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German Pages [292] Year 1991
V&R
TSUTOMU HAGA
Theodizee und Geschichtstheologie Ein Versuch der Uberwindung der Problematik des Deutschen Idealismus bei Karl Barth
VANDENHOECK & RUPRECHT IN GÖTTINGEN
Forschungen zur systematischen und ökumenischen Theologie Herausgegeben von Wolfhart Pannenberg und Reinhard Slenczka Band 59
CIP-Titelaufnahme der Deutschen Bibliothek Haga, Tsutomu Theodizee und Geschichtstheologie: ein Versuch der Uberwindung der Probelmatik des deutschen Idealismus bei Karl Barth /Tsutomu Haga. - Göttingen: Vandenhoeck und Ruprecht, 1991 (Forschungen zur systematischen und ökumenischen Theologie; Bd. 59) ISBN 3-525-56266-7 NE: GT
A portion of the publishing costs was given as Grant-in-Aid for Publication of Scientific Research Result (Grant-in-Aid for Scientific Research) by the Ministry of Education, Science and Culture in Japan.
© 1991 Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen. Printed in Germany. - Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmung und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Gesetzt aus Garamond auf Linotronic 300 System 4 (Linotype). Satz und Druck: Guide-Druck GmbH, Tübingen. Bindearbeit: Hubert & Co., Göttingen.
Inhalt 1
Erstes Kapitel: Darlegung des Problemhorizontes
11
1.1
Theodizee und Religion Die soziologisch-normative Kraft der Religion
11
1.2
Theodizee und Neuzeit (1) Die Aufklärung und die Naturphilosophie
12
1.3
Theodizee und Neuzeit (2) Der Deutsche Idealismus und die Geschichtsphilosophie
14
1.4
Theodizee und Dogmatik Die juristisch prozessierende Theodizee und die doxologische Theodizee
15
1.5
Theodizee und K. Barth Die Theodizee als »fides quaerens intellectum«
17
1.6
Arbeitsgang und Analysemethode Vier Kategorien der Theodizee-Fragestellung
19
2
Zweites Kaptitel: Erneute Thematisierung der Theodizee und der Geschichtsphilosophie in der Nachkriegszeit
22
2.1
Karl Löwith: Die Kosmodizee als Herausforderung an die Theodizee
22
2.2
Jakob Taubes: Die apokalyptisch-gnostische Historiodizee als geschichtliche Dialektik
24
Ernst Bloch: Die zukünftige Anthropodizee als diesseitiger Messianismus
27
Hans Blumenberg: Die gegenwärtige Anthropodizee als Umbesetzung der Theodizee
31
2.3
2.4
5
2.5
OdoMarquard: Der »Atheismus ad maiorem Dei gloriam« als Selbstauflösung der Theodizee
36
2.6
Beurteilungen
39
2.6.1
K. Löwith oder ein Mythos vom heiligen Kosmos
39
2.6.2
J. Taubes oder ein Mythos vom heiligen Prozeß der Historie
40
2.6.3
E.Bloch oder ein Mythos von der heiligen Zukunft des Menschen . . .
40
2.6.4
H. Blumenberg oder ein Mythos von der heiligen Gegenwart des Menschen
41
2.6.5
O. Marquard und das Erlöschen des Mythos der Theodizee
42
3
Drittes Kapitel: Analyse der philosophischen Theodizee in der Neuzeit
43
Theodizee und Metaphysik Die kosmologisch-teleologische Theoriebildung bei G.W. Leibniz
43
3.1.1
Voraussetzung: Metaphysisch-physische Methode und Monadologie
43
3.1.2
Die Wo/Was-Frage der Theodizee Auseinandersetzung mit Spinoza
48
3.1.3
Die Woher-Frage: Privatio boni und Zulassung Gottes
50
3.1.4
Die Wozu-Frage: Die beste aller möglichen Ganzheiten und Mathesis quaedam Divina
52
3.1
3.1.5
DieWohin-Frage:
3.1.6
Beurteilung
Prästabilierte Harmonie
54 55
3.1.6.1 Die Logodizee statt der Theodizee
55
3.1.6.2 Das Griechische bei Leibniz
57
3.1.6.3 Die protologische Teleologie und das geschlossene System der Schöpfung
58
3.1.6.4 Das Zurücktreten der Sündenlehre und die Entbehrlichkeit der Versöhnung
59
3.1.6.5 Kann der Mensch »Gottes Auge« sein?
60
6
3.2
Theodizee und Moralphilosophie Agnostisch-praktischeTheoriebildungbeil. Kant
62
Voraussetzung: Neue Begründung der Theodizee auf den Kritizismus der Vernunft
62
DieWo/Was-Frage: Praktisch-vernünftige Festlegung
67
Die Woher-Frage: Die Freiheit und das radikale Böse
70
3.2.4
Die Wozu-Frage: Die durch die praktische Vernunft postulierte Teleologie
72
3.2.5
Die Wohin-Frage:
3.2.1
3.2.2 3.2.3
Kollektiver Fortschritt im Werden 3.2.6
Beurteilung
76 78
3.2.6.1 Die moralische Verengung
78
3.2.6.2 Das optimistische Sündenverständnis
78
3.2.6.3 Das Fehlen der klassischen Versöhnungslehre
79
3.2.6.4 Kann der Mensch »Gottes Stimme« sein ?
79
3.2.6.5 Die Abwesenheit Gottes
80
3.3
Theodizee und Geschichtsphilosophie Dialektisch-Trinitarische Theoriebildung bei G.W. F. Hegel
81
Voraussetzung: Die Geschichte des trinitarischen Gottes als Theodizee
81
3.3.2
Die Wo/Was-Frage: Das Negative als Selbstentfremdung des absoluten Geistes
87
3.3.3
Die Woher-Frage: Das Erkennen und die Notwendigkeit des Bösen
89
Die Wozu-Frage: Die Zweckmäßigkeit als List der Vernunft
92
Die Wohin-Frage: Die Formen der Versöhnung und der Gedanke des Todes Gottes
94
Beurteilung
99
3.3.1
3.3.4 3.3.5
3.3.6
3.3.6.1 Die Frage Kierkegaards nach der Wirklichkeit des individuellen Leidens
99
3.3.6.2 Die Stellvertretung und der »spekulative Karfreitag«
101
3.3.6.3 Eine gnostische Soteriologie
103
7
3.3.6.4 Das notwendige Moment des Bösen
103
3.3.6.5 Kann der Mensch »Gottes Betrachter« sein?
104
3.4
Theodizee und Ontologie Theogonisch-ontologische Theoriebildung bei F. W. J. Schelling
105
3.4.1
Voraussetzung: Das unvordenkliche Sein und die absolute Freiheit Gottes
105
3.4.2
DieWo/Was-Frage: Die verkehrte Position statt der Privation
110
3.4.3
Die Woher-Frage: Der Grund der Existenz als Natur in Gott
112
3.4.4
Die Wozu-Frage: Die ontologische Notwendigkeit der Möglichkeit des Bösen
115
3.4.5
DieWohin-Frage: Der theogonische Prozeß als Heilsgeschichte
3.4.6
Beurteilung
3.4.6.1 Das Gesetz des Seins und Gottes Freiheit
117 119 119
3.4.6.2 Die neuplatonsiche Spur
119
3.4.6.3 Die außergöttliche Welt
120
3.4.6.4 Die zwei Willen Gottes
120
3.4.6.5 Kann der Mensch »Gottes Kosmographiker« sein?
121
4
Viertes Kapitel: Das Programm der doxologischen Theodizee bei K . B a r t h
122
4.1
Die Voraussetzung: Die Bundesrelatiologie als theologischer Ansatz
122
4.1.1
cogitatio et pietas
122
4.1.2
Die ontologische Relevanz der analogia relationis
124
4.1.3
Die christologische Relationsontologie
127
4.1.4
Die Bundesrelatiologie analogia relationis ex foedere
130
4.1.5
Sein und Denken in der Bundes-Relation
133
8
4.2
Die Wo/Was-Frage bei К. Barth
134
4.2.1
Das Nichtige und seine Exponenten
134
4.2.2
Die Ontik des Nichtigen Die anti-bundesrelatiologische Wirklichkeit des Nichtigen
136
4.2.3
Erkenntnis und Verkennung des Nichtigen Das Nichtige und die Schattenseite
139
4.2.4
Die Zeit- und Raumberaubung des Nichtigen und die privatio boni
142
4.3
Die Woher-Frage bei K.Barth
145
4.3.1
Der theologische Agnostizismus und Deus in Christo praedicatus
145
4.3.2
Die prädestinatianische Urentscheidung Gottes als retrospektives Postlegomenon
148
4.3.3
Der Dualismus und der theologsiche Exorzismus
152
4.3.4
Der Monismus und der »iudex mali«
156
4.3.5
Gottes Herrschaft und des Menschen Freiheit
161
4.3.5.1
Des Menschen Freiheit in der Prädestinationslehre
162
4.3.5.2 Des Menschen Freiheit in der Vorsehungslehre
165
4.3.5.3
Des Menschen Freiheit in der Sündenlehre
168
4.3.6
Die offene Zukunft der Schöpfung und das »valde bonum« als theatrum foederis
173
4.4
Die Wozu-Frage bei K.Barth
182
4.4.1
Der relatiologische Horizont der Sinnfrage
182
4.4.2
Die Logik von Sünde und Strafe
188
4.4.3
DieTheodizee als relatiologische Paideia
196
4.4.4
DieTheodizee und der Eudämonismus
204
4.5
Die Wohin-Frage bei K.Barth
214
4.5.1
Theodizee und Rechtfertigung
214
4.5.1.1
Die Implikation der Rechtfertigung in der Theodizee
214
4.5.1.2
Die Extension der Theodizee in der Rechtfertigung
216
4.5.2
Die Theodizee des Kreuzes
218
4.5.2.1 Die Leidensfähigkeit Gottes in der Relation
220
9
4.5.2.2 DieTrinität und die Zwei-Naturen-Lehre
223
4.5.2.3 Die Soteriologie und der Begriff der Stellvertretung
226
4.5.2.4 Der Stauro-pan(en)theismus
232
4.5.3
DieTheodizee der Auferstehung
234
4.5.4
DieeschatologischeTheodizee
239
4.5.4.1 Drei Formen der Eschatologie
239
4.5.4.2 Zwei kritische Überlegungen
246
4.5.5
Die pneumatologische Theodizee und die relatiologische Konkretheit
248
4.5.5.1 DieTheodizee als Er-lösung
248
4.5.5.2 Die »pneumatologia gemitus«
250
4.5.6
Die Theodizee des Gebetes und die ekklessiologische Sozialethik
254
5
Fünftes Kapitel: Fazit
260
Zwischen dem westlichen Sein und dem östlichen Nichts
260
Über den Mythos vom Demiurgen hinaus Gnosis und die Post-Moderne
266
Literaturverzeichnis
270
5.1 5.2
6
10
ERSTES KAPITEL
Darlegung des Problemhorizontes
1.1 Tbeodizee und Religion. Die soziologisch-normative Kraft der Religion Die Religion war einst der Kern der Gesellschaft. Die Menschen fanden darin die Norm des Lebens. Der Nomos war - als Gottes Gesetz - sowohl lex naturae als auch das Gesetz der Gesellschaft. Die Einigung mit dem Nomos war die einzige Sinngebung für das persönliche und soziale Leben. Angesichts der Probleme - z.B. die Naturkatastrophe, die die ganze Gesellschaft mit einem Schlag zerstört; die körperlichen und seelischen Schmerzen, die als Krankheit, Verletzung, frühes Sterben usw. den Alltag des einzelnen bedrohen; die unfaire Unterdrückung, die sich aus der sozialen Ungerechtigkeit ergibt; das künstliche Unglück, das durch das Böse der anderen hervorgerufen wird - hat eben diese normative Kraft der Religion die Funktion der Sinngebung ausgeübt und die Gesellschaft vor dem Durcheinander geschützt. Obwohl das Wort »Theodizee« nicht bekannt war, hatte die Religion in der Gesellschaft doch die normative Funktion, die die Theodizee bzw. Kosmodizee1 eigentlich bedeutet. In diesem Sinne ist die Religionsgeschichte zugleich auch Theodizeegeschichte.2 Darüber hinaus sollten wir 1 Darunter verstehen wir den Verteidigungsversuch der sinnvollen Vollkommenheit des Schöpfergottes bzw. des Kosmos als solchen. - Vgl. K. Goldammer, Theodizee, in: R G G 3 Art. Religionsgeschichtlich. Sp. 739f. L. Oeing-Hanhoff, Kosmodizee, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, Sp. 1143. - H . R . Schlette, Kosmodizee und Theodizee. Ein historischer und hermeneutischer Struktur-Vergleich, in: Kairos. Zeitschrift für Religionswissenschaft und Theologie, 1973 Neue Folge 15, S. 190 ff. 2 P. Ricoeur versucht die Gruppen der Mythen religionsphänomenologisch zu typologisieren und von daher die Symbolik des Bösen zu interpretieren (Symbolik des Bösen. Phänomenologie der Schuld II, 1960, dt. Freiburg/München 1971). M. Weber hat schon früh auf die religionssoziologische Bedeutung der Theodizee hingewiesen und in die vier Idealtypen (die Verweisung auf den diesseitigen künftigen Ausgleich, die Vertröstung auf Jenseits-Hoffnungen, der Dualismus und die Karman-Lehre) klassifiziert (Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriß der verstehenden Soziologie, Tübingen 1921, 5 1972 2. Teil, S. 314ff.). - Über diese Webersche Theorie hinaus versucht P. Berger die Theodizee wieder als Funktion der Kosmos-Erhaltung gegen Anomie aufzufassen. Er klassifiziert die Theodizee-Theorie auch aus dem religionssoziologischen Gesichtspunkt in sechs Typen. Am irrationalen Pol steht die Transzendierung des Selbst durch die Identifikation mit dem Kollektiv. Am rationalen Pol steht der Karma-Samsara-Komplex. Zwischen den äußersten Polen liegen vier intermediäre Theodizeen: der diesseitige Ausgleich, der
11
nicht übersehen, daß die Theodizeefunktion der Religion auch nach der Säkularisierung in verwandelter Form - als Quasi-Religion z.B. im Marxismus - noch besteht. Nun, wir müssen aber fragen, aus welchem Grund das bestimmte Thema, das »Theodizee« genannt wurde, als die historische Erscheinung, deren Datung und Ort feststellbar sind,3 und zwar im neuzeitlichen Europa, das durch das Christentum geprägt ist, aufgetaucht ist. Es ist jedoch nicht so einfach, wie es zunächst scheint, diese Frage zu beantworten. Denn dahinter verbirgt sich eine gewisse Paradoxie. Die apologetische Bemühungen der philosophischen Rechtfertigung Gottes von Leibniz über Kant zu Schelling und Hegel im sogenannten »Jahrhundert der Theodizee« bedeutet nicht schlechthin den Höhepunkt der Theodizeefunktion in der christlichen Gesellschaft. Im Gegenteil war dieses Jahrhundert die Periode, in der die eigentliche Theodizeefunktion, die das corpus christianum als die soziologisch normative Kraft besessen hat, von Grund auf erschüttert war. Die Entwürfe der philosophischen Theodizee waren also die Bemühungen zur Wiederherstellung der verlorenen Funktion in der Krise des Theodizeeverlustes, nämlich die Rehabilitation der Theodizeefunktion in der christlichen Gesellschaft.
1.2 Theodizee und Neuzeit (1). Die Aufklärung und die Naturphilosophie Es ist allerdings richtig, daß man auf die Entstehung der autonomen Vernunft hinweist, die so aufgeklärt worden ist, daß sie frei von der kirchlichen Autorität Gott verteidigen zu können meinte. 4 Dieser allgemeine Hinweis aber muß durch eine eingehende Erklärung ergänzt werden. Die Theodizee, Gott vernünftigerweise zu verteidigen, setzt einerseits die Selbständigkeit der menschlichen Vernunft von der religiösen Autorität voraus. Aber andererseits setzt sie zugleich voraus, daß diese Befreiung nicht so weit vorankommt, daß sie den völligen Abschied von der religiösen Tradition jenseitige Ausgleich, die dualistische Theodizee und die masochistische Theodizee des radikalen ethischen Monotheismus (The Sacred Canopy. Elements of a Sociological Theory of Religion. New York 1967, dt. Zur Dialektik von Theorie und Gesellschaft. Elemente einer soziologischen Theorie, Frankfurt a.M. 1973, 52ff.). - Diese Versuche kommen unserer Ansicht nahe, daß die Religionsgeschichte als die Theodizeegeschichte aufzufassen ist. Aber das Wesen der Religion ist u.E. freilich nicht schon mit der sozialen Legitimation des heiligen Kosmos oder der Erhaltungsfunktion der Plausibilitäts-Struktur (plausibility structure) erschöpft. - Vgl. N. Luhmann, Funktion der Religion, Frankfurt a.M. (1977) 1982, S. 39,42, 198, 216,222f. 3 O.Marquard, Theodizee, Geschichtsphilosophie und Gnosis, in: Spiegel und Gleichnis. Festschrift für Jacob Taubes, hrsg. v. N.W. Bolz und W. Hübener, Würzburg 1983, S. 160ff. 4 Z.B. W. Huber, Theodizee, in: Geschichtsbewußtsein und Rationalität. Zum Problem der Geschichtlichkeit in der Theoriebildung, hrsg. v. E.Rudolph und E.Stove, Stuttgart 1982, S. 373.
12
bedeutet. Denn sonst wäre es unnötig, daß die Vernunft ausgerechnet die Rolle des Anwalts für Gott übernimmt. Die Aufklärung hatte gewiß - zumal in Deutschland - den ambivalenten Charakter als ein »Prozeß von Traditionskritik und Traditionsbewahrung« zugleich. 5 Hier entsteht merkwürdigerweise eine juristische Struktur der Vernunft. Gegenüber der Vernunft als Kläger(in), die die Theodizeefrage stellt, steht die Vernunft als Verteidiger i n ) , die sich für Gott(esbegriff) als Angeklagten zum Prozeß anheischig macht, vor dem Gerichtshof derselben Vernunft. Das ist der Prozeß der Vernunft gegen die Vernunft durch die Vernunft. Was bezeichnet nun die aufklärerische Vernunft als Klägerin ? Einer der wichtigen Charaktere ist die Änderung des Naturbegriffs aufgrund des neuen Befundes der Naturwissenschaft. Die Wendung von aristotelisch-ptolemäischen zum kopernikanischen Weltbild führte nach dem soziostrukturellen Zusammenbruch der kirchlichen Einheitskultur zur Vollendung der Gestaltung des modernen Naturbegriffs in der Aufklärung. 6 Dieser moderne Naturbegriff mußte auch theologisch ein bedeutsames Resultat mit sich bringen: die Natur ist nicht mehr der untergeordnete Bestandteil im Schema von supranatura et natura, dem Reich der Gnade und dem Reich der Sünde. Sie ist zur >Bühne< der Aktivität geworden, wo der Mensch aufgrund des Naturgesetzes die Natur beherrschen kann. Das bedeutet den Zusammenbruch des biblischen Schemas von Schöpfung und Sündenfall. Und dieser Zusammenbruch der Sündenfallslehre ist zu einem Grund dafür geworden, daß die soziologisch normative Kraft der Theodizeefunktion in der christlichen Neuzeit ins Wanken gekommen ist. Das Böse der Welt entspringt nicht mehr aus der Sünde des Menschen. Mit der Zerstörung der Voraussetzung von Schöpfung und Sündenfall ist die Theodizeefunktion des heilsgeschichtlichen Schemas: Versöhnung durch Jesus Christus und Erlösung durch Heiligen Geist auf das Reich Gottes hin, verlorengegangen. Hiermit ist die radikal skeptische Vernunft entstanden, die die Gerechtigkeit und Vollkommenheit Gottes von Grund auf in Frage stellen wollte. Der Unterschied der modernen Theodizee von der früheren ist eben diese Radikalität der Skepsis. Die moderne Theodizee birgt die atheistische Frage in sich, ebenso wie sich Hiobs »atheistische« Frau (J.Moltmann) hinter Hiob verbirgt. »Wo diese Frage - die Theodizeefrage - gestellt wird, da sind Atheismus und Nihilismus immer schon im Begriff, ihr schreckliches Gesicht zu erheben.« 7 Es kommt hier darauf an, daß der Verteidiger, der gegen diese skeptische 5 Willi Oelmüller, Die unbefriedigte Aufklärung. Beiträge zu einer Theorie der Moderne von Lessing, Kant und Hegel, Frankfurt a . M . (1969), 1979, S. 192, 200. 6 Vgl. H . Lehmann, Das Zeitalter des Absolutismus. Christentum und Gesellschaft Bd. 9, Stuttgart/Berlin/Köln/Mainz 1980, S. 152-161. 7 G . Bornkamm, Die Frage nach Gottes Gerechtigkeit. Rechtfertigung und Theodizee, in: Das Ende des Gesetzes. Gesammelte Aufsätze Bd. I, München 1952, 5 1966, S.201. Vgl. H . M . Barth, Artheismus und Orthodoxie. Analyse und Modelle christlicher Apologetik im 17. Jahrhundert, Göttingen 1981, S.132ff., 275ff.; G . E b e l i n g , Dogmatik III, Tübingen 1979, S.513. H . Thielicke, Glauben und Denken in der Neuzeit. Die großen Systeme der Theologie und
13
Vernunft für Gott eintritt, auch die aufklärerische Vernunft war. Der Pietismus war gewiß die erste religiöse Maßnahme gegen die moderne Vernunft. Das Wesen des Pietismus war jedoch eine reine Restauration der reformatorisch-altprotestantischen Gedanken, und insofern hat er die Erbsündenlehre beibehalten. Deshalb fehlte es dem Pietismus an der Fähigkeit, überzeugende Antworten auf die neue Frage des modernen Geistes zu finden.8 Wer sich dann statt des Pietismus dieser Frage annahm, war der religiöse Rationalismus, der sogenannte »Aufklärungs-Protestantismus« (E. Troeltsch), der die Lebensformen der Neuzeit nicht abgelehnt hatte. Er wollte vielmehr die moderne Weltanschauung mit der religiösen Gesinnung versöhnen. Eben diesen Standpunkt vertritt auch Leibniz.9 Dieser Aufklärungs-Protestantismus hat den Ausgleich zwischen dem modernen wissenschaftlichen Naturbegriff und dem religiösen Denken und Gefühl als seine Hauptaufgabe behandelt. Eben deshalb hat die Theodizee, die durch diesen AufklärungsProtestantismus durchgeführt wurde, einen naturtheologischen Zug. Dort ist nämlich die Theodizee als eine Art »Naturphilosophie« aufgestellt worden. In diesem Sinne kann man sagen, daß die Physikotheologie des 17. Jahrhunderts der Vorgänger der Leibnizschen Theodizee war.10
1.3 Theodizee und Neuzeit (2). Der Deutsche Idealismus und die
Geschichtsphilosophie
Die neuzeitliche Debatte über den Prozeß Gottes zwischen der »verdorbene^) Vernunft« und der »gesunden Vernunft«11 ging noch nicht zu Ende. Je stärker das Bewußtsein der Freiheit wurde, desto deutlicher ist das Geschichtsbewußtsein in der autonomen Vernunft der Neuzeit erwacht. Die Bühne des Prozesses ist von der Natur zur Geschichte übergegangen. Der Religionsphilosophie, Tübingen 1983, S . 3 7 f f . ; J . M o l t m a n n , Trinität und Reich Gottes. Zur Gotteslehre, München 1980, S. 64 f. 8 Vgl. E . Troeltsch, Protestantisches Christentum und Kirche in der Neuzeit, in: Die Kultur der Gegenwart. Ihre Entwicklung und ihre Zeit, hrsg. v. P. Hinneberg. Teil I. Abt. N . 1, 2, Leipzig 1922. 9 E. Troeltsch, Leibniz und die Anfänge des Pietismus, in: Ges. Sehr. IV, Tübingen 1925, S. 4 8 8 - 5 3 1 . 1 0 Die Physikotheologen (A. Steuchus, Chr. Franck, T. Spizel, M.Mersenne, G.Voetius) versuchten, Nutzloses, Schädliches und Gefährliches - z . B . wilde Tiere, die zerstörerischen Kräfte der N a t u r wie Frost und Hitze, Krankheiten usw. - , die sich aus der naturwissenschaftlichen Betrachtung ergaben, in eine harmonische Teleologie zu integrieren und damit die traditionelle Providenzlehre zu verteidigen. Ihre Versuche sind schon als die Vorwegnahme der Leibnizschen Theodizee zu bezeichnen. Vgl. Barth, Atheismus und Orthodoxie, S . 2 1 , 1 2 5 f f . , 132ff., 241 ff., 273 ff. Barth sieht dennoch einen nuancierten Unterschied zwischen Leibniz und den Physikotheologen: »Für Leibniz begründet also der Gottesbeweis die Theodizee und nicht die Theodizee den Gottesbeweis wie bei den Physikotheologen« (aaO., S. 279). 1 1 G . W . Leibniz, Die Theodizee. Übersetzt v. A.Buchenau, Hamburg 1968, S. 75. Vgl. zu dieser Wortwendung auch: W. Oelmüller, aaO., S. 200.
14
Aufklärungs-Protestantismus, der die Theodizee als die Naturphilosophie entworfen hat, hatte keine Chance mehr. Um neue Wege zu finden, mußte die Theodizee zur Geschichtsphilosophie werden. Wer sich dieser Aufgabe angenommen hat, ist eben der Deutsche Idealismus. Er ist also die neue Selbstinterpretation des christlichen Geistes, der der Entwicklung des neuzeitlichen Geistes entspricht, und zugleich ein neuer Versuch, die Theodizee wiederzugewinnen. Wir müssen dabei die unverlöschlichen Einflüsse der christlich-theologischen Traditionen auf den Deutschen Idealismus vor Augen haben. Man kann z.B. leicht Züge der neuzeitlichen Nachfolge des lutherischen Protestantismus darin finden.12 Nicht nur das, sondern auch die Strömung der reformierten Foederal-Theologie, die von J. Coccejus entwikkelt wurde - wie wir später im Zusammenhang mit K. Barth erwähnen - , durch Vermittlung des Pietismus (P. Spener, Α. H. Francke, Bengel, Oetinger) und der Theologie der Heilsgeschichte (J. Ch.K. v. Hofmann) ist in die dialektische Philosophie Hegels und auch Schellings eingeflossen.13 Wir müssen also den Deutschen Idealismus nicht bloß als den philosophischen Ausdruck des neuzeitlichen Geistes, sondern auch als seine religiöse Repräsentation, die die Theodizeefunktion der christlichen Gesellschaft wiederherzustellen versuchte, ansehen. Die Theodizee ist also nicht das Nebenprodukt des Deutschen Idealismus als Geschichtsphilosophie. Vielmehr hat das Theodizee-Motiv, wenn ich übertreiben darf, den Deutschen Idealismus zur Geschichtsphilosophie gemacht. Eben das Theodizee-Motiv ist sozusagen zu einem »Katalysator« geworden, der die Entstehung der Geschichtsphilosophie gefördert hat.
1.4 Theodizee und Dogmatik. Die juristisch prozessierende Theodizee und die doxologische
Theodizee
Indem der Deutsche Idealismus die Theodizeefrage auf sich nahm, mußte er zur Quasi-Theologie werden. Dieser Satz, der der Theologie freundlich zu sein scheint, enthält in Wirklichkeit eine sehr gefährliche Virulenz: Sofern 12
Vgl. E.Troeltsch, Der deutsche Idealismus, in: Ges. Sehr. IV, S. 5 3 2 - 5 8 7 .
Vgl. G. Schrenk, Gottesreich und Bund im älteren Protestantismus. Vornehmlich bei Johannes Coccejus, Gütersloh 1923, 2 1967, S . 3 0 0 - 3 3 2 . H.Faulenbach (Weg und Ziel der Erkenntnis Christi. Eine Untersuchung zur Theologie des Johannes Coccejus, Neukirchen 1973) aber läßt bei der Behauptung Vorsicht walten, daß die moderne Geschichtsphilosophie direkt an die Bundestheologie anzuschließen sei, obwohl auch er den »dialektischen« Charakter in der stufenweisen Bundesgeschichte bei Coccejus betont (aaO. S. 169ff.). Trotz seines Vorbehaltes aber scheint es uns, daß es unmöglich wäre, den Einfluß der Heilsgeschichte oder Eschatologie völlig zu verleugnen. - Vgl. W. Neuser, D o g m a und Bekenntnis in der Reformation: Von Zwingli und Calvin bis zur Synode von Westerminster, in: Handbuch der Dogmenund Theologiegeschichte, hrsg. v. C . Andresen, Bd. II, Göttingen 1980, S. 346; G. Hornig, Lehre und Bekenntnis im Protestantismus, in: Handbuch der Dogmen- und Theologiegeschichte, Bd. 111,1984, S. 93. 13
15
nämlich der Verteidiger auf demselben Boden des Gerichtshofs der Vernunft wie der Kläger steht, muß der ganze Prozeß des Gerichts auf die Weise, daß die menschliche Vernunft die endgültige Befugnis hat, durchgeführt werden! In diesem Sinne ist es nicht ohne berechtigten Grund, daß die Tradition der christlichen Dogmatik das Theodizee-Argument überhaupt als spekulativ abgelehnt oder nur als die Randbemerkung im Zusammenhang mit der Prädestinationslehre und der Vorsehungslehre behandelt hat. Trotz alledem bedarf es hier einer vorsichtigen Beurteilung, denn auch wenn die Diskussion der Theodizee aufgegeben wird, wird ja die Wirklichkeit des Leidens nicht aufgehoben. Die Problemamputation statt der Problemlösung kann nicht die tatsächlichen Probleme, aus denen sich die Theodizeefrage ergibt, beiseite schieben. Die liegengelassenen Probleme fangen quasi-theologisch, entfernt von den Händen der Theologen, damit an, eine eigene Theorie aufzubauen. Dann würde der Problem-Bereich der Theodizee zum besten Nährboden, wo die synkretistischen Unreinheiten der mythologischen, philosophischen und theologischen Überlieferungen wuchern. So sehen wir manchmal die komische Erscheinung, daß die typischen Theodizeetheorien des Deutschen Idealismus unerwartet auch in die Werke der Theologen, die die Theodizee als spekulativ abgelehnt haben, einschleichen. Wir dürfen also nicht mehr an der Theodizeefrage als Damoklesschwert über dem Kopf der Theologie vorübergehen. Sollte die philosophische Theodizee als spekulativ abgelehnt werden, dann muß man durch die sorgfältige Auseinandersetzung mit ihr deutlich machen, in welchem Sinne sie illegitim für die Offenbarungs-Theologie ist. Darüber hinaus ergeht an uns die Forderung, daß wir noch positiver eine theologisch legitime Theodizee, die auf der Doxologie beruht, statt der tradierten, spekulativen Theodizee, die auf der Prozeßführung beruht, erneut aufstellen. »Leidet er aber als ein Christ, so schäme er sich nicht, sondern ehre Gott mit diesem Namen.« (l.Petr 4, 16). Gerade hier, wo das Plagiat der Theorien am häufigsten passieren kann, müssen sich die Theologen an den Grundsatz: Man soll allein von der Offenbarung als principia domestica ausgehen und nicht die principia peregrina von der Philosophie ausleihen, halten und das Wort aus dem 1. Petrusbrief ernst nehmen: »Seid allezeit bereit zur Verantwortung vor jedermann, der von euch Grund fordert der Hoffnung, die in euch ist.« (l.Petr 3,15). Damit retten wir das Wort »Theodizee«, das eigentlich aus der Bibel: R o m 3, 5 abstammen soll, von der Ehrverletzung, die die schlechte Wendung des Wortes gebracht hat, und geben dem Wort die verdiente Bedeutung zurück. Die so verstandene doxologische Theodizee gehört nicht immer der Apologetik an. Vielmehr ist sie die Ausführung des dogmatischen Denkens als solchen und hat sozusagen einen »fundamental-theologischen« Charakter. 1 4 D a es sich hier um die Beziehung Gottes zur geschaffenen Welt handelt, 1 4 E. Schlink, Theodizee als fundamental-theologisches Problem, in: Zugang zur Theologie. Fundamentaltheologische Beiträge. Wilfried Joest zum 65. Geburtstag, Göttingen 1979, S. 147ff.
16
hat die Theodizee das Recht, ihren dogmatischen Locus der Schöpfungslehre zuzuteilen. Unsere Studien sind also zunächst als eine grundlegende Arbeit für die Schöpfungslehre anzusehen. Aber die Fragen, die tatsächlich behandelt werden sollen, betreffen die ganze Lehre vom dreieinigen Gott. Insofern läßt sich sagen, daß die Theodizee die Pflicht hat, ein ganzheitliches Urteil der gesamten Dogmatik zu fordern.
1.5 Theodizee und K. Barth. Die Theodizee als »fides quaerens
intellectum«
Trotz der negativen Einstellung K. Barths zum herkömmlichen Begriff der Theodizee, die Konturen der doxologischen Theodizee aus seiner dogmatischen Entwicklung zu schildern, - das ist der Hauptzweck unserer Studien. Warum denn zumal K. Barth ? Das liegt ganz einfach daran, daß man die schärfste theologische Theoriebildung, die die Problematik des Deutschen Idealismus überwindet, bei ihm finden kann. Barth bestimmt den Denkstil im 18. Jahrhundert als ein »keiner Instanz als sich selber verantwortliches Denken«. 15 Barth erkennt zwar an, »Das 18. Jahrhundert war so fromm wie irgend ein anderes Jahrhundert.« 16 Die Menschen des 18. Jahrhunderts haben jedoch nach Barth die »Humanisierung des Problems der Theologie« allzusehr »im Glauben an die Allmacht des menschlichen Vermögens« durchgeführt, nämlich auch Gott »in den Umkreis des souveränen menschlichen Selbstbewußtseins« einbezogen.17 Die Theodizee, die in diesem Kontext des Humanismus als »Lebensideal der Antarkie des vernünftigen Menschen in einer vernünftigen Welt« 18 durchgeführt wurde, ist in Wirklichkeit nur »die um der Anthropodizee willen nötige Theodizee«. 19 Barth zweifelt daran, ob nicht ein Uberlegenheitsverhältnis zugunsten des Menschen »bei jenem vorauseilenden, apriorisch-aposteriorischen, richterlichen Denken und Reden über Gott und Mensch, wie es im Zeitalter des Leibniz in der protestantischen Theologie zur Herrschaft kam«, vorausgesetzt sein sollte. »Man wird doch L. Feuerbach Recht geben müssen, wenn er der Theologie vorgehalten hat: Das Wesen dieses Denkens und Redens besteht faktisch darin, daß der Mensch sich Gott schafft nach seinem eigenen Bilde.« 20 Barths Kritik am Deutschen Idealismus ist noch schärfer. Es ist der »himmelstürmende Idealismus«, der »Gottes Offenbarung und Gegenwart als letztes, höchstes Ergebnis der Beschäftigung des Menschen
15 16 17 18 19 20
K. Barth, Die protestantische Theologie im 19. Jahrhundert (1947) Zürich 4 1981, S. 22. AaO., S. 63. AaO., S. 63-64. AaO., S. 56. AaO., S. 55. K. Barth, Die Kirchliche Dogmatik (KD), 1,2. S. 7.
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mit sich selbst verstehen« wollte. 21 »Die Wunderblume des... Deutschen Idealismus« sei eine »Anthropologie der zur Vergottung bestimmten, der Vergottung auch fähigen und in der Vergottung schon begriffenen Humanität schlechthin«.22 Mit seiner Kritik an der neuzeitlichen Theodizee, in der der Mensch Gott richtet, versucht Barth also, den theologischen Standpunkt der Reformatoren wieder aufzurichten. Luther warnte nämlich vor dem Theodizeeversuch in der Prädestinationslehre, indem man Gottes »ratio« anspricht. Dieser Anspruch auf den Willensgrund des Schöpfergottes sei »ac si sutorem aut zonarium roges indicio se sistere (als ob man den Schuster oder den Gürtelmacher darum gebeten hätte, sich vor Gericht zu stellen«.23 Und Calvin warnte auch ähnlich davor, daß wir selber zum Richter über Gott werden.24 Wir müssen aber darauf achtgeben, daß Barths Warnung vor dem Theodizeebegriff genaugenommen nur für die obengenannte juristisch prozessierende Theodizee gilt, und daß diese Warnung nicht immer den Verzicht auf die Theodizee als solche im eigentlichen Sinne des Wortes bedeutet. Barth hat schon das Theozidee-Problem in der Mitte des Kampfes von J.Chr. Blumhardt gesehen. Er kommentiert so: »Nicht das subjektive, sondern das objektive Problem des Leidens, das universal verstandene Hiobproblem ist gemeint.«25 Natürlich geht es Blumhardt nicht um die TheodizeeTheorie, sondern um eine »Machtfrage«, also um eine »Sicht und Erkenntnis der Wirklichkeit« des das Ganze der Kreatur umfassenden Reichs Gottes.26 Nach Barth bleibt es Blumhardts Leistung, die reale Theodizee-Frage wieder aufgeworfen zu haben, die die Schranke der liberalen ebenso wie der pietistischen Theologie durchbrechen mußte.27 Barth erkennt allerdings die Apologetik nicht als Aufgabe der Theologie an. Die Apologetik ist »der Versuch einer Begründung und Rechtfertigung der theologisch-ethischen Fragestellung im Rahmen und aufgrund der Voraussetzungen und Methoden eines nichttheologischen, eines allgemein menschlichen Denkens und Redens«.28 Solcher Versuch des Beweises bedeutet für Barth, daß wir dem Gegner verfallen, indem wir uns seiner zu erwehren versuchen.29 Wir sind aber zum Zeugen Gottes in Jesus Christus, nicht als Anwalt Gottes berufen. Kierkegaard hat einmal scharf formuliert, daß Judas, der Jünger des Herrn, eben durch den Kuß seinen Herrn verriet. Die Theologen kommen in diesem Sinne auch sehr nahe an die Gefahr Judas, ihren Herrn durch den Kuß zu verraten: Vor lauter Eifer der Apologetik kann es passieren, den Willen des Herrn mißzuverstehen. Solche Theodizee als defensive Strategie ist von 21 22 23 24 25 26 27 28 29
18
K D II, 1, S. 79. KD IV, 2, S. 90. M.Luther, W A 18, 729,13. J. Calvin, Pred. über Eph. 1,3 f. C.R. 51, 260f. Vgl. K. Barth, KD II, 2. S. 21. Barth, Die prot. Theol. im 19. Jh., S. 593. AaO., S. 593. AaO., S. 597. Barth, KD II, 2, S. 577. KD IV, 3, S. 79ff.
Barth ausgeschlossen. Aber es handelt sich hier um die offenbarungs-theologische Erkenntnis: Die Tat und das Wort Gottes, die sich in der Geschichte Jesu Christi offenbaren, sind so siegreich und mächtig, daß sie nicht dieTheodizeeFrage vermeiden, sondern vielmehr sie umfassen und überwinden. Der Weg, den K. Barth eingeschlagen hat, ist gerade dieser Weg von »fides quaerens intellectum« und insofern eine Doxologie der Selbstrechtfertigung Gottes in Jesus Christus (Rom 3,26), - aus der tiefen N o t heraus. Angenommen, daß das Jahrhundert der philosophischen Theodizee in der Tat die Periode der Krise im Sinne des Verlustes der Theodizee-Funktion in der christlichen Gesellschaft war und daß der Aufbau der Theodizee durch den Deutschen Idealismus mißlungen ist, so werden wir die eigentliche Funktion der Theodizee des Christentums in diesem dogmatischen Befund K. Barths entdecken können. Dies soll zugleich auch auf die interessante Frage nach dem soziologischen Ethos der dialektischen Theologie ein neues Licht werfen.
1.6 Arbeitsgang und Analysemethode. Vier Kategorien der Theodizee-Fragestellung I. Zunächst behandeln wir die fünf philosophischen Diskussionen in der Nachkriegszeit, die die Beziehung von der Theodizee und dem Deutschen Idealismus erneut thematisiert haben. Wir beurteilen hier makroskopisch die theoretische Tragweite des Deutschen Idealismus heute. Und es wird sich zeigen, daß das Thema »Theodizee« auch in der heutigen Philosophie keine obsolete Frage ist. Außerdem werden wir uns zugleich kritisch mit der philosophischen Situation heute auseinandersetzen. II. Dann analysieren wir mikroskopisch die Wesenszüge der neuzeitlichen Theodizee von der Aufklärung bis zum Deutschen Idealismus bei vier Vertretern : Leibniz, Kant, Hegel und dem späten Schelling. Es kommt hier darauf an, die nachhaltigen Züge »ideal-typisch« zu typologisieren und nach unseren vier Kategorien der Theodizee-Fragestellung zu analysieren. Wir werden hier sehen, daß eine ganze Menge der Theodizee-Theorien nicht nur aus christlichen alten Traditionen, sondern auch aus der Mystik und anderen Religionen in den Deutschen Idealismus eingeflossen waren. In diesem Sinne ist er als eine »Schatzkammer der Theodizee« zu bezeichnen. III. Der Problematik dieser philosophischen Theodizee gegenüber stellen wir K. Barths theologischen Befund und rekonstruieren ihn als die doxologische Theodizee im Gegensatz zur juristisch prozessierenden Theodizee. Dies geschieht aber auch immer mit Rücksicht auf die heutigen theologischen Diskussionen. Dabei versuchen wir, Barths Lehre vom trinitarischen »Sein Gottes in Relation« und seine Entfaltung der Schöpfungslehre aufgrund der analogia relationis aus dem föderaltheologischen Kontext her, der von J . C o c cejus entwickelt wurde, zu interpretieren und daraus die Konsequenz zu ziehen. 19
Unsere Grundthese lautet also: Die bundes-relatiologische Seins- und Denkstruktur bei Barth bildet nicht nur die formelle Voraussetzung für seine doxologischeTheodizee, sondern auch ihr materielles (inhaltliches) Resultat. Indem wir diese These nach unseren vier Kategorien der Theodizee-Fragestellung beweisen, können wir damit auch Barth wesentlich von Leibniz, Kant, Hegel und Schelling (trotz der anscheinenden Affinitäten!) abgrenzen. IV. Zum Schluß zeigen wir die Tragweite unserer bundesrelatiologischen Ontologie im Vergleich mit dem östlichen Nichts und auch in der Auseinandersetzung mit dem »Rezidiv der Gnosis« der Post-Moderne. Wir müssen nun im voraus unsere Analyse-Methode erklären. Wenn eine Untersuchung einen sehr extensiven Bereich abdeckt und eine tiefgründige Frage zum Gegenstand hat, hängt der Erfolg der Analyse (damit das Unterfangen nicht uferlos wird) von der Einfachheit, Klarheit und Systematik der Fragestellungen ab. Dieses Prinzip scheint speziell für unser Arbeitsvorhaben zu gelten, den Deutschen Idealismus Kant, Schelling, Hegel einschließlich Leibniz und dazu K. Barth im Hinblick auf das Thema »Theodizee« zu analysieren. Der Einfachheit, Klarheit und Systematik unserer Fragestellung dient es, die einzelnen Fragehorizonte, welche die TheodizeeFrage konstituieren, - also gleichsam die »Theodizee«-weckenden Situationen - systematisch nach ihrem Inhalt zu klassifizieren, sie sodann auf die wichtigsten Bestandteile einzuschränken und daraus dann sachgemäße Kategorien aufzubauen. Wir können aber erst dann ein systematisches Verständnis erwarten, wenn wir jeden der genannten Denker mit diesen Kategorien der Theodizee-Fragestellung als Instrument der Analyse »aussieben«. Da es den bisherigen Betrachtungen an einem solchen »Sieb« der Analyse fehlt, neigen sie eher zu einer willkürlichen und unsystematischen Charakterisierung eines jeden Gedankengebäudes. Es gibt u . E . vier sinnvolle Kategorien der Theodizee-Fragestellung, und wir können sie als vier (Wo-)Fragevariationen zusammenfassen: A. Die Wo/Was-Frage der Theodizee oder die Erkenntnis des Bösen Hier ist die Frage zu behandeln, was das Böse überhaupt ist; worin das sogenannte Böse liegt; ob es das Böse wirklich gibt oder ob es nur eine Einbildung ist; was für das Böse gehalten wird; - also die Frage nach der Erkenntnis und der Klassifizierung des Bösen. B. Die Woher-Frage der Theodizee oder der Ursprung des Bösen Hier ist zu fragen, woher das Böse ursprünglich kommt und wie es entsteht. Die traditionelle Frage von Boethius: »Si Deus est, unde malum? Si non est, unde malum?« (De Consolatione Philosophiae I, Prosa 4), trifft für diese Kategorie zu. Sie könnte m . a . W . die Frage nach der Vergangenheit oder der Herkunft des Bösen genannt werden. C . Die Wozu-Frage der Theodizee oder »Raison d'etre« des Bösen Hier ist zu fragen, warum und zu welchem Zweck das Böse eigentlich da ist; also die Frage nach dem Existenzgrund und nach der Gegenwart des Bösen.
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D . Die Wohin-Frage derTheodizee oder die Überwindung des Bösen Hier ist zu fragen, wie das Böse überwunden und bewältigt werden kann oder wohin das Böse geht: die Frage nach der Zukunft des Bösen. Mit diesen vier Fragehorizonten ist u . E . jede einzelne Frage nach dem Bösen in der ganzen Geschichte zu erfassen. Die Aufgabe derTheodizee liegt darin, die Gerechtigkeit Gottes bzw. die Liebe des gerechten Gottes vor den vier Frage-Variationen zu verteidigen. Wenn eine von ihnen fehlt, ist die Theodizee nicht gelungen, d.h. unvollkommen.
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ZWEITES KAPITEL
Erneute Thematisierung der Theodizee und der Geschichtsphilosophie in der Nachkriegszeit
2.1 Karl Löwith: Die Kosmodizee als Herausforderung an die Theodizee Es ist schon allgemein bekannt, daß sich hinter K. Löwiths geistesgeschichtlicher Analyse zum neuzeitlichen Geschichtsbewußtsein (es sei die säkularisierte Form der jüdisch-christlichen Eschatologie) eine sehr ehrgeizige, kühne Behauptung versteckt, und zwar der absichtliche Umsturz der christlichen Neuzeit durch die Rehabilitation der griechischen Kosmologie. 1 Löwiths Meinung nach ist der Nährboden, der die Theodizee-Frage hervorbringt, nicht die griechische Kosmologie, sondern die jüdisch-christliche Geschichtsschau. Gerade hier spitzt sich das Theodizee-Problem in besonderer Weise zu. 2 »Die griechisch verstandene Welt ist ein physischer Kosmos, eine alles umfassende Weltordnung... >eine ewige ZierKosmos< wortgetreu übersetzt.« 3 Die Welt als Kosmos ist weder ein Chaos noch eine aus dem Nichts erschaffene Schöpfung, sondern selber göttlich. »Das Göttliche ist kein personhaftes Subjekt außer und über der Welt, sondern ein Prädikat dieser selbst. Es hat den Charakter des Immerwährenden und Unzerstörbaren, des Unerschütterlichen und Unverderblichen. Was immer innerhalb des Kosmos entsteht und vergeht und veränderlich ist, das Eine und Ganze alles dessen, was ist, ist immerwährend, weil ohne Anfang und Ende. Als ein Ganzes (holon) ist es ganz und gar, was es ist oder vollkommen. Es fehlt ihm nichts.« 4 An dem Grundton dieser Kosmologie haben auch Sokrates und Piaton nichts geändert. Das christliche Verständnis der Welt ist aber ganz anders als das griechische: Die Welt ist eine zweckvolle, auf den Menschen abzielende Schöpfung eines außer- und überweltlichen Gottes. Dann aber kann die Welt nicht mehr 1
K. Löwith, Meaning in History, Chicago 1947; dt. Weltgeschichte und Heilsgeschehen, Stuttgart 1953. 2 K.Löwith, Die beste aller Welten und das radikal Böse im Menschen, in: Vorträge u. Abhandlungen. Zur Kritik der christlichen Überlieferung, Stuttgart/Berlin/Köln/Mainz 1966, S. 182. 3 AaO., S. 179. 4 AaO., S. 180.
22
als Kosmos betrachtet werden. Es fehlt ihr an der Vollkommenheit, der Totalität, dem Aus-sich-selbst-sein und der Selbstbewegung der Physis. Löwith nennt diese Veränderung »Vermenschlichung der Welt«. 5 Das bedeutet die Entstehung des anthropologischen Weltbegriffs, einer Welt um des Menschen willen. U n d gerade diese christlich-theologisch bedingte Vermischung der Welt und des Menschen ergibt die Theodizee-Problematik. Einer der typischen Versuche solcher Theozidee ist z . B . der folgende. Der Ursprung des Bösen liegt weder in Gott noch in der von ihm geschaffenen Welt, sondern allein in einer freiwilligen Tat des Menschen gegen Gottes Willen. Zugleich mit dem sündig gewordenen Menschen wurde auch die Erde von Gott um des Menschen willen verflucht. Die Philosophie in der Neuzeit und darüber hinaus auch alle nachchristlichen Denkweisen stehen nach Löwith im Banne dieser christlichen Überlieferung. Die klassische deutsche Philosophie von Kant bis Hegel sei, sagt er mit Nietzsche, im Grunde eine »hinterlistige Theologie«. 6 Mit dem Ende des Deutschen Idealismus haben zwar die Versuche zur philosophischen Auslegung des christlichen Glaubens an Interesse verloren. Übrig geblieben ist aber der Fortschrittsgedanke, also der Glaube, daß der Mensch mit dem wissenschaftlichen Können das Böse in der Welt technisch zu bewältigen vermag. Auch wenn wir heute nicht mehr einfach an den Fortschritt glauben, leben wir jedoch immer noch im Schatten des Verhängnisses des Fortschritts. 7 Wie aber kann man sich vor diesem »Fluch« der Neuzeit retten ? Löwith sucht mit Nietzsche nach dem Ausweg im griechisch verstandenen Kosmos. Nietzsche ließ Löwith zufolge im Aphorismus des »Willens zur Macht« das lebendige Sein der Welt an die Stelle des biblischen Gottes treten. Der Mensch sei nur ein Ring im großen Ringe der Welt. Er bestimmte das lebendige Sein der Welt als einen Willen, der nur sich selber will und statt auf ein Ziel hin sich im Kreis bewegt. Der Wille zur Macht will, als ein Wille nicht nur des Menschen, sondern der Welt, ausschließlich sich selbst. So behauptet Löwith also: »Wenn die Welt nur sich selber will, dann kann man nicht fragen, wozu sie überhaupt da ist, und wenn sie als das Eine und Ganze des vom Natur aus Seienden auch das Erste und Letzte ist, dann kann man nicht mehr mit Leibniz, Schelling und Heidegger fragen, warum überhaupt etwas ist und nicht vielmehr nichts ist.« 8 Die Frage nach dem Wozu und die nach dem Warum sind seines Erachtens erst durch die biblische Schöpfungsgeschichte eingedrungen. U n d insofern diese Fragen die Grundlage der TheodizeeFragestellung bilden, soll man diese Fragen samt der christlichen Schöpfungslehre dadurch aufheben, daß man die griechische ewige Wiederkehr des Gleichen rehabilitiert. Löwith versucht nämlich, statt der Rechtfertigung A a O . , S. 182. A a O . , S. 191, vgl. 183. 7 K. Löwith, Das Verhängnis des Fortschritts, in: Vorträge und Abhandlungen, S. 139-155. 8 A a O . , S. 197. 5
6
1966,
23
Gottes als des Weltschöpfers, die Rechtfertigung der den Göttern innewohnenden Welt selbst, also statt der Theodizee die Kosmodizee aus der griechischen Kosmologie herauszuentwickeln. Anders gesagt, die griechisch-pantheistische Kosmodizee, die die Theodizee als solche unnötig macht, ist für Löwith der einzige Weg, auf dem man den Bann der westlichen Neuzeit, die durch die Theodizee-Problematik und die Idee des Fortschritts bedroht ist, vertreiben kann.
2.2 Jakob Taubes: Die apokalyptisch-gnostische
Historiodizee
als geschichtliche
Dialektik
J. Taubes macht geltend, daß die Geschichtsphilosophie des Deutschen Idealismus, die K. Löwith nur grob als die Säkularisierung der christlichen Eschatologie bestimmte, genauer in der »apokalyptisch-gnostischen Geschichtsschau« beheimatet sei. Das wesentliche Thema der Apokalyptik ist nach Taubes die Selbstentfremdung: »Die Fremde ist das erste große Urwort der Apokalyptik und es ist völlig neu in der Geschichte menschlicher Rede überhaupt.«9 Fremd-Sein bedeutet: von wo anders her stammen und im Hier nicht daheim sein. Das Leben in dieser Welt muß also das Schicksal des Fremdlings erleiden. Die Apokalyptik umklammert das Gesamt der Welt negativ. Die Welt ist die Fülle des Schlechten, die Totalität, welche sich als das Gegengöttliche (Dämonische) abgrenzt gegen Gott. 10 Dieser Gedankengang enthält schon eine bedeutsame Geschichtsschau: Die Geschichte bedeutet hier einen Prozeß zwischen dem Sündenfall in die Fremde und dem Weg zur Erlösung.11 Indem diese mythologische Apokalyptik, die auf dem jüdischen Boden entstanden ist, in die philosophisch-spekulativen Systeme der Gnosis, die auf dem persischen Boden gewachsen sind, übergegangen ist, hat die Geschichte als Prozeß vom Fall zur Erlösung eine gewisse Dialektik bekommen. Der Abfall in die Fremde ist als der Anfang der Geschichte durch die Freiheit begründet. Die Freiheit erst hebt ein Menschentum aus dem Kreise der Natur in das Reich der Geschichte. Das Wesen der Geschichte ist also die Freiheit. Die Freiheit aber kommt nur zustande, wenn sie zugleich die Freiheit zur Negation enthält. Erst die Antwort des Menschen auf das Wort Gottes bezeugt die menschliche Freiheit. »Darum ist die Freiheit zur Negation der Grund der Geschichte.« 12 Die Freiheit zur Negation macht so die Geschichte dialektisch. Die Geschichte enthüllt sich damit als die Macht der Negation. Die Macht des Negativen zwingt zur Annahme der Antithesis. Erlösung heißt Bewältigung der Negation als Voll-endung. Hiermit entsteht eine dreistufige Dialektik. Die Thesis ist das All, da Gott und Welt noch nicht 9
J. Taubes, Abendländische Eschatologie, Bern 1947, S. 26. AaO., S. 9. 11 AaO., S. 31. 12 AaO., S. 5. 10
24
unterschieden sind, deus sive natura. Die Antithesis ist die Trennung von Gott und Welt. Die Synthesis ist die Einigung von Gott und Welt, somit Gott alles in allem ist. 13 Was diese geschichtliche Dialektik als coincidentia oppositorum beherrscht, ist der Geist, der vorwärts in der einlinig unumkehrbaren Zeit strebt, während das, was den griechischen Kosmos, den Kreislauf von Geburt und Tod, vom Blühen und Welken, die ewige Wiederkehr des Gleichen beherrscht, der platonische Eros ist, der oben und unten einander nähert und den Kreis der Natur rundet.14 Hegel hat nach Taubes diese Logik nicht erfunden, sondern entdeckt und philosophisch verfeinert. Er weist darauf hin, daß Hegels Logik strukturell mit der valentianischen Gnosis nahe verwandt ist. 15 Taubes vermutet, daß dieser Einfall schon auf die Besinnung zur Liebe in der Frankfurter Zeit durch seine Untersuchung über die Bergpredigt und das Johannesevangelium zurückzuführen ist. Die Liebe ist für den jungen Hegel höher als die Moralität. In der Liebe überwindet das Sein alle Trennungen, Grenzen und Gegenständlichkeit und findet die vollkommene Einigung. Der unentwickelten Einigkeit steht die Möglichkeit der Reflexion, d. h. die Trennung gegenüber. In der Entwicklung produziert die Reflexion immer mehr Entgegengesetztes, bis die Liebe die Reflexion in völliger Objektlosigkeit aufhebt, bis das Objekt zum Subjekt wird. Die Negation ist also das konstitutive Element der Dialektik. Die Dialektik aber erreicht ihren Höhepunkt durch die ungeheuere Macht des Negativen. Im Tode schließlich erreicht die ungeheuere Macht des Negativen ihre tiefste Tiefe und schlägt um in die Voll-endung. Denn der Tod ist schon in der Liebe die Negation der Negation. Die Liebe heißt: sie könne sterben. So wird die Geschichte in der Dialektik der Liebe zum Prozeß der Selbstentzweiung bis zur absoluten Einigung des göttlichen Geistes. 16 Der apokalyptisch-gnostische Charakter des Deutschen Idealismus, der bei Hegel, dem Vollender der geschichtlichen Dialektik, kulminierte, bedeutet nicht bloß eine geistesgeschichtliche Episode. Er entspricht viel mehr dem wesentlichen Gefüge der epochemachenden Neuzeit im Vergleich mit der statischen Weltanschauung des Mittelalters. Die mittelalterliche Weltanschauung ist Taubes zufolge gegründet auf das ptolemäische Weltbild: Die Erde hat den Himmel über sich, und alles, was auf ihr geschieht; ist Abbild des Urbildes. In der ptolemäischen Welt herrscht der platonische Eros, der oben und unten einander nähert.17 Dort wird auch der eschatologische Chiliasmus im System der Kirche als civitas dei in der Geschichte gebannt, und seine Spannkraft wird entspannt.18 Demgegenüber beruht die neuzeitliche Weltanschauung auf dem kopernikanischen Weltbild, das eine Erde ohne 13 14 15 16 17 18
AaO., S. 15. AaO., S. 11,137. AaO., S. 160f. AaO.,S.152f„ 156f. AaO., S. 88. AaO., S. 79. 25
Himmel als Urbild hat. Die Idealwelt, die früher »oben« ausgemalt wurde, gehört nun hier der Zukunft an. Was die Neuzeit beherrscht, ist ein Ethos der Zukunft und der die Welt revolutionierende Geist, der dialektisch vorwärts nach dem Ende als Voll-endung strebt. 19 Diese sich auf die zukünftige Idealwelt richtende Revolutionierung der Welt ist die Logik der geschichtlichen Dialektik, derzufolge die Thesis nur durch die antithetische Negation hindurch zur Synthesis gelangen kann. Und ihre Urform ist eben die apokalyptische Gnosis. - Kant ist ein philosophischer Darsteller dieses kopernikanischen Weltbildes. Das moralische Streben des gesamten Menschentums ist von Kant als dreistufige Dialektik gekennzeichnet. Diese Dialektik der Freiheit Kants ist schon in der Gliederung seiner Schrift »Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft« deutlich: § 1 - Von der Einwohnung des bösen Prinzips neben dem G u t e n . . . , § 2 - Von dem Kampfe des guten Prinzips mit dem Bösen..., § 3 - Vom Sieg des guten Prinzips über das Böse und die Gründung eines Reiches Gottes auf Erden. 20 Kant bewegte sich also schon auf dem Wege der apokalyptisch-gnostischen Dialektik der Geschichte. So identifiziert Taubes als die eigentliche Heimat der neuzeitlichen Geschichtsphilosophie die apokalyptische Gnosis. In dieser gemeinsamen Logik der Geschichte wird das Böse in der Geschichte, genaugenommen die Geschichte als das Böse als solches paradoxerweise positiv als das antithetische, notwendige Moment gerechtfertigt. Der Abfall (Apokalyptik), das Fremdsein (Gnosis), die Einwohnung des bösen Prinzips durch Freiheit (Kant), die ungeheuere Macht des Negativen (Hegel), alle negativen Inhalte der Historie werden zum unvermeidlichen Prozeß des Werdens, das sich auf die Synthesis (Vollendung bzw. Erlösung) hinentwickelt. Diese dialektischpositive Qualifizierung der negativen Historie könnten wir als apokalyptisch-gnostische Historiodizee charakterisieren. 21 Anscheinend ist diese nach vorne fortschreitende Dialektik der neuzeitlichen bürgerlichen Gesellschaft mit Hegel zu Ende gegangen. Hegels Philosophie der Versöhnung (Synthesis) zwischen Vernunft und Wirklichkeit war nur die logische Versöhnung des Widerspruchs. Das wurde durch die Kritik von K. Marx und S. Kierkegaard am Hegeischen Wirklichkeitsbegriff entlarvt. Marx versuchte, den Widerspruch des bürgerlichen Kapitalismus durch die materialistische Dialektik, die vom Proletariat getragen wird, zu bewältigen. Kierkegaard versuchte, den Widerspruch des bürgerlichen Christentums durch die qualitative Dialektik, die von der einzelnen Existenz getragen wird, zu bewältigen. Dieser neue Horizont, den die beiden eröffnet haben, ist aber Taubes zufolge nichts anderes als die Revidierung der geschichtlichen Dia19
AaO., S. 88, 137. AaO., S. 143. 21 Die Formulierung, die Gnosis rechtfertige die Historie, scheint widersprüchlich, aber in dem Sinne, daß die Historie als ein Moment der dialektischen Bewegung sinnvoll und notwendig piaziert wird, ist die Historiodizee denkbar. 20
26
lektik, die immer noch die Selbstentfremdung der apokalyptischen Gnosis thematisiert.22 So steht Taubes jedenfalls gegen Löwith, der den historischen Prozeß als solchen abgelehnt hat - in dem Sinne, daß Taubes Wert auf das Werden der Geschichte auch im Blick auf die Theodizee-Frage legt.
2.3 Ernst Bloch: Die zukünftige Anthropodizee
als diesseitiger
Messianismus
E. Bloch vertieft noch weiter die Antithese von J. Taubes (Historiodizee) gegen K. Löwiths Kosmodizee. - In seinen Entwürfen sehen wir, daß die anti-Löwithische Position in der Alternative von Natur und Geschichte, Kosmos und menschlicher Vernunft aufs schärfste zum philosophischen Ausdruck gekommen ist. Bloch geht ohne Zweifel davon aus, daß er auf der gleichen Linie der Religionskritik wie Feuerbach und Marx ein Philosoph der Post-Moderne (die mit Nietzsche absichtlich den transzendenten Gott getötet hat) sein will. Insofern könnte die allgemeine Vermutung sein, daß solch eine religiöse Frage wie die Theodizee erst gar nicht in sein Blickfeld kommen sollte. Trotzdem kann die Theodizee bei ihm jedoch eine der größten philosophischen Aufgaben sein. Bloch sagt z.B. nicht wie Voltaire, die einfachste Lösung der Theodizee sei die: que dieu n'existe pas (daß Gott nicht existiert). Vielmehr fragt er sich weiter, »Ist das nun wirklich s o . . . ?« Bleibt nicht viel - grausame Natur auch ohne Jahwe um Menschen unbekümmerte, fühllose ? Bleiben nicht Krankheit, Unordnung, Fremdheit, kalte Schulter im Dasein... ? Woher stammt das Reich der Notwendigkeit, das so lang bedrückt?, wieso ist das Reich der Freiheit nicht mit einem Male da?, wieso muß es sich so blutig durch Notwendigkeit hindurcharbeiten?, was rechtfertigt seine Verzögerung? Das sind Angelegenheiten, die gerade auch beim Atheismus übrig bleiben, sofern er nicht geschichtsloser und irrealer, ja irrsinniger Optimismus ist... Die einfachste Lösung der Theodizee ist also nicht nur die: que dieu n'existe pas.«23 Die wichtigere Frage, die auf den von der sozialen Entfremdung befreiten Menschen wartet, ist die nach der Befreiung·, »wohin und wozu das Lossein loslegt«.24 Bloch sagt, »Ein alter Weiser sagte und klagte, der Mensch sei leichter zu erlösen als zu ernähren. Der kommende Sozialismus, gerade wenn alle Gäste sich an den Tisch gesetzt haben, sich setzen können, wird die herkömmliche Umkehrung dieses Paradoxes als besonders paradox und schwierig vor sich haben: der Mensch sei leichter zu ernähren als zu erlösen.«25 AaO., S. 163-194. E.Bloch, Atheismus im Christentum. Zur Religion des Exodus und des Reichs (1968), Frankfurt a.M. 1985, S. 164-165. 2 4 AaO., S. 39. Vgl. S. 344. 2 5 AaO., S. 350. 22
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27
Von dieser Festlegung her versucht Bloch, die »konkrete Utopie«, die die Antwort auf die Theodizee-Frage enthält, als »die unnachläßliche Implikation des Atheismus« wieder zurückzugewinnen.26 Der Mensch ist nicht nur, wie Marx sagt, die Gesamtheit der sozialen Verhältnisse, sondern auch ein Wesen, das den Wunschinhalt selber konstituierend lebt, das »Ensemble utopischer Verhältnisse«.27 Dabei lenkt Bloch seine Aufmerksamkeit auf zwei mythologische Uberlieferungen, die als konstitutive Wunschtheorie der Utopie die Geistesgeschichte beherrscht. Im Astralmythos ist der Kosmos als eine heilige, ewige, statische Ordnung angesehen und alle Dinge auf der Erde sind nur das räumliche Abbild der Himmelskuppel. Diese »Imitatio coeli« ist in den religiösen Architekturen des Altertums, also Himmelsleiter, Planetentürme, ägyptische Pyramiden strengster geometrischer Ordnung, babylonisches planetengeschmücktes Pantheon usw., zu erkennen und wirkt noch im Primat des Naturhaften bei G. Bruno, Spinoza, sogar dem französischen Materialismus greifbar nach.28 Löwiths These von der heiligen Natur gehört zu dieser Mythosüberlieferung. Demgegenüber will Bloch mehr Wert auf den Logosmythos legen und diesen rehabilitieren. In dieser Uberlieferung rückt das Bewußtsein des mündig gewordenen Menschen statt des heiligen Kosmos in den Vordergrund. Der Logosgedanke ist zwar schon in der Stoa nicht unerkennbar, aber noch nicht völlig vom Astralmythos befreit. Die Flucht aus der Welt ist nur die Verinnerlichung des Kosmos und geht wieder rückwärts zur geschlossenen Lehre von der heiligen Natur. Erst in der Gnosis begann die Bewegung des Exodus aus dem Kosmos, aber auch hier blieb sie nur die Rückkehr nach oben, nach dem Urständ (restitutio in integrum), weil sie wegen der kosmogonischen Emanationslehre immer noch mit den naturhaften Kategorien verbunden war. Die biblische Apokalypsis hat schließlich den Exodusgedanken der Gnosis nicht bloß als Rückkehr nach dem Urständ, sondern als Evolution nach vorne, nach der endgültigen Vollendung neu aufgefaßt. Hierbei bekam die Geschichte eine entscheidende Bedeutung. Der zirkuläre Prozeß von der Emanation zur Rückkehr ist durch den gradlinigen Prozeß von der Schöpfung zum Eschaton hin ersetzt. Die echte Genesis liegt nicht am Anfang, sondern am Ende. Der Anfang bedeutet »sub specie evolutionis« nur etwas Unreifes, Unvollkommenes, Keimhaftes. Somit führt das dazu, daß das himmlische Gewölbe der statischen Ordnung, in der der heilige Kosmos den Menschen absorbiert, zusammengebrochen ist.29 Und was in der neuzeitlichen Geschichtsphilosophie übernommen wurde, ist nach Bloch eben dieser Evolutionsgedanke des Logosmythos. Bloch sieht den Anfang dieses Gedankens schon bei Leibniz, der Spinoza AaO., S. 317. AaO., S. 284. Vgl. E. Bloch, Geist der Utopie, 1918/1923 2 . 2 8 E.Bloch, aaO., S.255, 343. Ders., Das Prinzip Hoffnung (1953), Frankfurt a.M. 1985, S. 844 ff. 2 9 E.Bloch, Atheismus im Christentum, S.289f„ 294, 296, 343. - E.Bloch verbindet also nicht einfach die Gnosis mit der Apokalypsis, wie J. Taubes. 26 27
28
gegenüber die Zweckkategorie wieder entdeckt und die Welt als »Erhellungsprozeß« nach perfectibilite betrachtet habe. 3 0 Und auf der gleichen Linie dieses neuzeitlichen Wiederauftauchens der augustinischen G e schichtsphilosophie der Teleologie liegen auch die praktisch-teleologische Ethik Kants und die Philosophie des Prozesses Schellings und Hegels. 3 1 Es kommt Bloch darauf an, daß gerade in diesem Wendepunkt vom Kosmosmythos zum Logosmythos - genau im Gegensatz zu Löwith - die einzige Utopie liegt, die nicht mehr das Opium des Volkes bedeutet und insofern die Antwort auf jeneTheodizeefrage impliziert. Die Zukunft des Eschaton ist nicht mehr mit der Rückkehr zur ursprünglichen Schöpfung, aus der das Böse entspringt, zu identifizieren. Der neue Himmel und die neue Erde, die als zentrale Botschaft in der Apokalypse geäußert sind, bedeuten Bloch zufolge den Auftritt des neuen Schöpfers, der ein anderer als der alte Schöpfer dieser Welt ist. 3 2 Dieses rebellische Postulat des neuen zukünftigen Erlöser-Gottes gegenüber dem alten demiurgischen Schöpfer-Gott, das ist der eigentliche Logosmythos, der hinter der kanonischen Interpretation der Bibel versteckt ist. Bloch ist sich natürlich bewußt, daß seine Auslegung dem Marcionismus, der den neutestamentlichen deus salvator vom alttestamentlichen deus creator unterschieden hat, sehr nahe steht. Wichtig aber ist für ihn zu erkennen, daß es diesen Gedanken mitten in der Bibel als Schattentext, als »eine unterirdische Bibel« 3 3 hinter der kanonischen Redaktion gibt. Eines der typischen Beispiele dafür ist nach Bloch das Buch Hiob. Die Freunde Hiobs vertreten das Vergeltungsdogma »Schuld - Sühne« in seiner starren Form. H i o b aber bekommt keinen Trost und keine Erlösung von der seelsorgerischen Theologie seiner Freunde. Er will vielmehr direkt mit Gott reden, streiten und ihn sogar übertreffen. Dann entfaltet sich das erstaunliche Drama des »Exodus aus dem Schöpfergott Jahwe«. 3 4 Vor H i o b erscheint Gott, der auf die moralische Frage mit der physikalischen antwortet, der den Frommen wie den Gottlosen umbringt (Hiob 9,23), der es auch aufs Land, wo niemand ist, in der Wüste, wo kein Mensch ist, regnen läßt (Hiob 38,26). U m gegen diese Dämonie des kosmischen Gottes zu rebellieren, muß Hiob als ein biblischer Prometheus auftreten. Prometheus ist das Symbol für den rebellischen Exodus, der alle unmenschlichen Oberen aufheben und ohne Transzendenz selber transzendieren will. Der Schlüssel zu seiner Interpretation ist das hebräische Wort goel in Hiob 19,25-27. Bloch legt es keineswegs als »Erlöser« aus, sondern in Anklang an N u m 35,19 als »Bluträcher«: nächster Verwandter und Erbe, der die Pflicht hat, einen Ermordeten zu rächen. Deswegen kann der Bluträcher, den Hiob sucht, 30 31 32 33 34
E. Bloch, Das Prinzip Hoffnung, S. 1007ff. AaO., S. 1009 ff., 1019ff. E. Bloch, Atheismus im Christentum, S. 291 ff. AaO., S. 110. AaO., S. 152ff.
29
nicht der gleiche Jahwe sein, gegen den Hiob den Rächer aufruft. »Also, volle Schärfe des Messianismus erscheint, eine zur gegebenen Welteinrichtung völlig antithetische. Die Antwort auf Hiobs Fragen, auf seine Verzweiflungen, auf seine Hoffnungen des Andersseins werden im Reich des Rächers gegeben, das mit dem eigenen guten Gewissen verknüpft ist; sie werden sonst nirgends gegeben. Dies also ist die vom Hiobdichter intendierte Lösung.« 35 Ist nun dieser Bluträcher, den Hiob erwartete, nie in der Geschichte aufgetaucht? Bloch antwortet doch, und zwar der »Menschensohn«, der in Jesu apokalyptischer Eschatologie erschienen ist, ist nichts anderes als der »goel«, den Hiob erwartete. Die Idee vom himmlischen Urmensch-Mythos, die eigentlich aus Altiran stammt, ist in die nachexilische Apokalypse (Dan 7,13; Enoch, 4.Esra, Baruchapokalypse, sogar auch rabbinische Kabbala) und in die Weisheitsliteraturen (Hiob 15,7f.; Spr 8,2f. usw.) übernommen und »makrokosmisch-metakosmisch« erweitert werden.36 Die Spur dieser Idee vom präexistenten Urmenschen ist nach Bloch auch in Philons Logoslehre, dem »Logos-Anfang« des Johannesevangeliums und dem himmlischen Adam der Paulusbriefe erkennbar. Aber diese Idee vom Menschensohn hat ihre entscheidende Bedeutung im Sinne des Messianismus erst in der radikalen Eschatologie Jesu gewonnen. Nach der synoptischen Uberlieferung hat Jesus sich mit dem apokalyptischen Menschensohn identifiziert. Durch diese Identifikation tritt nun der fleischgewordene Ur-mensch, der Gott koordinierte, als Prätendent des Gottesreichs auf. Die Menschwerdung Gottes heißt umgekehrt die Gottwerdung des Menschen. Was in diesem menschgewordenen Gott vorkommt, ist der Auftritt des »Makanthropos«, des Großen Menschen und die wahre Verwirklichung des Gottebenbildes im Priesterkodex (Gen 1,27), der denselben Gedanken wie in dem Wort der Schlange: Eritis sicut Deus (Gen 3,5) - nicht verleumdet und absichtlich, so meint Bloch, behalten hat.37 Überdies redet Jesus als Präexistenter Logos nach dem Johannesevangelium von sich selber, er sei das Licht und das Leben: »Alles, was der Vater hat, ist mein... Er (so Der Geist der Wahrheit) wird's von dem Meinen nehmen und euch verkündigen.« (Joh 16,12-15). Das ist nach Bloch die messianische Selbstverkündigung Jesu, daß kein Gott sei - außer mir. Anstatt des alten Schöpfergottes tritt nun der neue Erlösergott auf als Makanthropos des zukünftigen Menschen, der ohne Transzendenz sich transzendiert.38 Das Wort Jesu am Kreuz von Ps 22,2 ist also nach Bloch die Verschärfung der messianischen Antithese gegen den Gott des Todes, der den Menschen völlig verläßt, im Prometheus-Hiobschen Grundton. 39 Und dieser Exodus verwandelt den apokalyptischen Triumphtag Jahwes »in ein ganz anderes aufgedecktes Angesichts nämlich unseres, als des Menschen35 36 37 38 39
30
AaO., AaO., AaO., AaO., AaO.,
S. 159. S. 190-201. S. 195 ff. S. 215 ff. S. 337.
sohnes« (2.Kor 3,18),40 und damit verwirklicht sich die prophetische Wahrheit Augustins: Dies septimus nos ipsi erimus (Wir werden am siebten Tag wir selbst sein).41 Soweit der Abriß des Logosmythos, durch den Bloch die neue Utopie rehabilitieren will. Kurz gesagt ist es der Entwurf, die Transzendenz nach oben aufzuheben und statt dessen nach vorne in der Geschichte den Menschen zu entfalten und zu vergöttlichen und damit die wahrhafte Menschwerdung des Menschen zu erreichen, - im Gegensatz zum Astralmythos, der den Menschen im unendlichen Kosmos verkleinert, absorbiert und schließlich zunichte macht. Die Transzendenz Gottes nach oben als deus absconditus wird durch die zukünftige Transzendenz des Menschen nach vorne als anthropos agnostos ersetzt, und die Natur des Kosmos wird damit auch vermenschlicht: »Nicht Gott akzeptiere ich nicht, verstehe mich recht, sondern die von ihm geschaffene Welt und kann sie nicht akzeptieren« (Die Brüder Karamasow, Piper, 1959, S. 382). In diesem Satz, den Iwan angesichts der Theodizee-Frage gesprochen hat, liest Bloch die literarische Äußerung seines Standpunktes hinein. Und der Gott, den Bloch akzeptieren kann, ist ein anderer als der die Welt Schaffende, und zwar der zukünftige Mensch, der nach vorne ausgehende prometheische Makanthropos. Wir könnten diesen Standpunkt »die zukünftige Antropodizee« als diesseitigen Messianismus nennen. Es ist eine gewisse Säkularisierung der marcionistisch-dualistischen Theodizee, die den Erlösergott von der Verantwortlichkeit für das Böse in der Welt befreite, oder ihre marxistische moderne Form. 42
2.4 Hans Blumenberg: Die gegenwärtige Anthropodizee als Umbesetzung der Theodizee Während K. Löwith das neuzeitliche Geschichtsbewußtsein, aus dem die Theodizee-Aufgabe entspringt, als die säkularisierte Eschatologie ansah und von daher die illegitime Neuzeit aufheben wollte, behauptet H. Blumenberg umgekehrt die Legitimität des neuzeitlichen Geschichtsbewußtseins. Nicht darum aber, weil der christlich-theologische Inhalt trotz der Säkularisierung noch gültig ist, sondern darum, weil die anthropologischen Züge der Neuzeit aufs neue geltend gemacht werden sollen. Blumenbergs Kritik ist zunächst auf die Säkularisierungstheorie Löwiths ausgerichtet. Das Theorem der Säkularisierung setzt nach Blumenberg die Kontinuität der Substanz in einer geschichtlichen Verwandlung voraus. Er aber zweifelt daran, daß die neuzeitliche Idee des Fortschritts dieselbe Substanz bzw. die gleichen substantiellen Konstanten mit der christlichen Escha40
AaO., S.212. AaO., S. 218. 42 Vgl. W.-D. Marsch, Eritis sicut Deus. Über das Werk Ernst Blochs als Problem evangelischer Theologie, in: K u D 1961, S. 173-196. 41
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tologie gemeinsam besitzt. Vielmehr gibt es eine deutliche Differenz, die es radikal verwehrt, die Fortschrittsidee von der Eschatologie herzuleiten: »Es ist ein formaler, aber gerade darum manifester Unterschied, daß eine Eschatologie von einem in die Geschichte einbrechenden, dieser selbst transzendenten und heterogenen Ereignis spricht, während die Fortschrittsidee von einer jeder Gegenwart präsenten Struktur auf eine der Geschichte immanente Zukunft extrapoliert.« 43 Die Hoffnung, die die zeitliche Weiträumigkeit über Individuum und Generation hinaus ermöglicht, ist nicht identisch mit der christlichen Eschatologie, sondern mußte »als ein neuer und originärer Inbegriff von diesseitigen Möglichkeiten gegen jene jenseitigen gesetzt und gesichert werden«. 44 Die christliche Erwartung der von außen kommenden Endereignisse erscheint als Verhinderung der menschlichen Einstellungen und Aktivitäten in der Geschichte. Die Fortschrittsidee aber ist »die ständige Selbstrechtfertigung der Gegenwart durch die Zukunft, die sie sich gibt, vor der Vergangenheit, mit der sie sich vergleicht«. 45 Was sich dieser Fortschrittsidee anschließt, ist also nicht die biblische Eschatologie, sondern der stoische Vorsehungsgedanke. Historisch gesehen, die Hereinnahme der stoischen Vorsehung in das Christentum stimmt mit der Periode des Rückschlags der Eschatologie überein. 46 Angesichts der Verzögerung der erwarteten Parusie hat die Urgemeinde sozusagen »die Vergeschichtlichung der Eschatologie« (R. Bultmann) 47 durchgeführt, indem sie betont hat, daß das entscheidende Heilsereignis schon stattgefunden hat. Damit hat die Kirche sich zum stabilisierenden Faktor verweltlicht. Dabei hat die stoische Vorsehungslehre, die durch die patristische Theologie übernommen wurde, das ursprüngliche eschatologische Pathos gegen den Weltbestand, das durch die manichäische Gnosis verstärkt wurde, entschärft und in ein neues Interesse am Weltzustand transformiert. 48 So negiert Blumenberg die Kontinuität der Substanz im Prozeß der Modernisierung als Säkularisierung: »Was in dem als 4 3 H . Blumenberg, Säkularisierung und Selbstbehauptung. Erweiterte und überarbeitete Neuausgabe von: Die Legitimität der Neuzeit, erster und zweiter Teil. Frankfurt a . M . (1966/ 1974) 1983, S. 39. 44
«
A a O . , S. 40. A a O . , S. 41.
AaO., S.41,46ff. R. Bultmann, Theologie des Neuen Testaments, Tübingen 1953, S. 384. Blumenberg, aaO., S. 49. Vgl. die kritischen Bemerkungen von U . Wilckens, Zur Eschatologie des Urchristentums. Bemerkungen zur Deutung der jüdisch-christlichen Überlieferungen bei Hans Blumenberg, in: Beiträge zur Theorie des neutestamentlichen Christentums, Berlin 1968, S. 1 2 7 - 1 4 2 . 46 47
4 8 Blumenberg, aaO., S. 150ff. Blumenberg stimmt also der These zu, daß der Pelagianismus im Gegensatz zur paulinisch-augustinischen Gnadenlehre die Fortschrittsidee des Altertums gefördert hat, wie H . J o n a s behauptet. ( H . J o n a s , Augustin und das paulinische Freiheitspro.blem. Ein philosophischer Beitrag zur Genesis der christlichen-abendländischen Freiheitsidee, Göttingen 1930, S. 36 Anm. 1). E r ist aber dagegen, daß die neuzeitliche Fortschrittsidee ohne weiteres der säkularisierte Pelegianismus ist. Sie ist nach Blumenberg nicht aus dem Streit zwischen dem augustmischen und pelegianistischen Gedanken innerhalb des Christentums entsprungen, sondern beruht auf dem Auftreten der neuen humanen Vernunft (aaO., S. 65).
32
Säkularisierung gedeuteten Vorgang überwiegend... geschehen ist, läßt sich nicht als Umsetzung authentisch theologischer Gehalte in ihre säkulare Selbstentfremdung, sondern als Umbesetzung vakant gewordener Positionen von Antworten beschreiben, deren zugehörige Fragen nicht eliminiert werden konnten.« 49 Was spielt nun die Hauptrolle in der Neuzeit, die an die Stelle des »theologischen Absolutismus des Spätmittelalters« getreten ist? Das ist die »Selbstbehauptung der humanen Vernunft«, die die Säkularisierung durchgeführt hat. 50 Mit der Betonung des Umbesetzungsbegriiis widerspricht Blumenberg dem Verdacht der Illegitimität der Neuzeit, der sich aus der Umsetzung derselben Substanz ergibt. Die Neuzeit ist nicht als die Säkularisierung des alten Hauptdarstellers ins Unrecht zu setzen, sondern als Auftritt des neuen Darstellers positiv zu schätzen.51 Alles, worauf es jetzt ankommt, ist die Frage, wie das Theodizee-Problem in einer so legitimierten Neuzeit gedacht wird. Blumenberg affirmiert die Neuzeit als solche, während Löwith die illegitime Neuzeit aufzuheben versuchte. Dementsprechend, wie er die Neuzeit als Umbesetzung der Anthropologie statt der Theologie auffaßt, erkennt er die Funktion der »Anthropodizee« statt derTheodizee in der legitimen Neuzeit und behauptet, sie positiv zu befördern. Das neuzeitliche Geschichtsbewußtsein der Fortschrittsidee nimmt nach Blumenberg an der christlichen Geschichtsinterpretation nicht wegen der »Auflösung eines transzendenten Heilsbegriffs« Anstoß, sondern vielmehr wegen der »Störung der Funktion einer Theodizee«. 52 Die »Funktion der Theodizee«, welche die herkömmliche Geschichtsinterpretation des Christentums hatte, ist die, daß das Böse und der Fehler in der Geschichte dem Sündenfall des freien Menschen zugeschrieben werden und damit das Recht des Schöpfergottes verteidigt wird. Die neuzeitliche Fortschrittsidee stört diese Funktion dadurch, daß sie die Aktivität des Menschen in der Geschichte rechtfertigt. Aber dieser Vorwurf der christlichen Geschichtstheologie soll nach Blumenberg als Anachronismus bewältigt werden. Denn die Bewältigung dieser Theodizee-Funktion bedeutet die zweite und endgültige Überwindung der Gnosis. Warum ist sie »die zweite«? Weil, wie Blumenberg meint, »die erste Überwindung der Gnosis am Anfang des Mittelalters nicht gelungen war«. 53 Blumenberg versucht also, die gesamte Geistesge49
Blumenberg, aaO., S. 77.
A a O . , S. 158ff. 5 1 Zu kritischen Bemerkungen über die legitime Neuzeittheorie Blumenbergs vgl. K. Löwith, Rezension zu Hans Blumenbergs: Legitimität der Neuzeit, in: Philosophische Rundschau 15, 1968; W. Pannenberg, Die christliche Legitimität der Neuzeit. Gedanken zu einem Buch von Hans Blumenberg, in: Gottesgedanke und menschliche Freiheit. Göttingen 1972, S. 1 1 4 - 1 2 8 ; W.Jaeschke, Die Suche nach den eschatologischen Wurzeln der Geschichtsphilosophie. Eine historische Kritik der Säkularisierungsthese, München 1976, S. 3 4 - 4 2 . 50
52
A a O . , S. 64.
A a O . , S. 144. In diesem Sinne widerspricht Blumenberg der Neuzeitstheorie Erich Voegelins. (Eric Voegelin, Die Neue Wissenschaft der Politik. Eine Einführung, München 1959; ders., Wissenschaft, Politik und Gnosis, München 1959.) - Vgl. J. Taubes, Einleitung. Das stählerne 53
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schichte Europas als Streit mit der Gnosis aufzufassen, und benutztdabei das Schema: »Theodizee - Kosmodizee - Anthropodizee« als Hilfsbegriff der Auslegung. Die Antike sah den Ursprung des Bösen in der Welt noch nicht als primäres Problem der Philosophie an. »Die antike Metaphysik ist noch nicht einmal Kosmodizee, Rechtfertigung der Welt, weil die Welt der Rechtfertigung weder bedarf noch fähig ist. Kosmos ist alles, was sein kann.«54 Dieser Sachverhalt änderte auch nichts am platonischen Dualismus, der die Erscheinungswelt als Abbild der Ideen ansah. Erst im Neuplatonismus, der die Differenz zwischen Form und Stoff vergrößerte, wurde das Problem der Kosmodizee akut. »Der Theologisierung der Idee korrespondiert die Dämonisierung der Materie.«55 Aber im Neuplatonismus ist die Materie noch nicht zum gegengöttlichen Prinzip geworden, das sich an der Schöpfung der Welt beteiligt. Erst in der Gnosis ist der platonische Demiurg zum Prinzip des Übels vergegengöttlicht und demgegenüber der Heilsgott, der mit der Erschaffung der bösen Welt nichts zu tun hat, von diesem Verdacht befreit worden: »Die Gnosis bedarf keiner Theodizee, denn der gute Gott hat sich auf die Welt nicht eingelassen.«56 Der Preis für diese dualistische Trennung war aber die Negativierung der antiken Kosmos-Dignität und die Destruktion des Weltvertrauens. Blumenberg stimmt somit der These Harnacks zu, daß der Katholizismus gegen Marcion erbaut worden sei.57 Die Formation des mittelalterlichen Katholizismus war der Kampf gegen das gnostische Syndrom, um den Kosmoskonservatismus aufzubauen. Die persönliche Abwendung Augustins von der manichäischen Gnosis symbolisiert gerade diesen Punkt. Sie bedeutet nicht nur eine autobiographische Episode, sondern darüber hinaus ein nachhaltiges, epochemachendes Ereignis im Ubergang vom Altertum zum Mittelalter.58 Augustin wollte den gnostischen Dualismus überwinden. Hätte er es negiert, die Herkunft des Übels dem Demiurgen zuzuschreiben, dann müßte er es Gott zurechnen. Hier wird die Theodizee ganz akut. Der Weg, den Augustin eingeschlagen hat, war, der Sünde des Menschen aufgrund der Freiheit die Verantwortlichkeit zuzuschreiben. Das Böse, das der Mensch begeht, beruht auf der sich Gott widersetzenden Freiheit des Menschen, und das kosmische Übel, das dem Menschen begegnet, ist dann als Strafe, die der Mensch verdient, zu interpretieren. Augustin hat dieses Verständnis noch radikalisiert, indem er die universale Erbsünde und die absolute PrädestinaGehäuse und der Exodus daraus oder ein Streit um Marcion, einst und heute, in: Religionstheorie und Politische Theologie, Bd. 2. Gnosis und Politik, hrsg. v. J. Taubes, München/Paderborn/ Wien/Zürich 1984, S. 9; Richard Faber, Eric Voegelin. Gnosis-Verdacht als polit(olog)isches Strategem, in: Religionstheorie und Politische Theologie, Bd. 2, S. 2 3 0 - 2 4 8 . 54
Blumenberg, aaO., S. 146.
A a O . , S. 147. 56 A a O . , S. 148. 55
5 7 A. v. Harnack, Marcion. Das Evangelium vom fremden Gott. Eine Monographie zur Geschichte der Grundlegung der katholischen Kirche, Leipzig 2 1924, S. VII. 58
34
A a O . , S. 152.
tion betont hat. Aber Augustin hat Blumenberg zufolge dadurch nicht den gnostischen Dualismus überwunden, sondern ihn nur mit einem neuen Gesicht »getarnt« und heimlich bewahrt. Die Gnosis »lebte im Schöße der Menschheit und ihrer Geschichte als absolute Sonderung von Berufenen und Verworfenen fort«. 59 Auf diese Weise hat die mittelalterliche Geschichtsinterpretation die Theodizee durch die nicht überwundene, sondern nur »übersetzte« Gnosis begründet. Der Preis dafür ist aber der Verzicht darauf, eine Wirklichkeit durch Handeln der Menschen zu seinen Gunsten zu verändern.60 Die Neuzeit ist demgegenüber die zweite Uberwindung der Gnosis durch die Selbstbehauptung der Vernunft. Diese Ansicht steht der J. Taubesschen Interpretation der Neuzeit, daß die logische Struktur der neuzeitlichen Geschichtsdialektik die Wiederbelebung der apokalyptischen Gnosis sei, entgegen. Die »Selbstbehauptung« heißt »ein Daseinsprogramm, unter das der Mensch in einer geschichtlichen Situation seine Existenz stellt und in dem er sich verzeichnet, wie er es mit der ihn umgebenden Wirklichkeit aufnehmen und wie er seine Möglichkeiten ergreifen will«. 61 Diese Selbstbehauptung der Vernunft befreit den Menschen von dem schicksalhaften Bann »einer auf den Menschen beziehbaren Struktur der Weltwirklichkeit« durch die »Macht des Zweifels, daß die Welt schon ursprünglich nicht zugunsten des Menschen geschaffen sein könnte«. Damit ist die Last in der Welt, die der vergangenen Urschuld des Menschen zugeschrieben wurde, umgekehrt zur zukunftsbezogenen Forderung als Ziel der menschlichen Aktivität geworden.62 Hier tritt schon ein neuer Begriff der menschlichen Freiheit auf, der anders als die von Augustin konzipierte Freiheit ist, und zwar aufgrund der neuen Humanität. Der inhumane Ordnungsschwund der auf den Menschen bezogenen Weltwirklichkeit ist - paradoxerweise - die Voraussetzung für die freie, technische Tätigkeit der humanen Selbstbehauptung. So befreit Blumenberg die Begriffe: humane Selbstbehauptung, biologische Selbsterhaltung (conservatio sui), theoretische Neugierde (curiositas) usw., von der Unterdrükkung des theologischen Absolutismus und legitimiert sie sogar.63 Blumenberg hält also die Neuzeit für die Periode der Anthropodizee statt der Theodizee und denkt, daß allein damit das Problem der Kosmodizee, auf die die Gnosis stoßen mußte, und die Gnosis als solche überwunden werden
59
A a O . , S. 155.
60
A a O . , S. 157.
A a O . , S. 159. Die Selbstbehauptung ist nach Blumenberg auch als Selbsterhaltung zu kennzeichnen. »Die Neuzeit hat Selbsterhaltung (conservatio sui) als fundamentale Kategorie alles Seienden betrachtet und sie vom Trägheitsprinzip der Pyhsik über die biologische Triebstruktur bis zur Gesetzlichkeit der Staatsbildung bestätigt gefunden« (aaO., S. 165). 61
A a O . , S. 158f. Nebenbei gesagt, nach der theologischen Tradition wird gerade die Selbstbehauptung des Menschen als Empörung gegen Gott beurteilt. Vgl. P. Althaus, Die christliche Wahrheit, 1952, S. 3 7 7 ; W. Eiert, Der christliche Glaube, 5 1960, S. 1 0 5 , 2 5 7 . 62
63
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können. 6 4 Diese These fällt scheinbar mit der Anthropodizee Blochs zusammen, aber die Unterschiede sind deutlich. Erstens: Blumenberg erkennt die Funktion der Anthropodizee schon bei der gegenwärtigen Kreativität des Menschen an, während Bloch die Anthropodizee als zukünftige Utopie denkt. Zweitens: Blumenberg will das christlich übersetzte Schema der Gnosis, nach dem der sündhafte Mensch der böse Demiurg sei, von Grund auf aufheben, während Bloch den Menschen mit dem Erlösergott, Makanthropos, gegenüber dem Schöpfergott identifiziert und insofern das gnostische Schema noch beibehält. In diesem Sinne können wir den Standpunkt Blumenbergs die gegenwärtige Anthropodizee als Umbesetzung der Theodizee nennen.
2.5 Odo Marquard: Der »Atheismus ad maiorem Dei gloriam« als Selbstauflösung der Theodizee Bei der Bestimmung der Geschichtsphilosophie »in« der Neuzeit unterscheidet O d o Marquard die Geschichtsphilosophie von der Neuzeit als solcher. Er denkt, daß damit der Gegensatz zwischen J . Taubes: die neuzeitliche Geschichtsphilosophie sei Fortsetzung der Gnosis, und H . Blumenberg: die geschichtstreibende Neuzeit sei Uberwindung der Gnosis, vermeidbar ist. Die Neuzeit als solche kann nämlich die zweite Uberwindung der Gnosis sein. Die Geschichtsphilosophie aber hält heimlich den gegenneuzeitlichen Charakter in sich verborgen und ist in Wirklichkeit die Rache der zweimal überwundenen Gnosis an ihrer zweiten Uberwindung, also die Fortsetzung der Gnosis. 6 5 Aber was ist das Wesen der Geschichtsphilosophie bzw. des Deutschen Idealismus? Das ist nach Marquard die »Perfektion der Theodizee durch Eliminierung Gottes«. 6 6 Marquard weist zunächst auf das eigentümliche »Prozeß«-Denken der Geschichtsphilosophie hin. Die Geschichte ist hier insofern als »Prozeß« angesehen, als der Mensch als recht-habendes Wesen im Namen des Fortschritts Klagen gegen den Schuldigen wegen des Übels in der Welt erhebt. So gewinnt die Geschichtsphilosophie des Deutschen Idealismus den Charakter der Theodizee als Gerichtsverfahren. 6 7 Die moderne Theodizee aber ist etwas anders als die überlieferte Theodizee. In der modernen Geschichtsphilosophie wird Gott als Schöpfer nicht mehr angeklagt, 64
Blumenberg, aaO., S. 165.
O . Marquard, Schwierigkeiten mit der Geschichtsphilosophie, Frankfurt a . M . (1973), 1982, S. 16 (SG); ders., Theodizee, Geschichtsphilosophie, Gnosis, in: Spiegel und Gleichnis. Festschrift für Jacob Taubes, hrsg. v. N . W . Bolz und W. Hübener, Würzburg 1983, S. 160 (TGG). 65
66
36
Marquard, SG, S. 21. Marquard, SG, S. 6 0 , 6 2 ; T G G , S. 162.
sondern der Mensch, genaugenommen der an die Stelle des Schöpfers avancierende Mensch als Subjekt der Geschichte. Die moderne Theodizee ändert also den Gerichtsinhalt, und zwar vom Gericht des Menschen gegen Gott zum Gericht des Menschen gegen den Menschen. 6 8 Diese Charakteristik entspricht dem wesentlichen Zug des Deutschen Idealismus, daß er seit Kant und Fichte auf der Autonomie des Ich beruht. Die moderne Geschichtsphilosophie ist nach Marquard trotz der Verwendung des Gottesbegriffs nichts anderes als »die Philosophie radikaler menschlicher Freiheit mit der folgerichtig radikalen These: nicht Gott, sondern der Mensch selber macht und lenkt die Menschheit«. 6 9 Wenn die tradierte Theodizee die Theodizee vor dem Ende Gottes ist, ist die Geschichtsphilosophie die Theodizee nach dem Ende Gottes. Aber warum kann die Theodizee, in der Gott nicht mehr im Spiel ist, noch »Theo«-dizee sein? Marquard antwortet, daß eben diese betreffende Umbesetzung der Position des Angeklagten selber einen Theodizee-Sinn, nämlich einen Verteidigungswert in bezug auf Gott hat. 7 0 Die Theodizee des Leibnizschen Optimismus wurde durch das Erdbeben von Lissabon völlig zerstört. J e schärfer die Theodizee-Frage wurde, um so radikaler wurde die Antwort gefordert. Wer diese ins Extrem getriebene Theodizee beantworten wollte, war nach Marquard der Deutsche Idealismus. Ist Gott der Täter von Untaten? Das soll er nicht sein. Die radikale Verteidigung Gottes liegt dann in der These, daß eben gerade nicht Gott der Täter ist, nicht Gott diese Welt geschaffen hat, sondern der Mensch. Dieses Theorem nennt Marquard - vermeintlich nach der Devise des Jesuitenordens A . M . D . G . benannt - »eine Theodizee durch einen Atheismus ad maiorem Dei gloriam«. Sie ist ein umgedrehter physikotheologischer Gottesbeweis: Der Beweis der Güte Gottes liegt in seiner Nichtexistenz! 7 1 So behauptet er, daß in der Autonomie-These der modernen Geschichtsphilosophie paradoxerweise doch die Theodizee-Funktion w i r k t 7 2 Die Verabschiedung Gottes von der Geschichtsphilosophie bedeutet das eine: Was zuvor als Streit des Menschen mit Gott - als transzendente, menschheitsaußerpolitische Frage abgemacht werden konnte, muß jetzt als Streit des Menschen mit Menschen als immanente menschheitspolitische Frage - ausgefochten werden. »Die vormals transzendent adressierte Unzufriedenheit mit der Welt muß ans Immanente, ans Binnengeschichtliche umadressiert werden.« 7 3 Und der innerweltlich-menschliche Sündenbock, der ersatzweise für den außerweltlichen Sündenbock gesucht wird, muß übermächtig sein wie ein Gott. J e Marquard, SG, S. 61, 68. SG, S. 53. 7 0 Marquard, TGG.S. 163. 7 1 Marquard, SG, S. 70; TGG, S. 163; ders., Beitrag zur Philosophie der Geschichte des Abschieds von der Philosophie der Geschichte (Abschied), in: Geschichte, Ereignis und Erzählung, hrsg. v. R. Koselleck und W.D. Stempel, München 1973, S. 242. 7 2 SG, S. 57. 7 3 Marquard, SG, S. 77; Abschied, S. 244. 68
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stärker der Angeklagte wäre, desto besser. Dann tragen die das menschliche gewollte gute verhindernden Menschen die Maske des Feindes. Die Imputation Gottes wird ersetzt durch die Imputation der Gegner, die Furcht des Herrn wird ersetzt durch die Furcht des Feindes. Der Gottesbeweis wird ersetzt durch den Feindesbeweis, »das Proslogion durch das Kapital, die Theodizee durch die Revolution, die mißlungene Theodizee durch den Bürgerkrieg. Sie (sc. Die Geschichtsphilosophie) begann als Kritik der Religion; sie endet als Religion der Kritik: der Gott dieser neuen Religion ist das Alibi.« 7 4 So erkennt Marquard in der Geschichtsphilosophie nicht die Uberwindung der Gnosis, sondern die gnostische Lösung einer zur Feindschaft stilisierten Differenz zwischen Schöpfergott und Erlösergott, die neomanichäistisch bzw. neomarcionitisch profan radikalisiert wird zum absoluten Konflikt zwischen Mensch und Mensch. Deswegen ist die Geschichtsphilosophie in der Neuzeit die Rache der zweimal überwundenen Gnosis an ihrer zweiten Überwindung. Aber der Sachverhalt ist nicht so einfach. Der Mensch, der in der modernen Geschichtsphilosophie selber quasi zum Gott avanciert und sozusagen »Karriere gemacht« hat, kann in Wirklichkeit die Last der Theodizee-Frage nicht ertragen, auch wenn er andere Menschen (bzw. Klassen) als Feind angenommen hätte. Dann versucht der Mensch, weiter das Alibi zu beweisen. Diesen psychologischen Prozeß nennt O . Marquard »die Kunst, es nicht gewesen zu sein«. 7 5 Diese Kunst läuft notwendigerweise darauf hinaus, es andere gewesen sein zu lassen. Die Geschichtsphilosophie geht also auf die Suche nach einem anderen Täter als die Menschen überhaupt. Sie sucht nach ihm in dem, was nicht der Mensch ist: in dem, was unter dem Menschen oder über dem Menschen ist, nämlich in der Natur (Fichte, Schelling, Marx, Engels, Bloch, Marcuse) oder doch wieder in Gott (Kant, Schelling, Hegel). Die enthusiastischen Ermächtigungen der Natur, sei es fasziniert bei Nietzsche, sei es resigniert bei Löwith, gehören nach Marquard zum ersteren Versuch. Und zum letzteren Versuch gehört die idealistische Rückrufung Gottes. Die Geschichtsphilosophie ruft Gott wieder herbei, aber ambivalenterweise macht sie ihn doch zugleich unwirklich. Gott ist »nur postuliert« und dann unwirklich. Er hat nur als ideales Werkzeug seine Realität. So weit das Urteil O.Marquards über die Geschichtsphilosophie des Deutschen Idealismus.
74 75
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S G , S. 80. Vgl. Abschied, S. 245. Abschied, S. 244f.
2.6 Beurteilungen 2.6.1 К. Löwith oder ein Mythos vom heiligen Kosmos Löwiths These ist folgendermaßen zusammenzufassen: Der deutsche Idealismus ist die säkularisierte Form der christlichen Eschatologie. Deswegen mußte er auf die unnötige und unlösbare Aporie der Theodizee stoßen. U m diese Blockade zu zerschlagen, soll man die christliche Geschichtsschau aufheben und die griechische Kosmologie rehabilitieren. Unsere Beurteilung ist wie folgt: I. Löwith hat recht darin, daß er darauf hinweist, daß die Geschichtsphilosophie des Deutschen Idealismus durch die christliche Eschatologie beeinflußt worden ist. II. Aber wir müssen der einseitigen Ansicht Löwiths gegenüber hinzufügen: Der Deutsche Idealismus hat jedoch die griechischen Elemente in sein christliches Gefüge - mehr als erwartet - hineingebracht: z . B . die atomische Monadologie, die kosmische Ganzheitslehre und die Emanationstheorie bei Leibniz; die stoische Ethik bei Kant; die gnostische Soteriologie und den Pantheismus bei Hegel; die demiurgische Christologie und die neuplatonische Materielehre bei Schelling usw., wie wir später noch im einzelnen analysieren werden. Das Mißlingen der Theodizee beim Deutschen Idealismus liegt also u. E. nicht daran, daß die christliche Geschichtsschau ohnmächtig war, sondern im Gegenteil daran, daß die Invasion der griechischen Weltanschauung in die christliche Tradition ohne Überprüfung anerkannt wurde. III. Kann die Rehabilitation der griechischen Kosmologie wirklich das Theodizee-Problem lösen? Es scheint, daß die Theodizee-Problematik als solche unter dem traurigen Schweigen, das auf der Liebe zum Schicksal beruht, noch übrig bleibt, ohne befriedigend gelöst worden zu sein, auch wenn der Begriff der Theodizee verschwinden mag. Wer dieses Schweigen ertragen kann, ist wahrscheinlich allein K. Löwith selber als heutiger Weiser der Stoa, der auch den Selbstmord in seiner Ethik zu rechtfertigen wagt. 7 6 J. Habermas analysiert mit Recht, »Nicht zufällig knüpft Löwith an die Stoa an, zumal an die stoische Klage über den Verlust einer selbstverständlichen Ansicht vom K o s m o s . . . Diese gebrochene Erhaltung der klassischen Weltansicht im Widerstreit mit dem heraufziehenden Christentum ist der Boden, auf dem Löwith, um ihrer nachchristlichen Wiederherstellung willen, wieder Fuß fassen möchte.« Immerhin ist seine Einstellung nach Habermas nur »ein unmöglicher Rückgriff auf eine vergangene griechische Welt«. 77 Es handelt sich hier darum, wo es denn eine Garantie dafür gibt, daß die »heilige Natur«, 7 6 Vgl. Löwith, Töten, Mord und Selbstmord: Die Freiheit zum Tode, in: Sämtliche Schriften I, Stuttgart 1981, S. 399-417; ders., Die Freiheit zum Tode, in: SS, I, S. 418-425. 7 7 Jürgen Habermas, Karl Löwith. Karl Löwiths stoischer Rückzug vom historischen Bewußtsein, in: Philosophisch-politische Profile, Frankfurt a.M. 1971, S. 118,137.
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nach der Löwith sucht, keine anachronistische, unrealistische Illusion ist. Hätte der Prozeß der Säkularisierung einerseits den Verlust der Gültigkeit der hebräisch-christlichen Gottesvorstellung in der Geschichte bedeutet, dann müßte er andererseits den Verlust der Gültigkeit der griechischen Kosmos-Erfahrung in der Natur bedeuten. Wir müssen davon Kenntnis nehmen, daß das Erlöschen der Götter in der Säkularisierung zugleich das Erlöschen des Glanzes des Kosmos mit sich gebracht hat. 78
2.6.2 J. Taubes oder ein Mythos vom heiligen Prozeß der Historie Die Taubessche These ist folgendermaßen zusammenzufassen: Der Deutsche Idealismus ist die Wiederbelebung der apokalyptischen Gnosis, und sein Wesen besteht in der geschichtlichen Dialektik. Der Widerspruch der Geschichte ist ein konstitutiver Bestandteil dieser dialektischen Bewegung. Die Theodizee wird hier zu einer die Historie reformierenden Logik. Unsere Beurteilung ist wie folgt: I. Es ist sein Verdienst, daß er uns auf das hellenistisch-gnostische Element neben der jüdisch-christlichen Apokalyptik im Deutschen Idealismus aufmerksam gemacht hat. II. Kann aber die Historie, die das Böse und das Übel enthält, als ein Moment der Dialektik angesehen werden? Ist die Geschichte so automatisch aufzufassen, daß sie von der These über die Antithese zur Synthese gelangt? Hier taucht das Grundproblem auf, das bei Hegel und auch bei Schelling erkennbar ist, daß das Böse als notwendiges Moment angesehen wird.
2.6.3 E. Bloch oder ein Mythos von der heiligen Zukunft
des Menschen
Blochs These ist folgendermaßen zusammenzufassen: Die Geschichtsphilosophie des Deutschen Idealismus ist der neue Aufbau des Logos-Mythos (Geschichte) gegenüber dem Astral-Mythos (Kosmos). Aber er ist nicht ausreichend, weil die Besinnung zum Makanthropos (dem zukünftigen Groß-Menschen) dort fehlt. Die Theodizee-Frage muß allein durch die zukünftige Anthropodizee als Exodus ohne Transzendenz beantwortet werden. Unser Beurteilung ist wie folgt: I. Es ist Blochs Verdienst, daß er die Bedeutung der Geschichte recht einschätzt und eine starke Antithese gegen Löwith liefert. II. Ist aber der Exodus nach vorne ohne Transzendenz möglich? Ist der Mensch fähig, der Makanthropos statt des Schöpfergottes selber zu sein? Ist 7 8 H . R . Schlette, Kosmodizee und Theodizee. Ein historischer und hermeneutischer Struktur· Vergleich, in: Kairos. Zeitschrift für Religionswissenschaft und Theologie, 1973 (Neue Folge 15), S. 195.
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durch die Zukunft des Menschen ohne Rechtfertigung (iustificatio impii) die Anthropodizee erreichbar? Kann dieser eschatologische Messianismus ohne Rechtfertigungslehre wirklich unerschütterlich sein? Ist nicht die messianische Utopie des künftigen Menschen nur die Illusion der heiligen Geschichte statt der heiligen Natur Löwiths ? Und ist das nicht auch ein Anachronismus »nach vorne«? Liegt die Lösung der Theodizee-Frage wirklich in dieser Illusion der Zukunft? III. Zumal Blochs Interpretation, daß er den Gegensatz zwischen Schöpfer- und Erlösergott in die Bibel hineinliest, ist die Rekonstruktion des marcionistischen Dualismus. Das ist selbstverständlich ganz anders als die theologische Aussage, die sich auf die Selbstoffenbarung des dreieinigen Gottes beruft. Wir müssen also die theologisch legitime Theodizee strikt vom Blochschen Neomarcionismus abgrenzen.
2.6.4 H. Blumenberg des Menschen
oder ein Mythos von der heiligen
Gegenwart
Blumenbergs These ist folgendermaßen zusammenzufassen: Die Neuzeit ist die zweite Uberwindung der Gnosis. Sie hat ihre Grundlage nicht in der christlichen Eschatologie, sondern in der Fortschrittsidee aufgrund der Selbstbehauptung der menschlichen Vernunft. Und die Selbstrechtfertigung der Autonomie der menschlichen Vernunft ist das positive Merkmal der Neuzeit, das die tradierte Theodizee aufhebt. Unsere Beurteilung ist wie folgt: I. Es ist Blumenbergs Verdienst, daß das Wesen der Neuzeit als die gegenwärtige Anthropodizee, die auf der der stoischen Vorsehungslehre verhältnismäßig nahestehenden Fortschrittsidee beruht, entlarvt worden ist. Das stimmt mit dem Wesen des aufklärerischen Geistes überein, wie wir oben festgestellt haben (siehe 1.2). II. Von dieser Neuzeit als solcher müssen wir jedoch die Geschichtsphilosophie des Deutschen Idealismus unterscheiden, wie O.Marquard behauptet. Die moderne Geschichtsphilosophie ist eine andere geistig-»geistliche« Bewegung, die sehr stark neuzeitlich-religiös motiviert wurde, wie wir schon festgestellt haben (siehe 1.3). Insofern läßt es sich nicht leugnen, daß die Geschichtsphilosophie des Deutschen Idealismus durch die foederaltheologische Heilsgeschichte bzw. Eschatologie geprägt wurde. 79 III. wir müssen Blumenberg fragen, ob die Anthropodizee der Neuzeit statt der Theodizee die Theodizee-Problematik als solche genug aufnehmen und lösen kann. Es erscheint uns, als wäre sein Standpunkt nur die heutige Rekonstruktion des aufklärerischen Optimismus, der die menschliche Ohnmacht und die Widersprüche in der Geschichte durch den Glauben an den 79
Zu diesem Thema vgl. W. Jaeschke, aaO. bes. S. 3 4 - 4 2 , 3 1 5 - 3 2 4 .
41
wissenschaftlichen Rationalismus bewältigen wollte. Der neuzeitliche Mensch avancierte zum »Gott der zweiten Schöpfung«. 80 Aber dann muß sich der Verdacht regen, ob das Schema »Gnosis« nicht völlig aufgehoben ist, weil der moderne wissenschaftlich-technische Mensch eine Rolle des Demiurgen spielt?
2.6.5 O. Marquard und das Erlöschen des Mythos der Theodizee Marquards These ist folgendermaßen zusammenzufassen: Die Geschichtsphilosophie des Deutschen Idealismus ist die Rache der zweimal überwundenen Gnosis an ihrer zweiten Uberwindung. Und sie ist die paradoxe Theodizee durch den Atheismus, u. z. die Theodizee nach dem Ende Gottes. Unsere Beurteilung ist wie folgt: I. Es ist Marquards Verdienst, sehr scharf das Wesen des Deutschen Idealismus ans Licht zu bringen, daß nämlich der Deutsche Idealismus quasitheologisch eine gewisse Theodizee ist, daß er jedoch in Wirklichkeit nur die atheistische Theodizee, die Gott postuliert, um sich zu verstellen, ist. II. Spielt aber diese paradoxe Theodizee durch den Atheismus im echten Sinne des Wortes die Rolle derTheodizee-Funktion? Gott ist zwar von der Verantwortung für das Übel der Geschichte befreit, indem der Mensch ihn vom Thron des Geschichtsherrschers hat abdanken lassen. Aber der Krieg für den schon abgedankten König ist z.B. nur dem Namen nach der ehrenvolle Verteidigungskrieg seines Reichs, aber in der Tat der Thronfolgekrieg der Untertanen. Daß der Mensch im Deutschen Idealismus avanciert, bedeutet alsbald, daß Gott verlottert. Die sogenannte größere Ehre Gottes ist schließlich nur die leere Ironie. Von der atheistischen Theodizee nach dem Ende Gottes zu reden, ist nur ein Wortspiel, geschweige denn eine Lösung der Theodizee-Probleme. Marquards Ansicht ist also bloß eine Illustrierung dessen, was schon Voltaire gemeint hat: Die einfachste Lösung der Theodizee sei die Nicht-Existenz Gottes, am Deutschen Idealismus.
80
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Chr. Gremmels, Der Gott der zweiten Schöpfung, Stuttgart/Berlin/Köln/Mainz 1971.
DRITTES KAPITEL
Analyse der philosophischen Theodizee in der Neuzeit
3.1 Theodizee und Metaphysik. Die kosmologisch-teleologische Theoriebildung
bei G. W. Leibniz
»Ut minueretur tibi, Theophile, confessa apud me et agnita probandi labor, et fidei rationisque harmonia clarior, et insipientia illorum omnibus conspectior esset, qui aut doctrina inflati relogionem contemnunt, aut revelationibus jactatis superbi Philosophiam ignorantiae suae detectricem ödere.« (Damit wollte ich dir, Theophil, die Mühe erleichtern zu untersuchen, was ich bekenne und anerkenne, und den Einklang von Glauben und Vernunft einleuchtender und allen die Unvernunft jener deutlicher machen, die entweder, hochmütig durch die Wissenschaft, die Religion verachten oder, überheblich sich mit Offenbarungen brüstend, die Philosophie hassen, die ihre Unwissenheit bloßlegt.) 1
3.1.1
Voraussetzung: Metaphysisch-physische Methode und Monadologie
Das Leibnizsche Buch, »Essais de Theodizee, Sur la bonte de Dieu, la liberte de l'homme et l'origine du mal« (1710), ist, wie allgemein bekannt, auf Veranlassung der Unterhaltung mit der Kurfürstin Sophie Charlotte, der Tochter von Sophie, der Gemahlin seines Souveräns, zustandegekommen. Die beiden sollten vom September 1701 bis Neujahr 1702 beim Spaziergang im Hof des Schlosses Charlottenburg über die skeptischen Meinungen von Pierre Bayle im Blick auf die Beziehungen zwischen Vernunft und Glauben diskutiert haben. 2 Dies weist uns einigermaßen hin auf einen Grundzug des Leibnizschen Theodizee-Gedankens, daß nämlich die Wiege seiner - die alte Hiobsfrage bis zur philosophischen Überlegung hebenden - Theodizee eben 1 G.W. Leibniz, Confessio philosophi, 1673, hrsg. von O.Saame, Frankfurt a.M. 1976, S. 132. 2 K. Hildebrandt, Leibniz und das Reich der Gnade, Den Haag, 1953, S. 99. A. Buchenau, Vorwort zu Leibniz, Theodizee, Hamburg 1925,1968. (TD), S. VII.
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solch ein Dialog in einem schönen Hof des Schlosses und nicht in der Asche Hiobs gewesen ist. Er steht vor der Frage nicht als ein klagender H i o b mit dem leidenden Glauben, sondern als ein theoretischer Beobachter mit der unverletzten Vernunft der Neuzeit. Hiermit ist der Vorhang des Dramas, daß Gott durch die Vernunft vor einem neuzeitlichen Skeptiker, der sich von der religiösen Tradition befreit, verteidigt wird, aufgezogen. 3 Aber es ist nötig, vorerst darauf aufmerksam zu machen, daß die Leibnizsche Vernunft nicht ohne weiteres mit der Vernunft des naturwissenschaftlichen Rationalismus, aus dem später der mechanistische Materialismus hervorgetreten ist, übereinstimmt. Leibniz atmet zwar auch den cartesianischen Geist des »cogito«. Er hat mit ihm nämlich den Vorsatz gemeinsam, alle Tätigkeiten des menschlichen Geistes aus der klaren und deutlichen Erkenntnis (clare et distincte cognoscere) des denkenden Ich zu gründen. Daß er eher ein ungewöhnlich begabter Mathematiker und Physiker damaliger Zeit war als ein Jurist und Philosoph, kennzeichnet diese erkennende Haltung in der Neuzeit. Aber man kann ihn damit nicht als einen bloßen Rationalisten der Aufklärung ansehen, weil er noch eine andere Phase hatte, die weder Descartes noch die französischen Aufklärer besaßen, nämlich die neue Wertschätzung der scholastischen Metaphysik. Während Descartes die aristotelisch-scholastische Metaphysik als unfruchtbare Methode zurückweist und alles durch die mathematische Denkweise zu rekonstruieren versucht, will Leibniz trotz des Besitzes derselben Idee von Universalmathematik noch auf der Metaphysik beharren. So entwirft er sogar die sich gegenseitig ergänzende Integration von beiden. Denn die mathematisch-physische Erklärung der Welt ohne metaphysische Prinzipien bedeutet nur die halbe Erklärung der Ganzheit der Welt. Leibniz zielt aber darauf, sozusagen den Blick nach dem Unsichtbaren zurückzugewinnen und das Metaphysische als das tiefe Geheimnis der Welt in der modernen Weltanschauung zu rehabilitieren. In der cartesianischen Trennung von res cognitas (mens) und res extensa (corpus) hat Leibniz schon den Keim des späteren Gegensatzes zwischen idealistischem Spiritualismus und mechanistischem Materialismus erkannt. U m diesen Gegensatz zu vermeiden, hat er den Weg eingeschlagen, die mathematisch-physische und die scholastischmetaphysische Denkweise zu vereinigen. Seine Monadologie ist geradezu die Folge dieser Bemühung. Als er in jungen Jahren in Paris gewesen war (1672-76), hatte er bemerkt, daß die Religion bedroht wurde von der Naturwissenschaft, die die Welt lediglich mechanisch, nicht teleologisch, erklären wollte. 4 Und diese teleologische Erklärung der Welt ist nichts anderes als die tiefere Auffassung der Welterscheinung, die durch die Zweckursachen und das Prinzip des zureichenden Grundes als das metaphysische Prinzip zustan3 Leibniz sagt: »In Sachen der Vernunft braucht man kein anderes Kriterium anderen Schiedsrichter.« G.W. Leibniz, DieTheodizee (TD), S. 75. 4 O . Same, Einleitung zu Leibniz, Confessio philosophi, S. 16.
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und keinen
de kommt. 5 Die Weltanschauung des mathematisch-physischen Mechanismus aus ihrer einseitigen Verengung durch die Einführung der metaphysischen Methode zu retten und damit umgekehrt die traditionelle Metaphysik auf der Grundlage des modernen Weltbildes erneut zu begründen, - das ist das ganze Programm der Leibnizschen Philosophie! Das könnte man die Begründung der metaphysisch-physischen Methode der Vernunft nennen. Nun hat aber dieser Weg zur Vereinheitlichung in Wirklichkeit nicht bloß die Reichweite der Kritik an Descartes. Leibniz tritt damit ein in den Diskussionsbereich zwischen Realismus und Nominalismus vom Mittelalter bis zur frühen Neuzeit, indem er die scholastische Metaphysik übernommen hat, um cartesianische Fehler zu vermeiden. 6 Man kann überblicken, daß die Neuzeit die naturwissenschaftliche, atomistische Grundlage ihrer Weltanschauung aufzubauen hatte, weil sie zum Nominalismus geneigt hat, der behauptete: der allgemeine Begriff sei nur nomen post rem, gegen den Realismus, der behauptete: der Begriff sei ante rem bzw. in rem. Aber Leibniz hat wiederum das Extrem des materialistischen Atomismus als eine Konsequenz des neuzeitlichen Nominalismus aus dem Gesichtspunkt der Monadologie heraus kritisiert; durch die Lehre der Monade als der Einzelheit, die die Allgemeinheit repräsentiert, gewann Leibniz nämlich das theoretische Fundament, um den mittelalterlichen Realismus und den neuzeitlichen Nominalismus, das metaphysische, substantische und das physische, funktionelle Denken zu integrieren. 7 Wenn die Barockzeit als der Geist, »die Entfesselung der bewegenden Kräfte zu zeigen und das Dynamische doch harmonisch zu bändigen« 8 gekennzeichnet werden kann, so muß Leibniz eben die Person sein, die diesen Zeitgeist geatmet und getragen hat. Erst für denjenigen, der sich der Aufgabe bewußt ist, Metaphysik und Physik, Glauben und Vernunft zu harmonisieren, konnte die Theodizee zu einem Hauptthema werden. 9 Nun ziehen wir also kurz die Monadologie als theoretische Stütze für die 5 Metaphysische Abhandlung (MA), in: Hauptschriften zur Grundlegung der Philosophie (HS), Bd. II, übersetzt von A.Buchenau, Hamburg 1966. Leibniz, S. 1 6 1 - 1 6 6 . »Gegen unsre allzu materialistischen Philosophen« (S. 163) hebt er die Wichtigkeit der Zweckursachen hervor. 6 N . Hartmann (Leibniz als Metaphysiker, Berlin 1946) richtet seinen Blick mit Recht auf den Einfluß dieser Debatte über »universalia« auf die Leibnizsche Monadologie. 7 Nach K. Hildebrandt soll Leibniz noch in seinem jüngeren Buch »Disputatio metaphysica de principo individui« (1663) ein Nominalist geblieben sein aaO., S. 51). Jedenfalls könnte man vermuten, daß die Vereinheitlichung von Realismus und Nominalismus gleichzeitig mit der Konzeption der Monadologie bei Leibniz fortgeschritten ist.
Hildebrandt, a a O . , S . 97. Deswegen scheint es nicht plausibel, den Grund dafür, warum das Theodizeeproblem, das in den philosophischen Systemen von Descartes, Hobbes und Spinoza nur eine untergeordnete Rolle gespielt hat, in der Leibnizschen Philosophie eine entscheidende Rolle erhält, nur seiner Verbindung mit alter religiöser Tradition zuzuschreiben ( z . B . W. Sparn, Leiden - Erfahrung und Denken, München 1980, S. 21). Der Grund ist vielmehr in seinem tiefen Bewußtsein von theoretischer Gültigkeit bzw. Nützlichkeit der scholastischen Metaphysik zum Zweck der Uberwindung des einseitigen Weltbildes in der Neuzeit zu suchen. Bei Spinoza jedoch ist das 8 9
45
Theodizee in Betracht: Nach Leibniz sind die echten Bestandteile des Kosmos die Monaden. Die Monade hat weder Teile, noch Gestalt, noch Ausdehnung. 10 Vielmehr ist sie eine elementare Kraft, die das Seiende ursprünglich entstehen läßt. Diese einfache Substanz kann nicht auf natürlichem Wege entstehen, weil sie sich nicht durch Zusammensetzung bilden kann. Deshalb ist die Monade das Geschöpf Gottes. 11 Gegen Descartes vermeidet Leibniz, wie erwähnt, die Trennung von ausgedehnter und denkender Substanz, indem er die Monade als die Entelechie im aristotelischen Sinne, die beides im Organismus vereinigt, also die in der Materie formende Kraft, ansieht.12 Er denkt überdies, daß auch die Seelen der Tiere Monaden sind, obwohl sie keinen Geist oder Vernunft haben. Der Begriff der Monade umfaßt das ganze Lebewesen im Kosmos. Er will damit den cartesianischen Anthropozentrismus überwinden.13 Vor allem aber kommt es in der Monadologie darauf an, daß jede Monade eine Funktion der »Expression (exprimer)« hat und dadurch Gott und das Universum ausdrückt.14 Leibniz hat diese Funktion im Brief an Arnauld so erklärt: »Eine Sache drückt - nach meinem Sprachgebrauch - eine andere aus, wenn eine beständige und gezielte Beziehung zwischen dem besteht, was sich von der einen und von deren anderen aussagen läßt. So drückt eine perspektivische Projektion ihr zugehöriges geometrisches Gebilde aus. Diese Expression nun ist allen Formen gemeinsam und bildet den obersten Gattungsbegriff, wovon die natürliche Perzeption, die sinnliche Empfindung und die intellektuelle Erkenntnis Unterarten sind.15 Die Monade ist sozusagen »ein Spiegel Gottes«, der Gott und Welt nach ihrer Weise und Eigentümlichkeit ausdrückt, »sowie etwa eine und dieselbe Stadt je nach den verschiedenen Standorten, die der Betrachter wählt, sich verschiedenartig darstellt«.16 Insofern als die Monade Gott und Welt ausdrückt, kann man sie als eine Nachahmung und ein Abbild des göttlichen Wesens ansehen. Leibniz nennt sie sogar »kleine Gottheit«. 17 Die Monade als der Mikrokosmos, der den Makrokosmos in jeder Weise ausdrückt, ist also auch »das göttliche Schauen« zu nennen.18 Die Schöpfung heißt die Erschaffung aller möglichen Sehweisen Gottes. Gott betrachtet die Welt unter allen möglichen Aspekten. Und Gott Fehlen der Theodizee nur die Folge seiner pantheistischen Gedanken, wie später noch gezeigt wird. w Leibniz, Monadologie (ML), in: HS II, S. 435. 11
M L , S. 435.
Leibniz bemühte sich so, den mechanistischen Atombegriff, der kurz vor seiner Zeit von dem französischen Physiker Pierre Gassendi ( 1 5 9 2 - 1 6 5 5 ) erneuert worden war, mit dem aristotelischen metaphysischen Begriff der Entelechie zu verbinden. 12
13
M L , S. 4 5 0 - 4 5 2 .
14
M L , S. 171.
15
Leibniz, Briefwechsel zwischen Leibniz und Arnauld, in: H S II, S. 233.
!6 Leibniz, M A , S. 1 4 4 - 1 4 5 ; M L , S. 448. 1 7 Leibniz, M L , S. 454; T D , S. 210. «
46
Leibniz, M A , S. 153.
will dadurch seine Gedanken Wirklichkeit werden lassen, daß er jede Substanz erschafft, die das Universum gemäß jenem göttlichen Schauen zum Ausdruck bringt. Mit W. Dilthey könnte man hier mit Recht eine Vollendung der Naturphilosophie der Renaissance von Makro- und Mikrokosmos seit N. Cusanus und G. Bruno in diesem Gedanken erkennen. 19 Zwei metaphysische Prinzipien, zureichender Grund und Zweckursache, die bedeutsame Rollen in der Leibnizschen Theodizee spielen, sind ebenfalls logische Folgen dieser Monadologie. Jede Monade hat nun ihre Eigentümlichkeit, die keineswegs mit anderen ausgetauscht werden kann. 20 Es gibt in der Natur niemals zwei Wesen, die vollkommen identisch wären und in denen sich nicht ein innerlicher oder auf eine innerliche Bestimmung gegründeter Unterschied aufzeigen ließe. Mit diesem »principium identitatis indiscernibilium« versucht Leibniz echte individuelle Substanz zu supponieren. Er sagt, daß »niemals zwei Substanzen einander vollkommen gleichen und nur der Zahl nach von einander verschieden sind«. 21 Jede Monade soll sich allein durch innere qualitative Bestimmung unterscheiden, nicht durch quantitative Bestimmung. Und gerade aus dem Prinzip des Individuums wird nach Leibniz das Prinzip des zureichenden Grundes herausgezogen. Es gibt Leibniz zufolge zwei Arten von Wahrheiten: die Vernunfts-Wahrheiten und die Tatsachen-Wahrheiten. Die ersten sind notwendig und ihr Gegenteil ist unmöglich. Diese Wahrheiten beruhen auf dem Prinzip des Widerspruchs. Die letzteren sind zufällig, und ihr Gegenteil ist möglich. Sie beruhen auf dem Prinzip des zureichenden Grundes, kraft dessen wir annehmen, daß keine Tatsache wahr und existierend, keine Aussage richtig sein kann, ohne daß ein zureichender Grund vorliegt, weshalb es so und nicht anders ist. 22 Schaut man die Welt aus dem Gesichtspunkt des Prinzips des zureichenden Grundes an, muß man anerkennen, daß es einseitig ist, die Welt nur mechanisch nach dem Gesetz der wirkenden Ursachen aufzufassen. Darum fügt Leibniz noch das Gesetz der Zweckursachen hinzu. Das besagt, daß das Gesetz der Bewegung des Individuums, das mit zureichendem Grund existiert, allein in teleologischem Horizont richtig zu erkennen ist. 23 Auch Leibniz verleugnet freilich nicht, daß es eine Beziehung zwischen den Zweckursachen und den wirkenden Ursachen gibt. Die Seelen handeln gemäß den Gesetzen der Zweckursachen durch Begehrung, Mittel und Zweck, während sich die Körper gemäß den Gesetzen der wirkenden Ursachen auseinanderbewegen. Die wirkenden Ursachen hängen vom Prinzip der Notwendigkeit ab, aber die Zweckursachen hängen vom Prinzip der Angemessenheit ab. Beide Gesetze stehen jedoch nach Leibniz in einer vollkom1 9 W. Dilthey, Leibniz und sein Zeitalter, in: Ges. Sehr. Bd. III, Leipzig/Berlin S. 6 9 - 7 0 . 20
Leibniz, M L , S. 437.
21
Leibniz, M A , S. 144.
22
M L , S. 4 4 3 ; T D , S. 124.
23
M A , S. 161; M L , S. 4 5 3 - 4 5 4 .
1927,
47
menen Harmonie, als ob zwei Uhren von Anfang an mit so großer Geschicklichkeit angefertigt worden wären, daß man in der Folge ihrer Ubereinstimmung stets sicher sein kann. 24 Kurz: metaphysisch betrachtet hat jede Monade den zureichenden Grund im Kosmos und handelt nach dem Gesetz der Zweckursachen, das vom Prinzip der Angemessenheit abhängig ist. Das ist das Gefüge der von Gott geschaffenen Welt in den Augen von Leibniz. Es muß für ihn die »beste aller möglichen Welten« sein, obwohl sie das Böse enthält. Wie nun legt er darüber Rechenschaft ab?
3.1.2 Die Wo/Was-Frage der Theodizee: Auseinandersetzung mit Spinoza Es läßt sich zwar behaupten, daß die Leibnizsche Theodizee einen erkenntnistheoretischen Charakter hat. Denn seine grundsätzliche Ansicht ist, daß die Erscheinung des Bösen für ein Individuum durch die Änderung des Gesichtspunktes unwesentlich gemacht werden kann. Trotzdem will er aber das Böse nicht - wie Spinoza - völlig in die erkenntnistheoretische Täuschung auflösen. Das Böse hat doch eine objektive Seinsbestimmung. Aber diese Bestimmung des Bösen verliert bei Leibniz durch eine gewisse erkenntnistheoretische Manipulation den aktiven Sinn seiner Existenz. Einfacher gesagt, das Böse »ist«, aber zugleich ist es belanglos. Wir müssen hier den Unterschied von Spinoza, der einen ähnlichen Weg eingeschlagen hat, aber in einigen Punkten unterschiedlich vorging, deutlicher machen. Für Spinoza gibt es von vornherein keine Theodizee-Problematik. Denn das Böse verliert den Grund für die Realexistenz im pantheistischen System. In der Natur gibt es Spinoza zufolge nur eine Substanz, nämlich Gott selbst. 25 Dies liegt daran, daß die Substanz »das, was in sich ist, und durch sich begriffen wird«, sein muß. 2 6 Gott ist die unbedingt unendliche Substanz, die aus unendlich vielen Attributen besteht. 27 Wenn es eine Substanz außer Gott gäbe, müßte sie von irgend einem Attribut Gottes erklärt werden, und dann würden zwei Substanzen von demselben Attribut existieren. Aber das ist ungereimt, weil es nicht zwei Substanzen von demselben Attribut geben kann. 2 8 Also, außer Gott gibt es keine Substanz, und die cartesianischen zwei Substanzen gehören zu den Attributen einer Substanz Gottes. 2 9 Alles, was ist, ist Gott, und das Merkmal des Unterschiedes zwischen Gott und Natur 2 4 Leibniz, Zur prästabilierten Harmonie, H S II; S. 274; Vernunftprinzipien der N a t u r und der Gnade, H S II, S. 423 f., 430. 2 5 B . D . Spinoza, Die Ethik, übersetzt von O . B a e n s c h , Hamburg 1976, I.Teil. Lehrsatz 14. Folgesatz 1, S. 16. 26
A a O . , T e i l I, D e f i n i t i o n 3 , S . 3 .
27
A a O . , Teil I, Def. 6, S. 4. A a O . , T e i l I , Lehrs. 5; 14, S. 6 , 1 5 .
28 29
48
A a O . , Teil II, Lehrs. 1 , 2 , S. 5 1 , 5 2 .
liegt höchstens noch im Unterschied zwischen natura naturans und natura naturata. 30 Gott ist die in sich bleibende, aber nicht die übergehende Ursache aller Dinge. Daraus ergibt sich, daß es in der Natur der Dinge nichts Zufälliges gibt, sondern alles kraft der Notwendigkeit der göttlichen Natur bestimmt ist, auf gewisse Weise zu existieren und zu wirken. Für Spinoza ist die Freiheit der andere Name der Notwendigkeit, weil sie das bedeutet, was nur kraft der Notwendigkeit seiner Natur existiert, und alle Dinge nichts anderes als Attribute der Natur Gottes sind. 31 Gott ist die erste und einzige freie Ursache des Selbst. Daraus ergibt sich also, daß die Welt, die aus der Notwendigkeit des göttlichen Wesens folgt, ohne weiteres vollkommen ist. Denn die Vollkommenheit der Welt heißt direkt die des Gottes bzw. die seiner Attribute. 32 Die Annahme, daß Gott beim Erschaffen den Willen der Wahl hatte, andere Welten zu schaffen, steht nach Spinoza im Widerspruch zur freien Notwendigkeit Gottes. Die von Gott ausgegangene Welt ist nur einzig, und zwar diese unsere Welt, soweit die ewige Entscheidung Gottes, die ohne Zwang auf der eigenen Freiheitsursache beruht, für sich selbst notwendig ist. Deshalb hat die Erfahrung des Bösen in der Welt gar keine Realität, sondern sie ist nur eine sinnliche Täuschung des Menschen. Das läuft dann darauf hinaus, daß die Theodizee-Problematik bei Spinoza in die Lehre von den menschlichen Affekten aufgelöst wird. Der Mensch sieht nämlich das, was ihm am meisten und wertvollsten nützt, und wovon er am angenehmsten affiziert wird, als gut und das Gegenteil davon als schlecht an. 33 Das Gute ist alles, was zur Freude beiträgt, und das Übel ist alles, was die Trauer bringt. 34 So kann Spinoza behaupten, »Was das Gute und das Schlechte anlangt, so bezeichnen diese Ausdrücke auch nichts Positives in den Dingen, wenn man die Dinge nämlich an sich selbst betrachtet; es sind auch nur Modi des Denkens oder Begriffe, die wir dadurch bilden, daß wir die Dinge miteinander vergleichen.. . Z . B . ist Musik für den Trübsinningen gut, schlecht für den Trauernden, für den Tauben aber weder gut noch schlecht.« 35 Der Maßstab der Beurteilung von Gutem und Bösem ist also von einer »Vorstellungsweise« aufgrund der menschlichen Affekte abhängig. 36 Diese erkenntnistheoretische Täuschung der Theodizee-Problematik stammt nach Spinoza aus dem Vorurteil: »Gott habe alles um des Menschen willen gemacht, den Menschen aber, damit dieser ihn verehre...« 3 7 Die 30
AaO.,TeilI, Lehrs.29. Anm. S.32. AaO., Teil I, Def. 7, S. 4. 32 AaO., TeilI, Lehrs. 33, Anm. 2, S. 35-38. 33 AaO., Teil I, Anhang, S. 45. 34 AaO., Teil II, Lehrs. 39, Anm. S. 145. Hinter dieser Ansicht versteckt sich seine Anthropologie, daß alle menschlichen Affekte nur aus drei Grundeffekten: Begierde als Streben in seinem Sein zu beharren, sowie Freude und Trauer zu erklären sind. AaO., Teil III, Lehrs. 9-11, S. 119-122. 35 AaO., Teil IV, Vorrede, S. 189. 36 AaO., TeilI, Anhang, S. 47. 37 AaO., Teil I, Anh. S. 40. 31
49
Setzung der anthropozentrischen Zweckursachen ist also gerade die Ursache der Täuschung, das, was nicht zum Nutzen der Menschen dient, eine Menge Schädliches in der Natur wie Stürme, Erdbeben, Krankheiten, für das Böse zu halten. Solche Setzung bedeutet, daß Gott durch ein anderes Gesetz als das Selbst im Zaum gehalten wird. Alle Zweckursachen sind nichts weiter als menschliche Einbildungen. 38 »Die Vollmacht der Dinge ist allein nach ihrer Natur und Kraft abzuschätzen, und darum sind die Dinge deswegen nicht mehr oder minder vollkommen, weil sie die Sinne der Menschen ergötzen oder beleidigen, oder weil sie der menschlichen Natur zusagen oder ihr widerstreiten.« 39 Die höchste Zufriedenheit des Menschen liegt darin, sich von der anthropozentrischen, »knechtschaftlichen Leidenschaft« zu befreien, die Dinge sub specie aeternitatis wahrzunehmen und zur geistigen Liebe zu Gott zu gelangen. Diese geistige Liebe zu Gott ist Gottes Liebe selbst, womit Gott sich selbst liebt. Damit führt der Pantheismus als deus sine natura zur Vollendung. 40 Gegen diese spinozistische, radikale Negation des Bösen versucht nun Leibniz die »beste aller möglichen Welten« zu beweisen, ohne die Realität des Bösen dabei zu verleugnen. Dieser Unterschied zwingt ihn zu ungewöhnlichem Streben nach der Aufstellung einer neuen Theodizee-Theorie. Leibniz faßt die Realexistenz des Bösen im metaphysischen, physischen und moralischen Sinne auf. »Das metaphysische Übel besteht in der einfachen Unvollkommenheit, das physische im Leiden und das moralische in der Sünde.« 41 In dieser Definition ist schon der Unterschied von Spinoza deutlich gemacht, und zwar hält Leipniz die Beziehung zwischen Gott und Natur, Schöpfer und Geschöpf nicht für die zwischen eigener Substanz und ihren Attributen, also die vollkommene Kontinuität wie bei Spinoza. Kreaturen haben eigene Substanz als Monaden mit freiem Willen. Wegen dieser Trennung von Gott und Geschöpf gewinnt das Böse die Realität in der Kreatur. Das metaphysische Übel, das die ursprüngliche Grundlage für das physische und moralische Übel bildet, bedeutet die Unvollkommenheit aufgrund der Beschränktheit des Geschöpfs. Der Unterschied zwischen Schöpfer und Geschöpf bildet also die Grundlage des Bösen bei Leibniz. 4 2
3.1.3 Die Woher-Frage: Privatio boni und Zulassung Gottes Leibniz findet den Ursprung des Bösen in der Beschränktheit des Geschöpfs. Hätte Gott das genauso vollkommene Sein wie sich selbst erschaf38 39 40 41 42
50
AaO., Teil I, Anh. S. 42. AaO., Teil I, Anh. S. 47. AaO., TeilV, Lehrs. 2 5 - 4 2 , S. 283-294. Leibniz,TD, S. 110-111. TD, S. 110.
fen, wäre die Welt ein zweiter Gott. Das Wesen des Geschöpfs als endliches Sein muß unvollkommen vor dem absolut Unendlichen sein. Aber diese Beschränktheit, das metaphysische Übel, ist nicht als wirkende Ursache aufzufassen. Hier beruft sich Leibniz auf den augustinischen Begriff »privatio boni«. Die causa formalis des Bösen ist nicht die wirkende Ursache, nach der man Gott die letzte Ursache des Bösen zuzuschreiben hat, sondern nur eine passive Beraubung des Guten im Geschöpf, also die causa deficiens. Insofern verletzt sich nicht die Vollkommenheit des Schöpfers. 4 3 Aus dem metaphysischen Übel erscheint das physische und moralische Übel als die konkrete Form des Bösen. Leibniz hebt auch in diesen konkreten Formen des Bösen hervor, daß das Übel nur etwas Fehlendes aufgrund der Unvollkommenheit des Geschöpfs ist. U m das zu illustrieren, erwähnt er beispielsweise die natürliche Trägheit der Körper als das ähnlichste Modell: I. Angenommen, die Strömung eines Flusses trage mehrere Schiffe mit verschiedener Ladung davon, die einen mit H o l z beladen, die anderen mit Steinen, die einen mehr, die anderen weniger. Hierbei werden die am meisten belasteten Schiffe langsamer fahren als die anderen. II. Die Strömung ist die Ursache für die Bewegung des Schiffes, aber keineswegs für ihre Verzögerung. Gott ist die Ursache für die Vollkommenheit in der Natur und in den Handlungen der Kreaturen, aber die beschränkte Rezeptivität der Kreatur ist die Ursache für die Mängel, auf die wir bei ihrer Tätigkeit stoßen. III. Ebensowenig wie die Strömung des Flusses Ursache der verlangsamten Fahrt des Schiffes ist, ist Gott Ursache der Sünde. 4 4 Wie denkt aber Leibniz über das Problem des freien Willens des Menschen, wenn er den Vergleich der Trägheit auch auf das moralische Übel anwendet? Auf der einen Seite lehnt er die Lehre vom absoluten Fatum ab. Er unterscheidet zwischen dem, was gewiß, und dem, was notwendig ist. 45 Nach Leibniz gibt es zwei Arten von Verknüpfung oder Folge. Die eine ist absolut notwendig, und ihr Gegenteil schließt einen Widerspruch ein. Aber die andere ist nur ex hypothesi notwendig, da ihr Gegenteil keinen Widerspruch einschließt. Z . B . ist die Wahrheit: »Ich werde morgen ausgehen«, nicht absolut notwendig, weil ihr Gegenteil möglich ist. Angenommen jedoch, Gott sieht sie voraus, so ist es notwendig, und zwar gewiß, daß sie auch eintrifft. Leibniz bezeichnet das als eine hypothetische Notwendigkeit. 4 6 Also ist die Willensentscheidung des Menschen nicht absolut notwendig 4 7 T D , S. 110,115; M A , S. 175. Leibniz, T D , S. 116-117, 421. Er erwähnt auch den Vergleich Chrysipps, daß der Zylinder in Drehung durch die Kanten der Gestalt beschränkt wird. T D , S. 349, 351. 4 5 Leibniz, M A . S. 149-150. 4 6 T D , S. 120; M A , S. 149-150. 4 7 In diesem Punkt widerspricht Leibniz am stärksten dem Pantheismus Spinozas. In dessen Pantheismus kann nur die absolute blinde Notwendigkeit entstehen, und Gott muß als Auetor des Bösen gedacht werden. Leibniz kritisiert dies auch an H o b b e s . Vgl. T D , S. 139, 234, 358, 378. 43
44
51
Aber auf der anderen Seite lehnt Leibniz auch den Gedanken vom blinden Zufall und der willkürlichen Freiheit ab. Da nichts ohne zureichenden Grund vorkommt, gibt es irgendeinen Grund der Entscheidung in jeder Handlung, sei er vernünftig oder gefühlsmäßig. 48 Und Gott treibt unseren Willen dazu an, das, was ihm als das Beste erscheint, zu wählen, ohne ihn jedoch zu zwingen. 49 Es gibt immer den überwiegenden Grund, den Gott uns zeigt und zu dem er uns antreibt. Denn es gibt niemals ein indifferentes Gleichgewicht, wo keine Neigung für die eine Seite vorhanden ist. Der Esel Buridans, der sich zwischen zwei Heubündeln befindet und der in gleicher Weise von dem einen und dem anderen angezogen wird, ist nur eine Fiktion, weil jede Monade nicht vollständig mit jeder anderen - prinzipium identitatis indiscernibilium nach - identisch sein kann. 50 So versucht Leibniz den Gegensatz zwischen der absoluten Notwendigkeit und der willkürlichen Freiheit zu bewältigen. Und damit will er Gott vor dem Verdacht, Gott sei Auetor des Bösen, befreien. Gott will nicht das Böse, sondern er hat es nur dem Wesen des Geschöpfs nach zugelassen. Natürlich besagt das noch nicht, daß er den Verdacht völlig beseitigt hätte. Denn es muß noch gezeigt werden, warum und zu welchem Zweck Gott das zugelassen hat und zuläßt.
3.1.4 Die Wozu-Frage: Die beste aller möglichen Ganzheiten und Mathesis quaedam Divina Leibniz findet nicht, daß die Zulassung des Bösen im Widerspruch zu der besten Welt steht. Vielmehr knüpft er den Gedanken von der Zulassung des Bösen sinnvoll an den der besten Welt an. Eben um die beste aller möglichen Welten erscheinen zu lassen, hat Gott nämlich das Böse zugelassen. Die Realexistenz des Bösen schädigt nicht den mundum optimum, sondern dient ihm vielmehr. Wir müssen zuerst seinen Begriff der Vollkommenheit in Betracht ziehen, um diese merkwürdig klingende Aussage zu verstehen. Leibniz denkt die Vollkommenheit (perfectio) nicht als die größte aller Zahlen oder die größte aller Figuren. Vielmehr deutet er sie als »den höchsten Grad«. Und sie heißt die höchstpositive Wirklichkeit, in der die größte Mannigfaltigkeit aller Möglichkeiten mit der größten Harmonie enthalten sind. In diesem Sinne hält er die von Gott erschaffene Welt für die vollkommenste Wirklichkeit. 51 Er findet ein gewisses dynamisches Gesetz in solcher vollkommensten Wirklichkeit, die die größte Harmonie realisiert, heraus. Das ist das Gesetz, kraft dessen die reichste Mannigfaltigkeit der Wirkungen mit dem einfachsten Mittel hervorgebracht wird. Hier folgt aus der kleinst48 49 50 51
52
Leibniz, Die Vernunftsprinzipien der Natur und der Gnade, in: HS II, S. 428 (VNG). TD, S. 125; MA, S. 175. TD, S. 127. MA,S. 135; V N G , S. 429-430.
möglichen Anzahl von Voraussetzungen die reichste Fülle von Erscheinungen, wie ein geschickter Architekt, »der den Platz und den Baugrund auf das vorteilhafteste ausnützt und der nichts stehen läßt, was das Auge beleidigt und was der Schönheit, die unter den gegebenen Bedingungen erreichbar war, ermangelt«. 52 Leibniz nennt dieses Gesetz eine göttliche Mathematik oder metaphysische Mechanik (mathesis quaedam Divina sive mechanismus metaphysicus). 53 Gott hat die Welt erschaffen nach dem metaphysischmathematischen Gesetz, kraft dessen das Minimum des Mittels das Maximum der Folge hervorbringt. Darüberhinaus liegt hinter diesem Gesetz noch der Gedanke der »Mitmöglichkeit« (compossibilia) oder der inneren Angemessenheit. 5 4 Auch wenn eine gute Möglichkeit ohne Rücksicht auf andere Möglichkeiten erwählt würde, könnte sie nicht die reichste Welt konstituieren. I. Es gibt unzählbare Möglichkeiten zum Sein. II. Jede Möglichkeit hat das Recht, Existenz gemäß dem Grad der Vollkommenheit, die sie in sich begreift, zu beanspruchen, weil das Sein den Vorzug vor dem Nichtsein hat. III. Also, mit Rücksicht auf die Mit-möglichkeit bzw. die Koexistenz aller Möglichkeiten muß die beste Welt, in der das Minimum des Mittels das Maximum der Folge hervorbringt, gewählt werden. 5 5 So hat Gott nach Leibniz die einzige beste Welt aus einer unendlichen Anzahl von möglichen Welten auf den Grund des Prinzips der compossibilia erwählt und erschaffen. Und dieses Prinzip ist nichts anderes als der zureichende Grund für die freiwillige Wahl Gottes bei der Schöpfung der Welt. Jede Monade wird von Gott in der harmonischen Korrelation mit anderen gesetzt. In diesem korrelativen Makrokosmos entwickelt sich jeder Mikrokosmos möglichst weit aufgrund der Angemessenheit der Koexistenz. Und da jede Monade in jeder Weise ein und dasselbe Universum ausdrückt, kommt hier eine prästabilierte Harmonie zustande. Außerdem erklärt Leibniz diesen Sachverhalt auch aus dem Punkt von der Natur des göttlichen Willens. Leibniz zufolge gibt es zwei Arten von Willen: den antizipierenden und den nachfolgenden Willen. Der erste strebt nach jedem Gut als solchem »ad perfectionem simpliciter simplicem« in der scholastischen Wendung. Aber der letzte entsteht aus dem Widerstreit aller Wollens-Antizipationen. Nach der Natur dieses Willens will Gott das Gute an sich antizipierend (antecedens), aber das Beste nachfolgend (consequens) als Absicht. Und wegen dieser Struktur des Willens Gottes ist zu sagen: Gott läßt das Böse zu, um schließlich die beste Welt zu erschaffen. 56 52
M A , S. 139.
53
Leibniz, De rerum originatione radicali, in: Die philosophischen Schriften, hrsg. von C . J .
Gerhardt, Berlin 1 8 7 5 - 9 0 , Band VII, S. 304. 54
A a O . , S. 304; M L , S. 448; T D , S. 101, 2 6 7 f .
55
M L , S. 447f.
56
T D , S. 111-113, 176, 419. Leibniz identifiziert diese Logik mit der Trennung von »vorläu-
53
3.1J
Die Prästabilierte
Wohin-Frage: Harmonie
Man könnte sagen, daß die Wohin-Frage, d.h. das Problem der Überwindung des Bösen von vornherein in solch einem System wie dem Leibnizschen fehlt. Die Realexistenz des Bösen ist sozusagen als das unvermeidliche Übel betrachtet, und es trägt schon den positiven Sinn, so wie es ist. Leibniz verneint nicht einmal, daß seine These sich der altkirchlichen Lehre der felix culpa nähert. Er sagt, daß auch die Sünde glücklich ist, »da sie mit ungeheuer rem Gewinn wiedergutgemacht worden ist, nämlich durch die Inkarnation des Gottessohnes, der dem Universum etwas Edleres gegeben hat als alles, was die Kreaturen sonst besessen hätten«. 57 Da Gott alle Möglichkeiten von Ewigkeit vorausgesehen und unsere Welt aufgrund der compossibilia erwählt hat, sind alle Dinge, Ereignisse und Handlungen schon in der prästabilierten Harmonie mitgesetzt. Diese Welt ist zur Harmonie prädestiniert. Diesen Harmonie-Gedanken Leibnizens können wir auch als eine philosophische Variation der theologischen Prädestinationslehre in der Neuzeit ansehen. 58 Leibniz zieht einige Erfahrungen als Beispiel heran, um seinen HarmonieGedanken zu belegen. Wir können sie kurz in zwei Gruppen einteilen. I. Keine Allgemeingültigkeit der teilweisen Erfahrungen - passive Apologetik. Nach juristischer Ansicht ist es ungerecht, ein Urteil zu fällen, ohne alle Gesetze zu berücksichtigen; Unser Wissen von der Geschichte ist nur ein ganz kleiner Teil der unendlichen Ewigkeit; wären wir von Anfang an im Gefängnis aufgewachsen, würden wir aus dieser Erfahrung heraus schließen, daß es nur ein schwaches Licht auf der Welt gäbe; jedes schöne Bild erscheint, wenn man es ganz nahe betrachtet, als ob es nur ein »Klumpen« von Farben wäre. 59 II. Gegensatz und Spannung als Multiplikator der Harmonie - positive Apologetik. Eine Dissonanz gibt einem Zuhörer Anregungen. Je mehr Angst er davor hat, desto mehr wird er sich freuen, wenn alles wieder in Ordnung kommt; Seiltänzer, im Begriffe hinauszustürzen, sollen uns in Schrecken versetzen; Trauerspiele sollen uns bis zu Tränen ergreifen; der Schatten läßt die Farbe stärker hervortreten; ein Heerführer gibt einem großen Siege und einer kleinen Verwundung den Vorzug vor einem Zustand ohne Verwundung und ohne Sieg; etwas Saueres, Scharfes oder Bitteres läßt die Süße figem« und »schließlichem oder beschlußkräftigem« Willen bei Thomas von Aquino sowie bei Duns Scotus (TD, S. 420). 5 7 TD, S. 413. 58 »So hat Gott ein für allemal alles im voraus geregelt, er, der die Gebete, die guten und schlechten Handlungen und alles andere voraussah; und jedes Ding hat vor seiner Existenz idealiter zu dem Entschlüsse beigetragen, der über das Dasein aller Dinge gefaßt wurde« (TD, S. 101). 59 Leibniz, De rerum originatione radicali, S. 306.
54
stärker werden; man kostet die Gesundheit erst aus, wenn man krank gewesen ist. 60 Hier handelt es sich nicht um die Uberwindung des Bösen, sondern um die Sinngebung des Bösen, m. a. W. nicht um die ontologische Lösung, sondern um die erkenntnistheoretische Plazierung in einem System. Leibniz erkennt zwar die Realität des Bösen an, aber mit einer gewissen noetischen Plazierung »entgiftet« er das Böse und bricht ihm die Spitze ab. Es läßt sich also sagen, daß seine Lehre von der prästabilierten Harmonie, die theoretisch mit den Zweckursachen gestützt wird, eine Vollendung der teleologischen Weltanschauung ist. Hierin ist etwas Ahnliches wie bei den Deisten in der Aufklärung, die auch eine Teleologie aufgestellt haben, zu erkennen. 61 Im Vergleich mit der späteren ethischen Teleologie bei Kant oder mit der dialektischen und ontischen Teleologie bei Hegel und Schelling kann man sagen, daß die Leibnizsche Teleologie eine noetische Eigentümlichkeit enthält. H. Thielikke weist mit Recht darauf hin, daß die Theodizee des Deismus auch eine solche noetische Tendenz hatte. 62 Aber der Unterschied zwischen Leibniz und den Deisten liegt darin, daß er diese noetische Teleologie durch die Theorie der Monadologie noch präziser auszubauen versucht. Alle Dinge stehen in der Harmonie der Ganzheit, indem Gott alles ein für allemal von vornherein vorausgeschaut hat. Die Monade als Mikrokosmos ist dadurch »Auge Gottes«, daß sie Gottes Schauen auf diese Harmonie des Makroskosmos je nach der beschränkten Weise repräsentiert. Wie das Individuum sich von eigenem Interesse trennen und Gottes Schauen auf die teleologischen Verhältnisse der Ganzheit klar und schleierlos repräsentieren kann, das zu zeigen ist die Hauptaufgabe der Leibnizschen Theodizee, und in diesem noetischen Streben der Monaden verbirgt sich der Schlüssel zur Lösung der Theodizee-Problematik.
3.1.6 3.1.6.1
Beurteilung Die Logodizee statt der
Theodizee
Es läßt sich nicht leugnen, daß die Ansicht von O.Marquard: in der neuzeitlichen Theodizee sei nicht mehr der »gnädige Gott«, sondern der »gerechte Gott« thematisiert, vornehmlich für Leibniz gilt. 63 Denn die Hauptsache in der Aufklärung ist nicht mehr die lutherische Uberwindung des spätmittelalterlichen Zweifels an der Barmherzigkeit Gottes (misericorAaO., S. 306; TD, S. 103, 413, 422. Vgl. O. Weber, Grundlagen der Dogmatik, Bd. I, Neukirchen 1955, 6 1983, S. 244; H. Thielicke, Glauben und Denken in der Neuzeit, S. 108-113; G.-F. Geyer, Leid und Böses, Freiburg i.Br. 1983, S. 103. 6 2 Thielicke, aaO., S. 108-109. 6 3 Marquard, SG, S. 171, Anm. 20. 60 61
55
dia Dei), sondern die Überwindung des Zweifels an der Gerechtigkeit Gottes (justitia Dei). 6 4 Während die misericordia Dei früher durch den Glauben gefestigt wurde, wird jetzt die Vernunft dazu aufgerufen. Die Konsequenz daraus ist, daß alle drei Instanzen eines Gerichtsprozesses (Ankläger, Verteidiger und Richter), wie wir schon gesehen haben, schließlich nur drei Phasen ein- und derselben Vernunft vertreten und damit Gott selbst auf das Niveau des Gerichtshofes der Vernunft hinabgezogen wird. Aber es ist doch nicht zuletzt zu fragen, ob der Gott, der dort verteidigt wird, wirklich noch Gott ist. Wir können uns nämlich des Eindrucks nicht erwehren, daß »ein Prozeß, der so angelegt ist«, nicht Aufschluß zu geben vermag, »wer eigentlich gerechtfertigt werden soll, Gott, der Mensch oder der Kosmos«. 6 5 Wir haben schon festgestellt, daß Leibniz das mathematische Gesetz der Minimum-Maximum-Beziehung zum metaphysischen Prinzip erhoben hat. Das bedeutet aber, einen Doppelfehler zu begehen: einerseits die Geringschätzung des Willen Gottes und andererseits die Uberschätzung des mathematischen Gesetzes. Indem der machthabende Wille Gottes mit der Minimum-MaximumBeziehung oder der Kompossibilität erklärt wird, führt das dazu, daß diese Gesetze, die eigentlich nur Erklärungsmittel bleiben sollten, umgekehrt die transzendente Freiheit Gottes einschränken. Was dort freigesprochen wird und wieder Vertrauen gewinnt, ist nur ein metaphysisches Prinzip, aber nicht Gott als solcher. Nicht die Gerechtigkeit Gottes, sondern nur die Gerechtigkeit des göttlichen Gesetzes ist der faktische Inhalt der LeibnizschenTheodizee! Daß die Welt gut ist, verliert hier den moralischen Sinn und heißt nur noch: eine gut funktionierende Maschine, in der alle Teile wohlgeordnet sind. 66 Auf der anderen Seite kommt es dazu, daß das mathematische Gesetz überschätzt und überlastet wird. Die Leibnizsche Uberzeugung vom mathematischen Rationalismus ist so stark, daß man sie für fast mystisch halten kann, in demselben Sinne, wie man das oft vom Pythagoreismus sagt. Bei einem kurzen Aufenthalt in Jena (1663) hat Leibniz unter dem Einfluß des Mathematikers und Astronomen Prof. Erhard Weigel in der Tat das Interesse am Pythagoreismus der Renaissance gezeigt. Für den Pythagoreismus kann man die die Welt beherrschende, verborgene Ordnung bzw. schöne Proportion der göttlichen Vernunft gerade in der Geometrie und in der Mathematik erkennen. »Nehmen wir einmal an, daß jemand aufs Geratewohl eine ganze Reihe von Punkten aufs Papier wirft, wie es diejenigen tun, die die lächerliche Kunst der Geomantie betreiben, so behaupte ich, daß es möglich ist, eine geometrische Linie von konstanter, einheitlicher Definition zu finden, die durch alle diese Punkte, und zwar in derselben Ordnung, wie die Hand sie Vgl. Thielicke, aaO., S. 37-42. Geyer, aaO., S. 103. 6 6 Vgl. K. Löwith, Vorträge und Abhandlungen, S. 187; H . Blumenberg, Legitimität der Neuzeit I, S. 67. 64 65
56
gezeichnet hat, hindurchgeht.« 6 7 So hat Leibniz es als seine zuversichtliche Uberzeugung formuliert. Aber wenn man so auch den Willen Gottes mathematisch aufzuklären versuchen würde, wäre es ein Mißbrauch der Mathematik. 68 Wir kommen also zu dem Schluß, daß die Leibnizsche Theodizee nur eine gewisse Logodizee (Cassirer) ist und bloß zur Rechtfertigung der Vernunft als letzter Einheitsinstanz beiträgt.
3.1.6.2 Das Griechische bei Leibniz Das Leibnizsche Vertrauen auf den Logos scheint nicht in der christlichen Theologie, sondern vielmehr im griechischen Gedankenkreis beheimatet zu sein. Man kann unschwer seine Monadologie als eine Synthesis von demoklitischer Atomtheorie und aristotelischer Entelechie (beseelender Kraft) betrachten. U n d wir können dieselbe Idee von der allgemeinen Ganzheit schon im Timaios von Piaton finden. 69 Auch die Stoiker haben schon die Relativierung des Bösen oder seine Bedeutung für die Gesamtheit des Guten erwähnt. 7 0 Auch die prästabilierte Harmonie, in der die schöne O r d n u n g der unendlichen Mannigfaltigkeit im voraus von Gott vorhergesehen wird, ist eigentlich dem griechischen Gedanken des Kosmos nachgebildet, aber es ist doch fraglich, ob sie es wirklich mit dem, was christlich-theologisch als Prädestination gilt, identifiziert werden kann. 7 1 Da Leibniz ein Idealbild vom griechischen Kosmos hatte, konnte er die Gegenstände der Zweckursachen nicht nur auf die Menschen beschränken, sondern auch auf niedrige Monaden, Tiere und Pflanzen ausweiten. 72 Trotz seines bewundernswerten 67
Leibniz, MA,S. 141; TD, S. 288. Es ist in diesem Zusammenhang nicht uninteressant, ihn mit Sir Isaac Newton, der ebenfalls die Mathematik als das Mittel Gottes ansah, zu vergleichen. Newton dachte unter dem Einfluß des Neuplatonismus den Raum als Gottes Sensorium. Trotzdem näherte er sich nach Hildebrandt der demokritischen Vorstellung an und bildete die Grundlage des mechanistischen Atheismus, weil er wieder den leeren Raum dachte. Dagegen lehnte Leibniz den Newtonschen Gedanken der toten Atome in leeren Raum ab und näherte sich damit noch stärker dem Piatonismus, wie Hildebrandt meint (aaO., S. 169-179, 231). U . E . ist aber Leibniz in diesem Punkt in größerer Nähe zum Pythagoreismus. Vgl. D. Mahnke, Unendliche Sphäre und Allmittelpunkt. Beiträge zur Genealogie der mathematischen Mystik, Halle 1937. - Ders., Die Rationalisierung der Mystik bei Leibniz und Kant, in: Blätter für deutsche Philosophie, Bd. XIII, Heft 1/2, Berlin 1939. 68
69
Siehe die Briefe von Leibniz an Hausch (1707) und an Remond (10.1. 1714), Gerhardt Bd. VII, S. 148. Vgl. Hildebrandt, aaO., S.231. 70 Vgl. Geyer, aaO., S. 96. - G. Bornkamm, Sohnschaft u. Leiden, in: Gesammelte Aufsätze, Bd. IV, München 1971, S.218. 71 W. Schultz richtet seinen Blick mit Recht gegen H . Schmalenbach auf die griechische Herkunft dieser Idee. Vgl. Werner Schultz, Die Korrektur des Weltbildes der Theodizee bei Leibniz durch Kant und Goethe und das moderne Denken, in: NZSTh9, Berlin 1967, S. 174. Vgl. H . Schmalenbach, Leibniz, München 1921, S. 218. 72 Leibniz, TD, S. 174. - Löwith ist jedoch mit der Leibnizschen Kosmologie noch nicht
57
Universalwissens von theologischen Traditionen müssen wir den stärkeren Einfluß der griechischen Idee auf Leibniz hervorheben. Sein Gott ist der Gott der Metaphysik, aber nicht der Gott der Bibel gewesen.
3.1.6.3 Die protologische Teleologie und das geschlossene System der Schöpfung Es mangelt Leibniz nicht so fatal an Geschichtsbewußtsein, wie allgemein gemeint wird. Er sagt z. В., daß » . . . jeder gegenwärtige Zustand einer einfachen Substanz die natürliche Folge des vorhergehenden Zustands ist, so daß die Gegenwart die Zukunft in ihrem Schöße trägt«. 73 Mit E. Bloch wird man diese Denkweise eine ausgezeichnete Geschichtsphilosophie nennen können. Der Ausdruck der Monade ist nicht nur im Raum beschränkt. Ihre Wirkung dehnt sich auch auf die zeitliche Reihe aus. Die Monade repräsentiert je nach der beschränkten Weise diese räumlich-zeitliche Harmonie des Kosmos. Deswegen können wir auch bei ihm schon den gedanklichen Keim der Fortschrittsfdee, die später bei Kant noch deutlich gewachsen ist, erkennen. Er sagt z.B. über den »progressum Universi« folgendes aus: »In cumulum etiam pulchritudinis perfectionisque universalis operum divinorum, progressus quidam perpetuus liberrimusque totius Universi est agnoscendus, ita ut ad majorem semper cultum procedat... Et quod objici posset: ita oportere ut Mundus dudum factus fuerit Paradisus, responsio praesto est: etsi multae jam substantiae ad magnam perfectionem pervenerint, ob divisibilitatem tarnen continui in infinitum, semper in abysso rerum superesse partes sopitas adhuc excitandas et ad majus meliusque et ut verbo dicam, ad meliorem cultum provehendas. Nec proinde unquam ad Terminum progressus perveniri.« 74 Deshalb kann man nicht umhin zu sagen, daß es derjenigen Meinung an Genauigkeit fehlt, nach der die Leibnizische Theodizee eine ätiologische Antwort auf die Woher-Frage sei und die Dimension der Geschichte in der Theodizee erst mit der kantischen teleologischen Antwort auf die WohinFrage, der Theodizee als Fortschritt, begonnen habe. Wie tief die Leibnizsche Theodizee durch das teleologische Denken geprägt war, das haben wir schon festgestellt. Der Unterschied des Geschichtsbewußtseins zwischen Leibniz und Kant ist also nicht mit dem Schema »Ätiologie oder Teleologie« zufrieden. Denn Leibniz befreit sich nicht vollständig v o m Gedanken der christlichen Anthropologie, der Ebenbildlichkeit des Menschen. Löwith schätzt Spinoza deswegen, weil der spinozistische Anti-Anthropozentrismus viel konsequenter als die Leibnizsche Kosmologie ist und mehr mit seinem eigenen Standpunkt von griechischer Kosmologie übereinstimmt (aaO., S. 185, 252). 73 Leibniz, ML, S. 440. - Vgl. T D , S. 369: »Es bildet eines der Gesetze meines Systems der allgemeinen Harmonie, daß die Gegenwart die Zukunft in sich enthält, und daß der alles Sehende auch in dem Seienden das Werdende erblickt.« 74 Leibniz, D e rerum originatione radicali, S. 308.
58
zu erklären. Vielmehr handelt es sich hier um die wesentliche Differenz zwischen beiden Teleologien. Es ist eben zu fragen, warum die Leibnizsche Geschichtsschau einen Bewegungscharakter wie in der nachkantischen Geschichtsphilosophie verliert, obwohl er auch den progressum im Rahmen von Teleologie erwähnt. Zwei Gründe dafür können wir hier anführen: das noetische Gepräge der Leibnizschen Metaphysik und das Fehlen der Eschatologie. Erstens: Am Geschichtsbewußtsein der Monade wird hervorgehoben, daß die ganze Zeitreihe in der Gegenwart, die die Zukunft in sich enthält, wahrgenommen wird und die ganze Harmonie in den Verhältnissen mit anderen Monaden gegenwärtig zum Ausdruck gebracht wird. Dabei kommt es darauf an, diese universale Harmonie noetisch zu repräsentieren. Und solange das Geschichtsbewußtsein gegenwärtig und noetisch ist - auch wenn die Expression dynamisch wäre - , verliert Leibnizsche Geschichtsphilosophie eine ontische bzw. ethische Bewegungsdimension. Zweitens: Die hier repräsentierte Harmonie ist ganz und gar in der Schöpfungslehre begründet. Der Grund für die Harmonie der Welt ist für Leibniz ganz hinreichend nur mit dem Schöpfungsakt Gottes zu erklären. Zwar ändert und entwickelt sich jede Monade, aber diese Änderung ist immer kontinuierlich, und sie ist sogar schon von vornherein in die zeitlich-räumliche Harmonie, die im voraus von Gott prästabiliert ist, einbezogen: »Alle Körper sind in einem immerwährenden Flusse begriffen, wie Ströme«, 7 5 aber das kommt nur in dieser Harmonie vor, und allein eine kosmische »harmonia« lebt und atmet. Diese Harmonie ist von Ewigkeit in der Schöpfung begründet, nämlich außer Schöpfung ist nichts nötig, um die Harmonia zustandezubringen. Die Vollendung der Welt geschieht nicht erst mit der Eschatologie, sondern ist schon in der Schöpfung vorweggenommen. Wenn man die nachkantische Teleologie die eschatologische Teleologie - sei es säkularisiert, sei es noch theologisch - nennen kann, können wir dagegen die Leibnizsche, die auf Zweckursachen beruht, die protologische Teleologie nennen. Daß diese Teleologie auf das sozusagen geschlossene System der Schöpfung gegründet ist, macht seine Geschichtsphilosophie - mit dem noetischen Hang - statisch und stabilisiert sie. 76
3.1.6.4 Das Zurücktreten der Sündenlehre und die Entbehrlichkeit der Versöhnung Die protologische Teleologie ohne Eschatologie kann nur entstehen, wenn man den Bruch der geschaffenen Welt durch die Sünde nicht erst nimmt. Die menschliche Sünde vor Gott wird bei Leibniz in das moralische Übel überLeibniz, M L , S. 452. Vgl. P. Kondylis, Die Aufklärung im Rahmen des neuzeitlchen Rationalismus, Stuttgart 1981, S. 584. - Geyer, aaO., S. 101. - Blumenberg, aaO., S. 66. 75
76
59
haupt aufgelöst, und selbst das moralische Übel wird mit der »felix-culpa«Logik relativiert. Hierin ist das neuzeitliche Zurücktreten der Erbsündenlehre ganz deutlich zu erkennen. Indem das Böse vom moralischen zum bloß instrumentalen Phänomen verändert ist, ist der theologische Begriff von Sünde, die ganz wesentlich in der vertikalen Relation von Gott und Mensch bestimmt ist, sogar als solcher verschwunden. Der Bruch der Sünde ist nicht mehr das soteriologische Problem. Die Frage nach der Erlösung ist nun bloß ein Problem der automatischen Restauration des Bruchs durch die kontinuierliche Tat des Schöpfers in der Harmonie. Die Welt ist so vollkommen erschaffen und erwählt, daß es eines soteriologischen Eingreifens Gottes durch einen Erlöser gar nicht mehr bedarf. 77 In diesem Sinne steht die christologische Versöhnungslehre bei Leibniz keineswegs im Vordergrund. Natürlich zieht er auch oft den Namen Jesus Christus heran. Aber Jesus Christus ist eigentlich nur als ein Beispiel für das vollkommenste Reich der Geister gedacht. Leibniz sagt, daß allein Jesus Christus die Wahrheiten (das Königreich des Himmels oder den vollkommenen Staat der Geister, der die Bezeichnung: Gemeinwesen Gottes verdient) in göttlich schöner Weise ausgedrückt hat, »und zwar auf so klare und allgemeinverständliche Art, daß die Einfältigsten sie begriffen haben«. Jedenfalls läßt es sich nicht leugnen, daß die Stellung Jesu Christi nur eine Nebensache in seiner Theodizee war. 7 8 Solches Sündenverständnis hängt mit seiner monadologischen Anthropologie zusammen. Den Satz: Gott schuf den Menschen zu seinem Bilde, deutet Leibniz mit einem unbiblischen, gnostischen Ausdruck derart um, daß die Menschen, die durch eine Art von Emanation aus Gott als die Augen Gottes die Welt anschauen, immer neu erzeugt werden. 79 Die Monade ist imstande, ein kleiner Gott zu sein, obwohl sie die geschöpfliche Beschränktheit hat. Hierin ist in der Leibnizschen Monadologie der Widerspruch enthalten, daß er selber wieder in einen lockeren bzw. inkonsequenten Pantheismus geraten ist, während er doch zugleich den radikalen Pantheismus von Spinoza abgelehnt hat. Seine bekannte Aussage: Spinoza hätte recht, wenn es keine Monaden gäbe, sollten wir nicht bloß als einseitige Kritik, sondern vielmehr als eine kritische Sympathie für Spinoza ansehen. 80
3.1.6.5
Kann der Mensch »Gottes Auge« sein?
Wenn wir dem Leibnizschen Gedanken der Harmonie von Makro- und Mikrokosmos begegnen, fühlen wir gewiß eine neue gedankliche Erfahrung, 7 7 Vgl. H . J . Störig, Kleine Weltgeschichte der Philosophie, Stuttgart/Berlin/Köln/Mainz 1 2 1981, S. 353. 78 79
80
60
Leibniz, M A , S. 187. Vgl. Geyer, aaO., S. 97. M A , S. 153. Leibniz, Brief an Bourguet 1714, in: HS II, S. 482.
die sogar mystisch heißen kann, als ob unsere Sicht, unser Horizont des Denkens, unvermittelt auf das Unendliche ausgedehnt würde. Ohne solche gedankliche Erfahrung mit Leibniz zu teilen, können wir keineswegs das Zentrum seiner Gedanken erfassen und auch nicht die Mauer der banalen Würdigung: er sei zu optimistisch, durchbrechen. Erst wenn diese Mauer abgebrochen wird, können wir die eigentliche Reichweite der Leibnizschen Gedanken heutzutage rehabilitieren. Trotz dieser Bemühung bleibt aber noch eine letzte Frage an ihn, und zwar die, ob der Mensch wirklich »Gottes Auge«, welche die Harmonie der Ganzheit anschaut, sein kann. Daß der Mensch trotz seiner Beschränktheit zum Ausdrücken Gottes fähig ist, gilt nur für den Fall, daß die Beschränktheit bloß relativ bleibt, wie im Pantheismus. Aber wenn die Beschränktheit den absoluten Abgrund zwischen Gott und Mensch bedeutet, dann ist es sowohl unmöglich als auch blasphemisch, daß der Mensch »Gottes Auge« ist. Es ist nicht nur unmöglich, Gott zu repräsentieren, sondern auch die Harmonie als die Koexistenz der Dinge stückweise auszudrücken. Stellen wir uns beispielsweise die Frage: Kann eine leidende Monade damit zufrieden sein, daß sie ein Opfer für die Harmonie des Ganzen ist? Leibniz denkt zwar nicht so einfach die Uberbewertung des Ganzen auf Kosten des einzelnen. Jede Monade hat auch das Recht, glücklich zu sein. Aber das gilt nur, soweit jedes Glück mit dem allgemeinen Besten übereinstimmt. Er sagt, »non ita accipienda est, ac si nulla partium ratio habeatur, aut quasi sufficeret, totum Mundum suis numeris esse absolutum, etsi fieri possit ut genus humanum miserum sit, nullaque in universo justitiae cura sit aut nostri ratio habeatur... Nam sciendum est... ita nec universum satis perfectum fore nisi quantum, licet salva harmonia universali, singulis consulatur. Cujus rei nulla constitui potuit mensura melior, quam lex ipsa justitiae dictans ut quisque de perfectione universi partem caperet et felicitate propria pro mensura virtutis propriae et eius quae affectus est ergo commune bonum voluntatis.. .« 81 Aber was soll dieses »commune bonum« heißen? Die Kompossibilität gestaltet nicht immer das Optimum. Denn es ist denkbar, daß die Kompossibilität die qualitativen Eigentümlichkeiten der zusammenstoßenden Monaden reduziert und das Ganze folgerichtig auf einem niedrigeren Niveau zum Abschluß kommt. 82 Aber kann man denn an das »commune bonum« in einer Welt, wo die Schwachen oft den Starken zur Beute fallen und die Bösen manchmal mehr als die Guten gedeihen, glauben ? Ist es nicht vielmehr wahr, daß jede Monade nicht die harmonischen Verhältnisse des allgemeinen Guten, sondern viel eher die Verhältnisse der sich feindlich gegenüberstehenden Widersprüche auf der Welt ausdrückt? Leibniz denkt, daß die höhere, dynamischere Harmonie dadurch zustandekommt, daß sie auch das Böse als den Gegner des Guten einschließt. Ist es 81
L e i b n i z , D e r e r u m originatione radicali, S. 307.
82
W. H ü b e n e r , Sinn u n d G r e n z e n des L e i b n i z s c h e n O p t i m i s m u s , in: Studia Leibnitiana 10,
W i e s b a d e n 1978, S. 245.
61
aber wirklich das Böse? Brauchen wir noch das, was nur vorläufig böse ist, das Böse zu nennen ? Wenn ein Gift als Arznei benutzt wird, ist es schon nur noch ein schwach gewordenes, harmloses Gift. Wenn man wirklich die Masse des Gifts einnimmt, muß man sterben, und das mag eben das Wesen des Bösen sein. Sollen wir vielmehr das, was niemals vorläufig böse ist, das Böse nennen? Sollen wir das, was eine Harmonie von Grund auf zerbricht, für das Böse halten? Das Böse heißt ja etwas immer Disteleologisches, Sinnloses, das, was in Ewigkeit dem Guten gegenübersteht. Das Böse ist aber bei Leibniz außer Gefecht gesetzt, entgiftet und dressiert wie ein Haustier ohne Fangzähne. So lautet unser zusammenfassendes Urteil über den Leibnizschen Theodizee-Entwurf. Man nennt sein Buch »Confessio Philosophi« in seiner Pariser Zeit die erste Theodizee. Und er hat wirklich dreißig Jahre später seine ausfährlichere Theodizee genauso wieder als ein Bekenntnis eines Philosophen, wie der Titel andeutete, aufgestellt. Hierin liegen sowohl seine originellen Gedanken als auch seine Begrenztheiten. - Wir müssen aber den Weg zum Aufbau der theologischen Theodizee, und zwar zum Bekenntnis der Theologen einschlagen.
3.2 Theodizee und Moralphilosophie. Agnostisch-praktische Theoriebildung
bei I. Kant
»Der denkende Mensch fühlt einen Kummer, der wohl gar Sittenverderbnis werden kann, von welchem der Gedankenlose nichts weiß: nämlich Unzufriedenheit mit der Vorsehung, die den Weltlauf im Ganzen regiert, wenn er die Übel überschlägt, die das menschliche Geschlecht so sehr und (wie es scheint) ohne H o f f n u n g eines Bessern drücken. Es ist aber von der größten Wichtigkeit: mit der Vorsehung zufrieden zu sein (ob sie uns gleich auf unserer Erdenwelt eine so mühsame Bahn vorgezeichnet hat).« 8 3
3.2.1
Voraussetzung: Neue Begründung
der Theodizee auf den Kritizismus
der
Vernunft
Mit größter Wahrscheinlichkeit kann man annehmen, daß das TheodizeeProblem Kant schon früh angezogen hat. In seinem »Nachlaß« (Nr. 3703-3705), der etwa 1753 geschrieben worden sein soll, hat Kant schon den Leibnizschen Optimismus erwähnt, und auch im »Versuch, den Begriff der negativen Größen in die Weltweisheit einzuführen« (1763), ist dasselbe Thema wieder aufgegriffen. Es ist aber merkwürdig, daß die Erwähnungen 8 3 I. Kant, Mutmaßlicher Anfang der Menschengeschichte, in: Gesammelte Schriften, Königlich Preußische Akademie der Wissenschaft, Berlin/Leipzig 1923 ( K A ) , Bd. VIII, S. 120 f.
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des ihn so stark interessierenden Theodizee-Problems danach völlig verschwunden sind. Dieses Thema ist erst wieder aufgetaucht, als Kant an seinem Lebensabend die drei Kritiken vollendet hatte, und dabei firmiert es ausgerechnet unter dem negativen Titel: »Uber das Mißlingen aller philosophischen Versuche in der Theodizee« (1791). Wie können wir dieses etwa dreißigjährige Schweigen Kants interpretieren? Eine mögliche Annahme, die uns zuerst vorschweben könnte, ist vielleicht, daß Kant sich früher mit den metaphysischen Fragen noch im Rahmen der Leibniz-Wölfischen Philosophie beschäftigt hat und dabei auch die Theodizee thematisiert wurde, aber während der Vollendung der kritischen Philosophie hätte dann das Interesse dafür nachgelassen. Man kann auch das Erdbeben von Lissabon am 1. N o vember 1755 als weiteren Grund hinzufügen. Demnach wäre Kants Interesse am Thema zugleich mit dem Optimismus der Aufklärung infolge dieses Erdbebens zusammengebrochen. Aber aus folgendem Grund können wir einer solchen Ansicht nicht zustimmen: Erstens. In dem kleinen Aufsatz über Theodizee beabsichtigt der ältere Kant trotz des negativen Titels eine Theodizee-Theorie, die vom Kritizismus der Vernunft neu begründet wird. Deswegen liegt die Betonung des negativen Titels nur auf dem Wort »bisherige« Theodizee, worauf ich hinweisen möchte. 8 4 Zweitens. Das Erdbeben von Lissabon hat zwar auch Kant erschüttert. Aber man kann es nicht für die unmittelbare Ursache dessen halten, daß Kant sich vom Leibniz-Wölfischen Optimismus getrennt hat. Denn Kant benimmt sich in seiner Trilogie der Erdbebenlehren hauptsächlich als ein besonnener Naturwissenschaftler mit geologischen und physikalischen Interessen. Darin kann man freilich einige von der Theodizee motivierte Aussagen finden, aber sie sind nur ein Einwand gegen die kausalgesetzliche Denkweise von Sünde und Unglück oder eine Feststellung über die Beschränktheit der physikotheologischen Schlußfolgerung: die Natur sei nicht nur die Schöpfungswelt Gottes, sondern auch die Schaubühne der Eitelkeit usw. 8 5 8 4 Man kann das Buch »Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft« (1793) auch als eine Durchführung einer solchen neuen Theodizeetheorie ansehen. Der TheodizeeAufsatz von 1791 verhält sich m. E. zur Religionsphilosophie von 1793 ebenso wie die »Prolegomena« (1783) zur »Kritik der reinen Vernunft« (1781), die »Grundlegung zur Metaphysik der Sitten« (1785) zur »Kritik der praktischen Vernunft« (1788), und die »Beobachtungen über das Gefühl des Schönen und Erhabenen« (1764) zur »Kritik der Urteilskraft«. Tatsächlich kommt dasTheodizeemotiv im Buch der Religionsphilosophie vor. Z . B . die Episode über P. Charlevoix (Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft, Κ Α VI, S. 79 A n m . ) und die Erwähnung von Gen 3 ( Κ Α VI, S. 79). 8 5 I . K a n t , Vorkritische Schriften I. ( 1 7 4 7 - 1 7 5 6 ) , Κ Α I, S.441, 471, 472. Vgl. W.Oelmüller, Die unbefriedigte Aufklärung, Frankfurt (1969). Mit einer neuen Einleitung 1979, S . 2 0 5 ; W. Schultz, Die Korrektur des Weltbildes der Theodizee bei Leibniz durch Kant und Goethe und das moderne Denken, in: N Z S T h 9, Berlin 1967, S. 179. - In diesem Punkt unterscheidet sich Kant von Voltaire, der das Erdbeben als die Widerlegung gegen den Leibnizschen Optimismus anführt. Die wirkungsgeschichtliche Analyse des Leibnizschen Optimismus im 18. Jahrhundert hat W. Hübener, Sinn und Grenzen des Leibnizschen Optimismus, in: Studia Leibni-
63
Es erscheint uns nicht zutreffend, daß das Erdbeben Kant direkt in die radikale Skepsis gegen den Optimismus geführt hat. Denn er konnte noch vier Jahre später eine Hymne auf den Optimismus singen. 86 Aber was bedeutet denn das Schweigen Kants? Unsere Annahme ist folgende: je weiter der durch den englischen Empirismus aus dem »dogmatischen Schlummer« geweckte Kant seine eigene kritische Erkenntnistheorie vertiefte, desto deutlicher mußte er feststellen, daß man die Theodizee nicht mehr aufgrund der Leibnizschen Metaphysik behaupten könne. Aber er hat doch inzwischen die Aufgabe, eine Theodizee aufzubauen, keineswegs vergessen, sondern sie wurde als Problem, das er erst nach der Vollendung der kritischen Philosophie richtig behandeln konnte, sorgfältig beibehalten. Kurz: Sein Schweigen von dreißig Jahren bedeutet, theodizee-geschichtlich betrachtet, eben eine theoretische Fundamentierung, der neuen Theodizee in einem weiten, aber fruchtbaren Umweg dahin. Die Theodizee ist für Kant weder ein Anzeichen von Unreife seiner vorkritischen Zeit, noch ein religiöser Anhang zur vollendeten Philosophie des Kritizismus an seinem Lebensabend. Vielmehr sollten wir seine drei kritischen Unterfangen als eine neue Fundierung der Theodizee-Theorie verstehen, und zwar vor dem Hintergrund der gesamten Problemgeschichte. Von diesem Gesichtspunkt aus fassen wir zuerst die frühen Aussagen Kants über die Theodizee zusammen. So können wir noch seine eigene scharfe Kritik in der Korrektur der Leibniz-Wolffschen Metaphysik entdekken: Im »Nachlaß« (1753/1754) weist er darauf hin, daß sich ein nicht so leicht zu schlichtender Widerspruch hinter der optimistischen Harmonievorstellung Leibnizens verbirgt. Aus dem Umstand, daß Leibniz den Ursprung des Bösen der metaphysischen Mangelhaftigkeit des Geschöpfs zugeschrieben habe, entstehe »ein unerforschlicher Streit zwischen dem allgemeinen Willen Gottes, der lediglich auf das Gute abzielt, und der (metaphysischen) Nothwendigkeit der Mängel, die sich nicht dazu mit aller Ubereinstimmung (ohne Ausnahmen) anschicken will«. 8 7 Auch wenn Leibniz einen Unterschied gemacht hat zwischen dem antizipierenden.Willen Gottes, der alles Böse ablehnt, und dem nachfolgenden Willen, der um des größeren Guten willen teilweise das Böse zuläßt, kann dieser Unterschied jedoch nicht hinreichend erklären, warum Gott das Böse, das ihm eigentlich nicht gefällt, zuläßt, oder besser gesagt, um des Ganzen willen zulassen muß. Wenn Gott etwas, was er eigentlich nicht will, zulassen muß, dann entsteht ein von Gottes Willen unabhängiger Teil, und weiter würde dieser Teil zu so etwas wie einer ewigen Natur, die von Gott unabhäntiana 10, Wiesbaden 1978, S. 222-246, aufgezeigt. Vgl. auch J. Kremer, Das Problem der Theodizee in der Philosophie und Literatur des 18. Jahrhunderts mit besonderer Rücksicht auf Kant und Schiller, Berlin 1909; O . Lempp, Das Problem der Theodizee in der Philosophie und Literatur des 18. Jahrhunderts bis auf Kant und Schiller, Leipzig 1910. 8 6 I. Kant, Versuch einiger Betrachtungen über den Optimismus, Κ Α II, S. 34-35. » 7 I. Kant, Handschriftlicher Nachlaß, ΚΑ X V I I , S. 236-237.
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gig ist und dem Willen Gottes vorangeht. - Kant sagt: »Der ganze Fehler beruht darin, Leibniz versetzt den Plan der besten Welt einestheils in eine Art einer Unabhängigkeit, anderentheils in eine Abhängigkeit von dem Willen Gottes.« 8 8 Dafür hat Kant kein Verständnis, und insofern muß er selber einen neuen Weg erschließen, in dem alle Möglichkeiten alleine von Gottes Willen abhängen und gleichzeitig der Optimismus einer das Böse enthaltenden Welt behauptet werden kann. 8 9 Trotz der großen Fragezeichen an Leibniz war Kant noch eine Weile ein Verfechter des Leibnizschen Optimismus. Z . B . lehrt er eine Ubereinstimmung des freien Willens mit dem Prinzip vom determinierenden Grund (principium rationis determinantis) im Aufsatz »Principiorum primorum cognitionis metaphysicae nova dilucidatio« (1755), in dem er sagt, »Verum, quae per entium intelligentium et semetipsa sponte determinandi potestate praeditorum voluntatem confiunt, ex interno sane principio - profecta sunt« und insofern sei Gott kein »machinator mali«. 9 0 Der freie Wille ist anders als die unvernünftige Willkür: »Libere agere est appetitui suo conformiter et quidem cum conscientia agere. Et hoc quidem rationis determinantis lege exclusum non est.« 9 1 Und »spontaneitas est actio a principio interno profecta. - Q u o certius huic legi obtemperare quisque dicitur, quo itaque positis omnibus ad volendum motivis est determinatior, eo homo est liberior.« 9 2 Auch noch im Aufsatz von 1759 »Versuch einiger Betrachtungen über den Optimismus« erkennt Kant den Begriff der Vollkommenheit der Welt wider die Gegner des Optimismus, nach deren Meinung eine vollkommenste unter allen Welten so wie die größte unter allen Zahlen ein widersprechender Begriff sei, als zu Recht bestehend an: Dazu behauptet er, daß die Vollkommenheit der Welt nicht als Beschaffenheit (qualitas), sondern als Größe (gradus) der Realität gedacht werden muß. 9 3 Aber natürlich konnte er diesen
88
A a O . , S. 237.
D . Henrich vermutet, daß Kant damals dieses Problem noch nicht lösen konnte, ohne daß er in die cartesianische Lehre von der Willkür Gottes oder in den spinozistischen Pantheismus geraten wäre. Seiner Meinung nach hat Kant sich deshalb nicht um den Preis von 1755 beworben. D . Henrich, Über Kants früheste Ethik, in: Kant-Studien 5 4 , 1 9 6 3 , S. 410. 89
90
KAI,S. 403-404.
91
Κ Α I, S . 4 0 3 .
Κ Α I, S . 4 0 2 . 9 3 Κ Α II, S.31. U n d am Schluß des Aufsatzes hat er geschrieben:: »Von dem besten unter allem Wesen zu dem vollkommensten unter allen möglichen Entwürfen als ein geringes Glied, an mir selbst unwürdig und um des Ganzen willen auserlesen, schätze ich mein Dasein desto höher, weil ich erkoren ward, in dem besten Plane eine Stelle einzunehmen. Ich rufe allem Geschöpfe zu, welches sich nicht selbst unwürdig macht so zu heißen: Heil uns, wir sind! und der Schöpfer hat an uns Wohlgefallen« (S. 3 4 - 3 5 ) . Dieses Wort ist eine so direkte Lobrede auf den Optimismus, daß man arglos vermuten darf, Kant hätte wohl dies zu seiner Grabinschrift bestimmt, hätte er nicht den kritizistischen Weg eingeschlagen, an dessen Ende dann jenes andere stand: »der bestirnte Himmel über mir und das moralische Gesetz in mir«. 92
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Weg des Optimismus nicht weiter verfolgen. Denn infolge starker Zweifel 94 an der erkenntnistheoretischen Möglichkeit der Metaphysik selbst hat Kant seine Bemühungen dem Neuaufbau einer Theodizee-Theorie zugewandt. Was für einen Charakter hat nun die kantische Theodizee durch die Selbstprüfung des Kritizismus hindurch angenommen? Natürlich können wir hier keine Rekapitulation von Kants Philosophie in ihrem ganzen Ausmaß bieten. Wir erwähnen vielmehr nur die wichtigsten Zusammenhänge mit der Theodizee-Problematik. »So fängt denn alle menschliche Erkenntnis mit Anschauungen an, geht von da zu Begriffen und endigt mit Ideen.« 95 Diese drei Hauptelemente der theoretischen Erkenntnis, d.h. Raum und Zeit als reine Anschauungsformen, Kategorien als reine Verstandesbegriffe und apriorische Ideen der reinen Vernunft als regulative Prinzipien (die psychologischen, die kosmologischen und die theologischen Ideen), haben zwar apriorische Gültigkeit, aber auf keinen Fall außerhalb des empirischen Gebiets, d.h. der phänomenalen Welt. 96 Die theoretische Vernunft kann das Ding an sich und die metaphysischen Ideen der Freiheit, der Unsterblichkeit der Seele und Gottes außerhalb der phänomenalen Welt nicht erreichen, und wenn die Vernunft ihre Erkenntnisfähigkeit über die Grenze der Erfahrung erweitern will, muß sie notwendigerweise in Antinomien geraten. Die herkömmliche Theodizee aufgrund des physiko-theologischen Argumentes, die durch die theoretische Explikation der empirischen Natur die Gerechtigkeit Gottes beweisen will, wird mithin als Überschreitung der Vernunft, oder »doctrinale Theodizee« abgelehnt. 97 Der einzig mögliche Weg, den Kant »authentische Theodizee« nennt, ist die Auslegung des göttlichen Willens durch diepraktische Vernunft. D.h., daß man von sich aus auf die Auslegung der Gerechtigkeit Gottes durch die theoretische Vernunft, die die Endabsicht Gottes aus den Ausdrücken in der Natur »herausvernünftelt«, verzichtet und solche Entwürfe vor dem göttlichen Machtspruch oder dem Ausspruch der Vernunft - für Kant ist dies dasselbe - bloß abfertigt. Für die doctrinale Theodizee bleibt die Welt immer ein verschlossenes Buch, aber für die authentische Theodizee offenbart Gott sich selber. Gott macht der praktischen Vernunft seinen Endzweck, der eigentlich moralisch ist, bekannt. Darüber hinaus ist diese praktische Vernunft eben nach Kant nichts anderes als »die unmittelbare Erklärung und Stimme Gottes«. 98 94
Kant hat schon auf diesen Verdacht als eine weitere Problematisierung Leibnizens im Nachlaß von 1753/54 hingewiesen, ΚΑ XVII, S. 238. 95 I. Kant, Kritik der reinen Vernunft, KA III, S. 460. 96 KA III, S. 461. 97 I.Kant, Über das Mißlingen aller philosophischer Versuche in derTheodicee (1791), KA VIII, S. 264. 9 » ΚΑ VIII, S. 264.
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Kant findet das Beispiel dieser authentischen Theodizee in der biblischen Geschichte Hiobs. Dabei macht er uns nicht auf den Inhalt des Dialogs zwischen Hiob und den Freunden, sondern auf den Unterschied des Charakters ihrer Stellungnahmen aufmerksam: »Die Freunde Hiobs bekennen sich zu dem System der Erklärung aller Übel in der Welt aus der göttlichen Gerechtigkeit, als so vieler Strafen für begangene Verbrechen.« 99 Nach Kant scheinen sie äußerlich die göttliche Wahrheit zu sprechen, aber in Wirklichkeit wollen sie sich mit ihren Äußerungen bei Gott einschmeicheln und es der Wahrheit selbst vorziehen, daß sie Gott gefallen. Das ist aber keineswegs die Moralreligion, die durch die reine praktische Vernunft begründet wird, sondern nur eine »Gunstbewerbungsreligion«. Dagegen bekennt sich Hiob zum »System des unbedingten göttlichen Ratschlusses«. Das Wort aus H i o b 23,13 vertritt Kants Stellungnahme: »Er ist einig, er macht's, wie er will.« Es handelt sich hier um die Aufrichtigkeit, sich vor der Unerforschlichkeit der Weisheit Gottes zum Unvermögen unserer Vernunft zu bekennen, und um die Redlichkeit, diese Gedanken nicht in der Aussage zu verfälschen. Gott würdigt H i o b wegen dieser »formalen Gewissenhaftigkeit« gegenüber seinen heuchlerischen Freunden. Denn im göttlichen Richterausspruch hat der redliche Mensch den Vorzug vor dem religiösen Schmeichler. 100 Hiermit ist nun die Theodizee nicht theoretisch-vernünftig, sondern praktisch-vernünftig fundiert. Dies liegt nicht nur daran, daß die Ideen von Gott, Freiheit und Unsterblichkeit der Seele ihre objektive Realität sozusagen im apagogischen Sinne bloß als Postulat der praktischen Vernunft garantiert werden, sondern auch daran, daß die Theodizee nach Kannt ursprünglich eine Apologetik des moralischen Zwecks Gottes bedeutet und insofern zu dem Bereich, wo man nur im praktischen Gebrauch der Vernunft behandeln kann, gehört. Hier wird die anthropologisch-moralische Eigentümlichkeit der kantischen Theodizee deutlich. Das Problem des Bösen verliert bei Kant die kosmologische und physische Dimension, die bei Leibniz noch bleibt, und wird ausschließlich auf die anthropologische und moralische Dimension reduziert. 101
3.2.2 Die Wo/Was-Frage: Praktisch-vernünftige
Festlegung
Kant definiert die Theodizee als »die Verteidigung der höchsten Weisheit des Welturhebers gegen die Anklage, welche die Vernunft aus dem Zweck99
ΚΑ VIII, S. 265. ΚΑ VIII, S. 267-268. »Die formale Gewissenhaftigkeit« könnte man als die richtige Beziehungsordnung zwischen Gott und Mensch aufgrund der praktischen Vernunft ansehen. 101 Vgl. K. Löwith, Vorträge und Abhandlungen, 1966, S.l 92. 100
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widrigen in der Welt gegen jene erhebt«. 1 0 2 Man kann schon an dieser Definition den kantischen Charakter erkennen. Er denkt zwar das Theodizee-Problem immer noch im teleologischen Horizont, aber er versteht darunter etwas, was den Rahmen der bisherigen physikotheologischen Teleologie (wie bei Leibniz) überschreitet und nicht darin aufgehen kann. 1 0 3 Nach Kant kann man jenes »Zweckwidrige« in drei Teile klassifizieren: I. Die schlechthin Zweckwidrige, was weder als Zweck, noch als Mittel von einer Weisheit gebilligt und begehrt werden kann. - das moralische Zweckwidrige als das eigentliche Böse (die Sünde) II. Das bedingte Zweckwidrige, welches zwar nie als Zweck, aber doch als Mittel mit der Weisheit eines Willens zusammen besteht. - das physische Zweckwidrige als das Übel (der Schmerz) III. Das Mißverständnis der Verbrechen und Strafen in der Welt. 104 Das sind die drei »Fälle«, die gegen die Ankläger vor dem Gerichtshof der Vernunft verteidigt werden müssen. Überdies gibt es Kant zufolge jedesmal drei Verteidigungsarten, in denen die herkömmlichen Theodizee gegen die oben genannten drei Anklagen argumentieren: das Zweckwidrige zu beweisen als a) nur die erkenntnistheoretische Täuschung, b) die unvermeidliche Folge aus der Natur der Dinge (bzw. des Geschöpfs) und c) nicht das Faktum Gottes, sondern nur das des Menschen. So setzt Kant jedesmal drei Beweisarten den drei Fällen derTheodizee-Frage gegenüber und kommentiert mithin insgesamt neun tradierte Argumente. 1 0 5 Nun, unsere erste Aufgabe ist hier, das erkenntnistheoretische Problem zu berücksichtigen, das schon von Kant zu den Spitzenargumenten der bisherigen Theodizee gezählt wird. Das Argument, daß das Böse nur als erkenntnistheoretische Täuschung erklärt werden soll, ist nach Kant keineswegs zu beweisen. Z . B . kann eine Argumentation zum ersten Punkt (das moralische Böse), derart, daß es ein solches schlechthin Zweckwidrige gar nicht gebe, sondern daß es lediglich als Verstoß gegen die menschliche Weisheit erscheine: daß die göttliche nach ganz anderen, uns unbegreiflichen Regeln beurteile: daß die Wege des Höchsten nicht unsre Wege seien, - kann solche Argumentation also die Menschen, die das richtige Gefühl für Sittlichkeit haben, nicht zufriedenstellen, weil die letzte Grundlage der Sittlichkeit dann zusammenbrechen würde (contra la). U n d die Argumentation zum zweiten Punkt (dem Übel als Schmerz), nämlich daß in den Schicksalen der Menschen ein Übergewicht des Übels über den angenehmen Genuß des Lebens fälschlich angenommen werde, ist 102 ΚΑ VIII, S. 255. ΚΑ VIII, S. 256 Anm. Dieser Klassifikation stehen die drei Eigenschaften, aus denen der moralische Begriff Gottes besteht, gegenüber, d. h. I) die Heiligkeit des Welturhebers als Gesetzgebers (Schöpfers), II) die Gültigkeit desselben als Regierers (Erhalters) und III) die Gerechtigkeit desselben als Richters. Κ Α VIII, S. 256-257. Vgl. Kritik der praktischen Vernunft, K A V , S. 131. 1 0 5 ΚΑ VIII, S. 258-262. Wir ziehen sie weiter wie Ia, Ib, Ic, IIa, IIb, IIc, l i l a , I l l b , IIIc heran. 103
104
68
nur eine Beantwortung der Sophisterei, die das Leben als so etwas wie ein Spiel denke (contra II a.). Schließlich im Blick auf den dritten Punkt: MißVerhältnis der Verbrechen und Strafen - zeuge das Argument, daß es zwar äußerlich so scheine, aber jedes Verbrechen in Wahrheit schon die ihm angemessene Strafe bei sich führe, indem die inneren Vorwürfe des Gewissens den Lasterhaften ärger noch als Furien plagen, von Unkenntnis der Menschen. Denn je tugendhafter der Mensch ist, desto härtere Gewissensbisse habe er, während lasterhafte Menschen solche Gewissenhaftigkeit zu verspotten pflegen (contra l i l a ) . So hat Kant das Argument, mit dem man das Zweckwidrige als nur eine erkenntnis-theoretische Täuschung vertritt, - wir haben schon ein typisches Beispiel dafür bei Spinoza festgestellt - als untauglich abgelehnt. Andererseits aber kann man nach Kant die Objektivität der Existenz des Bösen nicht einfach feststellen. Das Gute und das Böse stehen nicht als objektive Gegebenheiten vor den Augen des Menschen. Die Begriffe des Guten und des Bösen entstehen vielmehr erst mit dem apriorischen Gebrauch der praktischen Vernunft des Menschen. Wäre das Gute oder Böse eine objektive Existenz, würden wir zuerst vom Guten oder Bösen angeregt und dann nach dem empfundenen Lust- oder Unlustgefühl jede eigene Maxime aufgrund dieser persönlichen Erfahrungen bilden. Aber wenn es so wäre, würde der Wille immer durch den Gegenstand beherrscht sein und daraus nur ein heteronomes Prinzip entstehen. Solange der Wille von der Erfahrung des Lust- oder Unlustgefühls abhängig ist, bleibt er nur eine individuelle Maxime und kann niemals das allgemeine Gesetz der Moralität d.h. »kategorischer Imperativ« sein. 106 Was die Moralität begründet, muß ausschließlich die Autonomie des Willens, die von der Herrschaft des Naturgesetzes frei ist, und die reine Form des Willens, die von der Erfahrung unabhängig ist, sein. 1 0 7 Die objektive Existenz des Guten oder Bösen fundiert nicht die Moralität, sondern der apriorische Gebrauch der praktischen Vernunft selbst gibt dem Gegenstand die Realität des Guten und Bösen. 1 0 8 Das Böse existiert für Kant allerdings, wie ich vorher schon erwähnt habe. Insofern ist es nicht das Nichtsein. Kant widerspricht mithin der Meinung, daß man das Nichtgute dem Guten (a) gegenüber für einen bloßen Mangel eines Grundes des Guten (o) hält. Er denkt das Böse nicht als »privatio boni« wie Leibniz. Vielmehr muß es als die Folge eines positiven Grundes des Widerspiels desselben (-a) angesehen werden. 1 0 9 Aber das Böse existiert auch nicht als Gegenstand vor der Erkenntnis, sondern gewinnt allgemeine Realität erst durch das apriorische Wirken der praktischen Vernunft. Natürlich gilt das in erster Linie für den moralischen 106 107
Κ Α V, S. 27,64. Vgl. S. 22. I . K a n t , Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, Κ Α IV, S . 4 4 0 f „ 452. Ders., Κ Α V,
S. 65 f. 108 109
Κ Α V, S. 58,63 f., 109. Κ Α VI, S. 22-23.
69
Begriff des Bösen, aber bei Kant müssen, wie schon erwähnt, auch die metaphysischen Aussagen in der kosmologischen Dimension auf die moralische reduziert werden, und das Böse kann erst in Beziehung zu seinem moralischen Sinne ein eigentliches Problem sein. In diesem Sinne kann man sagen, daß dies der Grundton des Kantschen Denken über das Böse ist. Uber die Beziehung dieses Bösen zum Problem der Freiheit und zu dem Gedanken vom radikal Bösen müssen wir nun in Form der Frage nach dem Ursprung des Bösen im nächsten Abschnitt nachdenken.
3.2.3 Die Woher-Frage: Die Freiheit und das radikale Böse Kant will den Ursprung des Bösen nicht in der Beschränktheit des Geschöpfes bzw. des Menschen (im Leibnizschen Sinne: vom metaphysischen Bösen) suchen. Wenn es so wäre, würde es darauf hinauslaufen, daß das Böse selbst berechtigt und das moralische Böse nicht dem Menschen zuzurechnen wäre. Dann könnte man es nicht mehr das »moralische« Böse nennen (contra I b und Ic). Auch im Blick auf den physischen Schmerz kann man die Güte des Regierers der Welt nicht dadurch verteidigen, daß die schmerzhaften Gefühle von der Natur eines tierischen Geschöpfes nicht getrennt werden können (contra IIb). Und das Argument, daß das ungerechte Verhältnis zwischen Schuld und Strafe nur eine Folge des beschränkten Vermögens der menschlichen Vernunft nach dem Naturgesetz sei, ist auch nicht befriedigend, weil hier Moral mit dem Naturgesetz unklar vermischt ist (contra III c). Woher kommt das Böse überhaupt bei Kant? Daß die Objektivität des Bösen auf dem praktischen Gebrauch der Vernunft begründet ist, bedeutet schon, daß man auch hier den Ursprung des Bösen praktisch-vernünftigerweise erläutern muß. Die praktisch-vernünftige Erläuterung des Ursprungs des Bösen heißt, seinen Grund in dem menschlichen Gebrauch der Freiheit zu finden. Kant sagt, »mithin kann in keinem die Willkür durch Neigung bestimmenden Objekte, in keinem Naturbetriebe, sondern nur in einer Regel, die die Willkür sich selbst für den Gebrauch ihrer Freiheit macht, d. i. in einer Maxime der Grund des Bösen liegen«. 110 Deswegen bedeutet der Ursprung des Bösen keinen zeitlichen Ursprung. Das Handeln der Freiheit ist etwas, was nicht an das phänomenale Naturgesetz gebunden ist. Darum kann man hier keine Zeitvorstellung voraussetzen. In diesem Sinne müssen dann die medizinische Erklärung vom erblichen
110
70
KAVI.S.21.
Bösen (Erbkrankheit), die juristische (Erbschaft) und die theologische (Erbsünde) offenbar abgelehnt werden. 1 1 1 Daß das Böse keinen zeitlichen Ursprung hat und auf dem freien Willen des Menschen als vernünftiges Wesen beruht, führt dazu, daß jeder Mensch für das Böse verantwortlich ist. Der Mensch verliert den Grund dafür, die Schuld für das Böse wegen des Zeitursprungs Gott zuzuschreiben. Hierin kann man eine Logik der praktisch-vernünftigen Theodizee erkennen. Aber wie denkt Kant dann das Problem von Freiheit und Notwendigkeit ? Beim Gebrauch der theoretischen Vernunft, wie allgemein bekannt, muß dieses Problem in die Antinomie geraten. 112 Aber wenn man den praktischen Gebrauch der Vernunft aufmerksam verfolgt, entsteht der Gedanke einer Ursächlichkeit der Freiheit ohne Widerspruch. 113 Kant sagt: »Die menschliche Willkür ist zwar ein arbitrium sensitivum, aber nicht brutum, sondern liberum, weil Sinnlichkeit ihre Handlung nicht notwendig macht, sondern dem Menschen ein Vermögen beiwohnt, sich unabhängig von der Nöthigung durch sinnliche Antriebe von selbst zu bestimmen.« 1 1 4 Ohne Freiheit kann das moralische Gesetz also nicht sein. Und wenn man das moralische Gesetz erkennen kann, kann man dort gleichzeitig auch die Freiheit finden. Deshalb wird gesagt, daß die Freiheit allerdings die ratio essendi des moralischen Gesetzes, das moralische Gesetz aber die ratio cognoscendi der Freiheit sei. 115 Dieses Verständnis Kants beruht auf seiner Anthropologie, nach der der Mensch nicht nur zur sinnlichen, sondern auch zur intelligiblen Welt gehört. Während der Mensch in der phänomenalen Welt dem Naturgesetz von Ursache und Wirkung folgt, kann er doch das Naturgesetz eben durch den moralischen Willen überschreiten. Diese intelligible Welt ermöglicht nämlich die Freiheit. 116 Man klönnte auch sagen, daß Kant in dieser Weise den Gegensatz von Freiheit und Notwendigkeit überwindet. 1 1 7 Aber wenn das Böse nur auf dem Gebrauch bzw. Mißbrauch der individuellen Freiheit beruht, kommt ja die überindividuelle Gesamtheit des Bösen, seine ungeheure Massenwirkung keineswegs ins Blickfeld. Auch Kant ignoriert diesen Punkt nicht, sondern er drückt die allgemeine Gesamtheit des Bösen als »das radikale Böse« aus. Es scheint äußerlich, daß das radikale Böse dem Bösen, das auf dem freien Willen des Individuums beruht, widerspricht. Aber das rührt aus einem einfachen Mißverständnis her: Das radikale Böse ist nicht so etwas wie die ΚΑ VI, S.40. ΚΑ V, S. 55 f. KA III, S. 308 ff. 1 1 3 K A V , S.48,55. 1 1 4 K A I I I , S. 363-364, 521. 1 1 5 KA V„ S.4 Anm. 1 1 6 KAV, S.48, 97-98,114f. ΚΑ IV, S. 452. 1 1 7 Vgl. E. Drewermann, Struktur des Bösen, Teil III, München/Paderborn/Wien (1978) 4 1983, S. 8. 111 112
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erbliche Ursünde! Wie vorher erwähnt, hat Kant solch eine Vorstellung abgelehnt. Die Natur des Menschen hat im Gegenteil die ursprüngliche Anlage zum Guten. Denn er hat die Persönlichkeit, die mit der Achtung für das moralische Gesetz ausgerüstet ist. 118 Aber im Menschen gibt es doch den natürlichen Hang zum Bösen, der diese ursprüngliche Anlage zum Guten von Grund auf verderben läßt. 119 Kant nennt ihn das radikale Böse deswegen, weil der Hang zum Bösen so allgemein, ganzheitlich und umfassend ist, daß dieser Hang in jedem Menschen entdeckt werden kann. Das Wort »radikal« besagt nämlich eine Bestimmung des Menschen als allgemeine anthropologische Gattung und widerspricht nicht dem Gebrauch des individuellen freien Willens. Das Individuum bleibt unverändert als das moralisch zurechnungsfähige Wesen. 120 Der Ursprung des Bösen muß also dem praktischen Mißbrauch der Freiheit des Menschen als des intelligiblen Wesens zugeschrieben werden, aber es ist so allgemein (und anthropologisch), daß es in jedem Menschen ohne Ausnahme auftaucht. Hiermit kann die Theodizee-Theorie hinsichtlich des Ursprungs des Bösen praktisch-vernünftigerweise aufgestellt werden. Aber wir können darüber hinaus fragen, warum Gott ein vernünftiges Wesen geschaffen hat, das den das Böse erzeugenden Gebrauch der Freiheit hat? Diese Frage behandeln wir nun im nächsten Abschnitt.
3.2.4 Die Wozu-Frage: Die durch die praktische Vernunft postulierte Teleologie Warum hat Gott die Möglichkeit des moralischen Bösen nicht am Anfang abgeschafft? Das gehört dem Geheimnis der Freiheit an. Der Mensch ist weder Marionette noch ein Baucansonscher Automat. 121 Seine Freiheit ist in keiner Weise die Freiheit eines Bratenwenders, der von selbst seine Bewegungen verrichtet, wenn er einmal aufgezogen worden ist. 122 Die Beherrschung und Regierung der höchsten Weisheit über vernünftige Wesen verfährt mit den Menschen nach dem Prinzip ihrer Freiheit. 123 Mit der Freiheit ist der Mensch erst dafür qualifiziert, als Person ein Bewohner in der intelligiblen Welt zu sein. Und nur dadurch kann man die Idee von Gott postulieren. Die Beziehung zu Gott hat keinen anderen Grund " 8 ΚΑ IV, S. 27,50. 119 Kant teilt ihn in drei Gruppen ein: die Gebrechlichkeit der menschlichen Natur, die Unlauterkeit des menschlichen Herzens und die Bösartigkeit (Verderbtheit oder Verkehrtheit) des menschlichen Herzens. ΚΑ VI, S. 29-30. 120 ΚΑ VI, S. 25. Kant sagt, selbst Kinder seien fähig, auch die kleinste Spur von Beimischung unechter Triebfedern aufzufinden. Dieses Wort muß auch im oben erwähnten Sinne gedeutet werden. ΚΑ VI, S.48. ι " ΚΑV, S. 101. i 2 2 KAV, S. 97. ι » ΚΑ VI, S. 79.
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der Bestimmung als das Prinzip der Freiheit. Und die Freiheit heißt die moralische Fähigkeit, das Gute oder Böse zu wählen. Deshalb bedeutet die Ausschließung der Möglichkeit, das Gute oder Böse zu tun, direkt die Aufhebung der moralischen Freiheit und den Tod der Person. Kurz: Gott läßt die Möglichkeit des Guten und Bösen deswegen zu, weil der Mensch nicht das tierische, sondern das vernünftige Wesen ist. Dies ist offenbar eine praktisch-vernünftige Erläuterung des Geheimnisses der Freiheit. Für die theoretische Vernunft ist es verschlossen. Kant sagt, »Über die Freiheit hat Gott zwar durchs moralische Gesetz in uns seinen Willen offenbart, aber die Ursachen, aus welchen eine freie Handlung auf Erden geschehe oder auch nicht geschehe, in demjenigen Dunkel gelassen.« 1 2 4 Die Warum-Frage nach dem Ursprung des Bösen bleibt für die theoretische Vernunft unerforschlich, und die einzige mögliche Antwort ist die praktisch-vernünftige Erklärung, soweit das Böse aus der Freiheit abstammt. Aber ist eine teleologische Erklärung wie die Leibnizens Zulassungsbegriff ganz und gar unmöglich? Den Begriff einer höchsten Weisheit, die die natürliche Welt systematisch vereinheitlicht, kann die theoretische Vernunft nicht erreichen, weil ihr Vermögen der Erkenntnis auf die Phänomenale Welt beschränkt ist. Darum ist eine kosmologisch-physikotheologische Teleologie, die eine teleologische Konzeption direkt aus den phänomena zur Metaphysik ausbreiten will, auch nicht aufzustellen. 125 Dem Versuch, die Natur mit der Zweck-Mittel-Vorstellung zu erklären, liegt der Irrtum zugrunde, daß die Teleologie, die eigentlich nur ein regulatives Prinzip ist, zum konstitutiven Prinzip gemacht wird und der Natur eine Zweckmäßigkeit aufgezwungen wird. 1 2 6 Deshalb kann man nicht wie Leibniz von der metaphysisch-teleologischen Zulassung des Bösen reden (contra Ic). Und die Interpretation, daß das gegenwärtige, mühsame Leben die Prüfungszeit durch Widerwärtigkeiten für künftige Seligkeit und der Schmerz auch der Wetzstein der Tugend sei, kann zwar Trost und Ermutigung der Geduld, aber keine Lösung sein (contra II c, III b). Die theoretische Vernunft kann dies nie garantieren. Und man darf den Menschen als sittliches Wesen nicht für ein bloß von Gott bzw. von einer höheren Vernunft gebrauchtes Mittel zur Vervollkommnung des Weltganzen halten. 127 Kann man also die teleologische Vereinheitlichung der Welt auf keinerlei Weise konzipieren? Doch, das ist moralisch möglich, wenn man die Teleologie als praktische Teleologie ansieht. Denn, praktisch-vernünftig betrachtet, lebt jeder Mensch als Zweck an sich selbst, der nicht zum Mittel werden Κ Α VI, S. 144, bes. Anmerkung der 2. Auflage. Vgl. C . F . Geyer, Leid und Böses, S. 111. 1 2 6 K A III, S. 453-454. Die Leibnizsche Monadologie selbst ist schon eine kosmologische Idee, die als zweite Antinomie der theoretischen Vernunft nicht zu beweisen ist. K A III, S. 462 ff. 1 2 7 Κ Α X V I I , S. 202. Vgl. W. Oelmüller, Die unbefriedigte Aufklärung, S. 210. 124 125
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kann, in dem Reich, wo jeder durch die eigene Gesetzgebung füreinander ein zweckmäßiges Glied ist. Kant nennt es das Reich der Zwecke im Vergleich mit der Natur. 1 2 8 Dieser Punkt wurde noch deutlicher in seiner dritten Kritik: Dabei ist die Kritik auf die zwei Urteilskräfte bezogen: auf die ästhetische Urteilskraft als Analyse vom Schönen und Erhabenen und auf die teleologische als das Vermögen, die Zweckmäßigkeit in der Natur zu beurteilen. Die letztere ist gerade die Vorstufe der praktisch-vernünftigen Teleologie und u. E. also die verborgene Theodizee Kants. 1 2 9 Die teleologische Urteilskraft ist ein Vermögen, ein gewisses Gesetz der zweckmäßigen Verbindung in dem Besonderen und Zufälligen, die unter das allgemeine Naturgesetz der theoretischen Vernunft nicht zu subsumieren sind, herauszufinden. 1 3 0 Hier müssen wir aber darauf achtgeben, daß sie nur eine reflektierende Urteilskraft als subjektives Prinzip, d.h. Maxime, nicht eine objektiv bestimmende Urteilskraft ist. Die Zweckmäßigkeit der Natur ist nämlich weder dem Begriff, der konstitutiv den Gegenstand bestimmt, noch den Naturprodukten zuzuschrieben. Sie bleibt bloß ein regulatives Prinzip, das über die Verknüpfungsart der Naturerscheinungen lediglich reflektiert. 131 Wer einen Zweifel an der Zweckmäßigkeit der Natur aus dem Standpunkt der Naturwissenschaft, die allein das bestimmende Prinzip kennt, hegt, weiß mithin nicht, daß die teleologische Urteilskraft reflektierend ist. U n d im Gegenteil, wer Gott den Schöpfer direkt aus der Zweckmäßigkeit der Natur schlußfolgert und die Teleologie als eine gewisse Naturtheologie überdenkt, vergißt auch, daß die Teleologie nur ein regulatives Prinzip ist. Man darf Naturwissenschaft und Theologie in der Teleologie der Natur nicht vermischen. Die teleologische Physikotheologie ermöglicht es nicht, eine Theologie im strengen Sinne hervorzubringen. 1 3 2 Aber die Bedeutung der dritten Kritik Kants liegt darin, daß der Weg von der Naturwissenschaft zur Theologie trotz dessen, was wir oben festgestellt haben, in der Teleologie eröffnet wird: d. h. in der Teleologie des Freiheitsbegriffs, und zwar in der moralischen, also praktisch-vernünftigen Teleologie. 133 Es ist zwar unmöglich, daß das Gebiet des Naturbegriffs (die sinnliche Welt) das des Freiheitsbegriffs (die übersinnliche Welt) bestimmt. Aber das 1 2 8 I. Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, Κ Α IV, S. 4 3 3 , 4 3 7 f f . Es scheint mir, daß Kant eine Anregung von Leibnizens Unterscheidung eines Reiches der N a t u r und eines Reiches der Gnade aufgenommen hat. Vgl. K A III, S. 527. 1 2 9 Sie bleibt verborgen, weil sie nur noch ein Ubergangsstadium von der natürlichen bis zur theologischen Teleologie ist. Jedenfalls ist es von großer Bedeutung, daß wir seine dritte Kritik als die Vorstufe seiner Theodizee ansehen. » o K A V , S. 404,406. 1 3 1 Dies hebt Kant immer wieder hervor. - Vgl. I. Kant, Kritik der Urteilskraft, K A V , S. 176, 181, 184, 1 8 6 , 3 6 0 , 3 7 5 , 3 7 6 , 3 7 9 , 3 8 3 , 4 0 4 , 4 0 5 , 4 1 3 . 1 3 2 K A V , S. 3 8 1 , 4 1 6 - 4 1 7 , 4 3 6 - 4 3 7 , 4 4 0 . 1 3 3 Κ Α V, S. 444, 481. Kant nennt die moralische Teleologie die Ethikotheologie im Gegensatz zur Physikotheologie.
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Gegenteil ist wohl möglich. Denn die Kausalität der Freiheit kann zwar nie durch den Naturbegriff beeinflußt werden, aber deren Wirkung muß eine empirische Tatsache sein, die in der phänomenalen Welt entsteht. 134 Und eben aus diesem Grund behauptet Kant, daß die Kritik der teleologischen Urteilskraft der Brückenbau von der theoretischen zur praktischen Vernunft sei.135 In dieser Theoriebildung der Teleologie können wir seine eigene Theodizee im Blick auf die Wozu-Frage, erkennen. Kant fragt sich, was der Endzweck der Natur, mithin der Schöpfung, ist. Denn das ist die letzte Frage der Teleologie. Nach Kant liegt der Endzweck der Natur nicht im Begriff der Glückseligkeit des Menschen. Er sieht als ein nüchterner Beobachter die ungeheuere Gewaltigkeit der Natur gegen den Menschen bis ins einzelne ein. »Andererseits ist so weit gefehlt, daß die Natur ihn zu ihrem besondern Liebling aufgenommen und vor allen Thieren mit Wohltun begünstigt habe, daß sie ihn vielmehr in ihren verderblichen Wirkungen, in Pest, Hunger, Wassergefahr, Frost, Unfall von andern großen und kleinen Thieren u. d. gl., eben so wenig verschont, wie jedes andere Thier: noch mehr aber, daß der Widersinnische der Naturanlagen in ihm ihn noch in selbstersonnene Plagen und noch andere von seiner eigenen Gattung durch den Druck der Herrschaft, die Barbarei der Kriege usw. in solche N o t h versetzt und er selbst, so viel an ihm ist, an der Zerstörung seiner eigenen Gattung arbeitet...« 136 Deswegen kann der Endzweck der Schöpfung gar keine Glückseligkeit des Menschen sein. So behauptet es Kant, und er weicht keinen Schritt davon ab. Hierin ist eine gewisse Befreiung der Theodizee von dem menschlichen Eudämonismus zu erkennen. Liegt der Endzweck dann in der »Cultur des Menschen«, d.h. der Tauglichkeit und Geschicklichkeit, die Natur zu gebrauchen? Aber diese Cultur ist auch nicht zum Endzweck geeignet, insofern sie umgekehrt die Ungerechtigkeit in der Gesellschaft als Nebenprodukt hervorbringen muß. 137 Worin aber liegt er? Nach Kant besteht der letzte Zweck der ganzen Natur allein in dem Menschen als Subjekt der Moralität, der das übersinnliche Vermögen der Freiheit hat. Der Mensch ist dazu berechtigt, insofern er als Noumenon betrachtet wird. Der Endzweck muß der bedingungslose Zweck sein, der keines anderen als Bedingung seiner Möglichkeit bedarf. Da es keine unbedingten Sachen in der Natur gibt, kann man den Endzweck weder in der Natur selbst, noch in den Beziehungen zur Natur finden. Was ist der einzige Zweck, der gar nichts mit den Naturbedingungen zu tun hat? Das ist der kategorische Imperativ, der allein an den freien Willen des Menschen appelliert. Die Glückseligkeit des Menschen, die das Wohlsein und den Genuß des einzelnen verlangt, bedeutet in Wirklichkeit nur eine glückliche, besondere 135 136 137
KAV,S. 176,195,468-469,474. ΚΑ V, S. 176,196. ΚΑ V, S. 430. ΚΑ V, S. 432,434 Anm., 442.
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Beziehung zur Natur. Sie ist nicht unbedingt und absolut, insofern sie von der Natur abhängig ist. In dem höchsten Guten aufgrund des ursprünglichen Wertes der Freiheit, d. h. in der Verbindung der allgemeinsten Glückseligkeit mit der gesetzmäßigsten Sittlichkeit, muß der Endzweck der ganzen Natur bestehen. 138 So hat Kant die teleologische Theodizee, die den bloßen Eudämonismus überwindet, aufgestellt, indem er Leibnizens physikotheologische Teleologie durch die Kritik der Urteilskraft abgelehnt hat und dafür sozusagen die durch die praktische Vernunft postulierte Teleologie aufgebaut hat.
3.2.5 Die Wohin-Frage: Kollektiver Fortschritt im Werden Kant findet die Uberwindung des Bösen zwar schwierig, aber doch nicht unmöglich. Schwierig ist sie, weil die Gesinnung durch das radikale Böse von Grund auf verdorben ist. Darum ist für die Uberwindung des Bösen eine Revolution der Gesinnung gleich einer Art von Wiedergeburt (Joh 3,5) nötig. Aber sie muß gleichzeitig von einer allmählichen Reform der Sinnesart begleitet werden. Beides ermöglicht erst die Bewältigung des Bösen. 1 3 9 Der Grund dafür, daß Kant sich trotz der Schwierigkeit durch das radikale Böse in dieser Welt von der Möglichkeit der Bewältigung des Bösen überzeugen kann, liegt darin, daß es die ursprüngliche Anlage zum Guten als Kern der Persönlichkeit im Grund seiner Anthropologie gibt. 1 4 0 Das Sollen als moralisches Gebot verspricht schon das Können. Das bloße Sollen ohne ein mögliches Können wäre kein allgemeines Moralgesetz der praktischen Vernunft mehr: »Und doch gebietet die Pflicht es zu sein, sie gebietet uns aber nichts, als was uns tunlich ist.« 141 Aber die Möglichkeit der Bewältigung des Bösen steht allein im bloßen Werden. Der Mensch kann nur in kontinuierlichem Wirken und Werden ein guter Mensch sein. Er befindet sich nur auf dem guten Wege eines beständigen Fortschreitens vom Schlechten zum Besseren. 1 4 2 Natürlich müssen wir hier unsere Aufmerksamkeit darauf richten, daß das Werden allein im praktischen Gebrauch der Vernunft ermöglicht wird. Die Vergeltungshoffnungen, daß das gegenwärtige Leiden und das ungerechte Leben in der Zukunft belohnt werden, sind nicht von der theoretischen Vernunft gewährleistet (contra IIc, IIIc). Das Böse und seine Uberwindung sind auch hier von Kant nur moralisch betrachtete. Nun, nach der Kritik der praktischen Vernunft soll der Mensch das höchste Gute nicht erreichen, solange er zur sinnlichen Welt gehört. Eben 139 140 141 142
76
ΚΑ V, S. 435,443,449,453. KAVI, S. 47. KAVI, S. 37,44. KAVI, S. 47. KAVI, S.47.
dieser unendliche Fortschritt nach dem höchsten Guten postuliert die Unsterblichkeit der Seele als metaphysische Idee. Aber auf der anderen Seite muß die moralische Vollendung des Menschen möglich sein. Wie löst Kant diesen Widerspruch ? Er sagt, »Ob er - der neue Mensch - also gleich physisch (seinem empirischen Charakter als Sinnenwesen nach betrachtet) ebenderselbe strafbare Mensch ist..., so ist er doch in seiner neuen Gesinnung (als intelligibeles Wesen) vor einem göttlichen Richter, vor welchem diese die Tat vertritt, moralisch ein anderer.« 143 Der Mensch kann wegen der neuen Gesinnung als Bewohner in der intelligiblen Welt die Vollendung doch im Werden vorwegnehmen. Hierin können wir eine ähnliche Struktur wie bei Luthers Lehre des »simul peccator et iustus« erkennen. 144 Der Streit um die Uberwindung des Bösen wird außerdem über den einsamen Kampf des Individuums hinaus zu einem moralischen Kampf der Menschheit. Denn das Böse wendet seine eigentliche Gewalt gerade in den sozialen Beziehungen des Menschen an. Die Menschen müssen sich zur Bildung des Volks Gottes als ethisches Gemeinwesen hinwenden, um dem Prinzip des Bösen, das soziale Ausdehnung hat, zu begegnen. 145 Hierin eröffnet die kantische Konzeption einen grandiosen Horizont der Geschichtsphilosophie vor Hegel. Die Geschichte scheint dem einzelnen schrecklich unregelmäßig und durcheinander zu sein. Aber wenn man sie aus dem Gesichtspunkt der Gattung betrachtet, ist sie ein Fortschrittsprozeß des Prinzips der Freiheit als des Siegs des Guten und eine langsame, aber stets vorwärtsmarschierende Entwicklung vom schlechten zum besseren Zustand. 146 In diesem Sinne könnte man sagen, daß Kant dem Gedankengang der allgemeinen Geschichtsphilosophie im Deutschen Idealismus, der später den Höhepunkt bei Hegel erreicht, einen Weg gebahnt hat. Die Religionsphilosophie Kants ist zugleich Geschichtsphilosophie!
143 144
ΚΑ VI, S. 74. Deswegen ist es kein Widerspruch. Die Kritik von E. Drewermann, III, S. 11, trifft nicht
zu. 145
ΚΑ VI, S. 74. I. Kant, Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht, ΚΑ VIII, S. 17, 18, 29-31; ders., Mutmaßlicher Anfang der Menschengeschichte, ΚΑ VIII, S. 123; ders., Über den Gemeinspruch: Das mag in der Theorie richtig sein, taugt aber nicht für die Praxis, ΚΑ VIII, S. 308-310. Man kann wohl fragen, warum das Prinzip der Freiheit, das eigentlich keinen Zeitursprung hat, die Geschichtlichkeit, d.i. den zeitlichen Kausalnexus als geschichtliche Entwicklung hat. Das beruht auf der Brückenstruktur der Freiheitsidee. Von den drei Vernunftideen hat allein die Freiheit doch die Wirkung als Folge der Tat in der phänomenalen Welt, während die Ursache in der intelligiblen Welt liegt. ΚΑ V, S. 176,195,468,474. 146
77
3.2.6
Beurteilung
3.2.6.1 Die moralische Verengung Wie erwähnt hat Kant die phänomenale Welt von der intelligiblen durch die Selbstkritik der Vernunft unterschieden und die Möglichkeit derTheodizee allein im praktischen Gebrauch der Vernunft gesucht. Daraus ergibt sich, daß das Problem des Bösen auf die moralisch-anthropologische dimension reduziert wird. Aber war das richtig? War das letztlich nicht eine moralische Verengung, die das kosmologisch-physische Ausmaß des Bösen übergeht? Wir stimmen freilich nicht vollkommen der Meinung von W. Schulz zu, daß Kant die griechische Deutung der Natur mit ihrer Gleichsetzung von physis, Nomos und Logos wie bei Leibniz aufgegeben habe, 147 weil Kant noch eine teleologische Vereinheitlichung von phänomenon und noumenon durch die Urteilskraft konzipiert hat. Aber man muß trotzdem anerkennen, daß die anthropozentrische Tendenz in der kantischen Philosophie sehr stark war. Hierin bleibt mithin Raum für K. Löwiths Kritik, daß das der Rückstand der christlichen anthropozentrischen Weltanschauung sei.148
3.2.6.2 Das optimistische
Sündenverständnis
Aber wir müssen noch weiter biblisch-theologische Kritik gerade am kantischen Menschenbild üben, das äußerlich christlich zu sein scheint. Trotz des radikalen Bösen kann die praktische Vernunft, die die Grundlage fürs moralische Gesetz bildet, Kants Meinung nach zweifellos apriorische und gesunde Wirkung in ihrem kritischen Gebrauch ausüben. Er sagt: »Um aber den Begriff eines an sich selbst hochzuschätzenden und ohne weitere Absicht guten Willens, so wie er schon dem natürlichen gesunden Verstände beiwohnt und nicht sowohl gelehrt als vielmehr nur aufgeklärt zu werden bedarf.« 149 Es läßt sich nicht leugnen, daß man das optimistische Sündenverständnis, das im Grund der kantischen Anthropologie liegt, nicht genug verteidigen kann, wie stark man auch »das radikale Böse« oder »die Revolution in der Gesinnung« betont. Der kantische Mensch hat das moralische Vermögen, mit dem er sich selbst zur Vollkommenheit bringen kann, schon in seiner natürlichen Anlage. Es läßt sich also sagen, daß Kants Anthropologie bloß eine »Anthropologie vor dem Sündenfall« ist. 150 147
Schulz, aaO., S. 185. ι4« Löwith, aaO., S. 192. 149 ΚΑ IV, S. 397. 150 »Es ist der Mensch, von dem das »posse non peccare« gilt, das Augustin dem Menschen vor dem Fall als Ausdruck seiner höchsten Freiheit zugebilligt hat. Aber das ist eine verlorene Freiheit« (W. Trillhaas, Ethik, Berlin 3 1970, S. 70).
78
3.2.6.3 Das Fehlen der klassischen
Versöhnungslehre
Diese Tendenz führt zugleich dazu, daß die kantische Soteriologie des Menschen keine Versöhnungslehre braucht. Bei Kant kann die klassische Versöhnungslehre nicht bestehen. Die einzige Möglichkeit ist eine moralische Einflußlehre. Wenn das Heil, d.h. die Uberwindung des Bösen, auf einem anderen beruhen würde, wäre dies die Heteronomie und würde die Moralität zusammenbrechen. Solange Moral allein auf der Autonomie beruhen muß, bleibt nur eine Christologie des moralischen Einflusses. Gottes eingeborener Sohn ist das Ideal der moralischen Vollkommenheit und das Urbild der sittlichen Gesinnung in ihrer ganzen Lauterkeit. Er ist nur ein Beispiel, das den Rechtsanspruch des guten Prinzips auf die Herrschaft über den Menschen gewährleistet. Und noch dazu ist selbst seine objektive Realität nicht nötig, um das Ideal rein praktisch-vernünftig, d.h. als reine Form, die von den empirischen Materialien unabhängig ist, hochzuhalten. 1 5 1
3.2.6.4 Kann der Mensch »Gottes Stimme« sein ? »Mit dieser Gesinnung bewies er - Hiob - , daß er nicht seine Moralität auf den Glauben, sondern den Glauben auf die Moralität gründete.« 1 5 2 - Wir können wohl keinen besseren Ausspruch als diesen finden, um die kantische Philosophie und ihren Mangel zu charakterisieren. Für Kant ist die Moralität das Alpha und Omega. Die echte Religion ist nur die Moralreligion. Die Religion derjenigen, die nur »Herr, Herr!« sagen, wird als die Religion der Gunstbewerbung abgelehnt. Es kommt darauf an, denjenigen, die den Willen des Vaters im Himmel tun, zu werden (Mt 7,21). 1 5 3 Der Glaube an den Erlöser bringt nicht das gute Leben, sondern das moralische Tun ruft den Glauben ins Leben: »Die wahre Religion sei nicht im Wissen oder Bekennen dessen, was Gott zu unserem Seligwerden tue oder getan habe, sondern in dem, was wir tun müssen, um dessen würdig zu werden, zu setzen.« 1 5 4 Das ist zwar eine wichtige Ansicht in dem Sinne, daß die ethische Dimension in der Religion nicht vernachlässigt werden soll. Aber wir können die Religion nicht auf der bloßen Moral aufrichten. Deshalb können wir auch nicht die Theodizee bloß durch die Moral begründen. Der kantische H i o b kennt freilich die Unerforschlichkeit der Weisheit Gottes in der Begegnung mit dem transzendenten Gott und verzichtet auf die Theodizee durch die spekulative Vernunft. Trotzdem wurde aber Kants Hiob allein unter dem Aspekt der theoretischen Vernunft infrage gestellt, während der biblische Hiob in seiner ganzen Existenz bis aufs äußerste 151 152 153 154
ΚΑ VI, S. 6 2 - 6 4 . ΚΑ VIII, S. 267. Vgl. auch Kants Zitat von Lk 19,12-16. ΚΑ VI, S. 52. KAVI, S. 133. Vgl. S. 118.
79
erschüttert wurde. Der kantische Hiob hat noch die Fähigkeit, die Gerechtigkeit Gottes in seiner Moralität zu verteidigen. 155 Kann die praktische Vernunft aber wirklich ein »Organon« sein, das einen die »Stimme Gottes« hören läßt, wenn ich hier die Wendung von Kant gebrauchen darf? 1 5 6 Kant vergleicht ja die moralische Gesinnung des intelligiblen Wesens mit dem Sohn Gottes, der die Tat vor dem göttlichen Richter verteidigt. 157 Aber kann das moralische Vermögen wirklich der Träger der Theodizee sein ? Wir erkennen hier den Einfluß des Stoischen oder des Prometheischen (nach Schelling) 158 in der kantischen Philosophie. Es läßt sich sagen, daß die kantische Religionsphilosophie hierin eher stoisch als christlich ist. Nicht ohne Grund schätzt Kant die Tugend der Stoiker hoch ein. 159 Wenn das moralische Handeln der Grund für die Theodizee wäre, müßte aber nicht nur von der Gerechtigkeit des Menschen durch die menschliche Tat, sondern auch von der Gerechtigkeit Gottes durch die menschliche Tat die Rede sein. Das stimmt aber nicht mehr mit dem biblischen Denken überein.
3.2.6.5
Die Abwesenheit
Gottes
Die kantische Philosophie hat einen unerwarteten Schluß: Nämlich den, daß der wahre Gott nicht da ist. Kant will bis zum äußersten auf der Autonomie als Prinzip der Freiheit bestehen. Das bedeutet, daß der Mensch keinen anderen Gesetzgeber als sein Selbst hat. Der Gehorsam gegen das Sollen ist, daß der Wille dem Gesetze so unterworfen wird, daß »er auch als selbstgesetzgebend... dem Gesetz... unterworfen angesehen werden muß«. 1 6 0 Wenn Gott Gesetzgeber als ein persönliches Gegenüber ist, entsteht die Heteronomie und damit Gefahr für die kantische Freiheitsphilosophie. 161 Solange Kant aber die Gottesbeziehung aufgrund des Prinzips der Autonomie postuliert, ergibt sich, daß Gott nur ein Gott ist, der zur kantischen Philosophie »vorgeladen« wird, während der wahre Gott abwesend 1 5 5 Vgl. W. Schultz, Die Korrektur, aaO., S. 186. - H . Gollwitzer kritisiert, daß der Kantische H i o b in eine »Tautologie« (weil Gott als Vernunft zu definieren ist, muß er vernünftig sein) gerät, indem er noch eine andere Vernünftgigkeit (praktische Vernunft) von Gott verlangt, obwohl er auf eine künstliche Verteidigung Gottes durch das Vernünfteln verzichtet (Krummes H o l z - aufrechter Gang, München 1970, S. 241). 1 5 6 Κ Α VIII, S. 264. U n d er nennt das Handlungsprinzip, das der Mensch vor dem Sündenfall im Paradies befolgt, auch »Stimme Gottes« ( Κ Α VIII, S. 111). »Organon« heißt dabei die apriorische Anschauungsform als Werkzeug der Erkenntnis ( K A III, S. 43).
Κ Α VI, S. 74. Mit Schelling erkennt J. Taubes den tragisch Strebenden als das prometheische Menschentum in der kantischen Anthropologie. J. Taubes, Abendländische Eschatologie, S. 1 4 1 - 1 4 2 . (Vgl. F . W . J . Schelling, Sämtliche Werke, Stuttgart und Augsburg 1 8 5 6 - 1 8 6 1 , 1 , 6 , 4 8 2 f . ) . 157
158
Κ Α VI, S. 57. 160 K A I V , S. 431. 159
161
80
Vgl. Drewermann, S. 9 - 1 0 .
ist. Was in der kantischen Theodizee verteidigt wird, ist nämlich nur der postulierte Gottesbegriff. Kant hat Gott nur ethisch postuliert, während Leibniz ihn logisch postulierte. Die Erhaltung der Autonomie für den Menschen kann die Heteronomie für Gott bedeuten. Wir haben früher festgestellt, daß eine der Kritiken des jungen Kant an Leibniz darauf angelegt war, daß die ewige Natur, die von Gottes willen unabhängig ist, eine Heteronomie für Gott sei. Aber nun tritt die menschliche Autonomie, die von Gott unabhängig ist, bei Kant statt der Leibnizschen ewigen Natur als Heteronomie auf. Statt des Mechanismus der Welt ist der Moralismus des Menschen der Träger geworden, der beweist, daß die Welt unter der Herrschaft des Guten steht und am besten ist. 162 Hierin müssen wir die Grenze der moralischen Theodizee erkennen.
3.3 Theodizee und Geschichtsphilosophie. Dialektisch-Trinitarische Theoriebildung bei G. W.F. Hegel »Was uns Zweifel und Angst erweckt, aller Kummer, alle Sorge, alle beschränkten Interessen der Endlichkeit lassen wir zurück auf der Sandbank der Zeitlichkeit; und wie wir auf der höchsten Spitze eines Gebirges, von allem bestimmten A n blick des Irdischen entfernt, mit Ruhe alle Beschränkungen der Landschaft und der Welt übersehen, so ist es mit dem geistigen Auge, daß der Mensch, enthoben der Härte dieser Wirklichkeit, sie nur als einen Schein betrachtet, der in dieser reinen Region nur im Strahl der geistigen Sonne seine Schattierungen, Unterschiede und Lichter, zur ewigen Ruhe gemildert, abspiegelt. In dieser Region des Geistes strömen die Fluten der Vergessenheit, aus denen Psyche trinkt, worin sie allen Schmerz versenkt, und die Dunkelheiten dieses Lebens werden hier zu einem Traumbild gemildert und zum bloßen Umriß für den Lichtglanz des Ewigen v e r k l ä r t . « 1 6 3
3.3.1 Voraussetzung: Die Geschichte des trinitarischen Gottes als Theodizee »Bei der Betrachtung des Schicksals, welches die Tugend, Sittlichkeit, auch Religiosität in der Geschichte haben, müssen wir nicht in die Litanei der Klagen verfallen, daß es den Guten und Frommen in der Welt oft oder gar meist schlecht, den Bösen und Schlechten dagegen gut gehe... Aber wenn von solchem die Rede ist, was an und für sich seiender Zweck wäre, kann 1 6 2 J. Fritsche kritisiert dies ebenso. Vgl. Zu Theodizee und kosmologischem Optimismus bei Kant, in: Spiegel und Gleichnis. Festschrift für J. Taubes, Würzburg 1983, S. 181. 1 6 3 G . W . F . Hegel, Vorlesungen über die Philosophie der Religion. Werkausgabe Bd. 16, Frankfurt a . M . 1969, S. 1 2 - 1 3 .
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solches sogenanntes Gut- oder Schlechtgehen von diesen oder jenen einzelnen Individuen nicht zu einem Momente der vernünftigen Weltordnung gemacht werden sollen.« 1 6 4 Dies ist ein Abschnitt aus Hegels Einleitung der Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte. Und es scheint uns, daß Hegels Geschichtsphilosophie mit solcher schonungslosen Behauptung angefangen hat. Freilich muß es unmöglich sein, daß Hegel sich der Wirklichkeit des Leidens überhaupt nicht bewußt war. Dagegen sprechen schon allein seine Freundschaft mit Schelling, die ein Unglück zur Folge hatte, oder die Existenz des illegitimen Sohnes, Ludwig, die zwar für gewöhnlich nicht in den Vordergrund rückt, aber ihn vielleicht doch lebenslang gequält hat. Diese biographischen Leidenserfahrungen, auf die ich hier nur vorläufig hinweisen kann, scheinen uns nicht durch seinen späteren weltlichen Erfolg wiedergutgemacht zu werden. Derjenige, der die griechischen Tragödien in seiner Jugend sehr geliebt hat, kann die Härte des Schicksals in den unglücklichen Umständen seines verehrten Freundes Hölderlin nicht gespürt haben. Daher brauchen wir uns nicht zu wundern, daß die Geschichtsphilosophie Hegels, der die Weltgeschichte als Prozeß der Selbstverwirklichung des absoluten Geistes interpretiert hat, merkwürdigerweise die oben wiedergegebene - sehr menschliche! - Einleitung hat. Er hat einerseits zwar behauptet: das Gut- oder Schlechtgehen einzelner Individuen sei im Hinblick auf die Erkenntnis der vernünftigen Weltordnung ganz belanglos, aber andererseits hat er doch über viele Widersprüche, die sich hinter der Entwicklung der Geschichte verstecken, und über das Problem des Bösen sehr wohl existentiell Bescheid gewußt. So sagt er z.B. an anderer Stelle: »Man kann jene Erfolge ohne rednerische Übertreibung, bloß mit richtiger Zusammenstellung des Unglücks, das das Herrlichste an Völker- und Staatengestaltungen wie an Privattugenden erlitten hat, zu dem furchtbarsten Gemälde erheben und ebenso damit die Empfindung zur tiefsten, ratlosesten Trauer steigern.« 1 6 5 Man kann also sagen, daß Hegel tiefen Einblick in jene Problematik gehabt hat. Deshalb konnte er es nicht unterdrücken, sich noch folgende Frage zu stellen: »Aber auch indem wir die Geschichte als diese Schlachtbank betrachten, auf welcher das Glück der Völker, die Weisheit der Staaten und die Tugend der Individuen zum Opfer gebracht worden, so entsteht dem Gedanken notwendig auch die Frage, wem, welchem Endzwecke diese ungeheuersten Opfer gebracht worden sind.« 1 6 6 Aber warum konnte er dann jenen fast abstrakten Schluß ziehen aus dem Urbild der blutrünstigen Weltgeschichte, das er eigentlich haben sollte? Für Hegel ist die Betrachtung der Geschichte die Philosophie der Geschichte. So wie das Philosophieren bei Hegel von der Prämisse ausgeht, daß alle gegebene Wirklichkeit vernünftig zu begreifen sei, so sind auch die widersprüchlichen Schattenseiten der Geschichte für ihn gleichsam nur ein 164 165 166
82
G.W.F. Hegel, Vorlesung über die Philosophie der Geschichte, Bd. 12, S. 51. AaO., S. 35. Ebd.
Paß, der durch das Denken zu überschreiten war. Sein berühmter Satz in der Philosophie des Rechts: »Was vernünftig ist, das ist wirklich; und was wirklich ist, das ist vernünftig«, ist die Lebensader seiner ganzen Denkhaltung. 167 Dementsprechend kann er auch sagen: »Wer die Welt vernünftig ansieht, den sieht sie auch vernünftig an.« 168 Die Vernunft als die Rose im Kreuze der Gegenwart zu erkennen und damit dieser sich zu erfreuen, diese vernünftige Einsicht ist die Versöhnung mit der Wirklichkeit, welche die Philosophie denen gewährt...« 169 Damit springt Hegel mit einem Satz über den »garstigen breiten Graben« zwischen der zufällig-historischen und der notwendig-vernünftigen Wahrheit, der einstmals Lessing gequält hatte. Die Weltgeschichte ist die notwendige Strecke, in der die Weltvernunft durch das Zufällige hindurch vorwärtsmarschiert. Es kommt darauf an, die beiden zu versöhnen, oder im Sinne der Intention Hegels noch deutlicher gesagt, zu erkennen, daß die beiden schon in Versöhnung stehen. Versöhnung heißt bei Hegel die durch die Erkenntnis gebrachte Versöhnung. Aber in welchem Sinne kann die Erkenntnis die Versöhnung vollbringen ? Mit anderen Worten, was soll man konkret erkennen, um zur Erkenntnis der Versöhnung beizutragen? Die Antwort muß lauten: Das ist es, daß man den Noüs, den Anaxagoras als Regierer der Welt angesehen hat, noch gründlicher für den echten Hauptdarsteller der Weltgeschichte hält. - Weder einzelne Individuen, noch Völker, noch Staaten spielen die Hauptrolle in der Geschichte, sondern die sich durch alle Veränderungen hindurch entwickelnde absolute Vernunft. Erst daraus, daß man sich streng und hart dieses revolutionären Dramas des Rollenwechsels vergewissert, entsteht die Versöhnung als die revolutionäre Erkenntnis. Die Philosophie der Geschichte ist eine Wissenschaft, diesen Selbstwandel der Hauptdarsteller in ihrer Notwendigkeit zu schildern. Und die Geschichte der Philosophie ist nichts anderes als eine Art Autobiographie des absoluten Geistes. Hegel erkennt hiermit an, daß die Geschichtsphilosophie geradezu die Bedeutung einer Theodizee hat. Denn die Erkenntnis der vernünftigen Notwendigkeit des absoluten Geistes im geschichtlichen Prozeß bedeutet eben eine Apologetik der Gerechtigkeit Gottes als Regierer der Weltgeschichte.170 Dabei legt er Wert nicht darauf, daß die Geschichtsphilosophie auch eine Theodizee ist, sondern darauf, das gerade die Geschichtsphilosophie die echte Theodizee ist. Er wirft es der herkömmlichen Theodizee vor, daß der Gedanke der Vorsehung Gottes nur für Verlegenheiten der einzelnen Individuen angewandt worden ist und der Horizont der Weltgeschichte gefehlt hat. Das aber ist nur eine »Kleinkrämerei des Glaubens an die Vorsehung«. Die Vorsehung 167
Hegel, Grandlinien der Philosophie des Rechtes, Bd. 7, S. 24.
168
A a O . , S. 23.
A a O . , S. 2 6 - 2 7 . Hegel, Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften I, Bd. 8, S. 290. Vgl. aaO., Bd. 12, S. 53. 169
170
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soll vielmehr für das Ganze der Weltgeschichte angewandt werden, und das wird der Geschichtsphilosophie angetragen. 171 Zuerst einmal versucht Hegel, den Bann des kantischen Agnostizismus aus der Theorie-Ebene der Theodizee zu vertreiben. - Bei Kant handelt es sich ja darum, daß die intelligible Welt der Freiheit streng von der phänomenalen Welt der Historie unterschieden werden und die Erkenntnis der theoretischen Vernunft allein auf die letztere beschränkt werden muß. Daraus ergab sich, daß man auf die tradierte, metaphysische Theodizee verzichtet und diese Aufgabe nur noch dem praktischen Gebrauch der Vernunft aufgrund der moralischen Handlung der Freiheit als einzige Möglichkeit überläßt. Hegel nimmt zwar vorläufig diese Unterscheidung Kants zwischen der idealen und der empirischen Welt auf, aber das ist nur insofern richtig, als dieser Unterschied »sich aufhebt« und es wieder zur Vereinigung kommt. Der Unterschied ist nur eine Zwischenstation zur Integration. 172 Wer auf den Unterschied beharrt, bleibt auf dem Standpunkt des beobachtenden Verstandes stehen. In dieser Lage kann man sicher nicht über die empirischen Phänomene hinausgehen. Der Seinscharakter (das Attribut) des Unendlichen, der in der Theodizee zu apologisieren ist, d.h. die Gerechtigkeit Gottes, bleibt bestimmt als das Jenseits des Endlichen. 173 Auf diesem Standpunkt begeht man aber nach Hegel einen schweren Irrtum, und zwar läßt man dabei außer acht, daß das Endliche in Relation auf Unendliches gesetzt ist als das Negative, Abhängige, was zerfließt im Verhältnis zum Unendlichen. 174 Das Endliche stellt sich als das Endgültige und das Absolute dem Unendlichen gegenüber. Aber solcher Dualismus, der den unübersteigbaren Gegensatz von Endlichem und Unendlichem nur befestigt, läuft nach Hegel merkwürdigerweise darauf hinaus, daß umgekehrt auch das Unendliche an dem Endlichen seine Schranke, Grenze hat. 175 Nach Hegel ist dieser feste Dualismus des aufklärerischen Verstandes in weiterer Bestimmung nichts anderes als der Manichäismus. Die scheinbare Demut Kants ist vielmehr Hochmut oder falsche Bescheidenheit. 176 Viel wichtiger ist es, den selbstverneinenden Charakter des Endlichen zu bemerken, das Endliche als das Zufällige, d. h. das zu »fallende« Dasein in der Beziehung zum Unendlichen anzusehen und nach seiner eigenen Dialektik der Negativität zum Unendlichen als seine eigentliche Wahrheit zu übergehen. 177 Hegel nennt dies den Standpunkt der denkenden Vernunft. Hierin wird die Vernunft zu einer dialektischen Bewegung des Denkens, in der das Endliche sich aufhebt und 171
AaO., Bd. 12, S. 26,28, 540. AaO., Bd. 8, S. 121 f. 173 Hegel, Vorlesungen über die Philosophie der Religion I, Bd. 16, S. 170, und aaO. II, Bd. 17, S. 469. 174 AaO., Bd. 16, S. 169. Vgl. Wissenschaf: der Logik I, Bd. 5, S. 139-144. 175 AaO., Bd. 8, S. 201,345. 176 AaO., Bd. 16, S. 182; Bd. 17, S. 474. 177 AaO., Bd. 5, S. 140-155; Bd. 8, S. 362; Bd. 16, S. 106, 109; Bd. 17, S. 420, 448,486. 172
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zum Unendlichen übergeht. Der Denkende ist nicht mehr nur ein Beobachter, sondern ein Bewegender des Geistes selbst. 178 Erst dadurch, daß man diese Dialektik feststellt, hat man das Recht, über den kantischen Agnostizismus hinaus wieder Theodizee theoretisch zu stellen. 179 Der Grund dafür, daß er diesen Standpunkt einnehmen konnte, liegt darin, daß er von einer gegenüber der Kant-Fichteschen Philosophie veränderten Lage der Philosophie ausgegangen ist. Die Kant-Fichtesche Philosophie des subjektiven Ich ist als eine Konsequenz des cartesianischen Prinzips der Neuzeit - cogito ergo sum - anzusehen; aber in dieser Lage erscheint Gott als ein Objekt vor dem menschlichen Subjekt. Der Ausgangspunkt ist das Subjekt des Menschen. Dagegen legt Hegel den Ausgangspunkt auf die Seite Gottes. Gott ist das allererste, absolute Subjekt. Das endliche Subjekt des Menschen ist vielmehr eine Objektivierung dieses Subjektes Gottes. Gott objektiviert sich und erkennt sich selbst in diesem Objekt. Der endliche Geist erkennt Gott nur, insofern Gott sich selbst im endlichen Geist erkennt. 180 Das Endliche ist nicht das erste Affirmative, sondern das erste Negative, in dem das Unendliche sich negiert und ins Endliche hervortritt. So ist das Nichtendliche das Negative des Negativen wahre Affirmation. 181 Hiermit tritt die trinitarisch-dialektische Denkstruktur deutlich zutage. Das wahrhaft Erste ist der Begriff als Leben und Gott als Geist. 182 Daß der Begriff das Leben, Gott der Geist ist, besagt, daß seine Natur in der die Negation enthaltenden Bewegung liegt. Die die Negation in sich enthaltende Bewegung ist der Prozeß, daß das Selbst sich unterscheidet, dirimiert und zum Anderen wird, dann wieder in sich zurücknimmt. 183 Hegel versucht, diese Bewegung »vorstellungsweise,... nur bildlich« als triniarische Tätigkeit von Vater, Sohn und Geist zu erklären. 184 Und eben dieser Prozeß der Selbstdirimierung und der Selbstversöhnung ist der philosophische Sinn des biblischen Gedankens: »Gott ist Liebe«. Denn die Liebe ist ein Unterscheiden zweier, aber darüber hinaus ein Wiederfinden des Selbst im Anderen. 185 Es gibt also keine Begriffe, die sich durch das Urteil (Ur-teilen) nicht ins 1 7 8 A a O . , Bd. 16, S. 187, 161, 166; Bd. 17, S.356, 380; Bd. 8, S. 131. Nach Hegel ist diese dialektische Bewegung der Negativität nichts anderes als das Wesentliche in dem kosmologischen und teleologischen Beweis Gottes. Aber es fehlt dem herkömmlichen Beweis noch an dem Moment der Selbstnegativität. Hegel, aaO., Bd. 5, S. 105; Bd. 8, S. 1 3 0 - 1 3 5 , usw. 1 7 9 N a c h Hegel konstituiert das Problem der Möglichkeit der Gotteserkenntnis eine der grundlegenden Bedingungen der Theodizee. Siehe aaO., Bd. 1 2 , 2 7 . 180
A a O . , Bd. 17, S.187. Vgl. auch F. Mildenberger, Theologie für die Zeit, Stuttgart 1969,
S.46. 1 8 1 Hegel, aaO., Bd. 5, S. 149; Bd. 8, S. 200. Wir haben vorher festgestellt, daß Hegel die Erhebung des Endlichen zum Unendlichen in der Gotteserkenntnis als Selbstaufhebung des Endlichen qualifiziert und bestätigt hat, aber diese negative Bewegung setzt in Wirklichkeit voraus, daß das Unendliche sich selbst zuerst selbstnegierend zum Endlichen hin entwickelt. 182
A a O . , Bd. 8, S. 313.
183
A a O . , Bd. 17, S. 214; Bd. 16, S. 192. A a O . , Bd. 17, S. 2 2 3 , 2 3 4 ; Bd. 16, S. 38; Bd. 5, S. 174ff.; Bd. 8, S. 203ff.
184 185
Bd. 17, S. 222.
85
Besondere teilen und entwickeln lassen.186 Es gibt keine Geister, die nicht erscheinen. »Das Wesen muß erscheinen«, und der Gott, der sich nicht offenbart, ist kein Gott. 187 So wird eine noch bessere Grundlage dafür gegeben, von Gott und seiner Gerechtigkeit zu reden. Das beruht eben auf dem Selbstwissen Gottes als der Bewegung des Wissens, in dem der absolute Geist sich selbst im endlichen Geist weiß. 188 Hegels vorige These, die später zu einem Grundton seiner Theodizee wurde: »Was vernünftig ist, das ist wirklich; und was wirklich ist, das ist vernünftig«, ist auch in diesem Zusammenhang von der Selbstbewegung des Begriffs her zu verstehen. Wie Hegel selber uns darauf aufmerksam macht, müssen wir uns zuerst deutlich machen, was er unter »Wirklichkeit« versteht. »Die Wirklichkeit ist die unmittelbar gewordene Einheit des Wesens und der Existenz oder des Inneren und des Äußeren.« 189 Sie ist also das Wesen, welches als der Grund der Existenz herausgetreten ist, das Höhere als die bloße Erscheinung und die stärkere Einheit des Inneren und des Äußeren. 190 Hier scheint das Innerlich-Vernünftige zugleich notwendigerweise als das Äußerlich-Wirkliche. Die Wirklichkeit, die den Wert einer bloßen Möglichkeit hat, ist nur das Zufällige. Die echte Wirklichkeit ist dagegen die Notwendigkeit, in der das Wesen sich vollständig entäußert hat, und deshalb das wahrhaft Vernünftige in der Erscheinungswelt. 191 Dies also ist die Voraussetzung des Aufbaus der Theodizee Hegels, die für ihn eine Anstrengung heißt, nämlich die Arbeit, die Rose der Vernunft »im Kreuz der Gegenwart« zu begreifen. Wir analysieren weiter die ganze Gestalt seiner trinitarisch-dialektischen Theodizee nach unserer Analysemethode, haben uns dabei aber vornehmlich mit seiner Religionsphilosophie auseinanderzusetzen. Denn seine Philosophie der Religionsgeschichte, d.h. die philosophische Würdigung der Religionen ist u.E. inhaltlich nichts anderes 186 j ) e r B e g r iff i s t nicht etwas, was m a n durch die Betrachtung des empirischen Gegenstandes nachträglich b e k o m m t , sondern das Erste. So sagt Hegel, »er (so der Begriff) ist der Inhalt selbst, die absolute Sache, die Substanz, wie es z u m Beispiel der Keim ist, aus d e m sich der ganze Baum entwickelt. In diesem sind alle Bestimmungen enthalten, die ganze N a t u r des Baumes, die A r t seiner Säfte, V e r z w e i g u n g . . . « (Bd. 16, S.66). 187
Bd. 8, S. 261; Bd. 16, S. 34; Bd. 17, S. 193; Bd. 6, S. 148 usw. Bd. 17, S. 187, 480. Hegel unterteilt den Beweis Gottes in zwei Abschnitte: Er stellt den ontologischen Beweis als die absteigende Weise v o m Begriff z u m Sein dem kosmologischen und teleologischen Beweis als die aufsteigenede Weise v o m Sein z u m Begriff gegenüber. N a c h dem ontologischen Beweis, w e n n der Begriff wahrhafter Begriff als Leben sein soll - d . h . insofern er nicht ein »schiefer« Begriff wie die h u n d e r t Taler Kants ist, m u ß er das Sein enthalten u n d ins Sein hervortreten. Wir k ö n n e n diesen ontologischen Beweis als den P r o z e ß der Inkarnation v o m Vater z u m Sohn in der trinitarischen Selbstbewegung Gottes wiederfinden, während der kosmologische und teleologische Beweis als P r o z e ß der Versöhnung v o m Sohn d u r c h Heiligen Geist wieder z u m Vater in der göttlichen Geschichte erkannt werden kann. (Bd. 5, S. 88f., 119; Bd. 6, S. 78f., 125f„ 402f.; Bd. 8, S.43, 103, 130f„ 135f„ 159f., 347-350; Bd. 17, S.210, 524-527, 531-532, 529). 188
189 190 191
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Bd. 8, S. 4 7 - 4 8 , 279. Bd. 8, S. 263, 280. Bd. 8, S. 284; Bd. 17, S. 456,463; Bd. 6, S. 202-212.
als ein Versuch der Konstruktion derTheodizee-Theorie selbst. 192 Immerhin muß es auch für uns so »harte Arbeit« sein, daß wir »das Kreuz selbst auf uns nehmen«. 193
3.3.2 Die Wo/Was-Frage: Das Negative als Selbstentfremdung
des absoluten
Geistes
Für Hegel ist das Böse ein konstituierendes Moment der Wesensbestimmung des Geistes. Das Böse, das das geistige Prinzip nicht erreicht, ist also nicht das Böse im vollkommenen Sinne des Wortes. In der Stufe der Naturreligion ist Gott noch als das Sinnliche, Natürliche wahrgenommen, und der Geist haucht sich noch in der unmittelbaren Form aus. Daher entwickelt sich das Bewußtsein des Bösen nicht völlig. 194 Auf der Stufe des Pantheismus, der Gott als die absolute Macht und die einzige Substanz bestimmt, erlöscht aber der Unterschied zwischen Gutem und Bösem an sich. Denn hier ist Gott an sich die einzig wahre Wirklichkeit und in diesem absoluten Einen ist jeder Unterschied aufgehoben.195 Hegel nennt diesen Standpunkt den orientalischen Pantheismus oder den Spinozismus und erkennt seinerseits an, daß der Pantheismus ein Wahrheitsmoment in sich enthält, und zwar in dem Punkt, daß man hier Gott als die einzige Substanz ansieht und so denkt, daß endliche Dinge ihre Existenzgründe allein in Gott haben. 196 Aber dieser Standpunkt ist nicht der endgültige. Vielmehr ist er nur der Anfang: An-sich-sein, wenn man es aus dem Punkt der Entwicklungsgeschichte des göttlichen Geistes betrachtet. Denn die einzige Substanz ist hier nur gefaßt als »die taumelnde, in sich zwecklose, leere Macht« oder bloße Notwendigkeit. Gott bleibt noch im An-sichsein.197 1 9 2 Zur Begründung der Interpretation, daß die Philosophie bei Hegel eigentlich die Geschichtsphilosophie ist, und auch die Geschichtsphilosophie überdies die Religionsphilosophie ist, weise ich auf die Darstellung M . Theunissens hin. M. Theunissen, Hegels Lehre vom absoluten Geist als theologisch-politischer Traktat, Berlin 1970, S. 6 0 - 1 0 0 . 193
Hegel, Bd. 16, S. 272.
194
AaO., S.274,276.
A a O . , S. 9 9 - 1 0 0 . In diesem Sinne verweigert sich Hegel dem allgemeinen Vorwurf gegen den Spinozismus, z . B . : dort seien einzelne, endliche Dinge ohne weiteres als Gott betrachtet. Dieser Vorwurf beruht nach Hegel auf einem Mißverständnis. Die wahre Absicht des Spinozismus liegt darin, daß eben Gott, und allein Gott das Wesen des einzelnen Seins und die einzige wirkliche Substanz der endlichen Dinge ist, und daß der Einzelne eigentlich nichts ist. Bd. 16, S. 9 3 - 9 5 , 9 7 - 9 9 ; Bd. 20, S . 1 6 3 , 1 9 5 . 195
196
1 9 7 Bd. 16, S. 316; Bd. 8, S . 2 9 5 . N o c h konsequenter durchdrungen ist dieser Standpunkt nach Hegel im Buddhismus. Hier gibt es keinen Unterschied zwischen Gutem und Bösem und nicht einmal zwischen Sein und Nichts. Alles bleibt die rein unbestimmte Abstraktion. Alles Sein ist zugleich Nichts. So entsteht der tiefe Gedanke, daß das Absolute auch das Nichts ist. Bd. 8, S. 186, 188; Bd. 16, S. 377.
87
Erst mit dem Unterschied dringt das Böse herein. Erst in den Religionen des Dualismus (Persische, Syrische und Ägyptische Religionen) ist der Unterschied deutlich gesetzt. Hier wird das Böse zum erstenmal zu dem wahrhaft Negativen im Gegensatz zum Guten. 198 Aber dieser Dualismus steht nach Hegel noch auf dem Wege zur Vollkommenheit. Denn der Gegensatz ist noch äußerlich und die beiden Pole stehen nur beziehungslos einander gegenüber, und daher bleibt der Unterschied auch bloß äußerlich. Dieser Unterschied muß dann in den Geist selbst hereingeholt und bis zur wesentlichen Bestimmung des Geistes verinnerlicht werden, damit das Böse sich zum geistigen Prinzip steigert. Dies ist nach Hegel geschehen eben im Christentum als der absoluten Religion, die sich durch die Stufen der Religionen der geistigen Individualität (Jüdische, Griechische und Römische Religionen) hindurch entwickelt hat. Der Unterschied taucht hier als Selbstunterscheidung auf, indem der Geist sich reflektiert, sich entäußert und für sich setzt. Das bedeutet, daß der Geist sein unmittelbares An-sich-sein verneint und als das Andere setzt. Diese Selbstdiskriminierung »setzt« also im wahrsten Sinne das Negative, d. h. das Böse. »Die Kraft des Geistes ist nur so groß als ihre Äußerung, seine Tiefe nur so tief, als er in seiner Auslegung sich auszubreiten und sich zu verlieren getraut.«199 Nun, der Prozeß dieser Selbstdiskriminierung erscheint nach Hegel wie folgt: I. Das erste Moment ist die Erscheinung oder Schöpfung der Welt als das positive Bestehen. Dies ist die Materie als das Indifferente, Formlose und Gleichgültige. Hegel nennt diese Materie »Gewand, Kleid, Gestalt« Gottes. Sie tritt zwar teils Gott gegenüber, aber noch nicht als das wahrhaft Negative.200 II. Das wahrhaft Negative erscheint als das, was dieses positive Bestehen der Welt bedroht. Das ist das zweite Moment der Selbstdiskriminierung. Dieses Negative erscheint nun zunächst als a) »das Übel an der Welt«. Das ist hier aber noch nicht das Selbständige, sondern nur die abhängige Negativität in der Verwicklung mit der Welt als Materie. Die Negativität, die für sich, nicht an einem anderen, das bestehen soll, vorhanden ist, ist das sich in sich reflektierende, innerliche Ich und der Widerspruch mit sich selbst im Selbstbewußtsein. Dies ist b) »das Böse des Willens«.201 So ist das Böse der negative Gegensatz, der durch die Selbstdifferenzierung des absoluten Geistes hervorgerufen wird, zu Gott. Es ist kein Wunder, daß die endliche Welt ihrer Natur nach einen gewissen Charakter der Negation mit sich bringt, weil ihre Entstehung schon die Selbstentfremdung Gottes, d. h. die Setzung des Anderen für Gott bedeutet. Aber das Endliche ist nicht ohne weiteres das Böse. Der endliche Geist ist nur insofern das Böse, als er in 198 199 200 201
88
Bd. 16, S. 393. Phänomenologie des Geistes, Bd. 3, S. 18. Bd. 16, S. 76. AaO., S. 77.
sich selbst bleibt, d. h. als er den Gegensatz zu Gott durch die Affirmation seiner Partikularität entscheidend befestigt. »Das Böse ist die Entfremdung von Gott, insofern das Einzelne nach seiner Freiheit sich von dem Allgemeinen trennt und in der Ausschließung von demselben absolut für sich zu sein strebt.« 202 So wird das Problem des Bösen bei Hegel ebenso bei Kant vor allem im Problem des menschlichen Willens vordringlich. Das hängt damit zusammen, daß Hegel grundsätzlich dem Geist den Vorzug vor der Natur gibt. Der negative Charakter der Natur selbst ist nicht genug im Blick auf den Gegensatz zu Gott. Im Widerspruch des endlichen Geistes gegen Gott erreicht dieser Gegensatz das entscheidende Stadium. 203 Hegel stellt z.B. die widersprüchlichen, gegensätzlichen Beziehungen der bürgerlichen Gesellschaft als »das System der Bedürfnisse« dar, aber geschildert wird dort konkret das System des Bösen, das dadurch entsteht, daß jeder endliche Geist (jeder Mensch) seinen besonderen Willen als Bedürfnis absolut durchführt. 204 Kurz gesagt: Das Böse ist für Hegel das Moment des Gegensatzes, das aus der Selbstdifferenzierung des absoluten Geistes hervorgebracht worden ist. Das ist in der Geschichte so real, daß das Selbst Gottes dadurch die Negation erfährt, und insofern ist es nicht bloß eine flüchtige Erscheinung als Täuschung. Andererseits ist es jedoch auch nicht das fest Positive, d. h. etwas, was in der Selbstbewegung des Geistes aufzuheben ist, nämlich das zu negierende Negative.205
3.3.3 Die Woher-Frage: Das Erkennen und die Notwendigkeit
des Bösen
Das Problem des Ursprungs des Bösen wird nun aber zu einer der Aporien, indem Hegel das Böse als das wesentliche Moment der Selbstentwicklung des Geistes bestimmt. Im Fall des Dualismus kann man den Ursprung des Bösen ohne besondere Schwierigkeiten auf einen Pol des Gegensatzes der Polarität zurückführen. Aber der Dualismus ist schon von Hegel als das Niedrige abgelehnt worden aus dem Grund, daß dessen Gegensatz nur äußerlich ist. Es geht hier darum, wo der Ursprung des Bösen gesucht werden soll, wenn der Gegensatz zum innerlichen Wesensmoment Gottes gehört. In diesem Punkt geben wir uns nicht mit der allgemeinen Ansicht 202
Philosophische Propädeutik, Bd. 4, S. 274. Eventuell könnte man den Einfluß der platonischen Ideenlehre in dieser Zurücksetzung der Natur bei Hegel erkennen. Allerdings lehnt F. Billicsich diese Vermutung ab aus dem Grund, daß die Natur auch eine bedeutsame Rolle im dialektischen Prozeß Hegels spielt. Das Problem des Übels in der Philosophie des Abendlandes, Bd. 2, Wien/Köln 1952, S. 335-336). Aber es scheint uns nicht so einfach, Hegels Neigung zu Piaton zu verneinen, vor allem wenn wir die gnostisch-neuplantonische Denkstruktur seiner Philosophie beachten, worauf J. Taubes hinweist. 204 Hegel, Bd. 7, S. 341 ff. 205 Bd. 8, S. 103. 203
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zufrieden, die nur auf die Notwendigkeit des Bösen bei Hegel hinweist, weil das Böse ein notwendiges Moment der Selbstentwicklung des absoluten Geistes sei. Würde man zu vordergründig von der Notwendigkeit des Bösen reden, so wäre Gott selber der Auetor des Bösen, und damit wäre nun die Absicht derTheodizee bei Hegel mißlungen. Wir müssen also diesen diffizilen Sachverhalt mit höchster Sorgfalt untersuchen. Die Antwort Hegels ist nun zuerst in seiner Interpretation des Sündenfalls in der Genesis gegeben. Er sagt: »Wenn er (sc. der Mensch) nicht vom Bösen weiß, weiß er auch nicht vom Guten.« 2 0 6 Das Tier ist nicht gut und nicht böse. Der Mensch ist aber als geistiges Wesen geschaffen, d.h., er muß aus dem Natürlichen, aus diesem Ansich, in die Unterscheidung herausgehen und das Urteil, Gericht muß über ihn und das Natürliche kommen. So weiß er erst von Gott und dem Guten. 2 0 7 Das Bewußtsein, das sich teilt und reflektiert, unterscheidet den Menschen von den Tieren und zeigt die Freiheit des Geistes. Aber diese Freiheit enthält zugleich das Böse in sich, und so wird gesagt: »der Ursprung des Bösen überhaupt liegt in dem Mysterium, d.i. in dem Spekulativen der Freiheit«. 2 0 8 Diese Tätigkeit der Freiheit des Geistes als das reflektierende Selbstbewußtsein ist m. a. W. das Erkennen. Das Wissen ist der Akt, durch den die Trennung gesetzt ist, und das Wirken des Ur-teilens und der Entzweiung. Durch das Erkennen ist erst der Gegensatz gesetzt und damit bricht das Böse ein. »Hierbei ist nun zu sagen, daß in der Tat die Erkenntnis es ist, welche der Quell alles Bösen ist.« 2 0 9 In diesem Sinne ist der Sündenfall geradezu die Wesensbestimmung des Menschen. Diese erste Erkenntnis kommt nun nicht von außen. Nach Hegel existiert der Versucher, die Schlange in der Genesis, innerhalb des menschlichen Selbstes. 2 1 0 Aber wie denkt Hegel dann über die Vorstellung der Erbsünde? Er ist der Meinung, daß sowohl der Satz, daß der Mensch von Natur gut sei, als auch der Satz, daß der Mensch von Natur böse sei, für die Bestimmung des Menschen gelten. Der erste Satz bedeutet nichts anderes, als daß der Mensch als Geist an sich nach dem Ebenbild Gottes geschaffen ist. Darauf ist freilich die Möglichkeit der Versöhnung begründet, aber dieses Ansich ist nur »seinem Begriff nach, eben darum nicht seiner Wirklichkeit nach«. 2 1 1 Der Mensch als Geist muß seiner Natur nach aus dem unmittelbaren Ansich heraustreten und sich für sich verwirklichen. Gerade in diesem Punkt hat der zweite Satz, daß der Mensch von Natur böse sei, das Moment der Wahrheit. 206 Bd. 16, S. 264. 2 0 7 A a O . , S. 265. 208 Bd. 7, S. 261.
Bd. 17, S. 257. »In unserem mosaischen Mythus finden wir nun ferner, daß die Veranlassung, aus der Einheit herauszutreten, durch eine äußerliche Aufforderung (durch die Schlange) an den Menschen gelangt sei. In der Tat liegt jedoch das Eingehen in den Gegensatz, das Erwachen des Bewußtseins im Menschen selbst, und es ist dies die an jedem Menschen sich wiederholende Geschichte.« Bd. 8, S. 89. 209 2,0
2
90
"
Bd. 17, S. 2 5 1 - 2 5 2 .
Da der endliche Geist bei der Verwirklichung nur sich selbst in seiner Besonderheit mit Ausschluß des Allgemeinen will, so ist er von Natur böse. 212 Kurz zusammengefaßt: Der Mensch ist »an sich«, dem Begriff des Geistes nach, gut, aber »für sich«, der Wirklichkeit und der Einzelheit nach, böse. 213 Nach unserer bisherigen Darstellung erscheint das Böse als ein notwendiger Prozeß des Geistes. In diesem Fall bedeutet der Geist sowohl der unendliche als auch der endliche Geist. Der endliche Geist entsteht durch die Selbstentfremdung des unendlichen Geistes, aber das geschieht, aus der Sicht des endlichen Geistes betrachtet, eben dann, wenn das Selbstbewußtsein des endlichen Geistes aufwacht. Denn Gott hat das Andere im strengen Sinne erst dann, wenn der endliche Geist sich mit Bewußtsein negativ Gott gegenüberstellt. Und dieses »Aufwachen« ist auch das Für-sich-Machen des endlichen Geistes selbst und also Selbstentfremdung, wie wir schon festgestellt haben. Aber müssen wir dann Gott selbst für den Auetor des Bösen halten, aufgrund dessen, daß das Böse die notwendige Entwicklung sowohl des unendlichen als auch des endlichen Geistes ist? 214 Das Böse ist für Hegel zwar ein notwendiger Weg des Geistes, aber nicht die ewige Notwendigkeit. Es ist vielmehr die sich aufhebende Notwendigkeit im ganzen Prozeß, in dem der Geist die Entfremdung überwindet, mit sich selbst versöhnt und in sich zurückkehrt. Wir können es wohl die vorläufige, im Prozeß ablaufende Notwendigkeit nennen. Das Böse entsteht gerade dadurch, daß der endliche Geist sich diesem in sich zurückkehrenden Prozeß des unendlichen Geistes widersetzt, sich aus dem Prozeß ausschließt, seine eigene Besonderheit affirmiert und im Gegensatz zu Gott bleiben will. Für Hegel ist das Böse also u. E. keine göttliche Notwendigkeit, sondern die Inkonsequenz der Notwendigkeit als die Widersetzlichkeit gegen die Durchführung der göttlichen Notwendigkeit. Das bedeutet nicht, daß jener Standpunkt der Entzweiung überhaupt nicht hervortreten sollte. Vielmehr soll und muß dies geschehen. Daher muß der Mensch das Paradies verlieren.215 Aber darin ist das wichtigere Moment enthalten, nicht stehenbleiben zu 2 1 2 Bd. 8, S. 90. Die Vorstellung der Erbsünde gilt insofern für den Menschen. Aber es kommt darauf an, »das Natürliche... in die Sphäre des Allgemeinen« zu erheben, und es ist falsch, wenn der aufklärerische Verstand das Verhältnis in der Weise der Endlichkeit faßt und nur an das natürliche Besitztum oder an eine Art Erbkrankheit denkt. Bd. 16, S. 154. 2 1 3 Bd. 17, S.254. Vgl. » . . . sofern dies Entzweien das Fürsichwerden ist, ist es das Böse; sofern es das Ansich ist, ist es das Gutbleibende« (Bd. 3, S. 581). 2 1 4 Es kommt hier nicht darauf an, wie nahe die Lehre Hegels von der Notwendigkeit des Bösen zur Leibnizschen Lehre von der geschöpflichen Notwendigkeit des Bösen (sozusagen dem metaphysischen Bösen) steht, wie E. Drewermann behauptet (Struktur des Bösen, Teil III, München/Paderborn/Wien 1978, S. 78). Vielmehr kommt es darauf an, inwiefern das Böse als die göttliche Notwendigkeit anzusehen ist. Von dieser Frage her erschließt sich die grundlegende Bedeutung der Hegeischen Lehre. 2 1 5 Hegel, Bd. 16, S.267. Vgl. Bd. 7, S.262. J. Ringleben analysiert, daß die Notwendigkeit der Sünde bei Hegel zugleich die Freiheit bedeutet, indem er darauf hinweist, daß Hegel die innere Notwendigkeit, die auch die Wahrheit der Zufälligkeit ist, von der äußeren Notwendig-
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dürfen. In diesem Sinne soll das Böse dem sich widersetzenden Willen des endlichen Geistes als der Inkonsequenz der göttlichen Notwendigkeit zugeschrieben werden. Und dem Menschen, der vom Tier unterschieden die »Zurechnungsfähigkeit« hat, ist insofern auch die Schuld zuzuschreiben. 216
3.3.4 Die Wozu-Frage: Die Zweckmäßigkeit als List der Vernunft U m die Frage: »Wozu?, Zu welchem Endzwecke?«, die noch den Hegel quälte, der die Geschichte als »Schlachtbank« betrachtete, zu beantworten, hat er, als ob er geradezu diese Sentimentalität unterdrücken wollte, den Weg eingeschlagen, alles Geschehen nur als »Mittel« anzusehen. 217 In dieser Entscheidung steckt das ganze Gewicht seiner Geschichtsphilosophie: Die Idee, die Wahrheit muß wirklich werden, weil die Wirklichkeit allein das Vernünftige ist. Aber die Idee braucht ein Mittel, damit sie sich verwirklichen kann. Dieses Mittel zur Historisierung der Idee ist die Existenz des einzelnen, »des Menschen Bedürfnis, Trieb, Neigung und Leidenschaft«. Und die Idee in der Geschichte ist das Prinzip der Freiheit. Aber nichts großes in der Welt ist ohne Leidenschaft vollbracht worden. Aus zwei Momenten der Idee und der Leidenschaft konstituiert sich die Geschichte. Hegel nennt sie den »Zettel« und den »Einschlag des großen Teppichs« der vor uns ausgebreiteten Weltgeschichte. 218 Der Weltgeist verwirklicht sich also, indem er diese unermeßliche Masse von Leidenschaften der Individuen und der Staaten als die Werkzeuge und Mittel zum Zweck der Freiheitsidee benutzt. Es handelt sich hier darum, vernünftig einzusehen, daß das Glück oder Unglück der einzelnen Individuen nicht zu einem Moment der Weltgeschichte gemacht werden kann. Auf dem Standpunkt der moralischen Weltanschauung könnte man sagen: »Das moralische Bewußtsein kann nicht auf die Glückseligkeit Verzicht tun und dies Moment aus seinem absoluten Zwecke weglassen.« Denn die Harmonie der Moralität und der Glückseligkeit wird als notwendig postuliert. 219 Aber die Weltgeschichte bewegt sich immer auf einer höheren Ebene als die Moralität der Individuen, und ist daher allgemein. Hätte das Ideal zum Individuum gehört, könnte die Weltgeschichte nicht die allgemeine Wahrheit sein. Sie wäre nur, was das Individuum für sich in seiner Einzelheit sich ausspinnt. Der Standpunkt des Glücks oder Unglücks ist nur der der Partikularität. Die Weltgeschichte muß bis zum äußersten in Beziehung mit der allgemeinen Idee betrachtet werden. keit, die selber zufällig ist, unterscheidet. E r aber schenkt wenig Aufmerksamkeit auf unsere Betonung der »Inkonsequenz« (Hegels Theorie der Sünde, Berlin/New York 1977, S. 123 ff.). 216 217 218 219
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Hegel, Bd. 16, S. 264. Bd. 12, S. 35. A a O . , S. 38. Bd. 3, S. 4 4 4 - 4 4 5 .
In der Weltgeschichte kommt noch etwas ganz anderes heraus, als es die Individuen wollen und bezwecken. 220 Hegel sieht die Realisierung der allgemeinen Idee konkret in der Sittlichkeit, die sich als die Familie, die bürgerliche Gesellschaft und der Staat entwickelt. O b das Individuum sei, ist dieser objektiven Sittlichkeit gleichgültig, gegen die »das eitle Treiben der Individuen nur ein anwogendes Spiel bleibt«. 221 Selbst die sogenannten welthistorischen Individuen, also die harmonischen Integrationen von Individuum und allgemeiner Idee, müssen ihre Leben beenden, ohne das Glück genießen zu können. »Ist der Zweck erreicht, so fallen sie, die leeren Hülsen des Kernes, ab. Sie sterben früh wie Alexander, sie werden wie Cäsar ermordet, wie Napoleon nach St. Helena transportiert.« 222 So ist die Geschichte ein Kampfplatz der einzelnen Leidenschaften, wo ein Teil zugrunde gerichtet wird, aber die allgemeine Idee sich unangegriffen und unbeschädigt im Hintergrund hält. »Die Idee bezahlt den Tribut des Daseins und der Vergänglichkeit nicht aus sich, sondern aus den Leidenschaften der Individuen.«223 Das ist Hegels berühmte Theorie von der »List der Vernunft«. Es läßt sich nicht leugnen, daß Hegel eine Teleologie entwickelt, indem er die Geschichte aus dem Verhältnis von Zweck und Mittel zu erklären versucht. Er würdigt es, daß Kant das Prinzip der inneren Zweckmäßigkeit in seiner Kritik der Urteilskraft erwähnt. Aber er ist der Meinung, daß Kant selbst die Wichtigkeit dieses Gedankens nicht bemerkt und schließlich diese Idee nicht genug entwickelt hat. 224 Dagegen entfaltet Hegel diese Teleologie weiter als die Teleologie der allgemeinen Idee. Man kann wohl sagen, daß er Leibniz nahesteht, solange er ebenso wie Leibniz eine allgemeine Ganzheitslehre behauptet. Aber der Unterschied liegt darin, daß bei Hegel die geschichtliche, eschatologische Dimension noch deutlicher in den Horizont der Ganzheit hineingetreten ist, während bei Leibniz die kosmologische, räumliche Dimension verhältnismäßig stärker betont ist. 225 Aber viel wichtiger ist, daß Hegels Teleologie der allgemeinen Idee eben mit der Theorie von der List der Vernunft begründet ist, d.h. die Teleologie Hegels ist eigentlich nichts anderes als die List der Vernunft. So schildert er die höchste Stufe der Zweckmäßigkeit in seiner Enzyklopädie: »Die, daß der subjektive Zweck, als die Macht dieser Prozesse, worin das Objektive sich aneinander abreibt und aufhebt, sich selbst außer ihnen hält und das in ihnen sieb Erhaltende ist, ist die List der Vernunft.« 226 Somit hat Hegel aufgrund der geschichtlichen Teleologie auf jene Wozu-Frage zu antworten 220 221 222 223 224 225 226
Bd. 12, S. 4 1 - 4 2 , 5 2 , 9 0 - 9 1 . Bd. 7, S. 2924. Bd. 12, S. 47. AaO., S.49. Bd. 8, S. 139-142; Bd. 17, S. 520. Bd. 3, S. 24 f. Vgl. W. Spam, Leiden - Erfahrung und Denken, S. 68. Hegel, Bd. 8, S. 365.
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versucht, indem er gezeigt hat, daß die einzelne Existenz nur das Mittel zum Zweck der Selbstverwirklichung des absoluten Geistes bzw. der Freiheitsidee ist.
3.3.5 Die Wohin-Frage: Die Formen der Versöhnung und der Gedanke des Todes Gottes Das Problem der Uberwindung des Bösen ist diejenige Frage, an der sich entscheidet, ob Hegels Versuch einer Theodizee Erfolg hat oder nicht. Denn die Ehre und Gerechtigkeit Gottes würde verletzt, wenn die Negativität des Bösen als die Selbstentfremdung Gottes noch bestehen gelassen würde. Dann wäre die Theodizee schließlich zusammengebrochen. Daher wird hier Hegels Idee von der Versöhnung als Grundgedanke besonders bedeutsam. Die Versöhnung heißt, daß der endliche Geist den Gegensatz und die Trennung vom unendlichen Geist beendet und wieder ins Unendliche zurückkehrt, und daß das Negative wieder negiert, das Böse überwunden und zur absoluten Affirmation als An- und Für-sich-sein hingeführt wird. In der Naturreligion ist dieses Moment der Versöhnung noch nicht zur Reife gekommen, weil die Existenz des Bösen als die negative Macht noch an die natürlichen Bestimmungen gebunden ist. Hier taucht das Moment der Vermittlung fast schon auf, aber das bleibt immer noch auf der Stufe der Zauberei.227 Auf der Stufe des Pantheismus bleibt das Moment der Versöhnung so lange überflüssig, als der Unterschied zwischen Gutem und Bösem im Sinne eines echten Gegensatzes erloschen ist. In der indischen Religion ist z.B. das Höchste, das im Kultus erreicht wird, die »Vereinigung mit Gott, welche in der Vernichtung und Verdumpfung des Selbstbewußtseins besteht«. Aber das bedeutet nach Hegel eben nicht die Versöhnung, sondern nur die völlig negative Abstraktion, die vollkommene Ausleerung, welche auf alles Bewußtsein und Wollen, alle Leidenschaften und Bedürfnisse verzichtet. Die »Strengigkeiten« (austereties) haben auch hier nicht die Bedeutung einer Buße. 228 Auch im Buddhismus, der diesen Standpunkt viel spekulativer systematisiert hat, wird die Freiheit vom Leiden, vom Altern, von der Krankheit und vom Tod nur dadurch bewirkt, daß man die einzige, allgemeine Substanz in der Meditation, in dem Vertiefen in sich, im Aufhören aller Regelung des Körpers, aller Bewegung der Seele erreicht. 229 Aber auch hier gibt es keine Versöhnung. Denn Gott bleibt noch die Notwendigkeit als »Macht«, und er ist noch nicht als die absolute Person bekannt. Es fehlt dieser Religion das Prinzip der Individualität.230 Ohne echten Gegensatz kann 227 228 229 230
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Bd. 16, S. 288. AaO., S. 361,364. AaO., S. 382,386-387. Bd. 8, S. 295; Bd. 16, S. 316.
keine Versöhnung sein. Die Einheit, die durch den Buddhismus gebracht wird, ist Hegels Beurteilung nach nur eine leere Abstraktion und eine gewisse Flucht, insofern als hier die besonderen Unterschiede in die Einheit des Nichts zurückfallen.231 Nun, wie verhält es sich dann aber mit den dualistischen Religionen, in denen der Gegensatz ja deutlich zutage kommt? Im Parsismus, welcher das Licht der Finsternis, das Gute dem Bösen gegenüberstellt, kann das Licht nur so lange das Licht sein, als es der Finsternis gegenübersteht. Auch wenn das Licht die Macht hat, die Finsternis zu vertreiben, kann das Licht die Finsternis nicht einfach überwinden. Das Stehenbleiben in der parallelen Beziehung ist die Ohnmacht dieser Religion. Daher entsteht auch in ihr noch nicht die Versöhnung.232 Erst wenn der Kampf zwischen Gutem und Bösem nicht mehr der äußerliche Gegensatz ist und das Negative als ein inneres Moment des göttlichen Geistes in sich aufgenommen wird, taucht das Bewußtsein der Versöhnung auf. Hegel erkennt diesen Ansatz zum Ubergang in den syrischen und ägyptischen Religionen, die auch zum Dualismus gehören. In der phönizischen und in den vorderasiatischen Religionen ist der Verlauf des Schmerzes und des Todes ein Moment in der Natur des göttlichen Geistes. Der Mythos von Phönix, der sich selbst verbrennt und wieder als ein junger Vogel aus seiner Asche in neuer Kräftigkeit hervorgeht, bezeichnet eben diesen Vorgang des Unterliegens, der Entfremdung Gottes und des Wiederauferstehens.233 Tod und Auferstehung sind ja auch das Thema des Mythos von Osiris in der ägyptischen Religion. Hier sind auch die Selbstentfremdung Gottes als der Tod und das Zurückkehren in sich als die Negation der Negation in der Form der Versöhnung dargestellt. Das Gute bedeutet schon eine gedoppelte Bewegung, die die Negation, d.h. das Böse, in sich enthält und wieder aufhebt.234 Aber selbst diese Religionen erreichen noch nicht die Subjektivität der Freiheit und lassen eine Spur der Naturreligion übrig. Sie sind insofern inkonsequent und rätselhaft. Deshalb ist die syrische Religion die des Schmerzes, und die ägyptische Religion bleibt die des Rätsels. Es sind also erst die Religionen der geistigen Individualität (jüdische, griechische und römische Religion), die dieses schmerzhafte Rätsel lösen, weil sie sich von der Stufe der Naturreligion abheben.235 Das Judentum fängt damit an, daß Gott das Vorausgesetzte, das Subjekt ist, welches absolut Erstes bleibt. 236 Gott ist das absolute Subjekt und das einzige Gute. Von daher ist das Prinzip des Bösen, das sich Gott gegenüberstellt, wie im Dualismus, nicht zu konstituieren. Aber man darf jedoch 231 232 233 234 235 236
Bd. 16, S. 391. AaO., S. 400. AaO., S. 408. AaO., S. 414,421-424. AaO., S. 416,442. Bd. 17, S. 57.
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das Böse auch nicht Gott als dem absoluten Guten zuschreiben. So fällt der Gegensatz nun in den anderen Geist, und zwar in den endlichen Geist. »Dieser ist der Ort des Kampfes des Bösen und des Guten, der Ort, worin auch dieser Kampf ausgekämpft werden muß.« 237 Die Paradoxie: Der absolute Gehorsam des Knechtes zum Herrn ist eben die Freiheit, bestimmt hier die Gott-Mensch-Beziehung. Gott selbst ist allein der Zweck Gottes, und dieser Zweck muß in dem menschlichen Geist durchgeführt werden. Daß die Ehre Gottes anerkannt, gepriesen werde, ist zunächst der Zweck dieser Religion. 238 In diesem Rahmen müssen wir Hegels Hiob-Interpretation in Betracht ziehen. Das Wohlsein des Menschen ist »göttlich berechtigt«, insofern er dem göttlichen Gesetz der Gerechtigkeit gemäß ist. Dieser Satz gilt jedoch nicht für Hiob. Darin liegt Hiobs Leiden. Die Wendung dieser Geschichte ist aber, Hegel zufolge, daß diese Unzufriedenheit, dieser Mißmut sich der absoluten, reinen Zuversicht unterwerfen soll. »Diese Unterwürfigkeit ist das Letzte; einerseits diese Forderung, daß es dem gerechten wohlgehe, andererseits soll selbst diese Unzufriedenheit weichen. Dies Verzichtleisten, Anerkennen der Macht Gottes bringt Hiob wieder zu seinem Vermögen, zu seinem vorigen Glück.« 239 Das Glück soll vom Endlichen nicht als ein Recht gegen Gott angesprochen werden. Es kommt hier darauf an, daß Gott selber der Zweck Gottes ist, und daß was die Menschen wollen, dem Willen Gottes gemäß, wahrhafter Wille sein soll. Nach Hegel ist also die Hiob-Interpretation Kants - der Standpunkt der formellen Gewissenhaftigkeit - nur ein judaistisches Verständnis. Dieser Standpunkt ist für Hegel nicht das Letzte. Er sieht, daß der unendliche Schmerz des Menschen über sich selbst, d. h. die Empfindung der Demütigung gegenüber dem Unendlichen sich darin versteckt. Daraus entsteht zwar die Zerknirschung, aber sie ist nur negativ, ohne Affirmation in sich. Deshalb bleibt das Judentum eine Übergangsstufe zur absoluten Versöhnung.240 Die Form der Versöhnung, auf die wir in der griechischen Religion stoßen, ist die Notwendigkeit, d. h. die Versöhnung mit dem Schicksal. Die höhere reine Kraft, die die Vielheit der einzelnen Götter vereinigt, ist das Schicksal, die einfache Notwendigkeit. Unglück, Unzufriedenheit entsteht eben dadurch, daß man diese Notwendigkeit nicht aufnehmen will. Es ist so, da ist nichts dagegen zu machen, das muß ich mir gefallen lassen; sogar gefällt mir es, es ist das Meinige! In dieser Gesinnung ist die Freiheit vorhanden. Man kann sagen, daß es um die Versöhnung mit der Notwendigkeit geht, die sich sozusagen aus amor fati ergibt.241 Die Helden der griechischen Tragödien, die ihre Schicksale tapfer aufgenommen haben, können nach Hegel wohl 237 238 239 240 241
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AaO., S. 74. AaO., S. 66, 8 0 - 8 2 ; Bd. 3, S. 145-155. Bd. 17, S. 70, vgl. 68 f. AaO., S. 2 6 6 , 2 6 8 - 2 6 9 . AaO., S. 110-111.
traurig, aber nicht verdrießlich werden. Verdruß wird durch die Beziehung mit dem Begriff des absoluten Zweck, den der moderne Mensch allein voraussetzt, hervorgerufen. Die Griechen haben keinen Zweck absolut vorausgesetzt. Deswegen wird gesagt, daß diese Versöhnung mit dem Schicksal zwar ergebene Trauer ist, die jedoch in sich selbst die Heiterkeit hat. 242 Aber Hegel denkt, daß das auch eine gewisse Versöhnung, aber nicht ausreichend ist. Hier gibt es die ruhige Ergebung der Alten in das Schicksal, aber sie ist trostlos. Die Besonderheit des Individuums wird nur abgelehnt und nicht in der göttlichen Notwendigkeit aufgehoben, d.h. als ein zu Negierendes, zugleich ein Konservierendes anerkannt - wie dies nach Hegel der Standpunkt des Christentums ist. 243 Unter der Herrschaft der altertümlichen Notwendigkeit steht nur trauriges Schweigen, nicht trostreiche Versöhnung. Dem Gedanken der Notwendigkeit fehlt noch die Weisheit, und so erreicht er nicht den wahrhaften Begriff. Wenn die Notwendigkeit in den Begriff sich vertieft, taucht erst der Gedanke des Zwecks auf. Begreifen heißt nicht, etwas als einen äußerlichen Zusammenhang von Ursache und Wirkung zu fassen, sondern den freien Zweck, der sich durch Mittel durchsetzt, als den Inhalt der Notwendigkeit selbst anzusehen. Hegel erkennt diesen Standpunkt in der römischen Religion.244 Die Versöhnung tritt hier als die Einheit von Zweck und Mittel hervor. Im Judentum ist Gott sich selbst zwar der Zweck, aber die Besonderheit des Menschen als Mittel ist noch nicht positiv gesetzt. Dagegen wird hier praktisch nach der Einheit von Zweck und Mittel gesucht. Das Mittel selbst darf den eigenen Vorteil verlangen. Dies macht die römische Religion zu einer gewissen Glückseligkeitsreligion. Die praktische Selbstsucht der Verehrenden ist aufbewahrt und das unmittelbar Nützliche ist geschätzt. Daraus ergibt sich, daß der Kaiser und das Reich als die Vergegenwärtigung des nützlichen Zwecks verehrt werden. Andererseits bringt aber diese praktische Selbstsucht das Gefühl von Abhängigkeit hervor. Wenn man die Abhängigkeit in einem Negativen fühlt, kommt es dazu, »die Macht des Schädlichen und des Übels zu verehren - den Teufel anzubeten... So haben die Römer der Pest, dem Fieber (Febris), der Sorge (Angerona) Altäre gewidmet und den Hunger (Fames) und den Brand im Getreide (Robigo) verehrt.« Doch das ist »der gänzliche Verlust aller Idee, das Verkommen aller Wahrheit«. 245 Auf diese Weise kann die wahrhafte Versöhnung nicht entstehen. Die echte Einheit von Zweck und Mittel ist nach Hegel erst im Christentum als der absoluten Religion zu erreichen. Hegel betrachtet das Christentum als die höchste Verwirklichung der Versöhnung. Anders gesagt: Der Gegensatz ist hier am strengsten geworden. Denn die Versöhnung erscheint erst, als die Spaltung absolut und aufs 242 243 244 245
A a O . , S . 131-132. Bed. 8, S. 290-291; Bd. 17, S. 134-135. Bd. 17, S. 157f. AaO., S. 170-171.
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höchste gesteigert ist. 246 Im Dualismus von Gutem und Bösem scheint der Gegensatz zwar befestigt und entschieden, aber in Wirklichkeit steht der Gegensatz außer dem Menschen und umgekehrt steht der Mensch außer dem Gegensatz und betrachtet ihn. Erst wenn der Gegensatz absolut wird und nichts außer ihm existiert, entsteht die absolute Versöhnung. Deshalb muß der Mensch selbst hier mitten in den Gegensatz hineintreten und sich des Gegensatzes zu Gott bewußt sein. Hiermit erscheint das sogenannte unglückliche Bewußtsein, in dem die Unendlichkeit und die Endlichkeit sich einander entzweien. 247 Aber dieser Gegensatz ist weder beziehungslos noch fest, sondern besteht in der Weise, daß einer das Anderssein des Selbstes in dem anderen sieht und die Negation zu dem wesentlichen Moment des Selbstes macht. Es geht nicht nur um die gegensätzliche Beziehung der Polarität, sondern um die dialektische. Und es kommt hier darauf an, daß das vereinigende Subjekt selbst der Vermittler ist. In diesem Sinne beginnt die Versöhnung mit der Menschwerdung Gottes. Natürlich kommt es auch in niederen Religionen vor, daß das Unendliche in der Weise mit dem Endlichen vereint erscheint, daß die Götter in Gestirnen oder Tieren erscheinen. 248 Aber Gott muß hier vor allem Mensch werden. Überdies muß die Idee des Gott-Mensch dann auch als einzelner Mensch mit der Form unmittelbar sinnlicher Anschauung, des äußerlichen Daseins, in der empirischen Geschichtswelt erscheinen. In diesem Sinne sagt Hegel gegen Kant: »Aber dann gibt es auch Geschichtliches, das eine göttliche Geschichte ist und so, daß es im eigentlichen Sinn eine Geschichte sein soll: die Geschichte Jesu Christi. Diese gilt nicht bloß für einen Mythus nach Weise der Bilder, sondern als etwas vollkommen Geschichtliches.« 249 Das Bewußtsein der absoluten Versöhnung wurde von diesem Gott-Menschen, der als einzelne Person erschienen ist, mit sich gebracht. Die Verkündigung von der Verwirklichung der Versöhnung ist aber gerade der Inhalt des Kerygmas Jesu Christi, d.h. die Ankunft des Reichs Gottes. 250 Aber der Auftritt des Gott-Menschen und seine Tätigkeit der Verkündigung vom Versöhnungsbewußtsein sind erst ein bloßer Ansatz der Versöhnung. Die Geschichte der Idee des Gott-Menschen erfährt in seinem Tod den entscheidenden Augenblick: Der Tod ist nämlich erstens das Ereignis, das die Menschlichkeit dieses Gott-Menschen bezeugt, insofern jeder Mensch sterben muß. Dazu kommt, daß der Tod des Missetäters, der entehrende Tod am Kreuz, die Menschlichkeit in äußerster Weise gezeigt hat. Aber zweitens deutet der Tod des Gott-Menschen auf den »fürchterlichsten Gedanken« hin: Gott ist tot. Die Negation ist nun in Gott selbst aufgenommen und das
« Bd. 16, S. 26. Bd. 3,S. 163f.; Bd. 17, S. 263. 24 4.5.5). So wenden wir uns hier zunächst der ersteren zu. Das Leiden läutert die Relation (These 1; Siehe These 2, S. 252) Mit dieser These würden wir den Begriff der »Pädagogik Gottes« in der traditionellen Theodizee aus einem völlig neuen Gesichtswinkel aufgreifen. Man kann gewiß sagen, daß die Ansicht, das Leiden als Pädagogik Gottes anzusehen, eine der populärsten Theodizee-Theorien ist. Wir können die verschiedenen Variationen in weiten Bereichen von theologischen Werken, Predigten, seelsorgerischen Gesprächen bis zu säkularen Belehrungen, die sich religiös verkleiden, erkennen.363 Dieser Gedanke ist freilich nicht ohne biblischen Anhalt (z.B. Hebr 12,5-11; l.Petr 1,7; 4„12; Jak 1,2ff.; l,12ff.; Rom 5,1-5; l.Kor 11,32; 2.Thess 1,4ff.; Offb 3,17 usw.). Der Hinweis auf den ausschließlichen Einfluß der griechisch-hellenistischen Idee der Paideia auf die Gestaltung dieses neutestamentlichen Begriffs der Paideia ist - abgesehen von der späteren Entwicklung der Theologie der Kirchenväter - wahrscheinlich nicht so stichhaltig. Vielmehr ist zu sehen, daß der biblische Begriff der Paideia im Kern die jüdische Denktradition der Züchtigung und Zurechtweisung Gottes in der Weisheits-Literatur übernommen hat.364 Was nämlich hier thematisiert ist, ist nicht das stoische Bild des Helden im Leiden, 3 6 3 Zu den Theologen, die diese »pädagogische Theodizee« in die Theoriebildung übernehmen, gehören nicht nur die Kirchenväter in der hellenistischen Zeit, sondern auch viele liberale Theologen in der Neuzeit: Ritsehl, Rechtfertigung und Versöhnung III, S. 2 8 8 ; Kaftan, D o g m a tik, S. 165, 250, 272, 276, 301, 353, 357; Wendt, System der ehr. Lehre, S . 3 4 0 ; Fr. H . R . Frank, System der christlichen Wahrheit. I, Erlangen 3 1894, S . 4 9 7 ; A. v. Oeningen, Lutherische Dogmatik II, München 1 8 9 7 - 1 9 0 2 , S . 5 3 6 f . ; Lemme, Christliche Glaubenslehre, II, S . 2 3 4 ; E. Troeltsch, Glaubenslehre, München 1925, S. 336; Seeberg, Christliche Dogmatik II, S. 29, 33; I . A . Dorner, System der christlichen Glaubenslehre, II, Berlin 2 1 8 8 6 / 8 7 , S . 2 3 5 ; C h r . E . L u thardt, Die christliche Glaubenslehre, Leipzig 1898, S. 279; Pfleiderer, Glaubens- und Sittenlehre, S. 109; Haering, Glaubenslehre, S . 4 4 0 f f . ; Reischle, Glaubenslehre, S . 6 8 , 85, 145; H . S t e phan, Glaubenslehre, Gießen 2 1928, S. 122, 185; Schlatter, Das christl. Dogma, S. 155, 502; Köberle, Rechtfertigung und Heiligung, S. 217f. Vgl. Broking, aaO., S. 339ff. 3 6 4 Zu diesem Thema vgl. H . Koch, Pronoia und Paideusis, Berlin 1932, S. 4 9 - 7 8 ; G. Bertram, Der Begriff der Erziehung in der griechischen Bibel, in: Imago Dei. Festschrift für Gustav Krüger, 1932, S. 3 3 - 5 1 ; ders., T h . W . (παιδευώ), S . 5 9 6 f f . ; G. v . R a d , Theologie des Alten Testaments, Bd. I, München 1957, S. 427ff. G. Bornkamm, Sohnschaft und Leiden. Hebräer 1 2 , 5 - 1 1 , in: Ges. Aufs. Bd. IV, München 1971, S. 2 1 4 - 2 2 4 ; W. Jaeger, Paideia Christi, Z N W 50, 1959, S. 1 - 1 4 .
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der sich dem harten Schicksal widersetzt, auch die Probe besteht und dadurch eine ethische Selbstbildung durchläuft wie Senecas »vir fortis«, 3 6 5 sondern das Motiv der Züchtigung der Liebe, durch die der Sohn vom Vater auf dem falschen Weg korrigiert, erzogen und ausgebildet wird (z.B. Dtn 8,5; Spr 3,11 ff.; 13,24; 19,18; 20,30; 29,17; Hiob 5,17ff.; 33,19ff.; 36,15; 37,13; Ps 23,4; 94,12; 118,18; Jer 10,24; 30,11; 48,28 usw.). Es handelt sich hier um die Läuterung der Vater-Sohn-Relation, die analog auch auf die Relation zwischen Jahwe und Israel, Gott und den Gläubigen angewandt wird. Wegen des Gesichtspunkts der Läuterung der Vater-Sohn-Relation wandelt sich die Züchtigung des Zornes (Ps 6,2) in die der Liebe wie »Stecken und Stab« des Hirten (Ps 23,4). Das Leiden zwingt den Menschen zur Reflexion. Auf kierkegaardische Weise ausgedrückt, wird auch der Mensch, der das ästhetische Leben genossen hat, in die dialektische Bewegung des Lebens auf die ethische, und noch weiter auf die religiöse Stufe des Lebens hingeführt, wenn er vom Leiden heimgesucht wird. Das Leiden befreit den Menschen, der das Relative absolut gemacht hat und damit durch den irdischen Besitz gefangen worden ist, vom Irrtum und enthüllt ihm die Tiefe der Freiheit, die das religiöse Leben hat, um sich dann auf das wahrhaft Absolute absolut zu beziehen. Erst mitten in der Trübsal und im »Riß des Lebens« empfindet der Mensch schmerzlich seine Krise des Seins vor Gott und gelangt er zur ernsthaften Bekehrung. Eben durch Mangel und Schmerz lernt er wirklich das Beten und erwacht er zum Glauben. Natürlich sind nicht alle Leiden so, aber es ist sicher, daß das Leiden eine Gelegenheit anbietet, auf die Gottesrelation zu verweisen. 366 Und das Leiden dient dem Gläubigen zum Uberprüfen, Üben und Läutern des Glaubens. Die Befreiung des Glaubens von aller »Religion der Gunstbewerbung« (Kant) - das ist eines der bedeutenden Themen der Theodizee im Buche Hiob. 3 6 7 Das Gleichnis von der Läuterung des Metalls, das häufig im Alten Testament auftaucht, 368 drückt eben diese Wirkung der Läuterung der Gottesrelation durch das Leiden aus. Es wäre aber übereilt zu urteilen, daß der neutestamentliche Begriff der Paideia eine jüdische Tradition bloß übernommen hat. Vielmehr hat das Urchristentum diese Tradition aus einem völlig neuen Gesichtspunkt, nämlich aus der Christologie her, interpretiert. Man darf den neuen Inhalt darin nicht übersehen. Im Text Hebr 12,5-11 ζ. B. handelt es sich nicht bloß um die E. S. Gerstenberger/W. Schlage, Leiden, Stuttgan/Berlin/Köln/Mainz 1977, S. 200. » . . . unsere Trübsal, die uns in der Landschaft Asien widerfahren ist, w o wir über die Maßen beschwert waren und über Vermögen, so daß wir auch am Leben verzagten und wir selbst es für beschlossen hielten, wir müßten sterben. Das geschah aber darum, daß wir unser Vertrauen nicht sollten auf uns selbst stellen, sondern auf Gott, der die Toten auferweckt« (2. K o r 1,8-9). 3 6 7 H i o b 1,9. Vgl. U . Hedinger, Chinnam oder die Infragestellung Hiobs, in: Π Α Ρ Ρ Η Σ Ι Α Karl Barth zum 80. Geburtstag, Zürich 1966, S. 192-212. « 8 H i o b 23,10; Ps 66,10; Jes 1,25; 48,10; Jer 9,6; Sach 13,9; Mal 3,3; Dan 11,35; 12,10; Vgl. l.Petr 1,7; 4,12; l . K o r 3 , 1 3 . 365
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Analogisierung des Begriffs der Züchtigung in der menschlichen VaterSohn-Relation zur Gott-Mensch-Relation. Viel wichtiger ist die Christologie, die die Gott(Vater)-Mensch(Sohn)-Relation begründet. Gottes Sohn gewährleistet erst unsere »Sohnschaft«. 369 Mit anderen Worten, die Läuterung der Gottesrelation durch das Leiden wird auf richtige Weise nur möglich, wenn diese Läuterung von der Relation zu Jesus Christus, Gottes Sohn, her, mitten in der Relation zu ihm und auf die Relation zu ihm hin durchgeführt wird. Warum aber auf die richtige Weise? Weil es auch die unrichtige Weise gibt. Der Gedanke der Läuterung der Gottesrelation durch das Leiden ohne Relation zu Christus setzt ein falsches Verständnis vom Leiden voraus, nämlich die jüdisch-rabbinische Leidenstheologie, derzufolge das Leiden als solches die sühnende Kraft, die Sünde zu büßen und die Strafe am Jüngsten Tag zu lindern, hat, und sogar das Leiden des Gerechten zur stellvertretenden Sühne für die anderen dient. 370 Aber solchem Verständnis liegt jene Logik von Sünde und Strafe aufgrund der iustitia distributiva zugrunde. Und wenn dieses Verständnis sich an die jüdische Leistungslehre anschließt, führt das zur Leidensrechtfertigung. Wir sollten auch den Text: Hiob 36,15 nicht in diesem Sinn interpretieren. Der Begriff der christlichen Paideia kann also das Joch der rabbinischen Leidenstheologie nur abwerfen, wenn alles wirklich christo-relatiologisch durchdacht wird. Auf dieser Linie bewegen sich nicht zuletzt Barths Aussagen. Es geht nun nicht nur um die universale, objektive und verborgene Voraussetzung der Relation, sondern darüber hinaus um die innere Bestimmung der speziellen, subjektiven und evidenten Relation zwischen dem Christus und den Christen. Es ist zwar nicht als ein Prinzip oder Gesetz anzusehen, aber doch eine Tatsache, daß Jesus Christus öfter die Christen ruft, gerade indem sie in Bedrängnis und Armut: im Abbild der Situation Jesu Christi selber sind, damit sie sich in dieser Situation durch Beständigkeit des Glaubens bewähren (δοκιμάζειν). 371 Barth findet und schätzt den Begriff der christlichen Geduld in Calvins Gedanken von »tolerantia crucis« (Ins. III, 8). In der »tolerantia crucis« handelt es sich - im Gegensatz zur stoischen Lehre - bei der Festlegung: »Armut ist hart, Krankheit ist eine Pein, Schande ist stechend, Sterben ist schrecklich!« (III, 8,8), um »Christi passionibus communicare«, und um die Geduld der Hoffnung, durch die wir gegen das Nichtige mit Christus 3 6 9 Bornkamm betont, daß man das doppelte ώς υίοΐς ( H e b r 12,5 und 7) nicht wie O . Michel mit einer Vergleichspartikel übersetzen darf: »wie mit Söhnen«, sondern mit Riggenbach »welcher zu euch als Söhnen redet« (v. 5), »so behandelt euch Gott als Söhne« (v. 7). Seiner Meinung nach wird der »Zentralgedanke« mit einem neuen Sinn gerade durch dieses »als« (ώς) herausgestellt (Sohnschaft und Leiden, S. 222 f.). 370 Vg| E . L o h s e , Märtyrer und Gottesknecht, Göttingen 1955, S. 29 ff.; Gerstenberger/ Schlage, Leiden, S. 200ff.; W. Wichmann, Die Leidenstheologie. Eine F o r m der Leidensdeutung im Spätjudentum. B W A N T . 4 F 2 H . 1930, S. 5 ff.; H . T h y e n , Studien zur Sündenvergebung im Neuen Testament und seinen alttestamentlichen und jüdischen Voraussetzungen, Göttingen 1970. 371
2 . K o r 8,2; R o m 5,2 ff. Vgl. K D II, 2, S. 709.
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kämpfen und in das Reich Gottes eingehen. Es geht also in allem um die Bestätigung unserer »societas cum Christo«. 372 Was hier theologisch bedeutsam ist, ist die Tatsache, daß Barth diese tolerantia crucis als den Prozeß der Heiligung zwischen den Zeiten bezeichnet. Die Teilnahme am Kreuz Christi als Zeichen der besonderen Gemeinschaft mit ihm dient in folgenden vier Punkten zur Heiligung der Christen: I. Die Erhaltung der Demut Das Kreuz erinnert einen Christen - und »wenn es nur in einem ordentlichen Zahnweh bestünde« - an die Bedingtheit auch seiner Existenz. Das Kreuz rät ihm ab, »seine eigene Geistlichkeit... allzu unkritisch und allzu humorlos ernst zu nehmen«. Das Kreuz ruft ihn dazu auf, sein Heil »immer aufs neue dort, extra se, zu suchen«. »Das Kreuz bricht über die Christen herein, um auch die höchsten Offiziere dazu zu erziehen, jeden Morgen als gemeine Soldaten von vorne anzufangen.« Wir könnten sagen, daß der »Pfahl im Fleisch« des Paulus (2.Kor 12,7) auch in diesen Zusammenhang gehört. II. Die Erinnerung an die Strafe Das Kreuz erinnert den Chrsisten durch die kleine Strafe an die unendlich große Strafe, die er verdient, die aber dank Jesu ihm nun erspart bleibt. Das Schwert des Zornes Gottes »wird, was ihn trifft, bestimmt nicht sein, wohl aber die Rute seiner väterlichen Liebe«. Eben in der subjektiven, besonderen Gemeinschaft der Christen mit Jesus Christus wird der Sinn der vorher genannten Erinnerung ans Kreuz als universale Voraussetzung der Relation deutlich. III. Die Disziplinierung des Glaubens Das Kreuz legt dem Christen dringend nahe, sich auf »das Eine, Notwendige«, »das Letzte..., was sich da in seinem Leben, Denken und Gewissen meldet«, zu besinnen, sich zu konzentrieren. Damit stellt es ihm ein Ultimatum. Wenn das Kreuz kommt, wird es auch für einen frommen Faulenzer ernst, »wird des Menschen eigener Geist zurechtgewiesen vom Heiligen Geist«. IV. Die Bewährung des Glaubens Das Kreuz macht das Werk des Glaubens als Heiligung zum Gott wohlgefälligen und wiederum Gott lobenden Werk, das durchs Feuer bewährt wird (l.Petr. 1,7; 4,12). Die Christen, die »in guten Tagen, in ruhiger, ja günstiger Situation« leben, entkommen nicht der besorgten Frage: ob ihre Werke wirklich geprüft, gediegen und haltbar sein mögen? Wer aber in seinen eigenen Kräften reduziert, aller Hilfsmittel beraubt, in die Enge getrieben und an die Wand gedrückt worden ist, wird damit »in ganz neuer Intensität auf Gott geworfen, auf die ihm aus dem Bunde mit ihm zuströmende Stärke angewiesen« und »mit von ihrem Grund aus erneuerter Willigkeit und Energie Hand ans Werk legen«.373 372 373
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KD IV, 2, S. 6 8 0 , 6 8 3 , 6 8 6 . KD IV, 2, S. 687-689. Vgl. II, 1, S. 457; III, 3, S. 405; IV, 3, S. 509. - Was Barth hier unter
Barths Bedenken hat hier nicht »den Charakter eines fragwürdigen Moralisierens«. Alles dient zur relatiologischen Heiligung, nämlich alles ist wesentlich nur darin, daß die Gottesrelation durch die Christusrelation geläutert wird. Das Leiden als solches hat kein Vermögen der Heiligung: »Selbstgesuchtes Leiden hat mit der Teilnahme an der Passion Jesu Christi und also mit des Menschen Heiligung bestimmt nichts zu tun. Das in der Nachfolge Jesu zu tragende Kreuz kommt: ohne des Christen Wünschen und Zutun. Daß es für ihn nicht komme, hat Niemand zu besorgen! Zu besorgen ist dann nur, daß man ihm nicht ausweiche...« Zu besorgen ist also nur, daß man nicht leidet, »wie ein Gottloser, dann ohne den Trost und die Verheißung des Leidens mit Jesu«. 3 7 4 Tolerantia crucis ist ein Prozeß der Heiligung und nicht Selbstzweck. Das letzte Wort ist die zukünftige Krone des Lebens, die uns mit dem Auferstandenen gegeben wird. 3 7 5 Die Originalität der Barthschen Interpretation von Hiob liegt u. E. eben in diesem Gedanken der Läuterung der Relation. I. Das Thema in der Einleitung des Hiob-Buches ist die freie Relation zwischen Jahve und Hiob. Das Verhältnis Gottes zu einem edomitischen »dem dem Christen gegebenen Kreuz« konkret versteht, sind drei Aspekte: a) Die Verfolgung des Christen von Seiten der Welt, b) Die Hinfälligkeit seines kreatürlichen Wesens und Daseins, c) Die Anfechtung des Glaubens in Form nicht nur von intellektuellen, theoretischen, sondern auch von praktischen Zweifeln (IV, 2, S. 689-693). Vor allem sind die konkreten Beispiele für b) hilfreich, um Barths Gedanken zu verstehen, b) ist »zu denken; an Unfall und Gebrechen, Krankheit und Altwerden, an das Verlieren und Entbehren liebster Mitmenschen, an die Brüchtigkeit, vielleicht Widrigkeit wichtigster menschlicher Relationen und Kommunikationen, an die Sorge um das tägliche Brot oder was man dafür hält, an die gewollten oder ungewollten Erniedrigungen und Beleidigungen, die sich Einer von seiner nächsten Umgebung her gefallen lassen muß, an den Mangel an freier Entfaltung, an dem der Andere vielleicht sein Leben lang krankt, an die Minderwertigkeit, in der ein Dritter bestimmten Aufgaben vielleicht tatsächlich gegenüberstehen mag, an die Teilnahme an den allgemeinen geschichtlichen Adversitäten des Saeculums, der sich jeweils keiner ganz entziehen kann - und schließlich schlicht an das auf uns alle wartende Sterben selbst und als solches« (S. 691 f.). Barth vertieft also konkretisierend das Thema von Rom 8,19 ff. 3 7 4 K D IV, 2, S. 693: - Eine tbeologiapassionis, in der man selbst nach dem Leiden sucht, faßt also die Sache am falschen Ende an. Selbst »die größten Katastrophen«, die ganzen in Trümmer gestürzten Städte ermöglichen es nach Barth nicht, den Menschen aus dem Schlaf des Todes der Sünde zu erwecken. Sie können dazu nur dienen, insofern Jesus Christus den Menschen zur Heiligung erweckt. (IV,2, S. 628; vgl. IV, 1, S. 548). In diesem Sinne bleibt die Pädagogik Gottes im Leiden immer nur als sekundäre vor derTheodizee des Kreuzes und der Auferstehung. (Vgl. I, 2, S. 120). 3 7 5 Wir betonen hier, daß die christo-relatiologische Grundlage für die Bedeutung der Läuterung des Leidens denVerdacht der Leidensrechtfertigung aufhebt. Das Leiden mit Christus zielt auf die Auferweckung mit Christus. (Rom 6,4). Weder ergab sich Christus dem Leiden, noch rechtfertigte er es mit der Resignation, sondern er kämpfte geduldig gegen das Leiden und erduldete es kämpfend. Auch für uns ist es nötig, daß wir in erster Linie gegen das Leiden mit Jesus Christus kämpfen. Nur wenn feststeht, daß das Leiden mit Jesus Christus unvermeidlich ist, nehmen wir das Leiden auf, aber mit der Hoffnung auf den Triumph mit Jesus Christus. Die Anfechtung hat ihr Ziel im Trost. Denn die Anfechtung ist ursprünglich und eigentlich der Kreuzestod Jesu, und der Trost die Auferstehung Jesu von den Toten. Wie das Kreuz sein Ziel in der Auferstehung hatte, zielt unsere Anfechtung auf den Trost. (II, 1, S. 286).
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Mann ist allein aus der freien Erwählung und Verfügung von Seiten Gottes in Jahves Wohlgefallen begründet. Auch Hiob verhält sich zu Jahve »umsonst« (chinnam) »uninteressiert«. Er ist weder als Lohnverdiener noch als Lohnempfänger, sondern »gratis« gottesfürchtig. Er liebt Jahve und leistet ihm Gehorsam in ganzer Freiheit und Treue. Dieses Verhältnis ist gar nicht rechnerisch wie »do ut des, credit et debet«, sondern ein Verhältnis, das durch die völlige gegenseitige Freiheit konstituiert wird. 376 II. Das Thema im Hauptteil des Hiob-Buches ist die Bewährung der gegenseitigen Treue in den dynamischen Veränderungen dieser freien Relation. Hiobs eigentliches Leid ist weder der »Verlust seiner Habe und seiner Kinder«, noch die Krankheit, noch das Problem des vergehenden Lebens nach dem Tod. Der primäre Gegenstand aller seiner Klagen ist das furchtbare »Zusammentreffen seines tiefen Wissens darum, daß er es in dem, was ihm widerfahren ist und aufliegt, mit Gott zu tun hat - mit seinem ebenso tiefen Nicht-Wissen darum, inwiefern er es darin mit Gott zu tun hat«. Hiob weiß nämlich einerseits, daß seine Verluste, seine Krankheit, seine sonstigen Adversitäten, das hoffnungslose Vergehen seines Lebens Gottes Wille sind. Er kann aber andererseits nicht wissen, in welchem Sinn das alles als Gottes Willen zu verstehen ist. Diese entsetzliche Reibung von Wissen und NichtWissen um Gott quält Hiob. 377 Es geht an der Sache vorbei, daß man Hiobs Protest gegen Gott im ethischen Sinne verwirft, vielmehr gehört es zur »Richtigkeit« Hiobs, daß er seinen Gott fragt, klagt und bittet. Hier geschieht nicht die Aufhebung des Bundesverhältnisses, sondern »eine einschneidende Veränderung innerhalb dieses Verhältnisses«. Das Bundesverhältnis zwischen Gott und Hiob ist nicht die vorhandene Ontik, sondern die freie Dynamik, die innere Veränderung enthält. »Will sagen: es besteht, indem es geschieht.«378 In diesem freien dynamischen Verhältnis bewährt Gott seine Treue - kierkegaardisch ausgedrückt - durch »eine >Wiederholung< der in gleich freier Treue geschehenen Begründung seines Bundes mit Hiob«, und Hiob bewährt seine Treue auch durch »eine >Wiederholung< seines in gleich freier Treue betätigten Seins in dem von Gott begründeten Bunde«. Das ist hier das Hauptthema. 379 Es geht hier nicht um Hiobs Worte, sondern um die Grundhaltung Hiobs, der allein Gott näherkommt. Es ist also falsch, Hiobs Wort zu unterscheiden und zu zensieren. »Es kann nicht anders sein, als daß Hiob - simul iustus et peccator! - als Knecht Jahves in jedem Wort, und als fehlbarer Mensch auch in keinem seiner Worte Recht hat.« 380 3 7 6 KD IV, 3, S. 446-448. Barth sieht den Urtyp Hiobs im Bild von Jesus Christus. Erst in Jesus Christus verwirklicht sich diese Freiheit der Gott-Mensch-Relation perfekt. Hiob ist nur der Zeuge dieses echten Zeugen Jesus Christus. (IV, 3, S. 439-443). 3 7 7 KD IV, 3,S. 4 6 1 - 4 6 4 . 3 7 8 KD IV, 3, S. 467. 37 » KD IV, 3, S. 467. 3 8 0 KD IV, 3, S. 468.
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III. Das Thema am Scbluß des Hiob-Buches ist die Freiheit Gottes, der Hiob so ernst als freies Wesen behandelt, daß er ihn »aus dem Wetter«, aber mit dem Wort geantwortet und wiederum gefragt hat, und auch die Einladung zur Freiheit, diesen freien Gott zu lieben. Hiob sucht Gott nicht irgendwo außer oder neben, sondern gerade mitten in seiner Unkenntlichkeit. Er will seinen Anwalt in dem Gegner als solchem sehen. Er appeliert nicht an die höhere Instanz, sondern flüchtet sich zu seinem Gott, den er anklagt. Hierin liegt die staunenswerte Glaubensexistenz Hiobs. 381 Mit anderen Worten, Hiob will nicht aus dem Bundesverhältnis entfliehen. Denn Jahve ist keine menschliche Idee, von der der Mensch Abschied nehmen (»Exodus machen«) kann, wie E. Bloch es verstanden hat, sondern der lebendige Bundespartner selbst und der Begründer der Relation, außer der es kein Sinn geben kann. 382 Und wer schließlich von Gott ins Recht eingesetzt worden ist, ist dieser Mensch in der Relation, der freie Mensch, der »beharrlich darauf gelauscht und gewartet hat«, den Urteilsspruch allein von Gott zu hören.« 383 So ist Hiob zum wahrhaftigen Zeugen der freien Gott-MenschRelation »nicht auf Kosten, sondern im Exerzitium jenes Bekenntnisses«, das er am Anfang (Hiob 1,21) gemacht hat, nämlich durch die Läuterung der Relation! IV. Demgegenüber stehen die Freunde Hiobs als lügnerische Zeugen. Die Lüge des Menschen in ihrer Urform ist die fromme Lüge. Ihre Wörter als solche haben zweifellos recht. Alle Aussagen sind eine Sammlung von Theodizee-Sätzen, die sich sicherlich aus dem Alten, aber auch aus dem Neuen Testament stützen lassen. Auch Hiob wendet sich nicht gegen den Inhalt ihrer Sätze. Die Differenz zwischen ihnen und Hiob besteht darin, daß sie und er sich an ganz verschiedenen Orten befinden. Der Ort, an dem seine Freunde - gewiß nicht faktisch, aber in ihrer Einbildung - sich befinden, ist der Standpunkt Gottes: »irgendwo hinter ihren mit mühsam sich beherrschender Sanftmut vorgetragenen Belehrungen ist das in maiorem Dei gloriam zu zelebrierende Autodafe schon vorbereitet!« 384 Wer über Gott Bescheid zu wissen und ihn als Advokat verteidigen zu können meint, der hat, indem er Recht hat, schwerstes Unrecht. Die Freunde predigen ungeschichtliche, zeitlose Wahrheiten. Sie reden zur Sache, nicht aus der Sache selbst. Sie wissen nicht um jene Hiob bewegende Spannung zwischen seinem Wissen und Nicht-Wissen, um den Zusammenstoß, in dem sich der handelnde Gott und der antwortende Mensch Auge in Auge, von Mund zu Ohr eben »hic et nunc« begegnen. In der Theologie der Freunde Hiobs ist schon eine sittliche, stabile Weltordnung aufgrund des abstrakten Gottesbegriffs vorhanden. 381
K D IV, 3, S. 4 8 8 f .
Gollwitzer sieht mit Recht den Grund für die Entstehung der Geduld Hiobs gerade in diesem Bundes Verhältnis. E r kritisiesrt ebenfalls, daß Bloch diese Geduld Hiobs nicht richtig einschätzen kann. H i o b von Karl Barth, Neukirchen 1966, Einleitung). 382
383
K D IV, 3, S. 492 f. Vgl. IV, 1, S. 638 f.
384
K D IV, 3, S. 526.
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Gott ist nur Garant des Systems, in welchem ein jeder seines eigenen Glücks und Unglücks Schmied ist. Ihr Gott ist der unfreie Gott, der durch das Gesetz der Vergeltung, des Lohnes und der Strafe gefangen ist, und ihre Menschen sind ebenfalls die unfreien Menschen, die auf Gott nur um ihres Zweckes willen Rücksicht nehmen. So müssen sie zu Zeugen der Lüge werden, weil sie nicht um die lebendige Gemeinschaft zwischen dem freien Gott und dem freien Menschen wissen. 385 So können wir also die Absicht von Barths Hiob-Interpretation am besten aus dem Gesichtspunkt der Läuterung der Relation verstehen. 4.4.4 Die Tbeodizee und der
Eudämonismus
Das Leid zerstört das Glück. Es scheint, als ob das ein eisernes Prinzip wäre, das unser alltägliches Leben beherrscht. Das Leid wäre das Antonym des Glücks. Von daher tendiert dieTheodizee leicht dazu, daß sie den Begriff des Glücks aufs äußerste verfälscht oder auf ihn überhaupt verzichtet. Es ist also kein Wunder, daß wir den Grundzug der »Aufhebung« des traditionellen Eudämonismus im deutschen Idealismus finden. DieseTendenz aber ist schon bei Leibniz und Kant zu erkennen. Leibniz z . B . versuchte, sozusagen den kosmischen Eudämonismus in der stoischen Lehre vom Guten des Ganzen wieder aufzustellen, indem er den individuellen Eudämonismus ablehnte. Freilich war er der Vertreter der Monadologie in der Neuzeit. Es kann also nicht sein, daß er das Individuelle vernachlässigte. Aber die Leibnizsche Monadologie kommt nur im harmonischen System der Ganzheit zustande. Seine Integrität von Ganzem und Einzelnem ist also im Vorzug des Guten des Ganzen konzipiert worden. Gott will nämlich das Gute jedes einzelnen als solches nach dem zuvorkommenden Willen, aber das Beste des Ganzen nach dem nachfolgenden Willen. Darin liegt der Grund für die Zulassung des Bösen, wie wir festgestellt haben. Auch Kant, der die Widersprüche der Welt von der praktischen Zweckmäßigkeit her erklärte, lehnte es streng ab, diesen Begriff der Zweckmäßigkeit einfach mit dem Eudämonismus des Menschen zu identifizieren. Die wahrhafte Teleologie liegt darin, das höchst Gute als unbedingten endgültigen Zweck zu erreichen. Sie ist Kant zufolge die Einigung von allgemeinstem Glück und der legalsten Moral, die durch die Freiheit als intelligibler Wert zustande gebracht wird, ohne durch natürliches Begehren nach dem Glück des Individuums beherrscht zu werden. 3 8 5 K D IV, 3, S. 530. D e r Prediger, der von Gott reden soll, wenn und solange Gott schweigt, muß jedoch die Situation der Freunde Hiobs übernehmen. Dabei bedarf es aber nicht einer Rekonstruktion der Theologie der Freunde, sondern der Aufstellung einer theologischen H e r m e neutik, die in demselben Horizont wie dem Hiobs doch das Kerygma verkündigen und auf die Wirklichkeit Gottes verweisen kann. Zu diesem Thema, vgl. L. Steiger, Die Wirklichkeit Gottes in unserer Verkündigung, in: Auf dem Wege zu schriftgemäßer Verkündigung. Hermann Diem zum 65. Geburtstag, hrsg. v. M . Honecker und L . Steiger, München 1965, S. 1 4 3 - 1 7 7 .
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Hegel trieb diese Tendenz bis zur letzten Konsequenz voran. Die Sittlichkeit als Familie, bürgerliche Gesellschaft und Staat hat Hegel zufolge den absoluten Vorzug vor der individuellen Moral. Das Problem vom Glück und Unglück des einzelnen ist nur als Stand der Partikularität dialektisch aufzuheben. Die »List der Vernunft« herrscht über die Teleologie der Geschichte. Jedes einzelne als Instrument dient dieser Idee als absolutem Geist. Wir haben schon berücksichtigt, wie scharf Kierkegaard die Fraglichkeit der totalitären Geschichtsphilosophie Hegels ans Licht gebracht hat. Kierkegaards Kritik aber hatte ihren Vorläufer in der späteren Schellingschen Lehre von der Priorität der existentia vor der essentia. Es ist gewiß eine interessante Ironie, daß dieTheodizee des Deutschen Idealismus, der den Eudämonismus aufzuheben versuchte, durch diese Schellingsche Kritik selber dazu beigetragen hat, den Vorgang derTheodizee herunterzulassen. Führt nun aber die Theodizee als solche notwendigerweise zum Verzicht auf den Eudämonismus überhaupt? Wir sollen nicht voreilig diese Konsequenz ziehen. Es bedarf noch weiterer Überlegungen. Es läßt sich zwar sagen, daß die Idee des Glücks aufs stärkste von dem subjektiven Urteil abhängt. Dieselbe Sache kann je nach Persönlichkeit 3 8 6 und Umständen 3 8 7 für das Gegenteil gehalten werden. Darum pflegt man die Aufgabe des Eudämonismus darin zu suchen, wie man die Glücksidee von den subjektiven, willkürlichen Urteilen des einzelnen oder Gruppen befreien und den wahrhaften Begriff des Glücks, in dem die subjektiven Bedingungen mit der objektiven übereinstimmen, finden kann. In dieser Hinsicht enthält der Eudämonismus nicht nur eine theoretische, sondern auch eine praktische Reflexion. Die theoretische Überlegung über das, was das Glück eigentlich ist, hat zugleich die praktische Aufgabe in sich: zu zeigen, wie man das Glück wirklich erreichen kann. Der Begriff des Glücks ist also nicht bloß aus dem subjektiven »Gefühlswert« (N. Hartmann) 3 8 8 begründet, - nicht nur darum, weil das Gefühl immer äußerst individuell-kompliziert zum Ausdruck gebracht wird, sondern deswegen, weil der Begriff des Glücks als solcher viel umfassender ist als die psychischen Begriffe: Lust, Genuß, Freude, Zufriedenheit usw. Der 386 Arbeit im Freien ζ. B. bringt dem einen ein Glücksgefühl, während sie einem anderen Grund für Unzufriedenheit ist. Das Sitzen tagsüber vor dem Tisch kann umgekehrt den ersteren quälen. 3 8 7 Die junge Mutter, die unter der ununterbrochenen Beanspruchung durch ihre Kinder gelitten hat, empfindet später dadurch Einsamkeit und psychisches Leid, daß gerade diese Beanspruchung geringer wird oder gar wegfällt. (Vgl. J. Schlüter, Der Mensch - seines Glückes Schied?, in: Glück und Leid. Schlüsselbegriffe menschlichen Lebens, hrsg. v. R.Sprenger und H . Kraft, Paderborn 1983, S. 166). U n d der Mensch, der mit dem kleinen Glück zufrieden war, wird manchmal durch den Vergleich mit dem scheinbar größeren Glück des anderen eifersüchtig und beklagt dann sein Mißgeschick, wie es alltäglich vorkommt. Außerdem muß man feststellen, daß nicht nur die einzelne Subjektivität, sondern auch die kollektive InterSubjektivität bestimmter sozialer Gruppen, der Völker und des Zeitalters diese Tendenz der subjektiven Gestaltung der Glücksidee befördern. 388
N . Hartmann, Ethik, Berlin 1962, S. 93 f., vgl. Schlüter, aaO., S. 93 f.
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alltägliche Ausdruck: »Das Glück-haben« als Antonym des Pechhabens hat den Grundzug: etwas, das einem von außen zustößt, das man hat oder nicht hat, das uns zufällt (lat. fortuna). Im Begriff des Glücks auf diesem Niveau handelt es sich um »eine Habens-Qualität«, die relativ leicht den psychischen Gefühlsbegriffen entspricht. Aber der Mensch kann glücklich sein, auch wenn er nicht vom von außen zustoßenden Haben abhängt (lat. beatitudo, eudaimonia, felicitas). Hier handelt es sich um »eine Seins-Qualität«. 3 8 9 Auch das Unglück bedeutet hier nicht ein Nicht-haben oder eine Entbehrlichkeit von Glück. Wie kommt nun diese Seins-Qualität, die von der Habens-Qualität unabhängig ist, zustande? Die Bedingung für die Entstehung des Glücks ist, formell betrachtet, als die Erfüllung zu bezeichnen. Man fühlt das Glück, wenn ein Wunsch, ein Begehren, ein Sinn oder ein Zweck erfüllt wird. Wenn dieser zu erfüllende Inhalt die Habens-Qualität wäre, so würde das Glück subjektiv und relativ. Aber auch wenn der Inhalt die SeinsQualität wäre - falls das, was dieses Sein bestimmt, innerweltlich wäre inwiefern konnte dieses erfüllte Glück sicherer als der Fall der HabensQualität sein? Die Sicherheit des Eudämonismus als Selbstverwirklichung des In-der-Welt-Seins wäre nur als ein utopischer Optimismus zu garantieren und würde sogleich mit dem Auftauchen des Leids, das die Selbstverwirklichung verwehrt, zerstört. Hier stoßen wir auf das Bedürfnis, den theologischen Begriff des Glücks genauer zu bedenken. Der Kern des theologischen Begriffs des Glücks ist das Heil. Nach Thomas von Aquin bedeutet das irdische Glück des Menschen eine Teilhabe an der übernatürlichen und jenseitigen Seligkeit. 390 Dieser Hinweis behält noch seine Bedeutsamkeit, auch wenn wir ihn etwas korrigieren. Das Glück ist im eigentlichen Sinne des Wortes nichts anderes als die Glück-Seligkeit. Das gewinnt seinen Inhalt erst, wenn man sich den Grundbegriff des von oben gegebenen Heils vor Augen hält. Der Charakter des von oben gegebenen Heils reinigt den Begriff des Glücks von den subjektiven, willkürlichen Elementen. Hier müssen wir drei falsche Ansichten ablehnen. I. Die platonische Ansicht, die einseitig das Heil nach oben, ins Jenseits verlegt und das Glück in dieses transzendente Heil absorbiert, ist abzulehnen. Das biblische, eschatologische Heil, das durch die Verkündigung Jesu verdeutlicht wurde, stimmt nicht einfach mit der platonischen Intention aufs Jenseits überein. Vielmehr bildet die Freude, die hic et nunc am Versprechen des Heils teilnimmt, den Inhalt des Glücks für die Christen. II. Die neuzeitliche Ansicht, die umgekehrt einseitig den diesseitigen Wert des Lebens absolut macht und damit nicht nur das Glück, sondern auch das Heil als solches säkularisiert, ist abzulehnen. 3 8 9 Zu dieser Unterscheidung vgl. Schlüter, aaO., S. 160. Auch L. Kerstiens unterscheidet zwischen dem Glück des Zufalls als fortuna und dem Glück des personalen Seins als beatitudo oder felicitas. (Glück haben und glücklich sein, in: Glück und Leid, S. 99). 390 Vgl. W. Kluxen, Glück und Glücksteilhabe, in: Die Frage nach dem Glück, hrsg. v. G . Bien, Stuttgart/Bad Cannstatt 1978, S. 77.
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III. Der Thomassche Begriff der Teilhabe zeigt einen Weg, die falsche Alternative zwischen dem jenseitigen Heil und dem diesseitigen Glück zu vermeiden. Diese Teilhabe ist aber bei Thomas noch durch die aristotelische Seinsteilhabe geprägt. Aber die Glückseligkeit als Heil ist u. E. nicht im Sinne einer »participatia entis« aufgrund der analogiae entis zu interpretieren. Nun, wie können wir dann die thomistische Ansicht noch anders geltend machen? - Durch den Begriff von participatia relationis! Daß man sich durch Christus auf Gott bezieht, bildet das wahrhafte Glück. Das ist die Teilnahme am relationalen Leben des trinitarischen Gottes. Diese Teilnahme an der göttlichen Gemeinschaft ist eben »unsere vollkommene Freude« (1 .Joh 1,4). Die participatia relationis befreit uns von der Abhängigkeit von der innerweltlichen Habens- und Seins-Qualität und führt zum wahrhaften, beständigen Glück statt zum Glück von kurzer Dauer. Denn die participatia relationis ist nicht bloß unsere Seinsweise, sondern eröffnet den Grund des Seins als solchen und erfüllt diesen Grund. Dieser Grund ist eben die christologische Gottesrelation, die aus dem Bund begründet ist. Deswegen bedeutet der Grund des (Bundes-)Seins nicht den unpersönlichen Grund des Seins, wie Schelling und später P. Tillich es entfaltet haben, sondern die ur-personale Relation als Jesus Christus. Es geht hier also nicht um die Erkenntnis der Macht, sondern um die der Liebe und um die Erfüllung der Gemeinschaft als Liebe. Außerdem schließt diese participatia relationis nicht das Leiden aus. Da Jesus Christus, der selber für unsere Relation gelitten hat, das Urbild der Relation ist, schafft diese Teilnahme unserem Leiden den relatiologischen Sinn. Eben die Relation ist das Geheimnis des Glücks. Wer durch das Leiden zur Absolutheit der Relation erwacht, diese Relation läutern läßt und schließlich die participatia relationis erreicht, ist derjenige, der von Gott seliggepriesen wird. Wir halten uns jetzt gerade die Seligpreisungen Jesu (Mt 5,1-12) vor Augen. Die evangelischen »Makarismen« sind u.E. aus dem Gesichtspunkt der participatio relationis zu interpretieren. Und Barths Exegese der Bergpredigt zeigt u.E. dieselbe Logik. Der entscheidende Punkt des Wortes Jesu »μακάριος« besteht nicht in der Situation der selig gesprochenen Menschen als solchen, sondern in ihrer Relationalität zu dem, der das Wort spricht und damit das Reich Gottes bringt. Die evangelischen Seligpreisungen sind keine analytischen Urteile von unten über ihre Situationen, sondern »synthetische Sätze« von oben. Deswegen beziehen sie »sich ja auch - anders als die Makarismen der griechischen Welt - nicht auf den Besitz und Genuß äußerer oder innerer weltlicher Güter, auch nicht auf menschliche Begabungen, auch nicht auf die Übung menschlicher Tugenden. Sie sind in menschlichem Wort die Verkündigung eines Gottesurteils«391 über die neue Wendung ihres Seins in der Relation zu Jesus Christus. Die Makarismen für die handelnden Menschen sind ebenfalls nicht die Preisungen der Tugendhaftigkeit und 391
KD IV, 2, S. 209.
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Verdienstlichkeit ihres Tuns. Alles, was sie mit ihrem Glauben tun, »das geschieht ja nicht beziehungslos, sondern in einem ganz bestimmten Zusammenhang: sie sind direkt oder indirekt von Jesus dazu aufgerufen und ermächtigt, verordnet und angeleitet«.392 Die Makarismen für die Leidtragenden sind weder die Anerkennung ihres Elends noch der betrügerische Trost: alles sei nur scheinbares Elend, das doch verborgenen immanenten Wert hat. Sie sind die Preisungen dessen, daß das sicherste Licht des von Jesus herbeigeführten Reiches Gottes durch die Relation zu Jesus eben mitten in der Drangsal auf die Existenz der Elenden fällt. In ihrem Elend kommt die »Brüchigkeit« des Kosmos zum Vorschein, wird der mit dem Reich Gottes konfrontierte, durch Jesus zu erneuernde Kosmos »durchsichtig, transparent«. »In der Glorie der reichen, der lachenden, der hohen, der gerechten, der in diesem Kosmos >glücklichen< Menschen bleibt seine Todeswunde zugedeckt, wird er nicht transparent.«393 Darum bleibt auch das wesentliche Bedürfnis des Heils zugedeckt. Aber in der Existenz der Elenden werden die Wunden der alten Welt, die relatiologische Zugehörigkeit des sich auf Jesus zu verlassenden Menschen und darüber hinaus die neue Tatsache des Ansatzes des Reichs Gottes am deutlichsten transparent.394 Auch der Makarismus für die um Gerechtigkeit willen Verfolgten drückt die Glückseligkeit in der Relationalität zu Jesus am einfachsten aus. Alle diese Seligpreisungen sind also keine bloße Verheißung, deren Erfüllung nur in der Zukunft zu erwarten ist. Alles »wird als Verheißung - und in der Verheißung verborgen als schon gegenwärtige Erfüllung - die realste, die entscheidende Bestimmung ihrer Existenz«395 in der Relation zu Jesus Christus. Ihre Existenz ist als die eschatologische Existenz, die durch das mit der Ankunft Jesu anbrechende Reich Gottes bestimmt ist, das selig-glückliche Sein, das besonders in der geläuterten und verdichteten Relation zu Gott leben darf. Die »Freude« des Lebens gewinnt nun - entfernt von der »Lust« - die echte Tiefe, trotz des Leids »allezeit fröhlich« zu sein (l.Thess 5,16; Phil 4,4). Es handelt sich hier weder um die stoische Apathie noch um die ewige Kontemplation aufgrund der thomistischen Seinsteilhabe, sondern um die Bewegung des Lebens in der Geschichte mit Jesus Christus als Heiligung. Wenn unser eigenes, kleines Leben »als Schöpfung Gottes auf Jesus Christus angelegt war« und wir also im Schatten dessen, der das Nichtige in sich aufgenommen hat, leben dürfen, wie können wir - so fragt sich Barth - wissen, »ob wir selbst ihn (sc. den Schöpfer) in Wahrheit in unseren bösen Tagen nicht aufrichtiger loben KD IV, 2, S. 211. 3 « K D IV, 2, S. 212. 3 9 4 KD IV, 2, S. 212 ff. Vgl. »Da sind Menschen, die dem Tun Jesu als schlechthin bedürftige, arme, leidende, elende Menschen entgegengehen. Nur daß sie eben an ihn glauben und in diesem Glauben an ihn die Freiheit haben, ihm, seinem Tun, so entgegenzusehen, als wenn es statt noch Zukunft schon Gegenwart, schon an ihnen vollbracht wäre: die Freiheit, sein Geschehen gewissermaßen vorwegzunehmen« (IV 2, S. 269, vgl. 261). 395 K D IV, 2, S. 213. 392
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dürfen als in unseren guten, in unserem Kummer nicht mächtiger als in unserem Vergnügen, in unseren Rückschlägen nicht aufrichtiger als in unseren Fortschritten?« 396 Wenn gerade die Relation das Ziel der Schöpfung ist, kann es ein Lob Gottes auch aus der tiefsten Tiefe, auch aus der dunkelsten Nacht, auch aus dem größten Unglück heraus geben. Wir sind zu solchem Lob in der Tiefe des Lebens eingeladen. Der theologische Begriff des Glücks als relatiologischer Makarismus schließt also nicht die Intention auf das Individuum aus, sondern gewinnt vielmehr den echten Wert des einzelnen Glücks zurück. Die Relation ist zwar ein Bundesbegriff. Insofern zielt sie primär auf das Volk Gottes (Israel und Kirche). Zu dieser kollektiven, umfassenden Bundesrelation ruft aber Jesus Christus jeden einzelnen mit seinem Namen. Gottes Volk ist kein abstrakter Begriff im allgemeinen, sondern das konkret Kollektive, das aus den einzelnen Relationen zu Jesus Christus konstituiert ist. Die Individualität wird nicht unterdrückt, sondern vielmehr auf den viel umfassenderen Horizont der Relationen lebendig gemacht. Auch Barth legt großen Wert auf den Begriff der Individualität. Die Individualität ist das neue Selbst, das von Gott als Du angeredet, bejaht und in der Relation zu jenem Du wiedergewonnen wird.397 Charakter ist die richtige Rolle, die Gott jemandem zugeteilt hat. Es gibt keine eudämonistische Diskriminierung, nämlich keine guten und weniger guten Rollen vor Gott. Es gibt nur das Mißlingen, die ihm faktisch zugewiesene Rolle zu spielen. »Man vernarre sich nicht in die Rollen, die man Andere spielen sieht... Man spiele diese und nur diese! Ein echter Chorist ist besser als ein falscher Heldentenor.« Niemand soll mehr aus sich machen, als er ist. Nicht alle menschlichen Möglichkeiten sind jedermanns Möglichkeiten. Niemand soll aber auch weniger aus sich machen, als er ist. Scheinbare Unmöglichkeiten könnten gerade seine echtesten Möglichkeiten sein. Charakter ist nicht das statische »Naturell«, sondern das Werden, das offen in der Geschichte der Gottesrelation auf die Zukunft hin ist, die Fahrt des Wachstums »nach immer neuen Ufern«. 398 Selbst das Talent des Individuums ist nach Barth ein Begriff, den man theologisch richtig bewerten muß. Der Mensch ist, indem er Gottes Gebot hört, aufgerufen, den Mächten der Außenwelt als Subjekt und also in der ihm gegebenen Macht, im Maß seines Vermögens und Könnens zu begegnen. Diese Macht ist aber von Gott gegebene Macht. Wenn der Mensch eine Wahnvorstellung hat, daß er sozusagen die Goliathsmächte der Chaoswelt, die nicht von Gott her kommen, besitzen und benutzen kann, wird er ihr Sklave. »Er würde dann nämlich mit gewaltiger Wissenschaft, Kunst und Technik lügen, sein Leben, der Art jener Mächte entsprechend, zu einer großen triumphalen Lüge gestalten können.« Faktisch könnte er jedoch »nur ein Störer und Zerstörer, zuerst und vor allem seines eigenen Lebens, 396 397 398
KD III, 3, S. 336. KD III, 4, S. 441 ff. KD III, 4, S. 443 f.
209
sein«. 399 Nur in seiner konkreten Gottesrelation wirkt diese Macht als die Macht der Freiheit, gegen Gott Gehorsam zu leisten und ihm zu dienen. Es geht also nicht um die »Macht an sich« (Fr. Nietzsche), sondern um die Freiheit des Dienstes. Deswegen ist der Dienst in derjenigen Situation, in der wir verzichten, abwarten, schweigen, leiden und entbehren müssen, auch das Können. »Denn die Macht Gottes selbst... ist ja die Macht Jesu Christi und also die Macht des Lammes ebenso wie die Macht des Löwen, die Macht seines Kreuzes wie die seiner Auferstehung, die Macht der Erniedrigung wie die der Erhöhung, die Macht des Sterbens wie die des Lebens.« Dementsprechend ist die von Gott kommende Macht »das Vermögen, hoch und niedrig, reich und arm, weise und töricht zu sein - das Vermögen, Erfolg und Mißerfolg zu haben, mit dem Strom oder gegen ihn zu gehen, in der Reihe zu stehen oder einsam zu sein«. »Gott verlangt Dienst, der im Licht geleistet werden soll, und anderen Dienst, der nur im Schatten geleistet werden kann.« Warum? Weil gerade die Relation die Macht ist und alles zur Läuterung und Verdichtung der Relation dienen soll. Richtig verstanden, der Wille zur Macht wird »ein beweglicher, ein wendiger Wille« sein, auch in der Richtung, »wo die Kraft nach 2.Kor 12,9 in der Schwachheit zur Vollendung kommt«. 400 Es gibt allerdings Unterschiede des Maßes, die Art der angeborenen Tüchtigkeit. Auch hier dürfen wir aber nicht ein voreiliges Urteil fällen. Es ist kein Ansehen der Person vor Gott (Rom 2,11). Was wissen wir denn um vornehmere und geringere Tugend? Die wirkliche Tüchtigkeit ist das, wozu Gott den Menschen in der Relation zu ihm brauchbar findet und faktisch braucht. Eben hier kommt es vor, daß viele Letzte in Wahrheit Erste, viele Erste in Wahrheit Letzte werden.401 Die persönliche Tüchtigkeit ist also, ebenso wie der Charakter, als terminus a quo dessen, »was der Mensch von Gott her und zu Gott hin ist und werden soll«, m.a.W. als Ausgangssituation seiner Gottesrelation zu verstehen. Darum sollen wir nicht fragen, warum nun gerade das unsere Ausgangssituation ist. »Er vergleiche sie nicht mit der Anderer! Er beneide niemand (und er verachte auch niemand!).« Vielmehr kommt es darauf an, daß meine eigene Ausgangssituation, um etwas, was die anderen nicht tun können, anzufangen, von Gott »gut genug« für mich gesetzt worden ist 402 Was zu überprüfen ist, ist die Rückfrage, ob wir das Ganze der uns verliehenen Tüchtigkeit für Gott benutzen. Zu fragen ist, ob das, was wir für unseren Gehorsam halten, nicht eine willkürliche »Abschlagszahlung«, eine »Verschleierung und Unterschlagung« gewesen ist. Die Grenze unserer Tüchtigkeit ist nur von Gott bestimmt. Wir müssen bereit sein, uns über das, was wir für die Grenze der Tüchtigkeit halten, hinaus oder auch dahinter zurückdrängen zu lassen, indem wir unsere einge399 400 401 402
210
KD KD KD KD
III, III, III, III,
4, 4, 4, 4,
S. 445-448. S. 452 f. S. 718. S. 719.
bildete Behauptung und verwöhnte Selbstverteidigung über ein vermeintliches posse oder non posse wegwerfen. 4 0 3 Wie verhält es sich nun mit dem Unterschiede der geschichtlichen Standorte, in die wir nolens-volens gesetzt worden sind ? Wir sind in der bestimmten geschichtlichen Umgebung: Familie, Gesellschaft, Staat und Zeitalter, geboren, ohne nach unseren Wünschen gefragt zu werden. Einer muß ein miserables Milieu hinnehmen, während ein anderer günstige Bedingungen des Lebens genießen darf. Ist das nicht auch eine Diskriminierung der Gnade? Barth aber denkt hier folgendermaßen: dieser geschichtliche Standort bedeutet die äußere Beschränkung des »Berufes« von Gott, während jene persönliche Tüchtigkeit die innere Beschränkung des Berufes bedeutet. 404 Dieses geschichtliche Milieu ist aber nicht im Sinne eines deterministischen, üblen Schicksalsglaubens zu verstehen. Das Milieu ist zwar der Boden, auf dem der Mensch steht, und die Luft, in der er atmet, aber nicht er selbst, es macht ihn auch nicht zum Menschen. Der geschichtliche Standort ist nicht seine »Bestimmung«, sondern seine »Bereitstellung« für seine Berufung und sein Werden. Sein Standort ist seine Voraussetzung, sein Rahmen, sein Ausgangspunkt, - also seine »Wiege«, aber nicht sein »Grab«. 4 0 5 Gott will die Geschichte der Relation mit diesem Menschen eben in diesem konkreten Standort anfangen. Darum bedeutet das nicht, daß er sich mit seinem Standort so gut wie möglich abzufinden hätte. Vielmehr sollen wir uns im Gehorsam gegen Gott mit dem üblen Milieu, das aus der menschlichen Sünde und Verkehrtheit herkommt, kämpfen, ohne irgendwohin zu fliehen. Wir haben uns also nicht nur immer positiv, sondern eventuell »kritisch mit ihm auseinanderzusetzen«. 4 0 6 Schließlich ziehen wir den Begriff der Ehre, die eine große Rolle in der populären Glückslehre spielt, in Betracht. Barth unterscheidet zunächst die dem Menschen von Gott zukommende Ehre von der menschlichen Ehre. »Die menschlichen Ehrbegriffe gehören der Geschichte an, in ihr kommen und mit ihr gehen sie.« Die weltliche Ehre: Erfolg, Aufstieg, Ruhm, Gedeihen usw., kann nicht ohne weiteres zum Maßstab der göttlichen Ehre werden 4 0 7 Im göttlichen Ehrbegriff handelt es sich nicht um das Schema von Erwartung und Erfüllung, das man sich vor Augen hält, sondern um »die Freudigkeit, sich, da Gott es denn so haben will, auf das Abenteuer eines ganz neuen... Selbstverständnisses einzulassen«. 4 0 8 Zu dieser göttlichen Ehre gehört der Fall, einzusehen, daß der Mensch sich unterschätzt, wie in den K D III, 4, S. 719 ff. K D III, 4, S. 710f. 4 0 5 K D III, 4, S. 714. 4 0 6 K D III, 4, S. 716. 4 0 7 K D III, 4, S. 770. Natürlich bedeutet das aber nicht, daß die göttliche Ehre »notwendig« der menschlichen Ehre widersprechen müßte. Es gibt ebensowenig ein Gesetz, laut dessen die beiden sich widersprechen müssen, wie ein Gesetz, laut dessen die beiden sich entsprechen müssen (773). 4 0 8 K D III, 4, S. 773 f. 403 404
211
Berufungen der Propheten und Jünger. Aber dazu gehört auch der umgekehrte Fall, einzusehen, daß er seine eigene Überschätzung korrigieren muß. Die Theodizee-Frage von Hiob 21, daß es den Gottlosen gut geht, daß sie Ansehen genießen, daß »die Dummköpfe und Lumpen breitbeinig mitten auf der Bühne stehen und die großen Herren spielen dürfen«, während den Gerechten keine richtigen Ehren zukommen, - die gehört auch zu dieser Ehre in der Gestalt der Erniedrigung. 4 0 9 Dazu sagt Barth, daß die einmal Erhöhten ein anderes Mal oder in anderer Hinsicht umso gründlicher erniedrigt werden können. Es könne der Sinn ihrer Erhöhung gewesen sein, sie gerade für die Erniedrigung mutig und gefaßt zu machen, ihnen die Güte Gottes umso tiefer einzuprägen. Und es könne freilich umgekehrt der Sinn der Erniedrigung sein, die Erniedrigten auf eine ihnen bevorstehende Erhöhung vorzubereiten, sie gerade durch die Minderung des weltlichen Ehrbegriffs »geschmeidig« zu machen. Eben die Ehre in ihrer erniedrigten Gestalt stellt den Menschen auf die Probe, »ob sie nämlich wirklich seine Freudigkeit zu Gott ist und nun nicht doch nur seine heimliche Freudigkeit zu sich selbst,« ob der Mensch seine Ehre »wirklich in Gottes Hände legen und also bei ihm allein suchen« will. 4 1 0 Es gibt also die Ehre vor Gott in der Gestalt der vermeintlichen Entehrung des Menschen. Denn die Gottesrelation ist die wahrhafte Ehre als solche, und die erniedrigte Gestalt dient zur Läuterung dieser Relation. 4 1 1 Somit würde verdeutlicht, wie weit entfernt Barth von der totalitären Tendenz in der ganzheitlichen Harmonie des Kosmos (Leibniz), im allgemeinen höchsten Guten (Kant) und in der universal-geschichtlichen List der Vernunft (Hegel) ist. Das Individuum wird auf keinen Fall in seinem Wert und in seiner Würde im ganzen geschädigt. Warum kann Barth das behaupten? Weil dieses Ganze nicht bloß als ganzer Kosmos, ganze Menschheit oder ganze Weltgeschichte, sondern zumal als die Bundesgemeinschaft, deren Mittelpunkt »der Herr des Gnadenbundes« 4 1 2 ist, existiert. Was (wer) jedes einzelne in diese Ganzheit als Bundesgemeinschaft zuordnet, ist weder eine mechanische (Leibniz) noch moralische (Kant) noch dialektische (Hegel) Beziehung vom Ganzen zum Einzelnen, sondern der Herr des Gnadenbundes als solcher. Die direkte vertikale Beziehung dieses Herrn zur einzelnen Kreatur begründet die horizontalen Beziehungen unter den Kreaturen und K D III, 4, S. 775 f. K D III, 4, S. 777. 4 1 1 Zu diesem Thema können wir aus einem anderen Aspekt heraus - über Barths Ansicht hinaus - so formulieren: die Auswahl des Toren, der in großer Würde sitzt (Koh 10,6), existiert, um symbolisch-repräsentativ zu zeigen, daß auch unsere Existenz selber die zwar in anderem Maße, aber gleich qualitative Auswahl des Unfähigen, des Unverdienten, und also ein Gottrelationales Sein allein aufgrund der Gnade von oben ist. Der Wohlstand des Ungerechten (Ps 73,3) existiert, um symbolisch-repräsentativ zu zeigen, daß auch unsere Existenz das zwar in anderem Maße, aber gleich qualitative Leben des Ungerechten, des Unverdienten, das von Gott erlöst worden ist, und also ein Gott-relationales Sein allein aufgrund der Gnade von oben ist. 409
« 2 K D III, 3, S. 216. Vgl. S. 200f., 2 0 2 f „ 207f.
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erschafft ihre »Zusammenordnung«. 413 Wenn diese vertikale Beziehung aus den Augen verloren wird, tritt jene »abstrakte Vorstellung« des Ganzen: Universum, Welt, Geschichte, Prinzip usw., sofort ein. Wo diese abstrakte Vorstellung in Kraft tritt, da ist das einzelne Geschöpf »nur ein Teil oder Organ oder Funktion jenes Ganzen, nur integrierendes Moment, nur Durchgangspunkt in der Existenz und Geschichte jenes Kollektivs«. 414 Das wäre aber offenbar die Unterdrückung des einzelnen Geschöpfs. Niemand kann behaupten: »Im Verhältnis zum Universum niedrig zu sein, das ist die Herrlichkeit des Geschöpfes.« Keine Vorstellung eines geschöpflichen Universums kann an die Stelle Gottes selbst treten. Denn das Universum selber ist - auch wenn es als Inbegriff und Summe des Geschöpfes übermächtig wäre - doch nur Geschöpf, das den Anspruch, die einzelnen Partikel zu regieren und ihnen heilsam zu sein, nicht haben kann. In diesem Sinne kritisiert Barth die altprotestantische Lehre von der gubernatio: das bonum commune sei wichtiger als das bonum singulare.415 Gottes Regieren besteht zuerst und vor allem darin, daß Gott »zu jedem von ihnen (sc. den Geschöpfen), ihrer Verhältnisse untereinander unbeschadet, in direkter, unmittelbarer Begegnung und Beziehung handelt«. Im Ganzen, das von Gott regiert wird, hat also jedes einzelne seine eigene volle Ehre, Aufgaben und Ziele. »In diesem Ganzen ist also nichts, was an seinem Ort, zu seiner Zeit, in seiner Funktion bloßes Vehikel, Baumaterial oder Kanonenfutter zur Vollstrekkung irgend eines Fortschrittes, zur Herbeiführung irgend eines bonum commune... wäre.« 416 Gott ist eben als König Israels und Herr der Kirche der Herrscher der ganzen Welt. Bei der Zuordnung der einzelnen schließlich auf die Bundesgemeinschaft hin wendet Gott sich doch dem einen verlorenen Schaf zu und liebt jedes einzelne in seiner Besonderheit und Einzelheit. Das Bild des von diesem Herrn des Gnadenbundes regierten Kosmos ist dann nicht mehr »der endlose Wellenschlag eines uferlosen... Meeres«, nicht mehr »das im Grunde uninteressante, ja langweilige Universum prinzipiell gleichgestellter und gleichartiger Monaden», sondern »das eines Naturgebildes sei es einer wachsenden Pflanze oder eines anderen organischen Lebewesens - « , in dem kein Glied an seinem Ort und in seiner Funktion zu den anderen hin und von ihnen her fehlen kann, wie im l.Kor 12,14-26 geschildert. 417 Gerade in der bundesrelatiologischen Herrschaft Jesu Christi ist also die Integration von Ganzem und Einzelnem und damit schließlich auch die von Theodizee und Eudämonismus zu finden.
413 414 415 416 417
KD III, 3, S. 191; 193 ff. KD III, 3, S. 194. Synopsis punorisTheologiae, Leiden (1581) 1624, Disp. ll,18f. Vgl. KD III, 3, S. 195. KD III, 3, S. 196f. KD III, 4, S. 216,218.
213
4.5 Die Wohin-Frage bei К. Barth 4.5.1 Theodizee
und
Rechtfertigung
Die neuzeitliche Theodizee leidet u.E. darunter, daß sie die Beziehung zur Rechtfertigungslehre verloren hat. Ihr Abschied von der Rechtfertigungslehre wirft den verschobenen Schatten eines juristischen Grundzugs auf die neuzeitliche Theodizee. 418 Unsere Theodizee aber muß durch die enge Pforte der Rechtfertigungslehre gehen, damit das Theodizee-Thema als Doxologie theologisch legitimiert wird. Andererseits aber ist es nicht richtig, daß die Theologie, die sich seit der Reformation ausschließlich auf die Rechtfertigungslehre konzentrierte, das Theodizee-Problem nicht als ihre eigene Aufgabe ernst genommen hat und an ihm vorüberzugehen pflegt. Es ist aber eine wichtige theolgoische Aufgabe, den inneren Zusammenhang zwischen Rechtfertigung und Theodizee richtig zu betrachten. Unsere These lautet hier also: Die Theodizee hat die Implikation (den Inhalt) der Rechtfertigung, und die Rechtfertigung hat die Extension (den Umfang) der Theodizee. Erst damit können wir eine Grundlage für die Theodizee des Kreuzes und der Auferstehung gewinnen.
4.5.1.1 Die Implikation
der Rechtfertigung
in der
Theodizee
Die Sünde ist eine Gestalt des Nichtigen, das sich der Schöpfung Gottes widersetzt. Sie ist nicht bloß ein religionspsychologisches Phänomen in einem Selbstbewußtsein, sondern die wirkliche Macht, die die Gottes-, Weltund Selbstrelation, also die Geschöpfwelt als solche objektiv-tatsächlich verletzt, verkehrt und zerstört. Gegenüber solcher - die Geschöpfwelt zerstörenden - Macht der Sünde muß Gott das Recht des Schöpfers durchsetzen. Da die Sünde der direkte Gegensatz zu Gott ist, während die anderen Exponenten des Nichtigen: Übel und Tod, die indirekten Gegensätze sind, ist die Sünde der schlechteste Widerspruch gegen den Schöpfer, »das Attentat auf sein Recht, auf seine Schöpfung«. 419 Das Recht des Schöpfers durchbohrt genau diesen Kern des Nichtigen. Das muß die Sünde richten und vernichten. Das Recht der Gnade Gottes ist die Festlegung des Rechtes des Schöpfers gegenüber dem Geschöpf: Gott hat es nicht dabei sein Bewenden haben lassen, daß der Mensch sich ins Unrecht setzt. Indem Gott sein Recht anwendet, kommt es zwischen ihm und dem Unrecht des Menschen zum 4 1 8 Das hängt damit zusammen, daß die philosophische Umdeutung und Verdünnung des Sündenverständnisses mit dem Rückschritt der Erbsündenlehre in der Neuzeit vorangetrieben worden ist. In diesem Sinne kann man wohl mit W. Krötke sagen, daß der Deutsche Idealismus dem Thema der Sünde als solchem mit dem großen Werk J.Müllers über die Sünde den Schlußpunkt gesetzt hat (vgl. aaO., S. 1 ff.). 419
214
K D IV, 1, S. 628. Vgl. III, 3, S. 353.
Konflikt und zur Krisis, also zum Gericht: Gottes Verneinung und Beseitigung des Unrechts und des Menschen als dessen Täter: »So sehr ist er (sc. der Schöpfer) am Menschen beteiligt, so sehr liegt ihm sein Recht über ihn und auf ihn am Herzen und in solcher Konsequenz betätigt er es! « 4 2 0 Gott aber hat dieses Gericht und diese Vernichtung der Sünde nicht am Menschen, sondern an seinem Sohn Jesus Christus durchgeführt. So nimmt die Theodizee durch Gott selbst, d. h. die Durchsetzung des Rechts des Schöpfers, die Form der »iustificatio impii« an. Hier kommt es darauf an, daß dieTheodizee als Selbstrechtfertigung Gottes im Sinne von Rom 3,26 durchgeführt worden ist. Die Hauptaufgabe der Theodizee ist die Beseitigung der Sünde. Der Mensch, der sich selber der Macht der Sünde ergibt, ist keineswegs imstande, die Theodizee durchzuführen. Allein Gott selbst kann die Sünde als KernMacht des Nichtigen durch die Rechtfertigung der Sünder in Jesus Christus beseitigen. Wir sollten uns in diesem Zusammenhang an die Bestimmung Barths erinnern, das Geschöpf sei ohnmächtig angesichts des Nichtigen; die Auseinandersetzung mit dem Nichtigen sei primär und eigentlich Gottes eigene Sache. 421 Aus diesem Grund ist es auch unmöglich, die Theodizee von der Seite der Geschöpfwelt abzulesen, sei es via positiva von der Lichtseite der Geschöpfwelt her oder via negativa von der Schattenseite der Geschöpfwelt her, wie es jedenfalls die juristisch prozessierende Theodizee der Neuzeit unternommen hat. 422 Wer die Selbst-Theodizee gerade an der Rechtfertigung erkennen kann, bewundert (nicht beurteilt!) das Recht des Schöpfers und das führt dazu, diese Selbst-Theodizee nachzuerzählen. Hiermit beginnt der Weg zur doxologischen Theodizee. Erst aus diesem Kontext heraus können wir die Absicht, die Barth unter dem scheinbar merkwürdigen Titel: »Schöpfung als Rechtfertigung« (KD § 42, 3) ausgeführt hat, richtig verstehen. Die Schöpfung ist Barth zufolge schon die Rechtfertigung. Sie ist nicht nur die Setzung der anderen Wirklichkeit, sondern auch die Tat Gottes, das Licht von der Finsternis, das Gute vom Bösen und das Geschöpf vom Nichtigen zu scheiden.423 Und dieser Teilungsakt der Schöpfung, die die Bedeutung der Rechtfertigung enthält, vollendet sich eben im geschichtlichen Teilungsakt Jesu Christi, in dem die Sünde ausgeschieden wurde. Denn die Schöpfung ist aus dem Bund in Jesus Christus her begründet und zielt auf die Vollendung des Bundes in Jesus Christus hin: »Indem die göttliche Selbstkundgebung den Bund der Gnade und also dieses Werk des Sohnes Gottes zum Inhalt hat, schließt sie die Antwort, und zwar die genügende und gewisse, die jede Diskussion ausschließende Antwort auf die Frage nach der Gerechtigkeit des geschöpflichen Seins als KD IV, 1, S. 598. KD III, 3, S. 409,413. Vgl. K. Barth, Das christliche Leben, KD IV, 4, Nachlaß, S. 354. 4 2 2 KD III, 1, S. 423,433 ff., 441 ff., vgl. Hafstad, aaO., S. 146. 4 2 3 KD III, 1, S. 418. Dementsprechend bedeutet nach Barth auch die Vorsehung, das Geschöpf vor dem Nichtigen zu bewahren, schon einen Rettungsakt Gottes, nämlich die conservatio ist schon servatio (III, 3, S. 84). 420 421
215
solchen in sich.« 4 2 4 Prädestinatianisch-bundesgeschichtlich betrachtet, hat Gott sich schon vor der Schöpfung das tiefere Nein als das des Pessimismus im Kreuzestod Jesu Christi zu eigen gemacht und über den Menschen das stärkere Ja als das des Optimismus in der Auferstehung Jesu Christi auszusprechen vorgenommen. Der dreieinige Gott hat selber dieTheodizee schon vor der Schöpfung durchgeführt, indem er die Rechtfertigung als Selbstverwerfung in Jesus Christus in der Mitte der Schöpfung vorweggenommen hat. der Gekreuzigte Jesus Christus ist eben der geschichtliche Zeuge über diesen ewigen Entschluß Gottes. 4 2 5
4.5.1.2
Die Extension der Theodizee in der
Rechtfertigung
Die Rechtfertigungslehre hat aber zugleich die Extension der Theodizee in sich. Wir müssen diese - inhaltlich gleiche - These aus umgekehrter Richtung her wiederholen. Denn die Konzentration auf die Rechtfertigungslehre erzeugt manchmal eine Tendenz, Aussagen über das Theodizee-Thema überhaupt in der Theologie als Tabu zu vermeiden. Mit Luther ist allerdings zu sagen: Nicht Gott bedarf der Rechtfertigung gegenüber dem Menschen, sondern der Mensch muß vor und von Gott gerechtfertigt werden 4 2 6 Diese Pointe stets vor Augen zu behalten, ist wichtig, damit wir nicht wieder in die juristische Theodizee zurückfallen. Das soll jedoch nicht ein Grund dafür sein, daß man die Tragweite der Theodizee in der Rechtfertigung übersehen darf. Nach dem neutestamentlichen Befund ist Gottes Gerechtigkeit (δικαιοσύνη θεοΰ) in Jesus Christus, wie sie Paulus aufgefaßt hat, die Durchsetzung der rettenden Schöpfermacht Gottes. 4 2 7 Die Antwort, die Paulus in der Rechtfertigungslehre gegeben hat, war zwar etwas völlig Neues, aber ihre Thematik und ihr Denkhorizont sind in Wirklichkeit aus der altorientalischen Schöpfungstheologie hergekommen, und zwar aus der Frage nach der Wiederherstellung der Weltordnung, die einmal durch die Sünde der Men-
4 2 4 K D III, 1, S. 423 - »Die große Theodizee, die Rechtfertigung Gottes ist geschehen, so aber, daß die Anthropodizee, die Rechtfertigung des Menschen durch Gott geschehen ist.« (Gollwitzer, Krummes H o l z - aufrechter Gang, S. 340). In der iustificatio impii ist für die Theodizee »die alles entscheidende Wende« geschehen. (Kraus, Systematische Theologie, S . 4 4 4 f . ) . Die Rechtfertigungslehre v o m Freispruch des Sünders ist eben »der theologische O r t der Theodizee«. (Weth, Freispruch und Zukunft der Welt, S. 422 f.).
Vgl. Krause, aaO., S. 152. M . Luther, De servo arbitrio, W A 18, 712. (Vgl. auch W A 56, 331). Ebenfalls vgl. Kraus, Systematische Theologie, S. 445 Anm. 14; Oelmüller, aaO., S. 197; W. Huber, Theodizee, S. 376. 427 Vgl. A.Schlatter, Gottes Gerechtigkeit. Ein Kommentar zum Römerbrief, Stuttgart 3 1959, S. 3 8 ; Ε Käsemann, Gottes Gerechtigkeit bei Paulus, in: Exegetische Versuche und Besinnungen, Bd. 2, Göttingen 1964, S. 181 ff.; P. Stuhlmacher, Gerechtigkeit Gottes bei Paulus, Göttingen 1965, S. 80; E . Wolf, Die Rechtfertigungslehre als Mitte und Grenze reformatorischer Theologie, in: Peregrinatio II, München 1965, S. 20. 425
426
216
sehen zerstört worden ist, also aus der »Frage nach der heilen Welt«. 428 Die Rechtfertigung der Sünder ist also die Offenbarung der heilbringenden Gerechtigkeit Gottes (iustitia salutifera Dei), und in ihrer Tragweite ist die Wiederherstellung der gefallenen Weltordnung enthalten: »Schöpfung steht, ob sie es weiß oder nicht, im Ausstrahlungsbereich der δικαιοσύνη θεού«. 429 Dieser Befund der neutestamentlichen Theologie ist aber schon das Hauptmotiv gewesen, das in Barths Versöhnungslehre (IV, 1,1953) vorweggenommen und dogmatisch entfaltet worden ist. Nach Barth hat die Rechtfertigung eine Voraussetzung. Diese Voraussetzung ist das höhere, dem Unrecht des Menschen schlechthin überlegene Recht Gottes. In der Rechtfertigung d.h. der Ausübung des Gerichts Gottes handelt es sich nicht um launische Willkür, sondern darum, daß das höchste Recht Gottes am Werke ist. In der Rechtfertigung der Sünder rechtfertigt sich Gott, und zwar »Gott bejaht in dieser Aktion allererst sich selbst«.430 Gerade diese Selbstrechtfertigung Gottes als Ausübung des Rechts Gottes ist die Begründung der Rechtfertigung des ungerechten Menschen, - wie ein »Nagel, der die Rechtfertigung als Rechtfertigung auch des Menschen trägt, besser: die ewige Quelle, aus der sie als seine Rechtfertigung fließt«. 431 Wogegen wird nun das Recht Gottes ausgeübt? Gegen das Unrecht des Menschen. Des Menschen Unrecht ist die »Verbündung mit der von Gott dem Schöpfer vom Licht geschiedenen und verworfenen Finsternis«, - »das vom Menschen verschuldete, den Menschen befallende, vom Menschen zu erleidende, aber vor allem Gott beleidigende, weil seinem Willen zuwider herrschende Unheil, dessen Größe daran zu ermessen ist, daß Gott selber sich in seinem Sohn aufgemacht hat, um ihm zu begegnen.. ,«432 Und eben das Bewahren der Ehre Gottes vor der Macht des Nichtigen bedeutet zugleich das Bewahren des Geschöpfs vor dem Nichtigen und also das Heil. Denn »Gottes Ehre ist auch das Heil und die Herrlichkeit seines Geschöpfes«.433 Die Ubereinstimmung mit dem Recht Gottes ist für das Geschöpf geradezu »die Voraussetzung seiner Existenz« 434 im bundesrelatiologischen Sinne. Somit würde die Leibnizsche Theodizee von Grund auf zusammenbrechen. Denn bei Leibniz gehören ja auch die Sünde und das Übel - insofern sie ihren Ursprung in der Endlichkeit des Geschöpfs haben, zum System der Harmonie des Seienden, das Gott lenkt. »Jede Gott und die Sünde zusammenordnende Systematik ist« aber nach Barth »dem Christen, der um das 428 H . H . Schmid, Schöpfung, Gerechtigkeit und Heil. Schöpfungstheologie als Gesamthorizont biblischer Theologie, in: ZThK 70,1973, S. 13f. Vgl. S. 16. 429 Link, W G , S . 238. Vgl. S. 229,232. 430 KD IV, 1, S. 593. Vgl. S. 590. 431 KD IV, 1, S. 626. Berkouwer betont mit Recht, daß Barths Satz, Gott rechtfertige zuerst und vor allem sich selbst (IV, 1, S. 627), »nicht in einem Anthropomorphismus, sondern in voller Wirklichkeit« verstanden werden soll. (aaO., S. 128). 432 K D IV, 1, S. 594. 433 K D III, 3, S. 180. 434 K D IV, 1, S. 596.
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Geschehen von Golgatha weiß, unmöglich gemacht«. - »Der Mensch schlägt mit seiner Sünde einen Ton an, für den es in keinem Akkord, in keiner Melodie eine Verwendung gibt.« Dieser Ton stößt also als »das Inkoordinable« vor allem auf den Willen des Schöpfers. 435 Kurzum, es fehlt bei Leibniz die wesentliche Beziehung der Theodizee zur Rechtfertigung. So überwinden wir, indem wir die Implikation der Rechtfertigung in der Theodizee und zugleich die Extension der Theodizee in der Rechtfertigung betonen, das Dilemma zwischen der paulinisch-lutherischen Rechtfertigungslehre, die uns als eine »gelöste« und »überholte« Frage, die heutzutage keine wirkliche Aktualität mehr hat, erscheint, und der Theodizee als Hiobfrage, die zwar in unserer Zeit immer akuter geworden ist, aber die uns als »ein unlösbares, nie einzuholendes Problem« erscheint. 436 Erst dadurch, daß wir diesen inneren Zusammenhang in Betracht ziehen, gewinnen wir den hermeneutischen Horizont, vor dem die Bedeutung des Kreuzes- und Auferstehungsgeschehens für die Theodizee zu verstehen ist. 437
4.5.2 Die Theodizee des Kreuzes Gott der Vater setzt sein Recht des Schöpfers ausschließlich durch das Recht des Sohnes durch. Diese Ubereinstimmung von dem Recht des Schöpfers und dem des Erlösers, die der moderne Marcionist E. Bloch mit Absicht ignorierte, 438 ist eben das Besondere der christlichen Theodizee, das wir hier näher beleuchten müssen. Gegenüber der Sünde, die das Recht des Schöpfers problematisiert, offenbart sich Gott als der Heilige, der alles Ungerechte ausschließt. Dennoch ist die Offenbarung der Gerechtigkeit keine Revanche des Tyrannen, sondern die Konsequenzen der Bundesliebe Gottes, der den Bundespartner nicht im Stich lassen will. Darum übt Gott sein Recht durch seinen Sohn aus. An die Stelle des Ungerechten ist der Sohn Gottes vor Gericht gestanden. Das Recht Gottes, das den Ungerechten richtet, hat das Leben des Sohnes Gottes durchbohrt. Das ist die Bedeutung des geschichtlichen Ereignisses der grausamen Kreuzigung Jesu von Nazareth auf GolgaK D IV, 2, S. 449. G. Bornkamm, Die Frage nach Gottes Gerechtigkeit, in: Ges. Aufs. B d . I , München (1952), 5 1966, S . 2 0 2 . 435
436
4 3 7 Barth läßt bei der Entfaltung des aufregenden Themas des kosmischen Sündenfalls Vorsicht walten: »Es fragt sich aber, ob es so etwas wie Gottlosigkeit im außermenschlichen Geschöpfbereich überhaupt geben kann. E s scheint nicht so. Ich gebrauche absichtlich diesen zurückhaltenden Ausdruck. Denn da uns das Wie des Zusammenseins der außenmenschlichen Kreatur mit Gott verborgen ist, wird ein kategorisches Nein hier nicht am Platze sein« ( K D III, 2, S. 166). Deswegen würde es zu weit gehen, daß man mit E . Broking eine A r t Ursünde an selbstsüchtigem Wollen, unterbewußtem Eigenwillen oder selbstbegehrenden voluntaristischen Strebungen des organischen Lebewesens erkennt (aaO., S. 484ff.). 438 Vgl. Hedinger, H K R , S. 12ff., 325. Zur Auseinandersetzung mit Bloch hinsichtlich der Theodizee-Frage vgl. Gollwitzer, K - a , S. 222 Anm. 17, S. 244ff.
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tha! Die Existenz Jesu Christi ist hier als die Gott-Mensch-Person, und zwar als Mittler der Bundesrelation zwischen Gott und Mensch bestimmt. Jesus Christus ist nämlich »legitimer Träger, Repräsentant und Exekutor des göttlichen Schöpfer- und Bundesrechtes auf und über den Menschen«439 und zugleich der Stellvertreter des Geschöpf- und Bundesrechtes des Menschen, der selber dieses Recht vor Gott verloren hat. »So - in dieser doppelten Stellvertretung und in dieser doppelten Rechtsbegründung - lebt der Mensch Jesus in seiner Zeit.« 440 In dieser Person Jesus Christus und allein in ihm ist der Bund zwischen Gott und Mensch von beiden Seiten gehalten und wiederhergestellt worden.441 Diese doppelte Rechtsbegründung muß aber die harte Gestalt dessen, daß Gottes Sohn dem Tod ausgeliefert wurde, annehmen. Sie entsteht allein durch den Passionsweg des Sohnes Gottes, jenen »peinlichen Punkt«. 442 Jesus Christus nämlich als bevollmächtigter Richter übt das ultimative Gericht aus, »gegen das an keine höhere Instanz appeliert werden kann«. 443 Er vollzieht das aber in der Weise, daß der Richter selber gerichtet wurde. Hierin gründet der unvergleichliche Satz: Die Gnade Jesu Christi als solche sei der Vollzug des Rechtes Gottes, sein gerechtes Gericht. 444 Aus dem Geschehen des »Todes des Gottes-Sohnes«, das die Theodizee und die Rechtfertigung in diesem peinlichen Punkt zusammenlegt, müssen nun aber bedeutsame Konsequenzen für die Gotteslehre und die Soteriologie gezogen werden. Der Tod des Sohnes Gottes bedeutet im Blick auf den die Menschen rettenden Gott eine »Revolution im Gottesbegriff«, und im Blick auf die von Gott geretteten Menschen u. E. eine Revolution in der Theodizee. Letzteres soll uns nun beschäftigen.445 Indem der Sohn von seinem Vater verlassen wurde (Ps 22,2; Mk 15,34) und den Tod als äußerste Gottlosigkeit 439
K D IV, l, S. 630.
K D III, 2, S. 527. »Wie er (sc. Jesus) der Garant der Treue des Schöpfers ist, so ist er auch der Garant der Kontinuität seines Geschöpfs, der Garant seiner Erhaltung und Bewahrung.« (III, 2, S. 627. Vgl. II, 2, S. 2 4 6 ; III, 2, S. 6 2 4 , 6 2 6 ) . 440
441 442
K D IV, 2, S. 300; IV, 3 , S . 815. K D IV, 3, S. 479.
443
K D IV, 1, S . 2 4 0 f. Vgl. II, 2, S. 106; IV, 3, S. 514.
444
K D IV, 1, S. 593, 599.
4 4 5 J . Moltmann, Der gekreuzigte Gott. Das Kreuz Christi als Grund und Kritik christlicher Theologie, München 1972 (Kreuz), S. 145. Der Begriff des Gottes, der für die anderen leidet und auch den Tod auf sich nimmt, bedeutet die Überwindung des altkirchlichen Apathie-Axioms, dem der griechische Gottesbegriff zugrundeliegt, und also eine Revolution im Gottesbegriff aufgrund der jüdischen Uberlieferung vom Pathos Gottes. In der modernen Stauro-zentrischen Theologie wird - über den traditionellen Rahmen der Zwei-Naturen-Lehre Luthers von der communicatio idiomatum hinaus - das Leiden im trinitarischen Leben Gottes hervorgehoben. U n d dieses Leiden des dreieinigen Gottes wird dann durch die These K. Rahners, die ökonomische Trinität sei die immanente Trinität und umgekehrt, noch verstärkt und radikalisiert. - Vgl. K. Rahner, D e r dreifaltige Gott als transzendentaler Urgrund der Heilsgeschichte, in: Mysterium salutis. Grundriß heilsgeschichtlicher Dogmatik, hrsg. v. J. Feiner und M. Löhrer, Bd. 2, 1967, S. 3 1 7 - 4 0 1 ; J. Moltmann, Kreuz, S . 2 2 7 ; E.Jüngel, Das Verhältnis von »ökonomischer« und »immanenter« Trinität, in: Entsprechungen: G o t t - Wahrheit - Mensch. Theologische Erörterungen, München (1980) 2 1986, S. 2 6 5 - 2 7 5 .
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erfahren hat, kann der Mensch in der gottverlorenen Welt nicht mehr die Theodizee-Frage nach der Abwesenheit Gottes stellen und dagegen protestieren. Denn mitten in dieser Gottverlassenheit steht ja Gott selbst! Sofern Gott selber in der Finsternis der Gottverlassenheit von Golgatha gewesen ist, sofern der Vater, der seinen allerliebsten Sohn verlassen und hingegeben hat, den Tod des Sohnes im unendlichen Schmerz der Liebe in der Gemeinschaft des Heiligen Geist erlitten hat, kann keine Drangsal der Menschen mehr die Situation der Abwesenheit Gottes bedeuten: »Es gibt keine Einsamkeit und keine Verworfenheit, die er (sc. Gott) in Jesu Kreuz nicht auf sich und angenommen hätte.« 446 In der Verlassenheit eines jeden Menschen ist eben der gekreuzigte Gott ihm nahe: »Nur wenn alles Unheil, die Gottverlassenheit, der absolute Tod, der unendliche Fluch der Verdammnis und das Versinken im Nichts in Gott selbst ist, ist die Gemeinschaft mit diesem Gott das ewige Heil.. ,« 4 4 7 Von »Gott im Kreuz« zum »Kreuz in Gott«, von »Gott in Auschwitz« zu »Auschwitz in Gott«, - in dieser Konsequenz der TheoLogik liegt der Kern der »Theodizee des Kreuzes« im modernen Theopaschitismus. 448 Wie sollen wir nun diese Theodizee des Kreuzes im Zusammenhang mit Barth und auch vor allem mit Hegel, dem Philosophen des Todes Gottes, bewerten ? Wir überprüfen sie in den folgenden vier Aspekten
4.5.2.1
Die Leidensfähigkeit
Gottes in der Relation
Barth will ebenfalls den paulinischen Satz: Gott war »wahrhaftig und ganz« in Christus (2.Kor 5,19), »ohne Vorbehalt und Abstrich« ernst nehmen. Dieser Satz, der von der Identität Gottes mit dem versuchlichen, leidensfähigen und sterblichen Menschen redet, ist zwar »etwas höchst Gewaltiges und tief Erstaunliches«. Aber die Theologie darf keine Zweideutigkeit in der Bemühung aufweisen, diesen Satz nicht als Gotteslästerung, sondern als Gottesehrung zu bekennen. 4 4 9 Das bedeutet, daß man erneut vom gekreuzigten Christus ausgehen muß, um zu verstehen, was und wer 446
Moltmann, Kreuz, S. 265.
A a O . , S. 233. Vgl. S. 229, 265. Der Gedanke, daß die Gottverlassenheit Jesu am Kreuz das Heil der Gottverlassenheit der Welt bedeutet, ist schon - vor Moltmann - im Aufsatz R. Weths (Heil im gekreuzigten Gott, in: E v T h 3 1 , 1 9 7 1 , S. 2 4 0 f . , 2 4 2 ) zu erkennen. 447
4 4 8 Moltmann, Kreuz, S. 2 6 6 f. - Der Begriff der Theodizee des Kreuzes geht auf Berkouwer zurück (aaO., S. 291 ff. Vgl. 117ff., 306). Die Wendung Berkouwers hat aber nach Weth einen »pejorativ(en)« Sinn in sich aaO., S. 434). 4 4 9 K D IV, 1, S . 2 0 0 . Dazu sagt B. Klappert: »Die Übersetzung von 2 . K o r 5,19 durch Barth mit >Gott war in Christus - versöhnend die WeltGott versöhnte durch Christus die WeltKönnen< beurteilen. Vielmehr, da G o t t der Grund aller Möglichkeiten, und zwar eigentlich die einzige Möglichkeit ist, m u ß man von der Tatsache Jesu Christi her sagen, daß eben nur G o t t »wahrhaft« leiden und sterben kann. Mit anderen W o r t e n : um den Satz >Gott ist allmächtig< richtig zu verstehen, ist es notwendig, daß man » - so die hermeneutische Regel - das Prädikat durch das Subjekt bestimmen« muß, »statt umgekehrt das Subjekt durch das Prädikat bestimmt und festgelegt sein zu lassen.« ( C h r . Link, D i e Uberwindung eines Problems. Bemerkungen zur Frage nach der Theodizee, in: Wenn nicht jetzt, wann dann? Festschrift für H . - J . Kraus, Neukirchen 1984, S. 347). 453
4 5 4 J . Moltmann kritisiert, daß die Grenze der theopaschitischen Aussagen Barths darin liegt, »daß Barth noch zu theo-logisch und nicht entschieden genug trinitarisch denkt« (Kreuz, S. 188). Vgl. auch Berkouwer, aaO., S . 2 7 7 ; Klappert, D i e Auferweckung des Gekreuzigten, S. 182 A n m . 5 8 .
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Unbeweglichkeit und Starre, nicht als ein göttlicher Tod, sondern als die Beständigkeit seiner in Freiheit immer neu sich bestätigenden Treue zu sich selber« zu verstehen.455 Diesen Sachverhalt können wir in drei Punkten zusammenfassen: I. Gott ist nicht unveränderlich im Sinne der a-relationalen Unbeweglichkeit (Apathie). Wenn es so wäre, dann würde sich die Gottheit in der Menschwerdung, dem Leiden und dem Tod Gottes der Gefahr des Doketismus nähern. II. Gott ist aber auch nicht veränderlich im Sinne der relationalen Passivität. Wenn es so wäre, dann würde die Christologie in die Gefahr der Kenosis geraten: »Gott gibt sich hin, aber nicht weg und nicht auf, indem er Mensch wird... Was hülfe uns seine Gottheit, wenn er sie... in der Zuwendung zu uns gewissermaßen hinter sich ließe, wenn sie ihm selbst, indem er der Unsrige wird, gewissermaßen jenseitig würde?«456 III. Gott ist aber beständig im Sinne der relationalen Aktivität. Das Geheimnis der passio Dei am Kreuz liegt darin, daß sie in Wirklichkeit eine actio Dei ist. Der dreieinige Gott als Gott der Gemeinschaft hat das Andere in sich. Im ewigen Entschluß der Liebe zum Anderen hat Gott es sich erwählt, Gott für das völlig Andere (das Geschöpf) zu sein. Die Durchsetzung dieser unerschütterlichen Liebe zum Anderen begründet die »Leistungsfähigkeit und Sterblichkeit«457 Gottes. Und da Gott allererst die Relation zum Anderen in sich hat, wird Gott trotz seines relationalen Seins keineswegs passivheteronomisch vom Anderen bewegt. Gott hat die ökonomische Relation zum geschöpflichen Anderen eben in der Analogie zur immanenten Relation zum Anderen in sich.458 Auf dieser Linie läßt sich sagen, daß auch Barth die wahrhafte Theodizee des Kreuzes, neben der die juristisch prozessierende Theodizee völlig blaß wird, im Leiden des Gottes Sohnes sieht. Die Weltgeschichte ist allerdings »das Meer von Tränen und Blut«, eine Reihe von Passionsgeschichten. Und « 5 KD IV, 1, S. 626. KD IV, 1, S. 202. KD IV, 2, S. 94. 4 5 8 Der Grund dafür, daß die Menschwerdung z.B. weder Verminderung der Gottheit noch ihren Verlust bedeutet, liegt darin, daß die Erniedrigung des Sohnes ad extra schon den Gehorsam des Sohnes gegen Gott ad intra als Ur-Verhalten voraussetzt. (KD IV, 1, S. 210-230). In diesem Sinne muß man vorsichtig sein gegenüber dem Versuch, den Unterschied zwischen immanenter und ökonomischer Trinität voreilig aufzulösen. Die ökonomische Trinität ist zwar identisch mit der immanenten Trinität. Das aber hebt nicht auf, daß die immanente Trinität sachlich die ökonomische Trinität begründet. Insofern beachten wir Barths Warnung: »Gott geht nicht auf in seinem Sichbeziehen und Sichverhalten zur Welt und zu uns, wie es in seiner Offenbarung Ereignis ist.« (KD (II, 1, S. 292). Andererseits müssen wir aber auch alsbald hinzufügen, daß die ökonomische Trinität geschichtlich die immanente Trinität begründet. Nämlich, die immanente Trinität ist u.E. der innere Grund der ökonomischen Trinität, und die ökonomische Trinität ist der äußere Grund der immanenten Trinität. Damit können wir den Dualismus von deus absconditus und deus revelatus überwinden. (Gegen Moltmann, Kreuz, S. 188,227). 456 457
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»jede menschliche Passion - ob verschuldet oder unverschuldet, ob freiwillig oder unfreiwillig, ob heldenhaft oder schwachmütig ertragen, ob für Andere wichtig oder unwichtig, und würde sich auch nur im Wimmern eines kranken Kindleins bemerkbar - hat als solche in ihrer Art etwas unendlich Beachtliches, Bewegendes.. ,«459 Aber die Frage und die Antwort, die Gott in der Passion des Sohnes auf sich genommen hat, sind so tief und einzigartig, daß alle menschlichen Fragen und Antworten sie nicht erreichen können: »Was Leiden heißt, bevor wieder Gott und er wieder in Jesus Christus als der für uns Leidende uns bekannt ist?« 460 In Jesus Christus hat Gott selbst in der Einheit des Geistes mitgelitten. »Was sind alle Leiden in der Welt, was sind auch die Leiden Hiobs neben diesem Mitleiden Gottes selbst.. .?«461 Das gilt ebenfalls für die Tbeodizee-Frage nach der Sünde. Das Murren Hiobs, ob Gott nicht ungerecht ist, indem er seinen Zorn walten läßt (Rom 3,5), ob wir wirklich so schuldig dastehen sollten, daß wir solches zu leiden haben, wird aber erst dann verstummen, wenn wir uns vor Augen halten, wie Gott die Welt richtet, nämlich in der harten Weise, daß er seines eigenen Sohnes nicht verschonte, sondern ihn für uns dahingab. 462 Mit der Frage, warum Gott den Menschen als ein versuchliches Wesen mit dem Bösen konfrontierte, warum Gott den Sündenfall nicht verhinderte, sondern geschehen ließ (Rom 9,19 ff.), kann man Gott nicht anklagen. Denn Gott hat sich in demselben ewigen Beschluß dafür entschieden, die ganze Gefahr und Not, in die das Geschöpf nicht ohne seinen Willen stürzen wollte, seine eigene Gefahr und Not sein zu lassen. 463 So wird die Theodizee bei Barth zur doxologischen Theodizee, die den Herrn des Kreuzes lobt, indem sie in der von der Rechtfertigung begründeten Theodizee des Kreuzes gipfelt.
4.5.2.2 Die Trinität und die
Zwei-Naturen-Lehre
Als nächstes müssen wir in diesem Zusammenhang betonen, daß das Kreuzes-Geschehen nicht nur durch die Trinität, sondern auch durch die Zwei-Naturen-Lehre geprägt wird, indem Barth das Kreuz bundes-relatiologisch durchdenkt. Barth hat, wie erwähnt, früher als Moltmann eingesehen, daß das Kreuz das trinitarische Ereignis in Gott ist. Das Wesen Gottes ist die Relation in sich. In der Relationalität als Gemeinschaft der Liebe will Gott es nicht unterlassen, zu leiden. Wenn wir so denken, können wir die Problematik des traditionellen Theopaschitismus, laut dessen Gott die höchste Substanz (ουσία) ist, überwinden. In diesem Sich-Beziehen kann Gott, ohne seine Gottheit aufzuhören, den Anderen lieben, für ihn leiden 459 460 461 462 463
KD KD KD KD KD
IV, 1, S.270. II, 1. S. 320 f. IV, 3, S. 478. Vgl. IV, 1, S. 503. II, 1, S. 449. II, 2, S. 180. Vgl. II, 1, S. 420; II, 2, S. 133,244f.
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und sich bis zum Tode erniedrigen. Auch der Vater leidet in dieser Relation unter dem Leiden des Sohnes mit. Der Patricompassianismus statt des Patripassianismus, den Moltmann behauptet, ist schon von Barth dargestellt worden. 464 Das Kreuz ist auch bei Barth das so tief innergöttliche Ereignis, daß der Vater mitleidet. Barth unterscheidet sich von Moltmann aber darin, daß Barth dieses innergöttliche Ereignis nicht als den absoluten Gegensatz in Gott selbst denkt. Demgegenüber interpretiert Moltmann das Wort Jesu in Mark 15,34 (Ps 22,2) zu sehr im Einklang mit E.Bloch. Deswegen sieht er darin eben eine »statis in Gott«, einen »Gott gegen Gott« und nennt diesen Widerstand in Gott »den theologischen Prozeß zwischen Gott und Gott«. 465 Aber das Kreuz ist nach Barth weder ein absolutes Paradox noch eine Kluft in Gott selber noch »Gott wider Gott«. 466 Vielmehr ist es das relationale Ereignis in der Einigung der Liebe. Der Sohn hat nicht »an seinem Gott und Vater« 467 gelitten und ist nicht an ihm gestorben. Das Kreuz ist keineswegs der Bruch der Relation zwischen dem Vater und dem Sohn, sondern eben die Einigung der Relation zwischen beiden für die Menschen: »In der Mummerei eines solchen Gegensatzes zu sich selbst würde er uns offenbar in dem Gegensatz zu ihm, in welchem wir uns allerdings befinden, nur bestätigen und bestärken können. Es wäre ein Gott, der sich in solchem Gegensatz zu sich selbst befände, offenbar nur das in die Gottheit projizierte Spiegelbild unseres unversöhnten Menschentums.« 468 Moltmanns Mißverständnis beruht darauf, daß er die soteriologische Bedeutung der Zwei-Naturen-Lehre im Kreuzesgeschehen übersah und das Kreuz einseitig trinitatisch - mit der Hilfe des hegelischen Begriffs von der Selbstbewegung Gottes - zu verstehen versuchte. Aber der Horizont, vor dem das Kreuzesgeschehen zu interpretieren ist, liegt u.E. nicht in der Alternative zwischen der Trinitätslehre und der Zwei-Naturen-Lehre, sondern im hermeneutischen Zusammenhang zwischen den beiden. Der Grund dafür, daß Moltmann den hermeneutischen Rahmen der Zwei-NaturenLehre ablehnt, ist folgender: 4 6 4 »Dieses väterliche Mitleiden Gottes ist das Geheimnis, ist der Grund der Erniedrigung seines Sohnes, das Reale, das Eigentliche, was in dessen Kreuzestod geschichtliches Ereignis wird.« (KD IV, 2, S. 399. Vgl. IV, 3, S. 478). Vgl. Moltmann, Kreuz, S. 230. Hier müssen wir die beiden Momente von Perichorese und Appropriation zugleich geltend machen. In der Perichorese leidet der Vater mit dem Sohn: »Opera trinitatis ad extra sunt indivisa.« Aber Barth lehnt den traditionellen Patripassianismus wegen Au Appropriation ab. Der erste Artikel im Credo ist nicht mit dem zweiten zu vermischen: »Man kann von Gott dem Vater nicht sagen, daß er empfangen und geboren wurde, gelitten hat, gestorben und auferstanden ist.« (KD I, 1, S. 418). Die trinitarische Relationalität Gottes ist die Einigung im Unterschied und der Unterschied in der Einigung, aber nicht die Identität ohne Unterschied! 4 6 5 Moltmann, Kreuz, S. 144f. Diese Konflikt-Theorie wird auch von H. Gollwitzer und H. Mühlen unterstützt. (Gollwitzer, K-a, S. 258; H. Mühlen, Die Veränderlichkeit Gottes als Horizont einer zukünftigen Christologie, Münster 1969, S. 32). 4 6 6 KD IV, 1, S.201. 4 6 7 Moltmann, Kreuz, S. 142. o« KD IV, 1, S.202f.
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I. Die traditionelle Zwei-Naturen-Lehre behauptete dualistisch - aufgrund des Apathie-Axioms - , daß Gottes Sein leidensunfähig und unsterblich ist, während das menschliche Sein leidensfähig und sterblich ist. II. Sie schloß sich dann an die griechische Heilssehnsucht an, laut der das Heil der sterbenden Menschen in der Teilnahme am göttlichen Sein liegt. III. Daraus ergab sich der Doketismus des Kreuzes, daß der Gottmensch Christus nur in seiner menschlichen Natur gelitten hat. 469 Luthers Lehre von der communicatio idiomatum zeigte zwar einen bedeutsamen Schritt, um diesen Doketismus zu überwinden, aber seine Christologie blieb noch im Rahmen der Zwei-Naturen-Lehre, so urteilt Moltmann. Und er treibt weiter die Interpretationslinie voran, die von P. Althaus eröffnet wurde, und zwar will er von dem ganzheitlichen Aspekt der Person Christi als Sohn in seiner trinitarischen Beziehung zum Vater und zum Geist (nicht als zwei Naturen: Gottheit und Menschheit) ausgehen.470 Dieser Versuch ist allerdings insofern positiv zu bewerten, als das Kreuzesgeschehen aus dem wesentlichen, totalen Engagement des relationalen Gottes her verstanden wird. Dennoch müssen wir hier die kritische Frage stellen, ob das Kreuz bei Moltmann das bloß inner göttliche Geschehen zwischen dem Vater und dem Sohn in der Gemeinschaft mit dem Geist bleibt, also ob es dabei aufgehoben wird, daß das Kreuz das relationale Ereignis zwischen Gott und Mensch ist. Im Kreuzestod muß man sich die beiden Aspekte, den Gott stellvertretenden Gottessohn und den die Menschen stellvertretenden Menschensohn vor Augen halten. Denn Jesus Christus ist als vere Deus - vere homo der bundes-relatiologische Mittler zwischen Gott und Mensch, und sein Kreuzestod ist das Ereignis der doppelten Rechtfertigung, wie wir oben schon erwähnt haben.471 Die Gottheit Christi ist allerdings nicht als stationäre »Natur«, sondern als relationale »Person« zu verstehen. Die zweite Person der Trinität ist »das personbildende Zentrum« in dem Gott-Menschen Christus. Die Menschheit Christi hingegen wird von der göttlichen Person en- und anhypostatisch durch seine Inkarnation angenommen und erst damit zur konkreten Existenz Jesu Christi. 472 Dieser Befund ändert jedoch u.E. nichts daran, daß Jesus Christus der die Menschen stellvertretende Gott in drei Personen ist, sondern vielmehr bestätigt er dies. Jesus Christus ist das Urbild der Relation als der Andere in Gott. Das Geschöpf als der Andere außer Gott ist als Analogie (Entsprechung) der Relation genau in dieser zweiten Person erschaffen worden. Die Person des Moltmann, Kreuz, S. 214 f. AaO., S. 19Ц., vgl. 230 f. 471 v g l . W.Joest, Die Gegenwart Gottes in dem Menschen Jesus. Zur Interpretation des christologischen Dogmas, in: Gott will zum Menschen kommen, Göttingen 1977, S. 165ff.; E. Jüngel, Thesen zur Grundlegung der Christologie, in: Unterwegs zur Sache, München 1972, S. 277. 4 7 2 E. Jüngel, Vom Tod des lebendigen Gottes. Ein Plakat, in: Unterwegs zur Sache, S. 111; Moltmann, Kreuz, S. 218. 469
470
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Sohnes bedeutet also nicht nur die Beziehung des Sohnes zum Vater in Gott, sondern auch die Beziehung Gottes zum Menschen und umgekehrt. Jesus Christus ist wesentlich als Mittler-Person die zweite Person. In diesem Sinne ist er der vermittelnde Topos wie ein Berührungspunkt, der die Vater-SohnRelation aufgrund der Trinitätslehre und die Gott-Mensch-Relation aufgrund der Zwei-Naturen-Lehre verbindet. Daß Jesus Christus der Grund der Bundesrelation sowohl ad intra als auch ad extra ist, - darin liegt die Vereinigung von Trinität und Zwei-Naturen-Lehre. Wegen dieser doppelten Relationalität kann das Kreuzesgeschehen Jesu Christi den soteriologischen Ansatz für die neuen Leben der Gottessöhne, die Gott unseren Vater nennen dürfen, begründen. Das Leiden Gottes ohne Menschheit könnte ebensowenig den Menschen das Heil bringen, wie die Passion und der Tod des Menschen Jesu ohne Gottheit die Menschen von der Sünde retten könnte. Die Sache Jesu betrifft das Leben und Sterben des Menschen. Deswegen müssen wir das Kreuzesgeschehen von der Trinitätslehre und der ZweiNaturen-Lehre her - nicht alternativ, sondern sich gegenseitig ergänzend verstehen.
4.5.2.3 Die Soteriologie und der Begriff der
Stellvertretung
Was Barth mit der Betonung des »Gottes in Christo« intendiert hat, ist nicht in erster Linie »die Revolution im Gottesbegriff« als Uberwindung des metaphysischen Apathie-Axioms, sondern was er damit zum Ausdruck bringen wollte, ist die erstaunliche Aktivität des heilbringenden Gottes, der selber um der Sünder willen in dem Gekreuzigten gehandelt hat, nämlich »die Revolution Gottes« 473 als doppelte Rechtfertigung. Nun aber läßt sich erkennen, daß der gegenwärtige Theopaschitismus den Heilsbegriff einigermaßen verändert hat. Der Grundzug dieses Heilsbegriffs ist nämlich, daß die Selbstverlassenheit Gottes, der selber leidet und stirbt, das Heil für die leidende und sterbende Welt in der Gott-Verlassenheit bedeutet. Was wichtig für die Menschen ist, die Gott verloren haben und von ihm verlassen wurden, ist die Tatsache, daß auch Gott selber diese verlassene Situation mit ihnen teilt, indem der Sohn vom Vater verlassen wurde und der Vater selber sich in dieser Verlassenheit des Sohnes verlassen hat. Neben den Verlassenen steht eben Gott selber als der Verlassene, damit Gott dann zum Gott der Gottlosen und Gottverlassenen wird. 474 Wir wagen aber die kritische Frage 4 7 3 K D IV, 1, S. 627. Die Revolution im Gottesbegriff ist nur ein unerläßliches Resultat aus dieser Revolution Gottes. 4 7 4 Weth, Heil im gekreuzigten Gott, S. 240ff.; D. Solle, Stellvertretung. Ein Kapitel Theologie nach dem »Tode Gottes«, Stuttgart (1965) 1982, S. 171 ff.; Möllmann, Kreuz, S. 179, 229f., 265. Diese Denktendenz ist schon in den zwei Werken aus der Weltkriegszeit (D. Bonhoeffer, Widerstand und Ergebung, München 1951, und K. Kitamori, Die Theologie des Schmerzes Gottes, Tokio 1946, dt. Göttingen 1972) zu erkennen.
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zu stellen, ob diese Denkart als theologische Logik des Heils ausreichend ist. Auch wenn Gott mit den miserablen Gottlosen »Mitleid« hätte, sich mit ihnen identifiziert und bis zum »Mitleiden« solidarisch gemacht hätte, würde dadurch schon das Heil in ihre miserable Situation gebracht? Auch wenn der allmächtige Gott selber ohnmächtig geworden wäre und auf der Seite des Schwächeren gestanden wäre, wäre das schon das Heil und nicht nur der Trost? Wenn ein Arzt mit einem Kranken Mitleid hätte, selber krank würde und damit Schmerz und Leid mit ihm teilte, gäbe es doch kein Heil für den Kranken, insofern er dadurch doch nicht geheilt würde. Der leidende Gott, der »in Auschwitz am Galgen hängt« (E.Wiesel, Nacht, 1969, S.75f.), könnte zwar einen unendlich erschütternden Trost für die Lagermannschaft darstellen, aber das ist doch noch nicht eine wesentliche Erlösung aus der Todessituation. Gottes Martyrium für die Menschen (!) könnte nichts daran ändern, daß auch die Menschen immer noch das Todesschicksal hinnehmen müssen. Worin liegt der wesentliche Unterschied zwischen solchem Gedanken und jener Kreuzesmystik, nach der Leiden durch Leiden überwunden und Wunden durch Wunden geheilt werden, wie z.B. der Isenheimer Altar damals eine mystische Funktion der Heilung hatte? Wird hier nicht sozusagen ein Gottesbild des Masochismus, nach dem Gott die Menschen durch Selbstleiden, Selbstschmerzen und Selbstmord (!) retten will, angeboten? Hier stoßen wir also auf das Problem der Bedeutung des Stellvertretungsbegriff in der Soteriologie. Zum Stellvertretungsbegriff im allgemeinen können wir auf drei abgestufte Grundzüge hinweisen: I. Die solidarische Identifikation. Auf dieser Stufe identifiziert man sich mit einem anderen wegen eines Mitleids (Sympathie). Diese Stufe ist aber genaugenommen nur die Vorstufe für die Stellverstellung. II. Die vollmächtige Repräsentation. Hier befreit man einen anderen von der Pflicht, die dem anderen auferlegt wird, indem man das Recht und die Pflicht des anderen vollmächtig vertritt und an seiner Stelle handelt. Hier ist der Begriff des materiellen Ersatzes oder austauschbaren Äquivalenz abzulehnen, um den persönlichen Charakter hervorzuheben. III. Die vermittelnde, sich-hingebende Stellvertretung. Auf dieser Stufe führt man aus, was ein anderer nicht leisten kann. Hier wird verlangt, daß man nicht nur das Recht und die Pflicht des anderen vertritt, sondern überdies die ethische Schuld des anderen auf sich nimmt und die Genugtuung leistet. Der Stellvertreter muß hier vor allem der Mittler sein, der zwischen dem Schuldigen und dem Geschädigten vermitteln und sie versöhnen kann. Das Ereignis der Versöhnung Gottes mit der Welt in Jesus Christus (2.Kor 5,19) enthält u.E. alle diese drei Züge. Besser gesagt, was unter Stellvertretung zu verstehen ist, ist gerade dadurch verdeutlicht worden, daß Jesus Christus diese drei Grundzüge im Versöhnungshandeln erfüllt hat. Hier bedeutet das Heil sehr eindeutig die Versöhnung. Dies ist weder bloß eine Einigung der sterbenden Menschlichkeit mit der ewigen Gottheit, noch eine Identifikation Gottes mit der gottlosen Welt. Sofern das Heil die Versöh227
nung Gottes mit der Welt ist, kann das Heil nicht nur durch die solidarische Identifikation oder vollmächtige Repräsentation - natürlich sie auch enthaltend - , sondern auch und vor allem durch die vermittelnde, sich-hingebende Stellvertretung des Gott-Menschen Jesus Christus hervorgebracht werden. Dieser wichtigste Aspekt aber fehlt gerade im gegenwärtigen Theopaschitismus, in dem hauptsächlich nur von der sympatischen Solidarität Gottes mit den Elenden die Rede ist. Das ist aber u.E. ein Rückfall oder die Auflösung der Soteriologie als Versöhnung im eigentlichen Sinne. Der Grund für diese Veränderung des Stellvertretungsbegriffs liegt u. E. darin, daß die moderne Theologie des Kreuzes den bundes-theologischen bzw. rechts-theologischen Kontext nicht mehr richtig einschätzen kann. 475 Moltmann z.B. betont, daß der Tod Jesu Christi bis zum letzten Ende der Tod des Gesetzlosen und Gesetzesbrechers war. In der Auferweckung des Gekreuzigten ist also die Rechtfertigung des Gesetzlosen und Gottlosen an den Tag gekommen. Moltmann sieht darin, daß Gottes eschatologische Gerechtigkeit, die Gesetzlosen durch die voraussetzungslose, universale Gnade zu retten, im entscheidenden Gegensatz zur »Theologie der Thoragerechtigkeit« geoffenbart worden ist. 476 Jesu Schrei am Kreuz in Mk 15,34 ist nach Moltmann nicht vom Kontext des Psalms 22 her zu interpretieren, weil es im Kreuzestod Jesu nicht um die Verlassenheit des leidenden Gerechten als Bundespartner vor dem Bundesgott Israels, sondern um die Verlassenheit des Sohnes Gottes geht. 477 Der Tod Jesu ist also kein Sühnopfer. Denn die Sühnopfervorstellungen bewegen sich durchweg im Rahmen des Gesetzes: Sünden verletzen das Gesetz, Sühne stellt das Gesetz, und zwar nur »die Gerechtigkeit des Bundesgesetzes« wieder her. 478 Müssen wir aber den Interpretationsrahmen der Versöhnung etwa überhaupt abschaffen? Liegt die Versöhnung auch nur auf der verlängerten Gerade der Theologie der Thoragerechtigkeit? Bedeuten der Tod und die 4 7 5 Unsere Forderung, den bundestheologischen Kontext richtig einzuschätzen, ist nicht identisch mit dem Versuch, dem griechischen Heilstyp, der nach der kosmischen Erlösung von Vergänglichkeit und Todesverhängnis sucht, den lateinischen Heilstyp, der nach der juristischen Erlösung von Schuld und Ungerechtigkeit, nach der Befreiung vom göttlichen Gericht sucht, gegenüberzustellen. (Vgl. Weth, aaO., S. 334). Vielmehr wollen wir auf den Bundesgedanken in der altisraelischen Uberlieferung zurückgehen und von daher die Bedeutung des Kreuzestodes Jesu Christi bewerten. 4 7 6 J. Moltmann, Theologie der Hoffnung, München (1964), 12 1985 (Hoffnung), S. 131 ff.; ders., Kreuz, S. 121 ff., 163 ff. 4 7 7 Moltmann, Kreuz, S. 141 ff. 4 7 8 AaO., S. 170 f. - Die Ablehnung der Sühnetheorie vom ähnlichen Standpunkt aus kommt oft als Kritik der Anselmschen Satisfaktionslehre zum Ausdruck. Die Schwierigkeiten Anselms, auf die z.B. von D.Solle hingewiesen wird, können wir wie folgt zusammenfassen. I) Im Gedanken, daß Gottes Ehre durch die Sünde des Menschen verletzt und sein Zorn erst durch das Sühnopfer beschwichtigt würde, wäre Gott nicht das Subjekt, sondern das Objekt der Versöhnung. II) Die Stellvertretung Christi würde dann nicht als Person, sondern als indirekte Leistung gedacht. III) Der Stellvertreter als solcher würde schließlich objektiv-exklusiv als Ersatz gedacht. Vgl. Solle, aaO.; S. 82,136; Weth, aaO., S. 235.
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Auferstehung Christi nur die Aufhebung dieser Theologie des Gesetzes ? Christus ist zwar »des Gesetzes Ende« (Rom 10,4). Aber ist dieses τέλος zugleich nicht auch die Vollendung des Zieles ? Die Sünde-5«Ä«e-Logik ist allerdings deshalb abzulehnen, weil einerseits Gott zum Gegenstand wie der Teufel, der das Opfer fordert, herabgesetzt wird und andererseits der Mensch zum Subjekt der Versöhnung, das das Opfer bringen und die Genugtuung leisten kann, zu hoch erhöht wird. Ist aber die Sünde-Sira/e-Logik als Rahmen der Interpretation, der auf der Bibel beruht, noch geltend zu machen, insofern das Heil das Problem der Bundesrelation zwischen Gott und Mensch ist? Gottes Bund bestimmt u.E. nicht nur o n t o l o g i s c h , sondern auch e t h i s c h r e c h t l i c h den Menschen. Die Untreue gegen den Gnadenbund heißt nach der israelitischen Uberlieferung die Sünde. Die Sünde zerstört die Relation zwischen Gott und Mensch sowohl ontologisch als auch rechtlich. Deswegen liegt die Vollendung der Bundesrelation darin, diese Unrechte Macht der Sünde ontologisch und ethisch-rechtlich wegzunehmen. Was in Tod und Auferstehung Jesu Christi geschehen ist, ist eben diese Vollendung der zerstörten Bundesrelation im doppelten Sinne. Das heißt also ontologisch der Tod des alten Menschen und die Geburt des neuen Menschen, ethischrechtlich aber das Gericht des Unrechtes und die Erschaffung des Rechtes. Mit anderen Worten, die Rechtfertigung ist nicht nur die eschatologische, neue Schöpfung des Seins (Käsemann), sondern auch die neue Setzung der ethisch-rechtlichen Relation zu Gott. Der Tod Jesu ist zwar der Tod des Gesetzwidrigen im geschichtlichen Prozeß Jesu. Das ist aber nur insofern gültig, als man es aufgrund der degenerierten Bundestheologie des späten Judentums, d.h. der Theologie des »Werkbundes« (foedus operum) nach dem altprotestantischen Begriff 479 verstanden hat. Wenn man von der eigentlichen Rechtstheologie des Gnadenbundes (foedus gratiae) her urteilt, ist der Tod Jesu als Bewährung der Bundestreue zu Gott der Tod des Gesetzerfüllenden (nach der redaktionsgeschichtlichen Absicht des Matthäus-Evangeliums). Moltmann verliert - wegen seiner einseitigen Vorsicht vor der Thoratheologie - den rechtlichen Grundzug des Gnadenbundes als solchen aus den Augen. Damit würde aber die bundesgeschichtliche Kontinuität des Todes Jesu seit dem Alten Testament verneint. Wo ist dann der Unterschied zwischen Moltmanns Gott und Marcions Gott, der sich ganzheitlich dem Alten Testament widersetzt? Die Bedeutung des Kreuzes Jesu ist freilich die bedingungslose Rechtfertigung des Ungerechten. Aber sie ist in der vermittelnden, sich-hingebenden Stellvertretung für uns begründet. Da diese Stellvertretung die grundlose Gnade ist, eben darum ist die Rechtfertigung auch bedingungslos. Der Grund dafür, daß von dieser vermittelnden Stellvertretung bei Moltmann keine Rede sein kann, liegt darin, daß er den hermeneutischen Rahmen der Zwei-Naturen-Lehre weggelassen hat. Deswegen bleibt seine 479
G . Schrenk, Gottesreich und Bund im älteren Protestantismus, S. 85 ff.
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Soteriologie das Mitleid/-en Gottes, seine sympathische Solidarität mit den Menschen, und erreicht nicht die Ebene der wahrhaften Versöhnung Gottes mit der Welt. Wie verhält es sich nun mit diesem Problem bei Karl Barth? Auch Barth widerspricht zunächst der Vorgehensweise, daß man die Sühne-Theorie als Auslegungsrahmen ansieht. Insofern stimmt Barth der Anselmschen Satisfaktionslehre nicht zu. Der Gedanke, daß Jesus Christus durch sein Erleiden dem Zorne Gottes genug getan, Satisfaktion geleistet habe, ist nach Barth »dem Neuen Testament ganz fremd«. 4 8 0 Was im Kreuzigungsgeschehen entscheidend ist, ist nicht primär das Ersparen unserer Strafe, sondern die Tatsache, daß Jesus Christus »mit uns als Sündern und damit mit der Sünde selbst in seiner Person Schluß gemacht« hat. Der Erlaß der Strafe ist nur ein sekundäres Moment, das sich aus dieser Vernichtung der Sünde ergibt. 481 Es ist nicht so, daß Jesus Christus Gott zufriedengestellt hat. Sondern Gott selber hat in seinem Sohn »das zur Versöhnung der Welt mit Gott Genügende« getan - satis fecit! - . 4 8 2 So legt Barth Wert auf das subjektive Handeln Gottes selbst. Insofern läßt sich sagen, daß Barths Versöhnungslehre dem Theopaschitismus näher als dem neutestamentlichen Hyiopaschitismus steht. 483 Dennoch müssen wir darauf aufmerksam machen, daß Barth trotz des Ortswechsels der Wertlegung nicht den hermeneutischen Rahmen der Bundestheologie als solchen aufgegeben hat. Der alttestamentliche Rahmen der Sünde und Strafe ist, wie erwähnt (—> 4.4.2), auch im Neuen Testament nicht abgeschafft, sondern fortgesetzt und durch das Geschehen dessen, daß der Richter eben in diesem Rahmen gerichtet wurde, »aufgehoben« worden. 4 8 4 Barths Betonung der Kontinuität der Bundesgeschichte ist von daher begründet, daß gerade der Bund die Voraussetzung der Sünde und also auch 4 8 0 KD IV, 1, S.279. Vgl. E. Lohse, Märtyrer und Gottesknecht, S. 110, 121, 146, 148, 150, 153, 155, 158. 4 8 1 KD IV, 1, S.279. 4 8 2 KD IV, 1, S. 304. Im Zusammenhang mit dem Begriff des Opfers erklärt Barth diesen Punkt noch weiter: das Problem des Opfers kommt vor, wenn die Darbringung »zu einer religiösen Unternehmung, als ein >do ut des< verstanden wird, nur wenn es (sc. das Opfer) sich wandelt in einen Versuch des Volkes, sich seines Gottes zu bemächtigen und sich selbst vor ihm zu sichern, seine Sünde vor ihm zu verbergen, statt auszubreiten«, obwohl durch das Opfer als solches an seiner Sünde nichts geändert wird. (IV, 1, S. 306). Aber im Ereignis Jesu Christi ist Gott selber es, der das Opfer des Gehorsams fordert und zugleich bringt: »Weil der, der sich dazu hergibt, derselbe ewige Gott ist, der eben das will und fordert, weil Christus certo respecto sibi ipsi satisfecit (Hollaz, Ex. Theol. acroam. 1707 II, 3, qu. 77), weil beides, dieses Fordern und dieses Hergeben, eine einzige zusammenhängende Entscheidung in Gott selber ist, darum wird hier wirklich genug, d.h. das Genügende getan, jene Beseitigung und Auflehnung ganz und gründlich vollzogen« (S. 309). 4 8 3 Siehe z.B. KD III, 2, S. 734. Vgl. Berkouwer, aaO., S.279, 283ff.; Klappert, Die Auferweckung des Gekreuzigten, aaO., S. 183 Anm. 58; Krause, aaO., S. 173 ff. 4 8 4 KD I, 2, S. 93, 120; IV, 1, S. 279. »Die göttliche Verzeihung ist aber auch kein unrechtmäßiges Verzeihen. Sie ist gerade als Verzeihung die Ausübung seines höchsten Rechtes und zugleich die Herstellung des Rechtszustandes zwischen sich und dem Menschen, die wirksame Behauptung seiner Ehre ihm gegenüber« (IV, 1, S. 666).
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die Voraussetzung der Rechtfertigung ist.485 Eben aus diesem Grund hat Barths Versöhnungslehre u.E. - die Initiative des trinitarischen Gottes betonend - zugleich auch die Struktur der Zwei-Naturen-Lehre, die dynamisch auf die Zwei-Stände-Lehre (status exinanitionis und status exaltationis) bezogen wird, und zwar die Erniedrigung des Sohnes Gottes (IV, 1) und die Erhöhung des Menschensohnes (IV, 2). Jesus Christus ist nicht nur die zweite Person des trinitarischen Gottes als Sohn, sondern auch Gottessohn und zugleich Menschensohn. Und in seiner Person und Geschichte wechseln der sich erniedrigende Gott und der erhöhte Mensch miteinander ihre Position, und wir die sündigen Menschen dürfen bundesrelatiologisch an dieser Bewegung teilnehmen. Wir müssen also erneut dem Umstand Aufmerksamkeit schenken, daß die Menschheit Jesu im Ereignis der Versöhnung nicht vernachlässigt wird: »Es ist wohl wahr, daß dieser Mensch Gottes Sohn ist, daß also in ihm Gott selber erleidet... Das allein gibt ja dem Leiden dieses Menschen die Kraft der Stellvertretung und also die Versöhnung der Welt mit G o t t . . . Aber es ist der Sohn Gottes als dieser Mensch, der in seinem Tod... dieses Leid erlitten, diese Strafe getragen hat. Und es ist dieser Charakter, diese Qualität des menschlichen Todes als ewige Strafe, die die Gemeinde Jesu Christi in dessen Kreuzestod vor Augen hat.« 486 Ohne diese Menschheit, die mit und in dem Menschensohn erhöht wird, kann es die Erniedrigung des Gottessohnes nicht geben. Hierin gilt die vermittelnde Stellvertretung Jesu Christi. Das heißt natürlich nicht, daß diese Menschheit etwas zur Versöhnung beitragen kann. Die Menschheit bleibt an- und enhypostatisch. Dennoch ist die Versöhnung nicht ohne Menschheit. In diesem Punkt sind wir gegen den Einwand, daß die Mittlerschaft Christi in Barths Theopaschitismus fehle.487 Auch Barth betont die Mittlerschaft Christi aufgrund der Zwei-Naturen-Lehre. Dabei will er den Gedanken vom meritum hominis durchaus ausschließen. Wenn wir uns hier die an- und enhypostatische Teilnahme der Menschheit Christi an der Gottheit und außerdem die relations-ontologische, also auch an- und enhypostatische Teilnahme unserer Menschheit an der Menschheit Jesu Christi vor Augen halten, dann können wir - befreit von dem Zweifel des Meritum-Gedankens - die vermittelnde Stellvertretung Jesu Christi festhalten. Und wenn wir überdies unsere Relation zu Jesus Christus als die Bundesrelation, die auch die Echohaftigkeit einschließt, ansehen, kann die Stellvertretung Jesu Christi nicht bloß exklusiv-objektiv, sondern zugleich inklusiv-subjektiv sein. Da Jesus Christus Gottessohn und zugleich Menschensohn ist, ist Gott Deus pro nobis und sein Tod bringt uns das wahrhafte Heil als Versöhnung der GottMensch-Relation. 4 8 5 Vgl. H . Κ-üng, Rechtfertigung. Die Lehre Karl Barths und eine katholische Besinnung, (1957) München/Zürich 1986, S. 3 3 - . 4 1 ; B. Klappert, Promissio und Bund. Gesetz und Evangelium bei Luther und Barth, Göttingen 1976, S. 67ff. « о K D III, 2, S. 734. Vgl. II, 2, S. 133. 4 8 7 Berkouwer, aaO., S. 2 8 4 f .
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4.5.2.4 Der
Stauro-pan(en)theismus
Unsere letzte Frage ist, ob wir notwendigerweise vom Sein des Kreuzes in Gott reden müssen, wenn wir vom Sein Gottes im Kreuz reden. Wenigstens Moltmann denkt so. Wenn Gott in Auschwitz war, ist der Satz: Auschwitz sei in Gott, nach Moltmann eine notwendige Konsequenz. 488 Auch nach E. Jüngel läßt Gott den Tod das Sein Gottes bestimmen, indem er selber in den Tod gekommen ist. Der Tod wird nun »ein Gottesphänomen«.489 Die Absicht dieser Aussagen ist zwar auch uns nicht unverstehbar, aber wir müssen doch auf die gefährliche Tendenz hinweisen, die sich dahinter verbirgt. Die Konsequenz der Tatsache, daß Gott in Christo, also Gott im Kreuz Christi geredet wird, ist eine bedeutsame theologische Erkenntnis, um den »Doketismus des Kreuzes« zu überwinden. Führt aber nicht der weitere Schritt, daß von dem Kreuz in Gott die Rede ist, möglicherweise zum MißVerständnis, daß man das Kreuz verewigt und rechtfertigt? Wenn das Kreuz und der Tod in Gott verewigt würden, würde der Triumph Gottes in der Auferstehung unklar gemacht und dann müßte man schließlich von einer ewigen Tragik in Gott reden. Moltmann, der den Doketismus des Kreuzes eifrig vermeiden wollte, hat umgekehrt die geschichtliche Einmaligkeit des Kreuzes übersehen und ist dann in denselben spekulativen, ungeschichtlichen »Pantheismus des Kreuzes« geraten, wie Hegels »spekulativer Karfreitag« ihn bezeichnet.490 In dieser Hinsicht verdient Klapperts Kritik an Moltmann große Aufmerksamkeit. Bei Moltmann werde nämlich »allerdings die von Barth sorgsam vorgenommene Unterscheidung zwischen der wesentlichen Bundesbestimmtheit des trinitarischen Lebens Gottes und der kontingenten Protestbestimmtheit der trinitarischen Kreuzesgeschichte Gottes übersehen«.491 Die Betonung dieser Unterscheidung ist wichtig. Passio Dei am Kreuz ist zwar actio Dei, die ihre Wurzeln im Wesen Gottes hat. Das ändert aber nichts daran, daß diese wesentliche actio Dei eigentlich Gottes Protest als reactio gegen die zufällige, Unrechte Invasion des Nichtigen ist. Gott triumphiert in diesem Protest und läßt das Geschöpf an der Freudensgeschichte Gottes im auferstandenen Leben teilnehmen - das ist der ganze Prozeß der actio Dei: »Es kann... nicht bedeuten, daß Gott der Vater mit dem Tode, mit der Negation des menschlichen Daseins identisch wäre. Hier wird ja vielmehr im Tode der Tod, in der Negation die Negation überwunden. Auferstehung ist ja die Kraft des Kreuzes, Lebensgewinn die Kraft des Lebensverlustes.«492 Mit anderen Worten, das Kreuz Gottes ist zwar für Gott wesentlich, aber Möllmann, Kreuz, S. 267. Jüngel, Vom Tod des lebendigen Gottes, S. 123. 4 9 0 Moltmann, Kreuz, S. 266. 4 9 1 Klappert, Die Gottverlassenheit Jesu und der gekreuzigte Gott, S. 50; ders., Tendenzen der Gotteslehre in der Gegenwart, in: EvTh 35, 1975, S. 204. 4 9 2 KD 1,1, S. 408. 488 489
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nicht im Sinne dessen, daß das Kreuz für Gott wesenskonstituierend ist, sondern im Sinne dessen, daß das Kreuz für Gott wesenskonfrontierend ist, und zwar daß Gott sich dem Nichtigen vom Wesen her konfrontiert. Bei Moltmann wird aber der Kreuzestod - trotz seiner Betonung der Auferstehung - zur ewigen Bedingung für Selbstkonstitution des liebenden Gottes, und die Bereitschaft Gottes zum Leid wird zum Seinsollenden, das seine Liebe konstituiert.493 Dieselbe Kritik gilt auch für Jüngel, wenn er beim Kommentieren Luthers sagt, daß »Gottes Sein sich von vornherein auf diese Geschichte (sc. das Kreuz Jesu) hin ontologisch entwirft«.494 Jüngel behauptet, daß in der Struktur der Liebe Selbstbezogenheit und Selbstlosigkeit des trinitarischen Gottes einander nicht widersprechen. »Es entsprechen sich Selbstbezogenheit und Selbstlosigkeit in der Liebe vielmehr so, daß man... von einer ja immer größeren Selbstlosigkeit in noch so großer... Selbstbezogenheit reden muß.« Und der Kreuzestod ist eben als die höchste Selbstlosigkeit zugleich die Bestätigung der Selbstbezogenheit Gottes. 495 Wir fragen aber weiter, warum die höchste Form der Liebe der Kreuzestod sein muß. Wäre dann nicht der Tod die konstituierende Bedingung für Liebe ? Und ist der Tod wirklich als »Gottesphänomen« zu bezeichnen? Gott hat in den Tod eingegriffen und hat seine nichtige Macht vernichtet. Gott hat aber niemals den Tod ins Gottesphänomen aufgenommen und einen Freundschaftsvertrag mit dem Tod geschlossen. Das Sterben-können des Menschen seit dem Tode Jesu: »Selig sind die Toten, die in dem Herrn sterben von nun an« (Offb. 14,13), ist u.E. nicht dadurch begründet, daß der Tod in Gott ist, sondern dadurch, daß der Tod von Gott »tödlich am Lebensnerv getroffen wurde« und nicht mehr in Gott ist (Offb 21,4), und daß das Leben in der Auferstehung zum Gottesphänomen für uns geworden ist. Wir wünschen nur, daß »das Sterbliche von dem Leben verschlungen würde« (2.Kor 5,4). Aber Jüngels Gedanke führt zum »Thanato-entheismus«,496 nach dem alles Sterbliche in Gottes Tod ist. Kurzum, solcher Gedanke führt zur Hegeischen und auch Schellingschen Theogonie, daß Gott erst durch die Teilnahme an dem Leiden der Welt zu sich »werden« kann. Und damit wird schließlich das Leiden der Welt als 4 9 3 Vgl. T. Pröpper, Erlösungsglaube und Freiheitsgeschichte. Eine Skizze zur Soteriologie, München 1985, S. 82. 4 9 4 E. Jüngel, Vom Tod des lebendigen Gottes, S. 115. Das Kreuz bedeutet also nach Jüngel die notwendige ontologische Selbstdefinition Gottes (aaO., S. 118 f., 122). Auch H.-M. Barth macht den ähnlichen Fehler, wenn er das Leiden als das in der »Selbstverwirklichung Gottes im Schaffen, Erlösen und Vollenden« Zugeordnete ansieht (Angesichts des Leidens von Gott reden, in: Pastoraltheologie 75, He. 3, 1986, S. 126ff.). Und Kitamori gerät ebenfalls in die Schwierigkeit, daß der Schmerz zur notwendigen Bedingung für die Liebe Gottes wird, wenn behauptet wird, daß die Liebe Gottes durch den Schmerz Gottes am Kreuz begründet werden muß (aaO., S.41f., 115ff.). Der Schmerz Gottes ist u.E. umgekehrt in der Liebe Gottes begründet. 4 9 5 E. Jüngel, Gott als Geheimnis der Welt, Tübingen 1978, S. 506, 509. Vgl. Mühlen, aaO., S. 32; Moltmann, Kreuz, S. 145,230f„ 232. 4 9 6 Krause, aaO., S. 186.
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conditio sine qua non für die Liebe im Prozeß der Selbstverwirklichung Gottes aufgewertet. Eben aus diesem Grund übt Barth mit Hegel nicht so viel Nachsicht wie die gegenwärtige Kreuzestheologie, die Hegel wiederentdeckt hat. Die Passion Jesu Christi ist das einmalige geschichtliche Ereignis und also keine religiöse, kultische Spekulation von leidenden und sterbenden Gottheiten. 497 Der Karfreitag ist von Hegel als ein zeitloses, ewiges Moment gedacht worden. Daraus ergibt sich, daß auch die Versöhnung als ein ewiger Prozeß des Selbstwerdens Gottes gedacht werden muß. 498 In dieser pantheistischen ewigen Selbstentwicklung Gottes ist der Karfreitag zum wesenskonstituierenden, notwendigen Moment geworden. Man könnte eben den Urtyp des Stauro-pan(en)theismus bei Hegel erkennen. Der in der Freiheit liebende Gott ist aber niemals in die Weltrelation aufzulösen. Gott ist nicht »der Gefangene der Welt«. In diesem Sinne sieht Barth den Grundfehler in der Hegeischen Philosophie der Liebe: Gott und Mensch verlieren sich gegenseitig in anderen und erst damit gewinnen sie die Identität zwischen den beiden 4 9 9 Selbstverständlich gilt diese Kritik auch für Schelling, weil auch bei ihm vom theogonischen, wesenskonstituierenden »Schmerz Gottes« die Rede war.
4.5.3 Die Theodizee
der
Auferstehung
Die Theodizee des Kreuzes kommt nicht zustande ohne die Theodizee der Auferstehung. Die erstere ist Voraussetzung für die letztere, und die letztere ist das Ziel der ersteren. Jene doppelte Rechtfertigung, die Gott im Kreuzestod Jesu vollzogen hat, erreicht ihr Ziel in der Auferweckung Jesu. Jesus Christus, der »gerechtfertigt im Geist« (l.Tim 3,16) ist, ist gerade »um unserer Rechtfertigung willen auferweckt« (Rom 4,25). Damit aber hat Gott zugleich und allererst sich als Schöpfer selber gerechtfertigt.500 Wenn Jesus im Tode als dem Nichtigen nur »sein Haupt neigte« (Joh 19,30) und nicht auferstanden wäre, hätte Gott das Chaos und die Finsternis de facto anerkannt und sich nicht als Schöpfer der von ihm gut geschaffenen Welt bestätigt. Eben das wollte aber Gott nicht: »Es bewährte und offenbarte die in Jesu Christi Auferweckung vollzogene Rechtfertigung, in welchem Sinn Gott in dessen Tod recht hatte und behielt: nicht in Preisgabe, sondern in Behaup-
498
K D IV, 1, S. 269. Vgl Krötke, aaO., S. 30.
4 9 9 K D 1,2, S. 414. Barth kritisiert auch Α . E. Biedermann, der Gott aufgrund des Hegeischen Liebesbegriffs als Weltprozeß verstanden hat (II, 1, S. 316f.). Die ähnliche Gefahr, Gott in der Welt-Beziehung aufgehen zu lassen, ist nach Barth auch bei F. Schleiermacher und R. A . Lipsius zu erkennen (II, 1, S. 595 f.). Auch darin liegt der Grund dafür, daß Barth die immanente Trinität der ökonomischen Trinität sachlich vorzieht. ( K D I, 1, S. 403 f. Vgl. Chr. Link, Die Welt als Gleichnis, S. 168).
so« K D IV, 1, S. 3 3 7 , 3 3 9 . Vgl. II, 1, S. 455.
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tung seines Rechtes gegen die sündigen Menschen...« 501 Die Auferstehung ist also weder bloß die noetische Kehrseite des Kreuzesgeschehens, noch die Erklärung über dessen Bedeutung und Gültigkeit, noch die existentielle Bedeutsamkeit des Kreuzes (R. Bultmann). Sie ist »eine dem Kreuzesgeschehen gegenüber selbständige, neue Tat Gottes«. 502 Denn Gott hat die Freiheit, den Menschen in seinem schöpferischen Ja am Morgen der Auferstehung Jesu Christi, »in einem neuen >Es werde Licht !