Exegetische Studien 9783161515125, 9783161508035

Die Aufsatzsammlung enthält Studien zu zentralen Texten der Evangelien, der Paulusbriefe und der Septuaginta sowie zu gr

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German Pages 376 [378] Year 2011

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Table of contents :
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Widmung
Vorwort
Inhalt
Evangelien
Die Allmacht des Sohnes Gottes und das Gebet des Glaubens. Erwägungen zu Thema und Aussage der Wundererzählung Mk 9,14–29
I
II
III
IV
V
VI
VII
Summary
„Er gibt den Geist ohne Maß“ Joh 3,34b
Die Auferweckung des Lazarus. Joh 11,1–44 als Zeugnis narrativer Christologie
I
II
III
IV
V
VI
VII
Summary
Corpus Paulinum
„Werke des Gesetzes“
I. Zur sprachlichen Bedeutung des Ausdrucks ἔργα νόμoυ
1 Hat הרזחה ׳שצמ 4QMMT C 27 die Bedeutung „ Gebote der Tora “?
2 Kann ἔργα νόμoυ heiβen: „Gebote der Tora“?
II. Zur sachlichen Bedeutung des Ausdrucks ἔργα νόμoυ
1 Die ἔργα νόμoυ-Aussage Röm 3,20a im Kontext von Röm 1,18–3,20
2 Die weiteren Aussagen des Römerbriefs über die ἔργα νόμoυ
3 ἔργα νόμoυ im Galaterbrief
3.1 ἔργα νόμoυ in Gal 2,16
3.2 ἔργα νόμoυ in Gal 3,2b und Gal 3,10
4 Ergebnisse und Konsequenzen
„Werke des Gesetzes“ – Zwei Nachträge
I
II
Zu Römer 10,4: τέλoς γὰϱ νόμoυ Xϱιστός
Die Auferstehung der Toten als Heilsereignis. Zum Verständnis der Auferstehung in 1Kor 15
I
II
III
IV
V
Die Auferstehung Christi und die Auferstehung der Toten. Erwägungen zu Gedankengang und Aussage von 1Kor 15,20–23
I
II
Bezieht sich έxαστος V. 23a auch auf die nicht an Christus glaubende Menschheit?
Bezieht sich έxαστος V. 23a auch auf Christus selbst?
Bezieht sich έxαστος V. 23a nur auf οί του Χρστου ?
III
IV
„Gott war in Christus“. Sprachliche und theologische Erwägungen zu der Versöhnungsaussage 2Kor 5,19a
I
II
III
IV
V
Zum Verständnis der Versöhnungsaussage 2Kor 5,19a bei den griechischen Kirchenvätern
Das Wort von der Versöhnung und das Gesetz
I
II
III
IV
Widerstreit zwischen Fleisch und Geist? Erwägungen zu Gal 5,17
I
II
III
IV
V
Erwägungen zu der Ordinationsaussage 1Tim 4,14
I
II
III
IV
V
Theologie
Die Einzigartigkeit der Apostel Jesu Christi
I
II
III
IV
V
Gemeinschaft am Tisch des Herrn. Das Zeugnis des Neuen Testaments
I
II
III
IV
Gemeindeleitung und Kirchenleitung nach dem Zeugnis des Neuen Testaments. Eine Skizze
I
II
III
1) Act 20,17–38
2) I Peter 5,1–4
3) Eph 4,7–16
4) Hebr 13,7–17
5) I Tim 3,1–7; 5,17; Tit 1,5–9
IV
V
Summary
Septuaginta
Zur Septuaginta-Übersetzung von Jes 52,13b
Der Septuaginta-Text von Daniel 7,13–14. Erwägungen zu seiner Gestalt und seiner Aussage
I
II
III
IV
V
VI
Zum Verständnis neutestamentlicher Exegese
Neutestamentliche Exegese in systematisch-theologischer Verantwortung. Erwägungen zu den Aufgaben einer theologischen Disziplin
I
II
III
IV
V
Die Bedeutung Hans Joachim Iwands für die Exegese des Neuen Testaments
1. Jesus Christus – die Mitte der Schrift
2. Die Analogielosigkeit Jesu Christi
3. Das Nein zur Frage nach dem „historischen Jesus“
4. Zum Verständnis der Synoptischen Evangelien
Bibliographie Otfried Hofius
1960
1963
1965
1967
1968
1970
1971
1972
1973
1974
1975
1976
1977
1978
1980
1981
1982
1983
1984
1985
1986
1987
1988
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1998
1999
2000
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Nachweis der Erstveröffentlichungen
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Altes Testament
Neues Testament
Pseudepigraphen des Alten Testaments und Verwandtes
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Philo und Josephus
Rabbinische Literatur
Targumim
Frühchristliche Schriften und Kirchenväter
Liturgien
Pagane antike Quellen
Autorenregister
Sachregister
Register griechischer, hebräischer und aramäischer Begriffe und Wendungen
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Exegetische Studien
 9783161515125, 9783161508035

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Wissenschaftliche Untersuchungen zum Neuen Testament Herausgeber / Editor Jörg Frey (München) Mitherausgeber / Associate Editors Friedrich Avemarie (Marburg) Judith Gundry-Volf (New Haven, CT) Hans-Josef Klauck (Chicago, IL)

223

Otfried Hofius

Exegetische Studien

Mohr Siebeck

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Meinen Freunden

P. Ioannis Skiadaresis Michalis Chatzigiannis Christos Karakolis

Vorwort Der vorliegende Band vereinigt zwanzig Einzelstudien, von denen einige hier erstmals veröffentlicht werden. Die beiden den Band beschließenden Beiträge, die sich inhaltlich eng berühren und aus sachlichen Gründen gelegentlich auch überschneiden, machen mein Verständnis der neutestamentlichen Wissenschaft – ihres Charakters, ihrer Zielsetzung und ihrer Aufgaben – deutlich. Um einen wesentlichen Aspekt der in diesen Beiträgen erörterten Thematik geht es ebenfalls in dem Aufsatz über „Die Einzigartigkeit der Apostel Jesu Christi“. Dem Verlag und seinen Mitarbeitern – insbesondere Herrn Matthias Spitzner – danke ich herzlich für die sorgfältige Betreuung des Buches und Herrn Martin Fischer für die ansprechende Gestaltung der neu gesetzten Beiträge wie auch des gesamten Bandes. Ich widme das Buch in dankbarer Verbundenheit drei griechisch-orthodoxen Freunden, die einst in Tübingen ihr Postgraduierten-Studium absolviert haben und jetzt in Griechenland auf unterschiedliche Weise in der tätig sind: Michalis Chatzigiannis als Direktor der Griechischen Bibelgesellschaft, P. Ioannis Skiadaresis und Christos Karakolis als Neutestamentler an den Universitäten Thessaloniki bzw. Athen. Tübingen, 16. April 2008

Otfried Hofius

Inhalt Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . VII

Evangelien Die Allmacht des Sohnes Gottes und das Gebet des Glaubens. Erwägungen zu Thema und Aussage der Wundererzählung Mk 9,14–29 . .

3

„Er gibt den Geist ohne Maß“ Joh 3,34b . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 24 Die Auferweckung des Lazarus. Joh 11,1–44 als Zeugnis narrativer Christologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 28

Corpus Paulinum „Werke des Gesetzes“ Untersuchungen zu der paulinischen Rede von den

. . . . . . . . . 49

„Werke des Gesetzes“ – Zwei Nachträge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 89 Zu Römer 10,4:

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 95

Die Auferstehung der Toten als Heilsereignis. Zum Verständnis der Auferstehung in 1Kor 15 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 102 Die Auferstehung Christi und die Auferstehung der Toten. Erwägungen zu Gedankengang und Aussage von 1Kor 15,20–23 . . . . . . . . 115 „Gott war in Christus“. Sprachliche und theologische Erwägungen zu der Versöhnungsaussage 2Kor 5,19a . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 132

Zum Verständnis der Versöhnungsaussage 2Kor 5,19a bei den griechischen Kirchenvätern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 144

X

Inhalt

Das Wort von der Versöhnung und das Gesetz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 149 Widerstreit zwischen Fleisch und Geist? Erwägungen zu Gal 5,17 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 161

Erwägungen zu der Ordinationsaussage 1Tim 4,14 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 173

Theologie Die Einzigartigkeit der Apostel Jesu Christi . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 189 Gemeinschaft am Tisch des Herrn. Das Zeugnis des Neuen Testaments . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 203 Gemeindeleitung und Kirchenleitung nach dem Zeugnis des Neuen Testaments. Eine Skizze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 218

Septuaginta Zur Septuaginta-Übersetzung von Jes 52,13b . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 243 Der Septuaginta-Text von Daniel 7,13–14. Erwägungen zu seiner Gestalt und seiner Aussage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 246

Zum Verständnis neutestamentlicher Exegese Neutestamentliche Exegese in systematisch-theologischer Verantwortung. Erwägungen zu den Aufgaben einer theologischen Disziplin . . . . . . . . . . . 267 Die Bedeutung Hans Joachim Iwands für die Exegese des Neuen Testaments . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 282 Bibliographie Otfried Hofius . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 297 Nachweis der Erstveröffentlichungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 311

Inhalt

XI

Stellenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 315 Autorenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 350 Sachregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 356 Register griechischer, hebräischer und aramäischer Begriffe und Wendungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 363

Evangelien

[117]

Die Allmacht des Sohnes Gottes und das Gebet des Glaubens Erwägungen zu Thema und Aussage der Wundererzählung Mk 9,14–29

Christian Dietzfelbinger zum 80. Geburtstag

Zu den besonders eindrucksvollen Wundergeschichten der synoptischen Evangelien gehört ohne Zweifel die Erzählung von der Heilung des epileptischen Knaben Mk 9,14–29. Der exegetisch umstrittenen Frage, wie ihr Thema und ihre zentrale theologische Aussage zu bestimmen sind, sollen die folgenden Überlegungen gewidmet sein. Dabei gilt unser Interesse ausschließlich der im Markusevangelium vorliegenden Gestalt der Erzählung. Die höchst unterschiedlichen literarkritischen Analysen und überlieferungsgeschichtlichen bzw. redaktionsgeschichtlichen Rekonstruktionsversuche, zu denen der Text Anlaß gegeben hat, bleiben – nicht zuletzt wegen ihres überaus hypothetischen Charakters – außer Betracht1.

1

Als für die Diskussion repräsentativ seien die folgenden Arbeiten genannt, die z.T. Hinweise auf weitere Positionen enthalten: R. Bultmann, Die Geschichte der synoptischen Tradition (FRLANT 29), 19583 [199510], 225f; K. Kertelge, Die Wunder Jesu im Markusevangelium. Eine redaktionsgeschichtliche Untersuchung (StANT 23), 1970, 174ff; J. Roloff, Das Kerygma und der irdische Jesus. Historische Motive in den JesusErzählungen der Evangelien, 1970, 143ff; W. Schenk, Tradition und Redaktion in der Epileptiker-Perikope Mk 9,14–29 (ZNW 63, 1972, 76–94); L. Schenke, Die Wundererzählungen des Markusevangeliums (SBB 5), 1974, 314ff; D.-A. Koch, Die Bedeutung der Wundererzählungen für die Christologie des Markusevangeliums (BZNW 42), 1975, 114ff; G. Petzke, Die historische Frage nach den Wundertaten Jesu. Dargestellt am Beispiel des Exorzismus Mark. IX. 14–29 par (NTS 22, 1975/76, 180–204), 186ff. S. ferner auch W. Grundmann, Das Evangelium nach Markus (ThHK 2), 19808, 250ff; J. Gnilka, Das Evangelium nach Markus II: Mk 8,27–16,20 (EKK II/2), 19995, 44ff.

4

Evangelien

[118]

I Im Kontext des Markusevangeliums ist die Erzählung 9,14–29 unmittelbar mit dem Textkomplex 9,2–13 verbunden. Die Einleitung V. 14 spricht von den vier in 9,2 erwähnten Personen – Jesus, Petrus, Jakobus und Johannes – und schließt sich erzählerisch an die Erwähnung ihres Abstiegs vom Berg der Verklärung (9,9) an: »Als sie dann zu den [anderen] Jüngern zurückkamen, sahen sie eine große Volksmenge um diese versammelt und Schriftgelehrte, die mit ihnen diskutierten.«2 In einer deutlichen sachlichen Beziehung zu der Verklärungsgeschichte 9,2–8 steht dann die erstaunliche Schilderung von V. 15: »Und sobald die Menge ihn erblickte, gerieten alle in Erregung ( ), und sie liefen ihm entgegen und begrüßten ihn ehrfürchtig3.« Angesichts des sonstigen markinischen Sprachgebrauchs4 vermag es nicht zu überzeugen, wenn man an unsrer Stelle für das Verbum die Bedeutung »staunen« annimmt5 und mit ihm lediglich das Verwundern der Menge darüber ausgesagt findet, daß Jesus unerwartet6 oder gerade im rechten Augenblick7 erscheint. Ebensowenig wie diese offenkundige Unterbestimmung der Textaussage ist aber auch der Versuch haltbar, die »Erregung« der Volksmenge damit zu erklären, daß – analog zu dem in Ex 34,29f von Mose Berichteten – noch etwas von dem »Glanz« der Verklärung an Jesus wahrzunehmen ist8. Denn über einen Abglanz der Verklärung 2 Der Plural … dürfte als die ursprüngliche Lesart zu beurteilen sein; vgl. B. M. Metzger, A Textual Commentary on the Greek New Testament, 19942, 85. Die singularische Lesart … läßt sich als eine Angleichung an V. 15f erklären. – In der Übersetzung von V. 14a folge ich H. Menge, Das Neue Testament, 194911, 71. 3 Zur Übersetzung von in Mk 9,15 vgl. H. Windisch, Art. . (ThWNT I, 1933 = 1957, 494–500), 496,39ff. 4 Das Verbum begegnet im Neuen Testament einzig bei Markus – und zwar außer in 9,15 noch in 14,33 und 16,5f. 5 So W. Bauer, Griechisch-deutsches Wörterbuch zu den Schriften des Neuen Testaments und der übrigen urchristlichen Literatur, 19585, 476 bzw. W. Bauer / K. Aland / B. Aland, Griechisch-deutsches Wörterbuch zu den Schriften des Neuen Testaments und der frühchristlichen Literatur, 19886, 483f (jeweils s.v. ). 6 So z.B. E. P. Gould, A Critical and Exegetical Commentary on the Gospel according to St. Mark (ICC), Edinburgh 1896 = 19559, 167; V. Taylor, The Gospel according to St. Mark, London bzw. New York 19662, 396; Roloff (s. Anm. 1), 146. 7 In diesem Sinn z.B. B. Weiss, Die Evangelien des Markus und Lukas (KEK I/2), 19019, 143; Ders., Das Neue Testament I: Die vier Evangelien, 19052, 227; E. Klostermann, Das Markusevangelium (HNT 3), 19504, 90; E. Lohmeyer, Das Evangelium des Markus (KEK I/2), 19575(14), 185. 8 So z.B. J. A. Bengel, Gnomon Novi Testamenti. Editio octava stereotypa ed. P. Steudel (= Nachdruck der Ausgabe Tübingen 17733), 1891, 194; als möglich erwogen auch von: J. Wellhausen, Das Evangelium Marci, 19092, 73; J. Weiss / W. Bousset, Das Markus-Evangelium (in: SNT 1), 19173, 158; J. Schniewind, Das Evangelium nach Markus

[119]

Die Allmacht des Sohnes Gottes und das Gebet des Glaubens

5

auf dem Angesicht Jesu sagt Markus »nicht das Mindeste«9, und die in V. 15 geschilderte Situation ist insofern »eine völlig andere« als diejenige von Ex 34,29f, als die Volksmenge sich nicht etwa fürchtet, sondern Jesus entgegeneilt, um ihn ehrfürchtig zu begrüßen10. Darüber hinaus aber ist zu beachten, daß bereits in der Verklärungsgeschichte Mk 9,2–8 keineswegs eine Parallelität zwischen Mose und Christus ausgesagt wird, reden doch nach 9,4 Elia und Mose mit Jesus, wie von nach Ex 34,35 Mose mit Gott redet11. Kann das auffallende V. 15 mithin nicht damit erklärt werden, daß der Glanz der Verklärung noch auf dem Angesicht Jesu sichtbar ist, so enthält diese Deutung doch ein gewichtiges Wahrheitsmoment. Das Verbum bezeichnet in 9,15 eine menschliche Reaktion, die »zum Typischen … einer Epiphanieszene« gehört12, so daß die Erzählung durch das Geschilderte »geradezu den Charakter einer Epiphaniegeschichte« bekommt13: Jesus erscheint als der »Sohn Gottes«, der zuvor auf dem Berg vor den auserwählten Jüngern in seiner sonst verborgenen göttlichen offenbar zugeworden ist14. Dann aber liegt in der Notiz gleich ein Hinweis auf die einzigartige , die Jesus im Unterschied zu den – nicht zufällig in V. 14 erwähnten – Schriftgelehrten eignet (1,22.27) und die »von ihm ausgeht, bevor er nur spricht oder handelt«15. Von daher erklärt sich auch die ehrfürchtige Begrüßung, die in V. 15b beschrieben wird: 16 . (NTD 1) 19567, 125. Bereits Theophylakt weiß von Auslegern zu berichten, die diese Deutung vertreten: Enarratio in Evangelium Marci (PG 123, 487–682), 584f. 9 Klostermann (s. Anm. 7), 90; ebenso M. Dibelius, Die Formgeschichte des Evangeliums, hg. von G. Bornkamm, 19593, 78. 10 Roloff (s. Anm. 1), 146. 11 Die sprachliche Parallelität zwischen Ex 34,35 LXX ( [sc. , s. V. 34]) und Mk 9,4 ( ) ist unübersehbar. Es widerspricht dem klaren Wortlaut des Textes, wenn D. Lührmann, Das Markusevangelium (HNT 3), 1987, 156 zu 9,4 erklärt: »Die drei reden nun miteinander, Jesus ist also gleichberechtigt mit ihnen.« Jesus ist nach 9,2–8 gerade nicht Offenbarungsempfänger wie Mose und Elia, sondern der »geliebte Sohn«, der allein zu hören ist (V. 7f), und als solcher das göttliche Offenbarungswort selbst. Vgl. dazu H. Gese, Das Gesetz (in: Ders., Zur biblischen Theologie. Alttestamentliche Vorträge, 19893, 55–84), 81. 12 G. Bertram, Art. . (ThWNT III, 1938 = 1957, 3–7), 6,2f; s. auch aaO 6,5ff. 13 G. Bornkamm, . Eine Studie zum Markusevangelium (in: Ders., Geschichte und Glaube II [BEvTh 53], 1971, 21–36), 26; vgl. Koch (s. Anm. 1), 123ff; Grundmann (s. Anm. 1), 252. 14 Vgl. D. Trakatellis, Authority and Passion. Christological Aspects of the Gospel according to Mark, Brookline, Massachusetts 1987, 58f: »The person of Jesus radiates the presence of the ultramundane, the divine« (Hervorhebung von mir). 15 E. Schweizer, Das Evangelium nach Markus (NTD 1), 19897(17), 101. 16 Vgl. dazu Mk 10,17 sowie in LXX: Gen 18,2; 33,4; Ex 18,7.

6

Evangelien

[120]

Durch die Schilderung von V. 15 wird bereits deutlich signalisiert, daß im Zentrum der weiteren Erzählung die Person und das Handeln dessen stehen werden, den Gott selbst als seinen geliebten »Sohn« proklamiert hat (9,7b; vgl. 1,11b). Damit ist die Spur gewiesen, auf der die Exegese weiterzugehen hat, wenn sie die markinische Aussageintention in den Blick bekommen will.

II Der die Verse 16ff bestimmende Dialog wird dadurch eröffnet, daß Jesus die Volksmenge nach dem Grund des Disputs mit den Jüngern fragt (V. 16)17. Die Antwort gibt »einer aus der Menge« (V. 17f). Dieser hat die Jünger gebeten, seinen an schlimmer Besessenheit – d.h. an schwerer Epilepsie – leidenden Sohn durch die Austreibung des zu heilen, – »doch sie haben es nicht vermocht«. Auf den Bericht des Vaters reagiert Jesus mit dem Ausruf V. 19b: »O du ungläubiges Geschlecht! Wie lange soll ich bei euch sein? Wie lange soll ich euch ertragen?« M. Dibelius zählt diese Worte zu den markinischen Zeugnissen, die »den Wundertäter als Epiphanie Gottes erweisen« sollen, und er bemerkt dazu: »So spricht der Gott, der nur vorübergehend in Menschengestalt erschien, um alsbald in den Himmel zurückzukehren.«18 Man mag hier über die Formulierung streiten – unverkennbar sind jene Worte Jesu jedenfalls die Klage dessen, der seinem Ursprung und Wesen nach der himmlischen Welt angehört und sich angesichts des Unglaubens nach seiner wahren Heimat sehnt19. Das heißt: Die Klage Jesu kann nur auf dem Hintergrund der Präexistenzvorstellung verstanden werden, und sie setzt als solche den Gedanken voraus, daß der »Sohn Gottes« (9,7) lediglich für eine befristete Zeit als Mensch auf Erden weilen wird20. Die innere Beziehung der Klage zu der Verklärungsszene, in der Jesu wahres Wesen für einen Augenblick sichtbar wurde (9,2b.3), liegt auf der Hand. Zugleich aber wird auch der Zusammenhang zwischen der Klage und der Leidens17

Das V. 16a bezieht sich auf die Menge, von der in V. 15 in der 3. Person Plural die Rede war (constructio ad sensum), das V. 16b – demjenigen von V. 14 entsprechend – auf die Jünger. 18 Dibelius (s. Anm. 9), 92 bzw. 278. 19 Vgl. zu V. 19 insbesondere: Klostermann (s. Anm. 7), 91; G. Dehn, Der Gottessohn. Eine Einführung in das Evangelium des Markus (UCB 2), 19536, 181; Lohmeyer (s. Anm. 7), 186f; E. Haenchen, Der Weg Jesu. Eine Erklärung des Markus-Evangeliums und der kanonischen Parallelen (GLB), 19682, 320; W. Schmithals, Das Evangelium nach Markus. Kapitel 9,2–16,18 (ÖTK 2/2), 1979, 415. 20 L. Schenke, Das Markusevangelium (UB 405), 1988, 113. Zur Präexistenzchristologie des Markusevangeliums s. aaO 113ff.

[121]

Die Allmacht des Sohnes Gottes und das Gebet des Glaubens

7

ankündigung 9,12b sichtbar, den J. Schniewind zutreffend zur Sprache bringt: »Es sind die Züge des Leidens, die schon durch das irdische Leben hindurchgehen; und das ›Wie lange soll ich bei euch sein‹ wartet auf die Vollendung des Leidensweges.«21 Durch die Klage V. 19b wird die Wundererzählung so in den Horizont der Passion Jesu gerückt22. Zu fragen ist nun, wer genau mit dem »ungläubigen Geschlecht« gemeint ist und worin der von Jesus beklagte »Unglaube« liegt. In der Exegese werden unterschiedliche Antworten gegeben. Die einen beziehen die Klage dezidiert auf die Jünger Jesu, und sie sehen – darin im Konsens mit der Matthäus-Fassung unserer Erzählung (Mt 17,20) – in ihrem mangelnden Glauben an Gott die Ursache dafür, daß sie das erbetene Wunder nicht zu vollbringen vermochten 23. Andere denken bei dem »ungläubigen Geschlecht« an den Vater und an die Menge, zu der er gehört24, und wieder andere sowohl an die Jünger wie auch an die Menge mitsamt dem Vater25. Für die Deutung auf die Jünger könnte auf zwei weitere Texte des Markusevangeliums hingewiesen werden: In 4,40 tadelt Jesus den fehlenden Glauben der Jünger, in 8,17f ihr Unverständnis und ihr »verhärtetes Herz«. Ein Gegenargument liefert allerdings die Feststellung, daß der Ausdruck in der Reaktion auf die Zeichenforderung der Pharisäer 8,12 und in der scharfen Rede von »diesem ehebrecherischen und sündigen Geschlecht« 8,38 gezielt Menschen im Blick hat, die zu den Gegnern Jesu gehören26. Der Kontext des Markusevangeliums erlaubt somit kein zuversichtliches Urteil darüber, wer in 9,19b mit der gemeint ist. Sucht man die Antwort aus dem Wunderbericht selbst zu gewinnen, so spricht der bisherige Gang der Er21

Schniewind (s. Anm. 8), 125; s. ferner auch Dehn (s. Anm. 19), 181; Schenk (s. Anm. 1), 89; Petzke (s. Anm. 1), 197; K. Kertelge, Markusevangelium (NEB.NT 2), 1994, 92. 22 Zutreffend betont Koch (s. Anm. 1), 125: »Von der Epiphanie des Gottessohnes und der Manifestation seiner Wundermacht ist […] für Markus nur dann sachgemäß geredet, wenn dies in der Perspektive der Passion geschieht.« 23 So z.B. Gould (s. Anm. 6), 168; Weiss / Bousset (s. Anm. 8), 158; Roloff (s. Anm. 1), 147ff; Koch (s. Anm. 1), 121f; Th. Söding, Glaube bei Markus. Glaube an das Evangelium, Gebetsglaube und Wunderglaube im Kontext der markinischen Basileiatheologie und Christologie (SBB 12), 19872, 464ff; Lührmann (s. Anm. 11), 161. 24 So z.B. B. Weiss, Die Evangelien des Markus und Lukas (s. Anm. 7), 144; Ders., Das Neue Testament I (s. Anm. 7), 228; G. Wohlenberg, Das Evangelium nach Markus (KNT 2), 19303, 249; Haenchen (s. Anm. 19), 320; R. H. Gundry, Mark. A Commentary on His Apology for the Cross, Grand Rapids, Michigan 1993, 489. 25 So z.B. Wellhausen (s. Anm. 8), 73; Schniewind (s. Anm. 8), 125; Schweizer, (s. Anm. 15), 101. Grundmann (s. Anm. 1), 253 deutet die umfassend auf »das ganze zeitgenössische Geschlecht«. 26 Vgl. F. G. Lang, Sola gratia im Markusevangelium. Die Soteriologie des Markus nach 9,14–29 und 10,17–31 (in: J. Friedrich / W. Pöhlmann / P. Stuhlmacher [Hg.], Rechtfertigung [FS E. Käsemann], 1976, 321–337), 325.

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zählung dafür, daß in V. 19a ( ) mit dem Pronomen nicht die in dem Bericht des Vaters (V. 18b) erwähnten Jünger gemeint sind, sondern eben jene, auf die sich das Akkusativobjekt von V. 16a bezieht: also die Volksmenge, die durch den Vater repräsentiert wird27. Ein wichtiger Fingerzeig liegt aber vor allem darin, daß die Klage Jesu V. 19b ganz unmittelbar durch den – offensichtlich vor allem an den Vater gerichteten – Befehl V. 19c weitergeführt wird: »Bringt ihn her zu mir!« ( )28. Diesem Befehl zufolge soll jetzt geschehen, was der Vater in V. 17b zwar behauptet hat ( ), was er aber keineswegs realisiert hatte. Die Aussage von V. 17b (»ich habe meinen Sohn zu dir gebracht«) steht ja in einer unübersehbaren Diskrepanz zu derjenigen von V. 18b: »und ich habe deine Jünger gebeten, sie möchten ihn (sc. den Dämon) austreiben«. Zur Erklärung dieser Spannung genügt nicht einfach die Feststellung, daß der Vater zwar Jesus um Heilung bitten wollte, sich dann aber, weil er ihn nicht antraf, an die Jünger gewandt habe29. Die Diskrepanz zwischen V. 17b und V. 18b macht vielmehr auf einen theologisch relevanten Sachverhalt aufmerksam, den W. Schmithals zutreffend benannt hat: Der Unglaube des Vaters als des Repräsentanten der Volksmenge zeigt sich darin, daß er die Jünger gebeten hat, sie möchten den Dämon austreiben30. Eben damit hat er Menschen um Hilfe angerufen und »von den Ohnmächtigen« erwartet, »daß sie die Macht des Bösen besiegen«31. Die Worte »Wie lange soll ich bei euch sein? Wie lange soll ich euch ertragen?« gewinnen von daher über das bereits Gesagte hinaus noch einen weiteren Sinn: Jesus, der wahre und einzige Helfer, ist mitten unter den des Heils Bedürftigen gegenwär-

27 In den markinischen Wendungen, die hinsichtlich der syntaktischen Struktur der Einleitung V. 19a entsprechen, bezieht sich das Dativobjekt ( 10,51; 15,2 / 3,33 / 11,33) stets auf das unmittelbare Gegenüber dessen, der »antwortend« redet, nicht dagegen auf eine Person bzw. eine Gruppe von Personen, die in den voraufgehenden Worten erwähnt wurde. Vgl. ferner auch den Befund in 6,37; 7,28; 8,4.29; 10,3.24; 11,22; 12,34; 15,9.12. 28 Schmithals (s. Anm. 19), 417 legt mit Recht den Ton auf das Pronomen, wenn er bemerkt: »Das ›bringt ihn zu mir‹ […] kündigt die Wende an.« Daß in das enklitische Pronomen durchaus betont sein kann, zeigen vor allem Mt 3,14; 11,28; Joh 7,37, daneben aber auch Mk 10,14 parr und Lk 14,26. Vgl. außerdem in Joh 6,35.37b.44f.65; 7,37 den Wechsel von und innerhalb der handschriftlichen Überlieferung. 29 In sprachlicher Hinsicht ist zu beachten, daß der Aorist V. 17b keinesfalls die lediglich versuchte Handlung beschreiben kann. Wäre die Aussage beabsichtigt gewesen, daß der Vater seinen Sohn zu Jesus bringen wollte, so hätte dies zwingend die Wahl des Imperfekts ( ) erforderlich gemacht. 30 Schmithals (s. Anm. 19), 414ff. Schmithals’ richtige Beobachtung steht und fällt nicht mit seiner Gesamtinterpretation des Textes Mk 9,14–29, an die mancherlei kritische Fragen zu stellen sind. 31 Schmithals, aaO 414.

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tig, aber sie wenden sich nicht an ihn und rufen in ihrer Not nicht ihn um Hilfe an. Eben darin erweisen sie sich als ein »ungläubiges Geschlecht«.

III Als der Kranke auf den Befehl V. 19c hin zu Jesus gebracht wird, zeigt sich seine Besessenheit in ihrem ganzen Ausmaß (V. 20). Der Vater berichtet, daß sein Sohn »von Kindheit an« unter der Besessenheit leidet (V. 21b), und er beschreibt in Weiterführung der Schilderung von V. 17b.18a einige besonders erschreckende Phänomene seines Leidens (V. 22a). An diesen Bericht fügt er dann unmittelbar die Bitte V. 22b an: . Ehe diese Worte übersetzt werden können, muß geklärt werden, wie der Konditionalsatz verstanden sein will. Das Verständnis des Konditionalsatzes entscheidet sich an der grammatikalischen Beurteilung des Indefinitpronomens . Ganz überwiegend wird dieses als Akkusativobjekt zu angesehen, und dementsprechend lautet die Übersetzung: »wenn du etwas kannst« / »wenn du etwas vermagst«32. Der Satz wird dann als Ausdruck des Zweifels an Jesu Vermögen33 oder gar als eine Äußerung des Unglaubens34 beurteilt, wobei dieses Urteil mit dem Gedanken verbunden sein kann, daß das mangelnde Zutrauen die negative Erfahrung mit den Jüngern (V. 18b) voraussetze35. Nun ist die Deutung des als Akkusativobjekt zwar rein sprachlich gesehen unanfechtbar36, sie ist jedoch keineswegs die einzig mögliche syntaktische Bestimmung. Das kann vielmehr sehr wohl auch adverbialer 32 Dieses – von den meisten Auslegern vertretene – Verständnis findet sich bereits in der Vulgata: »si quid potes«. Es liegt auch da vor, wo etwa übersetzt wird: »wenn du kannst«, »wenn du vermagst«, »wenn du es kannst«. 33 So etwa Wohlenberg (s. Anm. 24), 250; F. Hauck, Das Evangelium des Markus (ThHK 2), 1931, 111; Klostermann (s. Anm. 7), 91; Taylor (s. Anm. 6), 399; G. Theissen, Urchristliche Wundergeschichten. Ein Beitrag zur formgeschichtlichen Erforschung der synoptischen Evangelien (StNT 8), 1974, 139f. 34 So z.B. Lührmann (s. Anm. 11), 161f. 35 S. etwa M.-J. Lagrange, Évangile selon Saint Marc (EtB), Paris 19295 = 1947, 240f; Petzke (s. Anm. 1), 192f; Haenchen (s. Anm. 19), 322; Grundmann (s. Anm. 1), 254; Gundry (s. Anm. 24), 490f; Gnilka (Anm. 1), 47. 36 Vgl. Acta Philippi 82 (ed. M. Bonnet, AAAp II/2, 1903 = 1959, 32,31): Philippus verlangt von dem in der jüdischen Gemeinde hoch angesehenen Aristarchos, seine Vollmacht durch die Auferweckung eines Toten unter Beweis zu stellen: (notiert bei R. Pesch, Das Markusevangelium II: Kommentar zu Kap. 8,27– 16,20 [HThK II/2], 19843, 92). Eine andere Nuance liegt vor in dem bei Bauer, Wörterbuch, 410 bzw. Bauer / Aland, Wörterbuch, 416 (jeweils s.v. 3) mitgeteilten Beleg Vita Aesopi I 21 (ed. A. Eberhard, Fabulae Romanenses I, 1872, 279,11). Die durch ein Vorzeichen verunsicherten Samier fordern Äsop auf:

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Akkusativ sein37, so daß der Konditionalsatz etwa zu übersetzen wäre: »wenn du irgend kannst«38 / »wenn es dir irgend möglich ist«39. Für dieses Verständnis spricht nachdrücklich der Tatbestand, daß die Worte Teil einer eindringlichen Bitte sind. Dazu nämlich gibt es einige lehrreiche Parallelen, die bereits J. J. Wettstein zusammengestellt hat40. Es handelt sich um Texte, in denen eine der Wendung entsprechende Formulierung erscheint, wobei deren Bedeutung nicht fraglich sein kann: Sie ist keineswegs Ausdruck des Zweifels oder des skeptischen Vorbehalts, sondern sie dient im Sinn eines emphatischen »wenn irgend möglich« der nachdrücklichen Unterstreichung einer Bitte. Die Belege, die Wettstein lediglich im griechischen Wortlaut mitteilt, werden – soweit ich sehe – in den neueren Kommentaren gänzlich ignoriert. In Anbetracht der Bedeutung, die ihnen für das angemessene Verständnis der Bitte Mk 9,22b zukommt, seien sie hier notiert. Ich deute jeweils so knapp wie möglich den Kontext an, biete eine Übersetzung des relevanten Textes und zitiere die entscheidenden griechischen Worte: 1. Sophokles, Aias 328f: Tekmessa, die Geliebte des Aias, schildert den salaminischen Seeleuten den schlimmen seelischen Zustand, in dem der Held nach seiner Wahnsinnstat in seinem Zelt sitzt (284–327). An den Bericht fügt sie unmittelbar die dringende Bitte an: »Und nun, ihr Freunde, – deshalb kam ich hier heraus – geht doch hinein und helft mir, wenn ihr irgend könnt« ( )41. 2. Xenophon, Hellenika VII 5,15: Angesichts der heranrückenden Feinde »baten die Mantineier die athenischen Reiter, ihnen, soweit es eben in ihren Kräften stehe, beizustehen« ( […] )42. 3. He= »Wenn du etwas [zur Deutung des Vorzeichens zu sagen] vermagst, so sage es der Bürgerschaft.« 37 Vgl. dazu E. Bornemann / E. Risch, Griechische Grammatik, 19782, § 174. – Bei F. Blass / A. Debrunner / F. Rehkopf, Grammatik des neutestamentlichen Griechisch, 199017 (= BDR), § 160,2 ist das Mk 9,22b nicht aufgeführt; es wäre dort nachzutragen. 38 So – als alternative Übersetzungsmöglichkeit – Bauer, Wörterbuch, 410 bzw. Bauer / Aland, Wörterbuch, 416f. 39 In diesem Sinn übersetzt die Peschitta (mdm dmskh nt). S. ferner etwa: H. J. Holtzmann, Das Evangelium nach Marcus (in: HC I/1), 19013, 152; B. Weiss, Die Evangelien des Markus und Lukas (s. Anm. 7), 145; Ders., Das Neue Testament I (s. Anm. 7), 228; A. Schlatter, Der Glaube im Neuen Testament, 19274 = 19635, 128f; Schniewind (s. Anm. 8), 124; Schweizer (s. Anm. 15), 101. Daß mit dieser Übersetzung nicht eo ipso auch eine angemessene Interpretation verbunden ist, zeigt sich exemplarisch bei B. Weiß (ebd.), Schlatter (aaO 129) und Schniewind (aaO 125). 40 J. J. Wettstein, Novum Testamentum Graecum I, 1752 = 1962, 598f. 41 Die Stellung des erklärt sich aus metrischen Gründen. Übersetzung: Sophokles, Tragödien und Fragmente. Griechisch und deutsch herausgegeben und übersetzt von W. Willige, überarbeitet von K. Bayer (TuscBü), 1966, 83. 42 Übersetzung: Xenophon, Hellenika. Griechisch-deutsch ed. G. Strasburger (TuscBü), 1970, 635.

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liodor, Aithiopika I 19,2: Die von Räubern Gefangenen »baten« den Gefangenenwärter Knemon »inständig, ihnen nach Kräften beizustehen« ( […] 43 ) . 4. Dion Chrysostomos, Logoi 61,3: Im Blick auf das, was Homer in der Ilias (1,8–21) von Chryses, dem Priester des Apollon, berichtet, wirft Dion die folgende Frage auf: »Was müssen wir annehmen? Daß Chryses ohne den Willen der Tochter ins Lager gekommen ist […] und die Menge samt den Königen anflehte, ihm seine Tochter freizugeben, oder umgekehrt, daß die Tochter den Vater gebeten hatte, ihr, wenn irgend möglich, zu helfen?« ([…] )44. – Zu vergleichen ist auch Homer, Ilias 1,393, wo die Formulierung erscheint: Achilleus berichtet seiner Mutter Thetis von der Wegnahme der Briseïs durch Agamemnon (1,365–392), und er bittet sie dann inständig um ihre Fürsprache bei Zeus (1,393ff). Diese seine Bitte beginnt mit den Worten: »Doch du, wenn du irgend kannst, nimm dich deines Sohnes an« ( )45. Daß den vier Belegen, in denen das Indefinitpronomen jeweils als adverbialer Akkusativ zu bestimmen ist46, die Worte des Vaters Mk 9,22b an die Seite zu stellen sind, kann keinem Zweifel unterliegen. Wie bei dem aus Sophokles’ Aias mitgeteilten Text – und ebenfalls bei dem zusätzlich angeführten Ilias-Zitat – geht der Bericht über die Not (Mk 9,21b.22a) ganz unmittelbar in die durch eingeleitete dringliche Bitte über47: »Nun aber, wenn du irgend vermagst48, habe Erbarmen mit uns und hilf uns!« Den -Sätzen in den zitierten Texten entsprechend unterstreichen die Worte »wenn du irgend vermagst« aufs nachdrücklichste die Bitte um Hilfe. Sie sind dagegen keineswegs Ausdruck des Zweifels oder 43 Zur Übersetzung vgl. Heliodor, Aithiopika. Die Abenteuer der schönen Chariklea. Ein griechischer Liebesroman. Übertragen von R. Reymer (BAW), 1950, 28. 44 Übersetzung: Dion Chrysostomos, Sämtliche Reden. Eingeleitet, übersetzt und erläutert von W. Elliger (BAW), 676. 45 Übersetzung von mir. Wettstein (s. Anm. 40), 598 zitiert den Vers in der Fassung: (»[…] nimm dich des tapferen Sohnes an«). 46 Auf zwei weitere Belege, bei denen es sich allerdings nicht um Bitten handelt, sei anmerkungsweise hingewiesen (Übersetzungen von mir): 1. Wettstein (ebd.) führt Thukydides, Historiae VI 25,2 an: Ein Athener verlangt mit Nachdruck von Nikias die Bereitstellung einer angemessenen Streitmacht, darunter »aus Athen und den Bundesstädten zum mindesten 5000 Hopliten, wenn sie aber irgend könnten ( ), noch mehr«. 2. Bauer (Wörterbuch, 410) bzw. Bauer / Aland (Wörterbuch, 417) verweisen auf Aelius Aristides, Orationes 48,1 (ed. Keil) = 24 (ed. Dindorf), wo der Verfasser der bemerkt: »Wir wollen auch die weiter zurückliegenden Ereignisse in Erinnerung rufen, soweit wir irgend vermögen ( ).« 47 Zu als Überleitung von dem Bericht über die Notlage zur Bitte vgl. noch Mt 9,18. 48 Oder (im Blick auf die Paronomasie / V. 23b): »wenn es dir irgend möglich ist«.

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des Unglaubens. Indem der Vater Jesus um sein Erbarmen und seine Hilfe bittet, klammert er sich an die letzte Hoffnung, die ihm noch geblieben ist. Ausschließlich als ein Ruf aus der Tiefe äußerster Not wollen seine Worte verstanden sein, auch wenn sie aus dem Munde eines Mannes kommen, der noch zu der (V. 19b) gehört und noch nicht erkannt hat, wer der um Hilfe Angerufene in Wahrheit ist.

IV Die Bitte des Vaters V. 22b veranlaßt Jesus zu der Antwort V. 23b: . Der Artikel leitet hier das Zitat dessen ein, was der Vater soeben gesagt hat: »was das › ‹ betrifft«49. Wenn in dem Zitat nicht auch das aus V. 22b wiederholt wird, so darf dies als Bestätigung dafür gelten, daß das Indefinitpronomen als adverbialer Akkusativ gelesen werden muß. In V. 23b wird nicht etwa einem einschränkenden (»etwas«) ein ganz umfassendes (»alles«) entgegengesetzt50, sondern der -Satz als ganzer wird als unangemessen bezeichnet. Seine Unangemessenheit liegt allerdings nicht darin, daß die Worte »wenn du irgend vermagst« Ausdruck des Zweifels wären; unangemessen ist er vielmehr deshalb, weil ganz grundsätzlich gilt, was der Vater hören und lernen muß: . Was aber heißt das? Wendet man sich mit dieser Frage an die neueren Auslegungen, so sind im wesentlichen zwei Deutungen zu verzeichnen, die in einem fundamentalen Punkt miteinander übereinstimmen: Beide erblicken in dem Dativ das logische Subjekt des Satzes [sc. ], finden also in V. 23b gesagt: »Alles ist dem möglich, der glaubt« bzw. »Der Glaubende vermag alles«. Auf der Grundlage dieser syntaktischen Entscheidung begreift die erste Deutung die Worte als eine Aussage über Jesus selbst. So heißt es bei J. Schniewind: »Einzigartig […] ist in unserer Geschichte, und darin steht sie ganz für sich, daß hier Jesu eigenes Verhalten Glauben heißt. Nur so nämlich kann V. 23 verstanden werden.«51 Und: Jesu Vollmacht – »Gottes Macht und Kraft, die in Jesus wirkt« – »beruht darin, daß Jesus der Glaubende ist«52. Ausleger, die V. 23b in diesem Sinn interpretieren, können den glaubenden Jesus dann zugleich als den gezeichnet sehen, der für die christlichen Wundertäter 53 49

Vgl. dazu BDR § 267 Anm. 2 (auch § 160 Anm. 2); M. Zerwick, Analysis philologica Novi Testamenti Graeci (SPIB 107), Rom 19844, 103. 50 Gegen Bengel (s. Anm. 8), 195; Gundry (s. Anm. 24), 490. 51 Schniewind (s. Anm. 8), 125. 52 Ebd. 53 A. Fridrichsen, Le problème du miracle dans le christianisme primitif (EHPhR 12), 1925, 54.

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oder für die christliche Gemeinde überhaupt Urbild und Vorbild des Glaubens ist54. Die Richtigkeit der durch Schniewind repräsentierten Auslegung wird von den Vertretern der zweiten Deutung entschieden bestritten – und zwar zumeist mit dem Argument, daß in den Evangelien sonst nirgends vom Glauben Jesu gesprochen wird55 und daß der Vater dem Ruf V. 24b zufolge den Dativ eindeutig auf sich selbst bezogen hat. Die Worte werden dementsprechend streng als eine an den Vater gerichtete Aufforderung bzw. Ermutigung zum Glauben verstanden56. Nach der Meinung einiger Ausleger wollen diese Worte dabei lediglich besagen, daß der Glaubende alles »erlangen« kann, was er von Gott erbittet57. Andere Ausleger hingegen sehen dem Glauben in unerhörter Weise ein Vermögen zuerkannt, »das keine Grenzen kennt«58: Jesus spreche von der »omnipotence of faith, which places at man’s disposition the Divine power«59, – von der »Allmacht« des Glaubens60, die damit gegeben sei, daß der Glaubende an der Allmacht Gottes »partizipiere«61. Die jetzt nur knapp skizzierten Deutungen sind nach meinem Urteil beide als unzutreffend zu bezeichnen – und zwar deshalb, weil sie dem Duktus der Erzählung nicht gerecht werden. Achtet man nämlich auf die Sprachbewegung des Textes, so ergeben sich zwei grundlegende Beobachtungen: 1. Die Worte stehen sprachlich wie sachlich in Relation zu dem unmittelbar vorausgehenden und damit zu der Bitte des Vaters von V. 22b, die Jesus auf sein »Vermögen« angesprochen hatte. 2. Dem Dativ korrespondiert sprachlich wie sachlich das von V. 24b, mit dem der – zuvor der zugehörige – Vater auf das Wort Jesu V. 23b reagiert ( ). Aus den beiden Beobachtungen folgt zwingend, daß der Sinn 54

So z.B. Lohmeyer (s. Anm. 7), 188ff; Grundmann (s. Anm. 1), 254f; Pesch (s. Anm. 36), 92f; Lührmann (s. Anm. 11), 161ff; Kertelge, Markusevangelium (s. Anm. 21), 92; Gnilka (s. Anm. 1), 48. 50; vgl. auch G. Ebeling, Jesus und Glaube (in: Ders., Wort und Glaube, 19673, 203–254), 240f. 55 Dieses Urteil ist durchaus zutreffend! Auch Mk 11,23 impliziert im Kontext der Verse 11,20–25 keineswegs eine Aussage über den Glauben Jesu; s. dazu Roloff (s. Anm. 1), 166ff. 56 S. außer den in den folgenden Anmerkungen Genannten insbesondere Lang (s. Anm. 26), 322ff. 57 In diesem Sinn z.B. B. Weiss, Die Evangelien des Markus und Lukas (s. Anm. 7), 146; Ders., Das Neue Testament I (s. Anm. 7), 228; Klostermann (s. Anm. 7), 91; Dehn (s. Anm. 19), 181f; Schlatter, Der Glaube im Neuen Testament (s. Anm. 39), 129 (zustimmend zitiert bei Roloff [s. Anm. 1], 151). 58 G. Bornkamm, Jesus von Nazareth (UB 19), 198313, 116. 59 Gould (s. Anm. 6), 169. 60 Schmithals (s. Anm. 19), 418. 61 G. Barth, Art. . (EWNT III, 19922, 216–231), 223; vgl. Theissen (s. Anm. 33), 140; Schmithals, aaO 420; Pesch (s. Anm. 36), 92.

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des V. 23b notwendig verfehlt wird, wenn man in dem Dativ das logische Subjekt des elliptischen Satzes benannt sieht. Bei ist vielmehr einzig das »Vermögen« Jesu, bei einzig der »Glaube« des Vaters im Blick. Was nun die Worte anlangt, so darf nicht übersehen werden, daß es sich hier um eine geprägte Formulierung handelt, die von Gottes Vermögen – von seiner Allmacht – spricht62. Nach der Überzeugung des Evangelisten aber gilt, was bereits in mehreren Wunderberichten 63 deutlich geworden ist: Gottes Vermögen ist zugleich das Vermögen des »geliebten Sohnes«, dessen verborgene auf dem Berg der Verklärung sichtbar wurde. Die Worte verweisen mithin auf Jesu göttliche . Der Erweis dieser wird dem zugesagt, der glaubt. Die Worte sind dementsprechend als ein Dativus commodi zu beurteilen (»für den, der glaubt«, »dem zugute, der glaubt«). »Glaube« meint dabei – wie auch sonst in den Wundererzählungen des Markusevangeliums – das feste Zutrauen zu Jesus und seiner rettenden Macht64. Mit den soeben vorgetragenen Überlegungen wird eine Deutung des V. 23b bestätigt, die bereits von älteren Auslegern vertreten worden ist. So heißt es bei J. Calvin: »Ohne Zweifel hat Christus hier gelehrt, daß ihm die Fülle aller Güter vom Vater übergeben sei und daß man von ihm allein jegliche Art von Hilfe ebenso erwarten dürfe wie aus der Hand Gottes selbst, – so, als hätte er gesagt: Habe nur Vertrauen, und du wirst erlangen, worum du bittest.«65 Calvin hat zwar das an den Vater des Kranken gerichtete Wort zu einer grundsätzlichen »Lehre« ausgeweitet, die Formulierung läßt aber deutlich genug erkennen, daß er in seiner Exegese die Worte auf Jesus bezogen und den Dativ als einen impliziten Appell an den Vater beurteilt hat. Die gleiche syntaktische Analyse setzt Th. Beza voraus, nach dessen Auslegung Jesus erklärt, »daß es nichts gebe, was er nicht um dessentwillen tun könne und tun wolle, der seinen Worten Glauben geschenkt hat«66. Wie diese Auslegung zeigt, hat Beza in 62

Richtig bemerkt Theissen, ebd.: » ist göttliches Attribut im strengen Sinn.« S. dazu Mk 10,27 par Mt 19,26; Mk 14,36; Philo, opif 46; virt 26 sowie ferner auch Gen 18,14 LXX; Hi 10,13; 42,2 LXX; Lk 1,37; Herm vis IV 2,6; mand XII 6,3; Philo, Abr 268. Zu entsprechenden Aussagen bei paganen Autoren s. etwa Jamblichos, Pythagoras XXVIII 139.148 sowie zur Sache R. M. Grant, Miracles and Natural Law in GraecoRoman and Early Christian Thought, Amsterdam 1952, 127–134. 63 Mk 1,40–42; 2,1–12; 4,35–41; 5,21–43; 6,45–52; 7,31–37; 8,1–9. 64 S. dazu Mk 2,5; 5,34.36; 10,52; vgl. auch 4,40. 65 J. Calvin, Commentarius in Harmoniam Evangelicam (CR LXXIII), 1891, 495: »Non dubium est, quin Christus sibi a patre bonorum omnium plenitudinem datam esse docuerit, nec secus sperandum esse a se uno quodvis auxilii genus quam ex ipsa Dei manu, ac si dixisset, Tantum confide, et impetrabis.« 66 Th. Beza, Testamentum Novum, 15884, I 181: »nihil esse quod ipse non possit ac velit eius causa, qui ipsius verbis fidem habuerit.«

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einen Dativus commodi gesehen67. In den neueren Kommentaren findet sich eine entsprechende Deutung bei R. H. Gundry. Er übersetzt: »All things [are] able [to be done] for the one who believes«, und er bemerkt dazu: »The text […] says that there is nothing that cannot be done for a person of faith, and the point of the story lies in Jesus’ power as highlighted by the disciples’ weakness.«68 Der Satz V. 23b, der die Unangemessenheit des von dem Vater geäußerten aufdeckt, läßt sich jetzt so umschreiben: »Was das ›wenn du vermagst‹ anlangt [, so wisse]: Alles ist [mir] möglich – dem zugute, der glaubt.« Da mit diesen Worten im Blick auf die in V. 22b geäußerte Bitte um Hilfe ganz gezielt die Frage nach dem Glauben des Vaters gestellt wird, ist konkret gemeint: »Alles ist mir möglich – dir zugute, wenn du glaubst.« Dabei entspricht der Aussagesatz in der Sache dem Imperativ von 5,36b.

V In einer unmittelbaren Reaktion auf das Wort Jesu V. 23b ruft der Vater aus: (V. 24b). Die Unmittelbarkeit wird sprachlich durch die asyndetische Anfügung des V. 24 angezeigt, und die nochmals gesteigerte Eindringlichkeit des Hilferufs kommt in der Wahl des Verbums (V. 24a) zum Ausdruck, das häufig in der Septuaginta-Übersetzung der Klagepsalmen begegnet69 und in dem dort vorliegenden Sinn verwendet ist70. Die Worte werden nicht selten als eine grundsätzliche Aussage über die »Struktur« des Glaubens angesehen71. Sie geben entsprechend zu tiefen theologischen Interpretationen Anlaß, für die drei Beispiele angeführt seien. W. Grundmann bemerkt in seiner Auslegung: »Das Wort Jesu 67

So auch ausdrücklich Bengel, Gnomon (s. Anm. 8), 195, der mit dem Nominalsatz die »omnipotentia divina« bezeichnet sieht und die Worte auf die »fides hominis« bezieht. Ob Bengel den Nominalsatz als eine Aussage über Jesus oder als eine solche über Gott verstanden hat, läßt sich nicht entscheiden. 68 Gundry (s. Anm. 24), 499 (vgl. 490). – Daß die Worte keineswegs das logische Subjekt zu bilden, hat auch Söding (s. Anm. 23), 471. 475 richtig gesehen. Er interpretiert V. 23b allerdings von Mk 10,27 her und findet dementsprechend ausgesagt: Für den Glaubenden ist bei Gott »alles möglich«. 69 S. dazu 3,5; 4,4; 16,6; 17,7; 21,3.6.25; 26,7; 27,1; 30,23 u.a. 70 Ein Hinweis auf Inspiriertheit, die durch Jesu Wort V. 23b gewirkt wäre, liegt in dem Verbum dagegen nicht. Anders z.B. Lohmeyer (s. Anm. 7), 188f; Pesch (s. Anm. 36), 93; Grundmann (s. Anm. 1), 255. 71 S. exemplarisch Koch (s. Anm. 1), 122 Anm. 40: »Mit kulminiert diese Darstellung in einer Aussage über die Struktur des Glaubens, die weit über den Anlaß des Gesprächs hinausgreift.«

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schafft im Vater den Glauben und deckt ihm seinen Unglauben auf, und so kommt es zum Aufschreien des Vaters. Er bekennt seinen Glauben, nicht als seine Leistung, sondern als unter dem Wort Jesu in ihm erschaffen, und er gesteht seinen Unglauben, mit dem er seinem Geschlecht verhaftet ist, und bittet um Hilfe für seinen Unglauben. Zwischen Glauben und Unglauben wird er hin und her gerissen. Seine Bitte kann daher so verstanden werden: Hilf mir los von meinem Unglauben, oder: Hilf meinem Unglauben auf (zum Glauben).«72 E. Schweizer kommentiert: »Wer zu sagen wagt ›ich glaube‹, der muß im gleichen Atemzug sagen, daß er das nur kann, weil er darauf traut, daß Gott ihm immer neu zum Glauben verhilft, daß also gar nicht ›ich‹, sondern Gott letztlich Subjekt solchen Glaubens sein kann. Einzig im Wissen um den eigenen Unglauben kann man das Gottesgeschenk des Glaubens froh und getrost bekennen; denn nur wenn er auf Gottes Tat ruht, ist er gewiß. So ist Glauben jenes unbedingte Offensein auf Gottes Tun hin, jenes stete Warten, das im Blick auf sich selbst immer nur das Nichtglauben feststellen könnte, im Blick auf Gott aber sehr fröhlich und gewiß erkennt, daß er dieses Nichtglauben immer wieder heilt.« 73 Bei W. Schmithals heißt es unter anderem: »Glaube ist keine religiöse Leistung des Menschen, sondern Preisgabe aller Leistungen vor Gott. Der Glaubende will schlechterdings, daß Gott Gott sei und nicht der Mensch. Darum spricht der Vater zugleich: ›Hilf mir in meinem Unglauben.‹ Sein Glaube zeigt sich gerade darin, daß er bei sich, dem ›natürlichen‹ Menschen, nur den Unglauben sieht und sucht, also den Willen, Gott nicht Gott sein zu lassen, und darum den Glauben als Geschenk erbittet und empfängt. Weil der Mensch das Große vollbringt, das ihn rettet, weil er glaubt, bleibt er der Ohnmächtige, der nichts von sich aus kann, erst recht nicht – glauben.«74 So eindrucksvoll die zitierten Voten sind, sie gehen doch weit über das hinaus, was in der Erzählung tatsächlich gesagt wird75. Daß der Vater seinen Glauben Jesus verdankt bzw. daß sein Glaube durch Jesu Wort gewirkt wird76, läßt sich dem Text nicht entnehmen, sondern wird in ihn hineingelesen; und auch von dem Glauben als einer »unmöglichen Möglichkeit«77, von der »ständige[n] Bewegung vom Unglauben hin zum Glauben«78 72

Grundmann (s. Anm. 1), 255. Schweizer (s. Anm. 15), 102. 74 Schmithals (s. Anm. 19), 419; s. auch die weiteren Darlegungen aaO 419f. 75 Gleiches gilt etwa für die Auslegung bei Calvin (s. Anm. 65), 495; Lohmeyer (s. Anm. 7), 188ff; Dehn (s. Anm. 19), 182; Roloff (s. Anm. 1), 150f. 158; Söding (s. Anm. 23), 476ff. 480ff. 76 So z.B. auch Roloff, ebd.; Kertelge, Die Wunder Jesu im Markusevangelium (s. Anm. 1), 178; Lang (s. Anm. 26), 326; Schmithals (s. Anm. 19), 420; Pesch (s. Anm. 36), 93. 77 Roloff, aaO 158. 78 Barth (s. Anm. 61), 223; vgl. Ders., Glaube und Zweifel in den synoptischen Evangelien (ZThK 72, 1975, 269–292), 281f: Die Antwort des Vaters V. 24b zeigt, »daß es Glau73

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oder von der »Paradoxie von Glaube und Unglaube«79 ist in dem Satz, wenn man ihn unbefangen betrachtet, nicht die Rede. Jene Auslegungen beruhen letztlich auf einer Überinterpretation der Worte , die mit dem Verzicht auf deren genaue sprachliche Analyse Hand in Hand geht. Die wörtliche Übersetzung von V. 24b (»Ich glaube, hilf meinem Unglauben!«) bietet aber noch keineswegs eine hinreichende Basis für die angemessene Exegese jener Worte. Die sprachliche Analyse lehrt, daß einige ältere Ausleger80 mit Grund einer Deutung widersprochen haben, die in den Worten die Bitte ausgesprochen findet: »Hilf meinem Unglauben ab!«, »Hilf mir zum Glauben!« oder »Stärke meinen schwachen Glauben!«81 Beachtet man nämlich den Kontext der Erzählung, so legt sich aufgrund zweier gewichtiger Einsichten eine Interpretation nahe, die den theologischen Akzent der Bitte entschieden anders bestimmt. Die erste Einsicht betrifft die Formulierung insgesamt. Da das Verbum normalerweise nicht mit dem Dativ eines Abstraktums, sondern – wie in V. 22b – mit dem Dativ der Person verbunden wird, sind die Worte als eine Metonymie (abstractum pro con82 bzw. creto) zu beurteilen: Sie stehen für 83 84 , besagen also: »Hilf mir, dem Ungläubigen!« Zwei sprachlich vergleichbare Metonymien können dieses Urteil bestätigen. In Röm 8,26a ist analog zu der in Mk 9,24b zu verzeichnenden Konstruktion das Verbum (»beistehen«85) mit dem Dativ eines Abstraktbegriffs verbunden: – »der Geist steht unserer Schwachheit bei«. Worin die »Schwachheit« liegt, sagt sogleich der folgende Satz (V. 26b): »Denn was wir beten sollen, wie es nötig ist, das wissen wir nicht.« Dieben immer nur in der Angefochtenheit durch den Unglauben gibt, nur als ein Laufen vom Unglauben zum Glauben«. 79 So Bornkamm, Jesus von Nazareth (s. Anm. 58), 116. 80 So z.B. Gould (s. Anm. 6), 169; B. Weiss, Die Evangelien des Markus und Lukas (s. Anm. 7), 146 Anm. 1; Lagrange (s. Anm. 35), 241. 81 Im Sinne der ersten beiden Formulierungen deuten neben Grundmann (s. das Zitat bei Anm. 72) etwa: Bengel (s. Anm. 8), 195 (als eine Deutungsmöglichkeit); Holtzmann (s. Anm. 39), 152; Weiss / Bousset (s. Anm. 8), 159; Taylor (s. Anm. 6), 399; Lührmann (s. Anm. 11), 162; Gundry (s. Anm. 24), 491; Kertelge, Markusevangelium (s. Anm. 21), 92; Gnilka (s. Anm. 1), 48. Das zuletzt genannte Verständnis liegt da vor, wo Bibelausgaben – wie z.B. das Novum Testamentum Graece edd. E. Nestle / K. Aland – Lk 17,5 als Parallele angeben. 82 So Bauer, Wörterbuch, 286 bzw. Bauer / Aland, Wörterbuch, 288 (jeweils s.v. 2). 83 Vgl. Lagrange (s. Anm. 35), 241 mit dem Hinweis auf H. B. Swete und andere ältere Ausleger. 84 Haenchen (s. Anm. 19), 322. 85 Vgl. Lk 10,40; Ex 18,22 LXX; 88,22 (dort jeweils mit dem Dativ der Person).

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se »Schwachheit« aber zeichnet nach Paulus’ Meinung die Christen beständig. Sie wird durch den Geist Gottes weder aufgehoben noch gemildert86, sondern angesichts ihrer tritt der Geist »mit unaussprechlichem Seufzen« für die Christen ein (V. 26c). Hält man sich das vor Augen, so ist evident, was V. 26a meint: »Der Geist steht uns, die wir schwach sind, bei.« In Jdt 6,19 wird berichtet, daß die von den Assyrern bedrohten Israeliten Gott anflehen: . Die Worte »Erbarme dich über die Erniedrigung unsres Volkes!« besagen selbstverständlich: »Erbarme dich über unser erniedrigtes Volk!« bzw. »Erbarme dich über uns, dein erniedrigtes Volk!« Sowohl an den beiden zum Vergleich herangezogenen Stellen Röm 8,26a und Jdt 6,19 wie auch in Mk 9,24b dient die Metonymie dazu, den negativen Zustand, von dem jeweils die Rede ist, mit Nachdruck hervorzuheben87. Der Beobachtung, daß wir in der Bitte V. 24b eine Metonymie vor uns haben, tritt eine zweite Einsicht an die Seite, die den Imperativ betrifft. Für sein Verständnis ist von Belang, daß der Ruf des Vaters die unmittelbare Antwort auf Jesu Wort V. 23b ist. Die Wendung , die aufgrund ihrer konkreten Ausrichtung mit den Worten »dir, wenn du glaubst« wiederzugeben war, nimmt der Vater mit seinem auf, und dem , das seinerseits auf das V. 22b bezogen ist, korrespondiert der Imperativ . Die mit ihm artikulierte Bitte ist demnach nicht anders als das von V. 22b die Bitte um die Hilfe in der konkreten Notsituation. Der Ruf kann mithin nur bedeuten: »Help me out of my trouble in spite of any unbelief that you may find in me«88 – oder: »Hilf mir, obwohl ich bislang zu der gehöre!« Auch in V. 24b wird also die Bitte um die Heilung des besessenen Sohnes laut. Im Unterschied zu V. 22b ist sie jetzt allerdings die Äußerung dessen, der sich – erstmals den Weg zum Glauben findend – darauf verläßt, daß Jesus »alles möglich« ist89. Das aber

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Luthers bekannte Übersetzung »der Geist hilft unsrer Schwachheit auf« ist also nicht korrekt. 87 Vgl. auch Mt 8,3: Die Worte bedeuten, wie nicht zuletzt durch V. 2f bestätigt wird: »und sogleich wurde er, der Aussätzige, gereinigt«. 88 Gould (s. Anm. 6), 169f. Ähnlich: B. Weiss, Die Evangelien des Markus und Lukas (s. Anm. 7), 146 mit Anm. 1; Lagrange (s. Anm. 35), 241; A. Schlatter, Markus. Der Evangelist für die Griechen, 1935 = 19842, 170; Ders., Der Glaube im Neuen Testament (s. Anm. 39), 129; Klostermann (s. Anm. 7), 92; Haenchen (s. Anm. 19), 322. 89 Wird dieser Wandel sprachlich dadurch signalisiert, daß der Imperativ des Aorists ( V. 22b) jetzt durch den Imperativ des Präsens ( ) ersetzt ist? Vgl. den Imperativ des Präsens in Mt 15,25 ( ) sowie die Erwägungen bei S. E. Porter, Verbal Aspect in the Greek of the New Testament, with Reference to Tense and Mood (SBG 1), New York – Bern – Frankfurt am Main – Paris 1989, 350.

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heißt: Der Vater erfleht die Hilfe Jesu, wie man Gott um Hilfe anruft, und er tut das in dem Wissen, daß er diese Hilfe in gar keiner Weise verdient hat. Daß die von Jesus gewährte Hilfe in der Tat göttliche Hilfe ist, das zeigt dann der Bericht über den Vollzug der Heilung (V. 25–27). Nicht zufällig erscheint in dem Machtwort V. 25b ( ) das betonte »herrscherliche« , das auf die einzigartige hinweist, die Jesus – im Unterschied nicht nur zu den Schriftgelehrten, sondern auch zu den Jüngern – eignet90. Die Schilderung V. 26b.27 bestätigt und unterstreicht das nicht zuletzt durch diejenigen Züge, die eigentlich zu dem Bericht über eine Totenerweckung gehören. Die meisten Zeugen der Austreibung des Dämons behaupten von dem »wie tot« daliegenden Knaben: »Er ist gestorben« (V. 26b) – genau so, wie dies nach Mk 5,35 von der Tochter des Synagogenvorstehers Jairus gesagt worden war. Und wenn dann in V. 27 berichtet wird: »Jesus aber ergriff seine Hand und richtete ihn auf – und er stand auf«, so springt die Parallelität zu der Totenerweckung Mk 5,41f ganz unmittelbar in die Augen. Ausgesagt ist damit, daß hier der durch sein Machtwort das Wunder der Heilung vollzieht und den Besessenen für immer von dem sein Leben zerstörenden Dämon befreit, der die Macht über den Tod hat – eine Macht, die nach alttestamentlichem und frühjüdischem Denken einzig und allein Gott eignet.

VI Die Erzählung schließt in V. 28f mit dem Bericht über eine im Hause stattfindende Jüngerbelehrung. Diese wird von nicht wenigen Auslegern als eine Anweisung für die exorzistische Praxis der nachösterlichen Gemeinde angesehen, deren Aussageintention etwa so paraphrasiert werden kann: »Soll der Exorzist nicht in die gleiche Lage kommen wie die Jünger in der Geschichte, so ist es nötig, daß er den dämonischen Mächten, die hinter solchen Krankheiten stehen, nicht im Vertrauen auf die eigene Macht begegnet, sondern sich im Gebet ganz auf die Macht Gottes stellt.«91 Am Ende der Erzählung stände demnach die Erklärung, daß Dämonenaustreibung nur durch das Gebet zu Gott erfolgen kann, das Ausdruck des Glaubens an die Allmacht Gottes ist92. Eine hinreichende Begründung für die referierte These sehe ich in der Literatur nirgends gegeben. Entsprechende Erwägungen wären sicherlich dann ange90

Von dem »herrscherlichen« Ich spricht Lohmeyer (s. Anm. 7), 189. Roloff (s. Anm. 1), 149. 92 S. dazu z.B. Grundmann (s. Anm. 1), 256; Pesch (s. Anm. 36), 96f; Söding (s. Anm. 23), 468ff; Lührmann (s. Anm. 11), 162; Kertelge, Markusevangelium (s. Anm. 21), 93; Gnilka (s. Anm. 1), 45f. 49. 91

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zeigt, wenn die Verse 28f nicht befriedigend als ein wesentliches und unverzichtbares Element der Erzählung selbst interpretiert werden könnten. Das aber ist durchaus nicht der Fall, die beiden Verse fügen sich vielmehr problemlos in den erzählerischen Gesamtzusammenhang des Wunderberichts ein. Die Jünger – so hören wir – fragen Jesus nach dem Grund dafür, daß sie den Dämon nicht austreiben konnten (V. 28b). Jesu Antwort lautet: (V. 29b). Da die Interpretation nicht durch die Übersetzung des Präpositionalgefüges präjudiziert werden darf, ist zunächst die syntaktische Struktur des ganzen Satzes zu bedenken. Für sie gilt, daß durch die Verbindung einer Negation mit der strenge Ausnahmefall zum Ausdruck gebracht und so eine prinzipiell und exklusiv geltende Aussage formuliert wird93. Der Satz V. 29b erklärt also im Blick auf die dämonischen Mächte: »Diese Art kann ausschließlich ausfahren.«94 Da Jesus selbst die Austreibung des Dämons nicht durch Gebet, sondern durch sein Machtwort vollzogen hat, kann der Sinn des V. 29b nicht der sein, daß die Jünger den Besessenen »durch« das Gebet zu Gott hätten heilen können. Die Auskunft, daß sie im Unterschied zu Jesus als dem in eigener Machtvollkommenheit handelnden Sohn Gottes hätten beten müssen95, vermag angesichts der grundsätzlichen Formulierung des V. 29b keineswegs zu überzeugen. Dann aber bleibt für das Verständnis des Satzes nur eine Möglichkeit: In ihm ist nicht von dem Gebet des Wundertäters, sondern von dem des Wunderempfängers die Rede96. Das wird nicht zuletzt durch die sprachliche Differenz bestätigt, die zwischen V. 28b und V. 29b zu verzeichnen ist: An die Stelle der Frage nach dem »Austreiben-Können« (V. 28b) ist in V. 29b die Rede vom »Ausfahren-Können« getreten, und die Jünger, die in V. 28b Subjekt waren, werden in V. 29b überhaupt nicht erwähnt 97. Geht es in V. 29b um den Wunderempfänger, dann bezeichnet der Ausdruck nicht das Mittel, durch das die Heilung von Besessenen vollzogen wird, sondern den Grund bzw. die Voraussetzung dafür, daß sie überhaupt erfolgt98: »Diese Art kann ausschließlich aufgrund von Gebet ausfahren.« Welches 93 Vgl. dazu K. Beyer, Semitische Syntax im Neuen Testament I: Satzlehre Teil 1 (StUNT 1), 19682, 109ff. Im Markusevangelium s. neben 9,29 noch die folgenden Belege: 2,26; 5,37; 6,4.8; 10,18; 11,13. 94 Die Worte sprechen m.E. nicht von einer besonders schlimmen Art von Dämonen, sondern von den dämonischen Mächten schlechthin; so z.B. auch Roloff (s. Anm. 1), 149 Anm. 154. 95 So z.B. Gundry (s. Anm. 24), 492f. 96 So richtig Lang (s. Anm. 26), 324f. 328. 97 Vgl. Lang, aaO 324. Taylor (s. Anm. 6), 401 erklärt zwar: » is here used as the equivalent of the passive of and should be translated accordingly«, eine Begründung für diese Behauptung wird jedoch nicht gegeben. Sie fehlt ebenso für die knappe Notiz bei Zerwick (s. Anm. 49), 103: » […] loco pass. «. 98 So richtig B. Weiss, Die Evangelien des Markus und Lukas (s. Anm. 7), 147; Ders.,

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Gebet dabei gemeint ist, ergibt sich aus dem Gesamtzusammenhang der Erzählung: Es ist die Anrufung Jesu, wie sie der Vater mit dem Ruf von V. 24b vollzogen hat99. In solcher Anrufung bekundet sich der »Glaube«, d.h. das Zutrauen zu Jesus und seinem Erbarmen. Sie ist Ausdruck der vertrauensvollen Hinwendung zu dem, der – im Sinne des göttlichen Attributs – »Macht« über die bösen Geister hat und dessen Hilfe nicht vergeblich erbeten wird. Die Verse 28f erlauben, wie wir gesehen haben, durchaus eine Interpretation, die das in ihnen Gesagte als die organische Weiterführung und den sinnvollen Abschluß dessen begreift, was zuvor berichtet wurde. Der mit den beiden Versen gesetzte besondere Akzent liegt in der Erklärung, daß der Glaube – d.h. das Vertrauen zu Jesus und seiner Allmacht – seinen Ausdruck in dem Gebet findet, das an ihn gerichtet wird. In dieser Erklärung wird dann die kerygmatische Ausrichtung nicht nur der Verse 28f, sondern der als eine Einheit zu betrachtenden markinischen Erzählung insgesamt sichtbar: Was auf der Ebene der Erzählung als ein einmaliger Fall geschildert wird, kann und soll die Leser des Evangeliums dazu ermutigen, in ihrer eigenen Not den im Glauben um Hilfe anzurufen, dem »alles möglich« ist. Da Jesus die göttliche Allmacht eignet, ist der Glaube an ihn eo ipso (11,22b) und das Gebet zu ihm eo ipso eben jenes Gebet zu Gott, dem in 11,23f die Erhörung verheißen wird100. Das Neue Testament I (s. Anm. 7), 229. Zu causale s. Bauer / Aland, Wörterbuch, 526 s.v. III.3; BDR § 219,2 mit Anm. 2. Beispiele: Mt 6,7; Act 7,29; Dan 10,12 sowie in LXX: Sach 9,11; I Makk 16,3; Sir 33,17. 99 Lang (s. Anm. 26), 324f erkennt den Zusammenhang zwischen V. 29b und dem Ruf V. 24b, den er zutreffend als einen »Gebetsschrei« charakterisiert; die Konsequenz, daß es sich dann bei der von V. 29b um die Anrufung Jesu handeln muß, zieht er jedoch (zumindest expressis verbis) nicht. Daß von dem an Jesus gerichteten Gebet die Rede ist, hat Petzke (s. Anm. 1), 196 richtig gesehen; unzutreffend ist jedoch die – mit dem prinzipiellen Charakter des Satzes V. 29b unvereinbare – Deutung auf das Gebet des Wundertäters: »Wie der Kranke, wie der verzweifelte Vater, so sind auch die Jünger auf die Hilfe durch Jesus angewiesen, indem sie sich im Gebet an Jesus wenden müssen. Nur so läßt sich der Widerspruch auflösen, daß der Dämon zwar von Jesus ohne Gebet ausgetrieben wird, die Jünger jedoch aufgefordert werden, diese Dämonen mit Gebet zu bekämpfen.« 100 Zwei Erwägungen sind anmerkungsweise noch anzufügen. Zum einen: Wie die Verse 28f von jenem Abschreiber des Markusevangeliums verstanden worden sind, der zu die Worte hinzugefügt hat, muß offen bleiben. Er könnte den präpositionalen Ausdruck als instrumentales Adverbiale verstanden und von daher den Satz V. 29b auf den Wundertäter bezogen haben. Möglich ist aber auch, daß er an das – durch Fasten zu unterstützende – Gebet des Wunderempfängers gedacht hat. Im einen wie im andern Fall folgt aus der Hinzufügung, daß der Abschreiber ausschließlich die Situation der nachösterlichen Gemeinde vor Augen hatte. Zum andern: Im Gesamtzusammenhang des Markusevangeliums fällt von den Versen 9,28f her ein Licht auf die Aussage von 6,7, derzufolge Jesus seinen Jüngern über die bösen Geister gegeben hat. Bei dieser handelt es sich um abgeleitete »Vollmacht«, nicht um eigene »Machtvollkommenheit«; und zur Wahrnehmung solcher »Vollmacht« gehört, daß die Jünger die

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VII Die streng textimmanente und auf den markinischen Kontext achtende Betrachtung der Wundererzählung Mk 9,14–29 hat ergeben, daß wesentliche Züge des Textes anders zu interpretieren sind, als es in den gängigen Auslegungen geschieht, und daß der Bericht als ganzer durchaus eine innere Kohärenz aufweist. Dieser Befund erlaubt es, abschließend das theologische Hauptmotiv der Erzählung zu beschreiben. Ihr Thema ist weder das Versagen der Jünger noch der Glaube und sein Vermögen101, weder die von Jesus geforderte Nachfolge, deren Konstituierung durch Gottes Tat hier demonstriert würde102, noch auch die Frage nach der exorzistischen Praxis der nachösterlichen Gemeinde103. Es geht vielmehr zentral um Jesu Person und seine einzigartige göttliche Macht 104 – und von daher um die Aussage, daß allein bei ihm Hilfe gegen die das Leben bedrohende und zerstörende Macht des Bösen zu finden ist. Wie die übrigen Wundergeschichten des Markusevangeliums, so ist auch unsere Erzählung narratives Christuszeugnis, und sie hat wie jene ihr Kennzeichen in der Verbindung von Christologie und Soteriologie. Ihrer festen Verankerung im Kontext des Abschnitts Mk 8,27–10,52 kommt dabei ein nicht geringes Gewicht zu. Wird in der Verklärungsgeschichte 9,2–8 die Weisung Gottes laut, einzig und allein auf den geliebten Sohn zu hören (V. 7f), so schärft die Erzählung 9,14–29 ein, daß er und niemand sonst im Glauben anzurufen ist. In diesem Zusammenhang wird nicht etwa die Macht des Glaubens herausgestellt, sondern der Akzent liegt auf der Aussage, daß dem Glauben gewährt wird, was dem Unglauben verweigert bleibt: das Wunder der göttlichen Hilfe als die Tat und Gabe des einen und einzigen, der über die Allmacht Gottes verfügt105. Wer aber dieser ist, das kommt einerseits in dem Bericht von der Verklärung sowie in der Klage von 9,19 und ander Hilfe bedürftigen Menschen zur Anrufung dessen anleiten und ermutigen, der allein das zu sprechen vermag. 101 Nach Lührmann (s. Anm. 11), 162 sind die »Hauptmotive« der Erzählung »das Versagen der Jünger und die Thematik des Glaubens«, während etwa für Lohmeyer (s. Anm. 7), 191 ausschließlich das zweitgenannte Motiv im Zentrum der Erzählung steht: »Ihr Thema ist die Macht des Glaubens.« 102 So Schweizer (s. Anm. 15), 102f. 103 Vgl. etwa Pesch (s. Anm. 36), 97, der in der markinischen Erzählung »den exorzistischen Auftrag der Kirche« verhandelt sieht, daneben aber zugleich auch »das Thema von Unverständnis und Unglaube der Jünger« sowie die Nachfolge als »Glaubens- und Gebetsnachfolge«. 104 So auch Trakatellis (s. Anm. 14), 58. 105 Vgl. dazu vor allem Mk 5,36b; 6,5.6a. Die letztgenannte Stelle bedeutet natürlich nicht, daß Jesu Wunderkraft durch den Unglauben »eingeschränkt« wird, während der Glaube als »die das Wunder herbeiführende Macht« zu gelten hat (so Lührmann [s. Anm. 11], 161); der Sinn ist vielmehr, daß dem Unglauben grundsätzlich kein Wunder gewährt wird.

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dererseits in den Hinweisen auf Jesu Leiden, Sterben und Auferstehen106 zur Sprache: Er ist der Sohn Gottes, der seinem Ursprung und Wesen nach der himmlischen Welt angehört, der aber im Gehorsam gegen den Willen seines Vaters zur Auslösung des vor Gott verwirkten Lebens (8,36; 10,45) auf die Seite der Menschen getreten ist. Summary The detailed analysis of the miracle story in Mark 9:14–29 shows that important elements of the text should be interpreted differently than is done in current exegesis. The topic of the story is not human faith and its power but the person of Jesus Christ and his unique divine power.

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Mk 8,31; 9,9f.12.31; 10,32–34.38.45.

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„Er gibt den Geist ohne Maß“ Joh 3,34b Der theologisch gewichtige Vers Joh 3,34 stellt die Exegese vor die Frage, wer als das Subjekt des Kausalsatzes V. 34b bestimmt werden muß. Daß Gott das Subjekt ist und der Satz demzufolge Jesus als den Geistträger prädiziert, der das in unerschöpflicher Fülle vom Vater empfängt, ist der magnus consensus der Ausleger und gilt vielen von ihnen als so selbstverständlich, daß die sogleich zu nennende Alternative nicht einmal erwähnt, geschweige denn diskutiert wird1. Nun hat jedoch H.-Chr. Kammler in einer gründlichen Textanalyse mit überzeugenden sprachlichen wie sachlichen Argumenten die bereits von Origenes2 und von Cyrill von Alexandrien3 vertretene Deutung als zutreffend erweisen können, daß Jesus, der „Sohn Gottes“, als das Subjekt des Kausalsatzes und die an ihn Glaubenden als die Empfänger des von ihm in Fülle verliehenen Geistes zu bestimmen sind4. Ein von Kammler nicht eigens diskutiertes Argument, das gelegentlich zugunsten der Bestimmung von Gott als Subjekt ins Feld geführt wird5, soll im folgenden knapp skizziert und auf seine Haltbarkeit hin überprüft werden. Schon bei älteren Autoren wie Chr. Schoettgen und J. J. Wettstein und sodann in dem großen Kommentarwerk P. Billerbecks findet sich zu Joh 3,34b der Hinweis auf ein rabbinisches Diktum, demzufolge der heilige Geist ( ), d. h. der „Geist der Prophetie“ ( ), den Propheten Israels jeweils nur „nach Maß“ gegeben wurde6. Manche Ausleger erblicken in dem Diktum das 1

S. exemplarisch die beiden neuesten deutschsprachigen Kommentare: U. Schnelle, Das Evangelium nach Johannes (ThHK 4), Leipzig 1998, 82; U. Wilckens, Das Evangelium nach Johannes (NTD 4), Göttingen 1(17)1998, 77. 2 Johanneskommentar. Bruchstücke aus Catenen, Nr. 48 (GCS 10 [1903] 523). 3 Commentarius in Ioannis Evangelium z. St. (PG 73 [1864] 289 A–C). 4 H.-Chr. Kammler, Jesus Christus und der Geistparaklet. Eine Studie zur johanneischen Verhältnisbestimmung von Pneumatologie und Christologie, in: O. Hofius / H.-Chr. Kammler, Johannesstudien. Untersuchungen zur Theologie des vierten Evangeliums (WUNT 88), Tübingen 1996, 87–190: 170 ff. Weitere Vertreter der christologischen Deutung werden ebd., 171 Anm. 347 aufgeführt. 5 So zuletzt bei M. Schmidl, Jesus und Nikodemus: Gespräch zur johanneischen Christologie. Joh 3 in schichtenspezifischer Sicht (BU 28), Regensburg 1998, 414–418, bes. 417 f. mit Anm. 1413. 6 Chr. Schoettgen, Horae hebraicae et talmudicae in universum Novum Testamentum, Dresden – Leipzig 1733, 341; J. J. Wettstein, Novum Testamentum Graecum I, Amsterdam 1751 = Graz 1962, 857; P. Billerbeck, Kommentar zum Neuen Testament aus Talmud und Midrasch II, München 1924 = 21956, 431. Vgl. – allerdings unter Beachtung des u. Anm. 11 Gesagten – auch A. Schlatter, Der Evangelist Johannes. Wie er spricht, denkt und glaubt. Ein Kommentar zum vierten Evangelium, Stuttgart 1930 = 31960, 111.

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„Er gibt den Geist ohne Maß“ Joh 3,34b

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Zeugnis einer allgemein verbreiteten rabbinischen Auffassung, | und sie kommen von daher zu dem Urteil, daß diese Auffassung in der Aussage von Joh 3,34b ganz unmittelbar vorausgesetzt werde. Die Worte werden dann dahingehend interpretiert, daß Jesus ausdrücklich als derjenige gekennzeichnet werden solle, der im Unterschied zu den Propheten den Geist „ohne Maß“ besitzt und ihnen deshalb in seinem Reden und Handeln unvergleichlich überlegen ist. Als Beispiel für eine solche Interpretation sei R. Schnackenburg zitiert: „Diesem letzten, die Worte Gottes wie kein anderer vor ihm kündenden Gesandten gibt Gott den Geist in ungeteilter Fülle. Daß die Propheten den Geist in verschiedenem Maße (‚nach Gewicht‘) empfingen, war rabbinische Überzeugung …“7 Das erwähnte Diktum – ein Ausspruch des um 320 in Palästina lebenden R. Acha – wird in LevR 15,2 zu 13,2 überliefert8 und lautet: „Selbst der heilige Geist, der auf den Propheten ruht, ruht nur nach Gewicht [auf ihnen]: Der eine prophezeit ein Buch, der andere prophezeit zwei Bücher9“ ( . )10. Im Blick auf dieses Diktum ist zunächst sprachlich zu beachten, daß der Ausdruck keineswegs einfach mit „nach Maß“ wiedergegeben werden kann11, zumal diese philologisch problematische Wiedergabe dem Mißverständnis Vorschub leistet, als sei in dem Diktum des R. Acha von einer unterschiedlichen Zuteilung an Geist und also von einer unterschiedlichen Quantität des Geistbesitzes die heißt zunächst einmal „nach Gewicht“ und nimmt von daher die Rede12. 7

R. Schnackenburg, Das Johannesevangelium I (HThK IV/1), Freiburg – Basel – Wien 1992, 399 (mit dem ausdrücklichen Hinweis auf P. Billerbeck und A. Schlatter). S. bereits J. A. Bengel, Gnomon Novi Testamenti. Secundum editionem tertiam (1733) denuo recusus, Berlin 1860, 212 (im Anschluß an Chr. Cartwright) und ferner etwa R. E. Brown, The Gospel according to John I (AncB 29), Garden City, N. Y. 21986, 158; D. A. Carson, The Gospel according to John, Grand Rapids 1991, 213. 8 Vgl. Jalqut Schim oni II § 413 und § 916. . 9 D. h.: Die prophetischen Worte des einen (z. B. des Jesaja) machen insgesamt ein Buch aus, die des andern (gedacht ist an Jeremia) umfassen zwei Bücher der Heiligen Schrift. 10 M. Margulies, Midrash Wayyikra Rabbah I.II, New York – Jerusalem 31993, II 322. 11 Gegen Schoettgen, Horae hebraicae et talmudicae (s. Anm. 6), 341 („nisi mensura quadam“); Wettstein, Novum Testamentum Graecum I (s. Anm. 6), 857 (desgl.) und Bengel, Gnomon (s. Anm. 7), 212 („nisi in mensura“). Billerbeck II 431 übersetzt korrekt mit „nach Gewicht“, fügt dann aber in Klammern als Erläuterung hinzu: „= nach Maß“ (vgl. auch ebd. II 132; III 595; IV/1 444); ebenso verfahren J. Israelstam / J. J. Slotki, Midrash Rabbah: Leviticus, London – Bournemouth 1951, 189, wo zu der Übersetzung „by weight“ angemerkt wird (Anm. 3): „I. e. appointed measure.“ Dagegen findet sich bei Schlatter, Der Evangelist Johannes (s. Anm. 6), 111 für als korrekte griechische Entsprechung die Formulierung (vgl. dazu in LXX die Wiedergabe des u. Anm. 13 mitgeteilten hebräischen Ausdrucks: Lev 26,26; Ez 4,10.16; Sir 16,25a). 12 In diesem Sinn interpretiert z. B. ausdrücklich G. Johnston, The Spirit-Paraclete in the Gospel of John (MSSNTS 12), Cambridge 1970, 14: „Rabbinic passages like Sheb. 8:3 and Lev. R. 15:2 teach that prophets received only a limited portion of the spirit.“ Die Angabe „Sheb. 8:3“ – gemeint ist bSchebhi ith 8,3 (s. den Index ebd., 187) – muß ein Versehen sein; 7

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Bedeutung „genau abgewogen“ bzw. „wohlabgewogen“ an. Der nähere Sinn, in dem der Ausdruck verwendet ist, hängt dann von | dem jeweiligen Kontext ab13. Für unser Diktum ergibt sich: Es geht um die von Gott gewollte und bestimmte in den einzelnen Propheten und durch sie Intensität14, mit der die wirksam ist, wobei diese Intensität sich nach der Meinung des R. Acha in der Anzahl der inspirierten prophetischen Worte widerspiegelt und dementsprechend an dem unterschiedlichen Umfang der Prophetenbücher abgelesen werden kann15. Über die sprachliche Beobachtung hinaus ist sodann ein weiterer Tatbestand wichtig: Wir haben es in dem zitierten Diktum keineswegs mit einer allgemeinen Feststellung, sondern mit einem exegetischen Urteil zu tun. R. Acha bietet hier eine Interpretation der Worte „um dem Wind ein Gewicht zu bestimmen“ Hi 28,25a. Er faßt das polyseme Wort in der Bedeutung „Geist“, bezieht es auf den Geist Gottes und gewinnt von daher die Aussage, daß sich bei den Propheten anhand des Umfangs ihrer Prophetenworte ein unterschiedliches „Gewicht“ des Geisteswirkens feststellen lasse16. Neben dieser Auslegung finden sich in der rabbinischen Literatur auch anderslautende Interpretationen von Hi 28,25a17 – ein deutliches Indiz dafür, daß es sich bei dem Diktum des R. Acha um einen Satz individueller Schriftexegese handelt18. Daß wir in ihm einen der denn von den Propheten und von ihrer Ausrüstung mit dem heiligen Geist ist an dieser Stelle nicht die Rede. 13 Beispiele: Lev 26,26 ( ), Ez 4,10 ( ) und Ez 4,16 ( ): „in einer genau festgelegten Menge“; hebrSir 16,25a ( ): „mit Sorgfalt“ oder „wohlüberlegt“; Chul 10,3 ( ): „für einen dem Gewicht entsprechenden Preis“. – In unterschiedlichem, weil jeweils von dem Kontext abhängigen Sinn wird übrigens ebenfalls der Ausdruck („nach Maß“) bzw. sein Antonym / („ohne Maß“) gebraucht. So liegt etwa in GenR 11,8 zu 2,3 die Bedeutung „in einem begrenzten [räumlichen] Umfang“, in EsthR 7,1 zu 3,1 die Bedeutung „in begrenzter Menge“ vor (eine Übersetzung der Texte s. bei Billerbeck I 200 bzw. 448 f.). S. ferner u. Anm. 16. 14 So richtig A. Wünsche, Der Midrasch Wajikra Rabba, Leipzig 1883–84 = Hildesheim 1967, 98. 15 Etwas anders versteht R. Meyer, in: H. Krämer / R. Rendtorff u. a., Art. , ThWNT VI (1959) 781–863: 818. Er ordnet das Diktum der rabbinischen Überzeugung zu, daß die Propheten „im Rahmen des göttlichen Heilsplanes ihre bestimmte u[nd] ganz begrenzte Aufgabe haben“ (818,27 f.), und merkt dazu an: „Nach R Acha ruht der hl Geist nur ‚nach Maßgabe‘ ( ) des Auftrags auf den Propheten“ (ebd., Anm. 251). 16 In LevR 15,2 zu 13,2 schließt sich als Exegese von Hi 28,25b („er begrenzte die Wasser mit einem Maß“) der folgende Ausspruch des R. Judan b. Jischma el (Pal. um 300) an: „Selbst die Worte der Tora, die von oben gegeben worden sind, sind [nur] nach Maß ( ) gegeben worden; und zwar handelt es sich um folgende [Stücke]: Schrift, Mischna, Talmud und Haggada.“ Zu dem hier vorliegenden Sinn des Ausdrucks „nach Maß“ s. die zutreffende Bestimmung bei Israelstam / Slotki, Midrash Rabbah (s. Anm. 11), 189 Anm. 5: „in distinguishable divisions“. 17 S. dazu im einzelnen LevR 15,1 f. zu 13,2; NumR 21,2 zu 25,15; Tanch Lev, § 1 par. TanchB Lev, § 1; Tanch Num, § 10 par. TanchB Num, § 1; TanchB Gen, § 1; Jalqut. Schim oni I §§ 427. 554. 776, II §§ 915. 916. 18 Die Exegese des R. Acha dürfte in den Auslegungen von Hi 28,25a vorausgesetzt sein, die sich im Midrasch Jelamdenu (zitiert Jalqut. Schim oni II § 916) und im Midrasch Ha-Gadol,

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„Er gibt den Geist ohne Maß“ Joh 3,34b

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communis opinio der Rabbinen entsprechenden Lehrsatz zu erkennen hätten, läßt sich dagegen anhand des uns vorliegenden Textes nicht nachweisen. Doch selbst wenn R. Acha mit seinem Diktum einer verbreiteten rabbinischen Überzeugung Ausdruck | geben sollte, so wäre diese erst für den Anfang des 4. Jahrhunderts n. Chr., keineswegs aber schon für die neutestamentliche Zeit bezeugt19. Fazit: Der in LevR 15,2 zu 13,2 mitgeteilte Ausspruch des R. Acha liefert keinen hinreichenden und erst recht keinen zwingenden Beleg dafür, daß es zur Zeit der Abfassung des Johannesevangeliums feste „rabbinische Überzeugung“ war, daß Gott den Propheten Israels seinen Geist in unterschiedlichem „Maß“ verliehen habe. Die These, der Verfasser des Evangeliums habe bei der Formulierung des Satzes Joh 3,34b dezidiert diese Überzeugung vor Augen und mithin sei Gott, der Vater, als das Subjekt der Worte zu bestimmen, ruht deshalb auf keinem tragfähigen Fundament.

Genesis (ed. M. Margulies, Jerusalem 21967), II 720 finden. Zu beiden Auslegungen s. auch den Apparat der Anmerkungen und Erklärungen bei Margulies, Midrash Wayyikra Rabbah I.II (s. Anm. 10), II 322. 19 Um eine eigenständige Exegese des Satzes Joh 3,34b und nicht etwa um Abhängigkeit von rabbinischen Anschauungen handelt es sich, wenn Origenes, a. a. O. (s. Anm. 2) – zweifellos vor allem im Blick auf die Propheten – bemerkt, daß „weise, gotterfüllte Männer“ im Unterschied zu Jesus den Geist Gottes nur besessen haben. Ähnlich äußert sich Cyrill von Alexandrien, a. a. O. (s. Anm. 3); s. dazu Kammler, Jesus Christus und der Geistparaklet (s. Anm. 4), 181 Anm. 405.

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Die Auferweckung des Lazarus Joh 11,1–44 als Zeugnis narrativer Christologie

Gisela Kittel zum 65. Geburtstag

I Die Erzählung von der Auferweckung des Lazarus (Joh 11,1–44) stellt ohne Frage den Höhepunkt der sieben Wunderberichte dar, die im Johannesevangelium enthalten sind1. Das gilt sowohl hinsichtlich der formalen Gestalt des Textes wie auch im Blick auf seinen sachlich-inhaltlichen Gehalt. Was die formale Gestalt anlangt, so erweist sich der Erzählzusammenhang Joh 11,1–44 als wohldurchdacht und sinnvoll komponiert2. Das im einzelnen aufzuzeigen, ist jetzt nicht der Ort. Hingewiesen sei lediglich auf den Aufbau der Erzählung im Großen. Der Verfasser selbst hat den recht umfangreichen * Dem Aufsatz liegt eine Gastvorlesung zugrunde, die am 19.10.2004 an der Orthodoxen Theologischen Fakultät der Universität Athen und am 30.11.2004 an der Theologischen Fakultät der Universität Utrecht gehalten wurde. 1 Aus der Fülle der Literatur nenne ich nur: R. Bultmann, Das Evangelium des Johannes (KEK 2), 195614, 299–315; H.-J. Iwand, Predigt-Meditationen (I), 1963, 95–99 (Joh 11,1–11). 298–302 (Joh 12,1–12). 659–665 (Joh 11,1.3.17–27); R. Schnackenburg, Das Johannesevangelium II: Kommentar zu Kap. 5–12 (HThK IV/2), 1971 (19905), 396– 433; J. Kremer, Lazarus. Die Geschichte einer Auferstehung. Text, Wirkungsgeschichte und Botschaft von Joh 11,1–46, 1985; R.E. Brown, The Gospel according to John (I–XII) (AncB 29), Garden City N.Y. 19862, 420–437; J. Becker, Das Evangelium nach Johannes. Kapitel 11–21 (ÖTK 4/2), 19913, 401–427; Th. Knöppler, Die theologia crucis des Johannesevangeliums. Das Verständnis des Todes Jesu im Rahmen der johanneischen Inkarnations- und Erhöhungschristologie (WMANT 69), 1994, 192–197; C. K. , , Thessaloniki 1997, 248–309; G. Kittel, Befreit aus dem Rachen des Todes. Tod und Todesüberwindung im Alten und Neuen Testament (BTSP 17), 1999, 147–156; H.-Chr. Kammler, Christologie und Eschatologie. Joh 5,17–30 als Schlüsseltext johanneischer Theologie (WUNT 126), 2000, bes. 81f. 109f. 198–205. 220f; Chr. Dietzfelbinger, Das Evangelium nach Johannes. Teilband 1: Johannes 1–12 (ZBK.NT 4.1), 2001, 339–376. 2 Vgl. Dietzfelbinger (s. Anm. 1), 363, der ebd. mit Recht bemerkt: »Der diesen Zusammenhang geschaffen hat, war ein Erzähler von Format.«

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Die Auferweckung des Lazarus

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Text strukturiert, indem er die Abgrenzung der vier Hauptteile durch eine Inclusio markiert hat – dadurch also, daß am Anfang und am Ende des jeweiligen Abschnitts die gleichen Worte bzw. vergleichbare Wendungen erscheinen. Der erste Teil bietet mit den Versen 1–5 die Exposition der Erzählung, wobei als Inclusio die in V. 1 und V. 5 zu verzeichnende Erwähnung des Lazarus und der Schwestern Maria und Martha zu notieren ist3. Der zweite Teil besteht aus den Versen 6–16, die ein Gespräch Jesu mit den Jüngern enthalten, das vor dem Gang nach Bethanien an einem Ort »jenseits des Jordans« stattfindet (10,40; 11,6). Hier wird die Zusammengehörigkeit durch die Inclusio »laßt uns gehen« ( V. 7 und V. 15f) angezeigt. Der dritte Teil, der die Verse 17–38a umfaßt, berichtet davon, wie Jesus im Spiegel menschlichen Redens und Verhaltens der Wirklichkeit des Todes konfrontiert ist – zunächst in der Begegnung mit den Schwestern Martha und Maria (V. 20–32) und sodann in der Begegnung mit den , die zu den Schwestern gekommen sind, um sie zu trösten (V. 33–38a)4. Dieser dritte Teil wird insgesamt durch Sätze gerahmt, die das Stichwort enthalten ( V. 17; V. 38a)5. Der vierte und letzte Teil, der in den Versen 38b–44 das Wunder der Auferweckung des Lazarus und damit den Sieg Jesu über die Todeswirklichkeit schildert, weist eine etwas anders gestaltete Inclusio auf: Hier ist insofern eine Rahmung gegeben, als am Anfang und am Ende ein an die gleichen Adressaten gerichteter Imperativ Jesu erscheint ( V. 39a; V. 44b). In der eindrucksvollen formalen Gestaltung, für die jetzt nur exemplarisch auf das Stilmittel der Inclusio hingewiesen werden konnte 6, spiegelt sich wider, daß wir es in Joh 11,1–44 mit einer Erzählung von hohem sachlich-inhaltlichem Gehalt zu tun haben. In eindrücklicher Weise werden dem Leser die Person und 3

V. 1 erwähnt zunächst Lazarus und sodann die Schwestern Maria und Martha; das wird dann in V. 5 chiastisch aufgenommen, indem zuerst das Schwesternpaar (ebenfalls in der Umstellung ) und danach Lazarus genannt werden. 4 Den Versen 20–32 und 33–38a geht die Situationsbeschreibung V. 17–19 voraus, die den Hintergrund für das danach Berichtete bildet. 5 Auch die drei Unterabschnitte des Textkomlexes 11,17–38a sind jeweils durch eine Inclusio als eine zusammengehörige Einheit gekennzeichnet: die Verse 17–19 durch die Nennung des verstorbenen Lazarus ( V. 17 / V.19b), die Verse 20–32 durch die Worte (V. 21b par. V. 32b) und die Verse 33–38a durch die Erwähnung des »Ergrimmens« Jesu ( V. 33 / V. 38a). 6 S. zu diesem Stilmittel ferner noch das Folgende: Den Bericht über die Erkrankung des Lazarus V. 1+2 rahmen die Sätze (V. 1) und (V. 2b). In V. 3–5 ist zu Beginn (V. 3b) und am Ende (V. 5) betont von der Liebe Jesu zu Lazarus die Rede.

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das Werk Jesu Christi vor Augen gestellt, so daß die Erzählung mit guten Gründen als ein zentrales und höchst gewichtiges Dokument der johanneischen Christologie und der in ihr begründeten Soteriologie bezeichnet werden kann. Für die angemessene Interpretation des Textes ist entscheidend, daß sich von Anfang bis Ende zwei Ebenen wahrnehmen lassen, die fest miteinander verbunden und durchgehend aufeinander bezogen sind. Es handelt sich zum einen um die erzählerische Ebene, auf der berichtet wird, was zunächst in Bethanien, danach an Jesu Aufenthaltsort jenseits des Jordans, sodann in der Nähe von Bethanien und schließlich am Grab des Lazarus geschieht, und zum anderen um die theologische Ebene, auf der die eigentliche Bedeutung jenes Geschehens zum Ausdruck kommt. Den beiden Ebenen entsprechend weist die Erzählung zwei Höhepunkte auf, zwischen denen – wie wir noch sehen werden – nicht nur eine deutliche Entsprechung, sondern eine tiefgreifende innere Beziehung besteht. Der erzählerische Höhepunkt liegt in den Versen 38b–44, der theologische Höhepunkt in den Versen 23–27. Wenn nunmehr in den folgenden Darlegungen aufgezeigt werden soll, daß und inwiefern es sich bei dem Text Joh 11,1–44 um ein Zeugnis narrativer Christologie handelt, so darf die Vertrautheit mit dem Gang der Erzählung vorausgesetzt und deshalb auf eine Nachzeichnung des Ablaufs im einzelnen verzichtet werden7.

II Daß es grundlegend um die Christologie und von daher auch um die Soteriologie geht, zeigt bereits der Rahmen, in den die Erzählung von der Auferweckung des Lazarus eingebettet ist. Der Evangelist selbst weist deutlich darauf hin, daß die Erzählung im Kontext der beiden Abschnitte Joh 10,40–42 und Joh 11,45–54 gelesen sein will8. Bereits in 10,40 wird der Ort angegeben, an dem sich Jesus während der in 11,1–16 berichteten Geschehnisse befindet. Er weilt »jenseits des 7 Gegenstand unserer Darlegungen ist ausschließlich die Erzählung, wie sie jetzt im Johannesevangelium vorliegt. Literarkritische Hypothesen und Operationen bleiben gänzlich außer Betracht. Zu solchen s. etwa Bultmann (s. Anm. 1), 301 mit Anm. 4; Schnackenburg (s. Anm. 1), 398–402; Becker (s. Anm. 1), 404ff; Dietzfelbinger (s. Anm. 1), 363–367. 8 Neben dem sogleich mitgeteilten inhaltlichen Befund ist in formaler Hinsicht auf drei Motive aufmerksam zu machen, die zunächst in 10,40–42 erscheinen und dann in 11,45–54 in chiastischer Abfolge wiederkehren: 1. In 10,40 heißt es, daß Jesus an einen bestimmten Ort »wegging und dort blieb« ( … [A]); das gleiche wird in 11,54 berichtet ( … [A ]). 2. In 10,41 wird die Feststellung mitgeteilt, daß Johannes der Täufer »kein Wunder getan hat« ( [B]); dem steht das Urteil von 11,47 gegenüber, daß Jesus »viele Wunder tut« (

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Die Auferweckung des Lazarus

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Jordans« an der in 1,28 erwähnten Stätte, »wo Johannes zuerst getauft hatte«9. Menschen, die zu Jesus an den Jordan gekommen sind, erklären dann (V. 41): »Alles, was Johannes von diesem gesagt hat, war wahr.« Damit wird auf das Zeugnis des Täufers von 1,24–36 und 3,23–36 verwiesen. Im Mittelpunkt dieses Zeugnisses steht die Aussage, daß Jesus der »aus dem Himmel« gekommene »Sohn Gottes« (1,34; 3,31ff) und als dieser das »Lamm Gottes« ist, das durch das Sühnegeschehen seines Todes und seiner Auferstehung »die Sünde der Welt hinwegnimmt« (1,29)10. In 11,47–53 wird von dem Todesbeschluß über Jesus berichtet, zu dem sich das Synhedrion nicht zuletzt durch die Auferweckung des Lazarus veranlaßt sieht (11,53). Herbeigeführt wird der Beschluß durch das Wort des Kaiphas, es sei nützlich, »daß ein Mensch für das Volk stirbt und nicht das ganze Volk zugrunde geht« (11,50). In diesem Wort erkennt der Evangelist die prophetische Aussage, daß Jesus für Juden und Heiden – und das heißt: um ihrer Rettung willen – sterben muß (11,51f). Dem wahren Zeugnis des Täufers korrespondiert so die wahre Prophetie des Hohenpriesters Kaiphas. Von daher kann die theologische Bedeutung der Rahmenteile 10,40–42 / 11,45–54 nicht zweifelhaft sein. Durch sie wird die Erzählung von der Auferweckung des Lazarus aufs nachdrücklichste in den Horizont des Kreuzestodes Jesu und seiner mit diesem Tod unlöslich verbundenen Auferstehung gestellt11. Was die Rahmung anzeigt, wird innerhalb der Erzählung selbst durch mehrere Einzelzüge unterstrichen und bestätigt. Wenn im Anschluß an die erstmalige Erwähnung der Namen Lazarus, Maria und Martha (V. 1) gesagt wird, daß Maria diejenige war, »die den Herrn [später] mit Myrrhenbalsam gesalbt und seine Füße mit ihren Haaren abgetrocknet hat« (V. 2a)12, so handelt es sich keineswegs um eine Anmerkung, die erläutern soll, wer die zuvor genannte Maria war. Die Notiz weist vielmehr ganz betont auf die in 12,1–8 berichtete Todessalbung Jesu hin13 und lenkt so gleich zu Beginn der Erzählung den Blick des Lesers auf Jesu Kreuzestod. Ein solcher Hinweis liegt ebenfalls in dem bedeutsamen V. 4, von [B ]). 3. In 10,42 findet sich die Notiz, daß »viele« an Jesus »glaubten« ( [C]); diese Notiz wird in 11,45 wörtlich wiederholt ( … [C ]). – Auf die genannten Motive weist auch Knöppler (s. Anm. 1), 192 Anm. 52 hin. 9 Gemeint ist die Taufstelle östlich des Jordans, etwa 10 km Luftlinie von Jericho entfernt. Nach 1,28 heißt auch dieser Ort Bethanien. 10 Zu Joh 1,29 als Sühneaussage s. O. Hofius, Art. »Sühne IV. Neues Testament« (TRE 32, 2001, 342–347), 345,46ff. 11 Zur unlöslichen Zusammengehörigkeit von Jesu Tod und Auferstehung s. nur 2,19b.21 und 10,17f einerseits und 20,19f andererseits. 12 Zu den beiden Aorist-Partizipien des Satzes s. BDR § 339 Anm. 2; M. Zerwick, Analysis philologica Novi Testamenti Graeci (SPIB 107), Rom 19844, 232 z.St. 13 Dem korrespondiert in 12,1–8 der ausdrückliche Rückverweis auf die Auferwekkung des Lazarus: 12,1f.

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dem später ausführlicher zu reden sein wird. In dem Gespräch mit den Jüngern V. 6–16 kommt sodann dreifach zum Ausdruck, daß Jesu Gang zur Auferwekkung des toten Lazarus der Gang in den eigenen Tod sein wird14. Zum einen in dem Satz Jesu: »Laßt uns wieder nach Judäa gehen« (V. 7); denn in Judäa sucht man – wie der Leser des Evangeliums weiß – Jesus zu verhaften und zu töten 15. Zum andern in der Frage, mit der die Jünger an die in 8,59 und 10,31–39 berichteten Ereignisse erinnern (V. 8): »Rabbi, gerade erst16 haben die Juden dich steinigen wollen, und du willst wieder dort hin gehen?« Zum dritten in dem Bildwort, mit dem Jesus daraufhin sein Leben als die Erfüllung eines Auftrags bezeichnet (V. 9f): »Hat der Tag nicht zwölf Stunden? Wenn jemand am Tag wandert, stößt er nicht an, weil er das Licht dieser Welt sieht; wenn jemand dagegen in der Nacht wandert, stößt er an, weil jenes Licht nicht bei ihm ist17 (d.h. weil ihm das Sonnenlicht fehlt).« Jesus muß den »Tag« nützen, um seinen Auftrag zu erfüllen18; dieser Auftrag aber ist dem vierten Evangelium zufolge sein Gang an das Kreuz19. Dementsprechend sagt dann Thomas in V. 16 zu seinen Mitjüngern: »Laßt uns gehen, um mit ihm zu sterben!«20 Nach Thomas’ Überzeugung kann der Weg nach Judäa nur der Weg in den Tod sein. Das ist er für Jesus in der Tat – dies allerdings in einem Sinn, von dem Thomas nichts weiß und wissen kann: Es ist der Weg, den Jesus für seine Jünger gehen muß und geht. Zuletzt schließlich darf in V. 18 ein Hinweis auf den Tod Jesu gefunden werden: Mit der Notiz, daß Bethanien »nahe bei Jerusalem« liegt21, wird angedeutet, daß Jesus mit der Ankunft in Bethanien dem Ort seiner Passion nahe ist22. 14

Das spiegelt sich auch in der Struktur des Textzusammenhangs V. 6–16 wider: Jesu Gespräch mit den Jüngern läßt sich inhaltlich in drei Abschnitte untergliedern, insofern nämlich in V. 6–10 und in V. 16 Jesu Gang in den Tod, in V. 11–15 hingegen sein Gang zu Lazarus thematisch ist. – Für zwei weitere Züge kann ein Hinweis auf die Passions- und Ostergeschichte vermutet werden: 1. Wenn Jesus sich nach V. 6 nicht sogleich nach Bethanien begibt, sondern zunächst noch zwei Tage am Jordan bleibt, so könnte damit gesagt sein: Jesus hat seine eigene Stunde (vgl. 2,3f); er ist und bleibt in allem der souverän entscheidende und handelnde Herr – ein für den gesamten johanneischen Passionsbericht charakteristisches Motiv. 2. Wenn mit dem dritten Tag das Geschehen der Heilsgewährung und der Offenbarung der Herrlichkeit Jesu anhebt (vgl. 2,1), so könnte darin ein Hinweis auf den Tag der Auferstehung Jesu liegen (vgl. 2,19). 15 5,16.18; 7,1.19.25.30.32.44; 8,37.40; 10,39. 16 Zu = »soeben«, »gerade« vgl. Mt 26,65; Joh 21,10. 17 Zu ist sprachlich anzumerken, daß der Artikel bei anaphorisch ist und wie in 12,35 ( ) die Bedeutung »bei« hat. 18 Vgl. 9,4. 19 S. besonders 10,17f; 14,31; 19,28–30; ferner 4,34; 5,30.36; 6,38; 17,4. 20 Das in dient der Unterscheidung des (wir Jünger) von dem in V. 15 (ich, Jesus, und ihr, meine Jünger). 21 Die Entfernung wird in V. 18 mit »etwa fünfzehn Stadien« angegeben; das sind ca. 3 km, der Weg einer knappen Stunde. 22 Vielleicht soll V. 18 außerdem vorab erklären, weshalb sich unter den in V. 19 er-

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Nach der Erzählung wie nach ihrer Rahmung gilt also: Jesu Gang nach Judäa, um Lazarus vom Tode aufzuerwecken, ist der Gang, der ihn selbst in den Tod führt. Das aber ist nicht einfach im Sinne einer »historischen« Feststellung gemeint, sondern in einem tiefen theologischen Sinn: Damit Lazarus lebt, muß Jesus sterben23. Jesus wird somit als der gezeichnet, der sein Leben für die Seinen dahingibt24. Das zeigt nicht zuletzt das mehrfach begegnende Motiv der Liebe Jesu. Die Schwestern des Lazarus lassen Jesus durch einen Boten mitteilen: »Herr, siehe, der, den du lieb hast, der ist krank!« (V. 3), und am Ende der Exposition (V. 1–5) heißt es (V. 5): »Jesus hatte aber die Martha und ihre Schwester und den Lazarus lieb.«25 In beiden Sätzen liegt ein Hinweis auf Jesu Tod, steht doch die johanneische Passionsgeschichte unter dem Vorzeichen der Aussage von 13,1, daß er »die Seinen, die in der Welt waren, geliebt hatte« und daß er sie beständig liebte »bis ans Ende« – bis zur Vollendung in seiner Lebenshingabe am Kreuz. In diesem Zusammenhang will schließlich auch das Wort Jesu an die Jünger gehört sein (V. 11): »Lazarus, unser Freund, ist eingeschlafen; aber ich gehe hin, um ihn aufzuwecken.«26 Wird Lazarus hier »unser Freund« genannt, so dürfte darin eine Anspielung auf 15,13ff liegen, insbesondere auf die Rede von der Liebe dessen, der »sein Leben hingibt für seine Freunde« (15,13).

III Die soteriologische Aussage, daß Jesus als der für Lazarus in den Tod Gehende dem Toten das Leben bringt, ist fest mit der christologischen Aussage verbunden, die gleich am Anfang der Erzählung in V. 4 begegnet. Auf die Mitteilung, daß Lazarus krank sei, reagiert Jesus mit den Worten: »Diese Krankheit führt nicht zum Tode, sondern [sie dient] zur Verherrlichung Gottes, soll doch der Sohn Gottes durch sie verherrlicht werden.«27 Unter dem Vorzeichen dieser Worte will alles Weitere gehört und bedacht sein. Der Satz entspricht dem, was Jesus später zu Martha sagen wird: (V. 23). Gemeint ist also: Obwohl Lazarus stirbt (V. 14b) und bei der Ankunft Jesu in Bethanien schon vier Tage im Grabe liegt

wähnten auch solche befinden können, die aus Jerusalem nach Bethanien gekommen sind. 23 S. dazu besonders Iwand (s. Anm. 1), 96. 99. 299f. 24 S. neben 11,51f auch 10,11.15.17f; 15,13. 25 Zwischen den Verben (V. 3) und (V. 5) besteht im Johannesevangelium kein Unterschied; vgl. dazu 5,20 mit 3,35 sowie 20,2 mit 13,23 und 19,26. 26 Zum Motiv des übernatürlichen Wissens Jesu vgl. 1,47f; 2,24f; 4,17f. 27 V. 4b ( ) ist ein epexegetischer -Satz.

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und obwohl er bereits von der Verwesung gezeichnet ist (V. 17; V. 39b)28, wird seine Krankheit nicht definitiv im Tod enden – und zwar deshalb nicht, weil Jesus es sagt und weil er hingeht, es wahr zu machen29. In dieser Bewahrheitung – d.h. in der Auferweckung des Lazarus – wird die Gottes offenbar werden30: seine göttliche Herrlichkeit, die seine Allmacht und eben damit auch die Macht über den Tod einschließt. Das Offenbarwerden der Gottes aber ist zugleich und in einem das des Sohnes Gottes31: das Offenbarwerden seiner ist keine andere als die des Vaters, und die des VaHerrlichkeit32. Jesu ters tritt einzig in derjenigen des Sohnes in Erscheinung33. Daß angesichts der Krankheit des Lazarus ( ) und des auf sie folgenden Todes die des Vaters wie des Sohnes offenbar werden wird, – das kann nun allerdings nicht ohne die Erinnerung daran gehört werden, daß sich die Offenbarung der göttlichen gewichtigen Aussagen des Evangeliums zufolge im Geschehen des in Todes und der Auferstehung Jesu ereignet34. Die Offenbarung der Christi Tod und Auferstehung und die Offenbarung der im Wunder der Auferweckung des Lazarus wollen also aufeinander bezogen und zusammengeschaut sein. Der tiefe Sinn des Wortes Jesu V. 4 ist damit deutlich: Wenn Jesus dem Tod des Lazarus ein Ende setzen wird, so tut er das als der Sohn Gottes, der in seinem Tod und seiner Auferstehung die Macht des Todes zerbricht. 28

Die Worte V. 17 sollen lediglich besagen, daß Lazarus, als Jesus nach Bethanien kommt, bereits vier Tage im Grabe lag ( gehört nicht zu , sondern zu ). Es besteht deshalb keine Diskrepanz zwischen V. 17 und dem Tatbestand, daß Jesus sich den Versen 34 und 38 zufolge erst später zum Grab begibt. – Der Sinn der Zeitangabe ist evident: »Der vierte Tag schließt jeden Gedanken an eine natürlich vermittelte Wiederbelebung aus« (A. Schlatter, Der Evangelist Johannes. Wie er spricht, denkt und glaubt, 1930 = 19603, 251). Im Hintergrund steht die Anschauung, daß die Seele eines verstorbenen Menschen noch drei Tage lang in der Nähe des Körpers weilt und in diesen zurückzukehren versucht. S. dazu Billerbeck II, 544f. 29 Vgl. Iwand (s. Anm. 1), 99. 30 Anders als in V. 40 (… ), wo die Bedeutung »die Herrlichkeit Gottes« hat, bezeichnet der Ausdruck in V. 4 metonymisch die »Verherrlichung« Gottes. Gemeint ist, wie der Vergleich mit V. 40 zeigt, das Offenbarwerden der Herrlichkeit Gottes. 31 In gewichtigen theologischen bzw. christologischen Aussagen des vierten Evangeliums hat das Verbum im Aktiv die Bedeutung »als herrlich erweisen« / »die Herrlichkeit offenbaren« (12,28[3mal]; 13,32b.c; 17,1[2mal].4.5; 16,14), im Passiv »als herrlich erwiesen werden« / »in seiner Herrlichkeit offenbar [gemacht] werden« (7,39; 12,16.23; 13,31[2mal].32a; 14,13; 17,10). 32 Zur Jesu s. 1,14; 12,41 ( bezieht sich hier auf Jesus!); 17,5.22.24, zu ihrem Offenbarwerden in einem neben 11,4 auch 2,11. 33 S. dazu insbesondere 12,41 und die dort vorliegende Bezugnahme auf Jes 6,1. 34 S. dazu 13,31f; 17,1.4f (die »Verherrlichung« des Vaters und des Sohnes) bzw. 7,39; 12,16.23 (die »Verherrlichung« Jesu).

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Die Auferweckung des Lazarus

35

Wahrgenommen wird die Herrlichkeit Jesu, die seine den Tod überwindende Macht einschließt, einzig von denen, die an ihn glauben. Das wird zwar nicht schon in V. 4 gesagt, wohl aber am Ende der Erzählung in dem Wort, das Jesus am Grab des Lazarus zu Martha spricht und das sowohl auf V. 4 wie auch auf das »Ich bin«-Wort V. 25b.c+26a zurückweist (V. 40): »Habe ich dir nicht gesagt, daß du, wenn du glaubst, die Herrlichkeit Gottes sehen wirst?« Während der Glaube in Jesu Person und Werk die »Herrlichkeit« Gottes schaut, bleibt dem Unglauben gänzlich verborgen, wer Jesus ist und was er vermag. Solcher Unglaube zeichnet alle, die in der Erzählung als handelnde und redende Person dargestellt werden: die Jünger Jesu sowie die Schwestern Maria und Martha, aber auch die Juden, die gekommen sind, um die Schwestern zu trösten, und die dann Zeugen der Auferweckung des Lazarus werden35. Den Unglauben der Jünger schildert der Abschnitt V. 11–15. Auf Jesu Wort: »Lazarus, unser Freund, ist eingeschlafen; aber ich gehe hin, um ihn aufzuwecken« (V. 11) antworten sie: »Herr, wenn er eingeschlafen ist [und also den Schlaf der Genesung schläft], wird er [wieder] gesund werden« (V. 12). In dieser Antwort erblickt der Evangelist nicht nur ein Mißverständnis der Worte Jesu36, sondern zugleich auch eine Äußerung des Unglaubens. Jesus hatte gesagt: Ich werde den Verstorbenen aufwecken; die Jünger aber stellen einen Tatbestand fest, mit dem Jesus nichts zu tun hat: Er, der schlafende Lazarus, wird wieder gesund werden. Die Wahrheit wird dann von Jesus »frei heraus« benannt (V. 14): – eine Mitteilung, die wie später das (V. 39b) in zwei Worten die schreckliche Todeswirklichkeit zum Ausdruck bringt. Daß die Feststellung der Jünger von V. 12 eine Äußerung des Unglaubens war, bestätigt der Satz, der auf das knappe folgt (V. 15): »Und ich bin um euretwillen froh, daß ich nicht dort war, – damit ihr zum Glauben kommt. So laßt uns denn zu ihm gehen!«37 Mit Lazarus’ Tod ist die Voraussetzung für das Wunder gegeben, dessen Zeugen die Jünger werden sollen. Zwischen diesem Wunder aber und dem Zum-Glauben-Kommen der Jünger besteht ein innerer Zusammenhang, den aufzuzeigen der Sinn unsrer Erzählung ist38. 35

Der von V. 42 dürfte mit den von V. 19.31ff identisch sein. Auf das Mißverständnis bezieht sich der angeschlossene »Kommentar« V. 13; zu derartigen »Kommentaren« des Evangelisten vgl. 2,21; 6,71; 7,39; 12,16; 12,33. 37 Zur sprachlichen Analyse von V. 15a ist zu bemerken: Die Worte sind von abhängig und geben den Gegenstand der Freude Jesu an; der Finalsatz expliziert die Partizipialbestimmung . – Zur Übersetzung des mit dem Kohortativ verbundenen V. 15b vgl. Bauer / Aland, Wörterbuch6, 75 s.v. 6. 38 Die Worte sprechen nicht von einer »Glaubensstärkung« oder »Glaubensförderung« (so manche Ausleger), sondern von der Konstituierung des Glaubens. 36

36

Evangelien

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Der Unglaube der Schwestern Martha und Maria kommt darin zum Ausdruck, daß beide Jesus für einen Wundertäter halten, der zwar den Kranken vor dem Sterben bewahren kann, angesichts des Todes aber selbst nichts mehr vermag. Diese Sicht steht hinter der Mitteilung: »Herr, siehe, der, den du lieb hast, der ist krank« (V. 3), impliziert diese doch die Bitte um Hilfe39, d.h. um Heilung als Bewahrung vor dem Tod. Beide Schwestern erklären dementsprechend: »Herr, wärest du hier gewesen, so wäre mein Bruder nicht gestorben!« (V. 21 und V. 32). Gemeint ist: Du hättest ihn heilen und so seinen Tod verhindern können. Martha fügt dann hinzu (V. 22): »Doch auch jetzt weiß ich, daß alles, worum du Gott bittest, Gott dir geben wird.« Auch jetzt – heißt das – gibt es noch eine Möglichkeit der Rettung: Gott kann uns auf deine Bitte hin den toten Bruder eingeleitete Satz ist im Sinne des Evangeliwiedergeben40. Dieser durch sten nicht eine Äußerung des Glaubens, sondern im Gegenteil ein Wort, das zutiefst verkennt, wer Jesus ist41. Denn Martha differenziert zwischen Gott und Jesus, indem sie Gott die totenerweckende Macht zuschreibt, in Jesus aber nur den großen Gottesmann sieht, der vollmächtig beten und erhörlich bitten kann, so wie die Schrift das von Elia (1Kön 17,17–24: 21f) und Elisa (2Kön 4,18–37: 33f) zu berichten weiß. Der -Satz V. 22 ist mithin Ausdruck einer falschen, weil zwischen Gott und Christus trennenden Christologie. Gleiches gilt auch für den zweiten durch eingeleiteten Satz der Martha. Jesus hat erklärt: »Dein Bruder wird auferstehen!« ( [V. 23b]), und darauf antwortet sie: »Ich weiß, daß er auferstehen wird bei der Auferstehung am Jüngsten Tage« ( [V. 24b]). Für den Evangelisten ist auch das eine unzutreffende Aussage, weil die eschatologische Totenauferstehung als eine Tatsache hingestellt wird, die als unzweifelhaft gewiß gilt und mit der Jesus nichts zu tun hat42. Wieder wird – jetzt im Blick auf die endgültige Überwindung des Todes – zwischen Gott und Jesus getrennt, und so folgt aus der falschen Christologie notwendig die falsche Eschatologie. Der Unglaube, der die Jünger und die beiden Schwestern zeichnet, findet sich schließlich auch bei den Juden, die gekommen sind, um Martha und Maria »über 39

Vgl. analog die Mitteilung der Mutter Jesu 2,3: . Man beachte das zweimalige in den Worten V. 22: [ ] . Der Sinn dieser Worte wird verfehlt, wenn man in ihnen die Überzeugung ausgesprochen findet, daß Jesus den Verstorbenen auferwecken könne. Der Satz der Martha V. 22 bleibt vielmehr ganz auf der Ebene von 9,31. 41 Vgl. das durch eingeleitete Urteil des Nikodemus in 3,2; s. dazu O. Hofius, Das Wunder der Wiedergeburt. Jesu Gespräch mit Nikodemus Joh 3,1–21, in: Ders. / H.-Chr. Kammler, Johannesstudien. Untersuchungen zur Theologie des vierten Evangeliums (WUNT 88), 1996, 33–86: 37f. 42 Das von V. 24b entspricht insofern dem von V. 12. 40

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Die Auferweckung des Lazarus

37

den Tod des Bruders zu trösten« (V. 19)43. Das zeigt sich zum einen darin, daß die angesichts der Todeswirklichkeit nur mit Maria weinen können (V. 33), und zum andern in dem, was sie über Jesus sagen, als dieser in dem Nein zu der Macht des Todes in Tränen ausbricht (V. 35)44. Ihr Wort »Seht, wie lieb hat er ihn gehabt!« (V. 36) schreibt Jesus jene menschliche Liebe zu, die ohnmächtig vor der Realität des Todes steht. Und wenn einige dann fragen: »Konnte dieser, der dem Blinden die Augen geöffnet hat, nicht machen, daß dieser hier nicht starb?« (V. 37), so wiederholen sie in der Sache, was Martha (V. 21) und Maria (V. 32) gesagt hatten. Sie setzen durchaus voraus, daß Jesus einem Kranken wunderbar zu helfen vermag; doch sie urteilen zugleich, daß es angesichts des Todes auch für den Wundertäter zu spät ist. Beides – das Weinen der und ihr Urteil – läßt Jesus »ergrimmen« (V. 33; V. 38). Die müßten, wie dann Jesu Gebet am Grab des Lazarus (V. 41b.42) deutlich macht, an ihn als den vom Vater gesandten Sohn Gottes glauben, wenn sie wissen sollten, wer er in Wahrheit ist: nicht der mit Wunderkräften ausgestattete Gottesmann, dessen Vermögen an der Macht des Todes seine Grenze findet, sondern der Herr, dessen Liebe göttliche Liebe ist, die – anders als alle menschliche – stärker ist als der Tod. IV Von der Überwindung des Unglaubens, der Jesu Person und Werk verfehlt, handelt der Abschnitt unsrer Erzählung, in dem wir den theologischen Höhepunkt zu erkennen haben (V. 23–27). Auf Marthas Rede von der zukünftigen Auferstehung am Jüngsten Tage (V. 24) antwortet Jesus mit dem »Ich bin«-Wort V. 25b.c+26a45. Es besteht aus der Selbstprädikation (V. 25b) und aus einem Verheißungswort, das diese Prädikation expliziert: 43

Trauernde während der – sieben Tage dauernden – Trauerzeit zu trösten ist eines der im Judentum besonders hoch geschätzten Liebeswerke; s. Billerbeck IV/1, 592ff. Zu diesem »Trösten« gehört vornehmlich der Hinweis auf die Auferstehung der Toten. Die haben also im Sinne des Erzählers den beiden Schwestern genau das gesagt, was Martha wenige Verse später sagen wird: Lazarus »wird auferstehen bei der Auferstehung am Jüngsten Tage«. Vgl. Schlatter (s. Anm. 28), 252 zu V. 24. 44 Zu dem in der Auslegung lebhaft umstrittenen knappen Satz (»Jesus brach in Tränen aus«) will beachtet sein, daß hier nicht wie in V. 31 und V. 33 das Verbum , sondern das Verbum erscheint (im Neuen Testament Hapaxlegomenon). Von daher ist es sehr begründet, wenn K. Barth, Die Lehre von der Versöhnung II (KD IV/2), 1955, 252 erklärt: Jesu Trauern ist »schon seine strikte Auflehnung gegen den Grund ihres und seines Trauerns, schon sein entschlossenes Nein zu dieser Realität. Indem er ihr und ihrem Schrecken nüchterner als alle Anderen ins Auge sieht, ist er schon auf dem Wege, sie aus der Welt zu schaffen.« 45 Zu 11,25b.c+26 s. im einzelnen Kammler (s. Anm. 1), 201–205.

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Evangelien

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(V. 25c+26a). In der Selbstprädikation ist das Subjekt, und von diesem Subjekt gilt in absoluter Exklusivität, was das Prädikat aussagt. Die Worte meinen die Auferstehung aus dem Tode und das dadurch eröffnete ewige Leben. Die beiden Begriffe sind hinsichtlich der Abfolge nicht umkehrbar, sondern die ist die Voraussetzung der 46 . »Ich bin die Auferstehung und das und die die Folge der Leben« – das besagt demnach: Die Auferstehung aus dem Tod und das mit ihr gewährte ewige Leben liegen streng und ausschließlich in Jesus als dem beschlossen, dem die und damit die göttliche Macht der Todesüberwindung eignet. Auferstehung und Leben sind mithin nicht etwas, das unabhängig von Jesus erlangt und erhofft werden könnte. Sind aber Auferstehung und Leben in Jesus und nur in ihm präsent, dann ist der »Jüngste Tag« da, wo Jesus ist, und dann findet man beides – die wie die – hier schon und jetzt schon, indem man ihn findet, d.h. an ihn glaubt. Jesu Sein ist so das Entscheidende; von ihm her bestimmt sich die Gabe, die man in der Bindung an ihn empfängt und hat. Davon spricht dann das Verheißungswort, das die Selbstprädikation expliziert (V. 25c+26a). Seine Struktur ist die folgende47:

»Der an mich Glaubende, mag er auch sterben, wird leben; und jeder, der da lebt und an mich glaubt, wird ganz gewiß in Ewigkeit nicht sterben!«

46

(Joh 5,29) = (2Makk 7,14) (Dan 12,2 LXX; PsSal 3,12). – Daß in Joh 11,25b die der vorgeordnet ist, stellt Johannes Calvin mit Nachdruck heraus: J. Calvin, In Evangelium secundum Johannem Commentarius. Pars altera, ed. H. Feld (Ioannis Calvini opera exegetica XI/2), Genf 1998, 59: »Resurrectionem priore loco se nominat, quia ordine prior est restitutio a morte in vitam quam vitae status … Nemo itaque vitae compos erit, nisi qui prius resurrexerit a morte.« Vgl. auch Iwand (s. Anm. 1), 663 Anm. 2. 47 S. dazu Kammler (s. Anm. 1), 201, dessen Übersetzung ich zitiere. Entscheidend ist die Beobachtung (ebd., Anm. 137), daß die beiden Zeilen V. 25c und V. 26a parallel aufgebaut sind und daß deshalb in V. 25c die Worte zu (und nicht etwa zu ) gehören. Das Subjekt ist eigentlich Teil des Konzessivsatzes (also: »selbst wenn der an mich Glaubende stirbt«, »mag der an mich Glaubende auch sterben«); es ist aber, weil es den Ton trägt, vorangestellt. Vgl. dazu – mit BDR § 475, Anm. 1 bzw. Kammler, ebd., Anm. 137 – im Johannesevangelium die Fälle, wo der betonte Teil des Nebensatzes vor der Konjunktion steht: vor 7,27; 16,21; vor 10,9; vor (= als) 11,20; vor 13,29. und

Vgl. die Ausdrücke

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Die Auferweckung des Lazarus

39

Die Worte und beziehen sich auf den irdischen Tod bzw. auf das irdische Leben. Anders dagegen sind die Prädikate und zu bestimmen: Das erstere bezeichnet das ewige Leben, das in der unvergänglichen Beziehung zu dem lebendigen Gott besteht; das letztere hat den ewigen Tod im Blick, der mit dem Verlust der heilvollen Gottesbe48 spricht dabei nicht von einem erst in ziehung gegeben ist. Das Futur der Zukunft liegenden Sachverhalt, sondern – wie und ähnliche futurische Wendungen in anderen Heilsaussagen des vierten Evangeliums49 – von dem, was bereits gegenwärtig und eben damit auch ewig gilt. Das knappe heißt also: er hat schon jetzt und so für immer das ewige Leben50. Der parallele Satz gibt an, was zwingend aus dem folgt: er wird ganz gewiß niemals mehr dem ewigen Tod verfallen51. Die Aussage der beiden Zeilen V. 25c und V. 26a läßt sich dann folgendermaßen wiedergeben: Wer an den glaubt, in dem die Auferstehung und das Leben beschlossen liegen, der ist, indem er zum Glauben kam, aus dem Tod der Gottesferne auferstanden und hat in diesem Glauben das ewige Leben in der heilvollen Gottesbeziehung. Ihm ist so mit dem Glauben an Christus eine neue Existenz geschenkt, die von dem irdischen Tod nicht mehr tangiert wird, weil dieser die Beziehung zu dem lebendigen Gott nicht aufzuheben vermag52. Auf das »Ich bin«-Wort folgt ganz unmittelbar die an Martha gerichtete Frage (V. 26b): »Glaubst du das?« ( ). Diese Frage macht sehr schön deutlich, daß der Glaube an Jesus – das V. 25c.26a – einen aussagbaren Inhalt hat: Er glaubt, was Jesus über sich selbst und das in ihm beschlossene Heil sagt. Die fides qua creditur und die fides quae creditur gehören so untrennbar zusammen. Von daher ist dann das Bekenntnis der Martha zu verstehen. Als Antwort auf Jesu Frage formuliert sie einen Glaubenssatz, der nun nicht mehr durch , sondern durch eingeleitet wird (V. 27):

48 Während in 5,25; 6,51.57f; 14,19 die Futurformen von im Aktiv stehen, erscheint in 11,25c – und im Johannesevangelium nur hier – das bedeutungsgleiche Medium (vgl. in LXX: 117,17a; Jes 55,3; Klgl 4,20; Ez 47,9). 49 Zu s. 6,51.57f (vgl. auch 5,25; 14,19). S. ferner etwa: / 6,35; 8,12; 10,9. 50 Das Futur 11,25c entspricht – wie 6,51.57f – dem 3,36; 5,24; 6,47.54. In 11,25c heißt zhvsetai also nicht: »er wird wieder lebendig werden« / »er wird wieder aufleben«. 51 Das Verhältnis der beiden Zeilen V. 25c und V. 26a zueinander ist das eines synthetischen Parallelismus membrorum, das am Beginn des V. 26a mithin ein folgerndes (»und also«). 52 Entsprechend heißt es 5,24 von dem Glaubenden: .

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Evangelien

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»Ja, Herr, ich glaube mit ganzer Gewißheit53, daß du der Christus bist – der Sohn Gottes, der in die Welt kommen soll.« Mit dem hier formulierten -Satz spricht Martha die Wahrheit aus. Ihr korrespondiert dem Jesu, und damit erweist sich ihr Bekenntnis als das Echo auf das vorangegangene »Ich bin«-Wort Jesu – als die Antwort des Glaubens, die von dem gewirkt ist, der zuvor in dem Wort seiner Selbsterschließung kundgetan hat, wer er ist und was er gibt. Inhaltlich zeigt sich an der Aufnahme des durch das noch einmal, daß es fundamental um Jesu Person geht. Das Bekenntnis der Martha prädiziert ihn als den von Gott gesandten Christus, d.h. als den aus der himmlischen Welt gekommenen Gottessohn, der das eschatologische Heil bringt, weil Gott selbst in ihm gegenwärtig ist54. V Dem theologischen Höhepunkt tritt der erzählerische Höhepunkt (V. 38b–44) an die Seite, der die drei Szenen V. 38b–41a, V. 41b+42 und V. 43+44 umfaßt. Die erste Szene (V. 38b–41a) beginnt mit der Notiz, daß es sich bei Lazarus’ Grab um ein , ein in den Fels geschlagenes Höhlengrab handelt, dessen Eingang durch einen Stein verschlossen ist (V. 38b). Jesu Befehl »Hebt den Stein weg!« (V. 39a) ruft den Einwand der Martha hervor: »Herr, er stinkt schon ( ); er ist ja schon vier Tage tot!« (V. 39b)55. Daß Jesus gerade angesichts des – angesichts des ganz und gar der Verwesung anheimgefallenen Lazarus – als die Auferstehung und das Leben geglaubt sein will, bringt seine Antwort zum Ausdruck, die auf das »Ich bin«-Wort V. 25b.c+26a verweist und damit zugleich die Reminiszenz an die grundlegende Aussage von V. 4 verbindet: »Habe ich dir nicht gesagt, daß du, wenn du glaubst, die Herrlichkeit Gottes sehen wirst?« (V. 40)56. Man würde in unzulässiger Weise die Erzählebene von der theologischen Ebene trennen und auf der Erzählebene zu einer völlig unange53

= »firmiter credo« (Zerwick [s. Anm. 12], 233 z.St.) vgl. die Perfekte in 6,69; 16,27; 20,29. 54 Der traditionelle Titel , der den eschatologischen Heilsbringer bezeichnet (s. etwa 1,20.41; 3,28; 4,25.29), wird wie in 20,31 durch den Titel präzisiert und interpretiert, wobei dieser in seinem spezifisch johanneischen Sinn gehört sein will. Die Worte sind nicht ein dritter Titel, sondern Attribut zu . Sie nehmen die johanneische Rede von dem »In die Welt Kommen« Jesu auf (3,19; 9,39; 12,46; 16,28; 18,37). Das Partizip Präsens steht wie in 6,14 für das Futur (»der in die Welt kommen soll«). 55 Wenn Martha noch einmal ausdrücklich als die Schwester des Verstorbenen bezeichnet wird, so soll dadurch ihr Einwand als Ausdruck der Ohnmacht menschlicher Liebe gekennzeichnet werden. 56 Daß V. 40 nicht exaktes Zitat von vorher Gesagtem ist, hat seine Parallele in 6,36 (Rückbezug auf 6,26), 6,41 (Rückbezug auf 6,32f.35) und 14,2 (Rückbezug auf 12,26.32).

von

Zu

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Die Auferweckung des Lazarus

41

messenen psychologischen Erklärung greifen, wollte man Marthas Einwand und die Antwort Jesu dahingehend deuten, daß Martha trotz ihres Bekenntnisses von V. 27 nunmehr erneut dem Unglauben verfallen sei. In Wahrheit soll der Einwand von V. 39b mit dem Hinweis auf die schon eingetretene Verwesung nur die Größe der Lebensmacht dessen herausstellen, dessen die Gottes selbst ist57. Als dieser tritt er der Todeswirklichkeit entgegen – »dem schon verschlossenen Grabe, der schon angehobenen Verwesung, der schon besiegelten Endgültigkeit des Todes«58. Die zweite Szene (V. 41b+42) bietet das Gebet, das Jesus spricht, nachdem der Stein vom Eingang des Grabes weggenommen worden ist: »Vater, ich danke dir, daß du mich erhört hast. Ich freilich wußte, daß du mich allezeit erhörst; aber um des Volkes willen, das hier um [mich] herum steht, habe ich [so] gesprochen, damit sie glauben, daß du mich gesandt hast.« Das eigentliche, d.h. von Jesus laut gesprochene und von allen vernommene Gebet umfaßt lediglich die Worte V. 41b : . Der darauf folgende Satz V. 42 stellt dagegen eine Reflexion des Evangelisten dar, die in das Gebet einbezogen ist59. Der Tatbestand, daß Jesus mit keinem Wort um die Auferweckung des Lazarus gebetet hat und gleichwohl seinem Vater im Himmel für die Erhörung dankt, wie auch der erklärende Hinweis, daß er »allezeit« vom Vater erhört wird und deshalb der Bitte prinzipiell nicht bedarf 60, lassen deutlich werden, was in negativer und was in positiver Hinsicht mit dem Gebet Jesu ausgesagt werden soll. Negativ wird ein Doppeltes abgewehrt: Jesus ist nicht ein Wundertäter im Sinne des vollmächtigen Beters, dessen Gebet von Gott Unerhörtes zu erwirken vermag; und er ist kein Wundertäter im Sinne des , der aufgrund einer ihm selbst innewohnenden göttlichen Kraft zu erstaunlichen Taten fähig ist. Die positive Aussage lautet: Jesus ist, wie nicht zuletzt durch die Gebetsanrede angezeigt wird, der Sohn Gottes, den der Vater gesandt hat und der als der Sohn nie »von sich selbst« aus handelt61, sondern immer und überall in der vollkommenen Einheit mit dem Vater. Es ist in dieser Einheit zwischen dem Sohn 57

Vgl. Dietzfelbinger (s. Anm. 1), 353. Hinzukommen mag der Gedanke, daß der Glaube, der der erfahrbaren Todeswirklichkeit das Wissen um die todesüberwindende Macht Jesu entgegensetzt, nie ein von Jesus losgelöster »Besitz« ist, sondern ganz und gar und somit auch permanent von seinem Wort und aus seinem Wort lebt. 58 Barth (s. Anm. 44), 252. 59 So richtig W. Bauer, Das Johannesevangelium (HNT 6), 19333, 154: V. 42 ist »eine Reflexion des Evangelisten in Gebetsform«. V. 42 entspricht formal den durch angeschlossenen Anmerkungen, die sich verschiedentlich im Evangelium finden (7,39; 11,13; 12,6; 12,33). 60 Richtig Bultmann (s. Anm. 1), 311 zu V. 42: »Da der Sohn der Erhörung durch den Vater stets gewiß ist, bedarf er nie der Bitte.« 61 Vgl. 5,19.30; 7,16f.28; 8,28; 12,49; 14,10.24. Zu diesen Stellen s. die wichtigen Erwägungen bei Kammler, Christologie und Eschatologie (s. Anm. 1), 24–28. 32–34. 227f.

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Evangelien

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und dem Vater begründet, wenn Jesus Lazarus aus dem Tod ins Leben rufen und wenn darin seine als die des Vaters und die des Vaters als seine offenbar werden wird. Das nun geschieht in der dritten und letzten Szene (V. 43+44), die zugleich den Abschluß der Erzählung bildet. Mit lauter Stimme ruft Jesus: »Lazarus, komm heraus!« ( V. 43b), und dieser Ruf wirkt das Wunder: »Da kam der Tote heraus, an den Beinen und Armen62 mit Binden umwickelt, und sein Gesicht war mit einem Schweißtuch umhüllt.« (V. 44a). Wenn Lazarus an Beinen und Armen gebunden aus dem Grab heraustritt, so ist das nicht, wie einige Ausleger der Alten Kirche meinten, »ein Wunder im Wunder«63, sondern ein nachdrücklicher Hinweis auf das Wunder selbst. Für dieses ist ja wesentlich, daß alles an Jesu Wort hängt und deshalb von einer eigenen Bewegung des Auferweckten keine Rede sein kann.

VI Vergleicht man die Schilderung des theologischen Höhepunktes (V. 23–27) und diejenige des erzählerischen Höhepunktes (V. 38b–44) miteinander, so läßt sich eine auffallende Parallelität wahrnehmen. Der Zusage Jesu: »Dein Bruder wird auferstehen« (V. 23b) entspricht der Befehl: »Hebt den Stein weg!« (V. 39a). Auf die Zusage wie auf den Befehl reagiert Martha jeweils mit einer Äußerung, die Jesu Person und sein Vermögen verkennt – dort mit dem Hinweis auf die erst am Jüngsten Tage erfolgende Auferstehung des Lazarus (V. 24), hier mit dem Hinweis auf die schon eingetretene Verwesung des Toten (V. 39b). In seiner Antwort spricht Jesus – wenn man auf die Aussageintention von V. 25f und V. 40 achtet – beide Male von sich selbst und seinem göttlichen Persongeheimnis: von der , die ihm eignet, und von dem Heil, das er schenkt und das im Glauben an ihn empfangen wird. Und schließlich wirkt Jesus durch sein Wort bei Martha den Glauben, der sich im Bekenntnis äußert (V. 25–27), und bei Lazarus die Auferstehung, die zum Leben führt (V. 43f). Der Überwindung des Unglaubens korrespondiert so die Überwindung des leiblichen Todes, dem durch Jesus gewirkten Glauben das von ihm neu geschenkte irdische Leben. Was auf der Erzählebene lediglich als Parallelität wahrgenommen werden kann, erscheint in einem anderen Licht, sobald die theologische Ebene in die Betrachtung mit einbezogen wird. Dann nämlich zeigt sich, daß zwischen dem, was von Martha, und dem, was von Lazarus berichtet wird, ein tiefer innerer 62

Wörtlich: »an den Füßen und Händen«. Die Worte und sind metonymisch gebraucht (pars pro toto-Metonymie). 63 S. die Belege bei Bauer (s. Anm. 59), 154; (s. Anm. 1), 303.

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Die Auferweckung des Lazarus

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Zusammenhang besteht. Dem »Ich bin«-Wort V. 25b.c+26a zufolge hat Martha, indem sie zum Glauben an Jesus gekommen ist, das ewige Leben empfangen. Auferweckung aus dem Tode hat sich also nicht nur bei Lazarus, sondern ebenso auch bei Martha ereignet, und hier wie dort ist es das Wort des Sohnes Gottes, dem sich das neue Leben verdankt64. Den damit gegebenen inneren Zusammenhang wird man nicht anders beschreiben können als so, daß in dem Wunder, das Lazarus widerfährt, abgebildet und veranschaulicht wird, was im Zum-Glauben-Kommen der Martha geschieht. Das heißt: Die Auferweckung des Lazarus aus dem leiblichen Tod bringt jenes Wunder zur Darstellung, das unvergleichlich größer ist als das Geschehen einer Totenerweckung: Jesus ruft aus dem geistlichen Tod – aus der Beziehungslosigkeit Gott gegenüber – in das ewige Leben der heilvollen Gottesbeziehung, das seine Signatur im Glauben an ihn als den Sohn Gottes hat. VII Aus dem bisher Gesagten ergibt sich nunmehr eine gewichtige Konsequenz: Die Erzählung von der Auferweckung des Lazarus berichtet nicht bloß ein einmaliges wunderbares Ereignis, das zu einer bestimmten Zeit an einem bestimmten Ort stattgefunden hat und das insofern den Totenerweckungen an die Seite gestellt werden könnte, die im Alten Testament von Elia und Elisa berichtet werden. In der Erzählung ist vielmehr von dem die Rede, was immer und überall da geschieht, wo Jesus durch sein Wort Menschen aus dem geistlichen Tod auferweckt. Entsprechend ist Lazarus mehr als nur eine individuelle »historische« Gestalt – er repräsentiert den aus dem Tod ins ewige Leben versetzten Menschen, zu dessen Rettung Jesus selbst in den Tod gehen mußte65. In Joh 11,1–44 wird somit in der Gestalt der Erzählung genau jener Sachverhalt beschrieben, der im Rahmen der Worte Jesu Joh 5,19–30 bereits in der Form einer theologischen Aussage zur Sprache gekommen ist66: »Wie der Vater die Toten auferweckt und lebendig macht, so macht auch der Sohn lebendig, die er [lebendig machen] will. … Wahrlich, wahrlich, ich sage euch: Wer mein Wort hört und dem glaubt, der mich gesandt hat, der hat das ewige Leben, und er verfällt nicht dem Strafgericht, sondern er ist aus dem Tod in das Leben hinübergeschritten. Wahrlich, wahrlich, ich sage euch: Es kommt die Stunde, ja sie ist jetzt schon da, in der die Toten die Stimme des 64

Zum Leben schaffenden Wort Jesu s. auch 6,63 (»Der Geist ist es, der lebendig macht … Die Worte, die ich zu euch geredet habe, die sind Geist und sind Leben«) und 6,68f (»Herr, zu wem sollten wir gehen? Du hast Worte des ewigen Lebens, und wir haben geglaubt und erkannt, daß du der Heilige Gottes bist«). 65 Vgl. Iwand (s. Anm. 1), 98. 300. 66 Ich zitiere die Verse 5,21.24–26. Zur Auslegung dieser Verse und ihres Kontextes s. im einzelnen Kammler (s. Anm. 1), 75ff.

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Evangelien

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Sohnes Gottes hören werden, und die gehört haben, werden leben. Denn wie der Vater das Leben in sich selber hat, so hat er auch dem Sohn verliehen, das Leben in sich selber zu haben.«

In diesen Sätzen ist von den geistlich Toten die Rede – von jenen Menschen also, die ohne Beziehung zu dem lebendigen Gott leben und deshalb in ihrem irdischen Leben bereits dem ewigen Tod verfallen sind. Aus diesem Tod werden sie durch die Stimme des Sohnes Gottes herausgerufen, der ihre Ohren öffnet und sie zu Glaubenden macht, die im Glauben das ewige Leben haben. Die »Stunde«, in der das den zitierten Worten zufolge geschehen soll und geschieht, ist die Zeit der nachösterlichen Christusverkündigung67, die mit jener anderen »Stunde« angebrochen ist, von der das vierte Evangelium zu sagen weiß: mit der Stunde der »Verherrlichung« Jesu in seinem Tod und seiner Auferstehung68. Das aber bedeutet: In der nachösterlichen Verkündigung ist der auferstandene Sohn Gottes selbst präsent, hier erschließt er sein göttliches Persongeheimnis. Er läßt die »Seinen«, für die er aus Liebe Mensch geworden und gestorben ist, seine »Herrlichkeit sehen, indem er durch sein Wort den Glauben wirkt, der als solcher die Teilhabe am ewigen Leben ist, und so das neue Sein schafft, das von dem leiblichen Tod nicht mehr berührt wird. Wie die Christologie beschaffen ist, die in Joh 5,19–30 und dementsprechend auch in Joh 11,1–44 zum Ausdruck kommt, das bedarf jetzt keiner ausführlichen Erörterung mehr. Martin Luther hat in einer Predigt zu dem »Ich bin«-Wort Jesu 11,25b.c+26a knapp und präzis bemerkt: »Diese Worte gebühren keinem außer dem wahrhaftigen Gott. Man darf nicht an einen Menschen glauben.« 69 Für Luther ist deshalb evident: Schreibt der Evangelist Jesus die Überwindung des ewigen Todes und die Gewährung der zu, so erklärt er damit, »daß Christus Gott ist, weil das ewige Leben zu geben allein das Werk der ewigen Gottheit ist«70. Mit diesem Urteil hat der Reformator die Christologie, die in der Erzählung von der Auferweckung des Lazarus narrativ entfaltet wird, zutreffend auf den Punkt gebracht. 67

Zur Deutung der von 5,25 (und 4,23) s. Kammler (s. Anm. 1), 158ff. 2,4; 7,30; 8,20; 12,23.27; 13,1; 17,1; s. auch die Rede von dem Jesu (7,6.8) und von dem seines Todes und seiner Auferstehung (12,27.31; 13,31; 16,5; 17,5.13). 69 D Martin Luthers Evangelien-Auslegung (hg. von E. Mülhaupt) IV: Das Johannesevangelium mit Ausnahme der Passionstexte, bearbeitet von E. Ellwein, 19612, 343 (WA XLVII 715,17: »Die gehorn nemini zu nisi Deo vero. Non credendum in hominem«). 70 So Luther in einer Predigt über die Worte Joh 17,1c–3, die innerhalb des Johannesevangeliums eine Sachparallele zu der Lazarus-Erzählung darstellen; s. Evangelien-Auslegung IV, 567 (WA XXVIII 90,5f / BoA VII 216,25f: »Christum esse deum, quia vitam aeternam dare est opus divinitatis aeternae«). Der gesamte Textzusammenhang WA XXVIII 88,11–95,4 / BoA VII 214,22–218,28 (Evangelien-Auslegung IV 564–569) kann als ein – ausgezeichneter – Kommentar zu Joh 11,1–44 gelesen werden. 68

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Die Auferweckung des Lazarus

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Summary In the detailed and carefully formulated text of John 11:1–44 there are two levels which are closely connected and which refer to one another continuously: the narrative level of the miracle story and the theological level, which expresses the true meaning of the reported event. Accordingly, the text has two points of major significance between which there exist not only clear parallels but a deep inner connection as well. The narrative high point is in the verses 38b – 44, and the theological high point in the verses 23–27. The exegetical analysis of these passages as well as that of the text as a whole shows the extent to which the story of the raising of Lazarus is a central document of Johannine Christology and of the soteriology which is based on it.

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„Werke des Gesetzes“ – Zwei Nachträge I Erste kritische Anmerkungen M. Bachmanns zu dem voranstehenden Aufsatz1 geben mir dazu Anlaß, auf einen wichtigen sprachlogischen Sachverhalt hinzuweisen, der in dem Aufsatz zwar angesprochen wird2, den ich jedoch noch schärfer hätte herausstellen sollen. Es ist der Sachverhalt, daß zwischen einem Gebot und dem Gebotenen präzise unterschieden werden muß. Ich verdeutliche das – unter Bezugnahme auf ein Votum Bachmanns – an der Verwendung des Wortes bei Josephus, Antiquitates XX 38–48. Der von Bachmann vertretenen These, daß Josephus in XX 42.43.46 „von der Beschneidungsforderung als “ rede3, habe ich widersprochen und dazu bemerkt: „An diesen Stellen meint das Wort vielmehr die Beschneidung selbst, und die Wendung bezeichnet ihren Vollzug.“4 Dem hält Bachmann entgegen: „Da das Verb (s. bes. Ant. XX.43, 46) eigens zum Substantiv hinzugesetzt wird, meint hier gerade nicht , sondern das Handeln, die Beschneidung, den Vollzug; das ‚Werk‘ betrifft hingegen etwas zu Vollziehendes, eine in die Praxis umzusetzende ‚Regelung‘ …, in diesem Fall genauer ‚die Beschneidungsforderung‘… Ganz analog heißt es in Ant. XX.44 – nun freilich pluralisch –: .“5 Zu dieser Replik kann ich nur das Folgende feststellen: Daß das Verb den Vollzug zum Ausdruck bringt, habe ich selbst gesagt6, und daß „etwas zu Vollziehendes“ meint, wird von mir nicht bestritten und spricht in gar keiner Weise gegen mein

1

M. Bachmann, J. D. G. Dunn und die Neue Paulusperspektive, ThZ 63 (2007) 25–43: 40 Anm. 70 (vgl. auch 27 Anm. 12); Ders., Zur Argumentation von Galater 3.10–12, NTS 53 (2007) 524–544: 541 Anm. 73 (vgl. auch 524 f. Anm. 2). 2 S. o. S. 63 (vgl. auch S. 57). 3 M. Bachmann, Sünder oder Übertreter. Studien zur Argumentation in Gal 2,15 ff. (WUNT 59), Tübingen 1992, 98 (Hervorhebung von mir). 4 So o. S. 61. 5 Bachmann, Zur Argumentation von Galater 3.10–12 (s. Anm. 1), a. a. O. 6 Ich füge jetzt hinzu: Die Wendung bzw. ist im Griechischen ganz geläufig und bedeutet: „ein Werk / eine Tat vollbringen“, „eine Handlung vollziehen“ u. ä.; s. z. B. Homer, Odyssee 19,323 f.; Aischylos, Prometheus vinctus 75; Euripides, Heraclidae 980; Xenophon, Symposium I 1; VIII 32; Herondas, Mimiambi III 62.82; Josephus, Antiquitates I 233; VI 80.263; Bellum Judaicum IV 640; VII 195; Vita 47; im Neuen Testament: Apg 26,20; 1Kor 5,2.

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oben zitiertes Urteil7. Das „zu Vollziehende“ – weil vom Gesetz Gebotene8 – ist in dem Josephus-Text die Beschneidung. Diese ist aber keineswegs dasselbe wie die „Beschneidungsforderung“, sondern sie ist das in dieser und mit dieser Geforderte. Die Beschneidungsforderung ist dabei Sache dessen, der die Beschneidung gebietet oder verlangt9, wohingegen die Beschneidung selbst – und also das ! – Sache dessen ist, der die Forderung befolgen soll oder befolgt10. Wenn Bachmann an anderer Stelle erklärt, die Beschneidungsvorschrift Gen 17,10b („Beschnitten werden soll unter euch alles, was männlich ist“) gehöre „zu den eine Bedeutung zugeschrie(als Regelungen)“11, so wird dem Wort ben, die es im Griechischen nicht hat. Der Satz Gen 17,10b gebietet ein , und das ist das in diesem Satz Gebotene; auf ihn selbst dagegen kann das Wort – wenn man dessen lexikalisch belegte Bedeutungsbreite voraussetzt – nicht angewendet werden. Im Zusammenhang mit dem, was exemplarisch an Ant XX 38–48 verdeutlicht wurde, will noch ein weiterer, ebenfalls nicht unwichtiger sprachlicher Sachverhalt beachtet sein. Der von Bachmann mehrfach erwähnte12 und nicht 7 In dem bei Anm. 5 mitgeteilten Votum Bachmanns zeigt sich deutlich das sprachlogische Problem, insofern die Ausdrücke „etwas zu Vollziehendes“, „in die Praxis umzusetzende ‚Regelung‘“ und „Forderung“ einfach nebeneinandergestellt werden. Weil Bachmann – wie hier exemplarisch sichtbar wird – zwischen Forderung und Gefordertem nicht präzise unterscheidet, kommt er zu der recht seltsamen Feststellung, daß meine korrekte Übersetzung der Worte (Ant XX 44) mit „die (in der Tora) gebotenen Dinge tun“ meiner eigenen Absicht entgegen (!) „recht gut erkennen“ lasse, „dass das Gebotene – die ‚gebotenen Dinge‘ – ,in der Tora‘ … seinen Ort hat und nicht schon der Vollzug, die praktische Umsetzung ist“ (Zur Argumentation von Galater 3.10–12 [s. Anm. 1]), 541 Anm. 73). Meiner Absicht, die Unhaltbarkeit der Wiedergabe von mit „Gebot“, „Forderung“, „Regelung“ u. ä. aufzuzeigen, steht die zitierte Übersetzung keineswegs entgegen. Während es sich nämlich von selbst versteht, daß sowohl das Gebotene und also zu Vollziehende wie auch (im Fall der Befolgung des Gebotes) das Vollzogene oder den Vollzug bezeichnen kann, folgt aus der Verwendung von zur Bezeichnung des Gebotenen noch lange nicht, daß das Wort ein Terminus für das Gebot selbst ist. Vgl. zur Sache auch das unten bei den Anmerkungen 18–22 Gesagte. 8 Dies ist die Bedeutung der Worte … (sc. ) in Ant XX 44. Vgl. ebd. 46. 9 Nach Ant XX 44 ist dies die Tora ( ) bzw. genauer noch der im redende Gott. 10 Im Kontext von Ant XX 38–48 ist dies der von dem Juden Eleazar zur Beschneidung gedrängte König Izates. 11 M. Bachmann, Keil oder Mikroskop? Zur jüngeren Diskussion um den Ausdruck „‚Werke‘ des Gesetzes“, in: Ders. (Hg.), Lutherische und Neue Paulusperspektive. Beiträge zu einem Schlüsselproblem der gegenwärtigen exegetischen Diskussion (WUNT 182), Tübingen 2005, 69–134: 93 (auf diesen Aufsatz konnte ich o. S. 51 Anm. 7 nur noch eben hinweisen); Ders., J. D. G. Dunn und die Neue Paulusperspektive (s. Anm. 1), 38. Die zitierte Feststellung ist Bestandteil der als „Polysemietest“ fungierenden Formulierung: „Gen 17,10b gehört zu den (als Regelungen), aber nicht zu den (als [außersprachlichen] Handlungen)“ (Kursivierung von Bachmann). 12 S. etwa o. S. 57 bei Anm. 46 sowie Bachmann, Keil oder Mikroskop? (s. Anm. 11), 84. 116.

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zu bestreitende Tatbestand, daß auch die Bedeutung „Aufgabe“ hat, liefert keineswegs ein tragfähiges Argument für die These, daß das Wort gelegentlich „Gebot“ u. ä. heißen könne. Wird nämlich in der Bedeutung „Aufgabe“ verwendet, so ist nicht etwa die von jemandem formulierte „Aufgabenstellung“ gemeint13, sondern das jemandem „aufgetragene Geschäft“14. Zwischen den beiden Bedeutungsmöglichkeiten des deutschen Wortes muß genau unterschieden werden, weil andernfalls aus der Angabe der Lexika, daß u. a. die Bedeutung „Aufgabe“ habe, falsche Schlüsse gezogen werden können. Es bleibt festzuhalten: Etwas Gebotenes, Gefordertes, Befohlenes, Vorgeschriebenes, Geregeltes, Aufgegebenes kann griechisch als – und hebräisch als – bezeichnet werden. In diesen Fällen ist der Sinn jener Worte: „das gebotene, geforderte, befohlene, vorgeschriebene, geregelte, aufgegebene Werk / Tun / Handeln“ bzw. „die gebotene, geforderte, befohlene, vorgeschrieund bene, geregelte, aufgegebene Tat / Handlung“15. Die Worte haben dagegen keineswegs die Bedeutung „das Gebot, die Forderung, der Befehl, die Vorschrift, die Regelung, die (formulierte) Aufgabenstellung“, und sie bezeichnen dementsprechend auch nicht einfach eine dieser Größen selbst16. An allen Stellen, die Bachmann bisher als Belege für seine semantische These angeführt hat, ergibt sich – gerade auch innerhalb des jeweiligen Kontexts – ein klarer Sinn, wenn man für bzw. für eine der in den einschlägigen Lexika verzeichneten Bedeutungen (vor allem: „Werk, Tun, Handeln, Tat, Handlung“ oder „Aufgabe, Arbeit“) voraussetzt. Keine einzige dieser Stellen zwingt dazu, eine der von mir bestrittenen Bedeutungen anzunehmen oder auch nur in Erwägung zu ziehen. Es müßte schon an einer bestimmten Stelle eine sich aus dem Text selbst ergebende Nötigung vorliegen, wollte man mit hinreichendem Grund eine Wortbedeutung postulieren, die über die Bandbreite der in 13 „Aufgabe“

in diesem Sinne heißt im Altgriechischen – je nach der genaueren Nuance – oder 14 H. Schenkl, Griechisches Schulwörterbuch II: Deutsch-Griechisches Schulwörterbuch, Leipzig – Berlin 61909, 50a s. v. „Aufgabe“; vgl. auch die einschlägigen Lexika des Griechischen s. v. (z. B. die o. S. 57 bei Anm. 46 angeführte und von Bachmann selbst zitierte Bestimmung in: H. Menge, Langenscheidts Großwörterbuch Altgriechisch-Deutsch, Berlin u. a. 27 1991, 283 f.). Was zu zu sagen ist, gilt in gleicher Weise, wenn das hebräische in der Bedeutung „Aufgabe“ (englisch: „task“) verwendet wird: Es bezeichnet dann das Aufgegebene, nicht aber die von einer Person formulierte Aufgabenstellung. 15 Um jedes Mißverständnis auszuschließen, merke ich ausdrücklich an: Die beiden Nomina und können zwar die Bedeutung „die Aufgabe“ haben, sie bedeuten aber durchaus nicht einfach auch: „das Gebotene, das Geforderte, das Befohlene, das Vorgeschriebene, das Geregelte“. 16 Diese in Teil I des voranstehenden Aufsatzes begründete sprachlich-philologische Feststellung gilt auch für die dort noch nicht erwähnten Texte Josephus, Contra Apionem II 292 und Philo, De praemiis et poenis 82 f., in denen ohne jeden Zweifel „Taten, Handlungen“ heißt (gegen die Erwägungen bei Bachmann, Keil oder Mikroskop? [s. Anm. 11], 120 f. Anm. 218).

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der altgriechischen Literatur belegten und deshalb in den Lexika verzeichneten Bedeutungsmöglichkeiten hinausgeht17. Was das zur Diskussion stehende paulinische Syntagma anlangt, so kann ich nur das Urteil wiederholen, das ich in dem voranstehenden Aufsatz zu begründen versucht habe: Das Syntagma heißt – wörtlich übersetzt – „Werke des Gesetzes“, und es hat den der Tora konfrontierten Menschen und sein Tun im Blick. Das in bezug auf diesen Menschen und sein Tun im Gebotene, Geforderte, Befohlene, Vorgeschriebene, Geregelte und Aufgegebene ist die ganzheitliche Befolgung der in der Tora bezeugten Willensforderung Gottes und somit genau das, was in Sir 19,20 genannt wird. Bei diesem Verständnis des paulinischen Syntagma besteht zwischen den beiden Feststellungen, daß es in der Rede von den um „das in dem vom Menschen Geforderte“ gehe18 und daß der Ausdruck „den Toragehorsam in ganz umfassendem Sinn“ meine19, keineswegs eine „Unausgeglichenheit“20. Wenn Bachmann in meinen Ausführungen zur Semantik des Begriffs und zur Bedeutung des Syntagma „Unausgeglichenheit“ bzw. „innere Spannungen“21 findet, so beruht das schlicht darauf, daß er Forderung und Gefordertes gleichsetzt22. Angesichts dessen sei noch einmal in aller Deutlichkeit formuliert: Sowohl das in der Tora geforderte Tun wie auch das Tun des in der Tora Geforderten können – dem im Griechischen belegten Sprachgebrauch des Wortes entsprechend – als bezeichnet werden, die Forderungen der Tora selbst dagegen nicht23. Für den paulinischen Fundamentalsatz (Gal 2,16; Röm 3,20) bedeutet 17 Eine Nötigung zu entsprechenden Überlegungen ist natürlich nicht schon dann gegeben, wenn in ein und demselben Aussagezusammenhang neben / bzw. / ein Ausdruck erscheint, der die Bedeutung „Gebot“ u. ä. hat (so z. B. Ex 18,20 [MT und LXX]; Lev 18,3; Mi 6,16 [MT und LXX]; TestLev 19,1; vgl. 4Esr 7,24; syrBar 57,2). 18 So o. S. 63. 19 So o. S. 84. 20 So das Urteil bei Bachmann, J. D. G. Dunn und die Neue Paulusperspektive (s. Anm. 1), 40 Anm. 70. Bachmann führt die beiden zitierten Sätze als Beleg dafür an, daß „Unausgeglichenheit“ ein „Signum“ der sprachlichen Erwägungen des voranstehenden Aufsatzes sei. 21 Bachmann, Zur Argumentation von Galater 3.10–12 [s. Anm. 1]), 525 in Anm. 2. 22 Vgl. zur Sache auch o. Anm. 7. 23 Mein Widerspruch gegen die Deutung von als „Regelungen / Vorschriften des Gesetzes“ u. ä. richtet sich selbstverständlich nicht nur gegen Bachmanns These, sondern gegen alle Interpretationen, die das Syntagma in diesem Sinn verstehen wollen. Darauf im einzelnen einzugehen, erübrigt sich. Für geboten halte ich lediglich eine Anmerkung dazu, daß bei W. Haubeck / H. von Siebenthal, Neuer sprachlicher Schlüssel zum griechischen Neuen Testament II: Römer bis Offenbarung, Gießen 1994, 11 und 140 f. zu Röm 3,20; Gal 2,16; 3,2 vermerkt wird: „die Taten, die das Gesetz vorschreibt, die Regelungen des Gesetzes (d. h. sein Inhalt m. den Forderungen)“. Hier werden zwei kategorial zu unterscheidende Bestimmungen in unhaltbarer Weise nebeneinandergestellt. Unhaltbar ist ferner auch die ebd., 141 gebotene Übersetzung von Gal 3,10 mit: „alle, die sich (im Blick auf ihre Gerechtigkeit) an den Vorschriften des Gesetzes ausrichten“.

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dies: Die von Bachmann vertretene Deutung, daß „Tora-Vorschriften“ – d. h. die Gebote und Verbote der Tora – den Menschen nicht „rechtfertigen“, ist aus sprachlich-philologischen Gründen unhaltbar. Der Satz besagt vielmehr: „Aufgrund des Tuns dessen, was die Tora gebietet, wird kein Fleisch (kein Mensch) gerechtgesprochen werden.“ Dabei ist die Meinung des Paulus nicht etwa die, daß es jenes „Tun“ tatsächlich gebe. Im Gegenteil: Der Apostel formuliert den Fundamentalsatz von Gal 2,16 und Röm 3,20 gerade deshalb, weil nach seiner Überzeugung unter den von Adam herkommenden Menschen kein einziger den in der Tora geforderten Gehorsam und also die aufzuweisen hat und aufzuweisen vermag. Von daher macht es in der Sache keinen Unterschied, ob man sich für die soeben notierte Wiedergabe des Satzes entscheidet oder aber übersetzt: „Aufgrund des in der Tora gebotenen Tuns wird kein Fleisch (kein Mensch) gerechtgesprochen werden.“

II In dem voranstehenden Aufsatz habe ich vorausgesetzt, daß zu dem paulinischen Syntagma in formaler Hinsicht bislang nur eine einzige Parallele nachgewiesen ist – nämlich der hebräische Ausdruck in 4QMMT C 2724. Wie ich einer Notiz bei M. Bachmann entnehmen konnte25, will H. W. Basser im Targum Jonathan zu Jes 42,21 einen aramäischen Beleg für das genannte Syntagma finden26. Basser gibt den dort begegnenden Ausdruck korrekt mit „the workers of His law“ wieder und fügt dann hinzu: „A variant reading gives us ‚the works of the law‘.“ Diese „variant reading“ existiert jedoch in Wirklichkeit nicht. Die einzige in den kritischen Textausgaben27 verzeich-

24 S. o. S. 50. Was den Ausdruck betrifft, so ist es ein durchaus gewichtiger Unterschied, ob man für ihn die Bedeutung „precepts of the Torah“, „Tora-Regelungen“ bzw. „Halakhot“ (so Bachmann: s. o. S. 53) oder aber (wie die ebd. in Anm. 17 und Anm. 18 genannten Autoren) die Bedeutung „Tora-Praktiken“ bzw. „in der Tora verbindlich vorgeschriebene Praktiken“ annimmt. Im erstgenannten Fall wird für eine im Hebräischen nicht belegte Bedeutung vorausgesetzt, im zweitgenannten hingegen nicht. Wenn sich in 4QMMT neben dem Ausdruck (C 27) auch die Wendung findet (C 30; ebenso B 1 neben [ ]), so folgt daraus keineswegs, daß es sich bei den beiden Formulierungen um „Parallelen“ handelt, deshalb „ebenfalls die ‚Halakhot‘ des Schreibens“ bezeichnet und hier mithin die Bedeutung „Vorschriften“ hat (gegen Bachmann, Keil oder Mikroskop? [s. Anm. 11], 123 f.). 25 Bachmann, ebd., 85 Anm. 67. 26 H. W. Basser, Studies in Exegesis. Christian Critiques of Jewish Law and Rabbinic Responses 70–300 C. E. (The Brill Reference Library of Ancient Judaism 2), Leiden 2000, 124. 27 J. F. Stenning, The Targum of Isaiah. Edited with a Translation, Oxford 1949 = 1953, 143; A. Sperber (Ed.), The Bible in Aramaic III: The Latter Prophets according to Targum Jonathan, Leiden 1962, 86.

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28 nete varia lectio lautet , und diese bedeutet nicht: „the works of the law“, sondern: „the workers of the law“29. Da die beiden Ausdrücke und auch an anderen Stellen des Jesaja-Targum erscheinen30, kann nicht der geringste Zweifel daran bestehen, daß in Jes 42,21 das Nomen regens bei beiden Textvarianten als (= „Täter“) und nicht etwa als (= „Werke“) zu lesen ist31. Eine aramäische Parallele zu dem Ausdruck liefert TargJes 42,21 mithin nicht32. Dem im Vorigen Gesagten sei noch der folgende Hinweis angefügt: Gelegentlich stößt man in der exegetischen Literatur auf die Auskunft, daß die Rabbinen die Wendung = „Werke der Gebote“ kennen33. Hier handelt es sich jedoch um ein Mißverständnis dessen, was P. Billerbeck in seinem Kommentarwerk zu dem Syntagma ausführt34. Billerbeck bietet dort eine Übersetzung des syrischen Ausdrucks ‘bd’ dpwqdn’ (syrBar 57,2) ins Hebräische ( ) und Aramäische ( )35, er behauptet aber nicht, daß die hebräische bzw. aramäische Wendung in der rabbinischen Literatur belegt sei. Entsprechend handelt es sich bei den wenigen zu Röm 3,20 dargebotenen Belegen für die Verwendung des Begriffs „Werke“ ausschließlich um Texte, in denen das bloße oder aber der Ausdruck erscheinen36.

28 Diese Lesart findet sich – außer im Ms. p. 116 der Montefiore Library, London – im Codex Reuchlianus; s. P. de Lagarde, (Ed.), Prophetae chaldaice, Leipzig 1872 = Osnabrück 1967, 268. 29 Der Ausdruck = „die Täter des Gesetzes“ begegnet TargJes 4,2; 9,6; 13,12; 38,17; 53,10. Einen weiteren Beleg – nämlich: TargOnq Gen 49,11 – notiert P. J. Tomson, „Die Täter des Gesetzes werden gerechtfertigt werden“ (Röm 2,13). Zu einer adäquaten Perspektive für den Römerbrief, in: M. Bachmann (Hg.), Lutherische und Neue Paulusperspektive (s. Anm. 11), 183–221: 207 Anm. 90. 30 S. dazu die vorige Anmerkung sowie o. S. 65 Anm. 86. 31 Gegen Basser, der die Vokalisierung auch im Blick auf die Lesart für möglich hält (so die Mitteilung bei Bachmann, Keil oder Mikroskop? [s. Anm. 11], 85 Anm. 67). Zum korrekten Verständnis von TargJes 42,21 vgl. noch die Übersetzungen: Stenning, The Targum of Isaiah (s. Anm. 27), 142; B. D. Chilton (Ed.), The Isaiah Targum. Introduction, Translation, Apparatus and Notes (The Aramaic Bible 11), Edinburgh 1987, 83. 32 So mit Recht auch Tomson, „Die Täter des Gesetzes werden gerechtfertigt werden“ (s. Anm. 29), a. a. O. 33 S. z. B. E. Grässer, Der ruhmlose Abraham (Röm 4,2). Nachdenkliches zu Gesetz und Sünde bei Paulus, in: M. Trowitzsch (Hg.), Paulus, Apostel Jesu Christi (FS Günter Klein), Tübingen 1998, 12 f. (mit Anm. 51); M. Theobald, Der Römerbrief (EdF 294), Darmstadt 2000, 195. Vgl. auch G. Bertram, Art. , ThWNT II (1935 = 1957) 631–653: 643,24 f.; O. Michel, Der Brief an die Römer (KEK IV), Göttingen 5(14)1978, 144 Anm. 8. 34 P. Billerbeck, Kommentar zum Neuen Testament aus Talmud und Midrasch III, München 1926 = 21954, 160 f. zu Röm 3,20. 35 Ebd., 160. 36 Ebd., 161.

Zu Römer 10,4: Der Satz Röm 10,4 – – ist in der Exegese nach wie vor lebhaft umstritten1. Zu den sprachlichen Problemen gehört dabei die Frage, worin das Subjekt des Satzes und worin sein Prädikat zu erkennen ist. Dieser Frage sind die folgenden Überlegungen gewidmet. Die Römerbrief-Kommentare dürften überwiegend als Subjekt voraussetzen2. Allerdings wird das Problem der Syntax zumeist weder erwähnt noch erörtert, und dementsprechend fehlt auch eine Begründung für das Verständnis von als Subjekt. Anders steht es etwa in dem Kommentar von C. E. B. Cranfield, in dem sich zu dem Satz Röm 10,4 die folgende Feststellung findet: „The natural way to construe it is to take as the predicate thrown forward for the sake of emphasis and as the subject. Had Paul intended to say that the of (the) law is Christ, he would surely have used the article with .“3 Dieser Feststellung hat Chr. Burchard widersprochen und dabei zur Struktur des Verses bemerkt: „Daß keinen Artikel hat, macht es noch nicht zum Prädikat, die Wortstellung nicht zum Subjekt. Entsprechendes gilt für . … Für sich genommen ist Röm 10,4 syntaktisch nicht eindeutig.“4 Nach Burchard ist für die syntaktische Analyse des Satzes der Kontext, d. h. der Argumentationszusammenhang Röm 9,30–10,13 ausschlaggebend: Dieser spricht seiner Sicht zufolge entscheidend dafür, im Unterschied zu der Mehr-

1 S. dazu die neueren Kommentare z. St. sowie M. Theobald, Der Römerbrief (EdF 294), Darmstadt 2000, 215–219 (Literatur ebd., 212 f.). 2 Als ein ausdrückliches Votum für als Subjekt habe ich mir aus der älteren Literatur lediglich notiert: J. A. Bengel, Gnomon Novi Testamenti. Editio octava stereotypa ed. P. Steudel (= Nachdruck der Ausgabe Tübingen 31773), Berlin 1891, 596: „Subjectum finis legis, Praedicatum Christus.“ Bengel ergänzt dann zu ein , das den Namen mit verbindet. 3 C. E. B. Cranfield, The Epistle to the Romans II: Commentary on Romans IX–XVI and Essays (ICC), Edinburgh 1979, 515. S. auch bereits W. Sanday / A. C. Headlam, The Epistle to the Romans (ICC), Edinburgh 51902 = 1992, 284: „ is the predicate of the sentence thrown forward for emphasis.“ 4 Chr. Burchard, Glaubensgerechtigkeit als Weisung der Tora bei Paulus, in: Chr. Landmesser / H. J. Eckstein / H. Lichtenberger (Hg.), Jesus Christus als die Mitte der Schrift. Studien zur Hermeneutik des Evangeliums (BZNW 86), Berlin – New York 1997, 341–362: 355 (= in: Chr. Burchard, Studien zur Theologie, Sprache und Umwelt des Neuen Testaments [WUNT 107], Tübingen 1998, 241–262: 255).

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heitsmeinung als Subjekt zu bestimmen5. Nun besteht jedoch auch hinsichtlich des übergreifenden Zusammenhangs Röm 9,30–10,13 – und hier insbesondere im Blick auf die Verse 9,30–33 und 10,5–13 – keineswegs ein exegetischer Konsens. Wer den Kontext im Ganzen wie auch in Einzelheiten anders interpretiert, als Burchard es tut, kann in ihm gerade ein Argument dafür erblicken, daß in Röm 10,4 als das Subjekt und als das Prädikat anzusehen sind6. Da der Kontext mithin die Exegese ebenfalls vor nicht geringe Auslegungsprobleme stellt, ist zu fragen, ob es nicht doch sprachlichphilologische Argumente gibt, die ein hinreichend begründetes Urteil über die syntaktische Struktur von Röm 10,4 erlauben. Faßt man lediglich den Vers Röm 10,4 in den Blick, so ist der Satz in der Tat „syntaktisch nicht eindeutig“7. Ein anderes Bild ergibt sich jedoch dann, wenn man die paulinischen Homologumena insgesamt in die Betrachtung mit einbezieht und nach dem syntaktischen Befund fragt, der dort hinsichtlich jener Nominalsätze zu verzeichnen ist, in denen wie in Röm 10,4 Subjekt und Prädikatsnomen von einem Substantiv gebildet werden8. Die entsprechende Nachprüfung führt zu dem Ergebnis, daß in diesem Fall – von drei in ihrer Besonderheit noch zu würdigenden Ausnahmen abgesehen – das Subjekt stets mit dem Artikel verbunden ist9. Ich liste dazu zunächst die reinen und sodann die mit einer Kopula versehenen Nominalsätze auf10.

5

Ebd., 354–362 (bzw. 254–262). Das Prädikat des Satzes ist nach Burchard nicht nur , sondern die ganze Wortkette , wobei „metonymisch für das Christusereignis“ steht (ebd., 362 [bzw. 262]). – Im Anschluß an Burchard votiert für als Subjekt auch Theobald, Der Römerbrief (s. Anm. 1), 215 Anm. 42. 6 So z. B. die von mir vertretene Sicht: O. Hofius, Das Gesetz des Mose und das Gesetz Christi, in: Ders., Paulusstudien (WUNT 51), Tübingen 21994, 50–74: 63–66; Gesetz und Evangelium nach 2. Korinther 3, ebd., 75–120: 110 f. Anm. 217; Zur Auslegung von Römer 9,30–33, in: O. Hofius, Paulusstudien II (WUNT 143), Tübingen 2002, 155–166: 163 f. 7 So das oben bei Anm. 4 zitierte Urteil Burchards. 8 Den Begriff „Prädikatsnomen“ verwende ich ausschließlich für das in prädikativer Position stehende Nomen eines reinen oder eines mit Kopula versehenen Nominalsatzes. S. dazu – und also zu der Unterscheidung von „Prädikatsnomen“ und „Prädikatsadjunkt“ – E. Bornemann / E. Risch, Griechische Grammatik, Frankfurt am Main 21978, § 260. 9 Um eine gänzlich eigenständige Satzstruktur, die hier außer Betracht bleiben kann, handelt es sich in 1Kor 15,39: 10

In die Liste wurden nicht aufgenommen: a) das Zitat Röm 3, ( [= 5,10]); b) der textkritisch schwierige Satz Gal 4,25; c) die Worte 1Kor 15,23b, die m. E. als Nominalsatz zu lesen sind (s. u. S. 129 f.), von der überwältigenden Mehrheit der Exegeten aber anders verstanden werden. Unter den mit einer Kopula versehenen Nominalsätzen führe ich auch diejenigen Sätze an, in denen als Ersatz für das Hilfsverb eine Form von verwendet wird. – Wo die im Folgenden notierten Sätze Konjunktionen aufweisen, sind diese in der Regel weggelassen worden; in Röm 14,17 und 1Kor 14,33 bleib das jedoch wegen des Enklitikon stehen.

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Zu Römer 10,4:

Reine Nominalsätze: Röm 6,21: Röm 6,23: Röm 7,7: Röm 8,6:

;

Röm 8,7: Röm 8,10: Röm 9,8: Röm 11,12: [sc. Röm 11,15: Röm 13,10: 1Kor 15,56:

] 11

Phil 1,8: Phil 3, : Nominalsätze mit Kopula: Röm 1,9: Röm 11,6: Röm 13,3: Röm 14,17: 1Kor 1,18: 1Kor 3,19: 1Kor 6,15: 1Kor 10,4: 1Kor 10,16: ; 12

; 1Kor 11,3: 13 11

Daß Subjekt des Satzes ist, ergibt sich zwingend aus dem Argumentationszusammenhang V. 8–10. 12 Der Akkusativ ist Attraktion an das folgende Relativpronomen. 13 Zu 1Kor 11,3 bemerken A. Robertson / A. Plummer, The First Epistle of St Paul to the Corinthians (ICC), Edinburgh 1911 = 1986, 229 zutreffend: „By is meant supremacy, and in each clause it is the predicate; ‚Christ is the head of man, man is the head of woman, and God is the head of Christ‘.“ Vgl. auch W. Schrage, Der erste Brief an die Korinther. 2. Teilband: 1Kor 6,12–11,16, (EKK VII/2), Düsseldorf bzw. Neukirchen-Vluyn 1995, 500 Anm. 67.

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1Kor 11,7: 1Kor 12,14: 2Kor 3,17: Gal 3,24: Gal 4,26: Gal 5,22 f.:

14

Zu den aufgelisteten Belegen seien noch jene Stellen hinzugefügt, an denen aus dem unmittelbaren Satzzusammenhang zu einem das Prädikativum repräsentierenden attributiven Genitiv als nomen regens ein Substantiv zu ergänzen ist15: Röm 3,29:

[

Röm 9,9: 1Kor 14,33:

] [ [

[ 2Kor 2,3: Gal 3,20:

; [ ] ]

];

[

]

] [

] [

]

Sofern mir bei der Durchsicht der paulinischen Homologumena nicht ein Versehen unterlaufen ist, kann gesagt werden: Läßt man zunächst einmal Röm 10,4 außer Betracht, so finden sich unter den Nominalsätzen, in denen als Subjekt und als Prädikatsnomen jeweils ein Substantiv erscheint, nur drei, in denen beim Subjekt der Artikel fehlt. Es handelt sich um die Frage ; Gal 2,17 (Subjekt = ) sowie um die beiden Aussagen 1Thess 2,5 (Subjekt = ) und 1Thess 4,6 (Subjekt = ). Diese drei Sätze bilden jedoch strenggenommen keineswegs eine Ausnahme von der Regel. Wenn nämlich das bereits zum Eigennamen gewordene – wie häufig in den Paulusbriefen – ohne Artikel steht, so entspricht das dem im Altgriechischen bei Eigennamen Üblichen; und was die Nomina und anlangt, so ist bei Paulus bekanntlich nicht selten ein artikelloser Gebrauch zu verzeichnen16 – eben weil die beiden Nomina auch ohne Artikel als determiniert gelten. Hinsichtlich der Verwendung des artikellosen Nominativs als Subjekt eines Aussagesatzes ist auf Röm 8,3317 und 2Kor 5,19 hinzuweisen, während zu 1Thess 4,6 angesichts der alttestamentlich-jüdischen Prä18 angemerkt werden kann, daß das auf Gott begung der Worte 14 Der Satz erklärt, wer der ist, von dem das Ex 34,34 LXX verpflichtete Zitat 2Kor 3,16 spricht. 15 Das zu ergänzende Substantiv ist jeweils in eckige Klammern gesetzt. 16 Vgl. dazu BDR § 254,1 (auch § 268,2). 17 Der Satz Röm 8,33b entspricht einem . 18 Vgl. dazu T. Holtz, Der erste Brief an die Thessalonicher (EKK XIII), Zürich – Einsiedeln – Köln bzw. Neukirchen-Vluyn 1986, 164 mit Anm. 105.

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Zu Römer 10,4:

zogene bloße bei Paulus in einigen Schriftzitaten begegnet19, der Apostel hier also biblischer Redeweise folgt. Man kann nach dem Gesagten für Paulus als festen Sprachgebrauch annehmen, daß in Nominalsätzen, in denen Subjekt und Prädikatsnomen von einem Substantiv gebildet werden, das determinierte Subjekt den Artikel bei sich hat. Wäre in dem reinen Nominalsatz Röm 10,4 das artikellose Subjekt, dann läge syntaktisch eine Formulierung vor, zu der es in den Briefen des Apostels keine Parallele gibt. Von daher legt sich im Blick auf Röm 10,4 ein Urteil nahe, dem zumindest der Grad sehr hoher Wahrscheinlichkeit zugemessen werden darf: Hätte der Apostel eine Aussage über die Tora in Hinsicht auf ihr machen und also als Subjekt verstanden wissen wollen20, so wäre seinem sonstigen Sprachgebrauch entsprechend die Formulierung oder zu erwarten21. Der durch unsere Zusammenstellung der Belege dokumentierte Sprachgebrauch spricht somit nachdrücklich für die Richtigkeit der oben zitierten Feststellung Cranfields22. Zu dem im Vorigen dargelegten Befund tritt bestätigend eine weitere sprachliche Beobachtung hinzu. Es ist die Beobachtung, daß der Satz Röm 10,4 in struktureller Hinsicht in Röm 1,16 eine auffallende Parallele hat. Der dortigen Gesamtaussage – – läßt sich der Satz entnehmen: . Stellt man diesen Satz und den Satz Röm 10,4 nebeneinander, so wird die Parallelität deutlich: Röm 1,16:

Röm 10,4:

A B

In beiden Fällen ist die Satzstruktur die gleiche: Der Nominalsatz (A) bringt zunächst einen Tatbestand zur Sprache, und zwar einen solchen von besonderem Gewicht. Die anschließende -Aussage (B) nennt sodann das Ziel, die Folge

19 Röm 4,8; 9,28; 14,11; 1Kor 3,20 (falls paulinisch, auch: 2Kor 6,17 f.). In Röm 12,19b und 1Kor 14,21 dürfte Paulus die Worte mit zum Zitat rechnen. 20 Burchard, Glaubensgerechtigkeit als Weisung der Tora bei Paulus (s. Anm. 4), 355 (bzw. 255) bemerkt zu Recht: Mit als Subjekt wäre das Thema von Röm 10,4 „die Tora in Hinsicht auf ihr “. 21 Der attributive Genitiv könnte sowohl ohne wie auch mit Artikel stehen; vgl. dazu und Röm 2,13 einerseits und Röm 8,4 andererseits. Als syntaktische Parallele zu der Formulierung wäre . 1Tim 1,5 anzuführen. 22 S. o. bei Anm. 3.

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und die Wirkung, die mit diesem Tatbestand gegeben sind23. Wie nun in dem Nominalsatz Röm 1,16 ohne jeden Zweifel das am Anfang stehende artikellose Prädikatsnomen und das nach zu ergänzende Subjekt ist, so dürfte auch in dem Nominalsatz Röm 10,4 das am Anfang stehende Prädikatsnomen und Subjekt sein24. Röm 1,16 besagt: Das Evangelium ist Gottes schöpferische Macht, so daß es jedem Glaubenden die eschatologische Rettung bringt. Entsprechend besagt Röm 10,4: Christus ist das der Tora, so daß er jedem Glaubenden die , d. h. die heilvolle Beziehung zu Gott bringt. * Wie als Fazit festgehalten werden kann, sprechen gute Gründe dafür, daß in Röm 10,4 Subjekt und Prädikatsnomen ist. Dann aber sind von der Syntax her keinerlei Einwände gegen jene Übersetzung zu erheben, die nach meinem Urteil sowohl durch den Argumentationszusammenhang von Röm 9,30–10,21 wie auch durch die paulinische Gesetzestheologie insgesamt gefordert ist: „Christus ist das Ende des Gesetzes – zur Gerechtigkeit (d. h. zum Heil) für jeden Glaubenden.“ meint dabei, wie von Röm 10,6 f. bzw. Röm 10,6–13 her deutlich ist, den Mensch gewordenen, gekreuzigten und auferstandenen Christus als den Bringer des eschatologischen Heiles Gottes, und die Aussage, daß er das ist, bedeutet: In Christus hat der den Sünder verklagende und ihn zu Recht unter das tödliche stellende sein „Ende“ gefunden, weil im Heilsgeschehen seines Todes und seiner Auferstehung die Befreiung von dem als die iustificatio impiorum sola fide beschlossen liegt25. Gegen diese Deutung26 spricht keineswegs, daß im näheren Kontext von Röm 10,4 von dem auf den sündigen Menschen lastenden

23 Zur Parallelität von und vgl. das Nebeneinander beider Wendungen in Röm 10,10. 24 Zur Artikellosigkeit von ist an das zu erinnern, was oben zu Gal 2,17 ( ;) gesagt wurde. 25 Als Prädikat zu bedeutet soviel wie „is qui finem affert“; so zutreffend C. L. W. Grimm in seinem auf der „Clavis Novi Testamenti philologica“ von Chr.G. Wilke (21851) beruhenden Wörterbuch: C. L. W. Grimm, Lexicon Graeco-Latinum in libros Novi Testamenti, Gießen 41888, 430b s. v. 1.a; vgl. J. H. Thayer, A Greek-English Lexicon. Being Grimm’s Wilke’s Clavis Novi Testamenti translated revised and enlarged, Edinburg 41901 = 1961, 620a s. v. 1.a. Grimm gibt die Worte mit „finem legi attulit Christus“ wieder, und er verweist zum Vergleich auf Demosthenes, Orationes LVII 27: (hier heißt : „der Tod setzt dem Leben ein Ende“). Der von Wilke und Grimm gebotenen semantischen Bestimmung entspricht die Übersetzung von Röm 10,4 bei H. Menge, Das Neue Testament, Stuttgart 111949, 244: „Dem Gesetz hat Christus ein Ende gemacht, damit jeder, der da glaubt, zur Gerechtigkeit gelange.“ 26 Zu ihr s. im einzelnen meine o. Anm. 6 genannten Arbeiten.

Zu Römer 10,4:

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und von dem Sühnetod Christi nicht ausdrücklich die Rede ist27. Die Kapitel 9–11 des Römerbriefs stehen ja doch unter dem Vorzeichen dessen, was Paulus zuvor in den Kapiteln 1–8 ausgeführt hat, und die Worte weisen in Röm 10,4 nur zu deutlich auf das Thema des Briefes Röm 1,16 f. wie auch auf das in Röm 3,21–30 Gesagte zurück28.

27 Implizit tritt das allerdings sehr wohl in den Blick, wenn es in Röm 10,5 – und somit in unmittelbarem Anschluß an Röm 10,4 sowie in strenger Antithese zu den Aussagen über die Röm 10,6 ff. – heißt: [ ] . Wie Paulus diesen Satz verstanden wissen will, kann aufgrund des Gesamtzeugnisses sowohl des Galater- wie auch des Römerbriefs nicht zweifelhaft sein: Die Tora verheißt in Lev 18,5 dem die , der alle ihre Weisungen befolgt, und sie bindet damit die Gabe des eschatologischen Heils daran, daß einer ein ist (vgl. Röm 2,13). Weil es aber, wie in Röm 1,18–3,20; 5,12–21; 7,7–25a in aller Klarheit dargetan wird, in der von Adam herkommenden Menschheit keinen einzigen gibt und geben kann, ist der Satz Lev 18,5 das Todesurteil der Tora über einen jeden Menschen. 28 Es wird schwerlich ein Zufall sein, daß die für Röm 10,4 kennzeichnende Formulierung im Römerbrief nur in 1,16 ( ) und in 3,22 ( ) eine Entsprechung hat. Im Kontext von Röm 10,4 ist außerdem der Vers Röm 10,11 zu beachten, wo Paulus – anders als in Röm 9,33 – in das Zitat von Jes 28,16c ( ) vor ein einfügt.

Die Auferstehung der Toten als Heilsereignis Zum Verständnis der Auferstehung in 1Kor 15*

I Zu den theologisch besonders gewichtigen Abschnitten des 1. Korintherbriefs gehört ohne Zweifel das 15. Kapitel, in dem Paulus ausführlich zu der Frage der „Auferstehung der Toten“ Stellung nimmt. Diese Stellungnahme ist dadurch veranlaßt, daß in der jungen und von dem Apostel selbst gegründeten Gemeinde in Korinth von einer Gruppe von Gemeindemitgliedern die Meinung vertreten wird: – „Eine Auferstehung der Toten gibt es nicht.“1 Was jene Gemeindemitglieder genau gemeint haben, ist in der Exegese umstritten2. Gute Gründe sprechen für die Annahme, daß sie in der Taufe einen Ritus sahen, der den Getauften das göttliche und eben damit Unsterblichkeit vermittelte. Die Getauften – so dachten sie – sind der Welt des Todes definitiv entnommen. Sie besitzen bereits das wahre jenseitige Leben, so daß ihr Sterben nichts anderes ist als der Übergang in die himmlische Welt, der sie ihrem Wesen nach schon angehören. Da der physische Tod somit jede Bedeutung verloren hat und der Leib lediglich die vergängliche Hülle der mit göttlichem erfüllten Seele ist, bedarf es einer nicht3. Der Behauptung der Auferstehungsleugner widerspricht Paulus mit aller Entschiedenheit. Er wendet sich zum einen gegen die Geringschätzung des Leibes, weil nach seiner Überzeugung die Existenz des Menschen wesentlich eine * Dem Aufsatz liegt ein Vortrag zugrunde, der am 23. September 2007 auf Neugriechisch in Korinth gehalten wurde (Internationaler wissenschaftlicher Kongreß „The Apostle Paul and Corinth. 1950 Years since the Writing of the Epistles to the Corinthians“, 23.–25. September 2007). 1 Paulus zitiert diese Behauptung in 1Kor 15,12. 2 S. dazu etwa G. Sellin, Der Streit um die Auferstehung der Toten. Eine religionsgeschichtliche und exegetische Untersuchung zu 1. Korinther 15 (FRLANT 138), Göttingen 1986, 17–37; Chr. Wolff, Der erste Brief des Paulus an die Korinther (ThHK 7), Leipzig 1996, 421–426; A. Lindemann, Der Erste Korintherbrief (HNT 9/I), Tübingen 2000, 338 f.; W. Schrage, Der erste Brief an die Korinther. 4. Teilband: 1Kor 15,1–16,24 (EKK VII/4), Düsseldorf bzw. Neukirchen-Vluyn 2001, 111–119. 3 Vgl. Wolff, Der erste Brief des Paulus an die Korinther (s. Anm. 2), 423–425. Wolff weist ebd., 424 mit Recht darauf hin, daß die Sicht der korinthischen Auferstehungsleugner eine „auffallende Parallele“ in der Theologie des hellenistischen Judentums hat. S. dazu etwa Sap 2,21–3,10; 4,7; 5,14–16; 6,12–21 (besonders V. 19); 8,13.17; 9,15; 15,3; vgl. auch Philo, De specialibus legibus I 345.

Die Auferstehung der Toten als Heilsereignis

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somatische Existenz ist. Der Mensch hat nicht bloß ein , sondern er ist – und das bedeutet: Er existiert stets so, daß er auf ein Gegenüber bezogen und ausgerichtet ist, und zwar nicht zuletzt auf den lebendigen Gott, dem er sein Dasein verdankt und seinen Gehorsam und Dienst schuldet. Zum andern legt der Apostel dar, daß die Getauften keineswegs bereits der Unsterblichkeit teilhaftig sind, sondern mit ihrer ganzen Existenz noch diesseits der Todesgrenze stehen. Erst mit der Auferstehung der Toten, die bei der Parusie Christi erfolgen wird4, werden sie „die Unvergänglichkeit erben“5, und dieses Geschehen betrifft sie in der Ganzheit ihrer Existenz, die gerade auch das Leibliche umfaßt.

II Die Grundlage, von der aus Paulus im einzelnen argumentiert, ist das Evangelium, das die Apostel verkündigen und das in der Kirche Jesu Christi geglaubt wird. Dieses Evangelium, dem auch die Gemeinde in Korinth ihre Existenz verdankt, wird den Empfängern des Briefes in den Versen 1–11 nachdrücklich vor Augen gestellt. Dabei bringt Paulus die entscheidende Aussage des Evangeliums so zur Sprache, daß er eine apostolische Lehrtradition zitiert, die der Kirche und ihrer Verkündigung als verbindliches Glaubensgut vorgegeben ist6. In dieser Lehrtradition wird ausgesagt:

. „daß Christus gestorben ist um unserer Sünden willen nach der Schrift und daß er begraben worden ist und daß er auferstanden ist am dritten Tage nach der Schrift und daß er dem Kephas erschienen ist, danach den Zwölfen.“7 4

1Kor 15,23.52; 1Thess 4,15 f. So die Formulierung in dem wichtigen Satz V. 50. Bei diesem Satz dürfte Paulus diejenigen Christen im Blick haben, die bei der Parusie Christi noch am Leben sind und dann „verwandelt“ werden (V. 51 f.); s. J. Weiss, Der erste Korintherbrief (KEK 5), Göttingen 91910 = 1977, 377–380. Da die „Verwandlung“ der Lebenden aber der Auferstehung der Toten entspricht (V. 52b), gilt die Feststellung von V. 50 zugleich auch ganz grundsätzlich. 6 Die von Paulus zitierte Lehrtradition umfaßt die Verse 3b–5. Daß der Apostel in ihr die entscheidende Aussage des Evangeliums zum Ausdruck gebracht sieht, ergibt sich aus V. 1–3: Die Worte [sc. ] V. 2 bedeuten: „mit welcher Aussage ich euch das Evangelium verkündigt habe“, und die Wendung V. 3 kennzeichnet diese Aussage als eine solche, „die elementare Bedeutung hat“ (so die neugriechische Übersetzung in der Ausgabe der : . , Athen 2003, 399: „ “). 7 Zur Begründung der Übersetzung von (V. 4b) mit „er ist auferstanden“ bzw. zur Synonymie der Verben und s. O. Hofius, „Am dritten Tage 5

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Wie der Apostel die zitierten Worte verstanden hat, das kann aufgrund des Gesamtzeugnisses seiner Briefe nicht fraglich sein und wird auch im Spiegel dessen sichtbar, was er sogleich in den Versen 12–19 unseres Kapitels ausführen wird. Nach Paulus sind Christi Tod und Auferstehung in ihrem differenzierten, aber unlöslichen Zusammenhang8 die Heilstat Gottes zur Rettung der vor ihm verlorenen Menschen. Zweierlei ist dem Apostel dabei besonders wichtig: 1. Wenn gesagt wird, daß Christus „um unserer Sünden willen gestorben ist“ ( ), so besagt dies: Er ist gestorben, um die Menschen von der Macht der Sünde und des Todes zu befreien. Die Sünde ist nach Paulus das unerhörte Nein des Menschen zu seinem Schöpfer9, das jede Gemeinschaft mit ihm absolut unmöglich macht und deshalb notwendig den Tod zur Folge hat – und zwar nicht bloß den physischen Tod, sondern den für immer von Gott trennenden Tod10. Rettung gibt es für diesen Menschen einzig deshalb, weil Christus in seinem Tod am Kreuz die Sünde und den Tod derer, für die er starb, auf sich selbst genommen und ihnen so den Zugang zu Gott und damit zum ewigen Leben eröffnet hat11. 2. Mit der Aussage, daß Christus „am dritten Tage auferstanden ist“ ( ) und daß er „dem Kephas erschienen ist, danach den Zwölfen“ ( ), wird bezeugt: Der Gekreuzigte ist durch die Auferstehung als der Sieger über Sünde und Tod erwiesen, und er ist als der auferstandene und lebendige Herr zugleich der Garant des in seinem Tod begründeten Heils12. Er selbst hat in seinen österlichen Erscheinungen den von ihm erwählten Aposteln dieses Heil erschlossen und ihnen damit das Evangelium anvertraut, durch dessen Verkündigung Menschen zum rettenden Glauben geführt werden. Im Blick darauf erklärt Paulus, der selbst als letzter zum Apostel berufen wurde13 und als solcher den Korinthern das Evangelium gebracht hat, am Ende des Abschnitts V. 1–11: Alle Apostel verkündigen genau auferstanden von den Toten“. Erwägungen zum Passiv in christologischen Aussagen des Neuen Testaments, in: Ders., Paulusstudien II (WUNT 143), Tübingen 2002, 202–214. 8 Diesen Zusammenhang bringt bereits die in V. 3b–5 zitierte Lehrtradition selbst zur Sprache; s. dazu F. Mussner, Zur stilistischen und semantischen Struktur der Formel 1 Kor 15,3–5, in: Ders., Jesus von Nazareth im Umfeld Israels und der Kirche. Gesammelte Aufsätze (WUNT 111), Tübingen 1999, 190–200. 9 S. dazu insbesondere Röm 1,21 und Röm 1,25. 10 S. dazu Röm 5,12.14.17a.21a; 6,16.20 f.23a; 7,5.10.13.24; 8,2.6a.13a; 1Kor 15,56. 11 Zum Begriff der bei Paulus s. Röm 2,7; 5,21; 6,22 f.; Gal 6,8 (dafür auch verkürzt einfach : Röm 5,17b.18b; 8,10; 2Kor 2,16; 5,4). Dem Begriff der entspricht der Begriff der (= „die Herrlichkeit, die Gott schenkt“) Röm 3,23; 5,2 (dafür verkürzt einfach : Röm 8,17 f.21; 1Kor 2,7; 15,43; 2Kor 4,17; Phil 3,20 f.; Kol 1,27; 1Thess 2,12; 2Thess 2,14). 12 Das Perfekt V. 4b, das in den Versen 12–14.16 f.20 wieder aufgenommen wird, besagt: „er ist auferstanden und lebt“. Die Formulierung blickt nicht nur auf das einmalige Geschehen der Auferstehung, „sondern es kommt zugleich das gegenwärtige Sein Christi als des Lebendigen zum Ausdruck“ (so richtig Wolff, Der erste Brief des Paulus an die Korinther [s. Anm. 2], 364). 13 1Kor 15,8.

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das, was die ihnen anvertraute Lehrtradition von Christus sagt, und die Korinther haben, als sie Christen wurde, eben das im Glauben angenommen14. Daß mit dem von den Aposteln bezeugten Evangelium die Behauptung schlechterdings unvereinbar ist, das legt Paulus in den Versen 12–19 dar15. Seine entscheidende These lautet: „Wenn es eine Auferstehung der Toten nicht gibt, dann ist auch Christus nicht auferstanden.“16 Aus dieser These aber ergeben sich, wie er sogleich hinzufügt, ganz unmittelbar die folgenden fundamentalen Konsequenzen: Ist Christus nicht auferstanden, dann ist die Verkündigung der Apostel unwahr und also „nichtig“17, und dementsprechend ist der durch die Verkündigung gewirkte Glaube ohne jedes tragfähige Fundament und somit ebenfalls „nichtig“18. Und ferner: Ist Christus nicht auferstanden, dann ist sein Tod unmöglich die Heilstat Gottes zur Befreiung von den Sünden. Dann aber bestimmen die Sünden weiterhin das Sein der Glaubenden19, so daß sie mit ihrem Sterben definitiv dem ewigen Tod verfallen sind20. Daß sich das alles mit innerer Notwendigkeit ergibt, wenn Christus nicht auferstanden ist, ist evident. Zu fragen bleibt jedoch: Wie ist die These des Apostels begründet, daß dann, wenn es keine Auferstehung der Toten gibt, auch Christus nicht auferstanden ist? 14 V. 11: . Das Adverb ist hier substantiviert (vgl. Mk 2,12; Lk 1,25; 2,48) und Objekt zu und , so daß zu übersetzen ist: „Solches verkündigen wir, und solches habt ihr im Glauben angenommen.“ Das zweimalige bezieht sich sachlich auf die in V. 3b–5 zitierte Lehrtradition und entspricht damit dem von V. 2. 15 Paulus bezieht sich in V. 12–19 ständig auf das in V. 1–11 Gesagte zurück. Was die in V. 3b–5 zitierte Lehrtradition anlangt, so wird die Aussage … (V. 4) in V. 12–17 durchgehend aufgenommen, und auf die Worte (V. 3b) nimmt V. 17b ( ) Bezug. Ferner sind im Blick auf die Aussagen des Apostels selbst die folgenden Bezugnahmen zu notieren: 1. Das Stichwort V. 11 (und damit auch V. 1 f.) wird in V. 12 ( ) und in V. 14 ( ) und das Stichwort (V. 2; V. 11) in V. 14 und V. 17a ( ) aufgenommen, und dementsprechend steht den Worten von V. 11 der Satz … V. 14 gegenüber. – 2. Der Rede vom V. 2 korrespondiert die Rede vom V. 18. – 3. Auf die Reihe der in V. 5–8 erwähnten Zeugen und auf das in V. 3a ( … ) und in V. 11 ( ) beschriebene bezieht sich die Formulierung V. 15. 16 V. 13: … . Fast wörtlich gleich V. 16: … . 17 V. 14: . Vgl. V. 15: die Apostel sind dann , d. h. solche, die mit der Behauptung, daß Gott Christus auferweckt habe, die Unwahrheit über Gott sagen. Der Genitiv ist ein Genitivus objectivus. 18 V. 14: , V. 17: . 19 V. 17b: . 20 Das ergibt sich aus V. 18: . Das Medium ist Gegenbegriff zu dem in V. 2 begegnenden ; vgl. 1Kor 1,18; 2Kor 2,15 (s. auch die Antithese von und in Phil 1,28). Das Verbum bezeichnet in V. 18 den ewigen Tod – wie in Joh 3,16; 10,28; Röm 2,12 und in alttestamentlichen Aussagen über die Gottlosen (z. B. 9,6; 36,20; 67,3; 72,27; 91,10; Jes 41,11).

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III Manche Ausleger verstehen die genannte These so, als wolle Paulus sagen: Wenn es grundsätzlich keine Auferstehung der Toten gibt, dann kann auch Christus nicht auferstanden sein21. Gegen diese Interpretation des V. 13 spricht jedoch, daß Paulus selbst in den Versen 20–23 das Verhältnis zwischen der Auferstehung Christi und derjenigen der Toten in entschieden anderer Weise bestimmt22. Der Apostel betont zunächst in V. 20, daß Christus als die der Tobezeichnet hier und dann ebenso in ten auferstanden ist23. Das Wort V. 23 nicht einfach den „Ersten“ in einer Reihe, sondern vielmehr – wie in Röm 11,1624 – diejenige Größe, die alle qualifiziert und bestimmt bzw. über alle entscheidet, die mit ihr verbunden sind25. Daß an unserer Stelle diesen Sinn hat, ergibt sich aus den Versen 21+22, in denen Paulus erklärt: Wie Adam mit seinem Sündenfall über das Schicksal aller von ihm abstammenden Menschen entschieden hat26, so entscheidet Christus mit der Heilstat seines Todes und seiner Auferstehung über das Schicksal all derer, die zu ihm gehören27. V. 21 bringt dies zunächst in einer grundsätzlichen Feststellung zur Sprache: 28 – „Denn weil ja durch einen Menschen der Tod [verursacht ist], [ist] auch durch einen Menschen 21 So z. B. E.-B. Allo, Saint Paul. Première Épître aux Corinthiens (EtB), 21956, 401; J. Héring, La première Épître de Saint Paul aux Corinthiens (CNT[N] 7), Neuchâtel 21959, 137; K.-G. Sandelin, Die Auseinandersetzung mit der Weisheit in 1.Korinther 15 (Meddelanden från Stiftelsens för Åbo Akademie Forskningsinstitut 12), Åbo 1976, 18; Ι: – ' , Athen 31978, 400. 22 Daß Paulus bereits bei der Formulierung von V. 12 bzw. V. 13 den Gedanken von V. 20 im Blick hat, vertreten mit Recht Schrage, Der erste Brief an die Korinther IV (s. Anm. 2), 125 f. und die dort 126 Anm. 565 genannten Exegeten. 23 . Der Ausdruck ist ein Synonym zu . 24 Paulus sagt in Röm 11,16 über das Verhältnis zwischen Abraham und Israel als seiner Nachkommenschaft: … . Mit der Rede von der und dem nimmt der Apostel Bezug auf Num 15,17–21 LXX (s. dort in V. 20 und V. 21 den Ausdruck ). 25 Ph. Bachmann, Der erste Brief des Paulus an die Korinther (KNT 7), Leipzig – Erlangen 3 1921, 440 bemerkt zutreffend, daß mit „ein nicht bloß zeitliches, sondern kausales Verhältnis“ zwischen der Auferstehung Christi und derjenigen der Entschlafenen zum Ausdruck gebracht wird. Zu Unrecht wird dagegen bei Bauer / Aland, Wörterbuch6, 162 s. v. 2.a für 1Kor 15,20 die Übersetzung „als erster der Gestorbenen“ vorgeschlagen und dazu erklärt, daß die ursprüngliche Bedeutung „stark verblaßt“ sei, „so daß . fast = ist“. 26 Vgl. 4Esr 3,6 f.; 7,118–126; syrBar 17,3; 23,4; 54,15; 56,5 f.; Rabbinisches bei P. Billerbeck, Kommentar zum Neuen Testament aus Talmud und Midrasch III, München 1926 = 21954, 227 f. 27 S. dazu den ausführlichen paulinischen Kommentar in Röm 5,12–21. 28 Dem grundsätzlichen Charakter der Aussage entspricht die elliptische Formulierung. In beiden Versteilen ist einfach ein zu ergänzen; so C. F. G. Heinrici, Der erste Brief an die Korinther (KEK 5), Göttingen 81896, 462.

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die Auferstehung der Toten [verursacht]“. Diese Aussage wird sodann in V. 22 expliziert: 29 – „Wie nämlich in Adam alle sterben, so werden auch in Christus alle lebendig gemacht werden.“ Aufgrund des in den Versen 20–22 Gesagten kann nicht zweifelhaft sein, wie Paulus den Zusammenhang zwischen der Auferstehung Christi und der Auferstehung der Toten sieht. Sein Urteil lautet: Einzig und allein deshalb, weil Christus auferstanden ist, gibt es überhaupt eine Auferstehung der Toten30. Wäre dagegen Christus nicht auferstanden, dann wäre in der Tat der Satz wahr: . Der Apostel erblickt also in der Auferstehung Christi den Realgrund für die Auferstehung der Toten und dementsprechend in der Auferstehung der Toten die notwendige Folge der Auferstehung Christi. Diese für Paulus entscheidende Sicht bildet bereits die Voraussetzung für die Frage von V. 12: „Wenn aber verkündigt wird, daß Christus von den Toten auferstanden ist, wieso sagen bei euch einige: ‚Eine Auferstehung der Toten gibt es nicht‘?“31 Und auf der Grundlage jener Sicht formuliert Paulus dann in V. 13 den Umkehrschluß: „Wenn es eine Auferstehung der Toten nicht gibt, dann ist auch Christus nicht auferstanden.“32 Fragen wir nun, warum Paulus in der Auferstehung Christi den Realgrund für die Auferstehung der Toten erblickt, so ist noch einmal auf sein Verständnis des Christusgeschehens hinzuweisen. Daß Christi Tod und Auferstehung in ihrem differenzierten Zusammenhang die Heilstat Gottes zur Rettung der verlorenen Menschen sind, wurde bereits gesagt. Ist aber Christus

29 Die Formulierung ist eine paulinische Analogiebildung zu (vgl. J. Jeremias, ThWNT I [1933 = 1957] 141 Anm. 7), und das korrespondiert in beiden Wendungen dem ( ) in V. 21. Der Sinn von ist: „von Adam her“, „durch Adam bestimmt“, „aufgrund der Zugehörigkeit zu Adam“, und entsprechend ist zu verstehen (s. dazu auch in V. 23). Vgl. zum Ganzen: Wolff, Der erste Brief des Paulus an die Korinther (s. Anm. 2), 384. 30 Paulus setzt also keineswegs die Auferstehung der Toten als selbstverständlich voraus, und er begreift die Auferstehung Christi weder als einen „Sonderfall“ noch auch bloß als die Antizipation bzw. als den Anbruch des eh feststehenden eschatologischen Ereignisses. S. dazu auch u. Anm. 33. 31 In V. 12a ist das Subjekt des -Satzes ( ) in den übergeordneten Satz vorausgenommen. Zu dieser Prolepse vgl. 1Kor 16,15; Gal 1,11. 32 Zutreffend bemerken A. Robertson / A. Plummer, The First Epistle of St Paul to the Corinthians (ICC), Edinburgh 1911 = 1986, 347 f. zu der in V. 13 vorausgesetzten „conditional proposition“: „The connexion between antecedent and consequent ist … not logical merely, but causal: the Resurrection of Christ is not viewed by the Apostle as one particular case of a general law, but as the source of Divine Power which effects the Resurrection in store for His members (v. 23).“ Vgl. auch ( 7) Thessaloniki 1982, 262: „ .“ Nachdrücklich hinzuweisen ist schließlich auf die Auslegung der Verse 1Kor 15,12 f. bei J. Calvin: Ioannis Calvini in Novum Testamentum Commentarii ed. A. Tholuck, Vol. VI: Epistolae Pauli ad Corinthios, Berlin 41864, 223.

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gestorben und auferstanden33, dann kann das nach der Überzeugung des Apostels nur bedeuten, daß die Menschen, für die das gilt, ganz unmittelbar in das Geschehen des Todes und der Auferstehung Christi mit hineingenommen sind34. Paulus begreift das Christusgeschehen als ein Geschehen göttlicher Identifikation mit dem sündigen und deshalb dem Tod verfallenen Menschen. Das heißt: In diesem Geschehen hat Christus, der Sohn Gottes, sich selbst unlöslich mit diesem Menschen und eben damit diesen Menschen unlöslich mit sich selbst verbunden. Ja, er ist mit diesem Menschen ganz und gar eins geworden. Deshalb ist der Tod Christi als solcher der Tod des Sünders und die Auferstehung Christi als solche die Heraufführung des neuen Menschen, dem durch die Befreiung von Sünde und Tod die Gemeinschaft mit dem lebendigen Gott geschenkt und damit auch der Zugang zum ewigen Leben eröffnet ist. Indem die Menschen, für die Christus gestorben und auferstanden ist, so an seinem Tod und seiner Auferstehung partizipieren, ist unwiderruflich entschieden, daß sie nicht im Tode bleiben, sondern am Jüngsten Tag von den Toten auferstehen werden.

IV Weil Paulus die Auferstehung der Toten in der beschriebenen Weise in der Auferstehung Christi begründet sieht, deshalb unterscheidet er sich in ihrem Verständnis ganz wesentlich von jener Sicht, die uns in anderen neutestamentlichen Schriften begegnet. Nach diesen Schriften, für die etwa das Matthäusevangelium und der Hebräerbrief genannt werden können35, ist die Auferstehung der Toten ein Geschehen, das ausnahmslos alle Menschen betrifft und die Voraussetzung dafür bildet, daß alle dem Richter des Endgerichts konfrontiert werden. Erst in dem auf die Auferstehung folgenden Gericht fällt die Entscheidung darüber, ob jemand der teilhaftig wird oder nicht. Die Auferstehung selbst ist demnach gewissermaßen ein neutrales – d. h. ein für einen doppelten Ausgang

33 Daß nicht nur Christi Tod, sondern ebenso auch seine Auferstehung unter dem Vorzeichen des steht, sagt Paulus ausdrücklich in 2Kor 5,15; vgl. auch Röm 4,25; 8,34; 14,9. Zwischen der Auferstehung Christi und derjenigen der Toten besteht deshalb – wie Robertson / Plummer, ebd., 347 mit Recht betonen – „a difference in kind“. 34 S. dazu und zum Folgenden vor allem die grundlegenden Ausführungen von 2Kor 5,14–21 sowie zur Auslegung dieses Textes O. Hofius, Sühne und Versöhnung. Zum paulinischen Verständnis des Kreuzestodes Jesu, in: Ders., Paulusstudien (WUNT 51), Tübingen 21994, 33–49: 44–48. 35 Mt 25,31–46; Hebr 6,2 (vgl. 9,27; 10,26 f.); vgl. auch Apg 24,15 sowie das Verhältnis von „zweiter“ Auferstehung und Endgericht in Offb 20,11–15. Zu der entsprechenden Erwartung in Schriften des antiken Judentums s. etwa 4Esr 7,26–44; syrBar 50,1–51,16; Liber Antiquitatum Biblicarum 3,10.

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offenes – Geschehen, das als solches mit der Entscheidung über Heil oder Unheil noch nichts zu tun hat. Diese Sicht, die jetzt nur ganz knapp skizziert werden konnte, ist nicht die Sicht des Paulus36. Das zeigt sich in 1Kor 15 insbesondere im Zusammenhang der Verse 35–57, in denen der Apostel sich auch zu der Frage äußert, wie die Toten auferstehen werden37. Paulus legt hier dar, daß die Toten bei der Parusie Jesu Christi als auferstehen werden (V. 52), d. h. in einer Existenz, die durch und gekennzeichnet sein wird (V. 53 f.)38. An 39 tritt – so hören wir – bei der Auferstehung das die Stelle des , das Gott schafft, indem er den sterblichen Leib in den unsterblichen verwandelt40. Nach der Erwartung des Apostels werden also die Toten nicht in ihrem alten Leib auferstehen41, sondern in dem neuen Leib, der dem verklärten Leib des auferstandenen Christus entspricht42. Dieser Gedanke aber hat eine Konsequenz von ganz erheblichem Gewicht. Stehen die Toten in dem neuen Leib auf, so kann dies nur bedeuteten, daß sie bereits im Augenblick der Auferstehung die empfangen: das Leben in der vollkommenen und 36

Anders z. B. ' , Thessaloniki 1977, 185 f.; A. Strobel, Der erste Brief an die Korinther (ZBK.NT 6.1), Zürich 1989, 246–252. 37 Diese Frage wird in V. 35 direkt ausgesprochen: ; ; 38 Vgl. auch die Beschreibung der in V. 42–44: … … … . 39 Der Ausdruck findet seine Erklärung von V. 45 her, wo die Aussage von Gen 2,7 LXX zitiert wird, daß Adam aufgrund der Gabe des Lebensodems zu einer wurde. Die Worte sind hier als Synekdoche zu verstehen, so daß gemeint ist: Adam wurde „zum Träger einer lebendigen Seele“. Das ist dementsprechend das von der bestimmte, d. h. das „beseelte“ . 40 Der Ausdruck begegnet in Röm 6,12; 8,11 (vgl. auch 2Kor 4,11). Den Gedanken der Verwandlung des Leibes kann Paulus mit unterschiedlichen Bildern zum Ausdruck bringen; s. dazu einerseits 1Kor 15,53 f. und andererseits 2Kor 5,4. – Aus 1Kor 15,45–49 ergibt sich, daß Gott die Neuschöpfung des Leibes durch Christus als den Träger seines Geistes vollzieht. Paulus bezeichnet den auferstandenen Christus in V. 45 als . Auch hier handelt es sich um eine Synekdoche, so daß gemeint ist: Christus ist der „Träger des lebendigmachenden Geistes“. Als dieser gewährt er den Toten das Leben. Damit dürfte ein Doppeltes gemeint sein: Christus ist aufgrund seines Todes und seiner Auferstehung für die Seinen der Urheber ihrer Auferstehung zum Leben (s. V. 20; V. 21b; V. 22b); und er ist am Jüngsten Tag der Mittler der als Neuschöpfung verstandenen Totenauferweckung (s. dazu 2Kor 4,14; 1Thess 4,14). Vgl. Wolff, Der erste Brief des Paulus an die Korinther (s. Anm. 2), 409 f.: „Der Auferweckte in seiner pneumatischen Existenz … ist schöpferisch handelnd, wohl noch genauer: Durch ihn ist Gott … als Schöpfer wirksam (vgl. V. 22). Christus ist dann als der eschatologische Schöpfungsmittler verstanden. Damit steht er im Gegensatz zu Adam, dem Geschöpf.“ 41 Zu dem Gedanken, daß die Toten in ihrem alten Leib auferstehen, s. etwa syrBar 49–51 sowie zu rabbinischen Aussagen G. Stemberger, Zur Auferstehungslehre in der rabbinischen Literatur, Kairos NF 15 (1973) 238–266, bes. 256 f. 42 S. dazu 1Kor 15,49 sowie Röm 8,17.29; Phil 3,20 f.

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unmittelbaren Gemeinschaft mit dem lebendigen Gott. Damit ist dann aber gänzlich ausgeschlossen, daß auf die Auferstehung der Toten zunächst noch ein Gericht folgt, in dem allererst über Heil und Unheil der Auferstandenen entschieden wird43. Für ein solches Gericht ist in den Ausführungen von 1Kor 15,35–57 schlechterdings kein Raum44. Damit aber stehen wir vor einem höchst bedeutsamen Befund: Die Auferstehung der Toten ist bei Paulus als ein Heilsereignis und nur als ein Heilsereignis verstanden45. Ein Blick auf die bereits bedachten Verse 21 und 22 kann das noch einmal bestätigen. In V. 21 hatte der Apostel gesagt, daß durch Adam der Tod, durch Christus aber die Auferstehung der Toten verursacht ist. Da der Tod hier nicht einfach der physische Tod ist, sondern der durch Adams Sünde bewirkte und also von Gott trennende Tod, kann mit dem Gegenbegriff nur die Auferstehung zum ewigen Leben gemeint sein46. Entsprechend ist im Blick auf V. 22 zu urteilen: Wird hier gesagt, daß „in Adam (d. h. aufgrund der Zusammengehörigkeit mit ihm) alle sterben“, so ist davon die Rede, daß alle jenem Tod verfallen, der als Folge der Sünde die Trennung von Gott bedeutet47. In der Gegenaussage – „in Christus (d. h. aufgrund der Zusammengehörigkeit mit ihm) werden alle lebendig gemacht werden“ – kann deshalb nur gemeint sein, daß alle, die zu Christus gehören, das ewige Leben empfangen werden48. In V. 21 f. sind 43 Bedenkt man Aussagen wie Röm 5,8–10 und 1Thess 1,10; 5,9 f., so wird man urteilen dürfen: Die Auferstehung bedeutet die Rettung vor dem Strafgericht (= bzw. Röm 1,18; 2,5.8; 5,9; 12,19; 1Thess 1,10 u. ö.), das als solches die – d. h. den ewigen Tod – zur Folge hat (Phil 1,28; 3,19; 1Thess 5,2 f.; s. auch o. Anm. 20). Dieses Strafgericht ist nicht gemeint, wenn Paulus mit großem Ernst davon spricht, daß die Christen vor Gott bzw. Christus über ihr gelebtes Leben Rechenschaft ablegen müssen (Röm 14,10–12; 2Kor 5,10; vgl. Gal 6,5; Phil 1,10 f.). Darauf bezieht sich dann, was in Röm 8,31–34 über die eschatologische Tragweite des Todes und der Auferstehung Christi gesagt wird. – Zu der gesamten Thematik s. L. Mattern, Das Verständnis des Gerichtes bei Paulus (AThANT 47), Zürich – Stuttgart 1966. 44 Gleiches gilt für 1Thess 4,13–18. 45 Vgl. Wolff, Der erste Brief des Paulus an die Korinther (s. Anm. 2), 385: „Paulus versteht Auferstehung konsequent von der Auferstehung Jesu her als Heilsgeschehen“; Schrage, Der erste Brief an die Korinther IV (s. Anm. 2), 165: Die Auferstehung ist „im gesamten Kapitel eindeutig und ausschließlich als Heilsereignis verstanden“. 46 Zum Begriff der „Auferstehung zum ewigen Leben“ vgl. 2Makk 7,14 ( ); Joh 5,29 ( ); PsSal 3,12 ( ). 47 Den gleichen Sinn hat in Röm 5,15; 7,10 (vgl. auch Röm 8,13). 48 Daß in V. 22 eindeutig positiv-soteriologisch gebraucht ist, betont mit Recht Schrage, Der erste Brief an die Korinther IV (s. Anm. 2), 164. Auch an allen anderen Stellen der Paulusbriefe, an denen / vorkommt, ist das Verbum in positivem Sinn verwendet. In Röm 8,11; 1Kor 15,45; 2Kor 3,6; Gal 3,21 ist das evident. Für Röm 4,17 ergibt es sich bereits aus der Formulierung wie auch daraus, daß dieser Gottesprädikation die beiden Prädikationen (4,5) und (4,24) an die Seite treten. Für 1Kor 15,36 schließlich ist der positive Sinn dadurch gesichert, daß dem dort begegnenden in V. 42b–44 das / / entspricht.

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keine neutralen49, sondern dezidiert

also und positiv-soteriologische Begriffe50.

V In einem letzten Schritt unserer Betrachtungen ist nun noch der Tatbestand zu bedenken, daß Paulus bei dem, was er im 15. Kapitel des 1. Korintherbriefs über die eschatologische Totenauferstehung sagt, durchweg die Auferstehung derer im Blick hat, die an Christus glauben. Das zeigt sich insbesondere in V. 23, der in seinem festen Zusammenhang mit dem vorangehenden V. 22 bedacht sein will51. In V. 22 war – wie wir sahen – gesagt: … – „Wie nämlich in Adam alle sterben, so werden auch in Christus alle lebendig gemacht werden.“ Betrachtet man diesen Satz losgelöst von seinem Kontext, so liegt der Gedanke nahe, daß die , die aufgrund ihrer Zugehörigkeit zu Christus das Leben empfangen werden, mit eben jenen identisch sind, die aufgrund ihrer Herkunft von Adam den Tod erleiden müssen. V. 22 spräche dann von der Auferstehung aller Toten schlechthin52. Die Unmöglichkeit dieser Interpretation wird jedoch deutlich, wenn man erkennt, daß die Worte und somit auch das in diesen Worten erscheinende sogleich durch V. 23 erläutert werden53. Dort heißt es: 49

So (s. Anm. 36), 186. Weil in V. 22b die Gabe des ewigen Lebens meint, darf hier nicht mit „sie werden das Leben wieder erhalten“ (so [s. Anm. 32] 262: „ “; ebenso [s. Anm. 6], 400) o. ä. übersetzt werden. Denn die haben Adam und seine Nachkommen nach der Meinung des Paulus nie besessen. S. dazu O. Hofius, Die Adam-Christus-Antithese und das Gesetz. Erwägungen zu Röm 5,12–21, in: Ders., Paulusstudien II (s. Anm. 7), 62–103: 79–81. 51 V. 23 gehört unmittelbar mit V. 22 zusammen. Deshalb muß am Ende des V. 22 ein Komma und am Ende des V. 23 ein Punkt stehen. Inakzeptabel ist die Interpunktion wie auch die auf V. 22 folgende Zäsur bei E. et E. Nestle / K. et B. Aland (Ed.), Novum Testamentum Graece, Stuttgart 271993, 468. Als nicht ganz korrekt muß die Interpunktion in (s. Anm. 6), 400 bezeichnet werden, wo hinter V. 22 ein Punkt und hinter V. 23 ein Kolon gesetzt ist. 52 In diesem Sinn verstehen den Vers z. B. (s. Anm. 36), 185 f.; Strobel, Der erste Brief an die Korinther (s. Anm. 36), 247 f. 251 f.; Lindemann, Der Erste Korintherbrief (s. Anm. 2), 344. 346 (auch 368); M. Gielen, in: H. Merklein / M. Gielen, Der erste Brief an die Korinther. Kapitel 11,2–16,24 (ÖTK 7/3), Gütersloh 2005, 315 (s. auch 312–322 insgesamt). Im Unterschied zu und Strobel denken Lindemann und Gielen nicht an eine Auferstehung aller zum Gericht, sondern an eine solche zum Heil. – Eine ausführliche Diskussion des von V. 22b mit deutlicher Tendenz zu einem universalistischen Verständnis bietet Schrage, Der erste Brief an die Korinther IV (s. Anm. 2), 161–166. 53 Auch Lindemann, ebd., 345 f. notiert diesen Zusammenhang, muß dann aber um seines universalistischen Verständnisses der Totenauferstehung willen erklären: In V. 23 „sollen 50

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– „Ein jeder aber [wird] an dem ihm gebührenden Ort [lebendig gemacht werden]: Der Erstling [ist] Christus; danach erst [werden] die zu Christus Gehörenden [lebendig gemacht werden – und zwar] bei seiner Parusie.“54 Lebendig gemacht werden also , d. h. die zu Christus Gehörenden, und das sind nach dem sonstigen Sprachgebrauch des Apostels diejenigen, die an Christus glauben55. Von einer Auferstehung der nicht an Christus glaubenden Menschen ist dann weder im Anschluß an V. 23 noch auch sonst in unserem Kapitel die Rede56. Man hat die Auferstehung der übrigen Menschheit zwar in den Worten von V. 24 erkennen wollen, indem man interpretierte: „danach wird der Rest der Menschen lebendig gemacht werden“57 oder: „dann wird die Legion der die aus V. 22b vermutlich nicht vollständig aufgezählt sein“ (346). – ebd., 186–191 sieht nur V. 23a ( ) unmittelbar mit V. 22 verbunden und beurteilt V. 23b ( ) als eine Wiederaufnahme von V. 20. Seine Deutung von V. 23a lautet (186): „ ‚ ‘ .“ Diese Deutung scheitert m. E. bereits daran, daß das , dem und ihm allein dagegen das zugeordnet ist. 54 Zu V. 23 ist zu bemerken: 1. Das Subjekt V. 23a nimmt das des voraufgehenden Satzes V. 22b auf (vgl. 2Kor 5,10) und kann sich deshalb nur auf diese beziehen. 2. Was das Prädikat des elliptisch formulierten V. 23a anlangt, so dürfte von V. 22b her zu ein zu ergänzen sein. 3. Die Worte V. 23b sind entweder als ein reiner Nominalsatz zu lesen, oder es ist von V. 20 her ein zu ergänzen. 4. Zu V. 23b ist zu ergänzen. Diese vier Urteile wie auch die Übersetzung von bedürfen einer ausführlichen Begründung, die hier nicht gegeben werden kann. S. dazu den auf S. 115–131 des vorliegenden Bandes folgenden Aufsatz: Die Auferstehung Christi und die Auferstehung der Toten. Erwägungen zu Gedankengang und Aussage von 1Kor 15,20–23. 55 S. dazu 1Kor 3,23 sowie ferner Röm 8,9; 14,8; Gal 3,29; 5,24 (an der letztgenannten Stelle begegnet ebenfalls der Ausdruck ). Vgl. 1Thess 4,16, wo nur gesagt wird, daß auferstehen werden ( bezeichnet wie 1Kor 15,18 die verstorbenen Christen). 56 Lindemann, Der Erste Korintherbrief (s. Anm. 2), 367 sieht in V. 52 mit die Toten allgemein bezeichnet; vom Kontext her ist jedoch deutlich, daß die verstorbenen Christen gemeint sind. – Daß Paulus in 1Kor 15 nicht von der allgemeinen Auferstehung aller Toten spricht, bemerken zu Recht etwa: Héring, La première Épître de Saint Paul aux Corinthiens (s. Anm. 21), 139 f.; H.-A. Wilcke, Das Problem eines messianischen Zwischenreichs bei Paulus (AThANT 51), Zürich – Stuttgart 1967, 69–75; F. Froitzheim, Christologie und Eschatologie bei Paulus (fzb 35), Würzburg 1979, 151 f.; Sellin, Der Streit um die Auferstehung der Toten (s. Anm. 2), 189 f. Anm. 1. 270; G. D. Fee, The First Epistle to the Corinthians (NIC), Grand Rapids, Mich. 1987 = 1989, 749 ff.; J. Lambrecht, Paul’s Christological Use of Scripture in 1 Cor. 15,20–28, in: Ders., Pauline Studies (BEThL 115), Leuven 1994, 125–149: 130 f.; Wolff, Der erste Brief des Paulus an die Korinther (s. Anm. 2), 385. Vgl. auch (s. Anm. 32), 251. 264 f. 57 H. Lietzmann in: H. Lietzmann / W. G. Kümmel, An die Korinther I/II (HNT 9) Tübingen 51969, 80; J. Weiss, Der erste Korintherbrief (s. Anm. 5), 358; A. Oepke, Art. in V. 22 dem

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Übrigen lebendig gemacht werden“58. Beide Deutungen sind jedoch unhaltbar – die erstgenannte, weil jeder überzeugende Beleg dafür fehlt, daß im Griechischen die Bedeutung „der Rest“ haben kann59, und die zweitgenannte, weil der entscheidende Gedanke, daß jetzt von den „Übrigen“ die Rede sei, nicht im Text steht, sondern in ihn eingetragen werden muß. In Wahrheit lassen die Worte nur eine einzige Übersetzung zu – nämlich: „Dann kommt das Ende.“60 Daß bei dieser Aussage der Gedanke impliziert sei, daß am Ende auch die nicht an Christus glaubende Menschheit von den Toten auferstehen werde61, läßt sich schwerlich mit überzeugenden Argumenten begründen. Wir können also festhalten, daß Paulus im 15. Kapitel des 1. Korintherbriefs nur von der Auferstehung derer spricht, die an Christus glauben62. Suchen wir den Grund dafür zu benennen, so werden wir sagen dürfen: Es geht in diesem Kapitel nicht um allgemeine Spekulationen über die eschatologischen Ereignisse und auch nicht um abstrakte Erwägungen über das zukünftige Geschick der Menschen. Der Apostel wendet sich vielmehr gezielt an die Christen in Korinth, die das Evangelium gehört haben und zum Glauben an das Evangelium gekommen sind – und die sich nun der Behauptung konfrontiert sehen, daß es eine Auferstehung der Toten nicht gebe. Ihnen stellt Paulus nachdrücklich vor Augen, daß die Auferstehung der Toten in dem, was das Evangelium von Jesus Christus sagt, fest begründet ist – und zwar begründet als ein Heilsereignis, das alle, die an das Evangelium glauben, in der Gewißheit des Glaubens erwarten , ThWNT I (1933 = 1957), 368–372: 371,32 f.; als möglich bzw. wahrscheinlich erwogen auch bei Bauer / Aland, Wörterbuch6, 1619 s. v. 2 (vgl. 1601 s. v. 2). 58 Gielen, in: Merklein / Gielen, Der erste Brief an die Korinther. Kapitel 11,2–16,24 (s. Anm. 52), 312. 318–322; vgl. auch M. Gielen, Universale Totenauferweckung und universales Heil? 1 Kor 15,20–28 im Kontext paulinischer Theologie, BZ NF 47 (2003) 86–104: 88–95. 59 S. dazu J. Héring, Saint Paul a-t-il enseigné deux résurrections?, RHPhR 12 (1932) 300–320; Wilcke, Das Problem eines messianischen Zwischenreichs bei Paulus (s. Anm. 56), 87–91; (s. Anm. 36), 193. 60 Sellin, Der Streit um die Auferstehung der Toten (s. Anm. 2), 272 Anm. 157 bemerkt mit Recht, daß in V. 24 durch die beiden – Sätze „eindeutig temporal bestimmt“ ist (vgl. auch ebd., Anm. 158). 61 So z. B. W. Bousset, Der erste Brief an die Korinther (in: SNT 2), Göttingen 31917, 156; A. Schlatter, Paulus der Bote Jesu. Eine Deutung seiner Briefe an die Korinther, Stuttgart 4 1969, 412; Strobel, Der erste Brief an die Korinther (s. Anm. 36), 251 f. 62 Dieses Urteil gilt für die Briefe des Apostels überhaupt; s. dazu Röm 8,11; 1Kor 6,14; 2Kor 4,14; Phil 3,10 f.; 1Thess 4,14.16; auch Röm 8,23.29 f.; Phil 3,20 f. – Der exegetisch recht umstrittene Satz Phil 3,11 ( = „in der Hoffnung, daß ich zu der Auferstehung von den Toten gelangen werde“) läßt sich problemlos verstehen, wenn Paulus nicht an eine allgemeine Totenauferstehung denkt, sondern dezidiert die Auferstehung derer im Blick hat, die Christus erkennen und als die mit ihm Verbundenen die (V. 10a; vgl. 3,21) erfahren. Die auffallende Formulierung dürfte dabei durch die für Paulus charakteristische Rede von der Auferweckung bzw. Auferstehung Christi (Röm 4,24; 6,4.9; 7,4; 8,11; 10,9; 1Kor 15,12.20; Gal 1,1; 1Thess 1,10) veranlaßt sein und somit auch sprachlich widerspiegeln, daß der Apostel die Auferstehung Christi als den Realgrund für die Auferstehung der Toten begreift.

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dürfen. Es ist ein Echo auf dieses Zeugnis des Apostels, wenn das , das bis zum heutigen Tag auch in der christlichen Gemeinde von Korinth laut wird, mit den Worten schließt: .

Die Auferstehung Christi und die Auferstehung der Toten Erwägungen zu Gedankengang und Aussage von 1Kor 15,20–23

Im 15. Kapitel des 1. Korintherbriefs setzt sich Paulus mit einer Auffassung auseinander, die in der korinthischen Gemeinde von einer Gruppe von Gemeindemitgliedern vertreten wurde und deren entscheidende These er in V. 12 wörtlich zitiert: – „Eine Auferstehung der Toten gibt es nicht.“1 Die Ausführungen des Apostels stellen die Exegese im einzelnen vor eine Reihe schwieriger Probleme, deren eines den Gedankengang und die Aussage der Verse 20–23 betrifft. Diesem Problem sind die folgenden Überlegungen gewidmet2. Ich setze dabei voraus, daß die erwähnten Gemeindemitglieder in der Taufe einen Ritus gesehen haben, der dem Getauften das göttliche und eben damit Unsterblichkeit vermittelte3. Da ein Getaufter somit bereits das ewige Leben empfangen hatte, sahen sie in seinem Sterben nur den Übergang in die himmlische Welt, der er seinem Wesen nach schon angehörte. Einer Auferstehung der Toten bedurfte es deshalb nach ihrer Überzeugung nicht.

I Im Blick auf die in V. 12 zitierte Behauptung der Auferstehungsleugner erklärt Paulus in V. 13: … – „Wenn es eine Auferstehung der Toten nicht gibt, dann ist auch Christus nicht auferstanden“4, und er wiederholt diese Aussage noch einmal in nur wenig 1

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s. BDR § 254,4; Bauer / Aland, Wörterbuch6, 1082 s. v.

2.a. 2 Die Frage nach dem angemessenen Verständnis der Verse 1Kor 15,20–23 stellte sich mir erneut bei der Erarbeitung des Vortrags „Die Auferstehung der Toten als Heilsereignis“, dessen erweiterte und mit Anmerkungen versehene Fassung dem vorliegenden Aufsatz voraufgeht (102–114). Beide Beiträge beleuchten und ergänzen sich gegenseitig. Gelegentliche Überschneidungen waren von der Sache her unvermeidbar. 3 Vgl. Chr. Wolff, Der erste Brief des Paulus an die Korinther (ThHK 7), Leipzig 1996, 423–425. 4 Das Passiv heißt nach meinem Urteil in 1Kor 15 durchgehend „auferstehen“, nicht dagegen „auferweckt werden“; s. dazu O. Hofius, „Am dritten Tage auferstanden von den Toten“. Erwägungen zum Passiv γείρεσθαι in christologischen Aussagen des Neuen Testaments, in: Ders., Paulusstudien II (WUNT 143), Tübingen 2002, 202–214.

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anderer Formulierung in V. 16: … – „Wenn die Toten nicht auferstehen, dann ist auch Christus nicht auferstanden.“5 Beiden Sätzen stellt Paulus dann in V. 20 – durch ein nachdrückliches eingeleitet – den wahren Tatbestand gegenüber6: – „In Wirklichkeit aber ist Christus von den Toten auferstanden, [und zwar] als der Erstling der Entschlafenen.“7 Der Apodosis der Sätze V. 13 und V. 16 ( ) korrespondiert die klare Feststellung: , ihrer Protasis ( … / … ) das Prädikatsadjunkt . Das Verständnis des V. 20 entscheidet sich wesentlich an der Bestimmung des Prädikatsadjunkts . Nicht selten wird das Wort an unserer Stelle dahingehend verstanden, als bezeichne es einfach den „Ersten“ im zeitlichen Sinn bzw. in einer Reihe8. In Wahrheit hat es hier jedoch die gleiche Bedeutung wie in Röm 11,16, wo Paulus über das Verhältnis zwischen Abraham und Israel als seiner Nachkommenschaft sagt: … 9 . Die in diesem Satz mit dem Begriff der verbundene Metaphorik läßt sich so beschreiben: Durch die Gott dargebrachte „Erstlingsgabe“ (= ) vom ersten Brotteig der Kornernte wird alles aus dem Korn dieser Ernte gebackene Brot Gott geweiht, so daß seine Heiligkeit durch die garantiert ist; entsprechend ist Abraham als Träger der Verheißung von Gen 12,1–3 geheiligt und eben damit der Garant dafür, daß die an ihn ergangene Verheißung zugleich mit ihm auch seinen 5 Zum Verständnis dieser These des Apostels s. den in Anm. 2 genannten Beitrag, dort S. 106–108. 6 Zu bzw. als Partikel des logischen Gegensatzes, d. h. als Einleitung von Aussagen, die der Nichtwirklichkeit gegenüber betont die Wirklichkeit zur Sprache bringen, s. R. Kühner / B. Gerth, Ausführliche Grammatik der griechischen Sprache II: Satzlehre. Zweiter Band, Hannover und Leipzig 31904 = Hannover 1976, 117 (§ 498,2), 263 (§ 526,2); G. Stählin, Art. ( ), ThWNT IV (1942) 1099–1117: 1102,5 ff.; Bauer / Aland, Wörterbuch6 1104 s. v. 2 und 1105 s. v. 2. Bei Paulus sind neben 1Kor 15,20 zu nennen: 1Kor 5,11; 7,14; 12,18.20. 7 Das Perfekt-Partizip bezeichnet den Zustand und entspricht somit dem Nomen . Im Unterschied dazu geht es bei dem Aorist-Partizip in V. 18 um das Schicksal des Entschlafenseins. 8 So heißt es etwa bei Bauer / Aland, Wörterbuch6, 162 s. v. 2.a im Blick auf 1Kor 15,20: „D[ie] urspr[üngliche] Bed[eutung] ist stark verblaßt, so daß . fast = ist“, und als Übersetzung wird dann vorgeschlagen: „als erster der Gestorbenen“. 9 In diesem Satz nimmt Paulus mit der Rede von der und dem auf Num 15,17–21 LXX und auf den dort in V. 20 und V. 21 begegnenden Ausdruck Bezug. – Daß in 1Kor 15,20.23 im Sinne der in Röm 11,16 vorliegenden Metaphorik verwendet ist, hat Th. Beza, Testamentum Novum, Genf 41588, II 159 zu V. 20 sehr schön herausgestellt: „Christus … omnibus suis causa est resurrectionis ad vitam aeternam. Sic primitiae oblatae reliquorum fructuum cumulum sanctificabant.“ Vgl. auch die Auslegung J. Calvins zu V. 20: Ioannis Calvini in Novum Testamentum Commentarii ed. A. Tholuck, Vol. VI: Epistolae Pauli ad Corinthios, Berlin 41864, 226.

Die Auferstehung Christi und die Auferstehung der Toten

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Nachkommen gilt und diese an seiner Heiligkeit teilhaben. Als wird also die Größe bezeichnet, die alle qualifiziert und bestimmt bzw. über alle entscheidet, die mit ihr verbunden sind. Gleiches gilt für in 1Kor 15,20 und entsprechend dann auch für in V. 23: Der von den Toten auferstandene Christus ist in seinem Verhältnis zu den Entschlafenen der über sie alle entscheidende und für sie alle schicksalsbestimmende „Erstling“10. Daß dieser Sinn vorliegt, ergibt sich aus den alsbald folgenden Versen 21+22, die V. 20 erläutern. Sie zeigen mit hinreichender Klarheit, daß in V. 20 mit „ein nicht bloß zeitliches, sondern kausales Verhältnis“ zwischen der Auferstehung Christi und derjenigen der Entschlafenen zum Ausdruck gebracht wird11. In V. 21 gibt Paulus eine grundsätzliche Begründung für V. 20, wobei dem grundsätzlichen Charakter der Aussage die elliptische Formulierung entspricht: . In beiden Satzteilen ist ein zu ergänzen12, so daß zu übersetzen ist: „Denn weil ja durch einen Menschen der Tod [verursacht ist], [ist] auch durch einen Menschen die Auferstehung der Toten [verursacht].“13 Der Vordersatz nimmt Bezug auf die alttestamentliche Erzählung vom Sündenfall Adams (Gen 3). Den Worten entspricht deshalb die Aussage von Röm 5,12a, daß durch Adam „die Sünde in die Welt hineingekommen ist und durch die Sünde der Tod“. Wie in diesem Satz, so meint auch in 1Kor 15,21 nicht einfach nur den physischen Tod. Die Rede ist vielmehr von dem durch Adams Sünde bewirkten und deshalb auf ewig von Gott trennenden Tod14. Von daher ist evident, daß der Gegenbegriff nicht einen allgemeinen, sondern einen dezidiert soteriologischen Sinn hat: Er meint die Auferstehung zum Leben, die Auferstehung als Heilsereignis15. 10

Es ist sehr schwierig, im Deutschen einen angemessenen Begriff zur Wiedergabe von 1Kor 15,20.23 zu finden. Vielleicht muß man umschreibend formulieren: „der über alle entscheidende Erstling“, „der für alle schicksalsbestimmende Erstling“. 11 So zutreffend Ph. Bachmann, Der erste Brief des Paulus an die Korinther (KNT 7), Leipzig – Erlangen 31921, 440. 12 So bereits Maximos Kallioupolites in seiner 1638 in Genf erschienenen Übersetzung: [ ] [ ] ( B', Athen 1999, 579). S. ferner erwa C. F. G. Heinrici, Der erste Brief an die Korinther (KEK 5), Göttingen 81896, 462 (mit der Übersetzung „ist vermittelt“). Für die Ergänzung eines im zweiten Versteil plädieren dagegen z. B. BDR § 128,4 mit Anm. 5; Wolff, Der erste Brief des Paulus an die Korinther (s. Anm. 3), 381 mit Anm. 182. 13 Zu der den Vordersatz einleitenden Konjunktion sowie zur Struktur des ganzen Satzes vgl. 1Kor 1,21 und dazu H.-Chr. Kammler, Kreuz und Weisheit. Eine exegetische Untersuchung zu 1Kor 1,10–3,4 (WUNT 159), Tübingen 2003, 98 f. 14 Diese Bedeutung hat in Röm 5,12.14.17a.21a; 6,16.20 f.23a; 7,5.10.13.24; 8,2.6a; 1Kor 15,56. 15 S. dazu im einzelnen den in Anm. 2 genannten Beitrag.

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Das in V. 21 Gesagte wird durch V. 22 expliziert: – „Wie nämlich in Adam alle sterben, so werden auch in Christus alle lebendig geV. 21a durch macht werden.“16 In diesen Worten wird (V. 22a) und V. 21b durch (V. 22b) aufgenommen. Daraus folgt ein Zweifaches: 1. Als Parallele zu ist echtes – nämlich: eschatologisches – Futur. 2. Das Verbum ist hier nicht Synonym zu V. 2017, bezeichnet also nicht das physische Sterben, das nach der Erwartung des Paulus ja keineswegs allen Christen widerfahren wird (V. 51b); gedacht ist vielmehr wie in Röm 5,15b; 7,10a18 an das dem Tod Verfallen, wobei jener Tod gemeint ist, der als Folge der Sünde Gottes ist und die Trennung von Gott bedeutet. Entsprechend bezieht sich dann auf die Auferweckung zum und in diesem Sinn verstanewigen Leben19. Daß den sein wollen, wird bestätigt, wenn man der Aussage von 1Kor 15,22 diejenige von Röm 5,17 f. an die Seite stellt: …

. („Wenn infolge der Verfehlung des Einen der Tod die Herrschaft [über Alle] gewonnen hat durch den Einen, so werden in unvergleichlicher Weise die, welche die überwältigende Fülle der Gnade und somit der Gabe der Gerechtigkeit empfangen, im [ewigen] Leben herrschen durch den Einen, Jesus Christus. Also [ist es so]: Wie [es] durch Eines Verfehlung für alle Menschen zur Verurteilung [zum Tode gekommen ist], so [kommt es] auch durch Eines Recht-

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Zur Bedeutung der Präposition in den beiden Wendungen und bemerkt Wolff, Der erste Brief des Paulus an die Korinther (s. Anm. 3), 384 zutreffend: „V. 22 ist die Entfaltung von V. 21, so daß von her zu fassen ist. … Durch die Verwendung der Präposition wird das Bestimmtsein der Menschen von Adam bzw. Christus ausgesagt.“ In der Übersetzung von V. 22 wählt Wolff die Wiedergabe mit „durch“ (ebd., 381). 17 Das Verbum begegnet ferner in den Versen 6, 18 und 51; s. außerdem bei Paulus noch 1Thess 4,13–15. 18 Vgl. auch Röm 8,13. 19 Vgl. J. Chr. K. v. Hofmann, Der erste Brief Pauli an die Korinther (Die heilige Schrift neuen Testaments II/2), Nördlingen 1864, 359 ( meint die Versetzung „in den Stand des ewigen Lebens“); B. Weiss, Die paulinischen Briefe und der Hebräerbrief (Das Neue Testament II), Leipzig 21902, 225 ( weist auf „das Erwecktwerden … zum ewigen Leben“ hin); Heinrici, Der erste Brief an die Korinther (s. Anm. 12), 464 ( kennzeichnet die Auferstehung als „selige Auferstehung“). – Zur durchgehend positiv-soteriologischen Verwendung von / bei Paulus s. R. Bultmann, Art. , ThWNT II (1935 = 1957) 876 f.: 876,44 ff.; Hofius, Die Auferstehung der Toten als Heilsereignis (s. Anm. 2), 110 f.

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tat für alle Menschen zum Freispruch zum Leben.“)20 Der Blick auf diese beiden Verse läßt zugleich erkennen, was in 1Kor 15 vorausgesetzt ist21: Wenn der auferstandene Christus die ist (V. 20), durch ihn die verursacht wird (V. 21b) und alle das ewige Leben empfangen werden (V. 22b), so deshalb, weil er für sie – d. h. zu ihrer Befreiung von Sünde und Tod – gestorben und auferstanden ist. Blickt man auf die Verse 1Kor 15,20–22 insgesamt zurück, so kann präzise bestimmt werden, wie Paulus den Zusammenhang zwischen der Auferstehung Christi und der Auferstehung der Toten sieht. Er setzt keineswegs als selbstverständlich voraus, daß die Toten auferstehen werden, und er begreift die Auferstehung Christi weder als einen Sonderfall noch auch bloß als die Antizipation bzw. als den Anbruch jenes als feststehend gedachten eschatologischen Ereignisses. Er erblickt vielmehr in der Auferstehung Christi den Realgrund für die Auferstehung der Toten und dementsprechend in der Auferstehung der Toten die notwendige Folge der Auferstehung Christi. Das aber bedeutet: Die beiden Sätze (V. 12a) und (V. 20) sind im Sinne des Paulus nicht zwei unterschiedliche Aussagen, sondern ein und dieselbe Aussage.

II Eine Präzisierung des in V. 22 Gesagten bietet V. 23: . Entgegen der Textdarbietung bei Nestle/Aland22 sind diese Worte ohne jeden Zweifel mit dem Vorhergehenden verbunden. Fragen kann man nur, ob diese Verbindung so eng ist, daß V. 23 unmittelbar an V. 22b anknüpft und das dort Gesagte in einem Zug weiterführt23 oder ob V. 23 als ein eigenständiger Satz zu lesen ist24. Mit V. 24 beginnt jedenfalls ein neuer Gedanke25, so daß V. 23 mit einem Punkt abgeschlossen werden muß.

20 Zur Begründung der Übersetzung s. O. Hofius, Die Adam-Christus-Antithese und das Gesetz. Erwägungen zu Röm 5,12–21, in: Ders., Paulusstudien II (s. Anm. 4), 62–103: 71 f. 21 Das ergibt sich zwingend sowohl aus den Versen 1Kor 15,1–11, in denen Paulus sehr bewußt die Paradosis V. 3b–5 zitiert, wie auch aus den Versen 12–19, die durchgehend auf jene Verse Bezug nehmen. S. dazu Hofius, Die Auferstehung der Toten als Heilsereignis (s. Anm. 2), 105 Anm. 15. 22 Die 27. Auflage (1993) bietet hinter V. 22 einen Punkt, zwischen V. 22 und V. 23 eine Zäsur, und hinter V. 23 ein Komma. 23 In diesem Fall wäre hinter V. 22 ein Komma zu setzen. 24 In diesem Fall wäre hinter V. 22 ein Kolon oder auch ein Punkt zu setzen. 25 Die Worte lassen nur die Übersetzung zu: „Dann kommt das Ende.“ S. dazu u. S. 122–124.

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Was die in der Exegese lebhaft umstrittene Analyse und Interpretation des V. 23 anlangt, so stellt sich zum einen die Frage, in welcher Bedeutung an unsrer Stelle das nur hier im Neuen Testament begegnende Wort verwendet ist. Und zum andern ist zu fragen, auf wen sich das Subjekt bezieht und wieviele bzw. welche Größen dementsprechend bei der Formulierung im Blick sind. Hinsichtlich der Frage nach der Bedeutung des Wortes sind vor allem die folgenden Übersetzungsvorschläge zu notieren: „Abteilung“ / „Klasse“ / „Gruppe“ / „Schar“26, „Stellung“ / „Stand“ / „Stelle“27, „Rang“ / „Rangfolge“ / „Rangordnung“28, „Ordnung“29. 26 „Abteilung“: v. Hofmann, Der erste Brief Pauli an die Korinther (s. Anm. 19), 360; Heinrici, Der erste Brief an die Korinther (s. Anm. 12), 465; A. Robertson / A. Plummer, The First Epistle of St Paul to the Corinthians (ICC), Edinburgh 1911 = 1986, 354 („division“); Bachmann, Der erste Brief des Paulus an die Korinther (s. Anm. 11), 443; A. Strobel, Der erste Brief an die Korinther (ZBK.NT 6.1), Zürich 1989, 251 (Alternative: „Ordnung“); Bauer, Wörterbuch5, 731 s. v. 1.b. – „Abteilung“ bzw. „Schar“: A. Schlatter, Erläuterungen zum Neuen Testament II: Die Briefe des Paulus, Calw – Stuttgart 1909, 315; Ders., Paulus der Bote Jesu. Eine Deutung seiner Briefe an die Korinther, Stuttgart 41969, 412. – „Klasse“: H. Lietzmann / W. G. Kümmel, An die Korinther I/II (HNT 9) Tübingen 51969, 80. – „Gruppe“: J. Weiss, Der erste Korintherbrief (KEK 5), Göttingen 91910 = 1977, 357 (Alternative: „Stelle“). – „Klasse / Gruppe“: Bauer, Wörterbuch5, 1589 s. v. 2; Bauer / Aland, Wörterbuch6, 1601 s. v. 2 (anders ebd., 752 s. v. 1.b: „Ordnung“; bei Bauer, Wörterbuch5, 731 s. v. 1.b hieß es dagegen noch konzinn: „Abteilung“). – „Schar“: B. Weiss, Die paulinischen Briefe und der Hebräerbrief (s. Anm. 19), 225. – Zu als Bezeichnung für eine militärische „Abteilung“ findet sich eine Auswahl von Belegen bei Bauer / Aland, Wörterbuch6, 1601 s. v. 1. Zu = „Gruppe“ / „Schar“ in nicht-militärischem Sinn s. etwa Philo, De migratione Abrahami 100. 209; Josephus, Bellum Judaicum II 122. 125. 143. 160 f. 164; Sextus Empiricus, Adversus Mathematicos IX 54; grBar 11,6; Hermas, sim VIII 2,8; 4,2; 5,1–6. Nicht hierher gehört Epikur, Epistulae I 71 (gegen Bauer und Bauer / Aland a. a. O.). 27 „Stellung“: Wolff, Der erste Brief des Paulus an die Korinther (s. Anm. 3), 385 (neben „Rang“). – „Stellung“ bzw. „Stand“: G. Delling, Art. , ThWNT VIII (1969) 31f: 31,31 ff. (im Sinn von „Rang“). –„Stelle“: J. Weiss, Der erste Korintherbrief (s. Anm. 26), 357 (als Möglichkeit neben „Gruppe“); K. Barth, Die Auferstehung der Toten. Eine akademische Vorlesung über I. Kor. 15, Zollikon-Zürich 41953, 96. 99. – Zu = „Stellung“ / „Position“ / „Status“ s. Epikur, Epistulae I 71 (= Diogenes Laertius, Vitae philosophorum X 71); 1Klem 37,3; 41,1. 28 „Rang“: J. Héring, La première Épître de Saint Paul aux Corinthiens (CNT[N] 7), Neuchâtel 21959, 139 („rang“); C. K. Barrett, A Commentary on The First Epistle to the Corinthians (BNTC), London 1968, 353 f. („rank“); Wolff, Der erste Brief des Paulus an die Korinther (s. Anm. 3), 381. 385 (neben: „Stellung“). – „Rang“ bzw. „Rangstufe“: A. Lindemann, Der Erste Korintherbrief (HNT 9/I), Tübingen 2000, 342. 345. – „Rangfolge“: M. Gielen, in: H. Merklein / M. Gielen, Der erste Brief an die Korinther. Kapitel 11,2–16,24 (ÖTK 7/3), Gütersloh 2005, 312. 318. – „Rangordnung“: E. Peterson, Der erste Brief an die Korinther und Paulus-Studien. Aus dem Nachlass hg. von H.-U. Weidemann (Ausgewählte Schriften 7), Würzburg 2006, 398. 29 So bereits die Vulgata (ordo) und die Peschitta (t. ks’) sowie später die Luther-Bibel und die Zürcher Bibel. Ferner etwa: W. Bousset, Der erste Brief an die Korinther (in: SNT 2), Göttingen 31917, 156; O. Kuss, Die Briefe an die Römer, Korinther und Galater (RNT 6), Regensburg 1940, 186. 188; H.-D. Wendland, Die Briefe an die Korinther (NTD 7), Göttingen 1(13)1972, 146–150; H. Conzelmann, Der erste Brief an die Korinther (KEK V), Göttingen 2(12)1981,

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In der Bestimmung des Subjekts werden in der Literatur vier unterschiedliche Bezugsgrößen genannt: (a) die in V. 23b als Beund die übrige Menschheit31; (c) Christus zeichneten30; (b) 32; (d) Christus selbst, und die übrige selbst und 33 Menschheit . Unumstritten, weil vom Wortlaut des V. 23 her unmittelbar evi-

318; G. D. Fee, The First Epistle to the Corinthians (NIC), Grand Rapids, Mich. 1987 = 1989, 752 f. (neben „turn 746); Strobel, Der erste Brief an die Korinther (s. Anm. 26), 250 f. (Alternative: „Abteilung“); F. Lang, Die Briefe an die Korinther (NTD 7), Göttingen 2(17)1994, 221. 224 (im Sinne einer „zeitlichen Abfolge“); W. Schrage, Der erste Brief an die Korinther. 4. Teilband: 1Kor 15,1–16,24 (EKK VII/4), Düsseldorf bzw. Neukirchen-Vluyn 2001, 152. 168 (neben „Stellung“, „Rang“); J. Kremer, Der Erste Brief an die Korinther (RNT), Regensburg 1997, 341. 343 (im Sinne einer „Reihenfolge“); Bauer / Aland, Wörterbuch6, 752 s. v. 1.b (vgl. o. Anm. 26); R. Bergmeier, Art. , EWNT II (1983) 793 f. (im Sinne der zeitlichen „Reihenfolge“). – Bei der Deutung = „Ordnung“ (im Sinne der zeitlichen Abfolge) wird der Begriff als Synonym zu verstanden; vgl. dazu grHen 2,1: Die Gestirne am Himmel „gehen alle auf und unter, ein jedes geordnet zur festgesetzten Zeit ( )“, und sie „überschreiten ihre eigene Ordnung nicht ( )“. 30 B. Weiss, Die paulinischen Briefe (s. Anm. 19), 225. 31 v. Hofmann, Der erste Brief Pauli an die Korinther (s. Anm. 19), 366 f. (vgl. 360 f.); Schlatter, Erläuterungen zum Neuen Testament II (s. Anm. 26), 315 f.; Ders., Paulus der Bote Jesu (s. Anm. 26), 412; Strobel, Der erste Brief an die Korinther (s. Anm. 26), 251 f. 32 Heinrici, Der erste Brief an die Korinther (s. Anm. 12), 465 f.; Robertson / Plummer, The First Epistle of St Paul to the Corinthians (s. Anm. 26), 354; Kuss, Die Briefe an die Römer, Korinther und Galater (s. Anm. 29), 188; Héring, La première Épître de Saint Paul aux Corinthiens (s. Anm. 28), 139; Barrett, The First Epistle to the Corinthians (s. Anm. 28), 353–355; W. G. Kümmel, in: Lietzmann / Kümmel, An die Korinther I/II (s. Anm. 26), 193; Wendland, Die Briefe an die Korinther (s. Anm. 29), 148 (s. allerdings u. Anm. 33); Conzelmann, Der erste Brief an die Korinther (s. Anm. 29), 330 f.; Fee, The First Epistle to the Corinthians (s. Anm. 29), 753; Lang, Die Briefe an die Korinther (s. Anm. 29), 224; Wolff, Der erste Brief des Paulus an die Korinther (s. Anm. 3), 385; Kremer, Der Erste Brief an die Korinther (s. Anm. 29), 343 f.; Lindemann, Der Erste Korintherbrief (s. Anm. 28), 345; Schrage, Der erste Brief an die Korinther IV (s. Anm. 29), 158. 166–169. – Auch Barth, Die Auferstehung der Toten (s. Anm. 27), 96 f. ist hier zu nennen. Dabei darf allerdings nicht übersehen werden, daß Barth unter Hinweis auf V. 22b eine eigentümliche Deutung der Worte V. 23b vertritt (ebd., 98 f.): „Man beachte auch das , alle, das von vornherein nahelegt, das später folgende , die Christus angehören, nicht exklusiv, sondern repräsentativ zu verstehen.“ Eine positive Würdigung dieser Deutung findet sich bei Schrage, ebd., 169 Anm. 753. 33 Bousset, Der erste Brief an die Korinther (s. Anm. 29), 156; J. Weiss, Der erste Korintherbrief (s. Anm. 26), 357 f.; Lietzmann, in: Lietzmann / Kümmel, An die Korinther I/II (s. Anm. 26), 80; Gielen, in: Merklein / Gielen, Der erste Brief an die Korinther. Kapitel 11,2–16,24 (s. Anm. 28), 318–322; Peterson, Der erste Brief an die Korinther und PaulusStudien (s. Anm. 28), 399 f.; als möglich erwogen von Wendland, Die Briefe an die Korinther (s. Anm. 29), 148. S. ferner auch Bauer, Wörterbuch5, 1589 s. v. 2 (vgl. 1607 s. v. 2); Bauer / Aland, Wörterbuch6, 1601 s. v. 2 (vgl. 1619 s. v. 2); E. W. Bullinger, Figures of Speach used in the Bible, London 1898 = Grand Rapids, Michigan 1968 (91982), 87. 457. – Vgl. auch Bachmann, Der erste Brief des Paulus an die Korinther (s. Anm. 11), 443–446. Nach Bachmann sind mit der dritten „Abteilung“ allerdings nicht die

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dent, ist also nur, daß sich auf , d. h. auf die an Christus 34 Glaubenden bezieht . Es ist jetzt weder möglich noch sinnvoll, die im vorigen nur knapp erwähnten Deutungen im einzelnen vorzustellen und zu diskutieren. Ich beschränke mich auf eine Erörterung der Frage, ob Paulus bei der Formulierung über hinaus noch weitere Größen im Blick hat, so daß auf jeden Fall von dem je besonderen einer jeden Größe die Rede ist. Aus der Antwort auf diese Frage ergibt sich dann, wie das Wort an unserer Stelle verstanden sein will.

Bezieht sich V. 23a auch auf die nicht an Christus glaubende Menschheit? Die These, daß Paulus bei den Worten neben den an Christus Glaubenden ( V. 23b) auch die übrige Menschheit im Blick habe und also ebenfalls deren Auferstehung erwarte, wird ganz überwiegend mit dem Hinweis auf die Worte V. 24a begründet. Sechs unhabe terschiedliche Gestalten dieser Begründung sind zu notieren35: 1. sei Kollektivbegriff für die ultima mordie Bedeutung „der Rest“36; 2. , der für „the last company of a body of tuorum pars37; 3. der Ausdruck soldiers“ verwendet werde, sei metaphorisch auf die zuletzt auferweckten Mengemeint, „welche nach dem Begriff von hier überhaupt nicht in Betracht kommen, die zum Verderbensgericht aus ihren Gräbern Hervorgehenden“ (446), sondern (so ebd.): „Die einst ohne Kenntnis von Christus und doch mit einem solchen Lebensertrag Entschlafenen, daß sie für die Teilhaberschaft am Reiche Gottes, wie sie ihnen durch Christus in jener Endzeit zu vermitteln sein wird, in Betracht kommen, wie z. B. die Frommen des Alten Bundes …, ebenso die in den Krisen der Endzeit dem Glauben sich Zuwendenden und doch noch durch das Todesgericht Hindurchzuführenden.“ 34 Zu dem Ausdruck vgl. Röm 8,9; 14,8; 1Kor 3,23; Gal 3,29; 5,24. 35 Zwischen den Begründungen Nr. 1 / Nr. 2, Nr. 3 / Nr. 4 und Nr. 5 / Nr. 6 besteht jeweils eine enge Berührung; aufgrund der besonderen Akzentsetzungen ist hier gleichwohl zu differenzieren. 36 J. Weiss, Der erste Korintherbrief (s. Anm. 26), 358; Lietzmann, in: Lietzmann / Kümmel, An die Korinther I/II (s. Anm. 26), 80; A. Oepke, Art. ., ThWNT I (1933 = 1957) 368–372: 371,32f.; als möglich bzw. wahrscheinlich erwogen auch bei Bauer, Wörterbuch5, 1607 s. v. 2 (vgl. 1589 s. v. 2); Bauer / Aland, Wörterbuch6, 1619 s. v. 2 (vgl. 1601 s. v. 2). S. ferner auch Peterson, Der erste Brief an die Korinther und Paulus-Studien (s. Anm. 28), 398 f., der mit „Schluss“ übersetzt (398), ferner auch die Übersetzung „Rest“ notiert (399) und die Vermutung nahegelegt sieht, „dass auf die Auferstehung der Christen noch eine allgemeine Totenauferstehung erfolgt, und zwar in dem Moment, wo der Sohn die dem Vater übergibt“ (ebd.). 37 Chr. A. Wahl, Clavis Novi Testamenti philologica, Leipzig 31843, 479a s. v. 1.a: „collective: ultima pars, ultimi 1 Cor. 15,24. i. e. ultima mortuorum pars. Uti enim primum Christus in vitam rediit, tum cultores eius in vitam revocabuntur, ita postremo [post regnum mille annorum] reliqua hominum mortuorum pars vitae restituetur [resurrectio mortuorum secunda cf. Apoc. 20,4 …].“

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schen bezogen38; 4. bedeute: „dann die Legion [der Übrigen]“39; 5. bezeichne zwar „das Ende“ im eschatologischen Sinn40, mit ihm sei aber die allgemeine Totenauferstehung bzw. die Auferstehung einer weiteren Abteilung von Menschen verbunden41; 6. mit (= „das Ende“) sei der finis resurrectionis, d. h. der letzte Akt der Totenauferstehung gemeint42. Zu diesen sechs Argumenten ist in aller Kürze das Folgende zu bemerken: 1. Die Behauptung, daß auch „Rest“ heißen könne, entbehrt eines tragfähigen philologischen Fundamentes; denn für diese Bedeutung fehlt jeder überzeugende Beals Kollektivbegriff für leg43. 2. Gleiches gilt für das Verständnis von die ultima mortuorum pars, das sich nicht auf Parallelen stützen kann, sondern sich der exegetisch unhaltbaren Annahme verdankt, daß Paulus den Gedanken in alteiner „zweiten Auferstehung“ vertrete44. 3. Die Behauptung, daß griechischen Texten als Ausdruck für „the last company of a body of soldiers“ begegne, ist unzutreffend. Das Wort bezeichnet in den relevanten Texten45 vielmehr ganz allgemein eine „Heeresabteilung“46 und dementsprechend im römischen Herr z. B. eine „Legion“47. Der Aspekt, daß es sich um die letzte Abteilung eines Heeres handelt, ist in dem Wort nicht enthalten. 4. Die Wiedergabe von 38 Bullinger, Figures of Speach used in the Bible (s. Anm. 33), 87 mit dem Hinweis auf Homer, Ilias 7,380; 10,470. 39 Gielen, in: Merklein / Gielen, Der erste Brief an die Korinther. Kapitel 11,2–16,24 (s. Anm. 28), 312. Zur Begründung s. ebd., 318–322 sowie M. Gielen, Universale Totenauferweckung und universales Heil? 1 Kor 15,20–28 im Kontext paulinischer Theologie, BZ NF 47 (2003) 86–104: 88–95. 40 Dies ist in der Tat die in 1Kor 15,24a vorliegende Bedeutung. Zu = „Ende“ als apokalyptischem Terminus s. G. Delling, Art. , ThWNT VIII (1969) 50–88: 53,32 ff. Neutestamentliche Belege: Mk 13,7 par.; Mt 24,14. 41 Bousset, Der erste Brief an die Korinther (s. Anm. 29), 156; Schlatter, Paulus der Bote Jesu (s. Anm. 26), 412, Strobel, Der erste Brief an die Korinther (s. Anm. 26), 251 f.; als möglich erwogen auch bei Wendland, Die Briefe an die Korinther (s. Anm. 29), 148. 42 C. L. W. Grimm, Lexicon Graeco-Latinum in libros Novi Testamenti, Gießen 41888, 430b s. v. 1.a: „ , 1 Co. 15,24 est aut finis eventuum eschatologicorum aut finis resurrectionis i. e. ultimus s. tertius actus resurrectionis (eos complexurus, qui nondum fuerant ).“ 43 S. dazu J. Héring, Saint Paul a-t-il enseigné deux résurrections?, RHPhR 12 (1932) 300–320; H.-A. Wilcke, Das Problem eines messianischen Zwischenreichs bei Paulus (AThANT 51), Zürich – Stuttgart 1967, 87–91. 44 S. das o. Anm. 37 mitgeteilte Zitat. 45 S. außer den von Bullinger (s. o. Anm. 38) genannten Belegen z. B. noch: Homer, Ilias 11,730; 18,298; Herodot, Historiae I 103,1; VII 81. 87. 223,3; Thukydides, Historiae I 48,3; II 22,2. 81,2; VI 42,1; Polybius, Historiae XI 11,6. 46 Vgl. etwa F. Passow, Handwörterbuch der griechischen Sprache. Neu bearbeitet und zeitgemäß umgestaltet von Val. Chr. Fr. Rost u. a., II/2, Leipzig 51857 = Darmstadt 1983, 1858a s. v. 5. Der militärische Sprachgebrauch beruht auf der Bedeutung = die „Abteilung“ bzw. „Schar“, die in sich abgeschlossen ein Ganzes bildet. Vgl. z. B. Homer, Ilias 10,56: „die heilige Schar der Wächter“. 47 Josephus, Antiquitates XIV 469; Bellum Judaicum I 346; Plutarch, Antonius 18,8; Appian, Romanae Historiae XVII 87 (= Bella Civilia Romana V 87).

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mit „dann die Legion [der Übrigen]“ erweist sich schon dadurch als unhaltbar, daß das entscheidende Element, das dem Ganzen allererst die erforderliche Eindeutigkeit verleiht, nämlich das Genitivattribut „der Übrigen“, ergänzt werden muß. Der Versuch, seine Auslassung mit der „extrem sparsamen Diktion der Verse“ zu erklären48, ist nicht mehr als eine Verlegenheitsauskunft. 5. Die These, daß bei der Erwähnung des „Endes“ notwendig an die Auferstehung der nicht an Christus glaubenden Menschen gedacht sei, trägt die Vorstellung zweier – durch das messianische Zwischenreich voneinander getrennter – Auferstehungen aus der Johannesapokalypse49 in den paulinischen Text ein50. 6. Nicht anders ist über die Interpretation zu urteilen, die unter als dem finis resurrectionis den letzten Akt der Totenauferstehung begreift. Eine andere – nicht mit V. 24a argumentierende – Begründung dafür, daß Paulus bei den Worten V. 23a auch an die nicht an Christus glaubende Menschheit denke, hat J.Chr.K. v. Hofmann vorgelegt51. Er bemerkt unter Hinweis auf V. 26, „daß der Auferstehung der Angehörigen Christi nach Vernichtung aller widergöttlichen Macht und Gewalt eine Vernichtung des Todes folgt, welche Lebendigmachung solcher, welche bei Leibes Leben Christo nicht angehört hatten, in sich schließt“52. Diese Deutung liest in den Text hinein, was in ihm selbst mit keiner Silbe ausgesagt wird. Als Fazit kann festgehalten werden: Es gibt keine hinreichenden Argumente für die Annahme, daß in V. 23 bei den Worten über die zu Christus Gehörenden hinaus auch die übrige, d. h. nicht an Christus glaubende Menschheit mit im Blick ist und der Apostel also auch deren Auferstehung erwartet.

Bezieht sich

V. 23a auch auf Christus selbst?

Wenn die Worte dahingehend interpretiert werden, daß sich nicht nur auf die zu Christus Gehörenden ( ), sondern zugleich auch auf Christus selbst bezieht, dann ist ein bestimmtes Verständnis des dann folgenden Satzes V. 23b ( 48 So Gielen, in: Merklein / Gielen, Der erste Brief an die Korinther. Kapitel 11,2–16,24 (s. Anm. 28), 321; vgl. Gielen, Universale Totenauferweckung und universales Heil? (s. Anm. 39), 95: „Es entspricht … der extrem knappen Ausdrucksweise der Verse, daß Paulus auf eine eigene Kennzeichnung der Nichtchristen – etwa durch Hinzufügung ‚der übrigen‘ – verzichtet.“ 49 Offb 20,1–10. 50 Vgl. Kümmel, in: Lietzmann / Kümmel, An die Korinther I/II (s. Anm. 26), 193. 51 v. Hofmann, Der erste Brief Pauli an die Korinther (s. Anm. 19), 360 f. 366 f. Die Worte scheiden für v. Hofmann deshalb als Argument aus, weil er für die Bedeutung „das Ende“ bestreitet und urteilt, daß der Ausdruck wie in 1Petr 3,8 die Funktion eines Adverbiale (= „schließlich“) habe (ebd., 366). Dieses – unhaltbaren – Verständnis von übernimmt Barth, Die Auferstehung der Toten (s. Anm. 27), 96 f. 52 v. Hofmann, Der erste Brief Pauli an die Korinther (s. Anm. 19), 367. Diese Deutung hat sich Barth nicht zueigen gemacht.

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) vorausgesetzt: Die beiden Subjekte dieses Satzes – und – gelten als Aufnahme und Entfaltung des , und dem als Prädikatsadjunkt beurteilten wird eine adverbiale Position zugeschrieben, in der es – im Sinne eines „als erster“ – dem Adverb korrespondiert. Bei diesem Verständnis des V. 23b ergeben sich für die Verse 22+23 insgesamt zwei Deutungsmöglichkeiten. Liest man V. 23 als unmittelbare Weiterführung des V. 22, so lauten die beiden Verse: „[22] Wie nämlich in Adam alle sterben, so werden auch in Christus alle lebendig gemacht werden, [23] ein jeder aber in je seinem besonderen : als Erstling Christus, danach diejenigen, die zu Christus gehören, bei seiner Ankunft.“53 Begreift man V. 23 hingegen als einen eigenständigen Satz, dann wird in den Versen 22+23 gesagt: „[22] Wie nämlich in Adam alle sterben, so werden auch in Christus alle lebendig gemacht werden. [23] Ein jeder aber in je seinem besonderen : als Erstling Christus, danach diejenigen, die zu Christus gehören, bei seiner Ankunft.“54 Was die elliptische Formulierung in V. 23 anlangt, so muß im erstgenannten Fall einfach ein Weiterwirken des von V. 22b angenommen werden. Im letztgenannten Fall kann das in V. 22b vorgegebene Verbum in den verschiedenen Satzteilen der jeweiligen Aussage entsprechend in unterschiedlichem Tempus ergänzt werden: [ ] [ ] [ ] 55 – „Ein jeder aber [wird] in je seinem besonderen [lebendig gemacht]: als Erstling [ist] Christus [lebendig gemacht worden], danach 53 Vgl. dazu exemplarisch die Übersetzung bei H. Menge, Das Neue Testament, Stuttgart 1949, 272 f.: „Wie nämlich in Adam alle sterben, so werden auch (= entsprechend) in Christus alle wieder zum Leben gebracht werden, ein jeder aber in seiner besonderen Abteilung: als Erstling Christus, hierauf die, welche Christus angehören, bei seiner Ankunft (= Wiederkunft).“ Die gleiche Struktur weist z. B. die Übersetzung bei Wolff, Der erste Brief des Paulus an die Korinther (s. Anm. 3), 381 auf. 54 Vgl. exemplarisch die Wiedergabe von V. 22 f. in der revidierten Fassung der Lutherbibel von 1984: „Denn wie sie in Adam alle sterben, so werden sie in Christus alle lebendig gemacht werden. Ein jeder aber in seiner Ordnung: als Erstling Christus; danach, wenn er kommen wird, die, die Christus angehören.“ Die gleiche Struktur findet sich z. B. in den Übersetzungen bei Kuss, Die Briefe an die Römer, Korinther und Galater (s. Anm. 29), 186; Barth, Die Auferstehung der Toten (s. Anm. 27), 96; Wendland, Die Briefe an die Korinther (s. Anm. 29), 146; Lang, Die Briefe an die Korinther (s. Anm. 29), 221; Schrage, Der erste Brief an die Korinther IV (s. Anm. 29), 152; Gielen, in: Merklein / Gielen, Der erste Brief an die Korinther. Kapitel 11,2–16,24 (s. Anm. 28), 312. 55 So dürfte z. B. Schrage, Der erste Brief an die Korinther IV (s. Anm. 29), 158. 167 den ebd., 152 übersetzten Text verstehen, wenn er einerseits feststellt, daß in V. 23 das fehlende Prädikat aus V. 22b zu ergänzen sei (158), und andererseits erklärt, daß das aus V. 22 zu ergänzende nicht auf Christus bezogen werden kann (167). Vgl. auch Heinrici, Der erste Brief an die Korinther (s. Anm. 12), 465 sowie unter jenen Exegeten, die in V. 23 f. drei angesprochen finden, J. Weiss, Der erste Korintherbrief (s. Anm. 26), 357; Lietzmann, in: Lietzmann / Kümmel, An die Korinther I/II (s. Anm. 26), 80. 11

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[werden] diejenigen, die zu Christus gehören, bei seiner Ankunft [lebendig gemacht werden]“. Möglich wäre aber auch, V. 23 als grundsätzliche Feststellung zu lesen und das Verbum nur einmal – und zwar im Präsens – zu ergänzen: [ ] – „Ein jeder aber [wird] in je seinem besonderen [lebendig gemacht]: als Erstling Christus, danach diejenigen, die zu Christus gehören, bei seiner Ankunft“. Gegen das oben skizzierte Verständnis des V. 23 und damit auch gegen die mit ihm verbundenen Deutungen der Verse 22+23 insgesamt erheben sich allerdings schwerwiegende Bedenken: 1. Wenn sich so aufgliedert, daß ein einzelner ( ) allen anderen ( ) gegenübergestellt wird, dann ist das sprachlich wie gedanklich zumindest eine recht seltsame Disjunktion. 2. Da das Verbum – wie wir sahen – in V. 22 dezidiert soteriologischen Sinn hat und zum Ausdruck bringt, daß denen, die um ihrer Sünde willen rechtens dem von Gott trennenden Tod verfallen sind, aufgrund des Todes und der Auferstehung Christi das ewige Leben in der Gemeinschaft mit Gott geschenkt werden wird, ist es kaum denkbar, daß mit ihm auch die Auferstehung Christi bezeichnet wird56. 3. Weder in der Aussage von V. 20 noch dann auch in den diese Aussage explizierenden Versen 21 und 22 sind die Auferstehung Christi und die Auferstehung der Toten einfach als einander parallele Ereignisse verstanden. Es wird im Gegenteil mit Nachdruck betont, daß die Auferstehung der Toten in der Auferstehung Christi begründet ist und also deren notwendige Folge darstellt. Weil die Auferstehung Christi Heilsgeschehen ist57, deshalb ist sie qualitativ von der Auferstehung derer, die zu Christus gehören, unterschieden58. Daß in V. 23 die Auferstehung Christi und die Auferstehung der Seinen gleichwohl als zwei Akte eines beide umfassenden Geschehens nebeneinandergestellt werden und in seiner Korrespondenz zu dabei lediglich den Unterschied in der zeitlichen Abfolge oder in der Rangfolge markiert, dürfte doch äußerst unwahrscheinlich sein59. 56 Es dürfte schwerlich ein Zufall sein, daß das Verbum / in den Paulusbriefen sonst nirgends in Aussagen über die Auferstehung Christi begegnet. 57 So Paulus ausdrücklich in 2Kor 5,15; vgl. auch Röm 4,25; 8,34; 14,9. 58 Robertson / Plummer, The First Epistle of St Paul to the Corinthians (s. Anm. 26), 347 bemerken sehr zu Recht: Zwischen der Auferstehung Christi und derjenigen der Toten besteht „a difference in kind“. 59 Angesichts dessen, was zum Sinn des Verbums und zum Charakter der Auferstehung Jesu zu sagen ist, erweist es sich als entschieden zu einfach, wenn Bachmann, Der erste Brief des Paulus an die Korinther (s. Anm. 11), 443 erklärt: „ greift auf in 22b zurück, zu denen Christus selbst nicht gehörte. Dennoch wird es weiterhin durch , , so gegliedert, daß es auch Christus unter sich befaßt. Es ist aber nicht nötig, sich sonderlich um eine Rechtfertigung oder Erklärung dieser ‚Inkorrektheit‘ zu bemühen, da 22b und der ganze Zusammenhang ja beständig von dem Grundgedanken beherrscht werden, daß Christus selber auch und erst recht auferstanden ist. Darum erweitert sich der Umfang von jetzt ohne Mühe.“

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Die soeben notierten Bedenken betreffen die beiden oben erwähnten Deutungen in gleicher Weise. Hinsichtlich der dort an erster Stelle genannten Deutung, die V. 23 als die unmittelbare Weiterführung des V. 22 begreift, kommt ein weiterer gewichtiger Einwand hinzu. Wir hatten notiert, daß die Verse 22+23 bei jener Deutung besagen: „[22] Wie nämlich in Adam alle sterben, so werden auch in Christus alle lebendig gemacht werden, [23] ein jeder aber in je seinem besonderen : als Erstling Christus, danach diejenigen, die zu Christus gehören, bei seiner Ankunft.“ Faßt man diese Worte genauer in den Blick, so tritt alsbald die innere Unstimmigkeit der Aussage zutage. Sie liegt darin, daß sprachlichsyntaktisch das Futur von V. 22b auch von Christus gilt und die präpositionale Bestimmung von V. 22b sich ebenfalls auf ihn selbst bezieht. Man müßte Paulus schon eine unglaublich nachlässige Formulierung unterstellen, wenn man die damit zu verzeichnende „Inkorrektheit“ für unerheblich halten wollte60. Ziehen wir ein Fazit, so ist zu sagen: Es sind gewichtige Argumente, die dagegen sprechen, daß sich in den Worten von V. 23a das Subjekt nicht nur auf die zu Christus Gehörenden ( ), sondern ebenso auch auf Christus bezieht.

Bezieht sich

V. 23a nur auf

?

Angesichts des bisher Gesagten stellt sich nunmehr die Frage, ob die Worte V. 23a ausschließlich auf die zu Christus Gehörenden ( ) bezogen sein wollen. Daß dies in der Tat der Fall ist, ergibt sich aus dem Gesamtzusammenhang der Verse 20–23. Setzt man nämlich – wie es m. E. geboten ist – voraus, daß der in V. 20 begonnene Argumentationsund Gedankengang im Anschluß an V. 22 folgerichtig weitergeführt wird, dann legt sich im Blick auf die Worte zunächst das folgende Urteil nahe: Das Subjekt nimmt wie in 1Kor 12,6 f. und in 2Kor 5,1061 das des voraufgehenden Satzes (d. h. hier des V. 22b) auf 62, und es 60

Jedenfalls läßt sich dann, wenn V. 23 unmittelbar an V. 22 anschließt, das Problem der „Inkorrektheit“ erst recht nicht so einfach aus der Welt schaffen, wie es in dem in der vorigen Anmerkung zitierten Votum Bachmanns geschieht. 61 1Kor 12,6 f.: … 2Kor 5,10: . Außerhalb der Paulusbriefe s. etwa Sir 38,31; Hermas, sim VIII 4,2 f.; Josephus, Bellum Judaicum III 93 (s. u. Anm. 67) – Die soeben genannten Belege sind grammatikalisch von jenen Texten zu unterscheiden, in denen als distributive Apposition auf folgt (Beispiele: Platon, Gorgias 503d.e; Politeia 346d; Lk 2,3; Hermas, sim VIII 5,2.3; in LXX: Ex 36,4; Mi 4,5; 7,2; Jes 56,11; Ez 7,16). 62 So z. B. auch ausdrücklich Lindemann, Der Erste Korintherbrief (s. Anm. 28), 345; Schrage, Der erste Brief an die Korinther IV (s. Anm. 29), 164 Anm. 733; Gielen, in: Merklein / Gielen, Der erste Brief an die Korinther. Kapitel 11,2–16,24 (s. Anm. 28), 318.

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kann sich dann auch nur auf die dort erwähnten beziehen63. Unter dieser Prämisse sind dann vier weitere Urteile zu formulieren: 1. V. 23 ist unmittelbar mit V. 22 verbunden, so daß zwischen den beiden Versen ein Komma zu setzen ist. 2. Die Worte V. 23a stehen unter dem Vorwirkt zeichen des von V. 22b64. 3. Dieses ebenfalls als Prädikat des elliptisch formulierten Satzes V. 23b weiter. 4. Durch die unmittelbar auf folgende Partikel wird wie in 1Kor 3,8.10; 12,7 das Nomen besonders hervorgehoben: „Ein jeder aber (von den zuvor erwähnten ) wird lebendig gemacht werden.“ Ist V. 23a so zu lesen – d. h. als eine Aussage, die einzig und allein eben jene im Blick hat, von denen in V. 22b das ausgesagt wird, – dann ergibt sich für die Worte … , daß hier nur die Bedeutung „Stellung“ / „Position“ / „Status“ haben kann65 und daß also wie in 1Klem 37,3 und 1Klem 41,1 gemeint ist: „ein jeder in der ihm eigenen Stellung“, „ein jeder an dem ihm eigenen Ort“66. Was den genaueren Sinngehalt der Wendung anlangt, so besteht allerdings zwischen den beiden Sätzen des 1. Klemensbriefes und dem Vers 1Kor 15,23a eine nicht unwesentliche Differenz. In jenen Sätzen ist, wie der jeweilige Kontext lehrt, von unterschiedlichen Positionen die Rede – in 37,3 von solchen der Soldaten im Heer, in 41,1 von solchen der Gemeindeglieder innerhalb der christlichen Gemeinde. Die Formulierung … hat mithin den Sinn: „ein jeder in je seiner besonderen Stellung“. Dieser Sinn liegt in 1Kor 15,23a dagegen nicht vor, sondern die Worte … bedeuten hier: „ein jeder in der ihm gebührenden Stellung“67, wobei an ein allen gemeinsames Die richtige Erkenntnis, daß das von V. 22b aufnimmt, ist hier jedoch in inkonsequenter Weise mit der Interpretation verbunden, daß auch Christus mit umfaßt sei. 63 Daß das von V. 22 fortsetzt und die Worte sich nicht auch auf Christus beziehen können, haben Schlatter, Paulus der Bote Jesu (s. Anm. 26), 412 und Strobel, Der erste Brief an die Korinther (s. Anm. 26), 251 richtig gesehen. Vgl. auch v. Hofmann, Der erste Brief Pauli an die Korinther (s. Anm. 19), 360. 64 Zu in Verbindung mit einem Prädikat im Plural s. im Neuen Testament: Lk 2,3; Joh 7,53; 16,32; Eph 4,25; Hebr 8,11 (= Jer 38,34 LXX); Offb 5,8; 20,13. 65 Zu dieser Bedeutung s. o. Anm. 27. 66 Bei R. Knopf, Die Apostolischen Väter I: Die Lehre der Zwölf Apostel. Die zwei Clemensbriefe (HNT Ergänzungs-Band), Tübingen 1920, 109 bzw. 114 lautet die Übersetzung der Worte 1Klem 37,3; 41,1: „jeder an seinem Ort“. Andere übersetzen: „jeder auf seinem Posten“ (J. A. Fischer, Die Apostolischen Väter [SUC 1], Darmstadt 21958, 73. 77) bzw. „jeder auf seinem eigenen Posten“ (A. Lindemann, in: Ders. / H. Paulsen [Hg.], Die Apostolischen Väter. Griechisch-deutsche Parallelausgabe, Tübingen 1992, 121. 125; H. E. Lona, Der erste Clemensbrief [KAV 2], Göttingen 1998, 407. 428). 67 Vgl. Josephus, Bellum Judaicum III 93 über die römischen Soldaten: … = „sie marschieren alle ruhig und wohlgeordnet, wobei ein jeder den ihm zukommenden Platz (sc. in Reih und Glied) nicht verläßt“.

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gedacht ist. Während also in 1Klem 37,3; 41,1 durch die Unterschiedlichkeit betont wird („ein jeder in der ihm im Unterschied zu den anderen zukommenden Stellung“)68, hebt das Wort in 1Kor 15,23 auf die Eigentümlichkeit ab („ein jeder in keiner anderen als der ihm zukommenden Stellung“)69. Daß bei der Formulierung … sprachlich beide Nuancen möglich sind, lehrt exemplarisch ein Vergleich mit den Ausführungen bei Hermas, sim VIII 5,1–6. Dort heißt in 5,4 „alle in je ihre Gruppe“70, wohingegen die gleiche Wendung in 5,1 die Bedeutung „alle in ihre Gruppe“ hat und mit dem ein und dieselbe Größe gemeint ist71.

III Unsere bisherigen Überlegungen haben ergeben, daß in den Worten V. 23a das Nomen sich ausschließlich auf das von V. 22b bezieht und seinerseits lediglich durch den Ausdruck aufgenommen wird72. Zu bestimmen ist nunmehr noch, wie innerhalb des Satzes V. 23b die Worte syntaktisch und gedanklich zu verstehen sind. Diese Worte sind entweder als ein reiner Nominalsatz zu lesen: „Der Erstling ist Christus“73, oder es ist – weniger wahrscheinlich – von V. 20 her ein 68 Das Antonym zu wäre hier . Zu dem entsprechenden Sinn bei paulinischen Aussagen, in denen die beiden Nomina und begegnen, s. die folgenden Texte: 1Kor 3,8 („jeder wird seinen besonderen [d. h. den ihm persönlich zukommenden] Lohn empfangen gemäß seiner besonderen [d. h. der von ihm persönlich geleisteten] Arbeit“); 7,7 („jeder hat seine besondere Gnadengabe“); 11,21 („jeder nimmt beim Essen seine je eigene [d. h. die von ihm persönlich mitgebrachte] Mahlzeit ein“); Gal 6,5 („jeder wird seine je eigene [d. h. die von ihm selbst angehäufte] Last zu tragen haben“). Anders dagegen der Sinn in: 1Kor 7,2 ( neben ); 15,38 („Gott gibt jedem Samen einen [seinem Beschluß] entsprechenden Leib“); s. auch die folgenden Texte: Mt 25,15; Lk 2,3 v. l.; 6,44; Apg 2,6.8; Jak 1,14. 69 Das Antonym zu wäre hier . Zu diesem Gebrauch von vgl. Röm 11,24: = „sie werden ihrem eigenen Ölbaum wieder eingepfropft werden“. S. auch Apg 1,25 ( = „an den ihm zukommenden Platz“, „an den ihm gebührenden Ort“); 1Kor 7,4 ( hier im Sinne eines Possessivpronomens); 9,7 ( ; „wer leistet jemals Kriegsdienst für den Sold, den er selber zahlt?“). 70 Vgl. 5,3: „jeder in je seine Gruppe“. 71 In 5,6 bleibt, insbesondere wenn man sim VIII 10,3 f. vergleicht, unsicher, ob bei an eine einzige oder aber an zwei Gruppen gedacht ist. 72 Von verschiedenen von Auferstandenen ist in V. 23 also keine Rede. 73 So die Peschitta: ršjt’ hw’ mšjh. ’. Ebenso Schlatter, Erläuterungen zum Neuen Testament II (s. Anm. 26), 315, aber auch bereits die Übersetzung des V. 23 bei Maximos Kallioupolites: [ ] [ ] ( [s. Anm. 12], 579).

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zu ergänzen: „Als der Erstling [ist] Christus [auferstanden].“ In beiden Fällen wird mit noch einmal an die Aussage von V. 20 erinnert und somit unterstrichen, daß in der Auferstehung Christi die Auferstehung der Toten und also das in V. 22b erwähnte der sowohl begründet wie auch definitiv entschieden ist. Die Worte erläutern dann die über die gemachte und unter dem Vorzeichen des V. 22b stehende Aussage . Dabei liegt der Ton auf und , und in dem Adverb wird man die Nuance „danach erst“ ausgedrückt finden dürfen, wie sie auch in 1Kor 15,46 zu verzeichnen ist74. Die Verse 22+23 insgesamt lauten also: „[22] Wie nämlich in Adam alle sterben, so werden auch in Christus alle lebendig gemacht werden, [23] ein jeder aber an dem ihm gebührenden Ort: Der Erstling [ist] Christus75; danach erst [werden] die zu Christus Gehörenden [lebendig gemacht werden – und zwar] bei seiner Parusie.“ Die Aussage des V. 23b ist deutlich: Als diejenigen, die zu Christus gehören und ihm als der ihre Auferstehung verdanken, werden die bei der Parusie Christi das Leben empfangen. Mit ist so ihre „Stellung“ bezeichnet – und zwar die ihnen allen gemeinsame „Stellung“76. Die Frage, weshalb Paulus in V. 23b noch einmal erwähnt, daß Christus die ist, findet ihre Antwort, wenn man die zwischen V. 22b und V. 23b bestehende Entsprechung beachtet: V. 22b:

V. 23b: .

Wie die Nebeneinanderstellung der beiden Texte erkennen läßt, wird V. 22b durch V. 23b insofern erläutert, als V. 23b noch einmal deutlich macht, was in dem -Satz V. 22 bereits durch die unterschiedlichen Tempora der Prädikate angezeigt wird: daß zwischen dem Vordersatz und dem Nachsatz keineswegs eine vollkommene Parallelität besteht. Was den Vordersatz betrifft, so ist das – d. h. die Verfallenheit an den von Gott trennenden Tod – mit der Zugehörigkeit zu Adam eo ipso gegeben. Anders steht es mit dem des Nachsatzes. Daß die Glaubenden in das ewige Leben versetzt werden, das ist ihnen zwar mit ihrer Zugehörigkeit zu Christus definitiv verbürgt, es ist aber keineswegs bereits in der Gegenwart für sie Wirklichkeit. 74

Vgl. die Übersetzung bei Menge, Das Neue Testament (s. Anm. 53), 274. Oder: „Als der Erstling [ist] Christus [auferstanden]“. 76 B. Weiss, Die paulinischen Briefe (s. Anm. 19), 225 versteht zwar als „Schar“, hat die Argumentationsstruktur jedoch zutreffend erkannt: V. 23 bestimmt das zuvor Gesagte näher, „und zwar dahin, dass jeder von denen, die nach v. 22 lebendig gemacht werden, in und mit der Schar, zu der er gehört, in seinem … lebendig gemacht wird, und das ist, wenn sie lebendig gemacht werden, die Schar der “. 75

Die Auferstehung Christi und die Auferstehung der Toten

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IV Der in V. 20–23 vorliegende Argumentationsgang kann nunmehr folgendermaßen beschrieben werden: Nachdem Paulus in V. 20–22 den unlöslichen Zusammenhang zwischen der Auferstehung Christi und der Auferstehung der Toten zur Sprache gebracht hat, weist er in V. 23 nachdrücklich auf jenen Sachverhalt hin, der im Blick auf die Parole (V. 12) von höchstem Gewicht ist: Ein jeder von denen, für die Christus als die schicksalsbestimmend ist, wird in „seiner“ – und das heißt: in der ihm zugleich mit allen anderen bestimmten „Stellung“ lebendig gemacht werden. Der Apostel hebt damit nicht nur auf die zeitliche Abfolge der eschatologischen Ereignisse oder auf den unterschiedlichen Rang zwischen Christus und den Seinen ab. Ihm geht es vielmehr dezidiert um die Aussage, daß alle, deren Lebendigmachung in Christi Auferstehung begründet ist, dieses ihr erst noch vor sich haben. Niemand ist bisher der teilhaftig, so daß er der überhaupt nicht mehr bedürfte und sie deshalb auch nicht mehr erwarten müßte. Für ausnahmslos jeden Christen steht vielmehr noch aus, was später in unserem Kapitel thematisiert werden wird: der Übergang von der zur , von der zur , von der zur (V. 42–44); das Bekleidetwerden mit der und der (V. 53); der Eingang in die und die Unvergänglichkeit des ewigen Lebens (V. 50). Man kann gegen diese Deutung nicht einwenden, daß es Paulus in 1Kor 15 um das Daß der Totenauferstehung gehe, nicht aber um ihre Zukünftigkeit. Wenn nämlich die Auferstehungsleugner erklärt haben, daß der Getaufte bereits die Unsterblichkeit bzw. das ewige Leben besitze und deshalb einer Auferstehung nicht mehr bedürfe, dann schließen die beiden Aspekte einander nicht nur nicht aus, sondern dann gehören sie im Gegenteil unlöslich zusammen. Die Notwendigkeit der zukünftigen Totenauferstehung – wie auch die Notwendigkeit der ihr entsprechenden „Verwandlung“ der am Ende der Zeit noch lebenden Christen77 – begründet Paulus mit dem nachdrücklichen Hinweis, daß es für den Menschen qua prinzipiell keinen Zugang zur und zur gibt78. Den Zugang zur Unsterblichkeit und zum ewigen Leben gibt es einzig und allein so, daß durch Gottes Schöpfermacht das in das umgestaltet wird79. Das aber geschieht, wie der Apostel betont, erst in der Zukunft – nämlich bei der Parusie Christi.

77 78

S. dazu V. 51 f. S. einerseits V. 50 ( ) und andererseits V. 53 ( ).

79

S. dazu V. 42–49.

[225]

„Gott war in Christus“ Sprachliche und theologische Erwägungen zu der Versöhnungsaussage 2Kor 5,19a

Dass die Worte 2Kor 5,19a für das paulinische Gottesverständnis und ebenso auch für die Christologie und Soteriologie des Apostels von fundamentaler Bedeutung sind, kann keinem Zweifel unterliegen. Die grammatisch-syntaktische Analyse dieser Worte ist in der Exegese allerdings lebhaft umstritten, und entsprechend unterschiedlich stellt sich ihre Auslegung dar.1 Die Klärung der Frage, wie die Versöhnungsaussage 2Kor 5,19a sprachlich zu verstehen und theologisch zu interpretieren ist, gehört deshalb zu den wesentlichen Aufgaben der Paulusexegese. Ihr sollen die folgenden Erwägungen gewidmet sein.

I Im Kontext des Argumentationsgangs 2Kor 5,18–21 steht der Satz V. 19a deutlich erkennbar in Parallele zu der Aussage von V. 18b: »18b: 19a:

[

]

.«2

In V. 18b hat Paulus erklärt, dass Gott »uns« – die Glieder der christlichen Gemeinde – »mit sich selbst versöhnt hat durch Christus«. Dass sich dabei die Worte auf das Geschehen des Kreuzestodes Jesu beziehen, ergibt 1

Eine umfassende Übersicht bietet R. Bieringer, 2 Korinther 5,19a und die Versöhnung der Welt, in: R. Bieringer/J. Lambrecht, Studies on 2 Corinthians, BEThL 112, Leuven 1994, 429–459: 437ff. 2 Zur Strukturanalyse von 2Kor 5,18–21 s. im einzelnen O. Hofius, »Gott hat unter uns aufgerichtet das Wort von der Versöhnung« (2Kor 5,19), in: Ders., Paulusstudien, WUNT 51, Tübingen 21994, 15–32: 15–22. Zwei für das Verständnis des V. 19 wesentliche Erkenntnisse, die ebd., 18f. begründet werden, seien an dieser Stelle notiert: 1. Die Worte V. 19b sind der Aussage von V. 19a subordiniert. 2. Der Partizipialsatz V. 19c setzt den Hauptsatz V. 19a fort, wobei das Partizip für die finite Verbform steht.

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sich aus dem zuvor in 2Kor 5,14f. Dargelegten ( ), und es wird durch Röm 5,10 bestätigt, wo der Apostel formuliert: . Was in V. 18b unter ekklesiologischem Aspekt gesagt war, wird in dem durch angeschlossenen V. 19 in universaler Ausweitung aufgenommen, indem sich nunmehr der Blick auf den , d.h. auf die gesamte Menschenwelt richtet (V. 19a).3 Aus der Parallelität zwischen den beiden Versöhnungsaussagen V. 18b und V. 19a ergibt sich hinsichtlich der Syntax von V. 19a eine erste wichtige Erkenntnis: In dem Satz kann nur grammatisches Subjekt sein. Alle Deutungen, die als Prädikat auffassen,4 können deshalb von vornherein als indiskutabel aus der Betrachtung ausgeschlossen werden. Unter den verbleibenden Interpretationen des Satzes 2Kor 5,19a sind drei unterschiedliche Analysen zu notieren, die sämtlich auch in respektablen Bibelübersetzungen ihren Niederschlag gefunden haben.5 Der erste hier zu nennende Deutungsvorschlag, der von der überwiegenden Mehrheit der Exegeten vertreten wird, verbindet das Hilfsverb ganz unmittelbar mit dem Partizip , begreift diese Verbindung als coniugatio periphrastica und erblickt in der Präpositionalbestimmung ein zu gehöriges Adverbiale.6 Entsprechend lautet die Übersetzung: »Gott versöhnte in Christus die Welt mit sich selbst«7 oder »Gott hat in Christus die ebenfalls mit Welt mit sich versöhnt«8. – Andere Ausleger sehen verbunden, schreiben dem Hilfsverb jedoch einen selbständigen Status zu und wollen von daher in ein als Prädikatsnomen gebrauchtes substantiviertes Partizip erkennen, dem die Worte adver3 Wie in Est 4,14 LXX, so hat auch in 2Kor 5,19 die Bedeutung »denn«, »denn es steht fest, dass«. 4 S. dazu das Referat bei Bieringer, 2 Korinther 5,19a, s. Anm. 1, 438f. 5 Ich konzentriere mich auf die Darstellung der Grundmodelle, verzichte also darauf, alle Differenzierungen zu beschreiben. Die im Folgenden zitierten Übersetzungsbeispiele entnehme ich jeweils einer der von mir als respektabel charakterisierten Bibelausgaben. 6 Als Vertreter dieser Deutung seien exemplarisch genannt: C.F.G. Heinrici, Der zweite Brief an die Korinther, KEK 6, Göttingen 81900, 217; A. Plummer, A Critical and Exegetical Commentary on The Second Epistle to the Corinthians, ICC, Edinburgh 1915 = 1985, 183; R. Bultmann, Der zweite Brief an die Korinther, KEK Sonderband, Göttingen 1976, 162; V.P. Furnish, II Corinthians, AncB 32A, Garden City, N.Y. 31985, 318f.; Chr. Wolff, Der zweite Brief des Paulus an die Korinther, ThHK 8, Berlin 1989, 129f.; M.E. Thrall, A Critical and Exegetical Commentary on The Second Epistle to the Corinthians I: Introduction and Commentary on II Corinthians I–VII, ICC, Edinburgh 1994, 433f.; Bieringer, 2 Korinther 5,19a, s. Anm. 1, 440ff. S. ferner auch S.E. Porter, Verbal Aspect in the Greek of the New Testament, with Reference to Tense and Mood, Studies in Biblical Greek 1, New York/Bern/Frankfurt a.M./Paris 1989, 462.477f. 7 So die Zürcher Bibel. 8 So die Jerusalemer Bibel.

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bial zugeordnet sind.9 Als Übersetzung wird dann gewählt: »Gott war es, der in Christus die Welt mit sich versöhnt hat.«10 – Eine dritte Interpretation schließlich beurteilt die Worte als einen eigenständigen Aussagesatz und die Fortsetzung als einen davon abhängigen adverbialen Partizipialsatz.11 Gesagt wäre mithin: »Gott war in Christus – die Welt mit sich selbst versöhnend.«12 Dieses Verständnis des V. 19a wird etwa durch die Lutherbibel repräsentiert: »Gott war in Christus und versöhnte die Welt mit sich selber.«13

II Die Überprüfung der drei skizzierten Deutungen führt hinsichtlich des an zweiter Stelle genannten Vorschlags sogleich zu dem zuversichtlichen Urteil, dass die Worte … die Übersetzung »Gott war es, der … versöhnte / versöhnt hat« nicht zulassen.14 Diese Übersetzung könnte nämlich nur dann erwogen werden, wenn das Partizip durch den 9

Zu dieser Deutung s. etwa BDR § 353 Anm. 7; K. Prümm, Diakonia Pneumatos I: Theologische Auslegung des zweiten Korintherbriefes, Rom/Freiburg/Wien 1967, 316.342f.; H. Lietzmann/W. G. Kümmel, An die Korinther I.II, HNT 9, Tübingen 51969, 126; C.K. Barrett, A Commentary on The Second Epistle to the Corinthians, BNTC, London 1973 = 1979, 162.177; H.-J. Klauck, 2. Korintherbrief, NEB.NT 8, Würzburg 1986, 55; vgl. auch M. Zerwick, Analysis philologica Novi Testamenti, SPIB 107, Rom 4 1984, 400. 10 So die Einheitsübersetzung. U. Wilckens, Das Neue Testament, Zürich/Einsiedeln/ Köln bzw. Gütersloh 51977, 634 übersetzt präsentisch: »Gott ist es, der in Christus die Welt mit sich versöhnt hat.« 11 In diesem Sinn etwa: J. Calvin, Commentarii in secundam Pauli epistolam ad Corinthios, Ioannis Calvini Opera exegetica XV, hg. von H. Feld, Genf 1994, 101f.; H. Windisch, Der zweite Korintherbrief, KEK 6, Göttingen 91924 = 1970, 193; Ph.E. Hughes, Paul’s Second Epistle to the Corinthians, Grand Rapids 1962 = 61977, 206ff.; M. Carrez, La deuxième épître de saint Paul aux Corinthiens, CNT[N] 8, Genf 1968, 152; F. Lang, Die Briefe an die Korinther, NTD 7, Göttingen/Zürich 2(17)1994, 294.301f.; E. Grässer, Der zweite Brief an die Korinther. Kapitel 1,1–7,16, ÖTK 8/1, Gütersloh bzw. Würzburg 2002, 217f.226. Auch Ph. Bachmann, Der zweite Brief des Paulus an die Korinther, KNT 8, Leipzig 31918, 266ff. zieht zu , fasst das Partizip aber als Prädikatsadjunkt auf: Gott war in Christus »als einer, der die Welt mit sich versöhnte« (269). 12 Vgl. die alte Elberfelder Übersetzung (421965) z.St. 13 D. Martin Luther, Die gantze Heilige Schrifft Deudsch, Wittenberg 1545. Letzte zu Luthers Lebzeiten erschienene Ausgabe, hg. von H. Volz unter Mitarbeit von H. Blanke, Darmstadt 1972, 2333 (»Gott war in Christo / vnd versönet die Welt mit jm selber«). Im gleichen Sinn übersetzen die revidierte Elberfelder Bibel (1986) und H. Menge, Das Neue Testament, Stuttgart 111949, 282. 14 Unhaltbar ist dementsprechend auch die bei Bauer, Wörterbuch5, 444 s.v. II.4.f angegebene Übersetzung »e[r] war d[er] Versöhner«.

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Artikel determiniert wäre – wenn es also hieße: (!) .15 Nach der damit angesprochenen Regel der griechischen Syntax ist ein substantiviertes und als Prädikatsnomen fungierendes Partizip im Falle der Aussagestruktur »N ist es, der …« bzw. »N war es, der …« stets mit dem Artikel versehen.16 Diese im klassischen Griechisch geltende Regel17 steht im gesamten Neuen Testament uneingeschränkt in Kraft.18 Für Paulus selbst sei nur auf Phil 2,13 hingewiesen: »denn Gott ist es, der in euch beides wirkt, das Wollen und das Vollbringen«. Will man in 2Kor 5,19a als Prädikatsnomen ansehen, so ist für nur eine Übersetzung möglich, die der Indeterminiertheit des Partizips Rechnung trägt. Diese müsste etwa lauten: »Gott war einer, der in Christus die Welt mit sich selbst versöhnte.«19 Zum Nachweis, dass ein solcher Satz im Kontext von 2Kor 5,18–21 unmöglich ist, genügt es, ihn angeführt zu haben. 15 Dass dann mit dem Partizip wegen des ihm eigenen durativen Aspekts noch ein weiteres Problem gegeben wäre, sei nur eben angemerkt. 16 Fehlt der Artikel, so ist die Aussage: »N ist einer, der …«; s. dazu Joh 18,30: »wenn dieser nicht einer wäre, der Übles getan hat« (= »wenn dieser nicht ein Verbrecher wäre«); 2Kor 2,17: »denn ich bin nicht – wie die vielen – einer, der mit dem Wort Gottes Geschäfte macht« (Paulus redet mit dem apostolischen Plural ausschließlich von sich selbst). – Von den beiden Aussagestrukturen, in denen das Partizip als Prädikatsnomen fungiert, ist die Formulierung ( ) + Partizip »es gibt (k)einen, der …« zu unterscheiden (mit determiniertem Partizip: Joh 5,45; Röm 3,11f.; mit artikellosem Partizip: Röm 3,11f. v.l. = 13,1b–3 par. 52,2b–4). 17 R. Kühner/B. Gerth, Ausführliche Grammatik der griechischen Sprache II/1, Hannover/Leipzig 31898 = Hannover 1976, 592 (§ 461, Anm. 4); H. Menge, Repetitorium der griechischen Syntax, Wolfenbüttel 91961 = Darmstadt 1978, § 5; H.W. Smyth/G.M. Messing, Greek Grammar, Harvard 1984, §§ 1152.2091; E. Bornemann/E. Risch, Griechische Grammatik, Frankfurt a.M. 21978, § 242,2. – Beispiele: Sophokles, Philoktetes 978f.; Herodot, Historiae I 171,4; Xenophon, Anabasis II 5,28; III 1,42; 2,18; Hellenika II 3,43; Memorabilia II 7,14; Platon, Hippias I 284e; Phaidon 62b. 18 Hilfsverb im Präsens: Mt 3,3; 7,13.14; 10,20; 11,3; 13,19.20.22.23; 15,20; 26,68; Mk 4,18a.b.20; 7,15b; 13,11; Lk 7,19.20; 8,12.14; 16,15; 20,2; 22,28.64; 24,21; Joh 1,33; 4,10.37; 5,15.32.39; 6,63.64b(2mal); 8,18.54; 9,8; 14,21; 21,20; Apg 2,16; 7,38; 9,21; 10,42; Röm 9,20; 14,4; 2Kor 2,2 v.l.; Eph 4,10; Phil 2,13; Jak 4,12b; 1Joh 5,6a.b.7; Jud 12.19; Offb 2,23; 7,14; 14,4 v.l. – Hilfsverb im Imperfekt: Joh 11,2; 18,14; Apg 3,10; 14,12; 19,14 v.l. ); 23,13. – Vgl. BDR, § 273,3. (E 19 Bei Bauer/Aland, Wörterbuch6, 452 s.v. II.4.f ist – offensichtlich im Blick auf das Fehlen des Artikels – die Angabe der älteren Auflage (s.o. Anm. 14) korrigiert worden: »e[r] war Versöhner«. In merkwürdiger Inkonsequenz werden dann aber zum Vergleich zwei Texte aus der frühchristlichen Literatur angeführt, die ein durch den Artikel determiniertes Partizip aufweisen: »dieser war es, der dich erwählt hat« (Meliton von Sardes, Passa-Homilie 83); … »dieser ist es, der den Ruhm erntet« (Athenagoras, Supplicatio pro Christianis 15,2f.). – Bei Meliton finden sich übrigens zahlreiche weitere Belege: Passa-Homilie 68–71.84–86.104.

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III Was die oben an erster Stelle genannte Deutung anlangt, so habe ich diese früher als sprachlich möglich beurteilt, auch wenn ich selbst mir das entsprechende Textverständnis nicht zu eigen zu machen vermochte.20 Inzwischen bin ich aufgrund einer erneuten Untersuchung des neutestamentlichen Materials zu der Überzeugung gelangt, dass für 2Kor 5,19a die Annahme einer coniugatio periphrastica schwerlich aufrechterhalten werden kann. Bereits Hans Windisch hatte gewichtige Argumente namhaft gemacht, die gegen die These der coniugatio periphrastica sprechen.21 Er verwies auf die Stellung des , die Seltenheit der periphrastischen Konstruktion bei Paulus,22 den Rhythmus des Ganzen und die Fortsetzung der Partizipialkonstruktion über V. 19a hinaus. Beachtung verdient hier insbesondere der Hinweis auf die Stellung des , d.h. darauf, dass das Hilfsverb durch die präpositionale Wendung von dem Partizip bzw. von den Worten getrennt ist. Dieser Hinweis lässt sich keineswegs mit der Feststellung entkräften, dass Lk 1,10 ein Beispiel dafür liefere, »daß zwischen und Partizip durchaus ein Wort eingeschoben wer23 den kann« . Natürlich lag es Windisch gänzlich fern, für die coniugatio periphrastica prinzipiell eine unmittelbare Verbindung von Hilfsverb und Partizip zu postulieren. Sein Argument galt vielmehr gezielt der Satzstruktur von 2Kor 5,19a. Zu deren Beurteilung aber vermag Lk 1,10 nicht das Geringste beizutragen, weil die beiden Stellen hinsichtlich ihrer syntaktischen Gestalt schlechterdings unvergleichbar sind. In Lk 1,10 ( ) ist von vornherein evident, dass der Genitiv zu und das Hilfsverb zu dem Partizip gehört. In 2Kor 5,19a hingegen ist für eine derartige Evidenz gerade nicht gegeben; im Gegenteil: Die Frage, worauf der präpositionale Ausdruck syntaktisch bezogen und wie er inhaltlich verstanden sein will, stellt eines der entscheidenden exegetischen Probleme des Satzes dar. Die Ausleger, die … als coniugatio periphrastica auffassen, erblicken in den Worten eine Parallelformulierung zu dem instrumentalen von V. 18b. Gerade dann aber ist die Stellung unmittelbar hinter dem Hilfsverb höchst ungewöhnlich. Das hat bereits Severian von Gabala richtig empfunden, der die Parallelität der beiden Wendungen und 20

S. dazu Hofius, »Gott hat unter uns aufgerichtet das Wort von der Versöhnung«, s. Anm. 2, 19, Anm. 19. 21 Windisch, Der zweite Korintherbrief, s. Anm. 11, 193. 22 Eindeutige Belege sind nur: 1Kor 14,9; 2Kor 1,9; 9,12; Gal 1,22.23; Phil 2,26. 23 Bieringer, 2 Korinther 5,19a, s. Anm. 1, 443; ebenso Thrall, The Second Epistle to the Corinthians I, s. Anm. 6, 433, Anm. 1698.

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voraussetzt und deshalb zu V. 19a bemerkt: .24 Dem Sprachgefühl Severians zufolge wäre also eigentlich zu erwarten, dass die Worte – ebenso wie in V. 18b – am Ende des Satzes V. 19a ständen. Von erheblich größerem Gewicht als die Wortstellung und deshalb in sprachlicher Hinsicht letztlich entscheidend ist jedoch eine andere grammatisch-syntaktische Beobachtung.25 Die zur Diskussion stehende Deutung postuliert für 2Kor 5,19a jene Gestalt der coniugatio periphrastica, bei der eine Imperfektform des Hilfsverbs mit dem Partizip Präsens eines Verbums verbunden ist und mittels dieser Konstruktion ein Sachverhalt der Vergangenheit zur Sprache gebracht wird. Mustert man die neutestamentlichen Belege für diese Gestalt der coniugatio periphrastica durch,26 so zeigt sich: In allen Fällen ist der spezifische Aspekt des Präsensstammes erkennbar, insofern sich nämlich eine der drei folgenden Nuancen wahrnehmen lässt: es wird (a) linear der mit einer gewissen Dauer verbundene Verlauf einer Handlung bzw. eines Vorgangs beschrieben, eine bestimmte Sachlage, Eigenschaft oder Verhaltensweise benannt oder aber eine Situation geschildert, die den Hintergrund für die dann berichteten Ereignisse bildet;27 es kommt (b) iterativ eine regelmäßige bzw. sich wiederholende Handlung oder ein entsprechender Vorgang zur Darstellung;28 es ist (c) konativ von einem Versuch bzw. von ei24

K. Staab, Pauluskommentare aus der griechischen Kirche, Münster 21984, 293. Sie kommt bei Windisch, Der zweite Korintherbrief, s. Anm. 11, 193 ansatzweise in den Blick, wenn dieser dem Hinweis auf die Seltenheit der periphrastischen Konstruktion bei Paulus die Bemerkung anfügt: »… die zudem regelmäßig eine unvollendete Handlung beschreibt, was hier nicht anwendbar ist«. 26 Die Belege werden in den folgenden Anmerkungen aufgeführt. Bei der einen oder anderen Stelle kann man fragen, ob coniugatio periphrastica vorliegt oder ob die Formen von selbständige Prädikate sind und das Partizip adjektivischen bzw. adverbialen Sinn hat. – Zur imperfektischen coniugatio periphrastica s. G. Björck, Die periphrastischen Konstruktionen im Griechischen, SHVU 32,3, Uppsala 1940, 41ff. (vgl. das Referat bei E. Haenchen, Die Apostelgeschichte, KEK 3, Göttingen 6(15)1968, 116f. Anm. 7); Porter, Verbal Aspect, s. Anm. 6, 457ff.480ff. (mit Diskussion weiterer Literatur). 27 Mt 7,29; 8,30; 19,22; Mk 1,22; 1,39 v.l.; 2,6.18; 5,11; 5,40 v.l.; 9,4; 10,22.32(2mal); 14,4.40.54; 15,43; Lk 1,10.21; 2,33.51; 4,20.38; 5,1.16.17a.b.29; 6,12; 8,32.40; 9,53; 11,14; 13,10.11; 14,1; 23,8.53; 24,13.32; Joh 2,6; 3,23; 10,40; 11,1; 11,41 v.l.; 13,23; 18,18.25; Apg 1,10.14; 2,2.5.42; 8,1.13.28; 9,9; 10,24.30; 11,5; 12,5.6.12.20; 14,7; 16,9.12; 18,7; 21,3; 22,20; Gal 1,22; Phil 2,26; 1Petr 2,25 A B u.a. – Die Worte Mk 14,4 haben nicht den gleichen Sinn wie der ingressive Aorist »sie wurden unwillig« Mt 26,8, sondern sie besagen etwa: »sie äußerten (einer nach dem andern bzw. in unterschiedlichen Bemerkungen) ihren Unwillen«. Der Schilderung einer Situation, auf deren Hintergrund das dann Berichtete gesehen sein will, dient die imperfektische Periphrase in Texten wie Lk 5,17; 11,14a; 13,10; Apg 10,30b . Zu Apg 21,3 s. G.B. Winer/G. Lünemann, Grammatik des neutestamentlichen Sprachidioms, Leipzig 71867, 328. 28 Mt 24,38; Mk 1,6; Lk 4,31.44; 15,1; 19,47; Apg 1,13; 9,28; 19,14; 22,19; Gal 1,23. 25

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ner Bemühung die Rede.29 Nirgends dagegen bezeichnet die imperfektische Periphrase dergestalt eine einmalige Handlung bzw. ein einmaliges Geschehen, dass sie einfach mit dem punktuellen Indikativ Aorist austauschbar wäre. Gerade auch die drei eindeutigen paulinischen Belege (Gal 1,22.23; Phil 2,26) wahren voll den Aspekt des Präsensstamms. In Gal 1,22f. bemerkt der Apostel über die auf das Damaskusereignis folgenden Jahre: »Ich blieb aber auch weiterhin den christlichen Gemeinden in Judäa persönlich unbekannt ( … ). Sie hörten lediglich immer wieder ( ): Der uns einst verfolgte, der verkündigt jetzt den Glauben, den er einst auszurotten suchte.« In Phil 2,26 hat Paulus den Zeitraum im Blick, dessen Beginn durch die dort erwähnte Erkrankung des Epaphroditus und dessen Ende durch die den Philippern in V. 25 mitgeteilte Entscheidung des Apostels markiert wird: Epaphroditus – so heißt es – »hatte ständig Sehnsucht nach euch allen und war immerzu in Unruhe ( ), weil ihr erfahren hattet, dass er erkrankt war«. Hält man sich die drei paulinischen Belege und darüber hinaus den neutestamentlichen Gesamtbefund vor Augen, so muss gesagt werden: Sollte in 2Kor 5,19a tatsächlich coniugatio periphrastica vorliegen, so fiele diese Stelle völlig aus dem Rahmen des sonstigen im Neuen Testament zu verzeichnenden Sprachgebrauchs heraus. Diesem Sprachgebrauch zufolge ergäbe sich ja für … bei linearem Sinn die Aussage: »er war versöhnend wirksam« / »er war dabei, zu versöhnen« / »er war damit beschäftigt, zu versöhnen«, bei iterativem Sinn: »er versöhnte immer aufs neue« / »er pflegte zu versöhnen« und bei konativem Sinn: »er suchte zu versöhnen«. Dass jedoch keine dieser drei Nuancen das in 2Kor 5,19a Gemeinte trifft, liegt auf der Hand, geht es dort doch – nicht anders als zuvor in V. 18b – um die einmalige Heilstat Gottes. In diesem Sinn übersetzen und verstehen den griechischen Text denn auch so gut wie alle Exegeten, die … als coniugatio periphrastica beurteilen: »Gott versöhnte in Christus die Welt mit sich selbst«, »Gott hat in Christus die Welt mit sich selbst versöhnt« u.ä.30 Genau dieses Verständnis erlaubt der 29

Lk 1,22: = »er suchte sich ihnen durch Kopfnicken (oder: Winke) verständlich zu machen« (so Menge, Das Neue Testament, s. Anm. 13, 89). Möglich wäre auch linearer Sinn; so z.B. Th. Zahn, Das Evangelium des Lucas, KNT 3, Leipzig/Erlangen 3.4 1920, 73 mit Anm. 74, der eine »anhaltende Handbewegung« beschrieben sieht: er »winkte ihnen beharrlich zu«. 30 Bemerkenswert anders Bieringer, 2 Korinther 5,19a, s. Anm. 1, 442f. Nach Bieringer bezeichnet in 2Kor 5,19a das periphrastische Imperfekt in der Tat »eine unabgeschlossene Handlung in der Vergangenheit« (443); dementsprechend wählt er – durchaus konsequent – für den Ausdruck … die Übersetzung »war dabei zu versöhnen« (ebd.). Ich muss gestehen, dass ich dieser Übersetzung keinerlei Sinn abzugewinnen vermag, wie ich denn auch den folgenden Satz Bieringers (ebd.) schlechterdings nicht verstehe: »Der Unterschied zwischen 5,18b und 5,19a besteht nun darin, daß der Aorist auf den

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Text jedoch nicht – und zwar gerade auch angesichts des neutestamentlichen Gesamtbefundes nicht, der ja aufs nachdrücklichste bestätigt, was bereits von der griechischen Syntax her mit Grund anzunehmen ist: dass ein einmaliges, prinzipiell unwiederholbares und für die ganze Menschheit entscheidendes Geschehen, wie es die in Christi Tod und Auferstehung vollzogene Versöhnungstat Gottes darstellt, keinesfalls mittels der imperfektischen coniugatio periphrastica zum Ausdruck gebracht werden kann. Die gelegentlich geäußerte Vermutung, dass es sich bei der imperfektischen Periphrase … um einen aus Gründen des Rhythmus und des Stils gewählten »aoriste déguisé« handeln könnte,31 ist nicht mehr als eine bloße Verlegenheitsauskunft – hat doch bislang niemand einen überzeugenden Beleg für ein derartiges Phänomen beizubringen vermocht. Formulieren wir ein Fazit, so muss zumindest dies gesagt werden: Das Verständnis des Satzes 2Kor 5,19a, wie es durch die Mehrheit der Exegeten repräsentiert wird, ist mit so erheblichen sprachlichen Schwierigkeiten belastet, dass es mit Sicherheit nicht als die naheliegende syntaktische Analyse des Textes bezeichnet werden kann. Wer die Worte gleichwohl in jenem Sinn verstehen will, wird sich jedenfalls nicht einfach der Aufgabe enthoben wissen können, anhand eindeutiger Belege den Beweis für die sprachliche Möglichkeit der von ihm vertretenen Interpretation führen zu müssen.

IV Im Unterschied zu den beiden zuvor besprochenen Deutungen ist das Urteil, dass die Worte eine selbständige Aussage bilden und dass von dieser dann das adverbiale Partizip abhängig ist, in sprach-

Kreuzestod narrativ im Sinne des Ereignisses als solchen eingeht, während 5,19a Christi Tod deskriptiv darstellt, indem die Aussage das Geschehen in seiner Dauer beleuchtet.« Auch Porter, Verbal Aspect, s. Anm. 6, 462, der für V. 19a die Übersetzung »God was reconciling the world to himself« wählt, notiert einen Unterschied zu V. 18b: »The emphatic periphrastic form is apparently used by Paul to affirm that God is/was in world-reconciling activity, rather than referring to the simple fact that God reconciles/ed the world (Aorist in v 18), though both have reference to Christ’s work on the cross.« Dass Gott in Christus oder durch Christus »in weltversöhnender Tätigkeit war« (so ebenfalls Heinrici, Der zweite Brief an die Korinther, s. Anm. 6, 217), scheint mir ein sehr seltsamer Gedanke zu sein. 31 J.-F. Collange, Énigmes de la deuxième épître de Paul aux Corinthiens. Étude exégétique de 2 Cor. 2:14 – 7:4, MSSNTS 18, Cambridge 1972, 271; Thrall, The Second Epistle to the Corinthians I, s. Anm. 6, 434.

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licher Hinsicht unanfechtbar.32 Ja, mehr noch: Die Stellung der Worte im Gesamtgefüge des Satzes spricht gewichtig für diese Annahme, und so geben denn auch die Peschitta33 und die koptisch-bohairische Übersetzung34 die Worte als eine zusammengehörige Einheit wieder.35 Zu fragen bleibt nun, ob gravierende oder gar zwingende inhaltliche Argumente angeführt werden können, die der vom sprachlichen Befund her zu favorisierenden Deutung entgegenstehen. Nach meiner Überzeugung ist das nicht der Fall. Die Feststellung etwa, dass Paulus das »Sein in Christus« von den Glaubenden aussage und es deshalb wenig wahrscheinlich sei, »that he would apply the phrase to God«36, kann ganz gewiss nicht als ein Argument von Gewicht gelten. Denn sollte Paulus tatsächlich einerseits im Blick auf die Glaubenden und andererseits im Blick auf Gott von einem sprechen, so würde es sich lediglich in formaler Hinsicht, keineswegs aber dem Inhalt nach – also semantisch – um die gleiche Phrase handeln. Wenn ferner darauf hingewiesen wird, dass es zu dem Satz »Gott war in Christus« bei Paulus »keine Parallele« gäbe,37 so ist das schon deshalb kein zwingender Einwand gegen jene Übersetzung, weil sich in den Paulusbriefen auch sonst singuläre christologische Aussagen finden.38 Vor allem aber wird man den Kolosserbrief nicht außer acht lassen können, der zwar nicht Paulus selbst, wohl aber einen unmittelbaren Schüler des Apostels zum Verfasser hat und damit in größter Nähe zum paulinischen Denken zu verorten ist. In dem Christushymnus, der in Kol 1,15–20 zitiert wird, heißt es von Christus: 32 Hinsichtlich der sprachlichen Struktur können etwa verglichen werden: Mk 4,38; 5,5; 14,49; Lk 21,37; 24,53; Joh 1,28. 33 The New Testament in Syriac, London 1955, z. St. 34 The Coptic Version of the New Testament in the Northern Dialect, otherwise called Memphitic and Bohairic, III: The Epistles of S. Paul, Oxford 1905, 254.256; ebenso die offizielle Ausgabe der Koptisch-orthodoxen Kirche: Pi ôm ente tîdiathêkê emberi (Das Buch des Neuen Testaments), Kairo II 1990, 392f. 35 Die Vulgata folgt wörtlich der griechischen Vorlage (»Deus erat in Christo mundum reconcilians sibi«), so dass sich das hier vorliegende Textverständnis nicht sicher bestimmen lässt. 36 Thrall, The Second Epistle to the Corinthians I, s. Anm. 6, 433. 37 E. Dinkler, Die Verkündigung als eschatologisch-sakramentales Geschehen. Auslegung von 2Kor 5,14 – 6,2, in: G. Bornkamm/K. Rahner (Hg.), Die Zeit Jesu, FS Heinrich Schlier, Freiburg/Basel/Wien 1970, 169–189: 177; in der Sache ebenso Wolff, Der zweite Brief des Paulus an die Korinther, s. Anm. 6, 129; Furnish, II Corinthians, s. Anm. 6, 318. Das gleiche Argument dürfte vorausgesetzt sein, wenn Bultmann, Der zweite Brief an die Korinther, s. Anm. 6, 162 ohne jede Begründung bemerkt: »das Gottes ist doch wohl ein für Paulus unvollziehbarer Gedanke«. 38 Ich nenne nur die Erwähnung der sessio ad dexteram patris und der Interzession Christi in Röm 8,34, die Bezeichnung Jesu als in 1Kor 2,8 und die Rede von Christus als dem in 1Kor 15,45ff.

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(V. 19), und diese Worte finden dann ihre Erläuterung in Kol 2,9: Beide Sätze besagen, dass in dem Menschen Jesus Christus Gott in seiner ganzen Fülle realiter gegenwärtig ist.39 In diesem christologischen Sachverhalt erblickt der Hymnus, erblickt aber ebenso auch der Verfasser des Kolosserbriefs die Basis für das, was dann soteriologisch von Christus zu sagen ist. Im Hymnus selbst folgt unmittelbar auf den zitierten V. 19 die Sühne- und Versöhnungsaussage von V. 20: und diese Aussage wird von dem auctor ad Colossenses sogleich aufgenommen und in ihrer Bedeutung für die Empfänger des Briefes entfaltet (1,21–23). Wenn nun aber in der Paulusschule christologisch und soteriologisch so gedacht und geredet werden konnte, wie es in dem Hymnus und bei dem Verfasser des Kolosserbriefs geschieht, dann wird man keinen hinreichenden Grund dafür haben, die Aussage bei dem Apostel selbst für unmöglich zu halten. Vielleicht darf man sogar noch einen Schritt weitergehen: Ist in 2Kor 5,19a gesagt: »Gott war in Christus und versöhnte die Welt mit sich selbst«, so entspricht diesem Satz als ganzem die in Kol 1,19f. zu verzeichnende Abfolge von christologischer Personaussage und soteriologischer Versöhnungsaussage. Diese Beobachtung legt die Vermutung nahe, dass der Hymnus Kol 1,15–20, der in seiner Gesamtstruktur dem in 1Kor 8,6 zitierten Bekenntnis verpflichtet sein dürfte, gerade auch hinsichtlich der Aussage von V. 19f. in der direkten Nachfolge paulinischer Lehre und Verkündigung steht.

V Unsere bisherigen Überlegungen haben gezeigt, dass in 2Kor 5,19a einzig die Übersetzung »Gott war in Christus und versöhnte die Welt mit sich selbst« sprachlich unanfechtbar ist und dass dieser Übersetzung inhaltlich keine gewichtigen Argumente entgegenstehen. Mit einem Blick auf die Konsequenzen, die sich für die Interpretation des V. 19a ergeben, soll nunmehr der Kreis der Betrachtungen geschlossen werden. Einige Theologen der Alten Kirche, die als einen eigenständigen Satz begreifen, erblicken in ihm ein Zeugnis für die una essentia von Gott und Christus.40 Sosehr dies eine Überinterpretation des Textes darstellt, 39 Zur Begründung s. im einzelnen O. Hofius, »Erstgeborener vor aller Schöpfung« – »Erstgeborener aus den Toten«. Erwägungen zu Struktur und Aussage des Christushymnus Kol 1,15–20, in: Ders., Paulusstudien II, WUNT 143, Tübingen 2002, 215–233: 227ff. 40 So etwa Athanasius, Adversus Arianos III 6; Ambrosius, De fide ad Gratianum III 11,89; Ambrosiaster, zu 2Kor 5,18–21, 1f. (Ambrosiastri qui dicitur Commentarius in

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sosehr ist hier doch richtig gesehen, dass es sich bei den Worten zunächst um eine Aussage über die Person Jesu Christi handelt und dass diese Aussage sodann in der Verbindung mit dem auf sie folgenden und von ihr in gar keiner Weise zu trennenden adverbialen Partizipialsatz das Werk Christi zur Sprache bringt.41 Innerhalb des differenzierten Zusammenhangs von Personaussage und Werkaussage lenken die Worte nachdrücklich den Blick auf das Persongeheimnis Jesu Christi, das darin liegt, dass in ihm Gott selbst gegenwärtig ist.42 Gegenwärtig aber ist er als der Versöhner, der für die ihm feindliche Menschenwelt eintritt, um von sich aus ihre Feindschaft zu überwinden. Nach 2Kor 5,19a ist Christus – wie Johannes Calvin treffend bemerkt – der »verus Immanuel« und als solcher in seiner Person wie in seinem Werk die »appropinquatio Dei ad homines«, die rettende Zuwendung Gottes zu den Menschen.43 Hatte V. 18b mit dem Blick auf das Kreuzesgeschehen erklärt, dass Gott die Christen als die (Röm 5,10) »durch Christus« mit sich selbst versöhnt habe, so wird diese Aussage in V. 19a sowohl weitergeführt wie auch präzisiert. Weitergeführt wird sie durch die Betonung des universalen Aspekts, aufgrund dessen die Versöhnung der Gemeinde mit Gott nur als eine solche gedacht werden kann, die in der alle Menschen umfassenden Versöhnungstat Gottes gründet. Eine Präzisierung erfolgt in zweifacher Hinsicht. Zum einen macht V. 19a deutlich: Christus ist nicht bloß das »Instrument«, auch nicht nur der »Mittler« der Versöhnung; die Versöhnung ist vielmehr als das Werk des Deus in Christo zugleich und in einem die Tat des Vaters und des in der Einheit mit dem Vater handelnden Sohnes Gottes.44 Zum andern wird klargestellt: Christi Tod ist nicht nur die Ermöglichung der Epistulas Paulinas II: In Epistulas ad Corinthios, rec. H.I. Vogels, CSEL 81/2, Wien 1968, 236f.). Ambrosiaster sei exemplarisch zitiert: »Deus … erat in Christo. quomodo? quasi in vicario aut legato, sicut fuit in profetis, aut aliter? non sicut fuit in profetis, sic intellegi potest fuisse in filio. filius enim naturaliter legatus est patris dei. unde dicit: quia pater in me est et ego in patre (Joh 14,19). pater enim per id intellegitur esse in filio, quod una eorum sit substantia.« – Vgl. auch die Deutung im Sinne von Joh 14,10 bei Origenes, Selecta in Psalmos, zu Ps 18(19),6. 41 Als problematisch erscheint mir von daher die Identifizierung von Personaspekt und Werkaspekt bei K. Barth, KD I/1, 341: »Man darf in der zusammenfassenden Formel des Paulus 2. Kor. 5,19: den Nachdruck nicht so auf das legen, daß man seine Verbindung mit dem Verbum übersieht. Dieses versöhnende Handeln Gottes ist das Sein, aber eben dieses versöhnende Handeln Gottes ist das Sein Gottes in Christus.« 42 Zu in der Bedeutung »da sein« / »gegenwärtig sein« vgl. Mt 18,20b; Mk 8,1; Lk 5,17b; Joh 7,39; Apg 19,2; 1Kor 14,25; in LXX: Jes 45,14; 65,1. 43 Calvin, Commentarii, s. Anm. 11, 101. 44 Vgl. das Neben- und Miteinander der beiden Aussagen, dass Gott seinen Sohn in den Tod dahingegeben und dass Christus sich selbst dahingegeben hat (Röm 4,15; 1Kor 11,23b / Gal 1,4; 2,20).

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Versöhnung mit Gott, sondern er ist als das Werk des Deus in Christo der Vollzug dieser Versöhnung. Das aber heißt: Die ganze Menschheit steht bereits, ob sie es weiß oder nicht, im Licht des Kreuzestodes Jesu Christi und damit im Licht der Liebe Gottes, die – so Paulus – »in Christus Jesus« ist, »unserem Herrn« (Röm 8,39).

Zum Verständnis der Versöhnungsaussage 2Kor 5,19a bei den griechischen Kirchenvätern Im Anschluß an den voranstehenden Aufsatz1 und in Ergänzung der dort gegebenen Hinweise2 soll im folgenden kurz dargestellt werden, wie der Satz 2Kor 5,19a bei den griechischen Kirchenvätern verstanden worden ist3. Die wichtigsten Äußerungen seien dabei zitiert4 und in Übersetzung dargeboten. Einige Väter wie etwa Johannes Chrysostomus († 407), Severian von Gabala († nach 408) und Theodoret von Kyros († um 466) erblicken in den Worten eine adverbiale Bestimmung zu dem Partizip , und sie schreiben dieser die instrumentale Bedeutung des von 2Kor 5,18b zu. Diese Väter lesen dementsprechend den Satz 2Kor 5,19a entweder als: „Gott war es, der in Christus (d. h. durch Christus) die Welt mit sich selbst versöhnte“5 oder aber als: „Gott versöhnte in Christus (d. h. durch Christus) die Welt mit sich selbst“6. In der Nachfolge des Johannes Chrysostomus und des Theodoret von Kyros schreibt dann später Theophylakt von Achrida (11./12. Jh.) in 1 „Gott war in Christus“. Sprachliche und theologische Erwägungen zu der Versöhnungsaussage 2Kor 5,19a, oben 132–143. 2 S. die Anm. 40 (o. S. 141 f.) mitsamt ihrem Bezugstext. 3 Zur Exegese von 2Kor 5,19a bei den frühesten griechischen Vätern s. auch H. König, Wer ist „Gott in Christus“? Beobachtungen zu den Anfängen der Rezeptionsgeschichte von 2 Cor 5,19 in der frühchristlichen Literatur, in: R. Gryson (Hg.), Philologia sacra. Biblische und patristische Studien für Hermann J. Frede und Walter Thiele zu ihrem siebzigsten Geburtstag. Band I: Altes und Neues Testament (AGLB 24/1), Freiburg 1993, 285–305: 288–294. 4 Ich wähle dabei eine einheitliche Wiedergabe: Die nomina sacra wie auch die Worte am Satzanfang werden mit kleinem Anfangsbuchstaben geschrieben, die biblischen Zitate kursiv gesetzt und die entsprechenden Stellenangaben in Klammern hinzugefügt. 5 Johannes Chrysostomus, Homiliae in Epistolam II ad Corinthios XI 2 (PG 61, 1862, 477): . Der in der Wiedergabe von 2Kor 5,19a vor eingefügte Artikel ist Ausdruck der Interpretation des Kirchenvaters, der den Text zuvor korrekt so zitiert hatte, wie er in allen Handschriften erscheint: 6 Severian von Gabala (bei K. Staab [Hg.], Pauluskommentare aus der griechischen Kirche, Münster 21984, 293):

. – Theodoret von Kyros, Interpretatio Epistolae II ad Corinthios, zu 5,19 (PG 82, 1864, 412A.B): .

145 seinem Kommentar zum 2. Korintherbrief: („Der Vater versöhnte die Welt mit sich durch Christus. Das nämlich bedeuten die Worte in Christus“)7. Neben dem soeben skizzierten Verständnis des Textes findet sich eine Auslegungstradition, deren Vertreter die Worte als eine zusammengehörige Einheit begreifen, die zunächst für sich zu hören ist und von der dann die Worte als adverbialer Partizipialsatz abhängig sind8. Zeugen dieser Tradition sind, was die ersten fünf Jahrhunderte anlangt, neben der Peschitta9 sowie der saїdischen und der bohairische Übersetzung des Neuen Testaments10 vor allem die Origenes (ca. 185/186 – ca. 253/254) zugeschriebenen Selecta in Psalmos und ein Abschnitt aus der dritten Arianerrede des Athanasius (295–373)11. In den Selecta in Psalmos lesen wir zu dem Psalmwort 18,5b12 bzw. 18,6a13 die folgende Auslegung14: 7

Theophylakt von Achrida, Expositio in Epistolam II ad Corinthios, zu 5,19 (PG 124, 1879, 856D). 8 Im Westen s. etwa Ambrosius, De fide ad Gratianum III 11,89; Ambrosiaster, zu 2Kor 5,18–21, 1 f. (Ambrosiastri qui dicitur Commentarius in Epistulas Paulinas II: In Epistulas ad Corinthios, rec. H. I. Vogels [CSEL 81/2], Wien 1968, 236 f.). Weiteres bei König, Wer ist „Gott in Christus“? (s. Anm. 3), 295–304. 9 The New Testament in Syriac, London 1955, Part II 105; The New Covenant. Commonly Called The New Testament. Peshitta Aramaic Text With a Hebrew Translation, Jerusalem 1986 (22005), 265. 10 Saїdisch: Sahidic Coptic New Testament (ed. J. Warren Wells), London 2006, 224 f. – Bohairisch: The Coptic Version of the New Testament in the Northern Dialect, otherwise called Memphitic and Bohairic, III: The Epistles of S. Paul, Oxford 1905, 254. 256; Pičôm ente tîdiathêkê emberi (Das Buch des Neuen Testaments), Kairo II 1990, 392 f. 11 S. ferner Eusebius von Cäsarea († 339), Praeparatio evangelica I 1,8 (SC 206, 1974, 100); De ecclesiastica theologia I 13 (GCS 14, 1906, 73 f.) sowie aus späterer Zeit z. B. Leontius von Jerusalem (6. Jh.), Adversus Nestorianos V 2 (PG 86/1, 1865, 1725B) und Ps.-Methodius (9. Jh.), Sermo de Simeone et Anna 2 (PG 18, 1857, 352C). Hierher gehören aber auch jene Väter wie Origenes (ca. 185/186 – ca. 253/254), Didymus der Blinde (313–398), Gregor von Nyssa († 394) und Cyrill von Alexandria († 444), die zwar in der Interpretation von 2Kor 5,19a formulieren, daß Gott die Welt „in Christus“ mit sich versöhnt habe, die Wendung dabei jedoch als Abbreviatur für „in Christus als dem, in dem Gott gegenwärtig ist“ begreifen, weil sie in dem paulinischen Satz selbst die Worte als eine zusammengehörige Einheit beurteilen. Die Belege seien notiert: Origenes, Commentarii in Joannem I, IV § 21 (SC 120, 1966, 68); VI, LVII § 295 (SC 157, 1970, 354); De pascha 2,47 f. (zitiert bei König, Wer ist „Gott in Christus“? [s. Anm. 3], 289 f. Anm. 15); Didymus, De Trinitate I 6 f. (PG 39, 1863, 273A.B; Didymus der Blinde, De trinitate, Buch I. Herausgegeben und übersetzt von J. Hönscheid [BKP 44], Meisenheim am Glan 1975, 16); Gregor von Nyssa, Antirrheticus. Adversus Apollinarium (Gregorii Nysseni Opera ed. W. Jaeger III/1, 1958, 154. 202); Cyrill von Alexandria, In Epistolam II ad Corinthios, zu 5,19 (PG 74, 1863, 944C). S. außerdem auch das unten zitierte und übersetzte Athanasius-Zitat. 12 So nach der Zählung der wissenschaftlichen Septuaginta-Ausgaben. 13 So nach der – in PG 12, 1857, 1241 (s. Anm. 14) übernommenen – Zählung der offiziellen Septuaginta-Ausgabe der Griechisch-Orthodoxen Kirche und der Vulgata. 14 Origenes, Selecta in Psalmos, zu Ps 18(19),6 (PG 12, 1857, 1241C.D). Nach M.-J.

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(Mal 3,20) (Joh 14,10a) (Joh 14,10b) (2Kor 5,19a). „Unser Herr (d. h. Christus) ist die Sonne der Gerechtigkeit (Mal 3,20). In ihm aber wohnt der Vater, gemäß dem [Wort]: Ich [bin] im Vater, und der Vater [ist] in mir (Joh 14,10a). Und ferner [heißt es]: Der Vater, der dauernd in mir ist, der tut die Werke (Joh 14,10b). Und der Apostel [schreibt]: Gott war in Christus – die Welt mit sich selbst versöhnend (2Kor 5,19a).“

Wie immer die Worte in der Septuaginta selbst gemeint sein mögen15, so kann doch nicht zweifelhaft sein, daß der Autor der zitierten Sätze in dem Psalmwort ausgesagt findet: „In der Sonne hat er (sc. Gott) seine Wohnung aufgerichtet.“ Er identifiziert den von 18,5b (18,6a) mit dem von Mal 3,20 LXX und deutet die an den beiden alttestamentlichen Stellen erwähnte „Sonne“ auf Christus. In der weiteren Interpretation setzt er sodann die Texte Joh 14,10 und 2Kor 5,19a zueinander in Beziehung – und zwar dergestalt, daß er die folgende Parallelität gegeben sieht: 2Kor 5,19a:

Joh 14,10: /

An beiden Stellen findet der Ausleger in gleicher Weise die wesenhafte Gegenwart Gottes in Christus als die Grundlage seines Wirkens in ihm bezeugt. Mit der in den Selecta in Psalmos zu verzeichnenden Auslegung berühren sich eng einige Ausführungen in der dritten Arianerrede des Athanasius, in denen sich Rondeau, Les Commentaires patristiques du Psautier (IIIe – Ve siècles) I (OCA 219), Rom 1982, 285 ist die Auslegung von 18,5b (18,6a) Evagrius Ponticus (um 345–399) zuzuschreiben. Die von Rondeau (ebd.) vorgelegte textkritische Rekonstruktion impliziert gegenüber der aus PG 12 zitierten Textfassung keine sachliche Differenz. Zu seiner literarkritischen Beurteilung der Selecta in Psalmos s. Ders., Le Commentaire sur les Psaumes d’Evagre le Pontique, OCP 26 (1960) 307–348. 15 L. C. L. Brenton, The Septuagint Version: Greek and English, Grand Rapids, Michigan 1970 = 131981, 708 übersetzt: „In the sun he has set his tabernacle.“ Dem entspricht die Wiedergabe in: A New English Translation of the Septuagint and the Other Greek Translations Traditionally Included under that Title: The Psalms, translated by A. Pietersma, New York bzw. Oxford 2000, 16: „He set his tent in the sun“ (vgl. in der Electronic Edition 2007, 17: „In the sun he pitched his covert“). Dagegen will K. Seybold, Die Psalmen (HAT I/15), Tübingen 1996, 85 verstehen: „im Osten schlug er sein/ihr[?] Zelt auf“. – Die Problematik von 18,5b (18,6a) erörtert J.-M. Auwers, Une tente dans ou pour le soleil? Ps 18(19),5 dans la LXX et le TM, in: M. A. Knibb (Hg.), The Septuagint and Messianism (BEThL 195), Leuven – Paris – Dudley, MA 2006, 195–202. Zur Deutung des Textes bei den Kirchenvätern s. R. Gounelle, Il a placé sa tente dans le soleil (Ps. 18[19], 5c[6a]) chez les écrivains ecclésiastiques des cinq premiers siècles, in: P. Maraval (Hg.), Le Psautier chez les Pères (CBiPa 4), Strasbourg 1994, 197–220.

147 – ergänzt um den Rekurs auf weitere neutestamentliche Aussagen – ebenfalls die Verbindung der beiden Texte Joh 14,10 und 2Kor 5,19a findet16. Am Ende des voraufgehenden Abschnitts hat Athanasius die Worte Phil 2,6a und Joh 14,10a zitiert17, und er fährt dann unter Bezugnahme auf die Aussage von Phil 2,6a fort: (Kol 2,9) (Phil 2,6b) (Joh 14,10a) (2Kor 5,19a) (Joh 14,918). 19

„Nicht [nur] ein Teil [der Gottheit des Vaters] aber ist die [dem Sohn eignende] Gestalt der Gottheit20, sondern die Fülle der Gottheit (Kol 2,9) des Vaters ist das Sein des Sohnes, und der Sohn ist ganz Gott. Deshalb auch hielt er es, da er Gott gleich war, nicht für einen Raub, Gott gleich zu sein (Phil 2,6b). Und ferner: Weil die Gottheit und Gestalt des Sohnes die keines anderen ist als des Vaters, so gilt hier das, was er gesagt hat, nämlich: Ich [bin] im Vater [und der Vater ist in mir] (Joh 14,10a21). So [heißt es auch]: Gott war in Christus – die Welt mit sich selbst versöhnend22 (2Kor 5,19a). Denn das dem Wesen des Vaters Eigene ist der Sohn, in dem die Schöpfung mit Gott versöhnt wurde. So sind die [Werke], die der Sohn wirkt, 16 Athanasius, Oratio III contra Arianos 6,1–2. Ich zitiere den Text nach: Athanasius Werke I/1: Die dogmatischen Schriften. 3. Lieferung: Oratio III contra Arianos, edd. K. Metzler / K. Savvidis, Berlin – New York 2000, 312. 17 Athanasius, Oratio III contra Arianos 5,5. 18 Freies Zitat des johanneischen Textes. 19 Statt lesen andere Zeugen: (s. den textkritischen Apparat der in Anm. 16 genannten Edition); diese Lesart dürfte eine Erleichterung und mithin sekundär sein. – Die Worte … sind Bezugnahme auf die an Jesus gerichtete Bitte des Philippus von Joh 14,8 f.: . 20 Zum Verständnis der Worte s. L. Abramowski, Die dritte Arianerrede des Athanasius. Eusebianer und Arianer und das westliche Serdicense, ZKG 102 (1991) 389–413: 406. 21 Athanasius zitiert nur die Worte . Von dem im 3. Kapitel der Oratio Gesagten wie auch vom Schluß des 5. Kapitels her ist aber evident, daß er die dann folgenden Worte mitgehört wissen will. 22 A. Stegmann, Des heiligen Athanasius vier Reden gegen die Arianer (in: BKV 13), Kempten – München 1913, 249 übersetzt das Zitat von 2Kor 5,19a zu Unrecht mit „Gott hat in Christus die Welt mit sich versöhnt“. Richtig dagegen J. Fisch, Ausgewählte Schriften des heiligen Athanasius I, Kempten 1872, 450: „Gott war in Christus und versöhnte die Welt mit sich“; Ph. Schaff / H. Wace, St. Athanasius: Select Works and Letters (NPNF 2.ser. 4), Ox-

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des Vaters Werke. Denn die Gestalt der Gottheit des Vaters ist der Sohn, diese (sc. die Gottheit des Vaters) wirkt die Werke23. So schaut, wer den Sohn sieht, den Vater (Joh 14,9). Denn in der väterlichen Gottheit ist und wird angeschaut der Sohn, und die väterliche Gestalt in ihm zeigt durch sich selbst den Vater24. Und so ist der Vater im Sohn, und die Eigentümlichkeit und Gottheit aus dem Vater im Sohn zeigt den Sohn im Vater und sein ewiges Ungetrenntsein (sc. vom Vater).“25

Wie der Autor der in den Selecta in Psalmos enthaltenen Auslegung von 18,5b (18,6a), so liest auch Athanasius die Worte im Lichte der Aussage Jesu von Joh 14,10a: Von daher ist dann die Erläuterung des ganzen Satzes 2Kor 5,19a zu verstehen: Mit der Formulierung nimmt Athanasius den Hauptsatz auf, und die Worte interpretieren den Partizipialsatz , indem sie darlegen, was sich aus der Seinseinheit von Vater und Sohn für das Werk der Versöhnung ergibt. Eine Gegenüberstellung kann dies noch einmal verdeutlichen: Athanasius:

2Kor 5,19a:

Weil die ganze Fülle der Gottheit des Vaters im Sohn gegenwärtig ist und mithin beiden Personen ein und dieselbe eignet, deshalb ist die in dem Sohn geschehene Versöhnung der Welt mit Gott zugleich und in einem das Werk des Vaters wie das Werk des Sohnes. Das heißt: Die Seinseinheit bildet das Fundament der Handlungseinheit.

ford 1892 = Grand Rapids, Michigan 1978, 396: „God was in Christ reconciling the world unto Himself“. 23 Ich gebe den griechischen Relativsatz ( ) um der Eindeutigkeit willen als Hauptsatz wieder. 24 Liest man (s. Anm. 19), so ist zu übersetzen: „und die väterliche Gestalt in ihm zeigt in ihm den Vater“. 25 Meiner Tübinger Kollegin Luise Abramowski danke ich herzlich für wertvolle Hinweise zur Übersetzung des anspruchsvollen griechischen Textes.

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Das Wort von der Versöhnung und das Gesetz I In 2Kor 5,18–21 beschreibt Paulus das Heilshandeln Gottes in Jesus Christus als den differenzierten Zusammenhang von Versöhnungstat und Versöhnungswort1. Der Wort-Aspekt kommt dabei außer in V. 20 in den beiden Sätzen V. 18c ( ) und V. 19c ( ) zur Sprache. Da der Partizipialsatz V. 19c – einer paulinischen Spracheigentümlichkeit entsprechend2 – den Hauptsatz V. 19a ( ) fortsetzt, steht er für die Formulierung . Was das Verständnis dieser Worte anlangt, so sind in der exegetischen Literatur wie auch in den Bibelübersetzungen zwei unterschiedliche Deutungen wahrzunehmen. Die erste Deutung sieht das Verbum in der Bedeutung „legen“ / „niederlegen“ verwendet und bezieht den präpositionalen Ausdruck auf Paulus selbst bzw. auf Paulus und die anderen Apostel3. Die wörtliche Übersetzung lautet dem-

1 Zur Strukturanalyse von 2Kor 5,18–21 s. im einzelnen O. Hofius, „Gott hat unter uns aufgerichtet das Wort von der Versöhnung“ (2Kor 5,19), in: Ders., Paulusstudien (WUNT 51), Tübingen 21994, 15–32: 15–22. Der Aufsatz erschien zuerst in ZNW 71 (1980) 3–20. 2 BDR § 468,1: „Paulus liebt es, nach einem Verb[um] fin[itum] koordinierend mit Partizipien fortzufahren.“ Beispiele für diesen Sprachgebrauch finden sich in Röm 3,23 f.; 6,6; 2Kor 5,12; 6,1.3 ff.; 7,5. 3 So z. B. C. F. G. Heinrici, Das zweite Sendschreiben des Apostels Paulus an die Korinthier, Berlin 1887, 300; Ders., Der zweite Brief an die Korinther (KEK 6), Göttingen 81900, 218; Ph. Bachmann, Der zweite Brief des Paulus an die Korinther (KNT 8), Leipzig 31918, 269; K. Prümm, Diakonia Pneumatos I: Theologische Auslegung des zweiten Korintherbriefes, Rom – Freiburg – Wien 1967, 316; A. Schlatter, Paulus der Bote Jesu. Eine Deutung seiner Briefe an die Korinther, Stuttgart 1934 = 41969, 566; C. K. Barrett, A Commentary on The Second Epistle to the Corinthians (BNTC), London 1973 = 1979, 162. 177 f.; M. Carrez, La deuxième épître de Saint Paul aux Corinthiens (CNT[N] 8), Genève 1986, 149. 153; R. P. Martin, 2 Corinthians (WBC 40), Waco, Texas 1986, 135. 154 f.; Chr. Wolff, Der zweite Brief des Paulus an die Korinther (ThHK 8), Berlin 1989, 116. 130 f.; M. E. Thrall, A Critical and Exegetical Commentary on The Second Epistle to the Corinthians I: Introduction and Commentary on II Corinthians I–VII (ICC), Edinburgh 1994, 400. 435 f.; P. Barnett, The Second Epistle to the Corinthians (NIC), Grand Rapids, Michigan / Cambridge, U. K. 1997, 299. 305. 308 f.; J. Lambrecht, Second Corinthians (Sacra Pagina Series 8), Collegeville, Minnesota 1999, 91. 99. S. ferner auch M. Wolter, Rechtfertigung und zukünftiges Heil. Untersuchungen zu Röm 5,1–11 (BZNW 43), Berlin – New York 1978, 82 f.; C. Breytenbach, Versöhnung. Eine Studie zur paulinischen Soteriologie (WMANT 60), Neukirchen-Vluyn 1989, 112–114.

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ent- | sprechend etwa: Gott hat „in uns das Wort von der Versöhnung gelegt“4, und das wird dann dahingehend interpretiert, daß Gott dem Apostel den betraut hat6. Nach der anvertraut5 bzw. ihn mit diesem zweiten Deutung heißt in V. 19c „einsetzen“ / „aufrichten“, und für den präpositionalen Ausdruck wird die Bedeutung „unter uns“ postuliert7. Als Übersetzung ergibt sich in diesem Fall die bekannte Formulierung der Lutherbibel: Gott hat „unter uns aufgerichtet das Wort von der Versöhnung“8. Der Satz besagt dann, daß „unter uns Menschen“9 bzw. „unter uns Christen“, d. h. in vorhander Kirche10, aufgrund göttlicher Setzung der den ist11. |

4 So die revidierte Elberfelder Bibel (1986); in der Sache ebenso die alte Elberfelder Übersetzung (421965), die Zürcher Bibel und H. Menge, Das Neue Testament, Stuttgart 111949, 282. Das gleiche Textverständnis findet sich bereits in der Peschitta (wsm bn djln mlt’ dtr‘wt’) und in der koptisch-bohairischen Übersetzung (wŏh afkhō empisači entĕ pihōtp enchrēi enchētĕn), wohingegen der Wortlaut der Vulgata (et posuit in nobis verbum reconciliationis) kein sicheres Urteil erlaubt. 5 Vgl. die Einheitsübersetzung: „und uns das Wort von der Versöhnung (zur Verkündigung) anvertraute“. 6 Vgl. Martin, 2 Corinthians (s. Anm. 3), 135: „And he has entrusted us with the message of reconciliation.“ 7 S. dazu etwa: H. Windisch, Der zweite Korintherbrief (KEK 6), Göttingen 91924 = 1970, 194; H. Lietzmann / W. G. Kümmel, An die Korinther I. II (HNT 9), Tübingen 51969, 126; R. Bultmann, Der zweite Brief an die Korinther (KEK Sonderband), Göttingen 1976, 146. 162. 164; V. P. Furnish, II Corinthians (AncB 32A), Garden City, N. Y. 31985, 306. 320. 336 f.; F. Lang, Die Briefe an die Korinther (NTD 7), Göttingen – Zürich 2(17)1994, 294. 302; E. Grässer, Der zweite Brief an die Korinther. Kapitel 1,1–7,16 (ÖTK 8/1), Gütersloh bzw. Würzburg 2002, 218. 226. Vgl. außerdem auch E. Dinkler, Die Verkündigung als eschatologischsakramentales Geschehen. Auslegung von 2 Kor 5,14 – 6,2, in: G. Bornkamm / K. Rahner (Hg.), Die Zeit Jesu (FS Heinrich Schlier), Freiburg – Basel – Wien 1970, 169–189: 178; H. Schlier, Die Stiftung des Wortes Gottes nach dem Apostel Paulus, in: Ders., Das Ende der Zeit. Exegetische Aufsätze und Vorträge III, Freiburg – Basel – Wien 21972, 151–168: 151. 8 In der Sache ebenso U. Wilckens, Das Neue Testament, Zürich – Einsiedeln – Köln bzw. Gütersloh 51977, 634. Die Jerusalemer Bibel übersetzt: Gott hat „unter uns das Wort der Versöhnung gestiftet“. 9 So das Verständnis des z. B. bei Lietzmann / Kümmel, An die Korinther I. II (s. Anm. 7), 127; Windisch, Der zweite Korintherbrief (s. Anm. 7), 194; Bultmann, Der zweite Brief an die Korinther (s. Anm. 7), 162. 10 So die Alternative bei Windisch, Der zweite Korintherbrief (s. Anm. 7), 194; Bultmann, Der zweite Brief an die Korinther (s. Anm. 7), 162. 164. S. ferner Furnish, II Corinthians (s. Anm. 7), 320. 11 Anders H.-J. Klauck, 2. Korintherbrief (NEB.NT 8), Würzburg 1986, 55 f., der zwar gegen die Wiedergabe in der Einheitsübersetzung (s. o. Anm. 5) für „unter uns aufgerichtet hat“ als wörtliche Übersetzung votiert (55), dann aber V. 19c doch im Sinne der erstgenannten Deutung interpretiert (56): „Den Schluß von [V.] 19 könnte man vom Wortlaut her … auch so deuten, daß Gott das versöhnende Wort der Gemeinde eingestiftet hat. In Wirklichkeit engt sich aber das Blickfeld sofort wieder auf den Träger des Versöhnungsdienstes ein … Die Ansage der geschehenen Versöhnung in der missionarischen Predigt rückt in den Vordergrund.“

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Angesichts der skizzierten exegetischen Sachlage stellt sich die Frage, welche der beiden Deutungen den Vorzug verdient12. In meinem in Anm. 1 genannten Aufsatz habe ich die These vertreten, daß die erstgenannte Deutung aus sprachlich-philologischen Gründen als problematisch gelten muß, und zugunsten der zweitgenannten Deutung darauf hingewiesen, daß die in 2Kor 5,19c begegnende Wendung in 77,5a eine lehrreiche Parallele hat. Die damaligen Überlegungen möchte ich im folgenden noch einmal aufnehmen und durch zusätzliche Argumente absichern.

II Die an erster Stelle genannte Deutung geht davon aus, daß die Wendung bzw. dann, wenn von einem Wort die Rede ist, die Bedeutung „jemandem etwas zur Weitergabe anvertrauen / übertragen“ haben kann. Zur Begründung wird in der Literatur zum einen auf die in der Septuaginta begegnende Formulierung (2Reg 14,3.19; 2Esdr 8,17)13 und zum andern auf 104,27 ( ) hingewiesen14. Beide Hinweise können jedoch keineswegs als eine hinreichende Begründung angesehen werden. Was die Formulierung anlangt, so will beachtet sein, daß die entscheidenden Worte in 2Kor 5,19c nicht erscheinen. Das muß nicht zuletzt deshalb als auffallend gelten, weil in der Septuaginta in allen analogen Formulierungen die Wendung 12

Unbefriedigend ist es, wenn beide Deutungen bei Bauer, Wörterbuch5, 1615 bzw. Bauer / Aland, Wörterbuch6, 1627 s. v. II.1.a kurzerhand miteinander kombiniert werden („… unter uns das Wort von der Versöhnung aufrichtete [= uns gab; vgl. Ps 104,27]“) und somit völlig unklar bleibt, auf wen sich das „uns“ bezieht. Zum Problem des „Wir“ in 2Kor 2,14–7,4 s. R. Bultmann, Exegetische Probleme des zweiten Korintherbriefes, in: Ders., Exegetica. Aufsätze zur Erforschung des Neuen Testaments, Tübingen 1967, 298–322: 298 f. 309. Daß das apostolische „Wir“ überwiegt, steht außer Frage; daß es auch in 5,18b ( ) und in 5,19c ( ) vorliegt, ist schon angesichts des gemeinchristlichen „Wir“ von 5,21 keineswegs so sicher, wie manche Ausleger meinen. 13 So z. B. Wolter, Rechtfertigung und zukünftiges Heil (s. Anm. 3), 82; Wolff, Der zweite Brief des Paulus an die Korinther (s. Anm. 3), 131. Bereits Th. Beza, Testamentum Novum, Genf 41588, II 188 weist zu 2Kor 5,19c auf die bei den Hebraei geläufige Wendung ponere verba in ore hin. 14 S. o. Anm. 12 sowie ferner etwa Heinrici, Das zweite Sendschreiben des Apostels Paulus an die Korinthier (s. Anm. 3), 300 Anm. 1; Ders., Der zweite Brief an die Korinther (s. Anm. 3), 218; Bachmann, Der zweite Brief des Paulus an die Korinther (s. Anm. 3), 269; Wolter, Rechtfertigung und zukünftiges Heil (s. Anm. 3), 82; Breytenbach, Versöhnung (s. Anm. 3), 114; Thrall, The Second Epistle to the Corinthians I (s. Anm. 3), 436.

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oder begegnet15. Christian Wolff hat | den Tatbestand, daß in 2Kor 5,19c nicht , sondern steht, folgendermaßen zu erklären versucht: „Bei seiner Berufung wurde ihm (sc. Paulus) die Botschaft von der Versöhnungstat Gottes … ins Herz gelegt (vgl. ähnlich Gal. 1,15 f.).“16 Und: „Paulus erwähnt den Mund nicht, sondern schreibt: ‚in uns‘ und bringt damit zum Ausdruck, daß die anvertraute Botschaft sein ganzes inneres Wesen erfaßt hat (vgl. ähnlich Jes. 63,11).“17 Diese Erklärung vermag schwerlich zu überzeugen. Mit Gal 1,15 f. ( … ) wird man schon deshalb nicht argumentieren können, weil die Worte dort nicht auf ein innerliches Geschehen abheben, sondern für den einfachen Dativ stehen: „Es gefiel Gott, mir seinen Sohn zu offenbaren“18. Wenn Paulus sagen will, daß eine Gabe Gottes jemanden in seinem inneren Wesen erfaßt hat, so verwendet er zumeist ausdrücklich die Wendungen bzw. 19. Bei dem zum Vergleich notierten Text Jes 63,11 handelt es sich um die Frage ; (Jes 63,11b LXX), die Wolff offensichtlich so versteht: „Wo ist der, der den heiligen Geist in sie legte?“20 Das aber ist keineswegs der Sinn des Satzes. Im hebräischen Text lautet die Frage (V. 11b ): – „Wo ist der, der seinen bezieht heiligen Geist in ihre Mitte gab?“21 Die Präpositionalbestimmung sich dabei auf die zuvor in V. 11b erwähnte „Herde“ Gottes, d. h. auf die Generation des Exodus, die durch die geleitet wurde (V. 14) – nämlich durch ebene jene , die das Volk dann trotz aller Heilserfahrungen durch seine Widerspenstigkeit „betrübte“ (V. 10a). In gleicher Weise ist auch der LXX-Text 15

Zu

s. außer 2Reg 14,3.19 und 2Esdr 8,17 noch Dtn 18,18, zu Ex 4,15; Num 22,38; 23,5.12.16; Dtn 31,19; 2Reg 14,3 v. l.; Jes 51,16; 59,21; Jer 1,9 (vgl. 5,14). Als Verben erscheinen neben (2Reg 14,3.19; 2Esdr 8,17; Jes 51,16): (Ex 4,15; Dtn 18,18, Jes 59,21; Jer 1,9 [vgl. 5,14]), (Num 22,38) und (Num 23,5.12.16; Dtn 31,19). 16 Wolff, Der zweite Brief des Paulus an die Korinther (s. Anm. 3), 130. 17 Ebd., 131. 18 S. dazu A. Oepke, Art. , ThWNT II (1935 = 1957) 534–539: 535,29 ff.; BDR § 220,1 mit Anm. 1; Bauer / Aland, Wörterbuch6, 526 s. v. IV.4.a. Vgl. sprachlich: Röm 1,19a = „es ist ihnen offenbar“ (s. das unmittelbar folgende [!] V. 19b); 2Kor 4,3b = „es ist denen verhüllt, die verloren gehen“. 19 : Röm 5,5; 2Kor 1,22; 4,6; : Gal 4,6. Zu 1Thess 4,8 s. die folgende Anmerkung. 20 Es würde sich dann um eine Parallele zu Ez 36,27 LXX handeln; vgl. zur Konstruktion mit Ez 37,6.14 sowie bei Paulus 1Thess 4,8. 21 S. dazu B. Duhm, Das Buch Jesaja (HK III/1), Göttingen 41922 = 51968, 467 f.; P. Volz, Jesaja II (KAT 9), Leipzig 1932 = Hildesheim – New York 1974, 264. 271 f.; vgl. auch G. A. Wewers, Sanhedrin. Gerichtshof (Übersetzung des Talmud Yerushalmi IV/4), Tübingen 1981, 266 (Zitat von Jes 63,11 in jSanh X 28a,73 f.). In diesem Sinn versteht auch der Targum, wenn er übersetzt: „Wo ist der, der das Wort seiner heiligen Propheten unter ihnen wohnen ließ?“

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zu verstehen. In der Frage ;| 22 ist jenes gemeint, das bereits in V. 10a erwähnt war , und die Worte 23. Die Frage beziehen sich auf die zuvor in V. 11a genannten selbst korrespondiert mithin der Feststellung von V. 14: . In Jes 63,11b LXX hat also nicht die Bedeutung „jemandem etwas in sein Innerstes (in sein Herz) geben“, sondern der Sinn ist: etwas in einem bestimmten Bereich als wirkende Größe auf den Plan führen. Dem Hinweis auf 104,27 ( ) liegt die Auffassung zugrunde, daß von bestimmten „Worten“ die Rede ist, die den im voraufgehenden V. 26 genannten Gottesboten Mose und Aaron zur Verkündigung übergeben wurden. Dieses Verständnis des V. 27 ist jedoch unhaltbar, weil dort nicht die Bedeutung „Worte“ hat und der Ausdruck sich keineswegs auf Mose und Aaron bezieht. Da der Kontext für die angemessene Auslegung des V. 27 entscheidend ist, sei zunächst der Abschnitt 104,23–28 als ganzer zitiert: 23 24 25 26 27 28 24

Im hebräischen Text des V. 27a ( ) heißt nicht „Wort“, sonbedeutet demdern „Sache“ / „Angelegenheit“25, und der Ausdruck gemäß einfach: „seine Zeichen“26. Zu übersetzen ist also: „Sie (Mose und Aaron) richteten unter ihnen (sc. den Ägyptern) seine Zeichen auf und Wunder im

22

V. 10a: . V. 11a: . 24 In den anschließenden Versen 29–36 folgt die Beschreibung weiterer und . 25 Vgl. dazu F. Delitzsch, Die Psalmen (BC IV/1), Leipzig 51894 = Gießen – Basel 1984, 648. 652; R. Kittel, Die Psalmen (KAT 13), Leipzig 5.61929, 342 f. (Übersetzung und Anmerkung dazu). 26 Vgl. W. Gesenius / F. Buhl, Hebräisches und aramäisches Handwörterbuch über das Alte Testament, Leipzig 171915 = Berlin – Göttingen – Heidelberg 1962, 155a s. v. 2.c. 23

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Lande Hams.“27 Daß die Septuaginta bei einer Constructus-Bil- | dung mit eine wörtliche Übersetzung der hebräischen Vorlage wählen kann, zeigt 2Reg 11,18 f., wo das zweimalige – nicht anders als das hebräische – „die Ereignisse des Kampfes“ heißt28. Entsprechend ist auch in 104,27 die Verbindung von mit den Genitiven und zu verstehen, weshalb L. C. L. Brenton den Vers mit Recht folgendermaßen übersetzt: „He established among them his signs, and his wonbeziehen sich dabei – ebenso ders in the Land of Cham.“29 Die Worte wie das zugrunde liegende des hebräischen Textes30 – auf die in V. 24 f. erwähnten „Feinde“ der Israeliten, d. h. auf die Ägypter, von denen dann auch in V. 28 ff. die Rede ist. Das ergibt sich bereits zwingend aus der Parallelität zu V. 27b – einer Parallelität übrigens, die dem in V. 23 zu verzeichnenden Nebeneinander von und korrespondiert. Als Bestätigung kommt hinzu, daß der Abschnitt 104,27–36 in 77,43–51 eine sachlich-inhaltliche Parallele hat und dort der mit 104,27 zu vergleichende Vers 77,43 folgendermaßen lautet: / Das von 104,27a entspricht also dem von 77,43a. Angesichts der eindeutigen Textbefunde muß die Behauptung, daß sich in 104,27a die Worte nur auf die in 104,26 erwähnten Gottesboten Mose und Aaron beziehen können, als gänzlich unbegründet bezeichnet werden31.

27

Nach BHS ist mit LXX und Peschitta der Singular zu lesen: „Er (Gott) richtete unter ihnen seine Zeichen auf und Wunder im Lande Hams.“ Vgl. dazu auch Ps 78,43. – Die PeschittaÜbersetzung von Ps 105,27 lautet: „Er vollbrachte unter ihnen seine Zeichen (‘bd bhwn ’twth) und seine Wunder im Lande Hams.“ 28 Vgl. L. C. L. Brenton, The Septuagint Version: Greek and English (London 1844). Zondervan Edition, Grand Rapids, Mich. 1970 = 131981, 414: „the events of the war“. 29 Brenton, The Septuagint Version: Greek and English, 762. Bei diesem Verständnis von 104,27 erübrigt sich die Annahme einer Brachylogie (so mein Vorschlag in dem o. Anm. 1 genannten Aufsatz, 25 bzw. 13). – Nicht korrekt ist die Übersetzung von 104,27 in: A New English Translation of the Septuagint and the Other Greek Translations Traditionally Included under that Title: The Psalms, translated by A. Pietersma, New York bzw. Oxford 2000, 104: „To them he committed the words of his signs / And miracles in the land of Cham.“ Um ein keineswegs hinreichend begründetes Urteil handelt es sich, wenn bei J. Lust / E. Eynikel / K. Hauspie, Greek-English Lexicon of the Septuagint. Revised Edition, Stuttgart 2003, 613b s. v. für 104,27 die Bedeutung „to entrust s[ome]th[ing] to s[ome] b[ody]“ angegeben wird. 30 Vgl. B. Duhm, Die Psalmen (KHC 14), Freiburg – Leipzig – Tübingen 1899, 246; H. Gunkel, Die Psalmen (HK II/2), Göttingen 41926 = 51968, 460. 31 Die kritisierte Behauptung findet sich z. B. bei Thrall, The Second Epistle to the Corinthians I (s. Anm. 3), 436 Anm. 1720: „v. 27a is clearly connected with v. 26 where Moses and Aaron are specifically mentioned: 26. . 27. …“ Nach dem hier angewendeten exegetischen Verfahren könnte man ebenso gut urteilen, daß auch V. 28b ( ) von Mose und Aaron handle oder daß sich im gleichen

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Als Fazit ist festzuhalten: Weder die Formulierung (2Reg 14,3.19; 2Esdr 8,17) noch auch der Satz | 104,27 liefern eine philologisch tragfähige Basis für die These, daß Paulus in 2Kor 5,19c mit den Worten erklärt, Gott habe ihm das Wort von der Versöhnung zur Verkündigung anvertraut bzw. ihn mit dessen Verkündigung beauftragt. Überzeugende sprachliche Argumente, auf die sich diese Interpretation stützen könnte, sind in der Exegese bislang nirgends beigebracht worden32.

III Für die oben an zweiter Stelle genannte Deutung von 2Kor 5,19c spricht nach meinem Urteil die Beobachtung, daß sich in 77,5a eine sprachliche und sachliche Parallele zu der Aussage findet, wenn dort im Kontext einer Schilderung des heilsgeschichtlichen Wirkens 33 . Zu dem Hinweis auf diese Stelle Gottes gesagt wird: hat Christian Wolff kritisch bemerkt: „Es ist jedoch zu beachten, daß die Wendung bzw. im klassischen Griechisch und im hellenistischen Judentum fest geprägt ist in der Bedeutung ‚ein Gesetz geben‘ (vgl. auch Röm. 9,4). kann dazu schwerlich parallel verstanden werden.“34 Dieser Einwand hält m. E. einer Überprüfung nicht stand. Was zunächst die Wendung bzw. anlangt, so wird man sicher bei nicht wenigen Texten die Übersetzung „ein Gesetz geben“ wählen können. Die Grundbedeutung ist jedoch: „ein Gesetz aufstellen“ / „ein Gesetz erlassen“35, was insbesondere auch dadurch angezeigt wird, daß als perfektisch-passivische Entsprechung die Verbindung von mit dem Verbum erscheint

Psalm die Pronominalformen und von V. 37 auf die Ägypter beziehen, von denen unmittelbar vorher in V. 36 (dort zweimal ) die Rede ist. 32 Nicht zufällig bemerkt Lambrecht, Second Corinthians (s. Anm. 3), 99 im Blick auf die auch von ihm selbst vertretene Interpretation: „The Greek construction, however, remains strange.“ 33 Die Argumentation im einzelnen s. bei Hofius, „Gott hat unter uns aufgerichtet das Wort von der Versöhnung“ (s. Anm. 1), 25–30. Mein Hinweis auf 77,5a wird aufgenommen bei Furnish, II Corinthians (s. Anm. 7), 320; vgl. 336 f. 34 Wolff, Der zweite Brief des Paulus an die Korinther (s. Anm. 3), 130 f. 35 Vgl. dazu die folgenden Belege: Euripides, Alcestis 57; Aristophanes, Acharnenses 532; Nubes 1421. 1425; Xenophon, Memorabilia IV 4,19; Platon, Leges 630c. 631a. 702c. 705e; Protagoras 322d; Respublica 338e. 339c. 497d; Aristoteles, Politica 1289a,14; Demosthenes, Orationes XXII 30; XXIV 99. 102; Diodorus Siculus, Bibliotheca historica V 83,5; Josephus, Antiquitates XVI 1; Contra Apionem I 269; II 184. 273; Gal 3,19 v. l.; Aristides, Apologia 13,7; Justin, Dialogus cum Tryphone 11,2; Athenagoras, Supplicatio 33,1; 34,2. – Vgl. „ein Gebot / eine Verordnung erlassen“ Dan 3,10 ’; 4,6 ’; 6,27 ’; 4Makk 4,23.

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(= „ein Gesetz ist aufgestellt / erlassen“36, „ein Gesetz gilt“37). Sodann will die sprachliche Besonderheit von 77,5a beachtet sein: die | Verbindung von mit dem präpositionalen Ausdruck . Da der Adressat einer Gesetzgebung in der griechischen Literatur durchweg im bloßen Dativ angeführt wird38, kann der präpositionale Ausdruck nicht einfach als Empfängerangabe verstanden werden. Die Formulierung von 77,5a erklärt sich vielmehr ohne jede Frage von daher, daß die hebräische Vorlage – nämlich der synonyme Parallelismus membrorum / – wörtlich ins Griechische übersetzt worden ist:

Wie die Parallelität der Verben ( hif.) und ( qal) zeigt, sprechen beide Stichoi von der Stiftung der Tora inmitten des Volkes Gottes39. Der Septuaginta-Text ist dementsprechend zu übersetzen: „Er stellte ein Zeugnis auf in Jakob, eine Weisung richtete er auf in Israel.“40

Bedenkt man, daß die Tora an einigen alttestamentlichen Stellen ausdrücklich „das Wort Jahwes“ genannt wird41, und beachtet man außerdem den Kontext 77,3–7, so wird man mit guten Gründen urteilen dürfen: Der Satz 77,5a redet von der „Aufrichtung“ eines Wortes durch Gott selbst – und zwar von der 36

Isokrates, Orationes I 36; Xenophon, Memorabilia IV 4,21; Platon, Leges 909d; Demosthenes, Orationes XXIV 62. 37 Thukydides, Historiae III 82,6; Aristophanes, Plutus 914; Xenophon, Memorabilia IV 4,16; Respublica Lacedaemoniorum XV 7; Platon, Leges 909d; Athenagoras, Supplicatio 34,2. 38 Beispiele: Sophokles, Electra 580; Herdodot, Historiae I 29,2; Aristophanes, Nubes 1424; Xenophon, Memorabilia IV 4,19; Platon, Symposion 181e; Demosthenes, Orationes XXIV 102; EpArist 15; Josephus, Contra Apionem I 316 (vgl. Sophokles, Antigone 7 f.; Ex 15,25 LXX). – Zu entsprechenden Formulierungen mit s. Ex 24,12 LXX; Jos 24,25 LXX; Joh 7,19 (im Passiv: 2Makk 7,30). Steht absolut, d. h. ohne Dativobjekt (2Esdr 7,6; im Passiv: Joh 1,17; Gal 3,21), so ist die Etablierung des Gesetzes als solche im Blick. 39 H.-J. Kraus, Psalmen II: Psalmen 60–150 (BK XV/2), Neukirchen 61989, 698 übersetzt den hebräischen Text: „Er richtete auf ein Zeugnis in Jakob, eine Weisung setzte fest er in Israel“, und er spricht ebd., 707 in der Auslegung dieses Textes von der Tora, „die Jahwe in Israel aufgerichtet hat“. Die Wiedergabe von Ps 78,5a bei M. Buber, Das Buch der Preisungen, Frankfurt am Main – Hamburg 1962, 113 lautet: „Er erstellte in Jaakob Zeugnis, Weisung setzte er in Jißrael ein.“ Hingewiesen sei schließlich auch auf die Übersetzung im Targum: „und das Zeugnis stellte er auf unter denen vom Haus Jakob und das Gesetz ordnete er an unter denen vom Haus Israel“. 40 Brenton, The Septuagint Version: Greek and English (s. Anm. 28), 744 übersetzt: „And he raised up a testimony in Jacob, and appointed a law in Israel.“ 41 Num 15,31; Dtn 5,5; 2Sam 12,9; 1Chr 15,15; 2Chr 30,12; 34,21; 35,6 (in LXX s. besonders 2Chr 35,6: ). S. auch Sir 1,5 LXX (sekundärer Zusatz in einigen Handschriften) sowie (v. l. ) Mt 15,6.

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grundlegenden „Aufrichtung“, mit der dieses Wort für immer in Israel präsent ist und hier verkündigt und gehört werden kann. | Daß die Wendung / die Etablierung einer bestimmten Größe in einem bestimmten Bereich bezeichnet, gilt auch für drei weitere Belege, die nur eben kurz notiert seien: 1. Der von den Handschriften A (Alexandrinus) und B (Vaticanus) bezeugte Text gibt in Lev 26,11a LXX die hebräische Vorlage ( ) nicht korrekt, sondern – offenbar unter dem Einfluß der Worte von V. 9 – folgendermaßen wieder: . Das kann nur heißen: „und ich werde meinen Bund unter euch aufrichten“. 2. In Ps 81(80),5.6a wird im Blick auf die vorher erwähnte Feier des Herbstfestes auf die entsprechende Kultordnung verwiesen: „Denn Bestimmung ist es für Israel, Rechtssatzung des Gottes Jakobs. Als Gebot hat er es in Joseph aufgestellt ( ), als er auszog gegen das Land Ägypten.“ Die Septuaginta-Übersetzung von V. 6a lau42 „als Zeugnis hat er es in Joseph tet: aufgerichtet“. 3. Bei Platon, Protagoras 322c.d heißt es im Rahmen eines von dem Sophisten erzählten Mythos, daß Hermes von Zeus gesandt wurde, den Menschen „Scham und Recht“43 bzw. „Sittlichkeit und Rechtsgefühl“44 zu bringen. Dafür stehen die Wendungen und (322c)45. Keineswegs einfach damit identisch ist, wie der Kontext lehrt, die Formulierung (322c.d). Sie bezeichnet vielmehr in prinzipiellem Sinn die Etablierung von und in der Menschheit, so daß also gemeint ist: „Recht und Scham unter den Menschen aufrichten“46.

IV Die im Vorigen angeführten Texte, in denen die Verbalphrase / begegnet, legen für 2Kor 5,19c die sprachlich unanfechtbare Übersetzung nahe: „Er (Gott) hat unter uns aufgerichtet das Wort von der Versöhnung“47. Entscheidet man sich für diese Übersetzung, so darf aus der solennen Rede von 42

Das Maskulinum ist Attraktion an . So die Übersetzung von F. Schleiermacher (in: Platon, Werke. Griechisch und deutsch, hg. von G. Eigler, Darmstadt I 21990, 119) und O. Apelt (in: Platon, Sämtliche Dialoge, hg. von O. Apelt, Hamburg I 1988, 57). 44 So der Vorschlag von H. Hofmann, in: Platon, Werke (s. Anm. 43) I 644. 45 Vgl. auch ebd. 322c.d: (322d: ). 46 Vgl. Schleiermacher, in: Platon, Werke (s. Anm. 43) I 119: „Recht und Scham … unter den Menschen aufstellen“; Apelt, in: Platon, Sämtliche Dialoge I (s. Anm. 43), 57: „mit der Gründung von Recht und Scham unter den Menschen“. 47 Zu = „unter uns“ vgl. dann Lk 1,1; 7,16; Joh 1,14; Apg 2,29 sowie ferner das bei Paulus geläufige = „unter euch“ (1Kor 1,6.10 f.; 2,2; 3,3.18; 6,5; 11,18 f.30; 14,25; 43

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der „Aufrichtung“ des | gefolgert werden, daß hier das grundlegende Offenbarungsgeschehen gemeint ist, in dem Gott, der Versöhner, den Aposteln die in Christi Tod und Auferstehung geschehene Versöhnung erschlossen hat. Es ist dies jenes Geschehen, auf das sich das vierfache von 1Kor 15,5–8 bezieht und von dem Paulus in den beiden sich gegenseitig erläuternden Selbstzeugnissen des Galaterbriefs spricht: „Ich habe das Evangelium durch eine Offenbarung Jesu Christi empfangen“ (Gal 1,12) und „Es hat Gott gefallen, mir seinen Sohn zu offenbaren“ (Gal 1,15.16a). Unter dem „Wort von der Versöhnung“ haben wir mithin das Evangelium – das (2Kor 4,3 f.48) – zu verstehen49. Dieses ist für Paulus keineswegs mit der Missionspredigt identisch, sondern er erblickt in ihm dezidiert das Wort Gottes ( 2Kor 2,17; 4,2), das als eine feste und inhaltlich klar bestimmte Größe der Verkündigung verbindlich vorgegeben ist50. Im Rahmen der Ausführungen von 2Kor 5,18–21 besagt der Satz V. 19c dementsprechend, daß Gott mit der „Aufrichtung“ des seine Versöhnungstat offenbar gemacht hat – und zwar mit dem Ziel und der Folge, daß die Versöhnung von den mit der (V. 18c) betrauten Aposteln authentisch bezeugt und verkündigt werden kann. Wo das streng als verbum Dei zu begreifende „Wort von der Versöhnung“ im Wort der Botschafter Christi laut wird (V. 2051),

15,12; 2Kor 1,19; 10,1.15; 12,12; 13,3; Gal 3,5; 4,19; 1Thess 1,5). Zu = „einsetzen“ sind die Aussagen über das Handeln Gottes in 1Kor 12,18 und 1Kor 12,28 zu vergleichen. 48 In 2Kor 4,3 bedeutet nicht: „meine Evangeliumsverkündigung“, sondern: „das von mir verkündigte Evangelium“. 49 So bereits die Deutung des › , der in V. 19c die Worte bietet. Aus der Auslegungsgeschichte von 2Kor 5,19c ist dann vor allem auf J. Calvin, Commentarii in secundam Pauli epistolam ad Corinthios (Ioannis Calvini Opera exegetica XV), ed. H. Feld, Genf 1994, 103 hinzuweisen. Der Reformator sieht in dem das Evangelium, das nach dem Willen des Versöhners „als die zuverlässige und authentische Urkunde der ein für allemal vollbrachten Friedensstiftung in der Welt präsent ist“ (… Evangelium, quod extare voluit in mundo tanquam firmas et authenticas tabulas pacificationis semel peractae). 50 Chr. Burchard, Formen der Vermittlung christlichen Glaubens im Neuen Testament. Beobachtungen anhand von , und verwandten Wörtern, in: Ders., Studien zur Theologie, Sprache und Umwelt des Neuen Testaments (WUNT 107), Tübingen 1998, 265–292: 268 unterscheidet im Blick auf Paulus mit Recht zwischen dem Evangelium und der „auf ihm fußende[n] Missionspredigt“; und er kennzeichnet das Evangelium zutreffend, wenn er ebd., 269 von seiner „prinzipielle[n] Unabänderlichkeit“ spricht und bemerkt: „Es ist wie das Christusereignis von Gott gegeben und so im wörtlichen Sinn der .“ 51 Zu 2Kor 5,20 sei an dieser Stelle auf die weithin übersehene Beobachtung von J. J. Wettstein aufmerksam gemacht, daß die Worte bei Platon, Menexenus 248e eine genaue sprachliche Parallele haben: „ich bitte im Namen jener“ (J. J. Wettstein, Novum Testamentum Graecum II, Amsterdam 1752 = Graz 1962, 192). Zu c. gen. personae in der Bedeutung „in jemandes Namen“ s. auch Xenophon, Anabasis VII 7,3; Cyropaedia III 3,14.

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Das Wort von der Versöhnung und das Gesetz

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da ist es der Versöhner selbst, der die im Christusgeschehen vollzogene Versöhnung kundgibt, erschließt und zueignet52. | Wenn Paulus die „Aufrichtung“ des Evangeliums in der Kirche mit der Verbalphrase zum Ausdruck bringt, die in 77,5a in einer Aussage über die „Aufrichtung“ des Gesetzes in Israel erscheint, so dürfte es sich hier kaum um eine rein zufällige Parallelität handeln. Der sprachliche Sachverhalt läßt vielmehr an jene Gegenüberstellung denken, die in den Ausführungen von 2Kor 2,14–4,6 thematisch ist: die Gegenüberstellung von Gesetz (= die 3,14b) und Evangelium (= die 3,6a), von mosaischer (3,7.9a) und apostolischer (3,8.9b), von Mose (3,13) und Paulus (3,12)53. In der Formulierung von 2Kor 5,19c könnte sich von daher widerspiegeln, daß der Apostel den Menschen hinsichtlich seiner Stellung vor Gott zwei „Worten“ konfrontiert sieht: dem Gesetz und dem Evangelium. Diese Annahme liegt vor allem deshalb nahe, weil im Gesamtkontext der paulinischen Soteriologie das „Wort von der Versöhnung“ gar nicht bedacht werden kann, ohne daß auch das Gesetz in den Blick kommt. Die Versöhnungsaussagen von 2Kor 5,18–21 setzen ja doch voraus, was in dem Paralleltext Röm 5,1–11 ausdrücklich gesagt wird: daß die im Christusgeschehen beschlossene und im Evangelium erschlossene Versöhnung dem Menschen gilt, der vor dem heiligen Gott als ein , und dasteht (Röm 5,6.8.10). Daß der Mensch – jeder Mensch! – vor Gott so dasteht, das sagt nach Paulus das Gesetz, das ebenso wie das Evangelium ein von Gott selbst gegebenes, ein von ihm „aufgerichtetes“ Wort ist54. Den fundamentalen Unterschied zwischen den beiden Worten sieht Paulus darin, daß Auftrag, Funktion und Wirkung hier und dort völlig verschie52 Zum Verhältnis von Evangelium und Verkündigung s. im einzelnen Hofius, „Gott hat unter uns aufgerichtet das Wort von der Versöhnung“ (s. Anm. 1), 26–30. 31 f.; Ders., Wort Gottes und Glaube bei Paulus, in: Ders., Paulusstudien (s. Anm. 1), 148–174: 150–154. – Grässer, Der zweite Brief an die Korinther. Kapitel 1,1–7,1 (s. Anm. 7), 225 betont zu Recht, daß nach Paulus die Verkündigung zum Heilsgeschehen hinzugehört und Christus im Wort gegenwärtig ist. Das gilt allerdings ausschließlich unter der Prämisse, daß in der Verkündigung das Evangelium zur Sprache kommt (zum Gegenteil s. Gal 1,6–9; 2Kor 11,4). Und wenn es gilt, dann wird man gerade nicht mit Gräßer (ebd.) von einer „das Heil vermittelnde[n], vergegenwärtigende[n] oder realisierende[n] Predigt“ sprechen können; denn das in Christus beschlossene Heil ist keine Sache, die „vermittelt“ werden müßte, keine zunächst einmal abwesende Größe der Vergangenheit, die der „Vergegenwärtigung“ bedürfte, und keine bloße Potentialität, die erst auf „Realisierung“ angewiesen wäre. Nach 2Kor 5,14–21 sind die Menschen, für die Christus gestorben ist, von vornherein in das Geschehen seines Todes und seiner Auferstehung einbezogen, und im gepredigten Evangelium eignet er selbst ihnen das Heil zu, das er ihnen in jenem Geschehen bereits erworben und geschenkt hat. 53 Mein Verständnis von 2Kor 2,14–4,6 habe ich dargelegt und begründet in: O. Hofius, Gesetz und Evangelium nach 2. Korinther 3, in: Ders., Paulusstudien (s. Anm. 1), 75–120. An dieser Stelle sei jetzt nur bemerkt, daß ich in den Aussagen von 2Kor 3 keineswegs eine Polemik gegen die Tora und den Dienst des Mose erblicke. 54 S. Gal 3,19 f. und dazu O. Hofius, Das Gesetz des Mose und das Gesetz Christi, in: Ders., Paulusstudien (s. Anm. 1), 50–74: 61 f. Daß der göttliche Ursprung des Gesetzes in Gal 3,19 f. keineswegs geleugnet wird, vertritt – allerdings mit anderer Argumentation – auch

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den sind. Das Gesetz ist das Wort, das die Feindschaft des Menschen gegen Gott aufdeckt, den Menschen als einen Gottlosen entlarvt und ihm das Todesurteil spricht. Das | Evangelium ist das Wort, das die den Feinden gewährte Versöhnung kundgibt, dem Gottlosen die Gemeinschaft mit dem ihn rechtfertigenden Gott eröffnet und ihm den Freispruch zum Leben bringt. Genau dieser Unterschied wird in 2Kor 3,7–11 benannt, wenn Paulus betont, daß im Gesetz wie im Evangelium die göttliche präsent ist – dies jedoch dergestalt, daß die sich im Gesetz als eine richtende und tötende, im Evangelium als eine rettende und lebendigmachende erweist. Wie Paulus diese Sicht des Gesetzes gewonnen hat und wie sie nach seiner Überzeugung allein gewonnen werden kann, daran lassen die Ausführungen von 2Kor 2,14–4,6 nicht den geringsten Zweifel: Im Licht des Evangeliums und der durch es gewirkten Christuserkenntnis wird auch das Gesetz erkannt (3,12–18; 4,1–6). Erkannt wird es allerdings keineswegs als ein durch das Evangelium ins Unrecht gesetztes und falsifiziertes Wort, sondern als das heilige und gerechte Wort55, das den Feind Gottes zu Recht unter das göttliche Verdammungsurteil stellt. Das bedeutet aber, daß gerade auch im Licht des Gesetzes sichtbar wird, daß die „Aufrichtung“ des – wie die im Christusgeschehen vollzogene Versöhnung selbst – ganz und gar die Tat der freien Gnade Gottes ist56.

Chr. Burchard, Noch ein Versuch zu Galater 3,19 und 20, in: Ders., Studien zur Theologie, Sprache und Umwelt des Neuen Testaments (s. Anm. 50), 184–202. 55 Vgl. Röm 7,12. 56 S. dazu 2Kor 6,1, wo Paulus im Rückblick auf 5,18–21 expressis verbis von der spricht.

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Widerstreit zwischen Fleisch und Geist? Erwägungen zu Gal 5,17

Der Satz Gal 5,17 wird in der neueren Galaterbrief-Auslegung ganz überwiegend als eine anthropologische Fundamentalaussage angesehen, die den an Christus glaubenden Menschen als Objekt eines Kampfes kennzeichnet, der permanent zwischen den beiden – einander feindlich gegenüberstehenden – Größen und ausgetragen wird1. Nicht wenige Ausleger wollen dem Text darüber hinaus entnehmen, daß und ihren Ort in diesem Menschen selbst haben und dort widereinander streiten2. Im einzelnen differie- | ren die Deutungen dann in nicht unerheblichem Maße. Das kritische Gespräch mit den unterschiedlichen Positionen kann und soll hier nicht aufgenommen werden. Unser Interesse gilt vielmehr ausschließlich der Frage, ob in 1

S. etwa: F. Sieffert, Der Brief an die Galater (KEK 7), Göttingen 4(9)1899, 321; B. Weiss, Die paulinischen Briefe und der Hebräerbrief (Das Neue Testament II), Leipzig 21902, 362; W. Bousset, Der Brief an die Galater (in: SNT 2), Göttingen 31917, 70; Th. Zahn, Der Brief des Paulus an die Galater (KNT 9), Leipzig – Erlangen 31922, 264 ff.; H. Lietzmann, An die Galater (HNT 10), Tübingen 31932 = 41971, 39 f.; O. Kuss, Der Brief an die Galater (in: RNT 6), Regensburg 1940, 280; H. W. Beyer / P. Althaus, Der Brief an die Galater (in: NTD 8), Göttingen 91962, 47 f.; A. Oepke, Der Brief des Paulus an die Galater (ThHK 9), Berlin 31964, 135 f.; H. Schlier, Der Brief an die Galater (KEK 7), Göttingen 5(14)1971, 248 ff.; F. Mussner, Der Galaterbrief (HThK 9), Freiburg – Basel – Wien 1974 (mit Nachtrag: 51988), 375 ff.; D. Lührmann, Der Brief an die Galater (ZBK NT 7), Zürich 1978, 89; H. D. Betz, Galatians. A Commentary on Paul's Letter to the Churches of Galatia (Hermeneia), Philadelphia 1979, 278 ff. = ders., Der Galaterbrief. Ein Kommentar zum Brief des Apostels Paulus an die Gemeinden in Galatien, München 1988, 475 ff.; G. Ebeling, Die Wahrheit des Evangeliums. Eine Lesehilfe zum Galaterbrief, Tübingen 1981, 340 f.; J. Rohde, Der Brief des Paulus an die Galater (ThHK 9), Berlin 1989, 234 f.; J. D. G. Dunn, The Epistle to the Galatians (BNTC), London 1993, 297 ff.; J. Becker, Der Brief an die Galater (in: NTD 8/1), Göttingen 1(18)1998, 87 ff. – Die Deutung auf einen Kampf zwischen und begegnet bereits in der altkirchlichen Exegese. S. dazu etwa Origenes, Commentarii in epistulam ad Romanos VI 9 (Rufin), wo Gal 5,17a.b folgendermaßen wiedergegeben wird: „Pugnat caro adversus spiritum, spiritus autem adversus carnem“ (FC 2/3, 280,17 f.); vgl. auch ebd. VI 8 (FC 2/3, 258,14 ff.). Aus der älteren Auslegung von Gal 5,17 seien ferner exemplarisch genannt: M. Luther, In epistolam Pauli ad Galatas commentarius (1519): „esse in nobis pugnam spiritus et carnis“ (WA II 587,15); J. A. Bengel, Gnomon Novi Testamenti. Editio octava stereotypa ed. P. Steudel (= Nachdruck der Ausgabe Tübingen 31773), Berlin 1891, 749: Paulus spricht von einer „pugna mutua seria“. 2 Exemplarisch sei auf Betz, Der Galaterbrief, 476 f. verwiesen, der und als „unpersönliche Mächte“ bezeichnet, „die im Menschen wirksam sind und gegeneinander kämpfen“, und erklärt: „Der Mensch ist das Schlachtfeld dieser Mächte in seinem Inneren, die ihn daran hindern, nach seinem eigenen Willen zu leben.“

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Gal 5,17 tatsächlich im Sinne einer grundsätzlichen anthropologischen Bestimmung des Christen von einem beständigen Kampf bzw. Streit zwischen und die Rede ist.

I Zu der soeben genannten Frage geben sowohl der weitere Kontext des Galaterbriefs überhaupt wie auch der engere Kontext des Abschnitts Gal 5,13–6,10 Anlaß. Ehe das in aller Kürze dargelegt werden soll, sind vorab zu Gal 5,17 zwei Einsichten zu benennen, die als exegetisch wohlbegründet gelten dürfen und deshalb bei allen weiteren Überlegungen vorausgesetzt sind: 1. In Gal 5,17 spricht Paulus – anders als in Röm 7,7–25a3 – nicht von dem unerlösten Menschen, sondern er hat den Menschen „in Christus“, d. h. den durch Christus erlösten und ihm zugehörenden Menschen, im Blick. Das ergibt sich zwingend daraus, daß die direkte Anrede in der 2. Person Plural, wie sie für die Verse 5,13–16 und 5,18 kennzeichnend ist, auch in V. 17 erscheint (… ). Die Aussage von V. 17 ist mithin fest in dem Argumentationszusammenhang verankert, in dem die Empfänger des Briefes ganz betont auf die ihnen in Christus geschenkte Freiheit und auf deren Implikationen hingewiesen werden (5,13–6,10). Die Ausführungen von Röm 7,7–25a stellen deshalb keine Parallele zu Gal 5,17 dar, und sie dürfen schon aus diesem Grund nicht zur Interpretation des Verses herangezogen werden4. – 2. Was in Gal 5,17 mit den Größen und gemeint ist, läßt sich präzise bestimmen. Durch den anaphorisch gesetzten Artikel ( bzw. ) wird auf die Erwähnung der beiden Begriffe in dem voraufgehenden Satz 5,16 zurückverwiesen. Das von V. 16 aber ist – wie schon zuvor in Gal 3,2 f.5.14; 4,6.29; 5,5 und hernach in 5,18.22.25; 6,8 – der Geist Gottes. Die diesem gegenübergestellte bezeichnet in 5,16 f. – und ebenso in | Gal 3,3; 5,13.19.24; 6,8 – die der Macht der Sünde ausgelieferte und von ihrer todbringenden Wirklichkeit gezeichnete Existenz des unerlösten Menschen5. Die Gegenüberstellung selbst zeigt an, daß es in den Aussagen über das dezidiert um die neue Existenz des durch Christus erlösten Menschen geht. 3 Zu diesem Text s. O. Hofius, Der Mensch im Schatten Adams. Römer 7,7–25a, in: ders., Paulusstudien II (WUNT 143), Tübingen 2002, 104–154. Das Urteil, daß es sich bei Röm 7,25b um eine nichtpaulinische Glosse handelt, wird ebd., 151 f. ausführlich begründet. 4 Die Ausleger, die Röm 7,14 ff. zu Unrecht als Parallele und damit als Kommentar zu Gal 5,17 lesen, erblicken vor allem in den Aussagen von Röm 7,22 f. ein Argument dafür, in jenem Vers einen Kampf zwischen und beschrieben zu finden. Das zeigt bereits der Kontext der oben Anm. 1 zu Origenes und Luther mitgeteilten Zitate, gilt aber in gleicher Weise auch für manche neuere Auslegung. 5 Zu diesem spezifisch paulinischen Gebrauch des Wortes vgl. Röm 7,5.18; 8,3–9.12 f.; 2Kor 10,2 f.

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Wie Paulus über den Menschen „in Christus“ denkt, das läßt sich dem Galaterbrief insgesamt, aber auch speziell dem Abschnitt Gal 5,13–6,10 unschwer entnehmen. Christus hat – so erklärt der Apostel – diejenigen, die zuvor von der Sünde beherrscht und deshalb dem in der Tora ausgesprochenen Fluch verfallen waren, durch seine sühnende Selbsthingabe am Kreuz „aus dem gegenwärtigen bösen Äon“ errettet (1,4), sie von jenem Fluch „freigekauft“ (3,13; 4,5) und ihnen die „Freiheit“ erworben, die das Kennzeichen der Kinder Gottes ist (4,6 f.; 5,1). Durch das gepredigte Evangelium wurden sie deshalb „zur Freiheit berufen“ (5,13). Sie empfingen den Geist (3,2.5) und damit den rechtfertigenden Glauben, der in der Liebe tätig ist (5,4–6; vgl. 3,25 ff.; 4,4 ff.). In dem Leben der Berufenen hat sich so eine grundlegende Wende vollzogen, die in der Taufe ihren entscheidenden Ausdruck fand (3,26 f.): „Ihr alle seid durch den Glauben Söhne Gottes in Christus Jesus. Denn ihr alle, die ihr auf Christus getauft worden seid, habt Christus angezogen.“ Die Freiheit aber, die mit der Zugehörigkeit zu Christus gegeben ist, ist als solche zugleich die Freiheit von der Macht der Sünde: „Die aber Christus Jesus angehören, die haben ihr Fleisch an das Kreuz geschlagen mitsamt den Leidenschaften und Begierden“ (5,24). Das besagt: Im Kreuzestod Christi, in dem die Glaubenden selbst „mitgekreuzigt“ wurden (2,19b), ist ihre alte, von der Sünde beherrschte Existenz abgetan worden, und sie sind als Getaufte nunmehr (6,15) – Menschen, die im Glauben an den Sohn Gottes „für Gott leben“ (2,19 f.)6. Schauen wir von den nur knapp skizzierten Aussagen her auf Gal 5,17, so erhebt sich notwendig die Frage: Läßt sich mit dem, was Paulus im Galaterbrief über den durch Christus erlösten Menschen sagt, der Gedanke vereinbaren, daß dieser Mensch der Gegenstand eines permanenten Kampfes zwischen und ist, oder sogar die Vorstellung, daß sich der Kampf beider in diesem Menschen selbst abspielt? |

II Die jetzt kritisch zu hinterfragende Deutung von Gal 5,17 hängt vor allem von der Interpretation der Worte … V. 17c ab. Das gängige Verständnis dieser Worte spiegelt sich in den deutschsprachigen Kommentaren insbesondere in Übersetzungen wie den folgenden wider: Fleisch und Geist

6 Zu der Aussage, daß die Glaubenden nicht mehr im Machtbereich der gottfeindliche Existenz aufgehoben ist, vgl. Röm 6,6 f.; 7,5 f.; 8,4.9.

leben, weil ihre

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„liegen im Streit miteinander“7, „liegen miteinander im Widerstreit“8, „liegen im Kampf miteinander“9, „kämpfen wider einander“10, „widerstreben einander“11. Diesen Übersetzungen zufolge wäre in V. 17c von einer gegeneinander gerichteten feindlichen Aktivität der beiden Größen und die Rede12. Nun muß jedoch gefragt werden, ob für mit hinreichendem Grund die Bedeutung „mit jemandem im Streit [im Kampf] liegen“, „wider jemanden kämpfen“, „jemanden bekämpfen“ o. ä. angenommen werden kann. Nach der Auskunft des Bauer'schen Wörterbuchs13 und der älteren Lexika von S. Ch. Schirlitz / Th. Eger und H. Ebeling14 wäre diese Frage – zumindest für das Neue Testa- | ment oder doch speziell für Gal 5,17 – zu bejahen. Umso auffälliger ist es, daß andere neutestamentliche Lexika15 jene Bedeutung ebenso7 Oepke, Der Brief des Paulus an die Galater, 134; Lührmann, Der Brief an die Galater, 88; G. Ebeling, Die Wahrheit des Evangeliums, 330; Betz, Der Galaterbrief, 463; Rohde, Der Brief des Paulus an die Galater, 226; Becker, Der Brief an die Galater, 87; F. Vouga, An die Galater (HNT 10), Tübingen 1998, 131. 8 U. Borse, Der Brief an die Galater (RNT), Regensburg 1984, 194. So bereits die Übersetzung in: EWNT I (1980) 262 s. v. 9 Bousset, Der Brief an die Galater, 70; Lietzmann, An die Galater, 38; Beyer / Althaus, Der Brief an die Galater, 47. Ähnlich Mussner, Der Galaterbrief, 374: „diese liegen gegeneinander (im Kampf)“; vgl. ebd., 376 f., wo Mußner für die Bedeutung „im Streit liegen mit jemand“ behauptet. 10 Sieffert, Der Brief an die Galater, 321. 11 Schlier, Der Brief an die Galater, 247, der dann in seiner Auslegung (249 f.) von dem „Streit“ bzw. dem „Kampf“ zwischen und spricht und bemerkt (250): „Der Christ ist … zugleich Schauplatz und Gegenstand, Kampfplatz und Kampfpreis der Auseinandersetzung zwischen Fleisch und Pneuma.“ 12 Wenn ich recht sehe, ist ein solches Verständnis nicht eo ipso mit den Übersetzungen der Worte gegeben, die sich in englischsprachigen Kommentaren finden: „are opposed to each other“ (Betz, Galatians, 271); „are opposed to one another“ (Dunn, The Epistle to the Galatians, 294); „are in opposition to one another“ (R. N. Longenecker, Galatians [WBC 41], Dallas, Texas 1990, 237); „are contrary to each other“ (F. F. Bruce, The Epistle to the Galatians [NIGTC], Exeter 1982, 242). 13 W. Bauer, Griechisch-deutsches Wörterbuch zu den Schriften des Neuen Testaments und der übrigen urchristlichen Literatur, Berlin 51958, 147 s. v. ; W. Bauer / K. Aland / B. Aland, Griechisch-deutsches Wörterbuch zu den Schriften des Neuen Testaments und der frühchristlichen Literatur, Berlin – New York 61988, 147 s. v. . Die 5. Auflage wird im folgenden als „Bauer, Wörterbuch“, die 6. Auflage als „Bauer / Aland, Wörterbuch“ zitiert. Die in den folgenden Anmerkungen 14, 15, 16 und 19 gebotenen Hinweise auf die Lexika beziehen sich stets auf die Angaben zum Verbum . 14 S. Ch. Schirlitz / Th. Eger, Griechisch-deutsches Wörterbuch zum Neuen Testamente, Gießen 61908, 37b; H. Ebeling, Griechisch-deutsches Wörterbuch zum Neuen Testamente, Hannover 31929, 38b. 15 I. F. Schleusner, Novum Lexicon Graeco-Latinum in Novum Testamentum I, Leipzig 4 1819, 236; C. G. Bretschneider, Lexicon manuale Graeco-Latinum in libros Novi Testamenti, Leipzig 31840, 35a; Chr.A. Wahl, Clavis Novi Testamenti philologica, Leipzig 1843, 37a; J. Parkhurst / H. J. Rose / J. R. Major, A Greek and English Lexicon to the New Testament, London 1845, 46b; C. L. W. Grimm, Lexicon Graeco-Latinum in libros Novi Testamenti, Gießen 4o.J., 33b; J. H. Thayer, A Greek-English Lexicon of the New Testament. Being

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wenig notieren wie etwa die einschlägigen Wörterbuchartikel von H. Cremer / J. Kögel16, F. Büchsel17 und C. Spicq18. Erst recht gibt der entsprechende Befund zu denken, der in den großen Thesauri zur klassischen Gräzität und in den Speziallexika zur Sprache der römischen und byzantinischen Periode sowie zur griechischen Patristik zu verzeichnen ist19. Der sprachliche Sachverhalt darf denn auch als eindeutig gelten: Das Verb , dessen Objekt zumeist im Dativ steht, bedeutet zunächst: „gegenüberliegen“, „gegenüberstehen“, „entgegengesetzt sein“20. In übertragenem Gebrauch gewinnt das Verb dann die Bedeutung: „feindlich gegenüberstehen“, „feind sein“, | „Widersacher sein“21. Für = „gegen jemanden streiten / kämpfen“ o. ä. fehlt dagegen jeder überzeugende Beleg22. Grimm's Wilke's Clavis Novi Testamenti translated revised and enlarged, Edinburgh 41901 = 1961, 50a; G. Abbott-Smith, A Manual Greek Lexicon of the New Testament, Edinburgh 31937 = 1994, 41. 16 H. Cremer / J. Kögel, Biblisch-theologisches Wörterbuch des neutestamentlichen Griechisch, Gotha 111923, 590 f. 17 F. Büchsel, Art. , ThWNT III (1938 = 1957) 655,11 ff. 18 C. Spicq, Theological Lexicon of the New Testament, Peabody, Mass. 1994, I 129 f. 19 Thesaurus Graecae Linguae, ab H. Stephano constructus. Post editionem anglicam … tertio edd. C. B. Hase / G. Dindorfius / L. Dindorfius, Paris o. J., I/2, 918; F. Passow, Handwörterbuch der griechischen Sprache. Neu bearbeitet … von V.Chr.F. Rost / F. Palm, Leipzig 51841, I 264b; W. Pape / M. Sengebusch, Griechisch-Deutsches Handwörterbuch I, Braunschweig 31902, 6. Abdruck Braunschweig 1914 = Graz 1954, 253a; H. G. Liddell / R. Scott / H. S. Jones, A Greek-English Lexicon. With a Supplement 1968, Oxford 1968 = 1977, 156b; , Athen 1972, 129b; E. A. Sophocles, Greek Lexicon of the Roman and Byzantine Periods (From B. C. 146 to A. D. 1100), Cambridge, U. S. A. und Leipzig 21914 = Hildesheim u. a. 1983, 182b.183a; G. W. H. Lampe, A Patristic Greek Lexicon, Oxford 51978, 154a.b. – Wenn K. Jakobitz / E. E. Seiler, Griechisch-deutsches Wörterbuch, Leipzig 31890, 153b für das Neue Testament die Bedeutung „streiten m. etwas“ notieren, so setzt das zweifellos bereits ein bestimmtes Verständnis von Gal 5,17c voraus. Gleiches gilt für die entsprechenden Angaben bei G. E. Benseler / A. Kaegi, Griechisch-deutsches Schulwörterbuch, Stuttgart – Leipzig 151994, 71b („streiten um“) und H. Menge, Langenscheidts Großwörterbuch AltgriechischDeutsch, Berlin u. a. 281994, 73a („im Streit liegen“). 20 Vgl. Th. Nägeli, Der Wortschatz des Apostels Paulus, Basel 1904, 39. 21 So in LXX: Ex 23,22; 1Makk 14,7; 2Makk 10,26; Hi 13,25; Sach 3,1; Jes 51,19. Ferner: Arist 266; VitProph 3,20; Dio Cassius, Historia Romana XXXIX 8,3; UPZ 69,6 (s. F. Preisigke / E. Kiessling, Wörterbuch der griechischen Papyrusurkunden IV / 1, Berlin 1944, 175 s. v. ; J. H. Moulton / G. Milligan, The Vocabulary of the Greek Testament. Illustrated from the Papyri and other Non-Literary Sources, London 1930 = Grand Rapids, Michigan 1976, 47b notieren den Beleg als: P Par 45,6). – Vgl. auch das substantivierte Partizip [ ] = „[der] Feind“ / „[der] Widersacher“; z. B. Lk 13,17; 21,15; 1Kor 16,9; Phil 1,28; 2Thess 2,4; 1Tim 5,14; 1Klem 51,1; Justin, Dial 116,1.3; EvMar 22,4; in LXX: Ex 23,22; 2Reg 8,10 (A); 3Reg 11,25 (A); Esth 8,11; 9,2; 2Makk 10,26; 3Makk 7,9; Jes 41,11; 45,16; 66,6. 22 Wenn bei Bauer, Wörterbuch, 147 auf Dio Cassius, Historia Romana XXXIX 8,3 und bei Bauer / Aland, Wörterbuch, 147 außerdem auf VitProph 3,20 verwiesen wird, so geschieht das zu Unrecht. Denn an der erstgenannten Stelle liegt die Bedeutung „Widersacher sein“, an der zweitgenannten die Bedeutung „feind sein“ vor. Opposition bzw. Feindschaft implizieren

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Nimmt man den lexikalisch-sprachlichen Befund ernst, so gibt es für die Worte … in Gal 5,17c lediglich zwei Übersetzungsmöglichkeiten – entweder: „diese stehen im Gegensatz zueinander“23, oder: „diese sind einander feind“ / „diese stehen einander feindlich gegenüber“24. Für die erstgenannte Möglichkeit spricht dabei die Beobachtung, daß die Wendung als Bezeichnung eines elementaren Gegensatzes bereits bei Aristoteles und dann später etwa bei Sextus Empiricus und Origenes begegnet25. Dementsprechend sind die Urteile derer wohlbegründet, die für Gal 5,17 die gleiche Wortbedeutung annehmen wie in 1Tim 1,10 und deshalb zur Verwendung des Wortes ausdrücklich bemerken: Es ist „nicht von dem Verhalten d[es] Wider- | streites, sondern von d[em] Verhältnis d[er] Gegensätzlichkeit“ die Rede26, oder: „It does not imply active opposition“27. Nicht von einem Kampf bzw. Streit also sprechen die Worte … Gal 5,17c, sondern von einem unversöhnlichen Gegensatz: von der 28. absoluten Unvereinbarkeit der beiden Größen und

III Bezeichnet in Gal 5,17c das zwischen Fleisch und Geist bestehende Verhältnis, nicht aber eine zielgerichtete und von einer bestimmten Absicht geleitete Aktivität oder Aktion der beiden Größen, dann läßt sich der Finalsatz V. 17d schwerlich mit den unmittelbar keineswegs bereits eo ipso auch ein permanentes Gegeneinander-Kämpfen und MiteinanderStreiten! – Zur Beschreibung eines Kampfes oder Streites stände im Griechischen übrigens eine Fülle von Verben bereit, so vor allem: (Röm 7,23!), (jeweils mit Dativobjekt). Lehrreich ist Athenagoras, Supplicatio 3,1 f.: Hier begegnen im unmittelbaren Zusammenhang das Verbum (= „entgegengesetzt sein“, „im Gegensatz stehen“) und die Wendung (= „miteinander streiten“). 23 Vgl. Schleusner, Lexicon, 236 „haec sibi invicem … contraria sunt“; Cremer / Kögel, 590: „befindet sich in Gegensatz zueinander“; Spicq, Theological Lexicon, I 129: „the flesh and the spirit are opposed to each other as two irreducible principles“ (vgl. III 238). 24 So die Vulgata: haec sibi invicem adversantur. 25 Aristoteles, Categoriae X 12b,10: („man sagt aber auch von diesen, daß sie einander gegenüberstehen“); vgl. auch ebd. X 11b,17. – Sextus Empiricus, Pyrrhoneae Hypotyposes II 186: („diese [beiden Aussagen] sind einander entgegengesetzt“). – Origenes, Contra Celsum VII 15: („die im Gegensatz zueinander stehenden Aussagen“). 26 Cremer / Kögel, Wörterbuch, 590. Vgl. dazu die grundsätzliche Bestimmung bei Passow, Handwörterbuch I, 264b: Das Verb – „entgegengesetzt seyn, den Gegensatz bilden“ – gibt an, was „dem Wesen nach“ gilt. 27 Parkhurst / Rose / Major, A Greek and English Lexicon to the New Testament, 46b. 28 J. Eckert, Die urchristliche Verkündigung im Streit zwischen Paulus und seinen Gegnern nach dem Galaterbrief (BU 6), Regensburg 1971, 136 urteilt zu Recht, daß die Aussage von Gal 5,17 den „unversöhnlichen Gegensatz“ von und unterstreichen soll.

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voraufgehenden Worten V. 17c verbinden29. Ist dann jenen Auslegern zuzustimmen, die V. 17c als eine Parenthese beurteilen30, den -Satz also an die Worte , V. 17a.b anschließen? Gegen eine solche Sicht spricht eine gewichtige Feststellung: Nachdem in V. 16 in eindeutig negativer Weise von der die Rede war, kann das Verbum in V. 17a nicht als Vox media gebraucht sein31, sondern es muß hier ebenfalls eine dezidiert | negative Bedeutung haben: Das Fleisch – so erklärt Paulus – „wendet sich mit seinem [bösen] Begehren gegen den Geist“. Da die Worte und in anthropologischen Aussagen der Paulusbriefe auch sonst stets das sündige und gegen Gott gerichtete „Begehren“ bezeichnen32, wird man ausschließen dürfen, daß der Apostel in Gal 5,17b von einem des Geistes Gottes spricht33. In dem elliptischen Satz kann deshalb als Prädikat nicht das aus V. 17a ergänzt werden, sondern man wird einfach an ein zu denken haben34. Sosehr also V. 17b eine Gegenaussage zu V. 17a formuliert, sowenig besteht innerhalb der Antithese nach Form und Inhalt eine vollkommene Parallelität. Dann aber entfällt jede Nötigung, die beiden Zeilen V. 17a und V. 17b als eine feste sprachliche und gedankliche Einheit anzusehen. Die Struktur von Gal 5,17 kann im Gegenteil dahingehend bestimmt werden, daß die Worte V. 17b.c insgesamt eine Parenthese bilden und der Finalsatz V. 17d über diese

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Nicht anders wäre zu urteilen, wenn man in V. 17d einen Folgesatz erblickt (vgl. Bauer, Wörterbuch, 747 s. v. II.2 bzw. Bauer / Aland, Wörterbuch, 766 s. v. II.2, wo für Gal 5,17 ein konsekutiver Gebrauch der Konjunktion behauptet wird). Bedenken gegenüber der Fassung von = äußert mit Grund Zahn, Der Brief des Paulus an die Galater, 265 Anm. 96. 30 So z. B. J. B. Lightfoot, St. Paul's Epistle to the Galatians, London 101890 = Peabody, Mass. 1993, 210; Zahn, Der Brief des Paulus an die Galater, 265. Ältere Autoren (H. Grotius, J. S. Semler, L. J. Rückert u. a.) nennt Sieffert, Der Brief an die Galater, 321, der sich allerdings gegen die Annahme einer Parenthese ausspricht. 31 Anders etwa B. Weiss, Die paulinischen Briefe, 362; Rohde, Der Brief des Paulus an die Galater, 234. – Wenn H. Ebeling, Wörterbuch, 165a; Bauer, Wörterbuch, 580 und Bauer / Aland, Wörterbuch, 594 (jeweils s. v. ) für Gal 5,17 die Bedeutung „aufbegehren gegen“ angeben, so entbehrt das jeder philologischen Grundlage. Das Richtige notiert Grimm, Lexicon, 166a s. v.: = „cupiditas mea alicui adversatur“. 32 Zu s. Röm 1,24; 6,12; 7,7 f.; 13,14; Gal 5,24; 1Thess 4,5, zu Röm 7,7; 1Kor 10,6. – Wo Paulus nicht in negativem Sinn verwendet, da bezeichnet das Wort den sehnsüchtigen Wunsch: Phil 1,23; 1Thess 2,17. 33 Vgl. Lightfoot, St. Paul's Epistle to the Galatians, 210, aber auch bereits Bengel, Gnomon, 749. 34 Zu vgl. vor allem Ex 16,8 LXX; Gal 3,21a (elliptisch) und Gal 5,23b: „wider jemanden / etwas sein“ = „gegen jemanden / etwas gerichtet sein“. S. ferner auch Mk 9,40 par. Lk 9,50; Mt 12,30 par. Lk 11,23; Röm 8,31 (elliptisch). – P. A. van Stempvoort, De brief van Paulus aan de Galaten, Nijkerk 21961, 176 Anm. 40 schlägt unter Hinweis auf Gal 5,18 ( ) vor, in V. 17b ein zu ergänzen.

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Parenthese hinweg ganz unmittelbar auf die Worte V. 17a bezogen ist35. Als Ergebnis kann für den Satz Gal 5,17 die folgende Textgestalt festgehalten werden: – –, 36 . Entsprechend wäre dann etwa zu übersetzen: „Das Fleisch wendet sich ja mit seinem [bösen] Begehren | gegen den Geist – der Geist aber ist gegen das Fleisch gerichtet, denn diese stehen im Gegensatz zueinander –, damit ihr das, was ihr [tun] wollt, nicht tut.“

IV Versteht man den Satz Gal 5,17 im Sinne der vorgetragenen Analyse, so fügt sich seine Aussage problemlos in den Argumentationszusammenhang von Gal 5,13–6,10 ein. Dieser Abschnitt bildet – nach den Textkomplexen Gal 1,11–2,21 und Gal 3,1–5,12 – den dritten Hauptteil des Galaterbriefs. In ihm geht es Paulus darum, aufzuzeigen und einzuschärfen, daß die durch Christus eröffnete Freiheit, in der die Glaubenden dem Todesurteil der Tora entzogen sind37, keineswegs die Freiheit zu einer zügellosen Lebensführung ist, die im Widerspruch zu der Willensforderung Gottes steht. Die Verse 5,13–15 enthalten zunächst einige grundsätzliche Feststellungen: Die Galater sind von Gott durch das Heilswort des Evangeliums „zur Freiheit berufen“, d. h. in jenen Stand der versetzt worden, der in der Heilstat des Todes und der Auferstehung Jesu Christi konstituiert worden ist (V. 13a)38. Die ihnen damit gewährte Freiheit aber darf grundsätzlich kein Anlaß dazu sein, daß die – die sie einst beherrschende, jetzt aber überwundene Sündenexistenz – in ihrem Leben und Verhalten noch einmal zum Zuge kommt ( 35 Für diesen Bezug votiert – allerdings aufgrund einer an Röm 7,14 ff. orientierten und insbesondere auf Röm 7,15b ( ) rekurrierenden Textinterpretation – P. Althaus, „… daß ihr nicht tut, was ihr wollt“ (Zur Auslegung von Gal. 5,17), in: ders., Paulus und Luther über den Menschen (SLA 14), Gütersloh 21951, 114–118 (= ThLZ 76 [1951] 15–18); ders., in: Beyer / Althaus, Der Brief an die Galater, 48. Vgl. auch H. Braun, Art. , ThWNT VI (1959) 456–483: 480,10 ff. 36 Vgl. Röm 1,13, wo ebenfalls der Finalsatz durch eine Parenthese von dem übergeordneten Satz getrennt ist: – –, Zu der formalen Parallele Joh 5,21–23a s. H.-Chr. Kammler, Christologie und Eschatologie. Joh 5,17–30 als Schlüsseltext johanneischer Theologie (WUNT 126), Tübingen 2000, 72 ff. 37 S. dazu vor allem Gal 3,10–14; 3,19–4,7; 4,21–31; 5,1–6. 38 Die Heilstat hat Paulus in Gal 5,1a im Blick ( ), das Heilswort in Gal 5,13a ( … ). Zu dem differenzierten Zusammenhang der beiden Aspekte des Heilshandelns Gottes s. O. Hofius, Wort Gottes und Glaube bei Paulus, in: ders., Paulusstudien (WUNT 51), Tübingen 21994, 148–174: 148 ff.

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V. 13b ). Die neue, von der Macht der Sünde befreite Existenz ist vielmehr eine solche, die in der „Liebe“ ihr Kennzeichen hat und eben damit faktisch der in der Tora bezeugten Willensforderung Gottes nimmt Pauentspricht (V. 13b .14)39. Mit dem betonten Hinweis auf die lus die Aussage von 5,6 auf, derzufolge der Glaube an Jesus Christus eo ipso die Liebe bei sich hat. Der Apostel expliziert diese Aussage bereits in V. 13b ( ) und dann auch in den weiteren, bis 6,10 reichenden Ausführungen, indem er den Blick der Leser auf das Miteinander in der christlichen Gemeinde lenkt. Dementsprechend wird sogleich in V. 15 erklärt, daß die Liebe jenes Gegeneinander-Sein ausschließt, das die Gemeinschaft letztlich nur zerstören kann. | Die Verse 5,16–24 führen das zuvor Gesagte weiter, indem sie das Leben unter der Herrschaft und Leitung des Geistes dem Leben unter der Macht der gegenüberstellen. Dabei legt Paulus in Aufnahme und Unterstreichung von V. 13b dar, daß den in die Freiheit versetzten Christen einzig das vom bestimmte und regierte Leben möglich ist, während das Leben unter der Macht der für sie prinzipiell keine Möglichkeit mehr sein kann. Thetisch erklärt zunächst V. 16: „Lebt beständig unter der Bestimmung durch den Geist – und ihr werdet das Begehren des Fleisches ganz gewiß nicht erfüllen“ ( )40. Die ist die Signatur des gottfeindlichen Menschen: die gegen Gott und seinen Willen gerichtete Gesamtorientierung, aus der dann alles sündige Tun und Verhalten erwächst41. Zu einem solchen Nein gegen Gott und dem ihm entsprechenden Tun und Verhalten kann und wird es nach V. 16 da nicht kommen, wo der Glaubende sich von dem Geist, der ihn bereits bestimmt42, kontinuierlich leiten läßt. Die Aussage von V. 16 wird durch V. 17 expliziert. In diesem Vers weist Paulus darauf hin, daß die Christen der mit ihrer durchaus noch konfrontiert sind. Die gottfeindliche Existenz ist zwar da abgetan, wo der Geist regiert; sie meldet sich gleichwohl noch immer zu Wort und sucht diejenigen, die ihr entnommen sind, erneut in ihren Bann zu ziehen – mit dem Ziel, daß sie genau das nicht tun, was sie als in die Freiheit Versetzte und unter der Leitung des Geistes Stehende tun wollen (V. 17a.d). Das aber heißt: Die Glaubenden sind noch der 39 S. dazu des näheren O. Hofius, Das Gesetz des Mose und das Gesetz Christi, in: ders., Paulusstudien, 50–74: 68 f. Zu Gal 5,14 vgl. auch Becker, Der Brief an die Galater, 86 f. 40 Zum Imperativ Präsens s. BDR § 336,1 mit Anm. 1, zu mit Konjunktiv Aorist als der „bestimmteste[n] Form der verneinenden Aussage über Zukünftiges“ ebd. § 365 (vgl. bei Paulus: 1Kor 8,13; 1Thess 4,15; 5,3). – Die parataktische Formulierung steht für einen Bedingungssatz: „Wenn ihr beständig unter der Bestimmung durch den Geist lebt, werdet ihr das Begehren des Fleisches ganz gewiß nicht erfüllen.“ Vgl. dazu K. Beyer, Semitische Syntax im Neuen Testament I: Satzlehre Teil 1 (StUNT 1), Göttingen 21968, 238 ff. 41 Vgl. Röm 7,7.8a sowie Röm 8,7, wo Paulus das als kennzeichnet. 42 Gal 3,2–5.14; 4,6 f.; 5,5.

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Versuchung ausgesetzt, sich dem Wirken des Geistes zu entziehen und so zu jener gottfeindlichen Grundhaltung zurückzukehren, aufgrund derer der Mensch von dem Fluch der Tora getroffen wird43. Die Parenthese V. 17b.c betont den unversöhnlichen Gegensatz, der zwischen Geist und Fleisch besteht. Sie macht damit deutlich, daß ein Nebeneinander beider Größen schlechterdings nicht denkbar ist und es mithin für den Christen grundsätzlich keinen Kompromiß mit der geben kann. Daß die Glaubenden der Versu- | chung durch die keineswegs wehrlos ausgeliefert sind, – dieser bereits in V. 16 geäußerte Gedanke wird in V. 18 mit anderen Worten wiederholt: „Wenn ihr euch aber [kontinuierlich] vom Geist leiten laßt44, dann seid ihr nicht unter dem Gesetz“ ( ). Die Worte stehen hier, wie von V. 23b 45 her deutlich wird, metonymisch für . Diejenigen, die sich vom Geist regieren lassen, sind in der Kraft des Geistes für die und ihre verschlossen; deshalb trifft der Fluch, den die Tora rechtens über den gottlosen und gottfeindlichen Menschen ausspricht, sie nicht. Dagegen ist dieser Fluch nach V. 19–21 da Realität, wo die der entsprechenden gegeben sind, die exemplarisch in dem Katalog V. 19–21a aufgelistet werden. Im Blick auf diese heißt es: „Die derartige Dinge tun, werden das Reich Gottes nicht erben“ ( V. 21b). Sie bleiben als solche, die unter dem Fluch der Tora stehen, vom ewigen Leben ausgeschlossen. Die Verse 22+23a stellen – auch hier in einer exemplarischen Aufzählung – den „Werken des Fleisches“ die „Frucht des Geistes“ gegenüber. Als Gegenaussage zu V. 21b erklärt dann V. 23b: Gegen diejenigen, die solche Frucht des Geistes aufweisen, „ist das Gesetz nicht“ ( )46. Das besagt: Die in der Macht des Geistes Glaubenden und als solche auch Liebenden stehen nicht unter dem Todesurteil der Tora. Der Satz V. 24 unterstreicht dann noch einmal mit Nachdruck, daß der Gehorsam gegenüber der für den Christen prinzipiell keine Möglichkeit mehr sein kann. Er tut dies, indem er die Konsequenz des Mit-Christus-Gekreuzigt-Seins aufzeigt, von dem Paulus in Gal 2,19 f. im Blick auf seine eigene Existenz gesprochen hat47. Die Christus angehören, die wissen, 43 Paulus hat in Gal 5,17 (wie im Kontext 5,16–24) die grundsätzliche Ausrichtung der Existenz im Blick, nicht dagegen – wie in 6,1 – den Einzelfall einer „Verfehlung“ des Christen. 44 Oder: „Wenn ihr aber [kontinuierlich] vom Geist geleitet werdet“. Ob man hier – und ebenso in Röm 8,14 – als unmittelbares oder als toleratives Passiv liest, macht in der Sache keinen Unterschied. Denn im einen wie im andern Fall ist der Geist als die wirkende Kraft verstanden, deren die menschliche Aktivität nicht ausschaltet, sondern einschließt. Wichtig ist, daß das Präsens wieder auf die Kontinuität abhebt. 45 Die gleiche Metonymie findet sich in Gal 4,4 f. (vielleicht auch in 3,23). 46 Da V. 23b Gegenaussage zu V. 21b ist, liegt es m. E. nahe, als Maskulinum zu lesen (zu bei Paulus s. Röm 16,18; 1Kor 7,28; 16,16.18; 2Kor 11,13; Phil 2,29). Bei der – weniger wahrscheinlichen – Deutung als Neutrum wäre etwa zu übersetzen: „Gegen dergleichen ist das Gesetz nicht.“ 47 Vgl. dazu Röm 6,6 mitsamt dem Kontext 6,1–11.

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daß in seinem Kreuzestod mit ihrer der Sünde verfallenen Existenz Schluß gemacht ist. Sie haben das unter der Verkündigung des Evangeliums erkannt und sich mit ihrer Taufe darauf festlegen lassen. Das aber bedeutet: Sie haben kein Leben mehr, das sie der noch zur Verfügung stellen könnten, sondern ihre einzige | Möglichkeit ist die, der Leitung des Geistes folgend im Glauben an Christus und in der Liebe zum Nächsten für Gott zu leben. Der den Abschnitt 5,25–6,10 eröffnende Satz V. 25 knüpft unmittelbar an die voraufgehende Argumentation an: „Wenn wir im Geist leben, so laßt uns auch [beständig] im Einklang mit dem Geist sein!“ ( )48. In der Protasis des Satzes spricht Paulus die Galater erneut auf das ihnen durch Christus eröffnete heilvolle Leben an: Sie haben den Geist empfangen und stehen in der vom Geist bestimmten Wirklichkeit der neuen, von der Macht der Sünde befreiten Existenz49. Die Apodosis ruft dazu auf, dieser Wirklichkeit im Lebensvollzug zu entsprechen. Was das konkret heißt, wird in den weiteren Ausführungen – wiederum in ekklesiologischer Perspektive – exemplarisch entfaltet. Im Kontext dieser Ausführungen stellt die Aussage von 6,8 noch einmal unmißverständlich die scharfe Alternative zwischen und heraus: „Wer auf sein Fleisch sät, wird von dem Fleisch Verderben ernten. Wer aber auf den Geist sät, wird von dem Geist ewiges Leben ernten.“50 Die Aussageintention ist evident: Auf sein Fleisch zu säen, d. h. der überwundenen gottfeindlichen Sündenexistenz wieder Raum zu geben und deshalb „Werke des Fleisches“ hervorzubringen, das kann im Ernst die Möglichkeit der Christen nicht mehr sein. Ihre Möglichkeit ist einzig die, dem Wirken des Geistes Raum zu geben, der die „Frucht des Geistes“ schafft. Wollten die Glaubenden noch einmal der folgen, so wäre dies das absolut Regelwidrige und ganz und gar Unbegreifliche.

V Die Ausführungen von Gal 5,13–6,10 enthalten zwei Grundaussagen, die – breiter entfaltet – auch in dem wenig später geschriebenen Römerbrief begegnen51: 1. Die den in die libertas christiana versetzten Menschen bestimmende Größe ist einzig und allein der Geist, in dessen Wirken sowohl der Glaube wie auch das 48 Das Verbum ist nicht ein Synonym zu 5,16, sondern es bedeutet: „übereinstimmen mit“, „in Übereinstimmung sein mit“, „im Einklang sein mit“; s. G. Delling, Art. , ThWNT VII (1964) 666–687: 666,30–669,2. Auch hinsichtlich des Hortativs V. 25b ist die Präsensform zu beachten. 49 Zutreffend bemerkt Mussner, Der Galaterbrief, 391: „Das Verbum hat … ‚theologischen‘ Sinn: die wahre Existenz haben.“ 50 Vgl. Röm 8,6.12 f., aber auch Röm 6,20–23. 51 S. vor allem Röm 8,1–17, daneben aber auch bereits Röm 6,1–7,5.

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neue Leben in der Liebe begründet sind. 2. Mit dem Geist und der von ihm getragenen neuen Existenz ist die – die unter der Macht der Sünde stehende und gegen Gott gerichtete alte Existenz – schlechterdings unvereinbar. | Auf dem Hintergrund dieser beiden Aussagen will der Satz Gal 5,17 gelesen sein. Er bringt zum Ausdruck, daß die unter dem Nein des Geistes stehende Sündenexistenz den Glaubenden immer noch als Versuchung entgegentritt. Dieser Versuchung müssen sie allerdings keineswegs erliegen. Im Gegenteil: Sie werden, wenn sie dem Geist nicht wehren, sich auf die und ihre gerade nicht einlassen52. Hält man sich diesen Textbefund vor Augen, so kann nunmehr im Blick auf die eingangs skizzierte Deutung von Gal 5,17 geurteilt werden: Von einem permanenten Kampf, den und um den Glaubenden führen bzw. gar in ihm austragen, ist in dem Vers keine Rede53. Die These, daß Paulus den Christen als Kampfplatz für den Widerstreit zwischen Fleisch und Geist begreift, hat in Gal 5,17 kein tragfähiges Fundament.

52

Vgl. E. Schweizer in: ders. / F. Baumgärtel / R. Meyer, Art. , ThWNT VII (1964) 98–151: 133 Anm. 271. 53 Der Satz Gal 5,17 erlaubt auch keineswegs, und als „Mächte“ bzw. als „kosmische Mächte“ zu bezeichnen.

Erwägungen zu der Ordinationsaussage 1Tim 4,14

I Von der Ordination als der Einsetzung in ein Amt der Kirche ist in den Pastoralbriefen an drei Stellen expressis verbis die Rede1. In 1Tim 4,14 und 2Tim 1,6 wird Timotheus an die Ordination erinnert, die er selbst empfangen hat, und in 1Tim 5,22 ergeht an ihn die Weisung, niemandem „vorschnell“, d. h. ohne sorgfältige Prüfung, die Ordination zu erteilen. Die drei Aussagen lauten: 1Tim 4,14: , 2Tim 1,6: , 1Tim 5,22: .

Wenn in den beiden Sätzen 1Tim 4,14 und 2Tim 1,6 die Ordination als bezeichnet wird und in der Anweisung von 1Tim 5,22 für „ordinieren“ die Wendung erscheint, so liegt die jeweilige Bedeutung nicht bereits in den gewählten Termini selbst; denn von der „Handauflegung“ kann im Neuen Testament in recht unterschiedlichen Zusammenhängen gesprobzw. chen werden2. Ob mit den Ausdrücken 1

Zur Ordination im Neuen Testament s. ferner Apg 6,6; 14,23; 20,28. In Apg 13,1–3 handelt es sich dagegen nicht um die Einsetzung in ein bestimmtes Amt, sondern um die Berufung und Aussendung zu einem begrenzten und zeitlich befristeten Dienst der missionarischen Verkündigung. 2 Handauflegung bei der Krankenheilung: Mk 5,23; 6,5; 7,32; 8,23.25; Lk 4,40; 13,13; Apg 9,12.17 f.; 28,8; bei der Segnung der Kinder: Mk 10,16; Mt 19,13.15; als Bevollmächtigung und Sendung zu einem bestimmten Dienst: Apg 13,1–3; als Akt der Geistmitteilung in Verbindung mit der Taufe: Apg 8,17–19; 19,6; Hebr 6,2. – Literatur zur Handauflegung s. bei A. T. Hanson, Artikel „Handauflegung I. Altes Testament/Judentum/Neues Testament/

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( ) die Ordination gemeint ist, entscheidet sich allererst an dem Kontext, in dem sie begegnen. Wo die griechischen Termini in solchem Sinn verwendet werden3, da ist dieser Sprachgebrauch letztlich dem alttestamentlichen Bericht von der Amtseinsetzung des Josua durch Mose (Num 27,12–23) verpflichtet. Nach Num 27,18 LXX lautet der Befehl Gottes an Mose: , und fast wörtlich gleich wird dann in V. 23 der Voll4 . zug berichtet: Die Aussagen der Pastoralbriefe über die Ordination sollen jetzt nicht im einzelnen erörtert werden5. Unser Interesse konzentriert sich auf das Problem, vor das die Exegese durch das Nebeneinander der beiden Sätze 1Tim 4,14 und 2Tim 1,6 gestellt wird. Den Worten 2Tim 1,6 zufolge hat Timotheus die Handauflegung durch Paulus empfangen; daß es dabei neben Paulus und zusammen mit ihm noch weitere Ordinatoren gegeben habe, wird an dieser Stelle weder gesagt noch auch nur indirekt angedeutet. Ein von 2Tim 1,6 abweichender Befund liegt in 1Tim 4,14 vor – und zwar dann, wenn man dem gängigen, d. h. von fast allen Auslegern vertretenen Verständnis der Wendung folgt. Nach diesem Verständnis bezeichnet in den zitierten Worten – ebenso wie in den Briefen des Ignatius6 – das Gremium der . Dann wird in 1Tim 4,14 gesagt, daß Timotheus von einem Kollegium von Ältesten ordiniert wurde. Daß dabei gleichwohl die Mitwirkung des Paulus stillschweigend vorausgesetzt wäre, ließe sich dem Text nicht entnehmen. Trifft das skizzierte Verständnis von 1Tim 4,14 zu, so ist die tiefgreifende Diskrepanz zwischen diesem Satz und der Aussage von 2Tim 1,6 offenkundig. Natürlich fehlt es nicht an Versuchen, die Diskrepanz zu erklären und den Widerspruch durch Exegese zu beseitigen7. Nach meinem Urteil vermag aber keiner dieser Versuche wirklich zu überzeugen. Das gilt gerade auch für die Erklärung, Religionsgeschichtlich“, TRE 14 (1985) 415–422: 421 f. Hinzuzufügen ist: M. A. Siotis, Die klassische und die christliche Cheirotonie in ihrem Verhältnis, Athen 1951. 3 So im Neuen Testament noch Apg 6,6. 4 Vgl. Dtn 34,9 LXX: … . 5 Aus der Literatur zur Ordination in den Pastoralbriefen bzw. im Neuen Testament nenne ich nur: E. Lohse, Die Ordination im Spätjudentum und im Neuen Testament, Göttingen 1951, 67–100 (Literatur: 105 ff.); J. Jeremias, Die Briefe an Timotheus und Titus (in: NTD 9), Göttingen 1(11)1975, 35 f.; G. Kretschmar, Die Ordination im frühen Christentum, FZPhTh 22 (1975) 35–69; H. von Lips, Glaube – Gemeinde – Amt. Zum Verständnis der Ordination in den Pastoralbriefen (FRLANT 122), Göttingen 1979; J. Roloff, Der erste Brief an Timotheus (EKK 15), Zürich bzw. Neukirchen-Vluyn 1988, 263–272 (Literatur: 249); H. von Lips, Artikel „Ordination III. Neues Testament“, TRE 25 (1995) 340–343 (Literatur: 343). 6 Ignatius, Eph 2,2; 4,1; 20,2; Magn 2; 13,1; Trall 2,2; 7,2; 13,2; Phld 4; 5,1; 7,1; Sm 8,1; 12,2. 7 S. dazu die bei von Lips, Glaube – Gemeinde – Amt, 241 ff. erwähnten Lösungsvorschläge 1, 2 und 4. Zu dem unter 2 genannten Versuch, durch eine Kombination der beiden Aussagen 1Tim 4,14 und 2Tim 1,6 die Erklärung zu gewinnen, daß Paulus die Ordination des Timotheus unter Mitwirkung einiger Presbyter vollzogen habe, s. auch Lohse, Die Ordination im Spätjudentum und im Neuen Testament, 82.

175 die in der neueren Exegese bevorzugt wird. Danach sollen die divergierenden Angaben durch die unterschiedliche Abzweckung der beiden Timotheusbriefe veranlaßt sein: Der Zweite Timotheusbrief wolle als „Testament“ des Paulus die enge Verbindung des Timotheus zu dem Apostel und damit die apostolische Legitimation des kirchlichen Leitungsamtes herausstellen, wohingegen der Erste Timotheusbrief mit seiner Ausrichtung auf die Gemeindeordnung die in der Zeit der Pastoralbriefe gültige Praxis widerspiegele bzw. die für diese Zeit wünschenswerte Ordnung beschreibe8. Gegen diese Erklärung spricht zum einen die Anweisung von 1Tim 5,22, die – nicht anders als die Aussage von 2Tim 1,6 – die Ordination durch einen Einzelnen voraussetzt9. Zum andern will beachtet sein, daß im Kontext von 1Tim 4,12–16 der Hinweis auf die Ordination (V. 14) unmittelbar auf einen Satz folgt, der darauf abhebt, daß Timotheus in der Sukzession des Paulus steht (V. 13)10. Von daher vermag die Behauptung, daß in V. 14 betont die Ordination durch ein Kollegium von Presbytern herausgestellt werden solle, schwerlich einzuleuchten.

II Angesichts der aufgezeigten Diskrepanz erhebt sich die Frage, ob das gängige Verständnis von 1Tim 4,14 überhaupt zutreffend ist. Diese Frage ist – bei aller Vorsicht im Urteil – von David Daube11 und Joachim Jeremias12 verneint worden. Beide Gelehrte erblicken die entschieden wahrscheinlichere Deutung in der These, daß die Wendung eine Wiedergabe des hebräischen Ausdrucks sei, der in bSanh 13b als Terminus technicus für die Ordination erscheint – und zwar in der Bedeutung: „the leaning 8

In diesem Sinne etwa – bei unterschiedlichen Akzentsetzungen im einzelnen – Lohse, ebd.; von Lips, Glaube – Gemeinde – Amt, 242 f. (und die dort unter 4 erwähnten Ausleger); Hanson, Handauflegung, 420; Roloff, Der erste Brief an Timotheus, 259; H. Merkel, Die Pastoralbriefe (NTD 9/1), Göttingen – Zürich 1991, 39; L. Oberlinner, Die Pastoralbriefe I: Kommentar zum ersten Timotheusbrief (HThK XI/2.1), Freiburg – Basel – Wien 1994, 210. 9 1Tim 5,22 bezieht sich auf die Ordination und nicht etwa auf die Handauflegung bei einem Buß- oder Rekonziliationsritus. Zur Begründung s. etwa Lohse, Die Ordination im Spätjudentum und im Neuen Testament, 88; von Lips, Glaube – Gemeinde – Amt, 174 ff.; Roloff, Der erste Brief an Timotheus, 313 f.; Oberlinner, Die Pastoralbriefe I, 259 f. 10 S. dazu unten Teil V des Aufsatzes. 11 D. Daube, The New Testament and Rabbinic Judaism (JLCR 2), London 1956 = New York 1973, 244 f. Daube bemerkt zu der vorherrschenden Deutung: „it may be right“ und führt dann seine eigene Interpretation mit den Worten ein: „We incline to a different solution“ (244). 12 J. Jeremias, außerchristlich bezeugt, ZNW 48 (1957) 127–132; Ders., Zur Datierung der Pastoralbriefe, ZNW 52 (1961), 101–104 (= Ders., Abba. Studien zur neutestamentlichen Theologie und Zeitgeschichte, Göttingen 1966, 314–316); Ders., Die Briefe an Timotheus und Titus, 33–36. Jeremias verbindet seine Deutung mit der Kennzeichnung als „wahrscheinlich“ (Zur Datierung der Pastoralbriefe, 103 f. [= Abba, 315 f.]) bzw. als „höchstwahrscheinlich“ (Die Briefe an Timotheus und Titus, 35).

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on of hands on persons in order to make elders, Rabbis, of them“13 bzw. „Handaufstemmung, die zum (zum ‚Alten‘, zum Schriftgelehrten) macht“14, „Handaufstemmen zur Amtsübertragung“15. Über die gemeinsame These hinaus hat sich Jeremias um eine sprachlich-philologische Begründung dieser Sicht bemüht und dabei zweierlei festgestellt: 1. Das Wort kann keineswegs nur Bezeichnung für einen „Ältestenrat“ sein, sondern es ist auch in der Bedeutung ist in 1Tim 4,14 „Ältestenwürde“ belegt16. 2. Der Genitiv als ein Genitivus finalis zu lesen, der ebenso wie das Nomen rectum der Status-constructus-Verbindung „die Intention des Ritus“ angibt17. Mit diesen beiden Feststellungen hat Jeremias auch eine sprachliche Basis für das Urteil gewonnen, daß die Worte 1Tim 4,14 als „ein aus dem Judentum übernommener Fachausdruck für die Ordination“ anzusehen sind18. Was die angemessene Wiedergabe des griechischen Ausdrucks anlangt, so wählt Daube die Umschreibung „ordination conferring full

13 So Daube, The New Testament and Rabbinic Judaism, 244, der dann fortfährt: „or briefly, ‚Rabbinic ordination‘ “. 14 So Jeremias, Zur Datierung der Pastoralbriefe, 103 (= Abba, 316); ähnlich Ders., außerchristlich bezeugt, 130. Vgl. auch: Zur Datierung der Pastoralbriefe, 102 (= Abba, 314): „Handaufstemmung, die zum Ältesten macht“. 15 So Jeremias, Die Briefe an Timotheus und Titus, 35. – Zur Unterscheidung zwischen der nur berührenden „Handauflegung“ und der mit beiden Händen vollzogenen kräftigen „Handaufstemmung“ s. ebd. sowie vor allem: Ders., außerchristlich bezeugt, 129; Daube, The New Testament and Rabbinic Judaism, 224 ff. Mit der „Handaufstemmung“ bei der Ordination ist der Gedanke verbunden, daß die ganze Person an das Amt übergeben wird. 16 Jeremias, außerchristlich bezeugt, 127 f. 131 f.; Ders., Zur Datierung der Pastoralbriefe, 102 f. (= Abba, 315). – Jeremias wählt für 1Tim 4,14 bewußt die Übersetzung „Ältestenwürde“ bzw. „Presbyterwürde“, weil er bezweifelt, daß die Pastoralbriefe neben den beiden Ämtern des (1Tim 3,8–13) und des (1Tim 3,1–7; Tit 1,5–9) als drittes Amt noch das des kennen. Gewichtige Gründe – insbesondere das Schweigen über ein drittes Amt in 1Tim 3,1 ff. – sprechen in der Tat dafür, daß in 1Tim 5,17.19 und Tit 1,5 nicht anders als in 1Tim 5,1 den älteren Mann bezeichnet. Sollte jedoch an jenen Stellen oder auch nur in Tit 1,5 die Bedeutung „Ältester“ haben, so wären dem Gedankengang von Tit 1,5–9 zufolge die Worte und beide auf den gleichen Personenkreis zu beziehen. Denn im Anschluß an den Auftrag, daß Titus in den Städten Kretas einsetzen solle (V. 5), werden zunächst die für die Auswahl maßgeblichen Voraussetzungen aufgezählt (V. 6), und darauf folgt dann unmittelbar die Begründung: (V. 7–9). Der Singular (V. 7) ist – wie in 1Tim 3,1 f. – durch das des voraufgehenden Satzes (V. 6) veranlaßt und hat generischen Sinn; er erlaubt deshalb keineswegs den Schluß, daß innerhalb des Kreises der einer eine besondere Stellung innehat. Falls die Pastoralbriefe ein und denselben Amtsträger sowohl als wie auch als bezeichnen sollten, würde von den beiden Begriffen der erstere auf das Amt und seine Funktion verweisen, während der letztere die Würde oder den Status im Blick hätte. 17 Jeremias, außerchristlich bezeugt, 130 ff.; Ders., Zur Datierung der Pastoralbriefe, 102 (= Abba, 314). 18 Jeremias, außerchristlich bezeugt, 131; Ders., Zur Datierung der Pastoralbriefe, 101. 104 (= Abba, 314. 316); vgl. Ders., Die Briefe an Timotheus und Titus, 35.

177 authority“19. Bei Jeremias finden sich die Formulierungen „Handaufstemmung, die zum macht“, „Handaufstemmung (zur Verleihung) der Ältestenwürde“ und „Handaufstemmung zur Übermittlung der Amtsvollmacht“20. Für den ganzen Satz 1Tim 4,14 bietet Jeremias die folgende Übersetzung: „Laß die Gnadengabe in dir nicht ungenutzt, die dir verliehen wurde durch Prophetenwort unter Handaufstemmung zur Amtsbevollmächtigung!“21 Als eine nachträgliche Beobachtung hat Jeremias notiert, daß das von Daube und ihm selbst vorgeschlagene Verständnis der Worte bereits im Jahre 1650 von dem Londoner Orientalisten John Selden vertreten worden ist22. Ich selbst konnte auf zwei noch frühere Zeugnisse hinweisen, die mit dem Wort das „Ältestenamt“ bezeichnet sehen23, nämlich zum einen auf die Auslegung von 1Tim 4,14 bei Johannes Calvin24 und zum andern auf die syrische Übersetzung des Verses, wie sie die Peschitta bietet25. Calvin bemerkt in der ersten Auflage seiner „Institutio“ (1536) zu 1Tim 4,14: „Als impositio manuum presbyterii bezeichnet Paulus die Ordination selbst, durch die Timotheus in das Bischofsamt aufgenommen worden war. Ich weiß zwar wohl, daß presbyterium an dieser Stelle von einigen als ‚Rat der Ältesten‘ aufgefaßt wird; doch wird das Wort nach meinem Urteil ungezwungener von dem Amt [sc. des presbyterus] zu verstehen sein.“26 Im gleichen Sinn heißt es in der Letztfassung der „Institutio“ (1559): „Was in dem anderen Brief (d. h. in 1Tim 4,14) über die impositio manuum presbyterii gesagt wird, das fasse ich nicht so auf, als ob Paulus von dem Kollegium der Ältesten spräche, sondern ich sehe mit diesem Begriff die Ordination selbst bezeichnet – so, als ob er sagte: Trage Sorge dafür, daß die Gnade nicht wirkungslos sei, die du durch die Auflegung der Hände empfangen hast, als ich dich zum pres-

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Daube, The New Testament and Rabbinic Judaism, 245. Jeremias, außerchristlich bezeugt, 130. 132 bzw. Ders., Zur Datierung der Pastoralbriefe, 102 (= Abba, 314). 21 Jeremias, außerchristlich bezeugt, 131 f. Vgl. auch die Übersetzung in: Die Briefe an Timotheus und Titus, 33 f.: „Laß die Gnadengabe in dir nicht ungenutzt, die dir auf Grund von Prophetenworten verliehen wurde, als du unter Handaufstemmen ordiniert wurdest.“ 22 J. Seldenus, De synedriis et praefecturis iuridicis veterum Ebraeorum I, London 1650, 559 ff.; s. Jeremias, Zur Datierung der Pastoralbriefe, 102 (= Abba, 314 f.). 23 Die Wiedergabe von mit „Ältestenamt “ bzw. „Presbyteramt “ ist dann angemessen, wenn die jeweils angesprochenen Autoren oder Texte das Wort als Amtsbegriff verwenden. 24 O. Hofius, Zur Auslegungsgeschichte von 1 Tim 4,14, ZNW 62 (1971) 128 f. 25 S. dazu Jeremias, Zur Datierung der Pastoralbriefe, 103 (= Abba, 315) bei Anm. 10. 26 J. Calvin, Christianae religionis institutio (1536), cap. V (Opera selecta I, 1926 = 1963, 217): „Impositionem manuum presbyterii Paulus vocat ordinationem ipsam, qua in episcopatum assumptus erat Timotheus (1 Tim. 4). Quanquam scio presbyterium eo loco a quibusdam accipi, pro coetu seniorum. Sed simplicius, meo iudicio, de ministerio intelligetur.“ 20

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byterus einsetzte.“27 Wenn Calvin in seiner Auslegung von 1Tim 4,14 das Wort auf das Amt des deutet, so stimmt das mit jenem Verständnis überein, das bereits der in der Peschitta gebotenen syrischen Übersetzung des Verses zugrunde liegt. Die Peschitta gibt durch das Wort wieder28, und wie dieses verstanden sein will, kann aufgrund von zwei sprachlichen Beobachtungen nicht zweifelhaft sein. In 1Tim 3,1 – so die erste Beobachtung – erscheint das gleiche Wort als Übersetzung des Begriffs , der hier das Amt des bezeichnet. Als zweite Beobachtung kommt hinzu: An den beiden neutestamentlichen Stellen, an denen sich auf das jüdische Synhedrium und also auf ein Gremium bezieht (Lk 22,66; Apg 22,5), wählt die Peschitta die Wiedergabe mit , der wört29 . Diese Wiedergabe lichen Entsprechung zu dem griechischen erklärt sich nur so, daß dem Übersetzer ein syrisches Äquivalent für den Kollektivbegriff fehlte und daß sich ihm die Verwendung von deshalb nicht nahelegte, weil er diesen Begriff streng als Abstraktum empfand30. 27 J. Calvin, Institutio Christianae religionis (1559), IV 3,16 (Opera selecta V, 21962, 57,24 ff.): „Quod in altera Epistola de impositione manuum presbyterii dicitur (1. Tim. 4,14), non ita accipio quasi Paulus de seniorum collegio loquatur: sed hoc nomine ordinationem ipsam intelligo: quasi diceret, Fac ut gratia quam per manuum impositionem recipisti, quum te presbyterum crearem, non sit irrita.“ Etwas zurückhaltender äußert sich Calvin in seinem Kommentar zum 1. Timotheusbrief (1548); s. Ioannis Calvini in Novum Testamentum Commentarii VII, ed. A. Tholuck, Berlin 41864, 424 zu 4,14: „Presbyterium qui hic collectivum nomen esse putant, pro collegio presbyterorum positum, recte sentiunt meo iudicio. Tametsi omnibus expensis diversum sensum non male quadrare fateor, ut sit nomen officii.“ („Diejenigen, die annehmen, daß presbyterium hier ein Kollektivbegriff sei, der das Kollegium der Presbyter bezeichnet, verstehen nach meinem Urteil richtig. Gleichwohl gestehe ich: Wenn man alles genau abwägt, paßt ein anderer Sinn nicht schlecht, nämlich der, daß das Wort Bezeichnung für das Amt [des Presbyters] ist.“) – P. Johannes Möllerfeld SJ, Frankfurt/M., verdanke ich den Hinweis (Brief vom 25.1.1972), daß auch bereits Dionysius der Kartäuser († 1471) in seinem Kommentar zum 1. Timotheusbrief den Begriff 4,14 auf die Ältestenwürde deutet. Seine Auslegung lautet (Opera omnia 13, 422 f.): „Quae etiam gratia data est tibi cum impositione, id est per impositionem, manuum presbyterii, id est manuum mearum, qui te ordinavi episcopum: per quam impositionem, presbyterium seu sacerdotium tibi collatum est cum gratia sacramentali, quae confertur in sacramentis evangelicae legis. Vel, ponit abstractum pro concreto, videlicet presbyterium pro presbytero.“ Wie dieser Text zeigt, knüpft Calvin in seiner Deutung von 1Tim 4,14 an vorreformatorische Exegese an. 28 Ich notiere das Syrische in hebräischer Schrift – im Anschluß an: The New Covenant. Commonly Called The New Testament. Peshitta Aramaic Text With a Hebrew Translation, Jerusalem 1986, 307. 29 Gleiches gilt für Lk 22,66 im Sinai-Syrer und im Cureton-Syrer. Des weiteren ist auf die Übersetzung von Ignatius, Trall 2,2; Phld 7,1 in dem Fragment Paris. Bibl. Nat. Syr. 38 hinzuweisen. An beiden Stellen wird der das Ältestenkollegium bezeichnende Ausdruck ebenfalls durch wiedergegeben. Den syrischen Text s. bei: W. Cureton, Corpus Ignatianum, Berlin 1849, 198,6 bzw. 199,12; J. B. Lightfoot, The Apostolic Fathers II: S. Ignatius. S. Polycarp. Vol. II. Sect. 2, London 1885, 679 bzw. 680. 30 Das wird dadurch bestätigt, daß die syrische Kirche zur Wiedergabe von = „Kollegium der “ ein eigenes Wort bildet: ; s. K. Brockelmann, Lexicon Syriacum, Halle 21928 = Hildesheim – Zürich – New York 1982, 702b s. v.

179 Aus beiden Beobachtungen folgt: ist in 1Tim 4,14 nicht Bezeichnung für das Kollegium der Ältesten31, sondern das Wort hat hier – nicht anders als zuvor in 1Tim 3,132 – die Bedeutung „Ältestenamt“33. Mithin hat der syrische Übersetzer in 1Tim 4,14 als Amtsbegriff verstanden.

III Die von Daube und Jeremias vertretene These hat in der Exegese kaum Zustimmung gefunden. Ob „zu Recht“34 – und ob diese These sich wirklich „aus sprachlichen und sachlichen Gründen“ verbietet35, wird man fragen dürfen und müssen. Die Einwände jedenfalls, die in der Literatur gegen jene These erhoben wurden, sind alles andere als solide begründet. Ich führe die entscheidenden Argumente an und nehme jeweils zu ihnen Stellung. 1. „Die wenigen jüdischen Belege, in denen (sic!) die Ältesten36 würde bezeichnet, sind unsicher.“ – Dieses Urteil enthält eine inkorrekte Feststellung, weil Jeremias für die Bedeutung „Ältestenwürde“ lediglich einen einzigen jüdischen Beleg namhaft gemacht hat37 und sich dementsprechend auch die von P. Katz geäußerte Kritik ausschließlich auf diesen einen Beleg bezieht38. Es 31 Falsch ist deshalb die Übersetzung „the laying on of the hands of the presbytery“ in: The Holy Bible. From Ancient Eastern Manuscripts. Containing the Old and New Testaments Translated from the Peshitta, The Authorized Bible of the Church of the East. By G. M. Lamsa, Nashville (USA) 221981, 1188. Gleiches gilt für die hebräische Wiedergabe in: The New Covenant, 307: . Richtig gibt dagegen J. Murdock den Text wieder: The Syriac New Testament. Translated into English from the Syriac Peshitto Version. By J. Murdock, Piscataway, NJ 2001 (= Nachdruck der Ausgabe New York 61893 [1. Auflage 1851]), 383: „Despise not the gift that is in thee, which was given thee by prophecy, and by the laying on of the hand of the eldership.“ Vgl. ebd., 381 die Übersetzung von 3,1: „It is a faithful saying, that if a man desireth the eldership, he desireth a good work.“ 32 Hier übersetzt Lamsa korrekt: „the office of an elder“ (The Holy Bible, 1187). 33 Weitere Belege für diese Bedeutung nennt Brockelmann, Lexicon Syriacum, 702b s. v. 4; s. ferner auch: Rituale Melchitarum. A Christian Palestinian Euchologion. Edited and translated by M. Black (BOS 22), Stuttgart 1938, 53 (fol. 22b). 34 So von Lips, Glaube – Gemeinde – Amt, 242. 35 So Roloff, Der erste Brief an Timotheus, 259. 36 Roloff, Der erste Brief an Timotheus, 259, Anm. 193 unter Berufung auf P. Katz (s. Anm. 38). 37 Jeremias, außerchristlich bezeugt, 127 f. 132; Ders., Zur Datierung der Pastoralbriefe, 102 (= Abba, 315). An der zuletzt genannten Stelle führt Jeremias als zweiten „außerchristlichen“ Beleg für die griechische Handschrift L zu Josephus, Contra Apionem II 206 an, er behauptet für diesen Beleg aber keineswegs die Bedeutung „Ältestenwürde“. Das hat von Lips, Glaube – Gemeinde – Amt, 242 übersehen, wenn er in seiner kritischen Stellungnahme zu Jeremias von „zwei“ Belegen spricht, „in denen nicht das Ältestenkollegium, sondern die Ältestenwürde bezeichnet“. 38 P. Katz, The Text of 2 Maccabees reconsidered, ZNW 51 (1960) 10–30, hier 27–30 (Appendix: in I Tim. 4,14 and Susanna 50).

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handelt sich dabei um die varia lectio in Sus 50 ’. Nach Sus 50 ’ 39. sagen die Ältesten zu dem jungen Daniel: 40 Hier hat die Bedeutung „status of an elder“ . Die gleiche Bedeutung ist dann für die Variante anzunehmen, auch wenn es sich bei dieser um eine falsa lectio handeln sollte41. Im übrigen gilt angesichts der sogleich zu nennenden frühchristlichen Belege, daß Sus 50 ’ v. l. keineswegs die Beweislast dafür tragen muß und trägt, daß die Bedeutung „Ältestenwürde“ haben kann. 2. „P. Katz … zeigt, daß es für = Ältestenamt keinen griechischen Beleg gibt.“42 – Diese Feststellung muß deshalb als schlechterdings unbegreiflich bezeichnet werden, weil Jeremias die Behauptung von Katz, daß nicht die Bedeutung „privilege of being a presbyter“ haben könne43, mit dem Hinweis auf drei Belege aus der altkirchlichen Literatur überzeugend widerlegt hat44. Den von ihm genannten Texten lassen sich weitere hinzufügen45. Clemens von Alexandria sagt von dem, der in Wahrheit als ein der Kirche zu gelten hat: „Nicht, weil er Presbyter ist, wird er für gerecht gehalten, sondern weil er gerecht ist, wird er zum Stand der Presbyter gerechnet ( )“46. Für die Aufnahme in den Presbyterstand gebraucht Clemens dann die Wendung 47 . Bei Origenes findet sich die Rede von der Würde des Presbyteramtes ( )48, Athanasius erwähnt den Aufstieg der Diakone , nämlich , d. h. zum Presbyterat49, und Epiphanius nennt als unterschiedliche Stände der Kleriker nebeneinander das und die , den Presbyterat und den Diakonat50. Während Eusebius von dem zum Montanismus übergetretenen Presbyter Florinus sagt, daß er vom kirchlichen Presbyteramt, dem , abgefallen sei51, weiß Sokrates von einem Kleriker zu berichten, der zunächst des 39

So die Textzeugen B 88 410. J. Lust / E. Eynikel / K. Hauspie, Greek-English Lexicon of the Septuagint. Revised Edition, Stuttgart 2003, 512b s. v. 41 So das Urteil von Katz, The Text of 2 Maccabees reconsidered, 27 ff. 42 W. G. Kümmel, Einleitung in das Neue Testament, Heidelberg 211983, 336 Anm. 37. 43 Katz, The Text of 2 Maccabees reconsidered, 29. 44 Jeremias, Zur Datierung der Pastoralbriefe, 103 (= Abba, 315). Jeremias zitiert dort: Eusebius, Historia ecclesiastica VI 8,4; Kanon XVIII des Konzils von Ancyra (314); Kanon II des Konzils von Nicaea. 45 Vgl. E. A. Sophocles, Greek Lexicon of the Roman and Byzantine Periods, Cambridge, Mass. und Leipzig 1914 = Hildesheim – Zürich – New York 21983, 916b s. v. 3; G. W. H. Lampe, A Patristic Greek Lexicon, Oxford 51978, 1129b s. v. II. 46 Clemens Alexandrinus, Stromateis VI, XIII 106,2. 47 Clemens Alexandrinus, Stromateis VI, XIII 107,3. 48 Origenes, Commentarii in Matthaeum XV 26. 49 Athanasius, Apologia contra Arianos 47. 50 Epiphanius, Panarion LXVIII 2,1. 51 Eusebius, Historia ecclesiastica V 15. 40

181 – des Presbyteramtes – gewürdigt und sodann zur – zum Bischofsamt – erhoben wurde52. Im 8. Buch der Apostolischen Konstitutionen begegnet in einem der Gemeindegebete die Bitte, Gott möge den „ein unversehrtes und ehrenvolles Presbyteramt gewähren“ ( … )53. Das gleiche Buch enthält auch ein Gebet, das bei der Ordination eines Priesters gesprochen und in dem Gott angerufen wird: „Blicke gnädig auf diesen deinen Diener, der gemäß Beschluß und Urteil des gesamten Klerus an das Presbyteramt übergeben wurde“ ( )54. – Der Quellenbefund ist eindeutig: Daß die Bedeutung „Ältestenwürde“ oder „Ältestenamt“ haben kann, steht außer jedem Zweifel55, und diese Bedeutung ist keineswegs „erstmals bei Eusebius von Caesarea nachweisbar“56. 3. Gegen die von Daube und Jeremias vertretene Deutung spricht, daß als Übersetzung eines rabbinischen Fachausdrucks „einem griechischen Leser unverständlich sein mußte“57. – Diese sehr zuversichtlich geäußerte Behauptung ist in Wirklichkeit nicht mehr als ein rein subjektives Urteil. Denn über die Frage, was in frühchristlicher Zeit im Sprachraum der Kirche für einen griechischen Leser verständlich war und was nicht, lassen sich allenfalls Vermutungen anstellen, nicht aber sichere Erkenntnisse gewinnen. 4. Die Übersetzung „Handaufstemmung, die zum Ältesten macht“ ist für 1Tim 1,14 auszuschließen, weil mit ihr eine Wortbedeutung angenommen wird, die „dem sonstigen nt. Gebrauch von widerspricht“58. – Das ist schon deshalb kein überzeugendes Argument, weil (a) das Postulat eines einheitlichen neutestamentlichen Sprachgebrauchs eine petitio principii darstellt, (b) das Nomen im Neuen Testament überhaupt nur dreimal vorkommt, (c) die beiden weiteren Belege sich bei einem anderen Autor finden (Lk 22,66; 52

Socrates, Historia ecclesiastica VII 41. Apostolische Konstitutionen VIII 10,8. 54 Apostolische Konstitutionen VIII 16,4. Daß hier das Amt bezeichnet, wird durch die parallele Bitte im Gebet bei der Ordination eines Diakons bestätigt (VIII 18,2): „Laß dein Angesicht leuchten über diesem deinem Diener, der für dich zum Diakonat auserwählt wurde“ ( ). 55 , Athen 1972, 824a gibt für mit Recht die beiden folgenden Bedeutungen an: 1. , 2. ( ) . 56 So die Behauptung von Hanson, Handauflegung, 419,56 f. 57 Kümmel, Einleitung in das Neue Testament, 336. Unter Hinweis auf Kümmel, aber etwas vorsichtiger formuliert Roloff, Der erste Brief an Timotheus, 259 Anm. 193: „Ein solcher rabbinischer terminus technicus war für griech. Leser kaum verständlich.“ Sachlich ebenso äußert sich von Lips, Glaube – Gemeinde – Amt, 242. 58 Kümmel, Einleitung in das Neue Testament, 336. 53

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Apg 22,5) und (d) das Wort bei Lukas das jüdische Synhedrium bezeichnet, so daß keineswegs die gleiche Semantik vorliegt, wie sie im Falle der Bedeutung „Kollegium der Ältesten“ in 1Tim 4,14 zu verzeichnen wäre. 5. Spräche 1Tim 1,14 von der Handaufstemmung zur Verleihung der Ältestenwürde, so „wäre damit impliziert, daß Timotheus als Presbyter angesehen würde, was er aber nach 4,12; 2Tim 2,22 gerade nicht ist“59. – Dieser Einwand beruht auf einer Äquivokation, insofern nämlich nicht zwischen als Altersbezeichnung einerseits und als Würdetitel andererseits unterschieden wird. Daß Timotheus den Aussagen von 1Tim 4,12 und 2Tim 2,22 zufolge noch ein junger Mann ist, schließt selbstverständlich in gar keiner Weise aus, daß ihm die Würde eines „Ältesten“ zuerkannt wurde60.

IV Die Zurückweisung der im Vorigen aufgelisteten Einwände bedeutet nicht eo ipso die Bejahung der These, daß in 1Tim 4,14 die Wiedergabe des rabbinischen Terminus technicus ist. Diese These ist vielmehr noch einmal gesondert in den Blick zu fassen. Zunächst sei in aller Kürze der sprachliche Befund dargestellt: Die Ausdrücke und entsprechen ohne Zweifel den hebräischen Termini („Handaufstemmung“) und („die Hände aufstemmen“), mit denen in bSanh 13b.14a die Ordination zum Schriftgelehrten bezeichnet wird61; und wie die griechischen Ausdrücke dem Septuagintatext von Num 27,18.23 verpflichtet sind, so die rabbinischen dem hebräischen Text dieser Verse62. Was nun die von Daube und Jeremias zur Interpretation von 1Tim 59

Roloff, Der erste Brief an Timotheus, 259 Anm. Vgl. I. H. Marshall, A Critical and Exegetical Commentary on The Pastoral Epistles (ICC), Edinburgh 1999, 569. 61 Zum Verbum s. ferner Sanh 4,4; bJoma 87a; b‘AZ 8b sowie das ebenfalls in bSanh 13b.14a sowie in bPes 49a; bBM 85b begegnende aramäische Äquivalent . Als Substantiv ist neben auch der Begriff (TosSanh 1,1; jSanh I 19a,47 f.) bzw. (jSanh I 19a,48) zu nennen. Vgl. die entsprechenden Artikel bei M. Jastrow, A Dictionary of the Targumim, the Talmud Babli and Yerushalmi, and the Midrashic Literature, New York – Berlin 1926 = New York 1950, II 1000 f.; außerdem P. Billerbeck, Kommentar zum Neuen Testament aus Talmud und Midrasch II, München 1924 = 21956, 648. 62 Num 27,18: / 27,23: . Daß es sich in den rabbinischen Texten bei bloßem , usw. um Abbreviaturen für , usw. handelt, kann aufgrund der jeweiligen Aussagezusammenhänge – wie auch aufgrund des gleichen Befundes bei der Verwendung von und zur Bezeichnung der Handaufstemmung bei Opferhandlungen (s. Anm. 64) – nicht fraglich sein. Es ist deshalb falsch, wenn Hanson, Handauflegung, 417,25 f. aus der Feststellung, daß in Sanh 4,4 par. bSanh 37a das Verb „absolut, ohne Nennung der Hände“ steht, die Folgerung zieht: „Es bedeutet daher ‚einsetzen‘ und nicht durch Handauflegung ‚ordinieren‘.“ 60

183 4,14 herangezogenen Status-constructus-Verbindung (bSanh 13b)63 anlangt, so entspricht diese im Gesamtzusammenhang von bSanh 13b.14a der Verbindung des Verbums mit dem Akkusativobjekt . Da die Verbalphrase die Bedeutung „Älteste ordinieren“ = „zu Ältesten ordinieren“ hat, kann der Sinn des Ausdrucks nur sein: „die Ordination zu Ältesten“64. Will man diesen Ausdruck ins Griechische übersetzen, so scheidet für die Wahl des Genitivs ( ) aus, da dieser nur als ein Genitivus subjectivus verstanden werden könnte. Es müßte deshalb ein Abstraktbegriff gewählt werden, und so wäre als Wiedergabe von in der Tat die Formulierung denkbar. Nun darf allerdings nicht übersehen werden, daß es kein Indiz dafür gibt, daß der rabbinische Ausdruck bereits in neutestamentlicher Zeit in Gebrauch war. Von daher habe ich Bedenken, in der Wendnung eine Wiedergabe von zu erblicken und mit Jeremias zu urteilen: „Die älteste Kirche hat also mit dem Ritus der Ordination auch den terminus technicus zu ihrer Bezeichnung aus dem Judentum übernommen.“65 Trotz diesen Bedenken halte ich jedoch die Übersetzung der griechischen Wendung mit „Handaufstemmung zur Verleihung der Ältestenwürde“ für richtig, weil diese keineswegs mit der These steht und fällt, daß wir es in 1Tim 4,14 mit der Wiedergabe eines hebräischen Fachausdrucks zu tun haben. Nimmt man für die sprachlich mögliche Bedeutung „Ältestenwürde“ / „Ältestenamt“ an, so kann der Genitiv sehr wohl als ein Genitivus finalis gelesen werden66. Den Beweis dafür liefern drei Texte, in denen das Wort – also ein Synonym zu – bzw. der die Ordination bezeichnende Begriff jeweils mit einem finalen Genitiv verbunden ist. Eusebius erwähnt in seiner Kirchengeschichte zweimal die Ordination des Origenes durch die Bischöfe von Cäsarea und Jerusalem67. An der ersten Stelle heißt es: , „sie haben ihm die Hände zum Presbyteramt aufgelegt“; an der zweiten Stelle wird das glei63

Dafür in TosSanh 1,1: . Vgl. Billerbeck II 653 Anm. 2: = „das Ordinieren zu Ältesten“. Im Unterschied zu heißt (Sanh 1,3; jSanh I 19a,33; bSanh 13b) „die Handaufstemmung seitens der Ältesten“, und dieser Ausdruck bezeichnet im Anschluß an Lev 4,15 die beim Sündopfer von den Ältesten vollzogene Aufstemmung der Hände auf den Kopf des Opfertiers. 65 Jeremias, Zur Datierung der Pastoralbriefe, 103 (= Abba, 316). 66 Zum adnominalen Genitiv des Zwecks (oder der Wirkung) s. BDR § 166,1 mit Anm. 1. Genannt seien die folgenden Belege: / „Auferstehung zum Leben / Auferstehung zum Strafgericht“ Joh 5,29; „Freispruch zum Leben“ Röm 5,18; „das Band, das zur Vollkommenheit führt“ Kol 3,14; „die Strafe, die uns Frieden brachte“ Jes 53,5 LXX. Vielleicht gehört auch Tit 3,5 hierher („Bad zur Wiedergeburt“), so daß wir in den Pastoralbriefen einen weiteren Beleg für den Genitivus finalis hätten. 67 Eusebius, Historia ecclesiastica VI 8,4; 23,4. 64

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68 che Geschehen mit den Worten beschrieben: (v. l. ) … , „er empfängt die Handauflegung zum Presbyteramt“. Der präpositionale Ausdruck und der Genitiv bzw. haben also den gleichen finalen Sinn: „zur Übertragung des Presbyteramtes“69. Clemens von Alexandria nimmt in seiner Schrift „Der Pädagoge“ auf den Bericht von der Kindersegnung Jesu Mk 10,13–16 Bezug und gibt dabei den Anfang der Erzählung so wieder: … . In diesem Satz haben sowohl die präpositionale Wendung wie auch der auf sie folgende Genitiv finalen Sinn: Die Kinder werden zu Jesus gebracht, damit er ihnen die Hände auflege, und diese Handauflegung wird „zum Segen“, d. h. zur Erteilung des Segens erbeten70. Theodoret von Kyros schließlich gebraucht in einem seiner Briefe die Formulierung „die Ordination zum Priesteramt“71; auch hier ist der finale Sinn des Genitivs evident.

V Blicken wir auf die bisherigen Überlegungen zurück, so ist zu sagen: Daß in 1Tim 4,14 das Gremium der bezeichnen kann, steht außer Frage72. Dann aber wäre ein Widerspruch zu der Aussage von 2Tim 1,6 zu konstatieren, für den die Exegese bislang keine befriedigende Erklärung zu geben vermocht hat. Ein solcher Widerspruch besteht dagegen nicht, wenn man – was sprachlich durchaus möglich ist – für die Bedeutung „Ältestenwürde“ annimmt und mithin in 1Tim 4,14 die Weisung findet: „Laß die Gnadengabe in dir nicht außer acht, die dir infolge eines Prophetenwortes73 unter Handaufstemmung zur [Verleihung der] Ältestenwürde gegeben worden ist.“ Bei diesem Verständnis fügt sich der Satz 1Tim 4,14 hervorragend in den Kontext der Verse 4,12–16 ein. Das , das Timotheus bei seiner Ordination empfangen hat, befähigt ihn zu eben jenem Dienst, der unmittelbar zuvor in V. 13 im Blick ist, wenn es dort heißt: 68 S. Eusebius Werke II: Die Kirchengeschichte. Zweiter Teil, hg. von E. Schwartz / Th. Mommsen (GCS 9.2), Leipzig 1908, 570. 69 Vgl. sprachlich die Identität der beiden Wendungen 2Makk 7,14 und Joh 5,29. 70 Clemens Alexandrinus, Paedagogus I, V 12,3. Von der Handauflegung zur Erteilung des Segens ist auch die Rede, wenn Clemens die Frage formuliert: ; ; (ebd. III, XI 63,1). 71 Theodoret von Kyros, Epistola LXXXI (SC 98, 194,23). 72 Das stellt ausdrücklich auch Jeremias fest: außerchristlich bezeugt, 128. 73 Zu c. gen. von der Veranlassung („kraft“, „infolge“) vgl. Röm 12,3; Gal 1,15; 4,23; Phm 22.

185 . Die ihm von Gott verliehene Gnadengabe wird demnach dann angemessen zur Wirkung kommen, wenn er den kleinasiatischen Gemeinden durch Lesung74, Predigt75 und Unterweisung76 das Evangelium bezeugt, das – als Gottes eigenes Wort77 – ihm selbst und denen, die ihn hören, das eschatologische Heil erschließt (V. 16). Dieses Evangelium, zu dessen Verkündiger und Lehrer Paulus als der in einmaliger und grundlegender Weise berufen worden ist78, kommt in Gestalt dessen zur Sprache, was die Pastoralbriefe die „gesunde (d. h. rechte) Lehre“ nennen79. Inhalt der Lehre 80 81 , als oder ist die Glaubenswahrheit, die in den Briefen als 82 bezeichnet wird. Daß es sich dabei in erster Hinsicht um die auch als christologisch-soteriologischen Sachverhalte handelt, zeigen solenne Texte wie 1Tim 1,15; 2,5 f.; 3,16; 2Tim 1,9 f.; 2,8; Tit 2,13 f.; 3,4–7. Mit dem Begriff der „gesunden Lehre“ verbindet sich in den Pastoralbriefen betont der Gedanke der apostolischen Lehrsukzession: Paulus hat das ihm von Gott selbst übergebene Evangelium an seinen Schüler Timotheus weitergegeben, und dieser soll es nun seinerseits „zuverlässigen Personen“ anvertrauen, „die dazu geeignet sein werden, wieder andere zu unterweisen“83. Daß der Apostelschüler verpflichtet ist, die unverfälscht zu „bewahren“, daran wird er in beiden an ihn gerichteten Briefen eindringlich erinnert84. Und nicht nur in 2Tim 1,13 f., sondern ebenso auch in 1Tim 4,13 kommt deutlich zum Ausdruck: Gerade darin, daß Timotheus in Treue an der bleibend verbindlichen „Lehre“ festhält und so das verbi divini ministerium verantwortlich wahrnimmt, erweist er sich als der authentische Nachfolger des Apostels85. Es geht somit in 1Tim 4,12–16 keineswegs 74 Mit der gottesdienstlichen dürfte nicht nur die Schriftlesung aus dem Alten Testament, sondern auch die Verlesung von Briefen des Paulus gemeint sein; vgl. dazu etwa Roloff, Der erste Brief an Timotheus, 254; Oberlinner, Die Pastoralbriefe I, 206 f. 75 Zu als Ausdruck für die Predigt vgl. Apg 13,15; Hebr 13,22. 76 Zu in der Bedeutung „Unterweisung“ s. auch 1Tim 5,17; Tit 2,7 (vgl. Röm 12,7). 77 2Tim 2,9; Tit 1,3; 2,5. 78 1Tim 1,11; 2,7; 2Tim 1,8–11. 79 Der Begriff der begegnet 1Tim 1,10; 2Tim 4,3; Tit 1,9; 2,1 (vgl. 1Tim 6,3; 2Tim 1,13). S. ferner die folgenden Wendungen: 1Tim 4,6; 1Tim 6,3; Tit 2,10. 80 1Tim 2,4; 3,15; 4,3; 6,5; 2Tim 2,15.18.25; 3,7 f.; 4,4; Tit 1,1.14. 81 Zu im Sinne der fides quae creditur s. 1Tim 2,7; 3,9; 4,1.6; 5,8; 6,10. 82 1Tim 3,16 ( steht hier als Synonym zu 3,9). Auch in 1Tim 6,3 und in Tit 1,1 meint nicht die Frömmigkeit, sondern die Glaubenswahrheit. 83 2Tim 1,13 (im Kontext der Verse 1,12–14); 2,2. 84 1Tim 6,20; 2Tim 1,14 (vgl. 3,14). 85 In 1Tim 4,13 wird durch die Worte signalisiert, daß Timotheus als Verkündiger und Lehrer des Evangeliums der Repräsentant – und das heißt: der Nachfolger des Paulus ist. Daß Timotheus in das Amt des Apostels (im Sinne von 1Tim 2,7; 2Tim 1,11) eintritt, ist damit selbstverständlich nicht impliziert.

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allgemein um den Gemeindeleiter und seine Aufgaben, sondern dezidiert um Timotheus und seine besondere Beziehung zu seinem Lehrer. Dieser Tatbestand aber liefert ein gewichtiges sachlich-inhaltliches Argument für die Annahme, daß in 1Tim 4,14 vorausgesetzt ist, was in 2Tim 1,6 gesagt wird: daß Paulus seinem Schüler und Nachfolger Timotheus die Ordination erteilt hat.

Theologie

Die Einzigartigkeit der Apostel Jesu Christi I Der verehrte Athener Kollege, dem der vorliegende Aufsatz in freundschaftlicher Verbundenheit gewidmet ist, hat im Rahmen einer exegetischen Diskussion über die Verse 1Kor 14,37 f. mit Nachdruck bemerkt, daß vom neutestamentlichen Zeugnis her zwischen der Autorität der Apostel Jesu Christi einerseits und der Autorität aller Amtsträger und Lehrer der Kirche andererseits scharf unterschieden werden müsse1. „Die Autorität der Apostel“ – so heißt es in jenem Votum – „ist etwas einmaliges, wie auch das Evangelium einmalig ist. Und diese Autorität beruht auf der Vokation der Apostel seitens des Christus.“2 Und: „Was die Apostel … geschrieben haben, besitzt eine Autorität, die sonst nichts in der Kirche haben kann, auch nicht ein Dekret einer kirchlichen Behörde, auch nicht ein Kanon eines ökumenischen Konzils. Nichts kann der Autorität des Evangeliums gleichgesetzt werden.“3 Daß die zitierten Sätze voll und ganz in dem begründet sind, was sich dem Corpus Paulinum über das Apostel-Verständnis des Paulus und entsprechend auch über sein eigenes apostolisches Selbstverständnis entnehmen läßt, kann im ausgezeichkeinem Zweifel unterliegen4. Spricht Paulus von den neten Sinn5, so ist der begrenzte Kreis jener einmaligen und einzigartigen Augenzeugen gemeint, denen Jesus als der von den Toten auferstandene Herr in den Ostererscheinungen sich selbst – seine Person und sein Werk – erschlossen hat und die aufgrund dieser Selbsterschließung zuverlässig wissen und verbindlich sagen können, wer der gekreuzigte und auferstandene Christus ist und was es mit seinem Tod und seiner Auferstehung auf sich hat6. Die Apostel sind nach 1

G. Galitis in: L. De Lorenzi (Hg.), Charisma und Agape (1 Ko 12–14) (SMBen.BE 7), Rom 1983, 268 f. 2 Ebd., 268. 3 Ebd., 269. 4 Zum paulinischen Verständnis eines s. besonders den grundlegenden Text 1Kor 15,1–11, zum Selbstverständnis des Paulus außerdem vor allem Röm 1,1 ff.; 1Kor 3,10 f.; 9,1 f.; 2Kor 2,14–7,4; Gal 1,1.11 f.15 f. 5 Bei Paulus selbst wie auch in seiner Schule findet sich dafür der Ausdruck : 1Kor 1,1; 2Kor 1,1; Eph 1,1; Kol 1,1; 1Tim 1,1; 2Tim 1,1. S. ferner auch 2Kor 11,13 bzw. 1Thess 2,7 sowie Tit 1,1. 6 Neben dem theologisch gefüllten -Begriff findet sich bei Paulus in 2Kor 8,23 und Phil 2,25 ein allgemeiner Sprachgebrauch: Hier bezeichnet das Wort den mit einer bestimmten und zeitlich wie sachlich begrenzten Aufgabe betrauten „Abgesandten“ einer Gemeinde.

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der Überzeugung des Paulus und seiner Schüler die authentischen Christuszeugen, die gültig die „Wahrheit des Evangeliums“ zur Sprache bringen7. Als solche sind sie – wie es dann im Epheserbrief heißen wird – das durch den „Eckstein“ Jesus Christus bestimmte, ausgerichtete und festgelegte „Fundament“, auf dem die Kirche erbaut ist (Eph 2,20). Die einzigartige Autorität der ganz und gar an das Evangelium gebundenen Apostel8 gründet in der einzigartigen Autorität eben dieses Evangeliums selbst – des Evangeliums als des aller Verkündigung und Lehre der Kirche verbindlich vorgegebenen „Wortes Gottes“9. Auch außerhalb der Paulusbriefe ist in zentralen neutestamentlichen Texten von dem begrenzten Kreis der einzigartigen apostolischen Christuszeugen die Rede10. Dabei handelt es sich keineswegs nur um solche Texte, in denen jene Zeugen ausdrücklich als bezeichnet werden. Der vierte Evangelist etwa hat den genannten Kreis im Blick, wenn er den Lesern seines Evangeliums die von Jesus erwählten und mit ihm ursprunghaft verbundenen vor Augen stellt, denen der Sohn sich selbst und in solcher Selbsterschließung zugleich den Vater – Glauben und Erkenntnis wirkend – geoffenbart hat (Joh können in apostolischer Vollmacht 17,1–2611; 20,19–29). Einzig diese sagen: (20,25), und auf ihr Zeugnis gründen sich diejenigen, die „durch ihr Wort“ zum Glauben an Christus kommen (17,20) und also „nicht sehen und doch glauben“ (20,29b)12. Eine Stimme aus dem Kreis der im Corpus Johanneum vorausgesetzten einmaligen wird in der Einleitung des Ersten Johannesbriefs laut, wenn dort in höchst gewichtigen Aussagen von der apostolischen Augenzeugenschaft und der darin begründeten apostolischen Autorität gesprochen wird (1Joh 1,1–4)13. 7 Zum Begriff der (Gal 2,5.14) s. O. Hofius, „Die Wahrheit des Evangeliums“. Exegetische und theologische Erwägungen zum Wahrheitsanspruch der paulinischen Verkündigung, in: Ders., Paulusstudien II (WUNT 143), Tübingen 2002, 17–37. 8 S. dazu Röm 1,1, wo Paulus auf die Selbstbezeichnung als eine weitere folgen läßt, die eindrucksvoll die absolute Bindung an das Evangelium zum Ausdruck bringt: (vgl. auch 1Kor 9,16). Zum Reflex in den Pastoralbriefen s. 1Tim 2,7; 2Tim 1,11. 9 Zum als „Wort Gottes“ und zur Unterscheidung von Evangelium und Verkündigung bei Paulus s. O. Hofius, Paulusstudien (WUNT 51) 21994, 26 ff. 150 ff.; Ders., ' in: ' , Veria 1997, 149–163. 10 S. außer den in diesem Aufsatz bedachten bzw. angesprochenen Texten u. a.: Mt 16,13–20; 18,18; 28,16–20; Hebr 2,3; 2Petr 1,16–18; Offb 21,14. 11 Wie etwa die Verse 4 ( ), 11a ( ), 12 ( ) und 24 ( ) erkennen lassen, setzt das Gebet Joh 17 theologisch den Tod und die Auferstehung Jesu voraus. 12 Daß das Johannesevangelium selbst den Anspruch erhebt, das Dokument eines einzigartigen „apostolischen“ Zeugnisses zu sein (s. etwa 19,35; 20,30 f.), sei nur eben angemerkt. 13 Eine besonders tiefe Auslegung des Textes bietet G. Bornkamm, 1. Joh. 1,1–4, GPM II/1 (1947) 30–34. Dort heißt es u. a. (33): „Die Fleischwerdung Gottes in Jesus Christus bindet die Kirche aller Zeiten ein für allemal an das Zeugnis der Augenzeugen.“ Und ferner (ebd.): „Die

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Neben den Paulusbriefen und den johanneischen Texten ist als ein prominenter Beleg für den Gedanken der einmaligen Autorität der Apostel Jesu Christi vor allem auch das lukanische Doppelwerk zu nennen. Daß Lukas den solennen Begriff des auf den Kreis der „Zwölf“ beschränkt und diesen Titel mithin dem – für ihn ja in jeder Hinsicht bedeutenden – Paulus vorenthält, ist ein merkwürdiges Phänomen, das jetzt nicht erörtert werden kann und muß14. Wichtig ist im Rahmen unserer Überlegungen einzig die Feststellung, daß der paulinische Apostel-Begriff, für dessen Semantik die Begegnung mit dem auferstandenen Herrn und die ausdrückliche Berufung durch ihn konstitutiv sind, bei Lukas durchaus seine Entsprechung hat – nämlich im Begriff des , des „Zeugen“15. Dieser Begriff ist im lukanischen Doppelwerk weder ein allgemein auf alle Christen übertragbarer Ausdruck noch auch ein Terminus technicus für den missionarischen Verkündiger schlechthin. „Zeugen“ sind für Lukas vielmehr einzig und allein diejenigen, die – aufgrund besonderer Erwählung durch Gott bzw. durch Christus16 – in einmaliger und vor der Parusie unwiederholbarer Weise durch ein Sehen und Hören des auferstandenen Herrn ausgezeichnet wur18 den17. Als in diesem Sinn gelten Lukas lediglich die zwölf 19 sowie als dreizehnter und letzter Zeuge der vor Damaskus berufene Paulus . Daß die den Auferstandenen gesehen und gehört haben, wird in den beiden – sogleich genauer zu bedenkenden – Berichten Lk 24,36–49 und Apg 1,1–8 dargelegt und sodann in Apg 10,40–42 mit dem Hinweis auf sein Erscheinen und Reden sowie in Apg 13,31 durch die bloße Erwähnung seines Erscheinens noch einmal herausgestellt. Ganz analog wird von Paulus in Apg 22,14 f. das Sehen wie Hören und in Apg 26,16 das Sehen ausgesagt. Das Verhältnis des Paulus zu den , wie es in dieser Parallelität zum Ausdruck kommt, hat Christoph Augenzeugenschaft gibt den Aposteln … einen unwiederholbaren Rang und eine für die Kirche fundamentale Bedeutung.“ 14 Wenn in Apg 14,4.14 Paulus und Barnabas genannt werden, so handelt es sich nicht um den spezifisch lukanischen „Apostel“-Begriff. Das Wort, das Lukas hier vielleicht aus einer von ihm verwendeten Quelle übernimmt, bezeichnet vielmehr – analog zu dem Sprachgebrauch von 2Kor 8,23; Phil 2,25 – den Abgesandten einer Gemeinde. Von der entsprechenden Aussendung des Paulus und des Barnabas durch die Gemeinde in Antiochia war Apg 13,1 ff. berichtet worden. 15 Lk 24,48; Apg 1,8.22; 2,32; 3,15; 5,32; 10,39.41; 13,31; 22,15; 26,16. 16 Erwählung durch Gott: Apg 10,41; 22,14 (auch 1,24b), durch den erhöhten Christus: Apg 26,16. 17 Zum spezifisch lukanischen Begriff des „Zeugen“ s. die ausgezeichneten Darlegungen bei Chr. Burchard, Der dreizehnte Zeuge. Traditions- und kompositionsgeschichtliche Untersuchungen zu Lukas’ Darstellung der Frühzeit des Paulus (FRLANT 103), Göttingen 1970, 130 ff. – Der spezifisch lukanische Begriff des „Zeugen“ liegt nicht Apg 22,20 vor, wenn dort Stephanus im Blick auf seinen Märtyrertod als Christi bezeichnet wird (vgl. dazu Offb 2,13). 18 Das heißt: die elf in Apg 1,13 Aufgezählten und der von Gott selbst als Ersatz für Judas Ischarioth ausgewählte Matthias (Apg 1,15–26; s. besonders V. 21 f.). 19 Die Zwölf: Lk 24,48; Apg 1,8.22; 2,32; 3,15; 5,32; 10,39.41; 13,31 (vgl. auch 4,33). – Paulus: Apg 22,15; 26,16 (vgl. auch 22,18; 23,11).

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Burchard präzise beschrieben; ihm sei deshalb zu einem längeren Zitat das Wort gegeben: „Nach Lukas wird Paulus durch seine Berufung … in ein bestimmtes, keineswegs nur negatives Verhältnis zu den zwölf Aposteln gesetzt. Einerseits sind die Zwölf für Lukas ein geschlossenes, nicht erweiterungs- und auch nicht fortsetzungsfähiges Gremium, zu dem Paulus nicht gehört und nicht gehören könnte; er ist weder vom irdischen Jesus selbst ausgewählt worden, noch erfüllt er die Bedingung von Apg 1,21 f. Da nur die Zwölf Apostel sind und heißen, ist und heißt Paulus bei Lukas nicht Apostel, dies im Gegensatz zu seinem eigenen nachdrücklichen Anspruch. Wenn Lukas aber andererseits seine Berufung in Apg 22,14 f. und 26,16–18 als Erwählung zum Zeugen dessen, ‚was er sah und hörte‘, interpretiert, dann legt er Paulus eine apostolische Eigenschaft bei, die das Amt der Zwölf in seiner Einmaligkeit und Fundamentalität stärker kennzeichnet als der Aposteltitel und die Teilnahme an der irdischen Wirksamkeit Jesu. Paulus ist nicht einer von ihnen, aber er ist derselbe wie sie.“20 Genauere Auskünfte über das lukanische Verständnis des finden sich sowohl am Ende des Lukasevangeliums wie auch am Beginn der Apostelgeschichte (Lk 24,36–49; Apg 1,1–8). Die Texte schildern das die Zeugenschaft der elf begründende Offenbarungsgeschehen, und dort wie hier folgt dann ganz unmittelbar der Bericht über die sog. „Himmelfahrt“ Jesu (Lk 24,50 f.; Apg 1,9–11). Wenn Lukas den beiden Ereignissen eine doppelte Darstellung widmet, so zeigt dies zweifellos die fundamentale Bedeutung an, die er ihnen beimißt. Und wenn der Bericht über die Berufung der Zeugen jeweils fest mit demjenigen über die „Himmelfahrt“ des auferstandenen Herrn verbunden wird, so stellt sich die Frage, ob darin ein besonderer theologischer Aussagewille zu erkennen ist. Das in den beiden Berichten Lk 24,36–49 und Apg 1,1–8 über die Zeugen Gesagte soll im Folgenden – in strenger Konzentration auf das Wesentliche – nachgezeichnet und sodann in einer die entscheidenden Aussagen bündelnden Gesamtbetrachtung festgehalten werden.

II Der Textkomplex Lk 24,36–49, bei dem eingesetzt sei, bietet im Anschluß an den Erscheinungsbericht V. 36–43 die Abschiedsworte des Auferstandenen V. 44–49. Die Adressaten dieser Worte wären, wenn man von V. 33–35 her argumentieren wollte, (V. 33) sowie die beiden Emmausjünger. Aufgrund der Angabe von Apg 1,2 wird man jedoch vermuten dürfen, daß Lukas einzig an die elf „Apostel“ als Hörerkreis denkt21. 20 Burchard, Der dreizehnte Zeuge, 135 f. (Hervorhebung von mir). Vgl. auch J. Roloff, Die Apostelgeschichte (NTD 5), Göttingen 2(18)1988, 353 zu Apg 26,16. 21 So mit Recht Burchard, Der dreizehnte Zeuge, 132 mit Anm. 301.

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Die Abschiedsworte werden eröffnet durch eine Belehrung über das Heilshandeln Gottes in Jesus Christus (V. 44–47)22. Der Auferstandene erinnert die Jünger an seine früheren Ankündigungen, daß „alles erfüllt werden“ müsse, was in der Heiligen Schrift über ihn „geschrieben“ sei (V. 44)23. „Geschrieben“ und also prophetisch angekündigt ist der Heilsplan Gottes, der nach V. 46 f. zweierlei umfaßt: zum einen das Heilsgeschehen des Sterbens24 und der Auferstehung des Christus25, zum andern die an alle Völker und also an Juden wie Heiden ergehende Umkehrpredigt, d. h. die Verkündigung des in der Sündenvergebung bestehenden Heils, das in dem „Namen“ – will sagen: in der Person und in dem Werk – des gekreuzigten und auferstandenen Christus begründet ist26. Welche alttestamentlichen Texte Lukas vor allem vor Augen hat, läßt sich seinem Doppelwerk unschwer entnehmen27. Theologisch bringt der Verweis auf das Alte Testament die Erkenntnis zur Sprache, daß Jesu Tod und Auferstehung keineswegs zufällige, sondern von Gott her notwendige Ereignisse sind. Jesus erlitt den Kreuzestod, weil er nach Gottes Willen zum Heil der Verlorenen sterben „mußte“28; eben deshalb war es „unmöglich“, daß er vom Tode „festgehalten“ werden konnte29. 22 Die Worte = „von Jerusalem an“ V. 47b sind gegen die bei Nestle /Aland, Novum Testamentum Graece27 und im Greek New Testament4 gebotene Interpunktion mit V. 47a und nicht mit V. 48 zu verbinden. Zu als der lectio difficilior s. etwa I. H. Marshall, The Gospel of Luke. A Commentary on the Greek Text (NIGTC), Exeter 1978, 906, und zur Syntax BDR § 419,3 mit Anm. 3 (auch § 137,3 mit Anm. 3). – Der unzutreffenden Interpunktion folgt leider die Lutherbibel von 1984, die V. 47b mit V. 48 verbindet und außerdem die Worte V. 48 zu Unrecht als Befehl interpretiert: „Fangt an in Jerusalem, und seid dafür Zeugen.“ M. Luther selbst hatte – dem Textus receptus folgend – das Richtige: „… und anheben zu Jerusalem. Ihr aber seid des alles Zeugen“. Gleiches gilt für die von der herausgegebene zweisprachige Ausgabe: , Athen 2003, 207. 23 Als frühere Ankündigungen s. etwa Lk 18,31–33; 22,37. – Die Wendung V. 44b, die der Dreiteilung des jüdischen Schriftkanons entspricht, meint wie V. 45 die Schrift als ganze. 24 Das absolut gebrauchte Verbum hat bei Lukas die Bedeutung „den Tod erleiden“, „sterben“; s. außer unserer Stelle: Lk 22,15; Apg 1,3; 3,18; 17,3; 26,23. 25 Vgl. Lk 18,31–33; 22,37; 24,25–27; Apg 3,18a; 13,26 ff.; 17,2 f.; 26,22 f. 26 Vgl. Apg 2,38 f.; 3,19 ff.; 5,30 f.; 10,43; 13,26 ff.; 26,22 f. 27 Jesu Passion: Jes 53 (s. Lk 22,37; Apg 8,30 ff.); seine Auferstehung: Ps 16[15],8–11 (s. Apg 2,24 ff.; 13,34 ff.) sowie Ps 2,7 (s. Apg 13,32 f.), Ps 110[109],1 (s. Apg 2,32 ff.), Ps 118[117],22 (s. Apg 4,11) und Jes 52,13 LXX (s. Apg 3,13); die weltweite Verkündigung des in Christus beschlossenen Heils: Jes 42,6 / 49,6 / 52,10 (s. Lk 2,30–32; Apg 13,47; 26,23). Wenn die alttestamentlichen Texte vom Glauben an Jesus Christus her als Weissagungen auf Jesus Christus hin gelesen werden, so entspricht das dem in Lk 24,45 (vgl. V. 32) angesprochenen hermeneutischen Grundsatz, daß der auferstandene Herr den Sinn und somit das rechte Verständnis der Schrift erschließt. 28 Vgl. Lk 9,22; 17,25; 18,31–33; 22,22a.37.42; 24,7.26.44; Apg 2,23; 3,18; 4,28; 13,27 ff.; 17,2 f.; 26,22 f. Zur Heilsbedeutung des Todes Jesu ist auf die für Lukas höchst gewichtigen Aussagen Lk 22,19 f. und Apg 20,28 hinzuweisen; s. zu diesen beiden Texten O. Hofius, Jesu Leben, Tod und Auferstehung nach dem Zeugnis des Neuen Testaments, in: Ders., Neutestamentliche Studien (WUNT 132), Tübingen 2000, 3–18: 15 f. Anm. 56. 29 Apg 2,24–28; vgl. 13,34 ff.

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Wie nun Jesu Tod und Auferstehung ihren Grund in dem in der Schrift bezeugten Heilswillen des Gottes Israels haben, so auch die dort ebenfalls bereits angekündigte weltweite Verkündigung des „Namens“ Jesu. Sie gehört wesentlich zu dem Heilshandeln Gottes hinzu, wird durch sie doch das Heil der Sündenvergebung denen zugeeignet, die „umkehren“, d. h. sich dem von Gott gesandten Retter zuwenden und an ihn glauben. Auf die Belehrung V. 44–47 folgt der knappe Satz (V. 48). Diese Worte wären gründlich mißverstanden, wollte man in ihnen einen an die Elf ergehenden „Missionsbefehl“ oder „Sendungsauftrag“ erblicken. Der reine Nominalsatz ist kein Befehl und keine Beauftragung, sondern eine Aussage und Feststellung: „Ihr seid Zeugen dessen.“30 Der Genetiv gibt dabei an, worauf sich das Zeugnis der bezieht. Gemeint sind eben jene in V. 46 f. genannten Sachverhalte, die „geschrieben“ stehen und mithin in dem Heilsplan Gottes verfügt sind: „daß der Christus sterben und am dritten Tag von den Toten auferstehen muß und daß aufgrund seines Namens allen Völkern Umkehr zur Vergebung der Sünden verkündigt werden muß – von Jerusalem an“. Mit der Bestallung der Elf zu Zeugen ist die Ankündigung verbunden, daß der erhöhte Herr ihnen „Kraft aus der Höhe“, d. h. den Heiligen Geist senden werde (V. 49). Was diese Ankündigung bedeutet und was es besagt, daß sich sodann unmittelbar der Bericht über die „Himmelfahrt“ anschließt (V. 50 f.), sei hier noch offen gelassen. Es soll erst im Anschluß an die Betrachtung des – für beide Fragen erhellenden – Textes Apg 1,1–8 dargelegt werden. Diesem wenden wir uns nunmehr zu.

III Der Bericht Apg 1,1–8 beginnt in V. 1 f. mit einem knappen Rückblick auf das Lukasevangelium, wobei in V. 2 an die letzten Szenen des Evangeliums – nämlich an die Bestallung der elf zu „Zeugen“ (Lk 24,44–49) und an die „Aufnahme“ Jesu in den Himmel31 (Lk 24,50 f.) erinnert wird. Auf die Bestallung der Elf, die Jesus bereits in seinen Erdentagen „ausgewählt“ hatte32, bezieht sich die Wendung . Das mit einem Dativobjekt verbundene Verbum bezeichnet hier – wie in Num 27,19 LXX 30

Vgl. Burchard, Der dreizehnte Zeuge, 133. Burchard bemerkt zutreffend, daß der Satz nach Analogie von Phil 1,8 ( ), 1Thess 2,5 ( ) und 1Thess 2,10 ( ) verstanden werden muß, „wozu, wie Röm 1,9 zeigt, ein Indikativ zu ergänzen ist“. – Zur falschen Übersetzung von Lk 24,48 in der Lutherbibel von 1984 s. o. Anm. 22. 31 In Apg 1,2 (und ebenfalls in 1,22) ist zu sachlich zu ergänzen; s. 1,11. 32 Die Worte V. 2 verweisen auf Lk 6,12 f.

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( ) – die Einsetzung in ein Amt33. Zu dem Partizip dürfte die präpositionale Bestimmung gehören: Die Einsetzung in das Zeugenamt erfolgte durch den, der als der Träger des Gottesgeidie Gabe des Geistes ankündigt (Lk 24,49) und diese stes34 den elf seine Ankündigung dann an Pfingsten verwirklichen wird35. Was in V. 2 lediglich stichwortartig über die Bestallung der elf gesagt war, wird in den Versen 3–8 in breiter Ausführung entfaltet. In V. 3 heißt es im Blick auf die zuvor erwähnten : „Ihnen36 erwies er (Jesus) sich 37 nach seinem Tod durch viele Beweise als lebendig, indem er ihnen während vierzig Tagen erschien und über die Dinge redete, die das Reich Gottes betreffen.“ Für das rechte Verständnis dieser Worte ist die sprachliche Beobachtung wichtig, daß der Ausdruck nicht durativen Sinn hat („ununterbrochen vierzig Tage lang“38), sondern den Zeitraum angibt, innerhalb dessen die Erscheinungen Jesu und sein Reden zu den elf erfolgten. Lukas spricht also keineswegs von einem permanenten, die Gemeinschaft der Erdentage fortsetzenden Aufenthalt des Auferstandenen bei den Jüngern Gemeint ist vielmehr, daß der Auferstandene in einer Reihe von Erscheinungen, die sich über einen Zeitraum von insgesamt vierzig Tagen verteilten, den elf Jüngern begegnet ist, um sie zu ihrem Dienst als „Zeugen“ zuzurüsten39. Das Motiv der „vierzig Tage“ ist dem Alten Testament verpflichtet – und zwar jenen Texten, in denen berichtet wird, daß Mose zum Empfang des Gesetzes Gottes vierzig Tage lang auf dem Berg Sinai weilte (Ex 24,18; 34,28). Dieser Aufenthalt wird in Texten des Antiken Judentums betont als eine Zeit der grundlegenden Unterweisung durch Gott gedeutet. So heißt es im Targum Neofiti 1 in der Übersetzung von Ex 34,28: Mose „war dort (sc. auf dem Berg) und suchte Unterweisung von dem Herrn vierzig Tage und vierzig Nächte“. Und in dem Midrasch „Quell der Weisheit“ wird gesagt: „Der Heilige, gepriesen sei er!, lehrte ihn (Mose) die ganze Tora in vierzig Tagen.“40 Hinter Apg 1,3 wird eine Tradition sichtbar, die dem einzigartigen Amt des Mose das einzigartige Amt der 33

Auf Num 27,19 als Parallele verweist mit Recht Th. Beza, Testamentum Novum, Genf 1588, I 427. 34 Lk 3,22; 4,1.18; Apg 10,38. 35 Apg 2,1–4.17–21.33. 36 Das Relativpronomen wird durch das ihm folgende kräftig unterstrichen. Zu verstärkendem nach einem Relativum s. BDR § 442,8b mit Anm. 24; J. D. Denniston, The Greek Particles, Oxford 21954 = 1981, 294 f.; vgl. auch E. Haenchen, Die Apostelgeschichte (KEK III), Göttingen 6(15)1968, 108 Anm. 6. 37 Zum Verbum s. o. Anm. 24. 38 Das müßte wie in Lk 4,2 heißen. 39 Vgl. J. Roloff, Apostolat – Verkündigung – Kirche. Ursprung, Inhalt und Funktion des kirchlichen Apostelamtes nach Paulus, Lukas und den Pastoralbriefen, Gütersloh 1965, 194. 40 Ma‘jan Chokhmah ed. A. Jellinek, Bet ha-Midrasch I, Jerusalem 31967, 58–61: 61. – Weitere rabbinische Belege finden sich bei Billerbeck III 530; IV/1 440. 4

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Apostel Jesu Christi typologisch gegenüberstellt41. „Ebenso, wie Mose vierzig Tage lang auf dem Berge weilte, um von Gott unterwiesen zu werden, erhielten auch die Apostel während der gleichen Zeitspanne durch den Auferstandenen die ihr zukünftiges Amt ermöglichende und tragende Unterweisung über die ‚Dinge des Reiches Gottes‘.“42 Wenn Jesus nach V. 3 zu den elf „über die Dinge“ redet, „die das Reich Gottes betreffen“, dann ist damit nichts anderes gemeint als eben jene Sachverhalte, die dem Parallelbericht Lk 24,44 ff. zufolge den als Inhalt des in der Schrift bezeugten Heilsplanes Gottes erschlossen werden (24,46 f.). Dieses Urteil gründet sich zum einen auf die lukanischen Aussagen über den Gegenstand der christlichen Verkündigung: Weil Lukas die unlöslich an die Person und Gegenwart Jesu gebunden sieht43, kann er sowohl das „Reich Gottes“ wie auch Jesus Christus selbst als diesen Gegenstand bezeichnen44. Zum andern ist festzustellen: Die eschatologische, bei der Parusie erfolgende Aufrichtung der umschließt nach Apg 3,20 f. die Erfüllung aller prophetischen Heilsverheißungen, und sie ist zugleich mit dem Apg 10,42; 17,31 erwähnten Endgericht verbunden, das die eschatologische Scheidung bringen wird. Beides aber – die heilvolle Aufrichtung der wie das die Scheidung bringende Endgericht – wird das Werk des Kyrios sein, der durch seine Auferweckung von den Toten als der Christus Gottes, d. h. als der eschatologische Heilsbringer erwiesen worden ist. Aus den skizzierten Befunden ergibt sich für Apg 1,3: Redet Jesus zu den elf von den Dingen der , so redet er von sich selbst als dem und (Apg 2,36), in dem das Heil Gottes beschlossen liegt, und damit zugleich auch von der Verkündigung dieses Heils, die angesichts der kommenden Heilsvollendung wie angesichts des kommenden Weltgerichts Menschen dazu aufruft, sich dem alleinigen Retter durch Umkehr und Annahme der Sündenvergebung zuzuwenden45. An den Bericht von Apg 1,3 schließt sich in V. 4 f. die Ankündigung der Gabe des Heiligen Geistes an. Sie wird in V. 8a wiederholt: – „Ihr werdet die Kraft des Heiligen Geistes empfangen, der auf euch kommen wird.“46 Diese Ankündigung wird in V. 8b durch eine zweite, fest mit der ersten verbundene weitergeführt: 41

Vgl. bei Paulus die Gegenüberstellung in 2Kor 3,1–18. Roloff, Apostolat – Verkündigung – Kirche, 195. 43 Nach Lukas ist das „Reich Gottes“ in der Person und in dem Wirken Jesu auf Erden präsent gewesen; s. Lk 4,16–21; 7,18–23; 11,20; 17,20 f.; Apg 10,38. 44 Apg 5,42; 8,5.12.35; 19,8; 20,24 f.; 28,23.31. Besonders lehrreich ist die Abschiedsrede des Paulus in Milet Apg 20,18b–35, in der neben- und miteinander als Gegenstand der paulinischen Verkündigung genannt werden: „die Umkehr zu Gott und der Glaube an unseren Herrn Jesus“ (V. 21), „das Evangelium von der Gnade Gottes“ (V. 24); „das Reich“ (V. 25), „der gesamte (Heils)wille Gottes“ (V. 27). 45 S. dazu Apg 2,38; 3,19; 5,31; 10,43; 13,38 f.; 26,18. 46 Oder: „Ihr werdet Kraft empfangen, indem / wenn der Heilige Geist auf euch kommt.“ 42

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[ ] Daß das Prädikat in diesem Satz nicht als Imperativ („ihr sollt … Zeugen sein“), sondern als Indikativ aufzufassen ist, kann von dem voraufgehenden her nicht zweifelhaft sein. Demgemäß ist zu übersetzen: „und ihr werdet für mich Zeugen sein in Jerusalem und in ganz Judäa und Samaria und bis an das Ende der Erde“. Ebensowenig wie bei Lk 24,48 handelt es sich auch bei Apg 1,8b um den – Mt 28,19 f. und [Mk] 16,15 entsprechenden – lukanischen „Missionsbefehl“, der den als den „Repräsentanten“ der Kirche und somit der Kirche selbst die Weltmission als zentrale Aufgabe vor Augen stellt47. Jesu Wort kündigt vielmehr an, was die Elf nach Pfingsten in der Kraft des Heiligen Geistes unzweifelhaft sein werden, und es weist betont auf das „ökumenische Forum“ hin, vor dem die Zeugen dann stehen48. Den Gegenstand ihres Zeugnisses benennt das dem Prädikatsnomen vorangestellte Personalpronomen , das wie das von Lk 24,48 als ein Genetivus obiectivus zu beurteilen ist. Die elf werden demnach genau das bezeugen, was Jesus ihnen kundgetan hat, als er zu ihnen über die und damit über sich selbst und sein Heil redete49.

IV Im Anschluß an die Betrachtung der beiden Texte Lk 24,36–49 und Apg 1,1–8 können nunmehr einige elementare Gesichtspunkte notiert werden, die sich aus dem in diesen Texten Gesagten für den lukanischen Begriff und Gedanken des „Zeugen“ ergeben. 1. Obwohl die zu Zeugen Erwählten nach dem Bericht der Apostelgeschichte auch als Verkündiger wirken, ist zwischen ihrem Zeuge-Sein und ihrem Verkündigen doch streng zu unterscheiden. Als Zeugen sind sie – wie Christoph Burchard zutreffend bemerkt – „nicht zur Verbreitung, sondern zur Erhebung der Wahrheit da“ und mithin „nicht Rufer zu Umkehr und Glauben, sondern die Stützen des Glaubens“50. Wenn die Zwölf und Paulus als Verkündiger wirken, dann reden sie von den Dingen, für deren Tatsächlichkeit und Wahrheit sie selbst mit ihrem Zeugnis einstehen51. Alle anderen Verkündiger, von denen die Apostelgeschichte zu sagen weiß, predigen hingegen aufgrund eines ihnen 47

So etwa die Deutung bei Haenchen, Die Apostelgeschichte, 112. Burchard, Der dreizehnte Zeuge, 134. 49 Vgl. Burchard, Der dreizehnte Zeuge, 133 Anm. 308: „ dürfte gen. obi. sein wie Lk 24,48 und sachlich das gleiche meinen.“ 50 Burchard, Der dreizehnte Zeuge, 133. Vgl. ebd., 132 zu Lk 24,36 ff.: Die den erschlossenen Dinge sind „der Realgrund der Predigt, und der Zeugenbegriff qualifiziert die Elf nicht als Prediger, sondern … als Garanten der Tatsächlichkeit dieses Grundes“. 51 Der Gegenstand ihres ist deshalb nach Apg 4,20 kein anderer als der ihres Zeugnisses: . 48

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vorgegebenen Zeugnisses – eben des Zeugnisses jener apostolischen . Das aber bedeutet: Die Verkündigung der Kirche gründet sich auf das authentische und verbindliche Zeugnis derer, die den auferstandenen Herrn gesehen und gehört haben; und die durch den Kyrios selbst unterwiesenen und autorisierten Zeugen verbürgen als solche die Zuverlässigkeit der in ihrem Zeugnis fundierten Verkündigung. Die nach Lk 24,47 an „alle Völker“ ergehende Predigt ist deshalb begleitet und getragen von dem Zeugnis, für das die Zeugen „bis an das Ende der Erde“ einstehen (Apg 1,8b). In dieser ihrer Funktion als kommt dem Zwölferkreis und Paulus eine einmalige und einzigartige Stellung zu. Sie sind nicht die ersten, sondern die einzigen Zeugen – und als solche nicht die „Repräsentanten der Kirche“52, sondern Autorität für die Kirche, die an ihr Zeugnis bleibend gewiesen und gebunden ist53. 2. Das soeben Bemerkte findet darin seine Bestätigung, daß Lukas die Berichte über die Bestallung der Zeugen fest mit denjenigen über die „Aufnahme“ Jesu in den Himmel (Lk 24,50 f.; Apg 1,9–11) verbunden hat. Die hinter dieser Verknüpfung stehende theologische Aussageabsicht wird deutlich, wenn man erkennt, wovon in den Berichten über die „Aufnahme“ in den Himmel die Rede ist. Als keineswegs überzeugend muß die These gelten, daß Lukas die Auferstehung Jesu und seine Erhöhung durch die vierzig Tage von Apg 1,3 zeitlich voneinander trennt, daß er für diese Tage einen Zwischenzustand annimmt, in dem der Auferstandene noch in verklärter Leiblichkeit bei den Seinen auf der Erde weilt, und daß er dann mit der „Himmelfahrt“ die Erhöhung zur Rechten Gottes schildert54. Gewichtige lukanische Aussagen sprechen entschieden dafür, daß auch Lukas für die Auferstehung Jesu und seine Erhöhung zur Rechten Gottes durchaus einen unmittelbaren Zusammenhang annimmt. Stellt man die beiden Worte Lk 24,26 ( ;) und Lk 24,46b ( ) nebeneinander, so liegt der Schluß nahe, daß Jesu „Eingehen in seine Herrlichkeit“ und seine „Auferstehung von den Toten“ einander korrespondieren55 und daß beides zu der Zeit, da der Auferstandene davon spricht, bereits erfolgt ist. In dem Redezusammenhang Apg 2,22–36 wie auch in dem engeren Kontext V. 32–36 kann die auf das Zitat Ps 109,1 LXX (V. 34b.35) bezogene Wendung V. 34a nur die unmittelbar mit der Auferweckung verbundene Erhöhung Jesu meinen, und diese unmittelbare 52 Hier ist noch einmal nachdrücklich dem zu widersprechen, was bei Haenchen, Die Apostelgeschichte, 112. 119 zu lesen steht. 53 Ein Kennzeichen der Kirche ist deshalb das Apg 2,42. 54 S. zu dieser Sicht etwa die Monographie von G. Lohfink, Die Himmelfahrt Jesu. Untersuchungen zu den Himmelfahrts- und Erhöhungstexten bei Lukas (StANT 26), München 1971. 55 Vgl. Apg 3,13 ff., wo den Worten … (V. 13) die Aussage (V. 15) korrespondiert.

Die Einzigartigkeit der Apostel Jesu Christi

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Verbindung ist auch in Apg 5,30 f. vorausgesetzt. Können mithin Jesu Auferstehung und seine Erhöhung nicht voneinander getrennt werden, so ergibt sich für Apg 1,3 ff.: Die hier berichteten Erscheinungen des Auferstandenen sind als Erscheinungen des erhöhten Herrn vom Himmel her, d. h. als „Offenbarungen aus der Verborgenheit bei Gott“ zu begreifen56. Dementsprechend meint die sog. „Himmelfahrt“ nicht die Erhöhung des Auferstandenen zur Rechten Gottes57, sondern sie markiert das Ende der Ostererscheinungen58. Die in 1,4 ff. geschilderte Begegnung Jesu mit den elf ist – von der einen und einzigen Ausnahme des Paulus abgesehen! – die letzte sichtbare Erscheinung des erhöhten Herrn vor seiner Wiederkunft, auf die denn auch keineswegs zufällig in Apg 1,11 ausdrücklich hingewiesen wird. Der Bericht von der „Aufnahme“ Jesu in den Himmel stellt somit heraus, daß die Selbstbekundungen des Auferstandenen, wie sie den elf als Begründung ihres Zeugendienstes zuteil wurden, definitiv beendet sind und in dieser Weise sonst niemandem widerfahren werden. Der Bericht unterstreicht damit noch einmal nachdrücklich die Einmaligkeit und Einzigartigkeit der Zeugen wie auch die Endgültigkeit und unbedingte Autorität ihres Zeugnisses. 3. Daß die mit dem Begriff des bezeichnete Einzigartigkeit und Autorität nicht auf dem beruht, was die zu diesem „Amt“ Erwählten selbst sind und haben, – das kommt darin zum Ausdruck, daß ihre Bestallung zu Zeugen mit der Ankündigung der Geistverleihung verbunden ist (Lk 24,48 f.; Apg 1,4 f.8). Nur in der Kraft des vom Vater verheißenen und ihnen am Pfingsttag von dem erhöhten Herrn gespendeten Heiligen Geistes vermögen die Zeugen ihre Funktion im Gehorsam gegen Gott wahrzunehmen59. Das heißt aber: Zeugen sind sie nicht kraft eigener Vorzüge und Fähigkeiten, sondern einzig in der bleibenden Gebundenheit an Christus und an das Wort seiner Selbsterschließung. 4. Was die Zeugen aufgrund der ihnen durch den Auferstandenen zuteil gewordenen Belehrung zu bezeugen haben, das wird im Gesamtzusammenhang des lukanischen Doppelwerkes präzise bestimmt. Als Zeugen für den Auferstandenen60 bezeugen sie fundamental die Tatsache seiner Auferstehung bzw. seiner 56 L. Goppelt, Theologie des Neuen Testaments I: Jesu Wirken in seiner theologischen Bedeutung, Göttingen 1975, 294. S. auch W. Michaelis, Art. , ThWNT V (1954) 315–381: 356,2–21; A. W. Zwiep, The Ascension of the Messiah in Lukan Christology (NT.S 87), Leiden – New York – Köln 1997, bes. 145 ff.; Ders., Assumptus est in caelum. Rapture and Heavenly Exaltation in Early Judaism and Luke-Acts, in: F. Avemarie / H. Lichtenberger (Hg.), Auferstehung – Resurrection (WUNT 135), Tübingen 2001, 323–349. 57 Die Gleichsetzung von Himmelfahrt und Erhöhung findet sich erst im unechten MarkusSchluß: [Mk] 16,19. 58 So richtig Goppelt, Theologie des Neuen Testaments I, 293 f.; vgl. Roloff, Apostolat – Verkündigung – Kirche, 194 Anm. 80; Zwiep, Assumptus est in caelum, 348. 59 S. dazu Apg 5,32 – eine Aussage, die exklusiv von den gilt und ihr Zeugnis als ein vom Heiligen Geist getragenes Zeugnis qualifiziert. 60 Apg 1,8 ( ); 13,31 ( ).

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Auferweckung durch Gott61, damit zugleich aber auch die christologischen und soteriologischen Sachverhalte insgesamt, die nach Gottes Heilsplan das eschatologische Heil begründen und als solche notwendig die weltweite Verkündibezeugung dieses Heils zur Folge haben62. Mit andern Worten: Die gen die Wahrheit über Christi Person und sein Werk. Bedenkt man dabei, daß die gesamte Apostelgeschichte unter dem Vorzeichen von Apg 1,1–8 gelesen sein will, dann kann gesagt werden: Weil der Auferstandene den zu Zeugen Erwählten erschienen ist und zu ihnen geredet hat und also die so Ausgezeichneten ihn als den Auferstandenen gesehen und gehört haben, deshalb wissen sie – und nur sie! – von ihm selbst, was sie verbindlich sagen können und sagen. Sie wissen und sagen zum einen, wer Jesus Christus ist: der (d. h. der 64 65 , der eschatologische Heilsbringer Gottes)63 und der 66, der 67 und der 68, der und der 69 70 und der . Und sie wissen und sagen zum andern, daß die Christusverkündigung auf Gottes eigener Setzung beruht71 und dementsprechend ein in seinem Heilsplan begründetes und daher bereits in der Schrift klar bezeichnetes Ziel hat: (Apg 2,21). Die Zeugen des auferstandenen Christus bezeugen mithin, daß göttliche Wahrheit ist, was Petrus vor dem Synedrium erklärt: (Apg 4,12). 5. Aus der klaren inhaltlichen Bestimmung des den Zeugen anvertrauten Zeugnisses ergibt sich, daß diese keineswegs in allem und jedem über göttliches Wissen verfügen oder in alle Geheimnisse Gottes eingeweiht sind. Ein solches Mißverständnis wird in Apg 1,3 ff. geradezu abgewehrt: Einen Einblick in die verborgenen Gedanken und Pläne Gottes haben die Elf in den vierzig Tagen ihrer Belehrung nicht erhalten, gilt hier doch das entschiedene 61 Apg

1,22 ( ); 2,32; 3,15; 5,32. Lk 24,48 ( – mit Bezug auf V. 46 f.); Apg 5,32; 10,39 (im Kontext von 10,36–43). 63 Apg 2,31.36; 3,18.20; 4,26; 5,42; 9,22; 17,3; 18,5.28; 26,23. 64 Nur eine exemplarische Auswahl aus der Fülle der Apg-Belege sei notiert: bzw. : 2,21.36; 9,1.27 f.35.42; 13,2 – : 4,33; 11,20; 15,11; 16,31 – : 11,17 – : 20,21 – die Anrufung bzw. : 7,59 f. 65 Apg 9,20; vgl. 13,33. S. auch Apg 8,37 v. l. 66 Apg 3,13.26; 4,27.30. Wie sich in 3,13 der deutlichen Anspielung auf Jes 52,13 LXX entnehmen läßt, denkt Lukas bei dem Titel „Gottesknecht“ primär an den verherrlichten Jesus, der das Heilswerk vollbracht hat. 67 Apg 3,15; vgl. 5,31. 68 Apg 5,31; 13,23. 69 Apg 10,36. 70 Apg 10,42. 71 Apg 10,36; 13,26 ( ist passivum divinum). 62

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(V. 7). Zu wissen „gebührte“ den einzig und allein das, was sie dazu befähigte, ihrer einmaligen und einzigartigen Bestimmung zu folgen – nämlich: Zeugen für Christus und damit für die Wahrheit des Evangeliums zu sein.

V Das neutestamentliche Zeugnis von der Einzigartigkeit der Apostel Jesu Christi, das in seiner bei Lukas wahrzunehmenden Gestalt im Zentrum unserer exegetischen Überlegungen stand, gibt Anlaß zu der Frage nach der hermeneutischen und theologischen Relevanz des hier Gesagten. Diese Frage im einzelnen zu erörtern ist im Rahmen des vorliegenden Aufsatzes schon aus Gründen des begrenzten Umfangs nicht möglich. Wohl aber sei abschließend auf Martin Luther hingewiesen, der die entsprechenden neutestamentlichen Aussagen nicht nur in gewichtigen Äußerungen zur Geltung gebracht hat, sondern in ihnen ein primum principium erblickt – d. h. ein Axiom, das von der Kirche Jesu Christi und so auch von einer Theologie, die sich dem Evangelium verpflichtet weiß, unbedingt zu respektieren ist. Die Apostel sind, wie der Reformator betont, der Kirche von Gott selbst als „unfehlbare Lehrer“ gegeben72 – und zwar im Blick auf die „Kenntnis Christi, d. h. dessen, was zum Heil gehört“73. Was die Apostel in dieser Sache sagen, ist nicht Menschenwort, sondern Gottes Wort; hier muß man auf ihren Mund sehen „wie auf Gottes Mund“74. Weil sie in einzigartiger Weise dazu erwählt und berufen wurden, die ihnen geoffenbarte Wahrheit des Evangeliums der Kirche aller Zeiten zu übermitteln, deshalb sind sie das fundamentum Ecclesiae75. Nicht ihrer Person, wohl aber ihnen als den Trägern des einmaligen apostolischen Amtes76 72 Disputatio de fide (1535), These 59: „… Apostoli, qui certo Dei decreto nobis sunt infallibiles Doctores missi“ (WA 39 I, 48,1 f. bzw. Studienausgabe 5, Berlin 1992, 112,12 f.). 73 De servo arbitrio (1525): „notitia Christi, id est, eorum quae sunt salutis“ (BoA III 283,3 f.). Bei den Dingen, die das Heil betreffen („ea quae pertinent ad salutem“ [ebd., 142,14]), handelt es sich für Luther um die Fundamentalaussagen der Christologie, der Trinitätslehre und der Soteriologie, die er so zusammenfassen kann: „Christus, der Sohn Gottes, ist Mensch geworden, Gott ist dreifaltig und einer, Christus hat für uns gelitten und wird herrschen in Ewigkeit“ (s. ebd., 101,26–28). 74 Predigten über Joh 17 (1528), zu V. 18 (BoA VII 244,33–246,10). Vgl. auch ebd., zu V. 23: „Si quis omnia verba ex Christi ore et apostolorum (!) potest dicere deum dixisse, das ist Christiana scientia“ (BoA VII 255,2 f.). 75 Disputatio de potestate concilii (1536), These 4: „Soli fundamentum Ecclesiae vocantur, qui articulos fidei tradere debebant“ (WA 39 I, 184,14–16). Die „Artikel des Glaubens“ sind die von Gott selbst aufgestellten, durch die Apostel authentisch kundgegebenen und der Kirche im Neuen Testament gültig bezeugten Dogmen, die Luther ausdrücklich als „Dogmen Christi“ bezeichnet (De servo arbitrio [BoA III 98,31]). S. dazu des näheren: BoA III 97,31 ff.; 144,12 ff. 76 Vgl. Predigten über Joh 17, zu V. 18: „Ibi loquimur de legatione, officio non persona“ (BoA VII 246,5 f.).

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eignet eine Autorität, der in der Kirche keine andere Autorität vergleichbar ist oder an die Seite gestellt werden kann77. Den axiomatischen Charakter der skizzierten Sachverhalte stellt Luther heraus, wenn er in einer Predigt über 1Kor 15,12–15 erklärt: „Wer die Voraussetzungen leugnet, mit dem soll man nicht streiten78. Wir reden mit denen, die Gott für einen wahrhaftigen Gott halten, der nicht lügt, und die Apostel für seine Zeugen, wie Christus sagt: ‚Wer euch hört, der hört mich‘, und wer mich hört, der hört den Vater (Lk 10,16). Das sind unsere Hauptstücke und Grundlagen. Die ganze Schrift spricht von Christus, dem Sohn Gottes, und den Aposteln. Und wir glauben: Was die Apostel gesagt haben, das ist das rechte Wort Gottes, und wer glaubt, der wird selig.“79 Mit diesen Sätzen wie auch in den dann folgenden Ausführungen80 macht Luther als gewissenhafter Exeget auf jenen unlöslichen Zusammenhang aufmerksam, um den es bereits in dem Paulustext geht, der seiner Predigt zugrunde liegt. Es „hängt alles aneinander“: Gott und sein Wort, Christus, die Apostel und ihre Predigt sowie der Glaube, durch den man selig wird. Diesen Zusammenhang ernst nehmen – das heißt für Luther, ein Schüler der Heiligen Schrift zu sein, und solche Schülerschaft gilt ihm als die Signatur der einen, heiligen, katholischen und apostolischen Kirche.

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Disputatio de potestate concilii, Thesen 1–11 (WA 39 I, 184,4–185,27). Luther führt hier einen auf Aristoteles zurückgehenden hermeneutischen Grundsatz an: „contra negantem principia non est disputandum“. 79 Predigten über 1Kor 15 (1532/33), zu V. 12–15 (BoA VII 289,18 ff.). Ich gebe die Worte, zu denen sich in WA.TR 3, Nr. 2844a eine wichtige Parallele findet, in heutigem Deutsch wieder. Beachtung verdient der gesamte Textzusammenhang BoA VII 288,27–292,11. 80 BoA VII 290,1–13. 78

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Gemeinschaft am Tisch des Herrn Das Zeugnis des Neuen Testaments*

Die folgenden Überlegungen sind der Frage gewidmet, was sich dem Neuen Testament über die Gemeinschaft am Tisch des Herrn entnehmen läßt. Dabei soll bedacht werden, wie diese Gemeinschaft inhaltlich bestimmt wird und welche Bedingungen für ihre Gewährung genannt werden. Hinsichtlich beider Aspekte ist die Exegese so gut wie ausschließlich an die Briefe des Paulus und hier insbesondere an den 1. Korintherbrief gewiesen1.

I Paulus setzt in der korinthischen Gemeinde eine Mahlfeier voraus, bei der die sakramentalen Akte des Brotritus und des Kelchritus noch mit einer Sättigungsmahlzeit verbunden sind. Diese Mahlfeier bezeichnet er in 1Kor 11,20 als   , als „Herrenmahl“2. Die Frage, ob die Sätti-

———————— *

Für hilfreiche Hinweise danke ich meinem Freund Gert Jeremias. In Apg 9,19a; 11,3; 16,34; 27,35 dürfte schwerlich an die Feier der Eucharistie gedacht sein, und die summarischen Angaben Apg 2,42.46 enthalten keine inhaltliche Kennzeichnung der Mahlgemeinschaft. Ob in dem ganz schwierigen und exegetisch sehr umstrittenen Satz Hebr 13,10 eine Bezugnahme auf das Heilige Abendmahl vorliegt, ist höchst fraglich; der Vers bleibt deshalb für unsere Überlegungen außer Betracht. Was schließlich die Berichte der synoptischen Evangelien über Jesu Tischgemeinschaft mit den Sündern anlangt, so handelt es sich um Texte, die einen für das Wirken des irdischen Herrn charakteristischen Zug modellhaft eingefangen haben und in verdichteter Gestalt zur Darstellung bringen (Mk 2,13–17 par. Mt 9,9–13 / Lk 5,27–32; Lk 15,1f.; 19,1–10). Unmittelbare Rückschlüsse auf das Verständnis der nachösterlichen Mahlgemeinschaft erlauben diese Texte nicht. 2 Von daher erklärt sich, daß in der Traditio apostolica 27 das Sättigungsmahl, d.h. die vom Sakrament bereits getrennte Agape, cena dominica (lateinischer Text) bzw. 1

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gungsmahlzeit in Korinth – der in 1Kor 11,23b–25 zitierten Paradosis entsprechend – von den beiden sakramentalen Akten umschlossen war oder ob sie ihnen voraufging, wird in der Exegese kontrovers beantwortet3. Wie immer man hier urteilen mag, so kann doch nicht fraglich sein, daß es die mit Brot und Kelch vollzogenen Handlungen sind, die der gesamten Mahlfeier den Charakter des    verleihen. Das zeigt sich mit hinreichender Klarheit darin, daß Paulus die sakramentalen Gaben        und        nennt (1Kor 11,274) und daß er den Tisch, an dem die Gemeinde zum Mahl versammelt ist, als     bezeichnet (1Kor 10,215). Es war deshalb in der Sache wohlbegründet, wenn später griechische und lateinische Kirchenväter den Ausdruck    ausschließlich auf das Sakrament selbst bezogen haben6. In diesem engeren Sinn werden auch im folgenden die Begriffe „Herrenmahl“, „Mahlfeier“ und „Mahl“ verwendet. Das in dem Ausdruck    enthaltene Adjektiv  hat die Bedeutung „zum Herrn gehörend“7 und besagt mithin, daß Jesus Christus und niemand sonst der „Eigentümer“ des Mahles ist8. Keineswegs zufällig spricht der Apostel deshalb in den das Mahl betreffenden Ausführungen des 1. Korintherbriefs mehrfach ganz betont von Jesus als dem ———————— „Mahl (  ) des Herrn“ (saïdischer Text) genannt wird. S. ferner auch die sog. Ägyptische Kirchenordnung 19 bzw. 49: F. X. FUNK (Hg.), Didascalia et Constitutiones Apostolorum II, Paderborn 1905 = Torino 1970, 113,6. 3 Zum Problem s. O. HOFIUS, Herrenmahl und Herrenmahlsparadosis. Erwägungen zu 1Kor 11,23b–25, in: DERS., Paulusstudien (WUNT 51), Tübingen 21994, 203–240: 205– 223. 4 S. auch     1Kor 10,21. 5 Möglich ist, daß     hier metonymisch für das Herrenmahl selbst steht. Vgl. die Wendung      bei Philo, De Josepho 196; Lukian, Cynicus 7; Diodorus Siculus, Bibliotheca historica IV 74,2. 6 S. das Material bei J. SOLANO (Hg.), Textos Eucaristicos Primitivos I (BAC 88), Madrid 21978, 162f. (Nr. 225 = Cyprian, Epistulae 63,16); 181f. (Nr. 250 = Cyprian, De opere et eleemosynis 15); 404 (Nr. 615 = Basilius, Regulae brevius tractatae 310); 612f. (Nr. 876f. = Johannes Chrysostomus, In I Cor. Homiliae XXVII 2.3); Textos Eucaristicos Primitivos II (BAC 118), Madrid 1954, 116f. (Nr. 201. 203 = Augustinus, Epistulae 54,7.9); 191 (Nr. 297 = Augustinus, Sermones CXII 1,1); 479f. (Nr. 800 = Theodoret von Cyrus, Commentarius in I Cor., zu 11,20); 585 (Nr. 1010 = Fulgentius von Ruspe, Epistulae 14,39). 7 BAUER/A LAND, Wörterbuch6, 931 s.v.; vgl. G. W. H. LAMPE, A Patristic Greek Lexicon, Oxford 51978, 785b–786b s.v.: „belonging to the Lord“ (785b). 8 Vgl. W. FOERSTER, Art. , ThWNT III (1938 = 1957) 1095f.: 1095,24f.: „Vom Subst[antiv]  abgeleitetes Adj[ektiv] ‚Herren-‘, in Bezug auf den   als Eigentümer“; C. SPICQ, Art. , Theological Lexicon of the New Testament, Peabody, Massachusetts 1994, II 338–340: 338: „it derives from kyrios in the sense of ‚possessor‘“.

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 9. Zweierlei hat er dabei vor Augen: zum einen, daß Jesus – wie dies in 1Kor 11,23b–25 berichtet wird – als der irdische und an das Kreuz gehende Herr in der Nacht vor seinem Sterben das Mahl gestiftet und den Jüngern seine Feier geboten hat; zum andern, daß der Gekreuzigte nicht tot und vergangen ist, sondern als der lebendige, erhöhte und in seiner Gemeinde gegenwärtige Herr das Mahl bereitet und die sakramentalen Gaben austeilt, wo immer und wann immer es seiner Stiftung gemäß gefeiert wird. Daß Paulus die Gegenwart des Kyrios im Gottesdienst der versammelten Gemeinde10 und so auch bei der Mahlfeier voraussetzt, kann keinem Zweifel unterliegen; denn ohne diese Voraussetzung wäre etwa die Argumentation von 1Kor 10,1–22 überhaupt nicht zu verstehen11. Auch darauf darf hingewiesen werden, daß der Gottesdienst die Versammlung derer ist, „die den Namen unseres Herrn Jesus Christus anrufen“ (1Kor 1,2)12. Selbstverständlich rufen sie nicht einen Abwesenden an, sondern den, der – wie Gott, der Vater13 – in ihrer Mitte unsichtbar gegenwärtig ist14. Mit der bei Paulus zu verzeichnenden Terminologie ist von vornherein ein grundlegender Sachverhalt klargestellt: Die sakramentale Mahlfeier, zu der die christliche Gemeinde zusammenkommt, ist dezidiert das Mahl des Kyrios, der es vor seinem Tod gestiftet hat und es als der Auferstandene mit den Seinen feiert. Die an diesem Mahl teilnehmen, sind deshalb Gäste an seinem Tisch, dem „Tisch des Herrn“, und sie empfangen aus seiner Hand, was er selbst ihnen gibt: sein Brot, das „Brot des Herrn“, und seinen Kelch, den „Kelch des Herrn“. ———————— 9 Im Kontext von 1Kor 11,17–34: V. 23a.23b.26.27a.27b.32; s. ferner das dreimalige  in 1Kor 10,21f. 10 Für die gottesdienstliche Zusammenkunft der Gemeinde verwendet Paulus die Verben   (1Kor 11,17f.20.33f.; 14,23.26) und   (1Kor 5,4 [vgl. Apg 20,7f.; Did 16,2; 1Klem 34,7]) sowie das Substantiv !" (1Kor 11,18; 14,19.28.35 [vgl.    „Versammlung“ 1QSa 2,4]). 11 S. besonders die Verse 10,4b und 10,20b–22. 12 Der Ausdruck # ! "     $      %& '  (   ‫בּ ((שֵׁם ְי‬ ְ )) ‫רא‬ ָ ‫  ָק‬bzw. ! "   $  ist der alttestamentlichen Wendung ‫הוָ  ה‬   verpflichtet (s. in LXX: Gen 4,26; 13,4; 21,33; 26,25;  74,2; 78,6; 79,19; 98,6; 114,4; 115,4; Joel 3,5; Zeph 3,9; Sach 13,9; Jes 64,6; Jer 10,25; Bar 3,7; Klgl 3,55). Diese Wendung, die griechisch auch in PsSal 6,1; 15,1 und in JosAs 26,8 belegt ist, bezeichnet die gottesdienstliche Verehrung Jahwes, das Bekenntnis zu ihm, die Bitte um seine Hilfe oder seine Anbetung (vgl. H. W. WOLFF, Dodekapropheton 2: Joel und Amos [BKAT XIV/2], Neukirchen-Vluyn 31985, 82). Entsprechend dürfte in 1Kor 1,2 nicht nur an die bekenntnishafte Akklamation   '  (, sondern zugleich auch an die Anrufung des Kyrios im Gebet gedacht sein (so CHR. WOLFF, Der erste Brief des Paulus an die Korinther [ThHK 7], Leipzig 1996, 17f.). 13 S. dazu 1Kor 14,25. 14 Vgl. 1Kor 5,4 mit Mt 18,20.

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II Die Gemeinschaft, die am Tisch des Herrn gewährt und erfahren wird, kommt – zwar nicht expressis verbis, wohl aber implizit – in den beiden Versen 1Kor 10,16+17 zur Sprache15. Dabei geht es um zwei Aspekte, die unlöslich zusammengehören: zunächst und zuerst um die Gemeinschaft der Mahlteilnehmer mit Jesus Christus als dem gekreuzigten, auferstandenen und gegenwärtigen Herrn und von daher dann auch um die Gemeinschaft der Mahlteilnehmer miteinander. Auf die Gemeinschaft mit Jesus Christus weist indirekt die rhetorische Doppelfrage von V. 16 hin, die, wie das zweimalige ) anzeigt, als eine positive Feststellung gehört sein will:    * )"  +

)"   , )-  . !-   /    ( ;    + "& , )-  .   0    (  !; – „Der Segensbecher, den wir segnen16, ist er nicht die Teilhabe an dem Blut Christi? Das Brot, das wir brechen17, ist es nicht die Teilhabe an dem Leib Christi?“18 Die auffällige Reihenfolge Segensbecher – Brot setzt nicht einen bestimmten liturgischen Brauch voraus, bei dem zuerst der Kelch und danach erst das Brot gereicht worden wäre, sondern sie ist durch die in 1Kor 10,14–22 vorliegende Argumentation bedingt19. Was die theologi———————— 15

Zur Begründung des in der Parenthese Gesagten s.u. Anm. 18. Genauer wäre zu übersetzen: „der Becher des Lobpreises, über dem wir das Dankgebet sprechen“. Der Begriff    * )"  (vgl.   )"  JosAs 8,9; 19,5) ist das Äquivalent zu dem hebräischen  ‫כָ ה‬ ‫ ָ ר‬ ‫ ְ בּ‬ ‫ ל‬ ֶ‫! שׁ‬ ‫ כּוֹס‬bzw. dem aramäischen ‫כּ ָ"ת א‬ !ְ ‫ר‬ ְ ‫ב‬ $# ִ ‫ד‬ % ְ ‫א‬  ָ‫כּ ס‬ !ְ und bezeichnet als fester jüdischer Terminus den Becher, über dem nach einem Mahl das Tischdankgebet gesprochen wird (s. HOFIUS, Herrenmahl und Herrenmahlsparadosis, 212–214). Zu )"   = „die )"  – die Gott lobende und ihm dankende Berakha – sprechen“ s. Mk 6,41 par. Mt 14,19/Lk 9,16; Mk 8,7 (vgl. Mt 15,36); Mk 14,22 par Mt 26,26 (vgl. Lk 22,19); Lk 24,30; 1Kor 14,16. 17 Die Worte + "&  V. 16b entsprechen in der Sache genau dem + )"    V. 16a, denn sie meinen die das Mahl eröffnende Handlung, daß der Vorstehende Brot nimmt, über ihm die Berakha spricht, es in Stücke bricht und an die Mahlteilnehmer austeilt. Vgl. WOLFF, Der erste Brief des Paulus an die Korinther, 230 mit dem Hinweis auf BILLERBECK IV/2 621. 18 Während das Wort  mit Genitiv der Person die Bedeutung „Gemeinschaft mit jemandem“ hat (so 1Kor 1,9), bezeichnet es mit Genitiv der Sache die Teilhabe bzw. Teilnahme an etwas (vgl. 2Kor 8,4; Phil 3,10; Sap 8,18). In 1Kor 10,16 bedeutet  . ! also: „gibt – realen – Anteil an“. Nicht angemessen ist dagegen die Übersetzung „die Gemeinschaft des Leibes/Blutes Christi“ oder „die Gemeinschaft mit dem Leib/Blut Christi“. 19 S. dazu W OLFF, Der erste Brief des Paulus an die Korinther, 227f. Wolff äußert dort (228) zu Recht Bedenken gegenüber der verbreiteten These, daß Paulus die übliche Reihenfolge Brot – Becher deshalb umgestellt habe, weil er das Brotwort unmittelbar mit der Aussage von V. 17 verbinden wollte. Nach Wolffs plausibler Erwägung ist die Vor16

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sche Aussage des V. 16 anlangt, so spricht alles dafür, daß der formalen Parallelität der beiden Sätze eine inhaltliche Parallelität entspricht 20. Das heißt: Wie  1   (  das am Kreuz vergossene Blut Christi meint21, so  &   (  seinen am Kreuz in den Tod gegebenen Leib22. Die Rede von dem 1   (  und dem &   (  kennzeichnet dabei Christi Tod als Heilsgeschehen23. Nach 1Kor 10,16 empfangen also die zum Tisch des Herrn Kommenden in den sakramentalen Gaben von Brot und Wein Anteil an dem für sie dahingegebenen Leib Christi und an seinem für sie vergossenen Blut – und das besagt: Sie erhalten Anteil an dem in Christus beschlossenen Heil: an der erlösenden Kraft seines Sterbens, an der hier vollzogenen Sühne und Versöhnung, an der da aufgerichteten eschatologischen Heilssetzung24, mit der ihnen die Vergebung der Sünden geschenkt und so die Gemeinschaft mit dem heiligen Gott eröffnet wird25. Da es der in der Mahlfeier gegenwärtige Herr selbst ist, der den Mahlteilnehmern die sakramentalen Gaben darreicht, gewährt er ihnen mit diesen Gaben zugleich die Gemeinschaft mit sich ———————— anstellung des Bechers damit zu erklären, daß bei heidnischen Kultmahlen, deren Unvereinbarkeit mit dem Herrenmahl das Thema von 1Kor 10,14–22 ist, „gerade der Becher … eine Rolle spielte (für Trankopfer, vgl. V. 21), während das Brotbrechen dort nicht geübt wurde“. 20 So mit Recht z.B. E. GAUGLER, Das Abendmahl im Neuen Testament (GBTh 2), Basel 1943, 52; WOLFF, Der erste Brief des Paulus an die Korinther, 230; W. SCHRAGE, Der erste Brief an die Korinther. 2. Teilband: 1Kor 6,12–11,16 (EKK VII/2), SolothurnDüsseldorf bzw. Neukirchen-Vluyn 1995, 439f.; A. LINDEMANN, Der Erste Korintherbrief (HNT 9/I), Tübingen 2000, 224. 21 In den Paulusbriefen ebenso in Röm 3,25; 5,9; Kol 1,20; Eph 1,7; 2,13. 22 In den Paulusbriefen ebenso in 1Kor 11,24b ( &  2 3 2&) sowie in Röm 7,4; 1Kor 11,27.29; Kol 1,22. – Nicht überzeugend ist die Deutung von  &   (  1Kor 10,16 auf die Kirche als den „Leib Christi“, wie sie etwa vertreten wird von E. KÄSEMANN, Das Abendmahl im Neuen Testament, in: Abendmahlsgemeinschaft? (BEvTh 3), München 1938, 60–93: 79ff. 85f.; J. JEREMIAS, Die Abendmahlsworte Jesu, Göttingen 41967, 228; C. K. BARRETT, A Commentary on The First Epistle to the Korinthians (BNTC), London 1968, 233; W. G. KÜMMEL, in: H. LIETZMANN/W. G. KÜMMEL, An die Korinther I/II (HNT 9), Tübingen 51969, 181f. Begründet wird diese Deutung mit dem Hinweis auf V. 17, in dem man – m.E. zu Unrecht! – die Vorstellung von der Kirche als Christusleib findet. S. des weiteren u. Anm. 37. 23 Wo immer im Neuen Testament von dem „Blut“ Jesu Christi gesprochen wird, liegt der Gedanke der sühnenden Lebenshingabe vor; s. O. HOFIUS, Sühne IV. Neues Testament, TRE 32 (2001) 342–347: 342,47ff. Entsprechend handelt es sich in 1Kor 10,16a um den „Leib“, der in 1Kor 11,24b durch das präpositionale Attribut  2 3 2& als der zum Heil in den Tod gegebene Leib gekennzeichnet wird. Zur sprachlichen Gestalt und zur Aussage von 1Kor 11,24b s. O. HOFIUS, 4 &  2 3 2& 1Kor 11,24, in: DERS., Paulusstudien II (WUNT 143), Tübingen 2002, 193–201. 24 Diese ist mit dem Ausdruck % 5  1Kor 11,25 gemeint; s. HOFIUS, Herrenmahl und Herrenmahlsparadosis, 226. 25 S. dazu JEREMIAS, Die Abendmahlsworte Jesu, 218 Anm. 2.

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selbst26. Die Teilhabe an Christi Leib und Blut (%  .   0  /   /    ( ) schenkt also jene Gemeinschaft, zu der Gott die Gemeinde berufen hat: „die Gemeinschaft mit seinem Sohn Jesus Christus, unserem Herrn“ ( .   #  )  '  (      %& 1Kor 1,9). Indem dies in jeder Mahlfeier geschieht, bestätigt Christus den Seinen stets aufs neue die Heilsgabe, die er ihnen mit ihrer Taufe zugesprochen hat. Das heißt: Er vergewissert sie dessen, was das Fundament ihrer Existenz vor Gott ist: daß sie dem gehören, der für sie gekreuzigt wurde und auf dessen Namen sie getauft worden sind 27. Die im Herrenmahl gewährte Gemeinschaft mit Christus ist damit zugleich Verheißung und Unterpfand der zukünftigen Gemeinschaft mit ihm in Gottes kommendem Reich28. Daß durch die Gemeinschaft mit Christus auch die Gemeinschaft der Mahlteilnehmer miteinander begründet wird, ergibt sich als Konsequenz aus dem Satz 1Kor 10,17: 6 1   (sc. !), : & # ""  ! , #  46. Auf sie folgt der in V. 22b zitierte Ruf , mit dem die Gemeinde die Parusie dessen erfleht, der unsichtbar im Gottesdienst gegenwärtig ist47. Auch die Worte %      '   J 2& V. 23 dürften zur Liturgie des Herrenmahls gehören. Ein Indiz dafür liefern jene ostkirchlichen Anaphoren, in

———————— 43

Vgl. LIETZMANN, Messe und Herrenmahl, 229; BORNKAMM, Zum Verständnis des Gottesdienstes bei Paulus, 123f.; G. STÄHLIN, Art. F". "., ThWNT IX (1973) 113– 144: 134,18ff.; 138,3ff. Die genannten Exegeten setzen für die gottesdienstliche Versammlung der paulinischen Gemeinden zu Recht die Abfolge Wortverkündigung – Mahlfeier voraus. Demgegenüber plädieren einige neuere Arbeiten ohne überzeugende Argumente für die umgekehrte Abfolge; s. dazu das Referat und die Exegese in: H. MERKLEIN/M. GIELEN, Der erste Brief an die Korinther. Kapitel 11,2 – 16,24 (ÖTK 7/3), Gütersloh 2005, 464–466 (zu 1Kor 16,20b). Nach M. Gielen verdankt sich die Annahme, daß das Herrenmahl auf die Wortverkündigung folgte und die liturgisch geprägte Gestaltung des Briefschlusses auf den Beginn des Mahles hinweist, „der Rückprojektion der im 4. Jh. erreichten liturgischen Entwicklungsstufe in die gottesdienstlichen Versammlungen der paulinischen Gemeinden Mitte des 1. Jhs.“ (ebd., 465 im Anschluß an M. KLINGHARDT, Gemeinschaftsmahl und Mahlgemeinschaft. Soziologie und Liturgie frühchristlicher Mahlfeiern [TANZ 13], Tübingen 1996, 335). Zu diesem unhaltbaren Urteil sei jetzt in aller Kürze nur zweierlei angemerkt: 1. Bereits Justin bezeugt in seiner um 150/155 verfaßten Ersten Apologie sowohl die Abfolge Wortgottesdienst – Eucharistiefeier (Apol I 67,3–5) wie auch den heiligen Kuß am Beginn der letzteren (s.u. Anm. 45). 2. Für das 1. Jahrhundert liefert die Erzählung Apg 20,7–12 ein eindeutiges Zeugnis dafür, daß die Wortverkündigung ( "  /  "  V. 7b) der Mahlfeier ("K    V. 11a [vgl. V. 7]) vorausgeht. Wenn dann in V. 11b berichtet wird, daß Paulus im Anschluß an die Mahlfeier und also „nach dem Ende des regulären Gottesdienstes“ (J. ROLOFF, Die Apostelgeschichte [NTD 5], Göttingen 1(17)1981, 299) erneut und bis zum Anbruch des Morgens „redet“ (" ), dann soll dem Leser damit die Besonderheit der Situation vor Augen gestellt werden, wie sie mit dem definitiven Abschied des Apostels von der Gemeinde in Troas gegeben ist. 44 Parallelen finden sich in Röm 16,16; 2Kor 13,12; 1Thess 5,26 sowie in 1Petr 5,14 (hier mit dem Ausdruck F" > ). 45 Justin, Apol I 65,2. Vgl. auch Traditio apostolica 4. 46 Daß Paulus sonst nie das Verbum F"  verwendet und in Gal 1,8f. nicht I. > , sondern >  ?. sagt, ist ein deutliches Indiz dafür, daß es sich in 1Kor 16,22a um ein Zitat handelt. 47 Der imperativische Sinn dieser Worte – „Unser Herr, komm!“ – ist durch Offb 22,20b (?   ' ) sowie durch den Kontext in Did 10,6 gesichert. S. im einzelnen HOFIUS, Herrenmahl und Herrenmahlsparadosis, 237f.

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denen der sog. Präfationsdialog durch 2Kor 13,13 bzw. eine Variante dieses Textes eingeleitet wird48. Wenn am Anfang des Herrenmahls der heilige Kuß steht, so zeigt bereits dieser liturgische Akt eindeutig an, daß nur Getaufte an dem Mahl teilnehmen. Das Attribut L  kennzeichnet den Kuß als einen solchen, „der den L  zugehört u[nd] geziemt“49. Der Kuß wird mithin unter denen ausgetauscht, die im Sinne von 1Kor 1,2 als „Geheiligte in Christus Jesus“ (%  ! (M ' ) und „berufene Heilige“ (" L ) Glieder der !"   

 – der eschatologischen Heilsgemeinde Gottes – sind. Als die auf den Namen Jesu Christi Getauften gehören sie Christus (1Kor 1,10–17; 3,23) und bilden sie den „Tempel Gottes“, der „heilig“ ist (3,17b). Was Sinn und Bedeutung des heiligen Kusses anlangt, so ist dieser ganz umfassend Ausdruck der Zusammengehörigkeit aller Getauften50 und in diesem Rahmen dann auch Ausdruck der einander gewährten Versöhnung und Vergebung51. Bezeichnet ihn der Verfasser des 1. Petrusbriefes als FN" >O  (1Petr 5,14), so meint >O  die in 1Petr 1,22f. erwähnte gegenseitige Liebe, die dort als F" "F >   charakterisiert und als Merkmal der „Wiedergeborenen“, d.h. der Getauften bestimmt wird52. Die Taufe ist ebenfalls bei der Ausschlußformel von V. 22a im Blick. Da die Worte A  ) F"   , I. >  zur Liturgie gehören, handelt es sich weder um eine grundsätzliche Verfluchung all derer, die keine Christen sind, noch auch um eine Warnung, die sich ganz allgemein an die problematischen Korinther richtet. Es wird vielmehr am ———————— 48 Ich verweise dazu auf A. HÄNGGI/I. PAHL (Hg.), Prex Eucharistica. Textus e variis liturgiis antiquioribus selecti (SpicFri 12), Fribourg 21968, 82 (ConstAp VIII 12,4). 214 (Theodor von Mopsuestia, Catecheses 16,2). 224 (Griech. Chrysostomus-Anaphora). 230 (Griech. Basilius-Anaphora). 244 (Griech. Jakobus-Anaphora). 269 (Syr. JakobusAnaphora). 375 (Ostsyr. Anaphora der Apostel Addai und Mari); weitere Texte ebd., 265. 276. 285. 288. 292. 298. 303. 306. 310. 320. 327. 332. 337. 342. 358. 381. 387. 405. Zu der liturgiegeschichtlich besonders interessanten ostsyrischen Apostel-Anaphora s. auch A. GELSTON, The Eucharistic Prayer of Addai and Mari, Oxford 1992, 48f. 49 STÄHLIN, Art. F". "., 138 Anm. 235. 50 Vgl. K.-M. HOFMANN, Philema hagion (BFChTh.M 38), Gütersloh 1938, 20–23. 91; L. GOPPELT, Der Erste Petrusbrief (KEK XII/1), Göttingen 1(8)1978, 354f. mit Anm. 45; WOLFF, Der erste Brief des Paulus an die Korinther, 438f. 51 Vgl. STÄHLIN , Art. F". "., 120,6ff. 138,10ff., aber auch bereits die Kennzeichnung bei Cyrill von Jerusalem, Mystagogicae Catecheses V 3. – TH. HARNACK, Der christliche Gemeindegottesdienst im apostolischen und altkatholischen Zeitalter, Erlangen 1854 = Amsterdam 1969, 253 bemerkt zu Justin, Apol I 65,2: Der die Abendmahlshandlung eröffnende Kuß ist „Zeichen der Versöhnung und Liebe“ und damit Ausdruck „der gegenseitigen Zuerkennung brüderlicher Gemeinschaft in dem Herrn“. 52 Zur „Wiedergeburt“ und ihrer Verbindung mit der Taufe s. 1Petr 1,3.13 und dazu GOPPELT, Der Erste Petrusbrief, 92–95. 132.

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Beginn der Mahlfeier gezielt erklärt: „Wenn jemand den Herrn nicht liebt (und dennoch zu seinem Tisch kommt), so sei er dem Strafgericht Gottes preisgegeben!“53 Die auf Christus bezogene Wendung „den Herrn lieben“54 entspricht der indikativischen Rede von der Liebe zu Jahwe, dem Gott Israels55, wie sie im Alten Testament56 und von daher sowohl in der Literatur des Frühjudentums57 wie auch in Schriften des Neuen Testaments58 begegnet. Beachtet man den jeweiligen Kontext, so zeigt sich: Die Jahwe „lieben“ – das sind diejenigen, die ihn „fürchten“59, ihn „anrufen“60 und „seine Gebote halten“61. Die Liebe zu Jahwe ist mithin das Kennzeichen der Zugehörigkeit zu ihm und zu seinem Volk. Ganz entsprechend wird man in 1Kor 16,22a die Wendung „den Herrn lieben“ verstehen dürfen. Sie verweist auf den Glauben an Christus, der sich im Bekenntnis und in der Anrufung seines Namens äußert62, und eben damit auf die Zugehörigkeit zu Jesus Christus und der durch seinen Tod begründeten Heilsgemeinde. Da diese Zugehörigkeit in der Taufe ihren grundlegenden Ausdruck findet, setzt die Wendung ohne Frage das Getauftsein voraus. Sie hebt also nicht nur und auch nicht primär auf das gelebte Leben der Glaubenden ab, so sehr dieses mit im Blick sein dürfte. Mit der von Paulus zitierten und bejahten Ausschlußformel 1Kor 16,22a wird – wie wir festhalten können – denjenigen der Zutritt zum Tisch des Herrn verwehrt, die nicht getauft und somit nicht Glieder der christlichen ———————— 53 Zur Wiedergabe der Worte I. >  vgl. J. BEHM, Art. >  "., ThWNT I (1933 = 1957) 356f.: 356,17ff.27ff. Die übliche Übersetzung „der sei verflucht“ läßt den Sinn nicht hinreichend deutlich werden. In diesem Zusammenhang sei auf den in der Septuaginta zu verzeichnenden sprachlichen Befund hingewiesen: Das dort mit >  wiedergegebene hebräische Wort  2 wird nie mit  übersetzt, und umgekehrt findet sich für ‫ה‬  ָ‫ל‬  ָ‫ל‬  ‫ ְ ק‬nirgends die Übersetzung > . 54 Vgl. dazu Eph 6,24 (%   < . & > 0.    %& '  ( ! >FP) und 1Petr 1,8 (['  ( ] + ) E   > K ). 55 Zur Unterscheidung von indikativischem und imperativischem Gebrauch des Ausdrucks „Jahwe lieben“ s. E. JENNI, Art. $ ’hb lieben, THAT I (1971) 60–73: 70ff. 56 Ex 20,6; Dtn 5,10; 7,9; Ri 5,31; Ps 145(144),20; Dan 9,4; Neh 1,5 (2Esdr 11,5); Tob 13,12.14; 14,7; Sir 1,10; 2,15f. 57 PsSal 4,25; 6,6; 10,3; 14,1; äthHen 108,8; TestSim 3,6; 1QH 8,13 (alt: 16,13); 4Q176 Frg. 16ff.,5. 58 Röm 8,28; 1Kor 2,9; 8,3; Jak 1,12; 2,5; 1Joh 4,20f.; 5,1. 59 Ps 145(144),19; Sir 2,15–17. 60 Ps 145(144),18. 61 Ex 20,6; Dtn 5,10; 7,9; Dan 9,4; Neh 1,5 (2Esdr 11,5); 1QH 8,13 (alt: 16,13); 4Q176 Frg. 16ff.,5; vgl. auch PsSal 14,2 sowie die christliche Variante in 1Joh 4,19–21; 5,1f. 62 Vgl. BORNKAMM, Zum Verständnis des Gottesdienstes bei Paulus, 124. Nicht zufällig tritt in 1Petr 1,8 dem > K das    an die Seite.

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Gemeinde sind63. Die von manchen Exegeten vertretene Auffassung, daß die Ausschlußformel die Grenze nicht zwischen Getauften und Ungetauften ziehe, läßt sich keineswegs hinreichend mit dem Hinweis auf 1Kor 14,16 und 1Kor 14,24f. begründen64. Denn Paulus setzt, wie Theodosius Harnack einleuchtend gezeigt hat, im 1. Korintherbrief zwei unterschiedliche Versammlungen der Gemeinde voraus: einen öffentlichen Gottesdienst, zu dem auch Nichtgetaufte Zutritt haben (1Kor 14), und die Zusammenkunft zur Mahlfeier, die den Getauften vorbehalten bleibt (1Kor 11,17–34)65. Daß nur Getaufte zu der urchristlichen, das Sättigungsmahl und das sakramentale Mahl umfassenden Mahlfeier zugelassen waren, wird durch zwei Befunde der weiteren liturgischen Entwicklung bestätigt: dadurch, daß einerseits die Didache und die Traditio apostolica sogar ausdrücklich den Ausschluß der Ungetauften von dem Sättigungsmahl verfügen66 und andererseits Justin betont, daß nur Getaufte am sakramentalen Mahl teilnehmen dürfen67.

———————— 63 Der gleiche Sinn dürfte vorliegen, wenn in Did 10,6 der Ruf des Liturgen lautet:      ,

 ·     ,  . Als  wird der getaufte Christ prädiziert (vgl. Did 4,2), und der Imperativ   ist „eine Einladung an den Ungläubigen, ein  … zu werden, sich der Gemeinde anzuschließen“ (R. KNOPF, Die Apostolischen Väter I: Die Lehre der zwölf Apostel. Die zwei Clemensbriefe [HNT Ergänzungsband], Tübingen 1920, 29). Für weniger wahrscheinlich halte ich die – z.B. von NIEDERWIMMER, Die Didache, 204, bevorzugte – Deutung, daß die zitierten Worte auf eine Trennung innerhalb der Gemeinde abheben, indem sie die Getauften dazu aufrufen, nur im Stande der Heiligkeit zum Herrenmahl zu kommen oder aber zuvor Buße zu tun (  also wie in Did 15,3). 64 Zu der entsprechenden Argumentation s. etwa BORNKAMM, Zum Verständnis des Gottesdienstes bei Paulus, 125f. 65 TH. HARNACK , Der christliche Gemeindegottesdienst im apostolischen und altkatholischen Zeitalter, 143ff.; vgl. auch H. CONZELMANN, Grundriß der Theologie des Neuen Testaments (EETh 2), München 1967, 68f.; F. HAHN, Der urchristliche Gottesdienst (SBS 41), Stuttgart 1970, 61. – Nimmt man für Korinth nur eine einzige gottesdienstliche Zusammenkunft an, zu der auch die Feier des Herrenmahls gehörte, so wird man die Formel von 1Kor 16,22 dahingehend interpretieren müssen, daß nach einem Verkündigungs- und Gebetsteil, der für jedermann offen war, die Entlassung der Ungetauften erfolgte. 66 Did 9,5; Traditio apostolica 25–27. In Did 9,5 bezeichnet    – dem Verbum    9,1; 10,1 entsprechend – die jeweils mit    ,  … eingeleiteten Gebete, die über dem Qidduš-Becher (9,2), über dem zu Beginn des Sättigungsmahls gebrochenen Brot (9,3f.) und (über dem nicht ausdrücklich erwähnten Segenskelch) als Tischdankgebet nach der Mahlzeit gesprochen werden (10,1–5). Dabei steht    metonymisch für das Sättigungsmahl insgesamt. 67 Justin, Apol I 66,1. Justin bezeichnet hier die sakramentale   als   .

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Theologie

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IV Wie die Exegese der Texte 1Kor 10,16f. und 1Kor 16,20b.22–23 ergeben hat, erblickt Paulus in der Zugehörigkeit zu Jesus Christus und von daher in der Taufe die grundsätzliche Bedingung für die Teilnahme am Herrenmahl. Daß es die Getauften sind, die sich am Tisch des Herrn versammeln, wird dann auch im Spiegel dreier Sachverhalte sichtbar, die ebenfalls im 1. Korintherbrief zur Sprache kommen und jetzt nur in aller Kürze skizziert seien: 1. Nach 1Kor 5,11 soll die Gemeinde nicht mit jemand verkehren, „der sich Bruder nennt und dabei ein Unzüchtiger oder Betrüger oder Götzendiener oder Verleumder oder Trunkenbold oder Räuber ist“, und sie soll mit einem solchen „auch nicht zusammen essen“. Vom    , d.h. von der Mahlgemeinschaft, will Paulus einen Getauften also dann ausgeschlossen wissen, wenn dieser sich mit seinem konkreten Verhalten in einem fundamentalen Widerspruch zu seinem Getauftsein und somit zu der Zugehörigkeit zu Jesus Christus befindet68. 2. Weil diejenigen, die zum Tisch des Herrn kommen, dem allein angehören, auf dessen Namen sie getauft sind, deshalb können und dürfen sie – wie der Apostel in 1Kor 10,14–22 mit aller Entschiedenheit betont – nicht zugleich auch an einem heidnischen Götzenopfermahl teilnehmen. Die Gemeinschaft mit Christus und die Gemeinschaft mit den Dämonen schließen einander absolut aus (V. 21). 3. Am Tisch des Herrn versammelt sich die Gemeinde derer, die dem Brotwort 1Kor 11,24b entsprechend ihre Signatur in dem !" !# haben, das allen in gleicher Weise gilt und alle in Christus miteinander verbindet. Deshalb ist es nach 1Kor 11,17–34 mit dem Wesen des Herrenmahls schlechterdings unvereinbar, wenn die Mahlteilnehmer einander nicht als Menschen ansehen und achten, für die Christus sich selbst in den Tod dahingegeben hat. Die sakramentalen Gaben werden nur da recht empfangen, wo man weiß und ernst nimmt, daß sie an dem für alle geschehenen Tod des Herrn Anteil geben69. Dies ernst nehmen – das heißt zugleich: die Taufe ernst nehmen, in der Christus selbst einem jeden am Beginn seines Christenlebens das !" !# auf den Leib geschrieben hat. ———————— 68 Hier handelt es sich nicht um eine zweite grundsätzliche Bedingung für die Teilnahme am Herrenmahl, sondern um eine zwingende Konsequenz aus der faktischen Negierung der Taufe und also um eine Implikation der einen und einzigen grundsätzlichen Bedingung. 69 Nach 1Kor 11,27ff. empfängt derjenige die sakramentalen Gaben „in unangemessener Weise“ ($ % V. 27), der ihr Wesen und ihre Bedeutung nicht angemessen würdigt (& '   ( # V. 29), und die damit gegebene Mißachtung jener Gaben bedeutet eine Versündigung „am Leib und Blut des Herrn“, die das Strafgericht des Kyrios zur Folge hat (V. 27.29). S. dazu WOLFF, Der erste Brief des Paulus an die Korinther, 276–280; HOFIUS, Herrenmahl und Herrenmahlsparadosis, 239f.

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Gemeinschaft am Tisch des Herrn

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Ein Hinweis auf den Galaterbrief kann hier angefügt werden. Nach Gal 2,11ff. hat Paulus beim sog. antiochenischen Konflikt die von seiten der Judenchristen vollzogene Aufhebung der Tischgemeinschaft mit den Heidenchristen, die zugleich die Aufhebung der Gemeinschaft am Tisch des Herrn bedeutete, aufs schärfste verurteilt. Er hat es getan, weil damit die „Wahrheit des Evangeliums“, daß für Juden wie Heiden das eschatologische Heil ausschließlich in Jesus Christus liegt, geleugnet und für die Teilnahme am Herrenmahl ein anderes Kriterium als das des Glaubens an Jesus Christus etabliert wurde70. Im Anschluß an Gal 3,26–29 könnte man formulieren: Die Aufhebung der Mahlgemeinschaft war für Paulus prinzipiell damit unvereinbar, daß alle Getauften durch den Glauben Christus gehören und eben damit Kinder Gottes sind. Sie alle sind ja „in Christus“ der eine neue Mensch – der Mensch, den der Sohn Gottes durch seinen Tod erlöst und sich zum Eigentum erworben hat.

* Formulieren wir abschließend ein Fazit, so kann gesagt werden: Dem paulinischen Zeugnis zufolge ist es der im Gottesdienst gegenwärtige Kyrios Jesus Christus selbst, der Menschen im Herrenmahl an seinem Tisch versammelt und ihnen durch die sakramentalen Gaben Gemeinschaft mit sich und untereinander gewährt. Als einzige prinzipielle Bedingung für die Teilnahme an diesem Mahl gilt dabei die Zugehörigkeit zu Christus, mit der zugleich die Zugehörigkeit zu seiner Kirche gegeben ist, und also die Taufe auf den Namen dessen, der für die Seinen den Tod am Kreuz erlitten hat. Der Ausschluß eines Getauften von der Gemeinschaft am Tisch des Herrn ist damit als im Grunde unmöglich erwiesen. Nicht zufällig wird in den Paulusbriefen ein solcher Ausschluß allein da gefordert, wo die Lebensführung der Zugehörigkeit zu Jesus Christus elementar widerspricht und deshalb eine offenkundige Mißachtung der Taufe darstellt.

———————— 70 S. im einzelnen die Argumentation von Gal 2,15–21, die auf Gal 2,14 und den dort gegebenen Hinweis auf die $)  ) folgt.

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Gemeindeleitung und Kirchenleitung nach dem Zeugnis des Neuen Testaments Eine Skizze1

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