Abschaffung des Alten Testaments? 9783111411347, 9783111047645


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German Pages 39 [44] Year 1932

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Table of contents :
Inhalt
I. Einleitung
II. Die Begründung der Abschaffung des A. T.
III. Die Konsequenzen der Abschaffung des A. T.
IV. Die Fehler in der Argumentation
V. Was ist nach evangelischer Auffassung Offenbarung und was Heilige Schrift?
VI. Die nationale Kultreligion und die sittliche prophetische Religion im A. T
VII. Ist göttliche Offenbarung mit jüdischem Volkstum unvereinbar?
VIII. Ist eine klare Scheidung zwischen dem, was für die Kirche im A. T. vergänglich, und dem, was unvergänglich ist, möglich?
IX. Die beiden praktischen Wege einer Abschaffung des A. T. und ihre Unmöglichkeit
X. Der vermeintliche Ersatz für das A. T.
XI. Abschluß, das Ergebnis
Anhang. Luther und das Alte Testament
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Abschaffung des Alten Testaments?
 9783111411347, 9783111047645

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Der weg zur Kirche. Die vorliegende mit einer Abhandlung von £. Sellin be­ ginnende Schriftenreihe verdankt ihre Entstellung der Erkennt­ nis, daß heute weiteste fireife — und nicht nur solche, die innerhalb der evangelischen Kirche stehen — eine klare, ein­ deutige Antwort auf die Fragen, die die Gegenwart bewegen, ersehnen. In einer Seit, in der die Stützen unseres dusteren Daseins vielfach erschüttert oder doch wenigstens aufs schlimmste gefährdet sind, tut es mehr denn je not, daß berufene Kräfte Nichtlinien zur Führung eines von wahrhaft christlichem Geiste bestimmten Lebens geben. )n diesem Sinne wollen auch die folgenden Hefte, die in zwangloser Reibe erscheinen werden, wirken. )n ihnen werden hervorragende Vertreter der Kirche zu brennenden Problemen der Gegenwart Stellung nehmen.

Die nächsten Hefte werden sich voraussichtlich mit folgenden Themen besassen: Kirche Kirche Kirche Kirche Kirche

und und und und und

Jugend, Besitz, Schule, Ehe, bezw. Familie, Gemeinschaft.

Der weg der Kirche fKrausgegeben von

und

D. Georg Burgbart Geists. Vizepräsident des cd. Gberkirchenrats In Berlin, Gberdompredlger

D. Dr. Ernst Sellin ord. Professor an der Unloerptdt Berlin Geheimer RonPftorialrat

----------------------------- best 1-------------------------------

Rbfd)affung des Riten Testaments? von

Ernst Sellin in Berlin

Verlag Walter de Gruyter L Co. vormals G. J. Göschen'sche verlagshancllung - J. (ßuttentag, verlagsbuchhancllung ~ Georg Reimer - Karl J. Trübner - Veit L Comp.

Berlin

1932

Leipzig

Die hefte der Sammlung erscheinen in zwangloser Folge, verantwortlich für ihren Inhalt find allein ihre Verfasser.

Nrchlo-Nr. 32 01 32

Druck von Walter de Gruyter L Cov Berlin w 10

Inhalt. Seite

I. II. III. IV. V.

Einleitung ............................................................................................... Die Begründung der Abschaffung des A. T................................... 7 Die Konsequenzen der Abschaffung des A. T.................................. 8 Die Fehler in der Argumentation.................................................. 13 Was ist nach evangelischer Auffassung Offenbarung und was Heilige Schrift? ............................................................................................... VI. Die nationale Kultreligion und die sittliche prophetische Religion im A. T. VII. Ist göttliche Offenbarung mit jüdischem Volkstum unvereinbar? VIII. Ist eine klare Scheidung zwischen dem, was für die Kirche im A. T. vergänglich, und dem, was unvergänglich ist, möglich?.................. IX. Die beiden praktischen Wege einer Abschaffung des A. T. und ihre Unmöglichkeit....................................................................................... X. Der vermeintliche Ersatz für das A. T................................................... XL Abschluß; das Ergebnis..........................................................................

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I. Einleitung. Durch unser verarmtes uud geschändetes, aus ungezählten Wunden blutendes Vaterland geht ein Ahnen von Freiheit und Heilung. Unser Volk beginnt, sich auf sich selbst, auf deutsche Art und Sitte, auf seine unverlierbaren Kräfte zu besinnen. Falsche Propheten und Götzen verlieren ihre Zugkraft. Volksgemeinschaft, Helligkeit der Familie, Ehrgefühl, Opfersinn, Selbstlosigkeit, Reinheit, Treue und Wahrhaftig­ keit beginnen wieder in den breitesten deutschen Volksschichten Geltung zu gewinnen und uns wie unsern deutschen Vätern in einem neuen, hellen Glanze zu erstrahlen. Und wie stets das nationale Leben bei uns auf das engste mit dem religiösen verflochten war, eines Kraft aus dem andern saugend, wie seit über einem Jahrtausend es die christliche Religion gewesen ist, die das völkische Leben der Deutschen geweiht, verklärt und veredelt hat, um andrerseits auch von ihm ihre eigenartige Ausprägung, Kraft und Stärke zu gewinnen, so beginnt auch in unserer Zeit wieder zu gleicher Zeit mit der nationalen Wiedergeburt ein ernstes Sichbesinnen auf die Religion, ein neues Ringen um das echte Christentum, ein Fragen, Suchen und Verlangen nach der wahren evangelischen Kirche. Und je mehr dem deutschen Volke die religiöse Frage von jeher tiefste, ernsteste Gewissensfrage, ja geradezu Existenzfrage gewesen ist— anders als vielen andern, die es vermögen, die Religion als ein Extra­ gewand für besondere Anlässe und Feiertage zu betrachten —, um so ernster gestaltet sich naturgemäß auch in unser» Tagen wieder das religiöse Ringen. Man kann sich nicht darüber wundern, braucht es auch nicht tragisch zu nehmen, daß es wieder einmal nicht ohne kräftige Disharmonien und Meinungsverschiedenheiten abgeht. Nur möge man es nie bei allem Kampfe aus dem Auge verlieren, daß das Ziel der Ringenden das gleiche ist, daß es uns allen darum geht, unser Volk wieder stark zu machen zu dem Kampfe mit „der Welt voll Teufel", und daß schließlich in allem geistigen Kampfe das letzte Wort nicht unsere Wünsche und Gedanken behalten, sondern die eherne Wahrheit,

6 das heißt aber auf dem religiösen Gebiete: der lebendige Gott selbst, vor dem wir Menschen, auch wir Deutschen, uns in Ehrfurcht j« beugen haben, falls nicht die ganje Schlacht von vornherein verloren sein soll. In diesem Sinne, um der Versöhnung und Verständigung zu dienen, möchte ich in den nachfolgenden kurzen Zellen erneut Stellung nehmen zu einer Frage, die in dem ganzen gegenwärtigen Komplexe des Ringens um unsere evangelische Kirche zwar nicht die wichtigste, aber immerhin eine sehr bedeutungsvolle ist, einer Frage, die vielleicht doch noch viel schwerer wiegend ist, als die meisten ahnen, die hier schnell mit ihrem Urteil fertig sind. Und sicher gibt es kaum eine Frage, auf die auch in sonst durchaus ernsten Kreisen mehr mit ein paar kurzen, angelernten Schlagworten und oft mit einer geradezu beschämenden und erschreckenden Unkenntnis geantwortet wird. Es ist die Frage der sogenannten Abschaffung des Alten Testaments in der christliche» Kirche. Neu ist diese Frage nicht. Sie hat vielmehr wie ein Schatten die Geschichte der christlichen Kirche begleitet, und schon daraus sieht man, daß sie eine relative Berechtigung haben, daß sie von jedem Zeitalter neu beantwortet werden muß. Der Gnostiker Marcion im zweiten Jahrhundert, die Sekte der dualistischen Bogomilen im Mittelalter, Agricola im Zeitalter der Reformation, ganz vorübergehend auch Luther selbst im Kampfe mit den Bilderstürmern, Morgan im Beginne der Aufklärungszeit, Schleiermacher im Anfang des vorigen Jahr­ hunderts, Lagarde und Chamberlain am Ende desselben, Friedrich Delitzsch und Harnack im Beginn unseres Jahrhunderts, das sind die wichtigsten Namen, um die sich das Problem kristallisiert hat. So himmelweit verschieden sie auch im einzelnen ihre Ablehnung des A. T. begründet und Folgerungen daraus gezogen haben, in der Ablehnung des A. T. selbst als „Heiliger Schrift für die Kirche waren sie einig. Und wer wollte leugnen, daß schon diese Namen allein uns zwingen, die Frage ernst zu nehmen? Das Neue, was die letzten zehn Jahre für diese Frage gebracht haben, ist nicht viel. Es betrifft eigentlich nur einmal die Extensität der Bewegung: während früher jene Ablehnung einen lebhaften Wider­ hall fast nur in beschränkten, spezifisch antisemitisch orientierten Kreisen fand, handelt es sich heute um die breitesten deutschen Volksmassen, und sodann die Intensität: die Angriffe sind formal außerordentlich verschärft und haben zu Konsequenzen geführt, gegen die sich früher die Vertreter der Ablehnung selbst aufs ernsteste verwahrt hatten, sie haben

7 übergegriffen auf das Neue Testament und die Person Jesu und der Apostel.

II. Die Begründung der Abschaffung des JL TT. Wie begründet man nun die Abschaffung? Die Gründe sind so überraschend gleichförmig, daß dadurch die Auseinandersetzung in dankenswerter Weise erleichtert wird. Man hat es kaum nötig, diesen oder jenen Vertreter ausdrücklich zu zitieren und sich mit einzelnen auseinanderzusetzen. Die ganze Argumentation läuft immer in der­ selben Weise, man möchte sagen, nach dem Muster einer Grammophon­ platte, ab. In den vielerlei Auseinandersetzungen, die ich selbst über dies Problem in geschlossenen Vortragsabenden wie in öffentlichen Volksversammlungen, hier in Berlin wie in der Provinz, im Norden wie im Süden unseres Vaterlandes gehabt habe, war es stets so, daß man geradezu im voraus darauf wetten konnte, welche Argumente aufmarschieren würden, immer wieder dieselben Schlager, mit denen man glaubte, spielend die ernste Frage lösen zu können, immer auch dieselben Ersatzmittel, die man für das abzuschaffende A. T. empfahl. Fast ausschließlich Rosenberg hat in seinem „Mythus des 20. Jahr­ hunderts" 1930 die Frage tiefer angefaßt, damit zugleich aber auch mit aller nur wünschenswerten Deutlichkeit dargetan, wohin der Kurs geht, falls nicht noch rechtzeitig das Steuer herumgeworfen wird. Wie ist also die Argumentation? Man sagt so: Das A. T. muß aus der christlichen Kirche verschwinden, denn es ist ein jüdisches Buch, ausschließlich von Juden, im Interesse der Juden und zur Verherr­ lichung der Juden geschrieben. Es kann daher nur zur geistigen und materiellen Versklavung des deutschen Volkes unter das jüdische, dies Bastard- und Parasitenvolk, das sich frech als das „erwählte Volk" betrachtet, beitragen und hat es getan. Der alttesiamentliche Juden­ gott hat mit dem Christengott nichts zu tun, er ist nur ein jüdischer Volksgott, zudem ein Gott des Hasses, nicht der Liebe wie der des Evangeliums und ein starrer, materialistischer Gott. Ein Abgrund klafft geradezu zwischen allen religiösen Idealen der arischen und der jüdischen Seele. Den größten Unwillen aber erregen eine Reihe von biblischen Er­ zählungen, die in den christlichen Religionsunterricht ausgenommen sind: die Erzählung vom Brudermörder Kain, von dem lügnerischen Abraham und Isaaks Opferung, von dem betrügerischen Gauner Jakob, von dem Schieber Joseph. Mit diesen unsittlichen „Viehzüchter-

8 und Zuhältergeschichten" verdirbt man, so heißt es, die Seelen deutscher Kinder. Zu dem Katalog gehören dann noch besonders die Erzählung von der Entwendung der silberne» und goldenen Geräte der Ägypter beim Auszug, die blutgetränkten Geschichten von der Eroberung Palästinas und endlich die von den Verbrechen des brutalen Tyrannen David. Vereinzelt werden endlich noch einige Rachepsalmen und das Buch Esther namhaft gemacht. Was die Lehre des A. T. anbetrifft, so wird »eben der Gottesvorstelluvg mit besonderer Empörung die „Sündenbocktheorie", die Lehre von der göttlichen „Gnade" und der „Knechtssiellung" des Menschen Gott gegenüber, durch die die christliche Kirche auf dem Wege des Paulus vollständig „verjudet" sei, zurückgewiesen. Was etwa doch als gut in der alttestamentlichen Religion anerkannt werden muß, die tatsächlich nach geradezu einstimmigem Urtell aller objektiven ver­ gleichenden Religionswissenschaft über allen sonstigen altorientalischen Religionen steht, wird kurzerhand auf babylonischen, ägyptischen oder gar indischen, bisweilen auch auf einen geheimnisvolle» arischen Ein­ fluß innerhalb der Bevölkerung Syriens zurückgeführt. Also: das A. T. schadet nur, es ist seelen- und sittenverderbend, es hat keinen, rein gar keinen religiösen Wert. Daher hinweg damit!

III. Die Konsequenzen -er Abschaffung -es JL T. Ja, so geht es nun doch nicht, beim besten Willen nicht. Hier ist ein Weg betreten, über dessen Ende sich sicher die meisten gar nicht klar sind. Wenn man dies Sündenregister des A. T. liest, so greift man sich zunächst schon gerade als deutscher Christ an den Kopf und fragt sich, inwiefern denn in den letzten vier Jahrhunderten unsere deutschen evangelischen Väter und Mütter, die alle auch durch die Schule des A. T. hindurchgegangen sind, von dieser „Verjuduvg" durch dasselbe etwas an sich getragen haben, fragt sich vor allem, ob denn alle die Männer, von denen wir wissen, daß sie kerndeutsch waren und zugleich das A. T. ganz besonders hochgeschätzt haben —, um von allen Theo­ logen, auch von M. Lutherx) zu schweigen, erinnern wir hier erst einmal x) Die Darstellung über den Standpunkt Luthers j« dieser Frage in der polemische» Literatur bedarf sehr stark der Richtigstellung. Statt daß man den Tatsachen entsprechend zugibt, daß er im Anfang der 20er Jahre im Kampfe gegen die Schwärmer vorübergehend versucht hat, sich ausschließlich auf das Neue Testa­ ment jurückjujiehen und Mose den Jude» zu überlassen, dann aber mit jedem Jahre das A. T. wieder mehr schätzen und als Wort Gottes verehren gelernt hat, wofür

9 an E. M. Arndt, den Sänger unserer nationalen Erhebung, an unsere deutschen Klassiker, Klopstock, Herder, besonders auch Goethe — von einer solchen jüdischen Infektion durch das A. T. betroffen sind? Wir können es danach einfach nicht zugeben, daß die Reinheit der Ausbildung unseres deutschen Volkscharakters, daß die Erweckung alles dessen, was auf dem Grunde unserer deutschen Volksseele ruht, irgendwie durch die Berührung mit dem A. T. beeinträchtigt ist. Das, was in Wirklichkeit diese krank gemacht und vergiftet hat, sind voll­ ständig andere Faktoren gewesen, im 18. Jahrhundert der gallische Geist und im iy. und 20. der materialistische, dessen eine Wurzel zweifellos auch in dem modernen Judentum zu suchen ist, aber des­ wegen doch nicht in dem A. T. — denn wer hat stärker als die Pro­ pheten dieses gegen Mammonismus und Weltsinn gekämpft? —, und am allerwenigsten in dem A. T., wie es allein in der christlichen Kirche verstanden, gelehrt und gewertet werden kann. Doch hierüber soll nun gerade ein ganz offenes Wort geredet werden. Denn, wenn hier nicht bald mit dem im letzten Jahrzehnt aufgekommenen Phrasenschwall und einer furchtbaren Unkenntnis auf­ geräumt wird, geht unsere evangelische Kirche rettungslos einer neuen Spaltung entgegen. Ich muß, ganz scharf pointiert, den Satz an die Spitze stellen, man mag ihn hören wollen oder nicht: Die christliche Kirche, und daher auch die evangelische Kirche, kann einfach vom A. T. nicht gelöst werden, denn die Heilige Schrift, auf der sie seit ihrer Gründung als auf ihrem Fundamente ruht, begreift nun einmal, wir mögen es wollen oder nicht, auch das A. T. in sich. Oder gehen wir noch einen Schritt weiter zurück: der Gründer und Herr der Kirche, Jesus Christus, kann trotz seines schroffen Gegensatzes zu dem Juden­ tum seiner Zeit einfach nicht vom A. T. gelöst werden. Muß dies wirklich erst noch bewiesen werden? Ich habe es aus­ führlicher in meiner Schrift „Das A. T. und die evangelische Kirche der Gegenwart" 1921 (S. 63—72) getan. Hier erinnere ich nur an folgendes: Daß Jesus in dem A. T. die Stimme seines himmlischen Vaters vernommen, in ihm den Willen Gottes gefunden und seine ja sein Genesis-, sein Psalmenkommentar, seine Genesispredigten, die wuchtigsten Zeugnisse liefern, stellt man es so dar, als sei seine Übersetzung des A. L. eine Jugendtorheit gewesen, während der reife Luther sich der „Juden und ihrer Lügen" entledigt hätte, als es schon durch die Verbreitung der Bibel als Volksbuch zu spät gewesen wäre (Rosenberg a. a. O. S. 126). Wer das behauptet, kann die Schrift Luthers mit jenem Titel überhaupt nicht gelesen haben, denn gerade in ihr (1542) kämpft er leidenschaftlich für die Deutung des A. T. auf Christus.

10 eigene Lebensaufgabe vorgezeichnet gesehen hat, folgt zunächst aus einzelnen ausdrücklichen Zeugnissen seines Mundes, die man beim besten Willen nicht als spätere Zutaten der Evangelisten betrachten kann, Marc. 7 8,13,2V 26; 10 X9; 12 29-31 usw., auch Luc. 16 31; 24 2B; Zoh. 5 39; Matth. 517. Weit mehr noch ist aber, unbeschadet des Neuen, was er gebracht hat, seine ganze religiöse Vorstellungswelt, wie sie uns in den Seligpreisungen, in seiner Lehre von Gott und seinem Reiche, von seiner eigenen Sendung als „Messias", „des Menschen Sohn" und „Knecht Gottes", von der Endzeit und endlich in seinem Gebetsleben entgegentritt, im Vaterunser sowohl wie in zwei seiner Worte am Kreuz, im A. T. verankert. Von den Kapriolen, die man zeitweilig versucht hat, Jesus zu einem Arier zu machen, wollen wir hier lieber schweigen; auch wenn diese luftigste aller Hypothesen im Rechte wäre, so bliebe doch bestehen, daß das A. T. das Buch gewesen ist, aus dem er Religion gelernt und als dessen „Erfüllung" er sein eigenes Evan­ gelium betrachtet hat. Daß genau die gleiche Wertung jenes bei seinen Aposteln, bei einem Paulus, Petrus und Johannes vorliegt, braucht wohl überhaupt nicht erst berührt zu werden. Und das ist daher das Verhängnisvolle des eben skizzierten Kampfes gegen das A. T., was wir seit Jahrzehnten haben kommen sehen und früher bereits immer Chamberlain und Delitzsch, die es ab­ stritten, entgegengehalten haben: man kann einfach nicht bei der Ver­ werfung des A. T. stehen bleiben, es müssen weitere Etappen nach­ folgen. Zunächst müssen ohne weiteres Matthäus und Paulus ver­ schwinden, denn diese rekurrieren geradezu in jedem Kapitel auf das A. T., bauen ihre ganze Lehre von Jesus und vom Heil auf diesem auf. Aber auch die andern Evangelien und apostolischen Schriften müssen verworfen werden, denn für sie alle ist ja das A. T. Heilige Schrift, Wort Gottes, Urkunde seiner Offenbarung in der vorchrist­ lichen Zeit, an die sie immer wieder anknüpfen. Es muß also unfehlbar auch das ganze Neue Testament abgeschafft werden, sind doch die Verfasser der Schriften dieses auch sämtlich Juden gewesen. Ganz folgerichtig redet Rosenberg also von dem kommenden fünften Evan­ gelium, das an die Stelle treten soll und für das er uns auf die Zukunft vertröstet, ohne frellich zu sagen, woran wir uns nun inzwischen halten sollen. Aber auch hierbei kann man noch nicht stehen bleiben: mögen auch viele mit Rosenberg Jesus, dem Fleische nach nun doch einmal ein Jude, wir mögen es «ollen oder nicht, gerne noch ein Plätzchen in diesem fünften Evangelium vergönnen, es ist doch nicht mehr auch nur im

11 entferntesten der Jesus Christus der Überlieferung, auf dessen Leben, Leiden, Sterben und Auferstehen durch 19 Jahrhunderte die christliche Gemeinde gegründet war. Es ist ein nach germanischem Ideal zurechtgestutzter Jesus, etwa der Held, der mit der Geißel die Juden aus dem Tempelvorhof treibt, von dem noch einige Kernworte anerkannt werden, besonders seine Botschaft von der Gotteskindschaft, der aber nicht mehr „der Weg, die Wahrheit und das Leben" sein kann, sondern Ergänzungen über Ergänzungen, Ersatz über Ersatz erfahren muß. Und so steht abermals ganz folgerichtig hinter dieser Etappe die allerletzte; ja, sie ist schon da, repräsentiert durch Mathilde Luden­ dorff; es ist die, die das deutsche Volk von diesem Christus überhaupt erlösen will. Dieses Ziel ist bekanntlich in Rußland schon auf einem etwas kürzeren Wege erreicht. Sehen nun die Tausende und Abertausende deutscher evangelischer Christen, die sich heute willig zu der ersten Etappe dieses Auflösungs­ weges führen lassen, die — das weiß ich sehr gut — für ihre Person zu den nächstfolgenden Stationen sich vorläufig vollständig ablehnend verhalten, die vorläufig nur auf Abraham, Jakob, Joseph, Mose und David schelten und fich — damit auch der Humor nicht fehle — über jedes Hosianna, Hallelujah, Jehova Zebaoth, Zion in unseren Litur­ gien und schönen alten Chorälen aufregen, ich frage, sehen diese Tau­ sende nicht, wo der Weg, auf dem man sie führt, zwangsläufig enden muß? Merken sie nicht, daß dann doch wohl irgendwie ein Fehler in dem Ausgangspunkt des ganzen steckt? Doch ehe ich diesen darzulegev versuche, möchte ich noch an zwei Punkten besonders illustrieren, wohin eine solche Hineintragung blinder Antipathie gegen alles Jüdische gerade auch in bezug auf das Neue Testament führt. Bekanntlich wird die markanteste Gestalt unter allen Aposteln, Paulus, von Dinier, Rosenberg usw. mit einem geradezu persönlichen Hasse wegen seines Judentums verfolgt. Dafür, daß dieser Mann, der das Evangelium von dem Gekreuzigten von Jeru­ salem über Kleinasien nach Griechenland, Rom und Spanien gebracht, damit das ganze römische Reich religiös revolutioniert und mit dem Märtyrertod das besiegelt hat, was er gelehrt, rein objektiv betrachtet zu den größten Gestalten aller Geschichte gehört, fehlt ihnen das Verständnis. Und besonders sind es zwei Punkte in seiner Lehre, die sie auf sein Judentum zurückführen, ob deren sie ihn verklagen. Erstens, daß er zur Grundlage des Verhältnisses zwischen Gott und Mensch die göttliche Gnade gemacht hat. Dieser bedarf der Arier nicht, das ist Judentum. Din ter sucht hier sogar Jesus selbst gegen

12 Paulus auszuspielen, jener hätte das Wort „Gnade" nie gebraucht. Daß dies formal richtig ist, braucht nicht bestritten zu werden. Aber sachlich? Das Gebet des Zöllners: „Gott sei mir Sünder gnädig", die sämtlichen herrlichen Gleichnisse vom verlorenen Sohn usw. und die sämtlichen Heilungen lediglich auf den Glauben hin, ist da nicht alles auf Gnade gestellt? Vgl. Luc. 15 7. Und „jüdisch" soll der Begriff sein? Gewiß, Psalmen und Propheten haben von der göttlichen Gnade zu singen und zu rühmen gewußt, aber das offizielle Judentum der nachexilischen Zeit will gerade von Gnade nichts wissen, es pocht auf seinen Schein, auf die Gesetzeserfüllung. Gerade erst Paulus hat der christlichen Gemeinde die Befreiung von dieser und die Freiheit der Kinder Gottes gebracht. Und die Gnade soll sich mit der Stellung des Ariers zu seinem Gotte nicht vertragen? Ja, waren Meister Ecke­ hart (vgl. Predigten, Büttner S. 200s.), M. Luther, Joh. Seb. Bach, E. M. Arndt, Goethe, Wilhelm 1., Bismarck keine Deutschen, und haben diese nicht alle erkannt und bekannt, daß das Beste, ja letztlich alles, was der Mensch ist und leistet, im Natürlichen wie im Religiösen, auf göttlicher Gnade beruht?1). Und genau so steht es mit dem zweiten Punkte, wegen dessen die Invektiven gegen den Paulus ergehen, mit der „Sündenbocktheorie". Hier wird zunächst ganz vergessen, daß schon Jesus selbst in einem zweifellos echten Worte gesagt hat, daß des Menschen Sohn nicht gekommen ist, daß er sich dienen lasse, sondern daß er diene und gebe sein Leben als ein Lösegeld für viele Macc. 10 45. Aber vor allem wird auch hier ganz übersehen, daß gerade dem Judentum die Botschaft vom Kreuz ein „Ärgernis" war 1. Cor. 123, daß gerade Paulus das Ende der ganzen Opferthora herbeigeführt hat, indem er das Bild von dem einmaligen großen Opfer auf den Märtyrertod Jesu übertrug. Daß aber gerade Rosenberg so wenig Verständnis für die Tiefe dieser Lehre von dem Opfertode zeigt, ist eigentlich erstaunlich, da doch im letzten Grunde sein „Mythus des 20. Jahrhunderts" auch auf das Großartige, Gewaltige und Rettende der opfernden Hingabe mensch­ lichen Blutes für die Gesamtheit hinausläuft. Ich meine, gerade hier müßte sich bei gutem Willen ein Zusammenklingen von Neuem Testa­ ment und deutschem Geiste erzielen lassen, das nicht zu Auflösung, sondern zu engster Verbindung wie im Heliand führt. x) Von den andern braucht man es nicht erst zu beweisen, aber zwei Goethe­ worte seien doch zitiert: „Wir bedürfen der Gnade, ohne die es kein Gelingen gibt" und: „Ein holder Born, in dem ich bade, ist Überlieferung, ist Gnade".

13 Im übrige» ist hier natürlich nicht der Ort, die panlinische Verföhnungs- und Rechtfertignngslehre im einzelnen darzulegen und zu verteidigen. Gerne sei auch zugegeben, daß Paulus gerade im Kampfe mit seinen eigenen Volksgenossen sich mehrfach einer Argumentation bedient hat und bedienen mußte, die uns nichts mehr zu sagen hat, sondern rabbinisch ist. Aber die Lehre selbst hängt nicht davon ab, sie bleibt, recht verstanden, für alle Zeiten, wie gerade Luther erkannt hat, der Kernpunkt des Christentums, auf dessen Grunde dem Paulus und damit der Menschheit, auch unserem deutsche» Volke, das Hohelied auf die Liebe i. Cor. 13, das Triumphlied der Weltüberwindung Phil. 3 oder der Jubelhymnus über die Niederringung alles Leids Röm. 8 31_39 erwachsen sind, alles religiöse Kleinodien, ohne welche wir bitterarm würden. Man lese doch nur einmal diese drei Abschnitte und dann steinige man den „Juden" Paulus!

IV. Die Fehler in -er Argumentation. Kehren wir zurück zu unserer nächsten und eigentlichen Aufgabe, zum Problem der Abschaffung des A. T. Wir sagten, es muß irgendwie ein Fehler in dem Ausgangspunkt der ganzen Argumentation stecken. 1. Wenn man die immer wiederkehrenden Zornesausbrüche über einen ganz bestimmten Kanon alttesiamentlicher Geschichten liest, die unsere Altvordern in den damaligen Schulen doch gründlich gelernt haben, ohne irgendwie Schaden an ihrer Seele zu nehmen, so könnte man zunächst auf den Gedanken kommen, der Fehler sei einfach der, daß der moderne Mensch diese Geschichten wie manches andere über­ haupt nicht mehr gründlich bis zu Ende liest. Tatsächlich scheint das bei vielen jener Erzählungen der Fall zu sei». Die Aufregung über die Geschichte von der Opferung Isaaks würde sicher verschwinden, wenn man sie nachdenklich bis zu Ende läse. Denn ihre Pointe ist zweifellos eine doppelte, einmal die bis zu dem kriti­ schen Punkte geradezu heroisch durchgeführte, daß Gott schlechthin alles vom Menschen verlangen kann und wirklicher Glaube an ihn nur da vorhanden ist, wo der Mensch bereit ist, ihm auch das Liebste zu opfern — ich wüßte diesem Gedanken an Gewalt nur ein Wort Jesu an die Seite zu stellen: „Wer zu mir kommt und hasset nicht seinen Vater, Mutter, Bruder, Schwester, auch dazu sein eigen Leben, der ist meiner nicht wert". Und die zweite Pointe ist die, daß Gott — im Gegensatze zu den Göttern der umwohnenden Völker —das äußerliche Menschenopfer gerade nicht will. Und liest man die Geschichte im ganzen

14 Zyklus der Abrahamerzählungen, so merkt man, daß es die eigentliche Tendenz dieses ist, ihn überall als den Helden des Glaubens zu feiern. Ähnlich steht es mit den so viel berufenen Jakobsgeschichte». Wer sie wirklich ganz liest und nicht nur diese oder jene einzelne herausgreift, sieht sofort, daß sie hier unbeschadet ihrer volkstümlichen Herkunft nicht erzählt werden, um ihn wegen dieser oder jener seiner Gaunereien zu feiern, sondern gerade, um zu zeigen, daß er „zu gering war aller Barmherzigkeit und Treue, die Gott ihm erwiesen W 31 u, er wird auch weiter finden, daß ihm im Schoße seiner eigenen Familie viel Leid und Ungemach erwachsen ist, daß ein tragischer Schleier der Vergeltung über seinem ganzen Lebensabend ruht. Auch die Josephsgeschichten wollen, als Ganzes betrachtet, nicht die geschickten Schiebermanipulationen dieses Mannes in Ägypten verherrlichen, sondern die Pointe wird ihm selbst gegenüber seinen Brüder» bei der Zusammenfassung seiner Lebensführung in den Mund gelegt: „Ihr gedachtet es böse mit mir zu machen, Gott aber gedachte es gut zu machen" so20. Endlich die Davidsgeschichten schildern mit einer Offenheit, die in aller höfischen Geschichte einzigartig ist, den niederträchtigen Fall dieses Lieblingskönigs des Volkes, zugleich aber auch mit einer noch staunenswerteren Offenheit, die nun vollends einzigartig im alte» Orient ist, wie der Prophet Gottes ihm deswegen Strafe und Ge­ richt verkündet hat. Daß Gott sich nicht spotten läßt, kann kaum eindrucksvoller geschlldert werden als durch die Szene, wie nun der allmächtige König Buße tun muß für seinen schweren Fehltritt. Also das ist klar: es kommt nur darauf an, wie diese Geschichten gelesen bzw. erzählt werden. Und es ist offenkundig, daß sie heut­ zutage vielfach tendenziös verkürzt, isoliert und verwertet werden, nur, um aus ihnen Material gegen das A. T. zu gewinnen. Aber andrer­ seits kann nicht geleugnet werden, daß eine Zahl von alttestamentlichen Erzählungen übrigbleibt, an denen, auch wenn man sie rest­ los reproduziert, jeder christlich-deutsche Hörer sittlichen Anstoß nehmen muß, und daß doch in ihnen selbst kein Ton eines göttlichen Tadels über die Handlungsweise einzelner oder des ganzen Volkes erklingt (beispielsweise Abraham in Ägypten, Lots Verkehr mit seinen Töchtern, die Entwendung der ägyptischen Geräte usw.). Daß solche Geschichten für den christlichen Religionsunterricht nicht geeignet sind, bedarf keiner weiteren Erörterung. M. W. sind sie, soweit sie überhaupt je in ihm verwertet wurden, auch längst aus ihm verschwunden, sie werden nur immer wieder um des Zweckes willen ausgegraben.

15 Aber der eigentliche prinzipielle Fehler in der Stellungnahme zum A. T. kann in dem Schelte» über diese Erzählungen sicher nicht ge­ funden werde«. 2. Ernsier ist schon eine zweite Beobachtung, die man immer wieder machen muß. Alle jene Einzelangriffe reißen fast jedesmal mit Mose, spätestens mit König David ab. Das Wichtigste des A. T. kommt aber eigentlich erst nach diesem: die Propheten, die Schriften jener Männer von einer im ganzen vorchristlichen Altertum schlecht­ hin einzigartigen sittlichen Höhe und religiösen Weite und Energie, die Psalmen, die religiöse Liedersammlung, der nichts in der Antike zur Seite zu setzen ist, wie gerade die Auffindung babylonischer und ägyptischer Psalmen bewiesen hat, das Buch Hiob, eine der groß­ artigsten religiösen Dichtungen der Weltliteratur, dem allgemein menschlichen Problem des Leides gewidmet, die Sprüche Salomos, Worte von Sittenlehrern mit tiefster Lebenserfahrung. Von allem diesem hört man bei all den modernen Angreifern des A. T. meistens überhaupt nichts. Hier liegt tatsächlich eine erschreckende Unkenntnis vor, und es berührt eigenartig, wenn so Verdammungsurteile über eine Schriftensammlung von Leuten gefällt werden, die bestenfalls den zehnten Tell dieser kennen. Würde man diese Schriften wirk­ lich einmal lesen, dann würden beispielsweise alle die heutigen Vor­ würfe von mangelndem heldischen Sinne und mangelndem Ehr­ gefühl im A. T. verschwinden, ist doch kaum ein sonstiges antikes Volk empfindlicher gewesen in bezug auf den „Namen", den „guten Namen", Sprüche 221, und die Reihe der Helden, die m der alten Zeit aus diesem Volke hervorgegangen sind, kann sich wirklich sehn lassen, „Held" ist der größte Ehrentitel bis zum babylonischen Exil, von den heldenmütigen Propheten, die sich selbst als „eiserne Mauer und eherne Säule" bezeichnen, ganz zu schweigen. Und woher hat denn Luther sein heldenhaftes Trutzlied anders als angeregt durch Psalm 46? Aber man kennt nur die pazifistischen Vätersage». Deswegen reden wir in allen unsern Auseinandersetzungen meistens aneinander vorbei. Jene kommen immer wieder mit ihren Patriarchen­ geschichten angezogen, wir verweisen vor allem auf Propheten und Dichter. Aber allein in dieser beklagenswerten Unkenntnis des wich­ tigsten Teiles dessen, was man bekämpft, kann der eigentliche fehler­ hafte Ausgangspunkt der ganzen Polemik doch nicht beruhen. Denn mit etwas mehr Eifer würden ja schließlich die Gegner des A. T. auch in jenen eben genannten Schriften trotz ihrer Tiefe und Schönheit Unterchristliches, ethisch Anfechtbares, Jüdisches finden können. Wir

16 müssen also doch noch beträchtlich tiefer graben, wollen wir feststellen, wo der eigentliche Fehler steckt. Und da ist es mein heißer Wunsch, daß es mir gelingen möge, dies so klar und einfach wie nur irgend möglich herauszusiellen. z. Der tiefste und entscheidende Grund des ganzen gegenwärtigen folgenschweren Sturmes auf das A. T. liegt, wenn wir zunächst einmal die Rassezugehörigkeit dieses ganz beiseite lassen (darüber in VII), in einer vollständigen Unklarheit über das, was göttliche Offenbarung und was Heilige Schrift ist. So verblüffend es jenen Angreifern vielleicht zunächst sein wird, das zu hören, so muß es doch ganz offen gesagt werden: sie operieren hier stets mit Begriffen, die etwa der Orthodoxie des 17. und 18. Jahrhunderts angehören, die aber von der evangelischen Kirche selbst längst überwunden sind.

V. Was ist nach evangelischer Auffassung Offenbarung und was heilige Schrift? 1. Zunächst die Offenbarung. Gott kann sich dem Menschen nur so weit offenbaren, wie dieser ihn verstehen und in sich aufnehmen kann. Die menschlichen Vorstellungen müssen erst reifen für diese Aufnahme, sie müssen sich geschichtlich entwickeln. „Ich habe euch noch viel zu sagen, aber ihr könnt es jetzt noch nicht tragen", spricht Jesus. Alle göttliche Offenbarung muß also eine geschichtlich ver­ mittelte, eine mit der menschlichen Entwicklung stufenweis fort­ schreitende, sie muß bei ihrem Jn-die-Erscheinung-Treten überall zugleich göttlich und menschlich sein, ist sie doch überall an mensch­ liche Voraussetzungen, menschliche Sprache und Begriffe, menschliches Empfinden und Wollen gebunden. „Da die Zeit erfüllet war, sandte Gott seinen Sohn", sagt der Apostel Paulus. Wer diesem Worte ernst nachdenkt, wird sofort einsehn, daß es Stufen und Fortschritte in der göttlichen Offenbarung geben muß, möglicherweise durch Jahrhunderte und Jahrtausende getrennt, daß hier nie und nimmer alles auf einer Ebene liegt. Es ist aber zuzugeben, daß die alte pro­ testantische Dogmatik dies nicht klar gesehn, sondern vielfach wirklich die einzelnen weit voneinander liegenden Offenbarungsstadien gleich gewertet hat. Und das rächt sich jetzt. Wenn wir heutzutage aber sagen: Die alttestamentliche Religion beruht wie die christliche auf göttlicher Offenbarung, so soll damit alles andere eher gesagt werden, als daß beide gleichwertig wären,

17 daß das Evangelium nicht auch über das A. T. hinaus etwas voll­ ständig Neues gebracht hätte. Ebensowenig soll beim A. T. selbst behauptet werden, daß hier alles auf einer Ebene liege, ist doch ganz offenkundig ein geradezu ungeheurer Fortschritt der prophetischen Religion über die altisraelitische hinaus zu konstatieren. Wohl aber wird behauptet, daß hier von Beginn an ein Hinfireben auf das religiöse Endziel vorliegt, das im Christentum erreicht ist, daß wir hier von Beginn an neben aller natürlich-menschlichen religiösen Entwicklung und aus ihr heraus die Stimme, das Wort desselben Einen helligen Gottes vernehmen, der sich in Jesus Christus als der Vater aller Menschen kundgetav hat, und daß wir dieses Wort so unmißverständlich in keiner der andern antiken Religionen vernehmen können. Das also ist das erste, was von den Angreifern auf das A. T. immer wieder übersehn wird. Mit Bienenemsigkeit werden alle die Fälle zusammengetragen, die beweisen, daß die Sittlichkeit in den Patriarchen-, den Mose-, den Richter- und Königsgeschichten noch auf einem tief unterchristlichen Niveau liegt, und triumphierend meint man damit dartun zu können, daß hier noch nicht von gött­ licher Offenbarung die Rede sein könne. Aber diese Mühe könnte man sich sparen. Denn das hat schon Jesus genügend in der Berg­ predigt gelehrt, daß ein himmelweiter Unterschied zwischen dem aütesiamentlichen und seinem eigenen Ethos vorliegt, und trotzdem nie daran gezweifelt, daß der im A. T. redende Gott sein Vater sei. Religion ist ja etwas ganz anderes als Sittlichkeit, so gewiß auch Beziehung zwischen beiden immer besteht, die Verbindung zwischen ihnen gerade bei den Israeliten schon seit Mose eine ganz besonders enge war (vgl. die io Gebote) und die Religion die höchste ist, die auch die stärksten und reinsten sittlichen Impulse gibt. Aber diese Einwirkungen des einen Gebietes auf das andere entwickeln sich in einem langsamen geschichtlichen Prozesse. Zunächst ist Religion Erschauern vor dem Heiligen, und das ist und bleibt das Einzig­ artige der alttestamentlichen Religion, daß hier vom Beginn der Gründung an der Eine, Heilige, Lebendige, schlechthin Überragende, der absolute Herr, der ganz Andere, der den Menschen zu Ehrfurcht und in den Staub zwingt, um ihn dann durch seine Gnade und Er­ barmen wieder aufzurichten, vorhanden ist und sich dem Menschen kundtu?). Daß dann auch dieser Glaube an ihn seine Entwicklung i) Wem diese Gedankengänge »och nicht vertrant sind, dem empfehle ich zur Lektüre besonders das Buch von R. Otto „Das Heilige" 1923, danach auch das von I. Hänel „Die Religion der Heiligkeit" 1931.

18 und Geschichte gehabt, daß er nicht die vielen Reste primitiver, poly­ theistischer, völkischer Religion mit einem Schlage beseitigt hat, viel­ mehr auch oft von ihnen überwuchert ist, daß er auch noch durch die Propheten geweitet ist, Schranken zerbrochen, das Ethos immer stärker unter sich gezwungen hat, bis er in Jesus Christus zum Glauben an den Vater aller Menschen voll heiliger Liebe wurde, das alles werden wir in VI noch etwas näher hören. Aber vorhanden ist hier göttliche Offenbarung vom Beginn. 2. Die zweite ähnliche Unklarheit liegt vor in bezug auf den Be­ griff „Heilige Schrift". Hier kann man leider wirklich nicht anders, als die letzte Schuld bei unserer eigenen einstmaligen Theologie suchen, die in dem Zeitalter der Orthodoxie, d. i. im 16.—18. Jahrhundert eine Jnspirationslehre ausgearbeitet hatte, nach der die ganze Bibel als ein vom Heiligen Geist eingegebenes, irrtumsloses, geradezu vom Himmel gefallenes Buch betrachtet wurde. Die furchtbaren Folgen dieser wohlgemeinten, in Wirklichkeit aber allen Tatsachen ins Angesicht schlagende», seelengefährdenden, im Grunde ganz und gar unchristlichen Lehre wirken nach bis auf den heutigen Tag. Die Theologie hat sie restlos aufgegeben, die Kirche hat sich in ihren Be­ kenntnisschriften nie zu ihr bekannt. In Wirklichkeit ist das A. T. ebensowenig wie das N. T. als göttliche Offenbarung, wohl aber als eine menschlich-geschichtliche Urkunde der göttlichen Offenbarung auf­ zufassen. Es ist daher nicht frei von Irrtümern, Fehlern und historischen Unrichtigkeiten, nicht frei von Mythen und Sagen, aber auch in keiner Weise frei von sittlich und religiös Minderwertigem nach christlichem Maßstab. Aber das ist nun das Tragische und Verhängnisvolle: so klar die Theologie alles dieses längst eingesehn und, man möchte fast sagen, sich an den Schuhsohlen abgelaufen hat, gewisse Nachwirkungen der alten Jnspirationslehre bleiben und sind nicht auszurottev. Und in unserm Falle ist es das beinahe Kuriose, daß gerade die Bekämpfer des A. T., die doch für ihre Person gewiß ganz und gar mit jener gebrochen zu haben glauben, sich im Grunde nicht zu einer neuen, richtigen, gesunden Wertung der Bibel aufraffen können, sondern weiter polemisieren, als sei nach der Auffassung der Kirche sogar auch das A. T. eine untrügliche, das Christenleben und den Christen­ glauben normierende Schrift, seine Helden sittliche Vorbilder für den Christen usw. So kämpfen sie im Grunde gegen ein Gespenst. Natürlich aber haben sie es dann mit ihrer Polemik spielend leicht und können mit tiefster Überzeugung ausrufen: Hinweg mit diesem A. T.

19

VI. Die nationale Kultreligion UN- -ie sittliche prophetische Religion im K. TT. Die Frage ist von einer so ungeheuren Wichtigkeit, daß ich ver­ suche» muß, hier ganz kurz positiv darzulegen, wie wir uns das Walten der Offenbarung auf dem Boden der alttestamentlichen Religion und ihren Niederschlag in der Heiligen Schrift nach der Bibel selbst und ganz gewiß im Grunde auch im Sinne M. Luthers vorzustellen haben. Im Anschluß an die Rettung in Ägypten gefangener Hebräer fand die geheimnisvolle Begegnung des Mose mit dem heiligen Gott am Sinai, in der Stille der endlosen Wüste statt, aus der er die Gewißheit hinwegnahm, daß neben diesem Einen Gotte alles versänke, was sonst Gott genannt würde, und nur dieser Eine zu verehre» sei, daß er unerbittlich auf der Befolgung seines in erster Linie auf das Sittliche gerichteten Willens bestehe, und daß er eine Gemeinde auf Erden haben wolle, mit der er in den Bund eintreten und durch die er sein Hell verwirklichen könne. Auf Grund dieses Erlebnisses fand, nachdem diese Mosegemeinde in kühnem, sieg­ reichen Angriff in Palästina festen Fuß gefaßt hatte, in Sichem die Begründung einer großen Amphiktyonie statt, in der jene sich zu einer engen Bundes- und Eidgenossenschaft mit den israelitischen Stämmen, die man im Lande antraf, zusammenschloß, der Gott vom Sinai zum Bundesgotte erkoren und die Bundesparole aus­ gegeben wurde: Jahwe der Gott Israels, Israel das Volk Jahwes, das von ihm erwählte Volk (Josua 24). Von Stund an erhielt die israelitische Religion ein Doppelangesicht. Neben allen Resten altsemitischen Heidentums und neben allen möglichen kanaanäischen Anschauungen, die man von der altein­ gesessenen Landesbevölkerung übernommen hatte, d. i. neben der sog. Volksreligion, die die Masse durch die Jahrhunderte weiter mit sich führte, gabelte sich die offizielle neue Religion in zwei Strömungen, beide sich auf den Religionsstifter berufend und doch sich gegenseitig aufs schärfste bekämpfend, bald auch wieder sich gegenseitig beein­ flussend und zu Kompromissen bereit. 1. Die erste ist die nationale Kultreligion, völkisch beschränkt, Israel als das erwählte Volk und zu einer ganz besonderen leitenden Stellung im Kreise der Völker bestimmt betrachtend, von der Zu­ kunft immer großes materielles Heil erwartend. Als Gottes Wille 9*

20 betrachtet sie in erster Linie einen bestimmten Kult, ruht auf dem Glauben, daß er in mehreren Heiligtümern oder in einem besonders von ihm erwählten, trotz seines himmlischen Ursitzes, inmitten seines Volkes wohne, daß man ihm deshalb in erster Linie mit den Er­ trägnissen seines Landes und mit tierischen Opfern dienen müsse. Daneben wird auch das Recht von jeher stark als göttlicher Wille betont. Der eigentliche Träger dieser Religion ist der Priester. In immer neuen Gesetzen fand diese Kultreligion ihren Niederschlag; spätere Auflagen wurden stark von der andern Religionsströmung beeinflußt, aber das Charakteristische blieb, daß man als die eigentliche und höchste göttliche Offenbarungsform das geschriebene göttliche Gesetz betrachtete, welches buchstäblich j« befolgen sei. 2. In schroWem Gegensatz hierzu die andere Strömung, die sitt­ liche prophetische Religion. Auch sie beruft sich wie die Kultreligion auf Mose als ihren Schöpfer (Amos s25; Jer. 722). Die Propheten wollen aber vom Kulte, mindestens vom tierischen Opferkulte über­ haupt nichts wissen. Schon ein Samuel, vor allem aber die ganze Kette seit Amos vom 8. bis 6. Jahrhundert verwerfen ihn aus­ drücklich. Ebensowenig wollen sie wissen von Festen und Festver­ sammlungen, von Heiligtümern und Tempeln. Statt dessen ver­ langen sie als wahren Gottesdienst Recht und Sittlichkeit, Liebe und Barmherzigkeit, Glaube, Demut, Gebet ( i. Sam. i;22; Am. s23ff.; Hos. 6«; Jes. in; Micha 68; Jer. y22ff. usw.). Es ist eine im orien­ talischen Altertum schlechthin einzig dastehende Religion. Auch die Propheten stehen auf dem Boden, daß Gott einst ihr Volk zu etwas Besonderem erwählt hat, aber sie ziehen, weil sie Gott in erster Linie als den sittlich Helligen erlebt haben, eine gerade gegen­ teilige Konsequenz als die nationale Kultreligion daraus. Sie sagen: „Nur euch habe ich erwählt von allen Völkern der Erde, gerade darum suche ich an euch heim alle eure Sünden." Am. z2. Hosea schlägt auf den Stammvater Jakob los, wie es seine heutigen Feinde kaum besser könnten, und bezeichnet ihn als einen Betrüger von Mutter­ leibe an i24; keiner der vorexilischen Propheten nimmt sonst je auf die Erzväter Bezug; Ezechiel bezeichnet Jerusalem als hervorgegangen aus der Ehe zwischen einem Kanaaväer und einer Hethiterin, also als ganz heidnischen Geblütes i63. Weil Israel seiner hohen gött­ lichen Bestimmung nicht gerecht geworden ist, ist es jetzt nicht mehr das erwählte, sondern das verworfene Volk, das gerade am aller­ ersten vom göttlichen Gericht betroffen wird, es ist nicht mehr Gottes

21 Volk, er haßt es vielmehr Hos. i9; 915. Es sieht für ihn auf derselben Stufe wie die verachteten Neger Am. 9,, ist ein Sodom-- und GomorrhaVolk Jes. i10, daher erbarmungslosem Untergange geweiht 610, es gibt in ihm keinen, der Recht tut und nach Treue strebt Jer. 51; Mich. 7 Die Juden können so wenig gut werden, wie der Mohr seine Haut wandeln kann Jer. iz9z. So sind diese Propheten geradezu „anti­ semitisch" eingestellt, erst nach der Vernichtung des alten Volkstums im babylonischen Exil beginnt ihr Umschwung. Daher zerbrechen sie die völkische Schranke, sie wissen nichts von einem Volksgott der Juden, sondern kennen — Jahrhunderte, ehe sie mit der persischen Religion in Berührung kamen — nur den einen heiligen Gott, dessen Herrlichkeit die ganze Welt erfüllt und dessen Königtum auf der ganzen Erde aufgerichtet werden soll Jes. 63ff; Am. 97, sie kennen nicht den Gott, der kultische Gaben, sondern den, der das Herz des Menschen haben will 291z. Hosea und Jeremia verkündigen ihn in erster Linie als den Gott der Liebe, der sog. Deuterojesaja als den Gott unergründlichen Erbarmens. Sie sehen einem Gottesreiche entgegen, in dem alle Völker unter dem einen Gott geeint sein und an seivemHeile Teil haben werden Jes. 21 ff.; 421 ff. 497ff. usw., in dem er zu Ägypten sagen wird „mein Volk" und zu Assur „Werk meiner Hände" i925. Gott ist für sie der Erbarmer aller Menschen und Tiere Jona 4U. Recht und Gerechtigkeit, Sündenvergebung und Gotteserkenntnis sind die einzigen Fundamente seines künftigen Reiches sowie dessen, den er als seinen Stellvertreter auf Erden er­ stehen läßt, des Messias Jes. 9«; ii«f; ii9; Jer. 235; 3i34; Hab. 214 usw. Ein Gesetz erkennen die Propheten nur an, soweit es ins Herz ge­ schrieben ist, und das erwarten sie von einem neuen Bunde Jer. 8«; Zlblff. Ich muß es mir leider des Raumes wegen versagen, hier diese sittliche prophetische Religion eingehender zu schildern. Aber so viel wird klar sein: nicht nur von einem Ringen der mosaischen Religion mit der kanaanäisch infizierten Volksreligion, mit Polytheismus usw. auf dem Boden Israels müssen wir reden, sondern genau so von einem Ringen der beiden Religionen, die sich zu Jahwe und Mose bekennen und doch himmelweit voneinander verschieden sind. Es ist deswegen ja auch zu bitterm Kampf und Verfolgung gekommen, die meisten Propheten, wahrhaftig heldische Gestalten, sind Opfer ihres Berufes geworden, am meisten Jeremia und der geheimnisvolle Deuterojesaja, der wie Uria mit seinem Leben hat büßen müssen. Aber wir deuteten schon an: eine reinliche Scheidung läßt sich

22 nicht immer vollziehen, es haben auch gegenseitige Beeinflussnngen und Kompromisse stattgefunden. Unter den Gesetzen ist besonders das Deuteronomium, aber auch der sog. Priesterkodex in mancher Beziehung von prophetischen Ideen beeinflußt, und umgekehrt gibt es Propheten wie Ezechiel, Sacharja, Haggai, auf die die Kultreligion stark eingewirkt hat, ja, es gibt auch Propheten, die trotz aller sonstigen Freiheit dieser gegenüber plötzlich in einem bestimmten Punkte mit der Kultreligion sympathisieren, wie beispielsweise Jesaja mit seiner Annahme der Uneinnehmbarkeit Jerusalems im Jahre 701. Und auch auf das Volk haben die beiden Religionen je nach den verschiedenen Zeiten in verschiedenem Grade eingewirkt. Das zeigen besonders die Psalmen, in denen wir tellweise einen reinen Wider­ hall der Propheten finden, so in denen, die wie diese das tierische Opfer verwerfen und Gehorsam, ein zerbrochenes Herz, einen zer­ schlagenen Geist oder Lob- und Danklieder als das einzige, wahre Opfer feiern 40; 50; 51, oder die sich zu einer Loslösung von alle» natürlichen Gütern des Lebens emporringen, zu dem: „Wenn ich nur dich habe, so frage ich nichts nach Himmel und Erde", die bei­ nahe mystisch das Schauen von Gottes Angesicht als das unverlierbare Gut des Frommen betrachten 16; 17; 73. Aber daneben gibt es auch wieder vereinzelte Lieder, die das geschriebene Gesetz verherrlichen 1; 19« ff; 119, in denen der Haß- und Rachegeist gegen die Feinde zum Durchbruch kommt 109; 137. Wir betonen das gleich hier, damit man sofort sieht, daß eine reinliche Scheidung nach einzelnen Schriften nicht möglich ist. Offiziell gesiegt hat in der jüdischen Gemeinde die erste, die nationale Kultreligion. Mit ihrer eidlichen Verpflichtung durch Esra und Nehemia auf das geschriebene Gesetz, das nun zu einem großen Mosekodex zusammengearbeitet war um die Mitte des 5. Jahrhunderts, mit der Hinaustreibung aller Männer und Weiber, die kein reines jüdisches Blut besaßen, mit der Beschränkung der Gemeinde auf den „heiligen Samen" war das Judentum fertig. Daß trotzdem als eine starke Unterströmung auch noch in den folgenden Jahrhunderten die Prophetenreligion sich wirkungskräftig gezeigt hat, haben wir hier nicht zu verfolgen. Neben den Priestern, die in dem Kampfe ge­ siegt hatten, traten nun die Schriftgelehrten in die leitende Stellung ein, die einst die Propheten innegehabt hatten, der Mund dieser ver­ stummte. Aber siehe, da tritt ein neuer Prophet auf, Jesus von Nazareth. Er knüpft überall wieder an die Prophetenreligion an. Er vertieft,

23 verinnerlicht, erweitert sie, aber, wie wir schon in III sahen, immer wieder greift er auf sie zurück, vgl. noch Matth. 913; i27, ihr Gott ist sein Gott, sich selbst reiht er in seiner Gerichtsrede über Jerusalem in ihre Schar ein und weiß deswegen, daß das Schicksal der Propheten auch das seine ist: „Jerusalem, die du tötest die Propheten und steinigst, die zu dir gesandt werden" Luk. i334; 24^. Doch unbekümmert darum geht er daran, das Gottesreich auf Erden, welches alle diese voraus­ gesehn und auf das sie hingearbeitet hatten, aufzurichten, den neuen Bund, den Jeremia hatte kommen sehn, zu begründe» Matth. 2628. In ihm erreicht die Prophetevreligion ihre Krönung und ihren Ab­ schluß und durch seine Apostel ihre definitive Scheidung von Tempel und Gesetz, von der nationalen Kultreligion. Versteht man nun, was wir meinen, wenn wir sagen: die altund die neutestamentliche Religion sind unauflöslich miteinander verbunden? Ist es nicht geradezu erschütternd, daß fast alle, die heutzutage führend über Wert und Unwert des A. T. mitreden wollen, achtlos an dieser dem Evangelium den Weg bereitenden prophetischen Religion vorübergehn? Ist es nicht ein beinahe grauen­ haftes Mißverständnis, wenn man meint, jene unsere Behauptung beziehe sich auf alles das, was das A. T. mit sich führt an Nieder­ schlägen der jüdischen Volksreligion wie der nationalen Kultreligion? Es handelt sich uns ausschließlich um den reinen, klaren Quell, der seit den Tagen vom Sinai hindurchrinnt durch all das Geröll, den Sand und Schlamm natürlich gewachsener oder auch kultisch-national geformter Religion. Nie hat es einer schöner und klarer ausgedrückt, was für uns Gottes Offenbarung, Gottes Wort im A. T. ist, als M. Luther, indem er sagt: „Alles, was Christum treibt." Ja alles, was auf ihn hinzielt, ihn vorbereitet hat und von ihm als Wort seines himmlischen Vaters anerkannt ist, das bedeutet dies auch für uns, das stammt wirklich aus Gott und kann und darf auch in der christlichen Kirche nicht vergehn, nur dies. Die neuen Bekämpfte des A. T. aber, die diese prophetische Religion so gut wie ganz igno­ rieren, sie gar nicht zu kennen scheinen, entnehmen ihre Waffen fast ausschließlich der nationalen Kultreligion. Das ist der tiefste Fehler ihrer ganzen Argumentation*). Eine sehr erfreuliche Ausnahme in dieser Beziehung macht unter den neuesten Schriften die von Guida Diehl „Erlösung vom Wtrrwahn. Wider Dr. Mathilde Ludendorff und ihr Buch „Erlösung von Jesu Christo". Eisenach 1931". Diese rückt m. E. die Möglichkeit einer Verständigung in eine greifbare Nähe.

24 VII. Ist göttliche Offenbarung mit jüdischem Volkstum

unvereinbar? Doch halt! mag das Prophetenwort und mancher Widerhall in den Psalmen, Sprüchen usw. tatsächlich tief und schön sein, stammt es nicht doch auch von Juden, ist daher immer wieder plötzlich jüdisch beschränkt und für unser arisches Empfinden, für unsern arischen Gottesglauben untragbar? Ja, hier müssen wir nun noch einmal ganz ernst dem Problem ins Angesicht sehn, das schon in III berührt wurde. Wollen und müssen wir mit jenem Gedanken wirklich ernst machen, dann bleibt uns nichts anderes übrig, als dem Christentum Valet zu sagen. Denn Jesus war Jude, da hilft nichts. Aber ist es denn nicht wirklich eine ganz verheerende Überspannung des Rassegedankens, so gewiß er auch bis zu einem bestimmten Grade seine volle Berechtigung hat, alles und alles aus der Rasse abzuleiten? Steht denn der Gott Himmels und der Erde nicht auch über der Rasse? Was die Person Jesu anbetrifft, so hat ja schon das urchristliche Evan­ gelium und Dogma von seiner Geburt, ohne irgendwie von rassischen Reflexionen bestimmt zu sein, die Lösung gewiesen: dem Fleische nach von der Jungfrau Maria ein Jude, dem Geiste nach Gottes Sohn. Und gilt nicht ein Ähnliches überall da, wo der überweltliche Gott sich einem Menschen offenbart? Bringt das nicht das A. T. selbst schon so klar zum Ausdruck in dem überaus tiefen Gotteswort an Jeremia: Ehe ich dich schuf im Mutterleibe, ersah ich dich mir, ehe du aus dem Mutterschoß hervorgingst, weihte ich dich, zum Propheten an die Völker bestellte ich dich"? Wir unterschätzen wahrhaftig die Bedeutung des Bluts auch für das ganze geistige und religiöse Leben nicht, aber ist es nicht doch auch schon auf profanem Gebiete so, daß, wo nur immer ein Genie ersieht, es nicht restlos aus seinem Volkstum abzu­ leiten, sondern zugleich aus dem Mutterschoß des Menschentums hervorgegangen ist? Keyserlingk sagt richtig einmal: „Wäre Homer nichts als ein Grieche gewesen, wir verehrten in ihm nicht den größten Dichter aller Zeiten" („Philosophie als Kunst" S. 36). Dasselbe gilt natürlich von einem Shakespeare, von einem Goethe, von allen ganz Großen im Reiche des Geistes. Gewiß, alles Große auf Erden erwächst auf dem Boden eines echten Volkstums, nicht eines verwaschenen Internationalismus. Aber jedes Volkstum ruht doch wieder auf einem noch tieferen Boden, dem des Menschentums. Und das Aller­ größte in jenem ist doch schließlich das, was seine Wurzeln bis in diesen

25 hinuntersenkt, und daher auch den Völkern außerhalb der eigenen Volksgrenzen gleichzeitig etwas zu sagen hat. Und sollte das nicht noch viel mehr gelten von dem Gebiete des Suchens und Findens des Emen lebendigen Gottes und vollends von dem Sichherablassen, Sichfindenlassen dieses? Kann das scheitern an den Schranken dieses oder jenes Volkstums?J) Mir scheint, wer das annimmt, wer auf die Lehre vom „deutschen Gott" zurücksinkt, der ist — eine merkwürdige Ironie der Geschichte — rettungslos wieder dem Standpunkte des Juden Esra verfallen, daß sich die göttliche Offenbarung beschränke auf den „Heiligen Samen", Esra gz. Bis jetzt haben wir ja aber gerade angenommen, daß uns Jesus Christus wie auch Paulus von dieser Vergötzung des Blutes freigemacht haben, Gal. Zzg. Und dabei wird es doch wohl bleiben. Der Wind weht, wo er will. So ist es auch mit dem Geiste Gottes. Mag es auch gegen all unser Wünschen gehen, Er wird seine Gründe dafür gehabt habe», daß er gerade in diesem Volke einst am lautesten und vernehmlichsten ge­ sprochen hat. Vor Tatsachen, vor der Wahrheit gilt es sich ehrfürchtig zu beugen; ich meine, das ist auch eine arische Tugend. Genug, kehren wir zum A. T. zurück. In ihm ist viel national­ jüdisches, natürlich gewachsenes. Das alles ist für uns Christen, wie in erster Linie das Gesetz, abgetan. Aber daneben haben wir, nicht ab­ reißend, immer wieder sich erhebend, die Verkündigung der Propheten, das Wort des Helligen Gottes, das im Evangelium Jesu, das von den Juden abgelehnt ist, seine Krönung gefunden hat. Und nur um dieses willen gilt uns das A. T. als die Urkunde der göttlichen Offenbarung; jenes andere hat seine Krönung im Talmud gefunden.

VIII. Ist eine klare Scheidung zwischen -em, was für -ie Kirche

im JI.^T. vergänglich, und -em, was unvergänglich ist, möglich? Das A. T. umschließt ein Schrifttum aus einer Zeit von gut iooo Jahren von vollständig verschiedenartiger Herkunft, von ganz verschiedenen Literaturgattungen und von ganz verschiedenem religiö­ sem Werte. Könnten wir denn nicht wenigstens eine Sichtung vor­ nehmen und alles das ausschließen, was nur zeitgeschichtlichen, längst vergangenen Wert, nur Bedeutung für die Juden hat? Könnten wir *) Vgl. hierzu W. Künneth „Was haben wir als evangel. Christe» zu dem Ruf des Nationalsozialismus zu sagen?" 1931 und H. Schreiner „Der National­ sozialismus vor der Gottesfrage" 1931.

26 uns nicht wenigstens auf eine Auslese der wichtigsten Propheten­ schriften und schönsten Psalmen, des B. Hiob usw., beschränken? Wie kommen wir denn nur dazu, jenes ganze Schrifttum immer als eine Einheit zu betrachten und ihm den Charakter als Heiliger Schrift zuzu­ schreiben? Ich weiß, daß viele ernste fromme deutsche Christen heutzu­ tage so fragen. Ihnen ist eine zweifache Antwort zu geben. Zunächst handelt es sich einfach um einen geschichtlich gegebenen Begriff. Das A. T. ist eine Sammlung religiöser Schriften, die vom 5. bis zum 2. vorchristlichen Jahrhundert allmählich zusammengestellt ist als Grundlage und Norm der jüdischen Gemeinde. Man hielt diese Schriften, wie 2. Tim. 316 sagt, für gotteingegeben und wie keine andern nützlich zur Lehre, zur Strafe, zur Besserung, zur Züchti­ gung in der Gerechtigkeit, d. h. zur religiösen Erziehung. Jesus und die Apostel übernahmen sie einfach, die Schrift galt auch ihnen als „die Heilige Schrift", und aus ihr heraus vernahmen auch sie die Stimme, das Wort ihres himmlischen Vaters. Wenn also auch wir heute das A. T. als Heilige Schrift bezeichnen, so hat das zunächst ein­ fach die geschichtliche Bedeutung: die Schriftensammlung, die für Jesus und seine Apostel als die Heilige Schrift galt. Und es ist von vorn­ herein klar, daß wir daran auch beim besten Willen nichts ändern können, daß jede Sichtung auf Grund unserer religiösen Beurteilung einfach diesem historischen Tatbestands Gewalt antun würde. Aber es kommt ja ein zweiter und tieferer Grund hinzu. Wir haben bereits in VI. betont, daß so reinlich, wie wir wissenschaftlich israeliti­ sche Volksreligion, nationale Kultreligion und sittliche Propheten­ religion scheiden können, das in praxi natürlich nie möglich gewesen ist, daß ein Herüber und Hinüber gegenseitiger Einwirkung und Kom­ promisse oft stattgefunden hat. Das gilt nun natürlich auch von den Niederschlägen dieser Religionen in der Literatur. Es ist daher einfach ein Ding der Unmöglichkeit, reinlich die Literatur der prophetischen Religion, oder sagen wir nun besser gleich deutlich das Wort des lebendigen Gottes aus der Literatur, die nur einen zeitgeschichtlichen, für uns Christen vergänglichen Wert gehabt hat, herauszuschälen. Im Gegenteil, fast alles, was «ns im A. T. an israelitischen Überlieferun­ gen, Geschichten, Gesetzen, Dichtungen, Weisheitssprüchen usw. erhalten ist, ist irgendwie in Berührung mit der prophetischen göttlichen Offen­ barung gekommen, unter ihrem Einflüsse umgestaltet und dadurch bis zu einem gewissen Grade auch Träger jener Offenbarung geworden. Eine der Hauptaufgaben der Theologie der letzten Jahrzehnte ist es gerade gewesen, nachzuweisen, wie all die mythischen Stoffe von

27 Schöpfung, Flut usw., die man aus dem sonstigen alten Orient über­ nahm, unter dem Einflüsse des einzigartigen monotheistischen Gottes­ glaubens zu etwas neuem umgestaltet sind. Dasselbe gllt von den Gesetzen, die wir jetzt ganz exakt mit den sonstigen altorientalischen vergleichen können, von den volkstümlichen Väter- und Heldensagen, von der ganzen Geschichtsdarstellung, Dichtung, Weisheitslehre usw. In allem israelitisch-jüdischen blitzen hier plötzlich Gedanken, Ideen, Impulse von ewiger, unvergänglicher Bedeutung auf; das Wort des lebendigen Gottes ist auch in sie eingebettet. Wir haben dies schon in IV bei den heute so vielfach gelästerten Vätergeschichten beobachtet. Wir wollen es hier nur noch an einem einzigen Beispiel illustrieren, an dem Gesetz, von dem man doch am ersten annehmen möchte, daß wir es einfach aus unserem A. T. heraus­ schneiden könnten, weil es für den Christen erledigt ist. Aber abgesehen von dem Zehngebot, welches ja tatsächlich zugleich Gesetz und Pro­ phetenwort ist, als solches eine exzeptionelle Stellung einnimmt und, wie besonders auch M. Luther in seinem Katechismus betont hat, auch für uns Christen durch Jesus zu einem Träger ewigen göttlichen Willens geworden ist, gerade im Gesetze finden sich die beiden Gebote, die dieser als die höchsten und für alle Zeit verbindlichen bezeugt hat, nämlich: „Du sollst Gott, deinen Herrn, lieben von ganzem Herzen, ganzer Seele und von allen deinen Kräften", 5. M. 65, und: „Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst", 3. M. 1918. Ganz gewiß liegt also für uns Christen der eigentliche Schwerpunkt des A. T. in den Propheten von Mose bis Maleachi, nächstdem in den Psalmen und in der Weisheitslehre. Aber mit der Schere können wir hier unmöglich arbeiten. Ehe wir es uns versähen, würden wir manche der köstlichsten Perlen mit hinwegschneiden, die Verbindung von Gött­ lichem und Menschlichem ist wie in aller Offenbarung auch im A. T. so unauflöslich, daß wir die Scheidung reinlich nicht vollziehen können. Wer sollte auch die Instanz bilden, von der diese ausginge? Es würde sich schnell ein buntes Chaos ergeben. Es muß uns genügen, zu wissen, daß beides bald neben- bald ineinander vorhanden ist, und daß wir auch der Heiligen Schrift gegenüber nicht als die Knechte, sondern als die freien Kinder Gottes dafiehen, die sein Wort dankbar und ehr­ fürchtig überall dort aufnehmen, wo sie es finden, wo ihnen der Geist Jesu entgegenweht, mag das der eine mehr hier, der andere mehr dort spüre», die aber nie wieder zu Sklaven jüdischer Satzungen und An­ schauungen werden können. Daß uns Christen das Buch Esther, das Hohelied (vielleicht 8«f.

28 ausgenommen) und manche größeren und kleineren Abschnitte im Pentateuch und den historischen Büchern religiös nichts mehr zu sagen haben, ist ganz selbstverständlich, das hat von ersterem auch wieder sehr schön Luther gesagt: „dieweil es so sehr judenzet". Aber diese Ausnahmen bestätigen nur die Regel. Aufs ganze gesehen bleibt es nun doch einmal dabei, daß bis auf diese verschwindenden Ausnahmen uns aus jedem Buche des A. T. neben allem volkstümlich-jüdischen, das für uns abgetan ist, etwas entgegenweht von dem Geiste des einen, heiligen und lebendigen Gottes, wie wir es, abgesehen natür­ lich vom N. T., in keiner menschlichen Literatur finden. Auch aus ihm heraus erschallt an den einzelnen wie an die Kirche das Wort Gottes, Gehorsam heischend, den menschlichen Eigenwillen brechend, Glauben weckend, auch aus ihm heraus ergeht, jedem ans Herz greifend, eine Stimme aus einer andern Welt, die Stimme des Gottes, der zunächst als der Heilige den Menschen in den Staub zwingt und ihn dann zu sich zieht als der Gnädige und Vergebende in lauter Güte. Das muß aller­ dings erlebt und erfahren sein, disputieren läßt sich darüber nicht. Daß mit dem in diesem Abschnitt Gesagten in keiner Weise eine zu praktischen Zwecken getroffene Auswahl und Auslese aus dem A. T., wir meinen zu Unterrichts- oder Andachtszwecken, eine Schul- bzw. Familienbibel ausgeschlossen sein soll, bedarf kaum ausdrücklicher Er­ wähnung. Wir halten solche sogar für dringend erforderlich und kommen kurz darauf noch in IX. zurück. Hier aber handelte es sich um die prinzipielle Frage für die Kirche.

IX. Die beiden praktischen Wege einer Abschaffung -es J1. TT. und ihre Unmöglichkeit. Wie stellt man sich nun, da es nicht möglich ist, das A. T. zu zer­ schneiden und nur das für uns Christen Wertvolle als Heilige Schrift herauszuheben, praktisch eine „Abschaffung" des A. T. vor? Es gibt zwei Wege, einen milderen und einen radikaleren. i. Manche Wohlmeinende schlagen vor, um alle ewigen Anstöße an dem Jüdischen zu beseitigen, solle man das A. T. einfach „«kanoni­ sieren", d. h. es weiter als gut und nützlich lehren und zum Lesen emp­ fehlen, aber es nicht mehr mit unserem christlichen Neuen Testament als Heilige Schrift der Kirche, als Bibel zusammenfassen und -binden, und dadurch den Anschein immer von neuem entstehen lassen, als ob wir es dem letzteren gleich werteten. Kein Geringerer als Harnack hat

29 bekanntlich in seinem „Marcion" diesen Gedanken vertreten. Und wer wollte leugnen, daß ihm ernst nachgegangen werden muß? Daß H. selbst in seinen letzten Lebensjahren eingesehen hat, daß es so doch nicht ginge, tut dabei nichts zur Sache. Aber ist dies wirklich eine Lösung? a) Zunächst einmal, Neue Testamente ohne das Alte haben wir ja schon in genügender Zahl. Und das ist recht und gut. An den großen Wertunterschied zwischen beiden wird dadurch immer wieder erinnert. Und eigentlich wird er doch auch schon durch die verschiedene Betitelung als das „Alte" und das „Neue" Testament genügend angedeutet. b) Sodann aber, eine „Akanonisierung" wäre vielleicht vor zwei Jahrhunderten noch möglich gewesen, sie wäre aber jetzt ganz gegen­ standslos, da wir zwar den wissenschaftlichen Begriff Kanon weiter brauchen als einen historisch gegebenen, der Begriff selbst aber erledigt ist, seitdem die Jnspirationslehre gefallen ist, denn dadurch sollte sich ja der Kanon von aller sonstigen Literatur unterscheiden, daß er allein die inspirierten Bücher umschloß. Seitdem man aber auch unter dem neutestamentlichen Kanon nur noch eine Urkundensammlung für die Entstehungsgeschichte der christlichen Kirche versteht, hätte eine Akanonisierung jeden Sinn verloren. Denn daß für Jesus und die Apostel das A. T. die Heilige Schrift gewesen ist, und daß es daher mit zu dieser Urkundensammlung gehört, läßt sich ja nicht leugnen. c) Doch vor allem: Wenn es wirklich so ist, wie wir vachzuweisen versucht haben, daß auch aus dem A. T. heraus der Gott und Vater Jesu Christi zu uns spricht, falls wir nur das Ohr dafür haben, so würde durch eine solche Losreißung des A. T. vom Neuen gerade dieses ohne zwingenden Grund einfach zu einem Torso gemacht. Denn wie wir nun schon wiederholt festgestellt haben, das N. T. setzt überall das A. T. voraus, will auf ihm weiterbauen, kann ohne dies gar nicht ver­ standen werden. Man sage nicht, wie z. B. v. Gräfe jüngst behauptet hat, das gelte doch nur für die Theologen, die natürlich nicht ohne jenes arbeiten könnten; jeder ernste Bibelleser — und solche wird es doch in der ev. Kirche immerdar geben — wird ganz dasselbe erfahren. Aber nicht nur würde so die ganze Gedankenwelt Jesu und der Apostel wie ihrer Zeitgenossen zum guten Telle einfach unverständlich, nein, es ergäben sich auch für die christliche Frömmigkeit einige sehr empfind­ liche und bedenkliche Lücken. Hier sei nur auf drei Punkte hingewiesen, die man leicht vermehren könnte: a) Die christliche Frömmigkeit, die sich nur auf das N. T. stützt, wird leicht einseitig, weil in diesem, das in Wirklichkeit überall das

30 A. T. voraussetzt und es nur ergänzen, „erfüllen" will, Gott in seinem Verhältnis zur Natur, als Schöpfer und Erhalter dieser und als gnädiger Spender aller guten natürlichen Gaben an den Menschen wenig gewürdigt wird; diesbezügliche Gedanken fehlen dem Evan­ gelium nicht ganz, man denke an Jesu Worte von Gottes Fürsorge für die Lilien auf dem Felde und die Sperlinge auf dem Dache, an die vierte Bitte usw. Aber welche wertvolle Ergänzungen liefern hier die herrlichen alttesiamentlichen Naturpsalmen, die uns Gott auch in der Schöpfung finden lehren (Pf. 8; 19; 104), die wahrhaft großartige Schilderung im Hiobbuche C. z8ff., die es Goethe so stark angetan hatte, die Schöpfungs- und Patriarchenerzählungen der Genesis. b) Das A. T. hat dem Christentum den Dienst geleistet und leistet ihn auch heute noch, die Brücke zur Welt zu schlagen. Ein Christentum ohne das A. T. kann leicht zur Askese, zur Weltflucht, zur Schwärmerei führe». Welt und Leben in ihr einerseits und die Religion anderer­ seits würden dann leicht auseinanderfallen, ist doch das N. T. voll­ ständig unter dem Gesichtspunkt der bevorstehenden Wiederkunft des Herrn und ohne das Bedürfnis, sich in der Welt einzurichten, ge­ schrieben. Daß wir gerade auch in der Welt Aufgaben von Gott haben, sagt uns das A. T. viel deutlicher als das N. T. c) Auf dem Boden des A. T. hat sich der Glaube an einen gerechten, aber gnädigen Gott bewährt in einer langen Geschichte. Hier kommen Gottes Führungen und Pläne, sein Richten und Strafen, aber auch sein Begnadigen, Wuvdertun und Segnen in einer wechselvollen völkischen Geschichte zum Ausdruck. Daraus ergeben sich Mahnungen, Impulse und Tröstungen, auf die auch christliche Völker nie werden verzichten können, ohne die sie verarmen würden. In dieser Beziehung kann das N. T. allein, das überhaupt nicht auf eine wettere Geschichte eingestellt ist, nicht annähernd das hergeben, was die Bibel als ganzes einzelnen wie ganzen Völkern geleistet hat, gerade auch unserem deutschen Volke. Man prüfe einmal, wie vielen deutschen Christen Ezechiels wundervolle Vision von der Auferweckung des Totengebeines Mut und Hoffnung wieder angefacht hat in der Periode unseres Zusammenbruches. Man frage bei E. M. Arndt an, was ihm das A. T. bedeutet hat, Kraft zu gewinnen und seinem Volke einzuflößen, das Tyrannenjoch des Korsen abzuwerfen. 2. Das Gesagte muß hier genüge», um darzutun, daß eine „Ab­ schaffung" des A. T. in der milderen Form, wie Harnack sie sich vor­ gestellt hatte, ein einfaches Ding der Unmöglichkeit ist. Es ist aber gewiß, daß diese den heutigen Gegnern des A. T. nicht einmal als

31 ausreichend erscheint, daß sie eine radikalere verlangen. Wie sie sich praktisch ihre Ausführung denken, darüber haben sie sich allerdings nie recht ausgesprochen, nur Andeutungen gegeben und sich meistens ein­ fach auf das Wort „Abschaffung als Religionsbuch" beschränkt (Rosen­ berg a. a. O. S. 566). Da nun ein Verbrennungsgebot doch nicht mehr zeitgemäß ist und da mit der Jnspirationslehre auch jeder Ge­ danke, bei christlichen Lehrstreitigkeiten etwa das A. T. zur Entscheidung heranzuziehen, längst hingefallen ist — übrigens ist das auch in früherer Zeit immer nur in verschwindendem Maße geschehenx) —, so sehe ich nur drei Gebiete, auf denen eine solche Abschaffung versucht werden könnte: a) Die Synoden müßten verbieten, daß einer Predigt hinfort noch ein alttesiamentlicher Text zugrundegelegt, und anordnen, daß die Liturgie von allen alttestamentlichen Bestandteilen gesäubert würde. Ersteres aber ist schon deswegen unmöglich, weil sich im R. T. an die tausend Zitate aus dem A. T. finden, und eine Predigt über diese doch nicht verboten werden kann. Wird aber etwa über diese gepredigt, so wird man doch auch den alttestamentlichen Kontext zum Verständnis heranziehen dürfen und müssen. Purifizierung der Liturgie aber, etwa Hand in Hand mit der unserer Gesangbücher—der einstigen Bilderstürmerei nicht ganz unähnlich — könnte jedenfalls erst in Angriff genommen werden, wenn Besseres, besonders unter Verzicht auf die Psalmen, vorgelegt würde.

Wer die Schwierigkeit liturgischer Änderungen kennt, wird hier jedenfalls recht skeptisch sein und sich auf eine sehr lange Wartezeit einrichten. Und was unsere kirchliche Lyrik ««betrifft, so übersehe man nicht, wie innig sich besonders in unserer Weihnachtslyrik die alttest. Motive mit dem deutschen Volksgeisie verbunden haben. Möchte man hier wirklich das „Tochter Zion, freue dich", den „Held aus Davids Stamm", das „Reis aus der Wurzel Jesse" opfern? Tatsächlich gehen ja auch sonst viele gerade der tiefsten und kernigsten unserer deutschen Choräle auf Psalmen zurück, ich nenne nur „Ein-, feste Burg", „Befiehl du deine Wege" und „Aus tiefer Not schrei ich zu dir". Ich glaube kaum, daß die evangelische Kirche je auf diese wird verzichten wollen. Doch über ein etwaiges Predigtverbot über alttest. Texte muß noch etwas Ernsteres gesagt werde». Es ist nicht nur undurchführbar, es würde schon mit einem dahin zielenden Versuche ein ganz beträchtx) So finden sich in der augsburgischen Konfession gegenüber den gut 50 neutestamentlichen Zitaten nur 4 alttestamentliche.

32 licher Schaden angerichtet werde». Man frage doch nur einmal unsere Pfarrer: von 90 Prozent wird man die gleiche Antwort hören. Wie gerne greifen sie besonders bei geschichtlichen Anlässen und solchen, die das natürliche Leben darbietet (Jahreswechsel, Erntedankfest, Erinne­ rungstage), wie oft aber gerade auch bei den ernstesten, unmittelbar religiösen Anlässen (Buß- und Bettage) zu einem alttest. Texte, vollends bei Kasualien. Und mit gutem Grunde, wir habe» ihn schon in 1. gefunden. Gerade das A. T. hat in einer Weise, wie es im N. T. gar nicht möglich war, Stellung genommen zu allen Verhältnissen und Lagen des natürlichen Lebens, seinen Freuden wie seine» Nöten, ist hervorgegangen aus einer tausendjährigen Geschichte des Volkes mit allen ihren Wechselfällen, Höhen und Niederungen und hat sie in die Beleuchtung des göttlichen Wortes gestellt. Eine Erinnerung liegt uns da besonders nahe. Wenn wir draußen in Feindes Land, ehe es hineinging in Schlachtenlärm und Todesnot, einen Gottesdienst hatten, woher wurden besonders die Losungen ge­ nommen, die uns feste Schritte tun ließen, auch angesichts des Todes­ rachens? Und als hier daheim der trostlose Zusammenbruch stattfand, woher nahmen die Geistlichen die Texte zu ihrer Deutung des furcht­ baren Widerfahrnisses und zur Aufrichtung der Hoffnung auf ein Auferstehen aus den Volkstrümmern? Ich glaube sagen zu dürfe», überwiegend aus dem A. T. Will man eine solche unerschöpfliche Kraftquelle leichtsinnig unserem Volke verstopfen?*) b) Das zweite Gebiet, auf dem das A. T. auch innerhalb der christ­ lichen Kirche reichliche praktische Verwendung findet, ist die persönliche und Familienandacht. Hier wird man wohl von vornherein vor einem Verbote zurückschrecken, es würde ja eine Wiederaufrichtung katholischer Maßregeln bedeuten. Aber das weiß ich, versuchte man es auch, Erfolg würde es nicht haben; denn viel zu tief ist das A. T. bei uns eingewurzelt. Wieviel Millionen deutscher Christen ist doch schon im Laufe unserer Geschichte bald ein Psalm, bald ein prophetischer Kernspruch, bald eine der einzigartig plastischen Erzählungen aus dem A. T. Stecken und Stab geworden im finstern Tal, Erlösung und Offenbarung in Stunden, wo sie nicht aus noch ein wußten*2). Gerne Rosenberg möchte ich daran erinnern, daß auch der von ihm mit Recht hochgeschätzte Eckehardt einige seiner tiefsinnigsten Predigten über alttest. Texte gehalten hat; vgl. Predigte», Büttner I S. 75 ff., 151fr., 168 ff., 200 ff. 2) Hier muß an das Wort Luthers in bezug auf den 118. Psalm erinnert werden: „Es ist mein Psalm, den ich lieb habe. Wiewohl der ganze Psalter mir auch lieb ist, so bin ich doch sonderlich an diesen Psalm geraten, daß er muß mein

33 betone ich hier übrigens nochmals, daß gerade für solche Erbauungsund Andachtszwecke eine deutsche Familienbibel wünschenswert ist, die eine Auslese aus dem A. T. unter diesem Gesichtspunkte darbietet, c) Das dritte Gebiet, auf dem wohl in allererster Linie an eine Abschaffung des A. T. gedacht wird, ist der Jugenduvterricht, die Schule. Und hier muß ich nun ja rückhaltlos einräumen, daß auch der gegenwärtige Unterricht, trotz aller Reformen in den letzten 30 Jahren, immer noch stark der Besserung bedarf, sowohl nach feiten des zu be­ handelnden Stoffes wie nach der Methode, in der er gelehrt wird. Das beweisen mir — man nehme es mir nicht übel — in erster Linie gerade die hier zur Verhandlung stehenden Angriffe auf das A. T. Wie oft muß man gerade, wenn man sie liest oder hört, sich fragen: Welch einen entsetzlichen Unterricht muß dieser Mann oder diese Frau einst im A. T. genossen haben, daß sie es nicht einmal merken, welch einen Unsinn sie hier zusammenreden und welch eine Unkenntnis sie offen­ baren! Aber deswegen den Unterricht abschaffen? Das wäre denn doch das Törichteste, das man tun könnte. Man frage doch einmal die, die wirkliche pädagogische Erfahrung besitzen, ob es überhaupt möglich ist, neutestamentlichen Unterricht zu geben, ohne daß die erforderlichen alttest. Kenntnisse vorhanden sind? Bei fast jedem Kapitel des N. T. würde man ja stolpern. Doch da, wie gesagt, hier offenkundig immer noch schwere Mängel vorliegen müssen, sowohl in bezug auf die Stoffauswahl wie auf die Methode der Darbietung, da, wie ich fürchte, gerade hier, zum Tell aus Bequemlichkeitsgründen, noch immer Nachwirkungen des alten Jnspirationsdogmas vorliegen und die Stufevunterschiede der Offen­ barungsgeschichte verwischt werden, so heißt es eben, hier endlich das Steuer herumzuwerfen, wirklich zu bessern und ein Neues zu pflügen. Ich weiß, wie viele ernste Schul- und Kirchenmänner hier schon lange an der Arbeit sind, und der Raum fehlt, an dieser Stelle auf Einzelheiten einzugehen. Aber auf zwei Punkte muß ich Hinweisen, auf die mir alles anzukommen scheint und die sich aus allen unsern obigen Ausführungen zwangsläufig ergeben: a) Der alttest. Jugendunterricht hat sich in der Hauptsache auf das zu beschränken, was im A. T. „Christum treibt", und nur unter diesem Gesichtswinkel ist er zu geben. Die Erzählungen aus der Urgeschichte, heißen und sein, denn er sich auch redlich umb mich ost verdient und mir aus manchen großen Nöten geholfen, da mir sonst weder Kayser, Könige, Weise, Kluge, Heilige hätten helfen mögen".

34 aus dem Leben der Patriarchen, des Mose und der Helden sind nicht vorjutragen als eine Geschichte der Vorfahren Israels, sondern so, daß das Kind lernt, daß seit der Urzeit in das Leben der Menschen ein höheres Sein und Reich hineinragt, daß es einen Gott der Wunder und einen Vater der Gnade und des Erbarmens gibt, welches sich nicht nach dem Tun des Menschen bestimmt, welchem man sich nur glaubend hinzugeben braucht, daß dieser Gott aller Unschuld und Schwachheit hllft und, wenn seine Stunde gekommen ist, noch jedesmal seine Retter und Helden erweckt hat. Und auf der andern Seite ist an der Hand dieser Geschichte zu lehren, daß dieser Gott einen helligen Willen hat, der Beobachtung unter allen Umständen verlangt, daß er unnachsichtlich der Sünde feind ist und sie straft, bis er wirkliche Reue sieht. Ebenso ist an der ganzen weiteren Geschichte Israels darzutun, wie hier eine Religion des sittlichen Handelns, der sozialen Gerechtig­ keit und Herzensfrömmigkeit heraufgezogen ist, wie diese aber für die Volksmasse der Juden zu einer Religion des Egoismus und Gesetzes geworden ist, die immer wieder Gottes Gerichte heraus­ forderte und schließlich, wenn die Zeit erfüllet war, abgesioßen werden mußte und durch Jesus Christus abgestoßen ist, der allen Völkern die Freiheit der Kinder Gottes gebracht hat. Alle Stoffe, die nicht Träger dieser Grundgedanken zu sein ver­ mögen, sind beiseite zu lassen oder jedenfalls nur ganz kurz zu be­ rücksichtigen, um die zum Verständnis notwendigen historischen Brücken zu schlagen. Wird die so viel gelästerte alttesiamentliche Geschichte in diesem Sinne gelehrt, so bleibt es bestehn, daß sich infolge ihrer einzigartigen Plastik wie des Gottesgeistes, der sie durchweht, an keinem Stoffe besser der Kindesseele das Geheimnis der Religion erschließt, durch keinen andern besser das Verständnis für das, was Jesus uns gebracht hat, vorbereitet wird. b) Auf der höheren Stufe des Unterrichts ist der Schwerpunkt desselben von der Geschichte weg zu verlegen auf den Höhepunkt des A. T., auf die Einführung in die Propheten, Dichter und Weisheits­ lehrer. Hier gilt es, zunächst die einzelnen Gestalten, die Gott als seine Werkzeuge ergriffen, und die sich in seinem Dienste verzehrt haben, lebendig werden zu lassen, die Tragik ihres Lebens auf der einen Seite, ihre heldenhafte Weltüberwindung auf der andern. Man muß weiter die Grundzüge ihres weltweiten Gottesglaubens wie ihre einzigartig sittlich-ernste Lebens- und Geschichtsbetrachtung, ihr Hin­ drängen auf das Gottesreich, wie es später Jesus gebracht hat, aus ihren schönsten Sprüchen kennenlernen, in denen derselbe Gott, der

35 uns in jenem offenbar geworden ist, in der Sprache der alten Zeit spricht. Und endlich muß man bekanntgemacht werden mit den Gebeten, Liedern und sonstigen Dichtungen der prophetischen An­ hänger und Schüler, die in dem Glauben an den einen Gott alle Nöte, Drangsale und Anfechtungen überwunden und sich schließlich hindurchgerungen haben ju dem: „Wenn ich nur dich habe, so frage ich nichts nach Himmel und Erde." Glaubt man wirklich, daß, wenn nach diesen hier nur ganz kurz skizzierten Leitsätzen der alttestamentliche Religionsunterricht erteilt wird, unsere Kinder durch ihn „verjuden" werden? Jedenfalls, ehe man ihn abschafft und für die religiöse Unterweisung Unersetzliches damit aufgibt, ist es doch wohl ernste Pflicht, es erst einmal auf diesem Wege zu versuchen.

X. Der vermeintliche Ersah für -as Jl. E. Nicht selten kann man jetzt hören: „Würde das A. T. wirklich abgeschafft, die Lücke wäre leicht auszufüllen. Wir besitzen einen vollwertigen Ersatz in den nordischen und unsern altdeutschen Epen, Sagen und Märchen. Die verwende man im Gottesdienst, in den Andachten und vor allem im Religionsunterricht als Ergänzung des Neuen Testaments. Dann wird man von einem Schaden nichts spüren, im Gegenteil, eine herrliche, starke, deutsche Kirche wird dann erwachsen." Was nun Gottesdienst und Andacht «»betrifft, so liegt da wohl eine Verirrung und Verwirrung vor, die kaum noch überboten werden kann. Darüber besteht doch kein Zweifel, daß beide keinem andern Zwecke dienen wollen und könne», als eine Begegnung mit dem Einen heiligen Gott herbeizuführen, uns des Ernstes seines heüigen Willens wie seiner Gnade und Vergebung zu versichern, die Müh­ seligen und Beladenen hinzuführen zu dem, der allein uns aufzurichten und Kraft zu verleihen vermag für unsern Lebenskampf in allen Nöten. Was dabei unsere alten Epen usw. sollen — manche wollen ja auch unsere deutschen Klassiker hinzunehmen — ist mir, obwohl ich sie zu kennen glaube, einfach unerfindlich. Wenn die Sache nicht so furchtbar ernst wäre, würde ich sagen, man sollte einmal gerade den Pfarrern, die etwa mit solchen Möglich­ keiten spielen, auftragen, probeweise ein Jahr lang diese Stoffe als Texte für ihre Predigten mit heranzvziehn, damit man, nachdem die erste Neugierde gesättigt, die Massenflucht aus ihren Kirchen statistisch 3*

36 nachweisen könnte. Man suche in Vorträgen usw. unsere alten Helden­ lieder und Göttersagen in unserm deutschen Volke wieder lebendiger als bisher werden zu lassen, unser Geschlecht kann sie wahrhaftig brauchen. Aber in unsere Gotteshäuser und Andachten gehören sie nicht hinein, so wenig natürlich em gelegentliches passendes Zitat aus ihnen ausgeschlossen zu sein braucht. Die evangelische Kirche hat eS in der Zeit des Rationalismus erlebt, wie die Predigten über den Ackerbau, die Stallfütterung, den Fischfang und die Hygiene die Gotteshäuser entleert haben. Solche Experimente sollte man nicht wiederholen. Ein wenig anders liegt es mit dem Religionsunterricht. So gut man da auch auf Religionen und Sagen anderer Völker Bezug nimmt, wird man es vollends auf unsere eigene nordische Väter­ religion und Sage tun können, ja müssen, wenn sie zunächst natürlich auch in den deutschen Unterricht hineingehören. Ich stimme durchaus dem zu, daß man aus diesen Stoffen, obwohl es auch in ihnen nicht an sittlich Minderwertigem, an Treulosigkeit, Habgier und Blut­ schande fehlt, gegebenenfalls für die ethische Beeinflussung der Kinder, wie ja auch aus unserer deutschen Geschichte, kräftige Impulse ableiten kann und es tun soll, ich denke beispielsweise an die n Rat­ schläge, die die Walküre Brünhild dem Siegfried in der Edda gibt. Aber für den tiefsten Zweck und das eigentliche Ziel des christlichen Religionsunterrichts vermag uns die nordische Religion nichts zu geben. Im alttestamentlichen Unterricht, wenn er richtig erteilt wird, begegnet die Kindesseele bereits immer trotz der antiken Hülle der dargebotenen Stoffe dem lebendigen Gott, dem Vater Jesu Christi, die Götter der Edda sind tot und werden es bleiben. Einen Ersatz bieten daher auch hier alle jene Stoffe unmöglich.

XI. Mschluß, -as Ergebnis. So hat sich uns, man mag die Frage drehn und wenden, wie man will, die einfache Unmöglichkeit einer Abschaffung des A. T. für die evangelische Kirche ergeben. Und es ist schmerzlich, daß die Streiter gegen jenes, deren Absichten wir bereitwillig als die denk­ bar besten anerkennen, und mit denen wir gern Hand in Hand arbeiten möchten, hin auf eine Reinigung und Gesundung unseres deutschen Volkstums von ihm wesensfremden Einflüssen, auf ein echt deutsch-evangelisches Christentum in merkwürdiger Kurzsichtigkeit hier eine ganz falsche Front einnehmen und einen Weg betreten, an dessen

37 Ende nicht eine Erneuerung und Kräftigung, sondern die Auflösung jenes droht. Aber wir geben die Hoffnung auf eine Verständigung nicht auf, denn gerade unsere ganze Auseinandersetzung hat es immer wieder ergeben, daß zum guten Teile Mißverständnisse, falsche Voraus­ setzungen und Unorlentiertheit vorliegen, ja, daß gegen eine Position Sturm gelaufen wird, die, wenn sie wirklich noch von der evangelischen Kirche eingenommen würde, schleunigst geräumt werden müßte. Und diese Position ist die theoretische oder wenigstens praktische Gleichsetzung vom A. T. und N. T., der Mangel der Erkenntnis, daß alle göttliche Offenbarung eine geschichtlich fortschreitende ist, daß sie ihre zeitgeschichtlichen Stufen und Schranken gehabt hat, daß sie immer zugleich göttlich und menschlich ist und daß daher im A. T. ein starker israelitisch-jüdischer Einschlag vorliegt, der mit dem Evan­ gelium für die christliche Kirche gefallen und abgetan ist. Wenn in die römische Kirche Hierarchie, Werkdienst und gesetz­ liches Wesen wieder Einzug gehalten haben, so liegt die Wurzel vor allem in dieser gleichwertigen Einschätzung des A. T. mit dem N. T. Und wenn die evangelische Kirche nicht jetzt bis in die äußerste Peri­ pherie ihrer Gemeinden hinein es sich in Fleisch und Blut übergehn läßt, daß in dem alttestamentlichen Schrifttum neben der durch die Jahrhunderte erschallenden Stimme des ewigen Gottes auch Äuße­ rungen des jüdischen Volkstums erklingen, die für den Christen religiös längst erledigt sind und nur noch eine geschichtliche Bedeutung besitzen, dann müßte sie allerdings an dem A. T. ersticken. Aber wir haben gesehn, mag hierauf auch immer wieder sehr ernst hin­ gewiesen werden müssen, und unser Religionsunterricht unter diesem Gesichtspunkt tatsächlich noch immer der Reformen bedürfen, die evangelische Theologie hat uns längst von jenem Irrglauben und Irrwahn freigemacht. Sollte er einmal wieder austauchen, wir wären die ersten, die ihn aufs schärfste bekämpfen würden, denn nur das im A. T., was sich mit dem Geiste Christi verträgt, ist Gegenstand unseres Glaubens, mit der israelitisch-jüdischen Schale hat unsere Religion nichts zu tun. Doch wenn man die Probe einmal ernst daraufhin macht, wo wir es beim Lesen oder Hören des A. T. ganz vergessen, daß Worte israelitisch-jüdischer Männer an uns ergehn, wo wir nur Gott hören, so werden wir merken, daß solche viel, viel mehr vorhanden sind, als man dentt. Und eben das ist ja die Probe aufts Exempel. Denn wo die göttliche Stimme so erschallt, daß jeder Mensch

38 unbeschadet seines Volkstums sie als an sich gerichtet fühlt, wo sie sein tiefstes Inneres hinweg über die Schranken der Jahr­ tausende packt, da steht der lebendige Gott vor uns, kein Jahwe oder dergleichen. Wo einer zu uns spricht: „Es ist dir gesagt, Mensch, was gut ist, und was fordert der Herr von dir anderes als Recht tun, Liebe üben und demütig wandeln mit deinem Gott" oder „Fürchte dich nicht, ich habe dich erlöst, ich habe dich bei deinem Namen gerufen, du bist mein," da redet mit uns der Eine, Ewige, der war, ehe die Berge und die Erde wurden, der derselbe ist, aus dem Jesus geboren ward, und den er geschaut hat von Angesicht zu Angesicht. Diesen Spuren des Heiligen in allem menschlichen Staube, auch in dem alttestamentlichen, gilt es nachzugehn in Demut, Ehrfurcht und Glauben. Der eine wird sie hier, der andere da deutlicher finden, genau wird sich nie abmessen lassen, wo sie anfangen und enden. Es bleibt aber hellige Verpflichtung der evangelischen Kirche, dafür zu sorgen, daß die Schriftensammlung, in die sie für alle Zeiten ein­ geprägt sind, ihr erhalten bleibt. Nie wird jene die Gewißheit auf­ geben können, daß der lebendige Gott seit der Urzeit die sündige Menschheit in einer großen zusammenhängenden Geschichte, die in Jesus Christus gipfelt, zu sich gezogen hat in lauter Güte, und Nieder­ schlag und Urkunde dieser Geschichte bildet immerdar die ganze Bibel, zusammengesetzt aus Altem und Neuem Testament.

Anhang. Luther unö das Me Testament.

„Das Alte Testament halten etliche gering, weil es dem jüdischen Volk allein gegeben und es hinfort aus mit ihm sei, es auch nur von vergangenen Geschichten schreibe; sie meinen, sie hätten genug am neuen Testament, und geben vor, nur geistlichen Sinn im Alten Testament zu suchen. Aber Christus spricht (Joh. 5, 39): Forschet in der Schrift, denn dieselbige gibt Zeugnis von mir; und St. Paulus gebeut (1. Tim. 4, 12) Timotheo, er solle anhalten mit Lesen der Schrift, und rühmt (Röm. 1, 2), wie das Evangelium sei von Gott in der Schrift verheißen; und 1. Kor. 15, 3 sagt er, Christus sei laut der Schrift von Davids Geblüt gekommen, gestorben und vom Tod auferstanden. So weist uns auch St. Petrus (2. Petr. 1, 19; 3, 15) mehr denn einmal in die Schrift. Womit sie uns ja lehren, die Schrift des Alten Testamentes nicht zu verachten, sondern mit allem Fleiß zu lesen, weil sie selbst das Neue

39 Testament so mächtiglich gründen und bewähren durchs Alte Testa­ ment und sich darauf berufen; wie auch St. Lukas (Apg. 17, 11) schreibt, daß die ju Beröa täglich forschten in der Schrift, ob sich's so hielte, wie Paulus lehrte. So wenig nun des Neuen Testamentes Grund und Beweisung ju verachten ist, so teuer ist auch das Alte Testament ju achten. Und was ist das Neue Testament anders als eine öffentliche Predigt und Verkündigung von Christo, durch die Sprüche im Alten Testament gesetzt und durch Christum erfüllt? Ich bitte und warne treulich einen jeglichen frommen Christen, daß er sich nicht stoße an der einfältigen Rede und Geschichte, die ihm oft begegnen wird, sondern zweifle nicht daran, wie schlecht es sich immer ansehen läßt, es seien eitel Worte, Werke, Gerichte und Geschichten der hohen göttlichen Majestät, Macht und Weisheit. Denn dies ist die Schrift, die alle Weisen und Klugen zu Narren macht und allein den Kleinen und Unmündigen offen steht, wie Christus sagt Matth. 11, 25. Darum laß deinen Dünkel und Fühlen fahren, und halte von dieser Schrift als von dem allerhöchsten edelsten Heilig­ tum, als von der allerreichsten Fundgrube, die nimmermehr genug ausgegründet werden mag, auf daß du die göttliche Weisheit finden mögest, welche Gott hier so schlicht vorlegt, daß er allen Hochmut dämpfet. Hier wirst du die Windeln und die Krippe finden, da Christus innen liegt, dahin auch der Engel die Hirten weist. Schlechte und geringe Windeln sind es, aber teuer ist der Schatz, Christus, der drinnen liegt."

Luther, Vorrede auf das Alte Testament, 1523.

Theologische Bände der Sammlung Göschen In Auswahl.

Jeder Band in Leinen geb. RM 1.62

VERGLEICHENDE RELIGIONSWISSENSCHAFT. Von Prof. D. Dr. H. Frick .......................................................................................... Nr. 208 DIE RELIGIONEN DER NATURVÖLKER im Umriß. Von Prof. Dr. Th. Achelis .................................................................................... Nr. 449 RÖMISCHE RELIGIONSGESCHICHTE. Von Privatdozent Dr. Franz Altheim. I. Die älteste Schicht. II. Von der Gründung des Kapitoli­ nischen Tempels bis zum Aufkommen der Alleinherrschaft. Nr. 1035 u. 1052 PROTESTANTISCHE THEOLOGIE. Überblick und Einführung. Von Prof. Dr. theol. Theod. Odenwald ......................................... Nr. 983 THEOLOGISCHE ETHIK. Von Prof. Dr. theol. Georg Wünsch Nr. 900 RELIGIONSPHILOSOPHIE. Von Prof. Dr. Otto v. d. Pfordten Nr. 772 PSYCHOLOGIE DER RELIGION. Von Dr. Richard Müller-Freienfels. I. Die Entstehung der Religion. II. Mythen und Kulte. Nr. 805/806 DIE ENTSTEHUNG DES ALTEN TESTAMENTS. Von Prof. D. Dr. W. Staerk................ Nr. 272 ALTTESTAMENTLICHE RELIGIONSGESCHICHTE. Von Prof. D. Dr. Max Löhr ........................................................................................ Nr. 292 GESCHICHTE ISRAELS bis a. d. griechische Zeit. Von Prof. Dr. J. Ben­ zinger ................................................................................................ Nr. 231 DIE ENTSTEHUNG DESNEUENTESTAMENTS. Von Prof. Lic. D. Dr. Carl Giemen........................................................................... Nr. 285 DIE ENTWICKLUNG DERCHRISTLICHENRELIGION innerhalb des Neuen Testaments. Von Prof. Lic. D. Dr. Carl Giemen . Nr. 388 NEUTESTAMENTLICHE ZEITGESCHICHTE. Von Prof. D. Dr. W. Staerk. I. Der historische und kulturgeschichtliche Hintergrund des Urchristen­ tums. II. Die Religion des Judentums im neutestamentlichen Zeitalter. Nr. 325/326 KIRCHENGESCHICHTE. Von Prof. D. Dr. Kurt Aner. I. Altertum. Mit 2 Textkarten. II. Mittelalter. III. Reformation und Gegenreformation. IV. Neuzeit. Erste Hälfte (bis etwa 1830). Nr. 985/988 DOGMENGESCHICHTE. Von Prof. D. Dr. Friedrich Wiegand. I. Entstehung und Entwicklung des Dogmas i. d. alten Kirche Nr. 993 II. Erhaltung, Umbildung und Weiterbildung des Dogmas im Katho­ lizismus des Mittelalters und der Neuzeit ......................... Nr. 994 III. Geschichte des Dogmas im Protestantismus ...................... Nr. 1007 DAS KIRCHENRECHT. Von Prof. D. Dr. E. Sehling. I. Einleitung. Quellen. Verfassung und Verwaltung der katholischen Kirche. Anhang: Die griechisch-orthodoxe Kirche........ Nr. 377 II. Das evangelische Kirchenrecht. Die Stellung des Staates zur Kirche und das Verhältnis der Religionsgesellschaften zueinander Nr. 954 DER EVANGELISCHE GOTTESDIENST IM WANDEL DER ZEITEN. Von Prof. D. Friedr. Niebergall ......................................... Nr. 894 GESCHICHTE DER KATHOLISCHEN KIRCHE VON DER MITTE DES 18. JAHRHUNDERTS BIS ZUM VATIKANISCHEN KONZIL. Von Geh. Kons.-Rat Prof. D. Mirbt................................................. Nr. 700 SYMBOLIK DES RÖMISCHEN KATHOLIZISMUS. Von Dr. Leonhard Fendt ................................................................................................ Nr. 937 DIE KATHOLISCHEN MISSIONEN von der Völkerwanderung bis zur Gegenwart. Von Prof. D. Dr. Jos. Schmidlin.................. Nr. 913 DIE KIRCHE DES MORGENLANDES (Weltanschauung und Frömmig­ keitsleben). Von Prof. N. von Arseniew ............................. Nr. 918

Werke von Rudolf Bucken Die Lebensanschauungen der großen Denker. Eine Entwick­ lungsgeschichte des Lebensproblems der Menschheit von Plato bis zur Gegenwart. Neunzehnte Auflage. GroßOktav. VIII, 564 Seiten. 1930. RM 9.—, geb. 10.— ».Dieses Werk kann an seinem Teile keifen, den Glauben an die Zukunft, die Wahrheit, das Recht, den Sieg des Guten zu stärken und zu fördern.« Deutsches Philologenblatt.

Geistige Strömungen der Gegenwart Der Grundbegriffe der Gegen­ wart sechste, umgearb. Auflage. Unveränderter Neu­ druck. Oktav. X, 418 Seiten. 1928. RM 12.—, geb. 14.— >Ein Bekenntnisbuch in des Wortes tiefster Bedeutung.