ihnen enthaltene Botschaft lebendig wird. Und so ist es ja auch bei den Geschichten von David und Jesus. Sie sind ungemein bekannt und längst unsterblich, weil sie immer und immer wieder erzählt und gehört (und gelesen, variiert, interpretiert, meditiert, vertont, gemalt, verfilmt) wurden. Die David-Goliat-Erzählung wird es relativ leicht gehabt haben, sich im religiösen und kulturellen Gedächtnis festzusetzen: Sie endet so glanzvoll. Sie endet aber auch blutig! In ganz anderer Weise blutig endete auch die Geschichte Jesu. Der sein Kreuz tragende und am Ende sein Haupt neigende Jesus ist ein starker Kontrapunkt zu dem die Schleuder tragenden und am Ende das Haupt des Gegners schwenkenden David. Doch die traurig endende JesusGeschichte erhielt mit Ostern einen neuen Erzählanfang. Fortan erscheint es möglich, zu siegen, ohne dem Gegner das Haupt abzuschlagen. Eben einen solchen Sieg erringt Franz Brücher: nicht martialisch und nicht triumphal, dafür gewinnend und ermutigend; nicht ohne List und Härte, jedoch ohne Gemeinheit und Gewalt. Erzählungen unterscheiden sich von Berichten dadurch, dass sie nicht nur etwas feststellen, sondern etwas bewegen wollen. Hörerinnen und Leser sollen in die Geschichte hineingezogen werden und verändert aus ihr hervorgehen. Der scheinbar resignative Schlusssatz der Balek-Geschichte, dass sie (damals) „fast
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niemand“ hören wollte, ist ein kaum überhörbarer Appell an die Lesenden, jetzt zuzuhören und sich zu einem Denken und Handeln bewegen zu lassen, das der Intention der Geschichte entspricht. Bedenken sollen wir, dass es Verhältnisse wie damals im Herrschaftsland der Baleks immer wieder gibt und dass sie nicht zu ertragen, sondern zu verändern sind. Handeln sollen wir so, wie Franz Brücher gehandelt hat – und nicht wie die Baleks (und der Pfarrer und der Bezirkshauptmann und die Gendarmen, auch nicht wie der Wilderer Vohla). Erzählungen laden zum Nacherleben und Nachleben ein. Dem Goliattöter David nachzueifern, wäre eine zweischneidige Sache; dem „getöteten Herrn“ nachzufolgen, ist klar gefordert, aber schwer getan; Franz Brücher nachzuahmen, das wäre jedenfalls gut und scheint immerhin möglich. Was, so mag zum Schluss gefragt sein, ist das Recht und der Ertrag solch intertextueller Lektüre? Die Gefahr liegt auf der Hand: Sie könnte zu rein assoziativen und willkürlichen Interpretationen führen. Die jüdische (und lange Zeit auch die christliche) Bibelauslegung hat die Kunst des Aufeinander-Hin-Lesens scheinbar oder tatsächlich voneinander unabhängiger Texte seit jeher geübt und dafür strenge Regelwerke entwickelt. Auf jeden Fall und zuerst war nach dem Literalsinn, also der mutmaßlichen Eigenaussage des Textes, zu fragen. Doch nicht nur mit einem einfachen, sondern mit einem mehrfachen Sinn der Schrift wurde gerechnet. Das Forschen danach eröffnete Ausblicke weit über das hinaus, was ein Text beim ersten Zuhören zu sagen schien. Der Auslegung konnten sich andere Gedanken, Ideen, Texte angliedern, wodurch dem untersuchten Text neue Dimensionen zuwuchsen. Diese Interpretationstechnik geriet im Gefolge von Aufklärung und historischer Bibelkritik in Misskredit. Die Frage nach der Intention des Autors und der Eigenaussage des Textes trat immer gebieterischer in den Vordergrund. Heute wächst die Einsicht, dass diese Frage zwar sinnvoll, aber nicht die einzig mögliche – und auch nicht immer eine sehr ertragreiche ist: lassen sich doch die Autoren biblischer Texte nicht immer leicht ermitteln und verweigern sich die Texte oft der Festlegung auf einen einzigen, ganz bestimmten Sinn. Es gibt Ambivalenzen, gewollte oder ungewollte Unklarheiten, Lücken, Missverständnisse usw. Es gibt schließlich und vor allem die Eigenbeteiligung der Rezipierenden an der Konstruktion des Textsinns. Je tiefer und hintergründiger ein Text, desto bedeutsamer wird der Eigenbeitrag der Lesenden zum Verstehen. So kommt es, dass die Goliat-Geschichte und erst recht die Passionsgeschichte eine äusserst facettenreiche Rezeptionsgeschichte ausgelöst haben. Die „Waage der Baleks“ ist eine dieser Facetten. Die Passionsgeschichte wird in der Balek-Geschichte nur ganz knapp und andeutend rezipiert: in Gestalt des Widerstandslieds der aufbegehrenden Landbevölkerung. Die Leserschaft wird dazu angeleitet, das geschilderte Geschehen mit dem Kreuzesgeschehen zu verbinden. Das Leiden Christi und das Leiden ausgebeuteter Menschen stehen in Beziehung zueinander. Daraus resultiert ein Deutungsgewinn: sowohl für die zeitgenössische als auch für die neutestamentliche Erzählung. Dass bei der Balek-Geschichte bewusst und ausdrücklich die Goliat-Geschichte evoziert wird, ist demgegenüber nicht so sicher. Die beiden Hauptberührungspunkte – die „Riesen“ Bilgan und Goliat sowie die fünf Kieselsteine für
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Facetten aus der Wirkungsgeschichte der Samuelbücher
die Schleuder – lassen dies zwar möglich erscheinen; denkbar wäre aber auch, dass diese Erzählzüge bei einem im christlichen Traditionsgut bewanderten Erzähler, wie Böll einer war, wie von selbst auftauchen und sich einer Erzählung gleichsam unbewusst ankristallisieren. Eben so dürfte es zu erklären sein, dass Franz Brücher zum Zeitpunkt des Geschehens gerade zwölf Jahre alt ist: Jeder halbwegs Bibelkundige assoziiert dabei die Erzählung vom zwölfjährigen Jesus im Tempel. Doch diese hat allem Anschein nach auf die Balek-Erzählung nicht weiter eingewirkt; vielmehr greift der Autor aus dem in ihm angelegten, u.a. biblisch gespeisten Reservoir von Erzählzügen und -motiven dieses eine unwillkürlich auf. Möglicherweise ist dies auch bei den Motiven von den fünf Kieselsteinen und vom gefährlichen Riesen der Fall (zumal es von den letzteren ausserhalb der Bibel viel mehr gibt als in ihr). Überhaupt sprechen die doch erheblichen und vielfältigen Diskrepanzen zwischen der Balek- und der Goliat-Geschichte nicht dafür, dass Böll hier bewusst und gezielt eine biblische Vorlage nachgestaltet hätte. Doch die Nachweisbarkeit eines genetischen Zusammenhangs zwischen verschiedenen Texten ist keineswegs die Voraussetzung für intertextuelle Lektüre. Eine solche Forderung bewegte sich vielmehr in den Bahnen historischkritischen Denkens (das sein Recht, aber keinen Alleinanspruch hat). Intertextuelles Lesen ist immer dann erlaubt und angebracht, wenn sich zwei – in unserem Fall gar drei – Texte zueinander so in Beziehung setzen lassen, dass sie sich gegenseitig erhellen. In der Balek-Geschichte wird die Passionsgeschichte gewollt, die Goliat-Geschichte möglicherweise ungewollt aufgerufen. Diese beiden biblischen Erzählungen miteinander zu verbinden, ist nicht eben naheliegend, doch lockt die moderne Geschichte dazu, es zu versuchen. So lenken Schnittmengen zwischen unterschiedlichen Texten das Augenmerk auf Deutungsmöglichkeiten, die ohne intertextuelle Lektüre kaum in den Blick kämen. Die sich im vorliegenden Fall ergebenden Einsichten sind vielfältig: Das Alte und das Neue Testament rücken an einem Punkt, an dem man es kaum erwartet hätte, eng zusammen – und heben sich zugleich markant voneinander ab. „Gerechtigkeit der Erden“, so lehren – jedenfalls aus der Perspektive der BalekGeschichte – beide, ist nicht von selbst da, sondern muss erkämpft werden. Diejenigen, die von der herrschenden Ungerechtigkeit profitieren, besitzen große Macht. Gegen sie lässt sich entweder gewaltsam vorgehen oder gewaltlos. Das Alte Testament plädiert (in diesem Fall!) für Gewalt, das Neue (und in seinem Gefolge der moderne Schriftsteller) für Gewaltlosigkeit. In jedem Fall ist zu gewärtigen, dass die Mächtigen ihre Privilegien notfalls mit Gewalt verteidigen werden. Gewaltfreier Widerstand gegen sie führt darum oft ins Leiden. Dennoch darf gehofft und geglaubt werden, dass die Gerechtigkeit sich endlich durchsetzt.
Bibelstellenregister Genesis 25,6
235
Deuteronomium 7,25 43 13,17f 37 20,10–14 36 20,15–17 37
Josua 6,17 37 6,18f 37 7 36–45
Richter 3,11–30
30
1Samuel 1 89, 115, 121 1,1 61, 72 1,3 68 1,5f 65 1,8 72 1,9 61, 72 1,11 61, 68 1,20 66 2,1–10 81f 2,8f 63, 69 2,10 69 2,12–17 89 2,14 66 2,16 67, 69 2,26 61 2,29 68 2,30 195 2,31 64 3 116, 122 3,3 71, 75 3,10 66 3,11 64 3,13 64 3,15 67 3,17 41 3,18 239 3,21 70f 4,1 75 4,2 62, 65 4,11 68
4,15 70 4,21 63 5,1 43 5,4 65 5,5 68 5,6 70, 76 5,8 63 5,11 64 6,1–12 198 6,1 71 6,3 76 6,4 70 6,19 77 7 122 7,1 197 8,11–17 86f 9,16 167 10,1 62 10,4 61 10,20–22 41 10,27 86 11,12 129 14 90 15 38 16,11 273 17 158, 276–286 18,8f 156 18,17 156 18,21.25 157 19,18–24 273 20,25–34 90 22,2 86 22,7 84 23 159 24 171–189 24,5–7 176 24,7 104 25 85, 186f 25,1 123 26 171–189 26,9 104 26,12 177 26,19f 155 27 159f 27,1 155 27,8f 166 29 155f 29,8 241 30,26–31 166
2Samuel 1,14 104 1,26 214 2,1–4 166 2,9 224f 3,3 224 4,11 104 5 160f 6 85, 191–206 7,1–10 45 8,1 167 10,12 239 11–12 209–211 11,27 239 12,1–6 242 12,11(f) 234–236 12,13 272 12,15–23 238 13,12f 30 13,21 212–216 13,37 216 13,39 217–219 14,1 217–219 14,5–7 242 15,14 235 15,16f 236 15,18–22 161, 169 15,25f 239 15,27f 240 16,16–18 243 16,18 241 16,20 243 16,21f 236 16,23 237 17,8–13 244 17,11 31 17,14 105, 232, 244 17,15–22 240 18,19–32 240 18,28f 242 20 226 20,3 237 21,8 196 21,15–21 162f 23,9–17 162f 23,13f 161 23,39 231 24,6 225
Bibelstellenregister
288 1Könige
Haggai
1Chronik
1,6 214 1,41–48 240 4,2–5 242 4,14–17 226 4,20 83 5,5 83 12,28 27 20,42 36
1
10
2Könige 9f 100–102 9,1–10 106 11 107f 11,10 109 25,27–30 22
Jeremia 9,22f 69 17,11 179 22,15f 83
Hosea 1,4
102
Amos 2,7
213
44
131
Psalmen
Matthäus
7,1 18 23 45 51 72 151
1,1
259 272 273 271 271f 83 149
Markus 12,35.37 par 15,34 283
242 242
Hoheslied 7,12f
274
Daniel 1,2
Apostelgeschichte 2,24–28.34f 259 5,1–11 44 13,35–37 259
1,3f
Esra 44
Nehemia 7,69–71
1,51–53 81 2,1–4 260
Römer
43
2,68f
262
Lukas
Sprüche 22,11 24,21
260
44
262
Schlagwortregister Abjatar 233, 238, 240 Abischai 177, 182, 188 Abner 182 Abschalom 207–252 passim Abschalom-Aufstand 105, 227–252 Achisch 165 Ätiologie 38, 42 Alleinverehrung Jhwhs 14 Ahitofel 229–232, 241f, 248 Amalek 20 Ambivalenz, ambivalent 101, 131–138, 218f Amnon 209–216 Aschkelon 71 Atalja 107–109 Autonomie, politische 134f Bann 20, 36–38 Batscheba 209–211, 230, 274 Benjamin 33 Blockmodell 22, 38 Böll, Heinrich 276–286 Buße 41 Chronologie 17 David 140–286 passim David-Psalter 144, 258, 270 Davidsohn 260–262 Diachronie 52f, 133, 149 Dienstehe 157 DtrH 99f, 108, 110 DtrN 110 DtrP 106f, 110 Edomiter 44 Efod 194 Ekron 71 Eli(den) 73–75, 207 Erwählung 19 Erzählkränze 182f Essen und Trinken 81–93 Flavius Josephus 131 Fortschreibung 16 Frau (Rolle der; s. auch „Nebenfrau[en]“) 79, 109, 195, 211 Gat 161, 169, 206, 247f Gebet 40 Gedenken 140f Gesalbter 142, 175f, 261 Geschur 220f, 225 Gewalt(verzicht) 105, 171, 174, 184, 188, 280, 282f, 286
Gott(esbild) 132, 136, 175, 194, 199, 202, 205, 232, 237 Gottesvolk 27 Hadar, Tel 223 Hanna 72f Hapiru 164 Hellenismus 79 Heym, Stefan 126f, 210 Höfischer Erzähler 93, 103, 105, 142, 154f, 162, 185–189, 195, 203f, 208, 239, 242f, 248 Honegger, Arthur 124f, 266, 271f Hunger 81f Huschai 229–232, 241–244 Ikabod 65 Intertextualität 285 Israel 25–34 Jehu 100–102, 106f Jericho 37 Jerusalem 19, 205 Jhwh, Gott Israels 26–29 Joab 217f Juda 39 Keruben 198, 203 Kinneret 221–224 Kleine Richter 31f Königskritik 32, 52, 117 Königsmord 96–110 Königtum 20, 82, 87, 195, 199 Kollektivhaft 40, 42 Kreti und Pleti 150 Kultzentralisation 20 Lade(geschichte) 43, 192, 196–206, 228, 248 Liebe 213f Losverfahren 40f Lüge 233 Menschenrechte 30 Meribaal 84 Mescha von Moab 36, 43 Messias, Messianische Weissagungen 34, 261f Michal 192–195, 203f Minimalismus 146, 148 Monotheismus 205 Nachbarn Israels 21 Nebenfrau(en) 227f, 234–238 Nordisrael 27, 30f, 32, 34, 155, 248 Omriden 97f Opfer 201f
290 Orchester 199 Partikularismus 44 Passionsgeschichte 283, 285f Philister 76f, 148–170, 182, 275, 282 Polytheismus 76 Prophet(ie) 21, 116, 117, 120 Prozession 200–202, 204 Psalmist David 55 Psychoanalyse (in der Exegese) 127f Qeiyafa, Chirbet 169f Menschenrechte 30 Rabbinische Exegese 131f Rahmenformeln 19 Redaktionsgeschichte 14, 52 Retterbuch 32 Reue (Gottes) 136 Samuel 115–125, 207 Saul 131–138, 163f, 171–189, 208, 268f Schekel 42f Schichtmodell 13, 29, 38 Suizid 232 Synchronie 53f, 133, 149, 227 Tagebücher der Könige 99, 108
Register Tamar 210f Tanz 193f, 204 Tel-Dan-Stele 102, 146 Redaktionsgeschichte 14, 52 Retterbuch 32 Textgeschichte der Samuelbücher 51, 60–79 Tiqqun-ha-soferim 75 Tod 197, 281 Totenbeschwörer(in) 21, 275 Traditionsliteratur 119, 153 Trunkenheit 91 Tun und Ergehen 17f Textgeschichte der Samuelbücher 51, 60–79 unheilsprophetisch 29 Ussa 196–200 Vergewaltigung 210–212, 215 Vierprophetenbuch 33f Wurzel Jesse 262f Zadok(iden) 74, 228, 233, 238–240 Ziklag 166 Zweiter Tempel 45, 71, 74, 79, 199
Nachweise Vielfalt und Einheit im deuteronomistischen Geschichtswerk: J. Pakkala / M. Nissinen (eds.), Houses Full of All Good Things. Essays in Memory of Timo Veijola, Helsinki/Göttingen 2008, 169–183. Israel in der Perspektive des deuteronomisch-deuteronomistischen Literaturkreises: H. Irsigler (Hg.), Die Identität Israels. Entwicklungen und Kontroversen in alttestamentlicher Zeit, Freiburg i.Br. 2009 (HBS 56), 87–99. Achans Diebstahl (Jos 7) – eine Kriminalgeschichte aus frühpersischer Zeit: F. Hartenstein / M. Pietsch (Hg.), „Sieben Augen auf einem Stein“ (Sach 3,9). Studien zur Literatur des Zweiten Tempels. FS Ina Willi-Plein, Neukirchen-Vluyn 2007, 57–67. Tendenzen neuester Forschung an den Samuelbüchern: C. Schäfer-Lichtenberger (Hgn.), Die Samuelbücher und die Deuteronomisten, Stuttgart 2010 (BWANT 188), 9–17. Doch ein Text hinter den Texten? Vorläufige textkritische Einsichten eines Samuelkommentators: P. Hugo / A. Schenker (eds.), Archaeology of the Books of Samuel. The Entangling of the Textual and Literary History, Leiden 2010 (VT.S 132), 133–159. Essen und Trinken – ein zentrales Nebenthema in den Samuelbüchern: M. Geiger / C. Maier / U. Schmidt (Hg.), Essen und Trinken in der Bibel. FS Rainer Kessler, Gütersloh 2009, 269–285. Der Königsmord als Motiv in den Samuel- und Königsbüchern: Sacra Scripta 9 (2011) 27–43. Samuel – ein Prophet?: Sacra Scripta 5 (2007) 11–26. König Saul – eine ambivalente Gestalt: Unveröffentlicht. An König David denken: ZPT 55 (2003) 311–317. David und die Philister: Unveröffentlicht. Kürzere englische Version in: G. Galil / A. Gilboa / A.M. Maeir / D. Kahn (eds.), The Ancient Near East in the 12th–10th Centuries BCE. Culture and History, Münster 2012 (AOAT 392), 79–98. Die zweifache Verschonung Sauls durch David (1Sam 24 und 1Sam 26). Zur „diachronen Synchronisierung“ zweier Erzählungen: W. Dietrich (Hg.), David und Saul im Widerstreit – Diachronie und Synchronie im Wettstreit. Beiträge zur Auslegung des ersten Samuelbuches, Fribourg/Göttingen 2004 (OBO 206), 232– 253.
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Nachweise
Die Überführung der Lade nach Jerusalem (2Sam 6) – Geschichten und Geschichte: G. Auld / E. Eynikel (eds.), For and Against David. Story and History in the Book of Samuel, Leuven 2010 (BETL 232), 235–253. David, Amnon und Abschalom (2Sam 13). Literarische, textliche und historische Erwägungen zu den ambivalenten Beziehungen eines Vaters zu seinen Söhnen: A. Rofé / M. Segal / S. Talmon / Z. Talshir (eds.), Text Criticism and Beyond. In Memoriam of Isac Leo Seeligmann, Jerusalem 2007 (Textus 23), 115–143. Davids Fünfte Kolonne beim Abschalom-Aufstand: W. Dietrich (Hg.), Seitenblicke. Exegetische Studien zu Nebenfiguren im zweiten Samuelbuch, Fribourg/Göttingen 2011 (OBO 249), 91–120. Prophet und Gesalbter. König David im Neuen Testament: BiKi 66 (2011) 25–29. „Le Roi David“. Ein modernes Oratorium und seine biblische Textvorlage: C. Karrer-Grube / J. Krispenz / T. Krüger / C. Rose / A. Schellenberg (Hg.), Sprachen – Bilder – Klänge. Dimensionen der Theologie im Alten Testament und in seinem Umfeld. FS Rüdiger Bartelmus, Münster 2009 (AOAT 359), 11–22. Goliat und die Baleks. Ein intertextueller Essay über Gerechtigkeit und Gewaltlosigkeit: C. Hardmeier / R. Kessler / A. Ruwe (Hg.), Freiheit und Recht. FS Frank Crüsemann, Gütersloh 2003, 141–152.