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German Pages 752 Year 2012
Friedemann Kreuder, Michael Bachmann, Julia Pfahl, Dorothea Volz (Hg.) Theater und Subjektkonstitution
Theater | Band 33
Friedemann Kreuder, Michael Bachmann, Julia Pfahl, Dorothea Volz (Hg.)
Theater und Subjektkonstitution Theatrale Praktiken zwischen Affirmation und Subversion Unter Mitarbeit von Nadine Peschke und Nikola Schellmann
Gedruckt mit Unterstützung der Gesellschaft für Theaterwissenschaft
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2012 transcript Verlag, Bielefeld
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Inhalt
Vorwort | 11
S ONDIERUNGEN Austauschverhältnisse. Die Geburt des modernen Subjekts auf dem Theater
Doris Kolesch | 21 Cédric Andrieux von Jérôme Bel. Choreographische Strategien der Subjektwerdung
Gerald Siegmund | 41 Selbst und Selbst-Widerspruch. Notizen zum Drama der Subjektkonstitution
Carl Hegemann | 55
D ISKURSIVE HERVORBRINGUNG DES SUBJEKTS „Glücks-Töpffer, Comoedianten und dergleichen Zeug“. Pietistische Theaterfeindlichkeit vor 1700
Corinna Kirschstein | 73 Wenn die Stimme ihr Organ erfindet. Subjektkonstruktion und Körper(Zeichen) im Werk Emil Sutros
Petra Bolte-Picker | 85 Prekäres Selbst. Individualität und Gemeinschaft im Massediskurs des frühen 20. Jahrhunderts
Miriam Drewes | 97 Antikenräume, Gegenwartsräume, hybride Räume. Das vergesellschaftete Subjekt und das Totaltheater
Julia Stenzel | 107 Theater für den Kulturstaat! Gemeinschaft und nationale Identitätsbildung in der Kulturpolitik der Weimarer Republik
Bianca Michaels | 121
Die Szene des Subjekts im westafrikanischen Theater der Gegenwart – Burkina Faso
Annette Bühler-Dietrich | 133 Stimm-Maskeraden. Zur Politik der Polyphonie
Jenny Schrödl | 145 Subjekte der Zukunft. Die Schauspielschule und die Rhetorik der Institution
Wolf-Dieter Ernst | 159
TECHNIKEN DES SELBST: H ANDLUNGSMODUS SUBJEKTIVITÄT Im Versteck. Die verborgene Seite der Subjektkonstituierung
Matthias Warstat | 175 Subjektwerdung in der Mediengesellschaft
Lutz Ellrich | 183 Das Theater der Askese als ‚Arbeit an sich selbst‘
Barbara Gronau | 193 Sich selber spielen? Zur bodenlosen Mehrbödigkeit der Figuren Forced Entertainments
Stefanie Husel | 205 Ästhetik – Subjekt – Spiel. Plädoyer für eine soziogenetisch-intersubjektive Spieltheorie
Clemens Stepina | 217 Radikal jung? Der neue Trend zum Minimalismus in der Ästhetik Junger RegisseurInnen
Andreas Englhart | 231 Der Performer als Objekt seiner selbst. Das Prinzip Schlingensief
Andreas Kotte | 241 Die Kunst des Abschiednehmens. Überlegungen zu Christoph Schlingensiefs Inszenierung von eigenem Sterben und Tod
Sandra Umathum | 253
ERFAHRUNGS- UND ERINNERUNGSRÄUME The Spell of Janet Cardiff. Techniken der Subjektkonstitution in den Audiowalks von Janet Cardiff und Georges Bures Miller
André Schallenberg | 265 Subjektwerdung im Blick. Die Szene des Gesehenwerdens
Adam Czirak | 275 Subjektverortung – Subjektpassage. Der Bahnhof als theatraler Raum
Annika Wehrle | 285 Das un-heimliche Subjekt. Szenographien des Wohnens in der Gegenwartskunst (Rachel Whiteread, David Hoffos)
Michael Bachmann | 297 Missverständnisse als Stolpersteine der Subjektkonstitution
Constanze Schuler | 313 Das röhrende Er und fiepsende Sie. Notate zur Auflösung des Subjekts am Beispiel des Workcenter of Jerzy Grotowski and Thomas Richards
Gabriele C. Pfeiffer | 325 Dieses obskure Subjekt der Begierde. Bruchstück zu einer vorläufigen Verteidigung der Zentralperspektive und des cartesianischen Subjekts
Sebastian Kirsch | 339 sujet supposé spectateur
Eva Holling | 351 „Keine Heimat, sondern nur ein Abenteuer“. Venedig zwischen kultureller Imagination und Rezeption
Dorothea Volz | 363 Gunter Demnigs Erinnerungsprojekt Stolpersteine. Zur performativen Vergemeinschaftung eines kulturellen Gedächtnisses des Holocaust
Caroline Fries | 373 Subjekte des Hörens, Subjekt der Geschichte. Kanada und die Audiowalks von Cardiff/Miller
Sabine Kim | 383
S UBJEKTIVATION UND T HEATRALITÄT Die Körper der Charlotte Ackermann
Beate Hochholdinger-Reiterer | 395 „Ah, non son'io che parlo…“ Entäußerung als Subjektstrategie in der opera seria des 18. Jahrhunderts
Anke Charton | 407 Toilettenkunst oder Tugendhaftigkeit? Die Konstruktion der Schauspielerin um 1900 als bürgerliches Anti-Subjekt
Stefanie Watzka | 417 „Subjection“. Schauspielen als Unterwerfung unter die Macht der Schönheit
Katharina Wild | 425 Zimtfarbener Überrock und Spazierstock-Pirouetten. Über Henri Beyle und Stendhal
Sebastian Hauck | 437 Subjekt und Objekt zugleich. Gedanken zum ‚geteilten‘ Körper in der Peking Oper
Daniela Pillgrab | 449 Bruscambille – Des Lauriers – Jean Gracieux. Wer ist jetzt wer? Komödiantische Dreieinigkeit versus Identität
Katharina Dufek | 461 Subjektmodellierung und Subjektrepräsentation. Fernsehdokumentationen zur Schauspielausbildung in BRD und DDR
Anja Klöck | 477 Der Blick auf das Publikum. Demontage des tragischen Subjekts in populären Theaterformen
Martina Groß | 491
CHOR UND MIT-SEIN: SUBJEKT DES CHORES Inszenierungen des Kollektivsubjekts im Thingspiel
Evelyn Annuß | 507 „Der Golgathaweg der Arbeiterklasse“. Einar Schleefs Neuformulierung der Tragödie
Christina Schmidt | 519 Ein Chor, der um seine (Ver-)Fassung ringt. Roland Schimmelpfennigs Idomeneus in der Inszenierung von Jürgen Gosch
Stefan Tigges | 529 Plus d ’un rôle. Zusammen spielen in gegenwärtiger Tanz-, Theaterund Performance-Praxis
Nikolaus Müller-Schöll | 545
D AS POLITISCHE SUBJEKT Der Auftritt des politischen Subjekts. Robert Prutz und die Theater-Öffentlichkeit im Vormärz
Meike Wagner | 561 Kriegsmaschinentheater. Versehrte Körper, entmachtete Subjekte, aufständische Dinge – vom Unterhaltungstheater zur Avantgarde (1914-1922)
Eva Krivanec | 575 Wer ist Othello? Zur Konstruktion von Identität und Fremdheit in zeitgenössischen Inszenierungen von Shakespeares Othello
Miriam Dreysse | 587 ‚Spielverderber‘ oder: Das subjektkonstituierende Potential des Subversiven. Der Aktionist und Theaterperformer Joe Berger
Julia Danielczyk | 603 Zwischen Entwurf und Verlust. Oszillationen von Subjekt und Körper in Bewegung
Susanne Foellmer | 615 Rehearsing Boal
Joel Anderson/Tony Fisher | 627
Vom verlorenen Subjekt zum ‚Global Player‘? Postkoloniale Identitätskonzepte im Theater Robert Lepages
Julia Pfahl | 643 The Baltic Way as a Political Performance of Subjectivization
Steve Wilmer | 655 Betwixt and Between. Dämonen-Trickster im brasilianischen Theater
Dania Schüürmann | 663
KÖRPER-RÄNDER UND GRENZEN DES HUMANEN „Ich bin anders“. Subjektkonstitutionen physischer Alterität im zeitgenössischen Tanz
Christina Thurner | 679 In Rage reden. Zum Verhältnis von Wut und Subjekt in amerikanischen Performance-Monologen der 1980er
Vivien Aehlig | 689 Skin Taking Place. Tracing the Nomadic Skin into the 1990s and thereafter
Yu-Chien Wu | 701 Matrixial Subjectivity at the Borders of Theatre and Life
Branislava Kuburoviü | 715 Subjektkonstitution in vernetzten Systemen
Birgit Wiens | 727
Abbildungen | 739 Autorinnen und Autoren | 741
Vorwort
Das Problem der Subjektkonstitution erscheint als zentrale Schnittstelle bei der Betrachtung theatraler Praktiken aus einer kunst- und kulturwissenschaftlichen Perspektive. Das Spiel mit verschiedenen Formen von Subjektivität – sei es in ihrer Fragmentierung oder als Behauptung eines autonomen, mit sich selbst identischen Subjekts – verweist im theatralen Rahmen auf das Prekäre der Subjektkonstitution, insofern letztere von der spielerischen Qualität des Vorgangs destabilisiert wird. Eine Schrift wie Diderots einflussreiches Paradoxe sur le comédien (1830) verortet diese Unsicherheit auf der Grenze von Theater und Leben – kaum anders als der Schauspieler auf der Bühne ist auch der Mensch in Gesellschaft einer wechselseitigen Heimsuchung von Rollenspiel und leibgebundener Empfindsamkeit ausgesetzt, innerhalb derer die jeweilige Subjektposition erst ausgehandelt werden muss.1 In der gängigen Lesart Diderots wird die beschriebene Heimsuchung zugunsten einer ‚kalten‘ Darstellung der Rolle aufgelöst, die das Ich zwar maskiert, aber – auf der Bühne wie im Leben – unbeschadet lässt. Im 20. Jahrhundert glaubt die philosophische Anthropologie Helmuth Plessners, unter anderen Vorzeichen, eine solche Spaltung als menschliche Grundkonstante in der „Anthropologie des Schauspielers“ (1948) erkennen zu dürfen. Im Schauspiel mache sich der Mensch seine exzentrische Position, die „uneinholbare Abständigkeit zu sich selbst“ durchsichtig: „Bedeutsamerweise bringt der Bildentwurf, in dem der Darsteller zur Verkörperung als Mensch seiner Rolle kommt, die Bildbedingtheit menschlichen Daseins ins Licht.“2 Eine solche Auffassung der schauspieleri-
1
Vgl. Diderot, Denis: „Das Paradox über den Schauspieler“, in: ders.: Ästhetische Schriften. Bd. 2. Hg. von Friedrich Bassenge. Berlin: Verlag das Europäische Buch 1984, 481539.
2
Plessner, Helmuth: „Zur Anthropologie des Schauspielers“, in: ders.: Gesammelte Schriften. Bd. 7. Ausdruck und menschliche Natur. Hg. von Günther Dux et al. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1982, 399-418, hier: 417.
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schen Aktion als „Spiegelverhältnis des Darstellers zum Zuschauer selbst“3 hat auf die Theaterwissenschaft zurückgewirkt in Versuchen, die europäische Theaterbzw. Dramengeschichte als Geschichte von Subjektmodellen und Identitätsangeboten zu schreiben; paradigmatisch ist dies in den Arbeiten Erika Fischer-Lichtes verwirklicht.4 Gegen die Idee der anthropologischen Grundkonstante, wie sie bei Plessner zum Tragen kommt, lässt sich die poststrukturalistische Problematisierung des Subjektbegriffs anführen, die – wie Foucault in seinem Aufsatz „Nietzsche, la Généalogie, l’Histoire“ (1971) schreibt – „das Diskontinuierliche in unser […] Sein“ einführt.5 Gerade weil sie von der Begrenztheit des Subjektbegriffs ausgehen und bisweilen eine Art Utopie der Subjektlosigkeit entwickeln, lenken Foucaults Überlegungen den Blick auf historisch differente Positionen und Formierungen von Subjektivität. Für die zeitgenössische Kulturtheorie entsteht Subjektivität in individuell leibgebundenen Prozessen ihrer ständigen Aushandlung und Hervorbringung vor dem Hintergrund gesellschaftlich gegebener Normen. Kultur wird nicht mehr als Text und Monument, sondern als körper- und handlungsbasierte Prozessualisierung von Sinn verstanden. Der Soziologe Andreas Reckwitz zum Beispiel begreift in Das hybride Subjekt (2006) die Materialität und Prozessualität des Körpers als Aus- und Aufführungsort von Kultur; Handlungen werden gesellschaftskonstitutiv, indem sie kulturelle Codes und symbolische Ordnungen verdinglichen und verkörpern. Aus der praxeologischen – d.h. auf soziale Praktiken ausgerichteten – Perspektive von Reckwitz wird so auch der Prozess der Subjektkonstitution oder, in seinen Worten, „Subjektivation“ als beständige Aus-Handlung vor dem Hintergrund des Repertoires gesellschaftlich gegebener „Subjektformen“ begriffen, die als Dispositive und wissensabhängige Normen der Praxis interiorisiert werden. Die Prozessualität der Subjektkonstitution entfaltet sich dabei in den drei maßgeblichen produktiven Räumen humanwissenschaftlicher Diskurse, materialer Kultur (Artefakte, Medien) und kultureller, ästhetischer Bewegungen.6 Mit ihrer heuristischen Fokussierung von Praktiken ist die zeitgenössische Kulturtheorie wissenschaftsgeschichtlich geprägt von geisteswissenschaftlicher Theoriebildung u.a. in der (Sprach-)Philosophie, Psychologie und in der Theaterwissen3
Plessner 1982: 406 (vgl. Anm. 2).
4
Vgl. Fischer-Lichte, Erika: Geschichte des Dramas. Epochen der Identität auf dem Theater von der Antike bis zur Gegenwart. Bd. 1 + 2. Tübingen: Francke 1990 sowie FischerLichte, Erika: Kurze Geschichte des deutschen Theaters. Tübingen: Francke 1993.
5
Foucault, Michel: „Nietzsche, die Genealogie, die Historie“, in: ders.: Von der Subversion des Wissens. Hg. von Walter Seitter. Frankfurt am Main: Fischer 1993, 69-90; hier: 80.
6
Vgl. Reckwitz, Andreas: Das hybride Subjekt. Eine Theorie der Subjektkulturen von der bürgerlichen Moderne zur Postmoderne. Weilerswist: Velbrück Wissenschaft 2006.
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schaft, hier insbesondere zur Theatralität, Performativität, Phänomenologie, Medialität und Bildlichkeit. Nach dem gegenwärtigen soziologischen Verständnis von Subjektivität als ‚doing subjects‘ konstituiert sich Individualität in den Spielräumen der Subjektform und ist damit anfällig für die prekären, instabilen Momente von idiosynkratischer Durchkreuzung, Verfehlung und Scheitern. Diese manifestieren sich auf der Wirklichkeitsebene gesellschaftlicher Realitäten im aktuellen Wirtschaftssystem des Neoliberalismus in den von Ulrich Bröckling bzw. Alain Ehrenberg aufgewiesenen psychopathologischen Symptomatiken des „unzulänglichen Subjekts“ bzw. „erschöpften Selbst“ derjenigen, die hinter die idealisierte Subjektform des „konsumtorischen Kreativsubjekts“ zurückfallen.7 Sie werden zugleich aber auch in der emanzipativen Tendenz von leiblichen Performances evident, die dezidiert eine quasi-natürliche Neigung zur Vervielfältigung von Identitäten, zum unberechenbaren Wechsel, zur Abweichung realisieren und soziale Praktiken auf den paradoxen Anspruch verpflichten, sich im Sinne eines Spiels des Neuen selbst zu überschreiten. So formuliert die Kulturtheorie Judith Butlers in souveräner Wendung der Kontingenz des Selbstverstehens des Subjekts im Rahmen der historisch jeweils gegebenen Subjektform Techniken der irritativen Überschreitung, etwa das Experimentieren mit sexuellem Begehren. Ausgehend von der grundsätzlichen Konstruiertheit des menschlichen Geschlechts, betrachtet Butler „Verkleidung“ oder „Maskerade“ als eine Stufe der „Performativität“ oder „Inszenierung“ von Geschlecht.8 Maskerade findet in diesem Verständnis in jenem kontinuierlichen Prozess statt, in dem die durch die offiziellen Diskurse starr festgelegten Geschlechtergrenzen immer wieder überschritten und beweglich gemacht werden, in dem Menschen sich anders inszenieren, als die gesellschaftliche Norm es vorsieht. Neben explizit künstlerisch-ästhetischen Manifestationen theatraler Inszenierungsstrategien, die mit der Inszenierung von Identitäten spielen, rücken hier auch Formen kultureller Praktiken in den Blick, die die performative Verfasstheit von Subjekten gerade nicht ostentativ ausstellen, sondern im Kontext bestimmter diskursiver Vorstellungen bewusst verschleiern. Dabei stellt sich angesichts der wachsenden Bedeutung medialer Darstellungsmittel die Frage, inwieweit deren spezifische Mecha7
Vgl. Bröckling, Ulrich: Das unternehmerische Selbst. Soziologie einer Subjektivierungsform. Frankfurt am Main: Suhrkamp 2007 sowie Ehrenberg, Alain: Das erschöpfte Selbst. Depression und Gesellschaft in der Gegenwart. Frankfurt am Main: Suhrkamp 2004.
8
Vgl. Butler, Judith: „Performative Acts and Gender Constitution: An Essay in Phenomenology and Feminist Theory“, in: Case, Sue-Ellen (Hg.): Performing Feminisms. Feminist Critical Theory and Theatre. Baltimore/London: Johns Hopkins University Press 1990, 270-280; Butler, Judith: Das Unbehagen der Geschlechter. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1991; Butler, Judith: Körper von Gewicht. Die diskursiven Grenzen des Geschlechts. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1997.
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nismen der Hervorbringung von Bildern affirmativ auf bestimmte Vorstellungen von Subjektivität wirken, indem sie sie perpetuieren und gleichzeitig die performative Verfasstheit von Identität negieren oder ob gerade die besondere Theatralität medialer Inszenierungsstrategien auch dazu beitragen kann, diese als solche zu entlarven. Inwieweit wird die Medialität des Akteurskörpers, der im Material seiner eigenen Existenz eine Figur hervorbringt, zum Schlüsselkonzept der Erforschung subjektkonstitutiver Akte? Welche Rolle spielen hierbei intermediale Austauschprozesse mit populärer Kultur und modernen Medien? Ist bei Prozessen der „EntUnterwerfung“ (Butler)9 des Subjekts immer von diskursiv bzw. medial geprägten Körpern auszugehen? Butler betont die Normalität der Subversion, d.h. des Potenzials der ständigen Durchbrechung eingespielter Routinen von performances, die auf der Durchkreuzung und Durchquerung sprachlich vorverfasster binärer Zuschreibungsmuster an den Körper beruhen. Basiert die Unberechenbarkeit sozialer und künstlerischer Praxis aber immer auf der Aus-Handlung kultureller Zitate, die von den Subjekten fixe Identitäten fordern, oder beschränkt sie sich nicht doch auf eine Sequenz von Körperbewegungen, einen leiblichen Stil ohne innere Determinierungen? Subjektformen im Rahmen der künstlerischen Praxis von Musik-, Sprechtheater, Performance-Kunst, Tanz und sämtlichen Mischformen lassen die maßgeblichen produktiven Räume humanwissenschaftlicher Diskurse, materialer Kultur und kultureller Bewegungen auf spielerisch-reflexive Weise thematisch werden, indem sie die Friktionen und Instabilitäten der hegemonialen Subjektkultur affirmativ verschleiern oder subversiv enthüllen. In dieser Hinsicht lassen sich die Suchbewegungen des vorliegenden Bandes in den Begriffen einer kritischen Ethnographie formulieren, wie Dwight Conquergood sie in seinem 1991 erschienenen Aufsatz „Rethinking Ethnographie: Towards a Critical Cultural Politics“ vorschlägt, wenn er es zum Forschungsziel einer der kritischen Theorie verpflichteten Ethnologie erklärt, die politischen Einsätze zu enthüllen, in denen kulturelle Praktiken verankert sind.10 Dabei beruft sich Conquergood auf die Position Victor Turners, den ethnographischen Blick auf das „Feld“, weg von semiotischen Perspektiven wie ‚System‘, ‚Struktur‘ oder ‚Form‘, hin zu einer erhöhten Aufmerksamkeit für kulturelle Praktiken und Aufführungen, zu verlagern. Ausgehend von dieser Ablehnung des traditionellen ethnologischen Begriffs von Kultur als ‚Text‘ habe Turner bei der Interpretation kultureller Praktiken mit Erfolg Theatervokabular angewandt, indem er die Ausführenden wie Schauspieler beschrieben habe, „who creatively play, 9
Vgl. Butler, Judith: Psyche der Macht. Das Subjekt der Unterwerfung. Frankfurt am Main: Suhrkamp 2001, die sich mit dem Begriff der „Ent-Unterwerfung“ auf Foucault bezieht.
10 Conquergood, Dwight: „Rethinking Ethnography. Towards a Critical Cultural Politics“, in: Communication Monographs, 58 (1991), 179-194, hier: 179.
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improvise, interpret and re-present roles and scripts“11. Turners Methode weise damit einen Weg, Kultur von ihrem verkörperten Wissen her zu begreifen, welches im historischen Prozess und in einer je historisch-spezifischen Ideologie gründe. Hierbei gehe er von der berechtigten Annahme aus, dass „soziale Dramen“ ausbzw. aufgeführt werden müssten (acted out), um Bedeutung zu erlangen.12 Beispiele gleichermaßen ästhetischer wie politischer Ausformungen solcher kulturellen Praktiken finden sich besonders in postkolonialen Kulturräumen, wo Theater als genuin autochtone ‚cultural performance‘ in hohem Maße subversives Potential birgt, um in synkretistischen Formen als antiimperialistisches Instrumentarium die eigene Kultur affirmativ zu erhalten und gleichzeitig – oft unter Verwendung fremder, also meist westlicher Kulturpraktiken – den kolonialistischen Übergriff zu thematisieren und damit anzuklagen.13 Hierbei kommt im Sinne Turners dem ostentativen Körpergebrauch von Einzelnen und Gruppen eine gewisse rhetorische agency zu, widersprüchliche Interpretationen ihrer Identitäten, Interessen und Bedürfnisse zu formulieren. Gesellschaftliche Aushandlungen von Identitätsbildung, politischen und ökonomischen Interessen sowie menschlichen Bedürfnissen finden laut Conquergood nicht ausschließlich im verbalen Bereich statt, sondern auch buchstäblich auf der Ebene von Aus-Handlungen. Dies wird deutlich in einer gerade für interkulturelle Theaterformen typischen Re-Theatralisierung der Bühne im Sinne einer Abwertung von Sprache zugunsten nicht-linguistischer Theaterzeichen und des damit verbundenen performativen Ausagierens kultureller Identitäten. Turner bezeichnet dieses Phänomen als performative Reflexivität: [C]ultural performances are not simple reflectors or expressions of culture or even of changing culture but may themselves be active agencies of change […]. Performative reflexivity is a condition in which a sociocultural group, or its most perceptive members acting representatively, turn, bend, or reflect back upon themselves, upon the relations, actions, symbols, meanings, codes, roles, statuses, social structures, ethical and legal rules, and other sociocultural components which make up their public ‚selves‘.
14
Von diesem Phänomen der performativen Reflexivität ausgehend, entwickelt Conquergood die ethnographische Forschungsperspektive, sämtliche Aufführungen einer Kultur als Dispositive von Macht zu begreifen bzw. unter einer entsprechenden Fragestellung zu untersuchen, wie Aufführungen Ideologien einerseits reprodu11 Conquergood 1991: 187 (vgl. Anm. 10). Vgl. Turner, Victor: The Anthropology of Performance. New York: PAJ 1986, 81. 12 Siehe Conquergood 1991: 187 (vgl. Anm. 10). 13 Vgl. Balme, Christopher: Theater im postkolonialen Zeitalter. Studien zum Theatersynkretismus im englischsprachigen Raum. Tübingen: Niemeyer 1995. 14 Turner 1986: 24 (vgl. Anm. 11).
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zieren, ermöglichen und naturalisieren; andererseits aber auch subvertieren, kritisieren und herausfordern.15 Lassen sich bei der Analyse von Sprech-, Musiktheater, Tanz-, PerformanceKunst etc. Textualität und Performativität des Körpers immer scharf gegeneinander führen? Heißt subjektive ‚Einschreibung‘ des künstlerischen Akteurs nicht auch tätige Reflexion auf das Produziert- bzw. Gemachtsein des eigenen Tuns im Rahmen institutionell und medial vorverfasster Strukturen? Jenseits konkreter ästhetischer Manifestationen des theatralen Umgangs mit Inszenierungen von Identität oder der explizit performativen Herstellung von Subjekten, erweist sich Theater als kulturelle Praxis umgekehrt auch als selbstreflexiv im Sinne der bewussten Thematisierung seiner genuinen Performativität. Während zeitgenössisches Theater das ihm eigene inszenatorische Hervorbringen von Identitäten kaum mehr negiert, müssen in einer historiographischen Perspektive besonders jene Theaterformen in den Fokus genommen werden, die – beispielsweise mit Blick auf die Verhandlung kultureller Andersartigkeit – bestimmte Essentialisierungsstrategien verfolgen und mittels dramaturgischer und formalästhetischer Mittel konsequent alle jene Subjekte aus dem (theatralen) Diskurs ausgrenzen, die diesem Konzept eines kohärenten, weißen westlichen Selbst widersprechen. Das in Bezug auf Conquergood vorgeschlagene ethnographische Verfahren lässt sich auch im Sinne der historischen Analyse der „thätigen Reflexion“ (Novalis)16 verschiedener Subjektformen und der von ihnen aus-gehandelten alternativen Konzepte von Subjektivität reformulieren. Dabei ist freilich zu beachten, dass die ethnographische Methode der teilnehmenden Beobachtung erheblich von der Historiographie von Aufführungen historisch entlegener, dem wissenschaftlichen Betrachter nicht mehr kopräsenter Gesellschaften differiert. Nach der Typologie der von Rudolf Münz entwickelten heuristischen Optik des Theatralitätsgefüges 17 sind zunächst diejenigen Vertreter bürgerlicher Ideologie ins Auge zu fassen, die mit dem Glauben an die Natur als Normdispositiv und mit der Vision eines vernunftbetonten, nicht von sinnlichen Faktoren bestimmten Zusammenlebens der Menschen diese Grundbedingung negieren und dadurch zwangsläufig mit der SelbstInszenierung des einzelnen beschäftigt sind. Diese Personengruppe lässt sich in synergetische Beziehung setzen zu jener, welche Schauspielkunst professionell und zum Zweck der Vergesellschaftung jenes Persönlichkeits- und Verhaltensideals ausübt. Dieses Alltags-Theater derjenigen, die mit dem ‚Mehr sein als scheinen 15 Siehe Conquergood 1991: 190 (vgl. Anm.10). 16 Vgl. Novalis: Werke, Tagebücher und Briefe Friedrich von Hardenbergs. Bd. 2. Das philosophisch-theoretische Werk. Hg. von Hans-Joachim Mähl und Richard Samuel. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1999, 836. 17 Vgl. Münz, Rudolf: Theatralität und Theater. Zur Historiographie von Theatralitätsgefügen. Berlin: Schwarzkopf & Schwarzkopf 1998.
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wollen‘ betrügerisch umgehen, einschließlich ihrer Vor-ahmer auf der Bühne des Kunst-Theaters, wird von verschiedenen Opponenten herausgefordert, deren theatrale Praktiken die Theaterhaftigkeit des bürgerlichen Lebens, seine AlltagsMaskerade durch eben den spielerisch-reflexiven Einsatz von (Ganzkörper-)Masken ent-larven, wobei das Bestehen einer festen, statischen ‚Kernidentität‘ hinterfragt wird. Unter der sich damit ergebenden Untersuchungsperspektive, deren einzelne, aufeinander bezogene Facetten im Münzschen Kernbegriff des Theatralitätsgefüges zusammenlaufen, erscheint Subjektivität als eine körperbasierte Form der Prozessualisierung von Sinn, die unter den Vorzeichen des bürgerlichen Phantasmas von Essentialität, Selbst-Identität, Autonomie und Selbsttätigkeit einer kritischen Historisierung und exakten sozialen Differenzierung bedarf. Thematisch werden dann die Schritte und Phasen mit Hilfe theatraler Praktiken hervorgebrachter Subjektivität unter Berücksichtigung der soziokulturellen Entwicklung der jeweiligen Epochen. Zu problematisieren ist die gängige Vorstellung, Subjektivität lasse sich erst in der Renaissance mit ihrer Anthropologisierung der Weltsicht und Neudefinition des Menschen aufweisen – ganz so, als würden das christliche Mittelalter oder die Antike noch keine Subjektivität kennen. In dieser Hinsicht sind die offenkundigen Brüche zwischen Theaterpraxis und geistigem Streben des Diskurses in besonderen Augenschein zu nehmen, da hier sichtbar wird, dass nicht nur verschiedene Vorstellungen von Subjektivität nebeneinander existieren, sondern auch verschiedenartige Prozesse der Subjektivation diesseits eines rein intellektuellen Oberschichtenphänomens. So sind Konzepte von Subjektivität und Subjektivationsprozesse in der literalisierten sozialen Schicht oft besser greifbar und darstellbar als in mehr oder weniger schriftlosen Gruppen. Aber es gibt ausreichend Indizien dafür, dass auch nicht literalisierte Schichten über einen Begriff von Subjektivität verfügten und Subjektivationsprozesse durchliefen, nur variieren eben die Artikulationsformen beträchtlich und werden häufig vom traditionellen theaterhistoriographischen Diskurs ‚abgeschattet‘, weil die betreffenden kulturellen Praktiken durch den hegemonialen Diskurs ihrer Zeit nicht als ‚Kunst‘ nobilitiert wurden. Die umrissenen Arbeitsfelder und Fragestellungen prägen die Beiträge des vorliegenden Sammelbandes, die allesamt aus Vorträgen des 10. Kongresses der Gesellschaft für Theaterwissenschaft zum Thema Theater und Subjektkonstitution hervorgehen, der vom 28.-31. Oktober 2010 am Mainzer Institut für Theaterwissenschaft veranstaltet wurde. Die Herausgeberinnen und Herausgeber sind der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG), der Johannes Gutenberg-Universität Mainz und ihrem Forschungszentrum für Sozial- und Kulturwissenschaften (SOCUM), dem Staatstheater Mainz, der Gesellschaft der Freunde des Mainzer Theaters, der Stiftung Mainzer Theaterkultur sowie dem Leibniz-Institut für Europäische Geschichte (IEG) und dem Institut français Mainz für die großzügige Förderung des Kongresses, der Gesellschaft für Theaterwissenschaft hingegen für die finanzielle Unterstüt-
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zung der Drucklegung seiner wissenschaftlichen Erträge zu größtem Dank verpflichtet. Nur durch die tatkräftige Mitarbeit zahlreicher Helfer waren der Kongress selbst und die Drucklegung dieses Bandes zu bewältigen. Ohne die Leistung der anderen schmälern zu wollen, sei hier vor allem Jasmin Fisel, Susanne Berg, Viktoria Ebel und Hanna Voss gedankt. Die Publikation der Beiträge des Kongresses hätte ohne die unermüdlichen Korrektur-, Edier- und Formatierungsarbeiten von Nadine Peschke und Nikola Schellmann nicht ihre hier vorliegende Form gefunden. Ihnen gilt unser besonderer Dank.
Mainz, im Juli 2012 Friedemann Kreuder, Michael Bachmann, Julia Pfahl und Dorothea Volz
Sondierungen
Austauschverhältnisse Die Geburt des modernen Subjekts auf dem Theater D ORIS K OLESCH
Theater und Subjektkonstitution – dem Thema dieses Bandes kommt das Paradox zeitloser Aktualität zu. Zeitlos ist dieses Thema, weil für alle Epochen und Etappen der europäischen wie auch außereuropäischen Theatergeschichte die enge Verbindung von Theatermodellen und Konzepten sowie Praktiken der Subjektivität aufgezeigt werden konnte. Sei es die antike griechische Tragödie und ihre Aufführung, welche mit den einschlägigen Studien von Hans-Thies Lehmann und Christoph Menke, um hier nur zwei herausragende deutschsprachige Positionen zu benennen, 1 als Form der Herausbildung erster Konturen von Subjektivität – und seien sie auch, wie bei Menke, aporetisch und gleichsam melancholisch gefärbt – verstanden werden kann. Seien es frühneuzeitliche Masken, Komödianten und Narren, deren Relevanz für die Konstitution vormoderner Formen von Subjektivität unter anderem durch die Forschungen von Rudolf Münz und zahlreicher weiterer Kolleginnen und Kollegen in seiner Nachfolge dargelegt wurde. Oder seien es schließlich moderne und zeitgenössische Theaterentwürfe, welche in je unterschiedlicher Akzentuierung als Angebote der Identitätsbildung und Subjektwerdung im 18. und 19. Jahrhundert wie auch als Thematisierung der Krisen des Subjekts im 20. und beginnenden 21. Jahrhundert rekonstruiert werden konnten, so dass Erika Fischer-Lichte die europäische Theatergeschichte als Geschichte sich wandelnder Subjektivitätskonzepte schreiben konnte und zahlreiche Studien in den letzten Jahren Ausprägungen des Gegenwartstheaters, der Performancekunst und des Tanzes als Auseinandersetzung mit Formen der Fragmentierung, Dekonstruktion und Hybridisierung herkömmlicher Formen von Subjektivität und Identität dargelegt haben. Die Zeitlosigkeit des
1
Vgl. Lehmann 1991 und Menke 2005.
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Themas Theater und Subjektkonstitution wird nicht zuletzt durch die historische wie inhaltliche Breite der Beiträge des vorliegenden Bandes unter Beweis gestellt. Die spezifische Aktualität des Themas hingegen liegt meines Erachtens in zwei Aspekten begründet: Zum einen führen massive gesellschaftliche, soziale und politische Transformationen in einer global vernetzten Welt und die damit einhergehenden Entgrenzungen, Verflechtungen und Hybridisierungen der Künste eine Hinterfragung, ja Erschütterung bis dato gültiger Subjektverständnisse und Formen der Subjektivierung in exponierter Weise vor. Zum anderen – und dies wäre die These, welcher ich in meinem Beitrag in einigen ersten, noch sehr unvollständigen und skizzenhaften Überlegungen nachgehen möchte – bietet das Thema Theater und Subjektkonstitution meines Erachtens die Möglichkeit, zwei in der nationalen wie internationalen Theaterwissenschaft der letzten Jahrzehnte äußerst einflussreiche und produktive Theoriemodelle und Konzepte, nämlich zu Theatralität und Performativität, weiterzudenken und auszudifferenzieren. Ich möchte nämlich behaupten, dass die Frage des Subjekts und der Subjektkonstitution eine ungelöste Frage der Debatten um Theatralität und Performativität ist. Der nachfolgende Beitrag macht sich nicht anheischig, diese ungelöste Frage zu beantworten oder gar zu lösen, doch vielleicht vermögen die Überlegungen dazu beitragen, das Verhältnis von Subjektivität, Theatralität und Performativität anders zu perspektivieren und dabei insbesondere auch die Theatergeschichte und die historisch differenten Medialitätsformen als maßgebliche Quelle der Erkenntnis zu nutzen. Mein Beitrag geht in zwei Schritten vor. Er beleuchtet zunächst schlaglichtartig die Geburt des modernen Subjektverständnisses aus dem Geiste der Theatralität. Denn eine Folge der Überzeugungskraft theater- wie kulturwissenschaftlicher Theatralitätskonzepte war ihre Diffusion in maßgebliche Strömungen der Subjektphilosophie und Subjekttheorie des 20. Jahrhunderts. Zu ergänzen ist, dass diese Verquickung von Theatralität und Subjektivität keine Erscheinung des 20. Jahrhunderts ist, sondern auch schon in vorangegangener Zeit auftaucht; doch beschränke ich mich aus Platz- und Kapazitätsgründen weitgehend auf das 20. Jahrhundert. Diese Geburt des modernen Subjektverständnisses aus dem Geiste der Theatralität und Performativität führt jedoch in ein Dilemma, welches für Theater wie Theaterwissenschaft problematisch ist: Es droht nämlich den Blick zu verstellen für die Unterschiede und für die differentia specifica von Theater, welche bei allen Überschneidungen von Theater und Realität gleichwohl festzuhalten sind. In einem zweiten Schritt möchte ich daher eine andere Geburt des modernen Subjekts rekonstruieren, wobei der Zugang diesmal weniger ein philosophischer als vielmehr ein theaterwissenschaftlicher und theaterhistorischer ist. Am Beispiel von Denis Diderots Paradoxe sur le Comédien suche ich darzulegen, dass Diderot das Theater als ästhetische Praxis der Hervorbringung einer neuen, modernen Subjektivität wertschätzt, gerade weil es – bei einer grundsätzlichen Austauschbarkeit und
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Entsprechung von ästhetischen und alltäglichen Praktiken – auf einer spezifischen Differenz des Theaters im Vergleich zur außertheatralen Realität beharrt. Diese Differenz, diese Besonderheit des zu entwickelnden aufklärerisch-empfindsamen Theaters ist für die Konstitution des modernen Subjekts im Sinne Diderots entscheidend.
D IE G EBURT DES MODERNEN S UBJEKTVERSTÄNDNISSES AUS DEM G EISTE DER T HEATRALITÄT Theater fasziniert uns, es begeistert und verführt uns, es schockiert uns, regt uns auf, manchmal langweilt es uns auch. Nun könnte man mit Fug und Recht behaupten, dass dies auch für alle anderen Formen der Kunst gilt. Doch es hat diejenigen, die Theater machen, diejenigen, die ins Theater gehen und ebenso diejenigen, die über Theater nachdenken, immer schon beschäftigt, dass Theater sich im Vergleich mit den anderen Künsten durch eine spezifische Differenz auszeichnet: nämlich seine – vermeintliche – Differenzlosigkeit zu unserem alltäglichen, normalen Tun und Handeln. Im Theater stellen Menschen andere Menschen dar. Während Literatur sich im Medium der Sprache vollzieht, Malerei sich der Farbe und Fläche, Musik sich der Töne bedient und der Film eine zweidimensionale Projektion bewegter Bilder auf Leinwand darstellt, scheint beim Theater diese mediale Differenz auszufallen. Natürlich helfen uns unterschiedlichste Formen von Rahmungen, Darstellungsund Wahrnehmungskonventionen zumeist fehlerfrei zwischen Theater und Alltag zu unterscheiden; die Betonung liegt auf zumeist, es gelingt uns nicht immer. Doch der Witz wie auch die Erkenntniskraft der Theatralitätsdebatte zielt ja gerade darauf, eine strukturelle Analogie zwischen Praktiken der Darstellung im Theater und Handlungsformen von Subjekten im Alltag zu identifizieren. So konnte – und damit sind wir beim Kern des Themas Theater und Subjektkonstitution angelangt – der Schauspieler zum phänomenologischen Modellfall menschlicher Existenz erhoben werden. Schon Immanuel Kant betont in seiner Anthropologie in pragmatischer Hinsicht in durchaus affirmativer Weise die zivilisierende Leistung nicht des Bühnenschauspiels, sondern des alltäglichen Schauspiels: Die Menschen sind insgesamt, je zivilisierter, desto mehr Schauspieler: sie nehmen den Schein der Zuneigung, der Achtung vor anderen, der Sittsamkeit, der Uneigennützigkeit an, ohne irgend jemand dadurch zu betrügen; weil ein jeder andere, daß es eben nicht herzlich gemeint sei, dabei einverständigt ist, und es ist auch sehr gut, daß es so in der Welt zugeht. Denn dadurch, daß Menschen diese Rolle spielen, werden zuletzt die Tugenden, deren Schein
24 | DORIS K OLESCH sie eine geraume Zeit hindurch nur gekünstelt haben, nach und nach wohl wirklich erweckt, und gehen in die Gesinnung über.2
Im 20. Jahrhundert waren insbesondere die philosophischen Überlegungen Georg Simmels und die anthropologischen Reflektionen Helmuth Plessners wegweisend für ein Verständnis von Subjektivität, welches die Schauspielkunst und das Spielen einer Rolle nicht mehr nur als bloße Metapher für das Verhalten und Handeln von Subjekten auffasst, sondern als einen Funktionszusammenhang, in dem die Differenz zwischen Theater und Leben minimiert ist. So schreibt Georg Simmel in seiner Philosophie des Schauspielers: Das Individuum geht wirklich in die vorgezeichnete Rolle hinein, es ist jetzt seine Wirklichkeit, nicht nur der und der, sondern das und das zu sein. Im großen und kleinen, chronisch und wechselnd finden wir ideelle Formen vor, in die unsere Existenz sich zu kleiden hat. Sehr selten bestimmt ein Mensch seine Verhaltungsart ganz rein von seiner eigensten Existenz her, meistens sehen wir eine präexistierende Form vor uns, die wir mit unserem individuellen Verhalten erfüllt haben. Dieses nun: daß der Mensch ein vorgezeichnetes Anderes als seine zentraleigene sich selbst überlassene Entwickelung darlebe oder darstelle, damit aber dennoch sein eigenes Sein nicht schlechthin verläßt, sondern das Andere mit diesem Sein selbst erfüllt und dessen Strömung in jene vielfach geteilten Adern leitet, deren jede, obgleich in einem vorbestehenden Flußbett verlaufend, das ganze innere Sein zu besonderer Gestaltung aufnimmt – das ist die Vorform der Schauspielkunst.3
Und auch die anthropologischen Überlegungen Helmuth Plessners – ebenso wie die soziologischen Untersuchungen Erving Goffmans – charakterisieren Rollenhaftigkeit als grundlegendes Merkmal menschlichen Seins, das die Ausbildung eines eigenen Selbst erst ermögliche. Für Plessner verweist die Rolle auf ein fundamentales Doppelgängertum, das der einzelne braucht, um sich in der modernen Gesellschaft zurechtzufinden. Die Rolle gilt ihm als Angebot, den Abstand zwischen Anspruch und Erwartung, zwischen Eigenem und Fremdem, zwischen Öffentlichem und Privatem kreativ zu nutzen. Dabei fällt der Rollenspieler niemals mit seiner Rolle zusammen, genauso wenig aber kann er für sich selbst von der Rolle abgelöst gedacht werden, ohne seine Menschlichkeit zu verlieren. „Was die Rolle ihm grundsätzlich und jederzeit gewährt, nämlich eine Privatexistenz zu haben, eine Intimsphäre für sich, hebt nicht nur nicht sein Selbst auf, sondern schafft es ihm. Nur an dem anderen seiner selbst hat er – sich.“4 In diesem Doppelgängertum, das nach
2
Kant 1983: 442, BA 42/43.
3
Simmel 1920/21: 348-349.
4
Plessner 1985: 235.
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Plessner offen ist für verschiedene Formen und Ausgestaltungen von Gesellschaft, sind Rollenspieler und Rollenfigur untrennbar miteinander verbunden. Das Theorem des Doppelgängers impliziert somit auch, dass sich der Mensch selbst nie einholt und dass seine Entäußerung in der Rolle keine Entfremdung seiner selbst darstellt, sondern ganz im Gegenteil überhaupt erst die Chance, die Bedingung der Möglichkeit birgt, ein Selbst als sein Selbst auszubilden: „Immer ist der Mensch in seiner Verdopplung zu einer erfahrbaren Rollenfigur erst er selbst.“5 Damit wendet sich Plessner klar gegen eine idealistische Opposition von Erscheinung und Wesen. Und er steht paradigmatisch für eine dominante Tendenz der philosophischen wie soziologischen Subjekttheorie des 20. Jahrhunderts bis in unsere Gegenwart. Diese Tendenz möchte ich als Theatralisierung von Subjektivität bezeichnen. Denn bei aller Differenz zwischen den philosophisch-anthropologischen Überlegungen eines Georg Simmel und Helmuth Plessner, zwischen den soziologischen Subjekttheorien eines George Herbert Mead, Erving Goffman, Talcott Parsons oder Pierre Bourdieu, wie auch zwischen den jüngeren subjektkritischen Überlegungen eines Michel Foucault, einer Judith Butler oder auch eines Slavoj Žižek, – um hier nur einige wesentliche Positionen in dieser Debatte zu nennen – sie überschneiden sich darin, dass sie Subjektwerdung als eine Praxis gemeinsamen Spielens und Ausagierens von Rollen verstehen. Dabei wird Subjektivität zwar durchaus unterschiedlich akzentuiert, sei es als Disziplinierung in Rollen und gesellschaftlichen Konventionen oder aber auch als Erlernen von Rollen und Handlungsmustern, gleichwohl treffen sich die genannten Auffassungen darin, dass sie Subjektivität performativ aus der Wiederholung und Reiteration vorgegebener sprachlicher, diskursiver und praxeologischer Verhaltensformen erklären. Anders formuliert: In diesen Konzeptionen besteht keine wirkliche Differenz mehr zwischen einem Subjekt und einer Theaterfigur und das soziale Gegenüber wird in Analogie zum Schauspieler auf der Bühne verstanden. Ebenso gründet das Verständnis des eigenen Selbst in der Einsicht, dass Subjektivität als Fähigkeit zur Selbstbestimmung paradoxerweise gerade aus der Übernahme und Befolgung vorgegebener Skripts resultiert, wobei diese Skripts hier keine dramatischen Vorlagen darstellen, sondern körperliche Praktiken, sprachliche Artikulationen und gesellschaftliche Konventionen. Stellvertretend für die genannten Positionen sei hier Judith Butler zitiert, deren Überlegungen zur Performanz von Geschlechtsidentität in den letzten zwanzig Jahren nicht nur äußerst einflussreich das Verhältnis von Subjektivität, Identität und Geschlecht neu perspektiviert haben, sondern deren diesbezügliche Publikationen genuin den Zusammenhang von Theater und Subjektkonstitution thematisieren, indem sie Subjektkonstitution und Theaterspiel analogisieren.
5
Plessner 1985: 237.
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So schreibt Butler in „Performative Acts and Gender Constitution“, einem Essay, der wesentliche Argumente ihres zum Standardwerk avancierten Buches Gender Trouble bündelt: „The act that one does, the act that one performes, is, in a sense, an act that has been going on before one arrived on the scene.“6 Diese Zeile bezieht sich gerade nicht auf eine Bühnensituation, sondern auf die alltägliche Aufführung und Inszenierung sozialer und damit auch geschlechtlicher Identität. Es bleibt festzuhalten, dass die historische Leistung der hier in Rede stehenden Theorien von Butler und anderen ist, ontologischen, essentialistischen, substantialistischen und auch naturalistischen Theorien von Identität und Subjekt mit guten Gründen den Boden entzogen zu haben. Und nicht nur Konzepte von Identität und Subjektivität, sondern auch von Ereignis und Wiederholung, von Kopie und Original ebenso wie von Authentizität und Inszenierung sowie schließlich darüber, wie das Neue in die Welt kommt, sind auf der Grundlage dieser Theorien neu zu denken. Darüber hinaus verfängt auch der vielfach geäußerte Vorwurf der Uneindeutigkeit und Totalitarität der Schauspiel- und Rollenbegrifflichkeit meines Erachtens nicht. Denn der vermeintliche Schwachpunkt der Uneindeutigkeit der verwendeten Termini, welche zwischen Metaphorik und analytischem Begriff hin- und her oszillieren, kann ebenso gut als Stärke und Leistungsfähigkeit eines reflektierten Umgangs mit diesen Begriffen gedeutet werden. Denn ohne Zweifel anerkennen und reflektieren die genannten Theorien den heuristischen Wert der Schauspiel- und Rollenmetapher und schlagen daraus für das Verständnis von Subjektivität wertvolle Funken der Erkenntnis, indem sie die theoretisch geforderte Eindeutigkeit zugunsten einer ambivalenten Mehrdeutigkeit systematisch unterlaufen. Doch in Bezug auf die Subjekttheorie bleibt es bei einem gravierenden Mangel: Bei aller wichtigen Einsicht in die Bedingtheiten und historischen wie kulturellen Verflechtungen von Subjektivierungsprozessen kann in und mit den genannten theatralen und performativen Auffassungen von Subjektivität nicht befriedigend erklärt werden, wie es zu Emanzipationsprozessen kommen kann, wie mithin Subjekte sich von vorgegebenen Prägungen und Praktiken lösen und Spielräume des Denkens und Handelns entwickeln können. Solche Spielräume der Emanzipation aber sind nicht nur zentral für das moderne Subjekt- und Geschichtsverständnis, sondern sie werden auch von den meisten der in Rede stehenden Positionen selbst explizit für möglich und nötig gehalten. Judith Butler beispielsweise argumentiert, dass sich minimale Abweichungen und kleinere Subversionen im Rahmen der performativen Reiteration von Artikulations- und Verhaltensweisen – welche eben niemals identische Wiederholung des Vorgängigen sind – in Handlungsformen sedimentieren und damit nachhaltig gesellschaftlich wirksam werden können. Ein solches Verständnis jedoch erklärt Emanzipation als kontingentes und emergentes
6
Butler 1990: 277.
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Geschehen sich sedimentierender Abweichungen, welche Subjekte weder verantworten noch kontrollieren können und sieht sich damit in der Gefahr des Etikettenschwindels. Und auch Michel Foucaults Disziplinierungstheorie von Subjektivität kann zwar erläutern, wie sich Regeln und ihre Anwendung faktisch verfestigen und rekursiv aufeinander beziehen, aber sie kann nicht befriedigend erklären, wie das Subjekt als Instanz, welche Regeln befolgt, zugleich auch diejenige Instanz sein kann, welche die Art und Weise des Folgens einer Regel prägt, wie es Foucault selbst im Konzept der „Sorge um sich“ entwirft.7
D IE D IFFERENZ DES
THEATRALEN
S UBJEKTS
Damit bin ich beim zweiten Teil meiner Überlegungen angelangt, bei der Frage, welche Antworten das Theater und die Theatergeschichte auf dieses philosophische Dilemma zu geben vermögen. Nun könnte man vermuten, dass sich angesichts der soeben skizzierten Theatralisierung der modernen Subjekttheorie – vorausgesetzt, die Skizze trifft einigermaßen zu – Theater wie auch Theaterwissenschaft entspannt zurücklehnen: Wäre damit doch Theater als kulturelles Leitmedium aus berufenem Philosophenmund ein für alle Mal erwiesen und wäre die Theaterwissenschaft damit legitimiert, nicht nur über das Kunst-Theater im engeren Sinne und nicht nur über theatrale Situationen im weiteren Sinne reflektieren zu dürfen, sondern gleichsam – qua ihrer theatralen Verfasstheit – über alle gesellschaftlichen Phänomene. Doch die Situation ist so einfach nicht. Es ist nicht nur von genuinem Interesse für Theater wie auch Theaterwissenschaft, strukturelle Analogien und Parallelen, vielleicht gar Entsprechungen zwischen Theaterspiel und gesellschaftlicher Realität zu erforschen. Von ebenso essentiellem Interesse ist für die Praxis wie auch die Wissenschaft von Theater, die besondere Leistung und Spezifik theatraler Situationen gerade im Unterschied zu alltäglichen Situationen herauszupräparieren und nach deren Funktion zu fragen. Anders formuliert: Die philosophische, soziologische und kulturwissenschaftliche Tradition hat Theatralität bislang weitgehend als implizites Prinzip von Handlungen selbst erläutert, welches es erlaubt, Subjekte als (Theater-)Figuren zu verstehen und umgekehrt. Eine solche Auffassung aber negiert die ästhetische Praxis des Theaterspiels: Wer soziale und theatrale Praxis analogisiert, geht davon aus, dass die Institution Theater ein Ort ist, an dem gehandelt wird wie im Alltag auch. Der Unterschied zwischen Theateraufführung und Alltagshandlung kann letztlich nurmehr am Rahmen bzw. an den Rahmungen festgemacht werden, welche jeweils markieren, worum es sich handelt. Das ästhetische Moment von Theater muss eine solche Auffassung entweder formalistisch erklären, oder es muss
7
Vgl. Foucault 1993.
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davon ausgegangen werden, dass die Performanz von Theateraufführungen Wahrnehmungsprozesse jenseits des semiotisch und hermeneutisch Intelligiblen ermöglicht. Mit Denis Diderot und seinem Paradoxe sur le Comédien möchte ich im Folgenden einen anderen Weg beschreiten. Seine historische Theaterkonzeption scheint mir nämlich Hinweise auf ein anderes Verständnis der Theatralität von Subjektivität zu geben. Dieses sieht Theatralität als eine Möglichkeit, dass Zuschauer als Subjekte auf handelnde Figuren Bezug nehmen. Damit wäre das Theatrale als ein besonderer Modus differenziert, der in seiner Struktur der Vorführung und Reflexion menschlicher Handlungen in anderer Weise auf dieses Handeln selbst zu verweisen vermag als dies in alltäglichen Situationen der Fall ist. Diderot geht es im Paradoxe sur le Comédien, so die These meiner Lesart, nicht primär um das Binnenverhältnis des Schauspielers und um die Frage, ob dieser nun heiß oder kalt zu agieren habe, wie dies von zahlreichen schauspieltheoretischen Kommentaren bis heute in den Vordergrund gestellt wird. Sondern es geht ihm um weitergehende Austauschverhältnisse von Bühne und Zuschauerraum, es geht ihm um das Dispositiv des bürgerlichen Theaters insgesamt, um die Verschränkung und Interdependenz von Darstellen und Wahrnehmen, welche den Kern von Diderots moderner Subjekttheorie bildet. Dieses Theater ist für Diderot ästhetische Praxis einer neuen, überhaupt erst herzustellenden bürgerlichen und empfindsamen Subjektivität. Die sensibilité, welche als Grundlage der neu zu entwickelnden, die feudale Ordnung der Repräsentation überwindenden Moral fungieren sollte, war dabei weder eine natürliche Gegebenheit, noch zeigt sie in und für sich selbst genommen ein moralisches Differenzkriterium. „Für den Autor des Paradoxe ist der empfindsame Mensch ein utopischer Entwurf, der durch das Theater zu verwirklichen ist. Nicht die Darstellung ‚guter Bürger‘ (also empfindsamer Menschen) durch den Schauspieler, sondern die Entfaltung der Empfindungskräfte des Publikums durch das Schauspiel ist das Programm.“8 Entsprechend begreift Diderot das rationale Kalkül des Schauspielers nur als einen notwendigen Faktor der ästhetischen Hervorbringung bürgerlicher Subjektivität und Identität. Der dazu komplementäre, unabdingbar wichtige weitere Faktor aber ist die auf die Darstellung bezogene Wahrnehmungsaktivität des Zuschauers. Zur Darlegung dieses Austauschverhältnisses muss ich etwas ausholen. In seinem Brief an Mademoiselle *** schreibt Diderot:
8
Kappelhoff 2004: 73.
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In der Absicht, zu untersuchen, was in meinem Kopf vorging, und meinen Geist sozusagen in flagranti zu ertappen, habe ich mich mehr als einmal in tiefstes Nachdenken versenkt und mich mit der ganzen geistigen Anstrengung, deren ich fähig bin, in mich selbst zurückgezogen; aber diese Bemühungen haben nichts gefruchtet. Mir kam es so vor, als müßte man zugleich innerhalb und außerhalb seiner selbst sein und gleichzeitig die Rolle des Beobachters und die der beobachteten Maschine spielen. Aber mit dem Geist verhält es sich wie mit dem Auge: er sieht sich selbst nicht. 9
Das Auge sei sich selbst so wenig transparent und zugänglich wie der Geist – diese Reflexion Diderots manifestiert ein Wissen um die konstitutive Dimension der Verkörperung von Wahrnehmung und Denken. Denn eine Selbstpräsenz und Durchsichtigkeit des Menschen ist aufgrund seiner körperlichen, räumlichen und zeitlichen Situierung unmöglich. Der verkörperte Blick kann nicht alles sehen. Er ist an räumliche und zeitliche Platzierungen gebunden und er unterliegt der Einschränkung, nicht zugleich innerhalb und außerhalb des Wahrnehmungsprozesses zu sein, nicht gleichzeitig die Vorder- und Rückseite eines Gegenstandes erfassen zu können. Ebenso wenig kann der Geist einen archimedischen Punkt jenseits jeglicher sinnlich-materiellen Realisierung einnehmen. Vergleichbar dem blinden Fleck, der das Sehen nicht bloß einschränkt, sondern überhaupt erst konstituiert, ist auch das Denken an oder über etwas daran gebunden, dass es sich nicht gleichzeitig als Denken denken kann. Die moderne Selbstermächtigung des Subjekts beginnt bei Diderot paradoxerweise mit einer Einschränkung, genauer: mit dem Bewusstsein einer Einschränkung. Das Subjekt kann nicht zugleich innen und außen, aktiv und passiv sein, es kann nicht agieren und im selben Moment die eigene Aktion beobachten: „Die handelnde Person und die zuschauende sind zwei ganz verschiedene Wesen.“10 Aus dieser Einsicht folgt eine Funktionsdifferenzierung zwischen Akteur und Zuschauer, zwischen Beobachtetem und Beobachter, welche Diderot als jeweils unabdingbare und aufeinander bezogene Modi von Subjektivität vorstellt. Diese Funktionsdifferenzierungen zielen jedoch nicht auf essentialistische oder essentialisierbare Dualismen, sie markieren vielmehr momentane Positionen in einer dyna-
9
Diderot 1968a: 73. „Plusieurs fois, dans le dessein d’examiner ce qui se passoit dans ma tête, & prendre mon esprit sur le fait, je me suis jetté dans la méditation la plus profonde, me retirant en moi-même avec toute la contention dont je suis capable; mais ces efforts n’ont rien produit. Il m’a semblé qu’il faudroit être tout à la fois au-dedans & hors de soi, & faire en même temps le rôle d’observateur & celui de la machine observée. Mais il en est de l’esprit comme d’œil; il ne se voit pas“ (Diderot 1965: 95).
10 Diderot 1968a: 167. „Celui qui agit et celui qui regarde, sont deux êtres très différents“ (Diderot 1994: 81).
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mischen und dialogischen sozialen Interaktion, in der Haltungen, Handlungen und Standpunkte ständig wechseln. Das Dispositiv der Vierten Wand, das Diderot bekanntlich einführt und auf Darstellungs- und Wahrnehmungsverhältnisse jeglicher Art, ob im Theater oder im Alltag, vor einem Gemälde oder beim Lesen eines Buches ausdehnt, reflektiert die Differenzen und Asymmetrien der jeweiligen Tätigkeiten, Standpunkte und Lokalisierungen. So erkundet es deren ästhetische, aber auch deren soziale, moralische, machtpolitische und erotische Implikationen. Paradigmatisch werden diese Differenzen und Asymmetrien unterschiedlicher Standpunkte und Sichtweisen im Paradoxe sur le Comédien exponiert. Das zwischen 1769 und 1773 verfasste, aber erst 1830 posthum veröffentlichte Paradox gehört zu den wohl wichtigsten und meistdiskutierten schauspieltheoretischen Texten der Neuzeit. Dabei wird in der Forschung bis heute die These vertreten, im Paradoxe sur le Comédien ginge es um den Konflikt zwischen Gefühls- und Verstandesschauspieler, und der erste Gesprächspartner des als Dialog formulierten Textes repräsentiere Diderots Position, während der zweite Gesprächspartner sozusagen als Sprachrohr von Antonio Sticotti fungiere, der 1769 eine Schrift mit dem Titel Garrick, ou les acteurs anglois11 publiziert hatte, gegen die sich Diderot scharf wendet. Die nachfolgenden Überlegungen wollen aufzeigen, dass man Diderots Schrift gehörig unterschätzt, wenn man sie auf diese einfachen Gegensätze reduziert. Denn eine solch dualistische Lektüre ignoriert, dass Diderots Theater- und Subjekttheorie erst im Zusammenspiel von Rede und Gegenrede, im Duett von erstem und zweitem Sprecher überhaupt erst entsteht. Der Dialog zwischen dem ‚ersten Sprecher‘, der im Verlauf des Textes tatsächlich mit dem Namen ‚Diderot‘ identifiziert wird, und seinem Kontrahenten, dem ‚zweiten Sprecher‘, führt nur vordergründig den Gegensatz zwischen dem einfühlsamen Gefühlsschauspieler und dem kühlen Verstandesschauspieler vor. Tatsächlich nimmt das Paradoxe die opponierenden Schauspielkonzepte zum Ausgangspunkt eines spiegelbildlichen, sich wechselseitig kommentierenden und ergänzenden Aufbaus, der die beiden zentralen Aspekte, Urteilskraft und sensibilité, Rationalität und Gefühl, in immer neuen Windungen auf die Perspektiven von Zuschauer und Schauspieler bezieht und im Dispositiv des Theaters bündelt. Identifiziert man die beiden Sprecher jeweils mit den Antipoden bürgerlicher Schauspielkunst – dem Verstandes- und dem Gefühlsschauspieler – wird man lediglich den jeweiligen Starrsinn der beiden Dialogpartner feststellen. Statt einer Annäherung oder gar Synthese reproduziert die Schrift in beständig neu einsetzenden
11 Sticottis Schrift ist eine Übersetzung von John Hills The Actor, die unter anderem die auch von Sainte Albine vertretene Ansicht propagierte, dass die Darstellung von Liebe am besten den Schauspielerinnen und Schauspielern gelänge, die selbst verliebt (ineinander) seien.
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Zirkelbewegungen den längst bekannten, unverrückbar erscheinenden Widerspruch: „luzide die Argumentationspirouetten des Ersten [Sprechers], standhaft die bornierte Replik des Zweiten [Sprechers].“12 Dabei stehen sich gerade nicht zwei Positionen gegenüber, welche je unterschiedliche Schauspieltheorien vertreten, sondern zwei Sichtweisen, die gleichberechtigt dem bürgerlichen Illusionstheater eigen sind: Der zweite Sprecher, der sich vermeintlich nicht überzeugen lässt, erweist sich in dieser Lektüre als der ideale Zuschauer, der sich auf der Höhe seines Gegenstandes, der theatralen Illusion, zu behaupten weiß. Er besteht auf der Wahrnehmungsrealität des Theaters der Vierten Wand, und würde er dies nicht tun, dann bezeugte er das Scheitern dieses Schauspiels. Die Argumentationslinie des ersten Sprechers hingegen ist gewitzter, auch subtiler. Er spielt mit jeder Wendung des Gesprächs den Gegensatz zwischen dem kühlen Konstrukteur und dem empfindsamen Rezipienten in einer neuerlichen Spiegelung durch. So gilt, was vom Bühnendarsteller gesagt wird, spiegelverkehrt für den Triumph des erfahrenen Salondarstellers; und was den empfindsamen Trottel auf dem gesellschaftlichen Parkett charakterisiert und der Lächerlichkeit preisgibt, beschreibt zugleich die Tätigkeit des Zuschauers im Theater, wird hier aber überaus positiv als zivilisatorische und zivilisierende Kulturleistung begriffen. Das im Titel formulierte Paradox erweist sich im Laufe des Textes als Bündelung verschiedener paradoxer Konstellationen. Hier seien nur die wichtigsten genannt: 1. Damit das Theater die Illusion von Wirklichkeit erzielen kann, darf es diese nicht einfach imitieren, darf auf der Bühne nicht einfach Alltagshandeln stattfinden. 2. Der kalte, emotional unbeteiligte Schauspieler erregt und überzeugt den Zuschauer mehr als der selbst erregte und emotional beteiligte Schauspieler. 3. Der Schauspieler ist nur Schauspieler, weil und insofern es ein Publikum gibt; ebenso ist der Zuschauer nur Zuschauer, weil und insofern es Schauspieler und ein von ihnen gezeigtes Schauspiel gibt. Beide Tätigkeiten – Schauspielen wie Zuschauen – sind keine unvereinbaren Wesenheiten, sondern Funktionsdifferenzierungen, die dem Menschen je nach Situation offen stehen. Ich konzentriere mich im Folgenden auf dieses dritte Paradox, weil es für die von Diderot entfaltete Theorie der Subjektkonstitution besonders relevant ist. So wie wir im Dialog – und nicht zufällig ist das Paradoxe sur le Comédien als Dialog verfasst – sowohl Sprecher als auch Zuhörer sind, argumentiert Diderots Text gewitzt und mit Verve dafür, dass der Mensch, und zwar im Theater ebenso wie in der Gesellschaft, niemals nur Schauspieler oder nur Zuschauer ist, sondern immer beides, mal Zuschauer, mal Schauspieler, häufig abwechselnd, bisweilen
12 Kappelhoff 2004: 74.
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aber auch simultan. So weit – könnte man sagen – wäre Diderots dem Theater abgerungene Theorie moderner Subjektivität durchaus mit den zu Beginn angerissenen philosophischen und soziologischen Modellen theatraler Subjektivität in Übereinstimmung zu bringen. Allerdings beharrt Diderot zugleich auf einem entscheidenden Unterschied zwischen Theater und Alltag: nur das Theater nämlich führe diese beiden Tätigkeiten (Darstellen-Zuschauen), führe diese beiden Perspektiven und Haltungen in ihrer Verschränkung vor und eröffne damit Spielräume der Reflexion, oder um es mit Diderotschen Begriffen zu formulieren: Spielräume der Urteilskraft und der Imagination. Entsprechend lese ich Diderots Paradoxe nicht nur als kulturtheoretisches Modell der Ausbildung einer modernen, aufgeklärten Subjektivität; in diesem Text kommt das Theater zugleich als ästhetische Praxis der Erzeugung und Selbsterfahrung des bürgerlichen Individuums in den Blick, für das Darstellen und Zuschauen keine sich ausschließenden Gegensätze darstellen, sondern komplementäre, sich wechselseitig bedingende Momente der eigenen Identität. Wie aber schafft das Theater eine solche Leistung? Die Theaterkunst, so wird Diderot nicht müde zu betonen, solle ein ideales Modell der Menschen und ihrer Umwelt darstellen, nicht einen individuellen, konkreten, einzelnen Bürger, König, Bettler oder Liebenden, sondern den Idealtypus des Bürgers, Königs, Bettlers oder Liebhabers: Überlegen Sie einmal einen Augenblick, was es im Theater heißt, wahr zu sein. Bedeutet das, die Dinge so zu zeigen, wie sie in der Natur sind? Keineswegs. Das Wahre in diesem Sinne wäre nur das Gewöhnliche. Was ist also das Wahre auf der Bühne? Es ist die Übereinstimmung der Handlungen, der Reden, der Gestalt, der Stimme, der Bewegung, der Gebärde mit einem vom Dichter erdachten ideellen Modell, das vom Schauspieler oft übertrieben dargestellt wird. Es ist das Wunderbare. Dieses Modell beeinflußt nicht nur den Ton, es verändert sogar den Gang und die Haltung. Daher kommt es, daß der Schauspieler auf der Straße und auf der Bühne zwei so verschiedene Persönlichkeiten zeigt, daß man ihn nur mit Mühe wiedererkennt.13
13 Diderot 1968b: 492. „Réflechissez un moment sur ce qu’on appelle au théâtre être vrai. Est-ce y montrer les choses comme elles sont en nature? Aucunement. Le vrai en ce sens ne serait que le commun. Qu’est-ce que donc le vrai de la scène? C’est la conformité des actions, des discours, de la figure, de la voix, du mouvement, du geste, avec un modèle idéal imaginé par le poète, et souvent exagéré par le comédien. Voilà le merveilleux. Ce modèle n’influe pas seulement sur le ton; il modifie jusqu’à la démarche, jusqu’au maintien. De là vient que le comédien dans la rue ou sur la scène sont deux personnages si différents, qu’on a peine à les reconnaître“ (Diderot 1994: 317).
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Diese Passage des Paradoxe sur le Comédien lässt eine Lesart, welche den Zusammenhang von Theater und Subjektkonstitution in einer bloß identifikatorisch verstandenen Relation von Subjekt und Figur, von Zuschauer und Darsteller rekonstruiert, nicht mehr zu und erläutert das subjektive Binnenverhältnis aus der miteinander verschränkten Trias von Schauspieler, Figur und Zuschauer. Folglich wächst in der Kunst des Theaters der Schauspieler im Schauspiel und der Zuschauer beim Zuschauen über sich selbst als einzelnes Individuum hinaus. Für den Akteur bedeutet dies, dass ihm Handlungen und Verhaltensweisen möglich werden, die nichts mit seiner historischen Person und mit seinem jeweiligen individuellen Charakter zu tun haben müssen. Dem Zuschauer eröffnet dies die Chance, dass er sich im und durch das Zuschauen selbst etwas einsichtig macht, was er in bloßer Beobachtung oder Reflexion seiner selbst nicht erkennen könnte. „Empfindsam sein ist etwas anderes als empfinden. Das eine ist eine Sache der Seele, das andere eine Sache der Urteilskraft.“ 14 Genau um Empfindsamkeit als Form von Urteilskraft geht es Diderot, und er will dieses moralisch-politische Erziehungsprogramm des Bürgers mithilfe des Theaters verwirklichen. Dabei muss unterstrichen werden, dass Diderot die Ausbildung dieser Urteilskraft, welche als Vermögen sinnlicher Rationalität präzisiert werden müsste, nicht nur dem kühl kalkulierenden Schauspieler als Aufgabe mitgibt, sondern eben auch dem empfindsamen Zuschauer: „Empfindsamkeit war keine den bürgerlichen Individuen mitgegebene Eigenschaft, die nun, statt der Fürstenherrlichkeit, auf dem Theater zu repräsentieren sei; sie ist eine erst zu erbringende Kulturleistung.“15 Denn die Konstitution von Subjektivität ebenso wie die Ausbildung von Empfindsamkeit werden im Theater durch eine ästhetische Praxis eingeübt, in der Darstellung (also Schauspiel) und Wahrnehmung (also Zuschauen) untrennbar aufeinander bezogen sind. Kühler Schauspieler und erregter Zuschauer kommen so als die beiden Seiten des bürgerlichen Subjekts in den Blick, die zusammengehören wie die zwei Seiten einer Medaille. Im Laufe des Textes dreht, wendet und spiegelt Diderot beständig die Beurteilung von kaltem Schauspiel und empfindsamer Wahrnehmung: Der Fähigkeit zur kühl-kalkulierenden Täuschung wie dem tumben Überschwang des Empfindsamen kommt je nach Positionierung im Spielfeld von Individuum und Gesellschaft eine gegensätzliche Bewertung zu. Was bei dem Schauspiel gesellschaftlicher Repräsentation moralisch zweifelhaft erscheint (das kalte Herz des Galanten), ist bei dem Bühnenschauspiel Geist und Genie; was bei dem Empfindsamen im Kreis der Gesellschaft geistige Schwäche
14 Diderot 1968b: 530. „C’est qu’être sensible est une chose, et sentir est une autre. L’une est une affaire d’âme, l’autre une affaire de jugement“ (Diderot 1994: 372). 15 Kappelhoff 2004: 72.
34 | DORIS K OLESCH signalisiert, macht ihn als Zuschauer im Theater zum kongenialen Prototyp des tugendhaften Menschen.16
Aus der Sicht des Schauspielers wird das empfindsame Ich auf der Bühne, die dargestellte Figur, zu seinem Gegenteil: ein mit kühlem Kopf geplanter Menschenautomat, bar jeden Empfindens. Umgekehrt lässt sich der Zuschauer, welcher dank der Vierten Wand als unbeteiligter Beobachter par excellence erscheint, von einer ihm fremden, äußerlichen Empfindung überwältigen. Diese Spiegelungen führt Diderot schließlich so weit, dass der empfindsame Zuschauer im Theater als reale Emotion erlebt, was der Schauspieler auf der Bühne als Illusion authentischen Empfindens kühl kalkulierend konstruiert: „Der Darsteller ist müde, Sie sind traurig; das kommt daher, daß er sich heftig bewegt hat, ohne etwas zu empfinden, während Sie empfunden haben, ohne sich zu bewegen.“17 Die rationale Darstellung wird zur Voraussetzung dafür, dass der Zuschauer sich in seiner Empfindsamkeit selbst gewahr wird. Es geht Diderot gerade nicht um ein Auseinanderdividieren von Rationalität und Emotionalität, nicht um eine Trennung von Reflexion und Unmittelbarkeit, sondern um die Möglichkeit authentischer Erfahrung als Resultat der Beobachtung (des reflektierten Verhaltens) anderer, um Unmittelbarkeit als Effekt von Mittelbarkeit. Dies wird maßgeblich durch das Dispositiv der Vierten Wand ermöglicht. In seiner Schrift Von der dramatischen Dichtkunst erklärt Diderot die Vierte Wand wie folgt: Man denke also, sowohl während dem Schreiben als während dem Spielen, an den Zuschauer ebensowenig, als ob gar keiner da wäre. Man stelle sich an dem äußersten Rande der Bühne eine große Mauer vor, durch die das Parterre abgesondert wird. Man spiele, als ob der Vorhang nicht aufgezogen würde. 18
Im Dispositiv der Vierten Wand wird die Unmöglichkeit von (Selbst-) Präsenz, von differenzlosem Selbstsein ebenso reflektiert und einsehbar gemacht wie die Unmöglichkeit eines totalen Blicks und eines sich selbst transparenten Wissens. Diderot weist damit auf die jeweilige materielle, räumliche und zeitliche Situierung von Darstellung wie Wahrnehmung hin, und er vergegenwärtigt die jeweils unterschiedliche Intentionalität von Darstellung und Wahrnehmung: etwas wird für je-
16 Kappelhoff 2004: 74. 17 Diderot 1968b: 489. 18 Diderot 1986: 340. „Soit donc que vous composiez, soit que vous jouiez, ne pensez non plus au spectateur que s’il n’existait pas. Imaginez, sur le bord du théâtre, un grand mur qui vous sépare du parterre; jouez comme si la toile ne se levait pas“ (Diderot 1994: 231).
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manden gezeigt, der sich selbst und seine Wahrnehmung allerdings nicht zeigt (oder zumindest nicht zeigen möchte). Vor diesem Hintergrund schließt die Vierte Wand den Bühnenraum als einen dreidimensionalen, plastischen Raum ab. Die Figuren agieren und sprechen mitund untereinander, sie konzentrieren sich – idealiter – ausschließlich auf ihre Handlungen, Reden und Interaktionen, ja sind darin versunken, ganz ohne Rücksicht auf die Zuschauer, die Diderot zu „témoins ignorés“19, zu Zeugen der Szene, von denen man nichts weiß, transformiert. Genau diese absorption20 der Bühnenfiguren jedoch, ihr (fingiertes) Nichtwissen um den Betrachter und um ihr eigenes Betrachtetwerden ist für Diderot die Bedingung der Möglichkeit, dass das Interesse der Zuschauer geweckt wird. Denn die Regel von der Vierten Wand, die Bühne und Zuschauerraum trennt und voneinander abgrenzt, wird signifikanterweise in einem Kapitel der Abhandlung De la poésie dramatique aufgestellt, das vom Interesse, „De l’intérêt“, handelt. Interesse (des Rezipienten) und Vierte Wand, also das fingierte Desinteresse der Akteure am Rezipienten, bedingen sich wechselseitig. Die Vierte Wand ist eine Versuchsanordnung zur Trennung von Darstellung und Wahrnehmung und zugleich zur Überwindung dieser Trennung. Sie distanziert den Zuschauer vom Bühnengeschehen und aktiviert paradoxerweise eben dadurch die Urteils- und Imaginationstätigkeit des Zuschauers und intensiviert seine Wahrnehmungen. Die Vierte Wand durchtrennt die bis dahin gültige rhetorische Reziprozität von Darstellung und Wahrnehmung, von Akteur und Publikum. Die aufgehobene Transparenz der theatralen Kommunikation wird von Diderot ersetzt durch die Transparenz des theatralen Geschehens, welches dem Zuschauer immer schon bekannt sein muss: „Für den Zuschauer muß alles klar sein. Er ist der Vertraute einer jeden Person; er weiß alles was vorgeht, alles was vorgegangen ist; und es gibt
19 Diderot 1994: 226. 20 Michael Fried hat in einer vielbeachteten Studie den Zusammenhang von Absorption and Theatricality bei Diderot herausgearbeitet und mit dem Auftauchen einer neuen Darstellungs- und Rezeptionsform in der Bildenden Kunst der Mitte des 18. Jahrhunderts zusammengebracht. Allerdings vereinseitigt Fried Diderots paradoxes Denken, indem er der Darstellungs- und Rezeptionsweise der absorption dualistisch eine dazu konträre „pastorale“ Darstellungs- und Rezeptionsweise gegenüberstellt, die sich gerade dadurch auszeichne, daß Diderot dabei imaginiert, ins Bild zu treten und sich in der Szene zu bewegen (vgl. Fried 1988). Ich möchte vielmehr zeigen, dass sich Absorption und Ins-BildTreten bei Diderot keineswegs aus-schließen, sondern im Gegenteil bedingen.
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hundert Augenblicke, wo man nichts Besseres tun kann, als daß man es ihm gerade voraussagt, was noch vorgehen soll.“21 Nur wenn der Autor sich ausschließlich für seine Figuren interessiert, nur wenn der Schauspieler sich ausschließlich für seine Rollenfigur interessiert – und nicht für die Zuschauer –, interessiere sich das Publikum für die dargestellten Bühnenfiguren. Denn erst dann werden die entscheidenden Vermögen des Zuschauers aktiviert: Urteilskraft, Empfindsamkeit und Imagination. Der Zuschauer des Diderotschen Theaters überlässt sich in der Haltung des unbeteiligt Beobachtenden einem Empfinden, das der Schauspieler agiert, ohne es zu erleben. Der Schauspieler bringt den gestischen Körper der Figur hervor; der Zuschauer aber verwirklicht ihn in seinem Empfinden. Der Rezeptionsprozess wird von Diderot als ein Ineinander von Wahrnehmung (des Neuen), Imagination (des Zukünftigen wie Vergangenen) und Beurteilung (des Wahrgenommenen auf Grundlage des Bekannten) bestimmt. Dadurch potenziert sich die theatrale Szene, welche erst vom Zuschauer vollendet wird. Modern ist dieses theatrale Subjektverständnis in zweierlei Hinsicht: 1. In der Perspektive der gesellschaftlichen Moderne, des aufklärerischen Ausgangs des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit, erlaubt das Diderotsche Modell, die Doppelseitigkeit des Menschen als Subjekt des Wissens und Handelns und zugleich als Objekt dieser menschlichen Vermögen zu reflektieren. 2. In der Perspektive der ästhetischen Moderne stellt Diderots Konzeption einen frühen Entwurf einer umfassenden Involvierung und Aktivierung des Zuschauers dar. Denn die Pointe der von mir als drittes Paradox bezeichneten Konstellation, also dass der Schauspieler nur Schauspieler ist, weil und insofern es ein Publikum gibt – und vice versa –, besteht ja genau darin, dass erst die empfindsame Wahrnehmung und die vergleichende Beurteilung des Dargestellten durch den Zuschauer die theatrale Szene komplettiert. In Diderots Worten liest sich das wie folgt: Wenn der Zustand der Personen unbekannt ist, so kann sich der Zuschauer für die Handlung nicht stärker interessieren als die Personen. Das Interesse aber wird sich für den Zuschauer verdoppeln, wenn er Licht genug hat und es fühlet, daß Handlungen und Reden ganz anders sein würden, wenn sich die Personen kennten. Alsdann nur werde ich es kaum erwarten kön-
21 Diderot 1986: 334. „Tout doit être clair pour le spectateur. Confident de chaque personnage, instruit de ce que s’est passé et de ce qui se passe, il y a cent moments où l’on n’a rien de mieux à faire que de lui déclarer nettement ce qui se passera“ (Diderot 1994: 227).
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nen, was aus ihnen werden wird, wenn ich das, was sie wirklich sind, mit dem, was sie tun oder tun wollen, vergleichen kann.22
Das so konstituierte Interesse des Rezipienten stellt mehr dar als ein Verhältnis zum Kunstwerk – es ist eine Haltung des Subjekts zu sich selbst und zur Welt. Entsprechend nimmt Diderot die Austauschverhältnisse, heute würden wir vielleicht sagen: das Zwischen von Bühne und Zuschauerraum, ernst. Das in seinen Augen relevante Geschehen findet nicht bloß auf der Bühne statt, es verschiebt sich von der Bühne zu jenem kaum lokalisierbaren Ort, in dem Wahrnehmung und Erwartung, Erfahrung und Imagination performativ zusammenspielen. Diderot legt den Akzent auf die Szenerie, die sich – angestoßen durch die Darstellung – im Zuschauer selbst entwickelt als Spannung zwischen dem Gesehenen und der eigenen Erwartung, zwischen der wahrgenommenen Realität und der imaginierten Potentialität. Eine Spannung auch zwischen der konkreten, kontrollierten und beherrschten Verkörperung durch den Schauspieler und den unausgeschöpften Möglichkeiten und Extremzuständen der jeweiligen Rollenfigur. Damit eröffnet und reflektiert das Diderotsche Theater eben jene emanzipatorischen Spielräume des Subjekts, welche die eingangs referierten philosophischen und soziologischen Subjekttheorien gerade wegen ihrer Nivellierung von Theaterspiel und Alltagshandeln nicht befriedigend einzuholen und zu erklären vermochten. Die Aktionen und Reden der Schauspielerinnen und Schauspieler auf der Bühne werden bei Diderot Mittel zum Zweck eines ungleich wichtigeren Theaters – dem Theater der Subjektkonstitution, welches dem Zuschauer durch die Differenz von Erfahrung und Erwartung, von Präsenz und Absenz die Bedingungen und die Verfasstheit seiner Existenz, seiner Wahrnehmung und seines Denkens vergegenwärtigt. Indem die Vierte Wand dem Zuschauer die Doppelseitigkeit der menschlichen Existenz, seine komplexe, nie gänzlich auflösbare Position als Subjekt und zugleich Objekt sowie die damit verbundenen Asymmetrien von Macht, Wissen und Begehren einsichtig macht, kann sie mit gutem Recht als ein Medium der Aufklärung bezeichnet werden, da sie den Menschen mit seinen eigenen Grenzen konfrontiert. Gleichzeitig aber stellt sie ein Mittel der Steigerung, ja der Entgrenzung des Menschen dar, weil der Zuschauer, Zuhörer oder Leser durch sie seine eigenen Möglichkeiten und seine eigene Potentialität in einem zugleich emotionalen wie rationa-
22 Diderot 1986: 337. „Si l’état des personnages est inconnu, le spectateur ne pourra prendre à l’action plus d’intérêt que les personnages: mais l’intérêt doublera pour le spectateur, s’il est assez instruit, et qu’il sente que les actions et les discours seraient bien différents, si les personnages se connaissaient. C’est ainsi que vois produirez en moi une attente violente de ce qu’ils deviendront, lorsqu’ils pourront comparer ce qu’ils sont avec ce qu’ils ont fait ou voulu faire“ (Diderot 1994: 229).
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len Prozess erfährt. Insofern verlässt ‚das Theater des Herrn Diderot‘ die Bühne der Institution und der Kunstform ‚Theater‘, aber nur um die Subjektwerdung des Zuschauers als ästhetische Praxis der Identitätsbildung des bürgerlichen Publikums als genuine Kulturleistung eben dieser spezifischen Kunstform ‚Theater‘ zu feiern. Mein Beitrag hat zu zeigen versucht, dass zahlreiche Subjekttheorien philosophischer wie soziologischer Provenienz zu Aporien führen, gerade weil sie in Ablehnung essentialistischer und ontologisierender Subjektivitätsentwürfe eine gleichsam allumfassende Theatralität von Subjektivität unterstellen. Zur Lösung dieses Dilemmas bietet sich nun gerade ein Blick auf die Theatertheorie und die Theaterpraxis – sei es die historische, sei es die gegenwärtige – an: also nicht die Strategie einer Reduktion von Theatralität, sondern geradezu eine Verschärfung und Differenzierung von Theatralität durch Theater. Am Beispiel von Diderots Theaterentwurf habe ich zu zeigen versucht, wie ein theatrales Verständnis von Subjektivität entwickelt werden kann, welches gleichwohl von einer Differenz zwischen Subjekt und (Theater-)Figur ausgeht. Diderots Ästhetik setzt damit eine entscheidende subjektphilosophische Neuerung durch. Der Zuschauer im Diderotschen Theater verhält sich zum Bühnengeschehen nicht einfach empfindsam, urteilend oder auch identifikatorisch, sondern er ist selbst die entscheidende Instanz, welche das Bühnengeschehen überhaupt erst verwirklicht und dadurch die Erfahrung von Subjektivität als Selbstbestimmung zu machen vermag.
L ITERATUR Butler, Judith: „Performative Acts and Gender Constitution: An Essay in Phenomenology and Feminist Theory“, in: Case, Sue-Ellen (Hg.): Performing Feminisms. Feminist Critical Theory and Theatre. Baltimore/London: Johns Hopkins Univ. Press 1990, 270-282. Diderot, Denis: „Lettre à Mademoiselle ***“, in: Diderot-Studies VII. Genf: Librairie Droz 1965. Diderot, Denis: „Brief an Mademoiselle ***“; in: ders.: Ästhetische Schriften. Bd. 1. Hg. von Friedrich Bassenge. Frankfurt am Main: Europäische Verlagsanstalt 1968a, 70-80. Diderot, Denis: „Das Paradox über den Schauspieler“, in: ders.: Ästhetische Schriften. Bd. 2. Hg. von Friedrich Bassenge. Frankfurt am Main: Europäische Verlagsanstalt 1968b, 481-538. Diderot, Denis: „Von der dramatischen Dichtkunst“; in: ders.: Das Theater des Herrn Diderot. Stuttgart: Metzler 1986. Diderot, Denis: Œuvres esthétiques. Hg. von Paul Vernière. Paris: Dunod 1994.
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Foucault, Michel: Sexualität und Wahrheit 3. Die Sorge um sich. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1993. Fried, Michael: Absorption and Theatricality. Painting and the Beholder in the Age of Diderot. Chicago/London: University of Chicago Press 1988. Kant, Immanuel: „Anthropologie in pragmatischer Hinsicht“, in: ders.: Werke in zehn Bänden. Band 10. Hg. von Wilhelm Weischedel. Darmstadt: WBG Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1983. BA 42/43. Kappelhoff, Hermann: Matrix der Gefühle. Das Kino, das Melodrama und das Theater der Empfindsamkeit. Berlin: Vorwerk 8 2004. Lehmann, Hans-Thies: Theater und Mythos: die Konstitution des Subjekts im Diskurs der antiken Tragödie. Stuttgart: Metzler 1991. Menke, Christoph: Die Gegenwart der Tragödie: Versuch über Urteil und Spiel. Frankfurt am Main: Suhrkamp 2005. Plessner, Helmuth: „Soziale Rolle und menschliche Natur“, in: ders.: Gesammelte Schriften X. Schriften zur Soziologie und Sozialphilosophie. Hg. von Günter Dux et al. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1985, 227-240. Simmel, Georg: „Zur Philosophie des Schauspielers“, in: Logos 9 (1920/21), 339362.
Cédric Andrieux von Jérôme Bel Choreographische Strategien der Subjektwerdung G ERALD S IEGMUND
ICH
IST EIN
T ÄNZER
„Ich heiße Véronique Doisneau. Ich bin verheiratet und habe zwei Kinder im Alter von sechs und zwölf Jahren. Ich bin 42 Jahre alt und werde in acht Tagen in Rente gehen. Daher wird die Vorstellung heute Abend meine letzte Vorstellung an der Pariser Oper sein.“1 „Ich heiße Cédric Andrieux. Ich wurde 1977 in Brest geboren. Ich bin 32 Jahre alt. Ich bin Tänzer.“2 Wer da „Ich“ sagt, sind die Tänzerin Véronique Doisneau, die bis im Jahr 2005 Mitglied des Pariser Opernballetts war, und der Tänzer Cédric Andrieux, der im Alter von 22 Jahren der Merce Cunningham Dance Company in New York beitrat, die er im Jahr 2007 wieder verließ. Der französische Choreograph Jérôme Bel hat ihnen jeweils ein Stück gewidmet, das ihren Namen trägt. Véronique Doisneau hatte 2004 an der Pariser Oper Premiere, Cédric Andrieux im Jahr 2009 in Genf. Die beiden Stücke sind Teil einer Serie von Produktionen, die den Titel ihrer Protagonisten und Solisten tragen: Isabel Torres, einer Tänzerin des Teatro Municipal Rio de Janeiro, Pichet Klunchun and myself, einem thailländischen Khon-Tänzer im Dialog mit Jérôme Bel, beide aus dem Jahr 2005, sowie 2009 Lutz Förster, einem der Stars aus Pina Bauschs Wuppertaler Tanztheater. Jérôme Bel stellt darin exemplarisch die Frage nach dem Subjekt und 1
Neben einem Aufführungsbesuch am 21.08.2005 in der Berliner Staatsoper liegt der Analyse eine Aufnahme der letzten Vorstellung 2005 an der Pariser Oper zugrunde. Alle Zitate im Text basieren auf dieser Aufnahme und sind meine eigenen Übersetzungen aus dem Französischen nach Bel 2005.
2
Neben einem Aufführungsbesuch am 31.08.2010 im Berliner Hebbel am Ufer 1 liegt der Analyse eine Aufzeichnung der französischen Version zugrunde, die mir Bel als Internetstream zur Verfügung gestellt hat. Alle Zitate im Text basieren auf dem Stream und sind meine eigenen Übersetzungen aus dem Französischen nach Bel 2010.
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der Subjektivierung des Tänzers, die ich in diesem Text aufgreifen möchte. Bel thematisiert die Frage nach dem Subjekt darin auf dreifache Weise, die mit der dreifachen Bedeutung des französischen Wortes ‚sujet‘ spielt. Bels Protagonisten sprechen in den Stücken, die ihren Namen tragen, in der ersten Person Singular in eigener Sache in Form von Texten, die sie, wie im Falle Andrieuxs, weitgehend selbst verfasst haben. Sie sind Subjekt eines Satzes, ihrer Rede. Sie zeigen im Sprechen dabei zweitens ihre Unterwerfung unter spezifische Diskurse und Disziplinierungstechniken, die ihren Status als Tänzersubjekte begründen. Das Subjekt ist nicht nur ein sprechendes, sondern auch ein unterworfenes. Drittens sind sie Thema, sujet, ihres eigene Diskurses, wobei sie sich in der Selbstbetrachtung zum Objekt machen, ein Objekt, das ihre Subjektivität begründet. Mit ihrem Tutu über dem Arm, den Spitzenschuhen und einer kleinen Flasche Wasser in der Hand, tritt Véronique Doisneau zu Beginn an die Rampe der vollkommen leeren riesigen Bühne. Cédric Andrieux stellt eine Sporttasche, in der er, wie sich später herausstellen wird, ein Trikot und ein paar Jeans transportiert, vorne an den Bühnenrand. Auch er kann auf die kleine Flasche Wasser nicht verzichten. Da stehen sie nun und blicken frontal ins Publikum. Sie exponieren sich und sprechen uns an. Das Theater, dem wir beiwohnen, ist das einer Ansprache und Aussprache, eine Situation des Geständnisses, wie es zahlreiche neuere Reality TVFormate auch tun, eine Parallele, auf die Miriam Dreysse im Zusammenhang mit Bels Stück Pichet Klunchun and myself schon hingewiesen hat.3 Dabei kommt dem Publikum die Rolle des Zuhörers zu, der zustimmt oder tadelt. Als Repräsentant der Öffentlichkeit übernimmt es die Position, das Gesagte zu erhören, ihm Geltung zu verschaffen, und den Redner, der im Akt der Anerkennung zu einem Subjekt werden soll, als solches anzuerkennen.
W AHRSPRECHEN
UND
GESTEHEN
Es war nicht zuletzt Michel Foucault, der auf dem Geständnis, dem Redezwang, der parrhesia als grundlegender Strategie zur Erzeugung moderner Subjektivität insistiert hat. Foucault führt sie 1983/84 in seine Untersuchungen zur athenischen Demokratie ein, und schreibt ihr einen Vorbildcharakter zu. Das „Wahrsprechen des Politikers“, der das sagen kann und darf, was er für wahr hält, ist ein Mittel der Einflussnahme und der Beeinflussung mit dem Ziel, sich um die Gemeinschaft zu kümmern.4 Eine zweite, mit dem 18. Jahrhundert einsetzende Form der Macht kümmert sich dagegen in erste Linie um den Einzelnen. Die Pastoralmacht ist aus
3
Vgl. Dreysse 2007.
4
Siehe Foucault 2009: 205.
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den kirchlichen Institutionen abgeleitete Fürsorge, die sich im Laufe des 18. und 19. Jahrhunderts auf weltliche Institutionen wie Polizei, Familie, Medizin oder Psychiatrie überträgt. Ihre Aufgabe ist es nicht mehr, sich in erster Line um die Gemeinschaft als Ganze zu kümmern, sondern sie produziert über das Geständnis Individualität. „Sie ist mit der Erzeugung von Wahrheit verbunden, und zwar der Wahrheit des Einzelnen.“5 Um zu dieser Wahrheit zu gelangen, muss die fürsorgliche opferbereite Macht wissen, „was in den Köpfen der Menschen vor sich geht“. Dies gelingt nur, „wenn man ihre Seele erforscht, wenn man sie zwingt, ihre intimsten Geheimnisse preiszugeben“.6 Wahrsprechen und Gestehen sind mithin zwei Formen der Regierung des Selbst, die Foucault als Sorge um sich Anfang der 1980er Jahre in seiner Hermeneutik des Subjekts entwickelt hat. Die Geständnisse des Cédric Andrieux sind jedoch anderer Natur als die von der Pastoralmacht geforderten. Es sind keine „Geständnisse des Fleisches“, wie der Titel der immer noch unveröffentlichten vierten Bands von Michel Foucaults Sexualität und Wahrheit lautet. Andrieux gibt keine Geheimnisse über sein Privatleben, seine Lüste und Wünsche preis. Er gesteht keine intimen Details über sein Sexualleben, die im Akt des Geständnisses seine Subjektivität als Innenraum und Innenleben eines Individuums erst entstehen lassen würden. „Ich“ zu sagen, das Wort zu ergreifen, um damit in die Ordnung der Sprache einzutreten, die im Personalpronomen der ersten Person Singular eine Position, einen Platz für das zukünftige Subjekt bereit hält, heißt in seinem Fall, äußerlich zu bleiben, das Ich und die Sprache als Allgemeines aufzufassen, um jene Unterwerfungsstrategien öffentlich zu machen, die ihn als Tänzersubjekt konstituieren. Bel inszeniert somit nicht das Privatleben des Tänzers, sondern begreift ihn als Repräsentanten für die Strategien der Disziplinierung, die der Tanz herausgebildet hat, um sich und seine Subjekte zu konstituieren. „Ich“ zu sagen und den Namen, seinen Namen, Cédric Andrieux anzunehmen, heißt, eine Position einnehmen zu können, von der aus das Subjekt sprechen kann, um gehört zu werden. Es heißt, sich zu verpflichten. Dieser Vorgang ermöglicht es auch, Widerspruch einzulegen gegen die Maßnahmen der Disziplin und diese zurückzuspielen. Hier gilt es, auf der Unterscheidung zwischen Subjekt und Individuum zu beharren. Das Wahrsprechen und Gestehen von Andrieux produziert, so wie er es vollzieht, keine Individualität, sondern Subjektivität, die sich damit gegen eine fixe Form der Individualität richten kann. Zur Unterscheidung von Subjektivität und Individualität bemerkt Judith Butler folgendes: Über ‚das Subjekt‘ wird oft gesprochen, als sei es austauschbar mit ‚der Person‘ oder ‚dem Individuum‘. Die Genealogie des Subjekts als kritischer Kategorie jedoch verweist darauf, 5
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6
Foucault 2007: 89.
44 | GERALD S IEGMUND dass das Subjekt nicht mit dem Individuum gleichzusetzen, sondern vielmehr als sprachliche Kategorie aufzufassen ist, als Platzhalter, als in Formierung begriffene Struktur. Individuen besetzen die Stelle, den Ort des Subjekts (als welcher ‚Ort‘ das Subjekt zugleich entsteht), und verständlich werden sie nur, soweit sie gleichsam zunächst in der Sprache eingeführt werden. Das Subjekt ist die sprachliche Gelegenheit des Individuums, Verständlichkeit zu gewinnen und zu reproduzieren, also die sprachliche Bedingung seiner Existenz und Handlungsfähigkeit.7
Kein Subjekt wird zum Subjekt, ohne unterworfen worden zu sein. Aber, so Butler weiter: „Im Akt der Opposition gegen die Unterordnung wiederholt das Subjekt seine Unterwerfung.“8 Indem das Subjekt die Macht annimmt, den Namen annimmt, vermag das Subjekt sie durch die Wiederholung zu verschieben. Dem Theater kommt hier aus meiner Sicht eine besondere Stellung zu. Weil das Theater immer auf Wiederholungen aufbaut, der Wiederholung von schon einmal Gedachtem, Gemachtem, Erfahrenen, Gefühltem und Erprobten, kann das Wiedergeholte in jeder lebendigen Aufführungssituation erneut auf die Probe gestellt, unterbrochen und ausgesetzt werden. Theater im Falle von Bels Stück Cédric Andrieux wiederholt die disziplinären Techniken und Diskurse, die das Tänzersubjekt unterwerfen, um ihm eine Position der Subjektwerdung zuzuweisen. Als besonderer Diskurs vermögen es diese Diskurse und Machtstrukturen aber auch zu reflektieren, zu verschieben und zu öffnen, indem der Tänzer auf der Bühne spielerisch einen anderen als den ihm zugedachten Platz innerhalb des Systems einnehmen kann. Ich möchte im Folgenden in der Hauptsache auf die in Jérôme Bels Stück Cédric Andrieux thematisierten Subjektivierungsstrategien eingehen. Einzelne Szenen aus Véronique Doisneau werden zur Verdeutlichung bestimmter Aspekte herangezogen. 9 Zu fragen ist daher zunächst nach den Diskursen, die den Tänzer bzw. die Tänzerin subjektivieren. Dies sind erstens allgemeine gesellschaftliche Vorstellungen von einer bestimmten Tanzform und, zweitens, spezifische Tanztechniken, die den Körper disziplinieren und ausbilden. Von besonderer Bedeutung ist dabei die Strategie des Positionswechsel, also der Platzierung des Tänzers und der Tänzerin auf der Bühne. Zum Schluss soll ein Vorschlag gemacht werden, wie Subjektivität und Theater gedacht werden können.
7
Butler 1997: 15.
8
Butler 1997: 16.
9
Zu Véronique Doisneau vgl. auch Burt 2008 und Siegmund 2007.
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D ISZIPLINIERUNG In Cédric Andrieux erzählt Cédric Andrieux von seinem Werdegang als Tänzer, von seinen ersten Tanzerfahrungen als Jugendlicher in Brest, den Vorstellungen, die er im dortigen Theater Le Quartz gesehen hat, bevor er mit 14 seine Ausbildung am Conservatoire National Supérieur de Musique et de Danse in Paris begann. Ein erstes Engagement führte ihn nach New York, wo er 1999 nach einem zweiwöchigen Vortanzmarathon als Tänzer in die Merce Cunningham Dance Company aufgenommen wurde. Nach seinem Weggang von der Kompanie wurde er 2007 Tänzer beim Opernballett in Lyon. In seine in nüchternem und sachlichem Ton vorgetragenen Schilderungen, die er in direkter Ansprache ans Publikum richtet, fließen immer wieder Bemerkungen zum Tanzverständnis der jeweiligen Zeit ein, wie etwa „Nach den Ereignissen des Mai ’68 hatte sich der zeitgenössische Tanz einige Ideen zu eigen gemacht, die sich in der Gesellschaft entwickelt hatten.“ Gleicher und weniger elitär, so erklärte es ihm seine Mutter, wolle der zeitgenössische Tanz sein. Diese vom gesellschaftlichen Diskurs genährte Vorstellung vom zeitgenössischen Tanz als Bastion der Freiheit und Gleichheit, „plus égalitaire et moins élitiste“, wie die Mutter sagte, wird mit seinem Eintritt in die Pariser Akademie ins Gegenteil verkehrt. Obwohl er zum zeitgenössischen und nicht zum klassischen Tänzer ausgebildet werden sollte, stößt Andrieux in Paris auf ein System gnadenloser Normierung, Hierarchisierung und Bewertung, das die Schüler gegeneinander ausspielt. Das Versprechen des zeitgenössischen Tanzes, dessen Stimme er gefolgt war, trifft auf eine zweiten Diskurs, den der Institution, die dem Leistungsprinzip folgt. Dieses Prinzip wird durch die Disziplinierung und Umformung des Körpers durch bestimmte Tanztechniken installiert, die Andrieux und die anderen Schüler mit Blick auf die Produktion eines Tanzkörpers subjektivieren. Dieser gnadenlosen Mechanisierung des Körpers begegnet er auch in der Cunningham-Kompanie wieder. Cédric Andrieux berichtet von den routinierten „exercises“, die tagaus tagein das Training bestimmten. Jeden Tag für Stunden die gleichen Übungen in der gleichen Reihenfolge von „bounces“, „stretches“ und „pliés“ – Andrieux kann seine Frustration kaum verbergen und führt den Zuschauern das vom ihm als Stumpfsinn empfundene Wiederholen und Einüben festgefügter Bewegungsfolgen zur Formung des Körpers sogleich vor Augen, wobei er den Rhythmus wie zum Spott mit der Zunge schnalzt. Denken muss er dabei bestimmt nicht. Kreativ sein schon gar nicht. Von ihm wird nichts gefordert außer der Unterwerfung, die seinen Körper formt und beweglich hält, um ihn als Tänzersubjekt hervorzubringen. Derart ausgestellt ohne den Schutz des Probenstudios, in dem sie die Funktion des ‚warm-ups‘ haben, wirken die Übungen lächerlich. Ein merkwürdig steif erscheinender Tänzer kippt seinen Torso aus der Achse, während er seine Arme in einem leicht geschwungene ‚port de bras‘ über die Seite führt. Noch ein-
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mal und noch einmal und noch einmal, bis Andrieux abrupt abbricht und mit dem Satz: „Nach den ‚pliés‘ geht das Training weiter. Glücklicherweise mit Übungen, die jeden Tag wechseln“ nach vorne geht. Auffallend in dieser wie in der darauf folgenden Szene ist die Wichtigkeit, die Andrieux der räumlichen Platzierung der Kompaniemitglieder beimisst. Andrieux weiß immer ganz genau, wo er gestanden hat, immer an derselben Stelle nämlich, in der letzten Reihe hinten rechts. Von dort aus bietet sich ihm stets das gleiche Tableaux der Kollegen, die, ebenfalls an ihren Platz gebunden, sich vor ihm aufreihen, sowie von Cunningham selbst, der stets von vorne an der Seite das Training leitete. Die räumliche Aufteilung der Körper ist Teil der disziplinären Strategie, Subjekte herzustellen, indem man jedem seinen Platz im System anweist. Von daher ist Andrieuxs Abbruch der Szene und sein Gang nach vorne im Stück bereits ein emanzipatorischer Akt. Er unterbricht die Wiederholung des Gleichen, indem er im Tun auf die Übungen zeigt, was ihm ermöglicht, seinen Platz zu verlassen, um an die Rampe ins Zentrum der Aufmerksamkeit zu rücken. Auch die choreographische Arbeit an gänzlich neuen Bewegungsfolgen zeigt uns Andrieux in der darauffolgenden Szene als mechanisches Nachstellen von Körperhaltungen. Auf der Ebene der Choreographie wiederholt sich damit die einübende Unterwerfung unter ein dem Körper fremdes System, das auch die Tanztechnik und das Tanztraining auszeichnet. In Andrieuxs Ausführungen ähnelt die choreographische Arbeit Cunninghams jenem Einnehmen von Posen, mit dem sich der junge Andrieux als Modell an der Kunstakademie einst Geld verdiente. Da Cunningham zur damaligen Zeit schon an den Rollstuhl gefesselt war, konnte er seine am Computer entwickelten Bewegungsfolgen nicht mehr selbst vortanzen. Der mimetische Lernprozess wich damit einem sprachlichen Vermittlungsverfahren. Cunningham, so Andrieux, habe die Bewegungen beschrieben, die der Tänzer nach seinen Ansagen ausführen musste. Dabei trennte er zwischen Bewegungen der Beine, des Rumpfes und der Arme. Mit jeder Stufe wurde die vorausgegangene Bewegungsfolge mit neuen Bewegungen angereichert und komplexer gemacht, eine Tatsache, die Andrieux als permanente Überforderung wahrnahm. Erst nachdem er die Kompanie verlassen hatte, habe er erkannt, dass es Cunningham nicht um die perfekte Ausführung der schwierigen Figuren ging, sondern dass er genau in der Schwierigkeit an der Grenze zum Scheitern ein Interesse für die Bewegung entwickelte. Durch die Überforderung entsteht also ein individueller Umgang mit der choreographischen Struktur, der unvorhergesehene Resultate zeitigt und deren Qualität Cunningham nach einer Aufführung im Übrigen nie bewertet habe. An die Stelle öder Übungen, denen sich der Tänzer unterwerfen muss, tritt demnach der kreative Umgang mit der Struktur, in die sich der Körper des Tänzers nicht nur einfügen, sondern an der er sich zwangsläufig auch reiben muss, weil sie in ihrer Abstraktheit einer gänzlich unkörperlichen Logik folgt. Sowohl die binäre Logik der Sprachzeichen als auch die analog-ikonischen Zeichen von bildlichen
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Computer-Darstellungen bleiben schon allein aufgrund ihrer Materialität den psychologisch geformten biologischen Rhythmen des Körpers wie auch den gesellschaftlich habitualisierten und als natürlich geltenden Bewegungen vollkommen äußerlich. Aus dem Tänzersubjekt, das sich der Stimme, den Buchstaben und Zeichen des Herrn und Meisters unterwirft, wird durch diesen Widerstand ein Subjekt des Tanzes, ein Individuum, das in Bels Stücken zum Thema, sujet, des Theaters wird. Durch das Wieder-Sprechen und das mit der Wiederholung verbundene AndersSprechen im Übergang vom Körper, der die Übungen ausführt, zur Stimme, die über die Arbeit spricht, widerspricht Cédric Andrieux. Dass er widerspricht, macht ihn aber paradoxerweise zum gelehrigen disziplinierten Subjekt. Die Disziplin stellt einen Bezug des Subjekts zum Selbst her, der hier zugleich emanzipatorischen Anspruch hat. Andrieux erhebt Einspruch. Dies tut er, weil er in der Aufführung die herkömmliche Subjektivation des Tänzers verweigert. Verlangt diese doch eine permanente Sorge um sich, die jeder Tänzer tagaus tagein, durch kleine Rituale gestützt, zur Verletzungsprophylaxe und Leistungssteigerung an den Tag legen muss, um zum Bühnensubjekt werden zu können. Andrieux kommt seiner Verpflichtung, Subjekt, oder genauer: Cunningham-Subjekt zu werden, hier nicht nach. Weil er sich in der Inszenierung nicht auf konforme Art mit der Technik konfrontiert, wird er nicht individualisiert. Doch die Befreiung vom Diktat der Zucht führt ihn geradewegs zu einer anderen Form der Subjektivation. Durch seine Aus- und Ansprache kümmert er sich um sich nicht mehr primär als Tänzer, sondern um seinen gesellschaftlichen Status. Er unterwirft sich nicht mehr länger der Tänzerdisziplin, sondern der Sprache, um sich, wie Judith Butler formuliert, allgemein und als Allgemeiner verständlich zu machen und zu handeln.10 Die Sprache macht ihn zum gesellschaftlichen Subjekt, das im symbolischen Raum des Theaters um Anerkennung bittet.
ILLUSION : ICH
BIN DA, WO ICH NICHT BIN
Wären das Theater und sein Subjekt lediglich der Ort, an dem gegen dessen Subjektivierung Einspruch erhoben werden kann, müsste man ihnen weitgehend ihre produktive Eigenleistung absprechen. Sie würden auf kunstspezifische wie gesellschaftliche Diskurse reagieren, ohne ihnen etwas Eigenes entgegenhalten zu können. Die Inszenierung Cédric Andrieux unterlässt aus den ausgeführten Gründen das Zeigen und Herstellen von neuen, anderen Stimm- und Körperbildern, die der Tänzer durch die disziplinierte und subjektivierende Anwendung der Technik auf
10 Siehe Butler 1997: 15.
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sich zu erzeugen vermag. Gleichzeitig kappt die Inszenierung damit die Möglichkeit, den individuellen Umgang dieses Körpers mit dem choreographischen und bewegungstechnischen Universum Cunninghams hervorzuheben, wie es Sabine Huschka in ihren Studien zu Cunningham immer wieder betont hat.11 Um die impliziten Machtstrukturen, denen das Cunningham-Subjekt unterworfen ist, hervorheben zu können, verzichtet Jérôme Bel auf die Darstellung der Möglichkeiten und auf das Werden dieses Subjekts zum Individuum. Die Anwendung der Prinzipien auf sich, die aus Andrieux ein ästhetisches und nicht nur ein diszipliniertes Subjekt machen würden, gelingt ihm nicht, oder nur, wie er immer wieder betont, unter Schmerzen. Die Inszenierung operiert mithin vor allem auf der Ebene der symbolischen Strukturen und ihres normierten Körpers, den ihre Handlungen und Praktiken erzeugen müssen, und entlarvt dabei gerade die Individualität als Unterwerfungsstrategie. Die nüchterne und karge Inszenierung umgeht weitgehend den Entwurfscharakter der Imagination oder des Imaginären und verzichtet damit auf ihre – im Wortsinn – bildliche Projektion, ihre geistige und räumliche Vorstellung eines Körpers als Realisation seiner Möglichkeiten. Selbst in den getanzten Auszügen aus Stücken, die wichtige Stationen in Andrieuxs Karriere darstellen, wird auf den Einsatz von Musik verzichtet, eine Entscheidung, die der emotional unterfütternden illusionären Schließung der Szene zum verführerischen Bild zugunsten ihres Demonstrationscharakters, ihres Zeige-Gestus, auf den Gabriele Brandstetter in Verbindung zum Format der ‚lecture performance‘ hingewiesen hat, entgegenwirkt.12 Was mit diesem Illusionscharakter verbunden ist, wird in Bels älterem Stück Véronique Doisneau weitaus deutlicher, stellt er uns darin doch den imaginären Körper als Wunschkörper der Protagonistin gleich in zwei Szenen als Teil der Inszenierung vor Augen. Einmal die Hauptrolle in Giselle tanzen, einmal im Mittelpunkt der Bühne stehen und nicht als ‚sujet‘ und Teil des ‚corps de ballets‘ das zentrale Paar ornamental rahmen und dadurch hervorheben: Die Szene wird mit all ihrer identifikatorischen Qualität von Doisneau geradezu erträumt. Das erste Mal ist die Szene als individuelle Fantasie gekennzeichnet, was dadurch unterstrichen wird, dass Véronique Doisneau leise die Melodie zu ihrem Solo vor sich hin summt, als tanze sie privat und völlig unbeobachtet nur so vor sich hin. Das zweite Mal, in der Szene direkt im Anschluss daran, rückt sie die Giselle in die Ferne eines unerreichbaren Idealbilds, dem ihre ganze Bewunderung und Faszination gilt. In ihrer Karriere, so erzählt sie, habe sie viele Ballerinen bewundert, darunter auch Céline Talon, ‚étoile‘ der Pariser Oper, als Giselle in der Choreographie von Mats Ek. Daraufhin nimmt sie an der Rampe Platz und blickt auf die nun in ein bläuliches Licht getauchte Bühne, auf der – zumindest in der Aufnahme einer Vorstellung in der Pariser Oper – die Talon ihr Solo als Giselle tanzt. Véronique Doisneau wird so in ih11 Vgl. Huschka 2000. 12 Vgl. Brandstetter 2010.
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rem eigenen Stück zur Zuschauerin, die sich selbst als anderer zuschaut. Der Tanz im Tanz in der doppelt gerahmten Bühnensituation rückt ihr ideales Körperbild in die Ferne einer illusionären Projektion, die sie als erste Zuschauerin wie die Stifterin im Bild eines Renaissancegemäldes in ihren Bann schlägt. Doisneau ist die beobachtete Beobachterin, die den Zuschauern reflexiv ihre eigene Tätigkeit des Zuschauens und deren Funktion der Illusionierung vor Augen führt. Aus dieser Perspektive stellt sich die Frage nach dem Ort, den das Subjekt in der Ordnung des Theaters einnimmt noch einmal auf andere Art und Weise. Dieser Ort wird nicht nur physisch besetzt, sondern auch psychisch und damit imaginär. Der leere Ort wird mit Wunschbildern gefüllt, die jedoch nie mit dem begehrenden Subjekt identisch sein können. Sigmund Freud bestimmt in seinem Aufsatz „Triebe und Triebschicksale“ den Schautrieb als eine Kette von Substitutionen.13 Zunächst beschaue ich mich selbst, bevor ich ein fremdes Objekt beschaue. Danach gebe ich das Objekt auf, mache mich selbst zum Objekt und lasse mich schließlich von einem anderen beschauen. Das Sehen ist demnach nie neutral oder gar nur eine optisch-technische Angelegenheit. Es ist immer mit einem Begehren zu sehen und gesehen zu werden verbunden, das daran geknüpft, dass ich mich dort vorstelle, wo ich nicht bin. Denn das Besondere am Schautrieb ist nach Freud, dass der andere sowohl in der aktiven wie in der passiven Variante des Triebs jenen Platz einnimmt, den ich zu Beginn selbst inne hatte, dass also Anteile von mir und meiner Libido an jenem anderen kleben bleiben, obwohl ich dort selbst nicht bin. Das Theater ist demnach jener Ort, an dem ich eine Perspektive auf mich erhalten kann, die ich niemals selbst einnehmen kann (sonst müsste sich auf der Bühne und im Zuschauerraum körperlich zugleich sein), ohne dass diese Perspektive verschwinden würde. Damit installiert das Theater ein Subjekt, das sich im begehrten Blick fremd wird, sich zugleich aber entlang dessen Bahn entwirft und verortet. Das Subjekt des Theaters ist ein gespaltenes. Jérôme Bels Inszenierung erfüllt Véronique Doisneau den Wunsch, einmal Giselle zu tanzen. Doisneau tut genau dies vor den Augen des Publikums. Gleichzeitig bleibt sie auf Distanz zu dieser Giselle, der ihr Körper nie genügen konnte. Tanzen, das ist auch der Traum davon, sich einen anderen Körper zu geben, einen anderen Körper, der sich, gestützt durch die subjektivierende Institution Theater mit ihren Techniken und Sprecherpositionen, vor der Öffentlichkeit zur Diskussion stellt und um Anerkennung bittet. Diese wird ihm zuteil, indem ihm die Zuschauer Aufmerksamkeit schenken. Bels Stücke machen deutlich, dass diese Anerkennung immer mit einer Zäsur des gewohnten Ablaufs einhergeht, einer Störung im Apparat der friedlichen Wiederholungen. Er arbeitet innerhalb der Institution gegen die Gepflogenheiten der Institution, um damit die Positionen, von denen aus bestimmte
13 Vgl. Freud 1982.
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Subjekte sprechen dürfen und andere nicht, um die Formulierung von Jacques Rancière zu gebrauchen, neu und anders aufzuteilen. 14
D ER B LICK
DES LEEREN
T HEATERS
Ist das Theater der Ort, an dem Machstrukturen und ihre Subjektpositionen sowie die sie hervorbringenden Techniken und Diskurse nicht nur wiederholt, sondern auch unterbrochen, anders gesagt, erfahren und erprobt werden können, bedeutet das, dass das Theater nicht allein ein Spiegel der Gesellschaft ist, sondern über die andere Verbindung des Symbolischen zum Imaginären eine Wirklichkeit sui generis produziert. Es kann dies tun, weil es auch die Wirklichkeit des zuschauenden Subjekts verändert. Andrieux verließ 2007 die Merce Cunningham Dance Company, kehrte nach Europa zurück und wurde Tänzer beim Bellet de l’Opéra de Lyon. Dort tanzte er unter anderem in Choreographien von Trisha Brown und stand mit dem kompletten Ensemble auch in der Einstudierung von Jérôme Bels Stück The Show Must Go On auf der Bühne. Das Stück sei für ihn schon deshalb bemerkenswert gewesen, weil Bel keine Auswahl zwischen den Tänzern und Tänzerinnen nach Können oder Nichtkönnen getroffen habe. Jeder war zugelassen, und alle standen sie in einer Reihe, was den hierarchisch gegliederten Raum, der die klassischen Tänzersubjekte auf ihre Plätze verwies, aufgelöst habe. Andrieux wiederholt nun seine Lieblingsszene zu dem Song Every Breath You Take von The Police, ein unangenehmer Stalker-Song, in dem das Ich des Textes dem begehrten Subjekt die paranoide Allgegenwart seines beobachtenden Blicks androht. Andrieux tritt allein an die Rampe und lässt seinen Blick vom Parkett bis hinauf zur Empore über das Publikum schweifen und lächelt mal die eine oder den anderen an. Damit löst das Stück eine weitere subjektivierende Anrufung auf: jene, die dem Zuschauer einen Platz im Dunkeln zuweist. Indem der Blick von der Bühne zurückgeben wird, werden die Zuschauer selbst zu Akteuren im Spiel der Tänzer und verlassen damit imaginär ihre im Dispositiv des bürgerlichen Theaters und der Oper angelegte Position. Doch der Blick ist hier nicht nur der begehrte, in diesem Fall sogar punktuell erwiderte individuelle Blick eines Tänzers oder einer Tänzerin, der mich meinen kann. Er ist hier immer auch der Blick des ganzen Theaters, der alle daran Teilhabenden von allen Seiten aus treffen kann, ohne dass ich seine übergeordnete Position des virtuellen Rundumblicks jemals selbst einnehmen könnte. Cédric Andrieux und Véronique Doisneau exponieren mithin nicht nur sich selbst, wie zu Beginn behauptet, sondern immer zugleich das leere Theater, das sie subjektiviert und zur Erscheinung bringt. Möchte man die im oben erwähnten Zitat von Judith Butler ar-
14 Vgl. Rancière 2006.
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tikulierte Einsicht, dass das Subjekt an eine sprachliche Struktur gebunden ist, an dieser Stelle noch einmal aufgreifen, so nimmt die Position der Struktur, die Subjektivität ermöglicht, das leere Theater ein. Das leere Theater, das in Jérôme Bels Inszenierung The Last Performance eine so wichtige Rolle spielt, ist ein Dispositiv der Möglichkeiten zu hören und zu sehen. In ihm gibt es vorgeschriebene Plätze für Darsteller und Zuschauer sowie für das Darstellen und Zuschauen, für Hören und Sehen. Jenes Dispositiv hat die Aufgabe, die Konfrontation von Körpern, Stimmen und Sprachen zu inszenieren, sie also wechselseitig aufeinander zu beziehen, um sie und die Subjekte dadurch hervorzubringen. Individualität ereignet sich damit in der Reibung an und der Auseinandersetzung mit dem leeren Theater, das dem Subjekt analog eine bloße Leerstelle darstellt. Im Blick überschneidet sich die symbolische Funktion des Theaters, das durch Zeigen und Zuschauen, durch Ausstellen und Aussprechen subjektiviert, mit dem Blick des Imaginären, der zu sehen und zu hören begehrt. Durch die Musikeinspielung wird die Szene abgerundet. Sie appelliert an die subjektiven Erinnerungen der Zuschauer, die mit dem Lied aus The Show Must Go On verbunden sind, und macht mithin eine Anknüpfung an deren Erfahrungen möglich. Durch den Einsatz unterschiedlicher Medien werden Hören und Sehen getrennt und feste Bedeutungszuschreibungen aufgelöst, um Freiräume für die Wahrnehmung zu öffnen. Helga Finter hat dies mit ihrem psycho-semiotischen Ansatz als „subjektiven Raum“ bezeichnet, der sich im Theater wieder zu öffnen vermag, um die Grenzen des Subjekts neu zu ziehen.15 Dabei geht sie davon aus, dass das Subjekt selbst durch Sehen, Hören und Fühlen und den damit verbundenen Erfahrungen, Emotionen, deren sprachlichen Bindungen und kulturellen Bedeutungsmustern konstituiert wird, dass es sich also in der Auseinandersetzung mit Sprache, Bildern und Körpern als psychisch strukturiertes Subjekt im Prozess herausbildet.16 Ein solches Subjekt ist ein offenes Subjekt, das sich im Austausch mit den symbolisch-sprachlichen sowie imaginär bildhaften und akustischen Phänomenen erzeugt, deren Verwendung das Theater gegen ihre Normierungen im Alltag zu inszenieren vermag. Hierbei geht es, wie der Philosoph Samuel Weber festgestellt hat, nicht primär um das Rollen- oder Maskenspiel, das das Subjekt zu einem solchen macht. Vielmehr bewegen sich diese Überlegungen zur Subjektkonstitution auf einer Ebene darunter, also auf einer intra-subjektiven Ebene, noch bevor es zu Bindungen und Bildungen von Identitätsmustern kommen kann. Es geht dabei also nicht um nachahmendes Rollenspiel, sondern um „ein Ins-Spiel-Bringen der rollen- und regelbildenden Konventionen selbst. In diesem Spiel gäbe es weniger ‚Rollen‘ zu spielen als ‚Partien‘, die den Körper des Mitspielenden so aufteilen, wie es Artauds Auffassung des Theaters
15 Vgl. Finter 1990. 16 Vgl. Finter 2004.
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vorschwebte“ 17. Statt den Körper als „Vereinheitlichung und Sitz der ‚Seele‘“18 zu sehen, wäre er der Ort, an dem sich Affekte an Körperpartien binden, mithin signifikante Bindungen neu vollziehen, die das Subjekt allererst ermöglichen.
D AS THEATRALE S UBJEKT ALS K ONFRONTATION HETEROGENER M ATERIALISATIONEN Daraus ergibt sich Folgendes: Das Subjekt des Theaters entsteht wie das gesellschaftliche Subjekt durch sprachliche Anrufung und Unterwerfung. Als bereits durch spezifische Tanz- oder Schauspieltechniken und Diskurse sowie bestimmte ästhetische Vorstellungen von Theater subjektiviertes tritt es ins Theater ein, das als Institution Teil der symbolischen Ordnung unserer Kultur ist. Das Theater hält für das Subjekt bestimmte Positionen wie etwa die des Zuschauers oder Schauspielers bereit, denen es sich wiederum durch Disziplinierung zu unterwerfen gilt. Am Beispiel der Inszenierung Cédric Andrieux von Jérôme Bel habe ich versucht zu zeigen, dass Theater als besonderer Ort in der Kultur jener Raum sein kann, an dem das Subjekt seine Unterwerfung nicht nur wiederholt, sondern in dem es sich mit den es konstituierenden Ordnungen konfrontieren kann. Im Theater konfrontieren sich Körper mit dem, was sie als bestimmte Körper hervorbringt. Sie konfrontieren sich mit Diskursen und Techniken, die, wie die Anweisungen Cunninghams an seine Tänzer, sprachlich gesteuert bestimme Handlungen von ihnen verlangen und ihnen bestimmte Plätze innerhalb der Ordnung zuweisen. Diese Konfrontation weist die Besonderheit auf, dass sie zwischen mindestens zwei unvereinbaren Materialisationen stattfinden muss: zwischen der binären Logik sprachlich-kultureller Ordnungen und der Ordnung des Körpers, seiner Rhythmen, Empfindungen und seiner Materialität. Da beides nie zur Deckung kommen kann, bietet sich für das Subjekt die Notwendigkeit, Verpflichtung und Chance, sich zu diesen Ordnungen zu verhalten. Das Subjekt ist also abhängig von etwas radikal Anderem, Nicht-Menschlichem (in der griechischen Tragödie waren dies, wie Hans-Thies Lehmann gezeigt hat, die Götter), was stets ein Scheitern und Missverstehen und damit Tragik und Komik erzeugt.19 In diesem Missverhältnis zeigt sich das Subjekt als Negativität. Letztlich, so möchte ich die These zum theatralen Subjekt zuspitzen, entsteht das Subjekt aus der Konfrontation des Körpers mit der materiellen Heterogenität von akustischen, visuellen und sprachlichen Ordnungen, die gerade im Theater gegeneinander gehalten und ausgespielt werden können. Diese Materialkollision heteroge-
17 Weber 1988: 231-232. 18 Weber 1988: 232. 19 Vgl. Lehmann 1991.
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ner Ordnungen produziert ein Subjekt-im-Prozess, das wechselnde Verbindungen herstellt zwischen dem Gehörten und Gesehenen. Durch diese Aktivität stellt es sich über ein Imaginäres her, das, wie Véronique Doisneau als Giselle, den leeren Platz im Theater einnimmt, um dort, wo Nichts war, das Subjekt als Leerstelle, als imaginär Integriertes entstehen zu lassen. Das was entsteht, ist letztlich nicht mehr kausal-logisch rückführbar auf seine einzelnen sonoren, visuellen und sprachlichen Bestandteile, sondern siedelt sich auf einer anderen, psychischen Ebene an. Das Theater als intermedialer Aufführungszusammenhang bietet die Möglichkeit, Sehen und Hören, Handeln und Zuschauen neu zu verbinden. Dadurch entsteht die Möglichkeit eines anderen Körpers und eines anderen Sprechens, die festgefügte Grenzen der Subjektivität wieder in einen Prozess zu überführen vermag. Durch das Eintreten in die Struktur werden sie subjektiviert; durch die Konfrontation mit ihr, die ein Imaginäres produziert, individualisiert. Beides gehört zusammen. Durch die Individualisierung entsteht der Ort des Subjekts, der vorher schon dagewesen sein muss. Das Beispiel The Show Must Go On aus Bels Stück Cédric Andrieux macht deutlich, dass es sich bei der Wahrnehmung der Körper und ihrer Aktionen, der Stimmen, Blicke, Musik und der Texte nicht um ein rein registrierendes Aufnehmen von Sinneseindrücken handeln kann. Durch die Funktion der subjektiven Erinnerung, die, so Maurice Halbwachs, immer Anteil haben muss am kulturellen Gedächtnis,20 schlägt die rein quantitative Wahrnehmung von Intelligiblem um in eine qualitative Wahrnehmung von Signifikantem, d.h. in eine Wahrnehmung, die das, was das Subjekt hört und sieht mit psychischer Energie auflädt, um es auf diese Weise mit Interesse, Lust oder Unlust, Faszination, ja sogar mit Liebe zu betrachten. Während das Auge, so Lacan, das Rieseln des Lichts bloß registriert, begehrt der Blick zu sehen und fordert damit eine Auseinandersetzung und einen aktiven Umgang mit dem Fremden, das er einfängt und doch immer verfehlen muss.21 Dieser Sprung von der Quantität zur Qualität ist im Wortsinn ein signifikanter, also ein Sprung, der das Material der Inszenierung als vom Signifikanten angeschnitten betrachten muss. In diesem Sinn ist das, was wir sehen und hören nie nur allein das, was sich als solches zeigt, sondern gleichzeitig auch etwas, das von der Imagination der Zuschauer zur Erscheinung und zum Leuchten gebracht und transfiguriert wird, ein Leuchten, das auch Jérôme Bels virtuosen Nichttänzern in The Show Must Go On und ihren Körpern einen unbeschreiblichen Glanz verleiht. Jérôme Bels Stücke sind eine Liebeserklärung ans Theater, der ich mich am Ende dieses Textes gerne anschließe.
20 Siehe Halbwachs 1985: 31. 21 Siehe Lacan 1987: 100.
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L ITERATUR Bel, Jérôme: Véronique Doisneau. Paris: Opéra 2005, in: www.youtube.com/ results?search_query=veronique+doisneau&aq=f [28.02.2011]. Bel, Jérôme: Cédric Andrieux. 2010, in: www.rb-jeromebel.com [28.02.2011]. Brandstetter, Gabriele: „Tanzen zeigen. Lecture Performance im Tanz seit den 1990er Jahren“, in: Bischoff, Margrit/Rosiny, Claudia (Hg.): Konzepte der Tanzkultur. Wissen und Wege der Tanzforschung. Bielefeld: transcript 2010, 4561. Burt, Ramsay: „Revisiting ‚No to Spectacle‘: ‚Self Unfinished‘ and ‚Véronique Doisneau‘“, in: Forum Modernes Theater 23, 1 (2008), 49-59. Butler, Judith: Psyche der Macht. Das Subjekt der Unterwerfung. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1997. Dreysse, Miriam: „Gespräche, Bekenntnisse, Aussprache: Populäre Medienformate und zeitgenössische Performance“, in: Forum Modernes Theater 22, 2 (2007), 153-166. Finter, Helga: Der subjektive Raum. Band 1 und 2. Tübingen: Gunter Narr 1990. Finter, Helga: „Identität und Alterität: Theatralität der performativen Künste im Zeitalter der Medien“, in: Berg, Walter Bruno et al. (Hg.): Fliegende Bilder, fliehende Texte. Identität und Alterität im Kontext von Gattung und Medium. Frankfurt am Main/Madrid: Vervuert 2004, 233-250. Foucault, Michel: „Subjekt und Macht“, in: ders.: Ästhetik der Existenz. Schriften zur Lebenskunst. Frankfurt am Main: Suhrkamp 2007, 81-104. Foucault, Michel: Die Regierung des Selbst und der anderen. Frankfurt am Main: Suhrkamp 2009. Freud, Sigmund: „Triebe und Triebschicksale“, in: ders.: Psychologie des Unbewussten. Studienausgabe Band III. Frankfurt am Main: Fischer 1982, 75-102. Halbwachs, Maurice: Das kollektive Gedächtnis. Frankfurt am Main: Fischer 1985. Huschka, Sabine: Merce Cunningham und der Moderne Tanz. Körperkonzepte, Choreographie und Tanzästhetik. Würzburg: Königshausen & Neumann 2000. Lacan, Jacques: Die vier Grundbegriffe der Psychoanalyse. Das Seminar Buch XI. Berlin/Weinheim: Quadriga 1987. Lehmann, Hans-Thies: Theater und Mythos. Die Konstitution des Subjekts im Diskurs der antiken Tragödie. Stuttgart: Metzler 1991. Rancière, Jacques: Die Aufteilung des Sinnlichen. Die Politik der Kunst und ihre Paradoxien. Berlin: b_books 2006. Siegmund, Gerald: „Experience in a Space Where I Am Not: Staging Absence in Contemporary Dance“, in: Discourses in Dance 4, 1 (2007), 77-95. Weber, Samuel: „Das abgeschirmte Bild: Kritische Nachbemerkungen zum Thema Psychoanalyse und Individuum“, in: Frank, Manfred/Haverkamp, Anselm (Hg.): Individualität. Poetik und Hermeneutik XIII. München: Fink 1988, 228233.
Selbst und Selbst-Widerspruch Notizen zum Drama der Subjektkonstitution C ARL H EGEMANN Der reine leidensfreie Geist befaßt Sich mit dem Stoffe nicht, ist aber auch Sich keines Dings und seiner nicht bewußt, Für ihn ist keine Welt, denn außer ihm Ist nichts. – Doch, was ich sag, ist nur Gedanke. – Nun fühlen wir die Schranken unsers Wesens Und die gehemmte Kraft sträubt ungeduldig Sich gegen ihre Fesseln, und es sehnt der Geist Zum ungetrübten Äther sich zurück. Doch ist in uns auch wieder etwas, das Die Fesseln gern behält, denn würd in uns Das Göttliche von keinem Widerstande Beschränkt – wir fühlten uns und andere nicht. Sich aber nicht zu fühlen, ist der Tod, Von nichts zu wissen und vernichtet seyn Ist eins für uns. FRIEDRICH HÖLDERLIN1
„Drama heißt Konflikt“, lautet der immer wieder zitierte und irgendwie nichtssagend klingende Satz, der definiert, was Theater ausmacht. „Postdramatisches Theater“ bedeutet deshalb auch nicht Ende des Dramas, sondern Verlagerung des dramatischen Konflikts vom Geschehen auf der Bühne in den Kopf des Zuschauers. Konflikte (Gegensätze, Widersprüche) sind offenbar grundlegende Voraussetzungen für jede Art von Dramatik, und sie können auf höchst unterschiedliche Weise bestimmt werden: Der Konflikt von Innen und Außen (Inklusion und Exklusion), Freiheit und 1
Hölderlin 2004: 100.
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Determination, Natur und Gesellschaft, Einzigartigkeit und Allgemeinheit, Männliches und Weibliches, Aktivität und Passivität, Allmacht und Ohnmacht, Begriff und Gegenstand, Subjekt und Objekt, Realität und das Reale, Fesselung und Entfesselung, Vernunft und Leidenschaft, Überfluss und Mangel, Zufall und Notwendigkeit, Tun und Leiden usw. Gegensatzpaare wie diese sind offenbar unvermeidbar notwendig und lassen sich dauerhaft oder endgültig niemals vollständig und ersatzlos auflösen. Menschen oszillieren zwischen gegensätzlichen Polen unterschiedlichster Provenienz und sind in ihren Lebensanstrengungen immer, wenn auch nicht immer zugleich, beiden Seiten verpflichtet. Eine Seite gibt es nicht, jede Medaille hat zwei. Der letzte strukturelle Grund dafür liegt, das ist hier die These, in der Gegensätzlichkeit der Subjektkonstitution selbst, in der selbstreferentiellen und damit widersprüchlichen Verfasstheit unseres Bewusstseins, das sich nicht nur auf Gegenstände in der Welt beziehen kann und muss, sondern auch auf sich selbst, d.h. Bewusstsein des Bewusstseins sein muss, also immer auch gleichzeitig sich selbst Gegenstand sein können muss. Die Konflikte in dramatischen Situationen sind insofern unmittelbar an unser durch Konflikte konstituiertes Selbstsein gebunden, sind konstitutiv für unsere Grundausstattung als menschliche Wesen. Das zumindest ist die Überzeugung der entwickelten klassischen deutschen Philosophie, wie wir sie vor allem bei Fichte und Hölderlin, aber auch bei Schiller, Schelling – und grundlegend bei Kant – finden können. Hier ist etwas entstanden, das die Subjektkonstitution mit dem Drama und das Drama mit der Subjektkonstitution strukturell verbindet.
K ANTS URSPRÜNGLICHE P ROBLEMSTELLUNG : S ELBSTBEWUSSTSEIN ALS UNBEZWEIFELBARES UNERKLÄRBARES F AKTUM
ABER
Immanuel Kant hat viele Verdienste. Er hat das Denken wie kaum ein anderer Philosoph auf eine neue Basis gestellt. Vor allem aber ist er der Erfinder der philosophischen Konstitutionstheorie. Alles andere, was er als Philosoph in die Welt gesetzt hat: der kategorische Imperativ, die Begründung der Freiheit, die Antinomien hinsichtlich des Daseins Gottes, die Begründung der Möglichkeit kognitiver und ästhetischer Urteile oder die Untersuchung der Bedingungen der Möglichkeit von Wissenschaft und Erfahrung, alles hängt an dieser Konstitutionstheorie. Ich denke, dass auch eine Theorie von so etwas Marginalem wie der Dramaturgie, als Theorie der Herstellung und Untersuchung von dramatischen Handlungen auf der Bühne (und anderswo) vielleicht bei Kant anfangen muss, wenn sie ihre eigenen Grundlagen sowie die Bedingungen und den Sinn des Dramatischen definieren will. Kant hat die transzendentalen Bedingungen, die subjektiven Vermögen untersucht, unter denen Erfahrung, Welt und Selbst möglich sind. Damit hat er, wie man
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sagt, die kopernikanische Wende in der Philosophie eingeleitet. Während Kopernikus herausfand, dass sich die Erde um die Sonne dreht, glaubte Kant herauszufinden, dass die Objektivität der Welt nichts ist, das wir in einem direkten Zugang beobachten und erkennen können, sondern dass die Objektivität der Welt durch unsere subjektiven Beobachtungs- und Erkenntnisvermögen überhaupt erst hergestellt wird. Das war der Beginn der Konstitutionstheorie im philosophischen Sinn. Die Konstitution der objektiven Welt geschieht durch das Subjekt. Die Konstitution des Subjekts selbst wurde Kant dabei gar nicht zu einem speziellen Problem, es reichte ihm schon die „ursprünglich-synthetische Einheit“ der transzendentalen Apperzeption, welche die Kontinuität und Einheit unserer Erfahrungen ermöglichen soll, mit dem berühmten Satz aus der Kritik der reinen Vernunft (1781/1787) zu bestimmen: „Das: Ich denke muss alle meine Vorstellungen begleiten können [...].“2 Warum? Ganz einfach, weil es sonst nicht meine Vorstellungen wären. In diesem eher einfachen Gedanken zeigt sich nicht mehr, aber auch nicht weniger, als dass die Einheit des Weltzusammenhangs – inklusive seiner Brüche – für uns nur durch die Einheit des Erfahrungszusammenhangs gegeben ist. In seinen berühmten drei Kritiken (der Reinen Vernunft, der Praktischen Vernunft und der Urteilskraft) hat Kant dieses „Ich denke (es)“ als Kern-Bedingung der Möglichkeit der Erfahrung, als konstitutiv für eine Welt, die eine Welt für uns sein soll, eingeführt, sozusagen als Aufhänger für das gesamte Projekt, die Bedingungen der Erfahrung (ihre „apriorischen“ Formen, Kategorien und Schemata) zu untersuchen und zu ordnen. Die Frage nach der Konstitution dieses „Ich denke“ selbst aber hat er dabei eher vernachlässigt und unbeantwortet gelassen. Dieter Henrich betont in seiner Untersuchung über Selbstverhältnisse (1982), dass Kant um dieses Problem auf schon auffällige Weise immer einen großen Bogen gemacht habe.3 Wie ich erst jetzt, viele Jahre nach meiner eigenen ersten Kantlektüre zufällig erfahre, war Kant aber möglicherweise einer der ersten, der zumindest das damit verbundene Problem des Selbstbewusstseins, die Frage nach der Subjektkonstitution oder Subjektidentität – wie ist ein auf sich selbst bezogenes Ich möglich? – in seiner Tragweite vollkommen klar erkannt hat. Zehn Jahre nach dem ersten Erscheinen der Kritik der Reinen Vernunft (1781) schrieb er in einer nicht sehr bekannten Abhandlung, der Preisschrift über den wirklichen Fortschritt der Metaphysik seit Leibnitz und Wolff in Deutschland den folgenden Satz: Ich bin mir meiner selbst bewusst, ist ein Gedanke, der schon ein zweifaches Ich enthält, das Ich als Subject, und das Ich als Object. Wie es möglich sey, dass ich, der ich denke mir selber
2
Kant 1900ff. Bd. III: 108.
3
Vgl. Henrich 1982.
58 | CARL HEGEMANN ein Gegenstand (der Anschauung) seyn, und so mich von mir selbst unterscheiden könne, ist schlechterdings unmöglich zu erklären, obwohl es ein unbezweifeltes Factum ist [...].4
Hier hat also schon Kant die Frage nach der Subjektkonstitution in ihrer zentralen Schwierigkeit deutlich ausgesprochen. Kant hat gar nicht erst den Versuch gemacht, sie zu klären und insofern wäre man vielleicht auch heute noch gut beraten, gar nicht erst zu versuchen, sich mit der Konstitutionstheorie auseinanderzusetzen und das Subjekt stattdessen wie ein gewöhnliches Forschungsobjekt (also ohne dieses Problem des Selbstbezugs) zu behandeln, dem dann hybride oder leibgebundene, theatrale oder tanzende, zerrissene oder einheitliche, authentische oder manipulierte, historische oder omnihistorische Eigenschaften zugesprochen werden, so wie man das auch mit andern Forschungsgegenständen macht, denen man keine Subjektivität unterstellen muss (etwa der Untersuchung des Wetters sowie von Erdbeben und anderen Naturphänomenen). Wir erfahren uns ja irgendwie immer, sogar und gerade in Phasen starker Fremdbestimmung als unserem Selbst bewusste Subjekte, und die Rätselhaftigkeit dieses scheinbar trivialen Selbstbezugs wird uns nur selten bewusst. Deshalb wird das Problem der Subjektkonstitution eher als irrelevant empfunden oder als immer schon gelöst bzw. für immer unlösbar vorausgesetzt. Das heißt aber, dass wir die Kulturen des Subjekts – unsere eigene menschlich-spezifische Seinsweise – untersuchen, wie wir auch Hefekulturen untersuchen könnten. Und da fragt sich dann doch, ob hier das Thema nicht schon durch die reduzierte Fragestellung seines Kerns verlustig geht. Auf jeden Fall fällt das zentrale Rätsel, das bei Kant so deutlich dargestellt ist, unter den Tisch. Aber wenn schon Kant es nicht erklären konnte und es gar für unerklärbar hielt, warum sollen wir es dann versuchen? Der Versuch tut Not, weil die Frage der Selbstbezüglichkeit des Selbstbewusstseins strukturell jeder Erfahrung und jeder Theorie der Erfahrung vorgelagert ist. Man wird die Frage nicht los, außer durch Reflexionsabbruch. Aber auch dann stellt sie sich praktisch immer noch, zumindest in Ausnahmesituationen: Bin das Ich? Oder wer? Wie ist das Bewusstsein meiner selbst im Unterschied zu meinem Bewusstsein von der Welt, die mich umgibt, denkbar, vorstellbar, erklärbar? Diese Frage ist die Frage nach dem Übergang von den Gegenständen der Erfahrung zu der reflexiven Erfahrung dessen, der diese Gegenstandserfahrung macht, eben des Subjekts als einer sich seiner selbst bewussten Instanz oder als Erfahrung, die sich selbst als ebendiese Erfahrung weiß. In der oben zitierten Passage bezeichnet Kant die Möglichkeit, dass ich mich selbst zum Gegenstand meiner Erfahrung mache, als ein unbezweifeltes Faktum, und er behauptet gleichzeitig, dass es vollkommen unmöglich sei, dieses zu erklä4
Kant 1900ff. Bd. XX: 270. Diesen Fund verdanke ich der Arbeit der Bochumer Pädagogin Käte Meyer-Drawe (vgl. Meyer-Drawe 1996).
S ELBS T UND S ELBST -W IDERSPRUCH | 59
ren. Wenn ich mein Subjektsein (mein Denken, Wissen oder Fühlen) selbst zum Objekt meiner Betrachtung mache, verliert es seinen Subjektstatus, weil ich mich im selben Moment von mir unterscheide: Ich bin einmal das Subjekt, das betrachtet, und einmal das Subjekt, das betrachtet wird. Beide können nach unserer Logik und Verfasstheit nicht dasselbe sein. Wenn ich diesen Widerspruch, der durch das Wechseln der Perspektive zustande kommt, reflektiere, ist da wieder ein reflektierendes Subjekt, dass diese Prozedur vornimmt und das gleichfalls reflektiert wird von einem Selbstbewusstsein, das sich wieder objektivieren kann und so weiter. So entsteht ein unendlicher Progress oder Regress, bei dem das Ich nie zu sich selber kommt, weil es sich in allen seinen Ausprägungen immer nur als betrachtetes Objekt hat und nie als betrachtendes Selbst. Dieser konstitutive Selbstbezug ist laut Kant ein unbezweifeltes und unerklärliches Faktum. „[Es] zeigt aber“, so schreibt Kant weiter, ein über alle Sinnenanschauung so weit erhabenes Vermögen an, dass es, als der Grund der Möglichkeit eines Verstandes, die gänzliche Absonderung von allem Vieh, dem wir das Vermögen, zu sich selbst Ich zu sagen, nicht Ursache haben beizulegen, zur Folge hat, und in eine Unendlichkeit von selbst gemachten Vorstellungen und Begriffen hinaussieht.5
Dieser Satz ist schwieriger zu verstehen als der erste, und man muss ihn mindestens zweimal lesen. Wenn wir dem darin geäußerten Gedanken folgen wollen, heißt das: Das Selbstbewusstsein, die Fähigkeit uns als denkende Wesen selbst zu unterscheiden von den andern Lebewesen und Dingen, macht uns zu Menschen. Erst wenn wir die Augen auf uns selbst richten, wenn wir das Denken als unser Denken identifizieren und zu uns selbst Ich (oder etwas ähnlich selbstbezügliches sagen können), unterscheiden wir uns von den Tieren. Erst dann sind wir, erstens, klar unterschieden von dem Rest der Welt und können uns, zweitens, potentiell unendlich viele Begriffe, Vorstellungen und Phantasien, Pläne und Bestimmungen machen, d.h. vor unserm geistigen Auge eine Welt entstehen lassen, die nichts zu tun hat mit der objektiven Welt, sondern nur unserer Einbildungskraft zu verdanken ist. Es fragt sich, ob das unerklärliche Phänomen des Selbstbezugs, das dies alles ermöglicht und uns zu Menschen macht, ein Wunder ist oder eine Krankheit. Als Krankheit wäre es z.B. dann zu betrachten, wenn wir uns in der Verdopplung nicht als ein Subjekt sondern als zwei wiederfinden würden, und die darüber stehende konstitutive Einheit der Person wieder völlig aus dem Blick geriete. Kant wehrt diese Gefährdung der Einheit des Subjekts in den direkt folgenden Sätzen als Missverständnis mit folgender Behauptung ab:
5
Kant 1900ff. Bd. XX: 270.
60 | CARL HEGEMANN Es wird dadurch aber nicht eine doppelte Persönlichkeit gemeint, sondern nur Ich, der ich denke und anschaue, ist die Person, das Ich aber des Objectes, was von mir angeschauet wird, ist gleich anderen Gegenständen außer mir, die Sache. 6
Die Person verwandelt sich in eine Sache, wenn ich sie betrachte, und offenbar auch, wenn sie sich selbst betrachtet. Sie verliert dadurch ihr Spezifisches – das, was sie als Person von der Sache unterscheidet – und erhält einen unangemessenen Objektstatus. Kant scheint also in der Frage der Subjektkonstitution tatsächlich nicht sehr weit zu kommen. Ich, der ich denke und anschaue, kann mich selbst nicht anders anschauen denn als Gegenstand, als eine Sache außer mir, wie andere Dinge in Raum und Zeit. Deshalb verfehlt sich das Subjekt, das sich selbst anschauen will, als Subjekt und wird zum Gegenstand unter Gegenständen. Das ist aber, wie Kant zeigt, keine Theorie der notwendigen Schizophrenie des Subjekts, sondern nur ein Hinweis auf die je unterschiedliche Perspektive: Unter einem theoretischen Gesichtspunkt betrachtet, ist auch das Ich ein Objekt oder ein Gegenstand, den ich untersuchen kann wie jeden andern Gegenstand, während es unter dem praktischen Gesichtspunkt selbst kein Gegenstand ist, sondern etwas, das Gegenstände bestimmt und sich selber als Quelle dieses Bestimmens weiß. Wie das ‚Ding an sich‘ ist die Einheit des Ich oder des Selbstbewusstseins – um es noch einmal zu betonen – ein Faktum, das verschwindet, wenn man es untersuchen will. Es ist nur da, wenn man es nicht hat.
W IE KANN EINE B ÜRSTE SICH SELBER BÜRSTEN ? F ICHTES D EUTUNG DES „ UNERKLÄRLICHEN F AKTUMS “ Das eben beschriebene „Faktum“ Kants, das er vermieden hat, weiter zu reflektieren, hat die Philosophie nicht losgelassen. Fichte, Reinhold und Jacoby – alle unmittelbare Kantnachfolger – haben den Selbstbezug des Selbst zu ihrem Thema gemacht. Für Fichte, mit dem ich mich während meines Studiums ausführlich beschäftigt habe,7 wurde das Ich-Thema, die Frage nach dem Selbst-Bewusstsein, zum Lebensinhalt. Tatsächlich hat er sein ganzes Leben lang fast nichts anderes getan als in rund einem Dutzend verschiedener Ansätze eine Lösung für dieses Problem des Selbstbezugs zu suchen. Am brisantesten scheint mir dabei die Antwort zu sein, die Fichte in §5 der Grundlage der gesammten Wissenschaftslehre von 1794/95 entwickelt, genau vier Jahre, nachdem Kant das Subjektdilemma so kryptisch klar beschrieben hat. Ihr zufolge ist das selbstbewusste Ich, die Tätigkeit, die sich selbst
6
Kant 1900ff. Bd. XX: 270.
7
Vgl. Hegemann 1982.
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weiß, nur mittels einer dem Ich vollkommen fremden Instanz (einem Nicht-Ich) möglich, die das Ich auf sich selbst zurückwirft.8 Dieser Antwortversuch könnte vielleicht einen Anknüpfungspunkt liefern für auch heute noch interessante und tragfähige Subjekttheorien. Es handelt sich bei Fichtes Lösung der Theorie der Wechselbestimmung von Ich und Nicht-Ich allerdings um eine Lösung, die bis auf den heutigen Tag viele, die sich damit beschäftigt haben, für unbefriedigend halten, weil sie den von Kant beschriebenen Widerspruch nicht auflöst, sondern zementiert. Was Fichte liefert, ist insofern auch keine Lösung, aber es ist etwas wie eine produktive unlösbare Aufgabe, die er den Menschen stellt, und die erhebliche praktische Relevanz hat. Zunächst: Fichte begreift sich wie Kant als Transzendentalphilosoph. Er beschäftigt sich mit den nicht-empirischen Bedingungen der Erfahrung und des Ich. Er geht deshalb spekulativ vor und fragt nicht nach den empirisch feststellbaren Eigenschaften von Dingen oder der richtigen Moral, sondern wie diese Dinge oder die Moral überhaupt möglich sind, und auch, wie das Fragen danach möglich ist. Fichte stellt jedoch nicht einfach irgendwelche transzendenten Behauptungen auf, die sich in unserer Lebenswelt nicht überprüfen lassen. Er denkt also weder empirisch noch theologisch-metaphysisch. Diese Zwischenstellung zwischen der Immanenz der empirischen Welt und der Transzendenz einer überempirischen Welt kann man als transzendentale Position bezeichnen, oder – wenn das zu altmodisch und missverständlich klingt – als Konzentration auf die Untersuchung der strukturellen Bedingungen von Erfahrung und Bewusstsein, d.h. der Formen, die wir als Menschen realisieren müssen, um überhaupt erfahrungs- und bewusstseinsfähig zu sein. Das ist die berühmte Verlagerung der Betrachtung der Welt als Erfahrungszusammenhang auf die Voraussetzungen, unter denen Selbstbeobachtung und Welterfahrung allererst möglich werden. Was Fichte im Anschluss an Kant als Theorie des Selbst und des Selbstbezugs entwickelt, könnte man als dramatische Subjekttheorie bezeichnen. Den Widerspruch von Subjekt als Person und Subjekt als Sache betrachtet er unter einem neuen Gesichtspunkt: Er sieht in diesem Widerspruch kein theoretisches Problem mehr, das durch Denken aufgelöst werden soll, sondern einen konstitutionslogisch notwendigen Widerspruch, der – da konstitutiv – weder theoretisch noch praktisch aufgelöst werden kann. Das bei Kant unlösbare Problem der Theorie der Subjektkonstitution verwandelt er in ein notwendig unlösbares Problem des Subjekts bzw. der empirischen Menschen selbst: Das empirische Subjekt lebt im Selbstwiderspruch, d.h. es ist nur bei sich, wenn es nicht selbstbestimmt ist. Und es ist nur dann nicht selbstbestimmt, wenn es sich selbst bestimmen will (wenn es seine Bestimmung darin sieht, sich selbst zu bestimmen). Dieses Paradox will Fichte lösen. Seine Frage ist, wie es möglich und denkbar ist, dass das sich seiner selbst bewusste 8
Siehe Fichte 1794: §5 (225-279), hier z.B. 228f.
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Ich beschränkt und unbeschränkt, autonom und determiniert zugleich ist. Wie vor ihm Kant fragt Fichte: Auf welche Weise ist der Selbstbezug eines Ich möglich, wie kann es ein Bewusstsein von sich haben, ohne sich zu verfehlen, ohne sich sofort in zwei unterschiedene Gegenstände oder in eine doppelte Persönlichkeit zu verwandeln? Um die Fichtesche Denkanstrengung nicht zu spekulativ und abstrakt zu machen, möchte ich jetzt versuchen, Fichtes Einsicht auf – wie Fichte es nennen würde – apagogische Weise verständlich zu machen, anhand eines Beispiels, das uns das Problem vergegenwärtigen und illustrieren soll und uns vielleicht die mögliche Klärung demonstrieren kann. Es handelt sich um das schon bei Niklas Luhmann gegebene Beispiel des „Bürstens des Bürstens“ als einem reflexiven Prozess.9 Wollen wir dem Strukturproblem des Selbstbewusstseins auf die Spur kommen, bewegen wir uns auf zwei Stufen. Die erste ist noch relativ einfach zu besteigen: Man bezeichnet sie als Selbstreferenz oder Autoreferentialität (wie sie uns etwa durch Luhmanns autopoetische Systeme bekannt geworden ist), also etwa, wenn ein Theater nur mit Theater beschäftigt ist, oder wenn Luhmann sich der „Beobachtung zweiter Ordnung“ widmet, nämlich dem Beobachten des Beobachtens. Die Beschäftigung mit dieser Art von Reflexivität oder Selbstreferentialität lässt sich, auch spöttisch, mit dem Bürsten von Bürsten veranschaulichen. Das ist ein leicht verständliches Bild: Eine Bürste bürstet die andere, beide bürsten gleichzeitig und werden gebürstet: ein schönes Bild für Selbstbezüglichkeit und Reflexivität, leider aber für unsere Zwecke nicht geeignet. Denn es handelt sich hier um zwei Bürsten, und zwei Bürsten, auch wenn sie sich gegenseitig bürsten und selbst wenn wir ihnen aus heuristischen Gründen so etwas wie Persönlichkeit unterstellen wollten, können das Subjekt oder die Person nicht adäquat erklären, denn die weiß sich ja nicht in der anderen Person, in ihrem Gegenüber, sondern in Bezug auf sich selbst als sich selbst. Die anderen Ichs werden bei Fichte erst später konstitutiv, wenn es um die intersubjektiven Bedingungen von Objektivität geht.10 Bürsten bürsten wäre höchstens ein Bild für die doppelte Persönlichkeit, die aber, wie Kant zwingend klärt, beim Subjektbezug nicht gemeint sein kann. Die Bürste bürstet ja eine andere Bürste und wird von einer anderen Bürste gebürstet und es fehlt ihr insofern jeder Selbstbezug. Diese Prozedur könnte also nur allenfalls eine doppelte Persönlichkeit generieren. Das Subjekt muss sich aber als es selbst seiner bewusst sein können. Übertragen auf das Bürstenbild hieße das: Die Bürste muss keine andere Bürste bürsten, sondern sich selbst. Das ist die Forderung des Selbstbewusstseins im Sinne Kants und Fichtes. Wie eine Bürste sich selbst bürsten soll, scheint fast genauso unerklärlich zu sein, wie das Bewusstsein meiner selbst. Das wäre also das Ende der Fahnenstange. Weil wir nicht wissen, wie wir uns eine Bürste vorstellen sollen, die 9
Vgl. Luhmann 1984 und Luhmann 1995.
10 Vgl. Fichtes Ausführungen zum Naturrecht und zur Sittenlehre (Fichte 1962).
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sich selber bürstet, wären wir darauf zurückgeworfen, dass das unbezweifelte Faktum des Selbstbezugs sich eben nicht erklären lässt. Oder? Also noch einmal: So wie man mit einer Bürste eine Bürste bürsten kann, denkt das Denken das Denken, das ist Reflexivität; beide Seiten machen dasselbe, bürsten sich gegenseitig. Aber leider funktioniert dieses Bild der Reflexion nicht für das Selbst, denn das Selbst als Person, die sich weiß, besteht eben nicht aus zwei Bürsten, die abwechselnd und gleichzeitig bürsten und gebürstet werden. Das Subjekt ist nur eine Bürste, und wenn man sich schon auf dieses kategorial fragwürdige Bürstenbild einlässt, müsste man sagen: Das selbstreflexive Subjekt ist so etwas wie eine Bürste, die sich selber bürstet. Zwei Bürsten, die aufeinander bezogen werden – Bürsten, die sich gegenseitig bürsten – würden eine doppelte Persönlichkeit generieren und damit gar keine, wie schon Kant weiß. Die Bürste muss sich selber bürsten, das Wissen sich als solches selber wissen, sonst ist kein Selbstbewusstsein möglich. Diese wirkliche Selbstbezüglichkeit, die schon an der Logik zu scheitern scheint, ist nur möglich durch Flexion. Das ist der Grundgedanke für die Erklärung der sich selbst bürstenden Bürste und des sich selbst denkenden Denkens. Flexion heißt Biegung. Die Bürste muss gebogen werden können, wenn sie sich selbst bürsten soll, genauer gesagt, sie muss zurückgebogen werden auf sich selbst: ReFlexion. Dies ist nur möglich, wenn die Bürste entsprechend flexibel oder elastisch ist und wenn von außen Druck auf sie einwirkt, eine fremde Kraft, die nichts mit der Tätigkeit des auf sich reflektierenden Subjekts zu tun haben darf. Eine Bürste, die solche Anforderungen erfüllt, gibt es tatsächlich: die sogenannte Riemenbürste (Abb.1). Diese Bürste wird von einer ihrer fremden Kraft (z.B. dem Druck meiner Hände) so zurückgebogen, dass sich die Borsten aneinander reiben, die Bürste bürstet sich so unter dem Druck von außen tatsächlich selbst, wenn auch nicht total. Den blinden Fleck, um den jedes Selbst- und Gegenstandsbewusstsein kreist, hat auch die Bürste, aber der ist relativ klein.
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Abbildung 1: Riemenbürste.
Das Bild von der Riemenbürste leistet formal betrachtet tatsächlich alles, was das Selbstbewusstsein nach Kant und Fichte leisten muss. Da die Bestimmung der Bürste aber das Bürsten ist und nicht das Denken oder Wissen, kann sie sich nicht selber wissen, sondern nur selber bürsten. Beim Selbstbewusstsein ist es umgekehrt. Die Leistungen eines Bewusstseins, eines Tuns das sich als dieses Tun weiß, sind demzufolge das Vermögen der Reflexion (vulgo: Umbiegen) und die Möglichkeit des Einwirkens einer fremden Kraft, die das Umbiegen auslöst oder erzwingt. Wenn das Umbiegen eine Leistung der Bürste oder des Bewusstseins selbst wäre, und nicht von außen käme, wäre es oder sie schon wieder zweigespalten, sie würde sich nicht auf sich selbst beziehen sondern eine biegende Tätigkeit würde sich auf ein widerständiges aber biegbares Objekt beziehen und wir hätten wieder die Subjekt-Objekt-Differenz im Subjekt, die vermieden werden sollte. Eine Bürste (wenn sie eine Riemenbürste ist) kann sich also unter bestimmten Bedingungen selber bürsten, buchstäblich reflexiv werden, und das kann auch das Bewusstsein, wenn es sich in seiner Tätigkeit als sich selbst begreift, wenn es sich als Wissen weiß. Das entscheidende, was uns diese Einsicht der Reflexionstheorie lehrt, ist, dass diese Umbiegung nur möglich ist, wenn etwas, auf das wir keinen Einfluss haben, das selbst nicht Bewusstsein (nicht Bürste) ist, sondern dem Bewusstsein transzendent ist, der Tätigkeit des Selbst widersteht, ihr entgegengesetzt ist – und wenn gleichzeitig das Selbst einen Spannungsbogen darstellt, der diese Gegentätigkeit spürt, indem er Gegendruck ausübt. Die innere Kraft des sich wis-
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senden Selbst erfährt sich nur als sich selbst, wenn sie der äußeren fremden Kraft, die auf sie einwirkt, Widerstand leistet. Und genau diese Erklärung des Selbstbewusstseins lässt sich, philosophisch präziser – vielleicht aber auch fragwürdiger – deduziert, als ich das mit der Riemenbürste kann, im oben angesprochenen §5 von Fichtes Grundlage der gesammten Wissenschaftslehre wiederfinden: Nun aber soll die ins Unendliche hinausgehende Thätigkeit des Ich in irgendeinem Punkte angestossen, und in sich selbst zurückgetrieben werden; und das Ich soll demnach die Unendlichkeit nicht ausfüllen. Dass dies geschehe, als Faktum, lässt sich aus dem Ich schlechterdings nicht ableiten [...], aber es lässt sich allerdings darthun, dass es geschehen müsse, wenn ein wirkliches Bewusstseyn möglich seyn soll. 11 [...] Nach der so eben vorgenommenen Erörterung ist das Princip des Lebens und Bewusstseyns, der Grund seiner Möglichkeit, - allerdings im Ich enthalten, aber dadurch entsteht noch kein wirkliches Leben, kein empirisches Leben in der Zeit; und ein anderes ist für uns schlechterdings undenkbar. Soll ein solches wirkliches Leben möglich seyn, so bedarf es dazu noch eines besonderen Anstoßes auf das Ich durch ein Nicht-Ich. Der letzte Grund aller Wirklichkeit für das Ich ist demnach nach der Wissenschaftslehre eine ursprüngliche Wechselwirkung zwischen dem Ich und irgendeinem Etwas ausser demselben, von dem sich weiter nichts sagen lässt, als dass es dem Ich völlig entgegengesetzt seyn muss.12
Für mich und meine dramaturgische Arbeit ist wichtig, dass Fichte mit seiner Argumentation einen dramaturgisch relevanten dramatischen Konflikt als Kern der Subjektkonstitution hypostasiert, der die Konflikte aller Dramatik unmittelbar mit der Reflexionstheorie der Subjektkonstitution verbindet. Die Dualismen, Spannungen und Gegensätze, die sich durch alle unsere Darstellungen in der Kunst auf der Bühne und auch auf der sogenannten Bühne des Alltags ziehen, die dramatischen Gegensätze, Widersprüche und Paradoxien unserer Existenz, sind also – wenn man Fichtes Argumentation an diesem Punkt folgt – unvermeidliche conditio humana, Bestandsbedingungen jeden Selbstbewusstseins und Bewusstseins. Die reine Selbstreferenz (also Theater das sich nur auf Theater bezieht; Signifikanten, die sich nur auf Signifikanten beziehen; Wissen, das sich nur auf Wissen bezieht) ist konstitutionslogisch unmöglich, so unmöglich wie Erlösung bei vollem Bewusstsein oder unendlich erfahrenes Glück (d.h. mit anderen Worten vollkommene Spannungslosigkeit) als dauerhafter Zustand es sind. Das Bewusstsein erfährt sich selbst im Unterschied zur Welt nur, wenn diese Welt bestimmenden Einfluss auf es hat, und wenn es sich diesem Einfluss nicht schlapp unterwirft, sondern sich dagegen sträubt oder auflehnt. In dem Moment, wo 11 Fichte 1794: 265. 12 Fichte 1794: 271.
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solches passiert, regt sich Selbstbewusstsein als Druckschmerz oder als eine Reibung am Fremden, das dem Eigenen widersteht. Dieses Gefühl des Widerstands ist konstitutiv für das Subjekt und darf nicht abgeschafft werden – obwohl wir die ganze Zeit an der Beseitigung dieses Widerstands arbeiten, und zwar notwendig; im Theater genauso wie in der Welt.
L IE TO ME , I PROMISE , I’ LL BELIEVE – E INIGE K ONSEQUENZEN VON H ÖLDERLIN
BIS
H EUTE
Im letzten Teil möchte ich einige Konsequenzen aus Fichtes paradoxer ‚Lösung‘ des Konstitutionsproblems skizzieren. In Hölderlins früher, metrischer Fassung des Hyperion, die unter Fichtes Einfluss 1795 in Jena entstanden ist,13 zieht jener die Konsequenz aus dem beschriebenen Modell der Subjektkonstitution, wenn er das Paradox, Befreiung und Fesselung gleichermaßen sein zu wollen, beschreibt. Ich zitiere noch einmal die Stelle, die den vorliegenden Notizen vorangestellt ist: Der reine leidensfreie Geist befaßt Sich mit dem Stoffe nicht, ist aber auch Sich keines Dings und seiner nicht bewußt, Für ihn ist keine Welt, denn außer ihm Ist nichts. – Doch, was ich sag, ist nur Gedanke. – Nun fühlen wir die Schranken unsers Wesens Und die gehemmte Kraft sträubt ungeduldig Sich gegen ihre Fesseln, und es sehnt der Geist Zum ungetrübten Äther sich zurück. Doch ist in uns auch wieder etwas, das Die Fesseln gern behält, denn würd in uns Das Göttliche von keinem Widerstande Beschränkt – wir fühlten uns und andere nicht. Sich aber nicht zu fühlen, ist der Tod, Von nichts zu wissen und vernichtet seyn Ist eins für uns.14
Weil sich zwei Triebe wechselseitig konstituieren – der Trieb, frei zu sein und der Trieb, beschränkt zu werden – bedingen auch Schönheit und Dürftigkeit einander.
13 Es bleibt offen, ob der Student Hölderlin nicht auch den Lehrer Fichte beeinflusst hat (vgl. Waibel 2000). 14 Siehe Hölderlin 2004: 100.
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Das Subjekt bedarf beider und strebt nach beidem: Freiheit und Determination, Überfluss und Armut. Die notwendige Spannung zwischen diesen Gegensätzen konstituiert bei Hölderlin das Subjekt und darüber hinaus jede Form von Dramaturgie. Auch Friedrich Schiller geht in seiner ästhetischen Theorie zunächst wie Fichte und Hölderlin von der Wechselbestimmung zweier entgegengesetzter Triebe aus.15 Er nennt sie Formtrieb und Stofftrieb. Der Formtrieb bezeichnet die konstitutionslogische Notwendigkeit menschlicher Wesen, zu bestimmen; der Stofftrieb die Notwendigkeit, bestimmt zu werden. Beides ist nur zusammen möglich und führt zum Paradox, das nur durch Perspektivenwechsel gedacht werden kann. Schiller sucht nun einen Weg aus der Falle dieser konstitutiven Gegensätzlichkeit, die unser Leben bestimmt. Er kommt zu dem Ergebnis: Die Aufhebung dieser selbstwidersprüchlichen Spannungsdramaturgie unseres Daseins ist zwar möglich, aber nur als „Schein“. Die Herstellung dieses Scheins, der uns ein Bild von der Vollkommenheit (d.h. Widerspruchslosigkeit) gibt, ermöglicht ein weiterer Trieb: der Spieltrieb oder der ästhetische Bildungstrieb. Im „dritten fröhlich Reich des Spiels und des Scheins“ können wir qua Spiel und als Spiel die paradoxe Spannung beseitigen. Im Spiel werden wir „ganz Mensch“, aber eben nur scheinbar, denn, wenn wir wirklich so autonom und frei von allem Zwang wären, wie es in der Kunst (und im Theater) als Schein spielerisch behauptet wird, wären wir keine Subjekte mehr, sondern bewusstlose Wesen.16 Friedrich Nietzsche, der Schillers Briefe zur ästhetischen Erziehung des Menschen (1795) gelesen hat, kreist um diesen Punkt und stammt aus dieser Tradition. Er kokettiert mit einer solchen Bewusstloswerdung, wenn er in seiner Abhandlung Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik (1872) den Stofftrieb zum dionysischen Rauschtrieb steigert und den Formtrieb zum apollinischen Traum jenseits jeder uns bestimmenden Realität stilisiert. Aber auch Nietzsche konstatiert, dass die Überwindung der Wechselbestimmung von Dionysischem und Apollinischem auf verschiedene Weisen zur Selbst-Zerstörung führen muss.17 Die vollkommene faktische Einheit des Subjekts, den Frieden allen Friedens, den „schönen Augenblick“ (Goethe), wo jeder Widerspruch aufgehoben wäre, erreichen wir nur im Tod, d.h. nicht für uns. In den letzten Jahren haben u.a. Boris Groys und besonders Christoph Menke mit vergleichbaren Paradoxien gearbeitet. Sie legen das antithetische Wechselverhältnis von Autonomie/Aktivität und Determination/Passivität teils implizit, teils
15 Vgl. hierzu und zum Folgenden Schiller 2000. 16 Vgl. Hegemann 2009. 17 Vgl. Nietzsche 2000.
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explizit ihren philosophischen oder „anti-philosophischen“ Analysen zugrunde. 18 Das praktische/ethische Handeln ist nur dann ein gutes Vermögen, wenn es ihm gegenüber die Freiheit gibt, sich auch auf die pure, nicht zweckgerichtete lebendige spielerische Impulsivität einzulassen. Formtrieb ohne Stofftrieb ist tot, Stofftrieb ohne Formtrieb ist bewusstlos, also auch tot. Bewusstes Leben besteht nur in der schwebenden Spannung zwischen beiden. Die Möglichkeit, in freier Entscheidung beide Perspektiven einzunehmen (Menke) bzw. die „Tragik“ des Selbstwiderspruchs anzunehmen (Groys), unterscheidet Bewusstseinswesen von der Natur, der sie gleichwohl angehören. Die neuen, über Schiller und möglicherweise überhaupt über die bisherige Philosophie hinausgehenden Versuche, den konstitutiven Selbstwiderspruch und seine Aufhebung im ästhetischen Schein in ein direktes Verhältnis zu setzen, d.h. ästhetischen Schein als solchen in außerästhetischen Bereichen praktisch werden zu lassen, lassen sich vielleicht an dem von Zarah Leander gesungenen Lied „Nur nicht aus Liebe weinen“ verdeutlichen, das eine für Schiller noch unvorstellbare Ästhetisierung einer privaten Lebenswelt zu praktizieren vorgibt: „Und darum sollst du heut mir gehören. Du sollst mir Liebe und Treue schwören. Obwohl ich weiß, es muss ja Lüge sein. Ich lüge auch. Und bin dein.“ Oder wie Sheryl Crow singt: „Lie to me, I promise, I’ll believe.“ 19 Der Theaterschein als Lebensform und praktische Strategie? Kann das gut gehen? Hätte Schiller in dieser Zarah Leander eine Heilige gesehen – oder eine Hure? Statt einer Antwort versuche ich am Schluss, einige Konsequenzen aus dem hier vorgestellten dramatischen Modell der Subjektkonstitution thesenhaft und unvollständig zu umreißen: 1. Das Akzeptieren von Selbstwidersprüchlichkeit macht Objektivität unmöglich, wohingegen der Verzicht auf Selbstwidersprüchlichkeit Subjektivität unmöglich macht. 2. Das Selbst oder das Subjekt konstituiert sich im Selbstwiderspruch, weil für das Subjekt der Satz vom Widerspruch nur gilt, wenn er gleichzeitig nicht gilt. Diese dramatische, ja skandalöse Konsequenz aus der Konstitutionstheorie macht uns bis heute zu schaffen, bewusst oder unbewusst. 3. Diese Paradoxie ist aber, wie oben angedeutet, gleichzeitig das Paradigma und der permanente Stachel jeder Dramaturgie: der des Theaters wie der des Lebens. 4. Wer den performativen Selbstwiderspruch tabuisiert, nivelliert Erfahrung genauso wie der, der ihn einfach positiv akzeptiert.
18 Vgl. Menke 1988 und 2008 sowie Groys 2006 und 2009. 19 Vgl. das Lied „Strong Enough“ vom Album Tuesday Night Music Club (1993).
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5. Wer sich dem Selbstwiderspruch verweigert, sei es, indem er ihn einfach verbietet, sei es, indem er ihn einfach hinnimmt, entzieht jeder Subjektivität die Basis, weil sich Subjektivität nur in der Bewegung des Selbstwiderspruchs konstituiert. 6. Das Theater als Heterotopie, als Ort, wo Spiel und Schein wirklich produziert werden, lebt vom Selbstwiderspruch und es existiert nur, weil es ihn zu beseitigen trachtet. 7. Die Reflexion auf den Selbstwiderspruch des Subjekts, wie sie hier stattfindet, mag theoretisch fragwürdig und vielleicht unhaltbar sein; in der täglichen Praxis aber liefert sie ununterbrochen Zündstoff. Diese Reflexion liefert Rahmen und Kriterien bei der Produktion, Deskription und Ideen- und Fehlersuche in allen Bereichen der Kunst und des Lebens – ohne dogmatisch inhaltliche Festlegungen vorzunehmen. Sie generiert und grundiert situationsbezogene Denkmodelle und Perspektiven, die höchst beweglich den dramatischen Kern des Materials oder den Fehler im System ans Licht bringen und jede Art von Festgefahrenheit vermeiden. Für mich jedenfalls stellt sich das so dar. Meine eigene Theaterpraxis lebt hauptsächlich von derartigen Reflexionen und den daraus jeweils zu ziehenden Konsequenzen.20
L ITERATUR Fichte, Johann Gottlieb: Grundlage der gesammten Wissenschaftslehre. Leipzig: Christian Ernst Gabler 1794. Fichte, Johann Gottlieb: Grundlage des Naturrechts [orig. 1796]. Das System der Sittenlehre [orig. 1798]. Hg. von Fritz Medicus. Nachdruck der Ausg. Leipzig 1912. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1962. Groys, Boris: Das kommunistische Postskriptum. Frankfurt am Main: Suhrkamp 2006. Groys, Boris: Einführung in die Anti-Philosophie. München: Hanser 2009. Hegemann, Carl: Identität und Selbst-Zerstörung. Grundlagen einer historischen Kritik moderner Lebensbedingungen bei Fichte und Marx. Frankfurt u.a.: Campus 1982. Hegemann, Carl: Plädoyer für die unglückliche Liebe. Texte über Paradoxien des Theaters 1980-2005. Hg. von Sandra Umathum. Berlin: Theater der Zeit 2005. Hegemann, Carl: „Die Kunst der Unwahrscheinlichkeit oder das Nichtkönnen können“, in: Theater heute, 6 (2009), 6-9.
20 Vgl. Hegemann 2005.
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Henrich, Dieter: Selbstverhältnisse. Gedanken und Auslegungen zu den Grundlagen der klassischen deutschen Philosophie. Stuttgart: Reclam 1982. Hölderlin, Friedrich: „Hyperion“, Metrische Fassung [orig. 1795], in ders.: Sämtliche Werke, Briefe und Dokumente 1794-1795. Hg. von D. E. Sattler. München: Luchterhand/Wissenschaftliche Buchgesellschaft 2004. 96-103. Kant, Immanuel: Gesammelte Schriften (Akademie-Ausgabe). Hg. von der Preußischen Akademie der Wissenschaften u.a. Berlin/New York 1900ff. Luhmann, Niklas: Soziale Systeme: Grundriss einer allgemeinen Theorie. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1984. Luhmann, Niklas: Die Kunst der Gesellschaft. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1995. Menke, Christoph: Die Souveränität der Kunst: Ästhetische Erfahrung nach Adorno und Derrida. Frankfurt am Main: Athenäum 1988. Menke, Christoph: Kraft: ein Grundbegriff ästhetischer Anthropologie. Frankfurt am Main: Suhrkamp 2008. Meyer-Drawe, Käte: Menschen im Spiegel ihrer Maschinen. München: Fink 1996. Schiller, Friedrich: Über die ästhetische Erziehung des Menschen in einer Reihe von Briefen [orig. 1795]. Hg. von Klaus L. Berghahn. Stuttgart: Reclam 2000. Nietzsche, Friedrich: Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik [orig. 1872]. Frankfurt am Main: Insel 2000. Waibel, Violetta L.: Hölderlin und Fichte, 1794-1800. Paderborn: Schöningh 2000.
Diskursive Hervorbringung des Subjekts
„Glücks-Töpffer, Comoedianten und dergleichen Zeug“ Pietistische Theaterfeindlichkeit vor 1700 C ORINNA K IRSCHSTEIN
Der Vorfall, der den Ausgangspunkt meiner Überlegungen bildet, ereignete sich 1700 in Halle und war selbst für die strenge Kirchenzucht im ausgehenden 17. Jahrhundert recht außergewöhnlich. Auf seine Mitteilung, er beabsichtige mit seiner Familie demnächst am Abendmahl teilzunehmen, erhielt ein Protestant von seinem Seelsorger einen Brief folgenden Inhalts zur Antwort: Am Karfreitag des Vorjahres sei dem Pfarrer, aus der Kirche kommend, dessen Ehefrau begegnet, bei deren Anblick ihn „ein rechter Schrecken für den Gerichte Gottes überfallen“ habe. Die „eitle Pracht“ ihrer Kleider hätte in seinen Augen so gar nicht zur Verkündigung des Todes Christi gepasst, sondern vielmehr ihren „unbekehrte[n] Zustand“ offenbart, „darinnen so gar keine Besserung erfolget, ja wohl gar der Wahn vermehret wird, daß es recht wohl um die Seele stehe“. Er fühle daher „in [s]einem Gewissen eine Verurtheilung [...], daß Gott [ihn] unfehlbar strafen werde, wenn [er] sie noch einmal absolvieren und ihr das heil. Abendmahl reichen würde“. Inzwischen könne er sich „in das zärtliche Umgehen, das bei ihr will erfordert werden, gar nicht finden [...], sondern [müsse] dabei zum Heuchler werden und [s]ein Amt verlästern lassen“. Und damit nicht genug, auch das „hoffärtige und libertinische“ Wesen der Söhne bedürfe einer ernstlichen Ermahnung.1 Obwohl der Ausschluss vom Abendmahl nicht nur die ultima ratio der lutherischen Kirchenzucht darstellte, sondern auch mit einem deutlichen Verlust an Sozialprestige verbunden war, wäre ein solcher Affront möglicherweise noch hingegangen, hätte es sich bei den Protagonisten nicht um die zwei vermutlich promi-
1
Kramer 1882: Teil 2, 149.
74 | CORINNA K IRSCHSTEIN
nentesten Hallenser jener Zeit gehandelt: Der eifernde Pfarrer war August Herrmann Francke, ein Pietist der ersten Stunde, der eben den Grundstein seines berühmten Waisenhauses gelegt hatte und der Gescholtene niemand anderes als Christian Thomasius, seines Zeichens Professor Iuris an der neu gegründeten halleschen Alma Mater und Enfant terrible der Frühaufklärung. Beide kannten einander bereits von der Leipziger Universität: Francke hatte nach dem eigenen Erweckungserlebnis dort wegen seiner pietistischen Umtriebe ab August 1689 Vorlesungsverbot und verließ die Stadt im folgenden Jahr. Auch Thomasius hatte sich im gleichen Zeitraum durch seine erstmals in deutscher Sprache gehaltenen Vorlesungen und die von ihm begründeten Monatsgespräche bei Hof und an der Universität unmöglich gemacht und verließ Leipzig wie Francke 1690. Beide wurden, nach Umwegen, von Kurfürst Friedrich III., Markgraf von Brandenburg, dem späteren König Friedrich I. von Preußen, an die Universität Halle berufen. Thomasius, der mehrfach wohlwollende Rechtsgutachten für die Pietisten verfasst hatte, war in den 1690er Jahren zeitweilig selbst unter den Einfluss des Pietismus geraten und daher zu Franckes Gemeinde gestoßen. Verständlicherweise hatte dies nun ein Ende: Thomasius verwahrte sich entschieden gegen die Forderung, über die Gewissensfreiheit seiner Gattin zu entscheiden; die getadelte Ehefrau wechselte die Gemeinde, wie auch ihr Mann, der aber angeblich erst nach einer Forderung Franckes, dass wahre Christen mit den Kindern der Welt keinen Umgang pflegen sollten,2 den halleschen Pietisten den Rücken kehrte und fortan deren Absolutheitsanspruch aufs Schärfste bekämpfte.3
2
Siehe u.a. Schmidt 1995: 179-180. Diese Überlieferung hat, bedenkt man etwa Thomasius’ diametral entgegengesetzte Auffassungen über die Lebensklugheit, einiges für sich. Zweifel können allerdings hinsichtlich der zeitlichen Einordnung angemeldet werden, da Francke ähnliche Gedanken bereits früher geäußert hatte. So lautete die zwölfte seiner Schrifftmäßigen Lebens-Regeln von 1695: „Alle deine Gesellschafft sey / entweder aus Noth / oder aus Hoffnung zur Besserung / oder doch vorsichtig erwehlet. Den äuserlichen Umgang mit den Gottlosen kan man nicht meiden / aber gib dich nicht in ihre Gesellschafft ohne Noth. Sie werden dich eher verführen / als du sie gewinnen wirst. Must du aber mit ihnen umgehen / so hüte dich desto mehr“ (Francke 1969: 352).
3
Ohne an dieser Stelle auf einzelne Aspekte der philosophischen Auseinandersetzung Thomasius’ mit dem Pietismus eingehen zu können, hier ein Beispiel aus dem Jahr 1705, das von seinem persönlichen Ärger zeugt: „Es wäre auch auf solche Art nicht undienlich, wenn man in einer jeden Diaecesi ein Zucht=Hauß hätte vor diejenigen Diener des Göttlichen Worts die auf den Cantzeln so schänden und schmähen ihre Beicht=Kinder / auf die sie einen Haß tragen / prostituiren / oder sonst aus einer caprice die Leute aus dem Beichtstuhl weisen“ (Thomasius 1994: 244).
P IETISTISCHE T HEATERFEINDLICHKEIT | 75
Auch wenn die thomasianische Familienlegende überliefert, dass es nicht die ‚Kleiderpracht‘, sondern das Dekolleté der Mittvierzigerin war,4 das Francke solchermaßen in Rage brachte: Man kann mit einiger Sicherheit davon ausgehen, dass die Nachfahrin Lucas Cranachs d.Ä. als Professorengattin und Tochter eines Hofrats und einer Ratsherrentochter dem sozialen Anlass durchaus angemessen gekleidet war (es handelte sich immerhin um den höchsten Feiertag der protestantischen Christenheit) – Francke monierte die Inadäquatheit gegenüber dem Inhalt des Feiertags. Diese Differenzen deuten auf Verwerfungen im Verständnis von Persönlichkeitsidealen sowie von Öffentlichkeit hin, von denen noch zu reden sein wird. Was die Anekdote aus gegenwärtiger Sicht interessant macht, ist die enorme Bedeutung, die nur vermeintlich nebensächlichen Dingen wie dem alltäglichen sozialen Verkehr, Luxus, Vergnügungen und nicht zuletzt künstlerischen Praktiken in einer Zeit gesellschaftlicher Instabilität beigemessen wurde. Angesichts heutiger Erschütterungen durch Kriege, Naturkatastrophen, Terrorwarnungen und Flüchtlingsströme, vor denen sich, so Agamben, „der Ausnahmezustand in der Politik der Gegenwart immer mehr als das herrschende Paradigma des Regierens“ 5 erweise, gewinnt die Frage, mittels welcher Ordnungsinstanzen und Praktiken versucht wird, das gesellschaftliche Zusammenleben besser zu regeln oder zumindest den status quo beizubehalten, neue Virulenz.6 Tatsächlich gab es im ausgehenden 17. Jahrhundert genügend Anlass, an einer künftigen Stabilisierung der gesellschaftlichen Ordnung zu zweifeln: Zwar hatte der Westfälische Friede den Dreißigjährigen Krieg beendet, doch blieb die territoriale Expansionspolitik Ludwigs XIV. an der Ostgrenze Frankreichs eine permanente Bedrohung. Hinzu kamen die zweite Belagerung Wiens durch die Türken 1683, die Aufhebung des Edikts von Nantes 1685 (Halle nahm im Folgejahr als erste Stadt Brandenburg-Preußens hugenottische Flüchtlinge auf), ganz zu schweigen von sozialen Umschichtungen infolge des Wandels wirtschaftlicher Strukturen: Ca. 20
4
Siehe Schmidt 1995: 179.
5
Agamben 2004: 9.
6
Ironisch kommentiert André Mielke die dem Alltäglichen zugemessene Bedeutsamkeit in dem zur ‚Glosse des Jahres 2010‘ gekürten Beitrag „Terror und Widerstand“: „Sehen Sie einstweilen davon ab, Ihre Verhaltensweisen zu ändern. Hören Sie nicht auf Ihre Partner, Freunde und Kollegen. Hören Sie auf den Bundesinnenminister. Der hat alle Deutschen aufgefordert, angesichts der veränderten Sicherheitslage ihre bisherigen Lebensgewohnheiten demonstrativ beizubehalten. Und eins noch, speziell an den Autofahrer, der da gerade versucht, mit dem Zeigefinger durchs Nasenloch sein Großhirn zu erreichen: Sie tun es jetzt nicht mehr aus Selbstvergessenheit. Es ist Ihr Kampf gegen den Terror“ (Mielke 2010).
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Prozent der Bevölkerung fristeten ihr Dasein als Landstreicher und Bettler. 7 Die Erfolge der Türken und der Gegenreformation korrelierten zudem mit endzeitlichen Ängsten und Erwartungen. Eschatologische Interpretationen deuteten die Ereignisse als Zeichen der unmittelbar bevorstehenden Wiederkunft Christi: So das Erstarken des Antichrist (nach 2. Thess 2,4), der seit Luther mit dem Papst gleichgesetzt wurde, die Verwüstung des als viertes und letztes Weltreich (Dan 2,31-45 und 7,16-27) angesehenen Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation durch die Türken und der Vormarsch des Islam (Offb 9,13-21) – über diesen Bibeltext hatte Spener, einer der bedeutendsten Vertreter des Pietismus, promoviert.8 Bedenkt man jene Hintergründe, kann man nur zu dem Schluss kommen, dass es nötig ist, gesellschaftliche und ökonomische Verwerfungen zu berücksichtigen, wenn vom Verhältnis des Pietismus zum Theater die Rede sein soll. Zwar war gerade in Halle die pietistische Theaterfeindlichkeit besonders ausgeprägt (im Jahr 1700 kam es zu einem umfassenden Verbot), doch stellten solche Zensurmaßnahmen nur die Spitze eines Eisbergs dar, dessen nicht sichtbarer größerer und bekanntlich gefährlicherer Teil eine umfassende Infragestellung der traditionellen sozialen Ordnung bildete. So richtete sich die pietistische Kritik sehr wohl gegen das Auftreten professioneller Schauspieltruppen oder bestimmte höfische Verhaltens- und Theaterformen. Sie attackierte dabei aber vornehmlich jene kulturellen Praktiken, die das Subjekt über gesellschaftliche Partizipation konstituierten, wie Speners Beantwortung der Frage „Was von representationibus theatralibus zu halten?“ deutlich macht. Er weist darauf hin, dass berufsmäßig betriebenes Theater erst in zweiter Linie zu bekämpfen sei: „Welche aber auch im übrigen Leben meistens in der Welt stecken / die trauete ich nicht hauptsächlich in diesem stück erst anzugreiffen / sondern ich meinete / ich müste in andern offenbaren stücken suchen sie zur erkäntnus zu bringen / daß ihnen insgesamt aller eitelkeit vergehe.“9 „Von Menschen ab, von Menschen ab! Sehet auff den lebendigen Gott“, lautete der Ruf, den Anna Maria Schuchart, eine pietistische ‚Seherin‘ in ekstatischem Zustand wiederholt hervorbrachte.10 Schuchart war 1692 nach Halle gekommen und sorgte dort für einigen Wirbel, dessen Höhepunkt zweifelsohne ihr ‚Blutschwitzen‘ am 23. Oktober war. Doch auch ihre Prophezeiungen ließen aufhorchen: Die ‚Prophetin‘, ursprünglich eine illiterate Dienstmagd, agierte jenseits ihrer angestammten Sozial7
Siehe Lehmann 1972: 70-71. Beleg für die desolaten Zustände in den meisten deutschen Gebieten sind die in immer kürzeren Abständen erlassenen Edikte zum Armenwesen und gegen die Bettler, siehe Anonym 1739.
8
Siehe Koch 2000: 251.
9
Spener 1987: 605.
10 Siehe Boor 1997: 106.
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rolle und richtete ihre Prophezeiungen gegen obrigkeitliche und insbesondere gegen städtische Einrichtungen. So verkündete sie „das baldige Ende der gottlosen Ständegesellschaft“ 11, und auch über die Universitäten ließ sie nichts Gutes vernehmen: „Die Universitäten werden versincken / Und vom höllischen Phule trincken.“ 12 Selbstverständlich hatte Schuchart Thomasius, der sie besuchte, nicht gemocht. Mit derartigen Aussagen war, vor allem in radikalpietistischen Kreisen, die auch in Halle Anhänger fanden, eine scharfe Kritik an Techniken verbunden, die den gesellschaftlichen Verkehr konstituierten und regulierten. Folgerichtig lautete die Kritik der lutherischen Orthodoxie, die dem pietistischen Treiben skeptisch bis feindselig gegenüberstand, die Pietisten „gönnten den Menschen keine Lust und machten sie melancholisch“13, d.h. sie beförderten den Rückzug aus dem gesellschaftlichen Miteinander und ein Leben in Abgeschiedenheit. Wie bereits angedeutet, lassen sich diese Beobachtungen als Indizien für einen tiefgreifenden Wandel im Verhältnis des Einzelnen zur Gesellschaft interpretieren. So kommt David Warren Sabean in seiner Studie zu Herrschaft und Widerspruch in der frühen Neuzeit zu dem Schluss: Seit dem Beginn des 17. Jahrhunderts erfuhr das ideologische Konstrukt der Person eine bedeutsame Überarbeitung. Die Aufspaltung in subjektives Leben und objektives Verhalten wurde nun überdacht, und allmählich tauchten programmatische Elemente auf, darunter die Vorstellung einer konsistenten Persönlichkeitsstruktur. […] Damit einher ging ein Verständnis vom Individuum, demzufolge es von der Gemeinschaft zu der es gehörte, geschieden sein konnte.14
Diese Neukonzeption kann als zentral für das Verständnis pietistischer Theaterfeindlichkeit angesehen werden, und zwar in Hinblick auf die Produktion von Wesensidentität, verbunden mit einer Kritik am gesellschaftlichen Verkehr. Unter dieser Prämisse lassen sich deren verschiedene Aspekte in künstlerischen und kulturellen Kontexten untersuchen. Sie erklärt nicht nur Franckes Kritik an Frau Thomasiusૅ karfreitäglicher Kleiderpracht: Für Auguste Christine Thomasius repräsentierte ihr Äußeres den feierlichen Anlass sowie ihren sozialen Status, gab aber keine Auskunft über ihre innere Verfasstheit. Für Francke hingegen ist ihre Kleidung unverstellter Ausdruck ihrer Seele, ihres ‚unbußfertigen Zustands‘. Auch im Kontext exegetischer Fragen begegnet das gleiche Deutungsmuster. Einzig die Wesensidentität vermag die Wahrheit des äußeren Affektausdrucks zu beglaubigen: 11 Deppermann 1961: 79. 12 Siehe Boor 1997: 107. 13 Deppermann 1961: 77. 14 Sabean 1990: 241.
78 | CORINNA K IRSCHSTEIN VBi igitur character aliquis deprehenditur, ibi certissime iudicari potest, subesse affectum. Nam supponendum est, in Scriptoribus sacris nullam simulationem aut dissimulationem locum habere, neque vsquam in suspicionem venire debet eiusmodi hypocrisis, aut peregrini affectus ostentatio, qualis in actoribus ludorum theatralium obseruari solet; Sed iste affectus vere adfuisse credendus est, qui ex ipsis textus verbis & circumstantiis prominet ac elucit 15,
schreibt Francke in einer hermeneutischen Vorlesung. Es kann weder verwundern, dass er bekannte Techniken des sozialen Alltags wie simulatio und dissimulatio, die Künste der Verstellung und Verhehlung der höfischen Ratgeber zur Lebensklugheit, als exegetisches Instrumentarium verwirft, noch mag erstaunen, dass die „actores ludorum theatralium“, also berufsmäßige Schauspieler, als schlechtes Beispiel einer Zurschaustellung wesensfremder Affekte herhalten müssen. Nein, wo immer ein Zeichen davon entdeckt werde, liege diesem auch ein Affekt zugrunde. Und jeder Affekt, der aus den Texten aufscheint, müsse als tatsächlich existent angesehen werden. Das Nebeneinander verschiedener anthropologischer Auffassungen, in denen der Mensch einmal als geselliges Wesen, das einer Gemeinschaft bedarf, einmal als unabhängig von der Gemeinschaft existierendes Individuum, gedacht wird, zieht eine Konkurrenz zweier divergierender zeichentheoretischer Konzepte nach sich. Dem Modell der Repräsentation mit seinem arbiträren Verhältnis von Zeichen und Bezeichnetem, das – so die Sorge der Pietisten – Raum für Ablenkungen lassen könnte und daher abgelehnt werden müsse, steht das Ideal einer Eindeutigkeit des Ausdrucks und der unmittelbaren Entsprechung von Zeichen und Bezeichnetem gegenüber. Betrachtet man ausschließlich die pietistische Kritik an ersterem, kann das durchaus vorhandene positive Potential des anderen Aspekts leicht übersehen werden. Denn auch die Produktion von Wesensidentität bedurfte theatraler Praktiken und konnte sich dabei eines erstaunlich vielfältigen Zeichenrepertoires bedienen. Wie weit man sich von der von Francke geforderten ostentativen Bekundung von Bußfertigkeit durch größtmögliche Unauffälligkeit auch entfernen konnte, zeigt 15 Francke 1717: 241. „Wo also eine stilistische Eigentümlichkeit gefunden wird, kann man mit Sicherheit behaupten, dass ein Affekt zugrunde liegt. Denn es ist als gewiss vorauszusetzen, dass es bei den heiligen Autoren keine Verstellung oder Verhehlung gibt, noch muss man sie der Nachahmung oder Zurschaustellung fremder Affekte verdächtigen, wie man es bei Akteuren von Theaterspielen zu beobachten gewohnt ist. Sondern man muss darauf vertrauen, dass der Affekt wirklich vorhanden ist, der aus den Worten und Umständen des Textes hervorgeht und -leuchtet.“ (Übersetzung d.A.). Vgl. auch Francke in seiner bereits 1693 erstmals erschienenen Handleitung zum Studium der Heiligen Schrift (Francke 1706: 128).
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wiederum ein überlieferter Bericht von den Ekstasen der Schuchart in Halle: Bei einer Zusammenkunft war das Lied Wie schön leuchtet der Morgenstern gesungen worden, als sich an der Schuchart „viel wunderbahres“ zeigte, „welches mit Worten nicht mag ausgedrucket werden“. Während des Absingens der zweiten Strophe („dein süßes Evangelium ist lauter Milch und Honig/ [...] Himmlisch Manna, das wir essen“), habe sie zu schmatzen begonnen, worauf einer der Umstehenden auf das in der Offenbarung des Johannes (Offb 2,17) genannte verborgene Manna verwiesen habe. Dies bekräftigte die Schuchart „mit einem ja, welches sie 3mahl mit einer wunderbahren und einem Echo fast gleichlautenden Stimme wiederholete“. Daraufhin wurde in der Offenbarung gelesen, „welcher Capitteln jeden Verß und Worte sie den Inhalt nach durch ihre gestus derogestalt und mit solchem Nachdruck exprimirte, das es zubeschreiben unmüglich ist“.16 Das vom pietistischen Zirkel begeistert aufgenommene, weil auf semantische Eineindeutigkeit abzielende Gestikulieren der Schuchardt, scheint in seiner Fixiertheit auf naturgetreue Textwiedergabe das bürgerliche Theaterkonzept vorwegzunehmen.
Abbildung 1: „Tranquiles cœurs“ der Venus aus Lullys Le Triomphe de l’Amour (1681).
Doch damit nicht genug, in der Glaubenspraxis war sogar die Indienstnahme eigentlich abgelehnter Theaterformen möglich. In der Vorrede zum pietistischen Gesang-
16 Freylinghausen 1997: 119-120.
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buch Heb=Opfer zum Bau der Hütten Gottes von 1692 hieß es zwar: „Denn es findet sich also / daß / wo man sich um der Welt zu gefallen der Zierlichkeit der Wort nach der Redner= oder Dichterkunst in geistlichen Sachen anmasset / da füllet die Kunst die Augen und das Gehör/ das Herz aber bleibet leer und empfindet der Krafft destoweniger“17, dennoch enthielt es verblüffenderweise Melodien aus Lullys Ballett Le Triomphe de l’Amour. Ausgerechnet der Auftritt der Venus: „Tranquiles cœurs, preparez-vous / A mille secrettes allarmes, / Vous perdrez ce repos si doux / Dont vous estimez tant les charmes; / Mais les troubles d’amour ont cent fois plus d’attrait, / Que la plus douce paix.“18 wurde durch Kontrafaktur zu einer Ermahnung der Wahrheit, die den Gläubigen auffordert: „Du frommes Herz, / Wilt du mit mir ein ewig Verbündnis aufrichten.“19
Abbildung 2: „Die Wahrheit ermahnet feste an ihr zu halten“ aus Neuss߫ Heb=Opfer zum Bau der Hütten Gottes (1692). 17 Neuss 1692: o.S. 18 Lully 1681: 10. 19 Neuss 1692: 169-172.
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An diesen Beispielen wird deutlich, dass die Theaterfeindlichkeit der Pietisten keineswegs auf Ignoranz beruhte, sondern dass für sie bestimmte Theaterformen wegen ihrer gesellschaftlichen Funktion nicht nützlich waren bzw. nicht genutzt wurden: Auf der Basis ihrer Kritik an der Konzeption des Menschen wenden sie sich gegen die Indienstnahme von Theater als weltliche Institution. Den kameralistischen, zeremoniellwissenschaftlichen und frühaufklärerischen Bemühungen eines Veit Ludwig von Seckendorff, eines Julius Bernhard von Rohr und eines Christian Wolff, bestimmte Formen von Theater unter strenger Aufsicht als erlaubte Vergnügungen in einem wohlgeordneten Staat zu etablieren, stand die pietistische Theaterfeindlichkeit diametral gegenüber. Jene befürworteten Theater als säkulares, innerweltliches Regulativ und trieben mehr oder weniger dessen Institutionalisierung voran, indem sie mögliche gesellschaftlich nützliche Funktionen theatraler Praktiken betonten: So seien eher öffentliche Vergnügungen zu dulden als dass privaten Lastern Raum gegeben werden dürfe, wie beispielsweise Seckendorff schrieb: „So kan auch niemand Comödien tadeln / die unärgerlich / und also angestellet würden / daß sie gute Sitten nicht verderbeten / […] darbey sich der gemeine Mann ergetzere / und doch je zuweilen etwas nützliches daraus fassete / zumal aber 20 die Zeit hinbrächte / welche er sonst zu Spielen und Sauffen anwendet.“ Julius Bernhard von Rohr betonte, dass öffentliche Vergnügungen zudem eine politischrepräsentative Funktion übernehmen könnten, indem sie die ideale Ordnung des Gemeinwesens vor- und abbilden21; im frühaufklärerischen Diskurs sollten die „Vorstellungen der freudigen Begebenheiten […] und Trauerfälle der Menschen durch lebendige Personen“ zur „Beförderung aller Tugend und Besiegung aller Laster“ beitragen.22 Schauspielerische Praktiken, die diese Funktionen nicht erfüllten, die keinen ‚Nutzen‘ für die Stabilisierung der Gesellschaft oder des Individuums verhießen, weil sie anderen anthropologischen Konzepten folgten, blieben allerdings außen vor. Sie traf – wie verstärkt seit Beginn der Frühen Neuzeit – das Verdikt, ‚betrügerisch‘ zu sein. In seltener Eintracht kritisierten Pietisten, Staatswissenschaftler und Aufklärer die ‚Nutzlosigkeit‘ jener sozialen und theatralen Kommunikationsformen, die sich einem obrigkeitlichen Ordnungswillen und dessen weltlich oder religiös geprägten Heilsversprechen entzogen bzw. mit ihm konkurrierten. Die Sorge um die Wohlfahrt des Staates bzw. um die rechte Lebensführung des einzelnen Individuums einte sie in der Ablehnung von „Quacksalbern, Marktschreiern, Komödianten, Seiltänzern, Spielern und Glückstöpfern“23; Wolff warnte, dass
20 Seckendorff 1976: Bd. 2, 206. 21 Siehe Rohr 1990: 733-734. 22 Wolff 2004: 245. 23 Wolff 2004: 422.
82 | CORINNA K IRSCHSTEIN […] wenn man das Geld im Land behalten will, man dergleichen Leute in das Land nicht lassen darf, viel weniger aber für einen kleinen Profit, den die Obrigkeit durch einige Abgaben von ihnen hat, verstatten können, daß sie ihr Werk öffentlich treiben und den Unvorsichtigen, Neugierigen und Gewinnsüchtigen das Geld ablocken. […] Z.B. Spieler und Glückstöpfer ziehen Geld aus dem Land, ohne den geringsten Vorteil zu schaffen, und sind dabei um so viel gefährlicher, weil sie die Leute durch die Begierde, mit wenigem viel zu gewinnen, an sich locken. Deswegen sind sie niemals zu dulden. 24
Weniger am allgemeinen Landeswohl als am Seelenheil der Gläubigen interessiert, beschäftigte sich auch Francke mit den Glückstöpfern und Berufsschauspielern. Er formulierte in einer Katechismuspredigt, die sich bezeichnenderweise mit der Auslegung des 7. Gebots („Du sollst nicht stehlen“) beschäftigte, die Voraussetzungen für ein christliches Leben. Geld und Nutzen sind auch hier die dominierenden Themen: Es wird [...] von uns erfordert, daß wir einen rechten Beruff haben, darinnen wir leben, welcher Gott wohlgefalle. Denn auch das sind Diebe, die keinen rechten Beruff haben, [...] sondern dienen dem Nechsten nur zu ihren Sünden, zu seiner Pracht, Wollust und Uppigkeit [...]. Dahin gehören Glücks-Töpffer, Comoedianten und dergleichen Zeug, solche Leute, die nichts thun, sondern sind nur Tag-Diebe, Gott dem Hn. den Tag abstehlen, andere Leute ums Geld bringen. Solche Leute solten in Christlichem Weßen nicht gedultet werden [...] denn ihr Comoedienspiel und ihr ander Zeug, ihr Glückstopff-Spielen, siehe, das gereicht nicht zu Gottes Ehren und dem Nechsten zu Nutz. So lange nun ein Mensch keinen rechten Beruff hat, so kann er in denselben nicht seelig werden, ist kein rechter Christ in solchem Weßen: denn ein Christ muß einen rechten Beruff haben, der Liebe Gott beruft keinen zu solchen bößen Dingen, er berufft einen nicht zu solchen Narrentheidungen; sondern Gott der H. berufft den Menschen zu solchen Dingen, daß er dem Nechsten damit dienen könne, er berufft ihn zu einem ehrlichen Handwerk und Profession, darinnen er Gott und seinem Nechsten dienen kann.25
Angesichts der Effektivierungsprozesse und Individualisierungstendenzen unseres 21. Jahrhunderts wäre allerdings die Frage nach den Verlusten, die aus einer solchen Nutzenorientierung und der Diskreditierung von Lust und Lebensgenuss überhaupt resultieren, einer weiteren Betrachtung wert.
24 Wolff 2004: 422. 25 Francke 1989: 566-567.
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L ITERATUR Agamben, Giorgio: Ausnahmezustand. Frankfurt am Main: Suhrkamp 2004. Anonym: Revidirte und nach denen neueren Königlichen Edicten, Mandaten und rescripten eingerichtete und vermehrte Kirchen-Ordnung im Hertzogthum Magdeburg wie auch in der Grafschaft Manßfeld Magdeburgischer Hoheit: Sammt einem vollständigen Anhage derer von Anno 1680 bis 1739 publicirten Ordnungen, Edicten, Mandaten und Rescripten von Consistorial-, Kirch-, Stiffter- Universität-, Schul-, Hospitalien- und Ehe- auch anderer Geistlichen Sachen. Magdeburg: Nicolaus Günther 1739. Boor, Friedrich de: „Das Auftreten der ‚pietistischen Sängerin‘ Anna Maria Schuchart in Halle 1692“, in: Busch, Gudrun/Miersemann, Wolfgang (Hg.): „Geist=reicher“ Gesang. Halle und das pietistische Lied. Halle: Verlag der Franckeschen Stiftungen im Niemeyer-Verlag Tübingen 1997, 81-121. Deppermann, Klaus: Der hallesche Pietismus und der preußische Staat unter Friedrich III. (I.). Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1961. Francke, August Hermann: Manuductio ad lectionem scripturae sacrae historicam, grammaticam, logicam, exegeticam, dogmaticam, porismaticam et practicam. una cum Additamentis regulas Hermeneuticas de affectibus, & enarrationes ac introductiones in aliqvot Epistolas Paulinas complectentibus. London: J. Downing 1706. Francke, August Hermann: Praelectiones Hermenevticae, Ad Viam Dextre Indagandi Et Exponendi Sensum Scriptvrae S. Theologiae Stvdiosis Ostendendam, In Academia Hallensi, Aliqvot Abhinc Annis, Pvblicae Habitae. Halle: Orphanotropheum 1717. Francke, August Hermann: „Schrifftmäßige Lebens-Regeln“, in: ders.: Werke in Auswahl. Hg. von Erhard Peschke. Berlin: Evangelische Verlagsanstalt 1969, 351-355. Francke, August Hermann: „Über das VII. Gebot“, in: ders.: Schriften und Predigten. Hg. von Erhard Peschke. Berlin, New York: De Gruyter 1989, 558-575. Freylinghausen, Johann Anastasius: „Kurtze Relation von den jenigen Umständen, welche ich an der Erffurtischen A[nna] M[aria] am 4t[en] und 6t[en] [Novem]br[is] vor in und nach Ihren Ecstasib[us] wahr-genommen. p[erge]“, in: Boor, Friedrich de: „Das Auftreten der ‚pietistischen Sängerin‘ Anna Maria Schuchart in Halle 1692“, 118-121. Koch, Ernst: Das konfessionelle Zeitalter. Katholizismus, Luthertum, Calvinismus (1563-1675). Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt 2000. Kramer, Gustav: August Hermann Francke. Ein Lebensbild. 2 Teile. Halle: Waisenhaus 1880/1882. Lehmann, Hartmut: „Der Pietismus im Alten Reich“, in: Historische Zeitschrift 214 (1972), 58-95.
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Lully, Jean-Baptiste: Le Triomphe de l’Amour. Ballet royal. Paris: Christophe Ballard 1681. Mielke, André: „Terror und Widerstand“, in: Berliner Zeitung (22.11.2010). www.berliner-zeitung.de/archiv/terror-und-widerstand,10810590, 10756126.html [17.04.2012]. Neuss, Heinrich Georg: Heb-Opfer Zum Bau der Hütten Gottes/ Das ist/ Geistliche Lieder/ Welche Zur Andacht/ Aufmunterung und Erbauung unsers Christenthums in allerhand Faַ llen zu gebrauchen/ und daher In gewisse Zehen und Classen vertheilet/ Und mehrentheils mit eigenen und neuen Melodeyen versehen seynd. Lüneburg: Lipper 1692. Rohr, Julius Bernhard von: Einleitung zur Ceremoniel-Wissenschaft der grossen Herren. Leipzig: Ed. Leipzig 1990. Sabean, David Warren: Das zweischneidige Schwert. Herrschaft und Widerspruch im Württemberg der frühen Neuzeit, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1990. Schmidt, Werner: Ein vergessener Rebell. Leben und Wirken des Christian Thomasius. München: Diederichs 1995. Seckendorff, Veit Ludwig von: Teutscher Fürsten-Stat. 2 Bände. Glashütten im Taunus: Auvermann 1976. Spener, Philipp Jakob: „Was von repraesentationibus theatralibus zu halten?“, in: ders.: Schriften. Bd. 15, 2. Hildesheim/Zürich/New York: Olms 1987, 605-606. Thomasius, Christian: „Nothwendige Gewissensrüge abgewiesen von einem Freunde der Wahrheit“, in: ders.: Ausgewählte Werke. Hg. von Werner Schneiders. Bd. 23. Hildesheim/Zürich, New York: Olms 1994, 1-300. Wolff, Christian: Vernünftige Gedanken von dem gesellschaftlichen Leben der Menschen und insonderheit dem gemeinen Wesen. München: Beck 2004.
Wenn die Stimme ihr Organ erfindet Subjektkonstruktion und Körper(Zeichen) im Werk Emil Sutros P ETRA BOLTE -P ICKER
Am 2. Februar 1907 erscheint in der New York Times der Nachruf auf einen „eminant scholar“ der New Yorker Gesellschaft namens Emil Sutro, der, verstorben am 27. Oktober 1906, einige maßgebliche Werke zur Erforschung der Psyche hinterlassen haben soll, darunter auch eine Theorie der Stimme mit dem Titel Duality of the voice aus dem Jahre 1899. In amerikanischen Fachblättern zur Gesangskunde wie The Musical Times and Singing Class Circular als „astonishing book“1 von unschätzbarem Wert gefeiert, wird es in der deutschen Übersetzung Das Doppelwesen der menschlichen Stimme – Versuch einer Aufklärung über das seelische Element in der Stimme (1902) vornehmlich von philologischen Kreisen rezipiert und zumeist verrissen.2 Anlass seiner Forschungen zur Stimme ist die von Sutro wahrgenommene, absolute Unmöglichkeit, als fremdsprachiger, deutscher Immigrant die englische Sprache idiomatisch korrekt aussprechen zu können. Vor diesem Hintergrund untersucht er die deutsche Sprache im Vergleich zur englischen und erfindet zur Klärung der unüberwindbaren Differenz der Artikulation eine eigene Physiologie der Stimme und des Sprechens. Zugleich entwirft Sutro eine andere Anatomie des Körpers als Gegenentwurf zu der von ihm auf das Schärfste kritisierten physiologischen Episteme seiner Zeit. Anhand von zahlreichen Selbstversuchen an seiner eigenen Sprech- und Gesangsstimme will er den Zusammenhang zwischen psychischer Verfassung, Wille, Denken und physiologischem Ablauf aufzeigen und zugleich die Spezifik seiner deutschen Heimatsprache mitsamt allgemein gültigen Urgesetzen zu Stimme und 1
Musical Times and Singing Class Circular 1900: 605.
2
Das Werk wird z.B. besprochen von dem Berliner Germanisten Prof. Richard M. Meyer in: Archiv für das Studium der neueren Sprachen und Literaturen 1906: 391.
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Sprache überhaupt ableiten – nach einem Jahrhundert zahlreicher physiologischer Experimente zur Stimme ein gewagtes Unternehmen, dem Sutro mit „selbstbewusstem Ton“ entgegentritt: das Buch sei nicht „oberflächlich“ zu lesen, sondern tiefsinnig und „sorgfältig“ zu studieren und auszuprobieren, denn es bringe Licht in das „Dunkel“, das das Wesen der Stimme umgebe. Die physiologischen Experimente zur Stimme an Kehlkopfpräparaten und Leichenteilen, wie sie z.B. von Johannes Müller oder Carl Ludwig Merkel durchgeführt worden sind,3 vernachlässigen seiner Ansicht nach jene „seelische Seite“ ihres Gegenstandes, die ausschließlich über Verfahren der Selbstbeobachtung am lebenden, denkenden Körper verifiziert werden könne. Die Stimme sei mehr „geistiger“ Natur und liefere daher nicht nur gänzlich andere Ergebnisse als Physiologie und Anatomie, sondern führe sogar in die Erkenntnisse eines neuen Evangeliums von Stimme und Körper ein.4 Im Gegensatz zu Rousseaus Konzeption des Sprachursprungs aus der menschlichen Empfindsamkeit und den Leidenschaften in Kombination mit visueller Naturwahrnehmung und Stimme, aber auch konträr zu Herders Begründung des Ursprungs aus dem natürlichem Dasein des vernünftigen Menschen entstammt nach Emil Sutro das Sprachvermögen unmittelbar aus der Physiologie des Körpers. Die unüberwindbare Differenz zwischen Muttersprache und Fremdsprache ist dabei für Sutro nur denkbar über eine auch physiologisch zu begründende Abweichung in Gestalt eines anderen Körpers, in dem über verschiedene physiologische Systeme Stimme verlautet werden kann.
K URZE S KIZZE
EINES
K ÖRPERS DES H ETEROGENEN
Bereits in seiner ersten Buchveröffentlichung mit dem Titel The Basic Law of Vocal Utterance (1894) berichtet Emil Sutro erstmals über die von ihm entdeckte „Stimme des Ösophagus“: die Stimme der Speiseröhre, nach Sutro eine physiologische Sensation. Denn durch sie sind von nun an potentiell zwei Stimmen im Körper tätig: Zum einen oberhalb der Zunge von innen nach außen (die Stimme der Luftröhre), zum anderen von außen nach innen unterhalb der Zunge (Stimme des Ösophagus). Der Zungenmuskel trennt den Schlund in zwei Stimmräume, die eine weitere organische Veränderung enthalten sollen: Unterhalb der Zunge, aber noch oberhalb des Kehlkopfes befindet sich ein neues, von ihm persönlich entdecktes Stimmband, die sogenannte „Replica“. In anatomischer Hinsicht schließt die Replica das frenulum linguae (Zungenband) ein, und sie reguliert den Atemweg, der zur
3
Zur Kontextualisierung von Sutros Werk innerhalb der physiologischen Episteme, vgl. Bolte-Picker 2012.
4
Sutro 1902: 16.
S UBJEKTKONSTRUKTION UND K ÖRPER (Z EICHEN ) IM W ERK E MIL S UTROS | 87
Artikulation nötig ist. Nach Sutro ist sie das Stimmband, über das sich dezidiert die englische Sprache artikulieren ließe. Über ein von ihm detailgenau beschriebenes, zirkuläres Zusammenspiel von Atem, Stimme der Luftröhre (Kehlkopf, Stimmbänder) und Stimme der Speiseröhre (Replica) gestaltet sich nun ein zweiter Körper im eigenen, den Sutro als „Gebilde aus lebendem Gewebe“ bezeichnet. 5 Der Zusammenhalt zwischen diesen zwei Körpern wird garantiert durch den willentlich geleiteten Atem. Er hält die Verbindung zwischen den Organen, Kanälen, Gefäßen und Affekten sowie den Sinneswahrnehmungen aufrecht. So entsteht ein komplexes, zum Teil diffuses Körpersystem, das Sutro ausführlich beschreibt und in dem sich duale Systeme (sogenannte „Hemisphären“) gegenseitig bedingen und beeinflussen, insbesondere auf der Grundlage des elektrischen Polaritätsprinzips von Anode und Kathode. Die Replica ist dabei für Sutro das Indiz für eine national begründete Teilung des Körpers, in dem die Stimmen unterschiedliche Sprachen produzieren: oberhalb der Zunge über die Stimmbänder die deutsche Sprache, unterhalb der Zunge über die Replica die englische – ein tatsächlich Körper gewordener Beweis für ein integriertes Denken des Fremden in einer Physiologie des Immigranten. Doch wie lässt sich die Stimme vereindeutigen, wenn sie – wie Sutro schreibt – als die eine göttliche Trägerin der Seele fungieren soll, aber physiologisch zweifach erscheint als Stimme des Immigranten (Stimmbänder) und Stimme des Fremden (Replica), d.h. doppelt und in den zwei Sprachen? Der Körper des Immigranten wird in Sutros Konzeption zum zweisprachlich geteilten, physiologischen Ort einer melancholisch in die Heimat fernblickenden Seele. Die grundlegenden Prämissen einer garantierten Identifikation des Subjekts in der stimmlich artikulierten Sprache sind erschüttert, denn das Subjekt spiegelt sich im Kreislauf von Sagen und Hören nicht in der eigenen Stimme und nach den Funktionen des von Kaja Silverman beschriebenen „acoustic mirror“, der in der Subjektgenese die primären Identifikationsprozesse über Vokalisierungen in der Muttersprache einleitet.6 Der heterogene Körper ist stattdessen der Beweis einer schier unüberwindbaren vokalen Differenz, der Sutro über grotesk anmutende Schauspielerei zu entkommen versucht.
5
Sutro 1902: 92.
6
Siehe Silverman 1988: 80-81.
88 | P ETRA B OLTE -P ICKER
D IE L EICHE
IM
K ÖRPER
In einem seiner Selbstversuche beschreibt Sutro die Imitation einer partiellen Leichenstarre: Er imaginiert den Augenblick des Todes und schaltet dabei seinen Angaben zufolge einzelne Körperteile aus, so dass die physischen Prozesse wie nach einer Exstirpation beeinflusst werden.7 Nach einiger Übung gelingt es ihm angeblich, Teile einzelner Körperorgane, Muskeln und sogar feinste Membranen zu blockieren, so dass er anhand der Lautveränderungen, die er nun wahrzunehmen meint, Rückschlüsse auf die nationalsprachlichen Ursprünge der Stimmerzeugung ziehen kann. Es handelt sich nach Sutro um „eine zeitweilige Abtötung“, um den Verfall in einen „Zustand der Starrheit“, sein Körper sei zeitweise wie eine „träge Masse, als ob er zu existieren aufgehört hätte“.8 Es ist die perfekte Imitation eines Leichenteils im lebendigen Körper, die Sutro willentlich jederzeit durchzuführen sich im Stande glaubt, die Glanzeinlage eines perfekten Schauspielers, der das Unmögliche (den Tod) verkörpert. Wie ein Mime ahmt er die Vorgänge nach, die die physiologischen Stimmexperimente seiner Zeit im experimentellen Versuchsaufbau präfiguriert haben. Aus diesem Mechanismus der organischen Selbstabtötung leitet Sutro Erkenntnisse zu Atmung, Lauterzeugung, Bewegungsmechanismus, Hör-, Seh-, und Denkvorgängen ab, die nicht ohne rassentheoretische Implikationen bleiben. Die Sprache in ihrem Bezug zur Physiologie des Körpers sei „nicht blos der Hauptpunkt dieser Verschiedenheit“ der Nationalitäten, sondern der unabänderliche „Urgrund und Ursprung aller anderen wichtigeren Verschiedenheiten unter den Nationen“ wie Rassenunterschiede, klimatische, religiöse, geschichtliche, politische Verschiedenheiten.9 Sowohl die Bewegungen, Gewohnheiten, Gesichtszüge, Denkweisen usw. entstehen nach Sutro aus der und lassen sich zurückführen auf die Muttersprache, ohne die der menschliche Körper nichts weiter als eine Maschine sei. Unterschiedliche Bewegungsströmungen der Seele geben dabei Aufschluss über die nationalen Charakterdifferenzen von Engländern und Deutschen. Die Voraussetzungen des Doppelwesens der Stimme, d.h. des Seelischen im physiologischen Körper, behält Sutro in den so neu gewonnenen, nationalen Körperbildern bei; ihre Aufrechterhaltung diene der gelungenen Vermittlung von Stimme und Sprache des Immigranten. Die Abtötung von Körperteilen strukturiert den Körper um in diejenigen Anteile, die aus dem organischen Ganzen ausgeblendet werden und diejenigen Anteile, auf die sich das Denken des lebendigen Körpers
7
Siehe Sutro 1902: 76-77. Exstirpation bezeichnet die chirurgische Entfernung eines
8
Siehe Sutro 1902: 78.
9
Siehe Sutro 1902: 153.
Organs oder Gewebeteils.
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konzentriert. So entsteht eine physische Dualität, die auf der Ebene physiologischer Episteme unmöglich erscheint, jedoch auf der Ebene sprachlicher und künstlerischer Artikulation eine Strategie der Verschmelzung einführt, die gerade erst den Austausch von Denken und Seele ermöglichen soll: „Wenn ich spreche und du
mir zuhörst, dann findet zwischen uns ein Austausch des Seelischen statt, mein Gedanke wird zu dem deinen. Und wenn du auf meine Ansprache antwortest, so wird dein Gedanke mein Gedanke und somit deine Seele ein Teil der meinen.“10 Die „Gabe der vokalen Äußerung“ beruht dabei nach Sutro auf Dualität sowie Differentialität und ist auf der Grundlage von zwei Vokaltrakten auch physiologisch plausibel. Seine religiöse Konzeption der Stimme führt ihn hier zu einer Theologie des Körpers, die den Körper und seine Funktionen als Austragungsort derjenigen Kategorien kennzeichnet, denen das nach Identität suchende Subjekt eine Spiegelfunktion zuschreiben kann: das Göttliche (die Bestimmung; die Stimme/ein Wort, das wird), die Nationalität und das Bündnis von Mann und Frau. Dieser Konzeption fügen sich imaginäre Verschmelzungsphantasien an, die jedoch voraussetzen, dass sich das Subjekt im Rahmen einer künstlerischen Konzeption in der totalen Erfahrung eines zerstückelten Körpers immerzu bestätigt. Daher erscheint auch die totale Beherrschung des eigenen Körpers bis hin zur imaginären Integration eines Leichenteils in Sutros Konzeption so entscheidend: Es gilt, das (Schau-)Spiel von Tod und Leben, Anwesenheit und Abwesenheit zur physiologischen Begründung einer als omnipotent erachteten, geistig-religiösen Weltschau zu ernennen. Zugleich sieht Sutro in Auseinandersetzung mit der von ihm kritisierten physiologischen Episteme die Möglichkeit, sich als Autor einer anderen Episteme des Körpers zu präsentieren – das Werk, Eigentum seines Denkens (und damit in den Worten seiner Konzeption: Schrift gewordenes Organ einer eigenen, inneren Stimme) positioniert ihn in Bezug zur Wissenschaftsgemeinschaft. Der Text verweist auf ihn als Autorität des Denkens, v.a. in Bezug auf künstlerische (gesangliche) Inhalte. Der Name desjenigen, der den Buchrücken ziert, ist nach diesem Modell derjenige, der gegen die Episteme spricht, aber für die Differenz der Stimmen des Körpers. Damit kann er als (innovativer, kritischer, möglicherweise quacksalberischer) Autor des Textes epistemisch repräsentiert und abgelehnt werden. Am 15. Februar 1907, vier Monate nach Emil Sutros Tod, erscheint endlich eine, wenn auch ablehnende Rezension des bekannten Physiologen und Sprachwissenschaftlers Edward Wheeler Scripture in der New York Times. Ihm zufolge verfüge Sutro offenbar über eine zusätzlich Luftröhre unterhalb der Zunge, die ihm eine Stimmproduktion in zwei Artikulationsräumen gestatte – eine Missbildung also, die vor
10 Sutro 1904: 7.
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dem Hintergrund von Emil Sutros jüdischer Konfessionszugehörigkeit die epistemische Aussage politisiert.11 Doch steht der Autor tatsächlich in diesem Verhältnis zur Episteme? Gerade das Bemühen Sutros um Anerkennung im wissenschaftlichen Rahmen, seine ausgiebigen metaphorischen Beschreibungen wirken wie ein ‚verkleideter‘ wissenschaftlicher Diskurs im Sinne Michel Foucaults: ein Diskurs, der sich nicht setzt, der schwankt und täuscht, weil das in ihm schlummernde Begehren nicht nur ausgelagert, sondern zudem auch übergeordnet erscheint.12 Wenn dies so ist, dann konstruieren der Text und seine Aussagen einen anderen Autor an einem anderen Ort. Ein Blick auf ein psychologisches Phänomen, das vornehmlich gegen Ende des 19. Jahrhunderts beschrieben wird, soll diese These klären.
N EGATIVE H ALLUZINATIONEN Sutros experimentelle Strategien der Selbstabtötung, die er einführt, um zu Stimme und Sprache zu kommen, nähren das Denkbild von der Leiche im Körper – ein Denkbild, das nach Jules Cotards Beschreibungen in seiner Dissertation von 1880 als psychisches Syndrom zur konkreten Wahrnehmungserfahrung werden kann. Die Patienten mit Cotard-Syndrom geben vor, weder Mund noch Sprache, Speiseröhre oder Magen zu haben, sie verfügen auch nicht über Eingeweide oder einen Anus. Sie empfinden sich als körperlos, ihre Organe sind zuweilen bizarren Transformationen unterworfen, sie glauben innerlich zu verfaulen. Die Phantasmen reichen bis hin zu der Vorstellung, sie seien unsterblich und wandeln als lebende Tote auf Erden. Zugleich sind diese Phantasien häufig begleitet von religiösen Phantasmen, in denen sie sich selbst als Anti-Christ beschreiben oder als Opfer eines bösartigen Gottes.13 Neben Verneinung und Depersonalisation ist es die negative Halluzination, d.h. der ‚halluzinierte‘ Zustand eines Nicht-Wahrgenommenen, der dieses Subjekt strukturiert. Sein abgespaltenes, imaginäres Ich flüchtet an einen anderen Ort, es emigriert aus dem Körper und hinterlässt ihn ohne jede Verbindung als eine leere Hülle, d.h. als Leichenteil. Die aktuelle Forschung zum Cotard-Syndrom von Leistedt, Coumans et al. hat diese Flucht des imaginären Ichs aus dem Körper als eine Form der Selbstverteidigung gedeutet: In seiner Nicht-Existenz ist das Ich unzerstörbar.14 Übertragen auf Sutros Stimmkonzeption muss diese Aussage erweitert
11 Siehe Scripture 1907: 98. 12 Siehe Foucault 1981: 100. 13 Siehe Leistedt et al. 2009: 670. 14 Siehe Leistedt et al. 2009: 674.
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werden: In der subjektiven Nicht-Existenz spricht sich die Stimme als eine Stimme und potentiell idiomatisch korrekt auch außerhalb der Muttersprache. Im Kontext der Sutroschen Stimmkonzeption und mit Rücksicht auf das Konzept des einen Autors verschmelzen dann die Stimme des Fremden und die Stimme des Immigranten – jedoch unter der Bedingung der negativen Halluzination und vor dem Hintergrund eines melancholischen Rückblicks in die Heimat von Körper und Nation.
W ENDEPUNKT Die Lektüre des Doppelwesens der Stimme lässt an dieser Analyse und ihrem Bezug zur Autorschaft berechtigte Zweifel, mindestens aber die Notwendigkeit einer Ergänzung aufkommen. Immer wieder spricht Sutro von sich in der dritten Person. Zugleich verweist er mehrfach auf die Möglichkeit, ihm selbst habe niemand die Fähigkeit zum wissenschaftlichen Denken zugetraut. Sein „Selbstlob“, das er in großen Gesten ausführlich formuliert, sei nur „scheinbar“, er sei nur ein „Dilettant der Wissenschaft“ und die Entdeckung des Wesens der Stimme hätte nicht durch ihn, sondern durch einen „Mann in der Vollkraft der Jugend“ erfolgen müssen – nicht durch ihn.15 Wie Émile Benveniste gezeigt hat, ermöglicht die Verwendung der 3. Person die Distanzierung des grammatischen Subjekts von der physischen Person mit dem Effekt der möglichen Integration einer Vielzahl von Identitätspotentialen.16 Somit konturiert sie immerzu ein Außen, das dem Dialog von Ich und Du äußerlich bleibt in Gestalt einer ‚Nicht-Person‘, eine Hülle oder Leerstelle, die eine von vielen möglichen Identitäten annehmen kann. Eine andere Identität als die des Autors Emil Sutro? Die erweiterte Textanalyse zeigt, dass der Verfasser z.B. in der Metaphorik, die die Stimme beschreibt, dezidiert auf weibliche Wortbilder zurückgreift. So beschreibt er z.B. das Verhältnis von Stimme, Sprechen und Sprache mit den Handgriffen einer Stickerin, er nennt nur weibliche Helfer im Zuge der Danksagungen17 und auf die Gottesfrage antwortet er: „Wir sprechen von Gott als ‚er‘. Weshalb nicht ‚sie‘?“ 18Nach Judith Schlanger bestimmt die Art und Weise, wie die Wissenschaft ihren Gegenstand beschreibt, einen Modus des Sagens, der in das wissenschaftliche Denken eingeht und sein Fortschreiten anleitet. Denn die Formulierung wirkt nicht nur informativ oder deskriptiv – sie soll die Wahrhaftigkeit der wissen-
15 Sutro 1902: 28-29. 16 Siehe Benveniste 1974: 257-258. 17 Siehe Sutro o.J.: 208 18 Sutro o.J.: 147.
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schaftlichen Idee verdichten, transportieren und damit ein gemeinsames Denken und Argumentieren innerhalb einer Wissenschaftsgemeinschaft konstruieren. 19 Die Wissenschaftsgemeinschaft ist Ende des 19. Jahrhunderts eine männlich geprägte Gemeinschaft. Sutros wiederholter Bezug auf eine weibliche Metaphorik lässt jedoch deutlich die Konturen und die Stimme einer Frau hinter seiner Aussage erscheinen.20 Das Deutsche Pseudonymen-Lexikon von Holzmann/Bohatta (1906) nennt unter dem Eintrag der Autorin Kathinka Sutro-Schücking folgendes Pseudonym: Emil Sutro. 21 Auch das Grundlagenwerk zur weiblichen Pseudonymforschung von Sophie Pataky, das Lexikon deutscher Frauen der Feder (1898), bestätigt die Verwendung des Namens als Pseudonym.22 Kathinka Sutro-Schücking ist die Ehefrau von Emil Sutro, dem Strumpfwarenfabrikanten aus Baltimore, die sich als deutschsprachig schreibende Schriftstellerin von Romanen und Novellen in Amerika vor allem in Immigrantenkreisen einen Namen gemacht hat. Doch wie lässt sich die Pseudonymverwendung begründen? Die Notwendigkeit des Pseudonyms entstammt der grundsätzlichen, sowohl für Kathinka als auch für Emil geltenden gesellschaftlichen Entfremdung in einem Land außerhalb ihrer Muttersprache. Das Ich (moi) findet in der Textpraxis unter dem Schutz eines symbolischen Ich (je) einen Ort, an dem das Spiel mit fiktiven Identitäten das Selbst spielerisch umkreist. Da das Pseudonym jedoch kein fiktiver (Autoren-)Name ist, sondern als Name einer wirklichen Person und damit als Teil einer gesellschaftlichen Realität verstanden wird, wird im Feld des Symbolischen zugleich eine plausible gesellschaftliche Identität konstruiert, die jedoch nicht mit der Autorschaft identisch ist. Im spezifischen Fall der Pseudonymverwendung ‚Emil Sutro‘ durch Kathinka Sutro-Schücking handelt es sich um eine Karnevalisierung von symbolischem Ich (je) und imaginärem Ich (moi), das die Grenzen der sozialen und geschlechtlichen Identität sprengt. Denn es ist der Ehemann, dessen Identität sie als symbolisches Ich annimmt und es ist seine Stimme, in der sich ihre Gedanken laut lesen lassen. Ein geschicktes, gesellschaftliches Spiel, von dem alle profitieren: der Ehemann, der sich als besonders befähigt erweist; die Ehefrau, die 19 Siehe Schlanger 1995: 20. 20 Bereits Formulierungen in Sutros Veröffentlichung von 1902 lassen Zweifel an der Identität von erzählendem Ich und Autor aufkommen, so grenzt er sich immer wieder von den „Männern der Wissenschaft“ ab, hinterfragt seine Position als schreibender Denker und berichtet aus der Perspektive eines anonymen Dritten, siehe z.B. Sutro 1902: 3. Diese Differenzierungsstrategien im Schreiben finden sich mehrfach in Sutros Werk. Zur ausführlichen Analyse seiner Texte hinsichtlich der Autorenfunktion, siehe Bolte-Picker 2012, dort: Kapitel V.5. 21 Holzmann/Bohatta 1906: 273. 22 Pataky 1898: 350.
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trotz besseren Wissens um die Identität des Autors an der phallischen Lust des Ehemanns teil hat; die Familie, die sich im sozialen Gefüge stabilisiert. Das Andere der Spiegelphase, das im Spiegelbild über die Strategien der Verkennung eine Identitätsbildung ermöglichen soll, erhält in dieser Konstellation phallische Funktionen. Voraussetzung dafür ist, dass sich das weibliche Ich zunächst als doppelt kastriert erfährt. Sie ist sprachlich als Immigrantin und in Bezug auf ihr weibliches Begehren unterlegen. Der so erfahrene Mangel wird erst komplettiert durch die imaginäre Physis des männlichen, symbolischen Ich (Autorname) und die Aneignung seines phallischen Begehrens in einem Körper, der als heterogener Körper über zwei Vokaltrakte verfügt. Der Diskurs des Textes ist in Bezug auf Emil Sutro/Kathinka Sutro-Schücking damit ein verkleideter Diskurs eines weiblichen Schreibens, das das weibliche Begehren auslagert und dem Diskurs des Textes un-sichtbar, aber als phallisches Begehren übergeordnet wieder einverleibt. In diesem Gefüge erscheint auch die Stimme des Textes ‚maskiert‘: Der Leser liest ihre Stimme und ihren Atem im Text Das Doppelwesen der Stimme, aber er erkennt darin nur den männlichen Autor, dessen Name im Werk genannt wird. Ihre Stimme und ihr Denken schreiben sich im Namen des Mannes. Unter seinem Namen wird ihr Begehren verwirklicht, er leiht ihr seinen Namen als Autor und lässt sie – obgleich nicht als Autorin, so doch als Stimme des Textes – teilhaben an Symbolisierungsprozessen unter der Bedingung maskierter weiblicher Identität. Der Autor/die Autorin erscheint hier nicht als identifizierbares Individuum, sondern als Signifikant im Feld des Symbolischen. Mit Blick auf die negative Halluzination einer Leiche im Körper ist die Strategie der willentlich herbeigeführten Selbst-Abtötung demnach keineswegs Ausdruck der von Lucia Hacker in ihrer Monographie über Schreibende Frauen um 1900 beschriebenen grundsätzlichen Unfähigkeit schreibender Immigrantinnen, das eigene Selbst einem Objektivierungsprozess (Blick von außen) auszusetzen und es zu symbolisieren.23 Die psychologische Disposition des Cotard-Syndroms lässt eine andere Deutung zu. Die negative Halluzination kann – wie die Forschungen von Leistedt u.a. gezeigt haben – auch Ausdruck einer monströsen Selbstbehauptung sein. Voraussetzung dafür ist eine Subjektdisposition, in der ein brutales Anderes das Subjekt angreift, um es in eine Position zu verbannen, in der das Ich sich als bereits nicht mehr existent wähnt. Diese Zuweisung des sich schon im geringeren Existenzzustand seienden Ichs durch das Andere (die wissenschaftliche sowie die fremde, soziale Gemeinschaft) wäre dann der gewaltsame Exzess eines Kampfes, in dem sich das Ich aus der Perspektive des Anderen als ungehorsam erweist, da es sich in seiner Selbstauflösung jeder Begegnung mit ihm zu entziehen droht. In diesem Sinne produziert das weibliche Schreiben ein mehrfaches Symbolisches: in Bezug auf das Werk und die Autorenfunktionen, die mit dem Namen Emil 23 Siehe Hacker 2007: 32-33.
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Sutro in Verbindung gebracht werden, aber auch in Bezug auf eine Autor-ität, dessen Stimme als weibliche Denkaktivität lautlos hinter einem Werk erschallt. Kathinka Sutro-Schücking wird in diesem Diskurs von Stimme und Text, von Körper und Schrift zwar nicht zur namentlich genannten Autorin des Werkes, wohl aber zur Autorität eines unbedingten Sagen-Wollens („vouloir-dire“) und damit einer autoritären Bedeutungsintention, die positioniert ist im Anderen und die ihr gerade deshalb einen eigenen, heterogenen Körper zwar pseudo-epistemisch, aber gleichwohl auf Augenhöhe mit den ‚Männern der Wissenschaft‘ zu konstruieren gestattet.
L ITERATUR Archiv für das Studium der neueren Sprachen und Literaturen 116, Braunschweig: Westermann 1906, 391. www.archive.org/stream/archivfrdasstu116brauuoft/ archivfrdasstu1_16brauuoft_djvu.txt [17.01.2012]. Benveniste, Emile: „Der Mensch in der Sprache“, in: ders.: Probleme der Allgemeinen Sprachwissenschaft. München: List 1974, 251-375. Bolte-Picker, Petra: Die Stimme des Körpers: Vokalität im Theater der Physiologie des 19. Jahrhunderts. Diss., Gießen 2011 [Frankfurt am Main: Peter Lang 2012]. Cotard, Jules: Contribution à l’Étude Séméiologique des Idées Délirantes de Négation. Thèse pour le doctorat en médecine. Bordeaux: Cadoret 1904. Foucault, Michel: Archäologie des Wissens. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1981. Hacker, Lucia: Schreibende Frauen um 1900. Rollen – Bilder – Gesten. Berlin: LIT 2007. Holzmann, Michael/Bohatta, Hanns: Deutsches Pseudonymenlexikon. Wien/Leipzig: Akademie Verlag 1906. Leistedt, S. et al.: „La négation du corps à propos de trois observations concernant les délires de Jules Cotard“, in: Annales médico-psychologiques 167/9 (2009), S. 669-676. Musical Times and Singing Class Circular 41, H. 691, London/New York: Musical Times Publ. 1900 (01.09.1900). Pataky, Sophie: Lexikon deutscher Frauen der Feder (Bd. 1 u. 2). Berlin: C. Pataky 1898. Schlanger, Judith: Les métaphores de l’organisme. [orig. 1971] Paris: L’Harmattan 1995. Scripture, Edward Wheeler: „New York Times Saturday Review of Books“, in: New York Times (16.02.1907). http://query.nytimes.com/mem/archive-
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Sutro, Emil: Das Doppelwesen der menschlichen Stimme. Versuch einer Aufklärung über das seelische Element in der Stimme. Berlin: W. Fussinger 1902. Sutro, Emil: Das Doppelwesen des Denkens und der Sprache. Hg. unter dem Protectorat der physio-psychischen Gesellschaft: Berlin/New York 1904. Sutro, Emil: Das Doppelwesen der menschlichen Natur als Einführung in die Religion der Vernunft. Hg. unter dem Protectorat der physio-psychischen Gesellschaft: Berlin/New York o.J. [ca. 1905/06].
Prekäres Selbst Individualität und Gemeinschaft im Massediskurs des frühen 20. Jahrhunderts M IRIAM D REWES Der Autor ist eine moderne Figur, die unsere Gesellschaft hervorbrachte, als sie am Ende des Mittelalters im englischen Empirismus, im französischen Rationalismus und im persönlichen Glauben der Reformation den Wert des Individuums entdeckte – der, wie man würdevoller sagt, ,menschlichen Person‘. Deshalb hat auf dem Gebiet der Literatur ausgerechnet der Positivismus, – Inbegriff und Resultat der kapitalistischen Ideologie – der Person des Autors die größte Bedeutung beigemessen. ROLAND BARTHES1
Anstelle dieser Bedeutungszuweisung an den Autor plädiert Roland Barthes dafür, die Abwesenheit des Autors zu denken, seine Herrschaft in Frage zu stellen, davon abzusehen, in jeglicher Artikulation irgendeinen intentionalen Sprechakt zu vermuten, geschweige denn, identifizieren zu wollen. Diese hinlänglich bekannte Subjektkritik hatte zum Ziel, wie viele andere Varianten der poststrukturalistischen Verabschiedung von der Vorstellung des einheitlichen Subjekts,2 sich von den Herrschaftszwängen, die man mit der Identität des Subjekts verband, zu befreien. 1
Barthes 2000: 186.
2
Etwa jene von Michel Foucault, der immerhin noch die Frage stellte, was ein Autor sei, oder eines Gilles Deleuze, der zusammen mit Félix Guattari den Vorläufer des Cogito in Was ist Philosophie? in Frage stellte und ein Plädoyer für den Idioten hielt (siehe Foucault 2000: 198-229 und Deleuze/Guattari 2000: 70f).
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Bemerkenswert dabei ist, dass die von Roland Barthes formulierte Subjektkritik als eine Art Kulminationspunkt eben jenes nachmodernen Diskurses in Erscheinung tritt, der nicht auf gesellschaftliche Bestimmungen beschränkt bleibt. Die Kritik wird in den Bereich des Ästhetischen hineingetragen: Offenbar ist die Literatur oder sind die Künste der Ort, an dem das Subjekt zum einen ganz besonders dazu neigt, den Herrschaftsgestus auszuagieren. Zum anderen scheint dies ein Feld zu sein, in dem das Subjekt – das es, wie Barthes’ Text nahelegt, möglicherweise sogar wieder zurückzugewinnen gilt – ganz besonders von Herrschafts- und Identitätszwängen jeglicher Art bedroht ist. Entscheidend ist bei Barthes zudem – und hier überschneidet er sich mit vielen seiner subjektkritischen Zeitgenossen –, dass der hegemoniale Subjektdiskurs vor allen Dingen auch ein Komplement der kapitalistischen Ideologie ist: Der Kapitalismus hat nach dieser Lesart den Zwang zur Identität und Einheit überhaupt erst produziert und das Subjekt damit zugleich im Innersten zerstört. Ein zentraler Gedanke, der in der poststrukturalistischen Subjektkritik schließlich wiederholt und variantenreich ausdifferenziert wurde, ist der Abschied von metaphysischen Letztbegründungen, die das Subjekt, oder vielmehr seine Konstitution, auf eine transzendente oder transzendentale Setzung zurückführen. Die metaphysischen Letztbegründungen wären demnach geradezu die Wurzel allen Übels, die Ursache dafür, dass Identität erst Zwang und Uniformität überhaupt hervorgebracht habe. Die Vorstellung von der Dezentrierung des Subjekts transzendiert demgegenüber jegliche Form der Ursprungserzählung, jegliche Binärvorstellung von Natur und Kultur, von Mann und Frau, von Gut und Böse, von Innen und Außen, schließlich, um es abstrakter zu formulieren, von Subjekt und Objekt. Diese Grenzüberschreitungen wurden allenthalben begrüßt, sie beherrschen bekanntlich einen großen Teil der Theaterpraxis sowie ihre Theoriebildung, wie sich etwa an der einschlägigen Literatur von der Performance- bis hin zur Gendertheorie ablesen lässt. Der Abschied von den genannten Dichotomien bedeutet nun aber auch, dass die noch zu Beginn des 20. Jahrhunderts hoch im Kurs stehende Binarität von Masse und Individuum in den Hintergrund gerückt ist. Ebenso wie etliche andere BinärOppositionen steht auch sie, und damit der Massediskurs überhaupt,3 zur Disposition. Worauf ich in meinen folgenden Ausführungen nun hinaus möchte, ist zum einen zu zeigen, dass die Aufteilung von Masse und Individuum in den philosophischen und ästhetischen Diskursen in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts weit weniger eindeutig trennscharf verläuft als ex post angenommen. Dabei möchte ich 3
So schreibt Timm Genett im Jahr 1999, dass im Gegensatz zum Beginn des 20. Jahrhunderts, wo der Begriff der Masse das „Paradepferd“ der Soziologie gewesen sei, „heute […] der Terminus spurlos aus dem Begriffsapparat der Sozial- und Geisteswissenschaften“ verschwunden sei (siehe Genett 1999: 193).
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die These aufstellen, dass die postmoderne Logik von der Dezentrierung des Subjekts und die damit verbundene Vorstellung vom Verschwinden des Subjekts im Diskurs möglicherweise im Massediskurs des frühen 20. Jahrhunderts eine inverse Antizipation darstellt. Ferner möchte ich zeigen, dass Wahrnehmungen und Darstellungen von Masse zwar schwerpunktmäßig negativ konnotiert sind, dass aber insbesondere die Filmästhetik eines Walther Ruttmann es erlaubt, die Paradoxien von Massevorstellungen und -darstellungen im Ästhetischen auszuagieren. Maßgeblich hierfür ist zudem die Aufwertung der Reproduktion. Dazu ist es zunächst aber notwendig, die Diskurs- bzw. die Konfliktlinien, innerhalb derer das Spannungsfeld von Masse und Individuum verläuft, zu skizzieren: Der Begriff der Masse ist insbesondere seit den späten 1940er Jahren negativ konnotiert. Im Begriff der Masse wird der Versuch, überhaupt eine eindeutige Ergebnisse hervorbringende Ursachenforschung der politischen, moralischen und vor allem menschlichen Katastrophe des Nationalsozialismus betreiben zu können, manifest. Die Masse etwa in Horkheimers und Adornos Dialektik der Aufklärung erscheint als Ausdruck für die Regression des Menschen, der, wie es im Kapitel „Aufklärung als Massenbetrug“ heißt, zum „statistischen Material“4 versachlicht ist. Die Masse wird auch bei Horkheimer und Adorno aufgrund der kapitalistischen Logik zum unmündigen Mob, der damit aber überhaupt erst – als Einheit begriffen – zur Verantwortung gezogen werden kann. Es gibt, neben anderen Ursachen, einen zwar diffusen, aber identifizierbaren Urheber des Verfalls der Moderne. Dieser negative Diskurs der Masse, der im genannten Kapitel der Dialektik der Aufklärung eine Zuspitzung erfährt, lässt sich allerdings bis an den Beginn der Moderne – die gemeinhin auf die zweite Hälfte des 18. Jahrhunderts datiert wird – zurückverfolgen,5 bis zur Zeit vor der französischen Revolution, wo er vor allem die Angst vor der Masse zum Ausdruck bringt: Masse gilt als Zerstörer sämtlicher etablierte Ordnungsstrukturen. Auch dieses spezifisch im bürgerlichen Umfeld angesiedelte Bedrohungsszenario, die Angst vor der Masse, verläuft, wie Timm Genett dargelegt hat, keineswegs als eindimensionale Bewegung, sie verläuft aber, trotz aller Brüche, weitgehend komplementär zur Erfolgsgeschichte des Bürgertums.6 Lange Zeit wur4
Horkheimer/Adorno 2001: 131. Als ein weiteres Beispiel für den negativen Massediskurs lassen sich Günther Anders Ausführungen in Die Antiquiertheit des Menschen anführen (vgl. Anders: 2002).
5
Eine ausführliche Studie zum Massediskurs verfasste Michael Gamper mit Masse lesen, Masse schreiben. Eine Diskurs- und Imaginationsgeschichte der Menschenmenge von 1765 – 1930. Gamper weist darauf hin, dass der seit der Antike diagnostizierbare Massediskurs keineswegs kohärent verlief. Gleichwohl lässt sich, so der Autor, etwa seit der Mitte des 18. Jahrhunderts vor dem Hintergrund des Modernisierungsprozesses Masse als „eigenständige Macht“ identifizieren (Gamper 2007: 16).
6
Siehe Genett 1999: 193-240.
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de Masse als das der Zivilisation Entgegengesetzte, als etwas „Fremdes und Ungehöriges“7 begriffen, was auch damit zu tun hat, dass das Phänomen Masse der entindividualisierten Industriegesellschaft zugeordnet wurde, welche wahre Gemeinschaft ausschließe. Zwar lässt sich auch die (politisch motivierte) idealtypische Vorstellung von einer wahren Gemeinschaft bis an den Beginn der Moderne, mindestens bis zu Jean-Jacques Rousseaus Schriften zurückverfolgen, der bekanntlich im Fest und nicht im Theater eine gemeinschaftsstiftende Kraft erblickte. 8 Doch erst auf Ferdinand Tönnies geht die Trennung von Gemeinschaft und Gesellschaft und eine damit verbundene Priorisierung der Gemeinschaft als soziologischer Kategorie zurück. Während Gemeinschaft am aufrichtigen Miteinander mit anderen orientiert ist und das „Selbst oder das Subjekt […] Einheit [ist]“9, versteht Tönnies Gesellschaft als Bereich einer streng funktionalisierten Zweck-Mittel-Relation. Er schreibt: [H]ier ist ein jeder für sich allein, und im Zustande der Spannung gegen alle übrigen. Die Gebiete ihrer Tätigkeit und ihrer Macht sind mit Schärfe gegeneinander abgegrenzt, […]. Solche negative Haltung ist das normale und immer zugrunde liegende Verhältnis dieser MachtSubjekte gegeneinander, und bezeichnet die Gesellschaft im Ruhezustand.10
Noch in der späteren von der Theaterwissenschaft bis in die 1990er Jahre affirmativ rezipierten Ritualtheorie lässt sich diese Vorstellung einer wahren Gemeinschaft ausmachen, etwa in Victor Turners Begriff der communitas wie er sie in Vom Ritual zum Theater entwirft.11 Und noch im postdramatischen Theater der späten 1980er und 1990er Jahre findet sich – zumindest implizit – der negative Massediskurs wieder, etwa in dem vielrezipierten Text Elfriede Jelineks Wolken.Heim (1988), in dem der Kollektivsingular „Wir“ als Selbstpräsentation nationaler Identitätssuche die Nivellierung aller Individualität anzeigt und dieses „Wir“ zur Verantwortung gezogen wird: Die Pluralität der Gesellschaft hat, wie Jelinek anhand der Verbindungslinie von Texten Kleists, Hölderlins, Hegels, Fichtes, Heideggers bis hin zu jenen der RAF zeigt, im politischen Diskurs der Moderne keinen Platz und ist, analog zu Horkheimers und Adornos Impetus, ein (linear aufzeigbarer) Herrschaftsdiskurs. Interessanterweise hat Einar Schleef mit dem immer wieder auch sehr umstrittenen Einsatz von Menschenmengen auf der Bühne und gerade anhand seiner Realisierung des Sportstücks (1998) von Elfriede Jelinek, eher eine ambivalente, eine 7
Gamper 2007: 18.
8
Siehe Rousseau 1978: 333-474.
9
Tönnies 1963: 171.
10 Tönnies 1963: 40. 11 Turner 1989. Zur diskursiven Kontinuität dieses Gemeinschaftsgedankens in Verbindung mit dem Theater siehe Drewes 2010: 119-194.
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Antinomien aushaltende Interpretation dieses „Wir“ angeboten, indem er der Masse das „multifunktionale“12 Prinzip des Chorischen abgewann. Dabei ist zu erwähnen, dass die Manifestationen des Chors und seine theoretischen Erörterungen von jeher weitaus positiver konnotiert waren als jene der Masse, auch wenn, wie Hajo Kurzenberger erörtert, seine Bedeutung durchaus im weiten Spannungsfeld zwischen faschistischen und demokratischen Vorstellungen und Repräsentationsweisen angesiedelt ist.13 Der Diskurs der Masse nun hat mit dem Diskurs des Chors nur wenig gemein. Die negativen Kraftlinien von Masse-Vorstellungen sind, wie oben erwähnt, zu gravierend, zu groß ist das Misstrauen in die positive Wirkkraft von Massen. Der Blick auf den Massediskurs des frühen 20. Jahrhunderts führt jedoch vor Augen, wie antinomisch dieser tendenziell negative Massediskurs zu jener Zeit letztlich ausfällt. Dies hat auch mit dem komplexen Gefüge zu tun, in die die Massen nun gestellt sind: Die technischen Errungenschaften durch Entstehung und Ausbildung von Massenmedien und eine damit verbundenen Massenkommunikation werden dabei nämlich ebenso reflektiert, wie, vor allem in der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg, das Gewahrwerden von Massenvernichtungswaffen, die ein Massensterben nach sich zogen. Alles in allem zeigt sich, dass Gewissheiten darüber, was den Menschen in der Gemeinschaft ausmacht, was und wo Gemeinschaft im Tönniesschen Sinne überhaupt ermöglicht werden kann – und zwar eben genau in einer Massengesellschaft – brüchig geworden sind und gerade keine Klarheit vermitteln, wie die Diagnose eines linearen Herrschaftsdiskurses der Moderne vermuten lässt (gerade weil er als Reaktion auf die nationalsozialistische Katastrophe so vehement ausfiel). Diese Fragilität nun deutet sich an in den widersprüchlichen Denk- und Argumentationsmustern des philosophisch-ästhetischen Diskurses: Denn während geschichtsphilosophisch-teleologische Deutungsmuster nach wie vor bindend sind, werden sie zugleich von der Wahrnehmung von Kontingenz überlagert. Insbesondere Großstädte sind zivilisatorische und architektonische Manifestationen dieses Prozesses, dessen möglicher Endpunkt ambivalent reflektiert und mit paradoxen Erklärungsmustern gedeutet wird. So zeichnet Georg Simmel in „Die Großstädte und das Geistesleben“ aus dem Jahr 1903 zunächst ein negatives Bild der Großstadt, dem Sitz der Massen.14 Er grenzt sie vom ländlich-überschaubaren Leben ab, das es viel eher ermögliche – man vernimmt nicht nur das Echo von Tönnies, sondern auch jenes von Rousseau –, Beziehungen einzugehen. Im Gegensatz zum Leben auf dem Land, führe das Leben in der Stadt durch seine feinnervige Gestimmtheit zu Blasiertheit, zu einer Abstumpfung des Einzelnen, zu gegenseiti12 Kurzenberger 2009: 40. 13 Siehe Kurzenberger 2009: 19. 14 Siehe Simmel 2008: 905-916.
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ger Distanznahme.15 Und schließlich begegnet man auch hier – wie später bei Horkheimer/Adorno und Barthes – dem Topos vom Sitz der Geldwirtschaft in der Großstadt, dem Ort der Massengesellschaft schlechthin. Und auch bei Simmel ist bereits davon die Rede, dass die kapitalistischen Strukturen überhaupt erst eine gewisse Objektivierung, Versachlichung und eine Abstraktheit befördert, wenn nicht gar verursacht hätten. Bei der weiteren Lektüre zeigt sich aber, dass die Abgrenzungen, die hier von Simmel gezogen werden, bei weitem nicht so eindeutig verlaufen, wie zunächst vermutet. Die Großstadt ermöglicht nämlich auch durch die Distanz der Menschen untereinander, durch die Anonymität, Unterschiede zu gewahren und auszubilden.16 Ebenso wie der Fluss des Geldes in seiner Konzentration auf den Tauschwert alle moralischen, ethischen und politischen Unterschiede nivelliert, vereinheitlicht zunächst auch die Masse alle individuellen Differenzen. Doch Simmel, der der allenthalben diagnostizierten Verdinglichung kritisch gegenübersteht und den Modernisierungsprozess auch als „Tragödie der Kultur“17 begreift, gewinnt der Großstadt und mithin den damit verbundenen Erscheinungen wie „Maße“ und „Mischungen“18 utopische Impulse ab. Simmel schreibt: „Sie, die Großstadt, gewährt nämlich dem Individuum eine Art und ein Maß persönlicher Freiheit, zu denen es in anderen Verhältnissen gar keine Analogie gibt.“19 Masse produziert Anonymität und ermöglicht, gerade durch die Anschaulichkeit von Fremdheit, Unverwechselbarkeit und Individualität. Während bei Simmel nun die Dominanz des Kapitalistischen noch tendenziell pejorativ besetzt ist, erhält bei Walter Benjamin im Umfeld der kultur- und zivilisationskritischen Einschätzung die Verbindung von Masse und Reproduktion – als kapitalistischer Modus begriffen – eine Wendung ins Positive. Das, was erst ab den 1990ern und vor allem innerhalb der Medienwissenschaft als common sense formuliert wird, nämlich, dass ästhetische Erfahrung und Zerstreuung im Umfeld einer Massenkultur durchaus zusammengedacht werden können,20 hat Benjamin bereits 1936 in seinem berühmten „Kunstwerk“-Aufsatz konstatiert.21 Auch wertet Benjamin den Film und dessen Möglichkeit zur Manipulation des Zuschauers nicht rundheraus ab, auch wenn er die damit einhergehenden Gefahren durchaus in Rechnung stellt. Vielmehr kritisiert Benjamin, die – bis heute – anhaltende einseitige Kritik am Zeitvertreib der Massen. Der Film ermöglicht, gerade durch die Reproduktion, differenzierte Wahrnehmungen und ist zugleich ein Ort ästhetischer Erfahrung. Be15 Siehe Simmel 2008: 908. 16 Siehe Simmel 2008: 914. 17 Habermas 2008: 25. Hervorhebung im Original. 18 Simmel 2008: 910. 19 Simmel 2008: 910. 20 Exemplarisch: Kappelhoff 2004. 21 Benjamin 1977.
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zogen auf die Erfahrung von Authentizität heißt dies, dass der Reproduktion nicht länger, wie im bürgerlichen Zeitalter, mit Ressentiment begegnet werden muss, sondern, dass sie überhaupt die Möglichkeit zur Verbreitung künstlerischer Ideen und einer Ausdifferenzierung ästhetischer Stilvarianten birgt.22 Diese positive Wendung des Massediskurses, die bei Benjamin nicht länger das Andere der Gemeinschaft markiert, wird zuvor schon von Siegfried Kracauer ins Auge gefasst, der, anders als Simmel und Benjamin, mehr noch das Ästhetische und die Wirkung des Ästhetischen en détail erörtert. Die Analogie von kapitalistischen Produktionsweisen und Präsentationen serieller Bewegungsabläufe, wie sie der Philosoph und Filmkritiker in der amerikanischen Zerstreuungskultur, etwa in den Tänzen der Tillergirls oder in Sportstadien entdeckt, ist auch bei Kracauer ein zentraler Topos. Auch bei ihm ist er hervorgerufen durch den (vermeintlich) historisch linear ablaufenden Prozess der Objektivierung, der nun ein Höchstmaß an Abstraktion und Sachlichkeit erreicht hat. Der Blick aufs Ästhetische führt Kracauer in dem Essay „Das Ornament der Masse“23 (1927) schließlich zu der Bemerkung: „Träger der Ornamente ist die Masse. Nicht das Volk, denn wann immer es Figuren bildet, hängen diese nicht in der Luft, sondern wachsen aus der Gemeinschaft hervor.“24 Auch bei Kracauer, der hier die Masse zur negativen Kehrseite echter Gemeinschaft stilisiert, ist das Volk und nicht die Masse der Ort der Sittlichkeit. Gleichwohl ermöglicht die Verbindung von Ästhetischem und Ökonomischem Kracauer – im Sinne der oben genannten Analogie – eine Diagnose seiner Gegenwart und letztlich eine Konzeption des Ästhetischen, die sich der Sogwirkung geschichtsphilosophischer Deutungsmuster zu entziehen vermag. Kracauer plädiert dafür, jegliche Form eines naturnotwendigen Ablaufs von Geschichte hinter sich zu lassen, den Prozess der Entmythologisierung, wie er ihn nennt, zu Ende zu bringen: Die Vernunft muss erst noch zu sich selber kommen.25 Hier ist Kracauer trotz aller geschichtsphilosophischer Vorbehalte noch ganz geschichtsphilosophisch orientierter Aufklärer. Doch ebenso wie bei Simmel die Masse in der Großstadt doppeldeutig codiert ist, ist sie auch bei Kracauer eine ambivalente Größe. Die Masse ist zwar Ausdruck des umfassenden Objektivierungsprozesses, sie ist aber im Ästhetischen auch die der Gegenwart angemessene Ausdrucksform. Kracauer wendet sich damit explizit gegen ein traditionell bürgerliches Kunstverständnis. So heißt es bei ihm: Die geistig Gutsituierten, die ohne es wahr haben zu wollen, der Anhang des herrschenden Wirtschaftssystems sind, haben das Massenornament noch nicht einmal als Zeichen dieses Systems gesichtet. Sie verleugnen die Erscheinung, um sich weiter an Kunstveranstaltungen 22 Siehe hierzu Ullrich 2009. 23 Kracauer 1977: 51-63. 24 Kracauer 1977: 52. Hervorhebung im Original. 25 Siehe Kracauer 1977: 55f.
104 | M IRIAM DREW ES zu erbauen, die unberührt geblieben sind von der im Stadionmuster gegenwärtigen Realität. Die Masse, bei der es sich spontan durchgesetzt hat, ist seinen Verächtern unter den Gebildeten insofern überlegen, als sie im Rohen die Fakten unverschleiert anerkennt.26
Kracauer leugnet nicht das ideologisierende Potential, das dem Massenornament innewohnt. Gleichwohl erweist es sich als Möglichkeit, gerade weil es ästhetische „Leerformel “27 ist, metaphysisch aufgeladene Bedeutungszuweisungen, etwa über die erhabene Bedeutung von Kunst und über die Einheit des Subjekts, hinter sich zu lassen. Das Ornament der Masse markiert dabei gleichsam ein dynamisches Moment im historischen Ablauf – wie gesagt, hier ist Kracauer noch geschichtsphilosophisch orientiert. So schreibt er: „Der Prozeß führt durch das Ornament der Masse mittenhindurch, nicht von ihm aus zurück. Er kann nur vorangehen, wenn das Denken die Natur einschränkt und den Menschen so herstellt, wie er aus der Vernunft ist.“28 Diese auch im Ästhetischen anzutreffende Ambiguität der Masse, die bei Benjamin und Kracauer zugleich auch eine mehr oder weniger explizite Affirmation des Reproduktionsgedankens enthält, lässt sich in der ästhetischen Praxis eindrücklich anhand von Walther Ruttmanns Film Berlin – die Sinfonie der Großstadt (D 1927) veranschaulichen. Hier kombiniert der Regisseur Bilder der industriellmaschinellen Massenproduktion mit Bildern von sich bewegenden Menschenmassen in der Großstadt, um im fünften Akt die Unterhaltungskultur – und zwar die des Theaters – als eben eine solche serielle Produktion von Kunst zu präsentieren. Ruttmann ist bildgewordener Kracauer, bzw. Kracauer ist schriftgewordener Ruttmann, indem er das Ornament der Masse nicht nur auf sämtliche gesellschaftliche Bereiche ausdehnt und auch hier wieder die Analogie von kapitalistischer und ästhetischer Produktion bedient. Auch Ruttmann geht weiter als es der negative Massediskurs vorsieht: Der Film ist nicht nur authentisch-dokumentarische Realitätswiedergabe von Massenbewegungen in einer Großstadt der 1920er Jahre. Vielmehr handelt es sich um einen philosophischen Filmessay, der den Gedanken der Massenkultur und den damit verbundenen Topos der Reproduktion durchaus affirmativ aufnimmt, indem er ihn im Medium der Reproduktion schlechthin zur Anschauung bringt. Die serielle Darstellung von (Theater-)Kunst verweist hier auf Kracauers Absage an einen bürgerlichen Kunstbegriff und erlaubt es, den Erbauungsgedanken, oder die Vorstellung, dass mit Kunst a priori immer die Erfahrung des Erhabenen oder
26 Kracauer 1977: 61. 27 Kracauer 1977: 61. Hervorhebung im Original. 28 Kracauer 1977: 63.
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der Ideologiekritik verbunden sein müsse – wie das zeitgleich die Avantgarde (bis heute) tut – in Frage zu stellen.29 Über das Ästhetische hinaus werden damit am Ende die beiden am Anfang genannten Verbindungslinien sichtbar: Der Massediskurs fungiert hier nicht als das Andere der Gemeinschaft. Seine Ambivalenz weist vielmehr in Richtung einer Distanzierung zu ehemals eindeutig linear kulturkritischen und dichotomen Topoi. Diese Fragilität hat naturgemäß zur Folge, dass mit dem Gemeinschafts- und Massediskurs sämtliche positiven wie negativen Implikationen in Verbindung gebracht werden können. So hat Hans-Ulrich Gumbrecht darauf hingewiesen, dass aufgrund der Offenheit, die nun den Begriff der Kollektivität auszeichne, es überhaupt erst möglich geworden sei, divergierende Konzepte zu integrieren.30 Der Begriff der Kollektivität wird zum „Experimentierfeld“ 31. Dies zeige sich etwa, Gumbrechts Beispiele, in Hitlers naturalisierter Verbindung von Volk und Staat einerseits und anhand von Carl Schmitts eindeutiger Trennung von Staat und Volk andererseits.32 Mit dem poststrukturalistischen Diskurs verbindet der Massediskurs schließlich die Affirmation einer Auflösung bestehender Dichotomien. Ebenso wie das im (massekritischen) poststrukturalistischen Diskurs aufgehende Subjekt die Möglichkeit ideologiekritischen Einspruchs eröffnet, so ermöglicht der Massediskurs des frühen 20. Jahrhunderts die Vorstellung einer Ausbildung von Unverwechselbarkeit als Voraussetzung von Einspruch überhaupt. Beide Diskurse richten sich gegen Identität und Uniformität und beide wollen, auch wenn man in der Regel das Gegenteil behauptet, das Individuum vor den existentiellen Bedrohungen, die das Leben bereithält, in Schutz nehmen.
29 In dem Buch Kino-Debatte erläutert Anton Kaes anhand der Edition exemplarischer Texte und im Vorwort die widersprüchlichen Haltungen gegenüber dem Massenmedium Film zwischen 1900 und 1929. Verfechter eines bürgerlichen Kunstbegriffs sahen im neuen Massenmedium einen Angriff auf die Kunst, den einzelne Vertreter der antibürgerlichen Avantgarde, paradoxerweise, nicht minder hoch einschätzten (siehe Kaes 1978: 4-17). 30 Siehe Gumbrecht 2001: 317-327. 31 Gumbrecht 2001: 321. 32 Siehe Gumbrecht 2001: 321.
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Antikenräume, Gegenwartsräume, hybride Räume Das vergesellschaftete Subjekt und das Totaltheater J ULIA S TENZEL
Das antike Theater wird bis heute als Urszene des abendländischen Theaters beschworen, wenn es darum geht, den ursprünglichen Fest- und Gemeinschaftscharakter des Theatralen zu betonen.1 Konzepte speziell des Attischen Theaters als Fest-Raum der Polis bestimmten die Debatte bereits im frühen 19. Jahrhundert; für die Festspiel-Konzepte Wagners spielen sie bekanntlich eine entscheidende Rolle. Im 20. Jahrhundert bricht diese Geschichte einer Reformulierung und Funktionalisierung nicht ab: Georg Fuchs etwa nennt das Theater der antiken Polis in einem Atemzug mit Formen mittelalterlicher Theatralität als ursprüngliches, volksverbindendes Gemeinschaftstheater. Schon Fuchs bezeichnet die Einräumigkeit als conditio sine qua non auch eines Theaters der Zukunft. Und noch in den Entwürfen von Kugel-, Rund- und Totaltheatern der späten 1910er und der 1920er Jahre, die vorderhand durch Gegenwartszentrierung und Technikbegeisterung gekennzeichnet sind, fungiert das antike Theater als Gegenkonzept zu überkommenen Bühnenformen mit ihrer Trennung von Schau- und Spielraum: Die Suche nach dem überhistorischen, anthropologisch gedachten Ursprung des Theatralen beginnt beim historischen Ursprung des eigenen, des europäischen Theaters der Gegenwart. Paradigmatisch für eine anthropologische Relektüre der Bühnengeschichte sind Walter Gropius’ Ideen zu einem Totaltheater. Seinen Entwurf, der auf einen Auftrag von Erwin Piscator zurückgeht, hat der Bauhaus-Direktor als „sachliche Maschine“ beschrieben – eine Maschine, in der die im Sinne einer organischen Stufenfolge systematisierten historischen Theaterformen im doppelten Sinne aufgehoben seien.2
1
Vgl. dazu grundlegend Girshausen 1999.
2
Gropius 1974: 91.
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Der Versuch, kulturhistorische Entwicklung mit anthropologischen Konstanten zusammen zu denken, ist ein entscheidendes Motiv auch philosophischer Konzepte der Zwischenkriegszeit, und seine Implikationen waren folgenreich für politisierte und politische Ästhetiken. Meine Überlegungen gehen von zwei Denkfiguren aus, deren Problematik Helmuth Plessners Schrift Grenzen der Gemeinschaft verhandelt. Beide orientieren sich an der Frage nach der Konstitution des vergesellschafteten Subjekts, mithin nach dem Verhältnis von Einzelnem und Gruppe. Die erste Figur perspektiviert die Entstehung von Kultur historisch, wobei sie Geschichte und Biologie verkoppelt (und sich das Problem der Naturalisierung des Historischen einhandelt). Die zweite thematisiert das Verhältnis von Gemeinschaft und Gesellschaft, und indem sie soziale Phänomene anthropologisch liest, verquickt sie Norm und Empirie. Beide Figuren sind wesentliche Momente im philosophischen und politischen Diskurs der 1920er Jahre; und sie spielen auch eine entscheidende Rolle für Gropius’ Entwurf eines ‚Theaters der Zukunft‘. Der Begriff des vergesellschafteten Subjekts macht einen Kerngedanken von Plessners Anthropologie, den der exzentrischen Positionalität, im Hinblick auf Sozialisationsprozesse plastisch:3 Im Kontrast zu Modellen, die die Vergesellschaftung als Beschneidung und Modifikation eines autonomen Subjekts oder aber die moderne Gesellschaft als Schwundstufe einer als ursprünglich und organisch gedachten Gemeinschaft figurieren, ist im Konzept der unbedingten Vergesellschaftung des modernen Subjekts die soziale Rolle nicht Hemmnis, sondern im Gegenteil Voraussetzung der Subjekt-Konstitution. Das Subjekt generiert und erhält sich nicht trotz, sondern wegen seiner Rollen-Identitäten: Exzentrische Positionalität, die das Autonome des Menschen durch die Heteronomie (die Natur) zu verstehen sucht, begreift Entfremdung als konstitutiv für die menschliche Lebensführung; nur durch Indirektheit, im Umweg über die Entfremdung stabilisiert das menschliche Lebewesen seine konstitutive Gleichgewichtslosigkeit.4 Helmuth Plessner galt seinen Zeitgenossen als Denker gemäßigter Bürgerlichkeit und als Apologet des gesellschaftlichen Status quo. Gropius hingegen bekennt sich spätestens mit der Veröffentlichung seines Essays zum Neuen Bauen im Deutschen Revolutions-Almanach mehr oder weniger explizit zu sozialistischen Gesellschaftsutopien; seine Zusammenarbeit mit Erwin Piscator im Kontext des Totaltheater-Projekts lässt ihn in die Nähe sozialistischer Theaterkonzepte rücken. Nichtsdestotrotz scheinen das Totaltheater, seine architektonische Form sowie die spezifische Theatralität, die es generieren soll, und Plessners anthropologische Denkfigur 3
Den Begriff des vergesellschafteten Subjekts prägte in diesem Sinne zuerst Geulen 1989; anschlussfähig wäre er aber auch an das Konzept des Habitus und der Habituation nach Pierre Bourdieu (Bourdieu 1982: 1997).
4
Siehe Fischer 2000: 285.
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der exzentrischen Positionalität aufeinander abbildbar. In einer heuristischen Engführung mit Plessners Anthropologie öffnen sich so neue Perspektiven auf Gropius’ Thesen zum Totaltheater, die hier nur in aller Kürze angedeutet werden können.
G ESCHICHTE UND Z EITLOSIGKEIT Die jüngere Forschung zur intellektuellen Landschaft der Zwischenkriegszeit hat immer wieder betont, dass die Zuordnung kultureller und politischer Protagonisten zu den politischen Lagern nur scheinbar eindeutig möglich ist.5 Und als Sammelbecken verschiedenster politischer und künstlerischer Strömungen entsprach das Bauhaus der Tendenz der Weimarer Republik zu intellektuellem Synkretismus; es versammelte „Theosophen, Anthroposophen, Katholizisten, Spiritisten, Wanderapostel, sektiererische Propheten, Anhänger der Mazdaznanlehre, Sozialisten, Kommunisten“6. Tut Schlemmer resümiert retrospektiv: „Was sich auch ereignete in Kultur und politischem Geschehen, es spiegelte sich bei uns.“7 Frühe Formulierungen Gropius’ von „verschworenen Gemeinschaften“8 schöpferischer Subjekte verbergen ihre lebensreformerischen und freimaurerischen Quellen nicht; in der Idee einer Bauloge schließlich, die sich in der Institution des Bauhaus realisierte, wird die Analogie zu vormodernen Formen ästhetischer Produktivität explizit:9 Wie die Baumeister der gotischen Dome in den Bauhütten des Mittelalters müsse der Bauhaus-Meister die geistig gleichgesinnten Werkleute wieder um sich sammeln […] und so in neuen Lebensund Arbeitsgemeinschaften aller Künstler untereinander den Freiheitsdom der Zukunft vorbereiten, nicht behindert, sondern getragen von der Gesamtheit des Volkes,10
so Gropius 1919 im Deutschen Revolutions-Almanach. An die Stelle der „verschworenen Gemeinschaften“ tritt nun die Forderung nach einer Bewegung mit gesamtgesellschaftlichem Anspruch. Das Manifest vollzieht konzeptuell wie rhetorisch die Negation autonomieästhetischer Konzepte von Kunst und Künstlertum; es
5
Vgl. Gangl/Raulet 2007. Zur Ambivalenz von Piscators Theaterpolitik vgl. Röber 2001:
6
Schinköth 2006: 1. Vgl. Roques 2007.
7
Schlemmer 1985: 226.
8
Walter Gropius: „Das Ziel der Bauloge“ (Manuskript im Gropius-Nachlass, zit. nach
9
Siehe Nerdinger 2003: 272f.
263-277.
Nerdinger 2003: 273). 10 Gropius 1919a: 136. Hervorhebung im Original.
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knüpft an neuromantische Ideen von einer Aufhebung der historisch kontingenten Grenze zwischen Kunst und Handwerk an. Entsprechend kommt am Bauhaus dem Lehrfach Kunstgeschichte die Aufgabe zu, zur „lebendigen Erkenntnis historischer Arbeitsweisen und Techniken“11 zu führen. Gerade die Forderung nach einem neuen Bauen geht mit der Besinnung auf das vorgeblich mittelalterliche Konzept von im Handwerk verwurzelter Kunst Hand in Hand. Respekt vor der Tradition impliziert dabei freilich nicht die Reproduktion architektonischer Formen der Vormoderne, etwa im Sinne eines Neo-Historismus. In der Auseinandersetzung mit der Vergangenheit geht es um den Prozess mehr als um das Produkt, um historische Formen der Produktion von Architektur mehr als um konkrete Bauformen. Vormoderne Konzepte von Kunst und Künstlertum geben eine Folie ab, vor deren Hintergrund der moderne Handwerker-Künstler sich entwickeln soll. Gropius nennt die auf ein konkret zu entwickelndes Produkt hin orientierte Forschungsarbeit seit 1924 ‚Wesenssuche‘, und auch Kunst- und Architekturgeschichte stehen in ihrem Dienst. In Hinwendung auf eine Zukunft des Bauens präparieren ihre Studien quasi-anatomisch die überzeitlich gültigen Elemente historischer Bauformen heraus.12 In Anlehnung an den im Bauhaus beliebten Begriff der Zeitlosigkeit hat Winfried Nerdinger für diese Form der Hinwendung zu geschichtlichen Phänomenen die Formel von der „zeitlosen Tradition“13 geprägt: In einem Umgehen mit Historizität, wie es Gropius’ ,Wesenssuche‘ erfordert, wird das Historische zum Akzidentiellen. In der Figur der zeitlosen Tradition ist Geschichte aufgehoben, und zwar im doppelten Wortsinn als ein Prozess, der ins Aufgehobensein der Vergangenheit in der Gegenwart und zugleich als einer, der in ihre Auflösung in ahistorische, rein mathematische Formgesetze mündet.14
11 Gropius 1919b: 4. 12 Zu Gropius’ ambivalentem Verhältnis zur Architekturgeschichte vgl. Nerdinger 2005. 13 Nerdinger 2005: 8. 14 In den 1920er Jahren besetzte in der Formel von der Einheit von Kunst und Handwerk immer entschiedener die Technik als ‚Handwerk der Moderne‘ dessen Stelle. Auch das Handwerk wird zur Forschungsarbeit, die nurmehr für den Bereich der Produktentwicklung verantwortlich ist. Eine ‚Neue Sachlichkeit des Bauens‘ löst die Bauhütte ab. Umso bezeichnender ist die Anekdote, dass hinter Gropius’ Schreibtisch bis zur Auflösung des Bauhaus 1933 ein Aufriss des Ulmer Münsters gehangen habe.
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ANTHROPOLOGIE
UND
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H ISTORIZITÄT
Wie die Architektur habe auch das Theater in der Gegenwart im Unterschied zu Hochkulturen der Vergangenheit „die tiefsten Beziehungen zur menschlichen Empfindungswelt“ verloren, es bedürfe der „Reinigung und Erneuerung“, der Restitution seines Wesens, freilich mit dem Wissen und den technischen Mitteln der Neuzeit, so begründet Gropius das Projekt des Totaltheaters.15 In Piscators Auftrag an Gropius zu Konzeption und Bau eines Theaters für seine Inszenierungen sind einige entscheidende Aspekte des späteren Totaltheater-Entwurfs bereits formuliert: Mir schwebte so etwas wie eine Theatermaschine vor, technisch durchkonstruiert wie eine Schreibmaschine, eine Apparatur, die mit den modernsten Mitteln der Beleuchtung, der Verschiebungen und Drehungen […], mit einer Unzahl von Filmkabinen, mit Lautsprecheranlage usw. ausgerüstet war.16
Gropius konzipierte eine solche Theatermaschine als Einraumtheater, das zentrale Rundbühne, griechische Proszeniumsbühne und Tiefenbühne in sich vereinen sollte. Zusätzlich war ein das Auditorium umschließender Spielring vorgesehen. Die verschiedenen Settings des Theaterraums sollten während der Aufführung ineinander überführbar sein. Der Entwurf wurde als Erfindung ernst genommen und seit 1928 als Deutsches Reichspatent Nr. 470451, Klasse 37 f geführt. Wenngleich das Totaltheater nie gebaut wurde, hat Gropius dessen konzeptuelle Grundlagen an mehreren Stellen explizit gemacht: In dem programmatischen Essay Theaterbau (1934) zieht er mit dem sicheren Federstrich des Architekten eine historische Linie, die die Genese ‚des‘ Theaters mit der der menschlichen Gattung überblendet. Und diese Erzählung einer Ko-Evolution ist augenscheinlich an einem Konzept der Verschränkung von Umweltgebundenheit und Weltoffenheit orientiert, wie es Plessner nahezu zeitgleich als Spezifikum der menschlichen Spezies bestimmt hat.17 Der Gedanke der Aufhebung von Geschichte in der Gegenwart erlaubt es, einige Aspekte des Gropiusschen Totaltheater-Entwurfs genauer zu beleuchten: Gropius setzt am Phänomen des Raums an, das bedingt sei „durch endliche Abgrenzung im endlosen Freiraum, durch Bewegung mechanischer oder organischer Körper in diesem begrenzten Raum und durch die Schwingungen des Lichts und der Töne in ihm“18. Für die Schaffung des künstlerischen Raums diktiere diese Problemstellung den Arbeitsweg, der das Totaltheater als Raummaschine für den
15 Gropius 1967: 115. 16 Piscator 1929: 112f. 17 Vgl. grundlegend Plessner 1928. 18 Gropius 1967: 115.
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idealen Spielleiter zum Ziel habe. Zu erinnern ist an die wohl bekannteste Passage von Gropius’ Text: Ich sehe die Aufgabe des heutigen Theaterarchitekten darin, […] das große Licht- und Raumklavier zu schaffen, so unpersönlich und veränderbar, daß es ihn nirgends festlegt und allen Visionen seiner Vorstellungskraft fügsam bleibt; ein Bauwerk also, das schon vom Raum her den Geist umbildet und erfrischt.19
Die Charakterisierung des „große[n] Licht- und Raumklavier[s]“, so wird zu zeigen sein, nimmt sich aus wie eine positive Wendung dessen, was Helmuth Plessner als labiles Gleichgewicht menschlicher Kultur bezeichnet, ja wie ein daraus abgeleiteter Appell: Plessner versteht Kultur nicht als ein Phänomen, das entweder da oder nicht da ist, das sich entwickeln kann, sondern sie wird selbst zum Prozess des Ausbalancierens. Diese Formulierung einer anthropologischen Konstante begegnet bei Gropius als eine ästhetische Forderung, aus der sich letztlich organisch die Aufgabe für einen Theaterbau der Moderne ergebe. 20
T HEATRALE Z ELLTEILUNG „Der Kern des Theaterbaus ist die Bühne […] Von hier muß die Findung des heutigen Theaterraums ausgehen“21 – so beginnt Gropius seine Historie des Theaterbaus, in der er die Unterschiede der drei Grundformen des Theaters in einem quasievolutionären Zusammenhang präsentiert. Die erste und ursprünglichste sei die zentrale Rundbühne, „auf deren kreisrunder Mittelscheibe sich das Spiel rundplastisch nach allen Frontrichtungen hin gleichzeitig entwickelt, konzentrisch von den Massen der Zuschauer auf den trichterförmigen Wandungen umgeben“22. Als zweite klassische Bühnenform der Antike stellt er die griechische Proszeniumsbühne vor. Mit der Proszeniumswand, die die Arena halbiert, „verläßt das Schauspiel den freien Raum; denn jede räumliche Bewegung des Spiels […] tritt in Beziehung zu dieser ortsfesten Wand“. In der dritten und letzten Bühnengrundform sei der Bühnenraum „vom Beschauer weg nach rückwärts eingesogen, eingestülpt, zur [...] ‚Guckkastenbühne‘“.23
19 Gropius 1967: 116. 20 Interessanterweise stellt Plessner in einem Vortrag anlässlich der 25-Jahr-Feier des Deutschen Werkbunds 1932 vergleichbare Thesen vor (vgl. Plessner 2001). 21 Gropius 1967: 116. 22 Gropius 1967: 116. 23 Gropius 1967: 116.
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Die historische Luftlinie, die Gropius in das Totaltheater münden lässt, folgt der Geschichte des Theaterbaus freilich nur sehr ungefähr, überspringt vieles und stellt auch die historische Reihenfolge um. Nun war Gropius auch Architekturhistoriker, und im weiteren Verlauf des Textes erwähnt er historische Umsetzungen der verschiedenen Bühnenformen, die nicht auf der skizzierten Linie liegen, wie die mittelalterliche Simultanbühne, die Terenzbühne, die Shakespearebühne. Offenbar sind die Transformationen und Transpositionen argumentationsstrategische Setzungen. Gropius nimmt eine naturalisierende Relektüre der Geschichte des Theaterbaus vor – um dann sein Totaltheater als Ort der Aufhebung dieser Geschichte zu behaupten. Im Entwurf dieser großen Entwicklungslinie verschreibt sich der Text zugleich einer organologischen Metaphorik, die Analogien zu biologischen Wachstumsprozessen stiftet. Diese Metaphorik scheint mir entscheidend für das Verständnis des Gropiusschen Theaterkonzepts – und sie unterstreicht die Plausibilität des Konnex zur philosophischen Anthropologie und dann auch zum gesellschaftssoziologischen Diskurs. Gropius spricht von der Rundarena als ‚Kern‘ des Theaters wie vom Kern einer Zelle, der in der Herausbildung des Amphitheaters halbiert werde, von der Einstülpung des Guckkastens, der zu einer Zweiteilung des Theaters in Schauraum und Spielraum führe – entsprechende zellbiologische Prozesse waren seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert allgemein bekannt.24 Das Theater der Zukunft löst die Diachronie der Entwicklungsstufen auf, die Trias der Bühnenformen verschmilzt zu einer neuen Raumeinheit. So vollendet sich in Gropius’ utopischer Zukunfts-Bühne das Theater überhaupt, indem alle potentiellen Theaterformen in ihm koinzidieren: Es ist das Ergebnis einer ‚Wesenssuche‘ in Gropius’ Sinne. Umsetzbar ist das Theater der Zukunft jedoch nur unter Einsatz aller technischen Finessen der Gegenwart. An dieser Stelle tritt Gropius in Widerspruch zur organologischen Metaphorik, ist doch sein Theater kein Organismus, sondern eine „Raum-Maschine“. Der Theaterarchitekt, der sich der historischen Entwicklung des Theaters bewusst und in der Lage ist, im Sinne einer zeitlosen Tradition vom Historisch-Akzidentiellen zu abstrahieren, kann dieser Historie gegenüber eine Position der Distanz einnehmen und ein Theater der Zukunft realisieren, das auf die bedingte Weltoffenheit des Menschen mit unbedingter Variabilität antwortet. Die topologische Offenheit des Bühnenspiels im Arenatheater entwickelt sich über die größtmögliche Geschlossenheit im Guckkastentheater hin zur funktionalen Offenheit im Theater der Zukunft. Gropius’ Argumentation lässt eine Analogie zur Historischen Anthropologie erkennen, wie sie Helmuth Plessner in Die Stufen des Organischen und der Mensch entworfen hat. In Anlehnung an den Biologen Jakob von Uexküll bestimmt Plessner 24 Der zytologische Grundsatz „omnis cellula e cellula“ wurde von Rudolf Virchow 1855 belegt (vgl. Virchow 1858) und in der Folge in zahlreichen populärwissenschaftlichen Schriften verbreitet.
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die natürliche Künstlichkeit des Menschen aus seiner exzentrischen Positionalität, die in der Entwicklung der Natur auf die Offenheit des pflanzlichen und die Zentrik des tierischen Organismus folge. Argumentationslogisch entspricht die künstliche Natur des Menschen Gropius’ „zeitloser Tradition“. Gropius’ Auseinandersetzung mit der Geschichte des theatralen Raums ist grundiert durch die Vorstellung von Theater als einer anthropologischen ‚Urszene‘ sozialer Interaktion, wie sie in der historischen ,Urszene‘ des Theaters, im einräumigen Arenatheater der Antike, verwirklicht gewesen sei. Damit ist nicht zuletzt auch die Frage nach der sozialen Rolle des Einzelnen und ihrer Verhandlung ‚im Raum des Theaters‘ verbunden. 25
G EMEINSCHAFTSSELIGKEIT UND SACHLICHE G ESELLSCHAFT Gropius erzählt die Geschichte des Theaterbaus als sukzessive Einengung und Reduktion des räumlichen Spiels zu einer Bildfläche. „Die räumliche Trennung der zwei Welten – Schauraum und Spielraum – [...] zwingt den Beschauer, den Weg zum Erlebnis über die Brücke des Intellekts zu nehmen.“26 Sie verhindere seine Immersion in das Geschehen, mit anderen Worten: seine Aktivierung lässt das Gemeinschafts- zu einem Gesellschaftstheater werden. Das Theater der Zukunft muss „volksverbindende[s] Gemeinschaftstheater“ mit den Mitteln der und für die Gegenwart sein; doch seine Urszene bleibt das antike Arenatheater als erstes Einraumtheater und zugleich funktionslogisch erstes Theater. Es ist bestimmt durch seine Konzentration auf den Mittelpunkt, der die Einzelnen zu einer Gemeinschaft bündelt und der charakterisiert ist durch Kampf, Kult oder Politik. In ihm wird der Schauspieler […] zum handelnden Exponenten einer konzentrisch angeordneten ‚Masse Mensch‘, mit der er eine Einheit bildet, unentrinnbar als ihr Gefangener wie der römische Gladiator oder als geistiger Sieger über die Masse als Priester, Volksredner oder Künstler.27
Gropius trennt implizit, aber strikt zwischen dem Ziel eines volksverbindenden Gemeinschaftstheaters, einem Theater der Massen als soziologischer Funktionsstelle (für die er übrigens staatliche Unterstützung fordert) und der räumlichen Umsetzung, der architektonischen Gestaltung des Theaterraums für dieses Theater, das die überzeitlichen Werte der drei Entwicklungsstufen des Theaters zu verschmelzen habe. Das Arenatheater wird also nicht zur Utopie für das Theater der Zukunft:
25 Siehe Fischer 2000: 276f. 26 Gropius 1967: 117. 27 Gropius 1967: 117.
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Während das Arenatheater ungegliedert, das Guckkastentheater aber zerschnitten ist, ist das Theater der Zukunft gekennzeichnet durch eine ‚Gliederung ohne Trennung‘. Dem korrespondiert das Ziel des Totaltheaters: Die „Überwältigung des Zuschauers“. Es mobilisiert alle räumlichen Mittel, „um das Publikum in seiner intellektbetonten Apathie aufzurütteln, zu bestürmen, zu überrumpeln und zum Miterleben des Spiels zu nötigen“28. Die Aktivierung des Zuschauers macht ihn selbst zum Bestandteil der Aufführung: Im theatralen Raumerlebnis ist die Identität des Einzelnen in einer Gemeinschaftsidentität aufgehoben, aber, das sei hier vorweg genommen, sie geht nicht in ihr auf. Gropius verwendet den Begriff ‚Gemeinschaft‘ in einem intuitiv-alltagssprachlichen Sinne – ‚Gesellschaft‘ wird nicht explizit als Gegenbegriff gesetzt, transportiert aber implizit ein Degenerationsmoment. Doch gerade mit der exponiert vorwissenschaftlichen Verwendung von ‚Gemeinschaft‘ schaltet er sich in eine zeitgenössische Debatte ein, die sich um eine Schrift des Sozialanthropologen Ferdinand Tönnies zentriert. Tönnies’ Buch Gemeinschaft und Gesellschaft, schon 1887 erschienen, war zunächst ohne große Resonanz geblieben. Entscheidend für die verspätete Debatte ist die antithetische Gegenüberstellung der beiden Titelbegriffe, die demokratiekritischen Diskursen der 1920er Jahre zupass kam. Plessner nimmt die Gemeinschaftsseligkeit seiner Zeit 1924 in seiner gesellschaftstheoretischen Streitschrift Grenzen der Gemeinschaft – Eine Kritik des sozialen Radikalismus auf: Gemeinschaft und Gesellschaft, durch Tönnies zu einer bekannten Antithese geformt, ist als Alternative seit Jahren Schnittpunkt öffentlicher Diskussionen, […]. [Das] Verhältnis von Politik und Moral […], das Revolutionsproblem und die Idee der sozialen Erneuerung, sowie die von der Dekadenzphilosophie vollzogene Kontrastierung zwischen Kultur und Zivilisation haben ihren gemeinsamen Ort in dem Beziehungsproblem von Gemeinschaft und Gesellschaft.29
Plessner setzt sich also nicht mit Tönnies und dem wissenschaftlichen Diskurs auseinander, sondern mit der öffentlichen Debatte um den Gemeinschaftsbegriff. Der coup intellectuel seiner Schrift ist, dass er ‚Gemeinschaft‘ und ,Gesellschaft‘ als zwei Formen menschlichen Miteinander-Seins beschreibt, die unterschiedlich funktionieren und die einander konturieren und ergänzen, nicht aber ersetzen können. Wenn Plessner von den „Grenzen der Gemeinschaft“ spricht, so spricht er von den Problemen eines ideologisch überfrachteten Gemeinschaftsbegriffs, wie er für For-
28 Gropius 1967: 117. Vgl. dazu auch die Konzeption Piscators (Röber 2001: bes. 268-271). 29 Plessner 2002: 11.
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men des politischen Radikalismus kennzeichnend sei.30 Es sei nötig „bis an die positiven Grenzen der Gemeinschaft weiterzugehen, bis zu dem Aufweis jener Werte durchzustoßen, die nur eine gesellschaftliche Lebensordnung bringen kann, bis dahin, wo Gemeinschaft unerträglich und würdelos wird“31. Wollte man nun den Gemeinschaftsbegriff Plessners in dieser zugespitzten Form auf das Totaltheater applizieren, so schiene ein einfaches Entsprechungsverhältnis vorderhand recht plausibel: Wie Gesellschaft durch Kälte und Individualismus geprägt ist und die „kalte persona“32 als diplomatisch geschickt handelndes Subjekt erfordert, so ist das Gesellschaftstheater geprägt durch die Trennung zwischen Schauraum und Spielraum, die das Erlebnis Theater rational erkalten lässt. Im Gemeinschaftstheater hingegen garantiert die Einheit von Schau- und Spielraum ein Gemeinschaftserlebnis, das nicht von intellektueller Kälte gestört wird. Der Plessnerschen „Gemeinschaft des Blutes“ – der Familie, der Ehe, aber auch des Freundschaftsbundes – entspräche ein primordiales Arenatheater, seiner „Gemeinschaft der Sache“33 das Totaltheater. Und so ließe sich Gropius scheinbar ganz unproblematisch mit Plessner als gemeinschaftsseliger Radikaler identifizieren und kritisieren. Wie jedoch Plessner selbst Gemeinschaft und Gesellschaft nicht als einfaches Gegensatzpaar konzipiert, so ist auch die kommunikationspragmatische und perzeptionsstrategische Funktionsweise des Totaltheaters mehrdimensional. Das wird besonders dann offenbar, wenn man die „Licht- und Raummaschine“ in Aktion imaginiert. Der Zuschauer soll einerseits aktiviert werden, er soll sich selbst als Handlungsträger erleben, er soll zugleich aber auch überwältigt werden – zwei Zustände, die nicht ohne weiteres miteinander vereinbar sind. Und die Aufhebung der Trennung zwischen Schau- und Spielraum mündet ja gerade nicht in die Generierung eines ungegliederten Raumes für die amorphe ,Masse Mensch‘ und auch nicht in die Restitution eines vorzivilisatorischen Rundtheaters. Die ständige Veränderung des Settings innerhalb einer Aufführung macht dem Zuschauer sein Bewegt-Werden immer wieder neu bewusst; aufgrund seiner ständigen mechanischen Transposition, der ständigen Zergliederung und Neuorganisation des Theaterraums, muss er sich zum Spielgeschehen immer anders ausrichten, immer neu verhalten. Der Zuschauer wechselt ständig von der Beobachter- in die Erlebnis-Position. Ein Gemeinschafts30 Einen Überblick über den Diskurs der Zeit und Vorschläge zu einer kritischen Reformulierung liefert Eßbach u.a. 2002. Zum Verhältnis von Tönnies und Plessner vgl. Schneidereit 2010: 217-221. 31 Plessner 2002: 57. 32 Zum Konzept der ,kalten Persona‘ siehe Lethen 2002: 29-62. Kritisch zu Lethens Plessner-Lektüre vgl. etwa Eßbach 2002. Vgl. zur Wärme-/Kälte-Metaphorik im Gemeinschafts-Diskurs der 1920er Jahre auch Warstat 2005: 94-104. 33 Zu Blut und Sache als „Möglichkeiten der Gemeinschaft“ siehe Plessner 2002: 42-57.
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erlebnis als Aufgehen in der Masse wird anvisiert, dann immer wieder konterkariert, das Masse-Erleben zur Erfahrung von Distanz und Vereinzelung.34 Man könnte diesem Gedankengang noch ein Stück weiter folgen. Mit Plessner ließe sich dann sagen, dass die Notwendigkeit zu ständigem Umschalten und Neukalibrieren der Sinne das labile Gleichgewicht des Menschen in seiner (hier künstlich intensivierten) Umwelt erleb- und erfahrbar macht, ihn seine exzentrische Positionalität als konkrete Wahrnehmungsaufgabe erleben lässt: Nur auf dem offenen Hintergrund einer nicht mehr in vitalen Bezügen aufgehenden Welt, die den Menschen in unvorhersehbare Lagen bringt und mit der er stets neue und brüchige Kompromisse schließen muss, hält er sich in jenem labilen Gleichgewicht einer stets gefährdeten, selbst wieder schutzbedürftigen Kultur.35
Vor dem Hintergrund dieser Formulierung Plessners ließe sich zuspitzen: Im Totaltheater vollzieht der Zuschauer die anthropologische Aufgabe des Kulturationsprozesses im Medium des Theaters aktiv nach und mit. Wie Gemeinschaft und Gesellschaft bei Plessner sind auch Überwältigung und Aktivierung bei Gropius weder Identitäts- noch Oppositionsbegriffe; sie bilden vielmehr ein Komplement, das die natürliche Künstlichkeit des Menschen im Sinne einer ins Anthropologische gewendeten creatio continua immer wieder neu hervorbringt.
L ITERATUR Bourdieu, Pierre: Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1982. Bourdieu, Pierre: „Zur Genese der Begriffe Habitus und Feld“, in: ders.: Der Tote packt den Lebenden. Hamburg: VSA 1997. Canetti, Elias: Masse und Macht. Frankfurt am Main: Fischer 1980. Eßbach, Wolfgang et al. (Hg.): Plessners ‚Grenzen der Gemeinschaft‘. Eine Debatte. Frankfurt am Main: Suhrkamp 2002. Eßbach, Wolfgang: „Verabschieden oder retten? Helmut Lethens Lektüre von Helmuth Plessners ,Grenzen der Gemeinschaft‘“, in: ders. et al. (Hg.): Plessners ‚Grenzen der Gemeinschaft‘. Eine Debatte. Frankfurt am Main: Suhrkamp 2002, 63-79.
34 Hier wäre ein Exkurs zu Canettis Konzept von Masse und Macht anschließbar: Indem das Totaltheater ein Aufgehen des Einzelnen in der „Festmasse“ verhindert, macht es ihm seine primordiale „Berührungsfurcht“ bewusst, es wäre eine Art Meta-Massen-Theater: Eine Maschine zur Erforschung von Masse-Prozessen (Canetti 1980: 9). 35 Plessner 1976: 52.
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Fischer, Joachim: „Exzentrische Positionalität. Plessners Grundkategorie der philosophischen Anthropologie“, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 48, 2 (2002), 265-288. Gangl, Manfred /Raulet, Gérard (Hg.): Intellektuellendiskurse in der Weimarer Republik. Zur politischen Kultur einer Gemengelage. Frankfurt am Main: Lang 2 2007. Geulen, Dieter: Das vergesellschaftete Subjekt. Zur Grundlegung der Sozialisationstheorie [orig. 1977]. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1989. Girshausen, Theo: Ursprungszeiten des Theaters. Das Theater der Antike. Berlin: Vorwerk 8 1999. Gropius, Walter: „Baukunst im freien Volksstaat“, in: Drahn, Ernst/Friedegg, Ernst (Hg.): Deutscher Revolutions-Almanach für das Jahr 1919. Berlin/Hamburg: Hoffman & Campe 1919a, 134-136. Gropius, Walter: Bauhaus-Manifest (Flugblatt). Weimar 1919b, 4, in: www.dnk.de/ _uploads/media/186_1919_Bauhaus.pdf [13.04.11]. Gropius, Walter: „Theaterbau“, in: ders.: Apollo in der Demokratie. Mainz: Kupferberg 1967, 115-121. Gropius, Walter: „Die Aufgaben der Bühne im Bauhaus“, in: Schlemmer, Oskar et al. (Hg.): Die Bühne im Bauhaus. Mainz: Kupferberg 1974, 87-92. Lethen, Helmut: „Verhaltenslehren der Kälte“, in: Eßbach, Wolfgang et al. (Hg.): Plessners ‚Grenzen der Gemeinschaft‘. Eine Debatte. Frankfurt am Main: Suhrkamp 2002, 29-62. Nerdinger, Winfried: „Architekturutopie und Realität des Bauens“, in: Hardtwig, Wolfgang (Hg.): Utopie und politische Herrschaft im Europa der Zwischenkriegszeit. München: Oldenbourg 2003, 269-286. Nerdinger, Winfried: „Die Verdrängung der Geschichte. Walter Gropius als Architekturlehrer“, in: ders./Knopp, Norbert (Hg.): Festschrift für J.A. Schmoll gen. Eisenwerth. München 2005 (www.kunstlexikonsaar.de/fileadmin/ifak_kunst/ images/kunstwissenschaft/schmoll/36_nerdinger.pdf [13.04.11]). Piscator, Erwin: Das politische Theater. Berlin: Schultz 1929. Plessner, Helmuth: „Wiedergeburt der Form im technischen Zeitalter. Vortrag auf der 25-Jahr-Feier des Deutschen Werkbundes, 14.10.1932“, in: ders.: Politik, Anthropologie, Philosophie. Aufsätze und Vorträge. Hg. von Salvatore Giamusso und Hans-Ulrich Lessing. München: Fink 2001, 71-86. Plessner, Helmuth: Grenzen der Gemeinschaft. Eine Kritik des sozialen Radikalismus. Frankfurt: Suhrkamp 2002. Röber, Tatjana: Die neuen Methoden der Betrachtung. Subjektivitäts- und Wahrnehmungskonzepte in Kulturtheorie und ,sachlichem‘ Theater der 20er Jahre. St. Ingberg: Röhrig 2001.
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Roques, Christian: „Die umstrittene Romantik. Carl Schmitt, Karl Mannheim, Hans Freyer und die ,politische Romantik‘“, in: Gangl, Manfred/Raulet, Gérard (Hg.): Intellektuellendiskurse in der Weimarer Republik. Zur politischen Kultur einer Gemengelage. Frankfurt am Main: Lang 2007, 105-141. Schinköth, Thomas: „Musik und Bühne am Bauhaus“, in: Eisenhardt, Günther (Hg.): Musikstadt Dessau. Altenburg: Kamprad 2006, 191-214. Schlemmer, Tut: „...vom lebendigen Bauhaus und seiner Bühne“, in: Neumann, Eckhard (Hg.): Bauhaus und Bauhäusler. Erinnerungen und Bekenntnisse. Köln: Dumont 1985, 223-231. Schneidereit, Nele: Die Dialektik von Gesellschaft und Gemeinschaft. Grundbegriffe einer kritischen Sozialphilosophie. Berlin: Akademie 2010. Virchow, Rudolf: Die Cellularpathologie in ihrer Begründung und in ihrer Auswirkung auf die physiologische und pathologische Gewebelehre. Berlin: Hirschwald 1858. Warstat, Matthias: Theatrale Gemeinschaften. Zur Festkultur der Arbeiterbewgung 1918-33. Tübingen: Francke 2005.
Theater für den Kulturstaat! Gemeinschaft und nationale Identitätsbildung in der Kulturpolitik der Weimarer Republik BIANCA M ICHAELS
Als vom 6. Februar bis zum 11. August 1919 die Nationalversammlung im Deutschen Nationaltheater Weimar tagte,1 um die Reichsverfassung zu verabschieden, sollten durch die Wahl des Ortes ganz bewusst mit dem ‚Geist von Weimar‘ auch die Humanitätsideale der Weimarer Klassik für die junge Republik reklamiert werden. Die folgende Untersuchung basiert auf der Annahme, dass das Theater der Republik nicht nur den äußeren Rahmen der Nationalversammlung gesetzt hat, sondern dass sich während der Weimarer Republik für die gesamte deutsche Theaterlandschaft über die reine Symbolkraft des Ortes hinaus neue Strukturen entwickelt haben, welche in den institutionellen und strukturellen Bedingungen der deutschen Theaterinstitutionen zum Teil bis heute sichtbar sind. Der vorliegende Beitrag untersucht, auf welcher kultur- und gesellschaftspolitischen Basis insbesondere der Frühphase der Republik diese strukturelle Entwicklung stattfinden konnte. Besondere Beachtung findet in diesem Zusammenhang – nicht zuletzt auch vor dem Hintergrund aktueller kulturpolitischer Debatten –, wie der hohe finanzielle Aufwand, welcher mit der während der Weimarer Republik fortschreitenden Überführung von Hoftheatern und privatwirtschaftlichen Theaterbetrieben in städtische und staatlich getragene Theater verbunden war, legitimiert wurde bzw. auf welcher gesellschaftspolitischen Basis dieser trotz der durch die Kriegsniederlage extrem angespannten öffentlichen Haushalte durchgesetzt werden konnte. Nach einer Einführung in die institutionellen Rahmenbedingungen der Theater zu Beginn des 20.
1
Kurz zuvor, am 19.01.1919, dem Tag der Wahlen zur verfassunggebenden Versammlung, verkündete der Intendant Ernst Hardt die Umbenennung des ehemaligen Hoftheaters in ‚Deutsches Nationaltheater Weimar‘.
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Jahrhunderts wird zunächst die allgemeine Stoßrichtung der Kulturpolitik am Beispiel Preußens nachgezeichnet, um vor diesem Hintergrund anhand der kultur- und gesellschaftspolitischen Debatte um die Begriffe Kulturstaat und Gemeinschaft ein differenziertes Bild der Beweggründe für die fortschreitende Kommunalisierung zu erhalten.
S TAATLICHE NACH 1918
UND KOMMUNALE
T HEATERPOLITIK
Zu Beginn des 20. Jahrhunderts dominierten vornehmlich zwei Arten der Trägerschaft die deutsche Theaterlandschaft: zum einen die Hoftheater und zum anderen die so genannten ‚Stadttheater‘, die jedoch mit unserem heutigen Begriff von Stadttheater noch nicht sehr viel gemeinsam hatten. Zunächst änderte sich durch die Umwälzungen im Oktober/November 1918 sehr plötzlich die Trägerschaft der zahlreichen bisherigen Hoftheater, welche im Zuge der Abdankung bzw. Entmachtung der Landesfürsten als nun verwaiste Hoftheater von den entsprechenden Ländern übernommen wurden. Die Stadttheater bzw. die Stadttheatergebäude gehörten zwar zum Teil den Kommunen, wurden jedoch zumeist als Pachttheater von gemeinnützigen Aktiengesellschaften oder privaten Einzelunternehmern betrieben. Es handelte sich hierbei bis zum Beginn des ersten Weltkriegs um weitgehend kommerzielle Unternehmen. Wie u.a. Bernd Wagner in seiner Studie zur Entstehung, Entwicklung und Legitimation von Kulturpolitik ausführt, hatten die Kommunen bereits am Ende des 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts schrittweise begonnen, die privaten Theater beispielsweise durch die kostenlose Überlassung von Infrastruktur und Grundstücken, Pachterlass oder erste regelmäßige finanzielle Zuwendungen zu unterstützen.2 Nach Kriegsende setzte sich die bereits vor dem Krieg begonnene Einbindung der vormals vor allem privat getragenen Theater in die städtische Verwaltung fort und führte vielfach zur vollständigen Übernahme der Theater in die kommunale Verwaltung.3 Während es bis zum ersten Weltkrieg weniger als 20 kommunale Theater gab, wurde der Theatersektor im Laufe der Republik zunehmend Teil der kommunalen Kulturpolitik, so dass Wagner diesen
2
Der allmähliche Ausbau städtischer Förderung und vor allem auch die wachsende Aufgeschlossenheit für städtische Theaterunterstützung entwickelten sich zwar bereits seit den 1870er Jahren (siehe Wagner 2009: 429), doch kann hierbei noch nicht von Kommunalisierung im engeren Sinne gesprochen werden, da die meisten dieser gemischten privatöffentlichen Einrichtungen weder rein privat betriebene Unternehmen noch der kommunalen Verwaltung angegliedert waren.
3
Siehe Wagner 2009: 431.
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Zeitraum als Beginn der eigentlichen Theaterpolitik bezeichnet.4 Mit der Übernahme der Hoftheater durch die Länder und der Kommunalisierung der Stadttheater, welche sich insbesondere in den Jahren nach dem ersten Weltkrieg vollzog, entwickelte sich die Theater- und Orchesterlandschaft zum größten Empfänger öffentlicher Förderung in der deutschen Kulturlandschaft.5 In der Forschungsliteratur wird als Ursache für die Kommunalisierung zumeist die wirtschaftliche Not der Theaterpächter, d.h. ein vornehmlich ökonomisch motivierter Beweggrund angegeben.6 Diese Begründung erscheint jedoch vor dem Hintergrund der angespannten wirtschaftlichen Lage gerade auch der öffentlichen Haushalte kurz nach dem verlorenen Weltkrieg und den hohen Unterhaltskosten, welche die Theater bereits damals für den kommunalen Haushalt bedeuteten, als unzureichend, um die im Laufe der Weimarer Republik fortschreitende und bis 1936 weitgehend abgeschlossene Kommunalisierung hinreichend zu erklären. In diesem Zusammenhang ist insbesondere die gravierende Finanznot der Städte von Bedeutung, die dazu führte, dass viele städtische Kultur- und Sozialeinrichtungen geschlossen oder zumindest eingeschränkt wurden. So befindet beispielsweise der Kölner Oberbürgermeister Konrad Adenauer in der Hauptversammlung des Deutschen Städtetages 1921: „Es ist wahrhaft ein Notschrei, den wir ausstoßen. […] Wir sind am Ende. […] Was soll das Reich anfangen, wenn die Gemeinden kaputt sind, wenn sie verelendet sind?“7 Dass gerade auch im Ausland die Entwicklung der deutschen Theaterlandschaft vor dem Hintergrund der von Reparationszahlungen stark beanspruchten öffentlichen Haushalte als außergewöhnlich wahrgenommen wurde, verdeutlicht die folgende Feststellung des zeitgenössischen englischen Journalisten und Theaterkritikers Huntley Carter: Looking at England and France we saw two countries that making merry over victory, and leaving their spiritual institutions, including the theatre, to look after themselves. In Germany we saw a vanquished nation, stricken to the heart, using the theatre as a powerful instrument of refinement, and an unerring guide to the way out of the terrible chaos.8
4
Siehe Wagner 2009a.
5
Vgl. hierzu u.a. Bullinger 1997: 27 und Balme 2010: 64-65, 71-75.
6
Siehe Balme 2010; Wagner 2009a.
7
Deutscher Städtetag 2005: 2.
8
Zit. nach Willett 1988: 53. Obgleich Willett Carter hier hauptsächlich im Zusammenhang mit Beobachtungen der künstlerischen Entwicklungen zitiert, wird aus Huntleys Hervorhebung der Tatsache, dass die Theater ausdrücklich nicht sich selbst überlassen wurden, deutlich, welche Rolle den institutionellen Rahmenbedingungen der Theater in der Weimarer Republik gerade auch im internationalen Vergleich zugemessen wurde.
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Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage, ob die Kommunalisierung der Theater zu Beginn des 20. Jahrhunderts tatsächlich eine nahezu zwangsläufige Entwicklung war, die sich vornehmlich anhand der ökonomischen Entwicklungen der Zeit erklären lässt. Gerade die desolate finanzielle Situation der Städte lässt eine rein ökonomische Begründung der kostenaufwendigen Kommunalisierung der Theater als unzureichend erscheinen. Hingegen zeigen die im Folgenden skizzierten zeitgenössischen (kultur-)politischen Diskurse, dass insbesondere der Kultur für die kollektive Subjektkonstitution der deutschen Nation im Sinne einer national sinn- und identitätsstiftenden Funktion eine bedeutende Rolle zugemessen wurde und der im Kaiserreich begonnene Strukturwandel der Theater offenbar vor allem auch deshalb nach Kriegsende verstärkt weitergeführt und ausgebaut wurde, weil Kunst und Kultur als wichtiges Element zur Ausbildung einer neuen nationalen Identität erachtet wurden.
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ALS
‚E RZIEHUNG
ZUR
N ATION ‘
Nach der Katastrophe des Weltkriegs, dem Sturz der Monarchien und der Revolution von 1918/1919 wurde deutlich, dass mit dem Verlust des Militarismus und des Obrigkeitsstaats, welche im Kaiserreich für das Selbstverständnis der deutschen Nation identitätsstiftend waren, die Basis des Nationalbewusstseins untergraben war. Zudem wurde insbesondere vor dem Hintergrund des Versailler Vertrags vielfach der Verlust der nationalen Würde und Identität des deutschen Staates beklagt. Eines der Anliegen der Kulturpolitiker der jungen Republik war es, den Topos des 19. Jahrhunderts von Deutschland als Kulturstaat wieder aufleben zu lassen und so eine neue Basis für eine eigene Identität und ein Nationalbewusstsein zu schaffen. Die Kulturpolitik wurde als Versuch verstanden, „[…] den politischen Untergang des Kaiserreiches kulturell zu kompensieren und die Basis für eine Wiederbelebung der Kulturnation Deutschland zu schaffen.“9 Da die Kulturhoheit laut Verfassung bei den Ländern lag und das Reich in diesem Bereich mit dem Reichskunstwart nur einen sehr eingeschränkten Wirkungsbereich hatte, werden im Folgenden anhand der Äußerungen von zentralen kunstpolitischen Protagonisten des preußischen Kultusministeriums die kunstpolitischen Ziele zu Beginn der Weimarer Republik untersucht. Preußen eignet sich aufgrund seiner Stellung innerhalb der machtpolitischen Struktur der Weimarer Republik in besonderer Weise und ermöglicht einen Einblick auf überregional relevanter Ebene. Das preußische Ministerium für Wissenschaft, Kunst und Volksbildung – so der neue Name des Kultusministeriums nach 1918 – unter dem von 1918 bis 1921
9
Speitkamp 1994: 547.
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amtierenden Minister Konrad Haenisch (SPD) betrachtete Kultur als wesentlich für die Identitätsbildung der Republik. In seiner 1921 erschienenen Schrift Neue Bahnen der Kulturpolitik. Aus der Reformpraxis der deutschen Republik legt Haenisch dar, dass Kulturpolitik aus seiner Sicht keineswegs „[…] für unser armes zusammengebrochenes Deutschland ein Luxus [ist], den wir uns auf lange Jahrzehnte hinaus nicht mehr leisten können.“10 Im Gegenteil könne seiner Ansicht nach der politische Untergang des Kaiserreichs „nur von innen heraus“11 kulturell kompensiert werden, um so die Basis für eine Wiederbelebung der Kulturnation Deutschland zu schaffen.12 Neben Konrad Haenisch prägte insbesondere auch der damalige parteilose Unterstaatssekretär und spätere Kultusminister Carl Heinrich Becker die kulturpolitische Diskussion in der Anfangsphase der Republik. Beide Politiker stimmten in zentralen Aspekten, insbesondere in Bezug auf die notwendige Wiederbelebung der Kulturnation als ideeller Basis, überein, wobei Haenisch einen stärkeren Akzent auf die Schul- und Bildungspolitik legte. Becker – ursprünglich in Heidelberg habilitierter Orientalist, welcher nach seiner Zeit als Kultusminister 1930 wieder als Professor an der Universität in Berlin in die Wissenschaft zurückkehrte – bezeichnet in seiner Schrift Kulturpolitische Aufgaben des Reiches von 1919 die Kulturpolitik als „[…] bewusste Einsetzung geistiger Werte im Dienst des Volkes oder des Staates zur Festigung im Innern und zur Auseinandersetzung mit anderen Völkern nach außen.“13 Becker sieht es als problematisch an, dass die Verschmelzung der deutschen Stämme zum Einheitsvolk durch Bismarcks Reichsgründung und das Kaiserreich „ausschließlich dem Militär statt der Schule und der Kulturpolitik überlassen wurde.“14 Nach seiner Auffassung stünden die Republik und insbesondere die Kulturpolitik vor […] der ungeheuer schwierigen Aufgabe, ein neues einigendes Band zu suchen, das uns über unseren Stammespartikularismus, über unsere konfessionelle Spaltung und über unsere berufsständische und soziale Gliederung hinaus zum Einheitsvolk werden läßt. Nötiger wie je braucht Deutschland jetzt eine bewußte Kulturpolitik. Wenn der Deutsche seiner Natur nach nicht von selbst danach greift, so muss er eben dazu erzogen werden.15
10 Haenisch 1921: 27. 11 Haenisch 1921: 27. 12 Siehe Speitkamp 1994: 547. 13 Becker 1919: 2. 14 Becker 1919: 3. 15 Becker 1919: 5.
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Diese Erziehung zur Nation sollte den Beginn eines länger andauernden Prozesses markieren,16 wobei Becker betont, dass er hier nicht an Nationalismus und noch nicht einmal an einen Staatsbegriff denke, sondern es darum ginge, die Individualität der eigenen Nation im Kreise der anderen Völker auszubilden.17 Auch bezüglich der Finanzierung dieser ‚Erziehung zur Nation‘ äußerte Becker klare Vorstellungen: Man darf nicht vergessen, erstens daß die deutschen Fürstenhöfe als Kulturzentren in Fortfall kommen und zweitens, daß die privaten Leistungen für Kulturzwecke bei der allgemeinen Verarmung sehr zurückgehen werden; Museen, Forschungsinstitute, aber selbst Hochschulen werden ohne Reichshilfe namentlich in den kleineren Staaten nicht dauernd auf der Höhe gehalten werden können, ohne daß das Reich helfend einspringt. Nur so kann bei der katastrophalen Lage unserer Finanzen eine dauernde Schädigung der deutschen Kultur vermieden werden. Das Reich darf sich dieser Aufgabe nicht entziehen. […] Alles kommt darauf an, einen Weg zu finden, der dem Reiche gerecht wird, ohne den Gliedstaaten ihre Selbständigkeit zu nehmen.
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Die Kulturpolitik erschien als geeignetes Instrument, die durch Individualismus und Partikularismus geschwächte Republik bei der Herausbildung zur Nation zu unterstützen. Mit diesem Auftrag ergänzte die Kulturpolitik die allgemeine politische Linie, durch die versucht wurde, die Identitätsbildung zu befördern und eine nationale Gemeinschaft herzustellen. Insbesondere in Beckers Schrift wird deutlich, dass mit der nationalen Identitätsbildung die ‚kollektive Subjektkonstitution‘ der jungen Republik befördert werden sollte: Becker und Haenisch zielten auf die Begründung eines neuen kollektiven Bewusstseins der Kulturnation Deutschland.19 Um den oben formulierten Zusammenhang zwischen den (kultur-)politischen Wunschvorstellungen nach Herstellung von nationaler Identität und der Entwicklung der Theaterinstitutionen konkreter fassen zu können, ist eine soziologische Perspektive auf den Zusammenhang von Identität und Institution aufschlussreich: Aus soziologischer Sicht versuchen Gesellschaften kommunikative Formen und soziale Institutionen zur Verfügung zu stellen, die persönliche Identitäten ihren Anforderungen anpassen. Folgerichtig steht auch die Ausbildung der persönlichen 16 Dass Becker Deutschland hier erst am Beginn einer Bewegung sieht, wird auch aus folgender Äußerung deutlich: „Das theoretische Ziel ist natürlich: wie der politische, so der kulturelle Einheitsstaat; praktisch sind beide, wenn überhaupt, jedenfalls auf absehbare Zeit nicht zu erreichen“ (Becker 1919: 30-31). 17 Siehe Becker 1919: 46-47. 18 Becker 1919: 20-21. 19 Vgl. hierzu auch Speitkamp 1994: 551.
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Identität in engem Zusammenhang mit der Struktur gesellschaftlicher Institutionen.20 Folgt man dem Sozialkonstruktivismus in seiner Sichtweise des Zusammenhangs von persönlicher Identität (von Subjekten) und Institutionen und der Auffassung, nach welcher die Subjektivität gesellschaftlich geprägt wird, wird die Nähe zwischen den Begriffen Subjekt, Identität und Institution deutlich. So dienen insbesondere Weltansichten, symbolische Legitimationen und religiöse Deutungsmuster dazu, eine persönliche Identität aufzubauen, welche in engem Zusammenhang mit der Struktur gesellschaftlicher Institutionen steht: Diese Weltansichten, symbolischen Wirklichkeiten und religiösen Deutungsmuster […] setzen […] besondere Wissens- und Kommunikationsexperten voraus, deren Sonderstellung in der institutionellen Struktur der Gesellschaft angelegt und gesichert wird. Deswegen steht die Ausbildung der persönlichen Identität in einem engen Zusammenhang mit der Struktur gesellschaftlicher, besonders auch religiöser Institutionen.
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Auch Kunstinstitutionen wirken demzufolge als Institutionen bei der Herausbildung einer (nationalen) Identität mit, da sich – insbesondere im Theater – das kollektive Subjekt des Publikums hier versammelt und greifbar wird. Betrachtet man Subjektkonstitution auch als einen gesellschaftlichen Vorgang, wird deutlich, warum das Theater als gesellschaftliche Institution einen nicht zu unterschätzenden Faktor für die angestrebte nationale Identitätsbildung darstellt. Obgleich Haenisch und Becker nicht explizit auf Theater rekurrieren, kann die fortschreitende Kommunalisierung der Theater in der Weimarer Republik als deutlicher Anhaltspunkt dafür betrachtet werden, dass Theatern als sozialen Institutionen in der Gesellschaft eine so wichtige Rolle zugemessen wurde, dass man sie trotz oder gerade wegen der finanziellen Notlage der Zeit in öffentliche Trägerschaft überführte. Insbesondere für die finanziell schwer angeschlagenen Kommunen waren die Theater offensichtlich zu bedeutsam, als dass man sie sich selbst und den Bedingungen des Marktes überlassen wollte. Darüber hinaus sind möglicherweise gerade die besonderen Kommunikationsbedingungen des Theaters mit seiner Kopräsenz von Darstellern und Schauspielern und der in der Öffentlichkeit stattfindenden Rezeption wichtige Einflussgrößen für die zunehmende Förderung durch die öffentliche Hand. Diese Überlegung werden im Folgenden anhand eines weiteren für die kultur- und gesellschaftspolitische Diskussion der Zeit bedeutsamen Diskurses ausgeführt: des Begriffs der Gemeinschaft. Die Gemeinschaft entwickelt sich zu einem der zentralen Begriffe der Zeit, welcher nicht nur eng mit der nationalen Identitätsbildung zusammenhängt, sondern auch direkt anschlussfähig ist an den insbesondere im 20. Jahrhundert neu formu20 Siehe Knoblauch 2004: 50. 21 Knoblauch 2004: 50-51.
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lierten Gedanken vom Fest- und Gemeinschaftscharakter des Theaters und bereits seit Beginn des 20. Jahrhunderts in den Blick der künstlerischen Avantgarden gerückt war.
G EMEINSCHAFTS ( T ) RÄUME In der Weimarer Zeit entwickelte sich der Diskurs der Volksgemeinschaft zu einem der bedeutendsten Phänomene der Identitätspolitik der zwanziger und frühen dreißiger Jahre.22 Der Historiker Thomas Mergel sieht deshalb die Weimarer Republik geprägt durch eine generelle Überforderung der Politik, die gerade auch aus der zentralen Bedeutung, welche der Gemeinschaft zugemessen wurde, hervorging: Es war Aufgabe der Politik, Gemeinschaft herzustellen. Sie sollte aus den fragmentierten, amorphen Versatzstücken der Gesellschaft innere Zusammengehörigkeit stiften. […] Es war geradezu ein Topos, die Uneinigkeit der Deutschen zu beschwören und die Überwindung dieser Uneinigkeit zur historischen Aufgabe der Politik zu erklären.
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Gemeinschaft fungierte hier als Zielbegriff, der davon lebte, dass die Volksgemeinschaft noch nicht erreicht war. Obgleich die Gemeinschaft ebenso wie der Kulturstaat bereits im 19. Jahrhundert Schlüsselbegriffe für die zersplitterte Nation waren, gewannen sie nach der Kriegserfahrung eine noch größere Bedeutung. In seiner Schrift zur Politik der Repräsentation konstatiert deshalb Bernd Weisbrod: Die dauernde Aktualisierung der ‚Volksgemeinschaft‘ als Opfergemeinschaft wie als Glaubensgemeinschaft […] war vielleicht die wichtigste Kompensation für den Verlust an Sicherheit, jenen Eckstein des bürgerlichen Wertesystems, der im Krieg so gewaltsam verrückt worden war, dass die Verlässlichkeit der Dauer als solche verloren ging. Gegen diese schleichende Verlusterfahrung halfen nur repetitive Akte der Bestätigung. 24
22 Siehe Mergel 2005: 98. 23 Mergel 2005: 97. Obgleich die Erwartung nach Zusammengehörigkeit bereits das Kaiserreich seit seiner Gründung begleitet hatte, wirkte die Kriegserfahrung hier als Verstärkung der Erwartungen an die Politik, gesellschaftliche Harmonie herzustellen. Wie Mergel betont, hatte der Begriff der Gemeinschaft in den 20er Jahren noch eine inklusive Qualität, welche die Überwindung der internen Brüche durch Klasse, Konfession etc. zum Ziel hatte. Erst um 1930 wurde der Begriff verengt auf ethnische und rassistische Konnotationen (siehe Mergel 2005: 99). 24 Weisbrod 2000: 33.
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Vor diesem Hintergrund entwickelten sich das Gemeinschaftsideal und der aus der Defensive des verlorenen Krieges heraus formulierte nationale Anspruch, eng miteinander verwoben, zum Haupthintergrund des (kultur-)politischen Bemühens, ein neues nationales Selbstwertgefühl über alle Klassengegensätze hinweg zu etablieren.25 Dieses Motiv findet sich auch in Beckers Schrift zu den Aufgaben der Kulturpolitik, in welcher dieser die soziale Aufgabe der Kulturpolitik nicht nur als nationalen, sondern auch als gemeinschaftsbildenden Auftrag fasst.26 Insbesondere der „Stammespartikularismus“27 ist nach Ansicht Beckers in Deutschland so stark ausgeprägt, dass er feststellt: „Bei uns Deutschen geht die Differenziertheit allerdings so weit, daß man sich wohl die Frage vorlegen kann, ob wir überhaupt noch ein einheitliches Volk sind.“28 Obgleich der Begriff der Gemeinschaft bereits vor dem Krieg u.a. durch die bekannte Antithese von Gemeinschaft und Gesellschaft des Sozialanthropologen Ferdinand Tönnies in seiner bereits 1887 erschienenen Schrift Gemeinschaft und Gesellschaft aufkommt, gewinnt seine Gegenüberstellung im ersten Weltkrieg zunehmend an Bedeutung als – wie Helmuth Plessner 1924 in dem Vorwort zu seiner sozialphilosophischen Studie Die Grenzen der Gemeinschaft. Eine Kritik des sozialen Radikalismus betont – Alternative, die seit Jahren Schnittpunkt öffentlicher Diskussionen, zumal in Deutschland sei.29 In seiner Schrift möchte Plessner mit der Gegenüberstellung von Gemeinschaft und Gesellschaft zwei grundsätzliche Haltungen – Privatheit und Öffentlichkeit – gedanklich durchdringen. Er weist darauf hin, dass mit Gemeinschaftsgedanken allein der soziale Alltag des Menschen nicht hinreichend beschrieben sei und warnt insbesondere davor, den Gemeinschaftsgedanken zu politisieren. Seiner Ansicht nach sind Gemeinschaft und Gesellschaft stets miteinander verschränkt. Vor dem Hintergrund maschineller, geschäftlicher und politischer Abstraktionen und der Vereinsamung der Menschen stelle die Gemeinschaft das „Ideal einer glühenden, in allen ihren Trägern überquellenden Gemeinschaft“ dar und sei mithin das „Idol dieses Zeitalters.“30 Indem er insbesondere den häufig negativ besetzten Begriff der Gesellschaft als notwendige Öffentlichkeit und Distanz im sozialen Alltag positioniert, wendet sich Plessner hier – ebenso wie Ferdinand Tönnies bei allen Unterschieden – vehement gegen eine Verfälschung und Verschleierung von Gesellschaft durch Gemeinschaftsillusionen. 31 Die Grenzen 25 Siehe Kratz-Kessemeier 2008: 165. 26 Siehe Becker 1919: 5 sowie Speitkamp 1994: 548. 27 Becker 1919: 5. 28 Becker 1919: 3. 29 Siehe Plessner 2002: 11. Zu Plessner und Tönnies vgl. auch die Beiträge von Drewes und Stenzel in diesem Band. 30 Plessner 2002: 28. 31 Siehe Bickel 2002: 184.
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der Gemeinschaft sollen Raum geben für Möglichkeiten einer Lebensform, die von Gemeinschaftsparolen bedroht wird. Sowohl die kulturpolitischen Vorstellungen zur Volksgemeinschaft als auch die anhand von Plessners Schrift skizzierte öffentliche Debatte um den Gemeinschaftsbegriff können direkt auf die zeitgenössischen gesellschaftspolitischen wie theaterpraktischen Vorstellungen von Theater als Gemeinschaftskunst bezogen werden. Insbesondere im Zuge der Wiederbelebung des Festspielgedankens im 19. und beginnenden 20. Jahrhundert wurde die Fähigkeit des Theaters, Gemeinschaftserlebnisse zu generieren, ausgiebig diskutiert. Dies wird nicht zuletzt bei Beschreibungen des gemeinschaftsseligen Enthusiasmus‘ deutlich, mit welchem beispielsweise Hugo von Hofmannsthal im Jahr 1921 die Gründung der Salzburger Festspiele feierte: „Die Vereinigung von Zuschauern und Akteuren im konkret definierten Raum galt als Grundvoraussetzung für das geforderte völkisch konturierte Gemeinschaftserlebnis. Dominante Bewegungsfigur war dabei die kollektive Sammlung.“32 Wie Miriam Haller in ihrer Studie zum Fest und zur Festgeschichte des Theaters herausstellt, stand im ästhetischen Diskurs über das Theater und seine Funktion im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts ein emphatisch aufgeladenes Verständnis von Gemeinschaft im Zentrum des Interesses, welches sich von einem negativ konnotierten Begriff von Gesellschaft bzw. Staat als rein rationale, konventionell geregelte Festschreibung abgrenzt. Theater in seiner Funktionalisierung als Fest bildet demnach eine Projektionsfläche, die durch die kollektive Teilhabe „ein authentisches Gemeinschaftsgefühl und kollektiv zu erfahrende Unmittelbarkeit“33 verspricht. Die avantgardistische Idee des Theaters als Fest wird von allen politischen Lagern übernommen, da hier entgegen dem Repräsentationsmodell von Gesellschaft eine Vision von Gemeinschaft aufscheint, die nicht durch Konventionen besetzt ist, sondern „[…] sich über andere Bindungen, die affektiv bzw. libidinös besetzt sind, konstituiert und bestätigt.“34 Obgleich die preußischen Kulturpolitiker den Gemeinschaftsbegriff in ihren Schriften notwendigerweise weniger differenziert auffassten als Helmuth Plessner, kann das steigende Engagement der öffentlichen Hand zweifellos als eine von Plessner geforderte Sicherungsmaßnahme der Gemeinschaft im Dienste der Öffentlichkeit betrachtet werden: „Der Staat ist ein Verfahren und keine Substanz, ein offenes System von Vorkehrungen, die Forderungen der Öffentlichkeit aus ihrer Unabsehbarkeit und Unbestimmtheit herauszuheben.“35 Der Staat hat eine hervorgehobene Bedeutung und stellt für Plessner als eine „systematisierte Öffentlichkeit im Dienste der Gemeinschaft“, den „Inbegriff von Sicherungsmaßnahmen der Ge32 Warstat 2009: 515. 33 Siehe Haller 2002: 150. 34 Siehe Haller 2002: 158. 35 Plessner 2002: 115.
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meinschaft im Dienste der Öffentlichkeit“36 dar. Mit dem steigenden Engagement der öffentlichen Hand für die Theater und Orchester stellt sich die junge Republik dieser Verantwortung. Obgleich umfassende Quellenstudien in diesem Bereich noch ausstehen, stützen doch die bisherigen Ergebnisse die eingangs aufgestellte These, dass dem Theater offensichtlich eine bedeutende Funktion für die kollektive Subjektkonstitution der deutschen Kulturnation als Volksgemeinschaft zugemessen wurde und die Städte und Gemeinden trotz der widrigen ökonomischen Verhältnisse nicht zuletzt aus diesem Grund die Kommunalisierung der Theater nach dem ersten Weltkrieg durchgesetzt haben.37 Dass die in der Weimarer Republik vorangetriebene Kommunalisierung ideale Voraussetzungen für die Gleichschaltung des Kulturbetriebs durch die Nationalsozialisten schaffen und Theater als öffentlich getragenes Instrument der nationalen Subjektkonstitution eine erhebliche Umwertung erfahren würde, konnten die Kulturpolitiker zu Beginn der 1920er Jahre noch nicht voraussehen, als Becker mit den auch für seine Verhältnisse sehr eindringlichen Worten forderte: „Ideale nicht nur zu haben, sondern sie mit dem vielgestaltigen kulturpolitischen Apparat bewusst dem deutschen Volke als Lebensideale einzuhämmern – das ist die eigentliche Aufgabe der Kulturpolitik.“38
L ITERATUR Balme, Christopher: „Stadt-Theater: Eine deutsche Heterotopie zwischen Provinz und Metropole“, in: Dogramaci, Burcu (Hg.): Großstadt. Motor der Künste in der Moderne. Berlin: Gebr. Mann 2010, 61-76. Becker, Carl Heinrich: Kulturpolitische Aufgaben des Reiches. Leipzig: Quelle & Meyer 1919. Bickel, Cornelius: „Ferdinand Tönnies und Helmuth Plessner“, in: Eßbach, Wolfgang/Fischer, Joachim/Lethen, Helmut (Hg.): Plessners ‚Grenzen der Gemeinschaft‘. Eine Debatte. Frankfurt am Main: Suhrkamp 2002, 183-194. Bullinger, Matthias: Kunstförderung zwischen Monarchie und Republik. Entwicklungen der Kunstförderung in Württemberg zwischen 1900 und 1933 am Beispiel der Theater in Stuttgart, Ulm und Heilbronn. Frankfurt am Main: verlag neue wissenschaft 1997.
36 Plessner 2002: 115. 37 Dass die Städte die Theater darüber hinaus auch als wesentlich für die jeweils eigene städtische Identität erachteten, spielte bei der Legitimation der Kommunalisierung zweifellos ebenfalls eine große Rolle. 38 Becker 1919: 10.
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Deutscher Städtetag: Zum 100. Geburtstag des Deutschen Städtetages – ein chronologischer Überblick, in: www.staedtetag.de/imperia/md/content/schwerpunkte/ hv2005/5.pdf [30.09.2011]. Haenisch, Konrad: Neue Bahnen der Kulturpolitik. Aus der Reformpraxis der Deutschen Republik. Stuttgart/Berlin: J.H.W. Dietz 1921. Haller, Miriam: Das Fest der Zeichen. Schreibweisen des Festes im modernen Drama. Köln/Weimar/Wien: Böhlau Verlag 2002. Knoblauch, Hubert: „Subjekt, Intersubjektivität und persönliche Identität. Zum Subjektverständnis der sozialkonstruktivistischen Wissenssoziologie“, in: Grundmann, Matthias/Beer, Michael (Hg.): Subjekttheorien interdisziplinär. Diskussionsbeiträge aus Sozialwissenschaften, Philosophie und Neurowissenschaften. Münster: Lit Verlag 2004, 37-57. Kratz-Kessemeier, Kristina: Kunst für die Republik. Die Kunstpolitik des preußischen Kultusministeriums 1918 bis 1932. Berlin: Akademie Verlag 2008. Mergel, Thomas: „Führer, Volksgemeinschaft und Maschine. Politische Erwartungsstrukturen in der Weimarer Republik und dem Nationalsozialismus 19181936“, in: Hardtwig, Wolfgang (Hg.): Politische Kulturgeschichte der Zwischenkriegszeit 1918-1939. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2005, 91-127. Plessner, Helmuth: Grenzen der Gemeinschaft. Eine Kritik des sozialen Radikalismus. [orig. 1924] Frankfurt am Main: Suhrkamp 2002. Speitkamp, Winfried: „Erziehung zur Nation. Reichskunstwart, Kulturpolitik und Identitätsstiftung im Staat von Weimar“, in: Berding, Helmut (Hg.): Nationales Bewußtsein und kollektive Identität. Studien zur Entwicklung des kollektiven Bewußtseins in der Neuzeit 2, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1994, 541- 580. Wagner, Bernd: „Das Theater war klassisch leer“, in: kultur.macht.geschichte.de (26.07.2009a). www.kultur-macht-geschichte.de/47.html?&no_cache=1&tx_ ttnews[tt_news]=337&cHash= f5622cfb4b [14.5.2011]. Wagner, Bernd: Kulturstaat und Bürgergesellschaft. Zur Entstehung, Entwicklung und Legitimation von Kulturpolitik. Essen: Klartext 2009b. Warstat, Matthias: „Theater und Fest in Europa: von der Gemeinschaft zur Vernetzung“, in: Eberhard, Winfried/Lübke, Christian (Hg.): Die Vielfalt Europas. Identitäten und Räume. Leipzig: Leipziger Universitätsverlag 2009, 511-524. Weisbrod, Bernd: „Die Politik der Repräsentation. Das Erbe des ersten Weltkrieges und der Formwandel der Politik in Europa“, in: Mommsen, Hans (Hg.): Der erste Weltkrieg und die europäische Nachkriegsordnung. Sozialer Wandel und Formveränderung der Politik. Köln: Böhlau 2000, 13-41. Willett, John: The Theatre of the Weimar Republic. New York/London: Holmes & Meier 1988.
Die Szene des Subjekts im westafrikanischen Theater der Gegenwart – Burkina Faso A NNETTE B ÜHLER -D IETRICH
Im burkinischen Literaturtheater der Gegenwart steht das Subjekt im Vordergrund. Es exponiert den problematischen physischen und psychischen Status eines Wesens, das auf vielfältige Weise von seiner Umwelt abhängt und geprägt wird. Gerade die jüngsten Schriften Judith Butlers konzipieren das Subjekt als prekäres und stellen die Folgen einer derart veränderten Subjektkonzeption für die politische Ethik heraus.1 Im Folgenden werde ich zunächst die Theaterszene Burkina Fasos skizzieren, um dann die spezifische Szene des Subjekts in den Theatertexten von Sophie Heidi Kam, Etienne Minoungou und Aristide Tarnagda unter Bezug auf Butlers Schriften herauszuarbeiten. Burkina Faso zeichnet sich durch eine rege Kultur- und Theaterszene aus. Dass diese mittlerweile auch in das Bewusstsein des europäischen und durchaus auch des deutschsprachigen Festivalbetriebs getreten ist, zeigte die illustre Besucherrunde des Festivals Récréâtrales 2010, zu der u.a. Stefanie Carp von den Wiener Festwochen und Anja Dirks vom Festival Theaterformen gehörten. Die Récréâtrales, Résidences panafricaines d’écriture, de création et de recherche théâtrales, die seit 2002 bestehen, erstrecken sich über zwei intensive Arbeitsphasen der Theaterkünstler und ein öffentliches Festival. Sie haben zum Ziel, Künstlern eine zeitweise finanziell abgesicherte Arbeitsbasis zu gewähren und wollen dadurch das Theater als Ort der im Titel alludierten Erneuerung, als Ort des künstlerischen Ausdrucks und politischer Reflexion voranbringen. 2 Die Aufmerksamkeit richtet sich dabei auf ein 1
Ich beziehe mich im Folgenden auf Butler 2004 und 2010.
2
Zu den Récréâtrales und zur Theaterszene Burkina Fasos vgl. auch Bühler-Dietrich 2011; zum Festival 2010 siehe auch Marcus 2011. Für die Auflösung des Akronyms gibt es verschiedene Varianten, die gewählte findet sich bei Kibora/Bationo 2010: 48, das Programmheft zum Festival ersetzt „Résidences“ durch „Résistances“, vgl. Le Cartel 2010.
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bestimmtes Segment des afrikanischen Theaters, das als Literaturtheater oder ‚théâtre d’auteur‘ zu beschreiben ist. Bei den Récréâtrales 2010 versammelten sich frankophone und wenige anglophone (südafrikanische) Produktionen. Die Spannbreite der Inszenierungsweisen reichte von der mit differenzierter Licht- und Tonregie, Farbchoreographie, Kostüm und Bühnenbild arbeitenden senegalesischen Produktion L’écho du pas de l’homme (Regie: Christophe Merle, Textfassung und Schauspiel: Diarétou Keïta) bis zu Ziitba (Text, Regie: Sidiki Yougbare, Schauspiel: Edoxi Gnoula, Sidiki Yougbare). Ziitba parodiert im Wechsel zwischen der burkinischen Mossi-Sprache Mooré und Französisch die burkinische Politik und wechselt dazu zwischen einem Objekttheater, das vom Fingerspiel der Schauspielerin ausgeht, und der Verkörperung von Figuren. Bietet L’echo du pas de l’homme ein Literaturtheater, das die Distanz zwischen Zuschauer und Publikum aufrecht hält, so durchbricht Ziitba diese Distanz zwar in der Verwendung des von der Bevölkerung amüsiert kommentierten Mooré, fingiert aber andererseits Nähe, indem eine politische Gegenstimme aus dem Publikum zur Inszenierung gehört und nur scheinbar aus dem Moment geboren wird. In der Verwendung von poetischem Literaturtheater einerseits, deutlich politischem Theater mit Einschüben der Nationalsprachen andererseits, stehen die Inszenierungen für zwei Tendenzen des afrikanischen Theaters. Daneben siedeln sich Inszenierungen wie das charmant-kuriose Le Musée Bombana de Kokologo an. In einem kleinen Zirkuszelt präsentiert Athanase Kabre hier mögliche Merkwürdigkeiten des afrikanischen Alltags wie die tragbare Dusche oder das hölzerne Pferderennen und kommentiert damit die aktuelle Lebenssituation. Die genannten Produktionen ergänzen als eingeladene Inszenierungen die Produktionen, die im Rahmen des fast einjährigen Werkstattprozesses der Récréâtrales entstanden sind. Auch unter ihnen zeigt sich eine große Vielfältigkeit, die von der grotesken Darstellung der Folgen ökonomischer Zwänge mittels traditionellen Schauspielertheaters bis zum ‚théâtre des contes‘ reichen. 3 In der Bandbreite der Produktionen erhält der Zuschauer somit einen Überblick darüber, welche Formen und Inhalte das westafrikanische Theater heute ausmachen. Nicht immer steht dabei die Frage des Subjekts im Vordergrund. Vielmehr scheint es, dass sie erst in den letzten Jahren gerade auf dem burkinischen Theater an Gewicht gewonnen hat. Betrachtet man die Theater- und Dramenproduktion vor 2000, so ist es die Auseinandersetzung mit kollektiver Geschichte und kollektiven Erlebnisformen bzw. Problemkonstellationen, die dominiert. So konstatiert der im Januar 2011 verstorbene Theaterwissenschaftler, Autor und Regisseur Jean-Pierre Guingané 1990:
3
So die Produktionen SPR von Dieudonné Niangouna, Kubidu Abanda von Ildevert Meda oder das Erzähltheater Paroles de forgeron von Gérard P. Kientega.
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On remarquera que le théâtre de moeurs au Burkina traite de thèmes qui concernent essentiellement la collectivité (la famille, la societé). Il n’existe presque pas de pièces où le sort d’un personnage en tant qu’un individu semble particulièrement préoccupant. Et c’est ce qui explique au moins en partie les succès de ces pièces lorsqu’elles sont portées sur scène ou jouées à la radio. 4
Guinganés eigene Stücke, von denen einige veröffentlicht sind, haben an dieser Tendenz insofern Teil, als sie sich mit dem Schicksal von Kollektiven beschäftigen, sei es in der Form politischen Literaturtheaters, im ‚théâtre-débat‘ oder in der ‚conte théâtralisé‘. Bei beiden letztgenannten Formen steht die Auseinandersetzung mit traditionellen afrikanischen Geschichten im Vordergrund: Depuis 1984, nous avons pris une autre option, marquée par la recherche d’un théâtre inspiré de nos traditions culturelles. Notre recherche nous a conduit à penser nos spectacles sous forme de contes tels qu’ils sont racontés dans nos villages. Cela nécessitait un travail sur l’éclatement de l’espace et sur le jeu du comedien qui est vu sous tous les angles et qui s’habille et se déshabille devant le public.5
Die Struktur dieser Stücke entsteht durch den Wechsel von Rahmen- und Binnenhandlung, die über die Figur des Erzählers verbunden werden. Einerseits ist darin Brechts Modell des Kaukasischen Kreidekreises evoziert, andererseits greift diese Dramaturgie die Figur des ‚Griot‘ auf, der bei traditionellen afrikanischen Festen den Lobpreis des amtierenden Stammeskönigs singt. Eine Öffnung dieser Stücke zum Publikum hin entsteht dann durch die mittels des Rahmens geschaffene Möglichkeit, die Diskussion des Inhalts über die fiktionale Gemeinschaft der Zuhörenden und Zusehenden hin zum anwesenden Publikum jenseits der Bühne zu erweitern.6 Auch das ‚théâtre forum‘ Prosper Kompaorés geht von traditionellen Strukturen des Performativen aus und aktiviert das Publikum sowohl mental und emotional wie auch ganz konkret als Mitspieler auf der Bühne. „Le principe esthétique que nous utilisons, c’est de faire en sorte que le public devienne de plus en plus acteur et, en étant acteur, agent de sa propre libération.“7 Ziel ist hier die Sensibilisierung des Zuschauers. Entsprechend dominieren paradigmatische soziale und politische Konfliktsituationen. Nicht die Formation des Subjekts, sondern die Kontur sozialer Konflikte steht z.B. bei der zur HIV-Sensibilisierung eingesetzten Produktion 4
Guingané 1990: 70.
5
Benon 1990b: 78.
6
Vgl. Guinganés Les lignes de la main oder La Savane en transe, die beide diese Form der
7
Benon 1990c: 81.
Rahmen- und Binnenerzählung wählen.
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Comment lui dire? im Vordergrund. Prosper Kompaoré ist neben Jean-Pierre Guingané die andere große Persönlichkeit des burkinischen Theaters. Auch er schreibt Stücke, inszeniert und entwickelt als Regisseur mittels Improvisationen neue Produktionen. Mit seinem Atelier Théâtre Burkinabè widmet er sich besonders dem ‚Théâtre de la sensibilisation‘, inszeniert aber daneben auch Klassiker wie Sophokles’ König Ödipus. Diese Stratifizierung der Theaterszene gilt es zu beachten, will man den Ort des aktuellen burkinischen Literaturtheaters bestimmen. Institutionell geht es einher mit einer deutlichen Bemühung der Kulturschaffenden, hochwertige Dramentexte zu veröffentlichen. Während Guinganés theaterwissenschaftliche Forschung zum burkinischen Theater auf zahlreiche Theaterstücke zurückgreift, die lediglich als Manuskript in seinem Privatbesitz erhalten geblieben sind, sind seine eigenen Stücke seit den 1990er Jahren im Selbstverlag gedruckt. Durch die Publikation junger Autoren im Verlag Découvertes du Burkina liegen unterdessen aktuelle frankophone, besonders burkinische Stücke vor. Ihre Entstehung steht zum Teil im Zusammenhang mit dem oben genannten Festival Récréâtrales. Leiter der Reihe Collection Récréâtrales ist Etienne Minoungou; er ist auch der Leiter des Festivals und selbst Schauspieler und Autor. Betrachtet man die von den burkinischen Autoren Sophie Heidi Kam, Etienne Minoungou und Aristide Tarnagda in den letzten Jahren verfassten Stücke, so erweist sich gerade die Frage des Subjekts als dominant. Wo Formen des Zusammenlebens thematisiert werden, sind es nicht mehr die alltäglichen Situationen im Dorf, sondern spezifische Situationen an außergewöhnlichen, überwiegend städtischen Schauplätzen, die gleichwohl paradigmatisch werden. Immer handelt es sich dabei um das Zusammentreffen von Menschen in Extremsituationen. So begegnen sich bei Sophie Heidi Kam drei illegal Ausreisende im Frachtraum eines Schiffes, während bei Minoungous Madame, je vous aime ein Mann und eine Frau in einer zur Richtstätte umgerüsteten Fabrik aufeinander treffen, die ein vor vielen Jahren gebrochenes Versprechen gemeinsam haben. Tarnagdas Stücke Les larmes du ciel d’août und De l’amour au cimetière spielen an öffentlichen Orten wie Park und Friedhof und zeigen Figuren, die die Beziehung zum Mitmenschen verloren haben bzw. sie durch eine imaginäre Zugehörigkeit ersetzen. Während die meisten genannten Dramen im Rahmen einer realistischen Dramenkonvention bleiben, treten bei Tarnagdas De l’amour au cimetière der Friedhof sowie die Figuren ‚l’homme‘, ‚la femme‘ und ihr jeweiliges alter ego auf. Gemeinsam ist den Figuren der Stücke, dass sie an scheiternden und gescheiterten Träumen leiden und dass sie gleichzeitig Opfer und Täter sind. Ihre Träume wie ihre Verletzungen zeigen, dass sie sich als Subjekte in einem Geflecht von Abhängigkeiten begreifen. So lässt die junge Frau bei Tarnagda den sexuellen Missbrauch durch ihren Arbeitgeber zu, weil sie sich als Glied einer Kette versteht. Der Friedhof kommentiert: „Mais toi tu n’aimes pas
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ça. Mais tu as peur de lui. Non. Tu veux être / Mère / Et construire les / Tombes. / Pour ça, il faut que tu suces ton patron. Un jour, ça va finir. Sucer le patron te tue, mais il faut que tu meures pour vivre…“8 Duldsam erträgt auch die junge Frau in Les larmes du ciel d’août Obdachlosigkeit und Gewalt, weil sie das Versprechen gegeben hat, genau an diesem Ort auf den Geliebten zu warten. Die Bindung an den existierenden oder imaginierten Anderen wird zur ‚raison d’être‘; ohne diese Bindung stirbt das Subjekt. „C’est une quête, une interdependence. On meurt à l’autre ou à cause de l’autre. […] L’autre est une dictature pour nous dont on a besoin obligatoirement pour être.“9 Im Fokus der neueren burkinischen Theaterstücke steht so gerade nicht das unabhängige neoliberale Individuum, sondern ein Subjekt, das über das Ich hinaus geht: „The particular sociality that belongs to bodily life, to sexual life, and to becoming gendered (which is always, to a certain extent, becoming gendered for others) establishes a field of ethical enmeshment with others and a sense of disorientation for the first-person, that is, the perspective of the ego“10, schreibt Judith Butler in Undoing Gender. Jüngst hat sie diese Perspektive auch in ihre politische Reflexion eingebracht, wenn sie eine andere Politik des Zusammenlebens fordert: This consideration of the differential distribution of precariousness and grievability constitutes an alternative to those models of multiculturalism that presuppose the nation-state as the exclusive frame of reference […]. Although certain liberal principles remain crucial to this analysis, including equality and universality, it remains clear that liberal norms presupposing an ontology of discrete identity cannot yield the kinds of analytic vocabularies we need for thinking about global interdependency and the interlocking networks of power and position in contemporary life. 11
Wenngleich die Konzeption eines interdependenten Subjekts bei Tarnagda in den genannten Texten nur am Rand in den Kontext globaler Politik gestellt wird, ist diese Konsequenz mitzudenken. So postuliert er einen Zusammenhang zwischen der desolaten finanziellen Situation der Figuren und ihrer Bereitschaft zur Gewalt. Weil die geliebte Großmutter wegen „hôpital-banque-dépôt-d’argent-seulement“ 12 nicht behandelt wird, wird der Enkel zuerst zum Schläger und dann zum Söldner. Doch die verübte Gewalt wird zum Alptraum der Angst, deren Artikulation erstmals den Weg zum Anderen öffnet: „J’ai peur et j’ai peur, madame, et je ne sais
8
Tarnagda 2008: 50.
9
Tarnagda 2011.
10 Butler 2004: 25. 11 Butler 2010: 31. 12 Tarnagda 2008: 38.
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plus quoi faire et ça m’énerve et j’ai peur, et ça m’énerve [...].“13 Erst das Eingeständnis der Angst – „Vous avez peur?“ fragt der Mann die Frau zu Anfang ihrer Begegnung – eröffnet die Möglichkeit, dass der geplante Selbstmord noch abgewehrt werden kann.14 Tarnagdas Figuren klammern sich an der Möglichkeit der Beziehung zum anderen fest. Sie begreifen sich im Kontinuum der Generationen. Die Beziehung zum Nächsten bleibt bestehen, auch wo sie zum Eingeständnis des Scheiterns führt oder um den Preis des eigenen Lebens aufrechterhalten wird. Es sind gerade die Forderungen des liberalen Marktes und die fehlende finanzielle Grundsicherung, die die Menschen in die Verzweiflung treiben. Diese Verzweiflung aber lässt sich nur noch im Monolog oder im Traum aussprechen. So erzählt der Mann seine Geschichte, nachdem er die Frau bis zur Bewusstlosigkeit gewürgt hat, und die Frau erlebt ihre Geschichte wieder im Traum, als Mischung aus Spiel-im-Spiel und Erzählung. Im Unterschied zu Tarnagda gibt es für die Figuren Etienne Minoungous kaum Hoffnung. In A la vie, à la mort, bei den Récréâtrales 2010 aufgeführt, teilen zwei zum Tode Verurteilte eine Zelle, die gleich einer Kuppel auf der fast leeren Bühne realisiert ist. Der einzige Schatz der beiden ist das Gemälde einer Frau, die zur imaginären Geliebten wird. Wenn einer der beiden am Ende zur Hinrichtung abgeführt wird, erweist sich die Hoffnung auf ein freies Leben als vergeblich. Die imaginäre Liebesbeziehung und das konkrete Ausgesetztsein gegenüber dem Zellengenossen sind jedoch Formen des Daseins, in denen die Beziehungen zum anderen als konstitutiv erfahren werden. Bei A la vie, à la mort ist diese Beziehung in besonderem Maße auf der Ebene des Schauspiels angesiedelt, da einer der beiden Schauspieler blind ist: „Bienvenu Bonkian est aveugle, la direction d’acteurs s’est donc centrée sur un travail sur l’espace, la présence du partenaire de jeu et l’écoute.“15 Diese Art des Zusammenspiels wird jedoch gleichermaßen von den anderen hier diskutierten Stücken gefordert, die zumeist die Interaktion zwischen zwei Schauspielern ins Zentrum stellen. Während die ausweglose Situation in A la vie, à la mort zur Gelegenheit intensiven Miteinanders wird und bei Tarnagda der Friedhof zum Ort der Begegnung, endet Minoungous Madame, je vous aime mit der Ermordung der Frau. Auch hier ist es die Figur des Söldners und Folterers, der im Zentrum steht und der auch im unten besprochenen Text Kams wieder auftreten wird. Eine Relation zum Nächsten gibt es zunächst nur in der Form der Gewalt. Dies gilt, wie in De l’amour au cimetière, auch für die Sexualität. So setzt die Frau ihr Geschlecht ein, um damit die Vergewaltigung ihrer Mutter und ihre eigene daraus folgende Existenz zu rächen: „Car j’ai tué, au couteau mais aussi par mon sexe. Des 163 garnisons de soixante13 Tarnagda 2008: 41. 14 Siehe Tarnagda 2008: 26. 15 Le Cartel 2010: 27.
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dix personnes environ chacune, peut-être 80% d’entre eux mourront de mon sida.“16 In einer eingeschobenen Erinnerungssequenz macht Minoungou die Ursache für das Verhalten beider klar: Am Anfang ihrer Lebensläufe steht ein gebrochenes Kinderversprechen auf eine gemeinsame Zukunft. LA FEMME: Pourqoui tu n’étais pas là avec ton Caterpillar? […] L’HOMME: Parce que je n’ai pas eu de Caterpillar. […] Parce que j’avais honte de revenir vers toi comme une vielle personne menteuse, comme ta vielle et laide grand-mère! […] LA FEMME: Parce que tu t’es fait enrôler dans l’armée. Parce que tu as fait la guerre du Liberia Parce que tu as fait celle de la Sierra Leone.17
Weil er sein Versprechen, mit dem Mädchen auf dem Caterpillar das Dorf zu verlassen, nicht wahrmachen kann, verlässt der Junge das Dorf. Doch die Frau und sein Freund suchen ihn. Diesen Freund zieht der Mann zu Anfang auf die Bühne und das Flötenspiel des untoten Flötisten begleitet die Handlung. Sein Spiel weist der Frau in ihren Träumen den Weg. Gemeinsam mit den Phantomen, die am Ende die Bühne betreten, verkörpert er eine verpflichtende Vergangenheit, die sich weder verdrängen noch aufheben lässt.18 Bei Minoungou hinterlassen die Blauhelmsoldaten als Zeugnis der Vergewaltigung das metissierte Kind, das später den Missbrauch seiner Mutter rächt. Bei Sophie Heidi Kam in Et le soleil sourira à la mer führen die strikten Visavorschriften mittelbar zum Tod der Protagonistin. Erst die Schwierigkeit, ein Reisevisum zu erhalten, lässt Célestine zur illegalen Ausreise greifen. Der Faiseur konstatiert dazu: „C’est clair, ils ne veulent pas de nous la-bàs. Mais nous irons avec nos moyens! […] Aujourd’hui, ils dressent un mur entre eux et nous. Ils barricadent leurs frontières et mettent à nos trousses des verrouilleurs.“19 Die Barrikade aber führt zu Konsequenzen, die Kam in diesem Kammerspiel vor Augen führt: Der Kommandant des Schiffes nutzt die ausgelieferte Situation der Passagiere aus, er beutet sie aus und vergewaltigt und tötet Célestine. Sophie Heidi Kam schreibt über ihr Stück, das bei den Récréâtrales 2008 aufgeführt wurde: „Je voulais mettre en avant des cas pouvant être considérés isolés, des cas au-delà des clichés qui ne voient derrière cette tragédie humaine que la misère, la pauvreté, bref … la quête d’un eldorado.“20 Während Afrika und die 16 Minoungou 2008: 59. 17 Minoungou 2008: 53-54. 18 Zu Minoungou siehe auch Kibora/Bationo 2010: 50. 19 Kam 2008: 67. 20 Kam 2008: 12.
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Motive zur Flucht im westlichen Diskurs vereindeutigt werden, setzt Kam dieser Eindeutigkeit die Pluralität der Motive entgegen. Es ist eben nicht allein das Bedürfnis, Afrika zu entfliehen, sondern auch der Wunsch nach einer immer noch illusionären offenen Welt, der zum Reisen veranlasst. Der strikten, gewaltsam durchgeführten Trennung der Welten stellt Célestine ihren eigenen Traum entgegen: „Comme certains d’entre eux qui fantasment sur l’Afrique, moi aussi je fantasme sur l’Europe!“ 21 Doch werden einerseits Reisevisa nur unter erschwerten Bedingungen vergeben, so werden andererseits Flüchtlinge als unerwünschte Last betrachtet. Diese Art der Wahrnehmung führt laut Butler zu Handlungsweisen, die dem Anderen sein Recht auf Existenz absprechen: „Such populations are ‚loseable‘, or can be forfeited, precisely because they are framed as being already lost or forfeited; they are cast as threats to human life as we know it rather than as living populations in need of protection from illegitimate state violence, famine, or pandemics.“22 Inwiefern Kam eine paradigmatische Situation darstellt, zeigt sich bereits beim Blick in die aktuellen Nachrichten: So sind seit Februar 2011 die nordafrikanischen Flüchtlinge aus dem Ausland Gegenstand eines EU-Streites, weil europäische Staaten wie Deutschland nicht bereit sind, die in Italien gelandeten Flüchtlinge aufzunehmen.23 Nicht nur auf der Flucht wird das Leben als prekär erfahren. Alle genannten Stücke adressieren auch die Gewalt, die aus politischen oder privaten Gründen gegenüber dem Anderen zum Einsatz kommt und dessen Leben zerstört. So leidet Tiko bei Kam unter dem Verlust seiner Familie, die von Milizen getötet wurde. Dieser Verlust führt zur Vernichtung seiner Identität, was er durch die zwanghafte Selbstbetrachtung in einer Spiegelscherbe zu kompensieren sucht. Im Unterschied zu den in Traum- und Rückblickszenen ausgelagerten Erinnerungen der Figuren der anderen Stücke erzählt Tiko dem Faiseur, einem professionellen Folterer, vom Verlust seiner Familie, was zu einer direkten Reaktion des Faiseurs führt, der eben Teil solcher Milizen war. „Le Faiseur est debout. Il tourne en rond, perd l’équilibre, manque de tomber et revient s’asseoir.“24 Die folgende Fürsorge kulminiert im Schlussbild des Stücks: Das Schiff kentert, Tiko und der Faiseur schwimmen an Land, auf der dunklen Bühne hört man ihre Stimmen und der Faiseur sagt: „Je vais 21 Kam 2008: 69-70. 22 Butler 2010: 31. Vgl. auch Butler 2010, 24: „Such frames are operative in imprisonment and torture, but also in the politics of immigration, according to which certain lives are perceived as lives while others, though apparently living, fail to assume perceptual form as such.“ 23 Vgl. „Italien enttäuscht von EU“ (tagesschau.de, 24.02.2011). Der Streit, wie mit den Flüchtlingen innerhalb der EU zu verfahren sei, setzt sich im April fort. Siehe „Friedrich warnt vor falschen Signalen an Afrika-Flüchtlinge“ (reuters.com, 12.04.2011). 24 Kam 2008: 28.
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te sortir de là [...] Te sortir de là et remonter le chemin qui mène au pays de l’enfance. Ouais. Te sauver ... Et me sauver.“25 Der Nebentext der Theaterstücke benennt im Falle von Kam und Minoungou fiktionale Schauplätze oder die konkrete Einrichtung der Bühne, Tarnagda verzichtet auf derartige Angaben. Setzt man sie in Beziehung zur Art der Inszenierung der Stücke, so fällt die häufig fast leere, auf das Wesentliche reduzierte Bühne auf, die zahlreiche Inszenierungen bestimmt. Diese Bühne verweist die Figuren aufeinander oder auf sich selbst. Der Schauspielstil, den die Stücke verlangen, ist durchaus psychologisch. Wenngleich die Figuren Umgangssprache reden, ist diese doch deutlich literarisiert, wie Minoungous Arbeit mit Parallelismen oder Tarnagdas Arbeit mit Wiederholungen zeigen. Nicht die Abbildung der Wirklichkeit steht dabei im Zentrum ihrer Stücke, sondern die poetische, paradigmatisch verdichtete Szene der Interdependenz des Subjekts. „We come into the world unknowing and dependent, and, to a certain degree, we remain that way. We can try, from the point of view of autonomy, to argue with this situation, but we are perhaps foolish, if not dangerous, when we do“26, schreibt Butler. Dass diese Beziehung zum Nächsten grundlegend ist, wird in diesen Stücken deutlich. „Tu ne peux pas vivre si il n’y a pas ce lien“27, meint Tarnagda im Gespräch über seine Texte. Existentielle Krisensituationen dominieren dabei die hier behandelten Stücke. Fast alle Figuren sind als Täter und Opfer auf den gewaltsamen Tod bezogen. Die Fürsorge für die Toten – die Pflege der Gräber in L’amour au cimetière, die Sorge, den Toten zu trinken zu geben in der Kindheitsszene von Madame, je vous aime – steht im Kontrast zur Gewalt, die die Figuren erfahren, mit der sie sich wehren oder die ihnen als einziger Weg bleibt: „J’ai dû entrer dans l’armée, moi qui voulais entrer au séminaire“28, erklärt der Faiseur bei Kam. Das Wissen um die Fragilität des Lebens führt jedoch auch zu neuen Allianzen, die darauf gründen, dass das Subjekt seine eigenen Verwundungen offen legt. Die Beziehung zum Publikum lässt sich auf viele Weisen herstellen. Das ‚théâtre de la sensibilisation‘ greift dazu aktuelle Themen wie HIV oder das Wahlverhalten der Bevölkerung auf und gibt dem Publikum die Möglichkeit, im ‚théâtre forum‘ mitzuwirken. Jean-Pierre Guingané schrieb Parabeln zu Themen wie politischer Herrschaft und sozialem Miteinander und griff auf traditionale Erzählungen und Darstellungsweisen zurück. Für die hier betrachteten Texte ist die Situation, dem Anderen ausgesetzt zu sein, fundamental. Es ist diese existentielle Erfahrung, die die Beziehung zum Publikum herstellt. In dieser Ausrichtung unterscheiden sich diese Stücke von den anderen in der Reihe Récréâtrales veröffentlichten Theatertex25 Kam 2008: 98. 26 Butler 2004: 23. 27 Tarnagda 2011. 28 Kam 2008: 63.
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ten, wie etwa des Togoers Rodrigue Norman und des aus dem Niger stammenden Alfred Dogbé. Greift Normans Chronique des années du partir die Konstellation von En attendant Godot auf, indem die drei Rückkehrer im Stadium des Wartens gezeigt werden, erwartungsfroh und der falschen Hoffnung hingegeben, jemand könne sie nach Jahren der Abwesenheit vom Flughafen abholen, so zeigt Dogbés Du gombo pour deux légumes die Vermischung und den Konflikt traditionaler Kultur und zeitgenössischer globaler Rap-Musik. Die Theatertexte des ersten Jahrzehnts im neuen Jahrtausend beleuchten ein Subjekt, das von Gewalterfahrungen geprägt ist. Es wehrt sich seines Lebens und verliert darüber den Kontakt zum Nächsten. Die Bühne wird zum Ort, an dem sowohl die Einsamkeit des Subjekts wie auch die Möglichkeit von Beziehung ausgestellt wird. Monadisch ist dabei das Subjekt in keinem Fall. Immer ist es Teil eines Beziehungsgeflechts, auch wo es die imaginären durch die realen Personen substituiert. „[L]a création artistique est, avec la production intellectuelle d’un pays […] la voie nécessaire pour permettre la compréhension du monde, pour encourager la participation des citoyens, donc pour faire vivre la démocratie“29, schreibt Etienne Minoungou. Bezieht man diese Aussage auf die hier analysierten Texte, so impliziert dies, dass gerade diese Texte ein Subjekt verständlich machen, das angesichts familialer und ökonomischer Verlusterfahrungen auf der Suche nach neuen Bindungen ist.
L ITERATUR Benon, Babou: „Deux expériences théâtrales. Entretien avec Jean-Pierre Guingané et Prosper Kompaoré“, in: Notre librairie 101 (1990a), 75-81. Benon, Babou: „Jean-Pierre Guingané et le Théâtre de la Fraternité. La permanence et la tradition“, in: Notre librairie 101 (1990b), 76-78. Benon, Babou: „Prosper Kompaoré et l’Atelier Théâtre Burkinabè. Un théâtre de participation“, in: Notre librairie 101 (1990c), 79-81. Bühler-Dietrich, Annette: „Das westafrikanische Drama und Theater der Gegenwart am Beispiel Burkina Fasos“, in: dies./Joly, Françoise (Hg.): Voyages d’Afrique. Interkulturelle Dialoge mit Afrika. Stuttgart: IZKT 2011, 93-101. Butler, Judith: Undoing Gender. New York: Routledge 2004. Butler, Judith: Frames of War. When is Life Grievable? London: Verso 2010. Dogbé, Alfred: Du gombo pour deux légumes. Théâtre. Ouagadougou: Découvertes du Burkina 2008.
29 Minoungou 2010: 3.
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„Friedrich warnt vor falschen Signalen an Afrika-Flüchtlinge“, in: http://de.reuters. com/article/domesticNews/idDEBEE73B00Q20110412 [12.04.2011]. Guingané, Jean-Pierre: „Du manuscrit à la scène. Panorama du théâtre“, in: Notre librairie 101 (1990), 67-72. Guingané, Jean-Pierre: La Savane en transe. Pièce de théâtre-débat en trois tableaux. Ouagadougou: Editions Gambidi 1996a. Guingané, Jean-Pierre: Les lignes de la main. Pièce de théâtre en trois tableaux. Ouagadougou: Editions Gambidi 1996b. „Italien enttäuscht von EU“, in: www.tagesschau.de/ausland/fluechtlingspolitik 102.html [04.04.2011]. Kam, Sophie Heidi: Et le soleil sourira à la mer. Théâtre. Ouagadougou: Découvertes du Burkina 2008. Kibora, Ludovic O./Bationo, Arsène Flavien: „Der Tod allein ist die Grenze“, in: Hemke, Rolf C. (Hg.): Theater südlich der Sahara/Theatre in Sub-Saharan Africa. Berlin: Theater der Zeit 2010, 47-50. Le Cartel: Récréâtrales 2010. Indépendantristes. La Plateforme Festival du 04 au 12 Novembre 2010. Catalogue 2010. Marcus, Dorothea: „72 Stunden in Burkina Faso. Start-up mit Soja und Blech“, in: Theater der Zeit 2 (2011), 64-65. Minoungou, Etienne: Madame, je vous aime./Comme des frères. Théâtre. Ouagadougou: Découvertes du Burkina 2008. Minoungou, Etienne: „Le mouvement des artistes et des intellectuels. Création et réflexion au service de la gouvernance démocratique“, in: Hakili. Trimestriel du mouvement des intellectuels du Manifeste pour la liberté 12 (2010), 3-5. Norman, Rodrigue: Chronique des années du partir. Théâtre. Ouagadougou: Découvertes du Burkina 2008. Tarnagda, Aristide: De l’amour au cimetière. Théâtre. Ouagadougou: Découvertes du Burkina 2008. Tarnagda, Aristide: Les larmes du ciel d’aout. Ungedrucktes Manuskript, 13 S. Tarnagda, Aristide: „‚Mon écriture est un souffle.‘ Gespräch mit Annette BühlerDietrich.“ 29.03.2011, Ouagadougou.
Stimm-Maskeraden Zur Politik der Polyphonie J ENNY S CHRÖDL
Stimmen nehmen im postdramatischen Theater einen herausragenden Stellenwert ein. Kennzeichnend für deren Ästhetik ist die Ausstellung der Stimme selbst – sie fungiert nicht mehr ausschließlich als Medium dramatischer Sprache und als Medium der Darstellung psychologisch gedachter Figuren, sondern wird als eigenständiges theatrales Material präsentiert und erfahrbar gemacht.1 Zudem ist eine Heterogenität an stimmlichen Verlautbarungen für das postdramatische Theater charakteristisch, dies schließt körperliche Verlautbarungen, chorische und solistische Stimmen ebenso wie elektronisch verstärkte, veränderte oder vervielfältigte Stimmen ein. Mit den vokalen Einsätzen werden überdies eine Bandbreite an Themen verhandelt, etwa das Verhältnis von Stimme und Körper, von Stimme und Raum oder von Stimme und Sprache.2 Eine wesentliche Rolle spielt in diesem Kontext die Verhandlung des Zusammenhangs bzw. der Diskrepanz von Stimme, Identität und Subjektivität. So wird beispielsweise durch vokale Travestien Geschlechtsidentität als konstruierte und variable Größe thematisiert oder im stark verausgabenden Sprechen und Schreien die Beherrschung des Stimmkörpers durch das Subjekt kritisch befragt. Ein wesentliches und zugleich wenig beachtetes Verfahren ist in diesem Zusammenhang die Polyphonie, welche – und das ist hier zu betonen – durch einen einzelnen Akteur bzw. eine einzelne Akteurin hervorgebracht wird. Durch die Kombination und den Wechsel von diversen Sprechweisen, Stimmmustern und -zitaten innerhalb eines Sprechakts wird eine Vielstimmigkeit erzeugt, die den Eindruck verschiedener Identitätsmerkmale und mehrerer Persönlichkeiten evoziert. Im Mittelpunkt meiner 1
Vgl. Lehmann 1999: 274-276; Kolesch 2005: 317-320; Schrödl 2009: 173-174.
2
Siehe Fischer-Lichte 2004: 219-227.
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Überlegungen steht die so verstandene solistische Polyphonie. Ausgangspunkt ist die These, dass die Polyphonie im postdramatischen Theater eine kritische Strategie darstellt, mit ihr folglich eine bestimmte Art der Politik verbunden ist, der es im Folgenden nachzugehen gilt.
P OLYPHONIEN
IM THEATRALEN
R AUM
Der Begriff der Polyphonie bezeichnet im musikwissenschaftlichen Sinne ein Verfahren der Mehrstimmigkeit, ein Verfahren der Beziehungsgestaltung verschiedener Stimmen in einem musikalischen Satz.3 Genauer meint Polyphonie einen Satz aus mehreren unterschiedlichen Stimmen, welche gleichberechtigt in- oder nacheinander existieren, ohne dass sie als homogene Einheit erscheinen oder einer Leitstimme untergeordnet werden.4 Das heißt, es geht bei der hier zur Debatte stehenden Polyphonie weder um Stimmlichkeiten, die nur punktuell eine andere Figur/Person darstellen, aber prinzipiell im Dienst einer dominierenden Führungs- oder Erzählstimme stehen, ebenso geht es nicht, wie Doris Kolesch in Bezug auf Artauds polyphone Exzesse herausstellt, „um psychologische Stimmen, auch nicht um gleichsam veräußerlichte innere Stimmen, noch um durch einzelne Stimmen repräsentierte Charakterelemente einer Person“5. Die diversen Stimmen entwerfen „prozessual einen jeweils neu und anders entstehenden Körper und damit verbundene Artikulationsformen und Atmosphären“6, ebenso wie sie je andere Identitäten und damit einhergehende Vorstellungen produzieren. Ein Beispiel aus dem Gegenwartstheater ist der Auftritt Dimiter Gotscheffs in der Hamletmaschine (2007), bei dem seine stimmliche Verlautbarung durch permanente Veränderungen und Sprünge geprägt ist. Spricht er manchmal in ruhigem, bedächtigem, fast neutralem Duktus, so verfällt er an anderen Stellen unvermittelt in ein schnelleres, hektisches, körperbetontes Sprechen, in weiteren Momenten nutzt er eine hohe, krächzende Stimme, dann wieder lallt er unverständlich in den Raum. Kaum lässt sich dabei herausfinden, in wessen Namen Gotscheff spricht: Tritt er als Schauspieler in einer bestimmten Rolle auf oder in seiner Eigenschaft als Regisseur oder auch als private Person Gotscheff? Existenz und Spiel, Präsenz und Repräsentation lassen sich kaum voneinander trennen. Vordergründig ist hier der Einsatz verschiedener Stimmen in einem Sprechakt und die damit verbundene Gestaltung und Evokation von unterschiedlichen, auch miteinander im Konflikt lie-
3
Siehe Elscheková 1996: 1782-1790.
4
Siehe Roesner 2003: 241-250.
5
Kolesch 1999: 134.
6
Kolesch 1999: 134.
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genden Figuren und Identitäten in der Phantasie und Imagination der Zuschauenden/Zuhörenden: Im Verlauf der etwa 30-minütigen Szene meine ich Gotscheff abwechselnd als strengen, herrischen Regisseur, als Hamlet spielenden Darsteller, als altes, aus einem Märchen entsprungenes Männlein und als Betrunkenen wahrzunehmen. Wesentlich ist dabei, dass Gotscheffs unvermittelt wechselnden Stimmen die Vorstellung einer einheitlichen fiktionalen Persona und Subjektivität unterminieren. Sein Monolog wird zum Polylog, welcher keine bestimmte, klar abgegrenzte Figur darstellt, sondern der sich gerade durch die Inszenierung einer Mehrzahl und einem Wechsel an assoziierbaren Persönlichkeiten auszeichnet. In verschiedensten Inszenierungen des postdramatischen Theaters lassen sich weitere Beispiele für die solistische Polyphonie finden, die freilich in Erscheinungsund Inszenierungsweisen sowie in je verhandelten Identitätsformen differieren: So ist etwa an den Monolog Einar Schleefs in Verratenes Volk (2000) zu erinnern, bei dem Schleef verschiedene Stimmen nutzt, welche von der typischen Prediger- und Rezitatorstimme über die Stimme Nietzsches bis hin zur Stimme Hitlers reichen. Ebenso ist zu denken an Graham Valentines experimentelle Vokalisationen, etwa in Marthalers Maeterlinck (2007): Hierbei changiert die Verlautbarung zwischen Sprech- und Singstimme, zwischen hohem und tiefem Register, zwischen Sprache und Geräusch. Auch Isabelle Huppert greift in Robert Wilsons Orlando (1993) eine Vielfalt stimmlicher Codes und Akzente auf, nach Helga Finter hören wir in einer Verlautbarung „voices of little boys and girls, petits marquis and braggarts, precious socialites, libertine countesses, blasé bourgeoises, Charcot’s hysterics, and ironic femmes de lettres“7. Nicht zuletzt ist an den Einsatz von besonderen, eigentümlichen Stimmen im postdramatischen Theater zu erinnern, etwa von Sophie Rois, deren Stimme ebenfalls eine Polyphonie aufweist, insofern sie sich zwischen verschiedenen akustischen Parametern und Registern bewegt.8 Die Polyphonie stellt nun kein neues und ausschließlich dem postdramatischen Theater zuzurechendes Verfahren dar, sondern findet bereits Einsatz bei den historischen (Theater-)Avantgarden sowie in der Performance Kunst seit den 1960er Jahren. Ein wesentliches Beispiel für die historischen Avantgarden stellt Antonin Artauds exzessiver Stimmeinsatz dar, wie er ihn in dem Radiostück Pour en finir avec le jugement de dieu (1947) darbietet: Artaud führt etwa im ersten Teil einen Variationsreichtum stimmlicher Äußerungen auf und vor, die nach Kolesch „zwischen der Stimme eines Politikers, eines Messias, eines Wahnsinnigen, eines lästernden Waschweibs, eines Predigers, eines Fluchenden“ 9 u.v.a. übergangslos wechseln. Im achten Teil wiederum experimentiert Artaud mit verschiedenen Formen des Schreiens, die teilweise an die Grenzen dessen stoßen, was überhaupt als 7
Finter 1997: 136.
8
Siehe Schrödl 2009: 178-179.
9
Kolesch 1999: 129.
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menschlicher Laut gilt: wiederholt wirken die Schreie wie das Gebrüll von Raubtieren oder wie das Gekreische von Vögeln. Im Kontext der Performance Kunst sind u.a. Rachel Rosenthals Performances exemplarisch herauszustellen, da die Performerin stets eine Bandbreite an stimmlichen Verlautbarungen in Szene setzt. In Pangaen Dreams. A Shamanic Journey (1990) führt sie beispielsweise Stimmwechsel zwischen einer Femme Fatal, einem autonomen Wesen, einem Klageweib, einer röchelnden Alten, einer rasenden Frau, einem uralten Greis u.v.a. vor und spielt dabei insbesondere mit geschlechtsspezifischen Codes, Klischees, Besetzungen und Bildern, die innerhalb westlicher Kultur kursieren.10 Der Einsatz der Polyphonie im postdramatischen (Gegenwarts-)Theater steht – wie eingangs erwähnt – im Zusammenhang mit einer veränderten Stimmästhetik, die mit Kolesch als „verstärkte Ausstellung der Eigenwirklichkeit von Stimmen charakterisiert werden“11 kann. Kurz gesagt: Massiv in den Vordergrund rückt das sinnliche Erscheinen und Wirken von Stimmen im jeweiligen Hier und Jetzt einer Aufführung, während Aspekte der verständlichen und sinnbetonten Artikulation, der einheitlichen Verkörperung von Figuren und der Repräsentation einer (dramatischen) Erzählung in den Hintergrund rücken. Die Polyphonie hat vor diesem Hintergrund eine doppelte theaterästhetische Funktion: Einerseits führt der Wechsel verschiedener Stimmen innerhalb einer Verlautbarung zur forcierten Ausstellung und Präsenz des stimmlichen Phänomens im situativen Geschehen einer Aufführung; andererseits wird die solistische Polyphonie eingesetzt, um die Darund Vorstellung psychologischer Figuren zu dekonstruieren. Überdies hat die Polyphonie im postdramatischen Theater nicht nur ästhetische, sondern auch politische Funktionen. Nach Hans-Thies Lehmann ist das Politische des postdramatischen Theaters grundsätzlich nicht als direkter Bezug zwischen Politik und Theater im Sinne einer Repräsentation und Aufklärung zu verstehen, noch als Vermittlung politischer Botschaften einer sozialen oder politischen Gruppierung auf der Bühne. 12 Das Politische erscheint vielmehr „nur indirekt“ 13 , indem herrschende gesellschaftliche wie politische Praktiken und Diskurse eben nicht regelkonform, sondern vielmehr in gebrochener, veränderter Form wiedergegeben werden, was diese unterwandert und destabilisiert. Lehmann spricht in dem Zusammenhang vom Politischen des Theaters als „Unterbrechung des Politischen“14. Gestörte, übertriebene oder misslungene Wiederholungen von dominierenden Körperpraktiken, Verhaltensweisen, Kommunikationsformen, Identitätsentwürfen o.a. auf
10 Siehe Schrödl 2006: 385-389. 11 Kolesch 2005: 318. 12 Siehe Lehmann 2002: 12-13. 13 Lehmann 2002: 16. 14 Lehmann 2002: 17.
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der Bühne bewirken, auch im Sinne von Judith Butlers Subversionsbegriff15, dass diese in einem anderen Licht erscheinen und damit Regeln, Funktionsweisen, Zwänge und Machtstrukturen offensichtlich werden, die in der gesellschaftlichen Wirklichkeit verschleiert oder verdrängt sind. Wie Lehmann herausstellt, gibt nur die „Unterbrechung des Regelhaften [...] die Regel zu sehen und verleiht ihr wieder [...] den in der fortdauernden Pragmatik ihrer Anwendung vergessenen Charakter radikaler Fragwürdigkeit“16. In der veränderten, regelwidrigen Re-Präsentation liegt also ein Moment der Destabilisierung und Kritik bestimmter normativer Praktiken, Diskurse und Vorstellungen,17 ebenso wie die Möglichkeit der affirmativen Gestaltung anderer Identitäts- sowie Subjektentwürfe. Das Politische des postdramatischen Theaters ist mit Lehmann entsprechend als „Praxis der Ausnahme“18 zu verstehen: Es wendet sich an das, was im politischen und sozialen Feld ausgegrenzt, marginalisiert oder vergessen wird, es ist ein „Theater, das seine ästhetische Begrenzung durchbricht, indem es seiner politischen Verantwortung folgt, fremde Stimmen, die kein Gehör und in der politischen Ordnung keine Repräsentation finden, einzulassen, so den Ort des Theaters zu öffnen für das politische Draußen“19. Damit ist allerdings nicht ein Zugriff auf kulturell Außerhalbliegendes gemeint, sondern vielmehr eine produktiv-bestätigende Entfaltung der unausgesprochenen, übriggebliebenen, verworfenen Möglichkeiten, die innerhalb jeder Kultur liegen. Vor diesem Hintergrund lässt sich die Polyphonie als eine kritische Strategie verstehen: Bei der polyphonen Äußerung werden kulturelle Stimmmuster und -codes in solcher Weise rezitiert und reinszeniert, dass Mechanismen und Normen offenbar werden, die sonst weder völlig bewusst noch selbstverständlich sind. Zu15 Siehe Butler 1991: 213-218. 16 Lehmann 2002: 17. 17 Verschobene oder veränderte Wiederholungen sind aber nicht an sich kritisch, sondern sie können auch herrschenden Ordnungen, Normen und Zwängen gegenüber affirmativ funktionieren. Ob eine subversive Strategie aufgeht oder nicht, ist in Abhängigkeit von der jeweiligen Art und Weise ihrer Inszenierung, vom Kontext, in dem diese eingesetzt wird und von der Wahrnehmung und Interaktion durch die Rezipierenden zu verstehen (siehe Butler 1991: 204; Butler 1995: 178). Die Strategie der Polyphonie beispielsweise beinhaltet zwar Irritationen einer stabilen, einheitlichen sowie binär organisierten Subjekt- und Identitätsvorstellung, allerdings ist damit nicht gesagt, dass ihre Devianz nicht auch dazu dienen kann, diese Identitätsordnungen gerade zu bestätigen. Die multiplen und hybriden Stimmen können auch dazu genutzt werden, um in Form einer Negativfolie das zu bejahen, was als normal und anormal gilt, sowie die polyphon sprechende Person denunziert oder als krankhaft abgestempelt und ausgegrenzt werden kann. 18 Lehmann 2002: 17. 19 Lehmann 2002: 14-15.
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dem wird mit der Polyphonie die Dar- und Vorstellung eines einheitlichen, stabilen Subjekts irritiert und kritisch beleuchtet, ebenso wie andere Identitäts- und Subjektvorstellungen affirmativ präsentiert werden, welche im westlichen Kulturraum höchstens als Ausnahme- oder Sonderfälle behandelt werden. Um diese Aspekte einer Politik der Polyphonie soll es im Folgenden gehen.
S ICH WANDELNDE S TIMMEN – S UBJEKTE
IM
P ROZESS
Zentrales Merkmal der solistischen Polyphonie ist der Einsatz einer Viel- oder Mehrzahl von Stimmen innerhalb eines Artikulationsakts, so dass der Eindruck mehrerer und verschiedener dargestellter Figuren bzw. Subjektpositionen entsteht. Es geht folglich um die überraschende, auch widersprüchliche Kombination und der übergangslose Wechsel von verschiedenen Stimmen und Identitätsmerkmalen in einer Verlautbarung, welche sonst, im vorherrschenden soziokulturellen Kontext als getrennt, einander nicht zugehörig bzw. als sich wechselseitig ausschließend konzipiert werden. Also etwa das Ineinanderübergehen von männlichen und weiblichen Codierungen der Stimme, die Kombination von unterschiedlichen Akzenten, Dialekten und Sprachen oder auch die Überlagerung unterschiedlicher gesellschaftlicher Stimmtypen und Identitäten, wie die Stimme eines uralten Greises mit der hellen, kreischenden Stimme eines Kindes. Bei der mehrstimmigen Äußerung handelt es sich also um eine Art der Vokalisation, die sich nicht regelkonform verhält, sie stellt eine gebrochene, verzerrte, ja exzessiv übertriebene Wiedergabe von Alltagsstimmen und mit ihnen evozierten Subjektivitätsformen dar. In diesem Zusammenhang ist vor allem das Verfahren der stimmlichen Zitation/Imitation oder der „Intervokalität“20 im Sinne Finters von Bedeutung. Gemeint ist damit eine erweiterte Zitatpraxis von historisch und soziokulturell konstituierten Sprechweisen, Stimmtypen und -charakteristika auf der Bühne. Das Zitieren von Stimmen bezieht sich auf verschiedene Dimensionen: zum einen auf Stimmcharakteristika bestimmter existierender oder historischer Personen, beispielsweise wenn Schleef die gepresste Stimme Hitlers imitiert. Zum anderen kann sie sich auf das Inventar kulturell codierter Stimmen beziehen, „auf wahrscheinliche Stimmqualitäten von gesellschaftlichen und theatralen Stimmtypen“21. So z.B., wenn Gotscheff die lallende Stimme eines Betrunkenen, die hohe, krächzende Stimme einer Märchenfigur und die kräftige, tiefe Stimme von Autoritäten nutzt. In diesen Kontext der Zitation gehören ebenfalls emotionale, ethnische, herkunfts-, alters- sowie geschlechtsspezifische Codierungen der Stimme, beispielsweise bei Rosenthals Per-
20 Siehe Finter 2002: 39-49. 21 Finter 2002: 46.
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formances, wenn sie forciert tiefe und dunkle Töne verwendet, um eine männliche Stimme, und eine übertrieben hohe Tonlage und einen weichen Stimmansatz, um eine weibliche Stimme zu produzieren. Polyphonie kann schließlich auch durch den Einsatz verschiedener vokaler Artikulationsweisen erzeugt werden, etwa von Singund Sprechstimmen, von verschiedenen Sprachen (Polyglossie), von Schrei- oder Flüsterformen, von Lauten, Rufen oder Geräuschen. Kennzeichnend für die Aufführung der Polyphonie im postdramatischen Theater ist nun, dass die Künstler nicht einfach vokale Zitate nutzen und diese gleichsam in einer einheitlichen figuralen Darstellung unthematisiert lassen; im Gegenteil: Sie greifen vorherrschende Stimmcodes sowie damit verbundene Identitätsmerkmale und Subjektivitätsformen auf, aber eben in verzerrter, verstörender und übertriebener Weise, so dass diese als solche auffällig und bemerkbar werden. Dies wird einerseits durch eine verzerrte oder übertriebene Darbietung einzelner Stimmtypen oder -charakteristika in der Verlautbarung erreicht, anderseits durch die eingesetzte Vielzahl an diversen Stimmformen und -codes, welche eine Form massiver Übertreibung, ja der Maßlosigkeit und des Exzesses darstellt. Durch derart veränderte Wieder-Aufführungen wird die soziokulturelle Bedingtheit und Konstruiertheit sowie die kulturhistorische Prägung von Stimmen und den mit ihnen hervorgebrachten Identitäten offensichtlich, was im westlichen Kulturraum durchaus keine Selbstverständlichkeit darstellt. Denn gerade die Stimme gilt in der Alltagspraxis nach wie vor als authentisches Phänomen, welches die (emotionale, ethnische, geschlechtliche, altersspezifische etc.) Verfasstheit sowie das Individuelle einer Person quasi natürlich wiedergeben und kenntlich machen würde. Die Polyphonie hat entsprechend – ähnlich wie Parodie, Travestie oder Drag – einen kritisch-entlarvenden Effekt bezüglich der Naturalisierung und Essentialisierung von Identität und Subjektivität. Der Einsatz mehrerer, auch sich scheinbar widersprechender Stimmen und mit ihnen entworfener Identitäten und Subjektbilder macht deutlich, dass diese nichts quasi natürlich Gegebenes, sondern im Sinne von performativen Akten stets hervorgebrachte und mithin kontingente und variable Größen darstellen. Subversive Praktiken des Drag oder der Travestie machen auf einen Riss zwischen Geschlechtskörper und sozialer Geschlechtsidentität aufmerksam, indem nach Butler „mit der Unterscheidung zwischen Anatomie des Darstellers [...] und der dargestellten Geschlechtsidentität“22 gespielt wird. Sie führen auf diese Weise vor, dass es keinen originären und essentiellen Zusammenhang zwischen Körper und Identität gibt, sondern ihre Einheit auf sozialen Konventionen und normativen Zwängen beruht. Mit der Polyphonie kann ebenfalls auf eine Diskrepanz zwischen (visuellem) Körper und (akustischer) Identität verwiesen werden, zuvorderst macht sie allerdings auf Risse bzw. Spuren in der Stimme/Identität selbst aufmerksam. Vielstim22 Butler 1991: 202.
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migkeit verdeutlicht einerseits, dass es keine authentisch-natürliche, originäre und in diesem Sinne eigene Stimme gibt, die nicht bereits durchsetzt ist von Fremdstimmen,23 also von kulturellen und sozialen Stimmmustern und -codes, die dem Subjekt vorausgehen, ihm entzogen sind und es aber zugleich bestimmen. Andererseits zeigt Mehrstimmigkeit in der Überkreuzung und im unvermittelten Wechsel von sich vermeintlich essentiell ausschließenden akustischen Parametern und Subjektivitätsformen (etwa: männlich/weiblich, alt/jung, schwarz/weiß, menschlich/ tierisch) den phantasmatischen und normativ hergestellten Charakter dieser Trennungen und Grenzziehungen an. Unterminiert und destabilisiert wird mit der Polyphonie dementsprechend die Dar- und Vorstellung eines einheitlichen, kohärenten Subjekts, dessen Gleichförmigkeit sich auf eine binäre Logik bezieht, also unter Ausschluss und Verwerfung des je Gegensätzlichen produziert wird. Mit der Polyphonie wird diese Vorstellung eindeutiger und dichotom organisierter Identität und Subjektivität nun gleichermaßen irritiert und überschritten, indem mit ihr andere Identitäts- und Subjektvorstellungen spielerisch erprobt und in Szene gesetzt werden, die einer Logik des Sowohl-als-Auch, ja einer Logik des Vielen folgen: So kann sich jemand stimmlich als zwischen weiblich, männlich, alt, jung, fiktiv, real u.v.a. changierend entwerfen. Es kommen also Identitätsentwürfe und Subjektvorstellungen ins Spiel, die im sozialen oder politischen Feld an den Rand gedrängt, abgewertet oder ausgegrenzt werden und die mit dem Begriff des Hybriden umrissen werden können. Der Begriff ‚hybrider Identität bzw. Subjektivität‘ betont im Sinne von Homi Bhabha und Andreas Reckwitz die Produktion von Identität und Subjektivität durch die Kombination und Kreuzung diverser, auch widersprüchlicher Codes, Praktiken und Techniken, welche aus unterschiedlichen Zeiten, Räumen und Milieus stammen.24 Mit der Polyphonie wird Identität schließlich nicht als stabile und konstante, unveränderliche Größe präsentiert, sondern als variable, im Fluss oder im Werden befindliche Kategorie: In den verschiedenen vokalen Situationen werden punktuell Identitätsbilder hervorgerufen und festgelegt, so wie sie zugleich von anderen ersetzt und aufgelöst, dann wieder aufgegriffen und verändert werden usw. Auf diese Weise vermag kein stabiles Identitätsgefüge zu entstehen, vielmehr tritt die fortwährende Bewegung in den Vordergrund der Aufmerksamkeit. Es kommt also die Prozessualität, die nie völlig abgeschlossene Konstitution des Subjekts zum Vor23 Die Fremdheit in der eigenen Stimme betont auch Bernhard Waldenfels, womit er allerdings eine grundlegende pathische Dimension des Sprechens meint (siehe Waldenfels 2003: 23-24). Diese Vorstellung des Sprechens/stimmlichen Verlautens als Widerfahrnis bzw. Fremderfahrung erweitert den hier angesprochenen Zusammenhang von dem Subjekt vorgängigen vokalen Codes und sozialen Mustern um einen ganz wesentlichen Aspekt. 24 Siehe Reckwitz 2008: 103-104.
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schein und damit eine Vorstellung vom ‚Subjekt-im-Prozess‘. Wenn Schleef sich stimmlich vom Prediger, zu Nietzsche und Hitler verwandelt oder Rois vokal zwischen männlich und weiblich konnotierten Stimmcharakteristika wechselt, dann steht dabei nicht (oder nicht nur) zur Debatte, dass er/sie dies alles sind bzw. nicht sind, sondern vielmehr rückt der Aspekt der Verwandlung selbst in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit. Wesentlich an der Polyphonie ist, dass die Identitäts- und Subjektkonstitution nicht zum Ende kommt. Ihr Sinn liegt vielmehr in der fortwährenden Bewegung selbst, welche die permanente Verwandlung und Prozessualität des Selbst präsentier- und erfahrbar macht. Wie die Maskerade, von der Gertrud Lehnert spricht, ist die Polyphonie in einer „Spirale ohne Anfang und Ende zu verorten“, „als eine Bewegung von etwas fort zu etwas anderem hin“, welche teilhat „an verschiedenen Positionen, ohne sie jemals zu sein, denn im endgültigen Sein würde sie ihren Sinn verlieren“.25
P OLYPHONIE ERFAHREN : W AHRNEHMUNGSPOLITISCHE INTERVENTIONEN Wesentlich für ein Verständnis der Polyphonie im Theater ist überdies, dass sich die kritischen Interventionen nicht nur als eine Politik der Produktion und Darstellung, sondern stets auch als Politik der Rezeption und Wahrnehmung realisieren. Die destabilisierende und verstörende Sprengkraft, das subversive Potential der Polyphonie stehen nicht nur mit der virtuosen Stimminszenierung und -aufführung einer Solistin oder eines Solisten im Zusammenhang, sondern ebenso mit der spezifischen Wirkung des Stimmexzesses auf die Zuhörer.26 Signifikant für die Wirkung und Erfahrung der Polyphonie erscheint der Bruch mit und die Abweichung von
25 Lehnert 1997: 37. 26 In diesem Zusammenhang sei zumindest angemerkt, dass die Darsteller keinesfalls die Erscheinung, Wirkung und Erfahrung der Stimme – und somit das kritische Potential polyphoner Stimmen – determinieren. Dieses ereignet sich grundsätzlich in einem Zwischenraum von Sprechenden und Hörenden innerhalb eines spezifischen Kontexts und lässt sich nicht einer einzelnen subjektiven Handlungsinstanz zuschreiben. Dennoch hat das Gelingen (und Misslingen) des kritisch-politischen Effekts mit den einzelnen Beteiligten zu tun, wozu etwa auch gehört, dass die Zuhörenden für die Polyphonie offen sein, sich auf sie einlassen müssen. Sie können sich aber auch gegen die sich permanent wandelnde Stimmlichkeit wenden, zum Beispiel indem sie sie überhören, sich nach innen wenden, zurückziehen und so die Erscheinung abwehren. Insofern eröffnen die Künstler mit der polyphonen Verlautbarung immer nur einen kritischen Möglichkeitsraum und keine sichere Notwendigkeit.
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habitualisierten Wahrnehmungs- und Erkenntnisweisen von Stimmen sowie von gewöhnlichen Vorstellungen von Subjektivität und Identität. Nehmen wir die Stimme der anderen Person meistens kaum bewusst wahr und erkennen innerhalb kürzester Zeit die jeweilige Verfasstheit der sprechenden Person, indem wir sie unbewusst in soziokulturell etablierte Schemata und Ordnungen eingliedern, so setzt die polyphone Äußerung den finalen (Wieder-)Erkennungsmechanismus außer Kraft: Die wechselhaften stimmlichen Verlautbarungen stören die Bestimmungsversuche auf eine einzelne dargestellte Figur bzw. Identität hin, so wie sie auch eine umfassende und übergeordnete Erkenntnis über die artikulierende Person und deren Situation unterminieren. Der Hörende schwankt beim Erfahren der Polyphonie gewissermaßen zwischen verschiedenen Bedeutungssystemen, Klassifikationen und Zuschreibungen: Die je unterschiedlichen Stimmen in der Verlautbarung evozieren jeweils andere Bedeutungen und rufen je verschiedene Zuschreibungen hervor. Der Zuhörende identifiziert also im Verlauf der Performance divergierende Identitätsmerkmale, ohne aber eine einheitliche und sichere Erkenntnis über die (dargestellte oder präsentierende) Person erhalten zu können. Die polyphone Äußerung entzieht sich geläufigen Einordnungen in männlich oder weiblich, jung oder alt, echt oder unecht etc. und vermag so auf der Ebene der Wahrnehmung und Erfahrung die Kontingenz sowie die kulturelle Verfasstheit der Kategorien und der Grenzziehungen zwischen ihnen vorzuführen. Mit der Störung der gewöhnlichen Wahrnehmung und Erkenntnis wird – quasi im Verfehlen oder Scheitern der Vermögen – auf diese selbst aufmerksam gemacht und mithin eine Entautomatisierung der Wahrnehmung bewirkt. Dabei kann dem Hörenden ebenfalls zu Bewusstsein kommen, dass wir immer auch im Hören die Identität und Subjektivität des Gegenübers mithervorbringen und somit Mitverantwortliche im intersubjektiven Geschehen sind. Zugleich wird die Möglichkeit für die Zuhörenden eröffnet, ihre Aufmerksamkeit auf un- und außergewöhnliche Stimmlichkeiten, Identitäts- und Subjektentwürfe zu richten. Lehmann sieht den Kern einer Wahrnehmungspolitik des Theaters entsprechend in einer Schärfung des Sinns für die Ausnahme, für das, „was in aller Regel die Ausnahme bleibt, für das Liegengelassene, das Unaufgehobene, das, was nicht aufgeht und darum einen Anspruch darstellt: geschichtlich an die Erinnerung, gegenwärtig an die Abweichung“27. Insofern sich der Zuhörende zwischen verschiedenen Erkenntnissen und Zuschreibungen des Gehörten bewegt, lässt sich bezüglich der Erfahrung der Polyphonie insgesamt von einer Zwischen- oder Schwellenerfahrung sprechen, die stets eine Krise des Verstehens, Wahrnehmens, Fühlens und Vorstellens beinhaltet. Nach Erika Fischer-Lichte erfährt sich der Rezipierende bei einer Schwellenerfahrung „in einem Zustand des ‚Zwischen‘: zwischen unterschiedlichen Zuständen seines Be27 Lehmann 2002: 19.
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deutungssystems, zwischen unterschiedlichen Wahrnehmungsmodi, zwischen unterschiedlichen Möglichkeiten seiner Praxis“28. In Bezug auf die Erfahrung der Polyphonie kann sich der Zuhörende in einem Schwellenzustand in mehrerer Hinsicht befinden: Zunächst einmal, wie eben erläutert, zwischen verschiedenen Bestimmungen und Klassifikationen des Gehörten. Des Weiteren vermögen die mehrstimmigen Äußerungen unterschiedliche, auch widersprüchliche Stimmungen und Emotionen zu evozieren. Die je verschiedenen stimmlichen Erscheinungen bei Artauds Verlautbarung beispielsweise bringen jeweils neue und andere Stimmungen und Affekte hervor, die den Zuhörenden zuweilen aufwühlen, erheitern, befremden, begeistern oder bestürzen. Der Zuhörende durchlebt also im Prozess der Wahrnehmung ganz verschiedene Empfindungen und Gefühle und fühlt sich zwischen ihnen hin- und hergerissen, ohne eine bestimmte affektive Haltung einnehmen oder ein eindeutiges Urteil fällen zu können. Ähnlich verhält es sich mit der Imaginationskraft der hörenden Person: Gotscheffs stimmliche Äußerungen vermögen, wie eingangs erwähnt, unterschiedliche Bilder in der Phantasie der Zuhörenden zu produzieren, welche ebenfalls nicht in eine kohärente Vorstellung gefügt werden können. Die mit der Polyphonie produzierte wahrnehmungspolitische Intervention besteht also (idealiter) darin, die hörende Person in einen instabilen Zustand, in eine sich permanent veränderte Bewegung zu versetzen – sie wird sozusagen selbst, und nicht nur die stimmlich artikulierende Person, zu einem Subjekt-im-Prozess. Wer diesen mehrstimmigen Verlautbarungen zuhört, sich ihnen öffnet und aussetzt, der erfährt am eigenen Leib, dass das Erscheinen, Wahrnehmen und Erkennen von Stimmen/Subjekten ein sich stets wandelnder und prinzipiell offener Prozess ist. Polyphonie zu erfahren beinhaltet letztlich die Utopie eines veränderten Wahrnehmens und Erkennens des anderen Menschen. Der Hörende versucht dabei nicht, das artikulierende Subjekt innerhalb eines bestimmten, bereits vorgängigen Bildes (wieder) zu erkennen, es auf eine spezifische gesellschaftlich anerkannte Identitätsform festzulegen, sondern bleibt vielmehr offen und variabel in der Erkenntnis- und Zuschreibungsfähigkeit. Mehrstimmige Äußerungen appellieren an ein prozessorientiertes Hören, welches den Anderen (und das eigene Selbst) immer wieder neu oder anders zu entdecken und zu erfahren ermöglicht, und das mithin inhärente Differenzen, Abweichungen, Un- und Vielstimmigkeiten zulässt und anerkennt. Die Politik der Polyphonie im postdramatischen Theater, die sich in theatralen Aufführungen stets zwischen Bühne und Publikum entfaltet, lässt sich folgendermaßen zusammenfassen: Die Polyphonie von Solisten stellt eine Vokalisationsform dar, bei welcher diverse Stimmen so miteinander kombiniert und überlagert werden, dass sie mit konventionellen Stimmerscheinungen und -inszenierungen brechen. 28 Fischer-Lichte 2003: 143.
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Damit werden eindeutige Identifizierungen sowie starre Identitätsgrenzen unterlaufen, ebenso wie die hegemoniale Vorstellung eines einheitlichen, konstanten Selbst destabilisiert und zugleich ein prozessuales Subjektkonzept hervorgebracht und erfahrbar gemacht wird. Mit der Polyphonie kann der performative Konstruktionsund Prozesscharakter von Stimme, Identität und Subjektivität explizit ausgestellt und wahrgenommen werden, so wie sie eine affirmative Produktion und Rezeption von abweichenden Identitäts- und Subjektentwürfen zulässt, die im gesellschaftlichen Raum kaum oder kein Gehör finden. Die Polyphonie ist vor diesem Hintergrund schließlich als paradigmatische Form der Maskerade zu verstehen, insofern sie zentrale Aspekte des MaskeradeKonzepts umfasst, wie es in den Gender Studies seit den 1990er Jahren entwickelt wurde.29 Dazu gehören die Ausstellung des Inszenierungs- und Vollzugscharakters von (Geschlechts-)Identität, das Moment der Überschreitung/Subversion starrer und binärer Identitätskonzeptionen, das Gestalten andersartiger Identitätsentwürfe sowie die Prozessualität und Bewegung von Subjektivität. Kurzum: Polyphonie vermag im Wechsel der diversen Stimmen/Identitäten darauf zu verweisen, dass sich hinter einer Stimme immer eine weitere und noch eine weitere – ad infinitum – befindet; es versteckt sich folglich kein wahres Selbst hinter einer bestimmten Stimm-Maske, sondern umgekehrt, das Selbst entsteht überhaupt erst in und durch jeweilige Stimm-Maskeraden.
L ITERATUR Benthien, Claudia: „Das Maskerade-Konzept in der psychoanalytischen und kulturwissenschaftlichen Theoriebildung“, in: dies./Stephan, Inge (Hg.): Männlichkeit als Maskerade. Kulturelle Inszenierungen vom Mittelalter bis zur Gegenwart. Köln/Weimar/Wien: Böhlau 2003, 36-59. Butler, Judith: Das Unbehagen der Geschlechter. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1991. Butler, Judith: Körper von Gewicht. Die diskursiven Grenzen des Geschlechts. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1995. Elscheková, Alica: „Mehrstimmigkeit in der europäischen Volksmusik“, in: Finscher, Ludwig (Hg.): Die Musik in Geschichte und Gegenwart. Allgemeine Enzyklopädie der Musik. Band 5. Kassel/Stuttgart: Metzler 1996, 1782-1790. Finter, Helga: „The Body and its Doubles: On the (De-)Construction of Femininity on Stage“, in: Women & Performance: A Journal of Feminist Theory, 18 (1997), 119-141.
29 Vgl. Benthien 2003: 40-42, 51-53; Lehnert 1997: 36-38; Liebrand 2002: 255-256.
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Finter, Helga: „Intervokalität auf der Bühne. Gestohlene Stimme(n), gestohlene(r) Körper“, in: Bayerdörfer, Hans-Peter (Hg.): Stimmen – Klänge – Töne. Synergien im szenischen Spiel. Tübingen: Narr 2002, 39-49. Fischer-Lichte, Erika: „Ästhetische Erfahrung als Schwellenerfahrung“, in: Küpper, Joachim/Menke, Christoph (Hg.): Dimensionen ästhetischer Erfahrung. Frankfurt am Main: Suhrkamp 2003, 138-161. Fischer-Lichte, Erika: Ästhetik des Performativen. Frankfurt am Main: Suhrkamp 2004. Kolesch, Doris: „‚Listen to the radio‘: Artauds Radio-Stimme(n)“, in: Forum Modernes Theater, 14 (1999), 115-143. Kolesch, Doris: „Stimmlichkeit“, in: dies./Fischer-Lichte, Erika/Warstat, Matthias (Hg.): Metzler Lexikon Theatertheorie. Stuttgart/Weimar: Metzler 2005, 317320. Lehmann, Hans-Thies: Postdramatisches Theater. Frankfurt am Main: Verlag der Autoren 1999. Lehmann, Hans-Thies: „Wie politisch ist postdramatisches Theater?“, in: ders.: Das politische Schreiben. Essays zu Theatertexten. Berlin: Theater der Zeit 2002, 11-21. Lehnert, Gertrud: Wenn Frauen Männerkleider tragen. Geschlecht und Maskerade in Literatur und Geschichte. München: dtv 1997. Liebrand, Claudia: „Maskerade“, in: Kroll, Renate (Hg.): Metzler Lexikon Gender Studies/Geschlechterforschung. Stuttgart/Weimar: Metzler 2002, 255-256. Reckwitz, Andreas: Subjekt. Bielefeld: transcript 2008. Roesner, David: Theater als Musik. Verfahren der Musikalisierung in chorischen Theaterformen bei Christoph Marthaler, Einar Schleef und Robert Wilson. Tübingen: Narr 2003. Schrödl, Jenny: „Vokale Travestien. Zu stimmlichen Geschlechterperformances auf der Bühne“, in: Bischoff, Doerte/Wagner-Egelhaaf, Martina (Hg.): Mitsprache, Rederecht, Stimmgewalt. Genderkritische Strategien und Transformationen der Rhetorik. Heidelberg: Winter 2006, 377-396. Schrödl, Jenny: „Stimme und Emotion. Affektive Wirksamkeiten im postdramatischen Theater“, in: Forum Modernes Theater 24, 2 (2009), 169-182. Waldenfels, Bernhard: „Stimme am Leitfaden des Leibes“, in: Epping-Jäger, Cornelia/Linz, Erika (Hg.): Medien/Stimmen. Köln: Dumont 2003, 19-35.
Subjekte der Zukunft Die Schauspielschule und die Rhetorik der Institution W OLF -D IETER E RN ST
Es gilt als ausgemacht, dass die Schauspielkunst und die Subjektkonstitution eng aufeinander bezogen sind. Denn der Schauspieler ist, zumindest im abendländischen Kulturraum, Subjekt in doppelter Weise: Er ist dargestelltes Subjekt und er ist Darstellersubjekt. In der Darstellung aber stellt er immer auch Subjektivität in Frage. Deshalb haben sich Philosophen, Psychologen, Anthropologen und Soziologen so sehr für den Schauspieler als einer Figur interessiert, mit welcher sich die Subjektkonstitution theoretisch reflektieren lässt.1 Denn im Spiel, welches zur Schau gestellt wird, geht es auch darum, zu prüfen, ob und wie die Subjektkonstitution gelingt, ob der Schauspieler sich also in der Gewalt hat, ob er Herr seiner Rolle und Sprache ist und bleibt. Dabei betritt der Schauspieler die Szene seiner Subjektwerdung selten unvorbereitet, im Gegenteil, in langen Zeiträumen des Trainings und der Ausbildung hat er sich darauf vorbereitet, dieses Doppelwesen darzustellen. Die folgenden Überlegungen sind dem Verhältnis von Schauspielschule und Subjektkonstitution aus der Perspektive der Institution gewidmet. Dabei werde ich einen historischen Wendepunkt in der Schauspielausbildung in den Blick nehmen: die Umstellung vom System des Privatunterrichts hin zur institutionalisierten Schauspielausbildung an eigens dafür eingerichteten Schulen und Akademien. Am Beispiel der Düsseldorfer Theaterakademie (ab 1915 Hochschule für Bühnenkunst) unter der Leitung der Schauspielerin und Pädagogin Louise Dumont (1862-1932) werde ich aufzeigen, so meine leitende These, dass eine Institution wie die Schau1
Vgl. aus soziologischer Perspektive Simmel 1993: 424-432; aus anthropologischer Perspektive Plessner 1982: 146-163; aus philosophischer Sicht, unübertroffen, Diderot 1968: 481-538; zur Psychologie des Schauspielers u.a. William Archer 1880: 195-210; weitere Primärtexte finden sich in der Kompilation von Krich Chinoy/Cole 1949; einen guten Überblick zur Wissensgeschichte bietet Roach 1985.
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spielakademie eine rhetorische Situation2 darstellt, in welcher man vor allem die zeitliche Dimension der Subjektkonstitution manipulieren kann. Eine Schauspielschule also stellt einen Schritt der Verzögerung im Übergang zur Bühnenreife dar – das ist ihre Leistung. Ein Blick in die Geschichte der Schauspielausbildung lässt grob drei Phasen erkennen: Die erste Phase könnte man als die rhetorische Phase bezeichnen. Sie reicht bis ca. 1750, also jenem Einschnitt, der mit der Formulierung (und deutschen Übersetzung) erster subjektzentrierter Schauspieltheoreme durch Francesco Riccoboni (1707-1772) und Pierre Rémond de Sainte-Albine (1699-1778) sowie durch die Gründung der ersten deutschen Schauspieler-Akademie zu Schwerin (1753-1754) durch Conrad Ekhof (1720-1778) markiert ist. Mit Gotthold Ephraim Lessing (1729-1781) und in seiner Nachfolge bis zu den Schriften des Literaten William Archers (1856-1924) dominiert die subjektzentrierte Phase. In ihr wird dem ZweiWelten-Modell entsprechend, nachdem Theater und Gesellschaft strukturäquivalent zu verstehen seien, der Versuch unternommen, die Tätigkeit des Schauspielers analog zu der Theorie der Psycho- und Soziogenese des bürgerlichen Subjekts zu entwickeln. Seit Ende des 19. Jahrhunderts schließt sich die Phase der Institutionalisierung und Pädagogisierung an. Das heißt, die Fähigkeit, den Prozess der Subjektwerdung darzustellen und auszuhalten wird als erlernbar erachtet und – dies ist die Leistung der Institution – sie soll nach objektivierbaren Regeln erfolgen. In dieser Phase werden die pädagogischen Schriften von Konstantin Stanislawski (1863-1983), Bertolt Brecht (1898-1956), Edward Gordon Craig (1872-1966), Wsewolod Emiljewitsch Meyerhold (1874-1940) und anderen verfasst. Anders aber als die allgemeine Schule kann die Schauspielschule nur bedingt als ein Modell der Subjektkonstitution fungieren. Denn es stellt sich die Frage, in welcher Weise das Spiel mit der Subjektkonstitution sich überhaupt reglementieren und auf eine theoretische Basis stellen lässt und ob es nicht im Bereich der künstlerischen Erziehung immer auch darum gehen muss, auf kreative Art und Weise die Regelwerke hinter sich zu lassen.3 Methodisch bietet es sich daher an, das Verhält2
Blumenberg kennzeichnet die rhetorische Situation als eine, die geprägt sei von einem Mangel an Evidenz bei gleichzeitigem Handlungsdruck. „Evidenzmangel und Handlungszwang sind die Voraussetzungen der rhetorischen Situation“ (Blumenberg 2011: 406-431, 417).
3
Ein aufs andere Mal wird in der Forschung vermerkt, dass das Berufsbild, die Ausbildung und das Training von der Theorie ganz verschieden seien und die Theorie – besonders in ihrer dominanten Ausrichtung auf das Theater des Dramas – der Praxis einem Korsett gleich übergestülpt werde. Damit wird allerdings eine diskursive Trennung von Anwendung und Theorie übernommen, die sich auch in avancierten Studien zur Sozialgeschich-
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nis von Schule und Schauspieler, von Institution und Subjekt nach zwei Seiten hin zu entfalten: Zum einen können wir den Sinn und Zweck der Institution betrachten, der darin besteht, professionelle Schauspieler zu erziehen und dafür Regeln zu erstellen. Zum anderen verlangt das Moment der Darstellung einer Subjektkonstitution immer auch, diese Regeln und damit die Institution in Frage zu stellen. Wie ich zeigen werde, reagieren Schauspielschulen bei näherem Hinsehen genau auf diesen Moment der In-Frage-Stellung. Ich werde mit Blick auf die Düsseldorfer Schauspielschule unter Louise Dumont in einem ersten Schritt einige Hinweise geben, die diese Rückwirkung der Subjektkonstitution auf die Schule erhellen, um im zweiten Schritt zur Theorie der Institutionen überzugehen. Was aber ist eine Institution und wie können wir ihre Implikationen und Wirkweisen theoretisch verstehen? Um dieser Frage nachzugehen, werde ich kurz auf die Arbeiten von Arnold Gehlen (1904-1976) und Hans Blumenberg (1920-1996) eingehen, damit also zwei divergierende Ansätze zur Institutionentheorie referieren, um sodann zu argumentieren, dass Schauspielschulen weniger eine disziplinarische Form als vielmehr eine dynamische Form der Subjektkonstitution darstellen. Im Sinne Hans Blumenbergs bieten sie einen ‚rhetorischer Umweg‘. Der rhetorische Umweg, also die Gründung einer Schauspielschule, eröffnet vereinfacht gesagt ein Zeitfenster, in welchem die Ausbildung eines neuen Schauspielers (und Subjekts) in die Zukunft verlagert wird.
INSTITUTIONENTHEORIE
NACH
G EHLEN UND B LUMENBERG
Arnold Gehlen geht davon aus, dass Institutionen eine Form der Entlastung für das „Mängelwesen Mensch“4 darstellen, insofern sie stereotype Modelle von Verhal-
te des Berufs Schauspieler wie der von Peter Schmitt einschreibt. Schmitt etwa postuliert die „Vielschichtigkeit und innere Widersprüchlichkeit“ der Praxis, die zunehmend zum „‚Störfaktor schlüssiger Theoriebildung‘“ gerate (Schmitt 1990: 2). Eine diskurshistorische Studie des Autors ist just dieser Trennung von Theorie, Praxis und Ausbildung gewidmet: Ernst 2009. 4
Mit dem Konzept des Mängelwesens fasst Gehlen bekanntlich die anthropologische Sonderstellung des Menschen im Vergleich zum Tier. Der Mensch ist nach Gehlen mit keinen Merkmalen ausgestattet, die ihm sein Überleben und seine Selbstverteidigung sicherten. Er sei zudem ein instinktarmes Wesen, so dass er sich nicht seiner Umwelt in gleichem Maße wie ein Tier anpassen könne. Das habe zu Folge, dass er als Handlungswesen die Umwelt derart verändere, dass er Entlastung vom Existenzdruck erfahre. Er sei in diesem Sinne kompensatorisch auf Kultur angewiesen, konkreter Ausdruck dieser Kultur seien Technik und Institution (siehe Gehlen 1963: 34-36).
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tensfiguren bereitstellen. Auf Bildung bezogen bedeutet dies: „Alles, was wir aus unserer Persönlichkeit machen können [wird] zunächst einmal von den Institutionen herausgeholt, in denen wir leben.“5 Derart prinzipiell gesetzt, organisieren Institutionen also das Verhalten vom Menschen, der dieser künstlichen Form bedarf, da er – anders als die Tiere – nicht durch natürliche Reaktionen, etwa den Instinkt geleitet werde. Diese anthropologische Begründung von Institutionen als einer Sozialtechnik wird von Gehlen normativ, d.h. als ein ‚Schicksal des Menschen‘6 gesetzt, was insbesondere nach dem institutionalisierten Völkermord, dem Holocaust, zu scharfer Zurückweisung seiner Theorie durch die Vertreter der Frankfurter Schule geführt hat. Jedoch bleibt in der Kritik die von Gehlen formulierte anthropomorphe Rückbindung von Technologie an den Menschen unberührt. Genau hier aber setzt Blumenberg in seiner Studie Anthropologische Annäherung an die Aktualität der Rhetorik (1971) an. Dabei verschiebt er Gehlens Kausalität vom Menschen, der sich mit Institutionen umgeben muss. Der Ansatzpunkt, der überhaupt zur Bildung von Institutionen führt, ist nach Blumenberg gerade die affektive Disposition der Rhetorik (und nicht des Menschen). Die Rede ist in der Lage, Menschen affektiv zu beeinflussen und zugleich ist die Rede ein menschliches Vermögen: Aus diesem anthropologischen Zirkel weist die Rhetorik deshalb einen Ausweg, da sie quasi Unterbietung des Menschen (in der Verführung, Steuerung seines Verhaltens) und Überbietung durch den Menschen (als Kunstfertigkeit) zugleich sein kann. Blumenbergs skeptische Annäherung ist genau von diesem Spielraum der Rede geprägt, mit dem er der Theorie von Gehlen den Spiegel vorhält. Auf das Höhlengleichnis von Platon bezogen, bringt er es auf den Punkt: Die Höhle als „Institution der Institution“7 sei moralisch und logisch klar zu werten, jedoch als anthropologische Situation betrachtet, stelle sich doch die Frage, ob die Bewohner nicht hinzu lernten, um zwischen Wahrheit und Verblendung eine ihrer Situation angemessene Lösung des Dilemmas herbei zu führen. Das aber heiße nichts anderes, als dass die Institution nicht nur Verhalten determiniert, sondern auch eine Bühne der Über- und Unterbietung von Verhaltensnormen bereitstellt. Mit Blumenberg kann die rhetorische Institution, die ich hier ob 5
Gehlen 1963: 334.
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Hans Blumenberg, durch den Faschismus verfolgter Jude, macht hier einen politischen Einwand geltend. Er unterstellt Gehlen und der Anthropologie überhaupt einen „Absolutismus der Institutionen“, dabei auf die Institution des absolutistischen Staates von Thomas Hobbes anspielend: „Mit Gehlens ‚Absolutismus der Institutionen‘ kehrt die Anthropologie in gewisser Weise zu ihrem Ausgang im Modell des Staatsvertrages zurück. Die Diskussion um diese Anthropologie hat bis heute nicht geklärt, ob jene fatale Rückkehr unausweichlich ist“ (Blumenberg 2001: 406-431, 415).
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Blumenberg 1989: 816.
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ihres Spielraums als Bühne bezeichne, in ihrer Errichtung und ihrer Endlichkeit, kurz in ihrem provisorischen Geltungsanspruch erscheinen. Dieser Zeithorizont des Provisorischen aber ist es, der uns die Dynamik in der Institutionalisierung und Pädagogisierung der Schauspielausbildung erschließt. Nicht umsonst kommt Blumenberg in seiner Annäherung auf die Bildungsinstitution und die pädagogische Praxis zu sprechen, denn sie ist ihm Beispiel für eben jene „Verzögerung“ des Verhaltens, jenes „Bedürfnis nach institutionalisiertem Atemholen“8, welches er der Lebenswelt unterstellt und als Leistung der Rhetorik reklamiert. [J]ede Art von Pädagogik [steht] schon im praktischen Prozess und kann auf die Zulieferung ihrer theoretischen Voraussetzungen nicht warten; sie wird daher gezwungen, aus dem Angebot theoretischer Verallgemeinerungen der Biologie, Psychologie, Soziologie und anderer Disziplinen Quasiresultate zu akzeptieren. 9
Die Verzögerung, die über ‚rhetorische Umwege‘ erzielt wird, widerspricht den modernen Alternativen der Überstürzung in der Praxis und dem unendlichen Warten-Können der Wissenschaft. Pädagogik muss handeln und bedarf einer Handlungsanleitung, sei diese auch nur ein Provisorium. Dies ist freilich ein ganz anderer Begriff der Institution, als jener normative von Gehlen und auch jener Institutionsbegriff der strukturalistisch orientierten Soziologie, etwa bei Niklas Luhmann oder Helmut Schelsky. Denn bei Blumenberg sind Institutionen notwendige und aus Schwächen des Menschen begründete Gebilde auf Zeit. Ihnen liegt keine Absicht zu Grunde, nicht die der Disziplinierung oder der Verführung, was nicht heißt, dass Blumenberg diese von Kant formulierten Vorwürfe an die Rhetorik nicht aufnimmt. Aber er hebt die Leistung, wir können auch 8
Blumenberg 2001: 421. Konkret macht Blumenberg dieses Bedürfnis nach einer Pragmatik als Verzögerung anhand der Situation eines Kapitäns deutlich. Einem modernen Verständnis von Theorie und Praxis entsprechend, sollte ein Kapitän „nicht nur den Sextanten und die zugehörigen Formeln der Trigonometrie anwenden können, sondern müsste auch wissen, wie das Instrument funktioniert und wie die Formeln abgeleitet werden können, so dass er ein potentieller Robinson wäre, der ex nihilo anfangen könnte, wenn die vorfabrizierten Hilfsmittel verloren gegangen wären“ (Blumenberg 2001: 422). Da dieses auf Perfektion zielende Ideal eines homo faber des wissenschaftlichen Zeitalters kaum jemand erreicht, steht ihm nach Blumenberg der „trainierte, sachgemäß reagierende“ Funktionär zur Seite. Beide Typen, Robinson und Funktionär, stehen für Wertemuster in der Schauspielausbildung: hier der zögernde Schaudenker, der nicht ins Spielen kommt, dort der trainierte Schauspieler, der keinen eigenen Gedanken zu produzieren vermag.
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Blumenberg 2001: 424.
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sagen, die Performanz der Institution, hervor und diese wäre zu unterscheiden von einer Kompetenz der Institutionenbildung, von einem Wissen von der Optimierung von Problemlösungen und einer strukturierten und intentionalen Planung und Inszenierung. Dieser Rationalität der Institutionen begegnet Blumenberg skeptisch. Institution bezeichnet damit jenen Verzögerungsprozess, mit dem Menschen sich rhetorisch, d.h. in einer Übertragungsbewegung miteinander ins Verhältnis setzen. Dies wäre die meta-rhetorische Definition einer Institution. An diesem Punkt komme ich zurück auf die Bildungsinstitutionen für Schauspieler, wie wir sie am Beispiel Düsseldorf bereits eingeführt haben. Vor dem Hintergrund Blumenbergs lassen sich nun drei Befunde festhalten. Die Schauspielschule ist ein Instrument der Zeitmanipulation. In unserem konkreten Fall eröffnet die Düsseldorfer Schauspielschule den Zeithorizont, der es ermöglicht, das Sprechtheater des 19. Jahrhunderts und das sich mit Isadora Duncan, Adolphe Appia, Emile Jacques-Dalcroze und anderen ankündigende Reformtheater aufeinander zu beziehen. Mit dem Versprechen, nun die zukünftige, bessere Generation des Schauspielers heran zu ziehen, suspendiert die Institution zunächst einmal die Erwartungshaltungen, man könne mit sofortigen Resultaten oder gar revolutionären Neuerungen rechnen. Der Lehrer als Mediator zwischen Theorie und Praxis. Die Figur des Schauspiellehrers ist das fehlende Glied, welches den Zeithorizont der Intellektuellen und Theoretiker mit dem notwendigerweise kürzeren Zeithorizont der Theaterdirektoren und Praktiker verknüpft, die Abend für Abend darum besorgt sein müssen, dass ihr Haus gefüllt ist. Die Schauspielschule als Höhle, die zu verlassen man erlernen muss.
D IE D ÜSSELDORFER T HEATERAKADEMIE ALS RHETORISCHE S ITUATION Da die Geschichte und Vorgeschichte der Düsseldorfer Schauspielschule nicht vorausgesetzt werden können, seien einige Hinweise erlaubt, die den diskursiven Stellenwert dieser Institution erhellen können. Die Schule bestand von 1905 bis 1932 unter der Leitung der Schauspielerin Louise Dumont und bietet in doppelter Hinsicht einen Zugang zum Thema, denn sie ist seinerzeit als Reformschule gegründet worden und zudem liegen Schulakten, Curricula, Briefe und Fotos gut aufbereitet im Theatermuseum Düsseldorf vor. 10
10 Einige Quellen zum Schauspielhaus Düsseldorf sind bereits in den 50er Jahren erschlossen worden, jedoch überblenden sich dabei biografische Ansätze zu Dumont mit der Geschichte der Institution und einer teils unkritischen Historiografie, die etwa das völkische
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Als Schule wird hier realisiert, was in Forderungen der Literaten, Theatermacher und Gelehrten des 18. Jahrhunderts bereits gedacht wurde. Diese hatten umfassende Vorstellungen von der Organisation einer Schauspielschule und brachten diese auch in Form von Curricula, Finanzplänen und Lehrerprofilen zu Papier.11 Jedoch bedurfte es weiterer 150 Jahre bevor Institutionen im juristischen Sinne entstanden, die geeignet waren, diese von Christlob Mylius (1722–1754), Johann Jakob Engel (1741-1802) und Johann Friedel (1751–1789) erstellten Maxime, Handbücher und Curricula tatsächlich in der Bildungsrealität ankommen zu lassen. Die Institutionalisierung, die um 1900 einsetzt, führt jedoch nicht zur Entwicklung einer eigenen Methode des Unterrichts. In der Tat enthüllt ein genauer Blick, dass eben die Pädagogik der Meisterklasse, wie man sie vom Privatunterricht im langen 19. Jahrhundert kennt, in der staatlichen Schule übernommen wurde. Dies gilt auch für die Theaterakademie in Düsseldorf unter der Ägide von Louise Dumont. Reformerische pädagogische Ansätze wie etwa die Gruppenarbeit, die Körperund Sensibilitätsübungen, Entspannungstechniken werden erst nach der Gründung der Schule als Institution eingeführt, in Deutschland vor allem beeinflusst durch die Lebensreformbewegung und den Ausdruckstanz sowie die Veröffentlichungen der pädagogischen Schriften von Stanislawski, Brecht und Meyerhold ab den 1930er Jahren. Letztlich muss die Institutionalisierung von Schauspielschulen zusammengedacht werden mit den wenig später erfolgten Gründungen von Institutionen für das Studium der Theaterwissenschaft. Schauspielschulen markieren also das Auseinanderdriften von Theorie, Lehre und Praxis als drei aufeinander bezogene Weisen, über das Theater nachzudenken und es zu entwickeln.
D IE S CHAUSPIELSCHULE DER Z EITMANIPULATION
ALS INSTRUMENT
Für das Verhältnis von Subjektkonstitution und Institution grundsätzlich interessant ist, dass wir es bei Schauspielschulen nicht allein mit einer Disziplinartechnik zu
Gedankengut in den Schriften Lindemanns und Dumonts unkommentiert lässt: vgl. Loup 1955; Loup 1959; Lohss 1993. Differenzierter sind Studien zu Regie, Dramaturgie und Bühnenbild, vgl. Linke 1967; Matzigkeit 1990 (Teil II. Studien zur Geschichte des ‚Schauspielhauses Düsseldorf‘). Zu Bühnenbild und Architektur vgl. Gemeinschaft der Freunde des Düsseldorfer Schauspielhauses 1930; Theatermuseum der Landeshauptstadt Düsseldorf 2006. 11 Vgl. Mylius 1750: 1-13. Zum Curriculum vgl. Friedel 1781: 15-27 und Friedel 1781: 6781; zur bildlichen Anleitung vgl. Engel 1968.
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tun haben. Gewiss, die Institution trennt disziplinär Theorie, Praxis und Lehre, aber sie weist auch eine innere Dynamik auf. Diese figuriert in der Reformbewegung um 1900, deren Produkte auch die Schauspielschulen sind, in der Rede von der kommenden Generation, dem Kind und der Jugend. Damit ist ein bestimmter Zeithorizont aufgemacht. Was die Schauspielschule leistet, so lässt sich vereinfacht sagen, wird sich erst in der kommenden Generation zeigen. Die metaphorische Übertragung, die mit der Rede vom Kind in Gang gesetzt wird, ermöglicht es also, den Zeithorizont für das eigene Handeln zu manipulieren. Die Gründerin und führende Lehrerin der Düsseldorfer Theaterakademie Louise Dumont bedient sich dieser Metaphorik der Auslagerung von Problemen in die Zukunft in einem Brief an ihren Arzt und Freund Paul Zillmann vom 22. Oktober 1922 auf folgende Art: Könnten Sie doch einmal hierher kommen und sich von allem überzeugen und überhaupt die Arbeit sehen; sie geht stetig weiter hinauf, und ich hoffe doch wieder, dass etwas erreicht wird, worauf die Besseren, die dann kommen, weiter aufbauen können.12
Anlässlich der festlichen Eröffnung des Hebbel-Saales am 23. Oktober 1909 beschreibt sie den Weg in die Zukunft noch etwas detaillierter: [E]in langer, mühevoller Weg kann uns erst auf die Höhe führen, von der wir träumen. Diesen Weg für die Kommenden vorzubereiten, Kämpfer zu erziehen für das, was als Ideal lebt in jedem jungen Künstlerherzen, dem jungen Schauspieler die Wege zu zeigen, auf denen er zu den Quellen der Erkenntnis […] kommen kann, […] dazu ist die Akademie geschaffen worden. 13
Und über sich selbst als Lehrerin lässt sie sich unwidersprochen mit folgendem Bonmot beschreiben: „Ich bin die Kinderkrankheit der deutschen Schauspieler, mich muss man wie die Masern kriegen.“14 Diese Stellen dokumentieren, dass das Bildungsziel prinzipiell offen gehalten wird. Es wird besser, so lesen wir, aber diese Besserung kann nur mit dem Pathos des Kreationismus beschrieben werden: Die Höhen, auf die uns ein mühevoller Weg führt. Die Besseren, die dann kommen. Die Kinderkrankheiten, die überwunden werden. Für die Stimm- und Sprechausbildung etwa hat diese Metaphorik konkrete Folgen. Dumonts Training zielt darauf ab, den traditionellen Sprechstil, den sie als 12 Dumont 1927, Theatermuseum Düsseldorf, Dokumentennummer 17462 (im Folgenden TMD, Nummer). 13 Loup 1955: 133-134. 14 Fernau 1972: 170.
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kraftlos empfindet, zugleich zu bewahren und zu erneuern. Dabei beruft sie sich u.a. auf die spekulative linguistische Theorie Guido von Lists (1848-1919)15, dessen völkisch-nationaler Ansatz das Deutsche aus so genannten Keimwörtern entspringen sieht, die besonders in Symbolen und Emblemen eine Art verborgene Kraft entfalteten. Die Analogie ist deutlich: So wie das Kind bei geeigneter Fürsorge zu erfülltem Leben heranwachen wird, so soll auch die Sprache zu neuem Leben erweckt werden können, wenn sie geeignete Pflege erführe. Die Erneuerung der Sprache (und des Bühnentons) würde in einer Generation von Schauspielern, die noch erzogen werden müsse, sich realisieren.
D ER L EHRER ALS UND P RAXIS
MEDIATOR
ZWISCHEN
T HEORIE
Dumont findet ihre Erfüllung als Pädagogin und es ist eine bewusst gewählte Position. Anders als zahlreiche ältere Schauspieler und Schauspielerinnen, die sich nach ihrer aktiven Bühnenlaufbahn mit dem Unterricht ein Zubrot verdienen, ist sie parallel zu ihrem pädagogischen Engagement auf der Bühne präsent, spielt Rollen vor allem in Ibsen-Inszenierungen und bestreitet Rezitationsabende, um ihr Schulprojekt zu finanzieren. Ich lese die oben angeführten Worte Dumonts auf Grund des unverkennbaren pädagogischen Eros, mit dem Dumont wirkte, auch als Hinweis auf das Selbstverständnis als Lehrerin. Sie legitimiert ihr Handeln und Streben vor einem imaginierten Schauspieler der Zukunft. Dieser wird besser sein, als sie und ihre Kollegen, die in den Sachzwängen des Berufes zwischen Kommerz und Kunst, also der Praxis gefangen sind. Institutionen schaffen Zeitgewinn für theoretische Reflektionen. Dumonts Interesse an der Schule muss auch darin liegen, hier als Mediator zwischen Theorie und Praxis fungieren zu können. Diese Selbstversicherung in und mittels der Schaffung einer rhetorischen Situation lässt sich auch biografisch erhärten. Die Schule ist bewusst als Gegenmodell zum Geschäftstheater Max Reinhardts in Berlin konzipiert, dessen erstes Theater Schall und Rauch Louise Dumont noch als größte Anteilseignerin finanziert hatte. Reinhardts Theater, so schreibt Dumont einmal mit Blick auf dessen opulente Ausstattung der Bühnenbilder, sei wie eine Ausstellung, überladen und spektakulär. Ihr Theater sei hingegen ein organischer
15 Vgl. List 1910, ein eindrucksvolles Sammelsurium von Geheimwissen, Farb- und Symboldeutungen, astrologischen und organistischen Deutungsmustern – ein Begründungszusammenhang für jeden Bühnenbildner, Kostümbilder, Requisiteur und Grafiker im Falle auftretender stilistischer Unsicherheiten.
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„Gesamtkunstkörper“16. Diesem Körper ist daher nicht von ungefähr ein Kopf beigeordnet, der als ‚geistiger Beirat‘ bezeichnet wird. In ihm sind nicht zufällig der Kunsthistoriker Wilhelm Worringer und der Religionswissenschaftler Martin Buber tätig, die beide auf je spezifische Weise die Dynamik der Rückwirkungen (von Kunstwerken, vom Du) auf das Subjekt bedacht haben. Für Dumont lassen sich sehr intime Lehrer-Schüler-Beziehungen nachweisen, welche neben der Ausbildung auch weltanschauliche Einsichten und religiöse Gefühle tangieren. Schülerinnen wie Louise Becker etwa, bezeichnen sich in ihrem Eifer, eine gute Schauspielerin zu werden auch als Dumonts „Jüngerin“, Theater und Dichtung lasse sie „weich sein wie ein Kind“17. In einem Brief vom 9. September 1909 an Louise Dumont heißt es: Oh, lassen Sie mich ihre Jüngerin sein! Durch eisernen Fleiß will ich Ihnen danken und gern dienen. Hier im Hause bin ich zu einem Kinde engagiert, auf welches ich erzieherisch einwirken soll. Meine ohnehin schwierige Aufgabe wird mir dadurch, dass die Autoritäten Mutter, Großmutter erzieherisch zu Seite stehen, erschwert. […] Man geht zu Grunde unter solchen Verhältnissen! Natürlich wird man hart und verbissen aber der Gedanke an alles Ideale und Reine, wie es unsere Dichter uns gaben, lässt mich weich sein wie ein Kind, lässt alle finsteren Gedanke und Zweifel verschwinden. Geben Sie mir Gelegenheit in dieser Welt der Ideale leben zu können. Bitte weisen Sie mich nicht zurück, gnädige Frau.18
Dumont wiederum fordert für ihr Theater und ihre Schule die „hingebende […] Mitarbeit aller Schauspieler“19. Es ist vor dem Hintergrund dieser Selbstvergewisserung als Lehrerin wenig verwunderlich, dass die Eröffnung der Theaterakademie, also die Schaffung der Institution als rhetorischer Situation, der Aufnahme des Spielbetriebs im Schauspielhaus Düsseldorf voraus ging.
D IE S CHAUSPIELSCHULE ALS H ÖHLE , DIE ZU VERLASSEN MAN ERLERNEN MUSS Dass eine Schule darauf ausgerichtet sein muss, seine Adepten dahin zu bringen, die Schule zu verlassen, berührt nicht nur die individuellen Berufsbiografien, die in Düsseldorf begründet wurden und unter denen Gustav Gründgens (1899-1963) und
16 Dumont/Lindemann 1918/19: 245. 17 Becker 1909: TMD 8149. Louise Becker wurde nicht zur Ausbildung angenommen, wohl aber ist auf dem Brief vermerkt: „beantworten“. 18 Becker 1909: TMD 8149. 19 Dumont/Lindemann 1918/19: 245.
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Paul Henkels (1885-1967)20, die bekannteren Namen darstellen, es prägt eine Institution vor allem dann, wenn diese in die Krise gerät. Von solch einer Krise, die zur zeitweiligen Schließung der Schule führte, kann im November 1918 die Rede sein. Am 9.11.1918 kommt es während der Probe einer Streikszene in Georg Kaisers Gas zu einem Streik der Schauspieler und Bühnenarbeiter. Die politische Manifestation (Streik) und der theatrale Vorgang (Streikszene) fallen hier zusammen. Was gezeigt werden soll, wird gleichzeitig und ununterscheidbar davon vollzogen. Anders als vielleicht bei manchem Performance Künstler heute, weckte diese Inszenierung bei Louise Dumont und dem Probenleiter Gustav Lindemann (1872-1960) nur Unmut. Dumonts Bericht über diesen Vorfall, dokumentiert in einer Prozessakte, lässt kaum einen Zweifel daran, dass sie den Streik der Schauspieler direkt auf die von ihr gegründete pädagogische Institution und ihr Wirken als Lehrerin bezieht. Zutiefst enttäuscht schildert sie den Konflikt in folgenden Worten: Die Aufforderung an dem ihm [gemeint ist der Schauspieler Buschhoff, W.D.E.] sattsam bekannten Vorgang schauspielerisch teilzunehmen beantwortete er mit den Worten: „Man hat mir gesagt, ich soll mich setzen und ich habe mich gesetzt.“ Er tat dies so ungefähr wie ein Knabe in der Schule dem Lehrer auf die Anordnung sich zu setzen folgen würde und nachher sagen „Sie haben mir gesagt ich soll mich setzen, aber Sie haben mir nicht gesagt, ich soll am Unterrichtsgegenstand teilnehmen.“ Gleich hernach sagte er halblaut zu dem ihm umstehenden Schauspielern (ich stand zu meinem Auftritt bereits dicht hinter ihm) „Er [Direktor Lindemann, W.D.E.] ärgert sich weil ich im Arbeiterrat bin. Er will mich provozieren.“ […] Als ich […] diese aufreizende Rede hörte, befasste mich begreiflich Empörung und tiefer Ekel […] Ich sagte weiter zu dem Kläger „Ich schäme mich, dass Sie mein Schüler waren. Also dieses ist das Resultat meiner Erziehung.“ Er antwortete prompt: „Jawohl, Sie haben mich zur Wahrheit erzogen und alles was ich sagte ist die Wahrheit.“ Hierauf erwiderte ich: „Ja, ich habe Sie zur Wahrheit erzogen, nicht zu eitlem Komödiantentum.“21
Komödiantentum ist Dumonts Begriff für die Forderung nach besseren sozialen Bedingungen und Mitbestimmung, welche Wilhelm Buschhoff (1888 – ca. 1944 im KZ) und die anderen Schauspieler erheben. Für Dumont bezeichnet dieses Wort
20 Paul Henkels ist u.a. bekannt in der Rolle des Gymnasialprofessors Bömmel aus der Verfilmung von Heinrich Spoerls Die Feuerzangenbowle. 21 Erklärung von Dumont zur Privatklage von Buschhoff 3. Januar 1919 um einen Vorfall während der Hauptproben zur Wiederaufnahme von Peer Gynt, TMD 3552. Der Prozess endete mit einem Vergleich: „Kläger verzichtet auf seine weitergehenden Forderungen, die Beklagten erklären, dass insofern Äußerungen über homosexuelle Betätigungen des Klägers gemacht worden sind, diese auf Missverständnisses beruhen, die einen solchen Vorwurf gegen Herrn Buschhoff nicht erheben.“
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etwas außerhalb der Institution, wohingegen der Status eines Schülers (über den sich Buschhoff bereits einige Jahre erhoben hatte) zur Welt der Institution gehört. Die Krise macht anschaulich, wie die Institution als rhetorische Situation Verhalten zu bestimmen weiß, welches ihre materiellen, juristischen und zeitlichen Grenzen übersteigt. Schauspieler würden gemäß dieser Rhetorik so lange Schüler bleiben, wie die Hoffnung auf eine Reform der Schauspielkunst durch die Erziehung einer zukünftigen Generation von Seiten der Lehrer und Schüler gleichermaßen aufrecht erhalten werden kann. Der Streik um 1918 gibt dieser Hoffnung einen ersten Dämpfer, viele Kräfte lernen in dieser Krisenzeit, die Institution zu verlassen. Die zweite Phase der Schauspielschule ab 1924 bis 1932 ist weit mehr von einer Pragmatik des Bildungsalltags geprägt.
Z USAMMENFASSUNG Jenseits seiner materiell-technischen Realisierung kann mit Blumenberg eine Schauspielschule als eine provisorische Antwort auf die Infragestellung traditioneller Theatermodelle und Schauspielstile verstanden werden, die sich mit dem raschen ökonomischen, technischen und ästhetischen Wandel in der Theaterproduktion um 1900 ankündigt. Für die Theaterreform sind Bildungsinstitutionen insofern von besonderem Interesse, weil sie es vermögen, die rasant sich entwickelnde Praxis und die Theoriebildung, die sich von der Bühne weg verlagert hat, erneut aufeinander zu beziehen. Schauspielakademien ermöglichen unter den gegebenen Verhältnissen ein ‚institutionelles Atemholen‘, welches sich in zumindest drei verschiedenen Qualitäten zeigt: Als Auslagerung von Problemlagen in die Zukunft, als Rollenbild des Lehrers als Mediator und als ideales Modell einer Subjektkonstitution und deren realer Überschreitung.
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Techniken des Selbst: Handlungsmodus Subjektivität
Im Versteck Die verborgene Seite der Subjektkonstituierung M ATTHIAS W ARST AT
V ERSCHWINDEN An einem für seine Arbeit entscheidenden Wendepunkt in den späten 60er/frühen 70er Jahren verschwand der Performancekünstler Bruce Nauman plötzlich aus seinem Werk. Bis 1969 hatte Nauman eine Reihe von Performancevideos produziert, die ihn bei scheinbar einfachen Tätigkeiten in seinem Atelier zeigten. In dem Video Playing a Note on the Violin While I Walk around the Studio aus dem Jahr 1968 tut Nauman nicht mehr und nicht weniger als das, was der Titel der Arbeit annonciert: Er geht in seinem Atelier herum und spielt auf einer Geige einen einzelnen hohen Ton. Auch in Bouncing Two Balls Between the Floor and Ceiling with Changing Rhythms, einem Video aus demselben Jahr, hält sich Nauman genau an das im Titel angekündigte Programm. Er hantiert mit zwei Bällen, indem er zum Beispiel den einen an die Decke, den anderen auf den Boden seines Ateliers wirft, das erneut als Schauplatz dient. Dabei versucht er offenbar, einen bestimmten Rhythmus einzuhalten, was aufgrund der Unkontrollierbarkeit der Ballbewegungen nicht wirklich gelingt. „Die Performances oszillieren zwischen dem Tun und dem Beobachten des Tuns“, schreibt dazu der Kunsthistoriker Michael Lüthy: Während er [Nauman] den eigenen Körper wie ein ‚Stück Material‘ benutzt, subjektiviert sich die Kamera, die nicht nur als Aufzeichnungsgerät dient, sondern zugleich als ein nach außen verlegtes Auge, für das er sich inszeniert. So werden die Performances zu einer Möglichkeit, mit sich selbst zu ‚spielen‘. Nauman entwirft jeweils eine Regel, an die er sich in der Aufführung so lange hält, bis, wie er sagt, „das wirkliche Leben einschreitet“, und die Aktion abgebrochen oder aber die Regeln geändert werden müssen.
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Lüthy 2006: 62.
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Schon im darauf folgenden Jahr scheint Nauman aus dem von Lüthy beschriebenen Spiel auszusteigen und sich, seine künstlerische Identität, seinen Körper, seine persönlichen Artikulationen und Gesten gleichsam hinter dem Werk zu verstecken. Es entstehen die ersten der berühmten Corridor Installations (ab 1970): zwingend gebaute Raum- und Gangstrukturen, in denen der Künstler nun fehlt, die vielmehr vom Betrachter besucht, benutzt und erfahren werden sollen. Es ist schon oft beschrieben worden, welche Erfahrungen diese besonderen Räume für ihre Besucher bereithalten. In der frühesten Arbeit dieser Werkgruppe gelangt man in fünf Gänge von unterschiedlicher Breite, und es gibt einen geheimnisvollen sechsten Gang, der verschlossen ist, so dass sein Inneres nur durch ein Monitorbild im fünften Gang – mutmaßlich – einsehbar wird. Überhaupt wird der Besucher in den verschiedenen Gängen vor allem mit Monitorbildern konfrontiert, in denen er sich auf irritierende Weise selbst begegnet: Er sieht sich mal kleiner werdend, mal verschwindend, mal von hinten und manchmal gar nicht. Unklar wird, wer man ist oder sein soll, und wo man sich befindet. In Frage steht aber auch, wo eigentlich Nauman, der in früheren Arbeiten oft so präsente Künstler-Akteur, plötzlich abgeblieben ist: Hat er sich zurückgezogen, lässt er sich durch sein Werk vertreten, oder dürfte man tatsächlich sagen: Er hält sich im Verborgenen, er ist versteckt?
V ERSTECKEN Dieser kurze Aufsatz möchte an die Bedeutung des Versteckens für die Frage nach der Relation von Theater und Subjektkonstitution erinnern. Neben dem Zeigen ist das Verstecken eine der elementaren Praktiken des Theatralen. Wenn man Subjektkonstitution nicht vom Zeigen, sondern vom Verstecken her denkt, ergibt sich ein spezifisches, ein anderes Bild vom Theatralen als kultureller Form, aber auch vom Subjekt und seiner Konstitution. Um diese Überlegung weiter auszuführen, unterscheide ich zwei Ebenen, die beide gleichermaßen im Thema dieses Sammelbandes impliziert sind, aber nicht unbedingt in ein- und demselben Gedankengang behandelt werden können. Wenn von Theater und Subjektkonstitution die Rede ist, kann zum einen die performative Subjektbildung im Lebenslauf gemeint sein. Es kann also darum gehen, wie das Ich im Handeln entsteht, wie es durch repetitive Akte – ein sich wiederholendes Handeln und Sprechen – hervorgebracht wird. Aus rituellen Wiederholungen, in denen wir uns eingerichtet haben, entsteht der Eindruck eines stabilen, gefestigten Subjekts. Jede Wiederholung impliziert aber auch die Möglichkeit der Abweichung, so dass der Eindruck von Festigkeit im Grunde täuscht. Das Ich ist nach Butler gerade nicht stabil, sondern muss im Sprechen, im Handeln, im Denken täglich neu gebildet werden. Solche Prozesse der Ich-Bildung sind niemals abge-
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schlossen, so dass dem Subjekt immer wieder Krisen drohen, die bis zur völligen Auflösung reichen können. Anstatt also von einem fertigen Subjekt zu sprechen, sollte man in prozessualen Kategorien von Subjektivierung und Desubjektivierung denken. Diese Prozesse haben einen langfristigen Horizont, sie betreffen Fragen der Sozialisation, der Biographie, der Identität und der jederzeit zu erwartenden Lebenskrisen.2 Wenn von Theater und Subjektkonstitution die Rede ist, kann zum zweiten aber auch eine ganz andere Ebene gemeint sein, nämlich die Zuweisung von Subjektpositionen in einzelnen Aufführungen. Wer Aufführungen als Wahrnehmungsdispositive begreift und dabei ein Foucaultsches Verständnis von Dispositiven mitdenkt, der wird damit rechnen, dass in Aufführungen Subjektpositionen zugewiesen oder vorenthalten, ausgehandelt oder gar erstritten werden. Man kann die Frage nach Subjekt und Objekt in einer konkreten Aufführung bzw. in einem einzelnen Wahrnehmungsdispositiv sicher nicht trennen von längerfristigen Prozessen der Subjektkonstitution im Lebenslauf, aber es tauchen auf dieser zweiten, eher aufführungsbezogenen Ebene doch einige andere Fragen und Begriffe auf als in der längerfristigen biographischen Perspektive. Entscheidend wird etwa die Frage danach, wer oder was in dem betreffenden Dispositiv eigentlich handelt oder handeln könnte und wer dagegen eher in der Position ist, sich bestimmen zu lassen oder sich auf bestimmte Gegebenheiten einstellen zu müssen. Entscheidend wird ein Begriff wie der der Autorschaft, der in dem kurzen Eingangsbeispiel von Naumans Korridoren schon angeklungen ist. Kann möglicherweise das Dispositiv selbst so etwas wie agency und Subjektivität für sich beanspruchen, oder wird der Betrachter zum Akteur, oder erscheint hinter dem auf den ersten Blick leeren Setting einer Rauminstallation am Ende doch der Künstler als Autor und damit wirkmächtigstes Subjekt gegenwärtig?
V ERSTECKEN – ZEIGEN Ich möchte dafür plädieren, die beiden Ebenen des Themas zunächst getrennt in den Blick zu nehmen, um dann nach Verbindungen und Wechselwirkungen zu suchen. Denn am Ende sollte die Auffälligkeit nicht außer Acht gelassen werden, dass man beide Ebenen mit ähnlichen Fragen und Begriffen konfrontieren kann. Nehmen wir die theatrale Dialektik von Verstecken und Zeigen. Die wohl kürzeste und schönste Definition des Theatralen stammt von Jean-François Lyotard und kommt mit einem
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Diese Theorie einer performativen Subjektkonstituierung führt Butler in verschiedenen ihrer Schriften der letzten Jahrzehnte aus, besonders prägnant etwa in Butler 2001.
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einzigen Satz aus: „Verstecken – Zeigen: Das ist Theatralität.“3 Auf den ersten Blick banal anmutend, macht diese Formel doch auf ein Versäumnis aufmerksam: Subjektmodelle, die auf einen Begriff des Theatralen Bezug nehmen, etwa in Wendungen wie ‚Inszenierung‘, ‚Performance‘ oder ‚Theatralität‘, neigen manchmal dazu, Praktiken des Zeigens zu privilegieren und Praktiken des Versteckens zu vernachlässigen. In performativen Kategorien gedacht, erscheint die Subjektbildung primär als eine Frage des Hervorbringens, der Konstruktion und der Erzeugung: Man interessiert sich für die Weisen, in denen eine Identität konstituiert, ein Körper materialisiert und ein Geschlecht inszeniert werden kann. Gefragt wird danach, wie in Aufführungen Emotionen, Körper, Bewegungen und Figuren zum Erscheinen gebracht werden könnten. Performative Identitätspolitik wird bisweilen aufgefasst wie eine Art Setzung, mit der ein Selbst- oder Fremdbild im Rückgriff auf bestimmte Medien in den öffentlichen Raum buchstäblich hineingestellt wird. Ganz gleich, ob man sich mit einer einzelnen Performance oder mit langfristigen Prozessen der Subjektivierung befasst – die Frage danach, wie Aspekte von Subjektivität erzeugt und wahrnehmbar gemacht werden können, scheint vordringlicher als das umgekehrte Problem, wie man zum Beispiel bedrohliche oder diskreditierende Aspekte der eigenen Subjektivität verbergen oder zum Verschwinden bringen kann. Theatralitätsdiskurse, wie sie von der Theaterwissenschaft seit Langem beobachtet und zum Teil mitgestaltet wurden, laden im Grunde dazu ein, die Perspektive umzukehren. Es gäbe zahlreiche theoretische Anknüpfungspunkte für ein Augenmerk auf das Verstecken als Strategie und auf jene Ausprägungen von Subjektivität, die im Verborgenen blühen. Das kann in der hier gebotenen Kürze nicht ausgeführt werden, aber drei begriffliche Traditionen möchte ich nennen: Erstens die traditionsreichen Maskendiskurse, die nie einen Zweifel daran gelassen haben, dass eine Maske nur dadurch etwas sichtbar machen kann, dass sie das Gesicht des Maskenträgers verbirgt. Zweitens die politikwissenschaftliche Manipulationsdebatte, die sich stets – lange Zeit sogar zu ausschließlich – dafür interessiert hat, wie politische Akteure unbequeme Wahrheiten vor der Öffentlichkeit verbergen, frisieren und retuschieren. Und – drittens – psychoanalytische Ansätze innerhalb der Theater- und Performancetheorie, die natürlich das Thema der Verdrängung und der Verwerfung nicht ausblenden konnten und deshalb dafür sensibilisiert waren, wie sehr sich Subjektivität im Verborgenen abspielt und welche Anstrengungen es kosten kann, Aspekte der eigenen Subjektivität im Verborgenen zu halten. Was passiert, wenn man sich von diesen Denktraditionen dazu anregen lässt, Subjektkonstitution und Subjektivität eher vom Verstecken als vom Zeigen aus zu denken? Das hat auf den beiden oben unterschiedenen Ebenen jeweils unterschiedliche Konsequenzen.
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Lyotard 1982: 11.
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S UBJEKTIVIERUNG Im Hinblick auf die langfristigen, biographischen Aspekte von Subjektivierung und Entsubjektivierung wird man auf einen erst einmal trivialen Sachverhalt aufmerksam: Einen großen Teil unserer Zeit im Kontakt zu anderen verbringen wir damit, Gefühle, Gedanken und Wünsche zu verbergen, und dieses Verbergen geschieht oft nicht weniger strategisch und erkenntnisgeleitet als das Zeigen; es geschieht im Wissen um Beobachter und deren Erwartungen, vor allem aber in einem mindestens diffusen Wissen um das zu Verbergende. Aus dieser Einsicht ergibt sich gegenüber einer einflussreichen Richtung performativitätstheoretischer Subjektmodelle eine überraschende Umkehr der Perspektive: Identitäten, Emotionen und Imaginationen erscheinen plötzlich nicht mehr als etwas Hervorzubringendes, sondern als etwas, das schon da ist und – oft unter großen Mühen – verborgen werden muss. So wird die Aufmerksamkeit darauf gelenkt, dass etwas da ist, dass es Anteile unseres Seins gibt, die wir – im Moment ihrer Wahrnehmbarkeit – nicht konstruieren oder evozieren, sondern gerade umgekehrt zurückstellen und unter Kontrolle halten müssen. Was ist dieser anstrengende Bereich des schon Vorhandenen, des Vorgängigen, des immer schon Existenten, das uns Praktiken des Versteckens überhaupt erst abverlangt? Man könnte auf das im 20. Jahrhundert von der Psychoanalyse markierte ‚Unbewusste‘ zu sprechen kommen, das sich in Symptomen manifestiert, die dann möglichst sofort versteckt werden sollen. Ein Stocken, ein Stottern, eine Fehlleistung – solcherlei Symptome haben wir im Sinn, wenn es um Selbstkontrolle und Selbst-Verbergen geht. Andererseits ist nicht alles, was wir verstecken, im Unbewussten versunken. Im Gegenteil: Oft wissen wir ziemlich genau über Art und Beschaffenheit des zu Versteckenden Bescheid, sonst würden wir nicht so viel Mühe darauf verwenden, es vor Anderen nicht in Erscheinung treten zu lassen. Und dieses Bescheidwissen, das uns zu Praktiken des Versteckens erst befähigt, enthält natürlich auch eine ermutigende Perspektive. Denn hier liegen die Ressourcen zu einem strategischen Verhalten, zu einer Politik der Subjektivität, die Spielräume, auch politische Spielräume, eröffnen kann. Verstecken – Zeigen: die beiden Worte stehen für eine Entscheidung, für einen bewussten Umgang mit dem Eigenen, der auch unter widrigen Umständen komplexe wie ironische Darstellungen möglich macht. Im Blick auf Subjektivität in einzelnen Aufführungen, Performances oder Installationen ist zunächst eine andere Frage klärungsbedürftig, wie sie zum Beispiel von den Corridor Installations aufgeworfen wird: Wann ist es überhaupt sinnvoll, angesichts eines solchen Wahrnehmungsereignisses von ‚versteckter Subjektivität‘ bzw. von einer ‚Subjektivität im Verborgenen‘ zu sprechen? Dass sich in einem Werk kein klar definiertes Künstler-Subjekt mehr zu erkennen gibt, dass sich in einer Aufführung die Frage nach subjektiven Handlungsoptionen, aber auch nach
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subjektiven Perspektiven ins Plurale, Heterogene und Unübersichtliche auflöst, ist das, was wir erwarten. Wir erwarten nicht, einer in sich geschlossenen Figur oder gar einem Autor zu begegnen, die oder der sich als subjektive Entität zu erkennen gäbe. Was aber im Wahrnehmungsereignis bisweilen erkennbar wird, sind bestimmte Strategien der Subjektivierung und Entsubjektivierung, wobei es sich um Strategien des Zeigens, aber eben auch um Strategien des Versteckens handeln kann. Auch beim Verstecken, auf das ich mich hier konzentrieren möchte, ist der strategische Charakter entscheidend, denn wo eine Strategie ist, so könnte man etwas formelhaft zuspitzen, da ist auch Subjektivität.
S TRATEGIEN
DES
V ERSTECKENS
Das Verstecken ist zunächst nicht rezeptionsästhetisch zu denken, sondern bezeichnet eine Tätigkeit des Produzenten. Diese Tätigkeit selbst dürfte in der Performance eigentlich gar nicht zu sehen sein – jedenfalls ist es ein paradoxer oder zumindest irritierender Vorgang, jemandem beim Verstecken zuzuschauen. Aber es passiert: zum Beispiel in den Versteckspielen der Kindheit, in denen es ja vorkommen konnte, dass man jemanden gerade noch hinter der Mülltonne verschwinden oder ungeduldig den Kopf aus einem Gebüsch herausstrecken sah. Manchmal waren das Akteure, die einfach gerne schnell gefunden werden wollten, manchmal aber auch besonders raffinierte Spieler, die einen immer wieder auf falsche Fährten lockten. Solche Vorgehensweisen findet man in der Performance- und Installationskunst relativ häufig. Der Künstler hat sich zwar zurückgezogen, scheint aber gleichsam noch hinter einer Ecke hervorzuschauen. Nur drei besonders gängige Strategien dieser Art möchte ich zum Schluss andeuten. Maskerade: Eine Maske muss nicht nur darauf befragt werden, was sie zeigt, sondern auch darauf, was sie verbergen könnte. Es ist demnach eine Negativlektüre erforderlich, die versucht, das Zeigen auch als eine Art Ablenkungsmanöver bzw. als ein Versteckspiel zu deuten. Dies funktioniert bei manchen Maskeraden besser als bei anderen. Rückschlüsse auf ein Dahinter sind schwierig bei Masken, die eher auf eine Transformation oder Extension des Körpers hinarbeiten wie etwa die Körpermasken von Rebecca Horn, die Bleistiftmaske (1972), das Einhorn (1970) oder das Hahnengefieder (1971). Völlig abwegig würde es zum Beispiel erscheinen, hinter dem Hahnengefieder nach animalischen oder schamanistischen Zügen des Maskenträgers zu suchen. Es scheint sich hier um Masken zu handeln, die eher eine ganz neue Körperwelt erschaffen, als dass sie etwas verstellen oder verbergen würden, was sich ohne ihr Zutun ins Bild drängen könnte. Ganz anders verhält es sich mit den vielfältigen Maskeraden einer Sophie Calle, die die Person der Künstlerin in immer wieder andere, verwirrende Geschichten verstricken. Hinter all den Fotos,
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Szenarien und Texten scheint sich etwas Biografisches, Idiosynkratisches und eben Subjektives zu verbergen, nach dem gefragt und gesucht werden soll. Spur: Die vom Körper des Künstlers hinterlassene Spur ist als eine Art ‚Präsenz in der Absenz‘ beschrieben worden – etwa an Arbeiten wie den Silhuetas von Ana Mendieta oder an den Sandresten in Installationen von Karla Black4 – aber ebenso angemessen erscheint es auch, von einer spezifischen Strategie des Sich-Verbergens zu sprechen. Die Spur ist ja nicht nur eine Art Negativform der Anwesenheit, sondern auch das Initial für eine Suchbewegung. Man kann Spuren begreifen wie eine Aufforderung, sich auf die Suche zu machen – insofern verhalten sie sich komplementär zu Strategien des Versteckens. Angesichts dieser besonderen Relation sollte der Spurbegriff in der Beschreibung von Aufführungen, Performances und Installationen nicht wahllos verwendet werden. Im weitesten Sinne sind zwar alle Manifestationen der Arbeit eines Künstlers, Performers oder Regisseurs am Ende ‚Spuren‘ einer gestalterischen Praxis, aber zu einem gehaltvolleren Spurbegriff gelangt man nur, wenn man zwischen Spur und Zeichen unterscheidet.5 Wie ein indexikalisches Zeichen verweist die Spur auf den Vorgang ihrer Hervorbringung und auf dessen verborgenen Urheber, jedoch ist die Spur durch eine andere spezifische Aktivität des Betrachters gekennzeichnet als das Zeichen: Zeichen werden gelesen; nach Spuren aber wird gesucht. Spuren sind das, was Suchbewegungen hervorbringt – und in der Suche liegt womöglich ein zentraler Mechanismus moderner Subjektivität. Verdoppelung: In einem Essay über die Debatten um das Klonen hat Rebecca Schneider schon vor einigen Jahren auf die besonderen Irritationen und Schrecknisse des Verdoppelns hingewiesen.6 Auch hier ließe sich allein im Blick auf die Zeitspanne seit den 1960er Jahren eine lange kunst- und performancegeschichtliche Tradition in Erinnerung rufen, von Andy Warhols Double Elvis (1963) über Deborah Kass’ 48 Four Barbras (1992) bis hin zu Mathilde ter Heijnes siebenfacher Replikation des eigenen Körpers in Fake Female Artists Life (2010). Von allen diesen Arbeiten wird die alte Debatte um Original und Kopie, Ursprung und Nachahmung, dem Primären und dem Sekundären aufgerufen. Je perfekter die Verdoppelung gelingt, desto weniger ist für den Zuschauer erkennbar, wo sich das Original zwischen all den Doubletten verbergen könnte. Am Ende kann die zunehmende Perfektion von Replikationstechniken, die im Klon einen weiteren Höhepunkt erreicht hat, zu der von Rebecca Schneider protegierten Einsicht führen, dass wir selber Doubletten sind und uns in einer Welt von Nachahmungen bewegen, in der die Unterscheidung zwischen dem Primären und dem Sekundären letztlich nur 4
Vgl. zu Mendieta etwa die Studie von Petra Maria Meyer 2003. Siehe zur Verflechtung von Präsenz und Absenz auch die stärker theaterbezogene Studie von Siouzouli 2008.
5
Siehe Krämer 1998: 78-82.
6
Siehe Schneider 2001.
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ideologisch aufrechterhalten werden kann. Dieser möglichen Einsicht scheint aber auch hier eine Suchbewegung vorauszugehen. Zu Recht wird ja hinter der Verdoppelung eine künstlerische Geste vermutet, und es stellt sich die Frage, ob diese Geste nicht doch, jenseits aller Spiegelungen und Reduplikationen, einen Ursprung haben muss. Es liegt nicht fern, die Verdoppelung als eine Strategie zu verstehen, die diesen Ursprung auf komplexe Art versteckt. Verstecken erscheint als eine Praxis, die, wenn sie beobachtbar ist, auf die Verborgenheit von Subjektivität hinweist, aber gerade dabei auch die aktive Suche nach dem Subjektiven initiieren, forcieren oder sogar legitimieren kann. Deshalb kann die Erfahrung von Subjektivität in den Künsten aus einem Zusammenspiel von Verstecken und Suchen erwachsen – nicht zufällig wohl aus eben jenen Tätigkeiten, die einflussreiche psychoanalytische Modelle am Anfang der frühkindlichen Subjektbildungsprozesse platzieren. Vielleicht liegt in der theatralen Wiederholung des Fort/Da-Spiels tatsächlich eine künstlerische Möglichkeit, Prozesse der Subjektivierung und Entsubjektivierung nicht nur performativ zu vollziehen – das ist ja ohnehin unausweichlich –, sondern diese Prozesse auch erfahrbar und reflektierbar zu machen. Theatralität würde dann einmal mehr als Mittel erscheinen, die performativen Prozesse des Lebens für einige erhellende Momente in die Sichtbarkeit zu heben.
L ITERATUR Butler, Judith: Psyche der Macht. Das Subjekt der Unterwerfung. [orig. 1997] Frankfurt am Main: Suhrkamp 2001. Krämer, Sybille: „Das Medium als Spur und als Apparat“, in: dies. (Hg.): Medien Computer Realität. Wirklichkeitsvorstellungen und Neue Medien. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1998, 73-94. Lüthy, Michael: „Die eigentliche Tätigkeit. Aktion und Erfahrung bei Bruce Nauman“, in: Erika Fischer-Lichte et al. (Hg.): Auf der Schwelle. Kunst, Risiken und Nebenwirkungen. München: Fink 2006, 57-74. Lyotard, Jean-François: „Der Zahn, die Hand“, in: ders., Essays zu einer affirmativen Ästhetik. Berlin: Merve 1982, 11-23. Meyer, Petra Maria: „Todesmotive in der ‚rituellen Magie‘ der Künstlerin Ana Mendieta. Am Beispiel der Siluetas und mit ihnen verbundener Performances“, in: Erika Fischer-Lichte et al. (Hg.): Ritualität und Grenze. Tübingen/Basel: Francke 2003, 129-151. Schneider, Rebecca: „Hello Dolly Well Hello Dolly: the double and its theatre“, in: Campbell, Patrick/Kear, Adrian (Hg.): Psychoanalysis and Performance. London/New York: Routledge 2001, 94-114. Siouzouli, Natascha: Wie Absenz zur Präsenz entsteht. Botho Strauß inszeniert von Luc Bondy. Bielefeld: transcript 2008.
Subjektwerdung in der Mediengesellschaft L UTZ E LLRICH
Wie der Kongress, aus dem dieses Buch hervorgegangen ist, belegt, kursiert unter Theaterwissenschaftlern das faszinierende Modell einer performativen Genese des Subjekts. Subjektivierung wird hier nicht als einseitige Prägung durch übermächtige Instanzen wie Eltern oder Erzieher verstanden, und auch nicht als Sozialisation, die mit Gratifikationen und Sanktionen arbeitet, sondern als ein Aushandlungsprozess, der alle Beteiligten auf gleiche Augenhöhe bringt. Dieser Prozess läuft, so lautet die These, nicht primär sprachlich, also auf der Basis wechselseitig dargebotener Vorschläge und Argumente ab. Er vollzieht sich vielmehr, wie es im Vorwort der Herausgeber heißt, als gleichermaßen gestisch, mimisch und sprachlich verfasste „Aufführung“ und findet zudem „vor dem Hintergrund gesellschaftlich gegebener Normen“ statt. Dies alles sind hochgradig voraussetzungsvolle Behauptungen. Um sie zu plausibilisieren, benötigt man eine angemessene Theorie des Handelns, welche die beiden genannten Schritte – 1. Handeln wird zum Aushandeln, 2. die Praxis des Aushandelns verwirklicht sich als Aufführung – begrifflich sauber expliziert. Es bedarf aber zusätzlich auch einer Theorie, die den Status von Normen klärt. Denn es ist keineswegs evident, dass der unterstellte Aushandlungsprozess im Kontext gegebener Normen abläuft. Eine zeitgerechte Theater- und Medientheorie, die die Subjektkategorie ins Zentrum der Aufmerksamkeit rückt, muss daher zunächst den aktuell vorherrschenden Orientierungsmodus (von Handeln und Erleben) bestimmen, der möglicherweise gar nicht mehr primär durch Normen fundiert ist. Im Folgenden möchte ich – unter Rekurs auf Freuds Libidokonzept – hierzu einen Beitrag leisten. Freuds Analyse des „Unbehagens in der Kultur“ setzt bekanntlich sehr tief an. Die Dialektik des Zivilisationsprozesses erscheint bei ihm als ein fatales Geschehen: Mit der Aufrichtung des menschlichen Ganges und der daraus resultierenden Entwertung jener intensiven Gerüche, die den analen und genitalen Zonen anhaften, bilden sich hohe Ekelschwellen. Diese sichern zwar kollektive Errungenschaften, gefährden zugleich aber auch Bestand und Wohlbefinden der Gattung. Je erfolgrei-
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cher der kulturelle und technische Fortschritt ist, desto problematischer wird der Akt der Fortpflanzung. Die optimistischen und selbstbewussten Kulturmenschen beurteilen Sexualität als etwas Erniedrigendes, das sie befleckt und verunreinigt. Sexualität, soweit sie nicht der Fortpflanzung dient und durch die Institution Ehe sanktioniert ist, wird unterdrückt und verdrängt. Doch die archaischen Kräfte lassen sich nicht vollständig unterwerfen. Sie kehren maskiert zurück und melden ihre Ansprüche an. Neurosen und Perversionen sind Signale dafür, dass die Domestizierung von Instinkten und Trieben einen hohen Preis hat und niemals wirklich gelingen kann. Ob diese Konstruktion insgesamt plausibel ist, will ich hier nicht diskutieren. Ich gehe davon aus, dass sie zumindest um 1900 einen erheblichen diagnostischen Wert besitzt.Welche Rolle spielen aber nun die Medien und ihre rasante Entwicklung im Prozess von Verdrängung und Wiederkehr des Verdrängten? Dass die Sexualunterdrückung, die in der bürgerlichen Gesellschaft zwischen 1870 und 1920 ihren zivilisatorischen Höhepunkt erreicht, ohne die Unterstützung des Leitmediums Massenpresse kaum die von Freud beschriebenen Extremformen angenommen hätte, kann man sich durch einen Blick auf die Arbeiten von Karl Kraus verdeutlichen. Kraus zeigt, in welchem Maße die Presse zum symbolischen Kampfplatz der Repression geworden ist, auf dem die offizielle Einstellung zur Sexualität nur den Sieg davon tragen kann, wenn sie Heuchelei und Doppelmoral als Waffen einsetzt. Auf diese Weise hat die Druckerschwärze, wie Kraus sarkastisch kommentiert, die Wirkung von „schwarzer Magie“1. Denn die Presse agiert als Hüterin der abendländischen Sittlichkeit, indem sie die affektiven Schleusen öffnet und die aufgestaute libidinöse Energie in Hass auf diejenigen verwandelt, welche die offiziellen Regeln von Zucht und Ordnung verletzt haben: Freidenker, Onanisten, Homosexuelle, Prostituierte, Lustmörder. Dieses Zusammenspiel von Verdrängung und massenmedial regulierter Triebabfuhr wird historisch obsolet, da sich zunächst zwischen 1918 und 1929 und dann ca. ab 1950 in den westlichen Industriegesellschaften die politischen und wirtschaftlichen Verhältnisse ändern bzw. stabilisieren. Politische Souveränität wird zunehmend in demokratische Strukturen eingebettet, und gleichzeitig erfolgt ein enormer wirtschaftlicher Aufschwung. Spätestens in den 1960er Jahren entsteht eine fast alle sozialen Schichten umfassende hedonistische Konsumkultur, in der sich auch neue Formen sexueller Lusterregung und Lustbefriedigung ausbilden. Die „Sisyphusarbeit der Triebökonomie“ – so schreibt Adorno – wird jetzt „von den Institutionen der Kulturindustrie“2 übernommen. Offenbar müssen die Individuen ihre psychischen Kräfte nicht länger in Verdrängungsakte investieren, sondern können ihre Triebe auf zwei sich ergänzende Weisen ausleben: zum einen in den (speziell 1
Kraus 1912: 1.
2
Adorno 1963: 70.
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für junge Menschen) enttabuisierten Zonen realer Sexualbetätigung, zum anderen in den audiovisuellen Traumwelten, die Film und Fernsehen zu erschwinglichen Preisen bieten. „Das Unbehagen in der Kultur“ ist damit aber nicht verschwunden; denn die weitgehende Aufhebung der Verdrängung in den audiovisuellen Medien eröffnet nicht allein einen fast grenzenlosen Spielraum der Fantasie, sie bindet die Medienkonsumenten auch an ein bestimmtes Setting. Durch die passive Rezeptionshaltung werden die Zuschauer zu einer unbewussten Identifikation mit den fiktiven Welten und ihren Figuren eingeladen. Die Film- und Fernsehhelden agieren als erfolgreiche Stellvertreter. Sie erfüllen die Wünsche der Betrachter und entlasten sie von den Anstrengungen, ohne die kein Triebziel in der rauen Wirklichkeit erlangt werden kann. Reicht der Hinweis auf diese Entlastungsfunktion der audiovisuellen Medien aber aus, um zu erklären, warum sich derart viele Menschen durch die medial evozierten Gefühle auf eine infantile Stufe der Wahrnehmung und Lustempfindung zurückversetzen lassen? Erweist sich die bereits erwähnte Beschreibung der Nachkriegsgesellschaft als unvollständig? Gewiss, in einer durch sexuelle Freizügigkeit und Konsumappelle geprägten Epoche nimmt der Umfang an sozial erforderlichen Verdrängungsleistungen ab. Innere Triebimpulse können stärker als je zuvor ausgelebt werden. Das Arsenal der psychischen Selbstzwänge verliert an Bedeutung. Vieles spricht für die Triftigkeit solcher Behauptungen. Wieso aber entsteht unter diesen anscheinend so günstigen Bedingungen ein neues kollektives Unbehagen, das nach Kompensation verlangt und die Nachfrage nach den Produkten der Kulturindustrie ständig steigert? Zu vermuten ist, dass neue Formen von „Unlust und Bedrängung“ zum Problem werden. Ihre Quelle dürften allerdings nicht mehr zensierte Wünsche sein, die aus dem Unbewussten empor drängen, sondern Elemente, die aus der „Außenwelt“ stammen.3 Auf diese Stressfaktoren reagieren die Betroffenen – wie es scheint – mit dem Abwehrverhalten der Regression. Und das heißt: Sie kehren auf eine bereits verlassene Stufe der Ich-Reifung zurück. Denn nur hier gelangen sie in den Genuss unverzichtbarer libidinöser Entschädigungen. Bevor die Forschung Aufschluss über den Wert dieser Regressions-These liefern konnte, änderten sich die Verhältnisse erneut. Mit dem Aufkommen der Computertechnik fiel der Startschuss zur Entwicklung einer globalisierten Informationsgesellschaft und damit auch zur Ausbildung einer Form der Subjektivität, die dieser Transformation entspricht. Geblieben ist jedoch die Frage nach dem Status der Außenwelt-Faktoren, die auf die Individuen einwirken und unter Umständen zu pathologischen Abwehrmaßnahmen führen. Kann man Freuds Theorie damit endgültig ad acta legen oder führt der Rückgriff auf einige ihrer Elemente gerade jetzt zu nützlichen Einsichten? Wenn wir psychoanalytische Begriffe zur Analyse aktueller Konstellationen heranziehen wol3
Salje 1980: 71.
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len, so liegt es zunächst nahe, sich darauf zu verständigen, dass wir es heute mit einer ‚post-ödipalen Situation‘ zu tun haben. Damit diese Vokabel Gehalt bekommt, muss man sich zuvor noch das, was Freud über den Ödipuskomplex und seinen Untergang gesagt hat, vergegenwärtigen. Das Modell des Ödipuskomplexes beschreibt die äußerst prekäre Affektstruktur, die die Beziehung in der Kernfamilie bestimmt. Es geht um die Entwicklungsdynamik der geschlechtsspezifischen Verteilung von Gefühlen wie Liebe, Hass und Eifersucht, die Kinder gegenüber Eltern hegen und in unterschiedlichen Intensitätsgraden und phasenbedingten Verlaufsformen ausleben. Die ‚normale‘ Entwicklung, die durch eine Reihe pathologischer Abweichungen gestört werden kann, beschreibt Freud als einen schrittweisen, Latenzperioden und Wiederbelebungszeiten umfassenden Prozess, der letztlich zur Auflösung der ödipalen Fixierungen (Liebe zum gegengeschlechtlichen Elternteil, Hass auf den gleichgeschlechtlichen Elternteil) führt. Beim Untergang des Ödipuskomplexes, genauer beim ersten Untergang des Ödipuskomplexes vor dem Eintritt in die Latenzphase, kommt es zu einer Verschiebung von Objekt-Libido ins Ich. Später (in der Pubertät) wird der Ödipuskomplex noch einmal wiederbelebt, um dann im Zuge der Partnerwahl erneut und diesmal (von Fehlentwicklungen abgesehen) endgültig unterzugehen. Die genannte Verschiebung von Objekt-Libido ins Ich hat im Zusammenhang mit dem Untergang des Ödipuskomplexes eine besondere Bedeutung. Sie dient nämlich der Entstehung des Über-Ichs. In der post-ödipalen Mediengesellschaft, die längst vaterlos geworden ist und mit einer stark geschwächten Elternautorität auskommen muss, scheint die ÜberIch-Genese nicht mehr zu funktionieren. Bedeutet dies aber auch, dass eine dem Über-Ich vergleichbare oder funktional äquivalente Instanz gar nicht mehr oder nur noch rudimentär ausgebildet wird? Ist eine solche Instanz überflüssig geworden? Oder nimmt sie nur eine veränderte Gestalt an, die ebenso viele (neurotische) Persönlichkeitsstörungen produzieren kann wie das ‚klassische‘ Über-Ich? Manche Theoretiker nehmen an, dass die Massenmedien – in erster Linie das Fernsehen – ein Ersatz-Über-Ich geschaffen haben: Die Identifikation mit fiktiven Serienhelden trete tendenziell an die Stelle der affektiven Besetzung von familialen Bezugspersonen und anderen traditionellen Erziehungsinstanzen. Solche Thesen können sich durchaus auf Ergebnisse der Fernsehforschung stützen. Dennoch muss man deren Befunde sehr großzügig auslegen, um das Fernsehen zu jenem Ort zu erklären, an dem das neue Über-Ich in Bild und Wort seine Botschaften verkündet. Weitaus interessanter als diese Unterstellung ist die Annahme, dass die Über-IchForderungen nicht nur ihren Inhalt geändert, sondern auch den Nachdruck, mit dem sie verkündet werden, verstärkt haben. Welches sind nun die neuen Inhalte und Forderungen, mit denen die Massenmedien uns heute konfrontieren? Und welche (ggf. pathologischen) Wirkungen rufen sie hervor?
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Zwei prominente Autoren – Slavoj Žižek und Alain Ehrenberg – geben auf diese Fragen Antworten, die gegenwärtig eine beträchtliche öffentliche Resonanz finden: Žižek stellt die These auf, dass „wir heute von allen Seiten mit den verschiedenen Versionen des Über-ich-Befehls ‚Genieße!‘ bombardiert werden, vom unmittelbaren Sexualgenuß bis zur Freude an beruflichem Erfolg und spirituellem Erwachen“4. Besonders fatal an dieser Forderung ist nun laut Žižek, dass sie umso strenger ausfällt, je mehr wir ihr gehorchen, dass wir also unausweichlich in eine Situation der totalen Überforderung hineingeraten. Zu einem ähnlichen Schluss gelangt Ehrenberg. Er entwickelt die folgende Argumentationskette: Heute sagt „uns kein moralisches Gesetz und keine Tradition mehr, wer wir zu sein haben und wie wir uns verhalten müssen.“5 Die Kraft der Verbote und die Macht der Disziplinierung durch die klassischen Instanzen Elternhaus, Kindergarten, Peergroup, Schule, Militär, Büro, Fabrik etc. schwinden. Wir müssen jetzt nicht mehr in erster Linie Gehorsam leisten, sondern Entscheidungen treffen. Persönliche Initiative ist gefragt. „Projekt, Motivation, Kommunikation“ lauten die Leitbegriffe, die eine magische Kraft auf uns ausüben. Durch die bloße „Konformität mit einem Gesetz“ können wir den Situationen, in die wir gestellt sind, nicht mehr gerecht werden. Die „äußere Ordnung“ fällt als Stabilisator aus, wir müssen uns auf die „inneren Antriebe stützen“, auf „geistige Fähigkeiten zurückgreifen“.6 Dieser neue Anspruch, die Sache selbst in die Hand zu nehmen und auch das Ich zu managen, hat einen merkwürdigen Status: Es ist kein eigener Wunsch, kein eigenes Anliegen; wir haben nicht den Eindruck, auf diese Weise endlich die Quellen des Selbst freigelegt zu haben und uns besser als je zuvor zu verstehen. Der Anspruch tritt uns zwar als eigener Impuls und dennoch als etwas Fremdes und Unangemessenes gegenüber. Wir können ihn aber nicht als bloße äußere Macht bestimmen und abweisen. Es scheint sich vielmehr um neue Normen zu handeln, die wir schon verinnerlicht haben und die im Verlauf dieses Verinnerlichungsprozesses zur Instanz eines Neo-Über-Ichs geworden sind. Zudem sind wir – hier deckt sich Ehrenbergs Diagnose mit der These von Žižek – den neuen Normen in weit stärkerem Maße ausgeliefert als früheren Normen-Sets. Diese extreme Form der Abhängigkeit von den neuen Normen, die den Forderungskatalog eines besonders strengen Über-Ichs bilden, zeigt sich daran, dass wir immer weniger in einen Konflikt mit diesen Anforderungen oder Befehlen geraten, immer seltener Triebimpulse und starke Wünsche gegen das Über-Ich in Stellung bringen. Vielmehr empfinden wir uns selbst als mangelhaft, wenn wir seinen Ansprüchen nicht genügen. Das NeoÜber-Ich entpuppt sich als eine Art Ultra-Über-Ich, das uns überfordert und in die Arme der Depression treibt. Wir kommen uns erschöpft und unzulänglich vor, ohne 4
Žižek 2005: 33.
5
Ehrenberg 2004: 8.
6
Ehrenberg 2004: 8.
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uns schuldig zu fühlen. Wir leiden nicht konkret und unmittelbar unter einer äußeren Disziplinierungs- oder Kontrollmacht, sondern an der eigenen Defizienz. Uns erdrückt das Gewicht der neuen Selbstverantwortung, der neuen Souveränität, die die individuellen Spielräume freier Selbstentfaltung – statt sie zu öffnen – immer mehr verbarrikadiert. Wie man gesehen hat, arbeiten Žižek und Ehrenberg bei ihren Diagnosen der aktuellen sozialen Krise mit dem Begriff des Über-Ichs oder einer funktional vergleichbaren psychischen Instanz. Sie gehen davon aus, dass die Gesellschaft weiterhin über Gebote, Verbote, Normen und Werte gesteuert wird. Ferner nehmen sie an, dass die gesellschaftlichen Forderungen, deren Zirkulation heute durch die Massenmedien in Gang gehalten wird, sich mit erheblichen subjektiven Affektmengen verbinden und dass gerade wegen dieser Verbindung die Individuen in (neuartige) Schwierigkeiten (Erschöpfung, Scham, Defizienzgefühle, Depression) geraten. Die affektive Bindung an die gesellschaftlichen Forderungen, denen die Individuen immer weniger zu genügen vermögen, wird damit erklärt, dass es nach wie vor zu einer subjektiven Verinnerlichung von sozialen Normen (welchen Inhaltes auch immer) kommt. Und dies bedeutet: Weil das Über-Ich immer noch einen festen Platz im seelischen Haushalt der Subjekte einnimmt, können seine unerbittlichen Ansprüche und Befehle jene (oft verheerenden) Wirkungen entfalten, von denen bei Žižek und Ehrenberg die Rede ist. Aber vielleicht geht diese These von einer Prämisse aus, die nicht mehr gültig ist. Wenn man einräumt, dass Familien und Schulen ihre traditionellen Sozialisationsaufgaben nur noch unzureichend erfüllen, und dennoch annimmt, dass die Individuen weiterhin durch eine Art von Über-Ich gesteuert werden, das seine Botschaften über das Fernsehen und das Internet verbreitet, so schreibt man den Medien als Instanz zur Bildung und Stabilisierung des neuen Über-Ichs eine geradezu suggestive und manipulative Kraft zu. Ein solch schwerer Verdacht lässt sich aber durch die vorhandenen Indizien kaum stützen. Die Forschungen über Medienrezeption zeigen zwar die enorme Bedeutung, die die Medien auch und gerade für die Steuerung des individuellen Handelns haben, aber sie bieten kaum Anlass, die Medien und ihre Botschaften als Über-Ich-Ersatz zu bestimmen. Die Medien – so ließe sich der Tenor dieser Forschungen zum Ausdruck bringen – senden keine offenen oder versteckten Befehle aus, stellen keine rigorosen Forderungen, sondern liefern mit ihren verschiedenen Formaten ein Angebot, das die Individuen (auf neue Weise) zur Handlungsorientierung nutzen können, aber nicht müssen. Offenbar begünstigen die Medien durch ihre weit gefächerten Offerten eine Form der Selektion von Handlungen, Verhaltensweisen, Selbst- und Fremddeutungen etc., die nicht mehr auf verinnerlichte Richtgrößen (wie z.B. Normen, Werte, Ideale) bezogen ist. Die Annahme, unser Verhalten würde durch ein Programm gesteuert, das wir in schmerzhaften Sozialisationsprozessen verinnerlicht haben, lässt sich angesichts der aktuellen gesellschaftlichen und medialen Entwicklung kaum noch halten.
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Die gegenwärtige Gesellschaft unterliegt in weit höherem Maße als jede frühere Sozialordnung einer dauernden Umgestaltung. Man denke nur an die Kommunikationstechniken, die Arbeitsabläufe, die Wohn- und Verkehrsverhältnisse, das Freizeitverhalten und vieles andere mehr. Niemals zuvor haben Menschen derart häufig den Ort, den Beruf, den Lebenspartner, die politische Meinung geändert wie heute. Mit diesen Bedingungen werden am ehesten Individuen fertig, die die Fähigkeit zum Selbstmanagement besitzen und in der Lage sind, sich auf neue, unerwartete Situationen rasch einzustellen. In welchem Sinne können Freuds Überlegungen zum Verhältnis von Ich- und Objekt-Libido dazu dienen, die heilsamen und pathologischen Aspekte eines Selbstmanagements zu klären, das ohne die Steuerungsimpulse eines starken ÜberIchs auskommen muss? Die Ich-Libido richtet sich auf attraktive Eigenschaften oder Potentiale, die dem eigenen Ich als Qualitäten zugeschrieben werden können und es für Andere begehrenswert (oder auch zum Gegenstand des Neides) machen. Die Objekt-Libido hingegen richtet sich auf Dinge, Personen, soziale Positionen, Status-Symbole etc., die man besitzen, erlangen oder an sich binden möchte. Den oben kurz skizzierten sozialen Verhältnissen dürften am ehesten Subjekte gewachsen sein, die das Verhältnis von Ich-Libido und Objekt-Libido ausbalancieren und nach Bedarf die eine in die andere verwandeln können. Aber auch ein derart flexibler Einsatz libidinöser Kräfte ist Gefahren ausgesetzt. Die erfolgreiche Zirkulation und Verwandlung der beiden Libido-Formen kann zunächst einmal auf zwei Weisen blockiert werden. Im einen Falle wird die Libido ans Ich fixiert, im anderen ans Objekt. So kommt es zum Beispiel als Folge von Enttäuschungen oder Abweisungen nicht selten zu einem weitgehenden Rückzug der Objekt-Libido ins Ich. Die libidinöse Energie wird dann in narzisstische Fantasien investiert und dies führt im Extremfall zur so genannten psychotischen Introjektion. Andererseits sind übersteigerte Formen der Objekt-Libido möglich. Die Sucht (egal, ob sie sich auf Narkotika, Alkohol, Süßigkeiten, Sex, Fernsehsendungen, Computerspiele, die Dauerbetriebsamkeit der ‚Workaholics‘ etc. richtet) zählt zu den aufschlussreichsten Beispielen für diese Art der Pathologie. Die Dosis des ‚Stoffs‘, an dem das Individuum hängt, muss dann ständig erhöht werden, damit sich die libidinöse Investition auszahlt. Ein weiterer (gerade heute) wichtiger Fall der misslungenen Etablierung einer ausgeglichenen Libido-Ökonomie ergibt sich aus ich-internen Problemen, die nach außen verlagert werden: Bei der Überformung des infantilen Narzissmus durch eine reife Gestalt der eigenen Wertschätzung des Ichs können Instanzen der SelbstReflexion entstehen, die eine exzessive Selbst-Beobachtung und Selbst-Beurteilung durchführen. Das Ich verschafft sich dann Erleichterung, indem es die SelbstBeobachtung auslagert, gleichsam in die Umwelt projiziert und sich selbst zum Ob-
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jekt einer Fremdbeobachtung macht, die nun ihrerseits ausufern und letztlich paranoide Vorstellungen bzw. Verfolgungswahn hervorrufen kann. Die Frage ist nun, ob die angeführten Pathologien (deren Liste sich erweitern ließe) durch die vorhandenen Medien mit Nahrung versorgt werden oder ob die Medien (beim aktuellen Stand ihrer Entwicklung) Möglichkeiten bieten, unheilvolle Prozesse abzumildern oder gar zu verhindern. Die Massenmedien bieten heute nicht nur imaginäre Welten der Wunscherfüllung und der künstlichen Erregung bzw. Abfuhr von Angstlust, sie liefern nicht nur Konsumreize und Unterhaltungsformate, bei deren Rezeption wir uns, wie Neil Postman behauptet hat, letztlich „zu Tode […] amüsieren“ 7, sie sind auch und vielleicht sogar in erster Linie Instanzen, mit denen die Gesellschaft sich selbst beobachtet, genauer gesagt: das Verhalten und die Äußerungen ihrer Mitglieder mit dem Ziel beobachtet, die gewonnenen Daten mit Hilfe der Medien an die Gesellschaft zurück zu kommunizieren. Ein erster Schritt zur Beantwortung der Frage nach der Funktion der Massenmedien für den psychischen Haushalt der Individuen, die heute ohne leistungsfähige Über-Ich-Stütze, aber auch ohne peinigende Über-Ich-Kommandos auskommen müssen, liegt damit auf der Hand: Die Selbstbeobachtung des Individuums ist heute über Massenmedien an die Selbstbeobachtung der Gesellschaft gekoppelt, allerdings nicht, wie Adorno behauptet hat, regelrecht kurzgeschlossen. Welche Befunde fördert nun diese medial präsentierte Selbstbeobachtung zu Tage? Erstens liefern die Medien statistisches Material über menschliches Verhalten. (Man denke z.B. an die Popularisierung des Kinsey-Reports und ähnlicher Erhebungen in den Medien). Dabei zeigt sich, dass die Auswertung der Daten in fast allen erforschten Gebieten eine Verteilung nach dem Muster der Gaußkurve ergibt. Man spricht von der sogenannten ‚Normalverteilung‘. Das heißt: Charakteristisch sind Häufungen im mittleren Bereich und Ausdünnungen in den beiden Randzonen; zugleich bestehen kontinuierliche Übergänge (also keine klaren Unterschiede) zwischen der Mitte (dem Durchschnitt) und den Randzonen. Zweitens stellen die Medien mit bestimmten Formaten (Gameshows, Talkshows, Reality-Soaps etc.) Experimentier-Räume zur Verfügung, in denen laufend darüber diskutiert und abgestimmt wird, was derzeit akzeptabel und inakzeptabel, ‚in‘ oder ‚out‘ ist; wobei jedem Betrachter vor Augen geführt wird, dass die heutigen Ergebnisse morgen schon überholt sein können und meist (wie sich ex post beobachten lässt) auch überholt sind. Drittens präsentieren die Medien sensationell aufbereitete, spektakuläre Einzelfälle, die einerseits die Angst schüren, dass man selbst betroffen sein könnte, andererseits durch die deutlich markierte statistische Seltenheit der Fälle auch wieder beruhigend wirken. 7
Postman 1985.
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Durch diese medialen Angebote werden den Individuen, die (aufgrund des Fehlens intrinsischer Motive und der Schwäche des Über-Ichs) von sich aus nicht mehr (genau) wissen, was sie sein und was sie haben möchten, Orientierungshilfen gegeben, die jedoch keine Vorschriften machen, was zu tun und zu lassen, was zu begehren und zu verachten ist, sondern nur Angaben darüber liefern, was die stets variable Mehrheit der Mitmenschen heute noch (aber morgen vielleicht schon nicht mehr) vorzieht und meidet.8 Die Medien bieten also den Individuen als Anreiz zur Investition ihrer Objekt-Libido eine Anzahl von Dingen und Verhaltensweisen dar, die mit Indizes versehen sind, welche über die aktuelle Platzierung des jeweiligen Phänomens in der Normalverteilungslandschaft Auskunft geben. Zugleich machen sie die Individuen darauf aufmerksam, dass einzig und allein sie selbst es sind, die aus dem informativen Angebot das für sie jeweils Geeignete auswählen. Auf diese Weise stimulieren die Medien Libido-Investitionen ins Ich als eine Entscheidungsinstanz, die gegen Manipulationen von außen gefeit ist. Sie geben den Individuen zu verstehen, dass es ihnen frei steht, sich durch ihre Option im Mittelfeld zu verorten oder in einer der Randzonen zu positionieren. (Zum Beispiel: viel oder wenig Alkohol zu trinken, riskanten oder vorsichtigen Sex zu betreiben, exzessiv oder moderat Steuern zu hinterziehen etc.). Die Medien schmeicheln folglich sowohl der Objekt-Libido als auch der Ich-Libido und stacheln beide zur Verausgabung ihrer Energie an. Dies könnte freilich zur Auszehrung der Kräfte und damit zu jenem Erschöpfungszustand führen, den Ehrenberg diagnostiziert hat. Die Medien fungieren aber auch als eine Art Bremse und Filter der libidinösen Investitionen. Sie unterbinden nämlich, sobald sie von den Individuen zur Weltund Selbstorientierung benutzt werden, eine direkte Beziehung zu den Objekten bzw. zum Ich. Sie verhindern also die Kurzschlüsse, aus denen pathologische Fixierungen resultieren, von denen einige genannt wurden. Zwischen das Ich und die gewählten oder anvisierten Objekte schiebt sich der (Bild-)Schirm der medial aufbereiteten Daten. Wenn das Ich sich dem Objekt zuwendet, behält es andauernd Angaben über das Verhalten und die Optionen der Mitmenschen im Blick. Die Objekt-Libido verwandelt sich so in eine Sekundärbesetzung. Ähnlich ergeht es der Ich-Libido. Die narzisstischen Selbstbezüge werden nicht zur Fixierung auf ein Ideal-Ich mit spezifischen, affektiv aufgeladenen Merkmalen transformiert, sondern zugunsten eines mit abstrakter Handlungsfähigkeit (agency) ausgestatteten Ichs preisgegeben. Dieses Ich bezieht seine Stärke aus der Fähigkeit, etwas zu wählen, das es nicht selbst kreiert, sondern sich aus vorgegebenem Material, das auch allen anderen zur Verfügung steht, nur herausgesucht hat. Gravierende Anstöße zur nazistischen Selbstüberhöhung oder zur Fetischisierung der medial präsentierten Daten und Phänomene sind damit nicht verbunden. Allerdings mag im Laufe der Zeit, die mit diversen Arten des Medienkonsums verbracht wird, eine Disposition zur 8
Vgl. Ellrich 2007 sowie Ellrich 2011: 221ff., 300f.
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Platzierung im Bereich des Durchschnittlichen und Normalen entstehen. Aber vielleicht ist dies durchaus im Sinne Freuds. Immerhin hatte er es sich mit der talking cure zur Aufgabe gemacht, an die Stelle des neurotischen Leidens das ‚normale Unglück‘ zu setzen. Und genau dies könnte der geeignete Stoff sein für eine zukünftige Theaterpraxis, die sich von überzogenen Subjektbegriffen gelöst hat.
L ITERATUR Adorno, Theodor W.: Eingriffe. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1963. Ehrenberg, Alain: Das erschöpfte Selbst. Frankfurt/New York: Campus 2004. Ellrich, Lutz: „Normativität und Normalität“, in: Bartz, Christina (Hg.): Spektakel des Normalismus. München: Fink 2007, 25-51. Ellrich, Lutz: Vorführen und Verführen. Bielefeld: transcript 2011. Freud, Sigmund: „Zur Einführung in den Narzissmus“ [1914], in: Studienausgabe Bd. 3. Frankfurt am Main: Fischer 1975, 81-102. Kraus, Karl: „Der Untergang der Welt durch schwarze Magie“, in: Die Fackel, Nr. 363/364/365, XIV. Jahr (12.12.1912), 1-28. Link, Jürgen: Versuch über den Normalismus. Opladen: Westdeutscher Verlag 1996. Postman, Neil: Wir amüsieren uns zu Tode. Urteilsbildung im Zeitalter der Unterhaltungsindustrie. Frankfurt am Main: Fischer 1985. Salje, Gunther: Film, Fernsehen, Psychoanalyse. Frankfurt/New York: Campus 1980. Žižek, Slavoj: Die politische Suspension des Ethischen. Frankfurt am Main: Suhrkamp 2005.
Das Theater der Askese als ‚Arbeit an sich selbst‘ B ARBARA G RONAU
Mit Beginn der Moderne verlagert sich die Askese von einer religiös konnotierten Praxis der Weltentsagung zusehends in den Bereich des säkularen Lebens. Sie wird – wie Max Weber ausführlich analysiert hat – „aus den Mönchszellen heraus in das Berufsleben übertragen“ und in Folge dessen zur „innerweltlichen Askese“.1 Das Bürgertum verschreibt sich einer Ökonomie der Zurückhaltung, die von Entsagung, Verzicht und Enthaltsamkeit geprägt ist. In diesem Prozess gewinnt auch die antike Dimension der Askesis zunehmend Raum, nämlich die der Übung und Herstellung. Als Bearbeitung, ja Modellierung des Selbst geht die Askese mit zahlreichen Exerzitien einher, also mit jenen „Technologien des Selbst“, die Foucault so weitläufig analysiert hat.2 Die Übungen betreffen den Umgang mit dem eigenen Körper, mit der Sexualität, den Lüsten und der Ausbildung eines Selbst im Verhältnis zu geltenden Normen und Regeln. Die Askese ist – wie Peter Sloterdijk kürzlich betont hat – eine Anthropotechnik, d.h. ein ästhetisches Programm zur „Selbsterzeugung des Menschen“3 und ihr neuzeitlicher Auftrittsort nicht mehr das Kloster, sondern die Kunst. Insbesondere das Theater – so meine These – wird dabei zu einem zentralen Bezugsraum. Das Trainieren und Ausstellen asketischer Körperpraktiken umfasst nicht nur den Bereich des Militärs, des Sports und der beginnenden Reformbewe-
1
„Einer der konstitutiven Bestandteile des modernen kapitalistischen Geistes, und eben nicht nur dieses, sondern der modernen Kultur: die rationale Lebensführung auf Grundlage der Berufsidee, ist [...] geboren aus dem Geist der christlichen Askese“ (Weber 1920: 201).
2
Siehe Foucault 2007: 287-317.
3
Sloterdijk 2009: 14.
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gungen, sondern reicht bis in die künstlerische Ausbildung junger Schauspieler und die volkstümlichen Spektakel der Hungerkünstler. Im Folgenden stelle ich verschiedene Figuren eines ‚Theaters der Askese‘ vor, um daran die Rolle des Körpers als Schauplatz disziplinarischer Übungen und Gegenstand strategischer Restriktionen aufzuzeigen. 4
H UNGERKÜNSTLER UND N AHRUNGSASKETEN Im heißen Sommer des Jahres 1905 hatten Zeitungen, Illustrierte und Gespräche des Wiener Bürgertums vor allem ein Thema: Im ersten Kaffeehaus auf der Wiener Praterallee sollte das „größte Phänomen des 20. Jahrhunderts“ öffentlich auftreten. Nach Auskunft der Werbeprospekte handelte es sich dabei um die Grazer Schauspielerin Auguste Victoria Schenk, die als „erste Hungerkünstlerin der Welt“ für ganze einundzwanzig Tage einen völligen Nahrungsverzicht praktizieren werde. 5 „Die Einmauerung“ – so die Ankündigung – „findet am 22. Juli abends, 8 Uhr in einer mit großen Glasscheiben versehenen Hungerzelle statt. Auguste Victoria Schenk ist Tag und Nacht zu sehen, wird von der Wach- und Schließgesellschaft ununterbrochen bewacht und nährt sich ausschließlich von [dem Tafelwasser] Krondorfer Sauerbrunn.“ Das zahlende Publikum könne das Spektakel gegen einen Eintritt von sechzig Hellern bei „Lagerbier“ und „feinster Wiener Küche“ 6 mitverfolgen. Am Eröffnungsabend ließ ein beflissen auftretender Impresario eine vornehm gekleidete, von der Presse als korpulent bezeichnete Dame vor das Publikum treten, auf die Waage steigen und ein letztes Mal fotografieren. Man rief ihr Körpergewicht aus und gestattete dem Publikum, die Zelle auf eventuell versteckte Nahrungsmittel abzusuchen. Danach setzte sich die Hungerkünstlerin an einer weiß gedeckten Tafel zu einem letzten Abendmahl nieder und verspeiste vor den Augen der neugierigen Zuschauer ein Beefsteak mit Spinat, Bier und Gebäck. In den folgenden Tagen und Wochen drängten täglich bis zu eintausend Zuschauer in das Kaffeehaus, um einen Blick in die von uniformierten Wächtern belagerte Vitrine zu werfen. Man schickte der Künstlerin Blumensträuße und Briefe und ließ Blaskapellen vor ihr aufspielen. Die Schauspielerin hielt ihren Nahrungsverzicht Tag um Tag durch. Sie präsentierte sich dem Publikum zumeist im Sessel sitzend, widmete sich dem Studium neuer Rollentexte, und zeigte sich hinter der Glaswand gern über Schillers Maria Stuart gebeugt. Nach Ablauf der drei Hunger-
4
Siehe dazu und weiterführend zur Askese: Gronau/Lagaay 2010.
5
Siehe dazu und im Folgenden: Payer 2002: 63-86.
6
Payer 2002: 65.
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wochen verlängerte sie ihre Frist auf eigenen Wunsch sogar um zwei Tage, um nach dreiundzwanzig Tagen ohne Nahrungsaufnahme am 13. August 1905 vor den Augen einer großen Menschenmenge aus ihrer Zelle befreit zu werden. Auch diese Inszenierung folgte einer festgelegten Dramaturgie. Nach dem Öffnen des Kastens wurde sie ärztlich untersucht, gewogen und ein Verlust von zehn Kilogramm Körpergewicht verkündet. Schließlich ließ sich die geschwächte Künstlerin unter großem Beifall an einer auf der Bühne hergerichteten Tafel nieder, verspeiste vor der neugierigen Menge ihre erste Mahlzeit (Wein, Biskuits, Kalbsbries) und verabschiedete sich mit einer Rede vom Wiener Publikum. Angesichts der Tatsache, dass in den europäischen Großstädten zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts der Hunger zum bitteren Schicksal der breiter Bevölkerungsschichten gehörte, lässt sich fragen, warum ein wochenlanger Nahrungsentzug eine so große Aufmerksamkeit bei Medien und Publikum hervorzurufen vermochte. Warum bezahlen Zuschauer Eintritt, um jemanden beim Nichtessen zuzusehen? Ihre Faszinationskraft beziehen die Hungerschauen zuallererst aus einer Normabweichung – nämlich dem Ausschlagen von Nahrung und damit von physischer Selbsterhaltung. Sie stellen ein Theater der Askese dar, bei dem die existentielle Bedrohung des Hungers gebannt und in Kunst transformiert werden soll. Im Mittelpunkt dieser Aufführungen steht ein als stark, leidend oder auch geheimnisvoll inszenierter Körper, dessen potentielles Zusammenbrechen das ganze Setting in ein Spiel mit dem Risiko verwandelt. Der Hunger ist damit „keine artistische Disziplin wie jede andere“ – so Peter Sloterdijk – sondern die metaphysische Askese par excellence. Von alters her stellte er die Übung dar, durch die, wenn sie gelingt, der gewöhnliche, dem Hunger unterworfene Mensch erfährt, oder an anderen beobachtet, wie man die Natur auf ihrem eigenen Terrain besiegt. Das Hungern der Asketen ist die Könnensform des Mangelleidens, das überall sonst nur passiv und unfreiwillig erfahren wird. 7
Problematisch an dieser „Könnensform“ ist nur, dass sich ihre äußeren Wirkungen (also die Effekte des Nahrungsentzugs) bei gesunden Erwachsenen zunächst nur langsam und wenig sichtbar entfalten. Auch in Wien passiert drei Wochen lang wenig Spektakuläres: Frau Schenk sitzt, liest, wartet und trinkt Wasser – eine Szene, die als Sinnbild bürgerlichen Frauendaseins an der Jahrhundertwende taugt. Doch hier geschieht kein ‚süßes Nichtstun‘, sondern vielmehr ein gezieltes Nichttun. Die Künstlerin vollzieht einen freiwilligen und kalkulierten Akt des Verzichts, der auf latente Weise Leib und Leben der Hungernden bedroht. Die immanente Gewalt der Hungerkunst vollzieht sich damit nicht als grobe Selbstverletzung, 7
Sloterdijk 2009: 115.
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sondern als subkutane Autoaggression, bei der die Zeitdauer die entscheidende Rolle spielt. Der Prozess der physischen und psychischen Transformation steuert auf das Erlöschen der Körperfunktionen zu. Weil dies nur für die Künstler spürbar ist, muss der Prozess nach außen inszenatorisch bekräftigt werden. Hier greift die Inszenierung der Hungerkünstlerin auf eine Tradition asketischer Selbstinszenierungen zurück, die bis in das 3. Jahrhundert n. Chr. reichen und deren Ziel darin besteht, die eigene Zurückhaltung öffentlich auszustellen und als besondere Leistung zu markieren. Die antiken Anachoreten etwa ziehen sich aus der Chora, der Gemeinschaft, zurück in die unfruchtbaren Wüsten, aber nur, um dort mit ihrer Askese „an die Öffentlichkeit zu gehen“ 8 – das heißt in einer sich gegenseitig beobachtenden und kommentierenden Gemeinschaft zu leben. Auch die frühchristlichen Styliten (Säulenheiligen) inszenieren ihre Enthaltsamkeit auf bühnenförmigen Podesten in großer Höhe und predigen in regelmäßigen Abständen vor einer großen Zuschauermenge. Und schließlich entwickeln sich mit dem Schauhungern seit dem 16. Jahrhundert öffentliche Aufführungen von Enthaltsamkeit, die nicht mehr in einsamen Klosterzellen, sondern von Laien auf Marktplätzen und an Fürstenhöfen praktiziert werden. Der inszenatorische Rahmen in dem die Asketen auftreten, verschiebt sich dabei permanent. Bis ins 18. Jahrhundert steht der freiwillige Nahrungsverzicht ganz im Zeichen des religiösen Wunders. Die Fastenden verspüren eine wunderbare Appetitlosigkeit, die nur durch die Zuführung von Wasser und Hostien unterbrochen wird.9 Mit der Einführung des klinischen Befundes „Anorexia Nervosa“ durch Ernest-Charles Lasègue und William Gull im Jahr 1873 verschwinden die vormals als „Wundermädchen“10 betitelten Asketinnen aus der Öffentlichkeit. Das Ausstellen freiwilliger Nahrungsenthaltung übernehmen nun zumeist männliche Virtuosen, die an populären Orten der öffentlichen Unterhaltung wie der Arena di Verona, dem Wiener Pratergarten oder in großstädtischen Restaurants und Kaffeehäusern als Hungerkünstler auftreten.11 Der fastende Körper wird hier als ‚Exotikum‘ inszeniert.12 Wie im Falle von Auguste Viktoria Schenk folgen diese Inszenierung einer kanonischen Dramaturgie, die in exemplarischer Weise einen rite de passage nachahmt: nach der Segregationsphase, d.h. dem letzten Abendmahl und der Einmauerung, folgt in der liminalen Phase des Hungerns eine Zeit der Absonderung und 8
Brown 1991: 228f.
9
Vgl. Putz 2005: 43-54; Vandereycken/van Deth/Meermann 2003.
10 Vgl. Kapitel 4 in Vandereycken/van Deth/Meermann 2003: 71-101. 11 Zu den berühmten Hungervirtuosen des ausgehenden 19. Jahrhunderts zählte etwa der Italiener Giovanni Succi, der Tourneen durch ganz Europa absolvierte und mit 44 Tagen Nahrungsverzicht einen ersten Hungerrekord aufstellte. 12 Zur Inszenierung exotischer Körper um 1900 siehe Pflug 2001: 281-294.
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Prüfung, die schließlich in eine festlich vollzogene Wiedereingliederung in die Gemeinschaft der Essenden mündet. Die angestrebte Transformation findet dabei vor allem auf der physischen Ebene statt – als Prozess der „Autophagie“13‚ d.h. der Selbstaufzehrung. Nicht zuletzt erfüllen die Aufführungen der Hungerkünstler damit eine sozial-politische Funktion: In ihnen wird das elende Schicksal der ‚Anderen‘ (Proletarier, Migranten usw.) in Form einer virtuosen Leistung, eines sportlichen Wettkampfes oder einer Selbsterfahrung vor einem bürgerlichen – das heißt satten – Publikum zum Ausdruck gebracht. Das Schicksal des Verhungerns soll so in einer distanzierten Form der Aufführung ferngehalten werden. Die Hungerschauen sind ein Abwehrritual. Die Aufmerksamkeit, die dieses Theaters der Askese zu entfesseln vermag, gilt dieser drohenden Auslöschung des Subjekts durch den Hunger. Es gilt, diese Gefahr durch Wille und Selbstdisziplin zu bannen und in einen künstlerischen Akt zu transformieren, der vom Triumph über den vegetativen Bereich des Körpers erzählt. Die Hungerschauen führen damit eine Form der Selbstermächtigung und der Selbstkontrolle vor, die in spektakulärer Weise die bürgerlichen Tugenden der Moderne veranschaulicht: nämlich Enthaltsamkeit, Verzicht und Entsagung als Marker der „protestantischen Ethik“, die Max Weber an prominenter Stelle als „innerweltlichen Askese“ beschrieben hat.14 Der Sieg über die Lüste, der hier in Szene gesetzt wird, stellt jedoch nur eine Dimension der Askese dar. Auch die andere Seite des altgriechischen Begriffes Askesis wird zur zentralen Kategorie moderner Subjektbildungen, nämlich die Bedeutung von „Übung, Schulung oder Zucht“15. Wie Michel Foucault gezeigt hat, sind es die vielfältigen Übungen, Überwachungen, Prüfungen und Sanktionen, aus denen die moderne Disziplinarmacht besteht. Diese betreffen den Umgang mit dem eigenen Körper, mit der Sexualität und dem Zeichengebrauch. Die Disziplinarmacht kontrolliert die Körper, in dem sie diese exerzieren/üben lässt, sie fordert vom Subjekt eine Arbeit an sich selbst.16 Damit überschneidet sich die gesellschaftliche Zurichtung der Subjekte interessanterweise mit den Grundprinzipien der Ästhetik. Denn auch diese zielt, wie man bereits ausführlich bei Alexander Baumgarten nachlesen kann, auf die „Ästhetische Übung, die häufigere Wiederholung gleichartiger Handlungen“17 ab, durch die es möglich wird, die natürlichen Anlagen des Subjekts weiter zu entwickeln. Dieser Prozess der Disziplinierung verläuft 13 Zum Prinzip der Autophagie siehe Ellmann 1994: 7-53. 14 Siehe Weber 1920. 15 Hauser/Lanczykowski/Sprondel 1971: 538-543. 16 Siehe Foucault 1979; Menke 2003. 17 Ästhetik ist nicht auf Künstler beschränkt, deshalb umfassen die Übungen auch Kinder, ‚Schöngeister‘, Dichter etc. (siehe Baumgarten 2007: §47-61).
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allerdings nicht bloß repressiv, wie Christoph Menke gezeigt hat, sondern auch produktiv: an seinem Ende stehen Subjekte, die zur Selbstunterwerfung fähig sind.18 Der Drill, also das Drehen, Abrichten, Abhärten von Körpern und Personen für das die Moderne so viele Institutionen erfindet, ist jedoch nicht nur Schicksal der Soldaten, der Sportler, Gymnasiasten oder Haftinsassen, sondern ebenso ein Leitmotiv der künstlerischen Ausbildung und Praxis. Einen solchen Prozess der Läuterung und Disziplinierung findet sich in exemplarischer Weise in Konstantin Stanislawskis Schriften über Die Arbeit des Schauspielers an sich selbst19, in denen die Ausbildung junger Schauspieler im Stile eines Entwicklungsromans festgehalten ist.
E XERZITIEN
FÜR
S CHAUSPIELER
In Stanislawskis Texten lernt der Ich-Erzähler, der fiktive Schauspielstudent Naswanow, alles Überflüssige aus der Bewegung herauszuläutern und nur noch „aufrichtig, produktiv und zielbewusst“ zu handeln, denn „eine Gebärde um ihrer selbst willen“ – so der allwissende Lehrer – habe keinen Platz auf der Bühne. 20 Bekanntermaßen besteht Stanislawskis Grundanliegen darin, der Professionalisierung der zeitgenössischen Schauspielkunst durch wissenschaftliche Methoden Vorschub zu leisten. Dabei hängt der Grad an künstlerischer Professionalität unmittelbar vom Grad schauspielerischer Zurückhaltung ab. Oder anders gesagt: Dilettantismus wird gleichgesetzt mit einem Zuviel an Handlungsenergie, das sich in unkontrollierten, überbordenden, scheinbar sinnlosen Gesten, im Schreien, Säbelrasseln oder triebhaften Spielen ausdrückt. Je disziplinierter ein Schauspieler auf der Bühne ist und je mehr Selbstbeherrschung er besitzt, desto deutlicher können Gesamtkonzeption und Form der Rolle hervortreten, desto stärker können sie auf die Zuschauer einwirken, desto größer ist der Erfolg des Schauspielers. [...] Überflüssige Gesten sind nichts anderes als Kehricht, Schmutz und Flecken. 21
Um diesen Grad von Reduziertheit zu erreichen, muss Beschränkung im Sinne der Zweckmäßigkeit und Kausalität vorgelebt und in zahllosen Körper-Etüden physisch eingeübt werden. Wie in der tänzerischen Ausbildung sind auch hier die asketischen
18 Siehe Menke 2008: 25-45. 19 Vgl. Stanislawski 1983a und Stanislawski 1983b. 20 Stanislawski 1983a: 20. 21 Stanislawski 1983a: 194.
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Exerzitien als tägliche, streng geregelte Übungen anwesend.22 Die Zurückhaltung, die hier physisch eingeübt wird, soll im Darstellerkörper eine „zweite Natur“ heranreifen lassen, die die „unproportionierten“ und „unharmonischen Bewegungen“ zeitgenössischer Körper hinter sich lässt.23 Vor allem die Etüden, die Stanislawski unter dem Titel Training und Drill für seine Schüler bereithält, zeugen von dem Bestreben, durch Übung, Wiederholung und Drill einen idealen Darstellerkörper zu modellieren, der in der Lage ist, präzise zu agieren. Ihr Vorbild finden sie sowohl in der rhythmischen Gymnastik nach Jacques Dalcroze als auch in den Exerzitien von Soldaten, wenn es darum geht, so im 4/4 Takt zu gehen, dass die Beine „wie die Kolben einer Dampfmaschine“24 erscheinen sollen oder wenn es darum geht, einen scheinbar endlosen Übungsparcours von Bewegungsvarianten zu absolvieren: Sitzen Sie. Treten Sie durch die Tür. Begrüßen Sie alle Anwesenden. Stehen Sie. Gehen Sie. Stehen Sie auf und setzen Sie sich hin. Sehen Sie aus dem Fenster. Legen Sie sich hin und stehen Sie wieder auf. Liegen Sie. Gehen Sie zur Tür, um sie zu öffnen. Dasselbe um sie zu schließen. Dasselbe um nachzusehen, was hinter der Tür ist; kommen sie wieder zurück und setzen sie sich hin. Treten Sie zur Tür [...].25
Stanislawskis Körper-Ökonomie deckt sich so mit der zeitgenössischen Erlösungsformel des Utilitarismus, d.h. es gilt, die Eigenarten, Unwägbarkeiten und Überschüsse des Körpers aus dem Prozess der Darstellung herauszufiltern, um ihn zum Werkzeug einer Information zu machen. Der Körper soll dabei zur Chiffre werden, die die Zuschauer lesen und in die sie sich einfühlen können. Stanislawskis an Mimesis, Zweckmäßigkeit und Produktivität orientierte Handlungstheorie zeigt sich damit als Spiegel einer ökonomischen Vorstellung von Repräsentation und Arbeit, die für die Moderne an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert kennzeichnend ist. Während es bei den Hungerschauen darum geht, in der Askese eine Norm zu überbieten und ein Szenario der Selbstprüfung zu etablieren, aus dem das Subjekt gestärkt hervorgeht, zielt Stanislawskis Schauspieltraining darauf ab, die Askese selbst als Norm künstlerischer Darstellung zu affirmieren und die Subjektbildung als Ausbildung in Askese zu trainieren.
22 Siehe Brandstetter 2005: 133-144. 23 Stanislawski 1983b: 24. 24 Stanislawski 1983b: 37. 25 Stanislawski 1983b: 333.
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Z URÜCKHALTUNG IN
DER
P ERFORMANCEART
Dieser funktionalistischen Perspektive auf den Körper sind vor allem die künstlerischen Experimente der Neoavantgarde mit einer anderen Handlungsökonomie entgegen getreten. Man sollte meinen, dass in den ausladendenden, selbstreferentiellen und oft überbordendenden Gesten der Aktions- und Performancekünstler das Asketische, ja sogar das professionell Einstudierte ganz verschwunden ist. Es lässt sich jedoch zeigen, dass die Aktionskunst entgegen ihrem aktivistischen Selbstverständnis durch eine Vielzahl von Techniken der Zurückhaltung gekennzeichnet ist. Ich möchte deshalb abschließend mit Marina Abramoviüs Arbeit The House with the Ocean View ein Beispiel zeigen, das die Doppelstruktur der Askese – die Verbindung aus Verzicht und aus Übung – theatral in Szene setzt. Am Freitag, den 15. November 2002, um elf Uhr morgens, trat die ganz in Weiß gekleidete Performance-Künstlerin Marina Abramoviü vor das Publikum der New Yorker Sean Kelly Gallery, ließ ihr Gewicht auf einer Waage messen, umarmte den Galeristen in Abschiedsmanier und begab sich auf eine spartanisch eingerichtete Empore in zwei Metern Höhe. Die dreiteilige Konstruktion schwebte am Ende des Raumes und war zum Fußboden hin mit Leitern verbunden, die anstelle der Sprossen die blanken Klingen von dicken Fleischermessern trugen. Ausgestattet mit einer Liege, einem Stuhl, einem Tisch, einem Metronom, einer Dusche und einem WC aus Holz stellte sich die Künstlerin hier während der nächsten eineinhalb Wochen Tag und Nacht vor den Augen der Galeriebesucher aus. Die Art und Weise ihrer Exponierung regelte ein Set restriktiver Bedingungen der Stille und des Fastens, das an die Lebensregeln eines mittelalterlichen Klosters erinnert: Duration of the piece: 12 days Food: no food Water: large quantity of pure mineral water Talking: no talking Singing: possible but unpredictable Writing: no writing Reading: no reading Sleeping: 7 hours a day Standing: unlimited Sitting: unlimited Lying: unlimited Shower: 3 times a day26
26 Abramoviü 2004: o. S.
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Abramoviüs Arbeit – von ihr selbst als „living installation“ bezeichnet – lässt sich als Aufführung einer Selbstbeschränkung lesen: Strenge Askese und eiserne Disziplin bilden die Leitmotive eines Kunststücks, in dessen Zentrum eine Geste der körperlichen und kommunikativen Entsagung steht. Von einer künstlerischen ‚Aktion‘ zu sprechen, macht in diesem Fall nur in Verbindung mit einer kalkulierten Passivität Sinn, denn die Handlungsebene ist hier auf ein Minimum von Aktionspatterns mit äußerst geringem Schauwert reduziert: Das Protokoll von Tag 7 klingt etwa so: >...@ getting dressed, filling the glass, drinking water, sitting on the chair, Sitting on the bed, walking back and forth, standing at the front, filling the glass, drinking water, standing at the back, crouching at the back, filling the glass, drinking water, peeing, sitting on the chair, standing at the front, blowing my nose, sitting on the bed and singing, filling the glass, drinking water >[email protected]
Das ausführliche Protokoll dieser repetitiven Handlungen umfasst 100 Druckseiten. Der ermüdende Eindruck, den die Lektüre hervorruft, steht allerdings im Gegensatz zur sensationellen Anteilnahme, die Abramoviüs Performance hervorrief. Hunderte von Menschen suchten die Galerie während der 12 Tage auf, zahlreiche Freunde führten solidarische Sitzaktionen durch, Kollegen verfassten Minuten-Protokolle ihrer Erlebnisse im Galerieraum, fremde Menschen harrten des Nachts neben der Künstlerin aus, und am Ende fand die Aufführung (nachgestellt mit einem Abramoviü-Double) sogar Eingang in die Fernsehserie Sex and the City28. Zwölf Tage lang stellt die Künstlerin ein Theater der Askese aus, dessen monastischer Habitus, an die Exerzitien des Ignatius von Loyola, aber auch die hinduistischen Praktiken des Pranayama (der Atemkontrolle), des Trataka (des unfokussierten Blicks) oder des Vipassana (der 12tägigen Meditationseinkehr) erinnert. 29 Daneben finden sich Anleihen bei den Hungerkünstlern (etwa im Raumsetting, das die Künstlerin zugleich exponiert und einschränkt) und in den Künsten der klassischen Avantgarde (etwa in den nach Entwürfen Alexander Rodchenkos gestalteten Kostümen). Und schließlich geht es ähnlich den Schauspieletüden um die Modellierung eines anderen – nämlich gereinigten – Körpers. Er soll die Kraft haben, ein Energiefeld zu erzeugen, das sowohl den Galerieraum als auch das Publikum tangieren soll:
27 Abramoviü 2004: 95-97. 28 Sex and the City, Staffel 6, Episode 86, Produktion: HBO, Regie: David Frankel, Drehbuch: Michael Patrick King. 29 Siehe McEvilley: 2004, 167-169.
202 | B ARBARA GRONAU This performance comes from my desire to see if it is possible to use simple daily discipline, rules, and restrictions to purify myself. Can I change my energy field? Can this energy field change the energy field of the audience and the space?30
So diffus der Begriff der Energie hier auch verwendet wird, in ihm scheint auf, was sich als dialektische Ökonomie der Askese beschreiben lässt: eine Produktion qua Negation. Aus dem Nichts, der Leere, dem Warten, der Ereignislosigkeit soll etwas emergieren, das als Erleuchtung, als energetische Schwankung, als Überschuss oder sinnliche Erfahrung wirksam wird. Gegenstand und Zeuge dieser Produktion ist das Publikum, das in stundenlanger Dauer in der Galerie ausharrt, die Bewegungen der Künstlerin beobachtet und vor allem in Blickkontakt zu ihr tritt. Und obwohl hier keine Worte gesprochen und keine Emotionen dargestellt werden, erleben die Zuschauer Abramoviüs Performance trotzdem als „highly suspensful drama“31. Sie beginnen mit ihr zu warten und zu weinen, vor ihr zu meditieren oder über sie zu schreiben. An diesen Reaktionen zeigt sich, dass dem Theater der Askese eine produktive Kraft innewohnt, bei der durch Beschränkung eine Befreiung, im Mangel eine Fülle oder im Nichts eine Befriedigung erlangt werden soll. Für „Entsager ist Askese eben nicht Verzicht, sondern Gewinn“32 betont der Religionswissenschaftler Axel Michaels. Abramoviüs Rede von der transpersonalen Energie fungiert als Ausdruck dieses Gewinns. Dort, wo die religiöse Askese das Göttliche, Heilige oder die innere Freiheit zum Ziel hat, sucht die Künstlerin mit der Energie ein immaterielles und doch alle Daseinsebenen durchdringendes Prinzip zu umschreiben, eine Art neuzeitliche Transzendenz. Im Zittern, Schwanken und Weinen aber auch im Gewichtsverlust materialisieren sich die energetischen Prozesse sichtbar nach außen. Auch deshalb steigt die Künstlerin Marina Abramovic am Ende von The House with the Ocean View wie eine Hungerkünstlerin auf die Waage. Das verlorene Körpergewicht soll bezeugen, dass hier bei allem Nicht-Tun eine körperliche Tätigkeit verrichtet wurde. Askese ist Arbeit.
30 Abramoviü, 2004: o. S. 31 Carr 2004: 149. 32 Michaels 2004: 119.
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Stanislawski, Konstantin: Die Arbeit des Schauspielers an sich selbst. Tagebuch eines Schülers. Teil 1: Die Arbeit des Schauspielers an sich selbst im schöpferischen Prozess des Erlebens. Ost-Berlin: Henschel 1983a. Stanislawski, Konstantin: Die Arbeit des Schauspielers an sich selbst. Tagebuch eines Schülers. Teil 2: Die Arbeit an sich selbst im schöpferischen Prozess des Verkörperns. Ost-Berlin: Henschel 1983b. Vandereycken, Walter/van Deth, Ron/Meermann, Rolf: Wundermädchen, Hungerkünstler, Magersucht. Eine Kulturgeschichte der Essstörungen. Weinheim: Beltz 2003. Weber, Max: „Die Protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus“, in: ders.: Gesammelte Aufsätze zur Religionssoziologie. Band 1. Tübingen: Mohr 1920 (Nachdruck 1972), 17-206.
Sich selber spielen? Zur bodenlosen Mehrbödigkeit der Figuren Forced Entertainments S TEFANI E H USEL
In Forced Entertainments Bloody Mess adressieren Personen von der Bühne aus ihr Publikum; sie sprechen dabei von sich selbst in der ersten Person, sie verwenden die (Vor-)Namen, die sie auch außerhalb des Theaterspiels, im ‚echten Leben‘ tragen. Zudem rekurrieren diese Darsteller immer wieder auf die entstehende, authentisch wirkende Bühnensituation, auf ihr ‚persönliches‘ Sprechen und auf ihr Publikum. Die resultierende Aufführungssituation erhält ihren Reiz keineswegs dadurch, dass eine schlichte Realitäts-Schau geboten würde, dass echte Menschen oder reale Darsteller auf der Bühne sichtbar gemacht oder behauptet würden. Vielmehr erhält die Frage Wer ist das, der da spricht? im Verlauf der Aufführungen vielfache Deutungsmöglichkeiten. Die in Forced Entertainments Bloody Mess erspielte Mehrbödigkeit der Figuren geht letztlich paradox ins Bodenlose. Das Entstehen von ‚Subjekten‘, die sich als Objekte für die Wahrnehmung eines Publikums präsentieren, ist hier insofern problematisiert und ausgestellt. Es lohnt sich, die Arbeitstechniken der britischen Gruppe, wie sie sich in der Inszenierung Bloody Mess zeigen, genauer unter die Lupe zu nehmen, nicht zuletzt da sie beispielhaft für postdramatische Theaterpraxis stehen können.1 Ich werde im Folgenden das Sich-Selber-Spielen in Forced Entertainments Bloody Mess auf seine Techniken, Praktiken und Möglichkeitsumstände hin untersuchen. Meine Untersuchung fokussiere ich auf die genaue Beobachtung eines kurzen Ausschnittes, den ich exemplarisch aus dem Videomitschnitt einer Bloody
1
Als postdramatisch verstehe ich im Sinne Hans-Thies Lehmanns eine Theaterpraxis, die nicht mehr vom geschriebenen Drama und seinen Implikationen bestimmt wird, wie z.B. der Geschlossenheit einer Fabel, etc. (siehe Lehmann 1999: 185-193).
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Mess-Aufführung heraus präpariert habe.2 Ich stelle dieser Sequenz Fragen nach den Praktiken der Subjektivierung, die dort sichtbar werden: Wie wird das grenzgängerische Spiel zwischen einer Rolle und einem realen Darsteller, das sich hier zeigt, überhaupt möglich bzw. wahrnehmbar? Auf welche Weise wird ein Subjekt auf der Bühne konstruiert, um gleich darauf wieder in Frage zu stehen? Ausblickend möchte ich auf die möglichen Auswirkungen verweisen, die eine Dramaturgie bodenlos mehrbödiger Subjekt-Figuren auf die Rolle bzw. die Positionierung der Zuschauer in der Aufführung haben könnte.
B ESCHREIBUNG Zunächst werde ich die ausgewählte Sequenz engmaschig beschreiben. Sie findet etwa 15 Minuten nach dem Erlöschen des Saallichts statt. Nachdem in einer ca. zehnminütigen pantomimischen Szene mit zwei Clownsfiguren eine Stuhlreihe auf der Rampe entstanden ist, betreten weitere acht Personen die Bühne. Alle – die beiden ‚Clowns‘ wie die Hinzugekommenen – setzen sich auf die aufgereihten Stühle; einer der Männer hat ein Mikrophon mitgebracht.
Abbildung 1: ‚Vorstellungsrunde‘: Bloody Mess in einer Stuhlreihe an der Rampe.
2
Grundsätzlich, z.B. in meiner Dissertation Grenzwerte – Im Spiel Forced Entertainments erforsche ich Theateraufführungen ethnographisch; ich erarbeite Erkenntnisse zu meinem Forschungsfeld in intensiver teilnehmender Beobachtung; Bloody Mess habe ich während der Endproben sowie während zahlreicher Aufführungen begleitet und beobachtet. Zur ethnographischen Methode vgl. z.B. Hirschauer 2001.
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Die zehn Personen stellen sich nun dem Publikum mit Vornamen vor und erklären jeweils, wie sie in der folgenden Aufführung schauspielerisch zu wirken wünschen. Die Vornamen, die während dieser Vorstellungsrunde genannt werden, entsprechen den tatsächlichen Vornamen der Schauspieler (dies können die Zuschauer problemlos durch einen Blick auf den Programmzettel herausfinden). Es wird also eine Situation eingeführt, in der anscheinend Darsteller sich selbst spielen. In meiner Beschreibung und der folgenden Analyse soll es um die Darstellerin gehen, die als Dritte von links in der Stuhlreihe platziert ist und die ein am Oberkörper hauteng anliegendes pinkfarbenes Kleid trägt. Sie ist die letzte in der Reihe der sich und ihre Wirkungswünsche Präsentierenden. Die Gesamtdauer der im Folgenden beschriebenen bzw. transkribierten Sequenz beträgt in der zugrunde liegenden Videodokumentation der Aufführung 1 Minute und 49 Sekunden.3 Während der kurzen Szene spricht nur die Dame im pinkfarbenen Kleid – ‚Terry‘4. Nichtsprachliche Handlungen sind im Folgenden kursiv gesetzt, Handlungen, die in Klammern wiedergegeben werden, vollziehen sich parallel zum vorher transkribierten Sprechtext; sehr kurze Sprechpausen sind als (.) gekennzeichnet, längere Pausen sind durch Zeitangaben wiedergegeben; eine dreisekündige Sprechpause beispielsweise würde durch (3s) ausgedrückt. Pfeile (Ç È) zeigen das Anheben oder Absenken der Stimme an. Großbuchstaben stehen für Emphase auf dem Gesagten, der Buchstabe ‚h‘ für vernehmbares Ausatmen. Die Darstellerin in Pink streckt die Hand nach dem Mikrophon aus, das der ‚Clown‘ zwei Sitze links von ihr in der Hand hält. Der Clown wedelt kurz neckend mit dem Mikrophon, während die pinke Darstellerin eine ungeduldige, winkende Handbewegung macht, die „gib schon her“ bedeuten könnte. Der Clown klemmt darauf das Mikrophon zwischen seine Oberschenkel. Die pinke Darstellerin kommentiert diese Aktion, indem sie kurz den Kopf abwendet 3
Im Kontext meiner ethnographischen Arbeitsweise verstehe ich Videos keinesfalls als objektive Aufzeichnungen vormals gegebener Phänomene, sondern als eigengesetzliche Instrumente für die Arbeit an untersuchten Aufführungen. Grundlage zu meiner hier verwendeten Transkription und Analyse ist die DVD aus dem Jahr 2004, die Forced Entertainment zu Bloody Mess herausgeben. Die Dokumentation auf dieser DVD ist aus den Aufnahmen zweier Aufführungen und verschiedener Kameras geschnitten und gibt damit eine idealisierte Aufführung wieder. Als Grundlage für die eingefügte Transkription habe ich diese DVD verwendet, weil die kurze Sequenz, für die ich mich hier interessiere, dort in gut auflösender Nahaufnahme sowie klarer Tonqualität wiedergegeben ist; innerhalb dieser Sequenz wurde das Videomaterial nicht geschnitten.
4
Meine Argumentation legt nahe, Namen und Bezeichnungen wie ‚Terry‘ oder ‚Clown‘ in Anführungszeichen zu setzen. Ich verzichte allerdings nach der erstmaligen Nennung zu Gunsten des Schriftbildes darauf.
208 | S TEFANIE HUSEL und einen kurzen, vagen „oh je, nicht-schon-wieder-Blick“ in Richtung ihrer Kollegen und des Publikums schickt. Dann wendet sie sich sofort wieder zurück an den Clown, streckt ihre Hand aus und macht erneut die winkende Bewegung in Richtung Mikrophon. Der Clown reagiert, indem er das Mikrophon noch fordernder zwischen seinen Schenkeln hervorragen lässt und es in ihre Richtung reckt. Ein drittes Mal macht die Darstellerin eine ungeduldige Handbewegung in Richtung Mikrophon, dieses Mal besteht diese in einem angedeuteten, zweimaligen Greifen. Der Clown schiebt seinen Unterleib mitsamt dem eingeklemmten Mikrophon nach vorne, er sieht die Darstellerin dabei fragend an und lässt seine rechte Hand offen nach unten hängen, als wollte er sagen „Was ist los, wieso stellst Du dich so an?“ Nach minimalem Zögern greift sie schließlich beherzt nach dem Mikrophon und zieht es zu sich, mit einigen Schwierigkeiten, da der Clown es sehr fest eingeklemmt hält. Indem die Darstellerin das Mikrophon an den Mund führt, wird das Mikrophonkabel zwischen den Oberschenkeln des Clowns hindurch gezogen. Dem keine Beachtung schenkend, wendet sie sich dem Publikum zu und beginnt zu sprechen. Hello. Uhm. I'm Terry (3s) (Sie blickt – halb belustigt, halb entnervt – zum Clown, der das Mikrophon-Kabel mit anzüglicher Geste weiter durch seinen Schritt zieht) ... hhh .. (5s) (der Clown legt das Kabel auf Terrys Schoß ab, was sie mit angehobenen Armen zulässt; anscheinend vermeidet sie dabei Körperkontakt – sowohl mit dem Clown als auch mit dem Kabel) Hum. Going to ignore that. uhm. hh. (4s) (Terry blickt ins Publikum und scheint sich zu sammeln) I don't know what to say Ç (7s) (während dieser relativ langen Pause bleibt Terry ganz ruhig, verharrt mit leerem Blick und dem Mikrophon am Mund wie eingefroren. Nach ca. 5 Sekunden beginnt das Publikum zu lachen, die rechts von Terry sitzenden Darsteller-Kollegen blicken Terry fragend an. Schließlich lächelt sie und setzt wieder an zu sprechen) I hope when you (.) look at me you think I look like a real person (6s) (auch während dieser Pause bleibt Terry körperlich ruhig, fast ausdruckslos; sie beißt sich kurz auf die Lippen, und blickt leicht nach schräg oben) Doing (.) real things (5s) (Zum Ende dieser Pause, während der Terry wieder ruhig ins Publikum blickt, sendet sie einen sehr kurzen Kontrollblick in Richtung Clown; spricht dann in wohlgesetzter Betonung und Modulation flüssig weiter) I hope you think (2s) no one's written HER lines for her (3s) (Sie lächelt freundlich und verheißend ins Publikum) no one's told HER (.) how to act (6s) (Sie lässt während der Pause ihren Blick selbstsicher über das Publikum schweifen die neben Terry sitzenden Kollegen scheinen interessiert zuzuhören, sie blicken zum Teil in ihre Richtung, nur der Kollege rechts neben ihr wirkt skeptisch.)
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I know! (.) I hope when you look at me you think SHE‘S not È a professional! (2s) (in der Sprechpause beginnt das Publikum zu lachen und Terry realisiert anscheinend die Zweideutigkeit dessen, was sie gesagt hat. Auch Terrys Kollegen rechts von ihr wirken kurzzeitig alarmiert, der eine skeptisch unwillig, der andere sieht sehr besorgt drein. Terry scheint sich entschieden zu haben, mit leicht ironischem Gesichtsausdruck weiterzusprechen) She's certainly not doing it for the money! (2s) (weitere, nun laute Lacher im Publikum) She'd be doing it even if the money was (.) (Terry lächelt breit und verschwörerisch, sie neigt, ironisch abwägend, ihren Kopf zu beiden Seiten) a little bit less (2s) (Das Publikum lacht zufrieden. Als wäre die kleine Irritation nun erfolgreich ausgestanden, spricht Terry mit sicherer Intensität weiter, zügig, wohlmoduliert mit tiefem Blick ins Publikum, das daraufhin sofort still ist. Auch die Darsteller neben Terry schenken ihr anscheinend wieder ihre ganze Aufmerksamkeit.) or-even if there was no money at-all, even if there was nobody È watching at-all, she would still be doing it because she IS È what she IS È (2s) (Pause in völliger Stille; Terry blickt ins Publikum) She is really È (.) really È (.) living-it. Terry behält das Mikrophon noch 2 Sekunden an ihrem leicht geöffneten Mund, blickt weiter stumm und ernst ins Publikum, lässt dann langsam die Hand mit dem Mikrophon sinken ohne ihren Blick abzuwenden. Kollege Richard ist aufgesprungen und kommt auf Terry zu; sie gibt ihm das Mikrophon und beendet den Blickkontakt mit dem Publikum; Richard kehrt zu seinem Stuhl zurück. Terry wischt beide Hände an ihrem Kleid ab.
Im Folgenden möchte ich meine bis hierhin beschriebenen Wahrnehmungen zu Terry intensiv nach Techniken der Subjektivierung befragen, beziehungsweise nach den Techniken, die Terrys Subjekt-Werdung (respektive deren Scheitern) für mich als Zuschauerin erkennbar werden lassen. In welchen Momenten und aufgrund welcher Umstände wird es mir möglich, Terrys Handlungen ihrem inneren Selbst, und ggf. ihrer Intentionalität zuzurechnen, Terry also zu subjektivieren? Unter der Überschrift „Wer ist das, der da schwitzt?“ betrachte ich entsprechende körperbasierte Handlungen Terrys und ihrer Kollegen, unter „Wer ist das, der da spricht?“ untersuche ich gesondert Terrys Sprechtechnik. Abschließend möchte ich darauf hinweisen, dass die Begegnung mit ambiguen bodenlosen Figuren, wie der hier Untersuchten, für ein Publikum und dessen situative Verortung in der Aufführung bedeutsam werden kann.
210 | S TEFANIE HUSEL
W ER
IST DAS , DER DA SCHWITZT ?
Um mich an Körpertechniken anzunähern, die in der beschriebenen Sequenz eine Subjektivierung Terrys ermöglichen, möchte ich mich langsam, quasi ‚von Weitem‘ auf sie zubewegen und meinen Blick zunächst auf den Schauplatz, bzw. die Schauplätze richten, auf denen Terry agiert. Die untersuchte Sequenz ist Teil einer Szene, in der eine Reihe von Erklärungen über schauspielerische Wirkungsabsichten durch in einer Stuhlreihe an der Rampe platzierte Darsteller behauptet wird. Schenken wir dieser szenischen Behauptung, gerne in spielerischer Vorläufigkeit, Glauben, so wird die angebliche Erklärung der Wirkungsabsichten zum Hauptgeschehen während der Szene, zu ihrem HauptSchauplatz. Dort tritt Terry als die Schauspielerin auf, die etwas über ihre Wirkungsabsichten erzählt. Damit wäre eine klassische Theater-auf-dem Theater Situation gegeben. Doch es existieren noch einige Nebenschauplätze, die auffällig werden. Diese werden Anlass für besonders aufschlussreiche Körpertechniken. Zunächst eröffnet das vulgäre Spielchen des schmierigen Clowns mit dem Mikrophon einen Nebenschauplatz, auf dem Terry um ihre Redezeit, ihre Hörbarkeit und gewissermaßen auch um ihre Würde kämpfen muss. Terrys Vorstellung als ‚Terry mit der-und-der-Wirkungsabsicht‘ wird auf diesem Nebenschauplatz gestört und verzögert. Noch bevor Terry überhaupt zu sprechen begonnen hat, wird ihr damit eine Wirklichkeitsebene zugefügt, die das Publikum wahrnehmen kann: Terry wird vorgeführt als Person, die noch nicht in die Rolle einer Sprecherin vor Publikum geschlüpft ist, als eine Version ihrer selbst also, die noch damit beschäftigt ist, die Rahmenbedingungen für ihren Auftritt (die Erklärung ihrer Wirkungsabsicht) herzustellen.5 Terrys Händel mit dem Clown erscheint also gewissermaßen ein wenig ‚privater‘ als die Erklärung ihrer Wirkungsabsicht, die ja ihrerseits (als Bühne-auf-derBühne-Situation) ein gewisses Maß an Privatheit der Figur – im Sinne der Nähe zu einem subjektiven Selbst – suggeriert. Der Nebenschauplatz ‚schmieriger Clownskollege‘ hat der Figur Terry damit eine zusätzlich Ebene subjektiver Innerlichkeit zugefügt. Terrys Vorstellung wird erkennbar als kleine eigenständige Inszenierungsarbeit – umgekehrt entsteht eine Version Terrys als derjenigen, die diese Arbeit ausführt. Terrys ‚unangenehmer Kollege‘, der Clown bzw. sein ‚vulgäres Gehabe‘ eröffnet noch einen weiteren Nebenschauplatz für die Schichtung von Terrys ‚Selbst‘. Besonders auffällig wird dies, wendet man die Aufmerksamkeit auf Terrys Umgang mit dem Mikrophon. Das Verhalten des Clowns ist stark sexualisiert, im Alltagsleben würde das, was er tut, massiver sexueller Belästigung gleichkommen. Insofern
5
Für den Begriff des Rahmens vgl. Goffman 1989.
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scheint es nicht verwunderlich, dass Terry kurz zögert, bevor sie das als Penis umkodierte Mikrophon, das zwischen den Beinen des Clowns steckt, anfasst und an sich bringt. Auch scheint Terry die Berührung mit dem Clown selbst und mit dem Mikrophonkabel zu scheuen, das dieser auf ihrem Schoß ablegt. Dennoch spricht Terry souverän zum Publikum und erklärt all dies ignorieren zu wollen. Man könnte also zusammenfassen, dass Terry die ihr angetane Belästigung anscheinend problemlos überspielt; dabei wird das Überspielen als solches für die Zuschauerin deutlich sichtbar – aufgrund Terrys kurzen Zögerns, aufgrund ihrer Blicke und ihrer trotzdem souverän erscheinenden Äußerung. Das ‚Überspielen‘ aber verweist auf eine Version Terrys, bzw. eine Wirklichkeitsebene ihrer Subjektivität, die noch innerlicher erscheint als die beiden zuvor beschriebenen. Hier könnte man den Eindruck erhalten, einen Blick auf einen Schauplatz zu erhaschen, auf dem Terry Ekel oder Scham empfindet; auf eine Terry also, die weder mit derjenigen identisch ist, die sich dem Publikum vorstellt, noch mit derjenigen, die die Bedingungen ihrer Vorstellung souverän herstellt. Hier scheint sich Terry als eine Person zu decouvrieren, deren Innerem Empfindungen wie Ekel oder Scham zugeschrieben werden können. Ein zusätzliches Niveau solcher Privatheit könnte man konstatieren, erinnert man sich an die Terry, deren Hände anscheinend schwitzen – vielleicht aufgrund ihrer Aufregung oder einfach bedingt durch die Hitze der Scheinwerfer. Der Blick der Zuschauerin wird auf diesen körperlichen Nebenschauplatz gelenkt, indem Terry ganz zum Ende der beschriebenen Sequenz, sofort nachdem sie das Mikrophon abgegeben hat, gut sichtbar die Hände an ihrem Kleid abwischt. Dies geschieht auf eine Art und Weise, dass der Eindruck einer automatischen, unwillkürlichen Handlung entsteht. Der Zuschauerin wird damit erlaubt, sogar körperliche Empfindungen, wie die unangenehm schwitzender Handflächen, in der Figur Terry zu verorten.
W ER
IST DAS , DER DA SPRICHT ?
Soweit sich der Zuschauerblick schon in den bis hier beschriebenen Ebenen Terrys verlieren kann, ist er doch noch lange nicht am Ende ihrer mehrbödigen, bodenlosen Subjektivierung angelangt. Ich möchte nun bewusst ‚den Ton zuschalten‘, also mein Augenmerk auf das richten, was Terry sagt. Den Text, den ich der kurzen Sequenz ab-transkribiert habe, unterziehe ich dabei einer Analyse hinsichtlich der
212 | S TEFANIE HUSEL
dort vorkommenden ‚Subjektivitätsmarker‘, sowie auf die aufgerufenen Figuren bzw. Stimmen.6 Um das Mitlesen leichter zu gestalten, ist im Folgenden nur der gesprochene Anteil der obigen Transkription wiedergegeben, wobei ich einige neue Visualisierungen eingefügt habe. 1
Hello. Uhm. I'M Terry. (3s)
2
…hhh... (5s)
3
Hum. GOING to ignore that. uhm. hh (4s)
4
I DON’T KNOW what to say Ç (7s)
5
I HOPE when you (.) look at ME you think I LOOK LIKE a real person (6s)
6
Doing (.) real things (5s)
7
I HOPE you think (2s) „no one's written HER lines for her ... (3s)
8
No one's told HER (.) how to act. “(6s)
9
I KNOW! (.) I HOPE when you look at ME you think „SHE's notÈ a professional! (2s)
10
She's certainly not doing it for the money! (2s)
11
She'd be doing it even if the money was (.)
12
a little bit less (2s)
13
or-even if there was no money at-all, even if there was nobody È watching at-all,
14
she would still be doing it because she IS È what she IS È (2s)
15
She is really È (.) really È (.) living-it.“
Bei der Suche nach möglichen ‚Subjektivitätsmarkern‘ in Terrys Text fällt zunächst das Personalpronomen in der ersten Person Singular (also das ‚I‘ und das ‚me‘) sowie seine grammatischen Entsprechungen im Verb auf. Offensichtlich spricht hier ein ‚Ich‘ von sich, es werden Informationen zu einem zugehörigen Selbst gegeben. Um genauer zu sein, wird sogar mehrfach von Wünschen bzw. Hoffnungen dieses Ichs gesprochen, einmal ist die Rede davon, dass dieses Ich etwas weiß. Wünsche, ebenso wie Hinweise auf Wissensinhalte, können als kräftige, sozusagen dick aufgetragene Subjektivitätsmarker begriffen werden, denn sie sprechen vom nicht einsehbaren Innenleben eines Subjekts, das sich (mehr oder minder) intentional mitteilt. Im transkribierten Text tauchen solche Subjektivitätsmarker in den Zeilen 1-7 und 9 auf. Des Weiteren fällt auf, dass es noch eine zweite, völlig anders strukturierte Art und Weise gibt, wie im Text auf das Selbst der Sprecherin verwiesen wird. In potentialer Sprechweise wird auf das Bezug genommen, was das Sprechersubjekt 6
Mein Vorgehen wie meine Begrifflichkeit an dieser Stelle sind inspiriert von den vielfältigen Analysebeispielen, die Johannes Angermüller im Kapitel „Elemente der Aussagenanalyse“ vorführt (Angermüller 2007: 139-155). Zudem waren verschiedene Arbeiten mit konversations-analytischem Fokus meine Vorbilder, vgl. z.B. Jefferson 1985.
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gerne sein möchte (im Sinnhorizont der Szene: die Wirkabsicht Terrys). Diese zweite ‚Selbst-Figur‘ Terrys ist grammatisch in der dritten Person artikuliert, z.B. „She is what she is“ (Zeile 14). Entsprechende Textstellen finden sich im obigen Transkript außerdem in den Zeilen 9-15. In Terrys kurzem Vorstellungstext ist also zum aktuellen, sprechenden Subjekt, das sich selbst mit ‚ich‘ bezeichnet, noch ein zweites Selbst hinzu gekommen; ein potentielles, von dem hoffnungsfroh angekündigt wird, es würde während der zu folgenden Aufführung auftauchen und dann vollkommen ‚wirklich‘ wirken. Im sprachlichen Aufruf beider Selbst-Versionen Terrys lässt sich ein zeitlicher Verlauf nachzeichnen, der auch im obigen Transkript nachvollziehbar bleibt: Während zu Beginn der Äußerung, entsprechend in den Zeilen 1 bis 9 ausschließlich das von sich selbst in der ersten Person sprechende Selbst präsent ist, kommt im weiteren Verlauf, im Transkript in den Zeilen 9 bis 15, nur noch das potentielle, in der dritten Person behandelte Selbst zur Sprache. Gewissermaßen verwandelt sich hier innerhalb des Textes anschaulich eine ‚Darstellerin‘ ihrer ‚Rolle‘ an. Zur Rolle wird dabei ein über-reales, ein ‚wirklich wirkliches‘ Selbst erklärt. Damit wird umgekehrt das aktuell sprechende Selbst (‚I‘ bzw. ‚me‘) für weniger wirklich als das zu erwartende Selbst erklärt. Insofern wird die auf dem Hauptschauplatz der Szene behauptete Bühne-auf-der-Bühne-Situation auch mit sprachlichen Mitteln weiter verschachtelt. Allerdings wird diese sprachlich vorgeführte Theaterverwandlung mit übermäßig utopisch anmutenden Ansprüchen überfrachtet; zudem widerspricht sie allgemein bekannten Ideen zur Verwandlung auf dem Theater, wird doch normalerweise als selbstverständlich vorausgesetzt, dass die über eine Rolle erspielte Figur weniger wirklich sei als die Subjektivität ihrer Darstellerin, nicht umgekehrt. Überfrachtung und Paradoxie bringen damit – zumindest virtuell – die angekündigte, wundersame Theaterverwandlung, kaum aufgerufen, schon zum Scheitern. Schließlich möchte ich noch auf die geschickte Nutzung der Doppeldeutigkeit eingehen, die in Terrys Rede vom „not a professional“ (Zeile 9) eingeführt wird. Zum Einen bringt die Assoziation der Prostitution, die in diesen Worten mitschwingt die ‚peinliche‘ Sexualisierung aus der Auseinandersetzung Terrys mit dem Clown wieder zurück in den Fokus der Zuschauerin. Dies geschieht gerade in dem Moment, in dem Terry sich erfolgreich in ihrer Rolle als Sprecherin vor Publikum etabliert zu haben scheint. Terry überspielt ihren angeblichen Fauxpas dann anscheinend souverän – womit ein weiteres Mal auf eine Ebene ihres Selbst verwiesen wird, die privat, verletzbar, fehleranfällig ist. Man könnte diesen Verweis auf authentische subjektive Innerlichkeit – ebenso wie die weiteren oben Beschriebenen – auch als Dissimulationsstrategien beschreiben, bzw. als Praktiken der Naturalisierung: Hier wird die Simuliertheit, die Künstlichkeit der Figur Terry unsichtbar, Terry beginnt, real zu wirken.
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Buchstäblich im selben Atemzug aber bietet die Inszenierung jeweils einen dissimulierenden Verweis an; am Beispiel der Äußerung „I hope you think: SHE’s not a professional“ wird dies besonders deutlich: Denn inhaltlich wird hier auf die Konstruiertheit aller Authentizität rekurriert und damit jeder Authentizitätseffekt dekonstruiert; möchte die Sprecherin doch so wirklich wirken, dass ihr Publikum vergesse, einer professionellen Darstellerin aufzusitzen – eine paradoxe Aufforderung der Machart „Denken Sie jetzt nicht an ein Krokodil!“. Ich möchte zusammenfassen: Wie weiter oben beschrieben, kommt die mehrbödige Subjektivität der Figur Terry in der Wahrnehmung der Betrachterin zustande durch immer neue Hinweise auf ein potentielles Innenleben Terrys. Vor den Augen ihres Publikums entsteht damit eine authentisch wirkende, subjekthafte Figur, deren Aussagen doch immer wieder die Unmöglichkeit jeder authentischen Präsenz aufzeigen; denn die Inszenierung arbeitet inhaltlich-sprachlich beständig an der Entlarvung darstellerischer Authentizität. Jede der entstehenden Wirklichkeitsebenen Terrys, jeder Wirklichkeitseffekt ‚ihrer‘ Darstellung als Subjekt wird durch die sprachlich aufgerufenen Informationen als Folge geschickter Inszenierung gekennzeichnet. Sei es Terrys Selbstversion als ‚die Schauspielerin, die sich vorstellt‘, sei es die der ‚sich gegen die Belästigung eines Kollegen Wehrenden‘ oder die der ‚Frau mit schwitzenden Handflächen‘. Terrys Selbstversionen sind damit für die Wahrnehmung durch ihr Publikum gleichsam in einem Kaleidoskop alternativer Interpretationsmöglichkeiten und deren Negationen befangen. Terrys unterschiedliche Subjektivierungsstrategien werden während der analysierten Vorstellungssequenz im vollen Wortsinn vorgeführt.
Z USCHAUER
BODENLOSER
MEHRBÖDIGKEIT
Ich bin am Ende meiner knappen Ausführung zu unterschiedlichen Subjektivierungs-Techniken angelangt, die am Entstehen der dargestellten Darsteller-Figur Terry beteiligt sind. Unerklärt bleibt noch der Eindruck, den Terry und ihre Kollegenfiguren, selbst beim wiederholten Besuch von Aufführungen zu Bloody Mess, bei mir als Zuschauerin hinterließen. Ungeachtet der beständigen Infragestellung jedes Wirklichkeits- und Subjektivierungseffektes erspielen Forced Entertainments Darstellerfiguren, beispielhaft dafür Terry in Bloody Mess, immer wieder eine fast unheimliche Präsenz. Vielleicht ist dieses paradoxe Wirklichkeitsmoment der leisen Überforderung geschuldet, in die der Blick der Zuschauerin geraten muss, versucht sie, auf den Boden einer bodenlos-mehrbödigen Figur wie Terry vorzudringen. Ambiguität
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könnte hier als Vehikel für die Herstellung von Präsenz betrachtet werden; Martin Seels Überlegungen im Aufsatz Inszenieren als Erscheinenlassen folgend, könnte man behaupten, dass Terry als ‚sie selbst‘ in Bloody Mess vor uns ‚in Erscheinung tritt‘: Sie tritt uns entgegen in phänomenaler Fülle. Das komplexe Zugleichsein ihrer paradoxen Vielbödigkeit kann zwar wahrnehmend verfolgt, nicht aber erkennend festgehalten werden – solche Wahrnehmung momentaner, konkreter und doch unfassbarer Fülle könnte dem Erleben von Gegenwart und Präsenz zugrunde liegen.7 Ich möchte daher ausblickend an die Notwendigkeit erinnern, die Position der Wahrnehmenden in (postdramatischen) Aufführungssituationen, wie der hier besprochenen, intensiv zu untersuchen. Die analysierte Sequenz, Terrys Vorstellung, bietet einen Hinweis, in welche Richtung eine Beschäftigung mit den wahrnehmenden Teilnehmern einer Aufführungssituation gehen könnte. In der obigen Textanalyse blieb eine wichtige, im Sprechtext Terrys aufgerufene Figur bislang unerwähnt. Diese Figur ist im Text mit dem Personalpronomen ‚You‘ bezeichnet (siehe Zeile 5 und Zeile 9 in der Transkription). Während der Aufführung wird die in Terrys Text mit ‚You‘ bezeichnete Figur ohne weitere Deutungsprobleme als Publikumsansprache gewertet: Terry spricht das Publikum mit ‚You‘ an. Diese einfache Identifikation derjenigen, die vom ‚You‘ in Terrys VorstellungsAnsprache gemeint werden, sollte allerdings nicht darüber hinwegtäuschen, dass der Figur ‚You‘ im Text eine eigene Rolle zugesprochen wird; denn die Figur ‚You‘ spricht, bzw. denkt laut. Die Inhalte dieser Gedanken der Figur ‚You‘ werden in Terrys Äußerung zitiert, gewissermaßen mit einer Stimme versehen; im Transkript umfasst dieses ‚Voicing‘ die Zeilen 5 bis 15, also den Großteil des gesamten Texts: ‚You‘ ist es, der/die über Terry denkt/denken: „She is what she is! She is really living it!“ ‚You‘ wird damit – im Rahmen des von Terry gesprochenen Textes – seinerseits zu einem sprechenden Subjekt mit situativer Verantwortlichkeit ausgerufen. Die das Publikum formenden ‚Selbste‘ erhalten innerhalb der Aufführungssituation das Angebot, sich als Subjekte wahrzunehmen. Die flimmernde Ambiguität der Subjektivität, die in Figuren wie Terry vorgeführt wird, erhält auf diese Weise explizit eine identifikatorische Relevanz für diejenigen, die sich vom Pronomen ‚You‘ angesprochen fühlen. Konstruiert wird damit eine komplexe Situation, die gekonnt Wahrnehmungspraxis und Subjektivierungspraxis verspielt und dabei immer wieder den Charakter einer Spiegelung im Spiegel annimmt.
7
Siehe Seel 2008: 58.
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L ITERATUR Angermüller, Johannes: Nach dem Strukturalismus. Bielefeld: transcript 2007. Forced Entertainment; Glendinning, Hugo: Bloody Mess DVD. High quality multicamera performance documentation. Forced Entertainment: Sheffield 2004. Goffman, Erving: Rahmen-Analyse. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1989. Hirschauer, Stefan: „Ethnographisches Schreiben und die Schweigsamkeit des Sozialen“, in: Zeitschrift für Soziologie 30 (2001), 429-451. Jefferson, Gail: „An Exercise in the Transcription of Laughter“, in: van Dijk, Teun Adrianus (Hg.): Disciplines of discourse. London: Acad. Press 1985, 25–34. Lehmann, Hans-Thies: Postdramatisches Theater. Frankfurt am Main: Verlag der Autoren 1999. Seel, Martin: „Inszenieren als Erscheinenlassen“, in: Früchtl, Josef/Zimmermann, Jörg (Hg.): Ästhetik der Inszenierung. Frankfurt am Main: Suhrkamp 2008, 48-62.
Ästhetik – Subjekt – Spiel Plädoyer für eine soziogenetisch-intersubjektive Spieltheorie C LEMENS S TEPINA
1. IDEENGESCHICHTLICHER ABRISS DES ÄSTHETISCHEN S UBJEKTBEGRIFFS „Die Grunderfahrung der ästhetischen Moderne [ist] die Enthüllung der dezentrierten, von allen Beschränkungen der Kognition und der Zwecktätigkeit, allen Imperativen der Arbeit und der Nützlichkeit befreiten Subjektivität.“1 Wie lässt sich diese Diagnose von Habermas, die er in der Schrift Die Moderne – ein unvollendetes Projekt nur kursorisch angeführt hat, ideengeschichtlich durch entsprechende philosophische Befunde absichern, kritisieren und erweitern? Ein Blick auf die diesbezügliche Ideengeschichte soll entsprechend sensibilisieren. Dem neuzeitlich kognitivistischen Subjektbegriff, mit welchem das Ich als Ausgangspunkt und Grund der Vernunft beschrieben wird,2 konkurriert seit Baumgarten ein ästhetischer Subjektbegriff, der Gegenstand einer Wissenschaft von den sinnlichen Erkenntnissen ist. Die Aufwertung der bis zum Cartesianismus nur als niedrig oder dunkel beschriebenen Sinne und der als inferior gemutmaßten Affekte durch Baumgarten kann für eine Erschließung eines ästhetischen Subjektbegriffs gar nicht überschätzt werden. Das von ihm dargelegte Ereignismodell ästhetischer Wahrnehmung ermöglicht es nämlich nicht nur, den zweckrationalistischen Vernunftbegriff zu sprengen, sondern darüber hinaus eine Nobilitierung des sinnlichen Subjektbegriffs vorzunehmen: In Baumgartens Aesthetica ist der zu beforschende Gegenstand nicht mehr – wie bei Descartes – eine substantielle und hiermit mit rein kognitivistischen Prädikaten ausgestattete Version eines Subjekts, sondern ein in der gegenständlichen Welt zu reüssierender und mit entsprechendem sinnlich-logischen Handlungsver1
Habermas 1992: 52.
2
Siehe Descartes 1996: 55.
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mögen ausgestatteter Akteur, der anhand ästhetischer Selbstbezüge über sich reflektieren kann.3 Die Bestimmung von Ästhetik als allgemeine Aisthesis-Lehre, die Baumgarten grundlegend und bahnbrechend als eine legitime Universallehre von den sinnlichen Wahrnehmungen beschrieben hat,4 lässt somit eine Engführung der Ästhetik auf eine Philosophie der Kunst (und deren aristotelische rhetorische Vermittlungstradition) und des Schönen (und deren kallistische platonische Vermittlungstradition) selbst nicht zu,5 wiewohl selbstredend diese Begriffe von ihm auch im vorliegenden Kontext expliziert werden. Trotz des Verdienstes, eine allgemeine Ästhetik als Wissenschaft der sinnlichen Erkenntnis etabliert zu haben, mit der die Engführung einer Ästhetik als Lehre vom Schönen, das seinen Gegenstand in den Künsten hat, aufgesprengt werden kann, bleibt doch der Träger der sinnlichen Erkenntnis selbst, das Subjekt, in seiner Krisis, unkritisiert: Denn freilich bleibt Baumgartens ästhetisches Subjekt ebenso einem metaphysischen Subjektbegriff wie Descartes verhaftet, nämlich das Subjekt als festen Grund von Ich- und Weltbegründung zuzulassen, wenngleich die Verschiebung der Konnotation äußerst bemerkenswert ist: Nicht das denkende, sondern das sinnlich wahrnehmende Subjekt, und mit ihm die erstmals in der abendländischen Begriffsgeschichte so benannte „ästhetikologische Wahrheit“ als „Wahrheit des Subjekts“ an sich steht im Mittelpunkt der Überlegungen.6 Kant nimmt zwar diplomatischerweise in seiner Transzendentalphilosophie die Möglichkeit ästhetischer Selbstreflexion in eine Bestimmung der ästhetischspielerischen Selbstvergewisserung zurück,7 doch der Begriff des ästhetischen Subjekts – und mit ihm seine näher zu thematisierende Krisis – kann in der fortlaufenden Begriffsgeschichte nicht mehr hinter die Baumgartnersche Position zurückgenommen werden: In Schillers Kant-Kritizismus wie in Herders Anthropologie wird ästhetische Subjektivität als Entfesselung menschlicher Wesenskräfte mit Anspruch auf Wahrhaftigkeit der bürgerlich gedachten Selbstexpression verstanden.8 Daher kann Schiller in Kallias oder über die Schönheit resümieren: „In der ästhetischen Welt ist jedes Naturwesen ein freier Bürger.“9 Marx braucht in seinen Ökonomisch-philosophischen Manuskripten ‚nur‘ mehr an diesen ästhetischen Subjektivitätsdiskurs und seinem Impetus der emanzipatorischen bürgerlichen Selbstexpression anzuknüpfen, um das menschliche Produzieren – die Arbeit – in den Mittelpunkt einer materialistischen Ästhetik stellen zu können: 3
Siehe Baumgarten 1968: § 519.
4
Siehe Baumgarten 1968: § 1: „Aesthetica (…) est scientia cognitionis sensituae.“
5
Siehe Bäumler 1972: 3-5.
6
Baumgarten 1968: § 427 u. § 424.
7
Siehe Kant 1977: § 23.
8
Siehe Herder 2000: 659-693.
9
Schiller 1962: 421.
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„[D]er Mensch [weiß] nach dem Maß jeder species zu produzieren [...] und überall das inhärente Maß dem Gegenstand anzulegen [...]; der Mensch formiert daher auch nach den Gesetzen der Schönheit.“10 Dieses gattungsspezifische Produzieren und Reproduzieren des Menschen ist für ihn die Basis eines ästhetisch-materialistischen Ereignismodells, mit welchem versucht wird, die alltägliche Sinnlichkeit und ihre Handlungsvollzüge im Rahmen der geschichtlichen und sozioökonomischen Verwirklichung menschlicher Wesenskräfte zu erfassen. Das ästhetische Erleben selbst steht im Mittelpunkt einer allgemeinen Ästhetik, die auch immer als eine Ästhetik des sinnlichen, heißt auch: gesellschaftlichen und geschichtlichen Subjekts zu bezeichnen ist. Der ästhetische Mensch ist also kein Naturwesen in einer naturwüchsig gedachten bürgerlichen Gesellschaft an sich, sondern ein durch und durch gesellschaftlich bestimmter Mensch. Den kommenden ästhetischen Menschen bestimmt Marx als den aus entfremdeten Produktionsverhältnissen sich selbst befreienden Proletarier, der seine Selbstbestimmung im Sinne „freier Tätigkeit“, die das „absolute Herausarbeiten […] schöpferischer Anlagen“ bedeutet, nur dann finden kann, wenn seine Arbeit wirklich frei ist.11 Ästhetik als Wissenschaft von den menschlichen Sinnen hat ebendiese und ihre Beziehungen zur Wirklichkeit zum Gegenstand und somit nicht einen Kunstmarkt, noch die ikonischen Künste an sich. Materialistische Metaästhetik wird hier als eine Sozialästhetik im Sinne einer Produktionsästhetik formuliert. Doch ist diese ideologische Formulierung einer materialistischen Universalästhetik haltbar, besonders wenn vergegenwärtigt wird, dass diese ebenso auf der Basis eines metaphysischen Subjekts verhandelt wird? Im Klartext: Was bringt die materialistische Verschiebung des ästhetisch-bürgerlichen Subjekts und seiner ästhetischen Praxis mehr denn die Prolongierung eines begrifflichen Problems, nämlich dass die omnipotente Leerstelle ‚Subjektivität‘ mit metaphysischen Eigenschaften der revolutionären Selbstsetzung und der ästhetischen Reproduktion des Proletariers aufgefüllt wird? Der omnipotent sich selbst und die Welt hervorbringende Proletarier als Avantgardist der menschlichen Gattung ist nicht nur ästhetisch; er ist vor allem ein ‚aufgeklärtes‘ Subjekt, das in dieser Ästhetik ein sinnliches Herrwerden des Menschen in Beherrschung seiner inneren wie äußeren Natur dokumentiert und in dieser – vor allem philosophischen – Dokumentation als Ideologie Herrschaft über die Welt gewinnt. Das ist also die eigentliche Krisis des ästhetischen Subjekts: Wie zuvor schon dem Schillerschen Bürger passt auch dem Marxschen Proletarier der allzu weite Mantel des Weltgeistes, der sich in Form eines ästhetischen Allsubjekts einholen soll, nicht. Was ist die Ursache?
10 Marx 1974: 517. 11 Marx 1953: 387.
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2. Z U
EINER DEZENTRIERUNGSLOGIK DES ÄSTHETISCHEN S UBJEKTS
Wieweit auch der Subjektbegriff bei Baumgarten, Schiller und Marx seiner ursprünglichen kognitivistischen Konnotation entkleidet wurde, so ist er doch weiterhin zentristisch geblieben: Grund und Ausgangspunkt des Subjekts ist und bleibt das ästhetische Ich, das sich über sich und die Welt durch die eigene sinnliche Erkenntnis bewusst wird. Nietzsche – hier wird Heideggers erhellender Interpretation gefolgt – kämpft als erster Philosoph gegen eine solche Zentrierung des Subjekts an.12 Und tatsächlich ist bei ihm ein im Ansatz dezentrierter, von der Descartschen Definition des „cogito, ergo sum“ sich ablösender Subjektbegriff vorzufinden, indem in der Arbeit Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik von einer rauschhaften Selbstüberschreitung des ästhetischen Subjekts gesprochen wird.13 Es wird das Subjekt nicht mehr – so wie in der idealistischen Ästhetik eines Baumgarten und Schiller oder in der Produktionsästhetik eines Marx – als Grund des Ästhetischen, sondern nur mehr als ein, nicht aber als einziges konstitutives Moment angesehen.14 Eine zeitgenössische subjektdezentrierte Ästhetik findet hier ihre Anschlussfähigkeit, die von Adorno, Marcuse und Habermas im Rahmen der Kritischen Theorie (2.1) wie von Heidegger und Gadamer im Rahmen einer ontologischen bzw. hermeneutischen Spieltheorie (2.3) auf der Basis entsprechender Referenztheorien von Schiller und Nietzsche (2.2) thematisiert wurde. Das Paradigma der ästhetischen Intersubjektivität von Habermas im Medium des Spiels phänomenologisch zu rekonstruieren, ist Aufgabe einer soziogenetischen Spieltheorie (2.3).
2.1 Ästhetik in der Kritischen Theorie Das Subjekt, das sich so dezentriert, ist nicht mehr als Grund des Ästhetischen auszumachen, sondern nur mehr ein Moment von ästhetischer Kommunikation. Adornos Begriff des „Nichtidentische[n]“, dessen Unverfügbarkeit selbst Bestandteil des Kunstwerks wie des Künstlers ist, kann somit in diesem Kontext als Paradigma ästhetischer Dezentrierung des Subjekts verstanden werden: Es geht das Subjekt in der ästhetischen Praxis nicht mit sich selbst – wie noch bei Baumgarten –
12 Siehe Nietzsche 1985: 283. 13 Siehe Nietzsche 1972: 38f. 14 Die wortwörtliche Sprachwendung einer „Dezentrierung des Subjekts“ wurde zum ersten Mal dezidiert, allerdings in Hinsicht auf eine Etablierung sprachphilosophischer Psychoanalyse, von Lacan verwendet (Lacan 1975: 127).
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ästhetikologisch als ident auf, sondern verweist vielmehr auf seine diesbezügliche Unmöglichkeit.15 Analog zu Baumgarten, der in der Zentrierung ästhetischer Subjektivität das Paradigma der Wahrhaftigkeit vollzogen sieht, vermerkt Adorno emphatisch, dass die dezentrierende Erfahrung des Nichtidentischen „die Wahrheit der Kunstwerke“ freigibt, die vor allem in der Offenbarung begründet ist, dass das in ihnen durchscheinende Subjekt nur als ein Aspekt ihrer Konstitution gelten kann. 16 Marcuse optiert ebenso für eine Dezentrierung des ästhetischen Subjekts, allerdings in einem materialistischen, hierbei dezidiert orthodoxe marxistische Ästhetik ablehnenden Rekurs auf Schillers Ästhetik.17 In der Sprengung Marxscher Produktionsästhetik – es gilt nach Marcuse nicht, entfremdete Arbeit aufzuheben, sondern sie auf ein Minimum durch Automation der Produktion zugunsten der Etablierung musischer Fähigkeiten beschränken zu können18 – werden gesellschaftliche alternative Wirkungsformen durchdacht, mit denen die herrschenden Formen des „Realitätsprinzips“ (Synonym für das zweckrationelle kapitalistische Leistungsprinzip) unterlaufen werden können :19 Eros und Kunst sind demnach für Marcuse Paradigmen alternativer, letzthin gesellschaftsumwälzender Lebensformen, die das ästhetische Subjekt dezentrieren.20 Habermas hat diese Versuche von Adorno und Marcuse, das zeitgenössische Subjekt im Paradigma des ästhetischen Subjekts dezentriert zu sehen, als erste Versuche einer intersubjektiven Kommunikationstheorie gewertet, die aber noch nicht zu sich selbst gekommen ist.21 Den Paradigmenwechsel von einer Subjektivitätstheorie zu einer Intersubjektivitätstheorie im Modus kommunikativen Handelns hat Habermas im Anschluss an diese Tradition der Kritischen Theorie in Angriff genommen: Subjekttheorie, die entweder im ästhetischen Paradigma des sinnlichen Erkennens (Baumgarten) oder des sinnlichen Arbeitens (Marx) steht, kann nur in ihrer Reformulierung als Intersubjektivitätstheorie weitergeführt werden, denn die Einzigartigkeit des ästhetischen Subjekts liegt nicht in seinem rein auf sich bezogenen Vermögen, ästhetisch zu erkennen oder zu arbeiten, sondern in seiner kommunikativen Intersubjektivität, mit der sich das Subjekt zum Intersubjekt de-zentrieren kann. Folgerichtig ist: Baumgartens Erkenntnis vom in der Sinneswelt selbst erkennenden Geist und Marxens Einsicht in die Emanzipation des Menschen durch Ar15 Siehe Adorno 1996: 14. 16 Siehe Adorno 1996: 155. 17 Siehe Marcuse 1971: 180-194. 18 Siehe Marcuse 1971: 194: „Vernünftigerweise sollte das System der gesellschaftsnotwendigen Arbeit [...] für die Entwicklung der Einzelpersönlichkeit außerhalb der unerlässlich unterdrückenden Arbeitswelt organisiert werden.“ 19 Siehe Marcuse 1971: 35-39. 20 Siehe Marcuse 1971: 207. 21 Siehe Habermas 1981: 167-177.
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beit ist nichts wert, wenn Baumgarten und Marx nicht kommunikationstheoretisch weitergeführt werden.22 Die Gleichursprünglichkeit von erkennendem und arbeitendem Sinnessubjekt auf der Basis des Paradigmas des kommunikativen Handelns zu etablieren ist nach Habermas die einzige Möglichkeit, Alter nicht als reines Objekt zu fassen, sondern als Intersubjekt, als ‚Du‘ des so dezentrierten Ego. 23 Das in der klassischen Philosophie bis Marx mit entsprechenden Prädikaten ausgestattete Subjekt kann in der Postmoderne nicht mehr stillschweigend und unmittelbar weiterhin im Sinne eines zentrierten Subjektivismus verhandelt werden. Die Konstitutionsanalyse der materiellen wie symbolischen Reproduktion der Gesellschaft, die auf ästhetischer Seite von Baumgarten, Schiller und Marx faszinierend reflektiert wurde, hat nach Habermas in ihrer subjektdezentrierten – aber hierbei nicht die klassische Bewusstseinsphilosophie hinter sich lassenden – Wiederaufnahme durch Adorno und Marcuse krisenhafte Epochen erlebt, weil sie unter völlig anderen Auspizien, nämlich mit den Instrumentarien einer Kommunikationsphilosophie, reformuliert gehört: Das kulturinvariante Handlungspotential des kommunikativen Handelns steht für eine Entwicklungsdynamik der menschlichen Geschichte, die freilich ihren – empirischen wie theoretischen – Anfang in sinnlich-ästhetischen Tätigkeiten nimmt. Insofern ist die Theorie des kommunikativen Handelns in der Einsicht ästhetischer Intersubjektivität begründet. Diese Argumentation mag überraschen, wird doch Habermas’ Bezug zur Ästhetik seit Menke als defizitär verstanden, da sie – gewissermaßen – durch kommunikative Vernunft determiniert sei.24 Im Rahmen einer allgemeinen Ästhetik kann aber bewiesen werden, dass Habermas eine solche Determination per se nicht anstrebt, sondern – im Gegenteil – das Prinzip der Intersubjektivität in einer Sinneslehre sucht, die der Kunst nicht nur die periphere Bedeutung einer elitären Avantgarde einräumt, sondern sie in einer emanzipierten Kommunikation aller Gesellschaftsteilnehmer begründet sehen will: Die starre und kulturelle Verarmung des rationalisierten Alltags lässt sich nicht mithilfe der Gesten einer ästhetischen Avantgarde überwinden. Nötig wäre vielmehr eine wechselseitige Durchdringung von kognitiven Interpretationen, moralischen Erwartungen sowie affektivästhetischen Expressionen und Bewertungen im alltäglichen Leben. 25
22 Siehe Habermas 1988: 344-389. 23 Siehe Habermas 1988: 347. 24 Siehe Menke 1991: 278-293. 25 Benhabib 2009: 250.
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Es gilt festzuhalten: Mit dem Habermasschen Paradigma der ästhetischen Intersubjektivität ist eine mögliche Strategie ausgesprochen, um allgemeine Ästhetik am Horizont der Kommunikationstheorie argumentieren zu können. In der Betrachtung des intersubjektiven Spiels, das als „Dabeisein“ nach Gadamer eine ästhetisch dezentrierte „Teilhabe“ des Subjekts am Leben wie an der Kunst phänomenologisch rekonstruieren lässt,26 soll eine wichtige zeitgenössische Variante ästhetischer Intersubjektivität diskutiert und weitergeführt werden, die ihre Morgenröte bereits bei Schiller und Nietzsche gefunden hat.
2.2 Spiel bei Schiller Schiller entwirft in der Schrift Über die ästhetische Erziehung des Menschen27 die ideale Form ästhetischer Subjektivität hinter der Folie des Spiels. Er sieht den sinnlich bestimmten Subjektivitätsbegriff innerhalb einer ästhetischen Realutopie eingebettet, in welcher die Antithese von Sinnlichkeit und Vernunft in einem Tertium, dem Spiel, aufgehoben werden soll. Das lässt den Schluss zu, dass das Spiel keineswegs als rein selbstzweckliches, sondern vielmehr als gesellschaftlich relevantes Handeln angesehen werden muss, da es die revolutionäre Umgestaltung von Gesellschaft und Subjekt zum Ziel hat.28 Das Plädoyer für eine totale Umwandlung des bürgerlichen Staats durch das Spiel, wie von Schiller im 6. und 27. Brief eindringlich gefordert, ist in der klassischen deutschen Literaturphilosophie – wird anerkannt, dass der junge Marx die Umwälzung des Staats durch ästhetische Arbeit schon in rein sozioökonomischen Begriffen vornahm – beispiellos geblieben. 29 Wie die Aufhebung des bürgerlichen Staats aber in concreto geschehen, ergo wie das Spiel als Form intersubjektiv revolutionären Handelns durchbuchstabiert werden soll, ist von Schiller nicht klar dargelegt worden, da ihm schlichtweg das Paradigma der ästhetischen Intersubjektivität – so Habermas’ überzeugende Diagnose30 – noch nicht aufgegangen ist. Selbst Marcuse, der Schillers Spielbegriff freudomarxistisch reformuliert, hadert mit dieser Aufgabe, indem er zu sehr das Augenmerk auf den subjektivistisch verstandenen Spieltrieb lenkt, wiewohl er natürlich die intersubjektive Kraft des „unproduktiven“ Spiels im Ansatz eines das Subjekt entgrenzenden „Lustprinzips“ sieht.31
26 Siehe Gadamer 1972: 118. 27 Schiller 2000. 28 Siehe Schiller 2000, 27. Brief: „Totale Revolution“. 29 Siehe Bürger 1999: 60-62 u. 138. 30 Siehe Habermas 1988: 59-64. 31 Siehe Marcuse 1971: 180-194.
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2.3 Spiel bei Nietzsche Nietzsche, der ebenso wie Schiller den „immer neu erwachenden Spieltrieb“32 des Menschen reflektiert, sieht die Dezentrierung des Subjekts nicht etwa in einer Umwälzung gesellschaftlicher Verhältnisse, sondern in der „aesthetischen Grundperception vom Spiel in der Welt“33 begründet. Die Aufspreizung des Spielbegriffs zu einer Kategorie der Weltmodellierung bei Nietzsche hat sich als folgenreich erwiesen: Im Satz vom Grund34 rekurriert Heidegger, dabei dezidiert auf Nietzsches Schrift Die Philosophie im tragischen Zeitalter der Griechen35 Bezug nehmend, auf das 52. Fragment des Heraklit und übersetzt Į۞ȫȞ mit Seinsgeschick, welches im dezentrierten Weltspiel zu sich gekommen sei.36 In diesem Kontext liegt das „Geheimnis des Spiels“ darin, dass es sich selber „spielt“.37 Diese Selbstreferentialität des Spiels weiß Gadamer hermeneutisch zu konkretisieren, indem er aufzeigt, dass das Spiel „unabhängig vom Bewusstsein derer, die spielen“38 sich etabliert. Obwohl das Mitspielen als Paradigma ästhetischer Dezentrierung des Subjekts von den genannten Referenzpersonen einer existentialontologischen Spieltheorie intuitiv erfasst und reflektiert wird, schießen freilich Heidegger und Gadamer über eine Phänomenologie des Spiels hinaus, indem sie gerade das Spiel als Kategorie der Weltmodellierung überstrapazieren, was damit zu tun hat, dass die ihr zu Grunde liegende ästhetische Intersubjektivität nicht kommunikationstheoretisch gedacht wird. Wie ist dem – wie der libidinösen Besetzung des Spiels durch Marcuse – zu begegnen, ohne sogleich einen Diskurs um die Deutungshoheit des Spiels zu entfachen?
3. ÄSTHETISCHE INTERSUBJEKTIVITÄT ALS P ARADIGMA SOZIOGENETISCHER S PIELTHEORIE Eine mögliche Antwort ist: in einer disziplinierten phänomenologischen Rekonstruktion des ästhetischen Spiels, die der Metaphorisierung des Spiels als „Weltmetapher“39 (Heidegger) wie als Lustmetapher (Marcuse) entgegenarbeitet. In An-
32 Nietzsche 1954: 325. 33 Nietzsche 1954: 327. 34 Heidegger 1957: 188. 35 Nietzsche 1954: 374-376. 36 Siehe Heidegger 1957: 188. 37 Siehe Heidegger 1957: 186. 38 Gadamer 1972: 98. 39 Fink 1957: 50.
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betracht der gebotenen Kürze ist es nicht möglich, die Vielzahl der Spieltheorien, die für das Paradigma ästhetischer Intersubjektivität anschlussfähig sind, hier näher zu diskutieren.40 Was an dieser Stelle zumindest angerissen werden soll, ist eine Phänomenologie des Spiels, die die Hypothese ästhetischer Intersubjektivität empirisch untermauert (3.1) und zudem einen Zugang des Autors (3.2) zu diesem Thema signalisiert.
3.1 Zu einer soziogenetischen Logik ästhetischer Intersubjektivität Die Erwerbung ästhetischer Interaktionskompetenz ist die prozesshaft zu verstehende Ausgangslage des Menschen. Die Logik dieses Entwicklungsprozesses zu rekonstruieren, steht im Mittelpunkt der soziogenetischen Forschung. Im deutschsprachigen Raum haben sich besonders Geulen41 und Edelstein42 darum bemüht, eine Grundlagenforschung, die auf empirischem Material der Mutter-KindForschung basiert, zu leisten. Im Rekurs auf entsprechende Theoriemodelle der Interaktion bei Mead43, Piaget44 und Kohlberg45 wird versucht, den Perspektivenwechsel zwischen Ich und Alter (vor allem im Kontext von Mutter und Kind) zu erforschen.46 Die Entwicklung sozialer Interaktion des Kindes beginnt mit der „latenten Soziabilität des Neugeborenen“47, das im intersubjektiven Spiel mit der Mutter schon eindeutige Akzente von Kooperationen und Kontrollwünschen aufweist. Diese Soziabilität steigert sich im Verlauf der Kommunikation – über Phasen primärer, sekundärer, alternierender, reziproker, sequentieller, situationsadäquater, relativierender und identitätssichernder Intersubjektivität, die auf der Grundlage penibler empirischer Befundung die Soziogenese des Kindes vom Baby bis zum Zehnjähri-
40 Eine solche detaillierte Analyse, die entsprechende anthropologische (Huizinga, Caillois, Buytendijk u.a.), evolutionsbiologische (Spencer, Groos, Hacker, Lorenz, Sutton-Smith u.a.), pädagogische (Fröbel, Dewey, Pestalozzi), ludologische (Aarseth, Salen/Zimmerman, Frasca, Juul u.a.) und schließlich handlungstheoretische (Oerter, Auwärter, Edelstein, Stepina u.a.) Spieltheorien zum Gegenstand einer allgemeinen Ästhetik hat, ist meiner Habilitation zu entnehmen (vgl. Stepina 2007: 295-338). 41 Geulen 1982. 42 Edelstein/Keller: 1982. 43 Mead 1969; ders. 1973. 44 Piaget 1954. 45 Kohlberg 1974. 46 Vgl. Edelstein/Habermas 1984. 47 Auwärter/Kirsch 1984: 179.
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gen ausmacht48 – zum Stadium und Fixum einer ausgebildeten Rollenidentität. Die Soziogenese-Forschung zeigt also, dass besonders die Früh-, aber auch die weitere Verlaufsgeschichte interpersonaler Beziehung zwischen Mutter und Kind im Status der Intersubjektivität und des Perspektivenwechsels als Handlung an sich, wie als ästhetisches Spiel für sich, zu deuten ist.
3.2 Plädoyer für eine soziogenetische Spieltheorie In Kenntnis dieser Sachlage habe ich meine Grundthese zum Spiel wie folgt definiert: Handeln an sich ist in der Frühgeschichte intersubjektiver Beziehungen zwischen Mutter und Kind als ein ästhetisches Spielhandeln zu verstehen, das alle im Laufe der Soziogenese und Sozialisation auszudifferenzierenden und damit gesellschaftlich relevanten Handlungsformen in sich enthält. Diese sind – in ontogenetischer Rekonstruktion des egoistischen, auf Dissens hinauslaufenden, wie solidarischen, auf Konsens hinauslaufenden Interagierens zwischen Mutter und Kind – in größtmöglicher Abstraktion auf zwei gesellschaftlich bipolare Handlungen zu projizieren: das egoistische Handeln auf das ökonomische Handeln und das solidarische Handeln auf das gemeinschaftliche Handeln. Handlung als intersubjektive Form gesellschaftlicher Kommunikation ist in der Frühgeschichte interaktiver Beziehungen zwischen Mutter und Kind – immer schon – angelegt und eingelagert. Im Laufe der Sozialisation wird das kindliche Handeln in vielen intersubjektiven Spielen ästhetisch geformt und ausgeprägt, bis es sich schließlich in gesellschaftlich relevanten Handlungsformen wiederfindet. Das heißt aber nicht, dass das Spielen völlig in gesellschaftlichen Handlungen aufgehen würde. Vielmehr ist es so, dass im Laufe des Lebens immer wieder auf das Spiel als das Medium zur Erprobung neuer Handlungsformen zurückgegriffen wird und werden muss, was aber auch bedeutet, dass es das Spiel an sich – etwa unter Inklusion des Mußebegriffs und Exklusion des Arbeitsbegriffs – nicht geben kann: Denn im Spiel erlernen wir nicht nur gesellschaftliches Handeln, sondern auch, das Spiel selbst als ästhetisches Medium zu professionalisieren, denn immerhin kann in diesem Medium sanktionsfrei und ohne normative Verpflichtung Geltung und Faktizität von Handlung, letzthin von Kommunikation sinnlich erprobt werden. In diesem Zusammenhang wird klar, dass die seit Schiller angeführte Selbstzwecklichkeit des Spiels 49 nie eine Zwecklosigkeit bedeuten kann, wie sie ei-
48 Siehe Auwärter/Kirsch 1984: 179-211. 49 Zu entsprechenden Befunden in Schillers 6. und 27. Brief in den Briefen über die ästhetische Erziehung des Menschen vgl. Stepina 2005: 53-59 sowie ders. 2004/05: 74-83.
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gentlich von Scheuerl und anderen idealistischen Spieltheoretikern gemeint wird:50 Denn Spiel ist immer ein Spiel im ganz Konkreten, das heißt in den sozioökonomischen wie solidarischen Strukturen der Gesellschaft vorzufindenden Leben, und dieses trägt seinen Zweck, nämlich das Leben in spielerischer Sinnhaftigkeit zu führen, in sich. Das Spiel ist also das selbstreflexive und darin handlungs-, geschichtsund gesellschaftsbildende Lernmedium51 der Menschen: In ihm wird egoistisches und solidarisches, wirtschaftliches und gemeinschaftliches Handeln am Horizont der Kommunikationsgesellschaft koordiniert und vollzogen. Die Gleichursprünglichkeit von arbeitenden und erkennenden, oder in meiner Diktion: von ökonomisch und solidarisch sich verhaltenden Subjekten auf der Basis des Paradigmas des Spielhandelns zu etablieren, ist eine Möglichkeit, Alter nicht als reines Objekt zu fassen, sondern als Intersubjekt, als ‚Du‘ des Ego. Phänomenologisch rekonstruiert werden kann diese Gleichursprünglichkeit in der paradigmatischen Mutter-Kind-Dyade, die im Modus der kommunikationstheoretisch zu verstehenden Soziogenese mikro- und makrosoziologisch auszudifferenzieren ist. Arbeiten und Erkennen, endlich: egoistisches, ferner wirtschaftliches und solidarisches, ferner: kommunitaristisches Handeln sind analytisch verschiedene Aspekte von Interaktion, die im Modus der Kommunikation sich miteinander verschränken.52 Analytisch betrachtet, gründen Arbeit, Erkennen und Kommunikation in drei zentralen Spielhandlungen, die die zentralen Gegenstände einer soziogenetischen Spieltheorie ausmachen: 1. Das instrumentelle Spielhandeln: Die Orientierung am eigenen, egoistischen Handeln steht im Zentrum dieses Handlungsbegriffs. In diesem Spiel wird Egoismus erlernt, der sich später in sozioökonomische Konkurrenz- und Verteilungskämpfe um Güter, Prestige und Macht(-symbole) ausdifferenziert. Sein archetypischer Wert ist die Individualität der egozentrischen Selbstdarstellung, woraus individualistische Freiheit und (neo-)liberalistische Werte sowie materielle Absicherung (Privateigentum) entstehen. 2. Das solidarische Spielhandeln: In diesem Spiel wird anhand einer Solidarität, also die konsensuelle Orientierung und Anerkennung anderer Subjekte, erlernt. Sein Wert ist die Erschaffung und Anwendung des common sense sowie die Solidarität im Gemeinschaftsausdruck. Kommunitaristische Werte wie Wohlfahrt und Kollektiveigentum entstehen. 3. Das kommunikative Spielhandeln: In diesem Spiel wird die Rahmung ermöglicht, um instrumentelles wie solidarisches Spielhandeln miteinander verbinden zu können. Die kommunikative Interpretation und synthetische Exekution der beiden zuvor genannten Spielhandlungen werden in diesem Metahandeln zu kommunikati50 Vgl. Scheuerl 1979. 51 Zum Begriff des Spiels als Lernmedium vgl. vor allem: Dewey 1964: 259. 52 Siehe Stepina 2007: 177-185.
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ven Sinnwerten transportiert und tradiert (Synthese von individueller Freiheit wie sozialer Anerkennung im Spiel). Empirisch – und damit einer phänomenologischen Rekonstruktion gut zugänglich – ist dieses Spielhandeln im einfachen Alltagshandeln vorzufinden: Akteure, die im Alltag ihre Handlungen zu vollziehen haben, beziehen sich immer schon auf spielhafte Strukturen der egoistischen und solidarischen Gesellschaftsebenen zugleich, indem sie diese auf der kommunikativen Ebene synthetisieren. Sie sind spielende Personen, die in ihrer Alltagswelt in einem Handlungsvollzug in die Wirtschaft eingreifen, die Gemeinschaft mittragen sowie diese beiden Ebenen auf der gesamtgesellschaftlichen Ebene synthetisch kommunizieren.
4. S CHLUSS Eine allgemeine Ästhetik, die im Paradigma des intersubjektiven Handelns steht, hat in der phänomenologischen Rekonstruktion von kommunikativen Akten, welche ihrerseits im Medium des ästhetischen Spiels angesiedelt werden können, ihre Legitimation. Dieser Weg einer soziogenetischen Differenzierung von Ego und Alter, schließlich einer Dezentrierung des egoistischen und gemeinschaftlichen Handelns im Medium des Kommunikativen, ermöglicht es, eine mögliche Logik von Gesellschaft anhand ihrer handlungsspezifischen Konkurrenz-, bzw. Verständigungsprozesse in Wirtschaft bzw. Gemeinschaft zu rekonstruieren. Die materielle wie symbolische Reproduktion der Gesellschaft hat in ihrer subjekttheoretischen Wiederaufnahme in der Moderne wie Postmoderne deswegen, wie kurz skizziert, krisenhafte Epochen erlebt, weil sie unter völlig anderen Auspizien, nämlich mit den Instrumentarien einer Kommunikationsphilosophie reformuliert gehören: Ihr Gegenstand, das kulturinvariante kommunikative Handeln steht für eine Entwicklungsdynamik der menschlichen Geschichte, die ihren soziogenetischen Anfang wie Ausgang in ästhetischen Spielhandlungen nimmt. Die Bedingungen von Möglichkeiten der Funktionsweise intersubjektiver Kommunikation können anhand einer allgemeinen Ästhetik, in deren Fokus das Paradigma des ästhetischen Spiels steht, verhandelt werden.
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L ITERATUR Adorno, Theodor W.: Ästhetische Theorie. Frankfurt am Main: Suhrkamp 61996. Auwärter, Manfred/Kirsch, Edith: „Zur Ontogenese der Sozialen Interaktion, Eine strukturtheoretische Analyse“, in: Edelstein, Wolfgang/Habermas, Jürgen (Hg.): Soziale Interaktion und soziales Verstehen. Beiträge zur Entwicklung der Interaktionskompetenz. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1984, 167-219. Baumgarten, Alexander G.: Aesthetica. Hildesheim u.a: Olms 1968. Bäumler, Alfred: Ästhetik. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 21972. Benhabib, Seyla: „Verteidigung der Moderne“, in: Habermas-Handbuch. Hg. von Haule Brunkhorst et al. Stuttgart: Metzler 2009, 240-254. Bürger, Peter: Theorie der Avantgarde. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1999. Descartes, René: Abhandlung über die Methode. Mit einer Einführung von Rainer Specht. Hamburg: Meiner 1996. Dewey, John: Demokratie und Erziehung. Eine Einleitung in die philosophische Pädagogik. Braunschweig: Westermann 31964. Edelstein, Wolfgang/Keller, Manfred (Hg.): Perspektivität und Interpretation. Beiträge zur Entwicklung des sozialen Verstehens. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1982. Edelstein, Wolfgang/Habermas, Jürgen (Hg.): Soziale Interaktion und soziales Verstehen. Beiträge zur Entwicklung der Interaktionskompetenz. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1984. Fink, Eugen: Oase des Glücks. Gedanken zu einer Ontologie des Spiels. Freiburg: Alber 1957. Gadamer, Hans-Georg: Wahrheit und Methode. Tübingen: Niemeyer 41972. Geulen, Dieter (Hg.): Perspektivenübernahme und soziales Handeln. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1982. Habermas, Jürgen: Philosophisch-politische Profile. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1981. Habermas, Jürgen: Der philosophische Diskurs der Moderne. Zwölf Vorlesungen. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1988. Habermas, Jürgen: Die Moderne – ein unvollendetes Projekt. Leipzig: Reclam 2 1992. Heidegger, Martin: Der Satz vom Grund. Tübingen: Niemeyer 1957. Herder, Johann Gottfried: „Begründung einer Ästhetik in Auseinandersetzung mit Alexander Gottlieb Baumgarten“, in: ders.: Werke. Hg. von Günther Arnold et al., Bd. 10. Frankfurt am Main: Suhrkamp 2000. Kant, Immanuel: Kritik der Urteilskraft. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1977. Kohlberg, Lawrence: Zur kognitiven Entwicklung des Kindes. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1974. Lacan, Jaques: Schriften, Bd. II. Olten u. a.: Walter 1975.
230 | CLEMENS S TEPINA
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Radikal jung? Der neue Trend zum Minimalismus in der Ästhetik Junger RegisseurInnen A NDREAS E NGLHART
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DER
J UNGEN R EGISSEUR INNEN
Generell scheint sich das avancierte Theater der Jungen RegisseurInnen einfachen Systematisierungsversuchen zu entziehen. Als radikales Regie-, SchauspielerInnenoder AutorInnentheater sucht es seinen Weg zwischen Anlehnung an bekannte Vorbilder und Abgrenzung von der älteren Regiegeneration. Dabei fallen Unterschiede zur Inszenierungsästhetik der etablierten KollegInnen auf, feststellbar ist ein deutlicher Trend zum Minimalismus bzw. zu einer neuen Einfachheit und ‚Ehrlichkeit‘. „Radikal jung“ im Kontext der Gruppenbezeichnung „Junge RegisseurInnen“ ist eigentlich ein angeeigneter Begriff. Tatsächlich ist er der Titel eines in den letzten Jahren immer bekannter und in der Theaterszene sehr einflussreich gewordenen Festivals am Volkstheater München, das ähnlich wie das Berliner Theatertreffen und die Mülheimer Theatertage die bemerkenswertesten Inszenierungen des jeweils letzten Jahres einlädt. So wurde Radikal jung neben dem Körber Studio in Hamburg zum Zentrum eines Phänomens, das sich als Junge Regie in den Spielplänen der subventionierten, vor allem deutschsprachigen Theater immer mehr ausbreitet, ja gar zur Mode wird. Dass über den engen Kreis des Festivals Radikal jung die jüngere Generation generell eine immer größere Rolle in der deutschen Theaterlandschaft spielt, zeigen zum Beispiel die Einladungen von Nurkan Erpulat oder Roger Vontobel zum diesjährigen Berliner Theatertreffen. Junge RegisseurInnen wie Jorinde Dröse, Christine Eder, Jette Steckel, David Bösch, Tilmann Köhler, Alice Buddeberg, Antú Romero Nunes, Anna Bergmann, Bastian Kraft, Nicole Oder, Johannes Schmit, Heike M. Goetze, Caroline Steinbeis, Robert Borgmann oder Simon Solberg, die – etwa zwischen 20 und 35 Jahre alt – oft bereits erstaunlich viel inszeniert haben, sind als relativ kohärente Gruppe aus den Spielplänen der wichtigsten Theater heute nicht mehr wegzudenken, sie werden von den jeweiligen
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Theaterleitungen ganz bewusst eingekauft und bilden eine wichtige Säule der Spielplanpolitik.
M ARKTEFFIZIENZ , IMAGESPIEL UND S TRUKTURZWÄNGE Der ausgewogene und politisch kluge Spielplan eines durch die öffentliche Hand geförderten Theaters sollte Klassiker wie William Shakespeare und Henrik Ibsen, Publikumsschmeichler wie Yasmina Reza, gut eingeführte zeitgenössische AutorInnen wie Lukas Bärfuss und Stücke Junger AutorInnen wie Nis-Momme Stockmann und Anja Hilling aufweisen. Für die Inszenierung letzterer werden gerne Junge RegisseurInnen verpflichtet. Wenn sie etwas Erfahrung gesammelt haben – dies zeigt die Spielplananalyse –, dürfen sie schnell Klassiker auf die Bühne bringen. Wahrscheinlich vermutet man in dem einen Fall eine Nähe zwischen den Genera-tionen und erwartet im anderen Fall einen spannenden Kontrast zum ‚alten‘ Klassiker. Was sie kaum in die Hand bekommen, sind lebende AutorInnen der mittleren oder älteren Generation, also kein Roland Schimmelpfennig, keine Dea Loher und keine Elfriede Jelinek. Das Engagement Junger RegisseurInnen folgt tendenziell einem System – zynisch betrachtet kann man behaupten: Nicht nur Inszenierungen bzw. Talente, sondern auch Images von angenommener Radikalität und Innovation werden gewinnbringend eingekauft. Junge RegisseurInnen haben ähnlich wie Junge AutorInnen im Theaterbetrieb eine Funktion, sind als ‚Subjekte‘ selbst Teil des existierenden Theatersystems mit seinen nicht geringen strukturellen Zwängen. Marlene Streeruwitz spricht in diesem Zusammenhang von „Effizienzideologie“ und der „Logik eines Binnenmarkts“.1 Diese Marktanforderungen sind für den Regienachwuchs Glück und Unglück zugleich, denn sie haben zwei gravierende Folgen: Zum einen werden Junge Regisseurinnen sehr schnell bekannt und häufig engagiert. Talente werden kaum mehr zufällig ‚entdeckt‘, auch eine ‚Ochsentour‘ als RegieassistentIn scheint heute weniger zum Erfolg zu führen als früher. Vielmehr absolvieren die meisten ein Regiestudium, etwa an der Berliner Hochschule für Schauspielkunst Ernst Busch, der Hochschule für Musik und Theater Hamburg oder der Zürcher Hochschule der Künste, und werden dann unmittelbar in den Markt integriert, gleich mehrere Inszenierungen pro Spielzeit sind keine Seltenheit; dennoch oder gerade deshalb steht im Theaterbetrieb nicht die individuelle Arbeit, sondern das Image bzw. die „Marke“ der Jungen RegisseurInnen im Vordergrund, wie Anna Bergmann unlängst in einem vieldiskutierten Interview beklagte. 2 Zum anderen werden Junge RegisseurInnen ähnlich wie Junge AutorInnen aber auch ganz schnell nicht mehr 1
Streeruwitz 2010: 11.
2
Siehe Boenisch 2010: 12.
RADIKAL JUNG ? | 233
‚gebraucht‘ und verschwinden so abrupt wieder von der Bildfläche, wie sie bekannt geworden sind. Junge RegisseurInnen im Theater sind demnach ‚in‘, sie werden frühzeitig eingeworben, gefördert, auch bejubelt und oft dann nicht mehr engagiert.
D IE
UNERFÜLLBARE
F ORDERUNG NACH R ADIKALITÄT
Andrea Breth bringt die Strukturzwänge in ihrer direkten Art etwas drastischer zum Ausdruck: Das Theater brauche „eben Frischfleisch für das Aufmerksamkeitsdiktat. Also müssen immer mehr und immer jüngere Regisseure und Autoren auf die Rampe getrieben werden“.3 Dies liegt offensichtlich am kursierenden Image der Jungen RegisseurInnen sowie an der Spielplanpolitik. Man benötigt JungregisseurInnen als lebendige Motoren eines subventionierten Ausbildungs-, Förder- und Auswertungssystems. Zudem will man sie jung, frisch und möglichst unbeschrieben. Sie legitimieren den institutionalisierten Innovationsanspruch, dem das Theater als Teil des (post)modernen Kunstsystems genügen muss und der sich im Theater unter anderem in den Attributen ‚grenzüberschreitend‘, ‚innovativ‘ sowie ‚radikal‘ zum Ausdruck bringt, wie es etwa der Titel des Festivals Radikal jung anzeigt. Die gewollte doppelte Interpretationsmöglichkeit des Titels Radikal jung ist dabei durchaus selbstentlarvend: Junge Regie soll radikal sein, aber eben auch: Die engagierte RegisseurIn habe ‚radikal‘ im Sinne von sehr jung zu sein, da schwingt schon etwas Obszönes mit. Aus dieser Systemanforderung an die Jungen RegisseurInnen ergeben sich Komplikationen auf mehreren Ebenen: Erstens wird jede RegisseurIn sehr schnell zu alt, wenn sie ‚radikal jung‘ sein soll, und sie verliert dann die Basis ihrer Engagementslegitimation. Zweitens soll sie dann auch noch mit ihren Inszenierungen ‚radikal‘ sein. Doch was ist heutzutage ‚radikal‘? Die Junge RegisseurIn sieht sich gegenwärtig mit dem grundsätzlichen Problem konfrontiert, dass sowohl auf formaler wie auch auf inhaltlicher Ebene kaum mehr Grenzen zum Überschreiten vorhanden sind. Wie soll die jüngere Generation die Inszenierungsästhetiken von Einar Schleef, Christoph Marthaler, René Pollesch, Heiner Goebbels oder Nicolas Stemann noch ‚radikal‘ überbieten? Sie soll Avantgarde sein, obwohl es eine Avantgarde im ursprünglichen Sinn nicht mehr geben kann. Oder anders gesagt: In der Auflösung von Figuren, Handlungen, Räumen sowie Zeiten und in der Entdialogisierung sind alle Möglichkeiten zur Radikalität eigentlich ausgeschöpft. Die mit der Auflösung des Dramatischen verbundene De-Konstruktion des ‚Subjektes‘ wird somit von der jüngeren Generation nicht mehr als Grenzüberschreitung interpretiert, sondern von Fall zu Fall als effektvolles Inszenierungsmittel benutzt. So setzt etwa Nurkan Erpulat in seiner Inszenierung von Verrücktes Blut am Berliner 3
Breth 2009.
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Ballhaus Naunynstraße die stereotypen Verhaltensweisen von Schülern mit Migrationshintergrund erst auffällig in Szene, um sie dann in mehreren Peripetien lustvoll und nicht ohne pädagogischen Aufklärungswillen sowie Unterhaltungsabsicht ad absurdum zu führen. Und Robert Borgmann dekonstruiert in seiner Inszenierung Vatermord nach Arnolt Bronnen am Centraltheater Leipzig das identitäts- und subjektstiftende Vater-und-Sohn-Verhältnis als grundlegende Struktur der deutschen Geschichte des 20. Jahrhunderts.
D IE SPEZIFISCHE ÄSTHETIK J UNGER REGISSEUR INNEN IM Ü BERBLICK Um zu überprüfen, wie die Jungen RegisseurInnen mit der Last Ihrer eigenen Professionsgeschichte, mit den Übervätern und -müttern in der Regie sowie Intendanz und den aktuellen Systemanforderungen umgehen, wurden etwa fünfzig Inszenierungen Junger RegisseurInnen aus den letzten zwei Jahren gesichtet. Man kann daher schon von so etwas wie einer ‚empirischen‘ Basis der nun folgenden ersten Ergebnisse und Thesen sprechen. Dabei wird davon ausgegangen, dass sich in der Ästhetik der Inszenierungen Junger RegisseurInnen durchaus Trends feststellen lassen, die in ihrer prägnanten Erscheinung über der Zufallswahrscheinlichkeit des In-derInszenierung-Möglichen liegen. Um es gleich vorwegzunehmen: Alles deutet auf eine routinierte Integration dramatischer Formen in postdramatische Dramaturgien und umgekehrt hin. Der kleinste gemeinsame Nenner aller Inszenierungen scheint darauf hinzuweisen, dass die Utopie in der Entwicklung der dramatischen Form tatsächlich der Heterotopie der Gleichzeitigkeit der (post)dramatischen Mittel und Verfahren gewichen ist; dramatisches Geschichtenerzählen und dramatischer Dialog gehen oft direkt in nicht mehr dramatische Sprachspiele, -partituren und -flächen über. So bedient Antú Romero Nunes in seiner Inszenierung von Friedrich Schillers Geisterseher im Studio des Maxim Gorki Theaters oder in seinem Peer Gynt nach Henrik Ibsen am Schauspiel Frankfurt zum einen die Sehnsucht der meist jungen ZuschauerInnen nach Geschichten, stellt sie jedoch mit seinen ständigen Verweisen, es werde ja eigentlich gerade Theater gespielt, zugleich in Frage. Ähnlich inszeniert Nunes im Maxim Gorki Theater Oliver Klucks Prinzip Meese, im Vergleich zum dramatischen Text fällt jedoch die Re-Dramatisierung des ursprünglichen Stückes aus nicht an Figuren gebundenen Textfragmenten auf, das Publikum amüsiert sich über zwei deutlich erkennbare ‚Subjekte‘, über die virtuose Darstellung einer jungen Frau und eines jungen Mannes in einer durchaus dramatischen Zweierbeziehung, die freilich ständig zwischen angedeuteter Rollen- und SchauspielerInnenfigur hin und her wechselt. Ein solcher lässiger, abgeklärter Umgang mit Dekonstruktion von Identitäten, der jedoch dem Publikum nicht völlig den Boden an erkennbaren Handlungen und Figuren entzieht, könnte so etwas wie eine
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Gleich-Gültigkeit als Haltung zur dramatischen Tradition wie zu den Ansprüchen einer formalen Avantgarde reflektieren. Junge RegisseurInnen sind sich mutmaßlich bewusst, dass auf formaler Ebene annähernd alle Grenzen überschritten wurden und bedienen sich aus dem reichhaltigen Fundus der langen Geschichte traditioneller wie auch avantgardistischer dramatischer oder nicht mehr dramatischer Formen. Wobei im Vergleich zu den wichtigsten RegisseurInnen der mittleren Generation wie Stefan Pucher, Jossi Wieler, Andreas Kriegenburg, René Pollesch oder Frank Castorf einige Stilunterschiede auffallen: ‚Empirisch‘ gesehen und vor allem den zentralen Bereich der Gaußschen Normalverteilung der gesichteten Inszenierungen in den Blick genommen, fällt auf, dass die Inszenierungsmittel einer Stärkung der Vorstellung des ‚Subjekts‘ in der sozialen Situation zuzuarbeiten scheinen. Mitsamt den damit verbundenen Assoziationen von Autonomie und Selbstbewusstsein scheinen die Umrisse der Figuren wieder stärker gezeichnet zu werden, die Auflösungen, Aufbrüche und Dekonstruktionen scheinen etwas zurückgenommen zu werden. Das Regietheater der Jüngeren entfernt sich vom radikalen RegisseurInnentheater und nähert sich dem SchauspielerInnentheater, der postdramatische Gestus nach Brecht scheint zum Brechtschen Gestus zu ‚retardieren‘. Deutlich wird dies etwa in der kargen, minimalistischen, nichtsdestotrotz die Figuren als handlungsfähige und -verantwortliche Menschen in den Mittelpunkt stellenden Interpretation des Tschechowschen Kirschgartens von Tilmann Köhler in Dresden – dies fällt dann besonders auf, wenn man diese etwa mit dem Kirschgarten von Sebastian Hartmann am Centraltheater Leipzig vergleicht. Die meisten Inszenierungen gehen jedoch noch einen Schritt weiter: Einfühlung und Mitleiden werden nicht verhindert, zuweilen gar forciert, ohne ironisch zu werden oder erkenntnistheoretische Fallen aufzustellen, man vergleiche etwa die Inszenierung von Jette Steckels Othello am Deutschen Theater Berlin mit der von Stefan Pucher 2004 am Hamburger Schauspielhaus. Zwar wird Othello von einer Schauspielerin gespielt und die Zuschreibung von Alterität thematisiert, aber die Tragödie bleibt ohne doppelten Boden und auf die leidenden Figuren bezogen ernsthaft, es fehlt die popästhetische Leichtigkeit.
ATMOSPHÄREN EINER UND ‚E HRLICHKEIT ‘
NEUEN
E INFACHHEIT
Wie erscheinen die meisten Inszenierungen im Detail? Begonnen werden soll mit der Atmosphäre, mit dem Raum und dem Licht. Letzteres tendiert, etwa in Frank Abts Geschichten von hier I: Glaube Liebe Hoffnung am Deutschen Theater oder in Heike M. Goetzes Romandramatisierung von Max Frischs Stiller am Schauspielhaus Zürich, zu Brauntönen oder zu einem kühlen Blau, es erzeugt erdig-schwere Stimmung oder kühle, analytische Kälte, vermieden werden grelle, aktivierende,
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freundlich-poppige Farben und Gefühle. Meist ist die Anmutung der ZuschauerInnen, dass es hier um ernste Angelegenheiten geht, um die gegenwärtige Krise und nicht um die Spaßgesellschaft, die die 1990er Jahre dominiert hat. Der Raum ist entweder von vornherein sehr beengt, weil – ganz einfach zu erklären – Junge RegisseurInnen eher im Studio, in der Box oder im Werkraum inszenieren dürfen. Wenn es auf die Hauptbühne geht, dann wird die Spielfläche fast immer extrem verkleinert oder parzelliert, wobei aber der leere Raum zwischen der Spielfläche und den Bühnenwänden nicht versteckt wird. Was ist auf den verkleinerten Spielflächen zu sehen? Entweder wie in Nunes’ Geisterseher oder in Erpulats Verrücktes Blut fast nichts, wenig Requisiten, oder ein stilisierter Alltagsraum ohne Glanz und anziehende Ästhetik; man registriert eine möglichst unauffällige und attraktionslose ‚Normalität‘, oft auf die Lebenswelten der Unterschicht, des Prekariats oder des Kleinbürgertums verweisend. Meist haben alle Requisiten und Bühnenbildelemente eine Funktion in der Handlung – das auf das Notwendigste reduzierte Bühnenbild von Roger Vontobels Dresdner Don Carlos setzt sich deutlich von Stefan Puchers verspielt-übercodiertem Raum in seinem Sturm nach Shakespeare an den Münchner Kammerspielen ab. In diesen inszenierten, unfreundlichen, ‚Authentizität‘ vorspielenden Lebenswelten agieren von SchauspielerInnen eher gespielte, als ausgestellte Rollenfiguren. Wie bereits angedeutet, lädt das Spiel das Publikum zur Einfühlung ein, der gesprochene Text hebt sich nicht oder kaum von der SchauspielerIn ab. Auffallend ist, dass selten chorisch gesprochen oder skandiert wird, auch fehlt fast gänzlich die von Christoph Marthaler, Einar Schleef oder Andreas Kriegenburg gewohnte Aufteilung einer Rolle auf mehrere SchauspielerInnen oder auf einen Chor. Dies spricht für die eingangs formulierte These, dass die De-Konstruktion des ‚Subjekts‘ in der Figur von Jungen RegisseurInnen eher zurückgenommen wird. Der Nebentext wird hingegen häufig von den SchaupielerInnen gesprochen. Ganze Landschaften, Settings, Atmosphären und Situationen werden von den Figuren, die oft auch ständig wie bei Jürgen Gosch im Raum sichtbar bleiben, ‚erzählt‘, gerne über ein Mikrofon auf einem festen Ständer. Dass die Narration so im Vordergrund steht, deutet auf die neue Sehnsucht nach Geschichten, auch wenn diese nicht mehr vorbehaltlos ‚geglaubt‘ werden. Zudem wird sehr viel gesungen, jedoch nicht poppig und ironisierend wie bei Pucher oder betörend im Chor wie bei Marthaler. Die Gesangseinlagen grundieren vielmehr die Inszenierung in ihrer Gesamtaussage, halten so auch das gespielte Subjekt in der Rolle, stützen als singende Figur, die eben nicht aus der Rolle fällt, die ‚autonom‘ handelnde Figur in ihrem gespielten Selbstbewusstsein. Der Text ist dabei möglichst verständlich, stammt oft aus der dramatischen Vorlage, man singt deutsch, das Publikum erkennt Ähnlichkeiten zu Ich und Ich, Blumfeld, Tocotronic oder Sportfreunde Stiller. Besonders auffallend ist, dass in annähernd jeder zweiten Inszenierung eine von einer SchauspielerIn gespielte akustische Gitarre auf der Bühne zu sehen und zu hören ist. Hin
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und wieder kommen E-Gitarre und Schlagzeug hinzu, überhaupt wird viel unterstützend musiziert und so das Spiel atmosphärisch aufgeladen. Vergleichsweise wenig benutzt wird eingespielte Musik, werden Computer, Synthesizer, Sequenzer oder Rhythmusmaschinen. Man integriert gerne die Quelle der Musik in die Inszenierung, ähnlich wie im Dogma-Film versucht man, künstliche Hilfsmittel zu vermeiden. Dies scheint für einen Trend zur Inszenierung des ‚Authentischen‘, ‚Vertrauenswürdigen‘ und ‚Echten‘ zu stehen. Dieser Trend wird durch die Vermeidung von Videotechnik durch Junge RegisseurInnen gestützt. Video wird entweder kaum oder nur noch ganz sparsam eingesetzt, meist benutzt man möglichst kreativ Medien, die völlig aus der Mode sind, wie einen raumfüllenden Kopierer bei Jette Steckel in ihrer Inszenierung von Albert Camus’ Caligula am Thalia Theater Hamburg, oft Diaprojektoren für biografische Bilder oder Schattenspiele, ordinäre Taschenlampen als Bühnenscheinwerfer wie in Nunes’ Geisterseher, solide Mikrofone auf Ständern anstatt versteckter Mikroports, und Overheadprojektoren, die für die Projektion naiver Zeichentrickfilme zweckentfremdet werden, wie in Jan Philipp Glogers Inszenierung von Philipp Löhles Genannt Gospodin am Bayerischen Staatsschauspiel. Zu sehen ist sogar die steinzeitliche Medientechnik der Höhlenzeichnung, man kritzelt primitive Strichzeichnungen, Kinderzeichnungen ähnelnd, an die Wand, um Personen, Orte und Zeiten in Szene zu setzen. Oft übernehmen die SchauspielerInnen auch die Arbeit der Bühnenarbeiter, rücken sich ihr Bühnenbild und ihre Requisiten für jede neue Szene in die richtige Position. Auf jeden Fall scheinen junge RegisseurInnen jede Künstlichkeit und jede Virtuosität vermeiden zu wollen. Man will ‚echt‘ erscheinen, es wird nichts versteckt, es wird nicht getäuscht und verunsichert, es wird ‚ehrlich‘ und kreativ gespielt. Die Bühnenrealität soll als Repräsentation bzw. in ihrem referentiellen Bezug zur Wirklichkeit nicht so sehr und so schnell in Frage gestellt werden, es gibt keine verdeckten Bühnenhandlungen wie bei Frank Castorf, auch keine Videoübertragungen, die sich als Fake herausstellen wie bei Heiner Goebbels; wenn das Spiel der SchauspielerInnen über Videoübertragung auf die Bühne kommt, wie etwa in Nunes’ Peer Gynt, dann erkennt man überdeutlich das Frankfurter Bankenund Bahnhofsviertel. Die SchauspielerInnen spielen ihre Figuren ebenfalls so, dass sich die ZuschauerInnen meist einfach mit ihnen identifizieren können, man bemerkt keine entpersonalisierten Beckett-, Clowns- oder Meyerholdfiguren. Auch wenn wenige SchauspielerInnen mehrere Rollen spielen, bleibt jede Rolle im Moment jeweils stabil, prägnant und einem Subjekt gut zuordenbar, Irritationen werden vermieden, sogar das spärliche Crossdressing dient der aktuell gespielten Rolle. Die Kostüme sind in einem Stück, das in der Gegenwart spielt, zeitgenössisch, in einem Klassiker meist brav-bieder historisierend. Man bemüht sich höchstens um eine ‚sinnvolle‘ Aktualisierung im hermeneutischen und weniger dekonstruktivierenden Rahmen, so
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ähnelt Roger Vontobels Don Carlos diesbezüglich eher Peter Zadeks Wiener Kaufmann von Venedig als beispielsweise einer Einrichtung von Frank Castorf. Von Dialogizität kann kaum die Rede sein, der Schwerpunkt der Inszenierungen liegt überhaupt beim Dialog, wiewohl weiterhin oft vorne an der Rampe, zum Publikum hin gewendet gespielt wird. Plötzliches und psychologisch unmotiviertes Lautwerden wie bei René Pollesch oder rhythmisches Skandieren wie bei Einar Schleef, eine De-Konstruktion des Textes und der Medien kommen eigentlich nie und wenn, dann nicht vordergründig oder ausgeprägt vor.
N EUER MINIMALISMUS Wenn man die Inszenierungsästhetik der Jungen RegisseurInnen unter einen gemeinsamen Nenner bringen will, dann kann man von einem neuen Minimalismus sprechen. Damit werden von der Jungen Regie bewusst oder unbewusst der aktuelle Zeitgeist bzw. herrschende Mentalitäten und Diskurse aufgenommen. Der neue Minimalismus bestimmt die Ästhetik eines Apple-Computers genauso wie den Stil des Warenhauses Manufactum („Es gibt sie noch, die guten Dinge“). Er signalisiert Schnörkellosigkeit, Einfachheit, Ehrlichkeit und Effizienz. Man beobachtet ihn auch in der aktuellen Architektur, die sich von der verspielten Postmoderne ab- und der Bauhausästhetik zuwendet – form follows function. Dies scheint auf der Bühne mit einem zunehmenden Vertrauen in die Figuren und damit auch in ‚Subjekte‘ zu korrespondieren, vom Publikum wird wieder die Zuschreibung einer Figurenpsychologie einverlangt. Die Präsenz wird in den Inszenierungen zugunsten der RePräsentation etwas zurückgenommen, die Einfühlung durchaus gefordert und gefördert, zumindest aber nicht verhindert. Wir sehen eher SchauspielerInnen- als RegisseurInnentheater, man könnte es ein schauspielerInnen- und autorInnenfreundliches, kreatives, aber nicht regiedominiertes Regietheater nennen. Junge RegisseurInnen scheinen sich ähnlich wie ihre meist jungen ZuschauerInnen mehr für das, was ist bzw. was sie und ihre Generation tatsächlich betrifft, und weniger für den unverbindlichen Schein zu interessieren. Ihre inszenierte Welt und ihre Sicht darauf ist weitgehend ironiefrei, obwohl erstaunlich viel gelacht wird, aber eben nicht sinnvermeidend oder irritationsüberfördernd, sondern erkennbar mit dem Ziel, dasjenige sichtbar zu machen, was Michel Foucault als Gouvernementalität, also die aktuelle Herrschaft im Einvernehmen mit den Beherrschten, bezeichnete. Dazu gehören die Strukturen, Diskurse und Systeme, denen die gezeigten Subjektivierungen geschuldet sind, diese werden so bewusst und damit überhaupt erst diskutierund kritisierbar gemacht. Dabei soll nichts mehr verharmlost oder leicht genommen werden, man bemüht sich um Ernsthaftigkeit, interessiert sich für das Soziale und die krisenhafte Umwelt, erlaubt dabei mehr Repräsentation in der theatralen Präsenz, gerade um die Konstruiertheit heutiger Existenzen deutlich machen zu kön-
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nen. Es geht überhaupt um mehr ‚Authentizität‘ im Sinne einer erkennbaren Ähnlichkeit mit der außertheatralen Wirklichkeit, und, was das Subjekt in und außerhalb der Rolle betrifft, um die Frage bzw. Sehnsucht nach einer durchaus stabilen Identität in einer performativen Zeit, in der junge Menschen immer flexibler sein müssen, um anpassungsfähig, für den Markt und die Zickzackkurse der Politik brauchbar sowie funktionstüchtig zu bleiben und den ständig wechselnden Anforderungen der Medien als ‚Persönlichkeit‘ und äußerer Erscheinung zu genügen. Flexibilisierung ist für die jüngere Generation kein unbedingter Gegensatz zur Normalisierung. Insofern inszenieren Junge RegisseurInnen erkennbare ‚Subjekte‘ und prägnante psychologische Profile in einer minimalistischen Ästhetik, um sich von den wechselnden und oft auch in sich widersprüchlichen Subjektivierungen, denen ihre Generation unterworfen ist, ein kritisierbares Bild machen zu können.
L ITERATUR Breth, Andrea: „Wohin treibt das Theater“, Rede, gehalten auf der gleichnamigen Tagung der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung in Darmstadt am 21.10.2004, in: www.theaterportal.de/andrea_breth_wohin [01.10.2009]. Boenisch, Vasco: „Wir brauchen Anarchie!“, Interview mit Anna Bergmann, in: Süddeutsche Zeitung (03.09.2010), 12. Streeruwitz, Marlene: „Regie kann machen, was sie will“, in: taz (11.05.2010), 11.
Der Performer als Objekt seiner selbst Das Prinzip Schlingensief A NDREAS K OTTE Ich will das Leben überzeugen, dass es zum großen Teil inszeniert ist, und das Theater, dass es ohne das Leben überhaupt nicht auskommt. CHRISTOPH SCHLINGENSIEF1
Die Frage, was denn ein Performer sei im Unterschied zum normalen Schauspieler, soll mit einem Bezug auf Christoph Schlingensief beantwortet werden, der mehr als andere diesem Unterschied auch innerhalb der deutschen Sprache einen Sinn verliehen hat.2 Der Schauspieler war im 19. Jahrhundert ein Objekt des Dichters, im 20. ein Objekt des Regisseurs, aber der Performer ist ein Objekt seiner selbst. Dies soll nicht verstanden werden im partiell-akrobatischen Sinne wie bei Wsewolod Meyerhold, sondern in einem umfassenden Sinne der Persönlichkeit. Meyerhold formulierte 1922: „Das Theater auf den Lehrsätzen der Psychologie aufbauen wollen, bedeutet ein Haus auf Sand bauen: es wird unweigerlich zusammenbrechen.“ 3 Dem schließt sich Schlingensief an. Aber Meyerholds konstruktivistische Formel, die Kunst des Schauspielers bestehe in der Organisation seines Materials, des Körpers, er müsse dessen Ausdrucksmittel richtig einsetzen, 4 ist für Schlingensief nur 1 2
www.schlingensief.com/theater.php [09.02.2011]. Der Autor gehört trotz langjährigen Interesses leider nicht zu jenen SchlingensiefSpezialisten, die dessen Werk gesamthaft erklären wollen und können. Er hat einige Produktionen live erlebt, andere medial vermittelt zur Kenntnis genommen, über andere gelesen, aber einige kennt er überhaupt nicht.
3
Meyerhold 1979: 480.
4
„Im Schauspieler“, schreibt Meyerhold bezüglich der Biomechanik, „vereinen sich Organisator und Organisierter (also Künstler und Material). Die Formel für den Schauspieler sieht so aus: N = A1 + A2, wobei N der Schauspieler ist, A1 der Konstrukteur, der die
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eine Seite der Medaille, die in betont demonstrativen Handlungen zum Ausdruck kommt, wenn er etwa im Wahlkampfzirkus ’98 als Wahlkämpfer die Arena durcheilt und waghalsig verschiedenste Podien erklimmt, Gerüste erklettert, mit den Händen gegen Leinwände schlägt, auf welche Politiker-Porträts projiziert werden. In diesen Momenten ist die Zerlegung in den Konzeptgestalter Schlingensief und in den ausführenden, gefährdeten Körper wie mit Händen zu greifen, die akrobatischen Künste wären durchaus nach Meyerholds Geschmack: Schlingensief ist ein Schauspieler, der die Biomechanik beherrscht. Er und seine Akteure offerieren dabei die unterschiedlichsten Professionalitätsgrade. Ein kleinwüchsiger Mann moderiert den Verkauf der Gedichte einer geistig Behinderten, die, aus Hamburg extra angereist, kaum in der Lage ist, die Gedichte vorzulesen. Dann versteigert ein Moderator Besteck- und Plastik-Schüssel-Sets zu hohen Preisen. Er rügt das kaufunwillige, distanzierte Publikum, lobt die wenigen Käufer, das sei ein Vorgeschmack auf den Wahlkampf. Artisten überqueren ein Drahtseil, nach ihnen Schauspieler. Sie spielen und kämpfen auf dem brusthohen Seil. Dann dürfen Zuschauer hinaufklettern unter dem Slogan: „Du kannst es schaffen, wenn du willst!“ Die Artisten-Familie Sperlich zeigt eine Pferde-Dressur. Auch Zuschauer dürfen in die Manege klettern und versuchen, auf die Pferde aufzuspringen. Nachher eine Violinistin. Der Wahlkampf startet schließlich von einer Extra-Tribüne mit Ehrengästen. Seltsamerweise als Zirkusdirektor im roten Husarenrock berichtet Schlingensief über die Anstrengungen der Parteigründung „Chance 2000“, die Abspaltung der „Partei der letzten Chance“ und die schwierige Wiedervereinigung. Er stellt die Gäste vor, Behinderte und Arbeitslose, die sich als Direktkandidaten für die Bundestagswahl aufstellen lassen. Sie werben mit Schlingensief für den Parteieintritt. „Wähle dich selbst!“, denn: „Better to vote for what you want and don’t get it, than to vote for what you don’t want and get it.“ Eine Taubennummer wird wie die Drahtseilnummer zuerst von Profis ausgeführt, dann von Schauspielern und Laien. Filme von Politiker-Diskussionsrunden an Wahlabenden flimmern über eine Leinwand. Schlingensief turnt hinauf und verpasst den Lichtgestalten Ohrfeigen, dass die Leinwand bebt. Die Gesichter verformen sich und er ruft: „Du kannst es schaffen, wenn du willst!“. Doch Schlingensief springt nicht nur als Wahlkämpfer durch die Manege, er tut dies auch als Zirkusdirektor, Moderator und Regisseur. Die Zuschauenden können das Konzept Wahlkampf partout nicht sinngebend mit der ständigen Hyperaktivität Schlingensiefs verbinden. Sie sind und bleiben verwirrt. Der echte Zirkusdirektor, Herr Sperlich, deklamiert traurige Verse über das Zirkusleben. Seine Tochter schwebt am Seil unter der Zirkuskuppel und ein Schauspieler zertrümmert mit einem Teller 20 andere eines Stapels. Eine Panne jagt die andere und immer wieder Idee konzipiert und befiehlt, sie zu realisieren. A2 – das ist der Körper des Schauspielers, der die Aufgaben des Konstrukteurs (A1) ausführt“ (Meyerhold 1979: 478-480).
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verirrt sich eine Ziege in die Manege. Das Publikum erlebt weder Zirkus, noch Wahlkampf, noch Theater, höchstens alles zugleich.5 Wie sich Meyerhold über die Körperbeherrschung freuen würde, so stieße ihn die andere Seite ab: das ‚Blurring‘, die totale Vermischung und Verwischung aller Rollen, eine Besonderheit des Performers. Als die Leinwand unter Schlingensiefs Schlägen bebt, verlassen besonders viele Zuschauer das von Schlingensief gemietete Zelt des Circus Sperlich im Prater.6 Sie halten es einfach nicht aus, dass unklar bleibt, wofür sich Schlingensief hält, für den Zirkusdirektor, den Regisseur oder den Wahlkämpfer, wen er wirklich spielt und wer er eigentlich ist, und wozu er sich entschließt. Ob er alle Rollen oder keine ernst nimmt, und vor allem: ob er tatsächlich eine politische Absicht verfolgt oder nur auffallen will. Er ist kein Schauspieler mit überschaubarer Rollenvariabilität, sondern ein Performer, der durch rationale Kreation und arationalen Wechsel von Rollen fasziniert. Dabei können körperliche Konsequenzen eintreten, man kann sich Arme oder Beine brechen beim Sprung auf den Rücken eines Pferdes, das Publikum, das eigentlich zum Eintritt in eine Partei animiert werden soll, kann beschimpft und verprellt werden. Verstörend ist, nicht einem Subjekt zuzuschauen, das seinen Körper in nachvollziehbarer Weise zum Objekt macht, sondern einem Subjekt, das seinen Körper ausstellt, die eigene Subjekthaftigkeit aber vollkommen verbirgt, den Schauenden vorenthält, wobei noch jeder Abend der Produktion gänzlich anders verläuft. – Lassen sich solche Beobachtungen zum Performer in irgendeiner Weise objektivieren oder wenigstens als Anregung versinnbildlichen?
V ERORTUNG DES P ERFORMERS Schlingensief erweist 1998 nicht die Sprache oder den Sprechakt als die eigentlich genuine Komponente von Theater, sondern das Spiel, denn es bringt szenische Vorgänge hervor. Sprache und Sprechakt können dabei helfen, aber Spiel ist die Lust, Ursache zu sein.7 Würde man die menschlichen Tätigkeiten in einer Ebene verteilt darstellen wollen, ergäbe sich neben dem unwillkürlichen Verhalten zunächst ein riesiges Feld von Handlungen unter dem zentralen Kriterium der Pflicht-
5
Siehe Kotte 1999: 159.
6
Wahlkampfzirkus ’98. Regie: Christoph Schlingensief, im Garten der Spielstätte Prater der Volksbühne Berlin, Premiere: Freitag, 13.03.1998, Vorstellung: 04.04.1998.
7
Der Satz ist der Spieldiskussion in der Kinderpsychologie entlehnt, der „Lust, Ursache zu sein“ bzw. „Freude, Ursache zu sein“, worauf Jean Piaget (nach Karl Groos) immer wieder hingewiesen hat (siehe Piaget 1969: 122-123).
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erfüllung, die Gebrauchs- oder Tauschwerte schafft.8 Solche nicht-spielerischen Tätigkeiten können z.B. in der Kindererziehung oder in kreativen Berufen auch Anteile spielerischen Handelns besitzen, aber rein spielerische Pflichterfüllung gibt es nicht. Insofern bilden die spielerischen Tätigkeiten eine Oase in der Wüste der Pflichterfüllung.9
Abbildung 1: Raum für spielerisches Handeln. Nennt man diese Oase nun zum Beispiel playing culture und sucht nach ihrem Zentrum, dem punctum saliens oder der Quelle, findet man das ganzheitliche Spiel, das im Tierspiel oder in Formen des Kinderspiels – man beobachte Kinder am Strand, die eine Sandburg bauen – durch einen völligen Zusammenfall von Realität und Spiel gekennzeichnet ist. Nimmt man dieses Spiel zum Ausgangspunkt und sieht wachsende Fähigkeiten zur Differenzierung zwischen Realität und Spiel bei Erwachsenen als gegeben an, so kann nach der Art dieser feinen Abstufungen gefragt werden. Johan Huizinga bietet in einer seiner Definitionen für Spiel eine Dif-
8
Siehe Kotte 2005: 15-16, 56-57.
9
Beobachtet man Kinder beim Spiel, verwirft man intuitiv das falsche Gegenwort Ernst, denn etwas Ernsteres als Kinderspiel gibt es wohl kaum. Als Gegenwort zu Spiel bleibt nur Pflicht übrig.
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ferenzierung nach den Konsequenzen des Geschehens und nach dessen Hervorhebung an. Für ihn entfaltet sich Spiel in den höheren Formen als „ein Kampf um etwas oder eine Darstellung von etwas. Diese beiden Funktionen können sich auch vereinigen, in der Weise, dass das Spiel einen Kampf um etwas ‚darstellt‘ oder aber ein Wettstreit darum ist, wer etwas am besten darstellen kann.“10 Damit etabliert er zwei Koordinaten und verknüpft sie im ganzheitlichen Spiel. Ein Feld entsteht, das vom ganzheitlichen Spiel nach oben die „Darstellungen von etwas“ aufnimmt, die jeweils vom ganzheitlichen Spiel nach rechts gestaffelt eine gewisse Konsequenzsteigerung erfahren. Wie deutlich wird hier hervorgehoben beziehungsweise dargestellt? Wie sehr heben sich diese von unauffälligen Handlungen ab? Wie harmlos oder nachhaltig ist der „Kampf um etwas“ und welche Ergebnisse zeitigt er? Jene spielerischen Handlungen, denen beide Komponenten zukommen, können als szenische Vorgänge bezeichnet werden. Sie interessieren die Theaterwissenschaft deshalb so außerordentlich, weil immer wieder Zuschauende dazu neigen, einige davon ‚Theater‘ zu nennen. Die Huizingasche Definition reicht durch ihr erstes ‚Oder‘ nach oben bis zu bloßen Darstellungen, das heißt Bildern oder künstlerischen Installationen ohne Konsequenzsteigerung oder -verminderung, auch ohne Kampf. Und zweitens schließt sie die bloßen spielerischen „Kämpfe“ ohne Hervorhebung ein, wie zum Beispiel Sprach-, Lern-, Glücks-, Karten-, Brett- und weitere Spiele. Diese theaterwissenschaftlich weniger bedeutsame Gruppe gehört sehr wohl zu einer playing culture, ist aber in einem Koordinatenfeld, das vom ganzheitlichen Spiel her die Huizingasche Definition versinnbildlicht, nur auf der waagerechten Linie repräsentiert. Während ganzheitliches Spiel oder ein Kampf um etwas notfalls auch individuell vollzogen werden können, verlangt Dar-Stellung stets eine Ausweitung auf mehrere Individuen, die, einmal systeminhärent, sich auf die beiden anderen Komponenten als Anforderung überträgt.11 Die im Feld vorkommenden Geschehnisse beziehen sich deshalb alle auf mehrere Personen oder Gruppen, die sich in vor-
10 Huizinga 1987: 22. 11 Im Feld werden bestimmte Handlungen von Menschen gegenüber den Handlungen anderer Menschen akzentuiert. Darstellung hebt im Lebensprozess bestimmte Vorgänge hervor. Das geschieht örtlich, z.B. durch eine Bühne, gestisch, z.B. bezüglich der Bewegungen eines Dirigenten, akustisch, z.B. im Verkaufsgebaren eines Marktschreiers, oder aber durch dingliche Attribute, wenn z.B. Prunkgewänder oder Masken benutzt werden (siehe Kotte 2005: 21-31). Wie leicht zu erkennen ist, sind die vier Hervorhebungskriterien – als nun eine von zwei Komponenten – aus der Theatersemiotik entlehnt worden, nachdem sie dort die Aufgabe, Theater ganzheitlich zu erfassen, nicht erfüllen konnten (siehe Kowzan 1968: 52-80).
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nehmlich Agierende und vornehmlich Schauende aufspalten, deren Handeln graduell differiert. Dem sich vom ganzheitlichen Spiel her öffnenden Feld müssen, weil die spielerische Qualität in beiden Dimensionen nur noch abnehmen kann, Grenzen erwachsen, in denen Spiel erlischt. Nach oben ist dies, wie angedeutet, die Grenze absoluter Darstellung im Bild, in dem Darstellung gefriert, wie zum Beispiel in Installationen, etwa ‚Living Sculptures‘ in der Nachfolge von Gilbert & George, welche sich zwischen 1969 und 1977 oft selbst als Kunstwerk ausstellten, sowohl singend als auch unbeweglich.12 Nach rechts ergibt sich als Konsequenzverstärkung des Kampfes die Grenze im möglichen Tod von Beteiligten. Auf dem Tableau nimmt die spielerische Interaktion nach oben zu Gunsten eines Repräsentationsanspruchs ab, nach rechts sinkt sie über immer risikoreichere Vorgänge, zum Beispiel von der Parade oder anderen öffentlich-militärischen Übungen bis zur Schlacht, in der schließlich eine agierende, reagierende oder interagierende Seite Schaden an Leib und Leben nehmen kann. In beiden Fällen, Bild und Tod, wird die Verhaltensdifferenz von Agierenden und Zuschauenden irreparabel geschädigt, indem die Agierenden nicht mehr agieren wollen oder können. Das immer risikoreichere Geschehen bis hin zum Tod kann aber auch extrem hervorgehoben, dar- und ausgestellt werden (oben rechts), wenn man an die Hinrichtung Ludwigs XVI. am 21. Januar 1793 in Paris denkt oder an heutige öffentliche Hinrichtungen. Mit diesen drei Grenzen ist das Feld abgesteckt, in dem sich alle spielerischen und anteilig spielerischen Vorgänge auffinden lassen. Sie existieren als ein kontinuierlich gespeistes, unerschöpfliches Potential, das soziale Phantasie freisetzt. Sie heißen szenisch, weil darin Inszenierung anklingt, mise en scène, Inszenierung im Alltag, noch vor jeder Diskussion über Theater. Was aber hat ein solches Feld mit Christoph Schlingensief und der Frage nach Schauspieler oder Performer zu tun?
F ELDVERSUCHE Das Feld ist in der Auseinandersetzung mit seinen Arbeiten entstanden, musste nur noch begrenzt werden. Denn wie sollte man eine Aktion wie das Angst-Pfahlsitzen an der Biennale in Venedig 2003 anders kennzeichnen als einen szenischen Vorgang von extremer örtlicher Hervorhebung, zwar konsequenzvermindert, da die Pfahlsitzer alle drei Stunden für 15 Minuten den Platz verlassen dürfen, aber insgesamt verharren doch sieben junge Leute aus sieben Ländern während sieben Tagen – laut Programm: 24 Stunden – auf den Pfählen der Church of Fear als Säulenheili-
12 Siehe Goldberg 2001: 167–170.
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ge. Christoph Schlingensief proklamiert selbst das Spiel mit den sieben Pfahlsitzern als „einen Wettstreit“, in dem es darum gehe, „nicht gegeneinander“ anzutreten, sondern gegen „die Fremdverwalter ihrer Ängste und Nöte“.13 Wir bekennen uns zu unserer Angst – das soll demonstriert werden in einer Weise, in der das Handlungsmoment stark zurücktritt, fast ganz im Bild erlischt. Während dieses Beispiel als Ganzes einen eindeutigen Platz im Feld an jener Stelle einnimmt, wo wie bei Installationen Spiel verschwindet und der Vorgang im Bild gefriert, ist die HamletAufführung in Zürich 2001 ein wesentlich komplexeres Konglomerat verschiedener Vorgänge.14 Christoph Schlingensief spielt in seiner Inszenierung einerseits selbst die Rolle des Fortinbras, andererseits tritt er immer wieder als Regisseur auf, oder auch als er selbst, und greift in das Bühnengeschehen ein oder erläutert die Inszenierung, die sich in ihren Komponenten über das gesamte Feld verteilt: Sie nimmt teilweise spielerisch-chaotische Züge an, wie etwa beim Einzug der Schauspieler (links, Mitte).15 Schlingensief offeriert mit Claudius und Gertrud aber auch konventionelles Schauspielertheater 16 (Mitte, eher oben), sorgt durch die Einbettung in eine Aktion mit der Bezeichnung Nazi-line, an der deutsche Neonazis beteiligt sind, die als aussteigewillig bezeichnet werden, schon im Vorfeld für Aufruhr (oben, rechts), der noch anschwillt mit Schlingensiefs Unterschriftensammlung für ein Verbot der rechtskonservativen Schweizerischen Volkspartei, SVP (unten, Mitte). Mit provozierenden Kommentaren kann Schlingensief den Beginn der Hamlet-Vorstellung auch stark verzögern. Wenn dann nach längerer Zeit das Publikum danach verlangt, endlich Hamlet zu sehen, das Stück, die Inszenierung, entgegnet er: „Bitte hören 13 www.church-of-fear.net/deutsch/venedig/pfahl-venedig.html [09.02.2011]; eine Bildergalerie der Produktion findet sich unter: www.church-of-fear.net/deutsch/galerie/bilderpfahl.html [09.02.2011]. 14 Hamlet. Regie: Christoph Schlingensief, Schauspielhaus Zürich, Premiere: 10.05.2001, Vorstellung: 23.12.2001. 15 „Mit einer imposanten Geste kündigt Polonius die Schauspieler als ‚die besten Schauspieler der Welt‘ an. Das Ensemble spendet großen Beifall und sich überschlagende Sopranstimmen werden ab Band gespielt. Rote und weiße Federn schneien vom Bühnenhimmel und Statisten tragen Fahnen herein, auf denen Rosa Luxemburg, Joseph Beuys, Rainer Werner Fassbinder u.a. abgebildet sind. Bevor die Statisten, gefolgt von den Schauspielern, wieder abgehen, drehen sie mit den Fahnen eine Ehrenrunde auf der Bühne. In dieses Pathos platzt Schlingensief hinein, der auf der Vorderbühne auf eine imaginäre Klaviatur einhämmert. Ab Band erklingt heitere Xylophonmusik und über seinem Kopf ragt ein Banner mit der Aufschrift „Schlingensief Entertainment“. Während Schlingensief im Vordergrund den Hampelmann gibt, begleiten ihn die Statisten im Hintergrund mit einer einfachen Tanzchoreographie“ (Leupin 2007: 265). 16 Christoph Schlingensief: Hamlet - This is your family. Schlingensiefs Züricher HamletInszenierung. DVD 2012.
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Sie doch mal auf, hier immer so herumzumurmeln. Sie sind hier, haben die Karte bezahlt, um die Klappe zu halten, verstehen Sie!“ Auch bei Publikumsgesprächen treibt der Provokateur Teile des Publikums aus dem Saal (rechts, Mitte). Gegenüber dem eindeutig als Installation fixierten Pfahlsitzen wird also in Hamlet – wie in der Bahnhofsmission in Hamburg 1997,17 im Wahlkampfzirkus ’98 in Berlin, in Ausländer raus! in Wien 2000 oder in der Kirche der Angst vor dem Fremden in mir 2008 in Duisburg-Nord und 2009 in Berlin der gesamte Raum der Möglichkeiten szenischer Vorgänge genutzt. Das ist das Prinzip Schlingensief, der Performer (Mitte, Mitte). In seinen kleineren Produktionen wie Pfahlsitzen testet er Mittel; in den großen Produktionen treibt er die Darstellung von etwas und den Kampf um etwas und die Verbindung von beidem in die Extreme; vom Kinderspiel (Kind Nicolai, spielt in Hamlet mit Holzkreuz und Requisiten auf der Bühne, wird manchmal von Schlingensief weggeschickt; links, unten) bis zur Bildwerdung von Vorgängen, zur tatsächlichen Gefahr oder Konsequenz und deren extremer Ausstellung. Der Vorteil einer solchen Verteilung von Vorgängen im Feldversuch besteht darin, dass dies nach subjektivem Ermessen geschieht und daher Erörterungen und Diskussionen nach sich zieht. Das Feld zum Vergleich szenischer Vorgänge ist ein theoretisches Werkzeug (Tool), das vielfältig benutzt werden kann: Es können sowohl ähnliche und deshalb zu Gruppen zusammengefasste Phänomene als auch unterschiedliche Einzelerscheinungen verschiedener Provenienz auf ihre Charakteristika hin getestet werden. Zum Beispiel lassen sich die verschiedensten Turnierformen auffächern oder alle Performances von Marina Abramoviü miteinander vergleichen; aber ebenso können die Besonderheiten eines Königseinzugs gegenüber einer Fronleichnamsprozession herausgearbeitet werden. Auf beiden Gebieten kann auch zeitübergreifend verglichen werden, etwa Fußball im mittelalterlichen England mit der heutigen Ausprägung von Fußball oder eben mit heutigen Produktionen von Robert Lepage. Wie in den Naturwissenschaften gilt es, jeweils den Sinn der Versuchsanordnung, den Sinn des Vergleiches zu begründen sowie die erwarteten und die erreichten Ergebnisse darzulegen.
D IE T HEATERFORMEN UND DER P ERFORMER Schlingensief verknüpft, collagiert, bricht, potenziert und wechselt Ebenen oder Räume, die sonst als Zentren einzelner Theaterformen festgeschrieben zu sein
17 Passion Impossible – 7 Tage Notruf für Deutschland. Eine Bahnhofsmission. Regie: Christoph Schlingensief, Hamburg 1997.
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scheinen. Zum Beispiel kann man Abstufungen bei Theaterformen bezüglich des Bildcharakters unterscheiden, etwa zwischen von Augusto Boal inspiriertem Unsichtbaren Theater (unten, Mitte) und Robert Wilsons Bildertheater (oben, Mitte). Im Unsichtbaren Theater von Dermo, im Stück RESTaurant, spielen dreißig trainierte Laien und Schauspielschüler für zwei Gäste ein Dinner mit kleinen Komplikationen, die kaum hervorgehoben sind, weshalb die beiden Gäste sie für real halten.18 Im Gegensatz hierzu zelebriert Robert Wilson 2006 in Berlin mit Heiner Müllers Quartett (Besetzung: Isabelle Huppert und Ariel Garcia Valdès) ein perfektes Bildertheater mit extremer Hervorhebung und Stilisierung.19 In Sasha Waltz’ Tanzstück Jagden und Formen20 dominiert 2008 im Haus der Berliner Festspiele spielerische Bewegungslust, die vom Vorgang statt vom Bild lebt (links, Mitte) und dabei vom Violinenspiel bis zur Schlachtszene ganz unterschiedliche Grade von Konsequenzen aufweist, während Marina Abramoviü im MoMA, New York, in ihrer Performance The Artist is Present von März bis Mai 2010 721 Stunden auf einem Stuhl sitzt, wechselnden Menschen, die sich ihr gegenüber hinsetzen, ins Gesicht schaut und damit einmal mehr an die Grenzen ihrer physischen Konstitution vorstößt. Dieses Mal setzt sie sich hoch gefährlicher Dehydrierung aus. Die sonst Schauenden werden ob der Bewegungslosigkeit der Abramoviü zu Agierenden. Sie spiegeln in ihren Blicken die eigene Befindlichkeit. Eine halbe Million Besucher kommt ins MoMA, am letzten Tag allein 11000, auf den leeren Stuhl wartet man 18 bis 20 Stunden. Abramoviü’ Test in Selbstbeherrschung oder Selbstkasteiung mag einigen Menschen helfen, sie sogar verändern. Ganz sicher ist er extrem ausgestellt und zugleich in seinen Konsequenzen weniger vermindert als jeder Tanz (rechts, oben). Tagsüber verlässt sie den Stuhl nicht. Daher kann sie am Morgen nichts mehr trinken. Abramoviü muss jede Nacht alle 45 Minuten geweckt und zum Trinken animiert werden, um nicht innerlich auszutrocknen. Nicht ganz grundlos hat Marina Abramoviü einige ihrer Aufführungen als Probe für den Tod bezeichnet. 21 An diesen Beispielen wird deutlich, wie sich Theaterformen im Feld verteilen und dort vergleichend diskutiert werden können. Wilsons Theater konstituiert sich über das Bild und stellt sich oftmals gegen den Text. Der Faktor Zeit passt sich bei ihm nicht der Wahrscheinlichkeit von Bühnenhandlungen an, sondern stützt allein 18 Siehe Field 2009. In sechs Wochen Spielzeit wurde bis zum 01.04.2009 für insgesamt vierzig Gäste bzw. Besucher gespielt. 19 Quartett. Regie: Robert Wilson, Haus der Berliner Festspiele, Berlin, 21.12.2006. Isabelle Huppert (Merteuil), Ariel Garcia Valdès (Valmont). 20 Jagden und Formen. Choreographie: Sasha Waltz, Haus der Berliner Festspiele, Berlin 2008. 21 Siehe Oehmke 2010; 120-123. The Artist Is Present (14.03.-31.05.2010), Museum of Modern Art, New York.
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die Bildwirkung. Es wird gegen Erwartungshaltungen verstoßen, die von Theater fordern, lebensadäquat zu sein. Die anstrengende Kunst Wilsons kontrastiert das anstrengende Leben Boals, hier Dermos (Pseudonym eines Künstlers), das Klarheit – bezüglich gespielt oder nicht? – oftmals vermissen lässt. Für die beiden Theaterformen wie für Tanz oder Performancekunst gibt es im Feld angestammte Plätze, von denen sie sich von Fall zu Fall entfernen können, was Zuschauende häufig als anregend oder innovativ empfinden. Gezeigt werden kann im durchgeführten Feldexperiment, wie sich im Beispiel Hamlet 2001, aber auch in allen Großproduktionen Schlingensiefs zwischen Wahlkampfzirkus ’98 und Mea Culpa 2009 für Schlingensief eben kein angestammter Platz finden lässt, es sei denn die Mitte als Ausgangspunkt, um alle Ecken zu erobern.
D IE MEDIATISIERUNG Bisher wurden face-to-face Situationen beschrieben, in denen die Spielkomponenten ‚Darstellung von etwas‘ und ‚Kampf um etwas‘ als Hervorhebung und Konsequenzsteigerung nicht nur anteilig vorkommen, sondern sich als Funktionen vereinigen. Doch wer noch unter dem Eindruck der suggestiven Inszenierungen von Eine Kirche der Angst vor dem Fremden in mir oder Mea Culpa steht, vermisst in dieser spielerischen Versinnbildlichung ein zentrales Element, nämlich das der Mediatisierung und Generierung von Vorgängen, die dann vom Inszenator als vollwertige Spielelemente eingesetzt werden. Wenn Darstellung im Bild gefroren erscheint, können die Bilder zum Beispiel im Film technologisch wieder in Bewegung versetzt werden. Und jenseits dessen, dass der Tod die Verhaltensdifferenz zwischen Agierenden und Schauenden auflöst, können Vorgänge auch gänzlich digital ‚geboren‘ oder hergestellt werden. In beiden Fällen verschwindet die face-to-face Situation, aber der technologische Fortschritt hat mit enorm ähnlichen medialen Vorgängen für Ersatz gesorgt. Die obere Grenze kann also durch die Mediatisierung von szenischen Vorgängen, beispielsweise durch Videoeinsatz, überwunden werden, die Grenze rechts im Schema durch die Generierung von medialen Vorgängen mittels Computer, etwa von Sauriern für Jurassic Park, von Figuren für Shooting Games oder Cybertheater.
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Abbildung 2: Mediatisierung und Generierung von medialen Vorgängen. Die Mediatisierung ist eine Transformation von szenischen in mediale Vorgänge mittels Kamera. Sie vermag außerhalb des menschlichen Auges Befindliches abzubilden, zu verarbeiten und Speicher- oder Übertragungsmedien zuzuführen. Der Prozess verläuft über die Bildwerdung. Gerade der Eintritt in eine ‚leibfreie Sphäre‘ entlastet psychisch und macht das elektronische Bild so begehrenswert und faszinierend. Im Bild erlischt der szenische Vorgang. Die Kamera verwertet Landschaften, Räume, alltägliche Szenen mit Personen, die nicht wissen, dass sie gefilmt oder digitalisiert werden. Häufig kommen szenische Vorgänge hinzu, die aufgenommen und dadurch mediatisiert werden, etwa bei Talkshows oder Spielshows, wenn außer der Moderatorin ein Publikum anwesend ist, dessen Reaktionen in das Gesamtgeschehen einfließen. Beim Film finden sich auf der Seite der Schauenden Personen, die für Regie, Skript, Beleuchtung, Requisite usw. verantwortlich sind: das Produktionsteam. Die Agierenden spielen doppelt, für dieses Team im szenischen Vorgang und für die Kamera im medialen. Schlingensief, selbst vom Film und Video her kommend, verzichtet selten auf deren Wirkungspotential. In Kunst & Gemüse, A. Hipler, Volksbühne Berlin 2004, waren gleichzeitig links oben über der Bühne übergroße Einblendungen eines mediatisierten szenischen Vorganges zu sehen, während rechts oben auf einer weiteren Leinwand die Generierung von medialen Vorgängen mittels Computer stattfand. Denn Schlingensief präsentierte in Kunst & Gemüse den Vorgang des Generierens selbst: Die an ALS erkrankte und völlig
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bewegungsunfähige Angela Jansen kommunizierte während der Vorstellung, in den ersten Reihen der Volksbühne auf einem Gestell liegend, mit dem Publikum über Eyegaze, ein elektronisches System, das es ihr erlaubte, mit den Augen eine Bildschirmtastatur zu bedienen. Es entstand zwar keine mediale Spielszene, aber zumindest computergenerierte Schrift. Das Prinzip Schlingensief, von anderen Regisseuren partiell übernommen, nutzt nicht nur alle Möglichkeiten szenischer Vorgänge, sondern erweitert sie um die Möglichkeiten medialer Vorgänge. Dem Als-ob verpflichtete Schauspieler sind in weit geringerem Maße Objekt ihrer selbst als ein solcher Performer, weil durch das Ausloten auch der Grenzbereiche von Spiel eine größere Verbindlichkeit entsteht, die sich bei ihm zum Beispiel in der darstellerischen Begleitung des eigenen Sterbensprozesses äußert. Sie entsteht bei Performern wie Stelarc, Orlan oder Marina Abramoviü nur in körperlicher Hinsicht, bei Schlingensief aber, wenn Persönlichkeit die soziale Qualität des Menschen ist, bezüglich dieser ganzen Persönlichkeit – und Spiel ist eben die Lust, Ursache hierfür zu sein.
L ITERATUR Goldberg, RoseLee: Performance Art. From Futurism to the Present. London: Thames & Hudson Ltd. 2001. Field, Andy: „Invisible theatre: so real you don’t even know it’s happening“, in: the guardian Theatre Blog (01.04.2009).www.guardian.co.uk/stage/theatre blog/2009/mar/30/invisible-theatre-boal-acconci [09.02.2011]. Huizinga, Johan: Homo Ludens. Vom Ursprung der Kultur im Spiel. [orig. 1938] Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1987. Kotte, Andreas: „Der Mensch verstellt sich, aber der Schauspieler zeigt. Drei Variationen zum Theater im Medienzeitalter“, in: Balme, Christopher et al. (Hg.): Horizonte der Emanzipation. Texte zu Theater und Theatralität. Berlin: Vistas 1999, 151-168. Kotte, Andreas: Theaterwissenschaft. Eine Einführung. Wien: Böhlau 2005. Kowzan, Tadeusz: „The Sign in the Theatre“, in: Diogenes 61. Zürich 1968, 52-80. Leupin, Rahel: „Grenzgänge zwischen Kunst und Politik. Joseph Beuys und Christoph Schlingensief“, in: Kotte, Andreas (Hg.): Theater im Kasten: Rimini Protokoll • Castorfs Video • Beuys & Schlingensief • Lars von Trier. Zürich: Chronos Verlag 2007, 219-290. Meyerhold, Wsewolod E.: Schriften, Bd. 2, 1917-1939. Berlin: Henschelverlag 1979. Oehmke, Philipp: „Die 721-Stunden-Frau“, in: Der Spiegel 23 (2010), 120-123. Piaget, Jean: Nachahmung, Spiel und Traum. Stuttgart: Klett 1969.
Die Kunst des Abschiednehmens Überlegungen zu Christoph Schlingensiefs Inszenierung von eigenem Sterben und Tod S ANDRA UMATHUM
Der Tod ist seit jeher ein zentraler Gegenstand der Kunst. Vielleicht lässt sich sogar sagen, dass die Unausweichlichkeit von Tod und Sterbenmüssen für die Existenz und Existenzwerdung von Kunst eine wesentliche Grundlage bildet. Maurice Blanchot, der das Sterben als einen Prozess der sukzessiven Bildwerdung beschreibt, an dessen Ende wir lediglich in einem Zustand der Ähnlichkeit mit uns zurückbleiben, erkennt im Tod sogar die Urszene der bildenden Kunst selbst.1 In dem Maße, wie der Tod und das Sterbenmüssen selbstverständlich nicht nur für die bildende Kunst, sondern für alle Künste immer schon Grund und Motivation gewesen sind, markiert die Kunst zugleich jenen Bereich, in dem der Tod und das Sterbenmüssen mitsamt ihrer Unfassbarkeit in unterschiedlichen Spielarten zur Aus- und Darstellung gelangen. Künstlerische Auseinandersetzungen mit dem Tod weisen eine lange Geschichte auf, und die zeitgenössischen Ansätze, auf die ich meine Aufmerksamkeit richten möchte, okkupieren in dieser Geschichte nur einen Teilbereich. In diesem Teilbereich tritt der Künstler nicht in Erscheinung als jemand, der den Tod als eine abstrakte, eine a-personale Gegebenheit verhandelt. In Erscheinung tritt er vielmehr als jemand, der seinen eigenen Tod thematisch werden lässt – und zwar nicht seinen womöglich erst in unbestimmter Ferne liegenden Tod, sondern, und dies ist entscheidend, seinen Tod als eine Gegebenheit, deren Nähe und baldiges Eintreten Wahrscheinlichkeit beanspruchen. Kunst wird hier zum Ort der Auseinandersetzung mit der eigenen Vorbereitung auf den Tod, dem eigenen Prozess des Abschiednehmens oder anders gesagt zum Schauplatz des Höchstpersönlichen und
1
Siehe Blanchot 1951: 28-32.
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gleichsam der existenziellsten Bedrohung: dem finalen Selbstverlust und mithin jenem Moment, in dem man als Subjekt aufhört, noch länger Subjekt zu sein. Wie etwa Volker Adolphs gezeigt hat, besitzt die Selbstthematisierung des dem Tod sich gegenüber wissenden Künstlers insbesondere in der Malerei, im Selbstportrait, eine lange Tradition.2 In den Raumkünsten, dem Theater, der Performance oder Installationskunst, ist sie hingegen ein noch verhältnismäßig junges Phänomen. Hier ist die Selbstthematisierung des eigenen Todes erst mit der Performance Art aufgekommen, in der das Künstlersubjekt zu einer Figur avancierte, die sich selbst, ihre Identität, ihre Biografie, ihre Gedanken und Gefühle zum Gegenstand der szenischen Darstellung macht und sie in der szenischen Darstellung gleichsam mit hervorbringt. Was damit nicht angesprochen ist, sind all jene Produktionen, in denen Künstlerinnen und Künstler durch den Entwurf einer risikoreichen Situation den Tod als ein potenzielles Ereignis inszenieren und in denen, wie beispielsweise in einigen Performances der Body Art aus den 1960er und 70er Jahren, die Beschäftigung mit dem Künstlerkörper als zu bearbeitendem Material zumindest dem Anschein nach lebensbedrohliche Ausmaße annehmen konnte. Auch Arbeiten aus jüngster Zeit lassen sich dieser Kategorie zuordnen. Stellvertretend sei nur an Tania Brugueras Lecture-Performance Autosabotage erinnert, die 2009 auf der Biennale in Venedig aufgeführt wurde. Vor Publikum las Bruguera einen selbst geschriebenen Text vor, mit dem sie ihre persönliche Definition von politischer Kunst vermittelte. Und während sie vortrug, dass Kunst ihrer Ansicht nach nur dann politisch sein könne, wenn Künstler sich in die Grenzbereiche zwischen Legalem und Illegalem, zwischen Bequemem und Unbequemem oder zwischen Akzeptiertem und NichtAkzeptiertem vorwagten, tat sie genau das, was sie der politischen Kunst in Worten abverlangte: An Ort und Stelle wagte sie sich ihrerseits in genau diese Grenzbereiche vor, indem sie Russisch Roulette spielte und in regelmäßigen Abständen einen Revolver an ihre rechte Schläfe führte, in dessen Trommel sich an unbekannter Position eine Patrone befand, und dann den Abzug betätigte.3 All diese Performances, in denen sich die Nähe des Todes als Resultat selbst organisierter Umstände oder Verletzungen einzustellen vermag, stecken ein ganz eigenes Untersuchungsfeld ab, das ich jedoch unberücksichtigt lassen möchte. In den Arbeiten, auf die sich mein Interesse bezieht, spielt der Tod eine andere Rolle. In ihnen ist er nicht lediglich eine Möglichkeit, die dann Realität wird, wenn sich ein Revolverschuss im falschen Augenblick löst oder das falsche Körperteil trifft. Die Wahrscheinlichkeit der Todesnähe begegnet in ihnen stattdessen als eine sich unwillentlich, etwa durch eine lebensbedrohliche Krankheit sich einstellende. Die Wahrscheinlichkeit der Todesnähe ist mit anderen Worten nicht eine künstlich 2
Siehe Adolphs 1993.
3
Eine Aufzeichnung dieser Performance ist einsehbar in: Bruguera 2009.
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herbeigeführte. Sie kommt nicht von außen, sondern von innen. Zu solchen Arbeiten gehören unter anderem die letzten Inszenierungen von Christoph Schlingensief oder die Performances von Bob Flanagan, der 1996 im Alter von 44 Jahren verstarb und dessen künstlerisches Schaffen grundlegend von der Auseinandersetzung mit seiner Erkrankung an Mukoviszidose sowie den daraus resultierenden körperlichen Beeinträchtigungen und Schmerzen geprägt war. Zu ihnen gehören auch die candy spills, die bunten rechteckigen Felder aus Süßigkeiten von Felix Gonzalez-Torres, der 1996 im Alter von 39 Jahren an Aids starb und diese Werkgruppe zu einer Zeit entwickelte, als er bereits von seiner Erkrankung wusste. Seine Entscheidung, den Rezipienten die Entnahme einzelner Bonbons aus diesen Installationen zu gestatten und sie auf diese Weise an der Gestaltänderung und Defragmentierung der jeweiligen Arrangements teilhaben zu lassen, nimmt sich gerade mit Blick auf die Gegenwärtigkeit des nahenden Todes wie der ganz persönliche Versuch des Künstlers aus, den Aspekt des Loslassens bereits durch konzeptuelle Verfügungen in seinem Werk zu verhandeln. Zu denken ist ebenfalls an Peter Halasz, der sich, schwer an Leberkrebs erkrankt, im Februar 2006, einen Monat vor seinem Tod, in einem offenen Sarg in der Budapester Kunsthalle aufbahren ließ und so noch zu Lebzeiten seiner eigenen Trauerfeier beiwohnte, auf der unter anderem von György Konrád Grabesreden gehalten wurden und seine Freunde sowie Fans von ihm Abschied nehmen konnten. Liest man sich durch die jüngere Literatur über den gesellschaftlichen Umgang mit dem Tod, dann wird schnell deutlich, dass dieser Diskurs im Wesentlichen von zwei gegenläufigen Positionen bestimmt ist. Die eine Position diagnostiziert eine seit dem Beginn der Moderne anhaltende kollektive Tabuisierung, Verdrängung und Vergessenheit des Todes und der Toten. Die andere Position hingegen beobachtet eine seit mehreren Jahren sich vollziehende Rückkehr der Toten oder, wie es der thetische Titel des Sammelbandes von Thomas Macho und Kristin Marek formuliert: eine neue Sichtbarkeit des Todes.4 Diese neue Sichtbarkeit des Todes mache sich, so Macho, in der Literatur, in Filmen, in der Fotografie oder in Fernsehserien wie Six Feet Under oder Crossing Jordan bemerkbar und komme des Weiteren nicht zuletzt in der Hospizbewegung, der Palliativmedizin, in Ausstellungen über plastinierte Körper oder neuen Bestattungsformen zum Ausdruck. Inwiefern der Tod und das Sterben gegenwärtig tatsächlich eher tabuisiert, verdrängt und vergessen werden oder eine neue Sichtbarkeit erlangen bzw. was eigentlich genau das Tabuisierte, Verdrängte und Vergessene am Tod und Sterben und was das Sichtbarwerdende ist, soll hier nicht im Fokus meiner Überlegungen stehen. Folgt man jedoch zum Beispiel Dominik Groß und Armin Heinen, dann befinden sich die beiden genannten Positionen nur dem Anschein nach in einem widersprüchlichen 4
Siehe Macho/Marek 2007.
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Verhältnis. In Wirklichkeit seien sie durchaus vereinbar, sofern die Rückkehr der Toten sowie ein neues Interesse am Tod in den meisten Fällen auf den Tod im Allgemeinen, auf einen fiktiven, abstrakten oder a-personalen Tod bezogen blieben. Der individuelle Tod und das individuelle Sterben finden den beiden Autoren zufolge in der Regel noch stets im Verborgenen, im Abseits der Öffentlichkeit statt.5 Die zitierten künstlerischen Arbeiten gehen einen anderen Weg. Sie lösen den Tod, das Sterben sowie deren Bedrohung und Zumutung für konkrete Einzelsubjekte, in diesem Fall für die Künstler dieser Arbeiten selbst, aus der Sphäre des rein Privaten und rücken in die öffentliche Aufmerksamkeit, was dort gemeinhin nicht auftaucht: die Konfrontation und das Ringen einzelner Personen mit ihrer Todesnähe und dem Wissen, dass die Welt nicht erst irgendwann, sondern vielleicht schon sehr bald, wie es der an Lungenkrebs verstorbene Christoph Schlingensief ausgedrückt hat, „definitiv gelöscht“6 und die „eigene Konstellation hier endgültig beendet ist“7. Alle genannten Arbeiten tun dies auf unterschiedliche Weise. Was uns als Rezipientinnen und Rezipienten mal subtiler, mal schonungsloser auf den Leib rückt, sind daher sehr verschiedene Formen des Umgangs mit jenem Moment, der sich im Nahen des Todes früher oder später bemerkbar macht und den Emmanuel Lévinas als denjenigen Moment beschrieben hat, in dem zur Geltung kommt, dass wir „nicht mehr können können“ und wir in genau diesem Ende allen Vermögens die „eigentliche Herrschaft als Subjekt“ verlieren.8 In meinen nachfolgenden Überlegungen möchte ich den künstlerischen Umgang mit dem eigenen Nicht-mehr-können-können am Beispiel Christoph Schlingensiefs beleuchten, der von den genannten Künstlern seine Kunst am nachdrücklichsten zum Ort der Auseinandersetzung mit diesem Machtverlust des Subjekts gemacht hat. Allerdings nicht nur seine Kunst. Wie es für Schlingensief typisch war, hat er auch in der Zeit seiner Krebserkrankung all das, was ihn am meisten beschäftigt, sowohl auf der Bühne wie auch in sämtlichen Medien thematisiert. Er hat ein Buch geschrieben, hat Teile aus diesem Buch zur Textgrundlage seiner Inszenierungen gemacht, ist in Fernsehshows aufgetreten, hat Interviews gegeben, hat im Internet mit denjenigen Journalisten diskutiert, die Anstoß an der Form nahmen, in der er seine Erkrankung aus der Sphäre des Privaten herauslöste, hat auf seiner Webseite über seinen jeweiligen Gesundheitszustand, über seine Gedanken und Ängste berichtet und dort unter anderem auch ein Video eingestellt, das ihn bei einer Bestrahlung zeigt.
5
Siehe Groß/Heinen 2009: 95-96.
6
Schlingensief 2009: 32.
7
Schlingensief 2009: 34.
8
Levinas 1995: 47 (Hervorhebung im Original).
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Der Art, in der Schlingensief in seiner Kunst die Kunst des Abschiednehmens vollzogen hat und seine Kunst damit gleichsam selbst zu einer Kunst des Abschiednehmens werden ließ, möchte ich mich auf einem kurzen Umweg nähern. In seinem Aufsatz mit dem Titel „Über den Tod“9 hat Ernst Tugendhat einen Aspekt in den Mittelpunkt gerückt, der trotz aller empirischen Evidenz zumindest in den philosophischen Theorien des Todes meist nur beiläufige Beachtung findet: den Aspekt der Furcht vor dem Tod. Was Tugendhat dabei nicht adressiert, ist die Furcht vor dem Tod an sich, vor dem Faktum, dass wir jederzeit sterben können und irgendwann auch sterben müssen. Was ihn nicht interessiert, ist mithin eine auf den Tod gerichtete Angst, die, wie in Heideggers Perspektive, darin gegenstandslos ist, dass sich in ihr die endliche Faktizität des ganzen Lebens zeigt. Was Tugendhat stattdessen in den Blick zu nehmen versucht, ist die Furcht vor der Todesnähe bzw. die Frage, warum wir uns insbesondere dann zu fürchten beginnen, wenn wir wissen, dass wir aufgrund hohen Alters oder lebensbedrohlicher Krankheit aller Voraussicht nach schon sehr bald zu sterben haben. Die drei von Tugendhat vorgeschlagenen Antworten sind im Grunde wenig spektakulär. Seine erste Antwort lautet: weil der Tod uns unserer Möglichkeit zur Sinngebung beraubt. Oder, wie er es ausdrückt, „weil wir durch den Tod die Chance verlieren, dem Leben einen Sinn oder mehr Sinn zu geben“10 – wobei ‚Sinn‘ in Tugendhats Verständnis bedeutet, sich einerseits nicht „in den begrenzten Zwecken“11 zu verlieren (Heidegger hatte dies die „Verlorenheit in die zufällig sich andrängenden Möglichkeiten“12 genannt), sondern stattdessen stets auf das ganze Leben bezogen zu bleiben, und sich andererseits den Tod nicht wünschen zu müssen, weil das Leben in seiner Ganzheit womöglich als leer erscheint. 13 Die zweite Antwort, die Tugendhat auf die Frage nach der Furcht vor dem nahen Tod parat hat, verweist auf das Gefühl oder die Gewissheit, am Leben vorbeigelebt und also falsch gelebt zu haben in der Weise, dass man nicht so gelebt hat, wie man es hätte tun sollen, um nun, angesichts des Todes, nichts bedauern zu müssen.14 Das ‚Sollen‘ denkt Tugendhat in diesem Zusammenhang allerdings nicht in moralischen oder religiösen Kategorien. Vielmehr meint er ein ‚Sollen‘, das aus der Verpflichtung eines Subjekts gegenüber sich selbst resultiert. Die dritte Antwort schließlich ist die insofern vielleicht noch am trivialsten anmutende, als sie mit dem Selbsterhaltungs-
9
Tugendhat 2006.
10 Tugendhat 2006: 42. 11 Tugendhat 2006: 43. 12 Heidegger 2006: 264. 13 Siehe Tugendhat 2006: 43. 14 Siehe Tugendhat 2006: 48.
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trieb den wohl selbstverständlichsten Aspekt ins Spiel bringt.15 Bemerkenswert indes ist die Argumentation, die Tugendhat mit diesem letzten Aspekt verknüpft. Den Willen oder auch den Trieb zur Selbsterhaltung führt Tugendhat ein als die erste Komponente des Sichwichtignehmens, das schon bei den Stoikern im Begriff der Oikeiosis mitschwingt und das keineswegs nur Ausdruck eines überspannten Narzissmus ist, sondern vielmehr eine der Grundbedingungen des individuellen Lebens schlechthin. Wer sich nicht wichtig nimmt, ist weder lebens- noch überlebensfähig. Jedes Wünschen und Wollen, jedes Glück, jeder Erfolg, jeder Ehrgeiz – alles fängt beim Sichwichtignehmen an und setzt eine Selbstzentriertheit voraus. Dieses Sichwichtignehmen, das uns Zeit unseres Lebens hilft, uns gegen die Grenzen zu stemmen, die uns von der Realität gesetzt werden, ist nach Tugendhat letztlich auch dafür verantwortlich, dass die Aussicht auf das Nicht-mehr-in-der-Weltsein gerade dann so unerträglich wird, wenn man sich dem Tod nahe sieht. Dass das Sichwichtignehmen auch ein Stemmen gegen den Tod bedingt, ja dass die Bedrohung des finalen Selbstverlustes sogar die vehementeste Form der Selbstzentrierung und auflehnenden Selbstbehauptung hervorzurufen vermag, wäre insofern keine überraschende Conclusio. Genau an dieser Stelle aber wendet Tugendhat das Blatt und erkennt nun ausgerechnet im Nahen des Todes den Anlass und die Gelegenheit dafür, sich als Subjekt gegen nichts und niemanden mehr stemmen zu müssen und sich deshalb endlich aus dem Zentrum herausnehmen zu können. Oder wie Tugendhat es selbst formuliert: Der Tod und schon das Altern enthalten die Chance, [...] sich gewissermaßen innerhalb des Theaters auf die Seite zu stellen, aus dem Zentrum heraus. [...] Im gewöhnlichen Leben liegt die Vorstellung nahe, dass mein Bewusstsein vielmehr das Theater ist [...]. Für denjenigen [...], der den Tod zum Anlass nehmen kann, sich aus dem Zentrum zurückzunehmen, [...] verändern sich die Gewichte. Er lässt sich los, indem er sich in die Welt zurück und in dieser an den Rand stellt. 16
Bei Tugendhat wird das Nahen des Todes also – und hierin liegt die Pointe seines Nachdenkens über die Furcht vor der Todesnähe – zur Möglichkeit für die Entzentrierung, die wir uns so lange nicht leisten können, wie das Leben den Anschein macht, noch eine beträchtliche Weile anzudauern. Kehrt man von hier aus zurück zu Christoph Schlingensief, dann wird man vielleicht geneigt sein zu sagen, dass er sich angesichts des Todes nicht an den Rand gestellt hat und weder im Theater der Welt (das Tugendhat eigentlich meint) noch im Theater als Institution und Kunstform zur Seite getreten ist. Schlingensief hat 15 Siehe Tugendhat 2006: 54. 16 Tugendhat 2006: 51.
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die Bühne nicht verlassen. Er hat sie viel eher ge- und benutzt, um seine Krebserkrankung zum Angelpunkt seiner letzten Inszenierungen zu machen und um zu thematisieren, was es für ihn bedeutet, der, wie es in Eine Kirche der Angst vor dem Fremden in mir heißt, „künftig Verstorbene“ zu sein.17 Er hat auf der Bühne seinen Schmerz, seine Verzweiflung und seine Ängste exponiert und sein Publikum mit genau den Gedanken, Zuständen und Emotionen konfrontiert, denen er selbst ausgesetzt war. Er hat auf der Bühne sich und die Welt angeklagt, hat die Gründe der Krankheit befragt und über Heil wie Heilung spekuliert, hat Bilanz gezogen und sich seine eigene Trauerfeier ausgerichtet. Man mag es daher so sehen wollen, dass die Nähe seines Todes für Schlingensief nicht, wie es Tugendhat ausdrückt, Anlass zur Entzentrierung war, sondern im Gegenteil: Anlass zu einer energischen Egozentrierung. Wie so oft sind die Dinge bei Schlingensief aber nicht so simpel wie sie auf den ersten Blick aussehen mögen – und letztlich auch weniger simpel als sie von Tugendhat dargestellt werden. Was Tugendhat angeht, so lässt sich einwenden, dass er im entscheidenden Zug seiner Argumentation merkwürdig unbestimmt geblieben ist. Denn darüber, wie die Entzentrierung genau vonstatten gehen soll, wie sie zu erreichen sein kann, verliert er kein Wort. Er spricht in diesem Zusammenhang lediglich von Gelassenheit und Loslassen, von einer Gelassenheit und einem Loslassen allerdings, die sich anscheinend ganz von alleine einzustellen wissen und die Entzentrierung, das Sich-an-denRand-stellen offenbar so ohne weiteres gleich im Schlepptau mit sich bringen. Was Tugendhat dabei auslässt, ist im Grunde genommen genau jene Frage, die in Schlingensiefs letzten Theaterproduktionen virulent wird: die Frage, was es überhaupt heißt loszulassen, und was es mithin bedeutet, Abschied vom Leben zu nehmen und sich seinem eigenen finalen Selbstverlust gegenüber zu sehen. Schlingensief beantwortet diese Fragen allerdings weder mit Rezepten noch mit Definitionen. Er tastet sich an das Loslassen und seinen Selbstverlust viel eher selbst erst suchend heran, indem er ein Vergrößerungsglas auf die zahlreichen Unbegreiflichkeiten hält, die zu den Prozessen des Abschiednehmens gehören und in diesen Prozessen zugleich Realität werden. Schlingensief tritt insofern nicht auf als jemand, der eine Antwort auf die Frage nach dem Wie, Warum oder Wozu des Abschiednehmens vom Leben schon bei der Hand hat. Stattdessen tritt er auf als jemand, der das Abschiednehmen zu begreifen und sich zu erschließen versucht und der dies nicht zuletzt mit den Mitteln des Theaters und mithilfe einer Kunstform tut, die ihm im Unterschied zum Film zeitlebens die Möglichkeit eröffnete, auf das ihm Wichtige spontan, schnell und mit immer wieder veränderbaren Resultaten zu reagieren.
17 Eine Kirche der Angst vor dem Fremden in mir. Regie: Christoph Schlingensief, RuhrTriennale, Premiere: 21.09.2008.
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Schlingensief stellt sich sodann auch nicht einfach nur als er selbst, in propria persona, auf die Bühne, um von dort aus das Publikum lediglich über das zu informieren, was ihn umtreibt und bewegt. Wie er es immer getan hat, wirft er auch jetzt eine multimediale und intertextuelle Inszenierungsmaschinerie an, kontrastiert eigene Erlebnisberichte mit Fremdtexten oder Filme aus seinen Kindertagen mit Videoaufnahmen von nachgedrehten Kunstaktionen und Heilungsritualen. Er verwandelt die Aufführungsräume in Kirchen, die Bühnen in Ayurveda-Kliniken, in Krankenhauszimmer oder das Festspielhaus, das er in Afrika bauen wollte. Er rekurriert auf Beuys und Fluxus, auf die katholische Liturgie und Wagners Weihefestspiel oder stellt Bezüge zum Alten Testament und Totenmessen her. Er konstruiert und dekonstruiert sich, den „künftig Verstorbenen“, als eine Figur, die durch die Überlagerung autobiografischer und fingierter Elemente sowie die Aufspaltung in unterschiedliche Rollen das Ergebnis selbstinszenatorischer Verfahrensweisen ist – und erzeugt so eine Überfülle an Klängen und Bildern, an Szenen und Szenerien, die alle das Thema des Todes und des Sterbenmüssens umkreisen. Doch obgleich Schlingensiefs eigene Situation den Angelpunkt dieser Inszenierungen bildet, bleibt die so entworfene Umkreisung des Themas nicht auf Schlingensiefs persönliche Situation beschränkt. Im Blick des Betrachters vermag sie sich von seiner Person immer wieder auch abzulösen, macht sie sich selbstständig und verlässt den Radius des rein Subjektiven durch die Objektivierbarkeit, die sie adoptiert. Von Ablösung lässt sich aber noch in einer anderen Hinsicht sprechen; von einer anderen Form der Ablösung jedoch, die man vielleicht als eine Art SelbstAblösung bezeichnen könnte und die sich darin Geltung verschafft, dass Schlingensief die Bühne nur noch selten betritt. In Sterben lernen! Herr Andersen stirbt in 60 Minuten (2009) oder in Via Intolleranza II (2010) ist er eine bisweilen zentrale Figur des Geschehens. In Eine Kirche der Angst vor dem Fremden in mir (2008), in Der Zwischenstand der Dinge (2008) und in Mea Culpa – Eine ReadyMadeOper (2009) tritt er allerdings nur noch sporadisch bis gar nicht mehr auf. Zwar ist er auch hier noch stets gegenwärtig. Er erscheint in Filmsequenzen, in Audioeinspielungen oder in den von ihm geschriebenen Texten. Zugleich konterkariert er diese medial vermittelte Anwesenheit aber mit seiner eigenen physischen Abwesenheit, einer Abwesenheit indes, in der sich sein physisches Verschwinden und Verschwundensein wiederum für eine zweite Form der Anwesenheit öffnet: für eine Anwesenheit, die ein Anderer, gewissermaßen in Stellvertretung, demonstriert. Für diese Inszenierung des Ineinanders von Dasein und Nicht(mehr)-Dasein hat Schlingensief Schauspieler ausgewählt – Stefan Kolosko oder Joachim Meyerhoff –, die seinen Part übernehmen und an seiner Stelle die Aufspaltung in unterschiedliche Schlingensief-Figuren (in den Priester, den Patienten, den Sohn, den Ehemann, den Künstler, Zeremonienmeister etc.) verkörpern. Er überlässt ihnen seinen Auftritt, so wie er ihnen oder auch anderen Darstellern immer wieder die Texte überlässt und in den Mund legt, die sich aus seinen privaten und sehr persönlichen Erlebnis- und
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Erfahrungsnotizen zusammensetzen. Schlingensief zieht sich somit von der Bühne zurück, bleibt aber gerade durch seinen Rückzug von der Bühne auf eben dieser als sein eigenes Abbild, als Ähnlichkeit mit sich im abgewandelten Sinne Blanchots, präsent. Während ein Anderer Schlingensief spielt, bleibt der echte Schlingensief der Bühne fern, und gerade dieses Fernbleiben von der Bühne ermöglicht es ihm, dem Geschehen, das er angezettelt, sowie den Doubles, die er von sich entworfen hat, als Zuschauer gegenüberzutreten. Die Selbst-Ablösung oder Ich-Doppelung ermöglicht ihm, so könnte man es auch sagen, die auf der Bühne vonstatten gehende Beschäftigung mit der Todesnähe, dem Sterbenmüssen und den Prozessen des Abschiednehmens aus der Distanz zu betrachten und sie bis zu einem gewissen Grad von sich abzurücken. Im Motiv des Doppelgängers ruft sich zugleich jedoch noch ein weiterer Aspekt auf, den der Psychoanalytiker Otto Rank einst im Rekurs auf das Verständnis des Doppelgängers als Ankündigung des Todes gedacht hat als eine „energische Dementierung der Macht des Todes“ 18. In dieser Perspektive käme Schlingensiefs Inszenierung seines eigenen Doubles noch einmal anders in die Diskussion und wäre deutbar als Ausdruck seiner Auflehnung gegen den Untergang des Ichs. Die Mittel des Theaters gestatten Schlingensief, sich an die Seite zu stellen, aus dem Zentrum heraus, gestatten ihm, sich – um es noch einmal mit Tugendhat zu sagen – zu entzentrieren. Anders als in Tugendhats Argumentation steht die Entzentrierung der Zentrierung hier aber nicht als eine gegenläufige Bewegung gegenüber. Zentrierung und Entzentrierung schließen sich nicht gegenseitig aus. Bei Schlingensief, und das eben gelingt ihm mit seinen letzten Inszenierungen zu zeigen, greifen Zentrierung und Entzentrierung bedingend ineinander. Er selbst tritt an den Rand, kann von dort aus aber auf die Bühne blicken und sich in Filmen sehen oder in Texten hören und sich in Schlingensief-Figuren erkennen, die sich an seiner statt oder, wenn man so will, gemeinsam mit ihm mit der Nähe des Todes oder der Furcht der Todesnähe konfrontieren. Derart unternimmt Schlingensief einen Annäherungsversuch an das Loslassen, der im Loslassen stets auch das Festhalten, das Nicht-Loslassen-Können oder das Nicht-Loslassen-Wollen, mit einbegreift. Aber nicht nur das. Er hinterlässt mit dieser Inszenierung der Gleichzeitigkeit von Loslassen und Festhalten, von An-dieSeite-Treten und Im-Zentrum-Bleiben nicht zuletzt ein sinnfälliges Bild für die im Subjekt angelegte Widersprüchlichkeit von Subjekt-Ich und Objekt-Ich sowie für die Wechselwirksamkeit von Selbstverlust und Selbstbehauptung.
18 Rank 1914: 163.
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L ITERATUR Adolphs, Volker: Der Künstler und der Tod. Selbstdarstellungen in der Kunst des 19. und 20. Jahrhunderts. Köln: Walther König 1993. Blanchot, Maurice: „Die zwei Fassungen des Bildlichen“, in: Macho, Thomas/ Marek, Kirsten (Hg.): Die neue Sichtbarkeit des Todes. München: Wilhelm Fink Verlag 2007, 9-21. Bruguera, Tania: Autosabotage, in: http://thefearsociety.wordpress.com/2009/ 06/06/tania-bruguera-autosabotage-2009/ [9.4.2011]. Groß, Dominik/Heinen, Armin: „Die ‚Aneignungen‘ des Leichnams. Eine Dekonstruktion der Umgangsformen mit dem toten Körper. Rumänien versus Deutschland“, in: Groß, Dominik (Hg.): Die dienstbare Leiche. Der tote Körper als medizinische, soziokulturelle und ökonomische Ressource. Kassel: Kassel University Press 2009, 95-100. Heidegger, Martin: Sein und Zeit. Tübingen: Max Niemeyer Verlag 2006. Lévinas, Emmanuel: Die Zeit und der Andere. Hamburg: Felix Meiner 1995. Macho, Thomas/Marek, Kirsten (Hg.): Die neue Sichtbarkeit des Todes. München: Wilhelm Fink Verlag 2007. Rank, Otto: „Der Doppelgänger“, in: Imago III, 2 (1914), 97-164. Schlingensief, Christoph: Mea Culpa. Programmheft, Burgtheater Wien 2009. Tugendhat, Ernst: Über den Tod. Frankfurt am Main: Suhrkamp 2006.
Erfahrungs- und Erinnerungsräume
The Spell of Janet Cardiff Techniken der Subjektkonstitution in den Audiowalks von Janet Cardiff und Georges Bures Miller A NDRÉ S CHALLENBERG The illusions inspired by the myriad voices seem to be more real and surreal as the light begins to fade. We have shared our walk with many of our friends and visitors from the art world, all of whom have fallen under the spell woven by Janet and George. JOEL MALLIN1
Joel Mallins Zitat illustriert sehr plastisch eine weit verbreitete Zuneigung und Zuschreibung zum auditiven Medium: eine geheimnisvolle, fast magische Ausstrahlung wird bemüht, um Effekte auf die eigene Wahrnehmung zu bezeichnen, die nahezu unbeschreibbar scheinen. Dieser ‚Magie‘, die dem auditiven Medium zugeschrieben wird, verdankt es wohl auch seinen großen Erfolg speziell in der Werbe- und Marketingbranche in Form von Audioguides, Audiotouren und kommerziellen Hintergrundklängen. Die Firma Muzak rüstet schon seit 1934 Unternehmen und Geschäfte mit maßgeschneiderten Klangteppichen aus, die nach ihrer früheren Anwendung in Hochhausaufzügen auch als ‚Fahrstuhlmusik‘ bekannt sind, doch trotz dieser eher despektierlichen Bezeichnung bis heute höchst erfolgreich zur Verkaufsförderung oder akustischen Raumbesetzung in Geschäften und Institutionen eingesetzt werden.2
1
Mallin 1998. Joel Mallin ist Auftraggeber des Mallin’s Night Walk von Janet Cardiff. www.cardiffmiller.com/artworks/walks/mallin.html [10.04.2011].
2
Siehe hier das Beispiel des Hamburger Hauptbahnhofs, auf dem mit Muzak-Klängen für ein ‚adäquates Gefühl‘ auf dem Bahnhofsvorplatz gesorgt wird.
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Diese Wahrnehmung hat einen speziellen Bereich des Audio-Mediums besonders gefördert, der aufgrund seiner technischen Besonderheiten sehr jung und eng abzugrenzen ist: den Bereich des Audiowalks, oder auch Klangspaziergangs. Möglich wurde diese Form erst mit der Entwicklung erschwinglicher, mobiler Audiogeräte, die ziemlich genau auf das Jahr 1979 zu datieren ist, dem Jahr, in dem die Sony Corporation den ersten Walkman auf den japanischen Markt brachte. Mit dieser Entwicklung entstand in den 1980er Jahren eine völlig neue Hörkultur, die einer ganzen Generation den Namen verlieh: der Walkman-Generation. Stand zu Beginn das freie, individuelle Hören der eigenen Musik, basierend auf der Möglichkeit, unabhängig von einem stationären Gerät oder einer zentralen Radio-Sendeeinheit Klänge, Musik und Sprache individuell an jedem Ort auswählen und hören zu können im Vordergrund, entdeckten bald auch Institutionen das neue Medium. Museen entwickelten erste kassettenbasierte Audioguides, mit deren Hilfe der Besucher Rundgänge in verschiedenen Sprachen durch die Sammlungen unternehmen konnte; Unternehmen und Tourismusagenturen verarbeiteten diese Form weiter zu Audiotouren, die heute fast schon zum Standardangebot jeder Stadt und jeder Marketingkampagne gehören. Sie dienen hier als akustisches Medium der Selbstdarstellung, in dem die Auftraggeber – ähnlich wie in einem geführten Spaziergang – den Zuhörern über das räumliche Erwandern Einblicke in die eigene Struktur, die eigene Philosophie und Mission zu geben versuchen. Die Produzenten betonen dabei vor allem die Möglichkeit der direkten, emotionalen Kommunikation mit dem Besucher über Klänge und Sprache. Sie versprechen sich davon nicht weniger als „the making of meaning“ 3 , die Herstellung und Vermittlung eigener, geschlossener Sinnzusammenhänge und damit die perfekte Selbstdarstellung. In künstlerischen Zusammenhängen kommt die Audiotour seit Beginn der 1990er Jahre zur Anwendung. Die kanadischen Medienkünstler Janet Cardiff und George Bures Miller gehören hier zu den Pionieren, mit ersten Arbeiten ab 1991, denen sie den Namen „Audiowalk“ verliehen.4 Seitdem haben sich zahlreiche Künstler und Gruppen dieser Technologie angenommen, unter anderem Hygiene Heute (Stefan Kaegi und Bernd Ernst), Rimini Protokoll, LIGNA, norton.commander oder Lundahl&Seitl. In ihren Werken sind verschiedene Strategien hörbar, mit den ‚magischen‘ Zuschreibungen des Audiomediums umzugehen, sie für die eigenen Ideen zu nutzen oder subversiv zu unterminieren. Damit arbeiten sie an einer allgemeinen Offenlegung der scheinbar natürlichen Mechanik der Hörwahrnehmungen und zeigen sie als Produkt kultureller und gesellschaftlicher Konstruktion, die analog zum
3
Siehe Falk/Dierking 2000.
4
Janet Cardiff, Forest Walk, Banff Centre for the Arts, Canadian Artist in Residence Program 1991.
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„Drama des Sehens“5 auch als „Drama des Hörens“ bezeichnet werden kann. Diese Hör-Ästhetiken unterscheiden sich dabei – so die These – radikal von bildbasierten künstlerischen Strategien, indem sie nicht narrativ oder auch nur betrachtend im besten Wortsinne arbeiten, sondern ‚ganzheitlicher‘ im Sinne einer Erweiterung des Bewusstseins sinnlicher Wahrnehmung und damit auch Urteilsfähigkeit. Es geht im Folgenden also nicht (primär) um eine Analyse akustischer oder musikalischer Strukturen, sondern um das Aufzeigen deren Präsenz an sich und wie diese Präsenz als künstlerisches Mittel nutzbar gemacht werden kann. Als Beispiel einer solchen Nutzung soll der Audiowalk Jena Walk (Memory Field) von Janet Cardiff und Georges Bures Miller aus dem Jahre 2007 analysiert werden, da beide Künstler hier sehr subtil und vielschichtig mit den angesprochenen Parametern arbeiten. Zudem ist Memory Field einer der wenigen dauerhaft installierten künstlerischen Audiowalks im deutschsprachigen Raum und jederzeit anhörbar.6
J ANET C ARDIFF, G EORGES B URES MILLER : J ENA W ALK (M EMORY F IELD ) Janet Cardiff beschreibt ihre Technik des Audiowalks mit folgenden Worten: You are given a CD player or iPod and told to stand or sit in a particular spot and press play. On the CD you hear my voice giving directions, like „turn left here“ or „go through this gateway“, layered on a background of sounds: the sound of my footsteps, traffic, birds, and miscellaneous sound effects that have been pre-recorded on the same site as they are being heard. This is the important part of the recording. The virtual recorded soundscape has to mimic the real physical one in order to create a new world as a seamless combination of the two. My voice gives directions but also relates thoughts and narrative elements, which instills in the listener a desire to continue and finish the walk. 7
Diese Worte beschreiben grundständig die Technik, mit der Cardiff zusammen mit Georges Bures Miller seit 1991 mehr als 20 Audiowalk-Kunstwerke erstellt hat, darunter so bekannte Beispiele wie den Münster Walk für die Skulptur Projekte Münster 1997 oder Her long black hair für den Public Art Fund im New Yorker Central Park 2004. Beide begannen gemeinsam in den 1980er Jahren an Video- und Klangkunstwerken zu arbeiten. Georges Bures Miller entstammt dem Umfeld der Musik und Tontechnik, Janet Cardiff hingegen dem Experimentalvideo und dem Film. Ihre gemeinsame künstlerische Entwicklung vollzog sich über erste Videokunstarbeiten 5
Haß 2005.
6
Museum 1806, Jena-Cospeda.
7
Cardiff 2005: 15.
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in den 1980er Jahren über die Begegnung mit dem Audiomedium zu Beginn der 1990er Jahre bis hin zu groß angelegten Klanginstallationen seit der Jahrtausendwende. Insbesondere bei Cardiff ist hier also exemplarisch eine Hinwendung vom Film zum akustischen Medium zu beobachten, eine Verbindung, der im Folgenden noch einige Beachtung zukommen wird. Der Audiowalk mit dem Titel Jena Walk (Memory Field) ist die momentan jüngste Arbeit des Duos Cardiff und Miller auf dem Gebiet der Audiowalks, erstellt im Jahre 2007 im Auftrag der Stadt Jena. In einem etwa 30minütigen Hörstück führt der Walk den Hörer mittels eines mp3-Players durch das ehemalige Schlachtfeld, auf dem Napoleon 1806 die Preußen besiegte – heute ein offenes Naturschutzgebiet – und endet auf einem Hügel über der Stadt. Das Werk besteht aus drei Teilen: dem eigentlichen Hörspiel, eingespielt per Kopfhörer, der (Natur-)Landschaft inklusive der dort herrschenden Klänge und anderen Eindrücke sowie dem Körper des Zuhörers, der sich hörend durch diese Landschaft bewegt. Erst aus dem Zusammenspiel dieser drei Elemente entsteht das Werk als komplexes Wechselspiel. Die Hörspur selbst wiederum ist eine Zusammenstellung mehrerer Klangschichten. Grundlage bildet wie bei den meisten Audiowalks von Cardiff und Miller eine spezielle binaurale Aufnahme des Weges durch die Landschaft, eine Geräusch-Atmosphäre, die den Weg des Zuhörers genau nachstellt. Diese wurde mit einer besonderen stereoskopischen Kunstkopf-Technik aufgenommen, die es dem Hörer erlaubt, über die Kopfhörer alle Richtungen im Raum ziemlich genau zu orten. Für viele Hörer wirkt dieser Effekt beim ersten Test sehr überraschend, weil er sich stark von ‚normalen‘ Stereoaufnahmen unterscheidet. Er gewinnt durch die Imitation des eigenen Hörempfindens eine extrem suggestive, affirmative Kraft. Gesteigert wird dieser Effekt durch die Vermischung mit den natürlichen Umgebungsgeräuschen, die durch die durchlässigen Kopfhörer weiterhin hörbar bleiben. Diese Vermischung ist ausdrücklich intendiert und erzeugt ein fast ununterscheidbares Amalgam aus den realen Klängen der Umgebung, durch die der Hörer sich bewegt, mit den binaural aufgenommen Klängen des gleichen Weges, die Cardiff und Miller im Jahre 2006 während der Herstellung aufgezeichnet haben. Diese Aufnahmen beinhalten auch die Schrittgeräusche, den Atem und sonstige körperlichen Nebengeräusche, was zu einer idealen Parallelität der Schritte des Zuhörers mit Cardiffs Schritten führt. Diese Technik ermöglicht so einerseits eine völlig autarke Führung des Zuhörers durch das Gelände, ohne hinzugefügte Wegmarken, Hinweise oder Kartenmaterial, wird aber andererseits durch akustische Sinnestäuschungen aus der Überlagerung der beiden Zeitebenen beständig konterkariert. Über diese rein klangliche, dezente Geräuschebene legt sich die Stimme der Künstlerin selbst, die den Hörer durch die Landschaft und durch das Hörspiel führt. In der deutschen Fassung übernimmt dies die Schauspielerin Sophie Rois. Beide
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Stimmen haben eine besondere Qualität, sie wirken sehr nahe, fast erotisch und intim. Jeder Atemzug ist hörbar, jedes Lispeln, Räuspern und Schmatzen. Diese Stimm- und Textqualitäten erzeugen eine – wie Richard Sennett sagt – „Tyrannei der Intimität“8. Es ist eine Tyrannei, die sogar in das Denken eindringt, durch eine stream-of-conciousness-artige Textgestaltung, in der Assoziationen und Gedanken frei flottieren, und so die akustische Verbindung aller Ebenen nachbilden. Hier gewinnt die Aufnahme eine akusmatische Qualität. Die (nur wenige Jahre alte) Aufnahme der Stimme der Künstlerin ist der Schlüssel oder der Eingang zu einer weit tiefer liegenden, untergründigeren Vergangenheit oder Gegenwelt. Zu den Hintergrundgeräuschen und der Stimme addieren sich im Laufe des Walks dezent weitere (künstliche) Klänge hinzu, die sehr direkt bestimmte Ereignisse illustrieren, von marschierenden Soldaten über Kanonendonner bis hin zu Panzergeräuschen. Korrespondierend und weitgehend parallel spricht die Künstlerin über die kriegerische Vergangenheit der Landschaft, verortet damit diese zugemischten Klänge und verbindet sie per Zuschreibung direkt mit den angesprochenen Ereignissen, als kämen sie tatsächlich aus jener fernen Vergangenheit. Nach und nach schälen sich so aus dem Text diese Gegenwelten heraus, von der eigenen Arbeit an dem Audiowalk im Jahre 2007, über die jüngere Vergangenheit des Geländes als Naturschutzgebiet, als Truppenübungsplatz der sowjetischen Armee, bis hin zur Napoleonischen Schlacht vor 200 Jahren. Für Cardiff stellen diese sich abschälenden Geschichtsebenen (beziehungsweise Geschichten-Ebenen) einen essentiellen Bestandteil von Audioaufnahmen dar. Für sie ermöglicht dieses Medium eine direkte virtuelle Auferstehung, ein nahezu ununterscheidbares Nebeneinander verschiedener Zeiten und auch Orte, denen sie durch die Anlagerung an die jetztzeitliche Umgebung des Hörenden die Qualität eines Ereignisses zu verleihen sucht.
R ESONANZ UND AFFIRMATION Damit versuchen sich Cardiff und Miller ganz bewusst und mit Methode an einer affirmativen Zuschüttung jenes Grabens zwischen Bild und Ton, wie ihn beispielsweise Gilles Deleuze in den Filmen von Alain Robbe-Grillet diagnostiziert und als konstruktiv erkannt hat. Hier kommt eine neuartige Asynchronie ins Spiel, in der das Sprachliche (auch das Akustische) und das Visuelle nicht mehr zusammen kleben und miteinander korrespondieren, sondern sich widerstreiten und widersprechen, ohne dass man dem einen mehr als dem anderen ‚recht‘ geben kann: es entsteht etwas Unentscheidbares zwischen beiden [...]. Und die Widersprüche verleiten uns nicht mehr dazu, das Gehörte und das Gesehene immer wieder Punkt 8
Siehe: Sennett 1986.
270 | A NDRÉ S CHALLENBERG für Punkt in pädagogischer Absicht miteinander zu konfrontieren; ihre Rolle besteht darin, zu einem System von Entkopplungen und Verknüpfungen hin zu führen, die mittels Antizipation und Retroaktion nacheinander die verschiedenen Gegenwarten in einem direkten Zeit-Bild bestimmen oder, unter dem Zeichen des Falschen, eine Serie von retroaktiven und progressiven Mächten einrichten.9
Cardiff und Miller hingegen arbeiten in ihrem Audiowalk meiner Meinung nach mit eben diesen Mitteln daran, diese Asynchronität aufzuheben, sie (künstlich, vorsätzlich, bewusst) einzubetten in eine überzeitliche und überräumliche eigene Welt, die den Zuhörer ganz und gar umschlingt und jegliche Distanz verhindert. Sie knüpfen damit an eine Theorie des Hörens an, die ihren Ursprung in den Vorläufern der Romantik hat, insbesondere bei Herder, und bis in die jüngere Vergangenheit auch weiter entwickelt wurde, so zum Beispiel von Marshall McLuhan. Herder versuchte sich in seinen Untersuchungen zu Klang und Geräusch – flankierend zu seinen Arbeiten zur Sprache – als einer der ersten von den rein physikalisch-medizinisch argumentierenden Hörmodellen der Renaissance und des Barock abzusetzen, von Descartes beispielsweise oder Daniel Webb. In seinem Aufsatz „Vom Erkennen und Empfinden“ aus dem Jahr 1775 schreibt er: Dringen wir tiefer, so scheint unter den feineren Sinnen das Gehör eine Pforte und Gleichnis der Seelenempfindung zu sein, wie das Auge des Seelenerkennens. Das Auge sieht außer sich, wie das Ohr und die Empfindung tief in sich höret. Jenes bleibt auf der Oberfläche und betrachtet Bilder oder eigentlich nur Einen hellen Punkt; dieses rollet Wellen des Gefühles nach und in einandern zum Herzen. Ein Gedanke kalt und helle gedacht wird Bild; ein Schall, eine Stimme, ein Ton, der im Ohre schwebt, wird Empfindung. Die Stimme weckt im Inneren: das Bild zerstreuet aus uns selbst.10
Der Gesichtssinn trenne also, so Herder, kalt die Welt vom Ich, und schaffe die Voraussetzung zur umfassenden, analytischen Musterung. Der Hörsinn hingegen nehme umgekehrt die Welt in sich, in den Hörenden auf, und integriere sie in einen unaufhörlichen Fluss. Ähnlich argumentiert auch Marshall McLuhan in seinen Werken Understanding Media (1964) und The Medium is the Massage (1967), er ordnet hier diese Hörkonzeption ein in eine kulturhistorische Entwicklung, in der das Hören eine präkulturelle, archaische, mystische Epoche kennzeichnete, auf die eine visuell dominierte, auf Bild und Schrift sich gründende Kulturepoche aufbaute. Letztlich basiert auf diesen Überlegungen auch die klassische Schule der Filmmusik, die – im Gegensatz zu den dynamischen Brüchen in Filmen wie den oben erwähn-
9
Deleuze 1997: 320.
10 Herder 1987: 605.
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ten von Robbe-Grillet – durch illustrative Harmonien den Zuschauer förmlich an die Bilder fesseln und sie körperlich-emotional erlebbar machen. Für Herder entsteht diese Zugänglichkeit zur Seele beim Klang durch eine zarte Resonanz, die den schwingenden Klang mit feinen Nervenenden verbindet, eine Theorie, die von barocken Wahrnehmungsphilosophen wie Daniel Webb und auch Thomas Hobbes übernommen wurde. Ihre Wurzeln hat dieses Denken zweifellos in den auf der antiken pythagoreischen Zahlentheorie basierenden Weltharmonieidee des Mittelalters und der Renaissance, wie sie beispielsweise Johannes Kepler in seinen bahnbrechenden Schriften zu den Planetenbewegungen ausführte. Danach liegen allen Bewegungen und Beziehungen des Universums bestimmte Zahlenverhältnisse zugrunde, die wiederum in (musikalischen) Harmonien ausdrückbar sind. Auch wenn heutzutage diese Ideen vor allem in esoterischen Kreisen zirkulieren, zeugen sie doch eigentlich eher gegenteilig von einem tiefen Glaube an die mathematische (göttliche) Ordnung und damit auch an die grundsätzliche Erkennbarkeit dieser Ordnung, also der Welt. Herder nun liefert einen Gegenentwurf zu dieser materialistischen Auslegung akustischer Schwingungen und bietet eine psychologische Fortführung, die letztlich bis zu Nietzsche und dem dionysischen Element der Ästhetik in seiner Geburt der Tragödie aus dem Geist der Musik führt. Jean-Luc Nancy hat diese hier nur sehr kurz skizzierte und lang vergessene akustische Kette jüngst wieder aufgenommen, und sie in seinem Essay À l’écoute 11 zum Entwurf einer Art akustischer Philosophie ausgebaut, nach der die Schwingung, die ewige Resonanz der Welt im Körper (im Subjekt), zur Metapher einer Wahrnehmungsform wird, die eher auf das Wahrnehmen (das Lauschen, l’écoute) an sich ausgerichtet ist denn auf dessen Inhalt, eher auf die Textur und Stofflichkeit denn auf eine wie auch immer geartete Botschaft. Diese Qualität billigt Nancy nun eher dem akustischen Sinn zu, mit allen seinen schon bei Herder angesprochenen Eigenarten des Hörens (die allerdings – das fehlt noch bei Herder – als kulturell bedingte Eigenarten in der westlichen Welt gelten müssen, die in jüngerer Vergangenheit vor allem in dem erwähnten Bereich der Filmmusik fortgeführt werden). Janet Cardiff und Georges Bures Miller nutzen dieses umfassende Hörmodell nun, um eine Art akustisch dominiertes Gesamtkunstwerk zu erstellen, ein gleichschwingendes Total-Klangtheater, das jegliche Distanz, jegliches Zurücktreten zu unterbinden versucht, vorerst zumindest, zugunsten der Illusion perfekter Harmonie und Einfühlung. Diesem Diktat ordnen sich alle Elemente unter, es wird eine totale Synchronität und Kontrolle erzeugt: Wie das Denken durch die mäandernde Textebene synchronisiert und in bestimmte Bahnen gelenkt wird, werden auch die Schritte des Zuhörers durch die aufgenommenen Schrittgeräusche exakt getaktet. 11 Nancy 2002.
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Die scheinbar langsam und wahllos kurvige Wegeführung folgt einer sekundengenau festgelegten Dramaturgie, die schnell auch die umgebende Landschaft in das kontrollierte Gesamtbild einbezieht und gleichsam zu einem Film-Bild macht. Die Landschaft wird zu einer Leinwand, auf der das vom Klang gelenkte Kamera-Auge des Zuhörers folgsam die Dramaturgie der Künstlerin entrollt. Jedes Geräusch, jede Bemerkung findet sofort ihr passendes Bild in der Umgebung.
B RECHUNG UND AUSHÖHLUNG Derartige, extrem suggestive Klangarbeit haben Cardiff und Miller schon in früheren Audiowalks betrieben und zur Erzeugung größtmöglicher Täuschungen und Zweifel an der eigenen Wahrnehmung genutzt. Doch genau wie beispielsweise im Münster Walk auf den Klangspaziergang ein zweiter Teil folgt, der die Zuschauer die nachfolgenden Hörer scheinbar beobachten lässt und damit die totale Kontrolle und Lenkung durch die Audiospur offenbart (wie auch das Bedürfnis nach dieser Kontrolle), so verfügt auch der Jena Walk über einen Mechanismus, der die perfekt aufgebaute Klangkulisse hervortreten und schließlich zum Einsturz bringen lässt. Dieser Mechanismus kommt erst ganz zum Schluss und fast unmerklich zum Tragen, unmerklich weniger durch seine Deutlichkeit, als vielmehr durch die Setzung an das Ende, besser: hinter das Ende des eigentlichen Walks. Erreicht nämlich der Zuhörer jenes Ende der Tonspur und nimmt leicht benommen die Kopfhörer ab, findet er sich inmitten einer windigen, weiten Graslandschaft stehend wieder, weit außer Sichtweite des Startpunktes (und des Parkplatzes). Wer nicht zufällig die Gegend von früheren Besuchen kennt, steht somit am Ende des Walks buchstäblich verloren auf weiter Flur. Denn an jenem Punkt, an dem die akustische Dauerumschlingung endgültig beendet ist, wird dem Hörer gewahr, dass er eine halbe Stunde lang in einer Art Trance-Zustand durch die Landschaft wandelte und dementsprechend (meist) auch hat nicht weiß, wie er zurückgelangen soll. Das eigene Denken, die bewusste Wahrnehmung des Weges und der Landschaft war vollständig paralysiert, von einem fremden Denken und Handeln übernommen und ausgeschaltet. Hier kippt die Wahrnehmung des gesamten Walks und ein zweifelndes, ja opponierendes Moment setzt ein, das den gesamten Gehalt des vorherigen Stückes in Frage stellt. Was brachte mich dazu, halt- und fraglos einer Stimme zu folgen? Was habe ich mir alles sagen lassen? Was werde ich mir alles sagen lassen (und glauben)? Wie beeinflussbar bin ich? All dies sind Fragen und Effekte, die erst mit dem endgültigen Verstummen der Tonspur zum Tragen kommen können. Sehr leicht hätten Cardiff und Miller die Tour auch als Rundweg anlegen können, durch den der Hörer in einer weiten Runde wieder zum Startpunkt zurück geführt wird. Aber das Gegenteil ist der Fall, der Endpunkt liegt in der weitest möglichen Entfernung vom Start und erfordert so ein konzentriertes Nachdenken zur Rekonstruktion der
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Route, also des Rückweges. Es ist Teil eines minutiös geplanten Weges, auf dem jeder Meter zur Inszenierung hinzu gehört, mit dem Schluss auf dem fernen Hügel als desillusionierendem Endpunkt. Diese Brechung erst zeigt auch die intensive Arbeit Cardiffs und Millers mit dem akustischen Medium. Indem sie sich quasi parasitär einer vorromantischen, umfassenden Musikkonzeption bedienen, die als kulturelles Erbe über Gebrauchsund Filmmusik im Gehör (fast) eines jeden Hörers verankert liegt, verweisen sie gestisch erst auf diese selbst. Das zerstört an sich nicht den Genuss an derart affirmativen akustischen Umhüllungen, zeigt aber sehr subversiv inmitten des Genusses auch seinen verwirrenden Ursprung, die Mehrdeutigkeit des spells, des Bannzaubers, den der Klang ausspricht. Diese über die eigene Klanghöhle gespannte Haut, dieser Bauch, der sich zuhört und der sich – der Welt zuhörend und sich darin in jedem Sinne, in allen Sinnen und Richtungen verirrend – in sich selbst verirrt, ist somit [...] seine Gangart selbst, es ist mein Körper, von seinem Körpersinn geschlagen, von dem, was man einst die Seele nannte.12
L ITERATUR Cardiff, Janet/Schaub, Mirjam: The Walk Book. Köln: König 2005. Deleuze, Gilles: Das Zeit-Bild. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1997. Falk, John H./Dierking, Lynn D.: Learning from Museums. Visitor Experiences and the Making of Meaning. Walnut Creek: Altamira Press 2000. Haß, Ulrike: Das Drama des Sehens. München: Fink 2005. Herder, Johann Gottfried: „Vom Erkennen und Empfinden, den zwo Hauptkräften der menschlichen Seele“ [orig. 1775], in: ders.: Herder und die Anthropologie der Aufklärung. München: Hanser 1987. Nancy, Jean-Luc: À l’écoute. Paris: Gallimard 2002 (dt. Zum Gehör. Zürich/Berlin: diaphanes 2010). Sennett, Richard: Verfall und Ende des öffentlichen Lebens. Die Tyrannei der Intimität. Frankfurt am Main: Fischer 1986.
12 Nancy 2010: 57.
Subjektwerdung im Blick Die Szene des Gesehenwerdens A DAM C ZIRAK
Einer der vitalsten Blickstrahlen, die bildlich festgehalten wurden, ‚schaute‘ vermutlich aus dem Selbstporträt von Rogier van der Weyden, das sich im Brüsseler Rathaus befand und heute nicht mehr erhalten ist. Den Blick dieser Bildgestalt hat der Philosoph und Theologe Nikolaus von Kues als einen aktiven und omnipotenten beschrieben. „Schaut es an“, fordert er die Mönche vom Tegernsee, seine damaligen Adressaten auf: Schaut es an und jeder von Euch, von welcher Stelle er es auch betrachtet, wird erfahren, daß jenes Bild ihn gleichsam allein anblickt. Dem Bruder, der im Osten steht, scheint das Antlitz in östlicher Richtung zu blicken, dem im Süden, in südlicher und dem im Westen, in westlicher. Zuerst werdet ihr euch darüber wundern, wie es geschehen kann, daß es alle und jeden einzelnen zugleich ansieht. Denn derjenige, welcher im Osten steht, kann sich in keiner Weise vorstellen, daß der Blick des Bildes auch in eine andere Richtung, nach Westen oder Süden, gerichtet ist. Nun mag der Bruder, der im Osten steht, sich nach Westen begeben und erfahren, daß der Blick hier ebenso auf ihn gerichtet ist wie vordem im Osten. Und da er weiß, daß das Bild fest hängt und unbeweglich ist, wird es[sic!] sich über die Wandlung des unwandelbaren Blickes wundern. Auch wenn er seinen Blick fest auf das Bild heftet und von Osten nach Westen geht, wird er erfahren, daß der Blick des Bildes ununterbrochen mit ihm geht und, kehrt er von Westen nach Osten zurück, ihn auch dann nicht verläßt. Er wird sich wundern, wie dieser Blick sich unbeweglich bewegte. Und noch weniger wird sein Vorstellungsvermögen es fassen können, daß er sich mit einem anderen, der ihm selbst aus entgegengesetzter Richtung begegnet, in derselben Weise bewegt.1
1
Kues 1967: 97. Hervorhebung d. Verf.
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In seinem ‚choreografischen‘ Bericht widmet sich Nikolaus von Kues einer performativen Bilderfahrung, die in der Begegnung mit einer Porträtgestalt zur Entfaltung kommt. Weydens Selbstbildnis verfügt über einen Appellcharakter, der den Rezipienten auffordert, sich mit der bildlichen Darstellung in Beziehung zu setzten, sich auf dessen Ansprache zu beziehen und sich in seinem Handeln und Verhalten gegenüber dem Bild in Stellung zu bringen. Der Vitalitätseffekt der dargestellten Figur resultiert daraus, dass die Materialität des Gemäldes, d.h. seine zweidimensionale, konstante Gegenstandsqualität und somit seine tatsächliche mediale Verfasstheit sich im störungsfreien Betrachtungsprozess der Wahrnehmbarkeit entzieht. Dieser Entzug ermöglicht es dem Betrachter, in der Begegnung mit der leblosen Materialität des Bildes den Objektbezug um ein Ereignis einzutauschen, das im Sinne seiner performativen Fundierung eine intersubjektive Beziehung zwischen Betrachter und Bildgestalt zu evozieren vermag. Worin jedoch die Unterschiede zwischen einem ‚Blicktausch mit Bildern‘ und einem interpersonellen Blickdialog bestehen bzw. wodurch sich die Subjektkonstitution in der spezifischen Konstellation leiblicher Kopräsenz auszeichnet, wird im Folgenden am Beispiel der theatralen (Blick-)Kommunikation pointiert. Denn aus aufführungsanalytischer Sicht scheint das Blicken als intersubjektive Bezugsstiftung und als Wechselspiel des Sehens und (potenziellen) Gesehenwerdens relevant zu sein. Die Bildwirkung eines Selbstportraits wie auch zahlreiche Täuschungseffekte und Blickfallen der zeitgenössischen Kunstproduktion können nicht mit den Auswirkungen verglichen werden, die ein zwischenmenschlicher Blickwechsel hervorruft. Wie aktiv und aktivierend Bilder auch wirken können, es lässt sich nicht mit ihnen interagieren. Sie werden erst durch den Betrachter animiert und verlebendigt, sie widerstehen jedoch aufgrund ihrer Medialität jeglicher Einwirkungsversuche von Seiten des Rezipienten. Wohlgemerkt, der menschliche Blick wird zu einem transformativen Impuls, wenn er nicht auf Artefakte, sondern auf leiblich Anwesende fällt. Er hinterlässt in der sozialen Umwelt zwangsläufig Spuren, partizipiert an der Realität, greift in sie ein und wird gleichsam von ihr gesteuert. Während die Wahrnehmung der „artifiziellen Präsenz“ 2 eines Bildes auf ‚einfacher‘ Kontingenz basiert, so zeichnen sich soziale Interaktionen – um es mit Niklas Luhmann zu definieren – durch eine doppelte Kontingenz aus3. Der Blickwechsel stellt eine Relationalität zwischen Personen dar, die sich in ihrer aktuellen Wahrnehmung wahrnehmen. Der Blick erschafft hier Bilder nicht nur durch die visuelle Erfassung der Welt, sondern auch durch sein Vermögen, den Anderen als Subjekt zu animieren und zu konstituieren bzw. ihn zur Selbstinszenierung, Verstellung oder Anpassung zu motivieren.
2
Wiesing 2005: 70.
3
Siehe Luhmann 1997: 333; Baraldi 1998: 38.
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Die spezifische Medialität des interpersonellen Blicktausches macht der holländische Regisseur Dries Verhoeven in seinem Interaktionsspiel dein reich komme4 zum Thema, indem er Momente des wechselseitigen Selbst- und Fremdbezugs in einer Blickbeziehung zwischen einem Zuschauer und einer Zuschauerin verschränkt. Die Aktion beginnt damit, dass beide in verschiedenen Cafeterias des Wiener Museumsquartiers abgeholt und zu einem Metallcontainer begleitet werden. Nachdem sie den fensterlosen Container barfuß betreten haben, stellen sie fest, dass der Innenraum mittels einer Glasscheibe in zwei Bereiche geteilt ist. Die Besucher können sich weder verbal verständigen noch einander berühren, ihre Kommunikation ist hier auf den Austausch von Blicken beschränkt. Die Stimmen, die man aus dem Off hört, versuchen Sympathie zwischen den Blickenden zu stiften und erzählen Fragmente einer fiktionalen Liebesgeschichte aus männlich bzw. weiblich kodierten Perspektiven. Äußerungen wie „Ich war mir sicher, dass du es sein wirst, ich habe dich draußen gesehen“ bzw. „Was ich dir sage, sollte unser Geheimnis bleiben“ wecken gegenseitiges Vertrauen und münden in Aussagen, die ein (erotisierendes) Begehren erzielen: „Ich will dich berühren“ oder „Ich möchte, dass du mich umarmst“. In dieser Szenerie wird sekundär, was man sieht, denn entscheidender wird, wohin man schaut, d.h. wie, wo und wie lange man jemanden anblickt. Die Zuschauerwahrnehmung oszilliert hier ultimativ zwischen Wirklichkeiten: Sie schwebt zwischen akustisch Erzähltem und unmittelbar Gesehenem, Imaginiertem und Phänomenalem, und zwar deshalb, weil der Blick sich von der akustisch vorgegebenen Narration regelrecht emanzipiert und Subjektivität jenseits der Inszenierbarkeit konstituiert. Die individuellen Blickbewegungen und deren gegenseitige Sichtbarkeit durchkreuzen die Kohärenz der erzählten Liebesgeschichte und führen zu Reaktionen wie Einschüchterung oder Anspannung, Abwendung oder Abschweifung. Die Zuschauer von dein reich komme sehen nicht nur, sondern sie werden gesehen, mehr noch: Sie werden im Akt des Sehens selbst zum ‚Bild‘. Die Idee der Bildwerdung im fremden Blick hat Jean-Paul Sartre als Objektivierung beschrieben: In den Fokus eines fremden Blickes zu geraten heißt für ihn, ein voyeuristisches Wahrnehmungsprivileg zu verlieren, d.h. zum Objekt der Betrachtung und zur Zielscheibe von fremden Werturteilen zu avancieren. Das Gefühl des Gesehenwerdens wendet unseren intrinsischen Seinsmodus in einen exzentrischen Abhängigkeitsbezug. Sartres Beweisführung läuft darauf hinaus, dass der Telos des Blicks in der Objektivierung besteht, doch aus dem angesprochenen Inszenierungsbeispiel ist ersichtlich geworden, dass der Angeblickte gleichzeitig zu einem situa4
Dries Verhoevens szenische Installation dein reich komme hatte am 6. Dezember 2007 vor dem Berliner HAU 2 ihre deutschsprachige Premiere und war anschließend im Mai 2008 im Rahmen der Wiener Festwochen zu sehen.
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tiv verankerten und sozial markierten Individuum wird.5 Jeder Blicktausch ist eine Szene der Subjektwerdung, in der Zuschauer und Akteur ihre festgesetzten Rollen aufgeben müssen und gegenseitig in Macht- und Dependenzbeziehungen eingebettet werden. Sie müssen mit Objektivierungsmechanismen in Situationen doppelter Kontingenz umgehen und soziale Rollen verhandeln. Entsprechend ruft jeder intersubjektiv verhandelte Blick immer auch eine dritte Perspektive wach, nämlich die normative Dimension symbolischer Konventionen und kultureller Verhaltensstandards, und erhebt die visuelle Objektivierung zu einer sozialen Subjektivation. Der Blick, der uns trifft, exponiert sowohl gesellschaftliche Erwartungen als auch ein individuelles Begehren; er treibt uns dazu, in dieser fremden Perspektive als anerkennenswert zu erscheinen. Durch die zwischenleibliche Nähe stellt in Verhoevens Installation die Gerichtetheit der Blicke geradezu ein ethisches Problem dar, weil nicht nur die Teilnehmer selbst, sondern auch ihre Blickrichtungen und somit ihre visuelle Aufmerksamkeit sichtbar gemacht sind:6 Die Zuschauer können sich verunsichert fühlen, ob sie den Anderen anstarren dürfen, ob sie beim Schauen die Augen oder das Gesicht des Anderen bevorzugen sollten oder ob sie besser auf den Körper blicken, damit sie ihn weniger fixieren und sich ‚normgerecht‘ verhalten. Der Blick, der aus den Augen des Anderen herausragt, unseren Körper erreicht und einrahmt, gleicht der Stimme, die Louis Althussers Theorie der „Anrufung“ zufolge Individuen nach den Normen gesellschaftlich anerkannter Ideologien produziert.7 Analog zum Polizisten, der einen Passanten mit dem Aufruf „He, Sie da!“ aus der Anonymität der Masse herauslöst, bewirkt auch der Blick eine „vorübergehende Festnahme“.8 Er unterwirft den Angeblickten einer fremden Perspektive und auferlegt ihm die Koordinaten eines neuen Seinskontextes. Die visuelle Erfassung des Körpers raubt dem Angeblickten zweifelsohne die Selbstintegrität, über die er zu verfügen glaubt, solange er sich als Betrachter von Welt empfindet. Der fremde Blick erzwingt und ermöglicht zugleich die Konstituierung des erblickten Individuums in der Abhän-
5
Es ist keineswegs ausreichend, Betrachter von Welt zu sein, um die Dimension des reflexiven Bewusstseins zu erfahren. Sartre formuliert pointiert: „[D]as Erscheinen eines Menschen als Objekt im Feld meiner Erfahrung ist nicht das, was mich lehrt, daß es Menschen gibt“ (Sartre 2006: 502).
6
Die wechselseitige Aushandlung von Handlungs- und Machtpositionen, die im Wechsel der Blicke vollzogen wird, darf jedoch nicht mit der Lévinasschen Ethik des Antlitzes assoziiert werden. Vor der regelrechten Verquickung zwischen einer Face-to-face-Begegnung und der Ethik des Sehens warnt auch Mieke Bal ausdrücklich (siehe Bal 2005: 151).
7
Siehe Althusser 1977.
8
Althusser 1977: 153.
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gigkeit von der ‚symbolischen Ordnung‘9, die intersubjektive Kommunikation allererst begründet. 10 Entsprechend lassen sich zwischen der Subjektivationsmacht des fremden Blicks und dem wirklichkeitskonstituierenden Effekt eines perlokutionären Sprechakts gravierende Parallelen zeichnen, insofern man das Blicken als eine Handlung begreift, die „bestimmte Effekte bzw. Wirkungen als Folgeerscheinungen“11 sozialen Agierens hervorruft. Man könnte einwenden, dass auch die Blicke von Überwachungskameras animierende Impulse der Individuierung auslösen. Ihre konstante Aufmerksamkeit wirkt auf unser Verhalten weitgehend disziplinierend ein. Auf eine ähnliche Weise verhalten wir uns dem Auge eines Fotoapparats gegenüber: Wir reagieren durch körperliche Resonanzen wie Hin- oder Abwendung, Posieren oder Erröten, oder erfahren eine obsessive Lust an exhibitionistischer Selbstinszenierung und Verstellung. Entsprechend bringen fremde Blicke – seien sie durch Apparate oder körperlich Anwesende exponiert – den Angeschauten sowohl als Objekt wie auch als Subjekt des Sehens hervor. Doch es taucht die Frage auf, wodurch sich die subjektkonstituierende Wirkung des Blicks in Situationen leiblicher Kopräsenz näherhin auszeichnet. Inwieweit differieren interaktive Blickimpulse von den Effekten bildlich verfasster Portraitgestalten oder körperloser Kamerablicke hinsichtlich ihrer Sozialeffekte? Der Blick des Anderen mobilisiert nicht nur die diskursiven Verhaltensnormen einer gesellschaftlichen Formation, wie dies Kameraobjektive ebenfalls tun, er forciert den Angeschauten zugleich, sich an die vermeintlichen subjektiven Anerkennungsansprüche dessen anzupassen, der ihn anschaut. Subjektkonstituierung geht in diesem Fall mit Prozessen der Selbstinszenierung einher, weil man im Blickwechsel nicht nur in einen Kontext, sondern in eine prozessuale Situation integriert wird. Da die fremde Blickperspektive in ihrer Kontingenz nicht ausgelotet, lediglich imaginiert werden kann, ist sie für die prozessuale Erschaffung des Selbst auf Dauer und in einer Wechselwirksamkeit konstitutiv. Im Blick eines leibhaftigen Anderen sind wir dazu gezwungen, das eigene Selbst beständig neu zu entwerfen und unser Verhalten von den Handlungsprozessen des uns Beschauenden 9
Der Begriff der symbolischen Ordnung entstammt der Lacanschen Psychoanalyse und bezeichnet jene diskursive Struktur, die nicht auf einen Ursprung zurückgeführt werden kann, sondern kulturellen, gesellschaftlichen und ideologischen Wandlungsprozessen unterliegt. In Lacans Verständnis konstituiert und sozialisiert die symbolische Ordnung den Menschen, ohne dass sie für einzelne Individuen verfügbar bzw. von ihnen veränderbar wäre (siehe Evans 2002: 39). Dieses starre Verständnis kultureller Normen gilt es im Folgenden in Rückgriff auf die Aufführungskommunikation ein Stück weit zu relativieren.
10 Siehe Althusser 1977: 146. 11 Butler 1998: 11.
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abhängig zu machen, um dauerhaft, d.h. für die Zeit des Blickdialogs, anerkannt zu werden. Der spezifische Subjektivierungseffekt menschlicher Blicke kommt in dein reich komme durch die Kopplung von Stimm- und Blickappellen zum Vorschein: Die akustische Darstellungsebene zielt nämlich darauf, die Zuschauer als solche Geschlechtssubjekte anzurufen, die mit hegemonialen Identitätsnormen konform gehen, d.h. mit Repräsentationsidealen, die Jacques Rancière und Kaja Silverman als dominant fiction(s) bezeichnet haben.12 Die Stimmen aus dem Off ordnen der Zuschauerin entsprechend ein naives, aber geheimnisvolles und ‚unauslotbares‘ Frauenimage zu. Der männliche Zuschauer soll dagegen als ein leicht verängstigter und sensibler Mann erscheinen, der dennoch immer wieder Initiative ergreift und unaufdringliche, aber eindeutige Zeichen der Bezugsstiftung artikuliert. Verhoeven wendet also in seiner Textdramaturgie die Strategie der Typisierung von Frauenund Männeridentitäten an und schreibt deren soziale Relationalität scheinbar fest. Die Konfrontation individueller Blickwünsche arbeitet jedoch gleichzeitig vehement gegen die Stereotypisierung, die als normalisierende Kraft der Repräsentation in zahlreichen kommerziellen Bildprodukten angelegt ist. Die Blicke, die sich eigendynamisch bewegen und sich nicht an die Erzählstruktur anpassen, eröffnen eine Dimension der hegemonialen Identitätskritik, ohne zwangsläufig alternative Identitätskohärenzen zu konstituieren oder zu erfassen. Ihr kritisches Potenzial beruht sowohl auf ihrer unkalkulierten und unverfügbaren Bewegung als auch auf der Tatsache, dass sie für den Anderen permanent sichtbar sind und ihn verunsichern. Der eigentümliche Reiz des Blicktauschs besteht in dein reich komme dementsprechend darin, die akustische Anrufung durch die Erzählstimmen mit Blickappellen zu unterbrechen und zu unterlaufen sowie die Interaktion mit Spannungen, Leerstellen, Kontingenzen, Missverständnissen und Konflikten zu füllen. Jenseits verbaler Sprechakte entsteht hier eine prozessuale Dynamik der gegenseitigen Subjektivierung, die konsolidierte Rhetoriken und Imaginarien einer ‚Liebe auf den ersten Blick‘ destabilisiert. Individuelle Blickhandlungen vermögen in die Ordnungen der Inszenier- und Berechenbarkeit zu intervenieren und darüber hinaus beweisen sie, dass es ohne die Gefahr der Störung, Unterbrechung und Irritation einer Blickbeziehung keinen Akt der Anerkennung und somit keine intersubjektive (Blick-)Kommunikation geben kann. Die doppelt kontingenten Handlungen stellen in dein reich komme die Individualität der Blickenden in den Vordergrund, denn die spontanen, teilweise unbe12 „[The dominant fiction is] the privileged mode of representation by which the image of the social consensus is offered to the members of a social formation and within which they are asked to identify themselves“ (Rancière 1977: 28; vgl. auch Silverman 1992: 2328).
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wussten und unwillkürlich wirkenden Reaktionen ziehen die intersubjektive Aufmerksamkeit auf sich. Zuschauer und Zuschauerin können nicht sofort einschätzen und kalkulieren, wie sich die Situation bzw. die gegenseitigen Interessen und Reaktionen gestalten und sind darum immer wieder verunsichert, an welchen Regeln und Normen sich ihr Handeln orientieren soll. Wie auch immer sich die Zuschauer verhalten, sie werden zu Protagonisten ihrer eigenen ‚Aufführung‘ und zu Subjekten der Kommunikation. Die Expressivität ihres Verhaltens besteht ausgerechnet in der Singularität ihrer Handlungen, deren Unvorhersehbarkeit nicht in herkömmlichen fiktionalen Darstellungsmustern aufgeht. Was in Verhoevens Performance zum Objekt der ästhetischen Betrachtung wird, ist die Prozessualität und Unberechenbarkeit ihrer Selbstinszenierungen, die jedwede Kausaldramaturgie konterkarieren. Die Blickenden werden mitten im Akt ihrer Selbstfindung besehen, man erfasst sie als Subjekte, die sich beständig auf der Suche nach adäquaten Selbstbildern befinden. Sie führen vor Augen, dass die Selbstinszenierung in reziproken und doppelt kontingenten Blickwechseln mit einer prozessualen und unabschließbaren Selbstgenese einhergeht. Anders als in porträtfotografischen Exponaten oder in Akten schauspielerischer Figurendarstellung werden hier keine vorab inszenierten oder materiell bereits fixierten Selbstbilder vor Augen geführt, die als kohärent und illusorisch erscheinen vermöchten. dein reich komme verleiht hingegen den Dimensionen des Scheiterns und des Anti-Konformismus eine reflektierte Sichtbarkeit. Mehr noch: Die Aufführung erhebt die Unvorhersehbarkeit geradezu zum primären dramaturgischen und ästhetischen Prinzip. Dries Verhoeven führt vor, dass Identität im Theater in eine kontingente Szene und nicht ins Bild gesetzt wird. In seiner Performance wird Anerkennung – ganz im Butlerschen Sinne – als eine kommunikative Praxis, ja „als prozessuales Ergebnis von Kommunikation“13 verhandelt. Aus der theatralen Konstellation der aufeinander gerichteten Blicke wird jener Aspekt der Subjektkonstituierung ersichtlich, welcher, so die Politikwissenschaftlerin Isabell Lorey, im juridischen Modell der Identitätsproduktion unbeachtet bleibt. Lorey wendet – insbesondere in Bezug auf Judith Butlers frühere Theorien der Subjektivation – ein, dass die Sozialisation eines Individuums keineswegs auf dessen Relation zum Gesetz reduziert werden darf.14 In ihrer Monographie Immer
13 Schaffer 2008: 151. Mit diesem Ausdruck fasst Johanna Schaffer Judith Butlers Ausführungen zur intersubjektiven Praxis der Anerkennung zusammen (vgl. Butler 2009: 215220). 14 „Da für Butler das Problem der Selbst-Konstitution nicht von Interesse ist, treten juridische Herrschaftsstrukturen, die unter Zwang operieren, in den Vordergrund der Analyse. Durch die zentrale konstituierende Relation von Subjekt-Gesetz bleiben interaktive Prozesse unberücksichtigt. Mit diesem Vorgehen stärkt Butler die Idee eines selbstidentischen, autonomen Subjekts. Diesen reproduzierenden Effekt kann ihre Beschreibung der
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Ärger mit dem Subjekt wertet Lorey die Handlungsmacht einzelner sozialer Akteure auf und akzentuiert damit nachdrücklich die interaktive Dimension der Subjektwerdung, deren Rolle in der menschlichen Sozialisation unentbehrlich ist. Aufführungssituationen, die eine wechselseitige Kommunikation ihrer Partizipanten ermöglichen, schließen somit in der Regel drei Blickperspektiven kurz, die allesamt auf die Subjektkonstitution der Beteiligten Einfluss nehmen können: Blickender, Angeblickter und der Blick der ‚symbolischen Ordnung‘ bilden eine Triade, die intersubjektive (Blick-)Beziehungen konditioniert. Blicke leibhaftig zu wechseln, bedeutet demnach, Beziehungen zwischen Menschen zu initiieren, die erst in dieser prozessualen Bezugsstiftung als Subjekte einer Situation oder Szenerie hervorgebracht und individuiert werden. Die angesprochene Begegnungsszene in Dries Verhoevens dein reich komme besteht aus der unabschließbaren Aushandlung zweier individueller Perspektiven eines Blickregimes. Diese Konstellation provoziert somit die tradierten Definitionen des Sehens und dessen Reduktion auf einen Rezeptionsvorgang, indem sie visuelle Erfahrung als zwischenmenschliche Partizipation zur Geltung bringt. Sie macht darauf aufmerksam, dass der Blick nicht nur für die individuelle visuelle Perzeption konstitutiv ist, sondern gleichsam soziale Effekte erzielt und intersubjektive Relationen fundiert. Er ist ein immaterielles und sich einer konsensuellen symbolischen Kodierung widersetzendes, gleichzeitig aber ein greif- und wahrnehmbare Effekte auslösendes und semiotisch relevantes Mittel der Kommunikation. Er bewirkt, dass man ‚vom Anderen ein Anderer wird‘.
L ITERATUR Althusser, Louis: „Ideologie und ideologische Staatsapparate (Anmerkungen über eine Untersuchung)“, in: ders.: Ideologie und ideologische Staatsapparate. Aufsätze zur marxistischen Staatstheorie. Hamburg/Westberlin: Verlag für das Studium der Arbeiterbewegung 1977, 108-153. Bal, Mieke: „The Commitment to Look“, in: Journal of Visual Culture 4, 2 (2005), 145-162. Baraldi, Claudio: „Doppelte Kontingenz“, in: ders./Corsi, Giancarlo/Esposito, Elena (Hg.): GLU. Glossar zu Niklas Luhmanns Theorie sozialer Systeme. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1998, 37-39. Butler, Judith: Haß spricht. Zur Politik des Performativen. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1998.
Fiktion der Selbst-Identität nicht verhindern. Damit gerät Butler mit ihrer Subjektkritik in einen Zirkelschluß“ (Lorey 1996: 142).
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Butler, Judith: Die Macht der Geschlechternormen und die Grenzen des Menschlichen. Frankfurt am Main: Suhrkamp 2009. Evans, Dylan: „andere/Andere“, in: ders.: Wörterbuch der Lacanschen Psychoanalyse. Wien: Turia und Kant 2002, 38-40. Kues, Nikolaus von: „De visione Dei (Die Gottes-Schau)“, in: ders.: Philosophischtheologische Schriften. Bd. 3. Wien: Herder 1967, 93-219. Lorey, Isabell: Immer Ärger mit dem Subjekt. Theoretische und politische Konsequenzen eines juridischen Machtmodells: Judith Butler. Tübingen: edition diskord 1996. Luhmann, Niklas: Die Gesellschaft der Gesellschaft. 2 Bde. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1997. Rancière, Jacques: „Interview: The Image of Brotherhood“, in: Edinburgh Magazine 2 (1977), 26-31. Sartre, Jean-Paul: Das Sein und das Nichts. Versuch einer phänomenologischen Ontologie. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 2006. Schaffer, Johanna: Ambivalenzen der Sichtbarkeit. Über die visuellen Strukturen der Anerkennung. Bielefeld: transcript 2008. Silverman, Kaja: Male Subjectivity at the Margins. New York/London: Routledge 1992. Wiesing, Lambert: Artifizielle Präsenz. Studien zur Philosophie des Bildes. Frankfurt am Main: Suhrkamp 2005.
Subjektverortung – Subjektpassage Der Bahnhof als theatraler Raum A NNIKA W EHRLE
„An kaum einem anderen Ort, so die einhellige Meinung, amalgamiert und manifestiert sich gesellschaftliches Leben so vielfältig und facettenreich wie in und an (Großstadt)Bahnhöfen.“1 Mit diesen Worten beschreibt Claudia Wucherpfennig in ihrer kulturwissenschaftlichen Analyse die Bedeutung von Bahnhöfen. Unter theaterwissenschaftlichen Gesichtspunkten stellt der Bahnhof als konkreter Raum und als gesellschaftliches Phänomen ein vielschichtiges Analysefeld theatraler Vorgänge, Rollenspiele und alltäglicher Inszenierungsstrategien dar.2 Ein Blick auf die zeitgenössische Theaterlandschaft macht zudem deutlich, dass etwa seit den 1990er Jahren der Bahnhof und andere Durchgangsräume des Alltags – wie Shopping Malls und Verkehrsmittel – zunehmend auch in den Fokus der Theaterpraxis rücken.3 In Form einer doppelten Perspektivierung wird daher der Bahnhof als Alltagsbühne des Subjekts sowie als Raum theatraler Inszenierungspraxis in den Blick genommen. Anhand der exemplarischen Analyse zweier sehr unterschiedlicher Inszenierungskonzepte an Bahnhöfen – der Eichbaumoper aus dem Jahr 2009 und
1
Wucherpfennig 2006: 119.
2
Zur näheren Beschäftigung mit dem Themenfeld Alltag, Rolle und Inszenierung vgl. z.B.
3
Als weitere Beispiele für Theater in und an Bahnhöfen in den letzten Jahren seien exemp-
Goffman 2010. larisch La Traviata im Hauptbahnhof Zürich 2008 (Regie: Adrian Marthaler), Die Zauberflöte in der U-Bahn, U-Bahnhof Bundestag Berlin 2008 (Regie: Christoph Hagel), Hamlet im Hauptbahnhof Stuttgart 2008/09 (Regie: André Rößler) und Sometimes I think I can see you im Rahmen von Parallele Städte/Cuidades Paralelas 2010/11 (Regie: Meriano Pensotti) genannt.
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Sounding D, einem deutschlandweiten Klangprojekt des Netzwerkes Neue Musik, entstanden im September 2010 –, werden die Grenzverläufe alltäglicher und performativer Vorgänge in den Blick genommen. Topographische, gesellschaftliche, individuelle und ästhetische Prozesse werden dabei stets in enger Verschränkung betrachtet, was auch Marc Augé als Voraussetzung einer zeitgemäßen Betrachtung formuliert: „Keine Analyse des sozialen Gefüges darf länger das Individuum verkennen, und keine Analyse des Individuums kann fortan die Räume ignorieren, durch die es sich hindurchbewegt.“4 Neben der Engführung dieser Perspektiven werden auch die einzelnen Begriffe Raum, Gesellschaft und Subjekt nicht als absolute, naturgegebene Größen verstanden, sondern als relationale und prozessuale Gebilde, die immer vor dem Hintergrund ihrer spezifischen Perspektivierung und Kontextualisierung zu lesen sind.5
D ER B AHNHOF
ALS
ALLTAGSBÜHNE
DES
S UBJEKTS
Seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts fungieren Bahnhöfe innerhalb von Städten als zentrale Ausrichtungs- und Orientierungspunkte sowie als „Übergang zwischen städtischem Terrain und Unterwegssein“.6 Betrachtet man Bahnhöfe rein funktional, so handelt es sich um alltägliche Gebrauchsorte. Sie dienen den Menschen als Ausgangs- und Zielpunkte sowie Zwischenhalte auf zurückzulegenden Strecken, etwa auf dem täglichen Weg zur Arbeit. Diese Funktion des Zwischenhaltes trifft insbesondere auf U- und S-Bahnstationen zu, welche in heutigen Städten ein Netz dezentraler Mobilitätsknotenpunkte bilden. Diese beiden Bahnhofsformen weisen in ihrer räumlichen Positionierung innerhalb des Stadtgefüges sowie ihren Funktionen und Assoziationszuschreibungen deutliche Unterschiede auf. Ohne die damit einhergehenden Differenzen zu negieren, scheint es legitim, unter dem Blickwinkel der Subjektverortung in Durchgangsräumen die beiden Bahnhofsformen gemeinsam in den Blick zu nehmen. Die im Folgenden ausgeführten Aspekte des Bahnhofsraums als Alltagsbühne des Subjekts treffen somit in unterschiedlichem Grade auf beide Formen zu. Mit zunehmender gesellschaftlicher Flexibilität und Mobilität, zwei hervorstechenden Merkmalen der Lebenswelt des späten 20. und des 21. Jahrhunderts, steigt die Zahl derer, die einen Großteil ihrer Zeit ‚auf dem Weg‘ verbringen. Die Ortsgebundenheit von Menschen wird durch die mühelose Überwindung weltweiter Distanzen abgelöst, und zwar sowohl auf virtueller und kommunikativer, als auch auf
4
Augé 2010: 119-120.
5
Siehe hierzu unter anderem Reckwitz 2010 und Löw 2001.
6
Geisthövel/Knoch 2005: 15.
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körperlicher und materieller Ebene. Auf diese Weise werden Bahnhöfe und andere Passagenräume zu Zentren menschlicher Alltagswelt, zu „vielschichtige[n] Transformationsgebäude[n], in denen zwischen gestern und morgen, vertraut und unvertraut und zwischen nah und fern vermittelt wird.“7 Durch die starke Verbreitung des Individualverkehrs und die vielfache Verlagerung alltäglicher Mobilität auf das Auto durchlief der Bahnhof eine starke Bedeutungsverschiebung. Dennoch ist er dadurch keineswegs zu einem marginalen Randort der Gesellschaft geworden. Vielmehr birgt er für eine kulturwissenschaftliche Analyse gesellschaftlicher und subjektbezogener Prozesse nach wie vor großes Deutungspotential.8 Einen Ansatzpunkt hierzu liefert die Betrachtung zeitlicher Verortung: Obwohl Zeit und Pünktlichkeit an Bahnhöfen im Mittelpunkt stehen, und die Bahnhofsuhr als Inbegriff städtischer Verständigung auf eine gemeinsame Zeitrechnung bezeichnet werden kann,9 ist der Rhythmus des Bahnhofsgeschehens und der dortigen Passanten sehr disparat, da es weder ein gemeinsames Ziel noch einen einheitlichen zeitlichen Rahmen gibt. Zwar verbindet die Personen, die sich an dem Ort befinden, meist eine ähnliche Zweckabsicht, dennoch sind sie kaum als Gemeinschaft, sondern eher als flüchtige, heterogene Menschenansammlung zu bezeichnen. „Am Bahnhof sind viele Menschen aus vielen Gründen anwesend. Indem sie kommen und gehen, bleiben sie als Menge eine konstante Erscheinung.“10 Innerhalb dieser weitgehend anonymen Masse bilden sich jedoch ständig kleine Einheiten und Personengruppierungen von Menschen, die sich zum Beispiel gegenseitig begrüßen, verabschieden oder zusammen verreisen. Aus diesem Grund ließe sich von vielen kleinen Gemeinschaftseinheiten innerhalb einer Nicht-Gemeinschaft sprechen. An diesen Moment zeitweiliger Vergemeinschaftung schließt sich eine weitere Funktion an, die jedoch vorwiegend auf die Form des Hauptbahnhofs, nicht auf die des U-Bahnhofs zutrifft: der Bahnhof als Kulminationspunkt und Forum menschlicher Begegnungen und Emotionen wie Aufregung, Abschiedsschmerz oder Wiedersehensfreude. Über die reale Interaktion zwischen Subjekten hinaus dienen Bahnhöfe zudem häufig als Projektionsflächen menschlicher Träume, Vorstellungen und Wünsche: „Ebenso wie die Eisenbahn und der Bahnhof wie Inszenierungen
7 8
Legnaro/Birenheide 2005: 53. Die Sprengkraft, die Bahnhöfe auch in politischer Hinsicht bergen, lässt sich beispielhaft an den Diskussionen um das Bauprojekt Stuttgart 21 ablesen. Einen Überblick zum Thema bietet die Sonderbeilage „Stuttgart 21. StZ-Sonderbeilage: Fakten – Streitpunkte – Perspektiven“, in: Stuttgarter Zeitung (25.09.2010).
9
Die Vereinheitlichung der Uhrzeiten wurde erst 1893 als Reaktion auf die Erfindung der Eisenbahn und den Ausbau des Schienennetzes aus Gründen der Kompatibilität der Fahrpläne vorgenommen (siehe Gottwaldt 2005: 24).
10 Gottwaldt 2005: 22.
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erscheinen mögen, die von Menschheitsträumen erzählen, so sind auch in die Bahnhofsgeschichte(n) – rückblickende wie vorausschauende Menschheitsträume eingeschrieben.“11 Heutige Bahnhofskonzeptionen schaffen für diese flüchtigen Gemeinschaften und das einzelne Subjekt gezielt Angebote des kurzzeitigen Verweilens, wodurch der reine Durchgangscharakter unterbrochen wird. Für die unterschiedlichsten Bedürfnisse und Zielgruppen halten Großstadtbahnhöfe des 21. Jahrhunderts diverse Konsum-, Gastronomie- und Unterhaltungsangebote sowie private Rückzugsräume auf Zeit für Vielreisende bereit. Der Bahnhof wird somit für das Subjekt zu einer „Passage des Verweilens“12. Auf diese Weise bietet der Bahnhof eine Plattform für Inszenierung und Neuentwurf des eigenen Ichs, einen Raum des „Selbsterlebens und der Selbstinszenierung“13. Der Theatermetapher bedient sich auch Steven Parissien: Er beschreibt Bahnhöfe als Orte, an denen sich „echte Dramen abspielen und fiktive Dramen erdacht werden.“14 In Ergänzung zu der hier angelegten ersten Perspektive, Bahnhöfe und die dort im Alltag zu beobachtenden Bewegungen, Begegnungen und Inszenierungsprozesse mit theaterwissenschaftlichem Blick zu analysieren, scheint es nur folgerichtig, in einem zweiten Schritt konkrete Theaterereignisse, die sich mit dem Bahnhofsraum auseinandersetzen und diesen zu theatralen Zwecken nutzbar machen, in den Fokus zu rücken.
D ER B AHNHOF ALS R AUM THEATRALER S UBJEKTKONSTRUKTIONEN Passierte man am 24. Juni 2009 die U-Bahnhaltestelle Eichbaum zwischen Mülheim an der Ruhr und Essen oder durchquerte diese mittels der dort verkehrenden Linie U 18, bot sich ein ungewöhnliches Bild bestehend aus Opernsängern, Orchestermusikern, Passanten, Zuschauern, Berufspendlern und Schaulustigen. Die spontane Einordnung der an dem Ort Versammelten, die Sondierung der Lage und Ereignisse sowie die eigene Positionierung fielen schwer. Die Rede ist von der unter anderem von raumlabor berlin initiierten Eichbaumoper15, die an der U-Bahnhaltestelle Eichbaum sowie in einem Zug der U18 zur Aufführung kam.
11 Wucherpfennig 2006: 75. 12 Legnaro/Birenheide 2005: 60. 13 Gottwaldt 2005: 20. 14 Parissien 1997: 11. 15 Für nähere Informationen zur Eichbaumoper siehe www.eichbaumoper.de [08.04.2011].
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Abbildung 1: Vorbereitungen zur Eichbaumoper 2009.
Die Oper – die im Folgenden als erstes Beispiel für die performative Nutzung eines Bahnhofsraums dient – wurde eigens für diesen Ort geschrieben und in zweijähriger Vorarbeit gemeinsam mit den Anwohnern sowie den Passanten der Haltestelle entwickelt. Die Projektziele bestanden vorrangig darin, den bislang durch Überfälle und Vergewaltigungen als ‚Angsthaltestelle‘ bekannten Ort mit neuer, positiverer Bedeutung zu belegen und gleichzeitig eine engere Bindung der Menschen aus der Umgebung an den Ort zu initiieren und zu befördern. Die gewünschte ‚Verortung‘ von Menschen und zugleich die ‚Vermenschlichung‘ des Ortes versuchten die Initiatoren des Opernprojektes mit verschiedenen Mitteln zu erreichen. Bereits der Blick auf die alltägliche Nutzung des Ortes bietet einen zentralen Anhaltspunkt: Für Pendler zwischen Mülheim und Essen stellt die U-Bahnstation einen von zahlreichen Zwischenstopps auf ihrem täglichen Weg dar. Jedoch handelt es sich nicht nur um eine hoch frequentierte Bahnlinie, die den Eichbaum kreuzt – auch eine der meist befahrenen Autobahnen Deutschlands, die A 40, weist exakt oberhalb der Haltestelle ein zentrales Autobahnkreuz auf. Zudem bietet die UBahn-Unterführung den einzigen Fußgängerübergang zwischen den beiden Mülheimer Wohngebieten links- und rechtsseitig der Bahnschienen. Ein Durchgangsraum also im wörtlichen Sinne, viel genutzt, meist jedoch lediglich im Sinne notwendiger Funktionalität rasch passiert, ohne dass sich ein Anlass bieten würde, dort zu verweilen. Diesen Ort wählte das Eichbaumopernteam und stellte sich den Passanten gewissermaßen mitten in den Weg: Bereits zwei Jahre vor der Premiere errichteten die Initiatoren an der Haltestelle eine sogenannte Opernbauhütte und waren selbst fortan dauerhaft vor Ort präsent. Die Bauhütte diente als Anlaufstelle und Kommunika-
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tionszentrum, dort wurde gearbeitet, geplant, aber auch gefeiert, gegrillt und Fußball geschaut. Dadurch wurde die Arbeit an dem Projekt von Beginn an für alle Passanten sichtbar und erregte Interesse und Aufmerksamkeit. Neben der damit entstehenden Präsenz des Projektes wurde zugleich exemplarisch ‚vorgelebt‘, dass der Ort außer als Durchgangsraum auch als kreatives Betätigungsfeld sowie als Begegnungs- und Kommunikationsstätte fungieren kann. Nachdem auf diesem Wege ein Gespräch mit zahlreichen Anwohnern zu Stande gekommen war, wurden diese auch in die inhaltliche Arbeit einbezogen. Ziel war eine Intensivierung der lokalen Verortung der beteiligten Subjekte – nicht nur auf geographischer sondern auch identifikatorischer Ebene. Die Anwohner wurden aufgefordert, konkret an der Entstehung einer Oper für ‚ihre‘ U-Bahnstation teilzuhaben und Texte und Geschichten beizutragen, die aus ihrem eigenen Leben und ihren Erfahrungen mit dem Eichbaum geschöpft werden sollten. Auch Chor und Statisterie bestanden zu großen Teilen aus Bewohnern des Viertels. Sowohl die Planungsund Konzeptionsphase als auch das Aufführungsgeschehen selbst waren damit maßgeblich durch die Mitwirkung der Anwohner geprägt. Wichtiger Bestandteil der Inszenierung war zudem, dass der Ort während der Aufführung nicht abgesperrt wurde und auch der alltägliche U-Bahnbetrieb weiterlief. Dadurch kam es zu einer unüberschaubaren Durchmischung von Akteuren, Statisten und (zunächst) unbeteiligten Passanten. Zum einen verwischten somit die Grenzen zwischen Inszeniertem und Alltäglichem, zum anderen erhöhte sich die räumliche sowie die soziale Zugänglichkeit des Theaterereignisses. Durch ihr Vorgehen weisen die Initiatoren der Eichbaumoper die Bedeutung von Orten – wie dieser bis dato als ‚Angstraum‘ bekannten U-Bahnstation – als veränder- und mitprägbar aus. Anstelle einer Veränderung von oben, über die Köpfe der Raumnutzer hinweg, zeigen sie auf, dass bauliche Strukturen zwar bestimmte Nutzungsweisen vorgeben oder zumindest nahelegen können, dass es sich bei Bedeutungszuschreibungen von Räumen jedoch stets um offene, prozessuale Vorgänge handelt, in die sich das einzelne Subjekt einbringen und einschreiben und sich zugleich an dem Ort selbst neu ausrichten und entwerfen kann. Die hier zu Grunde liegende Konzeption lässt sich mit dem relationalen, prozessualen Raumansatz Martina Löws stützen, welche Raumentstehung untrennbar mit „menschliche[r] Konstruktionsleistung“16 verknüpft: Wir begreifen Räume als relationale (An)Ordnungen von Lebewesen und sozialen Gütern an Orten. Mit dem Begriff der (An)Ordnung wird betont, dass Räume erstens auf der Praxis des Anordnens (der Leistung der wahrnehmend-synthetisierenden Verknüpfung sowie auf einer Platzierungspraxis) basieren, Räume aber zweitens auch eine gesellschaftliche Ordnung vor-
16 Löw 2001: 66.
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geben. Diese Ordnung im Sinne von gesellschaftlichen Strukturen ist sowohl dem Handeln vorgängig als auch Folge des Handelns.17
Daran anschließend lässt sich die Eichbaumoper als eine Art Anregung zur Einverleibung des Ortes und zur Wahrnehmung der eigenen Lebenswelt als gestaltbaren und strukturierenden Möglichkeitsraum bezeichnen. Jedoch nicht nur für das einzelne Subjekt kann es im Zuge eines solchen Projektes zu Veränderungen und Transformationen kommen, sondern auch für Gruppen und Gemeinschaften. Durch die beschriebene Form eines theatralen Ereignisses kann – überspitzt gesagt – eine zeitweilige Verdörflichung urbaner Räume bewirkt werden: im Sinne der Transformation eines Ortes, der sonst lediglich der raschen Passage dient, hin zu einem Raum des Begegnens, Wiedererkennens und Innehaltens. Auf diese Weise entsteht die Möglichkeit für Veränderungen bezüglich Gemeinschaftsbildung und Lokalidentität. Die Nachhaltigkeit der beschriebenen Konzeption bestätigt die weit über den Aufführungszeitraum der Eichbaumoper hinausreichende Resonanz der Anwohner sowie die Nutzung der U-Bahnstation für Folgeprojekte wie etwa die Eichbaumboxer, einem 2010 von Jugendlichen der Umgebung organisierten Boxkampf. Das zweite gewählte Beispiel Sounding D unterliegt einer gänzlich anderen Grundkonzeption, besonders was den Aspekt der Verortung von Subjekten und den Umgang mit Orten betrifft. Es handelt sich bei Sounding D um ein deutschlandweites Klangprojekt des Netzwerkes Neue Musik, bestehend aus zahlreichen musikalischen Einzelaktionen an 15 beteiligten Bahnhöfen.18 In Mainz wurden beispielsweise Reisende von sogenannten Klangagenten mit Kopfhörern ausgestattet und durch die Gegend um den Bahnhof geführt. Die Klangagenten sammelten mit Mikrofonen verschiedene Alltagsgeräusche, welche die Reisenden über ihre Kopfhörer hörten. Auf akustischem Weg wurden somit neue Perspektiven auf die scheinbar vertraute Bahnhofumgebung eröffnet.
17 Löw 2008: 63. 18 Für nähere Informationen zu Sounding D siehe www.sounding-d.net [08.04.2011].
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Abbildung 2: Klangagent bei Sounding D, Mainz 2010.
Verbunden wurde das Projekt durch den Sounding D-Zug, der als fahrender Klangraum spiralförmig durch Deutschland fuhr, an diversen Bahnhöfen haltmachte und abschließend Eisenach, die geographische Mitte Deutschlands als Endstation anfuhr. Mit dem Einzug Neuer Musik und experimenteller Klangprojekte in die als Bachs Geburtsort bekannte Stadt, wurde der Versuch unternommen, an das musikalische Interesse der Stadtbewohner und -besucher anzuknüpfen und zugleich die (hoch)kulturelle Vorprägung aufzubrechen. Mithilfe des Klangzuges sollte Neue Musik sinnbildlich in die Mitte Deutschlands getragen und eine eigene Einschreibung in den assoziativ vorbesetzten Raum unternommen werden. Der Zug selbst fungierte einerseits als Plattform für verschiedene Ausstellungen und Klanginstallationen, andererseits als städteverknüpfendes Tonstudio für Bahnhofs- und Menschengeräusche. Diese wurden an den verschiedenen Stationen gesammelt, aufgezeichnet und im Anschluss von dem Komponisten Robin Minard zu einer großen Klanglandschaft der Bahnhöfe Deutschlands, einer Art akustischen Bahnhofsklangessenz, zusammengeführt, an der sich hunderte von Subjekten – teils bewusst teils unbewusst – akustisch beteiligt hatten. Wie bei der Eichbaumoper wurden so die Orte selbst und die sie durchlaufenden Passanten zu projektkonstituierenden Akteuren. Ein entscheidender Unterschied liegt jedoch darin, dass es sich bei Sounding D nicht um die Einschreibung in einen konkreten, eindeutig lokalisierbaren Raum handelt. Vielmehr fußt das Konzept auf einem Zug als beweglichem Raum, welcher als mobile Klangsammelstelle unterschiedliche Bahnhofsräume miteinander verknüpft. An den Bahnhöfen der jeweiligen Städte befinden sich stets neue Menschen, Klänge und Ortsgegebenheiten, die als Teile eines großen Klangpuzzles fungieren. Das führt dazu, dass der
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Einzelne ebenfalls zu einem mobilen Element eines Gesamtgefüges wird, in dem er weder eine eindeutige Lokalisierung der eigenen Position vornehmen, noch den Gesamtzusammenhang gänzlich überblicken kann. Der Schwerpunkt liegt somit bei Sounding D auf der Beweglichkeit und dem Passieren als transitorischem Vorgang sowie dem Generieren eines Bahnhofsklanges, nicht auf der konkreten lokalen Verortung und der langfristigen Umkodierung eines Ortes wie dies bei der Eichbaumoper der Fall ist. Die hier gewählte Vorgehensweise führt auch zu der Frage nach dem Profil oder der Wiedererkennbarkeit von Orten. Viele heutige Passagenräume ähneln sich sehr stark und besitzen wenige ortsspezifische Kennzeichen. Diese Tatsache verstärkt den Zwischenstatus der Orte – von Marc Augé als Nicht-Orte bezeichnet19 – da diese überall und nirgendwo sein könnten: „So wie ein Ort durch Identität, Relation und Geschichte gekennzeichnet ist, so definiert ein Raum, der keine Identität besitzt und sich weder als relational noch als historisch bezeichnen lässt, einen NichtOrt.“20 Folglich fällt es schwer, eine Verortung des Raumes und somit des Subjekts – im Sinne einer Selbstverortung – vorzunehmen. Die einzelnen Orte werden ähnlich eines Baukastenprinzips austauschbar. Im Falle von Sounding D finden sich zwei gegenläufige Strategien, um auf künstlerischem Weg auf diese Tendenz der Vereinheitlichung zu reagieren. Zum einen findet eine Hervorhebung der jeweiligen Ortsspezifik statt, indem jede beteiligte Stadt ein eigenes, auf den speziellen Bahnhof zugeschnittenes Projekt zum Thema Klang entwickelte. Zum anderen lässt sich das Konzept auch als Hervorhebung der Austauschbarkeit lesen. Als ‚Endprodukt‘ entsteht eine große Klangcollage, die eine Loslösung vom konkreten Ort bewirkt und die von einzelnen Subjekten erzeugten Klänge zu einem ‚Klangganzen‘ verschmilzt. Auf diese Weise wird gerade die Unspezifik des einzelnen Ortes thematisiert und somit auf das generelle Phänomen der Ortlosigkeit von Durchgangsräumen aufmerksam gemacht.
F AZIT Mit Blick auf die Subjektkonstitution in theatral genutzten Durchgangsräumen sind drei Aspekte hervorzuheben, die in diesem Zusammenhang besondere Relevanz aufweisen: die Zugänglichkeit von Kunst, die Thematisierung gesellschaftlicher
19 „Zu den Nicht-Orten gehören die für den beschleunigten Verkehr von Personen und Gütern erforderlichen Einrichtungen (Schnellstraßen, Autobahnkreuze, Flughäfen) ebenso wie die Verkehrsmittel selbst oder die großen Einkaufszentren oder die Durchgangslager, in denen man die Flüchtlinge kaserniert“ (Augé 2010: 42). 20 Augé 2010: 83.
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Tendenzen sowie die Bedeutungszuschreibung beziehungsweise -umschreibung von Orten. Beide Beispiele zeigen, dass sich die Zugänglichkeit von Theater mittels der Positionierung theatraler Ereignisse an Bahnhöfen erhöht, da die bespielten Ort nicht länger geschlossene, eigens konzipierte Kunsträume darstellen, sondern scheinbar vertraute Alltagsorte, an denen man sprichwörtlich en passant vorbeikommt. Hinzu kommt die unmittelbare Einbeziehung der Passanten ins theatrale Geschehen, wodurch ein Demokratisierungsprozess von Kunst eingeleitet werden kann, nicht zuletzt, da soziale Staffelungen durch Eintrittspreise und Rang-LogenSysteme ebenso wegfallen wie die bewusste Entscheidung, ein Theaterstück oder Konzert zu besuchen. Zum Zweiten werden gesellschaftliche Entwicklungen wie Rast- und Ortslosigkeit durch das Aufsuchen von Räumen thematisiert, in denen solche Phänomene paradigmatisch sind. Pendler und Jetsetter, die sich stets zwischen verschiedenen Orten befinden, werden genau in diesen Zwischenräumen aufgesucht. Dadurch findet im ersten Schritt eine Thematisierung und Bewusstmachung gesellschaftlicher Phänomene statt. Im zweiten Schritt wird die Möglichkeit zur kurzzeitigen Entschleunigung und Verankerung des Subjekts an einem Ort mittels theatraler Intervention eröffnet. Da durch müheloses Überwinden von Distanzen, flexible Mobilität und virtuelle Vernetzung heute oft keine bewusste Grenzüberschreitung mehr vollzogen werden muss, werden dennoch bestehende sowie notwendige Grenzziehungen leicht übersehen oder verwischt. Durch das zwangsläufige Innehalten in einem alltäglichen Passagenraum durch theatrale Intervention werden auf die dem Ort bei täglicher Nutzung eigene Rast- und Grenzenlosigkeit hingewiesen und allgemeine Entgrenzungstendenzen der Gesellschaft offen gelegt. Theatrale Ereignisse bewirken somit in diesem Fall nicht nur einen Abbau von Grenzen, sondern ziehen auch neue Grenzen im Sinne produktiver Schwellen 21 innerhalb der scheinbar grenzenlosen und mobilen Alltagswelt ein. Dadurch entsteht neuer Raum zur Überprüfung und Neudefinition gesellschaftlicher und subjektiver Grenzverläufe. Der dritte Aspekt bezieht sich auf die Bedeutungszuschreibung und -umschreibung von Räumen. Durch Theaterprojekte wie die genannten kann es zu Bedeutungsumkodierungen kommen sowie zu einer Einschreibung des Subjekts in den jeweiligen Ort. Dies kann sich sowohl in sichtbaren Modifikationen des Ortes selbst, zum Beispiel durch Veränderungen an Gestalt oder Nutzungsweise niederschlagen, wie auch in der Fortschreibung in den Handlungen sowie dem Gedächtnis der Teilnehmer und Passanten.
21 Zum Begriff der Schwelle in diesem Zusammenhang siehe Fischer-Lichte 2004: 305-362 sowie Fischer Lichte et al. 2006: 7-9.
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Abschließend ist festzustellen, dass die theatrale Nutzung alltäglicher Durchgangsräume sowohl zahlreiche Aspekte räumlicher, zeitlicher und sozialer Verortung von Subjekten zeigt und transparent macht, als auch neue Verortungsoptionen schafft. Teilweise sind dadurch erzeugte Veränderungen auf die Dauer des theatralen Ereignisses beschränkt, es kann jedoch, wie im Beispiel Eichbaumoper, auch zu längerfristigen Transformationen kommen.
L ITERATUR Augé, Marc: Nicht-Orte. [orig. 1992] München: C.H. Beck 2010. Fischer-Lichte, Erika: Ästhetik des Performativen. Frankfurt am Main: Suhrkamp 2004. Fischer-Lichte, Erika et al. (Hg.): Auf der Schwelle. Kunst, Risiken und Nebenwirkungen. München: Wilhelm Fink Verlag 2006. Geisthövel, Alexa/Knoch, Habbo (Hg.): „Bewegen: Orte der Erweiterung“, in: dies.: Orte der Moderne. Erfahrungswelten des 19. und 20. Jahrhunderts. Frankfurt am Main: Campus 2005, 15-17. Goffman, Erving: Wir alle spielen Theater. Die Selbstdarstellung im Alltag. München: Piper 82010. Gottwaldt, Alfred: „Der Bahnhof“, in: Geisthövel, Alexa/Knoch, Habbo (Hg.): Orte der Moderne. Erfahrungswelten des 19. und 20. Jahrhunderts. Frankfurt am Main: Campus 2005, 17-27. Legnaro, Aldo/Birenheide, Almut: Stätten der späten Moderne. Reiseführer durch Bahnhöfe, shopping malls und Disneyland Paris. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften 2005. Löw, Martina: Raumsoziologie. Frankfurt am Main: Suhrkamp 2001. Löw, Martina: Einführung in die Stadt- und Raumsoziologie. Opladen und Farmington Hills: Verlag Barbara Budrich 2008. Parissien, Steven: Bahnhöfe der Welt. Eine Architektur- und Kulturgeschichte. München: Knesebeck 1997. Reckwitz, Andreas: Subjekt. Bielefeld: transcript 2010. Wucherpfennig, Claudia: Bahnhof – (stadt)gesellschaftlicher Mikrokosmos im Wandel: eine „neue kulturgeographische“ Analyse. Oldenburg: BIS-Verlag der Universität Oldenburg 2006. In: http://nbn-resolving.de/urn/resolver.pl?urn= urn:nbn:de:gbv:715-oops-8874 [08.04.2011].
Das un-heimliche Subjekt Szenographien des Wohnens in der Gegenwartskunst (Rachel Whiteread, David Hoffos) M ICHAEL B ACHMANN
Während seiner Zeit im amerikanischen Exil schrieb Theodor W. Adorno die Vermutung nieder, dass angesichts der Verbrechen, die in Europa vor sich gingen – und deren volles Ausmaß er zu jenem Zeitpunkt noch nicht kennen konnte – sich das Wohnen verbiete. In „Asyl für Obdachlose“, der Passage aus den Minima Moralia, die mit dem berühmten Satz endet, dass es „kein richtiges Leben im falschen“1 gäbe, notiert der deutsch-jüdische Philosoph um 1944: Eigentlich kann man überhaupt nicht mehr wohnen. Die traditionellen Wohnungen, in denen wir groß geworden sind, haben etwas Unerträgliches angenommen: jeder Zug des Behagens darin ist mit Verrat an der Erkenntnis, jede Spur der Geborgenheit mit der muffigen Interessengemeinschaft der Familie bezahlt. [...] Das Haus ist vergangen. Die Zerstörungen der europäischen Städte ebenso wie die Arbeits- und Konzentrationslager setzen bloß als Exekutoren fort, was die immanente Entwicklung der Technik über die Häuser längst entschieden hat.2
Adornos Überlegungen, ausgelöst durch die konkrete historische Situation von Vertreibung und Exil, sind Bestandteil eines kritischen Diskurses über das Wohnen seit dem 19. Jahrhundert. Darauf verweist schon der Titel des Aphorismus („Asyl für Obdachlose“), den Adorno aus Siegfried Kracauers essayistischer Sozialstudie Die Angestellten (1929) übernimmt.3 Unter Anspielung auf Georg Lukács’ Bestimmung
1
Adorno 1980: 43.
2
Adorno 1980: 42.
3
Siehe Lauffer 2011: 34. „Asyl für Obdachlose“ ist eine Kapitelüberschrift bei Kracauer.
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der Moderne als Epoche „transzendentale[r] Obdachlosigkeit“4 beschreibt Kracauer in jener Artikelsammlung das seit Ende des 19. Jahrhunderts wachsende Angestelltenmilieu als „geistig obdachlos“, da ihm wegen der wirtschaftlichen Entwicklung „das Haus der bürgerlichen Begriffe und Gefühle, das [es] bewohnt hat, [...] eingestürzt“ sei.5 Statt sich der Situation zu stellen, die sie ökonomisch vom Bürgertum trennt, finden die Angestellten ihr vermeintliches ‚Asyl‘ in der Wirklichkeitsflucht, namentlich in Vergnügungspalästen wie dem Berliner Haus Vaterland, deren exotische Einrichtung und „hochherrschaftliche Umgebung“6 erlaube, den sozialen Aufstieg als Schein zu erleben, als „Gesellschaftsreise ins Paradies“.7 Nach 1945 – und bereits im Exil – wäre das Festhalten am Privatleben als einem Raum des Geborgen-Seins und des Behagens, wie ihn die bürgerliche (‚traditionelle‘) Wohnung in den Minima Moralia verkörpert, für Adorno ein ähnlicher Fall von Selbstbetrug. Er schlägt deshalb ein „unverbindliches, suspendiertes“ Verhalten gegenüber dem Wohnen als Ort des Privatlebens vor: „[…] das Privatleben führen, solange die Gesellschaftsordnung und die eigenen Bedürfnisse es nicht anders dulden, aber es nicht so belasten, als wäre es noch gesellschaftlich substantiell und individuell angemessen“. 8 Folgerichtig schreibt Adorno weiter, dass es künftig zur Moral gehöre, „nicht bei sich selber zu Hause zu sein“.9 Man müsse das Leben so einrichten, dass dieses Nicht-zu-Hause-Sein im eigenen Haus jederzeit klar erkennbar bleibe, man also sein Leben nicht – oder nur auf Widerruf – einrichte. Aber auch das ist laut Adorno unmöglich, da es „kein richtiges Leben im falschen“10 gibt: Sich einzurichten, als ob die Einrichtung nichts zähle, führe entweder zur „lieblosen Nichtachtung für die Dinge, die notwendig auch gegen die Menschen sich kehrt“11 oder zur ideologischen Abschottung für diejenigen, die „mit schlechtem Gewissen“ an dem festhalten wollen, was sie besitzen. 12 Es gelte, formuliert Adorno rund zwanzig Jahre später, diesen Widerspruch zwischen dem Wohnen als Bleibe des Subjekts und dem „Unsteten“, das über ihm als „schwere[r] Schatten“ laste, „in seiner Notwendigkeit“ zu begreifen, ohne dass die Erkenntnis Beruhigung bringen 4
Lukács 1983: 32. Lukács kontrastiert dieser „Obdachlosigkeit“ der Moderne eine ‚selige‘ Antike, die durch die Parallelität von Makro- und Mikrokosmos gekennzeichnet sei: „Die Welt ist weit und doch wie das eigene Haus, denn das Feuer, das in der Seele brennt, ist von derselben Wesensart wie die Sterne [...]“ (Lukács 1983: 21).
5
Kracauer 2006: 288.
6
Kracauer 2006: 286.
7
Kracauer 2006: 294. Vgl. Koch 1996: 52-64.
8
Adorno 1980: 43.
9
Adorno 1980: 43.
10 Adorno 1980: 43. 11 Adorno 1980: 43. 12 Siehe Adorno 1980: 43.
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dürfe (im Sinne eines ‚Sich-Abfindens‘ mit der Situation).13 Dieses Verharren im Widerspruch als unmögliche Notwendigkeit verweist – wie Adorno berühmtes ‚Diktum‘ zur Stellung von Kunst und Kultur nach Auschwitz – auf die größere Frage, „ob nach Auschwitz sich noch leben lasse“ und ob das Weiterleben gerade auch des zufällig entronnenen Opfers nicht „der Kälte, des Grundprinzips der bürgerlichen Subjektivität“ bedürfe, „ohne das Auschwitz nicht möglich gewesen wäre“.14 Das Paradox des Wohnens, das sich hier abzeichnet, lässt sich mit Bezug auf den kritischen Wohndiskurs – an dem Adorno, wie bereits dargestellt, partizipiert – noch einmal klarer fassen. Nicht nur das ‚Asyl für Obdachlose‘, auch die Problematisierung der bürgerlichen Wohnung als Ort der Geborgenheit und des Privaten sowie die Frage nach dem ‚Unsteten‘ sind Momente einer solchen kritischen Beschäftigung mit dem Wohnen, als deren komplementäres Gegenbild die existentialphilosophische Ausweitung der Wohnmetapher im Spätwerk Heideggers und die Verklärung des Hauses in Gaston Bachelards Poétique de l’Espace (1957) gelten kann.15 Was diese und die im Folgenden genannten Ansätze bei aller Gegensätzlichkeit vereint, ist die Engführung einer spezifischen Subjektphilosophie mit der konkreten Lebens- und Wohnweise von Menschen. Ich möchte zunächst fortfahren, dies – an paradigmatischen Texten von Walter Benjamin bis Marc Augé – zu skizzieren, um anschließend vor dem Hintergrund jener Wohndiskurse zu untersuchen, was im Zuge des sogenannten ‚topographical‘ oder ‚spatial turn‘ eine Rückkehr des Wohnraums in die Gegenwartskunst zu sein scheint, z.B. in Arbeiten von Isa Melsheimer, Anton Henning oder Gregor Schneider.16 An Rachel Whitereads Ghost (1990) und David Hoffos’ Scenes from the House Dream (2003-2008) sollen zwei unterschiedliche Szenographien des Wohnens herausgearbeitet werden, die sich – so meine These – in je spezifischer Weise auf das 19. Jahrhundert und den Begriff des Unheimlichen und damit auf eine bestimmte ästhetische Reflexion des Verhältnisses von Subjekt und Wohnen beziehen lassen.
13 Siehe Adorno 1997: 384. 14 Adorno 2003: 355-56. Vgl. hierzu auch Beelmanns Einschätzung, „[der] berühmte Satz, ‚nach Auschwitz lasse sich kein Gedicht mehr schreiben‘“ sei indirekt „gegen das Pensum bildungsbürgerlichen Lebens und Wohnens gerichtet, in dem die Lyrik einen festen Platz hat“ (Beelmann 2007: 550). 15 Vgl. Heidegger 2000 und Bachelard 2003. 16 Zum ‚spatial‘ bzw. ‚topographical turn‘ vgl. dessen historisch-theoretische Grundierung in dem von Jörg Dünne und Stephan Günzel herausgegebenen Sammelband Raumtheorie (Dünne/Günzel [Hg.] 2006).
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W OHNDISKURSE ZWISCHEN ‚N EUER G EBORGENHEIT ‘ UND ‚Z ERSTÖRUNG ‘ DES H AUSES Das Wohnen als „komplexer sozialer und individualpsychologischer Prozess“17 materialisiert nicht zuletzt Identitätsdiskurse, für die es zugleich Metaphern bereitstellt; man denke z.B. an Freuds Rede vom Ich, das „nicht einmal Herr ist im eigenen Hause“.18 In seiner Geschichte des Wohnens betont der Kunstpädagoge Gert Selle, dass diese auch „eine Geschichte der Formung des modernen Ich und seiner in ihm angelegten Formkraft“ sei.19 Das ‚wohnende Subjekt‘ werde auf der einen Seite vom „materiellen, sozialen und ästhetischen Umfeld seiner Außen- und Innenräume, seiner Einrichtungen und deren Gebrauchsweisen“ mitbestimmt.20 Auf der anderen Seite forme es diese Einrichtungen und Räume bis zu einem gewissen Grad selbst als „Ausdruck seiner sozialen und geistigen Gegenwart“ sowie als „Projektionsraum“ von „Entwicklungssehnsüchten“. 21 Besonders deutlich werde diese ‚Formkraft‘ im Lauf des 19. Jahrhunderts an der „mit allen Zwängen, Konventionen, Ängsten und geheimen Freuden [...] vollgestopfte[n] Wohnung des Späthistorismus“, die das Wohnen „um den Kern des bürgerlichen Ich“ verdichte. 22 Es ist dieses Wohnmodell, das Walter Benjamin in seinen Aufzeichnungen zum Passagen-Werk als Sinnbild für das bürgerliche Subjekt beschreibt, das sich in der Differenzierung von Kontor und Interieur, Geschäfts- und Privatraum konstituiere. 23 Dabei lassen sich m.E. folgende Züge ausmachen, die auch für Adorno wichtig werden: erstens eine konstante (verborgene) Aktivität der Stillstellung von Zeit und Raum bzw. der tendenziellen ‚Loslösung‘ des Wohnens aus diesen Kategorien, die sich für Benjamin bereits grammatikalisch ausdrückt. Er verweist darauf, dass Wohnen transitiv verstanden werden könne, z.B. gebe der „Begriff des ‚gewohnten Lebens‘ [...] eine Vorstellung von der hastigen Aktualität, die in diesem Verhalten verborgen ist“.24 Es zeigt sich diese Stillstellung etwa in der Tätigkeit des Sam-
17 Wichard 2012: 28. 18 Freud 2000a: 284. Zur Relation von Wohn- und Identitätsdiskursen vgl. Wichard 2007. 19 Selle 1993: 73. 20 Selle 1993: 74. 21 Selle 1993: 74. Für Selle überlagern sich in dieser Verschränkung von Fremd- und Selbstbestimmung verschiedene Erfahrungsebenen, insofern er zwischen individueller, sozialer und ‚gattungsspezifischer‘ Wohnbiographie differenziert (siehe Selle 1993: 27). 22 Selle 1993: 74. Als paradigmatisch für das bürgerliche Wohnmodell wird nicht nur bei Selle (1993: 74-76) die Wohnung Sigmund Freuds in der Wiener Berggasse beschrieben (vgl. z.B. auch Fischer 1986: 382-384). 23 Siehe Benjamin 1991: 52-53. 24 Benjamin 1991: 292.
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melns, die für Benjamin „den Schlüssel zum Interieur des 19ten Jahrhunderts“ 25 darstellt, und die von den Dingen den Warencharakter abstreife, d.h. sie aus der sozialen Realität der kapitalistischen Gesellschaft löse.26 Damit einher geht zweitens die Errichtung einer Schutzburg, die für das 19. Jahrhundert aktualisiert, was Benjamin zufolge die „Urform allen Wohnens“ ist: „das Dasein nicht im Haus, sondern im Gehäuse“27, ausgedrückt in den Sammelkästen, Schonern, Läufern, Decken und Überzügen der bürgerlichen Wohnung.28 Insofern diese dadurch „den Abdruck [ihres] Bewohners“29 erhält, kommt es – drittens – zu einer teilweisen Verdinglichung des bürgerlichen Subjekts, gerade wo es seine Autonomie in der Trennung von Privatwohnung und Außenwelt behauptet. Klarer noch als bei Benjamin wird das in den Minima Moralia formuliert, wenn Adorno schreibt, das „vergangene Innenleben“ werde im Interieur „zum Mobiliar, wie [...] jedes Biedermeierstück geschaffen ward als holzgewordene Erinnerung“.30 Die Einbettung des bürgerlichen Subjekts in „die Wohnung als Futteral des Menschen“31 führt – viertens – zu einer „bürgerlichen Gemütlichkeit“32, die sich im Interieur als Raum der Illusionen eine Gleichgültigkeit gegen die Weltgeschichte schaffe.33 Bei Adorno geht es, wie oben beschrieben, um die als unmöglich aber notwendig erkannte Verantwortung, den Zustand des modernen Subjekts zwischen vermeintlicher Autonomie und Verdinglichung in der eigenen Wohnsituation – quasi als moralische Pflicht – darzustellen und zu inszenieren. Diese Darstellung muss jedoch scheitern, insofern Adorno die Frage des Wohnens als auswegloses Paradox formuliert. Auf der einen Seite steht der Versuch, ungeachtet der Zeitläufte am bürgerlichen Wohnmodell festzuhalten, das Benjamin für das 19. Jahrhundert beschrieben hat und das eben skizziert wurde. Wie später Adorno begreift bereits Benjamin dieses Modell des Wohnens – das „Gehäusewesen“34 – als vergangen. „Heut ist es abgestorben“, schreibt er um 1935, „und das Wohnen hat sich vermindert: für die Lebenden durch Hotelzimmer, für die Toten durch Krematorien.“35
25 Benjamin 1991: 290. 26 Siehe Benjamin 1991: 53. 27 Benjamin 1991: 291-292. 28 Siehe Benjamin 1991: 292. 29 Benjamin 1991: 292. 30 Adorno 1980: 189. 31 Benjamin 1991: 292. 32 Benjamin 1991: 286. 33 Siehe Benjamin 1991: 52 u. 286. 34 Benjamin 1991: 292. 35 Benjamin 1991: 292.
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Mit dem Hotelzimmer benennt Benjamin die Gegenseite zu jenem Modell des Wohnens, in dem das „Gehäuse [...] den Abdruck seines Bewohners“36 trägt. Der Typus des Hotelzimmers, das er vor Augen hat, lässt sich mit dem Anthropologen Marc Augé als ‚Nicht-Ort‘ umschreiben, als Raum, der „keine Identität besitzt und sich weder als relational noch als historisch bezeichnen“ lässt.37 Hier kommt es zu einer ‚Verflüssigung‘ des Wohnens, die Augé 1994 als Kennzeichen des postindustriellen Zeitalters versteht. Auch bei Augé blitzt das Modell bürgerlichen Wohnens noch einmal als Kontrastfolie auf, wenn ihm zufolge Nicht-Orte mit „Modeworte[n]“ benannt werden, „die noch vor dreißig Jahren keine Daseinsberechtigung hatten. So können wir die Realitäten des Transits (Durchgangslager oder Transitpassagiere) den Realitäten der festen Wohnung entgegensetzen [...]“.38 Folgt man Adorno, liefert keines der beiden Modelle – weder das ‚verflüssigte‘ noch das ‚bürgerliche‘ – eine valide Antwort auf die Frage des Wohnens. Das bürgerliche Modell krankt daran, dass es die Augen vor seiner eigenen Abschaffung verschließt, also seine Aushöhlung durch Hotelzimmer, ‚möblierte Appartements‘ und sonstige Transit-Räume ignoriert.39 Auf diese Weise verkommt es zu einer anachronistischen Schein-Welt, die – wie in der Autonomiebestrebung dieses Modells bereits angelegt – die Ausbreitung von Transit-Räumen des ungehinderten Warenverkehrs, gerade dadurch unterstützt, dass sich das Subjekt in der bürgerlichen Wohnung als Privatmensch zu konstituieren glaubt, der – so Benjamin – „vom Interieur [verlangt,] in seinen Illusionen unterhalten zu werden“.40 Eine Rückkehr zu diesem Modell, wie sie etwa der deutsche Philosoph und Pädagoge Otto Friedrich Bollnow im Anschluss an Heidegger und in kritischer Auseinandersetzung mit Bachelard fordert, wenn er 1955 die ‚neue Geborgenheit‘ als Ziel einer Überwindung des Existentialismus ausruft, verbietet sich für Adorno.41 Um aus der „Krisis der Gegenwart“ 42 herauszufinden, müsse der Mensch, so Bollnow, das Wohnen wieder lernen: Nur als ein Wohnender, nur im Besitz eines Hauses, nur in der Verfügung über einen solchen von der Öffentlichkeit abgesonderten und ‚privaten‘ Bereich kann der Mensch sein Wesen erfüllen und im vollen Umfang Mensch sein. […] Nimmt man ihm sein Haus – oder vorsichti-
36 Benjamin 1991: 292. 37 Augé 1994: 92. 38 Augé 1994: 125-126. 39 Siehe Adorno 1980: 42. 40 Benjamin 1991: 52. 41 Vgl. Bollnow 1960 und die Kritik an Bollnow in Adorno 2003: 415-435. 42 Bollnow 1960: 13.
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ger ausgedrückt: den Frieden seiner Wohnung – so ist auch die innere Zersetzung des Menschen unausbleiblich. 43
Obwohl Adorno die Gleichsetzung von Wohnen und Subjektkonstitution, wie Bollnow sie hier betreibt, als „trüb[e]“ Vermischung von „Buchstäbliche[m] und Bildliche[m]“ im Dienste einer Affirmation des Unhaltbaren ablehnt,44 verbietet sich seiner Ansicht nach aber auch das ‚Lob des Unsteten‘. Die Bejahung des Transitraums käme letztlich einer emphatischen Akzeptanz der eigenen Verdinglichung gleich: im Falle Benjamins und Adornos der historisch konkreten Situation von Vertreibung, Exil und Flucht;45 in Bezug auf die ‚Nicht-Orte‘ Marc Augés als Affirmation des ‚flexiblen Subjekts‘ (Sennett)46 spätkapitalistischer Arbeits- und Lebensverhältnisse. Anders als für die ‚neue Geborgenheit‘ Bollnows, die das Wohnen nach der Katastrophe als Wesen des Menschen wiederfinden möchte, wird im kritischen Wohndiskurs das ‚Bleiben‘ notwendigerweise vom ‚Unsteten‘ heimgesucht, ohne dass die Idee der ‚Bleibe‘ – um den Preis der Verdinglichung oder der ‚Zersetzung‘ des Subjekts, von der auch Bollnow spricht – deshalb aufgegeben werden dürfe. In diesem Schwanken verweist das ‚Paradox des Wohnens‘ auf eine weitere Dimension, die ihm seit Beginn der Moderne eignet, und die dieses Schwanken auf anderer Ebene wiederholt: in der Idee des Unheimlichen.
R ACHEL W HITEREADS G HOST (1990) DES U NHEIMLICHEN
ALS
F IGURATION
Die englische Bildhauerin Rachel Whiteread wurde 1990 mit der Arbeit Ghost bekannt, die 1997 auch auf der berühmten Sensations-Ausstellung der sogenannten Young British Artists in der Royal Academy London zu sehen war.47 Es handelt sich bei Ghost um den maßstabsgetreuen Abguss eines real existierenden viktorianischen Wohnzimmers in weißem Gips, das in Originalgröße ausgestellt wird: Kamin, Tür und Fenster des Salons sind deutlich zu erkennen, werden aber zu Einbuchtungen in dem großen weißen Quader, der das Zimmer als robusten Block präsentiert. Da aus der Gussform (dem Wohnzimmer) im Prozess des Abgießens eine
43 Bollnow 1963: 136. 44 Siehe Adorno 2003: 435. 45 Vgl. Adorno 1980: 42: „Will man der Verantwortung fürs Wohnen ausweichen, indem man ins Hotel oder ins möblierte Appartement zieht, so macht man gleichsam aus den aufgezwungenen Bedingungen der Emigration die lebenskluge Norm.“ 46 Vgl. Sennett 1998. 47 Zu Whiteread vgl. den Sammelband von Townsend (Townsend [Hg.] 2004).
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massive Plastik entstanden ist – es ist nur noch das ‚Negativ‘, nicht mehr das ‚Positiv‘ vorhanden –, lässt sich die Skulptur zwar als dreidimensionale Nachbildung eines Wohnraums erkennen, aber nicht mehr als solcher betreten: „What we see is a space that is filled, negated – one to which we cannot return“, schreibt die Kunsthistorikerin Margaret Iversen, und interpretiert diese Unmöglichkeit der Rückkehr in einer Weise, die sich auf Adornos Rede vom ‚Vergangen-Sein‘ des Hauses beziehen lässt: Because the cast bears the traces of the demolished room that gave it shape, it evokes in another medium the pathos of the photograph as understood by Barthes. Ghost is an indexical imprint of ‚that-has-been‘; it bodies forth the presence of something that is no longer present.48
Folgt man der Interpretation Iversens, wiederholt Ghost die paradoxe Zeitlichkeit, die Barthes der Fotografie aufgrund ihres indexikalischen Charakters zuschreibt. Insofern sie die Spur von etwas ist, das sich notwendigerweise vor dem Objektiv befunden hat, bewahrt sie einen Augenblick, der als Gegenwart in eine Zukunft verweist, die bereits vergangen ist: „das wird sein und das ist gewesen.“49 In Ghost ist das bürgerliche Wohnmodell – verkörpert im viktorianischen Salon – deshalb präsent und vergangen zugleich; wie im kritischen Wohndiskurs wird das Wohnen des 19. Jahrhunderts als Erinnerungs- und Sehnsuchtsort evoziert, um die in Szene gesetzte Verdinglichung des Wohnens – d.h. den massiven Abguss des Wohnzimmers als einen buchstäblichen ‚Nicht-Ort‘ – ebenso zu suspendieren wie die Idee einer ‚Neuen Geborgenheit‘. Diese Suspendierung geschieht im Modus des Unheimlichen, bei dem es sich in Freuds bekannter Definition um „jene Art des Schreckhaften“ handelt, das „auf das Altbekannte, Längsvertraute zurückgeht“, d.h. auf das „Heimliche-Heimische […], das eine Verdrängung erfahren hat und aus ihr wiedergekehrt ist“.50 Indem Ghost den bürgerlichen Salon mit seinen Behaglichkeiten – etwa dem Kamin – evoziert, jedoch in einer massiven Form, die aus dem bewohnbaren Leerraum einen soliden Block werden lässt, kann – bedingt durch die Größe der Skulptur im Verhältnis zu dem sie umgebenden Ausstellungsraum – das Gefühl einer erstickenden und überstarken Präsenz entstehen.51 Auch kommt es hierbei zu einer Kollision von Privatsphäre und Öffentlichkeit, da der nachgebildete Salon „dem Geborgenheit spendenden ‚Ort des Wohnens‘“ in seiner Privatheit entnommen ist, während der „die Plastik aufnehmende [Ausstellungs-]Raum“ zwar Innenraum ist, aber „seiner Funktion 48 Iversen 2007: 17. 49 Barthes 1989: 106. 50 Freud 2000b: 244 u. 268. 51 Siehe Iversen 2007: 18.
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entsprechend öffentlich“.52 Demnach wird das Unheimliche bei Whiteread nicht nur insofern figuriert, als Ghost – wie Iversen schreibt – „once familiar and now ‚unrecallable memories‘“ erweckt. 53 Das Unheimliche entsteht vielmehr in der verfremdeten, aber tatsächlichen Rückkehr des (erinnerten) Wohnens: in der öffentlichen Ausstellung eines ‚Bleibe‘ und Privatheit versprechenden Interieurs, das als „invertiertes Objekt“ 54 bedrohliche Präsenz erlangt, während es auf die Geborgenheit des Salons nur noch negativ (als Abdruck und Spur) verweist. Eine historische Tiefendimension erhält dieses Unheimliche, sobald in Betracht gezogen wird, dass „die Blütezeit [der] dunklen, überfüllten Innenräume voller […] familiärer Geschütztheitserfahrung“55, auf die Ghost als Spur eines viktorianischen Salons anspielt, mit der Erfindung der Psychoanalyse zusammenfällt. Das bürgerliche Subjekt, so Gert Selle, „baut seine Wohnungen zu uneinnehmbaren Festungen aus, während es im eigenen Innern nicht geheuer ist.“56 Wird das Interieur dementsprechend als der Ort verstanden, an dem das moderne Bewusstsein ‚schon immer‘ seiner „dunklen Seite“ begegnet ist, „dem Vertrauten, das plötzlich fremd erscheint, und dem anderen, das als verdrängtes Eigenes auftaucht“,57 erscheint Whitereads Bezug auf den kritischen Wohndiskurs im Modus des Unheimlichen als eingebettet in eine Tradition der „Unterdrückung des Häuslichen“58, wie sie die Kunsthistorikerin Beate Söntgen z.B. an den Arbeiten Gregor Schneiders untersucht hat.59 Es handelt sich in Whitereads Ghost um eine Figuration des Unheimlichen, die – wie ich versucht habe, deutlich zu machen – den kritischen Diskurs über das Wohnen seit dem 19. Jahrhundert fortführt und in Szene setzt. An Scenes from the House Dream – einer Reihe von Installationen, die der kanadische Künstler David Hoffos zwischen 2003 und 2008 angefertigt hat und seitdem als Ensemble ausstellt – möchte ich im Folgenden einen anderen Zugriff auf den Wohndiskurs vorstellen, bei dem es, so meine These, zu einer Umdeutung des Unheimlichen kommt.
52 Pauls 2009: 35. 53 Iversen 2007: 17. 54 Harald Szeemann, zit. nach Pauls 2009: 65. 55 Selle 1993: 74. 56 Selle 1993: 74. Vgl. auch Anthony Vidlers Architekturgeschichte des Unheimlichen, die das Unheimliche als wesentlich bürgerliche Angst begreift, die im 19. Jahrhundert mit der Unsicherheit der neuen Klasse verbunden gewesen sei (Vidler 1992). 57 Söntgen 2006: 141. 58 Söntgen 2006: 141. 59 Vgl. Söntgen 2006.
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S CENES FROM THE H OUSE D REAM (2003-2008): D AVID H OFFOS UND DIE ‚PHÄNOMENOLOGIE DER W AHRNEHMUNG ‘ Hoffos’ Scenes from the House Dream ist ein Ensemble von rund zwanzig Installationen, meist in Form und Größe eines Bühnenbildmodells oder Puppenhauses, die über einen dunklen Ausstellungsraum verteilt sind. Dieser wird durch einen schweren roten Vorhang betreten. 60 Die Besucher, deren Zahl zwar reglementiert wird, doch nicht allzu begrenzt ist, bewegen sich frei in der Dunkelheit – immer mit der Gefahr konfrontiert, anderen den Weg abzuschneiden. Von wenigen Ausnahmen abgesehen, operieren die ausgestellten Installationen alle nach dem gleichen Prinzip: Auf dunklen Fernsehmonitoren flackern abstrakte helle Lichtpunkte, die – mit Hilfe einer Spiegelprojektion, die an Phantasmagorien und Theatertricks des 19. Jahrhunderts erinnert (insbesondere an Pepper’s Ghost)61 – in die Bühnenbildmodelle geworfen werden. Dort werden sie zu kleinen geisterhaften Wesen, die sich im – aus Holz und anderen Materialien gebauten – dreidimensionalen Raum flimmernd bewegen. Die ‚Szenen‘ sind klein und so schwach beleuchtet, dass sie kaum einen Anhalts- oder Orientierungspunkt geben, wie durch die Ausstellung zu laufen sei. Um besser zu sehen, versuchen die meisten Besucher möglichst nah an die Modelle heranzukommen. Wenn sie jedoch zu nah an das Glas treten, das jede Szene vom Zuschauer- bzw. Ausstellungsraum trennt, verschwinden die spektralen Gestalten der Szenen. Wie die Besucher schnell erkennen, liegt der Grund für dieses Verschwinden darin, dass sie zwischen die Szene und den Fernseher getreten sind, auf dem sich jene hellen Figuren vor schwarzem Grund bewegen, die als dreidimensionale Wesen in der Szene auftauchen. Die Raum-Szenen von Hoffos stellen Zwischenräume dar, und zwar in mehrerer Hinsicht. Da es sich bei den Projektionen um Loops handelt, sind die Figuren – erstens – in narrativen Schleifen gefangen: Eine Frau wartet z.B. endlos in einem Hotelzimmer am Flughafen, läuft durch den (als Puppenzimmer gebauten) Raum, und raucht; oder: Ein Mann spielt Golf in einem leergeräumten bürgerlichen Salon ohne jemals damit aufzuhören. Eine Unterbrechung geschieht niemals auf Ebene der Geschichte, sondern nur als Unterbrechung der Geschichte, wenn Zuschauer willentlich oder unwillentlich in die Projektion treten. Diese Unterbrechungen wiederum verweisen auf den zweiten Zwischenzustand, der in Hoffos’ Scenes am Werk ist: 60 Zu Scenes from the House Dream und Hoffos allgemein vgl. den Ausstellungskatalog (Madill [Hg.] 2009). Meine Beschreibung bezieht sich auf die Ausstellung, die vom 10.09. bis 12.12.2010 im Museum of Contemporary Canadian Art (MOCCA), Toronto, gezeigt wurde. 61 Vgl. hierzu Castle 1995: 144-155.
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die Immaterialität oder Spektralität der projizierten Figuren, die auch im Widerspruch zur festen Bauweise der Miniaturräume steht, in denen sie sich bewegen. Eine dritte Ebene des Dazwischen besteht darin, dass die Szenen auf unterschiedliche Weise Innen und Außen verschränken. Nicht nur, weil sich die Besucher – wie bei Whiteread – in einem (öffentlichen) Ausstellungsraum befinden und in ‚kleine Welten‘ schauen, deren Figuren – einer Dramaturgie der Vierten Wand gemäß – keine Notiz von der Welt der Zuschauer nehmen. Innen und Außen werden bei Hoffos auch dadurch verschränkt, dass viele seiner Szenen entsprechende Raumebenen konstellieren: Die Szene „Airstreams“ z.B. zeigt einen Wohnwagen inmitten eines dunklen Waldes, während bei der oben beschriebenen Hotelszene durch das Fenster ein, ebenfalls gebauter, (Miniatur-)Flughafen zu sehen ist. Die Szene mit dem Golfspieler schließlich präsentiert einen Raum, der Innen- und Außenperspektive vereint, insofern der entfunktionalisierte bürgerliche Salon dargestellt wird, der – wie es bei Habermas heißt – im 19. Jahrhundert jener Ort war, an dem die „Linie zwischen Privatsphäre und Öffentlichkeit [...] mitten durchs Haus“ ging: Hier traten die Privatleute „aus der Intimität ihres Wohnzimmers in die Öffentlichkeit des Salons hinaus, aber eine ist streng auf die andere bezogen“.62 In Hoffos’ Szene mit dem Titel „Parlour (Golf)“ erinnert nur noch eine vorbeihuschende Gestalt (ein Gespenst?) an diese vergangene Geselligkeit und die wechselseitige Bezogenheit von Intimität und Öffentlichkeit; so wie der einsame Akt des Golfspielens in einem verlassenen Wohnzimmer auf eine Tätigkeit im Freien und in Gesellschaft verweist. Bezogen auf die oben dargestellten Wohndiskurse lassen sich die Räume, die Hoffos als Miniaturen in Szene setzt, am ehesten als Transit-Räume und Nicht-Orte (wie das Flughafenhotel) oder als Ruinen des bürgerlichen Wohnmodells, wie bei „Parlour (Golf)“, fassen.63 Dennoch inszenieren auch sie die von Adorno geforderte Widerständigkeit gegen die ‚Verflüssigung‘ des Wohnens und die ‚Verdinglichung‘ des Subjekts in flexiblen Lebensverhältnissen – und zwar im Spiel zwischen körperlicher Wahrnehmung und medialem Dispositiv. Um das zu verdeutlichen, soll zunächst an eine Ebene des Wohndiskurses erinnert werden, die bisher ausgeblendet geblieben ist; es handelt sich um die zentrale Stellung der Wohnmetapher im Werk von Maurice Merleau-Ponty. Dieser definiert die Beziehung von Leib und Raum als eine des ‚Wohnens‘, wenn er in der Phénoménologie de la Perception (1945) schreibt, man dürfe nicht sagen, „unser Leib sei im Raume, wie […] ebenso 62 Habermas 1990: 109. 63 Vgl. David Garneaus Beschreibung von Hoffos’ Szenen: „The few given houses are uncomfortable, not at home [...]. The majority [of the characters] find themselves in transitional chambers away from, leaving or not yet home: airships, spaceships, a stranded train, an airport hotel, a boat, a camper. These are anonymous, identical transit containers, occupied for a time by one person and then replaced by another, and so on“ (Garneau 2009: 36).
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wenig er sei in der Zeit. Er wohnt Raum und Zeit ein.“64 Für die Beziehung von Leib und Raum, um die es im vorliegenden Kontext geht, erklärt Merleau-Ponty dies am einfachen Vergleich mit dem Aschenbecher. Dass der Leib nicht in den gewöhnlichen Raumbeziehungen aufgehe, lasse sich daran erkennen, dass niemand, dessen Arm auf dem Tisch ruht, „auf den Gedanken [käme] zu sagen, er liege neben dem Aschbecher, so wie der Aschbecher neben dem Telefon steht.“ 65 Der Leib wohnt also im Raum, weil – obwohl Leib und Raum aufeinander bezogen sind – die beiden nicht miteinander verschmelzen. „Endlich ist mein Leib für mich so wenig nur ein Fragment des Raumes, dass überhaupt kein Raum für mich wäre, hätte ich keinen Leib.“66 Die phänomenologische Filmtheorie Jean-Louis Schefers bestimmt die filmische Erfahrung als eine Auflösung oder Diffusion dieser Raumleiblichkeit. In L’Homme ordinaire du cinéma (1980) schreibt Schefer: Le cinéma commence donc ici quelque chose de particulier: il fait disparaître ce point de gravité (par lequel existent dans notre perception des points virtuels indépendants de toute structure ou de tout phénomène spéculaire […]); il fait donc disparaître le monde en nous, il nous efface du monde d’un seul coup.67
Schefer beschreibt, wie sich die Körper der Kinozuschauer als „point[s] de gravité“ auflösen und damit der raumleibliche Zusammenhang, den Merleau-Ponty mit der Metapher des Wohnens bezeichnet. Dabei greift Schefer auf einen Gedankengang zurück, der sich in phänomenologisch oder psychoanalytisch grundierten Filmtheorien häufig findet. Ihm zufolge korrelieren der Identifikationsprozess mit dem Imaginären auf der Leinwand auf der einen und das Dunkel des Zuschauerraums auf der anderen Seite in einer solchen Weise, dass die Zuschauer ihre Körper an einen traumähnlichen Zustand verlieren.68 Für Scenes from the House Dream ist dieser Gedankengang nicht bloß aufgrund der Traumreferenz – die sich auch im Titel von Hoffos’ Arbeit findet – interessant. In mehrerer Hinsicht verweist Hoffos’ Ausstellung auf das mediale Dispositiv des klassischen Hollywood-Kinos, auf dem Schefers Ausführungen beruhen, und das jenes dem bürgerlichen Theater des 19. Jahrhunderts entnommen hat.69 Zu nennen wären hier z.B. der dunkle Ausstellungsraum und die Trennung von Szene und Zuschauer – nicht nur durch die Glasscheiben, sondern aufgrund einer Dramaturgie der Vierten Wand, welche die Figuren in den Modellen ganz bei sich sein lässt: Wie 64 Merleau-Ponty 1966: 169. 65 Merleau-Ponty 1966: 123. 66 Merleau-Ponty 1966: 127. 67 Schefer 1997: 109. 68 Vgl. für ein frühes Beispiel etwa Morin 1956. 69 Vgl. Kappelhoff 2004: 20-24.
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im klassischen Kino blicken sie niemals in Richtung Zuschauer. Die Idee der Entkörperlichung des Zuschauers, die sich in der phänomenologischen Filmtheorie findet, wird jedoch durch die Tatsache konterkariert, dass wir uns als Zuschauer – gerade um sehen zu können – durch den dunklen Ausstellungsraum bewegen müssen: Wir können unsere Körper nicht vergessen, auch deshalb nicht, weil wir beständig in Gefahr schweben, zusammenzustoßen. Mit Roland Barthes lässt sich dieser Vorgang als Unterminierung der filmischen Relation durch die theatrale Situation bezeichnen, für deren phänomenologische Beschreibung die Leiblichkeit der Zuschauer zwar tendenziell unterdrückt, aber kaum vergessen werden kann.70 In einem Text über das Verlassen des Kinos argumentiert Barthes 1975, dass man im Kino, egal in welcher Reihe man sitze, immer ganz nah sei. Das filmische Bild sei ein Köder, so Barthes, das ihn als Zuschauer gefangen nehme und an dem er klebe: „[S]eule l’image (l’imaginaire) est proche, seule l’image est vraie […].“71 Um dieser Ideologie des Imaginären zu entgehen, d.h. um die Beziehung zum Bild zu verlassen, gibt es für Barthes nur eine Möglichkeit: nämlich auf den eigenen Körper zu achten, auf den Kinosaal, das Rauschen des Tons, auf die obskure Masse der anderen Körper, etc. Diesen Vorgang bezeichnet er, mit explizitem Bezug auf Brecht, als Distanzierung, als Verlassen der Relation zugunsten der Situation, als Verkomplizierung des ‚Kinos‘ durch das ‚Theater‘.72 Bei Hoffos lässt sich an der Repräsentation schon deshalb nicht ‚kleben‘, weil die Figuren in den Modellen jederzeit verschwinden können, insbesondere dann, wenn die Zuschauer versuchen, jene besonders aufmerksam zu betrachten, wenn sie an die Scheibe herantreten und durch ihren Schritt die Projektion unterbrechen. In diesem Entzug als Unterbrechung des Narrativen wie des Spektakulären werden die Besucher auf den Raum zurückgeworfen, in dem sie sich befinden, und damit auf den Akt der Wahrnehmung. Es wäre jedoch falsch, dieses Spiel zwischen ‚filmischer‘ Relation und ‚theatraler‘ Situation rein didaktisch zu verstehen; bereits die von Barthes beschriebene Ideologiekritik wird lustvoll am eigenen Körper – und in dessen Reibung mit dem „Körper des Textes“ – praktiziert.73 Auch Hoffos betont in einem Interview mit Robert Enright, dass er den Zuschauern eine doppelte Lust bieten wolle, die der Illusion und die ihrer Herstellung: „The viewer is brought into the whole illusion apparatus and they become conspirational with me. They get to enjoy the creation of the illusion, but also the effect of it.“74 In diesem Sinn ist auch das Unheimliche bei Hoffos anders besetzt als etwa bei Rachel Whiteread; es ent70 Zur Phänomenologie des Theaters vgl. Roselt 2008. 71 Barthes 2002: 781. 72 Siehe Barthes 2002: 782. 73 Vgl. hierzu auch Barthes 1974. 74 Enright 2006: 32.
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steht in den oben beschriebenen Zwischenräumen der ‚Szenen‘, etwa im Schwanken zwischen den spektralen ‚unsteten‘ Figuren und den ‚gebauten‘, doch entleerten Wohnräumen. Das Unheimliche mag sich schon dadurch auf die Zuschauer übertragen, dass sie – etwa hinsichtlich der Szene des Golfspiels – darüber reflektieren, ob die vorbeihuschende Gestalt auf einer anderen Ebene des Spektralen liegt als der Golfer. Auch in „Airstreams“, der Szene mit dem Wohnwagen, versucht dessen Bewohnerin immer wieder ein Gespenst zu fassen. „From the viewer’s point of view“, schreibt David Garneau, both the apparition and the woman share the same ethereal non-substance; both are equally unreal, electronic phantoms. Does the woman think she is more authentic than the spirit beside her? What is the basis for her faith? Might the phantasm believe the same thing and be right?75
Durch ihre ästhetischen Strategien kann die Ausstellung dafür sorgen, dass die Zuschauer an ihrem eigenen Raumbezug, ihrem ‚Wohnen‘ in der Welt zu zweifeln beginnen, spätestens wenn sie gewahr werden, dass sich auch im Ausstellungsraum, jenseits der kleinen Bühnen, Figuren befinden, die spektral – Projektionen auf Pappe – sind, auf den ersten Blick jedoch kaum von den anderen Zuschauern zu unterscheiden. Das Unheimliche, das diesen Begegnungen – als drohender Verlust der eigenen Subjekthaftigkeit – eignet, muss jedoch nicht als etwas Negatives erfahren werden. Auf das ‚Paradox des Wohnens‘ zwischen verlorener ‚Bleibe‘ und ‚Verflüssigung‘ reagieren Hoffos’ Szenen mit einem Unheimlichen, das die Unterbrechung der narrativen Schleifen, in denen die Figuren als ‚Wohnende‘ zwischen Bleiben und Gehen gefangen sind, neu positioniert: als Hoffnung auf eine – im positiven Sinn – ‚unstete Bleibe‘, als Szenen aus einem geträumten Wohnen.
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DAS UN -HEIMLICHE S UBJEKT | 311
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Missverständnisse als Stolpersteine der Subjektkonstitution C ONSTANZE S CHULER
Missverständnisse – das wissen wir alle aus den unterschiedlichsten alltäglichen Zusammenhängen – können amüsante Lappalien, kommunikative Katastrophen oder irgendetwas dazwischen sein. Manchmal werden sie gar nicht bemerkt, bleiben also latent, oder aber sie werden manifest und können unter Umständen direkt geklärt werden. Zuweilen lösen sie aber auch (kleinere oder größere) individuelle, zwischenmenschliche oder gesellschaftliche Krisen aus und bleiben somit nicht ohne Auswirkungen auf den Prozess der Subjektkonstitution. Der Linguist Volker Hinnekamp bezeichnet Missverständnisse als „kleine Antidiskurse […] gegen den Strom des Verstehens“. „Sie öffnen“, so Hinnekamp weiter, „kleine Fenster, durch die wir für einen Moment die reibungslose Selbstverständlichkeit und Unhinterfragbarkeit unserer Kommunikationsgewohnheiten […] beschauen können“1. Entsprechend begegnen wir Missverständnissen in allen Bereichen des menschlichen Lebens, die auf dialogischem, kommunikativem und interaktivem Miteinander basieren.2 Obwohl also Missverständnisse zum täglichen Leben gehören und das weite Feld sozialer Kontakte bzw. Interaktionen betreffen, sind sie im kulturwissenschaftlichen Diskurs bislang weitgehend unbeachtet geblieben.3 Im Rahmen des vorliegenden Beitrags möchte ich versuchen, erste Überlegungen zum möglichen heuristischen Potenzial der Kategorie „Missverständnis“ für die Theaterwissenschaft, respektive für den Zusammenhang von Theater und Subjektanalyse, anzu-
1
Hinnekamp 1998: 11.
2
Siehe Hinnekamp 1998: 12.
3
Als traditionelle Forschungsfelder, die sich mit dem Missverständnis auseinandersetzen, wären insbesondere die Linguistik (z.B. Hinnekamp 1998), die Kommunikationswissenschaft (z.B. Watzlawick 1993; Krämer 2001) und hier insbesondere das breitgefächerte Forschungsfeld der interkulturellen Kommunikation zu nennen.
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stellen und zu überlegen, inwieweit Missverständnisse aufschlussreiche Indikatoren für die Funktionsweise (und die prinzipielle Labilität) dramatischer wie theatraler Kommunikation sind. Ausgehend von einem Beispiel aus Politik bzw. Gesellschaft und einer Beschreibung der Funktionsweise des Missverständnisses im Drama soll gefragt werden, ob missverständliche Kommunikationsstrukturen auch für das theatrale Ereignis konstitutiv sind und die Wahl bestimmter Handlungskonzepte im interaktiven Miteinander von Theater beeinflussen. Welche Auswirkungen haben Missverständnisse auf Rollenwahl, Selbstwahrnehmung und Subjektkonstitution im interaktiven Prozess? Missverständnisse sind – so die Arbeitshypothese – durch ihren deutlichen Verweis auf die grundsätzliche Labilität und Fragilität von sprachlicher bzw. symbolischer Kommunikation ein aufschlussreicher und bislang wenig beachteter Untersuchungsgegenstand der kultur- wie theaterwissenschaftlichen Subjektanalyse. Im Rahmen dieses Beitrags werde ich auf weitgehend bekannte Beispiele zurückgreifen, die einen hohen Wiedererkennungseffekt haben und somit als exemplarische Stichproben dienen können. Eine kulturgeschichtliche Kontextualisierung kann in diesem Zusammenhang jedoch – und das ist in erster Linie der Kürze des Beitrags geschuldet – nur im Ansatz vorgenommen werden.
P OLITIK /G ESELLSCHAFT Einsteigen möchte ich mit einem noch nicht allzu weit zurückliegenden Beispiel aus dem Themenkomplex Politik und Gesellschaft, bei dem der Begriff des Missverständnisses eine zentrale, wenn nicht sogar die zentrale Rolle gespielt hat: Am 31. Mai 2010 überraschte der bislang amtierende Bundespräsident Horst Köhler ganz Deutschland mit der Ankündigung seines sofortigen Rücktritts. In seiner knappen Rücktrittserklärung hieß es: Meine Äußerungen zu Auslandseinsätzen der Bundeswehr am 22. Mai dieses Jahres sind auf heftige Kritik gestoßen. Ich bedauere, dass meine Äußerungen in einer für unsere Nation wichtigen und schwierigen Frage zu Missverständnissen führen konnten. Die Kritik geht aber so weit, mir zu unterstellen, ich befürwortete Einsätze der Bundeswehr, die vom Grundgesetz nicht gedeckt wären. Diese Kritik entbehrt jeder Rechtfertigung. Sie lässt den notwendigen Respekt für mein Amt vermissen. 4
4
Rücktrittserklärung Horst Köhlers im Wortlaut, zit. in: www.sueddeutsche.de/politik/ ruecktritt-von-horst-koehler-die-erklaerung-im-wortlaut-1.952359 [01.03.2011].
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Ohne nun auf den politischen Gehalt der vorausgegangenen Aussage Köhlers zu den Auslandseinsätzen der Bundeswehr näher eingehen zu wollen, kann festgehalten werden: Bundespräsident Köhler fühlte sich offenbar zutiefst missverstanden. Die von ihm gesendete Botschaft wurde von einigen Empfängern anders gedeutet, als beabsichtigt. Den weiteren Überlegungen liegt also zunächst eine einfache Definition von Missverständnis zugrunde: Der Begriff „Missverständnis“ bezeichnet in der menschlichen Kommunikation den Differenzwert zwischen Gemeintem und Verstandenem5 bzw. den Unterschied zwischen dem, was auf der einen Seite der Produzent intendiert hat und dem, was auf der anderen Seite der Rezipient6 verstanden hat. Das Metzler Lexikon Sprache definiert das Missverständnis mit J. L. Austin als „eine den Formen von mißlungenen (‚unhappy‘) Ausführungen performativer Handlungen ähnliche Form des ‚Verunglückens‘ eines Kommunikationsaktes“7. Damit wird der Geltungsbereich des Begriffes im Hinblick auf performative Handlungen erweitert. Kommunikation kann – über den rein informationstheoretischen Austausch hinaus – in diesem Zusammenhang als gemeinsame Aushandlung von Sachverhalten und sozialer Wirklichkeit begriffen werden. Soziale Wirklichkeit wird durch Kommunikation nicht nur abgebildet und übertragen, sondern auch in der Interaktion konstituiert.8 Dabei gilt es zu betonen, dass Missverständnisse in der Kommunikation wohl nicht die Ausnahme, sondern eher die Regel sind. Sie sind, wie es Volker Hinnekamp formuliert, „systematische Defekte“ zwischenmenschlicher Kommunikation, die im Aufbau der Kommunikationssysteme begründet sind.9 Die Verknüpfung von Signifikant und Signifikat, Wort und Bedeutung, die uns im Sprachalltag meist selbstverständlich erscheint, ist bekanntlich arbiträr. Viel- und Mehrdeutigkeit sind somit immer Begleitprodukte menschlicher Kommunikation, ein ‚Eins-zu-Eins-Verhältnis‘ zwischen der gesendeten Botschaft und der Interpretation kann es nicht geben.10 Doch zurück zum Beispiel: Da solche Missverständnisse und die z.T. strategische Funktionalisierung sprachlicher Viel- bzw. Mehrdeutigkeit im politischen Diskurs eigentlich an der Tagesordnung sind, wurden die daraus gezogenen Konsequenzen Köhlers von vielen Beobachtern als übertrieben bzw. unverhältnismäßig 5
Siehe Piwinger/Christoffel o.J.: o.S.
6
Die in diesem Kontext häufig benutzten informationstheoretischen Begriffe ‚Sender‘ und ‚Empfänger‘ wurden hier durch die Begriffe ‚Produzent‘ und ‚Rezipient‘ ersetzt, um anzuzeigen, dass es sich nicht um eine ‚Einbahnstraßen-Kommunikation‘ handelt, sondern dass an der Erzeugung (und manchmal auch Behebung) von Missverständnissen beide Kommunikationspartner beteiligt sind.
7
Metzler Lexikon Sprache 1993: 442.
8
Siehe Hebach 2006: 13.
9
Hinnekamp 1998: 31.
10 Siehe Falkner 1997: 1.
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gewertet. Die genauen Beweggründe – und ob dabei vielleicht noch ganz andere Faktoren eine Rolle gespielt haben – müssen hier natürlich ohnehin im Dunkeln bleiben. Dennoch: Für Horst Köhler schien das manifest gewordene Missverständnis auf die prinzipielle Labilität menschlicher Kommunikation zu verweisen; seine Autorität als Bundespräsident, dessen zentrales politisches Mittel die sprachliche Äußerung ist, schien in Frage gestellt. Für Köhler eröffnete sich damit nicht nur eine Kluft zwischen Gesagtem, Gemeintem und Gedeutetem, sondern offenbar auch eine Kluft zwischen Person und Amt. Dies veranlasste Köhler zu einem Schritt, den noch kein Bundespräsident vor ihm gewagt hatte: den Rücktritt vom Bundespräsidentenamt und, damit verbunden, der Versuch, die Kluft zwischen Person und Rolle, zwischen persönlicher Identität und Rollenverständnis, Selbstbild und Außenwirkung wieder zu schließen.
D RAMA/D RAMATURGIE Als dramaturgisches Prinzip sind Missverständnisse aus der Dramenliteratur nicht wegzudenken: Sie bringen die handelnden Figuren ‚aus dem Tritt‘, lassen sie über vermeintlich gesicherte Annahmen stolpern und führen – verbunden mit einer oft tiefgreifenden Erschütterung des eigenen Selbstkonzepts – zu komischen oder tragischen Verwicklungen. Wie wohl kaum ein anderer Dramatiker thematisierte Heinrich von Kleist die Bruchstellen der bürgerlichen Subjektkultur und stellte das – von der Klassik noch weitgehend akzeptierte – intersubjektive und regulative Vermögen von Sprache konsequent in Frage.11 Ein meisterhaftes Beispiel für die dramaturgische Funktion misslingender Sprech- und Kommunikationsakte ist Kleists Tragödie Penthesilea: Hier reiht sich Missverständnis an Missverständnis, mit fatalen wie letztlich letalen Folgen. Bereits die zentrale Begegnung zwischen Penthesilea und Achill im 14. und 15. Auftritt basiert auf einer – hier allerdings bewusst initiierten – Täuschung, auf dem „unwahren/erfundenen Szenario, dass Achill in Penthesileas Gefangenschaft geraten sei, wobei Achill die Rolle dessen zukommt, der die Inszenierung – wissend um ihren illusionären Charakter – realisiert […]“12. Das strategisch inszenierte ‚Spiel‘ Achills um Unterwerfung und Unterworfenheit (und also mit dem Bedeutungshorizont und Begriff des Subjekts selbst) wird von Penthesilea als Wirklichkeit missverstanden. Als sie den Verrat erkennt, ist ihr Vertrauen in die verlässliche Aussagekraft von Sprache erschüttert: „Was ich ihm zugeflüstert, hat sein Ohr/mit der Musik der Rede bloß getroffen?“13 Sie muss erkennen, dass Inhalt, 11 Siehe Elzenheimer 2008: 40. 12 Elzenheimer 2008: 48. 13 Penthesilea, 20. Auftritt, V. 2388f. Hier und im Folgenden wird nach der ReclamAusgabe von Kleists Penthesilea zitiert: Kleist 1983.
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Bedeutung und klangliches Erscheinungsbild von Sprache signifikant auseinanderdriften können.14 Der arbiträre Zusammenhang zwischen Signifikant und Signifikat wird damit ebenso offenkundig wie die grundsätzliche Labilität menschlicher Kommunikation und Subjektkonstruktion. Der Betrug Achills bereitet den Boden für das verhängnisvolle und folgenreiche Missverständnis im 20. Auftritt: Achill lässt Penthesilea durch einen Herold zum Kampf fordern, in der Absicht, sich ihr zu unterwerfen, damit sie ihr Gesicht wahren und im Einklang mit dem Amazonen-Gesetz handeln kann. Er geht davon aus, dass sie seine implizit formulierte Botschaft und damit seine wahre Absicht versteht, kalkuliert dabei aber auch auf ihre Verliebtheit. Penthesilea bleibt jedoch im kulturell kodierten Rollenspiel von Mann und Frau, von Griechen- und Amazonengesetz gefangen und ist empört über den Mann, der sie zum Zweikampf herausfordert:15 DER HEROLD Mich sendet dir Achilleus, Königin, Der schilfumkränzten Nereïde Sohn, Und läßt durch meinen Mund dir kündigen: Weil dich Gelüst treibt, als Gefangnen ihn Nach deinen Heimatsfluren abzuführen, Ihn aber auch hinwiederum Gelüst, Nach seinen heimatlichen Fluren dich: So fordert er zum Kampf, auf Tod und Leben, Noch einmal dich ins Feld hinaus >...@. Hast dus auf solchen Strauß zu wagen Lust? PENTHESILEA Laß dir vom Wetterstrahl die Zunge lösen, Verwünschter Redner, eh du wieder sprichst! Hört ich doch einen Sandblock just so gern, Endlosen Falls, bald hier, bald dort anschmetternd, Dem klafterhohen Felsenriff entpoltern. (Zu Prothoe.) Du mußt es Wort für Wort mir wiederholen.
14 Vgl. hierzu und zum Zusammenhang von Lautlichkeit und Sprache Elzenheimer 2008: 48.
15 Siehe Pfeiffer 2001: 192.
318 | CONSTANZE S CHULER PROTHOE (zitternd). Der Sohn des Peleus, glaub ich, schickt ihn her, Und fordert dich aufs Feld hinaus; Verweigre kurz dich ihm, und sage, nein.16
Der Inhaltsaspekt der Mitteilung des Herolds ist klar: Die Botschaft impliziert eine Herausforderung zum Kampf. Laut Paul Watzlawick enthält aber jede Mitteilung auch einen Hinweis darauf, wie sie der Sender vom Empfänger verstanden wissen möchte, jede Kommunikation hat auch einen Beziehungsaspekt17: In der Botschaft des Herolds finden sich zwei Hinweise, die Penthesilea richtig dekodieren müsste, um Achills ‚wahre‘ Absichten zu erkennen und somit dem Beziehungsaspekt der Botschaft gerecht zu werden: 1. Das Adjektiv „schilfumkränzt“ verweist auf den 15. Auftritt, wo Penthesilea Achill bereits als Zeichen für ihre vermeintliche Eroberung bekränzt hat. Überdies lässt sich Achill vom Herold explizit als „Nereïdensohn“ bezeichnen, betont also die weibliche Linie seiner Abstammung. Damit gibt er indirekt zu verstehen, dass er sich dem weiblichen Gesetz der Amazonen zu unterwerfen bereit ist, bereit ist – zumindest auf Zeit – einen Rollenwechsel vom siegreichen, griechischen Helden zum sich unterwerfenden Liebenden zu vollziehen. In Verkennung seiner Absichten dekodiert Prothoe die Botschaft falsch18, deutlich dadurch angezeigt, dass sie nun wieder mit dem Verweis auf Achill als den „Sohn des Peleus“ die männliche Abstammungslinie betont. 2. Auch der Begriff „Strauß“ – hier veraltet im Sinne von „bewaffneter Auseinandersetzung“19 gebraucht – ist durchaus doppeldeutig. Im 15. Auftritt (also wenige Szenen davor) verweist er auf eine Liebessemantik im Zusammenhang mit der Annäherung der Geschlechter und die freie Partnerwahl: PENTHESILEA Ach, Nereïdensohn! – Sie ist mir nicht, die Kunst vergönnt, die sanftere, der Frauen! Nicht bei dem Fest, wie Deines Landes Töchter, Wenn zu wetteifernd frohen Übungen Die ganze Jugendpracht zusammenströmt, Darf ich mir den Geliebten ausersehn;
16 Penthesilea, 20. Auftritt, V. 2355-2376. 17 Siehe Watzlawick 1993: 53. 18 Ganz sicher scheint Prothoe sich ohnehin nicht zu sein, angedeutet durch den einschränkenden Einschub „glaub ich“ im Haupttext und den Verweis auf ihr Zittern im Nebentext. 19 Appelt/Nutz 1992: 36.
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Nicht mit dem Strauß, so oder so gestellt Und dem verschämten Blick ihn mir zu locken; […].20
Je nachdem wie der Strauß gehalten wird, signalisiert er Zustimmung oder Ablehnung der Umworbenen.21 Penthesilea hat diese Wahlfreiheit nicht, da sie an das Gesetz der Amazonen gebunden ist. Dass der Begriff „Strauß“ hier in einem anderen, nämlich dem militärischen Kontext wieder auftaucht, ist sicherlich kein Zufall. Die Folgen dieses Missverständnisses sind bekannt: Penthesilea entmenscht, ja desubjektiviert sich selbst.22 Sie, die „fortan kein Name nennt“23, wird zur „Hündin“24 inmitten ihrer Meute und zerfleischt das Objekt ihrer Begierde. Im Akt des Zerfleischens und der Zerstörung überschreitet sie sowohl die bürgerlichen Körpergrenzen als auch die Grenzen des Individuellen. Das romantische Ideal der Verschmelzung zweier Individuen, von Mann und Frau, wird auf die Spitze getrieben und grausam konterkariert. In dem Maße, in dem Penthesilea im 24. Auftritt nach und nach die ganze Dimension dieses Missverständnisses zu begreifen beginnt, setzt ein Prozess der „Dissoziation“25 ein, der in ihrem selbstherbeigeführten Tod kulminiert. Einem Tod, der sich letztlich als performativer Sprechakt realisiert. Sprache hat ihre Funktion als dialogisches Regulativ, als verlässliches Kommunikationssystem verloren, kann aber zur Waffe werden, die sich gegen das Subjekt selbst richtet. PENTHESILEA Denn jetzt steig ich in meinen Busen nieder, Gleich einem Schacht, und grabe, kalt wie Erz, Mir ein vernichtendes Gefühl hervor. Dies Erz, dies läutr’ ich in der Glut des Jammers Hart mir zu Stahl; tränk es mit Gift sodann, Heißätzendem der Reue, durch und durch; Trag es der Hoffnung ewgem Amboß zu, Und schärf und spitz es mir zu einem Dolch; Und diesem Dolch jetzt reich ich meine Brust: So! So! So! So! Und wieder! – Nun ists gut. (Sie fällt und stirbt.)26
20 Penthesilea, 15. Auftritt, V. 1887-1894. 21 Siehe Appelt/Nutz 1992: 32. 22 Siehe Scheit 1995: 223. 23 Penthesilea, 23. Auftritt, V. 2607. 24 Penthesilea, 23. Auftritt, V. 2659. 25 Elzenheimer 2008: 50. 26 Penthesilea, 24. Auftritt, V. 3025-3034.
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Penthesileas Tod ist eine Selbst-Auslöschung des Subjekts und seine gleichzeitige Rekonstitution (die in dieser Textpassage zahlreich vorkommenden Personalpronomina „ich“/„mir“ können diese Deutung untermauern). Damit bestätigt sich die Beobachtung von Joachim Pfeiffer: „Das literarische Subjekt in Kleists Texten setzt sich selbst aufs Spiel, es ist bereit, seine Identität zu verlieren, indem es sie in kühnen Entwürfen auflöst und unkonventionell neu erfindet.“27 Es ist wahrscheinlich überflüssig, darauf hinzuweisen, dass diese Form der radikalen Subjektivität, die in Kleists Text zum Ausdruck kommt, nicht dem Status einer gesellschaftlich-bürgerlichen Identität entspricht und nicht den Regeln bürgerlicher Subjektbegründung um 1800 folgt.28 Kein Wunder also, dass sich das Missverstehen in das äußere Kommunikationssystem fortschreibt und sich in einer größtenteils vehementen Ablehnung der Kleistschen Penthesilea durch die Zeitgenossen spiegelt.
T HEATER Was für kommunikative Situationen im Allgemeinen gilt, gilt für Theater bzw. die interaktiven Prozesse im Theater im Besonderen: Missverständnisse im Theater sind wohl eher der Normalfall als die Ausnahme. Interessanterweise werden Missverständnisse im theatralen Kommunikationsprozess jedoch relativ selten manifest. Dies könnte mehrere Gründe haben: Zum einen werden die Intentionen des Senders, der Produktionsseite, meist nicht explizit gemacht. In der Folge lassen sich evtl. Missverständnisse auf der Empfängerseite ebenfalls nicht zweifelsfrei benennen. Die Mehr- und Vieldeutigkeit szenischer Entwürfe ist Grundbedingung von Theater, insofern rechnet Theater eher mit einer Vielzahl von durchaus divergierenden ‚Verständnissen‘ als mit expliziten Missverständnissen. Missverständnisse im Theater rücken manchmal also eher en passant ins Licht der Erkennbarkeit; manchmal jedoch sind sie auch kaum zu übersehen. Ein – ebenfalls hinlänglich bekanntes – Beispiel für ein manifest gewordenes Missverständnis, ist die zweite Vorstellung der Publikumsbeschimpfung bei der Experimenta I. Am 8. Juni 1966 brachte Claus Peymann seine Inszenierung der Publikumsbeschimpfung und damit Handkes Sprechstück zur Uraufführung. Vier nicht näher benannte Sprecher, die keine Rollenfiguren mehr darstellen oder zeigen, wenden sich in rhythmisierten, ja musikalisierten Wort- und Satzfolgen direkt an das Publikum. Gemäß den Überlegungen Handkes zum Stück entwickelte Claus Peymann mit seinen Schauspielern eine genau erarbeitete Sprach- und Bewegungschoreographie. Im Verlauf der zweiten Vorstellung, die vom Hessischen Rundfunk 27 Pfeiffer 2001: 194. 28 Siehe Pfeiffer 2001: 194.
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aufgezeichnet wurde,29 stürmten mehrere Zuschauer die Bühne, um sich aktiv zu beteiligen. Eine aktive Zuschauerpartizipation hatten Regisseur und Autor aber offensichtlich nicht im Sinn gehabt. Das Missverständnis wurde in dem Augenblick manifest, als Claus Peymann selbst die Bühne betrat und die ‚Störenfriede‘ recht unsanft in den Zuschauerraum zurückdrängte. Durch diese Handlung unterstrich Peymann die entstandene Differenz zwischen Intention und tatsächlicher Wirkung: Er beharrte auf dem ‚Werkcharakter‘ der Inszenierung, den er – wie Erika FischerLichte es ausdrückt – durch seine „Urheberschaft und seine Definitionsmacht“30 beanspruchen konnte.31 Intendiert hatten Handke und Peymann eine Aktivierung des Zuschauers im Sinne eines reflexiven Prozesses, nicht als „mechanische[n] Aktivismus der bloß körperlichen, bewußtlosen Reflexe“ 32. Für Handke und Peymann galt vielmehr die Prämisse: „[…] je distanzierter und hermetischer die Ereignisse auf der Bühne vorgeführt werden, desto klarer und vernünftiger kann der Zuschauer diese Abstrakta auf seine eigene Situation draußen konkretisieren.“ 33 Diese Botschaft wurde von den Zuschauern offensichtlich falsch verstanden und gedeutet, was rückblickend wohl kaum verwunderlich ist. Die Aufführung ist durch vieldeutige Zeichen- und Kommunikationsstrukturen geprägt, die den Kreislauf des Missverständnisses erst in Gang setzen: 1. Der Text Handkes ist durch eine klare Dominanz der appellativen Funktion geprägt und zeichnet sich durch einen hohen Aufforderungscharakter aus: Im Stehen könnten Sie besser als Zwischenrufer wirken. Gemäß der Anatomie des Körpers könnten Ihre Zwischenrufe im Stehen kräftiger sein, Sie könnten besser die Fäuste ballen. Sie könnten Ihren Widerspruchsgeist zeigen. […] Im Stehen würde nicht die Trägheit Ihrer Körper Sie vom Gehen abhalten. Im Stehen wären Sie individueller. Sie wären weniger starr. Sie ließen sich weniger bannen. Sie ließen sich weniger vormachen. Sie würden sich mit Ihrer Eigenschaft als Zuschauer nicht abfinden. 34
2. Auch der Status des Zuschauers zwischen Subjekt und Objekt wird explizit zum Thema gemacht: „Sie sind hier keine Subjekte. Sie sind hier Objekte. Sie sind die Objekte unserer Worte. Aber Sie sind auch Subjekte.“35 Eine Reflexion darüber kann natürlich auch einen konkreten Rollenwechsel nach sich ziehen.
29 Vgl. Aufzeichnung der Aufführung im Frankfurter Theater am Turm, in: Handke 2008. 30 Fischer-Lichte 2008: 28. 31 Vgl. hierzu auch Kraus 2007: 274-275. 32 Handke 1969. 33 Handke 1969. 34 Handke 2008: 30. 35 Handke 2008: 23.
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3. Auf der Inszenierungsebene werden verschiedene szenisch-theatrale Strategien angewandt, die von den Zuschauern als konkrete ‚Animation‘ für den Rollenwechsel missverstanden werden können: So bleibt beispielsweise das Licht im Zuschauerraum während der gesamten Vorstellung an. Die Schauspieler verlassen den Bühnenraum mehrfach und gehen in den Zuschauerraum: Das Prinzip der vierten Wand wird konsequent aufgebrochen. 4. Das Missverständnis wird auch medial – durch die Aufzeichnung des Hessischen Rundfunks – geschürt und verstärkt: Die direkt auf die Zuschauer gerichteten Kameras vollziehen den Seitenwechsel – noch bevor die Zuschauer zu Beginn der Vorstellung offiziell darüber informiert werden. Das intendierte Reflektieren der Zuschauer über ihren Status zwischen Anschauungsobjekt und handelndem Subjekt muss unter diesen Bedingungen eigentlich notwendigerweise in eine aktive Partizipation umschlagen: Es ist zu verstehen als ein durchaus nachvollziehbarer Akt der Selbstermächtigung des nicht nur zuschauenden, sondern auch ‚angeschauten‘ und somit handelnden Subjekts. Diese Selbstermächtigung der Zuschauer drängt auch den Regisseur in eine neue Rolle: Regisseur Peymann wird zum aktiv handelnden ‚Sachwalter‘ seines Werkes, indem er die Zuschauer eigenhändig von der Bühne drängt und sie damit auf ihre eigentlich vorgesehene Rolle verweist. So verständlich die Position Peymanns und Handkes sein mag, sie wird letztlich vom Publikum als elitär und hermetisch entlarvt. Das Missverständnis entfaltet hier weniger sein zerstörerisches, denn sein innovatives Potenzial im Hinblick auf Rollenwahl und Handlungsoptionen.36
F AZIT In den unterschiedlichen Zusammenhängen offenbaren Missverständnisse die Labilität und Fragilität von Kommunikation, das arbiträre Moment jeglicher Zeichenproduktion und -kombination. Sie verweisen somit auf die „Brüchigkeit und die prinzipielle Gefährdung des Subjekts, das nicht außerhalb dieser kulturellsymbolischen Ordnung denkbar ist“37. Positiv gewendet kann das Missverständnis in der Folge aber auch zu kreativen Grenzerweiterungen führen, indem – auch und gerade auf der Ebene der Subjektkonstitution – nach neuen Lösungsmustern, neuen, 36 Dennoch ist der Begriff des Missverständnisses für die Beschreibung theatraler wie interaktionaler Situationen vielleicht nicht hinreichend tragfähig und müsste im Hinblick auf weitere Perspektivierungen ergänzt werden. Weiterführend wäre z.B. an Erving Goffmans Rahmenanalyse und seine Beobachtung bzw. Beschreibung von „Fehlrahmungen“ („misframings“) zu denken (vgl. Goffman 1977). 37 Reckwitz 2010: 19-20.
M ISSVERSTÄNDNISSE ALS S TOLPERS TEINE DER S UBJEKTKONSTITUTION |
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angemesseneren Modellen zur Präsentation des eigenen Selbst gesucht werden muss. Missverständnisse können somit durchaus ein interessanter Untersuchungsgegenstand für die kultur- wie theaterwissenschaftliche Subjektanalyse sein, verweisen sie doch – wie unter einem Vergrößerungsglas betrachtet – auf krisenhafte kommunikative Situationen, in denen das Verhältnis zwischen den Interaktionspartnern und zum eigenen Selbst neu ausgehandelt werden muss. Begreift man Theater als ein Feld, in dem sich Kreatives wie Innovatives ereignen soll, in dem Zuschauer wie Produzenten ihr eigenes Handeln und ihre eigene Verortung als Subjekte innerhalb gesellschaftlicher Bezüge immer neu reflektieren sollen, können Missverständnisse und Rahmenkollisionen produktive Stolpersteine und willkommene Triebfedern für das Neue und Unerwartete sein.
L ITERATUR Appelt, Hedwig/Nutz, Maximilian: Heinrich von Kleist. Penthesilea. Erläuterungen und Dokumente. Stuttgart: Reclam 1992. Elzenheimer, Regine: Pause. Schweigen. Stille. Dramaturgien der Abwesenheit im postdramatischen Musik-Theater. Würzburg: Königshausen & Neumann 2008. Falkner, Wolfgang: Verstehen, Mißverstehen und Mißverständnisse. Tübingen: Niermeyer 1997. Fischer-Lichte, Erika: Ästhetik des Performativen. Frankfurt am Main: Suhrkamp 2008. Goffman, Erving: Rahmen-Analyse. Ein Versuch über die Organisation von Alltagserfahrungen. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1977. Handke, Peter: „Der Dramaturgie zweiter Teil. Die experimenta III der Deutschen Akademie der darstellenden Künste in Frankfurt“, in: Die Zeit (13.06.1969). Handke, Peter: Publikumsbeschimpfung und andere Sprechstücke. Mit einer Aufzeichnung der Aufführung im Frankfurter Theater am Turm [Hessischer Rundfunk 1966]. Frankfurt am Main: Suhrkamp 2008. Hebach, Marion: Gestörte Kommunikation im amerikanischen Drama. Tübingen: Narr Francke Attempto 2006. Hinnenkamp, Volker: Mißverständnisse in Gesprächen. Eine empirische Untersuchung im Rahmen der Interpretativen Soziolinguistik. Opladen/Wiesbaden: Westdeutscher Verlag 1998. Kleist, Heinrich von: Penthesilea [orig. 1808]. Stuttgart: Reclam 1983. Krämer, Sibylle: Sprache, Sprechakt, Kommunikation. Frankfurt am Main: Suhrkamp 2001. Kraus, Dorothea: Theater-Proteste. Zur Politisierung von Straße und Bühne in den 1960er Jahren. Frankfurt am Main: Campus 2007. Metzler Lexikon Sprache. Hg. v. Helmut Glück. Stuttgart/Weimar: Metzler 1993.
324 | CONSTANZE S CHULER
Pfeiffer, Joachim: „Die Konstruktion der Geschlechter in Kleists Penthesilea“, in: Lubkoll, Christine/Oesterle, Günter (Hg.): Gewagte Experimente und kühne Konstellationen. Kleists Werk zwischen Klassik und Romantik. Würzburg: Königshausen & Neumann 2001, 187-198. Piwinger, Manfred/Christoffel, Jörg: „Wenn zwei sich missverstehen. Missverständnisse in der Kommunikation“, in: www.piwinger.de/aktuell/Missverstaend nisse.html [14.03.2011]. Reckwitz, Andreas: Das hybride Subjekt. Eine Theorie der Subjektkulturen von der bürgerlichen Moderne zur Postmoderne. Weilerswist: Velbrück 2006. Scheit, Gerhard: Dramaturgie der Geschlechter. Über die gemeinsame Geschichte von Drama und Oper. Frankfurt am Main: Fischer 1995. Watzlawick, Paul et al.: Menschliche Kommunikation. Formen, Störungen, Paradoxien. Stuttgart: Huber 1993.
Das röhrende Er und fiepsende Sie Notate zur Auflösung des Subjekts am Beispiel des Workcenter of Jerzy Grotowski and Thomas Richards G ABRI ELE C. P FEIFFER Das Subjekt ist in Verruf geraten. Seit der Wende der Sprachphilosophie gilt das subjektphilosophische Paradigma als obsolet. […] die meisten philosophischen Strömungen […] kommen ohne Subjekt aus. Das Paradigma, so heißt es, sei erschöpft. 1
Dieser Art verklingt das Subjekt, wenn Peter Bürger in seine Geschichte der modernen Subjektivität einleitet, um am Ende aber doch festzustellen, dass diese „Rede vom Tod des Subjekts“ keine hinreichende Markierung für das Verfassen einer Geschichte ergäbe, da das Verschwinden des Subjekts unabdingbar zur Subjektphilosophie selbst gehöre und gerade nicht deren Ende vermesse. Bürger stellt bei seinen Studien fest, dass „die Entdeckung der Angst, die das Ich auflöst, nur wenig später als die triumphale Selbstermächtigung des Subjekts bei Descartes erfolgt.“ 2 Ein Subjekt wird also erstmal konstatiert – gleichsam mit Descartes Aussage „cogito ergo sum“3 der „Lehre, daß das Bewußtsein das primär Gegebene sei, alles andere aber Inhalt, Form oder Schöpfung des Bewußtseins“4 oder der Lacanschen
1
Bürger 1998: 15.
2
Bürger 1998: 223.
3
„Ac proinde haec cognitio, ego cogito, ergo sum, est omnium prima & certissima, quae cuilibet ordine philosophanti occurat. [Und deshalb ist die Erkenntnis, ich denke, daher bin ich, die überhaupt erste und sicherste, auf die jeder regelgeleitet Philosophierende stößt]“ (Descartes 2005: 14-15). Vgl. auch Descartes 2008.
4
Lemma „Subjektivismus“, in: Schmidt 1991.
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jubilatorischen Geste5 –, um dann kurz darauf zu erkennen, dieses (denkende) Ich könne sich (sogleich) wieder auflösen, das (Selbst-)Bewusstsein verlieren, nur ein Bild, eine Imagination, gewesen sein. Das Theater, als ein paradigmatischer Ort imaginativer Subjektkonstitution, bietet sich idealerweise an, sich auch gleich um die Auflösung desselben zu bemühen, dieses herauszuschälen und sichtbar zu machen. Im Kontext zeitgenössischen Theaters kann dies anhand (m)eines ausgewählten Beispiels, das sich durch seine klinische und sterile Umgebung einer Laborsituation auszeichnet, gut veranschaulicht werden. Es handelt sich dabei um die Arbeiten im und vom Workcenter of Jerzy Grotowski und Thomas Richards (kurz: Workcenter). Die gewählte Laborsituation ermöglicht eine Minimierung an Irritationen – sowohl für die Schauspielenden wie auch für professionelle Zusehende, beispielsweise für Theaterwissenschaftler/-innen bei ihrer Arbeit: keine Probezeit, keine Inszenierungsmodi, kein Publikum oder andere Störfaktoren. Es besteht eine reine Arbeitssituation von Schauspielenden an sich unter der Leitung von Personen, die eingebunden und geschult in der Tradition von Jerzy Grotowski und seinen lebenslangen Erfahrungen stehen, d.h. bezogen auf die Auswirkungen seines steten Schaffens und Recherchierens am Ende seines letzten Lebensjahrzehnts. Die wenigen (öffentlichen) Arbeiten, die Grotowski in seiner ersten Arbeitsphase in seinem Theaterlaboratorium in Polen produzierte, gingen um die Welt und haben das Theater nachhaltig verändert, so wie auch sein Buch Für ein Armes Theater 1968 Generationen beeinflusste – und Kontroversen hervorrief. Er gilt – als er sich in den 1970er Jahren zurückzieht – als ein Neuerer des Theaters. Das kann natürlich nur dann so formuliert werden, wenn von einem Theaterverständnis ausgegangen wird, das sich auf die Definition eines euroamerikanischen Literaturtheaters stützt, welches sich vorwiegend im 18. Jahrhundert herausgebildet und den veristischen Schauspielstil verfolgt hat. Grotowski beendete diese erste Arbeitsphase von Theaterinszenierungen recht bald und begann sich intensivst mit dem Theatre of Sources und dem Objective Drama zu beschäftigen, bis er schließlich in seiner letzten Arbeitsphase ankam,6, die er in den 1980ern in Pontedera (Italien) begann, ins Workcenter münden ließ und von dem von ihm ausgesuchten Nachfolger, Thomas Richards, weiterentwickelt wissen wollte. Die Arbeit fand in völliger Zurückgezogenheit statt und konnte nur sehr selten und nur von wenigen eingeladenen BesucherInnen gesehen werden. Paul Allain allerdings vertritt die Meinung, dass dies nicht zwingend zu betonen sei, da es in Wahrheit nicht korrekt sei: „Yet it is an error to consider Grotowski’s work in his last decade as exclusively closed. Small-scale it certainly was, but many 5
Siehe Lacan 1991: 61-70.
6
Siehe Findlay 1996: xi-xv.
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theatre groups watched the work and commented on it, often during work exchanges that Richards has described in The Edge Point of Performance.“7 Dennoch lautete der Grundtenor: „Es wurde still um ihn.“8 – da es sich schließlich um ausgesuchte Gruppen und Einzelpersonen drehte, die eingeladen wurden, und da nach der Phase seiner Theaterproduktionen, wie es scheint, wenige von sich aus weiterhin für seine kreativen Arbeiten Interesse zeigten. Grotowski selbst äußert sich über diese Zeit in einem Essay mit dem Titel „Von der Theatertruppe zur Kunst als Fahrzeug“9. Die Hauptarbeit aus dieser Zeit wird Action10 genannt.
ACTION Im Jahr 2000, Grotowski ist bereits verstorben, wird Action im Workcenter nach wie vor praktiziert. Action ist nicht für ein Publikum gedacht, noch wird sie für ein solches durchgeführt, dennoch können Besucher/-innen eingeladen sein, denen die Eigenschaft von Zeug/-innen explizit zugedacht wird. Hierbei ist entscheidend, dass nicht nur die Aktion selbst, als vielmehr der gesamte Rahmen von Bedeutung ist. Es ist nicht nebensächlich, wann und wie der Kontakt mit den geladenen Gästen stattfindet, und dies ist mit Sicherheit räumlich und zeitlich lange bevor noch ein Theaterraum sichtbar ist. Unmittelbar bevor dann dieser Raum betreten werden darf, um Action zu sehen, wird erklärt, was Action ist. Um das Potential von Affizierbarkeit dieser Theaterstruktur deutlich zu zeigen, sei hier ein Ausschnitt aus einem Gedächtnisprotokoll von mir angeführt: Dieser barfüßige Mann in seinen schwarzen Anzughosen und weißem Hemd, beides gut gebügelt, […] begann zu sprechen. Er erklärte uns, was wir sehen würden: Etwas, das nicht gemacht war, um gesehen zu werden. Wir würden vorbeischauen, durch ein Fenster 11 blicken,
7
Allain 2002: 59-65, hier 60. Allain bezieht sich hier auf Thomas Richards, The edgepoint of performance. Interviewer Lisa Wolford, Pontedera 1997. Dt. Version: Wolford 1996b.
8
Falke 1996: 7.
9
Nachwort von Thomas Richards, Theaterarbeit mit Grotowski an physischen Handlungen: Grotowski, „Von der Theatertruppe zur Kunst als Fahrzeug“, in: Richards 1995: 179-216. Dieser Essay beruht auf zwei Vorträgen von 1989 und 1990, die französische Fassung „De la compagnie théâtrale à l'art comme véhicule“ gilt als Endfassung und wurde von Grotowski durchgesehen.
10 Siehe Wolford 1996a: 9-31. 11 Der Begriff des ‚Fensters‘, durch das geblickt wird, scheint ein von Anfang an bewusst gewählter zu sein, wenn Thomas Richards etwa über seine Arbeit sagt: „In der Struktur
328 | GABRIELE C. PFEIFFER dabei eine Gruppe von Menschen sehen, vielleicht beobachten, die etwas machen, das sie Action nennen. Action ist kein Theater [sagte er], [es] ist keine Performance, ist keine Art von Training. Es ist präzise und genaue Arbeit und entsteht im Rahmen von Kunst als Fahrzeug.12
INDIVIDUELLES S UBJEKT
AUFLÖSEN ,
EIN KOLLEKTIVES BAUEN Jerzy Grotowski hat in all seinen Phasen stets sehr konzentriert mit jeweils einer Person, einem (meist männlichen) Schauspieler gearbeitet, ihn als Studienobjekt genutzt, dabei bis aufs Innerste archetypische Elemente freigelegt (psychologische und psychotherapeutische Aspekte aber unbeachtet belassen), auf die Kunst des Schauspielens fokussiert und damit auch experimentiert – also ganz im Sinne von Meyerholds Verständnis: „Theater aber – das ist vor allem der Akteur“13. Sei dies seine erste enge Zusammenarbeit mit Ryszard Cieslak – auch außerhalb Polens bekannt durch The Constant Prince (1967) – bis hin zu seiner letzten mit Thomas Richards – bekannt als sein sogenannter Erbe in Pontedera.14 Ein Echo seiner Arbeit und seines Sezierens wie in einem anatomischen Theater ist weit über seinen Tod hinaus sichtbar. So arbeiteten etwa im Rahmen eines dreijährigen EU-Projekts unter
von Action gibt es ein Fenster. Es sind mehr Elemente da, die von einem Beobachter als etwas, was einer ‚Rolle‘ ähnlich ist, ausgelegt werden können.“ Thomas Richards zit. nach Wolford 1996b: 53. 12 Aus persönlichen Aufzeichnungen der Autorin aus „TDA – 2000-2002, Vorangegangenes, Mischung aus Protokoll und Text“ (Gedächtnisprotokoll Herbst 2000). In diesen Jahren als Zeugin eingeladen. (In den Jahren 2003-2006 als Mitglied des documentation teams des dreijährigen EU-Projekts Tracing Roads Across des Workcenter of Jerzy Grotowski and Thomas Richards tätig.) 13 Ausschnitt eines vorzeitig verfassten Nekrologs von Eisenstein über Meyerhold; zit. nach Baumbach 2010: 306. 14 Zu den Arbeiten im Kontext des Armen Theaters und damit zu Cieslak gibt es eine ausgewogene Rezeption sowohl im wissenschaftlichen wie auch im theaterpraktischen Bereich. Hinsichtlich Grotowskis letzter Arbeitsphase, die im Laboratorium in Pontedera mündet und von Thomas Richards wie auch Mario Biagini weitergeführt wird, ist erst der Beginn einer wissenschaftlichen Aufarbeitung zu sehen. Vgl. z.B. Attisani 2006; Attisani/ Biagini 2007; Tatinge Nascimento 2009. Einen großen Anteil für einen ersten Start brachte hier wohl das dreijährige EU-Projekt in den Jahren 2003-2006. Diese Zeitspanne wird hier exemplarisch herangezogen. Aus dieser Zeit stammen auch meine Aufzeichnungen, Notizen, Gespräche, Studien und Recherchen.
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dem Titel Tracing Roads Across in den Jahren 2003-2006 die Mitglieder15 des Workcenter an zwei Strängen von Theaterstrukturen: der eine Strang, bereits mit Jerzy Grotowski entwickelt, gehört zur schon erwähnten Domäne „art as vehicle“ 16, der zweite ist ein Versuch der Nachfolgegeneration, um wieder eine Brücke zur Kunst als Vorstellung zu bauen; sie wird daher sinngemäß The Bridge: Developing Theatre Arts genannt. Hierin entstanden verschiedene Versionen eines Werks mit variierenden Titeln von One breath left / Dies Irae, dessen Intro ab einem gewissen Zeitpunkt stark an Rembrandts Anatomie des Dr. Tulp erinnert.17 Die Freilegung des Innersten von Schauspielenden, die auf dem Weg zur Kunst als Vorstellung spielerisch verarbeitet wird, ist im Bereich ‚art as vehicle‘ (geschützt durch die Laborsituation) unverhüllt den sogenannten doers (Handelnden) und Zeug/-innen preisgegeben. Praktiziert und erforscht wird die von Richards definierte „innere Handlung“ der Schauspielenden im Workcenter – d.h. die „Umwandlung von einer (groben) Energiequalität in eine andere (subtile)“.18 Das Ziel ist „die ‚Magie‘ der Präsenz“ – wie Erika Fischer-Lichte dies beschreibt und erklärt: „Die ‚Magie‘ der Präsenz besteht also in der besonderen Fähigkeit des Darstellers, Energie in einer Weise zu erzeugen, daß sie für den Zuschauer spürbar im Raum zirkuliert und ihn affiziert, ja tingiert. Diese Energie ist die Kraft, die vom Darsteller ausgeht.“19 Die Arbeiten im Workcenter zielen nun darauf ab, die „Magie“ mittels einer bereits etablierten Struktur (Action), die vorhin einführend erwähnt wurde, zu befördern. Action wurde zunächst (ein Jahr lang) allein von Thomas Richards unter Begleitung von Jerzy Grotowski kreiert, hier noch unter dem Namen Song Action 20. 15 Thomas Richards (USA), Mario Biagini (Italien), Marie de Clerck (Belgien), Souphiéne Amiar (Algerien), Jørn Riegels Wimpel (Norwegen), Gey Pin Ang (Singapur), Pei Hwee Tan (Singapur), Cécile Berthe (Belgien), Elisa Poggeli (Italien), Johanna Porkola (Finnland), Francesc Torrent Gironella (Spanien). 16 Peter Brook verwendet die Bezeichnung „art as vehicle“ im Jahr 1986, als er Grotowskis Arbeit sieht, um diese zu beschreiben. Siehe Brook 1997: 381-384. 17 Vgl. Anatomie des Dr. Tulp, 1632 (Öl auf Leinwand; 169,5 x 216,5 cm) von Rembrandt, Königliche Gemäldegalerie Mauritshuis, Den Haag. 18 Wolford 1996b: 42. 19 Fischer-Lichte 2004: 169. 20 Die Entstehungsgeschichte der Aufführungsstruktur von Action beginnt schon in Irvine, Kalifornien im Jahr 1985, als Thomas Richards zwischen Oktober 1985 und Juni 1986 bei einem Forschungsprogramm von Jerzy Grotowski in Kalifornien teilnahm, bei dem eine „Action, d.h. eine genaue Aufführungsstruktur, ein Werk, das Main Action genannt,“ geschaffen wurde (siehe Wolford 1996b: 39). In Italien begann er dann zunächst allein mit Grotowski an zwei Actions zu arbeiten (Pool Action und Song Action), um schließlich mit einer Gruppe weiterzuarbeiten, mit der Downstairs Action (1989) kreiert wurde,
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Er ließ Richards an Prozessen entlang alter afro-karibischer und afrikanischer Lieder arbeiten. Nach zehnjähriger Arbeit verfügte Action über eine feste Struktur, sogar Partitur und über weitere doers. Dennoch fungierte Richards nach wie vor als alleiniger Autor, galt als alleiniger Schaffender. Dies war auch 2005 noch vollends als solches sichtbar, obwohl Richards zu diesem Zeitpunkt mittlerweile von einer gesamten Gruppe umgeben war; hervorzuheben ist dabei sein Partner Mario Biagini, der ebenfalls schon Jahre lang mit Grotowski gearbeitet hatte. Mario Biagini ist eine der wichtigsten Stützen für Richards Arbeit an inneren Handlungen, vielleicht sogar im Sinne von Grotowskis Jakobsleiter 21 ein Bauhelfer oder ein zweiter Teil, wie Richards in einem Interview die Arbeit mit Biagini beschreibt: Als Handelnde in Action arbeiten wir beide sozusagen in einer Art Tandem. Mario weiß wirklich Tiefes und Praktisches darüber, wie diese alten Lieder und die Tätigkeiten um sie herum und mit ihnen auf den Menschen wirken können. In Action sieht man Augenblicke des Kontaktes zwischen uns, in denen wir beide singen – und spielen – und wo diese ‚innere Handlung‘ einsetzt.22
Zusätzlich trägt und leitet der männliche Chor23 Richards Reise vom alten Mann am Stock durch Leben, Raum und Zeit, bis hin zur Geburt und in den Kreislauf des Todes. Von nicht geringerer Bedeutung ist dabei auch ein weibliches Element, stets beschränkt auf eine Person – von Anfang an: bei Downstairs Action, jener Variante nach Song Action, war es Nitaya Singsengouvanh24, danach Nhandan Chirco25, und während des EU-Projekts Marie de Clerck26. um dann anschließend an der aktuelle Version Action zu arbeiten (zu Pool Action vgl. Wolford 1996b: 51; zu Song Action vgl. Richards 1995: 151). 21 Siehe Grotowski 1995: 199. 22 Wolford 1996b: 50. 23 Gut trainiert und geschult durch die Arbeit im Workcenter können diese doers, wie Grotowski die Schauspielenden, die Handelnden, die Krieger nennt (siehe Grotowski 1996/1997: 43-47), ausgetauscht werden. An jenen Handlungen, die diesem Beitrag zugrundeliegen, waren beteiligt: Bei Action Oktober 2000: Thomas Richards, Mario Biagini, Marie de Clerck, Souphiène Amiar, Eric Feldmann, Juri Piroddi, Jørn Riegels Wimpel; bei Action November 2002 und Juli 2003: Thomas Richards, Mario Biagini, Marie de Clerck, Souphiène Amiar, Francesc Torrent Gironella, Jørn Riegels Wimpel. 24 Vgl. den Dokumentationsfilm Downstairs Action (praktiziert 1988-1992) von Mercedes Gregory aus dem Jahr 1989. 25 Siehe Wolford 1997: 407-429. 26 Das gesamte EU-Projekt Tracing Roads Across wurde die drei Jahre von einem wissenschaftlichen Dokumentationsteam begleitet: Paul Allain (Universität Kent), Antonio At-
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Diese weibliche Energielinie27 ist notwendig als helfende Hand nicht nur im Gesang und der Vibration, welche die aus der Yogapraxis hergeleitete Schlange Kundalini oder Dhamballa28 weckt, dem Tanz des Yanvalou gewidmet ist, sondern schlicht auch als jene, die die Wasserschüssel bringt und Richards Füße wäscht sowie als Gebärende im wahrsten Sinne des Wortes zu Verfügung steht. Sie ist die Stütze, Begleiterin, auch einmal die Leiterin des männlichen Chors für Richards Reise von Subjektauflösung. Er wird nicht geboren, um sich zu finden, er startet als alter weiser und böser Mann, um zu regredieren und sich selbst aufzugeben. Dabei befindet die ‚Sie‘, die Frau, sich natürlich stets im Energiestrom schwingend, in ihm verweilend, niemals verlässt Sie diesen – selbst wenn Sie im Hintergrund agiert, gleicht es jener Energie der kokken im Noh, von denen Eugenio Barba 29 berichtet. Großartigerweise hat auch Sie ihre Momente – erfährt ihre Auflösung, wie Richards in einem Gespräch bemerkt.30 Main-doer aber bleibt nur einer: Thomas Richards. Was auch immer Richards und durch ihn ansatzweise dem männlichem Chor möglich ist, Singsengouvanh, Chirco oder de Clerck – allesamt Frauen, die ein Sie verkörpern, dürfen nur an einer gewissen Stelle für einen kurzen Moment abheben. Dies tun sie ohne Eitelkeiten, können dabei aus der Haut fahren, sich in der RaumZeit bewegen, sich woanders hinbewegen.
tisani (Universitäten Venedig und Turin), Rafal Bubnicki und Aysin Candan – Yeditepe Universität und Bilgi Universität, Türkei), Albert Dichy (Institut Mémoires de l’Edition Contemporaine [IMEC], Frankreich), André Gueret (L’Atelier Cinéma de Normandie [A.C.C.A.A.N.]), Ali Ihsan Kaleci (Frankreich), Jelena Kovacevic (Beograd, Serbien und Montenegro), Nathalie Leger (IMEC), Cláudia Tatinge Nascimento (Wesleyan University,USA), Gabriele C. Pfeiffer (Universität Wien), Stephan Poliakov (Universität Lyon), Carla Pollastrelli (Fondazione Pontedera Teatro, Italien), Vanessa Polselli (Universität „La Sapienza“ von Rom), Kris Salata (Stanford University, USA), Jean-Pierre Triffaux (Universität Nizza Sophia-Antipolis), Jacques Vetter (A.C.C.A.A.N.), Grzegorz Tomasz Ziolkowski (The Centre for Study of Jerzy Grotowski's Work and for Cultural and Theatrical Research, und Universität Poznan, Polen) – sowie von einem Videoteam des A.C.C.A.A.N. 27 Siehe Grotowski 1996/1997: 43-47; „Von der Theatertruppe zur Kunst als Fahrzeug“, in: Richards 1995: 179-216; vgl. zu Energie des Theaters Gronau 2007 sowie Fischer-Lichte 2004: 160-175. 28 Siehe Osinski 1997: 391. 29 Siehe Barba 1996/1997: 81-82. 30 Thomas Richards während eines Seminars in Wien. 25.06.2003 (pers. Aufzeichnungen d.A.).
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AUS
DER
H AUT FAHREN UND WAS DABEI HERAUSKOMMT Der Mensch steckt völlig in der Haut, eigens steckt er drin; wenn das ein Sinn hat, frag ich mich: was schaut denn da heraus? JOE BERGER31
Die Haut, die es hier zu überschreiten gilt, bildet die Grenze des Innen und Außen, die Grenze eines Ichs. Sie wird „spätestens im 20. Jahrhundert zur zentralen Metapher des Getrenntseins.“32 So reicht es nun nicht (mehr), um dieses Ich definieren oder fassen zu können, dass ein Ich denkt. Um das Wesentliche zu schauen, ist es notwendig, in das Innerste vorzudringen, die Grenze zu überwinden, sie zu durchdringen, sie zu öffnen – und sei es mittels Skalpell. „Das westliche Denken ist, so der Psychoanalytiker Didier Anzieu, spätestens seit der Renaissance von dem Grundgedanken geprägt, daß Erkenntnis des Eigentlichen bedeute, Schalen und Mauern zu zertrümmern, um zu dem dahinterliegenden, sich im tiefsten Inneren befindlichen ‚Kern‘ vorzudringen.“33 Während noch bis zum späten 18. Jahrhundert das Dahinterliegende der Haut einer Lese-, Interpretations- und Diagnosekunst von (männlichen) Ärzten, Heilern und vielleicht Priestern oblag, wird sie nun durch anatomische Künste überschreitbar.34 Die Verhandlungen des Aus-der-HautFahrens auf der Bühne sind vor diesem Hintergrund äußerst unterschiedlich ausgeprägt: sei es, dass dies durch Performances geschieht, bei denen buchstäblich die Grenze Haut übertreten und dadurch ein Innen und Außen – bzw. vielmehr der Übergang – sichtbar gemacht wird, oder dass durch Ausstellungsverfahren der physische Körper auf der postdramatischen Bühne zum ostentativen Einsatz kommt, oder sei es, dass durch Theaterarbeiten an physischen Handlungen selbst der mittlerweile vermessene Leib (Körper) bühnenwirksam wird. Zu ersterem werden vorzugsweise meist Kunstaktionen von Marina Abramoviü – und bestenfalls noch von Gina Pane – angeführt35, bei zweiterem finden Arbeiten durch die Abkehr vom idealen Körper wie beispielsweise von William Forsythe oder Meg Stuart
31 Joe Berger, vgl. Wiener Depressionen, Chanson von Joe Berger, vertont von Ernst Kölz. CD-R, 1996. Vgl. den Beitrag von Julia Danielczyk in diesem Band. 32 Benthien 1999: 7. 33 Benthien 1999: 11-12; Benthien referiert hier auf Anzieu 1992: 20. 34 Siehe Benthien 1999: 16. Auffällig, dass sie hier in ihren Überlegungen „Hebammen, Engelmacherinnen, Kräuterhexen, etc.“ auslässt, die doch mindestens ebenso der Lesekunst des Inneren kundig waren. 35 Vgl. u.a. beginnende Sätze von Wulf 2000: 98-104.
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Aufmerksamkeit36 und für die dritte Möglichkeit werden meist Arbeiten und Konzepte von W. Meyerhold und J. Grotowski zur Verdeutlichung herangezogen. Jerzy Grotowski, der im Laufe seines Theaterschaffens und -forschens in seinen Laboratorien zunehmend nicht mehr um Theater im Sinne von Kunst als Vorstellung, sondern um ein Theater als art as vehicle bemüht ist, versucht das Ich des Schauspiel-ers zu entdecken, die Angst der Auflösung zu durchbrechen und weder an fiktionalen Figuren-Ichs noch am leiblichen In-der-Welt-Sein festzuhalten. Er führt seine Schauspiel-er – also die ‚Ers‘, z.B. Ryszard Cieslak – an physische Grenzen ohne dabei jedoch (anfänglich zu Zeiten des Armen Theaters mit Hilfe einer Rolle) das Haut-Ich zu strapazieren. Erst über seine verschiedenen Arbeitsphasen gelangt er zur Anforderung der Überschreitung des Haut-Ichs und zu art as vehicle, beginnen die ‚Ers‘ – hier allen voran Thomas Richards – sich in Raum und Zeit zu verlieren. Die ‚Sies‘, im wörtlichen Sinne meist am Rande agierend, bringen Lieder wie Maud Robard37 die afro-karibischen, oder stützen und unterstützen die Arbeit bei Action als einzelne. War es bei Singsengouvanh noch eine wilde, stürmische, auch mit einem Stock besessene Person, mit wildem geöffnetem Haar, hat Chirco keinen eigenen Platz abgesehen von der Gebärenden38, und ist es bei de Clerck eine sehr dünne und hohe Stimmqualität, die sie fortträgt, die sie aus der Haut fahren lässt; die Haare dabei in einem Zopf gezähmt. Ein zartes Gerüst, das in einer Johannes dem Täufer gewidmeten Kirche in Kappodokien (Çavuúin) oder der Aya Irini (Istanbul) beispielsweise sehr gut trainiert sein will. Nur wenn die anderen bereit sind, diesen Raum zuzulassen und wie es scheint, sind sie dies, kann es gelingen, und kann eine in die Höhe ragende Schwingung zum Strom mutieren. Diese trägt de Clerck in die Höhe, um nach einem kurzen Moment wieder in sich zusammenzufallen und der Wandlung Richards Raum zu geben. „Die Aufführungsstruktur fungiert als eine objektive Stütze, um den Handelnden (also im kurzen Moment auch der weiblichen Energie)
36 Vgl. u.a. Lehmann 1999: 372. 37 Vgl. z.B. „Maud Robart’s Action“, in: Wolford/Schechner 1997: 344. 38 „Chirco steht in der Mitte des Raumes und beginnt ein Fragment, in welchem sich ihr Körper weitet, nicht von den Hüften, sondern von der Brust aus und in die Schultern hinein, als ob sich in der Mitte des Körpers etwas öffnete, sich drehte, größer würde. In ihrer Bewegung gibt es etwas Vulkanisches und Elementares, gleich der Erde, die aus dem Inneren Feuer ausstößt. Sie steht fest verwurzelt da, die Beine gespreizt. Richards liegt hinter ihr auf dem Boden und gleitet zwischen ihren Beinen hindurch, indem er rasch auf dem Rücken rutscht und mit einem Rohrstock in der Hand unter dem Saum ihres Kleides hervorkommt“ (Wolford 1996a: 15).
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bei dem beizustehen, was Grotowski einen ‚Weg in die Vertikalität‘ nennt“39, – so Lisa Wolford in ihrem Bericht zu Action. In der Entwicklung von Action erhält dieser Song („zum Lobe der weiblichen Gotteskraft“) und damit diese Energie nun auch einen eigenständigen Platz, wenngleich eben nur für einen Moment. Marie de Clerck begibt sich auf den Weg einer Wandlung. Wie Wolford von Chirco berichtet, schreitet auch Marie de Clerck im Yanvalou-Schritt, hebt ihr Kleid – dieses nun purpurrot und einfarbig, während Chircos Kleid „mit gelbem Untergrund und Blumenmuster“40 gezeichnet war –, und kaum den Boden berührend (von Ferse auf Zehe abrollend) schreitet sie leicht vornübergebeugt. Doch in diesem einen Moment lässt sie das Kleid fallen, streckt die Hand nach oben, die physische Handlung festgeschrieben, einer Partitur gleich, verliert sie über die Jahre hinweg, die Scheu, an sich festzuhalten. Häutet ihre imaginäre Haut, zeigt sich ganz, öffnet sich und nähert sich dadurch „Schritt für Schritt – dem Wesenhaften“, steigt „zu einer subtileren Energie auf […], um mit ihr bis zum instinkthaften Körper hinunterzusteigen.“41 Damit dies gelingt, ist die mehrmals betonte Unterstützung eines oder einer anderen notwendig und im besten Fall noch ein Chor dazu, der als kollektives Ich den energetischen Humus bildet. Der Chor kann nur dann in der Handlung unterstützen, wenn jedes einzelne Mitglied darin sein Selbst aufgibt und dafür im Chor aufgeht, es sich in ein einziges Organ wandelt. Dies wird von den Mitgliedern täglich mehrere Stunden über verschiedenste physische und meditative Trainingsmethoden geübt (eine Folge aus den von Grotowski entwickelten Trainingseinheiten seiner verschiedenen Arbeitsphasen), um schließlich in Action, einer festgelegten Aufführungsstruktur, weitergeübt und praktiziert zu werden. So wird z.B. während einer Trainingsstunde Francesc Torrent Gironella von Thomas Richards unterstützt, gestützt, geleitet und begleitet. Torrent Gironella wandelt entlang eines Songs in eine Körperlichkeit42, die sich bei ihm in Urlauten und einer den körperlichen Tiefen emporkommenden Stimme äußert. Sie lässt ihn sein Alter, seine Zeit, sein Jetzt, sein Ich von heute vergessen und führt ihn und mit ihm die Anwesenden in einen Abgrund des Seins, an den Abgrund des Vergehens. Hörbar ein röhrendes grölendes Etwas, sichtbar ein menschlicher Körper, der keiner sein will, am ehesten wohl noch an einen Affen erinnernd. Bei derart aufkommenden Momenten, einer 39 Wolford 1996a: 9. 40 Wolford 1996a: 12. 41 Grotowski 1995: 198. 42 Gesehen im Laufe des Projekts Tracing Roads Across 2003-2006 sowie zum Abschluss (außerhalb des Rahmens von The Twin, bei einem ersten Einblick in eine neue Struktur mit Thomas Richards, Cécile Berthe, Pei Hwee Tan und Francesc Torrent Gironella) in Pontedera 2006 (Gedächtnisprotokoll April 2006). Vgl. zu The Twin: an action in creation auch Pfeiffer 2006 sowie Attisani 2009: 181-185.
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„‚Magie‘ der Präsenz“ 43 wird diesen Raum gegeben: den lauten röhrenden Ers. Sie erhalten Raum, Platz, ein wunderbares Absteigen in die Tiefen menschlichen Seins, und erfahren die Auflösung ihres Subjekts – ermöglicht durch die Kraft und Schwingung alter Lieder, die Grotowski über Jahre gesammelt und schließlich lehren und lernen ließ, und durch das unmittelbar zuvor aufgebaute kollektive Subjekt. Und Sie? Die Sies dürfen in die Höhe steigen – wörtlich – auf Zehenspitzen summen. Ihr Vorbild Marie de Clerck in Action. Mit fiepsender Stimme trippeln die Sies, von ihr geleitet und augenscheinlich am Rand der Handlung. Sie umkreisen die Ers, Sie stützen die archaischen Ausbrüche, Sie tragen die Kerzen. In Action darf Marie de Clerck ihre Momente haben, doch in der Erarbeitung einer neuen Aufführungsstruktur gibt es noch keinen Platz für die vielen weiblichen Schauspielerinnen oder Handelnden – wie Grotowski sie nannte –, die einzeln und leise am Rand sich fortbewegen. Mit der Zeit werden diese einzelnen Subjekte ihr Selbst aufgeben und in ein kollektives Weibliches übergehen. Die Auflösung des individuellen Subjekts ist hier also nicht gegeben, nicht vorgesehen, ein Eingehen in kollektives Gefiepse wird ge- und versucht. Dies erscheint v.a. jungen Frauen außerhalb dieser Strukturen mindestens befremdlich, den doers ein blinder Fleck. So reagierten die Handelnden in einer Diskussionsrunde mit eingeladenen Studierenden in einer Bandbreite von unwirsch bis unverstanden. Sie konnten auch durch das angeregte Gespräch nicht erkennen, geschweige denn zugeben, dass zwischen den Männern und Frauen des Workcenter-Teams ungleiche physische Präsenz gegeben war.44 Als Zusehende, die nebst ästhetischem Genuss diese Diskrepanz wahrnimmt, lähmt dies jeglichen Handlungsspielraum an Reaktion. Unbehagen ist also der bittere Beigeschmack, der schließlich bleibt.
L ITERATUR Allain, Paul: „After Grotowski – the Next Generation“, in: New Theatre Quarterly 69, Vol. XVIII, Teil 1 (Februar 2002), 59-65. Anzieu, Didier: Das Haut-Ich. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1992. Attisani, Antonio: Un teatro apocrifo. Il potenziale dell’arte teatrale nel Workcenter of Jerzy Grotowski and Thomas Richards. Milano: Medusa 2006.
43 Fischer-Lichte 2004: 169. 44 Studierende der Theater-, Film- und Medienwissenschaft diskutieren mit den Mitgliedern des Workcenter am 30.11.2004 im Theater des Augenblicks, Wien (Gedächtnisprotokoll November 2004).
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Attisani, Antonio/Biagini, Mario: Opere e sentirei. Il Workcenter of Jerzy Grotowski and Thomas Richards. Roma: Bulzoni 2007. Attisani, Antonio: Smisurato cantabile. Note sul lavoro del teatro dopo Jerzy Grotowski. Bari: Pagina 2009. Barba, Eugenio: „Wiederkehrende Prinzipien“, in: Pfaff, Walter/Keil, Erika/ Schläpfer, Beat (Hg.): Der sprechende Körper. Texte zur Theateranthropologie. Museum für Gestaltung Zürich, Berlin: Alexander Verlag 1996/1997, 77-98. Baumbach, Gerda: „Meyerholds ‚Biomechanik‘. (Re-)Konstruktion der Schauspielkunst“, in: Baumbach, Gerda (Hg): Auf dem Weg nach Pomperlörel – Kritik „des“ Theaters. Aufsätze. (Leipziger Beiträge zur Theatergeschichtsforschung, Bd.2). Leipzig: Leipziger Universitätsverlag 2010, 297-354. Benthien, Claudia: Haut. Literaturgeschichte, Körperbilder, Grenzdiskurse. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1999. Brook, Peter: „Grotowski, art as vehicle“, in: Wolford, Lisa/Schechner, Richard (Hg.): The Grotowski sourcebook. London/New York: Routledge 1997, 381384. Bürger, Peter: Das Verschwinden des Subjekts. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1998. Descartes, René: Die Prinzipien der Philosophie: lateinisch-deutsch. Übers. und hg. von Christian Wohlers. Hamburg: Meiner 2005. Descartes, René: Meditationes de prima philosophia, übersetzt und hg. von Christian Wohlers. Hamburg: Meiner 2008. Falke, Christoph: „Editorial“, in: Flamboyant. Schriften zum Theater. Das Lernen zu lernen. ISTA. Internationale Schule für Theateranthropologie, 3 (1996), 6-7. Findlay, Robert: „Foreword“, in: Wolford, Lisa: Jerzy Grotowskis’s Objective Drama Research. Mississippi: Univ. Press of Mississippi 1996, xi-xv. Fischer-Lichte, Erika: Ästhetik des Performativen. Frankfurt am Main: Suhrkamp 2004. Gronau, Barbara: „Energie des Theaters“, in: fundiert – Wissenschaftsmagazin der FU Berlin, Ausgabe 2007. www.fu-berlin.de/presse/publikationen/fundiert/ 2007_01/07_01_gronau/index.html [23.09.2010]. Grotowski, Jerzy: „Von der Theatertruppe zur Kunst als Fahrzeug“, in: Richards, Thomas: Theaterarbeit mit Grotowski an physischen Handlungen. Berlin: Alexander Verlag 1995, 179-216. Grotowski, Jerzy: „Der Performer“, in: Pfaff, Walter/Keil, Erika/Schläpfer, Beat (Hg.): Der sprechende Körper. Texte zur Theateranthropologie. Museum für Gestaltung Zürich, Berlin: Alexander Verlag 1996/1997, 43-47. Lacan, Jacques: „Das Spiegelstadium als Bildner der Ichfunktion, wie sie uns in der psychoanalytischen Erfahrung erscheint“, in: Lacan, Jacques: Schriften I. Weinheim/Berlin: Quadriga 1991, 61-70 Lehmann, Hans-Thies: Postdramatisches Theater. Frankfurt am Main: Verlag der Autoren 1999.
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Dieses obskure Subjekt der Begierde Bruchstück zu einer vorläufigen Verteidigung der Zentralperspektive und des cartesianischen Subjekts S EBASTIAN K IRSCH
1 Das Feld der Subjektphilosophie ist ein Minenfeld, vielleicht einer jener „schwebenden Friedhöfe“ 1, die Heiner Müller einmal beschworen hat. Wie kann man heute vom Subjekt sprechen? Welche Bedingungen sind in Betracht zu ziehen, wenn man seine Frage wieder, noch einmal oder noch immer aufnehmen, fortführen, neu stellen will? Und was könnte das für ein Theater und seine Theorie bedeuten, die sich ja seit geraumer Zeit daran gewöhnt haben, alle Kategorien preiszugeben, die anscheinend fest mit der Idee, oder eher Ideologie des Subjekts verkoppelt sind – Figur, Rolle, Dialog, Drama, Handlung, Perspektive etc., jene Begriffe also, die gerne mit dem Präfix ‚post‘ versehen werden und zum Reservoir ästhetischer Negativkataloge dienen? Um eine mögliche Richtung zu skizzieren, in die diese Fragen führen können, möchte ich eines der irritierendsten Momente der Lacanschen Psychoanalyse beleuchten: ihre ambivalente Referenz auf die Philosophie René Descartes’. Tatsächlich durchzieht besagte Ambivalenz Lacans Werk. Einerseits ist – nicht weiter überraschend – das cartesianische Cogito für Lacan die wohl expliziteste Formulierung einer verhängnisvollen Bewusstseinsideologie, die als narzisstische Verkennung die Selbstermächtigung des neuzeitlichen Menschen und die ihr entspringenden gigantischen historischen Katastrophen einleitete. Bei allen Verschiebungen und Ent- oder besser Auswicklungen im Denken Lacans darf man daher seinen Versuch als eine Konstante ansehen, jedwede philosophische bzw. analytische Praxis zu sabotieren, die sich von der Idee des Cogito als einer selbstidentischen,
1
Müller 2008: 11.
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transparenten Größe herleitet. Andererseits aber hat Lacan wiederholt mit einer Berufung auf Descartes verstört, die schon zu seiner Zeit und erst recht im Kontext heutiger Theoriebildung wie ein anstößiger Fremdkörper anmuten muss(te), die ihn aber sogar so weit führte, das cartesianische Subjekt zum eigentlichen Gegenstand seiner „Rückkehr zu Freud“ zu erklären: zum „Subjekt des Unbewussten“. Erstens nennt Lacan das Pförtchen in einem Atemzug mit der Darstellung der perspektivischen Gesetze durch Alberti (1436) und mit der cartesianischen Meditation (1641). Damit zieht er kommentarlos Phänomene zusammen, die einen Zeitraum von gut 200 Jahren umfassen und in jenen grundlegenden epistemologischen Wandel eingebettet sind, den Foucault in der Ordnung der Dinge so prominent beschrieben hat und den Lacan selbst an anderer Stelle (Seminar III) als „Entleerung des Signifikanten“ fasst.2 Die Sitzungen über den Blick vernachlässigen darum, dass sich um 1600 eine folgenschwere Entkörperlichung des Sehens ins Werk setzt, eine Ablösung des Sichtbaren und des Sehvorgangs selbst vom Leib und von den Dingen, in deren Verlauf die Bilder zu zirkulieren beginnen wie Waren. Ich werde diese Schwierigkeit hier nicht weiter beachten und verweise stattdessen auf Hubert Damisch sowie die Forschungen von Ulrike Haß zur frühneuzeitlichen Entwicklung europäischer Bühnenformen.3 Zweitens ist zu betonen, dass die Konzentration auf das Pförtchen weitgehend auf die eine Seite einer in sich verschlungenen Topologie beschränkt bleibt, deren zweite Seite oder „l’envers“ Lacan ungefähr ab Seminar XI immer stärker ausarbeitet, was ihn später zu Figuren wie des „analytischen Diskurses“ (Seminar XVII), der „jouissance féminine“ und der Frage eines Symbolischen jenseits der Figur des Vaters (vor allem ab Seminar XX) führt. In die Begriffe des Theaters übertragen, könnte man sagen, dass diese zweite Seite stark mit der Figur des Chores verbunden ist, während die erste Seite das Moment des Einzelwesens in den Vordergrund stellt. Die Schwierigkeit besteht freilich in einer doppelten oder potenzierten Möbiusstruktur dieser Topologie. Die beiden Seiten gehen permanent ineinander über, obwohl sie absolut heterogen sind und sich auch nicht komplementär verhalten. Doch zugleich ist jede der beiden Seiten des Möbiusbandes in sich wiederum möbiusartig gespalten. Auch dieses Problem kann ich hier nicht weiter verfolgen. Stattdessen begnüge ich mich mit der Beschreibung einer der beiden Seiten, sozusagen mit jenem Möbiusband, das die Vorderseite des gesamten Möbiusbandes darstellt.
2
Siehe Foucault 1971; Lacan 1987: 219.
3
Vgl. Damisch 2010 und Haß 2005.
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2 Es geht also um das Pförtchen, in dessen Aufbau Lacan nachgerade modellhaft jene Seite des in sich gespaltenen optischen Feldes wiederfindet, die er die geometrale nennt, und die er seinerseits in einem von zwei Dreiecksdiagrammen abbildet. Dieser geometrale Modus ist – deswegen auch der Hinweis auf die cartesianische Meditation – konstitutiv für jene Ebene, auf der das neuzeitliche Subjekt sich als „Bewusstsein“ wahrzunehmen vermag und dabei zugleich notwendig verkennt. 4 Das Subjekt bzw. das, was an ihm Bewusstsein ist, stellt für Lacan „selbst eine Art Geometralpunkt, Perspektivpunkt dar“5 – seine Genese ist also von vornherein liiert mit der Entwicklung der Perspektivgesetze.
Abbildung 1: Albrecht Dürer: Der Zeichner mit Fadengitter und quadriertem Papier. Holzschnitt, Nürnberg 1538.
Rechts platziert sich das Subjekt, das den Raum bzw. ein Objekt in diesem Raum bildlich erfassen möchte. Die korrekte perspektivische Einrichtung des Bildes lässt sich mittels des Pförtchens bewerkstelligen, einem fensterartigen Rahmen, in das ein hauchdünnes Tuch mit einem eingetragenen Gitterwerk gespannt ist – bei Alberti heißt es „Velum“6. In der Mitte aufgestellt, trennt das Pförtchen Subjekt und Objekt gleichermaßen voneinander, wie es zwischen ihnen eine Relation herstellt, die einerseits eine körperliche, tastende Komponente hat, andererseits jedoch auch rein mathematisch bzw. geometrisch ausgedrückt werden kann: Der Zeichner zieht von jedem ihm sichtbaren Punkt des Modells aus eine imaginäre Linie, die innerhalb einer Sehpyramide auf den Geometralpunkt zuläuft, der seinem Standort bzw. dem Ort seines Auges entspricht. Wo die Linien dieser horizontalen Beziehung von
4
Siehe Lacan 1987: 89.
5
Lacan 1987: 92.
6
Alberti 2002: 114.
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der vertikalen Fläche des Velum geschnitten werden, entsteht das perspektivische Abbild, das sich auf das Papier übertragen lässt. Die Ideologieanfälligkeit dieser Apparatur ist häufig und schon früh, schon mit Leonardo da Vincis Kritik an der ‚Einäugigkeit‘ der Perspektive, formuliert worden und soll hier nur summarisch genannt werden: Einmal wird, was immer hinter das Pförtchen tritt, nolens volens zum Bestandteil eines gerahmten Bildes, des ‚image‘. Weiterhin hat die Tatsache, dass es in der Beziehung zwischen den beiden Seiten des Pförtchens auf nichts anderes ankommt als auf eine Punkt-für-PunktEntsprechung, die auch mathematisch darstellbar ist, neben der grundsätzlichen Körperlosigkeit des Subjekts eine fundamentale Blindheit in seinem Zentrum zur Folge. Diese ist, zum Beispiel, die Bedingung für Diderots auch von Lacan erwähnten Brief über die Blinden, in dem nachgewiesen wird, dass ein Blinder zu sehen, d.h. das image zu realisieren vermag, wenn er seine Umwelt nur mittels entsprechender Technik – es genügt ein Blindenstock – punktgenau erfasst7. Auch Dürers Zeichner könnte theoretisch von jedem ihm zugewandten Punkt des Modells aus einen Faden zum Geometralpunkt spannen und auf diese Weise das image rechnerisch evozieren. Voraussetzung des gesamten Procedere ist schließlich, dass der zu vermessende Raum bzw. die Objekte sich nicht oder nur in sehr eingeschränkter, kalkulierbarer Weise verändern und bewegen, denn die chaotische Bewegung entzieht sich notwendig der fixierenden Apparatur der Bildmaschine. Doch nicht nur das Objekt, auch das sehende Subjekt muss eingefroren werden, im Pförtchen sichtbar an dem vertikalen Stab, an dessen Spitze der Zeichner sein/ein Auge unverrückbar bringen muss. Damit wohnt der Perspektive von vornherein eine mortifizierende Funktion inne, die jede unwillkürliche Bewegung und überhaupt jede zeitliche Komponente aus ihren Berechnungsrastern verbannt. Vor diesem Hintergrund kann die Vehemenz nicht verwundern, mit der Lacan darauf insistiert, dass die geometrale Komponente des Optischen allein nichts mit dem „Eigentliche[n] des Sehens“8 zu tun hat. Ihr geht es „ausschließlich um die Auszeichnung eines Raumes und nicht um das Schauen“9. Damit siedelt sie sich „in einem Raum an […], der wesentlich nicht der visuelle Raum ist“10. Sie ignoriert all jene Komponenten des Sehens, die mit den Phänomenen des Lichts zu tun haben und die von Lacan in einem zweiten Dreiecksdiagramm gefasst werden, das dem ersten in allen wesentlichen Punkten spiegelbildlich entgegengesetzt ist. Daraus folgen mehrere Aspekte. Zunächst einmal erweist sich die neuzeitliche Subjektidee in der Tat als radikal verkürzt, insofern sie den Modus des Geometralen 7
Siehe Lacan 1987: 93.
8
Lacan 1987: 98.
9
Lacan 1987: 93.
10 Lacan 1987: 100.
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zum Synonym für das Sehen erklären will. Zweitens hat die Möglichkeit dieser Verkürzung die Perspektive von Anfang an begleitet. Zugleich liegt hier aber auch der Grund dafür, dass die Geschichte der optischen Medien sich nicht alleine mit der Geschichte des Geometralen schreiben lässt, wie man lange geglaubt hat. Vielmehr ist sie von vornherein quasi arbeitsteilig verbunden mit der ungleich schwerer zu entziffernden Geschichte des Visuellen, des zweiten Dreiecks also. Darum jedoch – und das ist hier entscheidend – gilt es zu beachten, dass die geometrale Komponente des Sehens niemals rein von ihrer visuellen Rückseite geschieden werden kann. Genau darin liegt die eingangs erwähnte Möbiusstruktur, das Ineinander zweier gegenstrebig verbundener, aber absolut heterogener Figuren. Das bedeutet aber auch: Selbst wenn Lacan Dürers Pförtchen heranzieht, um das geometrale Schema zu erläutern, darf es doch nicht, wie es bisweilen geschieht, als dessen reine Verwirklichung missverstanden werden. Vielmehr ist zu betonen, dass sich die visuelle Komponente des Sehens auch und gerade hier, trotz der eindeutigen Dominanz des Geometralen niederschlägt – es lässt sich bereits erahnen, wenn man auf die lichtdurchfluteten Fenster in Dürers Bild achtet. (Umgekehrt wäre hingegen zu beschreiben, inwiefern auch die visuelle Komponente des Sehens immer schon vom Geometralen ‚verunreinigt‘ wird – genau das wäre die Seite der „jouissance féminine“, des Chores etc., die ich heute vernachlässige.) Wie äußert sich nun das unauflösliche Ineinander von Geometralem und Visuellem in Bezug auf das Subjekt am Geometralpunkt? Exakt in jener Struktur, die Lacan als „Spaltung von Auge und Blick“ diskutiert, wobei davon auszugehen ist, dass Lacan das Auge synonym für das gegenständliche, intentionale Bewusstsein verwendet und den Blick hingegen für eine Dimension, mit der sich das Begehren des Subjekts ins Feld des Sichtbaren einschreibt, und mit ihm zugleich die symbolische Funktion, die Tatsache, dass das Subjekt immer schon in einen sozialen Zusammenhang eingetragen und ‚erblickt‘ ist, bevor es sieht.
3 Vor diesem Hintergrund kann das cartesianische Subjekt in der Tat als „Subjekt des Unbewussten“ entziffert werden – und zwar anhand der „Spaltung von Auge und Blick“ im Bild des Pförtchens. Die vertikale Messlatte, die vor der Nase des Zeichners aufgestellt ist und deren Spitze den Geometralpunkt anzeigt, ist dabei das wichtigste Detail, das sich als Hinweis auf eine Spaltung interpretieren lässt: An diesem Punkt, von dem aus das image realisiert, sprich: berechnet werden kann, muss der Zeichner sein Auge quasi befestigen, damit es das Modell jenseits des Pförtchens abtasten kann. Sein Körper hingegen muss stillhalten, um die Bildberechnung nicht zu irritieren. Diese Unbeweglichkeit teilt der Körper des Zeichners mit dem des Modells.
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Bewegt sich nun aber eine der beiden Personen – was letztlich genauso unumgänglich ist wie die Tatsache, dass Modell und Zeichner in jedem Moment einer Bewegung in der Zeit unterliegen, d.h. altern – dann entstehen Verzerrungen auf dem image, die von einer kleinen Unschärfe über anamorphotische Flecken bis zu dessen totaler Auflösung reichen können. Insofern hier von einem Fleck die Rede ist, bekommt man es genau mit jener Dimension im Sehen zu tun, die Lacan als Blick diskutiert (wobei die Synthese der vielen Flecken in dem einen Fleck/Blick exakt auf jene Beschränktheit verweist, die dem Fokus auf das Einzelwesen gegenüber dem Chorischen entspringt – eben darum wird es für Lacan nötig werden, eine zweite theoretische Linie ‚jenseits des Vaters‘ auszuarbeiten). Am Beispiel des verzerrten Totenschädels auf Holbeins ansonsten perspektivisch frontal konstruiertem Gemälde Die Gesandten definiert er die Anamorphose als jene Stelle im Bild, an der „der Blick als solcher sich abzeichnet“11. Zugleich ist in diesem Fleck bzw. Blick, der aufgrund einer unkontrollierten Bewegung auf dem image erscheint, das Subjekt als Begehrendes angesprochen – nicht von ungefähr vergleicht Lacan die perspektivische Streckung und Verzerrung der Anamorphose, die den Betrachter vom Geometralpunkt buchstäblich weghebt, mit einem „Erektionseffekt“ 12. Dieser Vergleich lässt sich unschwer auf Dürers Bild beziehen, schließlich handelt es sich bei dem Modell, das hier vermessen und abgezeichnet werden soll, um eine nackte Frau, deren Schenkel sich zum Zeichner hin öffnen. Wenn das image nicht zerstört werden soll, darf der Zeichner buchstäblich einer eventuellen Erektion nicht nachgeben. Um geläufige Missverständnisse zu vermeiden: Natürlich darf hier auch die Frau keiner ‚spontanen Regung‘ erliegen und sich in Richtung des Zeichners bewegen. Wenn es sich bei der Anamorphose um einen erigiblen oder erigierten Phallus handelt, dann ist dieser also gerade dadurch gekennzeichnet, dass er sich weder Mann noch Frau klar zuordnen lässt. Jedenfalls kann man erst einmal festhalten: Das perspektivische Bild beruht nicht nur auf einem blinden Sehen, sondern in gewisser Hinsicht auch auf einem immer schon ‚kastrierten‘ und auch in diesem Sinn verkürzten Subjekt. Im Sinn der Spaltung des rechnenden Auges und des Körpers, an dem es befestigt ist, muss des Weiteren der Geometralpunkt, der ideale Punkt über der Messlatte, als in sich gespalten begriffen werden, als ein „Falte-Punkt“13. Denn einerseits
11 Lacan 1987: 95. 12 Lacan 1987: 94. 13 Deleuze 1990: 29. Tatsächlich ist darüber nachzudenken, inwiefern Deleuzes Begriff der „Falte“, dem als „operatives Kriterium“ des Barock sogar unendliche Zeugungskraft zugesprochen wird, eine Nähe zum Lacanschen Phallus als Objekt a aufweist. Hier ergeben sich, angesichts der Deleuzeschen Opposition zur Psychoanalyse, verblüffende Möglich-
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bezeichnet er die Stelle, von der aus das Auge das Objekt hinter dem Pförtchen gleichsam abtastet, und andererseits ist er der Punkt, an dem sich die körperlichen Bedingungen des Sehens befinden. In seiner ersten Funktion kann man ihn daher als ‚Augpunkt‘ bezeichnen, in seiner zweiten als einen Ort, an dem die leibhaften Voraussetzungen des Sehens angesiedelt sind. Obwohl an derselben Stelle eingetragen, unterscheiden sich diese beiden Punkte bzw. stehen in antagonistischem Verhältnis zueinander: Damit das Auge vom Augpunkt aus das image realisieren kann, wird der Körper vergessen gemacht. Und umgekehrt wird das Auge in dem Moment irritiert, da seine leibhaften Voraussetzungen sich bemerkbar machen. Denn mit diesen wird zugleich die offensichtliche Gewähltheit des Geometralpunktes sichtbar, die Tatsache, dass auch er nur ein Punkt unter möglichen anderen Punkten ist, seine notwendige Beschränktheit also. Die körperlichen Voraussetzungen des Sehens bezeichnen damit zugleich seinen blinden Fleck, der vom Bewusstsein verdrängt werden muss, wenn die Konstruktion des image und mit ihm die souveräne Verortung des Subjekts im Raum ungebrochen bleiben sollen. Macht sich dieser blinde Fleck bemerkbar, dann, wie beschrieben, als notwendiger Blick bzw. Anamorphose auf dem image. Man könnte den Blick im geometralen Raum darum als jenen körperlichen Rest bezeichnen, der das Sehen in ein und derselben Bewegung ermöglicht und einschränkt. Er geht in der Auszeichnung des Raumes nicht auf und macht sie andererseits überhaupt erst möglich. Er ist ein überzähliges Nullelement, das paradoxerweise die Ordnung und Vollständigkeit der Elemente überhaupt erst garantiert.
4 Wie gesagt, vergleicht Lacan den anamorphotischen Fleck, der auf dem Velum erscheint, wenn Zeichner oder Modell sich bewegen, mit einem erigierten Phallus. Nun gibt es im Pförtchen aber auch noch eine zweite Stelle mit signifikant phallischen Zügen: Die Sehpyramide mit ihrem Zentralstrahl, der das Velum durchstößt, dessen Beschreibung bei Alberti wiederum an ein Jungfernhäutchen denken lässt: ein „hauchdünnes Tuch aus losem Gewebe“, das so zwischen Auge und den gesehenem Gegenstand platziert ist, dass „die Sehpyramide das lose Gewebe des Tuches durchdringt.“14 Diesmal scheint die geschlechtliche Zuordnung eindeutiger als im Fall des anamorphotischen Phallus-Flecks. Der männliche Zeichner ist stolzer Träger von Sehpyramide und Zentralstrahl, während dem weiblichen Modell nur das keiten zu einer „Begegnung von Deleuze und Lacan“ (Žižek 2005, wobei Žižeks Auseinandersetzung mit Deleuze an einem sehr reduktionistischen Deleuze-Bild krankt). 14 Alberti 2002: 114. Vgl. hierzu und zu den folgenden Überlegungen grundsätzlich auch: Mathes 2006: 54-55.
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durchstoßene Velum bleibt. Jedenfalls legt Dürers Stich diese Zuordnung nahe – deswegen hat man ihn geradezu inflationär als Dokument der patriarchalen Geschlechterordnung gedeutet. Aber auch hier sollte man einen Moment lang innehalten. Denn bei genauem Hinsehen ist auch der Phallus der Sehpyramide nur ein äußeres Attribut. Eine Umkehrung der Verhältnisse wäre problemlos denkbar, und wenn Dürer auf der Seite des Zeichners eine Frau und auf der des Modells einen Mann zugeordnet hätte, wäre das zu seiner Zeit skandalös gewesen, hätte aber die Funktionsweise des perspektivischen Apparats nicht verändert oder gestört. Deswegen muss man darauf beharren, dass letztlich gleich bleibt, wer oder was immer sich am Geometralpunkt situiert. Unabhängig von Fragen eines etwaigen Geschlechts bekommt ein dort platziertes Wesen den Phallus der Sehpyramide ‚verliehen‘, ein Vorgang, der gerade kein natürliches, gar biologisches Verhältnis impliziert, sondern eine räumliche Anordnung, eine Konstellation.15 Letztlich heißt das: Im Hinblick auf die perspektivische Apparatur kann man zwei, wenn nicht sogar drei phallische Größen unterscheiden, den Phallus als Blick oder anamorphotischen Fleck auf dem Velum; den Phallus der Sehpyramide; und schließlich den Phallus als Organ, das dem Zeichner angewachsen sein mag, in unserem Kontext aber erst einmal keine Rolle spielt. Diese drei Größen stimmen mit der Lacanschen Triade von imaginär, symbolisch und real überein: Der imaginäre Phallus manifestiert sich in der Anamorphose, die als unerreichbares Trugbild zwischen Modell und Zeichner zirkuliert; der symbolische Phallus ist der perspektivische Schlüssel, mit dem das Subjekt am Geometralpunkt Definitionsmacht und in gewisser Weise Zugang zum Objekt hinter dem Pförtchen erhält; und der reale Phallus ist der biologische Penis, der für das Verhältnis der beiden Positionen weitgehend irrelevant ist. Wie sich nun gerade am Pförtchen plastisch erkennen lässt, sind imaginärer und symbolischer Phallus, Anamorphose und Sehpyramide, auf widersprüchliche Weise verbunden. In ihrer Verzahnung kann man eine andere Spielart der Spaltung von Blick und Auge erkennen: Damit der symbolische Phallus sich aufrichten kann, muss der imaginäre Phallus getilgt werden, während umgekehrt die Erektion des imaginären Phallus den symbolischen angreift und im Extremfall vernichtet. Dabei darf man sich allerdings nicht von der Symmetrie täuschen lassen. Es geht nicht um ein gewöhnliches ‚Entweder-oder‘, um eine Entscheidung für den symbolischen und gegen den imaginären Phallus oder umgekehrt. Vielmehr bekommt man es hier 15 Christina von Braun zufolge besteht das europäische Verhängnis nicht zuletzt darin, dass man das phallische Moment der Signifikation aufgrund ihrer äußerlichen Ähnlichkeit mit Erektions- und Zeugungsprozessen von der biologischen Funktion des Penis abgeleitet, sie naturalisiert und zugleich dem männlichen Körper immer wieder eine natürliche Nähe zu lógos, Geist und Sinn unterstellt hat. In diesem Sinne wären auch die bisweilen missverständlichen Formulierungen Lacans zu komplettieren (siehe Braun 2001: 117).
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mit dem zu tun, was Lacan in Seminar XI als „erzwungene Wahl“ beschreibt, die jeder Subjektivierung zu Grunde liegt (und in deren Nicht-Anerkennung erst die eigentliche Hybris des Individuums zu erkennen wäre). Lacans Beispiel für die „erzwungene Wahl“ ist die räuberische Aufforderung „Geld oder Leben“16, bei der man in Wahrheit nur das Leben wählen kann. Denn entscheidet man sich für das Geld, so verliert man beides, Geld und Leben. Die Wahl des Lebens allerdings erfolgt immer um den Preis seiner Verkürzung um das Geld. Auf die Perspektive übertragen: Genausowenig wie für das Geld kann man sich für den imaginären Phallus entscheiden, denn dieser ist nichts als ein anamorphotisches Trugbild, dessen Existenz letztlich vom symbolischen Phallus abhängt (und sogar nur als nachträglich-vorgängige gedacht werden kann). Der Versuch, sich ihn zu eigen zu machen, ist gleichbedeutend mit der Anstrengung, als Ganzes auf die andere Seite des Fensters zu gelangen, und nicht nur als jener abgespaltene Teil, der als „tastbares Auge“17 den, wie auch immer unvollkommenen, Weg zum Gegenüber findet. Man hat es in diesem Fall mit einer anderen Anstrengung zu tun, die Spaltung im Optischen – und damit die des Subjekts überhaupt – zu überwinden: nicht mehr mit dem Versuch, das Geometrale zu isolieren (und dabei den Blick zu elidieren), sondern das Visuelle. Was dann passiert, kann man als tödliche, inzestuöse und zugleich unmögliche Vereinigung beschreiben, die den symbolischen als auch den imaginären Phallus verschwinden ließe. Man kann also gar nicht umhin, den symbolischen Phallus zu wählen – allerdings um den Preis einer unheilbaren Beschränktheit und Verkürzung, deren Emblem eben der unerreichbare anamorphotische Fleck vor der Nase des Subjekts ist. Anders gesagt: Sich für den imaginären Phallus zu entscheiden, wäre letztlich gleichbedeutend mit dem unmöglichen Versuch, einen Zugang zum Gegenüber zu finden, der nicht immer schon durch jenes mediale Nadelöhr vermittelt und zugleich entfremdet ist, für das der symbolische Phallus stehen kann. Vor diesem Hintergrund ist an Lacans Theorie der „symbolischen Kastration“ insbesondere in den Seminaren IV bis VI zu erinnern. Diese benennt die unhintergehbare Entfremdung des Subjekts in seinem Verhältnis zur Umwelt, die ontogenetisch jenen Moment markiert, in dem das Kleinkind seine Bedürfnisse zu artikulieren, das heißt: in sprachliche Laute zu übersetzen beginnt, die gegenüber dem Bezeichneten notwendig unvollständig bleiben. Der Rest aber, der nicht in der Übersetzung aufgehen kann, kehrt in Gestalt eines „Objekt a“ wieder – hier als Anamorphose oder Blick –, das das Geheimnis oder auch das vollständige Sein des Subjekts in sich zu bergen verspricht und künftig sein Begehren bestimmen wird. Wovon also ist die Rede, wenn Lacan vom cartesianischen Subjekt spricht? Letzten Endes von der Spaltung selbst, die zwischen imaginärem und symboli16 Lacan 1987: 221-224. Vgl. hierzu auch: Dolar 2000. 17 ZupanþLþ 2005: 432.
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schem Phallus, zwischen Blick und Auge klafft. Das Subjekt ist nichts als ein Name für diese Spaltung, deren Symbol – die „barre“ - vielleicht sogar eine andere Erscheinungsform des Pförtchens darstellt. Descartes’ berühmte Formel „Ich denke, also bin ich“ übersetzt und erweitert sich für Lacan aufgrund dieser Spaltung in die Aussage „Ich denke, wo ich nicht bin, also bin ich, wo ich nicht denke“18 – eine Subvertierung, die ihre schönste Bestätigung in jenem eigentümlichen Fetisch findet, den Descartes gehabt haben soll: ein Fetisch für schielende Frauen. Je linearer oder geometraler das Denken sich gibt – so könnte man sich die ‚Wahrheit‘ dieser seltsamen Vorliebe übersetzen – desto besessener scheint es von Krümmungen und Anamorphosen.19 Zugleich berührt diese unvermeidliche Verdoppelung das Unaussprechliche, einen absolut unzugänglichen traumatischen Kern. Sie macht das Subjekt in gewisser Weise immer schon zu seinem eigenen Wi(e)dergänger, ist aber gleichwohl Bedingung sine qua non jeder Subjektivierung. Ähnlich wie das berühmte „Bucklicht Männlein“20, das für Benjamin so wichtig war, verschiebt sie jede Bahn, ruiniert jeden Plan und hängt zugleich doch vollständig von Bahn und Plan ab. Diese Stelle einer unhintergehbaren, unvermeidlichen Verdoppelung, die dem cartesianischen Subjekt eingeschrieben ist, scheint mir aber auch eine entscheidende Einsatzstelle des Theater. 21 Von ihr aus wären darum auch alle Fragen nach Figur, Dialog und verwandten Begriffen neu zu finden – ohne freilich die Spannung oder das Möbiusverhältnis aufzulösen, dass sie zum Modus des Chorischen unterhalten.
L ITERATUR Alberti, Leon Battista: Della Pittura – Über die Malkunst. Hg. von Bätschmann, Oskar/Gianfreda, Sandra. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 2002. Benjamin, Walter: Gesammelte Schriften. Band IV.1. Hg. von Tillman Rexroth. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1972. Braun, Christina von: Versuch über den Schwindel. Religion, Schrift, Bild und Geschlecht. Zürich/München: Pendo 2001. Damisch, Hubert: Der Ursprung der Perspektive. Zürich/Berlin: diaphanes 2010. 18 Lacan 1973: 43. 19 Letztlich ist unter diesem Aspekt auch Brechts Denken des Modells und sein Versuch der Lehrstücke zu begreifen (Müller-Schöll 2002: 307-324). Nicht von ungefähr verhandeln diese, worauf auch Slavoj Žižek häufig hinweist, wiederholt die Figur der „erzwungenen Wahl“. 20 Benjamin 1972: 302-304. 21 Unter dem Titel Das Reale der Perspektive. Der Barock, die Lacan’sche Psychoanalyse und das ‚Untote‘ in der Kultur gehe ich dieser Frage in meiner Dissertation nach.
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Deleuze, Gilles: Die Falte. Leibniz und der Barock. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1990. Dolar, Mladen: „Das Cogito als das Subjekt des Unbewussten“, in: Trinks, Jürgen (Hg.): Bewusstsein und Unbewusstes. Wien: Turia + Kant 2000, 42-74. Foucault, Michel: Die Ordnung der Dinge. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1971. Haß, Ulrike: Das Drama des Sehens. Auge, Blick und Bühnenform. München: Fink 2003. Lacan, Jacques: Schriften II. Weinheim/Berlin: Quadriga 1973. Lacan, Jacques: Die Psychosen. Das Seminar Buch III. Weinheim/Berlin: Quadriga 1987. Lacan, Jacques: Die vier Grundbegriffe der Psychoanalyse. Das Seminar Buch XI. Weinheim/Berlin: Quadriga 1987. Mathes, Bettina: Under Cover. Das Geschlecht in den Medien. Bielefeld: transcript 2006. Müller, Heiner: „Die Reflexion ist am Ende. Die Zukunft gehört der Kunst“, in: Müller, Heiner: Werke 12. Gespräche 3. Frankfurt am Main: Suhrkamp 2008, 7-18. Müller-Schöll, Nikolaus: Das Theater des ‚konstruktiven Defaitismus‘. Lektüren zu einem Theater der A-Identität bei Walter Benjamin, Bertolt Brecht und Heiner Müller. Frankfurt am Main: Stroemfeld 2002. Žižek, Slavoj: Körperlose Organe. Bausteine für eine Begegnung zwischen Deleuze und Lacan. Frankfurt am Main: Suhrkamp 2005. ZupanþLþ, Alenka: „Blindekuh der Philosophen“, in: Blümle, Claudia/von der Heiden, Anna (Hg.): Blickzähmung und Augentäuschung. Zu Jacques Lacans Bildtheorie. Zürich/Berlin: diaphanes 2005, 425-448.
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Bevor wir beginnen, möchte ich noch etwas schreiben. Ich für meinen Teil hoffe, Sie sehen in diesem Beispiel besonders die Abständigkeit, die sich auftut, zwischen den Vorschlägen und Aussagen eines Textes über einen gewissen Gegenstand und diesem Gegenstand selbst.
Nachdem es den beiden konkurrierenden Clowns in Forced Entertainments Bloody Mess schließlich trotz ihres dramatischen Konflikts gelungen ist, eine Reihe gebraucht aussehender Holzstühle zum Publikum hingewendet aufzustellen, können sich alle, die während des Abends auf der Bühne zu sehen sein werden, setzen. 1 Sie kommen von seitlich hinten zu den Clowns dazu, schauen sich um, sind heterogen gekleidet und sehen ebenfalls irgendwie gebraucht aus. Einer ganz rechts hat ein Mikrofon dabei. Er spricht die ersten Worte des Abends in einer durchdringend tiefen Stimme hinein: „Well, good evening. Before we start, I think some people had a few things that they wanted to say. I know that for myself, I’m hoping that tonight you’ll see me very much as the romantic hero of the piece; strong, sensitive, caring, manly and well, very virile.“2 Bevor er das Mikrofon an den nächsten weitergibt, prüft er noch, ob das Kabel auch fest sitzt. Im Folgenden wandert das Mikrofon in der Reihe der Sitzenden herum. Sie nutzen es, um sich namentlich vorzustellen und ein Bild davon zu entwerfen, welche Rolle – oder wie hier vorgeschlagen werden soll: Funktion – sie
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Forced Entertainment: Bloody Mess (UA 2004), Koproduktion von Festival THEATERFORMEN (Hannover), KunstenFESTIVALdesArts (Brussels), Rotterdamse Schouwburg (Rotterdam), Les Spectacles vivants – Centre Pompidou (Paris) and Wiener Festwochen (Vienna), mit Unterstützung von LIFT (the London International Festival of Theatre) und Nuffield Theatre Lancaster. Videodokumentation aufgezeichnet in den Riverside Studios, London und im Project Arts Centre, Dublin, November 2004.
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Forced Entertainment 2004: Bloody Mess.
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sich im Laufe des Abends inne zu haben wünschen.3 All das geschieht, laut Richard, „before we start“: zu einem Zeitpunkt, an dem die Zuschauenden sich demgegenüber schon längst nach dem Start wähnen. Die Szene ist verlockend für einen lacan-basierten Vorschlag der performativen Subjektkonstitution aus einer Bewegung der Unterstellung heraus, wie sie Jacques Lacan für den Übertragungsprozess der Psychoanalyse formuliert. Dabei interessiert besonders die Frage, inwiefern diese Bewegung der Unterstellung ein sujet (dem Wissen unterstellt wird) funktionalisiert und dabei katalytisch für die Konstellation wirkt. Untersucht Theater bisweilen genau so ein strukturelles Phänomen, wendet es gar an? Übertragung ist nach Lacan nicht auf die Konstellation der Psychoanalyse beschränkt. Er diagnostiziert über das Psychoanalytische hinaus ein Modell der Übertragung, „que nous appellerons naturel“4, das wie eine Art prinzipieller, wahrnehmungsbeeinflussender Mechanismus anmutet. Im sujet supposé savoir findet Lacan eine Struktur, die ein sujet in einer Funktionshaftigkeit generiert, wobei dieser Vorgang durch ein Gegenüber kreiert wird, d.h. in einer intersubjektiven Konstellation. Bei theaterwissenschaftlich Interessierten könnte nun der Verdacht aufkommen, es gäbe eine Verwandtschaft zwischen Übertragungsstruktur und Theaterkonstellation. Forced Entertainments Stimmen sprechen bisweilen wie wissende ‚interventions‘ in einen solchen Diskurs, benennen unterstellte Funktionen, unterstellen Unterstellungen und treiben damit die Konstellation an. Wo treffen sich aber die Stimmen Lacans und Forced Entertainments? Um dem auf die Spur zu kommen, sei zunächst noch einmal die charakteristische Struktur der Übertragung bei Lacan, als Unterstellung eines Agalma hervorgehoben, und als Außerklinisches betrachtet. Die Unterstellung als Struktur der Subjektkonstellation funktionalisiert und katalysiert ein ‚Spiel‘, das die Aufmerksamkeit auf die Theaterkonstellation lenkt und die Frage nach einem Subjekt ermöglicht, dem Zuschauen unterstellt wird. Es erscheint notwendig, im Folgenden für die Lacan-Bezüge sowohl die französischen als auch die deutschen Formulierungen
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Forced Entertainment nutzen bekanntlich die Potentialität des Sich-Präsentierens unter den Namen, die sie auch als Personen außerhalb eines Theatersaals tragen. Richard vergisst allerdings zunächst zu sagen, dass er Richard ist, wie Robin nach ihm hinzufügt, woraufhin Richard das Mikrofon erneut ergreift für eine Ergänzung seiner Vorstellung.
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„Simplement, l’analyse, à les découvrir, permettra de leur donner un modèle expérimental, qui ne sera pas du tout forcément différent du modèle que nous appellerons naturel“ (Lacan 1973: 141). / „Die Analyse schafft allerdings dadurch, dass sie diese Effekte freilegt, die Möglichkeit, ein experimentelles Modell derselben zu entwerfen, das sich wiederum nicht unbedingt von dem Modell unterscheiden muss, das wir das natürliche nennen können“ (Lacan 1996: 130-131).
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anzuführen, da im Übersetzungsprozess erhebliche Verschiebungen in der Sprache sicht- und nachvollziehbar werden.
AGALMA In der ersten Hälfte seines Seminars zur Übertragung von 1960/61 spricht Jacques Lacan zentral zu Platons Gastmahl (Symposion)5. Er zeigt am antiken Text, wie Sokrates einen Übertragungsvorgang aufdeckt, der Lacans Definition dieses Phänomens entspricht. Dabei präsentiert Lacan Sokrates als Analytiker, und überführt (nicht zum ersten oder einzigen Mal) Figuren aus der literarischen in die psychoanalytische Praxis. Slavoj Žižek kommentiert dieses Verfahren in seiner LacanEinführung: Vor allem anderen war Lacan ein Kliniker, und klinische Belange durchziehen alles, was er schrieb und tat. Selbst wenn er Platon, Thomas von Aquin, Hegel oder Kierkegaard liest, versucht er immer ein präzises klinisches Problem zu erhellen. Diese Allgegenwart erlaubt uns aber auch, diesen Aspekt auszuschließen: gerade weil das Klinische überall ist, kann man den Prozess umgehen und sich statt dessen auf seine Effekte konzentrieren, auf die Art und Weise, wie es alles färbt, was nicht klinisch erscheint.
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Žižeks Ansatz wäre aber auch genau umgekehrt denkbar – das ‚Klinische‘, um bei diesem Begriff für das Psychoanalytische zu bleiben, wäre nicht auf ‚überall‘ auszuweiten, sondern es stellte eben ein „modèle experimental“ für Vorgänge des Außerklinischen dar.7 Lacan selbst leitet zur transdisziplinären Ausweitung des psychoanalytisch konnotierten Begriffes der Übertragung, wenn er formuliert: „Cela n’exclut nullement, là où il n’y a pas d’analyste à l’horizon, qu’il puisse y avoir, proprement, des effets de transfert exactement structurables comme le jeu du transfert dans l’analyse.“8 Bezeichnenderweise führt er für die Bewegung der Übertragung das Wort Spiel ein und eröffnet damit einmal mehr die Möglichkeit, sie – zum Beispiel – an Theaterpraxis heranzurücken. Zunächst jedoch rückt er ein außerklinisches Phänomen, einen antiken Text, in den Rahmen der Psychoanalyse. „Ce que tout le monde perçoit comme une inter5
Ca. 380 v. Chr.
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Žižek 2008: 14.
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Siehe Lacan 1973: 141.
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Lacan 2001: 141. „Keineswegs aber ist auszuschließen, dass es auch da, wo kein Analytiker am Horizont auftaucht, zu Übertragungsphänomenen kommen kann, die genau die gleiche Struktur haben wie das Spiel der Übertragung in der Analyse“ (Lacan 1996: 130131).
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prétation de Socrate, l’est en effet.“9 So bewertet Lacan eine Stelle im Symposion und das mindestens in zweierlei Hinsicht. Zum einen leitet er die zentrale Unäquivalenz einer Konstellation ab, die aus einer Bewegung der Unterstellung resultiert, und zum anderen führt er die Bedeutung eines Dritten in das Sprechen zwischen scheinbar nur zweien ein. Damit arbeitet Lacan an zwei einander nahe gelegenen Stellen des Gastmahls zwei Grundsätze über die Übertragung heraus, die das Sprechen konstituieren und sich ganz in der Gegenwart manifestieren – mit einem stärkeren Gewicht auf der Gegenwart im Hinblick auf Freuds Definition von Übertragung als Wiederholungszwang und „Neuauflagen, Nachbildungen vergangener psychischer Erlebnisse.“10 Lacan hebt hervor, wie Sokrates eine Unterstellung ausdeutet, die ihm entgegengebracht wird. Indem Lacan das Gastmahl nacherzählt, reformuliert er Sokrates’ Worte: „Mais attention — là où tu vois quelque chose, je ne suis rien.“11 Die Stelle findet sich im Gastmahl in der Lobrede von Alkibiades auf Sokrates und ist, wie eigentlich der gesamte Text, eine Rede in einer Rede in einer Rede. 12 Alkibiades erzählt hier einen Dialog zwischen ihm und Sokrates nach, und eben auch dessen, von Lacan schließlich erneut nacherzählter und hervorgehobener Aussage: „Schau also, mein Bester, genauer hin, damit dir nicht entgeht, dass ich womöglich gar nichts bin. Die Sehkraft des Verstandes beginnt ja erst dann scharf zu blicken, wenn die der Augen sich anschickt nachzulassen, aber davon bist du ja noch weit entfernt.“13 Es geht zunächst vordergründig um die Sehkraft, um das, was gesehen wird, bevor gesprochen wird, wenn Alkibiades Sokrates anblickt, um daraus den Mechanismus der Übertragung zu erklären. Die Stelle wird bei Lacan zentral für seine Reflektion über das ‚innere Agalma‘, das Alkibiades in Sokrates sieht, und worauf Lacans Herleitung der Übertragungsbewegung aufbaut. Aus dem Text übernimmt er ein Bild, das Alkibiades für Sokrates findet: die Figur des Silens. Im Gastmahl spricht Alkibiades aus: Den Sokrates will ich, ihr Männer, in Bildern zu loben versuchen. Dieser wird nun vielleicht glauben, das geschehe zum Spott, das Bild aber wird der Wahrheit, nicht dem Spott zuliebe 9
Lacan 2001: 215. „Was alle Welt als eine Deutung von Sokrates wahrnimmt, ist tatsächlich eine“ (Lacan 2008: 223).
10 Freud 2006: 180. 11 Lacan 2001: 189. „Aber aufgepasst – da, wo du etwas siehst, bin ich nichts“ (Lacan 2008: 197). 12 Süffisant für eine Untersuchung der Übertragung ist der hier mit aufgerufene Diskurs um mündliche Überlieferung und Überlagerung, da sich in der Psychoanalyse so einiges im Sprechen manifestiert. 13 Platon 2008: 71.
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da sein. Ich behaupte nämlich, dass er gewiss diesen Silenen gleicht, die in den Werkstätten der Bildhauer sitzen, welche die Künstler mit Pfeifen und Flöten darstellen und die, wenn man sie auseinanderklappt, in ihrem Inneren Götterbilder [Agalma, Anm. d.A.] zum Vorschein bringen.14
Jemanden als ein solches Silenenkästchen zu betiteln, behauptet, etwas Wertvolles in ihm zu erkennen, ohne dass sich an der als wertvoll erkannten Stelle ein Schatz (von außen?) sichtbar macht. Die Figur des Silens ist dabei für Lacan so produktiv, da sie ein Bild für das Innehaben eines bei geschlossener Hülle unsichtbaren, wertvollen Objektes darstellt: [C]e silène n’est pas simplement l’image que l’on désigne de ce nom, c’est aussi un emballage qui a l’aspect usuel d’un silène un contenant, une façon de présenter quelque chose. Cela devait être de menus instruments de l’industrie du temps, des petits silènes qui servaient de boîte à bijoux, ou d’emballage pour offrir des cadeaux. C’est justement de cela qu’il s’agit. Cette indication topologique est essentielle. Ce qui est important, c’est ce qui est à l’intérieur. Agalma peut bien vouloir dire parement ou parure, mais c’est ici, avant tout, bijou, objet précieux – quelque chose qui est à l’intérieur.15
Ob Lacan mit der Interpretation des Silens als Alltagsgegenstand Recht hat, ist bisweilen umstritten,16 jedoch kommt es darauf bei der Ausdeutung dieser BildSprache nicht an. Das Bild dieses Behältnisses formuliert unabhängig von seiner historischen Tatsächlichkeit die Kategorisierung eines Gegenübers als Schatzkästchen.
14 Platon 2008: 65-66. 15 Lacan 2001: 170. „[D]ieser Silen [ist] nicht einfach nur das Bild, das man mit diesem Namen bezeichnet, es ist auch eine Verpackung, die das gewöhnliche Aussehen eines Silens hat. Ein Behältnis, eine Art und Weise, etwas zu präsentieren. Dies wird wohl zu den belanglosen Instrumenten der Industrie jener Zeit gehört haben. Kleine Silenen, die als Schmuckkästchen oder als Verpackung dienten, um Geschenke darzubieten. Genau darum handelt es sich. Dieser topologische Hinweis ist wesentlich. Wichtig ist, was innerhalb ist. Agalma kann sehr wohl Besatz oder Schmuck bedeuten, aber es ist hier vor allem Schmuckstück, wertvolles Objekt – etwas, das innerhalb ist“ (Lacan 2008: 178). 16 Lacans Interpretation des Silens als Alltagsgegenstand ist nicht allerorts selbstverständlich: „Das Rätsel dieser aufklappbaren Silene, also Satyrfiguren, ist noch nicht gelöst, zumal kein Exemplar davon erhalten geblieben ist. Apelt nimmt an, dass sie als Gehäuse für die Aufbewahrung von Götterfiguren in den Ateliers der Künstler dienten, Rowe vermutet, dass es sich dabei einfach um Gussformen für die Herstellung von Statuen handelt.“ Aus den Anmerkungen zu Platon 2008, 95. Vgl. auch mit Bezug auf Apelt 1926 sowie Rowe 1998.
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Das vor Augen entstehende Bild zu hinterfragen, stellt dieser zitierte Sokrates als erstrebenswert und als erreichbar dar, wenn Alkibiades auch noch weit davon entfernt sei. Dieser erste Hinweis aufs Visuelle, aufs Blicken von außen auf etwas bzw. jemanden zeigt an, worum es Lacan dabei geht: um das Sehen von etwas, das gar nicht sichtbar ist, und von dem nicht gesagt ist, dass es überhaupt an dem Ort existiert, wo es gesehen wird. Andererseits ist dieses Gesehene, also Unterstellte für den Sehenden wirksam präsent und wird zur tragfähigen Basis für Verhalten, Handlung, Sprechen, Interaktion. Für Lacan findet sich hier eine Schlüsselstelle für Übertragung und Begehren, die mehr formuliert als nur eine Erwartungshaltung von einem an einen anderen und die auch über den Status einer Metaphorik hinausgeht: Dans la forme et dans l’articulation où cela nous est présenté, ce ne sont pas là propos métaphoriques, jolies images, pour dire qu’en gros, Alcibiade attend beaucoup de Socrate. Il se révèle là une structure dans laquelle nous pouvons retrouver ce que nous sommes, nous, capables d’articuler comme fondamental dans ce que j’appellerai la position du désir.17
Diese Grundstruktur der Unterstellung nähert Schauen und Begehren, auch Begehren und Übertragung einander an. Dies tut auch Claire, die sich mit ihrer Ansage ins Bewusstsein rückt. Sie muss dafür das Mikrofon vom Boden aufnehmen, wo es vor den Füßen des einen Clowns gelandet war, der von sich hofft, als besonders ‚funny‘ wahrgenommen zu werden. Sie holt es ab, kehrt zu ihrem Platz zurück, und wieder wird es als Instrument der Verstärkung einer tiefen, sinnlich wirkenden Stimmlage genutzt. Ohne es wäre die Lautstärke, in der gesprochen wird, nicht ausreichend, um alle zuschauenden Ohren zu erfüllen. Die sanfte und gleichzeitig ernsthafte Sprechweise bewegt sich entlang der Grenze zum Flüstern. Hello, I’m Claire, and I hope that during this evening’s performance, I hope that you won’t be able to take your eyes off me, that you might be distracted by other things going on, but your gaze will return to me again and again. You’ll be like a helpless moth drawn to a burning flame. And there’ll be a feeling that starts in the pit of your stomach and spreads through your body like an infection, and you’ll realize that you are utterly consumed by physical desire for me. 18
17 Lacan 2001: 205. „In der Form und in der Artikulation, in denen dies uns dargestellt wird, sind das da keine metaphorischen Äußerungen, nette Bilder, um zu sagen, dass im großen und ganzen Alkibiades viel von Sokrates erwartet. Es offenbart sich darin eine Struktur, in welcher wir das wiederfinden können, was wir, unsererseits, als grundlegend in dem, was ich die Position des Begehrens nennen werde, zu artikulieren fähig sind“ (Lacan 2008: 213). 18 Forced Entertaiment 2004: Bloody Mess.
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Aus dem Zuschauerraum erklingt Gelächter, das Mikro wird weitergegeben. Claire wird nach dieser Szene den ganzen Rest des Abends ein Ganzkörper-GorillaKostüm tragen, seinerseits eine vielsagende Hülle für ein sich darin verbergendes Anderes – und auch ein Bild, das Tierisches und Menschliches kombiniert; ganz ähnlich einem Silen? Von außen jedenfalls ist es eine Herausforderung, ihrem Wunsch zu folgen, in ihr vom Gesehenen zum Begehrten zu gelangen, obgleich sie über den Abend immer wieder den Gorillakopf abnimmt und mit verschwitztem Haar an ihre Funktion erinnert.
U NTERSTELLUNG UND F UNKTION Lacans Übertragungstheorie entwickelt die spezifische Begriffskombination von Subjekt und Wissen, wenn Lacan spätestens in seinem Seminar zu den vier Grundbegriffen der Psychoanalyse formuliert, wie Übertragung im sujet supposé savoir ihren Anfang nimmt: „Le transfert est impensable, sinon à prendre son départ dans le sujet supposé savoir.“19 In diesem Konzept steckt mindestens zweierlei: das einem Sujet in der Psychoanalyse unterstellte Kostbare, Agalma, wird hier als Savoir weitergedacht, was Fragen nach dem Wissensbegriff aufwirft. Zudem versetzt dieses unterstellte Wissen das Subjekt in eine Funktion, erschafft es als Subjekt in einer Funktion. Wissen und Funktion wären an dieser Stelle also zwei Begriffe, die aus der Übertragung heraus zu verfolgen gälte, wobei hier zunächst dem Versuch stattgegeben werden soll, ein Subjekt in Funktion weiterzudenken. Im ‚Spiel‘ der psychoanalytischen Übertragung wirkt die Erschaffung eines funktionalisierten Gegenübers katalytisch – ohne sie kommt das Sprechen, kommt die Analyse nicht in Gang, wird nicht tragfähig. Der Analytiker erscheint in dieser Konstellation weder als Subjekt im Sinne eines Individuums, noch als gespaltenes, sondern als Instanz in einer Funktion, und in dieser Funktion bringt sie das Dialogische ins Spiel: „la seule présence du psychanalyste apporte, avant toute intervention, la dimension du dialogue.“20 Dafür reicht offenbar die seule présence aus; sie bringt das Dialogische mit sich, noch vor jeglichem Eingriff, „before we start“. Diese Präsenz wird als Verkörperung der Funktion eines sujet supposé savoir erkannt, und zwar einer Verkörperung, die sich in der betrachtenden, hinwendenden Position und eigentlich nicht am ‚Zielort‘ der Unterstellung manifestiert, obgleich dieser als Auslöser vorgestellt wird. Somit nimmt die übertragende Konstellation ihren Ausgang (prend son départ) gleichermaßen auf mindestens zwei Seiten: einer Seite der Präsenz und einer Seite der zuschreibenden Hinwendung – ebenfalls prä19 Lacan 1973: 281-282. „Übertragung ist allein denkbar, wenn sie vom Subjekt das wissen soll ausgeht“ (Lacan 1996: 266). 20 Lacan 1966: 216.
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sent. So entstehen im Grunde zwei katalytische Pole, deren Verhältnis die Macht einer Ingangsetzung erzeugt. Aus diesen Polen heraus erklärt Lacan auch die Unäquivalenz der Konstellation, das Machtgefüge. Jedoch fügt dieses sich genau genommen über Kreuz: Die Funktionen Analytiker und Analysant werden gleichermaßen vom Gegenüber erschaffen. Es wird danach gefragt, von wo aus die Unterstellung eines wissenden Subjekts erfolgt – ‚der Untersteller‘ wird ebenso zentral wie seine Unterstellung. La question est d’abord, pour chaque sujet, d’où il se repère pour s’adresser au sujet supposé savoir. Chaque fois que cette fonction peut être, pour le sujet, incarnée dans qui que ce soit, analyste ou pas, il résulte de la définition que je viens de vous donner que le transfert est d’ores et déjà fondé.21
Die Unterstellung charakterisiert, dass dieses vermutete Wissen eben nicht vorhanden sein muss. Die wichtige Funktionsweise besteht daher in der eigentlich objektiv-grundlosen, überraschenden Zuschreibung. Der Subjektbegriff umkreist hier somit eine Position der Präsenz und Verkörperung als Ort für Unterstellung und aber auch für Repräsentanz – der Analytiker wird in den Status eines Wissenden erhoben, bzw. zum Repräsentant einer vermeintlich wissenden Position. In der Psychoanalyse nutzt der Analytiker somit die Position dessen, an den sich gewendet wird, indem er sich zur Verfügung stellt: „Qu’est-ce que signifie l’organisation des psychanalystes, avec ce qu’elle confère de certificats de capacité? – sinon qu’elle indique à qui l’on peut s’adresser pour représenter ce sujet supposé savoir.“22 Übertragung kann also aus dem Lacanschen Ansatz heraus als Auftritt, Ver-Ortung und Ver-Körperung einer Funktion verstanden werden, und genauer, als Verkörperung einer Stellung, deren Konsultation lohnenswert erscheint. Dabei ist maßgeblich, wie diese Verkörperung von einem anderen bewertet wird, dass sie von einer Position, einem Ort, außerhalb dieser Verkörperung erschaffen wird. Die Begriffe der Verkörperung und der Repräsentation, die die Funktion des sujet supposé savoir bei Lacan anzeigen, sind fürs Theaterwissenschaftliche freilich verführerisch. Wenn einiges aus der Übertragungstheorie theaterwissenschaftliche Lesart zulässt, ließe sich weiter fragen, ob Theater mit diesen Fragestellungen ar21 Lacan 1973: 259. „Zunächst ist für jedes Subjekt die Frage, von welchem Ort aus es sich an das Subjekt wendet, das wissen soll. Immer dann, wenn diese Funktion für das Subjekt sich in irgend jemand, Analytiker oder nicht, verkörpert, folgt aus der Definition, die ich gerade gegeben habe, dass bereits auch der Grund zur Übertragung gelegt ist“ (Lacan 1996: 244-245). 22 Lacan 1973: 258. „Was will die Organisation der Psychoanalytiker mit all den Befähigungszertifikaten denn anderes – als anzuzeigen, an wen man sich wenden kann, jenes Subjekt das wissen soll zu repräsentieren“ (Lacan 1996: 244).
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beitet, einiges von dieser Grundstruktur dort verhandelt wird. Auch Forced Entertainment stellen sich als Instanzen zur Verfügung, an die sich gewendet werden soll, als Orte einer ‚fleischgewordenen Funktion‘ (fonction incarnée). Die Position der Hinwendung wird von ihnen stets mitformuliert, in der konsequenten Nennung des ‚you‘, bei gleichzeitiger Artikulation des Anspruches von ihrer Seite aus: „I’m hoping you’ll see...“. Ein so angesprochenes Gegenüber sieht sich mit der Funktion konfrontiert, die es – angeblich – fleischwerden lässt. Star, funny clown, human I Ging sind Funktionen, die sich hier „für ein Subjekt in irgend jemand verkörpern“, nämlich für die da Sprechenden im anwesenden Publikumskörper, auf ihre eigenen, sprechenden Körper zurückprojiziert. In einem Wirbel der Gegenseitigkeit sprechen sie nicht davon, welche Funktion sie erfüllen, sondern welche Funktion ein Gegenüber in ihnen erfüllt sehen soll, wird, kann. Claire unterbricht Cathy, als jene zu sprechen beginnen will und verlangt noch einmal das begehrte Objekt des Mikrofons zurück: „I am not suggesting that I’m the prettiest one here or anything. It’s more that I hope you will see something in me, a heat, a carnality that forces you to accept really very quickly, that I’m the one here tonight, I’m the one that you really, really want to fuck.“23 Dabei schaut sie nicht Cathy an, sondern blickt in Richtung der Reihen des Publikums; jedoch an wen adressiert sie ihr Sprechen? Weiter an dieser Unterstellungsbewegung gedacht, wird eigentlich nicht einem Subjekt etwas unterstellt, sondern es wird ein neues, funktionierendes generiert, ein anderes, eine dritte Instanz, vielleicht ein „dritter Körper“ nach Klaus Theweleit, insofern „es beide spüren und beide etwas dazu beigetragen haben.“24 Zwischen dem der Aussage Claires beiwohnenden Publikum und der Frau, die da in ein Mikrofon spricht, wird die Möglichkeit eines Begehrens imaginiert, ihre Einlösung jedoch gleich unterwandert.
A L’H ORIZON Lacan hebt mit Sokrates im Sprechen des Alkibiades hervor, dass eine (dritte?) Instanz sich im Anschauen, in der Hinwendung und im Sprechen, bzw. in der Wahrnehmung eines Sprechens durch einen anderen generiert. Das Sprechen geschieht aufgrund von und für jemanden. Lacans zunächst klinisch kontextualisierte Fragen Was habe ich? und Was fehlt mir? sind erste Wegweiser auf der Suche nach der Position, von wo sich jemand an jemand anderes wendet, von welcher Warte aus geschaut wird – nicht nur beim Arzt. Im Zusammenhang mit einem involvierten
23 Forced Entertainment 2004: Bloody Mess. 24 Theweleit 2006: 187.
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Dritten interessiert auch Lacans Verknüpfung des Unterstellungsmodells mit der Frage nach der Adressierung eines Sprechens: Socrate rétorque à Alcibiade — Tout ce que tu viens de faire là, et Dieu sait que ce n’est pas évident, eh bien, c’est pour Agathon. Ton désir est plus secret que tout le dévoilement auquel tu viens de te livrer. Il vise maintenant encore un autre. Et cet autre, je te le désigne, c’est Agathon. 25
Getan hat Alkibiades maßgeblich: Sprechen, und dies also offenbar für einen Dritten, anstatt, wie er angibt, für Sokrates. Bei Plato befindet sich dieser Dritte unter anderen mit im Raum, ist also Zeuge der Unterhaltung. Wie beim Sprechen im Theater: wer spricht für wen? Forced Entertainment etwa spielen mit dem Sprechen, allen Anwesenden gegenüber. In der vordergründigen Adressierung eines unterstellten Zuschauens verstecken sich Botschaften an alle, die zuhören. Unter denen, die sich für das Mikrofon interessieren, werden Konstellationen, ja Herausforderungen maßgeblich aufgemacht; wer etwa ist mehr ‚manly‘, wer wird zu wessen Gegenspieler? Und wer entwickelt hier Begehren für des Gorillas Kern? Damit, ihrem Publikum auf den Kopf zuzusagen, welche Funktionen sie gern unterstellt hätten, was in ihnen gesehen werden soll, und wie das die Perspektive aufs Stück gestaltet, wird ein Entwurf für eine ‚gelungene‘ Unterstellung im Theater einerseits imaginiert, wenn das Zuschauen ‚wunschgemäß‘ durchgeführt wird, und sich etwa Begehren an die Person heftet, in der – trotz oder gerade aufgrund des Gorillakostüms – etwas Wertvolles, Begehrenswertes gesehen wird, wo es im Grunde nicht zu vermuten war. Andererseits kommt die Konstellation auf einer nicht rein imaginären Ebene in Gang. Dabei wird ganz offen die abständige Vorstellung formuliert, wie dem Publikum eine Unterstellung unterstellt wird, wie Forced Entertainment das Publikum als unterstellend ansprechen. Sie erschaffen in ihrer Hinwendung eine funktionalisierte Zuschauerposition, die sich mit dem anwesenden Publikum überlagert, und dabei nicht kongruent ist, wie auch die auf der Bühne imaginierte, aber verbalisierte Unterstellung nicht kongruent zu den Körpern ist, in denen diese Funktionen gesehen werden sollen. Mit der Abständigkeit Silen-Agalma wird hier bewusst umgegangen: zunächst erscheint es überraschend, für den Gorillakern Begehren zu entwickeln, jedoch geben z.B. die sinnliche Mikrofonstimme und das verschwitzte Haar der Überraschung und dem Abwegigen eine Komponente des potentiell Möglichen. 25 Lacan 2001: 215. „Sokrates erwidert auf Alkibiades: Alles das, was du da gerade getan hast, und Gott weiß, dass das nicht selbstverständlich ist, nun, das ist für Agathon. Dein Begehren ist verborgener als die ganze Enthüllung, der du dich gerade hingegeben hast. Sie meint jetzt noch einen anderen. Und dieser andere, ich bezeichne ihn dir, ist Agathon“ (Lacan 2008: 223).
SUJET SUPPOSÉ SPECTATEUR
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Auf allen Seiten sind so komplexe und sich überkreuzende Unterstellungsbewegungen zu finden. Wird dabei das Publikum zu sujets, denen ein Zuschauen unterstellt wird? Sind die Körper auf der Bühne Instanzen, an denen unterstellte Funktionen abgeglichen werden? Betreibt Theater unter Umständen eine Praxis, die einen im natürlichen Modell unbewussten Vorgang bewusst macht und einsetzt? Florian Malzacher schreibt über die Position, die den Zuschauenden in den Produktionen von Forced Entertainment zugeschrieben wird: „[…] immer sind wir anwesend, als Zuschauer, als Zeugen, als Voyeure.“26 Die Zuschauerposition wird von ihm als „aktiviert und zum Herrscher ermächtigt“27 bezeichnet. Diese zugespitzten Formulierungen klingen wie eine Beschreibung eines in den Aufführungskontext versetzten sujet supposé savoirs. Dieses bekommt seine Machtposition von einem Gegenüber zugeschrieben, unterstellt, und das ganze Geschehen zwischen den beteiligten Positionen wird durch diese Unterstellung beeinflusst, in Gang gebracht, ins Leben gerufen. Für Jacques Lacan als Analytiker ist dieses VersetztWerden in eine solche Position eine grundlegende Erfahrung, die also auch für Konstellationen gelten kann, in denen kein Psychoanalytiker am Horizont auftaucht. Begriffe des Subjekts, der Unterstellung und schließlich des Wissens können auch im Hinblick auf Zeugen und Voyeure gelten; solche Kategorien weisen auf Subjekte hin, die in einer Funktion erzeugt werden – in der des Analytikers, in der des Voyeurs, in der des Zeugen… Wenn Malzacher von Publikumsfunktionen wie Zeugen, Voyeuren und ermächtigten Positionen schreibt, formuliert er einen Katalysator des Theaters. Ähnlich grundlos wie in der Psychoanalyse werden dem Publikum Funktionen unterstellt, jedoch maßgeblich kollektivierende, politisierende Attribute, keine vereinzelnden. Dabei steht der/die Einzelne, „Jeder Zeuge ist der einzige Zeuge“ 28, im Verhältnis zur Gemeinschaft: „Wenn wir von Richard Lowdon in Showtime direkt darauf hingewiesen werden, aber auch, wenn in First Night Einzelne aus der Menge isoliert werden, dann werden wir als Zuschauer bewusst zu einem gesellschaftlichen Wesen.“29 Hier wäre einer der gravierendsten Unterschiede zur Konstellation mit Analytiker am Horizont: in der Psychoanalyse befinden sich zwei einzelne Personen miteinander in einem Raum; im Theater bisweilen auch, jedoch seltener. Das Sprechen für Dritte ist im Kreise Dritter, Vierter etc. maßgeblicher Faktor. Die Betonung und so Bewusstmachung der gegenseitigen Unterstellungen holt die unbewussten Funktionsweisen aus dem verborgenen Schatzkästchen ans Licht, macht sie genieß- und verhandelbar. Darin würde sich eine Gegenaussage des Vor26 Malzacher 2008: 42. 27 Malzacher 2008: 43. Mit Bezug auf Fischer-Lichtes „unumschränkte[n] Herrscher über alle möglichen Semiosen“ (Fischer-Lichte 1997: 78). 28 Malzacher 2008: 46.
29 Malzacher 2008: 50.
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gangs formulieren, wie ihn Lacan für die Übertragung herleitet. Sokrates sagt: „Aber aufgepasst – da, wo du etwas siehst, bin ich nichts.“30 Forced Entertainment behaupten: „Aber aufgepasst – da wo du vielleicht nichts siehst, bin ich etwas.“ Oder auch: „Ich bin wohl nichts, aber sieh, sieh her: was für eine Vorstellung ich in Dir entstehen lassen kann.“31 Zumindest wird das Begehren nach der Erfüllung einer Funktion zentral verhandelt.
L ITERATUR Apelt, Otto: Platon. Sämtliche Dialoge. Leipzig: Meiner 1926. Fischer-Lichte, Erika: Die Entdeckung des Zuschauers – Paradigmenwechsel auf dem Theater des 20. Jahrhunderts. Tübingen: Francke 1997. Freud, Sigmund: „Bruchstück einer Hysterie-Analyse“ [orig. 1905], in: Mitscherlich, Alexander/Richards, Angela/Strachey, James (Hg.): Sigmund Freud. Studienausgabe. Bd. VI. Frankfurt am Main: Fischer 2006, S. 83-186. Lacan, Jacques: „Intervention sur le transfert“ [orig. 1951], in: Lacan, Jacques: Écrits. Paris: Ed. du Seuil 1966, 215-226. Lacan, Jacques: Les quatre concepts fondamentaux de la psychanalyse. Paris: Ed. du Seuil 1973. Lacan, Jacques: Die Vier Grundbegriffe der Psychoanalyse. Das Seminar Buch XI. Weinheim/Berlin: Quadriga Verlag 1996. Lacan, Jacques: Le Transfert. Le Séminaire, Livre VIII. Paris: Ed. du Seuil 2001. Lacan, Jacques: Die Übertragung. Das Seminar, Buch VIII. Wien: Passagen 2008. Malzacher, Florian: „There is a word for people like you: Audience“, in: Deck, Jan/Siegburg, Angelika (Hg.): Paradoxien des Zuschauens. Die Rolle des Publikums im zeitgenössischen Theater. Bielefeld: transcript 2008, 41-54. Platon: Das Gastmahl. Hg. von Thomas Paulsen. Stuttgart: Reclam 2008. Rowe, C. J.: Plato. Symposium. Warminster: Aris & Phillips 1998. Theweleit, Klaus: „Direkt-Übertragung, Live-Übertragung, 3. Körper“, in: Theweleit, Klaus: Absolutely Sigmund Freud. Songbook. Freiburg: orange press 2006, 180-206. Žižek, Slavoj: Lacan. Eine Einführung. Frankfurt am Main: Fischer 2008.
30 Lacan 2008: 197.
31 Vorschlag von Frau Dr. Mai Wegener, Berliner Lacanianerin.
„Keine Heimat, sondern nur ein Abenteuer“ Venedig zwischen kultureller Imagination und Rezeption D OROTHEA V OLZ
Wenn jährlich mehrere Millionen Touristen nach Venedig strömen,1 so folgen sie in den engen Gassen breit ausgetretenen Reisewegen. Zuerst als Hafenstadt ein wichtiger Knotenpunkt für die Handelsreisenden zwischen Ost und West, bald aber auch für Bildungsreisende, beispielsweise als Etappe der Grand Tour, war die Lagunenstadt früh ein hochfrequentierter Anziehungspunkt. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts wuchs aufgrund wachsender und vereinfachter Mobilität, des Ausbaus der Eisenbahnstrecken und des Baus einer direkten Verbindung zum Festland das touristische Interesse weiter an. Doch die Stadt war und ist auch dem, der sie noch nicht bereiste, ein Begriff. In seiner Reisebeschreibung „Italian Hours“ bringt Henry James dies eloquent auf den Punkt: Venice. It is a great pleasure to write the word but I am not sure there is not a certain impudence in pretending to add anything to it. Venice has been painted and described many times, and of all the cities in the world is the easiest to visit without going there.2
James’ Urteil bestätigt sich beim Blick auf die kulturelle Rezeptionsgeschichte der Lagunenstadt: Berichte und Bilder3 existieren mannigfach, die Stadt nimmt einen
1
Je nach Quelle unterscheiden sich die Angaben erheblich; nach Auskunft der Azienda di
2
James 1992: 1. Erstmals veröffentlicht wurde der Aufsatz bereits 1882 in The Century
3
Stark rezipiert wurde beispielsweise die Venduten-Malerei Canalettos. Für eine differen-
Promozione Turistica besuchten 2010 ca. acht Millionen Touristen die Stadt. Vol 1, 3-24. zierte Betrachtung der Beziehung Venedigs zur Malerei vgl. Forssman 1971; vgl. ebenso Baumstark/Wandschneider 2010.
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festen Platz im kulturellen Gedächtnis der Europäer ein,4 geradezu eine Sonderstellung, wenn sie als „ganz eigener Kosmos“5 beschreiben wird, der seit Jahrhunderten Künstler und Besucher gleichermaßen fasziniert. Als Gründe für einen solchen venezianischen Exzeptionalismus wird auf die Lage und Erbauung zwischen Land und Wasser verwiesen, auf „das spezielle Licht der Lagune, ihre einmalige städtebauliche Anlage mit Kanälen und Brücken wie ihre glanzvolle Geschichte“.6 Dies mache sie „zu einem unvergleichlichen Erlebnis, zu einem einzigartigen begehbaren Geschichtsbuch.“7 Der Mythos – oder eher: die Mythen – Venedigs wurden spätestens mit dem Ende der politischen Eigenständigkeit 1797 und einem folgenden ökonomischen Abstieg zum Freiraum unterschiedlichster Belegungen, so dass im 19. Jahrhundert „die auf eine Kulisse reduzierte Stadt […] mit neuen, vom Subjekt gesetzten, aber deshalb nicht minder auf den Ort selbst bezogenen Bedeutungen versehen werden“ konnte. 8 Verstärkt durch den sichtbaren Verfall der Gemäuer wurde im Fin de Siècle die schon immer vom umgebenden Wasser auch bedrohte Stadt mit wachsender Melancholie betrachtet.9 Im Blick auf die Stadtarchitektur spiegelt sich nicht nur der Aufstieg der blühenden Handelsmetropole, sondern auch ihr Niedergang. In ihrem Zentrum von Industrialisierung und Modernisierung scheinbar unberührt, in gewissem Sinne damit geradezu konserviert, scheint die Stadt Museum ihrer selbst zu sein. Ende des 19. Jahrhunderts wurde diese ambivalente Verbindung von Schönheit und Zerfall, zeitgleiches Carpe Diem und Memento Mori, besonders intensiv rezipiert, medial wiedergespiegelt in Reisebeschreibungen, Gedichten und Erzählungen; Thomas Manns Novelle Tod in Venedig ist eines der prominentesten Beispiele. Auch mit Blick auf die Theater- und Filmgeschichte zeigt sich eine rege Auseinandersetzung mit der Stadt und ihrer Mehrdeutigkeit, die besonders spannend erscheint, betrachtet man die Stadt in Bezug auf die Idee ihrer Theatralität.10 Vor diesem Hintergrund soll im Folgenden der kulturellen Verhand-
4
Zum Begriff des kulturellen Gedächtnisses vgl. Assmann 1992.
5
Baumstark/Wandschneider 2010: 16.
6
Baumstark/Wandschneider 2010: 16.
7
Baumstark/Wandschneider 2010: 17.
8
Hoffmann-Maxis 1993: 11. Solcherlei Zuschreibungen sind äußerst dynamisch und Veränderungen unterworfen, vgl. hierzu für die Literaturgeschichte Hoffmann-Maxis 1993: 23.
9
Der Zauber des Verfallens wurde Christiane Schenk folgend zuerst von Lord Byron beschrieben („Er ist der erste, der in Venedigs verfallener Pracht eine eigene Schönheit sieht“), dann von seinem Landsmann William Turner für die Malerei fruchtbar gemacht. Damit sei Venedig als ästhetisches Objekt mit neuer Bedeutung belegt (Schenk 1987: 119-120).
10 Siehe Fischer-Lichte 1999.
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lung Venedigs als Stadt zwischen „Fakt und Fiktion“11, oszillierend zwischen ambivalenten Zuschreibungen nachgegangen werden. Mit Blick auf die venezianische (Kultur-)Geschichte begreift Erika Fischer-Lichte die Mehrdeutigkeit der Stadt als Eigenart, die sie zu einem besonders theatralen Ort werden lässt: Nicht nur […], daß Venedig die Stadt der Maskeraden und des Karnevals ist, wo die Grenzen zwischen Akteuren und Zuschauern verschwimmen, die Stadt der commedia dell’arte und der Oper; eine theatralische Stadt par excellence, die voll Stolz ihre eigene Theatralität vor ihren eigenen Einwohnern sowie vor Fremden zur Schau stellt: Venedig als die Bühne für die Inszenierung jeglicher Art von theatralischer Architektur und theatralischen Verhaltens. Eine solche Affinität besteht ganz sicher auch – und vielleicht sogar in noch stärkerem Maße –, wenn man den Mythos Venedig bedenkt. Dieser Mythos verwandelt die Stadt in eine Heterotopie im Sinne Foucaults. Sie erscheint als ein Ort „betwixt und between“ (Victor Turner), als ein Übergang, eine Passage, ein Ort der Verwandlungen.12
Venedig bietet den Hintergrund für große Gesten, für die Selbstdarstellung bzw. den Rollenwechsel und ist dabei zugleich Präsentationsfläche und selbst Objekt der Betrachtung. Im Stadtbild verbinden sich Vergangenheit und Gegenwart mit kultureller Imagination. In Anlehnung an die Soziologin Martina Löw kann konstatiert werden, dass die Materialität einer Stadt […] als raum-zeitlicher Gedächtnisspeicher baulich und landschaftlich historisch gewachsener Eigenheiten gedacht werden [kann], die das unverwechselbare materielle Substrat für die sinnlich-körperliche Erfahrung eines Ortes ausmachen. 13
So wird das Stadtbild auch zur Stadtwahrnehmung – und diese aufgrund ihrer venezianischen „Eigenlogik“14 zur „Bühne für die Inszenierung jeglicher Art“15. Im Rahmen dieser Aufführung wird auch Venedig selbst re-inszeniert, dabei der Mythos der Stadt immer wieder neu rezipiert und zum Verhandlungsraum, zum Ort des 11 Amthor 2009. 12 Fischer-Lichte 1999: 95. Fischer-Lichte bezieht sich in ihrem Aufsatz auch auf Reinhardts Kaufmann-Inszenierung von 1934, die er in Venedig umsetze. Mit der Bezeichnung Venedigs als „theatrale Stadt par excellence“ folgt sie einem Ausspruch Thomas Manns, der Venedig als „romantische Stadt par excellence“ bezeichnete (siehe Mann, Thomas zit. nach Schenk 1987: 106). 13 Löw 2008: 108. 14 Vgl. Berking/Löw 2008. 15 Fischer-Lichte 1999: 95.
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‚Dazwischen‘ und der Verwandlung. Auch der Soziologe Georg Simmel hat sich in einem Aufsatz mit Venedig beschäftigt und dabei mit Bezug auf die Kulissenhaftigkeit der Stadt die Idee ihrer Theatralität geradezu zur Voraussetzung der Möglichkeit ihrer Wahrnehmung gemacht. Alle Menschen gehen in Venedig wie über die Bühne: in ihrer Geschäftigkeit, mit der nichts geschafft wird, oder mit ihrer leeren Träumerei tauchen sie fortwährend um eine Ecke herum auf und verschwinden sogleich hinter einer anderen und haben dabei immer etwas wie Schauspieler, die rechts und links von der Szene nichts sind, das Spiel geht nur dort vor und ist ohne Ursache in der Realität des Vorher, ohne Wirkung in der Realität des Nachher. 16
In Gegenüberstellung von Florenz und Venedig spricht er der Lagunenstadt Tiefe, ein ‚Sein‘, ab. Sie wird Ort eines Spiels, reine Fiktion. Die Aufführung wird also zum Existenzstatus der Stadt, auch der Ausführenden, die „rechts und links von der Szenerie nichts sind“, zur Voraussetzung jeder Handlung, die jedoch folgenlos bleibt. Alles scheint irreal, Phantasie und dem Traum näher als dem Leben. Was bleibt, ist Oberflächliche und Kulisse, die Vortäuschung von Leben. Die Ambivalenz17 zwischen Sichtbarem und Realem, die Simmel der Stadt unterstellt, basiert auf der physischen Erfahrung einer Verunsicherung der eigenen Wahrnehmung, denn durch Brücken und Kanäle verändern sich die Blickachsen beständig und es entstehen immer wieder neue Raumeindrücke. Entfernungen können nicht eingeschätzt werden und Gebäude schieben sich scheinbar vor- und übereinander.18 Eindeutig bleibt in Venedig letztendlich die Uneindeutigkeit. „Sie [die Stadt Venedig] wird von der Wirklichkeit geformt und drückt diese in ihrer Multiperspektivität aus.“19 In der Rezeptionsgeschichte Venedigs verbindet sich die Mehrdeutigkeit der konkreten Stadt-Erfahrung mit der ambivalenten Geschichte und Gegenwart einer Stadtgründung zwischen Land und Wasser, Orient und Okzident, opulenten Fassaden und nagendem Verfall. Letzteren hat sich John Ruskin in seinem mehrbändigen Werk The Stones of Venice gewidmet und der Architektur ein literarisches Denkmal gesetzt, indem er akribisch Details verewigte und sie mit dem Stift vor dem Verschwinden zu bewahren suchte – dabei aber zugleich eine eigene, immobile Version
16 Simmel 1922: 69. 17 Ambivalenz kann definiert werden als „doppelte Wertung, die naturgemäß meist eine gegensätzliche ist“ (Bleuler 1914: 96). 18 „Gepaart mit den kurzfristig wechselnden Sichtachsen und dem labyrinthartigen Gefüge der Gassen, Kanäle und Brücken eignet sich zumal das herbstliche, nächtliche Venedig für psychologische Verwirrspiele“ (Amthor 2009). 19 Amthor 2009.
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der Stadt erschuf.20 Zwischen Stillstand und Zerfall erlebt der Besucher im ‚Freilichtmuseum Venedig‘ die Begegnung mit den ihm bekannten Motiven und zugleich deren Fragilität, eine traumhafte Kulisse, von der die Farbe abbröckelt. Niedergangsempfinden und Schauspielassoziationen wurden von so manchem Besucher in Verbindung gebracht – beispielsweise schrieb Otto Julius Bierbaum in seiner Reisebeschreibung Empfindsame Reise im Automobil von 1903: Nun sollte ich von Venedig reden, dieser wundervollen alten Dame, die nicht mehr lachende Augen hat. Was ist sie nicht alles gewesen: Heldin, Herrscherin, Kurtisane. Ihre Augen waren lange die strahlendsten Europas, jetzt haben sie einen melancholischen Glanz. Aber schön ist ihre Majestät Venezia immer noch, – vielleicht zu schön für diese plebejische Gegenwart, in die sie gar nicht passt. Eine Königin, die sich für Geld sehen lassen muss vor Gaffern, die zwar Geld, aber keinen Respekt vor alten Majestäten haben. Herr Cook ist auch ihr Impresario. 21
Bierbaum beschreibt Venedig als alternde Diva, verweist auf das breite Rollenrepertoire der Virtuosin – und re-inszeniert damit den Mythos. Im direkten Vergleich mit der kulturellen Imagination der Stadt ist ein Teil ihrer Schönheit vergangen – melancholisch blickt nicht nur die Stadt, sondern auch der Reisende auf das Schauspiel ihres Ausverkaufs, wenn Venedig ‚Vorstellungen‘ für „Gaffer“ gebe. Dabei mindert Bierbaum das Unbehagen seiner eigenen Rolle gegenüber durch eine Abgrenzung von der Masse, die Venedig überfremdet und ent-italienisiert.22 Venedig ist nicht nur Kulisse, Mit-Spielerin und Voraussetzung theatraler Handlungen vor Ort, sondern natürlich auch prädestinierter Schauplatz von Dramen, die damit auf mehr als einen pittoresken Hintergrund zurückgreifen. Die Vieldeutigkeit der Stadt, ihre Widersprüchlichkeit zwischen Idealisierung und Realität und der Zweifel des Besuchers an seiner Rolle – auch dies schlägt sich in der kulturellen Rezeption nieder. Ein besonders eindrückliches Beispiel hierfür ist Max Reinhardts Umsetzung der Pantomime Venezianische Nacht. Reinhardt inszenierte das Stück, das auf einer Vorlage von Karl Gustav Vollmoeller basiert, erstmals 1912 im Palace Theatre in London und zeigte es in gleicher Besetzung 1913 in Berlin. Die Pantomime spielt im Jahr 1860, in der Zeit der österreichischen Fremdherrschaft über Venedig. Der Hauptprotagonist Anselmus Aselmeyer ist Prototyp des deutschen Bildungsbürgers, dessen Vorstellung von der Lagunenstadt bis dato auf literarischen Vorlagen basierte, der sich auf die Reise macht und dabei die materielle Manifestation seines Sehnsuchtsortes sucht. In Venedig angekommen wird er 20 Siehe Ruskin 1907. 21 Bierbaum 1903: 2. 22 Siehe Hoffmann-Maxis 1997: 300-301; vgl. auch James 1992: 10.
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von Pipistrello abgefangen, einem der italienischen Theatertradition der Commedia dell’Arte entsprungenen Arlecchino, der dem Touristen seine Dienste anbietet. Anselmus lehnt das Angebot zwar ab, dennoch wird ihn Pipistrello weiter begleiten und Zeuge der Verwicklungen, in die der Reisende gerät: Denn als sich sein Weg mit einem Brautpaar kreuzt, verliebt sich Anselmus, getäuscht von vermeintlich ihm geltenden Blicken, kurzerhand in die Braut.23 Die abendliche Hochzeitsfeier im Gasthaus, in dem auch der Deutsche nächtigt, verfolgt ihn bis in seine Träume und mit dem Wechsel in das Reich des Unterbewussten wird auch die dunkle Seite der Stadt geweckt. Im Traum eilt Anselmus der Braut zur Hilfe, denn mittlerweile hat Pipistrello in ihrem Zimmer den Geliebten, einen Offizier, getötet. Die Braut, den Zorn des frisch Angetrauten fürchtend, drängt auf eine schnelle Bereinigung des Tatorts. Anselmus schultert den Leichnam und schleppt ihn durch die nächtlichen Gassen bis auf die Toteninsel San Michele, immer dicht gefolgt von Pipistrello. Der hartnäckige Diener verhindert eine einfache Entsorgung des Toten im Wasser und zieht ihn nicht nur einmal, sondern vierfach aus den Wellen wieder heraus. Es folgen Anselmus’ Flucht und schließlich Kampf mit den Untoten durch die nächtlichen Gassen Venedigs – bis er endlich wieder das Zimmer der Angebeteten erreicht. Noch ehe er hier auf einen belohnenden Kuss hoffen kann, erwacht er aus seinen wilden Träumen – und verlässt verwirrt und sichtbar mitgenommen die Herberge. Sein letzter Gang durch die Stadt kreuzt sich erneut mit dem Hochzeitspaar, das diesmal in Begleitung des höchst lebendigen Offiziers auf einer Gondel an ihm vorbeigleitet. Anselmus beobachtet die Ménage à Trois, erkennt nun seinen Irrtum, begreift, dass die sehnsuchtsvollen Blicke der Braut dem uniformierten Verehrer galten – und kehrt enttäuscht der Stadt den Rücken. Venedig ist hier Kulisse einer Mischung aus heiterer Verwechslung und unheimlichem Spuk sowie Ort der Verwandlung eines Bücherwurms in einen nächtlichen Aufreißer. Dabei gelang es auf der Bühne, folgt man dem Kritiker Peter Panter alias Kurt Tucholsky, dem Mythos Venedig als Stadt des ‚Dazwischen‘ visuell gerecht zu werden, denn hier „hüpfte und huschte das Ganze vorüber wie ein Spuk. Man hätte in die Person hineinfassen können, so unwirklich war alles. Traum? Erlebnis? Wer weiß? Das war Italien, wie sichs der Deutsche ersehnte.“24
23 In der Bühnen- und Filmversion wird diese von Maria Carmi gespielt, der damaligen Frau Karl Gustav Vollmoellers. 24 Tucholsky, Kurt: „Zwei venetianische Nächte“, Schaubühne, 23.04.1914, zit. nach Berthold/Vogt 1983: 62. Anzumerken bleibt aber auch, dass nicht alle Kritiker für die hier angedeutete Schnelligkeit der Inszenierung lobende Worte fanden: „[D]ie Drehbühne mit ihrer schnellfertigen Mechanik sorgt dafür, dass Traum und Wirklichkeit sich zu fratzenhafter Unheimlichkeit mischen, bis der Tag alles wieder klärt […]. Was da in rasender Jagd der Bilder und gymnastischen Kunststücken an uns vorüberflitzt, gibt dem Auge
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Bereits 1913 verfilmte Reinhardt die Pantomime und drehte dafür am Handlungsort, in Venedig.25 Besonders bemerkenswert an seiner filmischen Übersetzung ist die äußerst theateraffine Umsetzung, auf die ein näherer Blick lohnt. Die Ankunft Aselmeyers am „Sehnsuchtsort“, wo er tief in die Lektüre seines Reiseführers versunken den Bahnhof verlässt, zeigt ihn bereits als Mittelpunkt eines Schauspiels, denn der Tourist wird im Halbkreis von zahlreichen Italienern umringt, die ihn neugierig mustern. Pipistrello ahmt ihn nach, was der Reisende ebensowenig bemerkt wie seine Stellung im Zentrum der allgemeinen Aufmerksamkeit. Als er schließlich mit Pipistrello eine Gondel besteigt, bedient der Film bekannte Motive und Venedig wird über das Bild der Rialto-Brücke und das Reiterstandbild des Colleoni etabliert.26 Die weiteren Geschehnisse vollziehen sich überwiegend in Innenräumen, wobei die meist statische Kamera in Zentralperspektive auf eine Guckkastenbühne blickt, teils Figuren aus dem Bildausschnitt hinausfallen bzw. tanzen.27 Nicht nur auf der Handlungsebene findet ein Spiel im Spiel statt (z.B. wenn Pipistrello den naiven Anselmus nachahmt oder der Bildungsbürger auf der Traumebene einen Rollenwechsel vollzieht und vom Bücherwurm zum Helden mutiert), sondern es wird auch ästhetisch auf die Theatralität Venedigs verwiesen und mit der Kulissenhaftigkeit der Stadt gespielt. Venedig als Bühne, wie Georg Simmel die Stadt in seinem Aufsatz beschreibt, hat hier eine visuelle Entsprechung gefunden, denn Handlung basiert hier auf Täuschung, ist Teil eines Traums und ohne Konsequenz. Als unerfüllter Sehnsuchtsort bietet Venedig so auch Anselmus „keine Heimat, sondern nur ein Abenteuer“ 28. Die Lagunenstadt bleibt dabei ambivalent, so versucht beispielsweise Pipistrello die Aufmerksamkeit des Touristen manches; wenig oder nichts der Seele.“ (Anonym: „In den Kammerspielen eine Pantomime“, Kritikensammlung Schloß Wahn). 25 Zur Verbindung von Film und Venedig sei auch verwiesen auf die Parallelität zwischen Filmaufnahme und Spiegelung des Selbst durch das die Lagune umgebende Wasser. „Auch filmisch wird Spiegelung zum entscheidenden Effekt“ (Amthor 2009). 26 Einige visuelle Ideen Reinhardts scheinen noch nicht umsetzbar gewesen zu sein: „Reinhardt wurde der Schrecken der Kameraleute. Er wollte durchaus die Lagune im Mondlicht aufnehmen, das Spiel der Wellen photographieren, die Palazzi in der Ferne dämmern lassen – lauter Probleme, die der heutige Film spielend löst, die aber für den Kameramann von 1913 technisch unübersteigbare Hindernisse waren“ (Heinz Herald zit. nach Berthold/Vogt 1983: 60). 27 Siehe Vogt 1983: 64. 28 „Venedig aber hat die zweideutige Schönheit des Abenteuers, das wurzellos im Leben schwimmt, wie eine losgerissene Blüte im Meere, und daß es die klassische Stadt der Aventure war und blieb, ist nur die Versinnlichung vom letzten Schicksal seines Gesamtbildes, unserer Seele keine Heimat, sondern nur ein Abenteuer sein zu dürfen“ (Simmel 1922: 73).
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auch auf ‚das andere Venedig‘ zu lenken, indem er vehement auf ein verlassenes Haus am Kanal hinweist und auch das Unheimliche und die Bedrohung sind im Rahmen der Spukhandlung Elemente des Stadterlebnisses. Die letzte Filmszene gehört Pipistrello, der forsch und direkt in die Kamera blickt und die Arme, wie nach einer gelungenen Vorstellung in Andeutung einer Verbeugung ausbreitet. Venedig als Kulisse wird hier zur Bühne eines Schauspiels, in dem die Rollen zwischen Zuschauer und Spielendem verschwimmen, die Stadt als Ort von Täuschung und Verwandlung in Szene gesetzt. Venedig weckt Sehnsüchte und Ängste gleichermaßen, ermöglicht eine Verwandlung, die hier aber konsequenzlos bleibt. Die als konstitutiv für Venedig etablierte Mehrdeutigkeit ist mehr als eine Wahrnehmungskategorie: Sie wird Grundlage der Rezeption der Stadt. „Venedig ist nicht allein vielfach von einzelnen Heterotopien durchsetzt, sondern es wirkt in Bezug auf die westeuropäische Kultur in seiner Gesamtheit als Heterotopie.“29 Ausgehend von der Theatralität der Stadt lässt sich ihre Rezeptionsgeschichte als kulturelle Inszenierungsgeschichte lesen, in der Venedig in Wechselwirkung von Stadtwahrnehmung und kultureller Imagination zu einem Raum der Täuschung, aber auch der Möglichkeiten wird.
L ITERATUR Amthor, Wiebke (2009): Heterotopie aus Fakt und Fiktion. Beispiel Venedig, in: www.querelles-net.de/index.php/qn/article/view/779/807 [15.09.2010]. Assmann, Jan: Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen. München: Beck 1992. Baumstark, Brigitte/Wandschneider, Andrea: „Venedig-Bilder – Zwischen Faszination und Klischee. Einführung und Dank“, in: Baumstark, Brigitte (Hg.): VenedigBilder in der deutschen Kunst des 19. Jahrhunderts. Petersberg: Imhof 2010, 15-19. Berking, Helmuth/Löw, Martina (Hg.): Die Eigenlogik der Städte. Neue Wege für die Stadtforschung. Frankfurt: Campus 2008. Berthold, Margot/Vogt, Uwe: „‚Eine venetianische Nacht‘ auf der Leinwand“, in: Berthold, Margot (Hg.): Max Reinhardts Theater im Film. Materialien. München: o.V. 1983, 58-64. Bierbaum, Otto Julius: Eine empfindsame Reise im Automobil. Berlin: o.V. 1903. Bleuler, Eugen: „Die Ambivalenz“, in: Festgabe zur Einweihung der Neubauten der Universität Zürich 18. IV. (Festgabe der medizinischen Fakultät). Zürich: Schulthess & Co. 1914, 95-106.
29 Amthor 2009.
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Hoffmann-Maxis, Angelika: Paradoxie der Fiktion: Literarische Venedig-Bilder von 1797-1984. Berlin: De Gruyter 1993, 11. Fischer-Lichte, Erika: „Theater als Fest. Max Reinhardts Inszenierung des ‚Kaufmanns von Venedig‘“, in: Balme, Christopher (Hg.): Horizonte der Emanzipation: Texte zu Theater und Theatralität. Berlin: Vistas 1999, 87-102. Forssman, Erik: Venedig in der Kunst und im Kunsturteil des 19. Jahrhunderts. Stockholm: Almqvist & Wiksell 1971. James, Henry: Italian Hours. [1882] University Park: The Pennsylvania State Univ. Press 1992. Löw, Martina: Soziologie der Städte. Frankfurt am Main: Suhrkamp 2008. Ruskin, John: The Stones of Venice. Vol. 1-3. London: Routledge 1907. Schenk, Christiane: Venedig im Spiegel der Décadence-Literatur des Fin de Siècle. Frankfurt am Main: Lang 1987. Simmel, Georg: „Venedig. 1907“, in: ders.: Zur Philosophie der Kunst. Potsdam: Kiepenheuer 1922, 67-73. Vogt, Uwe: „Überlegungen aus eigener Sicht“, in: Berthold, Margot (Hg.): Max Reinhardts Theater im Film. Materialien. München: o.V. 1983, 64.
Gunter Demnigs Erinnerungsprojekt Stolpersteine Zur performativen Vergemeinschaftung eines kulturellen Gedächtnisses des Holocaust C AROLIN E F RIES
Die in den vergangenen Jahrzehnten vielzählig eingeweihten Denkmäler für und Erinnerungsorte an die Opfer des Nationalsozialismus hat in ihrer Entstehung jeweils eine meist intensive Debatte um künstlerische Form, Wirkmächtigkeit und Deutungshoheit begleitet.1 Im Mittelpunkt des öffentlichen Diskurses steht dabei stets die Frage nach der ‚richtigen‘ Art und Weise des Erinnerns.2 So suchte beispielsweise die Stadt München in dem von ihr 2005 ausgerufenen und viel diskutierten Wettbewerb Opfer des Nationalsozialismus – Neue Formen des Erinnerns nach einer Gedenkform, die sowohl „dem politischen Selbstverständnis der Stadt“ entspräche und dem Bedürfnis der Holocaust-Opfer gerecht würde, als auch gleichzeitig das ästhetische Verständnis der globalisierten „Handygeneration“ repräsentiere. 3 Es ging, laut Oberbürgermeister Christian Ude, um „einen Gedenkort in der Stadt, den jeder, unabhängig von Sprache und Herkunft, sehen und begreifen kann.“4 1
Als Beispiele für Erinnerungsprojekte sind hier unter anderem das Denkmal für die ermordeten Juden Europas (Berlin 2005); Jüdisches Museum Berlin (Berlin 2001); Aschrottbrunnen (Kassel 1989); Memory Loops (München 2008); Stolpersteine (europaweit, seit 2002) zu nennen.
2
Vgl. hierzu beispielsweise Gessler 2008, Käppner 2008b sowie Young 1993.
3
Siehe Käppner 2008b.
4
Käppner 2008b. Inzwischen ist das Projekt Memory Loops der Künstlerin Michaela Melián ausgewählt und in München installiert worden. Memory Loops bietet 300 Tonspuren zu Orten des NS-Terrors in München, die sich per Telefon und im Internet abrufen
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Die virulent gewordenen Fragen nach der Art und Weise des Erinnerns an den Holocaust – und die damit einhergehende Einrichtung neuer Gedenkstätten – lassen sich aus gedächtnistheoretischer Perspektive als Ausdruck eines sich wandelnden öffentlichen Bewusstseins dieser Vergangenheit verstehen. Will man dem Kulturwissenschaftler Jan Assmann folgen, so scheint mit dem Ende des 20. Jahrhunderts und dem Anbeginn des neuen Jahrtausends die Übergangsphase von kommunikativem Gedächtnis, d.h. individueller, biographischer Erinnerung der Zeitzeugen, zu kulturellem Gedächtnis, in dem die Erinnerung an den Holocaust nur noch über Medien, also beispielsweise Erinnerungsorte, Videoaufzeichnungen und schriftliche Zeugnisse, vermittelt werden kann, ihren Endpunkt zu erreichen. Assmann unterscheidet diese „zwei Modi der Erinnerung“ in seinem Buch Das kulturelle Gedächtnis5: Zum einen benennt er das aus biographischer Erinnerung bestehende und durch soziale Interaktion weitergegebene kommunikative Gedächtnis: Es sind dies Erinnerungen, die der Mensch mit seinen Zeitgenossen teilt. Der typische Fall ist das Generationen-Gedächtnis. Dieses Gedächtnis wächst der Gruppe historisch zu; es entsteht in der Zeit und vergeht mit ihr, genauer: mit seinen Trägern. Wenn die Träger, die es verkörperten, gestorben sind, weicht es einem neuen Gedächtnis. 6
Demgegenüber stellt er das kulturelle Gedächtnis als Rückbezug einer Gesellschaft auf ihre Vergangenheit über externe Strukturen, die außerhalb einer biographischen Gedächtnisgemeinschaft liegen. Es dient der Ausbildung kultureller Identität und „sozialer Sinn- und Zeithorizonte“ 7. Dabei rückt Vergangenheit als „Reales“ in den Hintergrund; wichtig wird die aus der Gegenwart zurückprojizierte Bedeutung der Vergangenheit: „Das kulturelle Gedächtnis richtet sich auf Fixpunkte in der Verlassen. An den jeweiligen Orten in der Stadt sind Schilder angebracht, die auf die entsprechende Tonspur hinweisen. 5
Siehe Assmann 1992. Das Assmannsche Konzept eines „kulturellen Gedächtnisses“ ist vielfach kritisiert worden, nicht zuletzt weil bei dem von Assmann herausgestellten Gruppenbezug des kulturellen Gedächtnisses unklar bleibt, wie sich die Gemeinschaft eines kulturellen Gedächtnisses konstituiert und von anderen abgrenzt, und wie sich der singuläre Begriff des einen Gedächtnisses mit der Heterogenität innergesellschaftlicher Identitäts-, Sinn- und Lebensentwürfe vereinbaren ließe (siehe Jureit/Schneider 2010: 5476). Im vorliegenden Aufsatz wird der singuläre Begriff „kulturelles Gedächtnis“ als abstrakter Terminus für ein auf die Vergangenheit bezogenes, gesellschaftliches Identifikationsangebot verwendet, das die Möglichkeit der Ausbildung einer Vielzahl von Bezugnahmen auf die Vergangenheit und damit einhergehenden Identitätskonzepten miteinschließt.
6
Assmann 1992: 50.
7
Assmann 1992: 31.
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gangenheit“, so Assmann, „in ihm mag sich Vergangenheit nicht als solche zu erhalten. Vergangenheit gerinnt hier vielmehr zu symbolischen Figuren, an die sich Erinnerung heftet.“8 Solch symbolische „Erinnerungsfiguren“ 9 werden abhängig von der sich erinnernden Gemeinschaft in einem „Zusammenspiel von Begriffen und Erfahrungen“ rekonstruiert, das sich unter anderem an „räumliche Erinnerungsrahmen“10 knüpft. Der Anspruch der Stadt München, ein Denkmal des Holocaust zu schaffen, das sowohl der Zeitzeugengeneration wie auch deren Enkeln, der sogenannten ‚Handygeneration‘, als Bezugspunkt dienen kann, ist dem ‚Generationenwechsel‘ zur Jahrtausendwende geschuldet. Mit dem Ableben der letzten Zeitzeugen verändert sich der Modus der Erinnerung. Die zunehmende Errichtung von Erinnerungsorten über die letzten Jahrzehnte lässt sich somit als Ausdruck der Übergangsphase der „lebendigen Erinnerung“ der Zeitzeugen, dem kommunikativen Gedächtnis, zum sogenannten kulturellen Gedächtnis der Folgegenerationen verstehen. Auf die Spezifität dieser Zeitspanne, besonders in Hinblick auf die Entstehung von „lieux de mémoire“, hat auch der französische Historiker Pierre Nora in seinem Werk zur Gedächtnisgeschichte Frankreichs Zwischen Geschichte und Gedächtnis hingewiesen: Das Interesse an diesen Orten, an die sich das Gedächtnis lagert oder in die es sich zurückzieht, rührt von diesem besonderen Augenblick unserer Geschichte her. Wir erleben einen Augenblick des Übergangs, da das Bewußtsein eines Bruchs mit der Vergangenheit einhergeht mit dem Gefühl eines Abreißens des Gedächtnisses, zugleich aber ein Augenblick, da dies Abreißen noch soviel Gedächtnis freisetzt, daß sich die Frage nach dessen Verkörperung stellen läßt.11
Kollektives Gedächtnis, darauf weisen Assmann und Nora hin, ist in seiner kommunikativen Form immer an den Körper gebunden. Mit dem Altern und Sterben der Zeitzeugen, also dem Abnehmen des körperbasierten oder „verkörperten“ Gedächtnisses wird eine neue Formfindung der zu erinnernden Vergangenheit relevant. Die Frage Noras nach der „Verkörperung“ im „Augenblick des Abreißens des Gedächtnisses“ lässt sich so als Frage nach der Medialität von kulturellem Gedächtnis ver8
Assmann 1992: 52.
9
Assmann 1992: 37-42.
10 Assmann 1992: 38. Assmann reformuliert in diesem Kapitel Thesen aus Maurice Halbwachs: Les cadres sociaux de la mémoire (Halbwachs 1925). Während er den Begriff der „Erinnerungsfigur“ eindeutig als von ihm in Absetzung zu Halbwachs herausstellt, bleibt die Zuordnung der übrigen Ausführungen teilweise unklar. 11 Nora 1990: 11.
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stehen. Darüberhinaus mag sie in diesem Zusammenhang jedoch auch als Frage nach der Möglichkeit der Verkörperung von Gedächtnis im Sinne eines körperlichen Erfahrens von Vergangenheit und eines Körper-Werdens von Erinnerung verstanden werden. Mit Blick auf den Holocaust mag man dagegen jedoch einwenden, dass „[d]ie in den Leib gebrannte Erfahrung der absurden Sinnlosigkeit [....] sich, als Primärerfahrung, nicht in das Gedächtnis anderer oder in die Erinnerung nicht Betroffener übertragen [lässt]“, wie der Historiker Reinhart Koselleck formuliert.12 Die an die körperliche Existenz gebundene, einzigartige Erinnerung der leiblichen Erfahrung gilt in besonderem Maße für den Holocaust als extreme Terrorerfahrung der Opfer. Nicht nur der physische Schmerz, sondern auch „[d]ie Erfahrung der absurden Sinnlosigkeit“ ist den Opfern in den „Leib“ 13 eingeschrieben. Dieser „Primärerfahrung“ kann immer nur ein „secondary memory“ 14 der Unbeteiligten und Folgegenerationen gegenüberstehen, die sich aus Geschichtsschreibung und tradiertem Wissen speist, und die sich ihrem Ursprung nur mehr nähern kann.15 Aber auch „sekundäre Erinnerung“, d.h. auf die Vergangenheit bezogene Identitätskonstruktionen, konstituiert sich mitunter über leibliche Erfahrung: an Orten der Erinnerung, in Museen, an Denkmälern und bei Gedenkveranstaltungen. Die These, dass hier das Verhältnis einer Gesellschaft zu ihrer Vergangenheit nicht allein diskursiv, sondern über leibliche Präsenz und im Verhalten zum spezifischen Ort verhandelt wird und dass sich auf diese Weise sekundäres bzw. kulturelles Gedächtnis, das wesentlich von körperlicher Erfahrung mitbestimmt ist, und seine Gemeinschaft konstituiert, liegt diesem Aufsatz zugrunde. Das Projekt Stolpersteine des Bildhauers Gunter Demnig gehört, besonders in Hinblick auf Strategien zur Schaffung eines Erinnerungsraums und der „Verkörperung“ von Erinnerung, zu den kontroversesten Denkmal-Projekten des vergangenen Jahrzehnts. Der Kölner Künstler verlegt faustgroße, quadratische Messingplatten mit den Namen von Verfolgten und Ermordeten des nationalsozialistischen Regimes vor deren letztem freiwillig gewählten Wohnort. Auf den handflächen-großen Messingplatten sind die Eckdaten des Lebens jeweils einer Person eingestanzt: „Hier wohnte“, der Name, Geburtsdatum und -ort, falls vorhanden Informationen zu 12 Koselleck 2002: 21. 13 Maurice Merleau-Pontys Aufassung vom „Leib als Vehikel des Zur-Welt-seins“, als „Bedingung der Möglichkeit des Wahrnehmens“ an sich, die im Zitat Kosellecks anklingt, liegt diesem Artikel zugrunde (siehe Merleau-Ponty 1966: 106; V). 14 Vgl. LaCapra 1998: 8-42. 15 An dieser Stelle wäre auf die eigentlich unabdingbare Diskussion der Möglichkeit bzw. Notwendigkeit des Erinnerns an die Täter im Sinne einer integrativen Erinnerung, die nicht „opferidentifiziert“ (Jureit/Schneider 2010: 10) die Täter ausblendet einzugehen.
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Stationen wie z.B. „Zuchthaus Frankfurt“, dann Sterbedatum und -ort, sowie die Art des Todes: „ermordet“, „Flucht in den Tod“ – als Umschreibung für Selbstmord – oder einfach „tot“. Auf pflasterstein-große Betonquader montiert, werden die Messingplaketten ebenerdig in den Bürgersteig eingelassen. Zum gegenwärtigen Zeitpunkt sind über 30.000 solcher Stolpersteine in fast allen Städten Deutschlands sowie in einigen Ländern Europas, darunter Österreich, Italien, Ungarn und Holland, installiert worden. Fast täglich finden weitere Verlegungen in Deutschland und Europa statt.16 Das Erinnerungsprojekt bezieht seine Wirkmächtigkeit ganz bewusst durch den gewählten „Erinnerungsrahmen“ (Assmann). Es ist, im Gegensatz zu als singulär markierten und von den Alltagsorten einer Gesellschaft abgegrenzten HolocaustDenkmälern, dezentral über den europäischen Kontinent verbreitet und zeichnet somit ein Netz von „Erinnerungspunkten“, das sich über die Städte Deutschlands nach Österreich, Italien, Ungarn und weiter erstreckt. Diese Ausbreitung macht das Denkmal als Erinnerungsort nahezu immateriell, da sich, immer nur in Fragmenten wahrgenommen, seine Gesamtheit dem Auge und der Wahrnehmung des Betrachters entzieht. Es bietet, wenn man so mag, keinen Ort zum Verweilen, an dem sich die Erinnerung symbolisch verankern lässt, sondern bezieht das Vorübergehen als integrativen Bestandteil seiner Wirkungsabsicht in sein Werden als Erinnerungsort mit ein. Eben diese, auf die periphere Wahrnehmung des Passanten ausgerichtete Ästhetik, soll dem Erinnern dienen, wie der Künstler Gunter Demnig in seiner ersten Projektskizze im Ausstellungskatalog Größenwahn – Kunstprojekte für Europa schreibt: Vor […] bekannten und noch existierenden Häusern oder Adressen [von Opfern der Nationalsozialisten] wird ein Pflasterstein entnommen und durch einen Stolperstein ersetzt[...]. In diese kleine Tafel werden der Name der Person und das Datum der Deportation eingraviert. Der „Ersatzstein“ wird im Trottoir vor den Häusern so verlegt, daß die Bürger ihn nicht links liegen lassen können. Durch häufiges Begehen wird er immer wieder blank poliert und bleibt dadurch sichtbar und auffällig. […] Vielleicht können einzelne individuelle Mahnmale mehr bewirken als Denkmale, die zum Teil weit ab liegen. Vor der eigenen Haustür wird die Verdrängung schwieriger.17
Demnig benennt das „Trottoir“ und die „Häuser“, auf und vor denen die Stolpersteine verlegt werden, als Referenzpunkte seines Denkmalprojekts. Jede individuelle Messingplatte findet ihren konkreten Bezugspunkt in dem Haus, das als ehemaliger Wohnort der zu erinnernden Person zum unmittelbaren, räumlichen Referenten 16 Siehe hierzu die Angaben des Künstlers auf der Webseite www.stolpersteine.com [29.06.2012]. 17 Demnig 1993: 61.
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wird. In der Interdependenz des Monuments mit dem es umgebenden Raum behauptet sich das Denkmal nicht als unabhängiger, bedeutungsautonomer Ort, sondern bezieht seine Wirkmächtigkeit erst durch seine Rahmung im ihn umgebenden Raum. Folgt man der Soziologin Martina Löw, so besteht Raum jedoch nicht an und für sich, sondern entsteht erst durch die Platzierung und Anordnung einzelnen Elemente und die sie verknüpfende Wahrnehmung des Subjekts.18 Die Verlegung der Stolpersteine auf Straßen ist somit eine Form der Anordnung des Stadtraums, der darüber hinaus jedoch erst in der Wahrnehmung, in der „kinesischen Aneignung“19 durch das „Gehen in der Stadt“, das die einzelnen Elemente – Häuser, Straßen, Autos, Schilder, Stolpersteine – in ein sinnvolles Gefüge bringt, auch zum Erinnerungsraum wird. Erst durch Handlungsprozesse, d.h. durch das „Zusammenspiel von Erfahrungen“ und dem Ausbilden von „Begriffen“ – wie Assmann die prozessuale Entstehung kulturellen Gedächtnisses beschrieben hat20 – wird der Raum zu einem solchen und sinnhaft. Das Umgehen, Passieren und auch Betreten der Stolpersteine als Teil der aktiven Nutzung des alltäglichen Stadtraums lässt sich somit als konstitutiv für den Prozess des Erinnerns an sich verstehen. Die leibliche Wahrnehmung des gleichzeitigen Erinnerungs- und Stadtraums, wie sie schon, wenn auch nur metaphorisch, in der Bezeichnung Stolperstein angelegt ist, ist also wesentlicher Bestandteil des Denkmals. Die Stolpersteine lassen sich als Mahnmal verstehen, das sich einer Demokratisierung des kulturellen Gedächtnisses öffnet, indem die Wahrnehmung und Handlungen des Subjekts in die Ausbildung eines kulturellen Gedächtnisses miteinbezogen und anderen Autoritäten gleichgestellt wird. Der amerikanische Judaist James E. Young hat für Denkmäler dieser Art den Begriff des „Gegen-Monuments“ geprägt, die zum einen ein „profundes Mißtrauen gegen monumentale Formen“ demonstrieren und in ihrer Ästhetik auf die Unmöglichkeit der vollkommenen Integration des zu erinnernden Gegenstands in das kulturelle Gedächtnis der Gesellschaft verweisen. 21 Das Denkmal, das dem Gedächtnis als Anknüpfungspunkt dienen soll, erhebt sich nicht mehr – auch physisch gedacht – über den Betrachter. Durch das Betreten-Werden nimmt es die Möglichkeit seiner eigenen Verletzung in Kauf, um in Interaktion mit dem Passanten die Erinnerung auszuhandeln. So entsteht ein „performative piece“, wie James E. Young beispielhaft das Mahnmal gegen den Faschismus (1986) von Esther und Jochen Gerz beschreibt,
18 Siehe Löw 2001: 158-172. 19 De Certeau 1988: 188. 20 Siehe Assmann 1992: 38. 21 Young 1997: 49-84.
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that initiates a dynamic relationship between artists, work, and viewer, in which none emerges singularly dominant.[...] By inviting its own violation, the monument humbles itself in the eyes of beholders accustomed to maintaining a respectful, decorous distance. It forces viewers to desanctify the memorial, demystify it, and become its equal. [...] Ultimately, such a monument undermines its own authority by inviting and then incorporating the authority of the passersby.22
Wie essentiell der körperliche Aspekt für diese Form des Gedenkens ist, die die Integrität und Deutungshoheit des Denkmals, wörtlich und im übertragenen Sinne, zu Füßen des Betrachters legt, zeigt auch die Kritik, die die Stolpersteine hervorgerufen hat. Obwohl das seit über zehn Jahren andauernde Projekt breite öffentliche Zustimmung gefunden hat und vielerorts durch städtische Institutionen unterstützt und mitgetragen wird, wurde Demnig beispielsweise von der Stadt München bis heute keine Genehmigung für die Verlegung von Stolpersteinen erteilt. Hier wurde in der mehrere Jahre andauernde Diskussion um ein „würdiges Mahnmal“23 für die Opfer des Nationalsozialismus die Denkmal-Aktion von Oberbürgermeister Christian Ude mit der Begründung abgelehnt, dieses vornehmlich privat initiierte Projekt führe zu einer „Inflationierung der Gedenkstätten“.24 Er folgte damit der ehemaligen Präsidentin des Zentralrats der Juden und Vorsitzende der Israelitischen Kultusgemeinde München, Charlotte Knobloch, die das städtische Verbot des Projekts mit der Begründung forderte, es ermögliche, „dass Stiefel und Schuhe auf Namen von Opfern des Naziregimes herumtreten“, wobei es „andere Möglichkeiten geben sollte, sich derer zu erinnern, die zum großen Teil durch Stiefel und ähnliches gedemütigt und verletzt wurden.“25 Der Kritik Knoblochs folgend, die durchaus als berechtigt gelten mag, lässt sich fragen, inwiefern die handlungsführende Ästhetik des Denkmals auch konstitutiv für die ‚zu leistende‘ Erinnerung ist. Knoblochs Einwand zielt auf die konkrete Handlungsmöglichkeit des Denkmals ab. Ihre Ablehnung richtet sich gegen ein Denkmal, dessen Erinnerungs-Funktion sich in einer Handlung manifestiert, die für Knobloch in diesem Kontext Assoziationen mit Demütigungen und Gewaltakten der Nationalsozialisten hervorrufen. Das von 22 Young 1992: 279. Das von den Esther und Jochen Gerz selbst als „Gegendenkmal“ titulierte Mahnmal besteht aus einer quadratischen bleibeschichteten Säule im Hamburger Stadtteil Harburg, auf der Passanten mit angebrachten Griffeln ihren Namen symbolisch gegen Krieg und Faschismus setzen konnten. 23 Käppner 2008b. 24 Goebel 2004. An dieser Stelle soll nicht unerwähnt bleiben, dass das Denkmal als private Initiative, die nur teilweise von öffentlichen Stellen finanziert wird, auch in Hinsicht auf seinen sozio-politischen Kontext problematisch ist. 25 Siehe die Webseite der Initiative Stolpersteine für München e.V., http://alt.stolpersteinemuenchen.de/Chronik/chronik.htm; Eintrag vom 10.02.2004 [29.06.2012].
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Demnig bewusst gesetzte Begehen („herumtreten“) der gravierten Platten wird mit dem, in ihren Augen verfehlten, Erinnerungsprozess gleichgesetzt, wenn sie nach „anderen Möglichkeiten“ des Erinnerns fragt. Bei Ausbildung einer Gedächtnisgemeinschaft ist, wie eingangs mit Blick auf die Theorien Assmanns und Noras gezeigt, die Verkörperung von Erinnerung ein wesentlicher Bestandteil. So kann auch über kollektive Erfahrung sozialer Praktiken, wie eben alltägliches Gehen als Teil einer Bewusstwerdung der Vergangenheit, ein körperbasiertes secondary memory ausgebildet werden. Durch das Zusammenfallen der subjektivierenden sozialen Praktik des alltäglichen Gehens und der kulturellen Praktik des Bewusstmachens der Vergangenheit, wird die Gedächtnisgemeinschaft, die durch das Denkmal bestärkt werden soll, überhaupt erst hervorgebracht. Der Prozess der physischen Vergemeinschaftung von Erfahrung des Stadt- und Erinnerungsraums lässt sich auch als performative Hervorbringung eines durch soziale Praktiken bestimmten kulturellen Gedächtnisses verstehen.
L ITERATUR Assmann, Jan: Das kulturelle Gedächtnis: Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen. München: Beck 1992. De Certeau, Michel: Kunst des Handelns. Berlin: Merve 1988. Demnig, Gunter: „Projekt Stolperstein“, in: Lindinger, Gabriele/Schmid, Karlheinz: (Hg.): Größenwahn: Kunstprojekte für Europa. Regensburg: Lindinger + Schmid 1993. Gessler, Philipp: „Wer gedenkt am besten?“, in: taz.de (28.06.2008). www.taz.de/ !19361/ [29.06.2012]. Goebel, Anne: „Neue Diskussion über die ‚Stolpersteine‘“, in: Süddeutsche.de (13.06.2004). www.sueddeutsche.de/muenchen/opfer-des-ns-terrors-neue-dis kussion-ueber-die-stolpersteine-1.677117 [29.06.2012]. Halbwachs, Maurice: Les cadres sociaux de la mémoire. Paris: F. Alcan 1925. Jureit, Ulrike/Schneider, Christian: Gefühlte Opfer. Illusionen der Vergangenheitsbewältigung. Stuttgart: Klett-Cotta 2010. Käppner, Joachim: „Holocaust-Gedenken per Handy“, in: Süddeutsche.de (24.09.2008a). www.sueddeutsche.de/muenchen/647/311568/text/ [29.06.2012]. Käppner, Joachim: „‚Wir brauchen ein würdiges Denkmal‘. Interview mit Christian Ude“, in: Süddeutsche.de (20.10.2008b). www.sueddeutsche.de/muenchen/ 801/314697/text/ [29.06.2012]. Koselleck, Reinhart: „Formen und Traditionen des negativen Gedächtnisses“, in: Knigge, Volkhard/Frei, Norbert (Hg.): Verbrechen erinnern: Die Auseinandersetzung mit Holocaust und Völkermord. München: C.H. Beck 2002, 21-32.
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LaCapra, Dominic: History and Memory after Auschwitz. New York: Cornell University Press 1998. Löw, Martina: Raumsoziologie. Frankfurt am Main: Suhrkamp 2001. Merleau-Ponty, Maurice: Phänomenologie der Wahrnehmung. Berlin: De Gruyter 1966. Nora, Pierre: Zwischen Geschichte und Gedächtnis. Berlin: Wagenbach 1990. Young, James E.: „The Counter-Monument: Memory against Itself in Germany Today“, in: Critical Inquiry 18, 2 (Winter, 1992), 267-296. Young, James E.: Formen des Erinnerns: Gedenkstätten des Holocaust. Wien: Passagen 1997.
Subjekte des Hörens, Subjekt der Geschichte Kanada und die Audiowalks von Cardiff/Miller S ABINE K IM
Aus einem Fernseher im Stil der fünfziger Jahre, auf Beinen stehend und hinter einem Teppich aus Bärenfell aufgebaut, klingt eine dünne, unsichere Stimme, die die kanadische Nationalhymne singt. Der fragmentarische Loop von O Canada fordert von den Zuschauern Aufmerksamkeit, während er den patriotischen Imperativ zugleich unterbricht und verhindert, dass man ihn ganz ernst nehmen kann. Bei näherer Betrachtung entpuppt sich der ‚Teppich‘ als Holzsägearbeit in Form eines Bärenfells mit lackierten Krallen. Von Zeit zu Zeit wird die kanadische Nationalhymne, die der Fernseher ausstrahlt, von einem Dialog unterbrochen, der nach Hollywoodromanze klingt: zwei Menschen erklären sich ihre unsterbliche Liebe und Hingabe. Auch dieser Dialog ist ein Loop, so dass Anfang und Ende schwer zu bestimmen sind. Auf subtile Weise unterstreicht die Form des Loops das übersteigerte Gefühl und dessen allgegenwärtige Vertrautheit aus Medien- und Popkultur. Die Dramaturgie der romantischen Liebe folgt der Aufstieg-Fall-Aufstieg-Bewegung des Werbefernsehens, das in ähnlicher Weise nach Aufmerksamkeit verlangt und die Zuschauer im Sinne der Althusserschen „Interpellation“ als Subjekte bestimmt.1 Auch der Fernseher entpuppt sich als nicht ganz so bzw. auf andere Weise rustikal als es zunächst scheinen mag. Das TV-Gerät ist aus Sperrholz mit ausgeschnittener Vorderseite (siehe Abb. 1), so dass eine Miniatur-Bühne oder eine Art Diorama entsteht: Gezeigt wird eine Naturszene, die aus einer Birke und einem nicht richtig zu erkennenden, vernebelten Wasserfall in der Entfernung zu bestehen scheint. Wer näher hinschaut, bemerkt, dass blinkende Weihnachtslichter hinter einer Leinwand die pulsierende Wirkung fließenden Wassers erzeugen. Wie die Zersplitterung von Dialog/Hymne den Eindruck erweckt, dass irgendetwas nicht ganz stimmt, betonen die radikal verkürzte Perspektive und das viel zu regelmäßig
1
Vgl. Althusser 1972.
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‚fließende‘ Wasser die etwas bizarre Natur der Szene. Es ist weniger die Konstruiertheit der Opposition von Natur und Kultur, auf die hier verwiesen wird, als die Bereitschaft, mit der wir Zuschauer auf diese Impulse (‚malerische Natur‘, ‚Heimatgefühl‘, ‚echte Liebe‘) reagieren, und ihren leeren Inhalt mit narrativen Readymades auffüllen. Die Installation – „The Waterfall“ aus der Ausstellung Another Fiction (1987) des kanadischen Künstlerpaars Janet Cardiff und George Bures Miller – könnte eine Referenz auf den sogenannten ‚recreation room‘ in Häusern der nordamerikanischen Mittelschicht sein, eine Art Hobbykeller, der als idealisierter Ort fungiert, in den sich die Familie Sonntag abends zurückzieht, um gemeinsam fernzusehen und in einer Geste der Pseudo-Solidarität vermeintlich zueinander zu finden. Doch auch hier gilt, was der Kunstkritiker Ralph Rugoff im Gespräch mit Janet Cardiff über eines ihrer Kunstwerke angemerkt hat: „the piece has got quotation marks around it“.2 Trotz dieser Anführungszeichen gibt es eine gewisse Lust im Wiedererkennen. Die grobe Maserung des Holzes, der altmodische Fernseher, der auf dem Boden ausgebreitete Teppich und nicht zuletzt die zwei Soundclips sind auf ihre eigene Weise ikonisch. Sie sind tröstlich vertraut als klischeebeladene Zitate des Alltäglichen und verankert in der Konsum- und Medienkultur des nordamerikanischen Kapitalismus. Vielleicht ist der Bär, auf den man ohne Angst treten kann, und der ein vor Tierquälerei (relativ) geschütztes Produkt darstellt, in diesem Sinn beruhigend.
Abbildung 1: „The Waterfall“ aus Another Fiction (1987).
2
Rugoff zit. nach Biagioli 2000: 12.
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So nah zusammengerückt scheinen die Symbole des ‚rauen‘ kanadischen Lebens, als ‚Naturprodukte‘ aus Holz der Wildnis kaum entsprungen, einander auf faszinierende Weise zu kommentieren. Gibt es, so scheinen sie zu fragen, einen Wettbewerb darum, was als das dominante Symbol für ‚Kanada‘ gelten darf: der Wasserfall als eine Szene unberührter Natur, die Nationalhymne oder doch das Bärenfell? An den Wänden des ‚recreation rooms‘ hängen noch mehr Szenen eines hyperrealistischen Lebens an der Grenze zur Wildnis: ‚Drucke‘, die auf Touristenpostkarten basieren und jetzt in Sperrholz geschnitten sind, mit Titeln wie One of several picturesque waterfalls along the west coast of British Columbia und A mountain sheep contemplates the panorama of sky, mountains, rivers and verdent [sic] forest, surrounding Vancouver in beautiful western Canada. Intermedialität ist im Spiel: „[T]he rough-hewn frames“, schreibt Liz Wylie über die Ausstellung, „[...] immediately give the viewer a sense they might refer to something other than the nature images they contain“.3 Die Szenen entstehen im Zusammenspiel von Titel, Bilderrahmen und Rahmen der Ausstellung (Another Fiction) sowie in der konzeptuellen Bewegung zwischen diesen Instanzen. Durch ihre Remediation wird die Postkarte zum Untersuchungsinstrument für Medienbilder: In einer medial gesättigten Gesellschaft vermitteln sie nicht einfach Darstellungen der Natur, sondern prägen die Begegnung mit dem Dargestellten. Cardiff und Miller zitieren Touristenpostkarten als die Art und Weise, in der sich Menschen auf Berge, Wälder und wilde Tiere beziehen: „Cardiff is noting here the sentimental wish to remove the less pleasant, instrumental field of relations that exist ‚out there‘, to register dynamic patterns (predatory, symbiotic, etc.) as static scenes.“4 Was bei der Rezeption von Cardiff/Miller oft übersehen wird, ist die selbstreflexive Rolle, die ‚Kanada‘ und das ‚Kanadische‘ in ihren Arbeiten spielen. Nation und Nationalismus werden jedoch nicht als Geste des Fahnenschwenkens evoziert, sondern strategisch verwendet – wie die klischeehaften Landschaftsszenen in Another Fiction –, um unsere Aufmerksamkeit auf den Akt der Wahrnehmung und dessen Verstrickung in eine (immer schon) medial vermittelte Subjektivität zu lenken. Als Alltagsmythos ist ‚Kanada‘ der schneebedeckte Raum nördlich der Grenze zur USA, in dem die britischen Kolonialisten den Krieg gegen die ‚abtrünnigen‘ Amerikaner gewonnen haben, die Menschen ein unauffälliges Leben führen, Eishockey spielen und stolz auf ihre bürgerlichen Tugenden wie Höflichkeit und Recht und Ordnung sind. In ihren Arbeiten verwenden Cardiff und Miller die selbstreflexiven Verweise auf ‚Kanada‘ und das ‚Kanadische‘ jedoch als eine Möglichkeit über kulturelle Nachträglichkeit und technologische Nostalgie zu reflektieren. Im Folgenden möchte ich argumentieren, dass dies eine subtile Antwort auf eine Konstellation von Ideen über ‚Kanada‘ ist, nämlich erstens, dass Kanada als außer3
Wylie 1987: o.S.
4
McGrath 1987: 37.
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historischer Raum existiere; und zweitens, dass Kanada von einer Nation im Modus des „Self-Fashioning“ aus dem 19. Jahrhundert direkt in die Postmoderne gesprungen sei, unter Umgehung der Moderne.5
K ANADISCHE S UBJEKTE UND DAS DER M ODERNE
S PEKTAKEL
In seinem Aufsatz „Spectacle, Attention, Counter-Memory“ (1989) untersucht Jonathan Crary eine potentielle Vorgeschichte der Gesellschaft des Spektakels – als Verbindung von Massenmedien, Konsumkapitalismus und Kulturindustrie –, die bis ins 19. Jahrhundert zurückreicht. Für Debord, auf den sich Crary beruft, ist Spektakel keine Ansammlung von Bildern, sondern eine durch Bilder mediatisierte soziale Beziehung zwischen Menschen.6 Die von Crary beschriebene Vorgeschichte drückt sich in einer Transformation des bürgerlichen Subjekts zum Konsumenten aus, deren Praktiken an den Diskurs der Rights of Man anschließen. Crary zitiert Walter Benjamin und Jean Baudrillard, für die ideologische Kräfte hinter den Rechten auf Gleichheit und Glück stehen; die „Phantasmagorie der Gleichheit“ (Benjamin) werde durch fortschreitende Kommodifizierung erzeugt, und Glück zum ersten Mal als etwas begriffen, das an Zeichen und Objekten „messbar“ sein müsse (Baudrillard).7 Crary argumentiert, dass sich die moderne Subjektivität parallel zu diesem Wandel des Bürgers in einen Besitzer von Gegenständen und Zeichen des Wohlstands, der Freizeit und des Glücks entwickle, wie T.J. Clark in der Einleitung zu The Painting of Modern Life vorschlägt: If one agrees with Clark, not only do the origins of modernism and the spectacle coincide, but the two are inextricably related. Writing about the 1860s and ’70s, Clark uses the spectacle to explain the embeddedness of Manet’s art within a newly emerging social and economic configuration. This society of the spectacle, he writes, is bound up in „a massive internal extension of the capitalist market – the invasion and restructuring of whole areas of free time, private life, leisure and personal expression.... It indicates a new phase of commodity production – the marketing, the making-into-commodities of whole areas of social practice which had once been referred to casually as everyday life.“8
Demzufolge lässt sich die Moderne nicht als Befreiung von der Exklusivität und Unveränderlichkeit der sozialen Stellung und sozialen Macht im Feudalismus ver-
5
Vgl. Frye 2003. Zum Begriff des „Self-Fashioning“ vgl. Greenblatt 1980.
6
Siehe Debord 1992: 16.
7
Baudrillard und Benjamin zit. nach Crary 1989: 98.
8
Crary 1989: 99; Auslassungen von Crary.
S UBJEKTE DES HÖRENS , S UBJEKT DER GESCHICHTE | 387
stehen, sondern als unlösbar in den Kampf gegen diese verstrickt; daher die Proliferation von Zeichen und Objekten in der Moderne: „Imitations, copies, counterfeits are all challenges to that exclusivity.“9 Wie ich argumentieren möchte, besitzen Kopie und Fälschung einen leicht anderen Status im kanadischen Kontext. Einerseits wurde die Moderne über den Kolonialismus zunächst der Franzosen, dann der Briten erreicht, weshalb die zu imitierende Sozialmacht außerhalb der Kolonie lag. Deshalb kommt dem kulturellen Kopieren in diesem kolonialen Kontext immer schon eine gewisse selbstreflexive und metatheatrale Qualität zu. Das „Self-Fashioning“ der kanadischen Nation wurde zunächst als Ausbildung imperialer Subjekte im Sinne ‚aufrechter christlicher Seelen‘ betrieben. Klarstes Beispiel hierfür ist die brutale und bösartige ‚Erziehung‘ von First Nations-Kindern in sogenannten Indian Residential Schools. Andererseits enthüllt die Praxis des Kopierens eine Lücke der Subjektivität, die sich nicht schließen lässt: so wie die ‚Authentizität‘ des kanadischen Subjekts darin bestand, möglichst perfekt die Engländer nachzuahmen, waren die ‚authentischsten‘ Engländer in Kanada Schotten, da sich diese als die besseren Performer von ‚Englishness‘ erwiesen und so zahlreiche Führungspositionen im Staat einnehmen konnten.10 Am wichtigsten jedoch ist, dass Geschichte in Kanada als etwas behandelt wird, das anderswo geschieht oder geschehen ist. Eine solche Haltung findet sich z.B. in der Aussage Stephen Harpers, der als Premierminister von Kanada 2008 gegenüber der internationalen Presse behauptete, dass Kanada keine Kolonialgeschichte habe, und der damit den postkolonialen Raum der First Nations in der Öffentlichkeit ausblendete. In der Einleitung zu Imperial Eyes: Travel Writing and Transculturation, einem Standardwerk der postcolonial studies, beschreibt Mary Louise Pratt die weitreichende Prägung Kanadas durch das britische Empire. Als Kind, das in einer Kleinstadt in Ontario aufwächst, hört Pratt von dem berühmten Engländer Dr. Livingstone und seinen Reisen als Missionar nach Afrika; doch seine ‚Britishness‘ und seine Leistungen rücken ihn in so weite Ferne, dass Pratt eher skeptisch auf Gerüchte reagiert, er habe etwas mit Kanada zu tun. Diese Skepsis ist Symptom eines kulturellen Unbewussten, das Pratt in ihrer Erzählung über den lokalen Apotheker Dr. Livingstone, einen Neffen des berühmten Engländers, wie folgt zusammenfasst: It was through Dr. Livingstone, for example, that I was introduced to the miracles of the dribble glass, the squirt ring, the Chinese handcuff, the phony pack of Juicy Fruit gum that snapped down on your finger, and, around 1955, a horrifying new item Dr. Livingstone secretly sold my older brother and his friend: plastic vomit. I was therefore unsure if he really meant it the day he produced a discolored sheet of faded writing in a frame and said it was a letter written by a great uncle of his who had been a famous missionary in Africa. Only after 9
Crary 1989: 98.
10 Siehe Coleman 2006: 81-125.
388 | S ABINE K IM consulting at Sunday School with Miss Roxie Ellis, herself a former missionary, did I take the story for true. „Our“ Dr. Livingstone was a grand nephew of the „real“ Dr. Livingstone in Africa. Canada was still colonial in the 1950s: reality and history were somewhere else, embodied in British men.11
Zu Recht fokussieren Cardiff/Miller in „The Waterfall“ das Fernsehen als kulturelle Praxis mit erheblichem Einfluss auf nationale Identitätsbehauptungen und Narrative kanadischer Subjektivität: 1952 beginnt der öffentlich-rechtliche landesweite Sender CBC, Fernsehprogramme auszustrahlen, um der vermeintlichen Dominanz amerikanischer Medien etwas entgegenzusetzen, mit einer Sendepolitik, die explizit aus pädagogisch wertvollen, familienfreundlichen und ‚hochkulturellen‘ Programmen bestehen sollte, um Kanada vor „the symbolic powers attached to American formulations of the modern, the free, and the fun“12 zu schützen. Wenn Radio, wie Jody Berland schreibt, Räume neu bestimmt und Zeit restrukturiert, trifft das auch auf Fernsehen zu: „[It] both joins people together and reaches them where they are lonely, which may be why it was embraced by Canadians so vigorously from the beginning. Its centrality is clearly related to the geographic scale of the country.“13 Obwohl Fernsehen und Radio in den neueren Kunstwerken von Cardiff/Miller nicht oft thematisiert werden, tauchen andere Technologien, die Distanzen verringern und/oder Zeitstrukturen ändern – z.B. Telefon, Anrufbeantworter, Videokamera und Grammofon – in deren Audiowalks und Klanginstallationen häufig auf. Bei der Analyse der Audiowalks, für die ich später zwei Beispiele gebe, ist es wichtig, die Frage danach, wie Aufnahme und Wiedergabe das Zeit- und Raumgefühl ändern, im Kontext von Pratts Argument über das kanadische Imaginäre zu stellen: dieses konstruiere Geschichte auf eine Art und Weise, die es schwierig mache, ‚Geschichte in der Gegenwart‘ als ‚reales‘ Hier und Jetzt zu begreifen. Zum einen hat dieses Konzept einer Geschichte, die sich entzieht, viel damit zu tun, was Crary über die Techniken des Betrachters schreibt, und zwar insofern, als Cardiff/Miller in gewisser Weise mit dem dérive situationniste experimentieren. Auf diese Weise verhandeln sie den Typus zerstreuter Aufmerksamkeit, der im 19. Jahrhundert wesentlich wurde, um Individuen als disziplinierte Subjekte neu zu erzeugen. Wie Crary argumentiert, rückten die Sinne ins Zentrum der Selbstkontrolle als Ergebnis von Rationalisierungs- und Modernisierungsprozessen, die sich auf neue Konzepte der Subjektkonstitution stützten. 14 Zum anderen wird die vermeintliche Verschiebung von Geschichte und die Idee, dass ‚jetzt‘ etwas passiert, in den Audiowalks von Cardiff/Miller am stärksten untersucht, wo sie mit dem deiktischen 11 Pratt 1992: 1. 12 Berland 1993: 214. 13 Berland 1993: 215. 14 Vgl. Crary 1990: 1-24.
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‚Hier und Jetzt‘ spielen. In einem Aufsatz über Deixis und Origo untersucht Robin Curtis, wie Kino ein immersives Zeit- und Raumgefühl herstellen kann, indem es die Orientierung des verkörperten Subjekts an das filmische ‚Hier und Jetzt‘ übergibt. Curtis’ Ausgangsthese ist, dass Film performativ sei: daraus entsteht die Frage, wie sich die Kopräsenz vielfältiger Zeiten und Räume definieren lässt. Curtis behandelt einen Kurzfilm aus den 1890er Jahren, Dickson’s Experimental Sound Film. Der 15-Sekunden-Streifen zeigt den Filmemacher W.K.L. Dickson, der ins Horn eines aufnehmenden Grammofons Geige spielt, während zwei Männer zu der Musik Walzer tanzen. Die affektive Kraft des historischen Filmmaterials entstehe, so Curtis, aus seiner Anomalität: Gedreht lange vor dem ersten kommerziellen Tonfilm (The Jazz Singer, 1927) und getrennt von der Tonspur auf dem Wachszylinder aufbewahrt – erst im Jahr 2000 hat der Sound Designer Walter Murch Bild und Ton neu synchronisiert –, scheint der Film sich seiner eigenen Historizität zu entziehen. Curtis schreibt: „[It] offers synch-sound, when it should, ostensibly, be silent.“15 Wie unwahrscheinlich die Synchronizität von Bild und Ton nach so langer Zeit ist, drückt Murch aus: „It was very moving, when the sound finally fell into synch: the scratchiness of the image and the sound dissolved away and you felt the immediate presence of these young men playing around with a fast-emerging technology.“ 16 Als Stummfilm eingestuft, als „Film aus der Vergangenheit“ aufgrund des Schwarzweiß-Bildes, sollte der Film wegen seiner obsoleten Technologie eigentlich an den historischen Moment seiner Produktion gebunden sein, doch Dickson’s Experimental Sound Film unterstreicht unseren selbstreflexiven Blick bzw. unsere doppelte Wahrnehmung: mit unserem Wissen über die Filmgeschichte sind wir plötzlich mit einem Film konfrontiert, der eigentlich nicht existieren kann, und uns deshalb das Gefühl gibt, aus unserer Zeit zu sein. Eine Medientheorie, wie Curtis sie verfolgt, geht davon aus, dass „media are constituted by means of the practices in which they are implemented.“ Deshalb sei es nicht möglich, „to arrive at a definition of the term ‚medium‘ by simply sorting the world into things that may be termed ‚media’ and those that are ‚non-media‘. Instead it is essential to recognize that anything at all may become a ‚medium‘ by being used as one.“17 Grob gesagt sind Medien Interaktionsprozesse, deren Historizität darin besteht, dass die Art und Weise, in der wir sie verwenden, bewusste und selbstreflexive Versuche sind, etwas, das in Zeit und Raum verloren scheint, wieder in den Rahmen des Wahrnehmbaren zu bringen.
15 Curtis 2007: 266. 16 Zit. nach Curtis 2007: 256. 17 Curtis 2007: 257.
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V ON L OUISIANA BIS O AKVILLE : J ENSEITS
DER
O RTE
Ich möchte kurz zwei Audiowalks von Cardiff/Miller untersuchen: Louisiana Walk, das 1996 für das Louisiana Museum in Humlebæk, Dänemark produziert wurde, und A Large Slow River (2000), eine Arbeit für die Oakville Galleries im kanadischen Oakville, Ontario. A Large Slow River ist einer der wenigen Audiowalks, der in Kanada stattfindet. Der Titel verweist auf ein Buch, das im Walk Experiments with Time genannt wird und die Idee von Zeitreisen sowie die Möglichkeit, an mehreren Plätzen gleichzeitig zu sein, untersucht – inklusive aller damit verbundenen Probleme wie Gedächtnislücken und epistemologische Ungewissheiten über den Zeitraum oder die Realität, in der man sich befindet. Die Struktur des Walks spiegelt dieses Thema. Er beginnt mit dem, was wir Teilnehmer für die Gegenwart halten, mit dem Klang von Schritten und den Geräuschen einer Frau, die durch ein hallendes Haus läuft, scheinbar auf der Suche nach jemandem. Zugleich hören wir jedoch, was wie die Nachricht auf einem Anrufbeantworter klingt, aufgenommen von einem Mann, der die Frau zu hören scheint, ihr aber nicht antworten kann. Diese zweite Stimme sorgt in mehrerer Hinsicht für eine Unterbrechung des Erzählung: in ihrer Klangqualität, die ganz offensichtlich darauf verweist, dass sie aufgenommen ist; in unserer Schwierigkeit, sie zeitlich einzuordnen (wenn er die Frau jetzt hören kann, wann hat er die Nachricht hinterlassen?); in der Ungewissheit, wer der Adressat ist (richtet er sich an uns, die individuellen Hörer-Geher?); und schließlich, mit den Worten „I can hear her calling but I can’t seem to make a sound“, in der intertextuellen Referenz auf die frühe Cardiff/Miller-Installation An Inability to Make a Sound. Wenn der Walk draußen weitergeht, verweist die Frau auf die Schönheit des Skulpturengartens der Kunstgalerie. Es wird zunehmend unklar, ob sich die Frau, die die Erzählerin ist, deren Schritten wir folgen und auf deren Atmen wir uns einstellen, damit wir nicht verloren gehen, überhaupt in der gleichen Gegenwart befindet, denn sie macht uns auf Veränderungen in der Landschaft aufmerksam, die nicht das Geringste mit dem zu tun haben, was wir sehen. Wir sehen nicht das zerstörte Haus, das sie beschreibt, nicht die Graffitis auf den Statuen; doch wenn die Frau sagt „Something’s wrong“ und uns den Befehl gibt, anzuhalten, sind wir wieder verbunden, denn das Geräusch eines Helikopters über unserem Kopf und das Geräusch von Bomben, die neben uns einschlagen, hat sehr deutlich damit zu tun, dass ‚etwas schief läuft‘. Später wird der Mann (jetzt nicht mehr auf dem Anrufbeantworter) von Flucht erzählen, von einer Hütte, die niederbrennt, vom Tod seiner Brüder. Diese Ereignisse werden niemals in einer solchen Eindeutigkeit klar, dass wir wüssten, wer genau was wann getan oder gesagt hat; aber als Hörer-Geher werden wir zu Zeugen dafür, dass etwas passiert ist. Die Schwierigkeit, „richtig“ und „vorsichtig“ zu laufen – „Careful, they’re small steps“, sagt die Erzählerin –, wird dadurch verstärkt, dass unsere Sinne danach streben, das Gesehene, den Klang, den
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Soundtrack, die Erzählzeit, die erzählte Zeit, die Laufzeit, den „realen“ und den „fiktiven“ Körper zusammenzubringen. Am Ende funktionieren unsere Sinne leicht anders, wir sehen und hören anders. Louisiana Walk setzt ähnliche Strategien ein, um durch Desorientierung und die tendenzielle Auflösung der Grenzen zwischen Subjektivem und Objektivem zu suggerieren, dass etwas geschehen sei (oder noch geschieht), das wir nicht wahrnehmen können oder nicht wahrnehmen wollen. Thematisch scheint Louisiana Walk narrative Fäden zu spinnen, die in A Large Slow River aufgegriffen werden, als ob der eine Walk zum anderen zurückkehren wolle. Die Frau, die zu Beginn des Oakville Walks durch das verlassene Haus läuft, wird in Dänemark durch die Erzählerin bereits evoziert; sie treffen sich im imaginären Raum der Aufnahme: „While you’re here, listening to my voice, I’m lying in my bed in Canada, dreaming my dreams of wandering through empty houses and down long hallways.“ Der größte Unterschied zwischen den beiden Audiowalks betrifft die Rolle der Zuschauer/Zuhörer. Auch wenn die Erzählerin die niemals genau erzählte Gewalt in A Large Slow River scheinbar ausblendet, sind wir ihre Komplizen und gezwungen, Zeugen zu werden, wenn der Mann am Ende beschreibt, wie seine Brüder in einem Feuer umgekommen seien, ganz nahe an und für unsere(n) Ohren. Die Raumgeographie jüngerer Cardiff/Miller-Arbeiten kann, so Carolyn Christov-Bakargiev, als Referenz auf die Proliferation von Angst, Gewalt, Unterdrückung, Folter und Krieg in dieser angeblichen Zeit der Menschenrechte und der politischen Gerechtigkeit verstanden werden; in einer Welt, die gekennzeichnet ist durch „disjunctive flows […] of mass migrations and diaspora, on the one hand, and the flows of electronic mediation, on the other. […] A radical uncertainty about key social identities in today’s world results in extreme violence while borders are obscure and contested and a sense of secure locations for daily life vanishes.“18 Vor diesem Hintergrund ist die ‚Bombardierung‘ von Oakville in A Large Slow River (in einem Land, in dem es niemals eine militärische Invasion gab) eine notwendige Schocktaktik, um mit der Frage umzugehen, was im Moment passiert, hier und jetzt. Cardiff/Millers komplexe Ausführungen – über Trauma, Staatsgewalt und die Interpellation von Subjekten als zufällige Zeugen geschichtlicher Ereignisse – lassen sich so auch auf Alain Badious Konzeptualisierung des politischen Ereignisses als ‚Bruch‘ beziehen. Für Badiou kann die absolute Singularität des Geschehens keinem staatlichen Zweck untergeordnet werden. In diesem Sinn ist das Ereignis das, dessen Wahrheit nur im Nachhinein zu begreifen ist, als eine Form von Wissen statt als Prinzip. Vor allem aber wird diese Wahrheit von den beteiligten Akteuren, nicht den Zuschauern vermittelt. 19 Die Ungewissheit des Ereignisses in den Audiowalks von Cardiff/Miller – zu hören, was man nicht sieht – spricht von der 18 Christov-Bakargiev 2009: 22. 19 Siehe Badiou 2005: 21-24.
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Notwendigkeit, die Gegenwart anders zu (be-)greifen. Letztlich sind die Anführungszeichen, die den Wasserfall-Fernseher im gemütlichen ‚recreation room‘ der Familie hervorgehoben haben, der Beginn eines langen Aushandlungsprozesses mit dem Ziel, wahrnehmbar zu machen, wie die Subjekte des Hörens und das Subjekt der Geschichte miteinander verstrickt sind.
L ITERATUR Althusser, Louis: Lenin and Philosophy, and Other Essays. New York: Monthly Review Press 1972. Badiou, Alain: Metapolitics [orig. 1998]. London: New Left Books 2005. Berland, Jody: „Contradicting Media: Toward a Political Phenomenology of Listening“, in: Strauss, Neil (Hg.): Radiotext(e). New York: Semiotext(e) 1993, 209217. Biagioli, Monica: „Janet Cardiff: The Missing Voice“, in: Artfocus (Winter/Spring 2000), 12-14. Christov-Bakargiev, Carolyn: „The Murder of Crows“, in: Buschmann, Ingrid/ Knapstein, Gabriele (Hg.): The Murder of Crows. Berlin: Nationalgalerie 2009, 16-25. Coleman, Daniel: White Civility. The Literary Project of English Canada. Toronto: University of Toronto Press 2006. Crary, Jonathan: „Spectacle, Attention, Counter-Memory“, in: October 50 (1989), 96-107. Crary, Jonathan: Techniques of the Observer. On Vision and Modernity in the 19th Century. Cambridge: MIT Press 1990. Curtis, Robin: „Deixis and the Origo of Time-based Media: Blurring the ‚here and now‘ from the Dickson Experimental Sound Film of 1894 to Janet Cardiff’s Installation Ghost Machine“, in: Lechtermann, Christina et al. (Hg.): Möglichkeitsräume. Zur Performativität von sensorischer Wahrnehmung. Berlin: Schmidt 2007, 255-266. Debord, Guy: La Societé du Spectacle [orig. 1967]. Paris: Gallimard 1992. Greenblatt, Stephen: Renaissance Self-Fashioning. From More to Shakespeare. Chicago: University of Chicago Press 1990. Frye, Northrop: Northrop Frye on Canada. Toronto: University of Toronto Press 2003. McGrath, Jerry: „Janet Cardiff – Glendon Gallery“, in: Vanguard 8 (1987), 37. Pratt, Mary Louise: Imperial Eyes. Travel Writing and Transculturation. London/ New York: Routledge 1992. Wylie, Liz: Another Fiction. Toronto: Glendon Art Gallery 1987.
Subjektivation und Theatralität
Die Körper der Charlotte Ackermann BEATE HOCHHOLDINGER -REITERER
Als im Mai 1775 die Schauspielerin Charlotte Ackermann im 18. Lebensjahr unerwartet stirbt, löst ihr Tod eine bis dahin noch nie da gewesene, medial gestützte Massenhysterie beim Hamburger Publikum aus.1 Die Schauspielerin wird „wie eine Heilige betrauert, wie eine wichtige Persönlichkeit geehrt, ihr Tod wird wie ein Gesamtkunstwerk zelebriert“2. An ihrer Beisetzung sollen Tausende von Menschen teilgenommen haben. Um die Todesursache ranken sich sogleich zahlreiche Gerüchte. So wird neben Spekulationen über Mord oder Selbstmord sehr früh bereits eine Mitschuld des Halbbruders Friedrich Ludwig Schröder an ihrem Tod behauptet. Das Gerücht sei von einem Feind der Theaterfamilie Ackermann-Schröder, dem Publizisten Albrecht Wittenberg, gestreut worden. Nach der im Theater für Charlotte Ackermann abgehaltenen Totenfeier, bei der der Schauspieler Hieronymus Brockmann eine Gedächtnisrede hält, sei nicht mehr gespielt worden, „weil das aufgebrachte Publicum Schröder mit öffentlicher Beschimpfung drohte. Wenige Tage später reiste die Gesellschaft nach Lübeck“.3 Charlotte Ackermann habe, so lautet eine der kolportierten Varianten, von ihrem Bruder „wegen eines zu freien Costüms in einem Ballete eine Ohrfeige“ 4 erhalten. Eine andere, Schröder selbst zugeschriebene Variante wird in den Denkwürdigkeiten des Schauspielers, Schauspieldichters und Schauspieldirectors Friedrich Ludwig Schmidt (1772-1841) zitiert:
1 2 3 4
Siehe Emde 1997: 312. Emde 1997: 324. Uhde 1875, Bd. 1: 256-257. Uhde 1875, Bd. 1: 224.
396 | B EATE H OCHHOLDINGER -REITERER Ihr Tod hat mir vielen Kummer gemacht; man maß mir die Ursache desselben bei. Ich hatte damals die Arrangements der Ballete und eben den ‚Fassbinder‘ einstudirt. Charlotte tanzte meine Frau. Da ich der Arbeit zu viel hatte, so konnte ich mich um alle Details nicht immer bekümmern; so schrieb ich z. B. das Kostüm vor und erwartete nun am Abend die Personen in den von mir bestimmten Kleidern. Wie erschrak ich daher, als ich auf die Bühne kam und meine Schwester als arkadische Schäferin kostümirt fand! Ich machte ihr heftige Vorwürfe. ‚Wie soll ich mich denn kleiden?‘ fragte sie. ‚Nach der Vorschrift!‘ gab ich ihr zur Antwort. Bei der Wiederholung des Ballets war sie nun zwar anders gekleidet, aber ein so kurzer Rock umgab ihre Kniee, daß ich mich abermals darüber ärgerte.
5
Die Aufregung wegen eines in Aussicht gestellten Verweises durch die Mutter Sophie Ackermann, der fatale Trunk eines Glases Wasser sowie die Abkühlung, die Charlotte Ackermann „mit nackten Schultern und Armen, erhitzt wie sie war“, an einem offenen Fenster gesucht habe, hätten letztlich jene letale Kombination ergeben, an deren Folgen die junge Schauspielerin am 10. Mai 1775 stirbt.6 Die eigentliche Ursache für den frühen Tod, so wird Schröder dreißig Jahre danach zitiert, sei seiner Meinung nach ein Reitunfall gewesen. Aufschlussreich sind die Metamorphosen dieser Varianten, die der früheste Schröder-Biograf Friedrich Ludwig Wilhelm Meyer vornimmt. Über vierzig Jahre nach dem Tod Charlotte Ackermanns schreibt er, dass diese einmal „übertrieben prächtig gekleidet“, das andere Mal „in einem ungleich auffallenderen Anzuge“ erschienen sei, was Schröder ihr „um so viel mehr verweisen durfte, da ihm oblag dergleichen an seinen Schwestern weniger als an Andern zu übersehn“.7 Die Ausführungen Meyers über den Tod Charlotte Ackermanns sind insofern aufschlussreich, als er, ein Freund Schröders, aus der Perspektive des sympathisierenden Vertrauten schreibt und daher sein Bemühen, diesen von jeder Mitschuld am Tod der Schwester zu befreien, unverkennbar ist. Wie schon bei Schröder findet auch bei Meyer eine merkliche Verlagerung der Schuldfrage statt, die bei Meyer durch die geschlechtliche Codierung zusätzlich aufgeladen ist. Schröder habe „seinen Schwestern von jeher verboten zu reiten, weil er dieser Uebung an Frauenzimmern nicht hold war, und auffallende Handlungen missbilligte“8. Bekanntlich zählen Jagd und Reiten zu den männlich konnotierten adeligen Vergnügungen – ein Privileg, dass sich um 1800 herum auch erstmals Kunstreiterinnen aneignen. So kann besagter Reitunfall umso plausibler als „Keim ihres frühzeitigen Todes“9 interpretiert werden, den Charlotte Ackermann als Folge von 5 6 7 8 9
Uhde 1875, Bd. 1: 225 (Hv. im Orig.). Siehe Uhde 1875, Bd. 1: 225. Meyer 1819, Bd. 1: 279. Meyer 1819, Bd. 1: 279. Meyer 1819, Bd. 1: 279.
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ständischen wie geschlechtlichen Regelverstößen selbst gelegt habe. Durch den Unfall geschwächt hätte der im Anschluss an den Streit und das (nunmehr) kalte Wasser erfolgte „Schlagfluß“ zum Tod geführt.10 In den Varianten über die Todesursache wird die Frage nach den Gründen für die von Charlotte Ackermann gewählte Art der Selbstkostümierung durchwegs nicht gestellt, sondern schlicht als Verstoß gegen die Vorschrift tradiert. Hätte man dieser Frage größere Bedeutung geschenkt, wäre das in der Folge auf sie projizierte Bild einer „der reichstbegabten und reinsten Priesterinnen der Kunst“11 unweigerlich kollidiert. Ausgeschlossen werden konnte damit beispielsweise die für die Theaterpraxis essentielle Frage der Erotik, die im Zuge der reformerischen Neuordnung von Theater ab Mitte des 18. Jahrhunderts zugunsten einer Versittlichung von Schauspielkunst vollkommen marginalisiert bzw. abgespalten wird. Günther Heeg hat in seiner Studie Das Phantasma der natürlichen Gestalt diesen in der Tradierung unterschlagenen Aspekt der Erotik mit Überzeugtheit herausgearbeitet: „Die wirkliche Maria Magdalena Charlotte Ackermann entsprach keineswegs der Heiligenlegende, die die Nachwelt von ihr entwarf. Ihren Erfolg als Schauspielerin verdankte sie auch ihrer erotischen Ausstrahlung, die sie gezielt einzusetzen wusste.“12 Der Titel meines Beitrags zitiert und verfremdet den Topos von den „zwei Körpern des Königs“,13 der durch Ernst H. Kantorowicz’ Alterswerk populär und trotz seiner thematischen Spezifik anregend für unterschiedliche Wissenschaftsdisziplinen geworden ist. Der Rechtssatz von den zwei Körpern des Königs wird im 16. Jahrhundert von englischen Juristen Queen Elizabeths I. ersonnen, um durch die Behauptung der dualistisch verstandenen Einheit des Königtums die weibliche Thronfolge zu legitimieren. Demnach habe der König „in sich zwei Körper“: einen natürlichen, sterblichen und einen politischen, unsterblichen, „völlig frei von Kindheit und Alter“ und „ebenso von den anderen Mängeln und Schwächen, denen der natürliche Körper unterliegt“.14 Der politische Körper ist somit, ungesagt, auch frei von Geschlecht. Die beiden Körper sind zwei voneinander unterschiedene Körper, die dennoch eine Einheit darstellen, indem sie voneinander abhängig bzw. aufeinander bezogen sind. Dieses Denkmodell ist also dazu angetan, Duplizität in der Einheit zu erklären. Ein Grund für das Interesse der Geschlechterforschung an Kantorowicz’ Werk ist in der im Topos angelegten Möglichkeit zur analytischen Unterscheidung zu finden. Die ‚Gedoppeltheit‘ des Schauspielerkörpers wird zum Problem in dem Augenblick, in dem exakt dieses Grundprinzip schauspielerischer Arbeit durch die 10 11 12 13 14
Meyer 1819, Bd. 1: 279. Litzmann 1890, Bd. 2: 177-178. Heeg 2000: 85. Siehe Kantorowicz 1990. Plowden zit. nach Kantorowicz 1990: 31.
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Anforderungen der ‚neuen realistisch-psychologischen‘ Schauspielkunst verhüllt werden soll, da diese nach illusionistischem Theaterverständnis idealiter performatives und symbolisches Geschlecht als ununterscheidbar überlagert vorführen sollte. Die Körper der Schauspielerin Charlotte Ackermann lassen sich auf mehrfache Weise lesen: z. B. als virulentes Problem einer im Ideal realistisch-psychologischer Schauspielkunst zu verschleiernden Duplizität, als Widerspruch zwischen schauspielerischem Kunstanspruch und bürgerlichen Weiblichkeitsentwürfen, als Kollision des Privaten mit dem Öffentlichen, als Allianz religiöser Metaphorik mit den Bedingungen des bürgerlichen Illusionstheaters. Mich interessiert im Folgenden eine Lesart, die all diese Aspekte aufnimmt, nämlich die Einheit in der Duplizität des normverstoßenden und des zurechtgeschriebenen Körpers – beide Körper sind in den Schriften patrilinearer Theaterhistoriografie aufbewahrt und markieren den auf unterschiedlichen Ebenen beobachtbaren Übergang vom ‚anderen‘ zum ‚einen‘ Theater.15 Die Schrift ist im ausgehenden 18. Jahrhundert das attraktivste Medium. Mit zunehmender Alphabetisierung eröffnen sich neue Kommunikationsmöglichkeiten: Ein expandierender Zeitschriften- und Buchmarkt sowie eine ausgeprägte Briefkultur tragen dazu bei, dass sich das bürgerliche Individuum „über die Rituale der Lektüre und des Schreibens“16 entwirft. Die Körper der Schauspielerin Charlotte Ackermann nun gewinnen Kontur durch die Tradierungen der Vor- und Nachschriften ihres Bruders, durch die Differenz zu kirchlichen und gesellschaftlichen Ideologien sowie durch eine kollektive Trauer, die als verschriftlichte erhalten geblieben ist. An den Körpern speziell der Schauspielerin lassen sich die im 18. Jahrhundert evidenten Risse und Brüche in den Geschlechterkonzeptionen beobachten, ebenso wie die Mechanismen der in der Folge vollzogenen Naturalisierungen dieser Geschlechterkonzeptionen. Im ausgehenden 18. Jahrhundert stellt die Theaterfamilie Ackermann-Schröder ein paradigmatisches Übergangsmodell dar: Eine traditionsreiche Wandertruppe, bei der der Nachwuchs bereits im Kleinkindalter auf der Bühne auftritt, den Beruf durch Anschauung, Nachahmung von Mustern, einem Handwerk gleich erlernt, ist im Begriff, eine angesehene, situierte Schauspielerdynastie zu werden, die für sich in Anspruch nimmt, bürgerliche Werte zu verkörpern.17 Schröder beispielsweise wird retrospektiv als „Patriarch von Rellingen“ und als verbürgerlichter Schauspielkünstler portraitiert, der sich auf seinem Landsitz über Sesshaftigkeit, Besitz 15 Für den Begriff des ‚anderen‘ Theaters, der in den 1970er Jahren von Rudolf Münz für die nicht-illusionistischen Theaterformen des 18. Jahrhunderts geprägt wurde, vgl. Münz 1979.
16 Alt 2000: 12. 17 Siehe Dupree 2009: 135-160.
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und private Kunstausübung entwirft.18 Die in die Konversation geistreich eingebundenen schauspieltheoretischen Überlegungen, Bewertungen von Kollegen und Theateranekdoten werden in der Überlieferung als wörtliche Zitate Schröders wiedergegeben und weisen ihn, das ‚Kind fahrender Leute‘, ehemaliges Ensemblemitglied in Kurz-Bernardons Truppe und populären Tänzer, als Schauspieltheoretiker des literarisierten Theaters aus. Kantorowicz weist in seiner Studie darauf hin, dass „das scheinbar lächerliche und gewiß in vieler Hinsicht plumpe Konzept vom doppelten Körper des Königs [...] eine wichtige heuristische Fiktion lieferte, die den Juristen zu gegebener Zeit dazu dienen konnte, ‚modernes Recht mit altem zu harmonisieren‘“.19 Mich interessiert am Zwei-Körper-Konzept exakt dieser auf das Theater des 18. Jahrhunderts anwendbare analoge Mechanismus: Auch im Zuge der Neuordnung von Theater als einem Projekt der Aufklärung herrschen gerade im Hinblick auf die Ordnung der Geschlechter unübersehbare Bedürfnisse und Bemühungen vor, Modernes mit Altem zu harmonisieren. Der Totenkult um Charlotte Ackermann ist nur eines von unzähligen Indizien für diesen Versuch, die mit dem ‚anderen‘ Theater konnotierten ‚alten‘ Vorbehalte mit den Utopien des neuen, des ‚einen‘ Theaters zu synthetisieren, oder genauer: das Alte im Neuen aufzuheben – was freilich niemals zur Gänze gelingt. Mehr als 100 Jahre nach dem Tod der Schauspielerin betont der SchröderBiograf Berthold Litzmann exakt jene historische Differenz, die trotz der reformerischen Bestrebungen um die ‚Versittlichung‘ von Theater- und Schauspielkunst evident bleibt: „Die Menge poetischer Trauerkundgebungen häufte sich, wetteifernd mit Blumenspenden, in den wenigen Tagen, die zwischen dem Tode und der Bestattung lagen, über der letzten Ruhestatt des Kindes fahrender Leute, wie über der Leiche eines auf dem Felde der Ehre gefallenen Helden.“20 Charlotte Ackermann sollte nach ihrem frühen Tod auf allgemeinen Wunsch ein Denkmal errichtet werden. Kaum eindringlicher kann die innerhalb des einen Jahrhunderts erfolgte Umwertung begreiflich gemacht werden: Zu Beginn des Jahrhunderts werden den Fahrenden die Sterbesakramente verweigert, gegen Ende des Jahrhunderts soll mit der Errichtung eines Monumentes dem Kind fahrender Leute das absolute Vorrecht der verdientesten Bürger zuteil werden. Johann George Sulzer beschreibt in seiner Allgemeinen Theorie der Schönen Künste die Stiftung von Denkmälern, denen er vorbildhafte Wirkung unterstellt, als ostentativen Akt bürgerlicher Öffentlichkeit: Es scheinet überaus natürlich, daß unter einem Volke, das öffentliche Tugend und Verdienst zu schätzen weiß, dergleichen Denkmäler häufig sollten anzutreffen seyn. Man stelle sich 18 Siehe Uhde 1875: 237.
19 Kantorowicz 1990: 29. 20 Litzmann 1890, Bd. 2: 167.
400 | B EATE H OCHHOLDINGER -REITERER eine Stadt vor, deren öffentliche Plätze, deren Spaziergänge in den nächsten Gegenden um die Stadt herum, mit solchen Denkmälern besetzt wären, auf denen das Andenken jedes verdienstvollen Bürgers des Staats, für die Nachwelt auf behalten würde; so wird man leicht begreifen, was für grossen Nutzen solche Denkmäler haben könnten.21
Genau diese offensichtlich von Verehrern der Schauspielerin betriebene ‚Privatinitiative‘ sowie die kollektiven Trauerbezeugungen werden in der Folge sowohl von kirchlicher Seite kommentiert als auch von staatlicher Seite reglementiert. So wird die verstorbene Charlotte Ackermann anlässlich der öffentlichen Todesanzeige von der Kanzel als „eine Freundin der Welt“22 tituliert, was zu erbosten Widersprüchen geführt haben soll. Die durch den Tod ausgelöste allgemeine Betroffenheit sowie die massenhafte Anteilnahme sind der Obrigkeit offenbar suspekt, sodass der Senat zwei Tage nach der Beerdigung eine Eingabe verabschiedet, wonach der Zeitungsartikel zum Thema Monument widerrufen werden soll; die Zensur bekommt Anweisung, „von der verstorbenen Jfr. Ackermann, nichts weiter in den Zeitungen passiren zu lassen“23. In den Differenzen um das Ausmaß sowie die Art und Weise von Erinnerungskultur für eine Schauspielerin um 1800 lässt sich beobachten, wie sehr deren ‚politischer‘ Körper imstande war, die ,reale‘ Politik zu stören. Was war es nun, das Charlotte Ackermann in so jungen Jahren zum erklärten Liebling des Hamburger Publikums machte? Die Nachrufe betonen vor allen Dingen die vorbildliche private Tugendhaftigkeit und Religiosität sowie die große schauspielerische Begabung. Im zurechtgeschriebenen Körper, der nach dem Tod unverrückbare Konturen bekommen hat, findet also eine Amalgamierung bürgerlich-religiöser und künstlerischer Tugenden statt: „Sie glich“, so wird ein naher Bekannter der Familie zitiert, „in Wahrheit den inspirirten Jüngern zur Zeit des ersten Christenthums.“24 Er habe sie oft getroffen, „indem sie den Katechismus und ihre Rolle wechselseitig lernte [...]. Ihr keusches, völlig sittliches Gemüth fand in dieser seltsam scheinenden Mischung der Beschäftigungen nichts anderes, als die reine und gleiche Pflicht des Christen, wie ihres Berufs“25. Ein aller Widersprüchlichkeiten beraubtes Schauspielerinnenideal ist in einem übernatürlichen Körper fixierbar geworden und stellt Maßstab wie Orientierung dar – auf wie abseits der Bühne. An Charlotte Ackermanns Schauspielkunst wird eine als innovativ wahrgenommene naturalistische Exaltiertheit hervorgehoben. Das Ideal einer ‚realistischpsychologischen‘ Schauspielkunst, so lässt sich vermuten, scheint geradezu auf die 21 Sulzer 1771-1774, Bd. 1: 238. 22 Schütze 1794: 435. 23 Senatsprotokoll vom 16.05.1775 zit. nach Emde 1997: 324. 24 Uhde 1875, Bd. 1: 251-252.
25 Uhde 1875, Bd. 1: 252.
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Spitze getrieben, wodurch – so die Behauptung in den zahlreichen Gedichten, die nach dem Tod erscheinen – ein empfindsames Publikum empathisch affiziert und ganz im Sinne der Lessingschen Mitleidsästhetik gebessert worden sei. In den Nekrologen werden von den unzähligen Rollen einige wenige, vor allem Emilia Galotti, die Ackermann, noch keine 15 Jahre alt, in der Hamburger Erstaufführung 1772 gespielt hat, oder Marie aus Goethes Clavigo hervorgehoben, die so stark mit der Privatperson identifiziert werden, dass die Rollennamen zu Synonymen ihres Namens werden. Der ‚private‘ Körper ist gemäß den zeitgenössischen Utopien des Illusionstheaters als authentischer im ‚öffentlichen‘ bis zur Ununterscheidbarkeit aufgehoben, was unweigerlich auch die starke Identifizierung der Privatperson mit den verkörperten Rollen bedingt und überdies eine Wahrnehmungsstruktur offenlegt, die sich als literarisch-medial geprägte präsentiert.26 Die Grenzen zwischen Privatheit und Kunstausübung scheinen bei Ackermann stets gefährdet: „Ein langes Lebensziel hätte sie ohnehin gewiß nicht erreicht“, wird Schröder Jahrzehnte nach ihrem Tod zitiert, „sie war zu nervös, zu reizbar, voll romanhafter Ideen. Alles trieb sie bis zur Extravaganz. Sie biß wirklich in die Kette, und raufte sich wirklich das Haar aus, wenn der Dichter es vorgeschrieben hatte.“27 Charlotte Ackermanns angeblich aus persönlicher Empfindung geschöpfte Schauspielkunst wird mit Attributen beschrieben, die frappant den Idealen der Sturm-und-Drang-Dramatik ähneln, also Idealisierung des schöpferischen Originalgenies, Gefühlskult und Regellosigkeit. Der Theaterdichter der Ackermannschen Truppe, Johann Christian Bock, verfasst anlässlich ihres Todes eine ausführliche Würdigung, die er der hinterbliebenen Familie widmet: Charlotte Ackermann war eins von den seltnen Genies, die sich der Welt nur als Meister ankündigen, um über die höchsten Stuffen des Gewöhnlichen zum Ausserordentlichen hinan zu steigen; eine von den Auserwählten der Natur, bey denen sie ihren ganzen Reichthum erschöpft, um sie alles Bedürfnisses ausser sich zu entübrigen. Sie haben ihren sichren Lehrer und Wegweiser, Gefühl, in sich, und gehn auch auf neuem kühnen unbetretnen Wege nicht irre. Bey Vorbild und Muster streifen sie vorüber, nur um ihre Schwächen zu zeigen, indem sie sie übertreffen. Was sie seyn wollen, gelingt ihnen, und sie sind’s, als wären sie’s von jeher gewesen. Groß im Kleinen, Alles in Jedem, ohne künstelnden Fleiß und Mühe, leichthin, als wär’s ein Geringes, und doch unnachahmlich.
28
26 Vgl. dazu die für die 2. Hälfte des 18. Jahrhunderts so symptomatische Strukturierung der Emotionen und Identitätsbildungen durch Literatur und Theater, wie sie sich beispielsweise in den außergewöhnlichen Erfolgen von Goethes Die Leiden des jungen Werthers (1774) oder Brockmanns Hamlet-Darstellung 1776 ausdrücken.
27 Uhde 1875, Bd. 1: 226 (Hv. im Orig.). 28 Bock 1775: 11-12.
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Charlotte Ackermanns Schauspielkunst wird auch in der Folge tradiert als „unmittelbares Werk des Genius, das sich weder in Worte fassen noch lehren, am wenigsten zur Nachahmung empfehlen läßt, da es sich nur durch seine Bewußtlosigkeit vor Uebertretung, durch seine Fülle vor Erschöpfung bewahrt“29. Ihre Kunst unterscheidet sich dadurch in der Produktionsweise eklatant von der ihres Bruders oder der Conrad Ekhofs. Durch die Ausklammerung einer intellektuellen, bewusstschöpferischen Leistung, die in der Überlieferung für die genannten männlichen Schauspieler selbstverständlich angenommen wird, verkommt die ‚weibliche‘ Schauspielkunst einer Charlotte Ackermann zum Persönlichen, zum Privaten und von daher auch Unnachahmlichen, während an Conrad Ekhofs Spielstil stets das Vorbildhafte und Mustergültige hervorgestrichen wird, was ihm das zumeist unhinterfragte Etikett eines ‚Vaters der deutschen Schauspielkunst‘ einbringt. Am Beispiel der Beschreibungen von Charlotte Ackermanns Schauspielkunst lässt sich zeigen, wie sich über die Behauptung unterschiedlicher Produktionsweisen allmählich geschlechterdifferente Theorien herausbilden, die an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert erste Verschriftlichungen erfahren haben. Die Überlieferungen von Ackermanns Empfindungs-Schauspielkunst stellen also den Beginn von Überlegungen zur Schauspielkunst dar, die in der Folge weiblich codiert wird. Diese Theorien hängen ihrerseits eng mit den bürgerlichen Weiblichkeitsentwürfen und der Annahme eines weiblichen Geschlechtscharakters zusammen, der dem männlichen komplementär entgegengesetzt konstruiert ist, wie auch mit der Konzeption des im bürgerlichen Theater „in seiner Rolle sich verzehrende[n] Schauspieler[s]“30. Mit der Privatisierung von Schauspielkunst und der Assoziierung einer privaten Opferung für die Kunst wird ein maßgebliches wirtschaftliches Element, das in engem Zusammenhang mit der allmählichen Etablierung stehender Theater zu sehen ist, ausgeklammert: nämlich die Kapitalisierung von Schauspielkunst im Zuge der Repertoireerweiterung sowie die damit einhergehenden massiv anwachsenden Leistungsanforderungen an die Darstellerinnen und Darsteller. Roland Barthes hat in den Mythen des Alltags den Tauschwertcharakter der bürgerlichen Schauspielkunst hervorgehoben. Die vorgeführten Leidenschaften werden als Ware […] ein Gegenstand des Handels, eingepasst in ein Tauschsystem: ich gebe dem Theater mein Geld, und dafür verlange ich eine gut sichtbare, nahezu berechenbare Leidenschaft. Und wenn der Schauspieler das Maß schön vollmacht, wenn er es versteht, seinen Körper vor meinen Augen, ohne zu schwindeln, ordentlich arbeiten zu lassen, wenn ich nicht an der Mühe zweifeln kann, die er sich gibt, dann erkläre ich ihn für ausgezeichnet und bezeuge meine Freude darüber, dass ich mein Geld auf ein Talent gesetzt habe, das es nicht wegsti-
29 Meyer 1819, Bd. 1: 281. 30 Barthes 1964: 20.
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bitzt, sondern es mir hundertfach in Form von wirklichen Tränen und Schweiß zurückzahlt. Der große Vorzug dieser Verzehrung ist wirtschaftlicher Art: das von mir als Zuschauer bezahlte Geld hat endlich einen kontrollierbaren Ertrag. 31
Zeitgleich mit der Kapitalisierung der bürgerlichen Schauspielkunst setzt im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts das ein, was ich als Kultus der Schauspielkunst bezeichnen möchte, abgebildet in den zu dieser Zeit vermehrt auftauchenden verehrenden Schauspielerbeschreibungen, die für die folgenden Jahrhunderte vorbildhaft werden. Hintergrund für den Kultus ist die „Augenscheinlichkeit“ der Mühe, mit der die Schauspielenden sich „dem Dämon des Theaters“ ausliefern, sich opfern und sich „von innen durch die dargestellte Person aufzehren“ lassen.32 Die ‚Freude‘ des Publikums über die erfolgreiche Investition in einen öffentlichen Schauspielerkörper äußert sich anlässlich des Todes von Charlotte Ackermann in einer beispiellosen Vergötzung der Toten und verschleiert gerade durch den quasireligiösen Kult den beschriebenen Tauschwertcharakter. In Schützes Hamburgischer Theater-Geschichte wird ausführlich über Ackermanns Tod berichtet, die Schauspielerin dadurch ‚historabel‘ gemacht, wiewohl der Rechtfertigungsduktus unüberhörbar ist: Ganz Deutschland hat an der Trauer über diesen Verlust, der Hamburg und diese Bühne am nächsten und schmerzlichsten traf, Theil genommen. Leere Klage brachte das Verlohrne nicht wieder; aber die so allgemeine laute Stimme des Beileids ist ein Beweis des Wehrtes, den das theatralische Publikum mit so großem Rechte auf sie setzte, und die Aufzeichnung der Aeußerungen verdient doch wol in der Geschichte ihre Stelle. 33
Die Vorkommnisse rund um das Begräbnis charakterisiert Schütze als „beinah an Schwärmerei gränzend“34. Denn: Schaarenweise strömten Hamburgs Bürger und Bürgerinnen dem Trauerhause zu, wo, der städtischen Sitte gemäß, die weißgekleidete Leiche zur Schau gestellt ward. Thränen wurden der Aufgebaarten zugeweint, der todte Körper ward mit Blumen und Gedichten bekränzt und bestreut. Man schnitt Haare von ihrem Haupte, die in Ringe gefaßt, oder zu Ringen verflochten, ihr zum Andenken getragen wurden.35
31 32 33 34 35
Barthes 1964: 20-21. Barthes 1964: 21. Schütze 1794: 432. Schütze 1794: 432. Schütze 1794: 432-433.
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Günther Heeg verweist in seiner Studie Das Phantasma der natürlichen Gestalt angesichts dieser Schilderungen auf den Prozess „quasikannibalistische[r] Einverleibung“ und den unverkennbaren „Gestus der Bemächtigung der toten Schauspielerin durch das ‚Publikum‘“.36 Mich interessiert in diesem Zusammenhang der religiöse Kontext der katholisch geprägten Reliquienverehrung, der im protestantischen Hamburg besonders auffällt. Als Conrad Ekhof 1778, also drei Jahre nach Charlotte Ackermann, stirbt, werden in Gedichten, die im Gothaer Theaterkalender 1778/79 abgedruckt sind, von ihm verwendete Alltagsgegenstände in den Status von Reliquien im wahrsten Sinne hineingeschrieben und inkorpieren damit gleichzeitig dessen schauspielkünstlerisches Erbe, das gemäß patrilinearer Strukturierung an den ‚Sohn‘ August Wilhelm Iffland weitergegeben wird. Dass es im Fall Conrad Ekhofs Gegenstände und im Fall Charlotte Ackermanns Körperteile sind, die Reliquienstatus erhalten, ist gendertheoretisch schlichtweg naheliegend. Trotz Verbotes werden die kollektive Trauer und die Sensationsgier rund um die Todesursache auch in der Folge kommerzialisiert. Noch 1775 erscheint unter dem Titel Gesammletes Mitleiden beym Ableben der jüngern Demoiselle Charlotte Ackermann eine Zusammenstellung von Gedichten und Schriften, die anlässlich des plötzlichen Todes verfasst wurden, sowie ein mit Die letztern Tage der jüngern Demoiselle M. M. Ch. A*** betitelter fiktiver Briefwechsel zwischen Charlotte Ackermann und ihrer Freundin Sophie, in dem die geheime Liebe zu einem Baron als Ursache für den Tod angegeben wird. Der zurechtgeschriebene Körper folgt hier unverkennbar der Dramaturgie eines bürgerlichen Trauerspiels und bietet auch in späteren Jahren Stoff für Romane und Dramatisierungen.37 Angesicht des Aufschwungs verehrender Schauspielerbeschreibungen stellt sich die Frage, woher die Sprache ihre Anleihen nimmt, welche Bilder sie entlehnt. Kantorowicz weist den religiösen und liturgischen Background der juristischen Doktrin des Zwei-Körper-Konzeptes nach, das er letztendlich als säkularisierte Theologie liest. Im Bemühen um Legitimation des ‚neuen‘, des ‚einen‘ Theaters tauchen im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts analoge sakrale Einsprengsel auf, die vorerst den Weg über einen zurechtgeschriebenen Schauspielerinnenkörper nehmen; Jahrzehnte später wird in Weimar dann die Bühne zum Tempel werden. Und der normverstoßende Körper? Er bleibt Gegenstand der Polemik. In ihm sind die Vorbehalte gegen das ‚andere‘ Theater aufbewahrt. Denn trotz Reform, Reinigung, Versittlichung bleibt dem Theater der Verdacht von Verstellung, Lüge, Täuschung, Unsicherheit eingeschrieben. Dieses Misstrauen schreibt sich fort und 36 Heeg 2000: 83. 37 Vgl. z.B. die Figur Aurelie in Goethes Wilhelm Meisters Lehrjahre (1795/96), die der Schauspielerin Charlotte Ackermann nachgebildet ist. Vgl. des Weiteren Otto Müllers Charlotte Ackermann. Ein Theater-Roman aus dem vorigen Jahrhundert (1854), der auch dramatisiert wurde.
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nimmt beispielsweise um 1900, ganz dem damaligen sexualwissenschaftlichen Diskurs verhaftet, in den ersten explizit geschlechtsspezifischen Schauspieltheorien wieder einen Körper an.38 Unter Berufung auf einen weiblichen Geschlechtscharakter wird die besondere Befähigung ‚des Weibes‘ zur Schauspielkunst behauptet, da diese eine bloß reproduzierende Empfindungs- und Identifikationskunst und von daher „eine recht eigentlich weibliche Kunst“39 sei. Denn: Die Schauspielkunst fordert das Geschmeidige der Frau, ihre große Fähigkeit, sich in ein fremdes Wesen zu versenken, sich einem fremden Wesen zu unterwerfen. Sie fordert die kleinen reizenden Verstellungskünste der Frau und ihre große Kraft des Leidens. Sie fordert die zähe Ausdauer und die liebevolle Treue, mit der eine Mutter ihres Kindes wartet, sie fordert die innige Hingebung und die gläubige Zuversicht, mit der sich ein Mädchen an die Brust des Geliebten legt. 40
Die geschlechtlichen Codierungen sind im Jahrhundert nach Ackermanns Tod naturalisiert, sind zur Biologie, zu tertiären Geschlechtsmerkmalen geworden.
L ITERATUR Alt, Peter-André: Schiller. Leben - Werk - Zeit. Eine Biographie. München: C.H. Beck 2000. Bock, Johann Christian: o.T., in: Anonym (Hg.): Gesammletes Mitleiden beym Ableben der jüngern Demoiselle Charlotte Ackermann. Hamburg: Michael Christian Bock 1775. Bab, Julius: Die Frau als Schauspielerin. Berlin: Oesterheld 1915. Barthes, Roland: Mythen des Alltags. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1964. Bauer, Bernhard A.: Komödiantin – Dirne? Der Künstlerin Leben und Lieben im Lichte der Wahrheit. Wien/Leipzig: Fiba 1927. Dupree, Mary Helen: „‚Ein Geschöpf der Einbildung unseres Herrn Leßing‘. Fictions of Acting and Virtue in the Postmortem Reception of Charlotte Ackermann (1757-1775)“, in: Goethe Yearbook 16 (2009), 135-160. Emde, Ruth B.: Schauspielerinnen im Europa des 18. Jahrhunderts. Ihr Leben, ihre Schriften und ihr Publikum. Amsterdam u.a.: Rodopi 1997. Goldschmit, Rudolf K.: Die Schauspielerin. Ihr Weg, ihre Gestalt und ihre Wirkung. Stuttgart: Walter Hädecke 1922. 38 Vgl. u.a. Schlenther 1895; Simmel 1902: 251-289; Stümcke 1905; Scheffler 1908; Bab 1915; Goldschmit 1922; Bauer 1927.
39 Schlenther 1895: 58. 40 Schlenther 1895: 58.
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Heeg, Günther: Das Phantasma der natürlichen Gestalt. Körper, Sprache und Bild im Theater des 18. Jahrhunderts. Frankfurt am Main/Basel: Stroemfeld/Nexus 2000. Kantorowicz, Ernst H.: Die zwei Körper des Königs. Eine Studie zur politischen Theologie des Mittelalters. München: dtv 1990. Litzmann, Berthold: Friedrich Ludwig Schröder. Ein Beitrag zur deutschen Literatur- und Theatergeschichte. Hamburg/Leipzig: Leopold Voß 1890. Meyer, Friedrich Ludwig Wilhelm: Friedrich Ludwig Schröder. Beitrag zur Kunde des Menschen und des Künstlers. Hamburg: Hoffmann und Campe 1819. Münz, Rudolf: Das „andere“ Theater. Studien über ein deutschsprachiges teatro dell’arte der Lessingzeit. Berlin (Ost): Henschel 1979. Scheffler, Karl: Die Frau und die Kunst. Eine Studie. Berlin: Bard 1908. Schlenther, Paul: Der Frauenberuf im Theater. Berlin: Taendler 1895. Schütze, Johann Friedrich: Hamburgische Theater-Geschichte. (ND Leipzig 1975). Hamburg: J. P. Treder 1794. Simmel, Georg: „Weibliche Kultur“, in: ders.: Gesamtausgabe. Bd. 12. Hg. von Otthein Rammstedt. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1902, 251-289. Stümcke, Heinrich: Die Frau als Schauspielerin. Ein Essay. Leipzig: Friedrich Rothbarth 1905. Sulzer, Johann George: Allgemeine Theorie der Schönen Künste: in einzeln, nach alphabetischer Ordnung der Kunstwörter auf einander folgenden, Artikeln abgehandelt. Berlin/Leipzig: Weimann und Reich 1771-1774. Uhde, Hermann (Hg.): Denkwürdigkeiten des Schauspieler, Schauspieldichters und Schauspieldirectors Friedrich Ludwig Schmidt (1772-1841). Hamburg: W. Mauke Söhne 1875.
„Ah, non son’io che parlo…“ Entäußerung als Subjektstrategie in der opera seria des 18. Jahrhunderts A NKE C HARTON
Die vielfach vertonten Libretti Pietro Metastasios (1698-1782) dominieren die opera seria des 18. Jahrhunderts, von der frühen Didone abbandonata (1724) bis zum späten Sogno di Scipione (1772). Allein La clemenza di Tito (1734) bringt es auf über vierzig Vertonungen und unterstreicht Metastasios Ausnahmestellung als Librettist. Im Gegensatz dazu steht die Geringschätzung mit der Metastasio – eigentlich Pietro Trapassi – im Nachhinein landläufig bedacht wird: „This was a poet whose characterizations were limited by his dogged adherence to formal protocol“1, schlussfolgert etwa Stephen Pettitt und der renommierte Händel-Forscher Winton Dean schlägt in dieselbe Kerbe: „His creatures are as flat as cardboard, and as easily bent: the situation governs the character, rather than the other way round. It was Metastasio’s work, not the tyranny of the singers, that made Gluck’s reforms inevitable if opera was to survive.“2 Dean vergisst in Bezug auf Gluck zu erwähnen, dass Gluck selbst knapp zwanzig Metastasio-Libretti vertonte, auch nach der ersten Zusammenarbeit mit dem für sein Reformkonzept maßgeblichen Librettisten Ranieri de’ Calzabigi. Unter diesen Opern ist auch eine der über vierzig Vertonungen von La clemenza di Tito. Die immense Popularität gerade dieser Vorlage ist durch vermeintlich hölzerne Figuren und unglaubwürdige Plotwendungen nicht zu erklären. Vielmehr fällen Pettitt und Dean hier ein Geschmacksurteil, das auf stilistischen Umbrüchen in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts beruht.
1
Pettitt 1994: 108f.
2
Dean 1970: 56f.
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Die Formstrenge, die Pettitt Metastasio vorwirft, und die Situationsgebundenheit der Charaktere, die Dean bemängelt, stellen im Weltbild des aufgeklärten Absolutismus, das Metastasios Figuren vertreten, keinen Mangel dar. Sie bilden im Gegenteil die Grundlage eines Subjekt- und Theaterverständnisses, das für die opera seria maßgeblich ist. Gerade das aus der doctrine classique entlehnte Kriterium der bienséance, das auf der Definition von Angemessenheit beruht, wurde im 18. Jahrhundert im Konflikt zwischen Aristokratie und erstarkendem Bürgertum zum negativ besetzten Mittel ästhetischer Abgrenzung: Die bienséance der opera seria wurde im Gegensatz zum neuen, positiv verstandenen Begriff der Natürlichkeit als zunehmend gekünstelt und nicht authentisch empfunden. Authentizität aber, in Abgrenzung von der als nunmehr unnatürlich empfundenen, bewussten Kunsthaftigkeit barocker Theaterformen, wurde in Folge zur Währung des neuen nicht-aristokratischen Selbstverständnisses, mit entsprechenden Reflexen auf den Theaterbühnen. Die neu postulierte Natürlichkeit – ihrerseits ebenfalls ein Konstrukt von bienséance, das allerdings nicht bewusst als solches reflektiert werden durfte – distanziert sich auch vom höfischen Personal der Metastasianischen seria und ihrer Kosmologie, in der die Ergebenheit gegenüber der vernunftgeprägten Ordnung das Subjekt bestimmte. Sowohl Pettitt als auch Dean argumentieren in ihrer Kritik damit von der Warte eines anthropologischen Verständnisses aus, das die mit der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts in den Vordergrund gerückte Kategorie der Natürlichkeit im Sinne emotionaler Authentizität als zentrale Verständniskomponente begreift. Eine solche Herangehensweise wird weder Metastasio noch der opera seria gerecht, da sie die veränderten Ausgangsbedingungen nicht miteinbezieht. Deans offensichtlich auf einen Linearzusammenhang ausgerichtete Bemerkung, dass Metastasios mangelhafte Figurenzeichnung Glucks Reformen notwendig gemacht habe, um die Oper als Gattung zu retten, verkennt den kulturhistorischen Wandel in Bezug auf die bienséance ebenso wie die Oper jenseits der Metastasianischen seria. Auch wenn die opera seria ab der Mitte des 18. Jahrhunderts an Popularität verliert, zieht sie sich in Ausläufern besonders im italienischen dramma per musica bis ins frühe 19. Jahrhundert. Was jedoch als Metastasios Leistung zu gelten hat, ist die Schöpfung eines einheitlichen seria-Modells, das sich durch eine elegante und extrem auf Sangbarkeit ausgerichtete Sprache auszeichnet. Das typische Metastasio-Libretto kommt mit fünf bis sieben Figuren aus, die grundsätzlich dem höfischen Milieu angehören. Unter den Protagonisten befinden sich generell ein erstes und ein zweites Paar, die sogenannte prima coppia und die seconda coppia, die nach Irrungen und Intrigen in einem lieto fine zueinander finden. Angehörige unterer sozialer Schichten und übernatürliche Figuren wie Götter oder Nymphen kommen nicht vor. Die Plots werden dominiert vom Streben nach Selbstbeherrschung und Pflichterfüllung, wo-
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bei einzelne Charaktere häufig verkleidet und unter falschem Namen auftreten oder aber ihre eigentliche Abstammung nicht kennen. Die Arientexte sind selten mehr als acht Zeilen lang, wobei die einzelnen Zeilen mit drei, gelegentlich vier, Hebungen auskommen und dem verzierungs- und wiederholungsreichen Stil der da capoArie entsprechen. Stilistisch steht Metastasio hierbei in der Tradition Apostolo Zenos (16681750), der als Mitglied der Accademia degli Animosi bereits in den 1690ern an einer moralistisch orientierten Librettoreform arbeitete. Zeno setzte sich hierbei vor allen Dingen vom venezianischen Modell ab, das in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts auch außerhalb Venedigs die Opernbühnen dominierte und sich vor allem durch die Vielfalt sozialer Schichten – Figuren der Maskenkomödie traten ebenso auf wie höfisches und göttliches Personal – und das Nebeneinander von Tragischem und Komischem auszeichnete. Dieser Art von ‚Unglaubwürdigkeit‘ setzte Zeno seine Librettoreform entgegen, die das Personal aus der Ober- und Unterwelt entfernte und Lazzi im Stil der Maskenkomödie verbannte. Metastasio, zusätzlich beeinflusst von den Maximen der Französischen Klassik, orientiert sich an Zeno, ist aber von beiden der ungleich größere Stilist.3 Ab 1730 wirkt Metastasio, in direkter Nachfolge von Zeno, als Hofdichter – poeta cesarea – in Wien. Damit befindet sich Metastasio im Zentrum des aufgeklärten Absolutismus, der sich in seinen Figuren in ihrer Situierung zwischen Pflichtbewusstsein und Vernunft widerspiegelt: Der Deus ex machina wird ersetzt durch die Ratio. Das lieto fine bei Metastasio ist dementsprechend eine logische Folge. Wenn alle Charaktere der Vernunft folgen, auf der auch die gottgegebene Ordnung beruht, dann kann es nur ein gutes Ende geben. Der Fokus auf Vernunft und Pflichterfüllung, denen die Affekte untergeordnet werden, unterscheidet Metastasio von zeitgenössischen und früheren Librettisten der opera seria, aber auch von Epigonen wie Vittorio Amedeo Cigna-Santi (1730 bis nach 1795), der sich bewusst auf Zeno und Metastasio als Vorbilder beruft. Die für die Barockoper typische Metaphernflut findet sich bei Metastasio nicht mehr: Die barocke Denkstruktur der Analogien lässt er bereits hinter sich und verweist mit seiner konsequenten Verneinung eines überirdischen Deus ex machina im Namen der Vernunft bereits auf Figuren späterer Werke, die zwar die Vernunft des aufgeklärten Absolutismus durch die ethisch erfahrbare Authentizität des Einzelnen ersetzen, aber mit Metastasios Schöpfungen den Verlust der Metapher gemein haben. In der Barockoper vor Metastasio kann die hyperbolische Metapher als Entäußerungsstrategie gelten, die dem zunehmend in sich eingeschlossenen Individuum im Sinne eines homo clausus noch eine Möglichkeit zum Übergang in ein 3
Zu dieser Problematik vgl. u.a. Freeman 1968.
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Nicht-Ich oder Ander-Ich bietet.4 Dies korrespondiert u.a. mit Foucaults Beschreibung von mittelalterlicher und frühneuzeitlicher Wissenskategorisierung, die sich vorranging über Ähnlichkeiten herstellt.5 Zwar gerät diese Erkenntnisstruktur mit dem 17. Jahrhundert zunehmend ins Hintertreffen, ihre Ausläufer sind jedoch bis weit ins 18. Jahrhundert hinein zu erkennen, z.B. auch auf der Sprachebene der barocken Opernlibretti, in denen das Subjekt der Szene die Metapher als aemulatio anruft,6 um in diesem Vergleich die eigene Erfahrung auszulagern in ein Anderes und einen Übergang zu schaffen zwischen dem Selbst und dem Bild. Diese Möglichkeiten des Übergangs auf der Sprachebene – und der Denkebene, die diese Sprache reflektiert – werden im 18. Jahrhundert, mit sich durchsetzender naturwissenschaftlicher Welt- und Wissensordnung, weniger. Auch in Metastasios marmorglatten Satzoberflächen verschwinden diese Einschlüsse: Seine Figuren können sich selbst nicht mehr entkommen. Die Metapher als Strategie der Entäußerung und Möglichkeit des Übergangs verschwindet bei ihm bis auf wenige Ausnahmen, die zudem im Vergleich zur zeitgenössischen Librettistik eher zahm ausfallen. In den Libretti Metastasios, inklusive seiner frühen Arbeiten für Neapel, bleiben lediglich zwei semantische Felder als Metaphernsteinbrüche erhalten. Das eine ist das Bild des Schiffes (nave) oder des Schiffers (nocchier) auf dem Meer, in Bezug auf den Sturm, den sicheren Hafen oder gefährliche Felsen.7 Das andere ist ein Überrest arkadischer Schäferszenarien in der Tradition Tassos und Guarinis: Der naturnahe Schäfer wird als Gegenbild zum sorgenvollen Monarchen zitiert, die Schäferin als Beispiel gelungener Subjektgenese in Bezug auf die Vereinbarkeit von Angemessenheit und Gefühlsanspruch.8 Mehr Metaphern gestattet Metastasio sich nicht. Sein exponiertestes Beispiel von Entäußerung findet sich in einer auch von Mozart vertonten Arie aus dem Ezio, „Ah, non son’io che parlo“ (KV369). Mozart hat in seinen opere serie mehrfach auf Metastasio zurückgegriffen, so im frühen Sogno di Scipione (1771), für Il re pastore (1775) und für seine von Caterino Mazzolà großzügig adaptierte Vertonung von La clemenza di Tito (1791). Weiterhin gibt es von ihm eine Reihe von Konzertarien auf bekannte Metastasio4
Siehe Kaden 2004: 40-66.
5
Siehe Foucault 1997: 46-56.
6
Siehe Foucault 1997: 48-50.
7
Die Verwendung von „nocchier“ findet sich in Temistocle, Achille in Sciro, L’eroe cinese, Catone in Utica, Semiramide riconosciuta und Demetrio sowie jeweils doppelt in La clemenza di Tito und Ezio. In Ezio findet sich auch die einzige Verwendung der Schiffsmetapher als „nave“. Vgl. Metastasio 1728b: V614-516: „ogni nave è fortunata/è felice ogni nocchier.“
8
Siehe Metastasio 1728b: V. 369-381, V. 884-89.
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Texte, darunter „Per quel paterno amplesso“ (KV 79) aus Artasere, „Sperai vicino il lido“ aus Demofoonte (KV 386) und die bereits genannte Fassung von „Ah, non son’io che parlo“ (KV 369) aus Ezio, die vermutlich im Umfeld der Münchener Uraufführung des Idomeneo (1781) entstand. Eine Heldin, die nicht nur im gesungenen Affekt, sondern auch auf der Textebene in jeder Hinsicht außer sich ist, ist für Metastasio ungewöhnlich: „Nicht ich bin es, die spricht.“ Fulvia, die Geliebte des Titelhelden Ezio, befindet sich in einer scheinbar ausweglosen Lage: Der Kaiser, dem sie sich als pflichtbewusste Untertanin nicht widersetzen kann, stellt ihr nach; ein Schicksal, das auch ihrer Mutter schon widerfahren ist. Ihr eigener Vater, der deshalb zum Verräter gegenüber dem Kaiser geworden ist, verlangt Schweigen und Gehorsam, was Fulvia als pflichtbewusste Tochter ebenfalls nicht verweigern kann. Ihr Vater hat in seine Verschwörung aber auch den unbescholtenen Ezio verwickelt, auf den die Schuld fällt und der deswegen – dies ist Fulvias Informationsstand zum Zeitpunkt der Arie – umgekommen ist. Auch gegenüber Ezio ist Fulvia zur Treue verpflichtet, die sie ihm geschworen hat. Angesichts der gegensätzlichen Ansprüche, die an sie gestellt werden und die sie nicht vereinen kann, verliert Fulvia ihre Integrität und zerfällt buchstäblich: Das Subjekt löst sich auf in ein auktoriales Anderes, in Stimme und Schritte durch eine Stadt, die es nicht wiedererkennt.9 In dieser Desorientierung – „misera, dove son?“ 10 – findet Fulvia ihre Stimme, indem sie sie nicht als ihre eigene erkennt, sondern als eine andere. Nicht sie ist es, die spricht, sondern ein überpersönliches Es, der Schmerz: „Ah, non son io che parlo/è il barbaro dolore/che mi divide il core/che delirar mi fa.“11 Dieser Zustand ist bemerkenswert, weil es das einzige Beispiel in Metastasios Librettistik ist, das dieses Außer-sich-Sein, das in der Metaphorik früherer Barockopern und in den Techniken zeitgenössischer Theaterformen wie der italienischen Maskenkomödie omnipräsent ist, derart explizit thematisiert. Der vernünftige Mensch, den Metastasio wieder und wieder entwirft, braucht per definitionem keine Zufluchtsmöglichkeit mehr vor sich selbst. Trotzdem gibt es auch bei Metastasio immer wieder Figuren, die laut eigener Aussage außer sich sind: Das floskelhafte „Son fuor di me“ findet sich solcherart in zwölf seiner Libretti wieder,12 wobei sich die Formulierung gegenüber Fulvias „Ah, 9
Siehe Metastasio 1728b: V. 1624-1631.
10 Metastasio 1728b: V. 1624. 11 Metastasio 1728b: V. 1640-1643 („Ach, nicht ich bin es, die spricht/Es ist der grausame Schmerz/der mir das Herz zerteilt/der mich rasen lässt“, Übersetzung A.C.). 12 Vgl. Catone in Utica (1728a), II; 13, V. 1202-1203, Catone: „Son fuor di me. Donde tant’odio? E donde tanta audacia in costei?”, Achille in Sciro (1736), I; 15, V. 407, Teagene: „Son fuor di me! Quanto son mai vezzose l’ire in quel volto!“ und Il trionfo di Clelia (1762), II; 13, V. 714, Tarquinio: „Seppe il disegno o lo sognò? Son fuor di me.“
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non son’io che parlo“ allerdings bescheiden ausnimmt. Häufig, wie in Semiramide riconosciuta, kommt die Formulierung nur als geflüstertes a parte vor, als etwas, das eigentlich nicht sein sollte und das nicht zum Umgang mit der Öffentlichkeit gehört. Stets findet sich die Phrase in Situationen der Wut oder der Verzweiflung; ein einziges Mal ist sie positiv besetzt, wobei die Formulierung bezeichnenderweise in ein ‚also ob‘ abgemildert wird: „Io fuor di me mi sento“ – „Ich fühle mich außer mir“ konstatiert Amasi in La Nitteti (1756), während die Regieanweisung „con trasporto di tenerezza“ vorgibt.13 Ein weiteres populäres Bild der opera seria, dessen elegante Abschwächung sich bei Metastasio beobachten lässt, ist die auf Vergils Aeneis zurückzuführende Metapher Hyrkaniens (ital. Ircana, die Südostküste des Kaspischen Meeres, heute Turkmenistan und Iran) und des hyrkanischen Tigers als Ausdruck von Unzivilisiertheit und Grausamkeit.14 Metastasio verwendet das Bild fünf Mal, zumeist eher beiläufig, einmal in einer Arie als „tigre ircana“, die in der Verteidigung ihres Nachwuchses menschliche Züge aufweise (Siroe, re di Perso [1727]),15 sonst immer rezitativisch als „hyrkanische Wälder“, in die Grausame verwiesen werden (Artasere [1730], L’Issipile [1732]), als äußerstes Exil (Demofoonte [1733]) und einmal als Rüge an einen Brautwerber, dessen Manieren unangemessen seien, da man sich schließlich nicht mehr in besagten hyrkanischen Wäldern befinde (Semiramide riconosciuta [1729]).16 Wie beiläufig-elegant Metastasios Verwendung der populären Metapher ist, erschließt sich erst im Vergleich zu zeitgenössischen Kollegen. In Händels Alcina (1735), einer anonymen Bearbeitung von Antonio Fanzaglias L’isola d’Alcina (1728), dominiert das Bild der hyrkanischen Tigerin in gespreizter Versstellung Metastasio verwendet die Figur ferner in Semiramide riconosciuta (1729), I; 3, La Nitteti (1756), II; 2 und II; 4, Alessandro (1755), III; 10, Adriano in Siria (1733), II; 3, L’Issipile (1732), II; 13, L’Olimpiade (1733), II; 11, Ciro riconosciuto (1736), I; 3 und III; 13, L’Ipermestra (1744), II; 4, sowie in Attilio Regolo (1750), I; 4. 13 Metastasio 1756: V. 581. 14 Vergil 2009: 4, 365-367: „nec tibi diva parens generis nec Dardanus auctor/perfide, sed duris genuit te cautibus horrens/Caucasus Hyrcanaeque admorunt ubera tigres.“ 15 Metastasio 1727: V. 1220-1225: „Se il caro figlio/vede in periglio/diventa umana/la tigre ircana/e lo difende/dal cacciator.“ 16 Siehe Metastasio 1730: V. 1108-1111: „Va’ tra le selve ircane barbaro genitore; fiera di te peggiore, mostro peggior non v’è.“, Metastasio 1732: V. 613-616: „Oh delle fiere istesse Issipile più fiera! Ai boschi ircani accresceresti un nuovo pregio di crudeltà.“, Metastasio 1733a: V. 400-404: „Nel più deserto sen della Libia, alle foreste ircane, fra le scitiche rupi, o in qualche ignota, se alcuna il mar ne serra, separata dal mondo ultima terra.“, Metastasio 1729: V. 262-264: „Non son già queste l’erranti abitatrici dell’ircane foreste.“
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eine ganze Arie: „Stà nell’Ircana/pietrosa tana/tigre sdegnosa“17 Auch der bereits genannte Cigna-Santi bemüht die Tigermetapher in seiner Andromeda (1755) im Rückgriff auf Vergil in der direkten Ansprache: „Qual tigre ti nodrì? Dove nascesti?“18 Im Gegensatz dazu wird bei Metastasio die Metapher nicht als Bild für den Schmerz verwendet. Vielmehr ist dieser unverschnörkelt anwesend, auch wenn die Protagonistin außer sich ist: „È il barbaro dolore/che mi divide il core“ ist Fulvias schlichte Aussage. Das vom Schmerz zerrissene Herz nimmt sich bescheiden aus im Vergleich der Bilder. Zu Unrecht ist Metastasio in diesem Zusammenhang als Langweiler verschrien. Seine Sprache besticht durch die Eleganz der Einfachheit. Bei ihm fallen die Metapherngebirge der Barockoper weg und lassen ein Subjekt zurück, das sich selbst nicht mehr in Bildern beschreibt, sondern Klage und Zweifel als solche benennt. Im Gegenzug kommen das Groteske und das Fantastische – Leitmotive der Oper insbesondere venezianischer Prägung im 17. Jahrhundert – bei Metastasio nicht mehr vor. Auch die Götter bleiben bei ihm der Opernbühne fern. Wenn sie angerufen werden, geschieht dies aus einer Distanz, die deutlich macht, dass mit ihrem Erscheinen nicht mehr gerechnet wird. Es bleibt die Frage, ob in Metastasios hermetisch abgeriegelter seria, in der das Personal von ‚oben‘ und von ‚unten‘ keinen Zugang mehr hat, noch eine Art von Nicht-Ich-Sein oder Verwandlung möglich ist, wie sie in älteren Theaterzusammenhängen und auch in außereuropäischen Theaterformen bis heute selbstverständlich auftritt und wie sie mit der Metapher auch in der Barockoper zu Hause ist. Nur noch an einzelnen Stellen blitzt bei Metastasio ein Rückgriff auf die Möglichkeit des Ausbruchs auf. Die Verwandlung ist ihm aber stets nur Verkleidung, deren Uneigentlichkeit immer mitgedacht wird. Es gibt keine Spur mehr von der Ambiguität, mit der bei Händel eine Bradamante auf Alcinas Insel als Ricciardo auftritt oder von der Selbstverständlichkeit, mit der sich bei Mateo Nori die Grenzen zwischen Nino und Semiramide als permeable Membran innerhalb eines Doubles lesen lassen:19 Metastasios Semiramide riconosciuta wird bereits in der ersten Szene der Oper erkannt und Semiramide selbst macht in beinahe jeder Szene deutlich, dass sie ihre eigene Verkleidung aufgeben möchte und als nicht angemessen empfindet. Auch Fulvia aus dem Ezio wehrt sich dagegen, etwas vorzuspielen, was sie nicht ist. Als sie es schließlich doch tut, nimmt sie beinahe jeden Satz in einem a parte zurück und fällt nach nur wenigen Minuten aus der Rolle. Die Möglichkeit, mehrere zugleich zu sein, oder sich als einer in viele andere zu verwandeln, kommt hier bereits nicht mehr vor oder wird zumindest als unmora17 Händel 1868: 120. 18 Mozart 2002a: 24 (Takt 21-23). 19 Siehe Heller 2003: 220-259.
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lisch betrachtet. Auch die in früheren Barockopern gegebene Lust an der Verkleidung, die zur Verwandlung führen kann, verschwindet bei Metastasio, auf der Handlungsebene wie auch auf der zunehmend geglätteten Wand der Textoberfläche. Es bleibt nur der Ausnahmezustand, in dem das Ideal der Pflichterfüllung zu sich selbst in Widerspruch gerät, um einen Riss zu schaffen, durch den hindurch man auch bei Metastasio noch auf eine ältere Form von Subjektverständnis blicken kann, dessen Grenzen eine Idee von Durchlässigkeit erlauben.
L ITERATUR Bellina, Anna Laura/Tessarolo, Luigi: Pietro Metastasio. Drammi per musica, in: www.progettometastasio.it/pietrometastasio/index.jsp [14.04.2011]. Dean, Winton: Handel and the opera seria. London: Oxford University Press 1970. Foucault, Michel: Die Ordnung der Dinge. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1997. Freeman, Robert: „Apostolo Zeno’s Reform of the Libretto“, in: Journal of the American Musicological Society 21, 3 (1968), 321-341. Händel, Georg Friedrich: Alcina. Leipzig: Deutsche Händelgesellschaft 1868. Heller, Wendy: Emblems of Eloquence. Opera and Women’s Voices in seventeenthcentury Venice. Berkeley: University of California Press 2003. Kaden, Christian: Das Unerhörte und das Unhörbare. Was Musik ist, was Musik sein kann. Kassel: Bärenreiter 2004. Metastasio, Pietro: Siroe re di Persia. Neapel: Vocola 1727. Metastasio, Pietro: Catone in Utica. Rom: Bernabò 1728a. Metastasio, Pietro: Ezio. Venedig: Buonarigo 1728b. Metastasio, Pietro: Semiramide riconosciuta. Rom: Zempel & de Mey 1729. Metastasio, Pietro: Artaserse. Rom: Zempel e de Mey 1730. Metastasio, Pietro: L’Issipile. Wien: van Ghelen 1732. Metastasio, Pietro: Demofoonte. Wien: van Ghelen 1733a. Metastasio, Pietro: L’Adriano in Siria. Venedig: Bettinelli 1733b. Metastasio, Pietro: L’Olimpiade. Wien: van Ghelen 1733c. Metastasio, Pietro: Achille in Sciro. Wien: van Ghelen 1736a. Metastasio, Pietro: Ciro riconosciuto. Wien: o.V. 1736b. Metastasio, Pietro: L’Ipermestra. Wien: van Ghelen 1744. Metastasio, Pietro: Attilio Regolo. Friedrichstadt: Harpeter 1750. Metastasio, Pietro: Alessandro. Paris: Quillau 1755. Metastasio, Pietro: La Nitteti. Madrid: o.V. 1756. Metastasio, Pietro: Il trionfo di Clelia. Wien: van Ghelen 1762.
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Mozart, Wolfgang Amadeus: „Misera, dove son… Ah, non son’io“ [KV 369], in: Kunze, Stefan (Hg.): Neue Mozart-Ausgabe II/7, Bd. 2. Kassel: Bärenreiter 2002, 125-134. Mozart,Wolfgang Amadeus: „Ah, lo previdi... Ah, t’invola“ [KV 272], in: Kunze, Stefan (Hg.): Neue Mozart-Ausgabe II/7, Bd. 2. Kassel: Bärenreiter 2002a, 23-40. Pettitt, Stephen: Handel. New York: Pavillon Books 1994. Vergilius Maro, Publius: Aeneis. Hg. von Gian Biago Conte. Berlin: De Gruyter 2009.
Toilettenkunst oder Tugendhaftigkeit? Die Konstruktion der Schauspielerin um 1900 als bürgerliches Anti-Subjekt S TEFANI E W AT ZKA Kein Beruf ist mit einem solchen äußeren Glanz umgeben, wie der der Schauspielerin; aber keiner bietet so viel Schwierigkeiten und Gefahren wie dieser. Man hat ihn nicht mit Unrecht mit dem Licht verglichen, um das die Falter schwirren, um in den weitaus meisten Fällen umzukommen. TONY KELLEN1
Mit diesem doch allzu pathetischen Zitat beginnt ein Buch aus dem Jahr 1902, das den folgenden Titel trägt: Die Not unserer Schauspielerinnen. Studien über die wirtschaftliche Lage und die moralische Stellung der Bühnenkünstlerinnen, zugleich Mahnwort und Wegweiser für junge Damen, die sich der Bühne widmen wollen. Es handelt sich dabei um einen Berufsratgeber für potenzielle oder bereits angehende Bühnenkünstlerinnen – wobei mit diesem Begriff nicht nur Schauspielerinnen gemeint sind, sondern zumindest am Rande auch Sängerinnen und Tänzerinnen2 – geschrieben von Tony Kellen, einem Theaterschaffenden, Journalist, Schriftsteller und Übersetzer um 1900. Doch allem Pathos zum Trotze: Kellen behält bis zu einem gewissen Grade natürlich Recht mit seiner Aussage. Kaum ein anderer zeitgenössischer Beruf barg für die Aspirantinnen vergleichbar große ökonomische, soziale und insbesondere moralische Risiken wie der der Schauspielerin. Gleichzeitig aber, dies darf nicht übersehen werden, wenn es hier auch nur am Rande erwähnt werden soll, bot er den Frau1
Kellen 1902: 1.
2
Im Kontext des vorliegenden Beitrags soll sich allerdings hauptsächlich auf die Schauspielerin konzentriert werden.
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en auch gewisse Vorteile und Möglichkeiten. Dennoch: Der Ruf der Schauspielerinnen in der deutschen Gesellschaft um 1900 war allgemein kein besonders guter. Oft wurde den Frauen unterstellt, sie seien gefallsüchtig und eitel, würden sich prostituieren, verhielten sich intentional unmoralisch und unsittlich und hätten ein sprunghaftes und unbeständiges Wesen. Im vorliegenden Beitrag soll gezeigt werden, dass der Rolle dieser vorgeblich amoralischen Schauspielerin allerdings eine gewisse soziale Notwendigkeit anhaftete. Schließlich war es gerade diese Rolle, welche die Bühnenkünstlerin zu einem so genannten „Anti-Subjekt“ zum „spätbürgerlich-weiblichen Subjekt“ machte, um mich dem Vokabular von Andreas Reckwitz aus seiner 2006 erschienenen Habilitationsschrift Das hybride Subjekt zu bedienen, und die genau durch diese Rolle als ‚Anti-Subjekt‘ das vorherrschende Subjekt-Ideal der bürgerlichen Frau affirmativ stützte und festigte. Doch inwiefern bildete die Schauspielerin, wie hier angenommen wird, überhaupt das ‚Anti‘- oder ‚Gegensubjekt‘ zum spätbürgerlich-weiblichen Subjekt der Moderne? Diese Frage soll unter Rückgriff auf die Ausführungen von Reckwitz, die dem vorliegenden Beitrag als theoretische Grundlage dienen, beantwortet werden. Andreas Reckwitz definiert das Subjekt als eine sozial-kulturelle Form […], als kontingentes Produkt symbolischer Ordnungen, welche auf sehr spezifische Weise modellieren, was ein Subjekt ist, als was es sich versteht, wie es zu handeln, zu reden, sich zu bewegen hat, was es wollen kann. Der Einzelne – als körperlichmentale Entität – wird zum Subjekt und existiert in der zeitlichen Sequenz seiner Existenz allein im Rahmen kollektiver symbolischer Ordnungen, die in spezifischer Weise Subjektpositionen definieren und Subjektkulturen bilden.3
Innerhalb dieser Subjektkulturen bedarf es allerdings zur Affirmation des Subjekts als Teil der sozial dominierenden Subjektgruppe „Differenzmarkierungen gegenüber anderen Subjektivitäten […]“4. Die Identität des Subjekts entsteht nach Reckwitz folglich „nicht unmittelbar, sondern über den Weg einer Markierung von ‚Differenzen‘ gegenüber Modellen eines Anti-Subjekts, wie sie die Subjektkulturen enthalten“5. Die bürgerliche Frau im ausgehenden 19. Jahrhundert bildete als Pendant und ergänzende Entität zum bürgerlichen Mann mit diesem gewissermaßen eine Einheit, welche die sozial dominierende Gruppe der Subjektkultur darstellte; allerdings wurden „[m]ännliche und weibliche Subjekte […] im bürgerlichen Diskurs der Ge3
Reckwitz 2006: 34.
4
Reckwitz 2007: 97-118, hier 103.
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Reckwitz 2006: 45. Hervorhebungen im Original.
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schlechtscharaktere des 19. Jahrhunderts als unterschiedlich in ihren Persönlichkeitsstrukturen repräsentiert und entsprechend gegensätzlich trainiert“6. Die bürgerliche Frau war dabei durch relativ klare Zuweisungen auch in ihrer sozialen Rolle charakterisiert: Sie vertrat die Einheit der Familie, war Ehefrau und Mutter, Symbol der Emotionalität im Gegensatz zur männlichen Rationalität, war weiterhin Sinnbild der Reproduktion im Kontext der heimischen und damit kontrollierten Sexualität sowie Repräsentantin der typisch bürgerlichen Moralvorstellungen. Reckwitz gibt dazu an: „Über die im Moralcode integrierte Einheit der bürgerlichen Praxis lagert sich ein instabiler Dualismus zwischen ‚Öffentlichem‘ und ‚Privatem‘, zwischen der Welt der Arbeit und jener der als Familie modellierten Intimsphäre, wobei letztere als Kompensation für erstere repräsentiert wird.“7 Auch hinsichtlich der beiden Sphären gab es eine klare Verteilung: Dem männlichen Subjekt wurde die Sphäre der Öffentlichkeit zugeordnet, wohingegen das weibliche Subjekt das Familiär-Häusliche repräsentierte. Neben diesen beiden Sphären kam der Kunst als einer Art Zwischensphäre „der Status eines changierenden Dritten“8 zu. Die Bühnenkünstlerin als Repräsentantin der Sphäre der Kunst spielte dementsprechend eine gesonderte Rolle: Sie konterkarierte gleich auf mehreren Ebenen das bürgerliche Ideal-Subjekt um 1900, wie im Folgenden gezeigt werden soll. Die Schauspielerin kann retrospektiv als eine meist auf sich selbst gestellte Arbeiterin bezeichnet werden, schließlich verdiente sie häufig ohne Dazutun eines Ehemanns oder Vaters ihren eigenen Lebensunterhalt, bezog ein eigenes Zimmer zur Untermiete und schloss eigene Verträge mit Agenten oder Theaterdirektoren ab. Der zeitgenössische Kritiker Julius Bab gibt in seiner 1915 erschienenen Schrift Die Frau als Schauspielerin demzufolge auch an, „Schauspielerin [sei] ja der erste, lange Zeit einzige ‚Frauenberuf‘ [gewesen]; zum mindesten stellte kein anderer Beruf in so betonter Weise Frauen zur Schau, die einem aktiven, schöpferischen Trieb, also einer relativ männlichen Veranlagung folgten“9. In Babs Äußerung wird sehr deutlich, dass die Schauspielerin sich mittels ihrer Berufswahl und den damit in Verbindung gebrachten männlichen Geschlechtscharakteristika („aktiver, schöpferischer Trieb“) in die Sphäre der Öffentlichkeit begab – und somit in die männlich dominierte Welt der Wirtschaft und Arbeit eindrang. Sie blieb nicht in der bürgerlichen Intimsphäre der familiären Häuslichkeit ‚versteckt‘, also sozial kaum sichtbar, wie es hinsichtlich der bürgerlichen Frau der Fall war, sondern war durch ihre Auf-
6
Reckwitz 2006: 243.
7
Reckwitz 2006: 243.
8
Reckwitz 2006: 243.
9
Bab 1915: 53.
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tritte im Theater und die Rezeption in den Medien Teil des öffentlichen Geschehens und Interesses. Dementsprechend nahm sie nicht primär die – in der zeitgenössischen Vorstellung dem Ideal-Subjekt Frau zugeschriebene – Rolle der Ehefrau und Mutter ein, im Gegenteil. So war es an vielen Bühnen Gang und Gäbe, dass der Kontrakt zwischen der Schauspielerin und der Theaterdirektion im Falle einer Verheiratung aufgelöst wurde. Die Handhabung war noch radikaler, wurde die Bühnenkünstlerin – gewollt, öfter allerdings ungewollt – schwanger. Dies führte fast immer zu fristlosen Kündigungen, was viele Frauen in die prekäre Situation der Armut und Hilfsbedürftigkeit brachte.10 Diese Situation bemängelt Bab und verweist erneut darauf, dass der Beruf der Schauspielerin ein den Geschlechtscharakteristika der Frau eigentlich widersprechender sei, wenn er schreibt: „Jener hohe Grad von äußerer, sozialer Stabilität, den die Frau kraft des konservativeren Zuges ihrer Natur erstreben muß, wird ihr durch das Wesen eines Berufes verweigert, der seiner inneren Art wie seiner äußeren Organisation nach auf Wandel und Wandern gestellt ist.“11 Der Beruf der Schauspielerin bzw. die Strukturen der zeitgenössischen Theatersituation verweigerten der Frau laut Bab also, sich ihren ‚eigentlichen‘ weiblichen Charaktereigenschaften nach zu verhalten, und zwangen sie, diese zu ‚überspielen‘. Darin erkennt der Autor die grundsätzliche Problematik hinsichtlich der Schauspielerin: „In diesem Widerstreit der tief sozialen, der mütterlichen Instinkte der Frau mit der antisozialen Tendenz des Schauspielerberufes liegt das eigentlich unlösbare Problem der Frau als Schauspielerin.“12 Mit dem Verweis auf die „mütterlichen Instinkte“, die durch den Schauspielerberuf untergraben würden, führt Bab die im 19. Jahrhundert vorherrschenden Geschlechtscharakteristika auf (pseudo-) biologistisch-evolutionäre Wurzeln zurück und betont mit dieser (erneut pseudo-) wissenschaftlichen Argumentation indirekt auch, in welchem Maße die Schauspielerin dem Ideal-Subjekt „bürgerliche Frau“ diametral entgegensteht. Auch hinsichtlich der weiblichen, aber vor allem männlichen bürgerlichen Sexualität spielte die Schauspielerin eine gesonderte Rolle. Im Gegensatz zur häuslichen Eheintimität spiegelte sie in den Augen des männlichen Publikums eine von den Zweisamkeitsgrenzen der romantisch-kontrollierten Liebe befreite Erotik und damit sexuelle Verfügbarkeit wider. Durch die körperbetonten Kostüme, die koketten Rollen, bspw. der Mätresse oder Kurtisane, und auch das Stehen in der Öffentlichkeit wurde die Schauspielerin zu einer Projektionsfläche des sexuellen Begehrens für das bürgerlich-männliche Subjekt. Die permanente Sexualisierung der Schauspielerin symbolisierte ebenjene auf sie projizierte erotische Grenzlosigkeit, welche 10 Vgl. dazu u.a. Helleis 2006, 98-102. 11 Bab 1915: 48. 12 Bab 1915: 42.
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in der heimischen Intimsphäre der Bürger ihre Einschränkung und Kontrolle fand. In der moralisch als einzige Option anerkannten Situation einer auf die Intimität der häuslichen Ehegemeinschaft beschränkten Sexualität wurde die Schauspielerin für den männlichen Zuschauer damit zum Sinnbild der erotischen Freiheit. Dementsprechend war der Schritt zur Unterstellung der Unmoral und Unsittlichkeit ein kleiner, sei es, indem sexuelle Wünsche auf die Frauen projiziert wurden, oder gar indem die Schauspielerin – meist bedroht durch Armut und finanzielle Not – ihren Körper wirklich dazu verwendete, ebenjener Not entgegenzuwirken, indem sie sich prosituierte. Bab findet für die Bewertung dieser Entwicklung klare Worte. So skandiert er: „Das Moralproblem der Frau als Schauspielerin ist wesentlich ein Problem der männlichen Zuschauermoral!“13 Bab verurteilt den „Druck dieses sexuellen Interesses“, unter dem die Bühnenkünstlerinnen permanent stünden, mit aller Schärfe. 14 Dies wird deutlich, wenn er schreibt: „Und unter der Herrschaft jenes umgebrochenen [sic!], so sehr bequemen Sexualdogmas beschloß der männliche Pöbel aller Stände, daß diese ‚also‘ keine richtigen Frauen wären, keine Menschen mit Anspruch auf Menschenwürde und Achtung – also gute Beute.“ 15 Allerdings – dies sollte als Randnotiz nicht vergessen, wenn auch nicht überbewertet werden – bedeutete diese Position für die Schauspielerin auch die Möglichkeit, der sozialen Eingeschränktheit, der Restriktion der weiblichen Sexualität, welche die bürgerliche Frau in der ehelichen Intimität erlebte, zu ‚entkommen‘ und ihr Leben und ihre Sexualität in relativer Freiheit auszuleben. So weist Kellen beispielsweise sehr wohl hin auf das „freie Leben einer Schauspielerin […], die stets nach der neuesten Mode sich kleiden kann, die geehrt wird und umschmeichelt wird und sich ungebunden bewegen darf“16. Diese Einstellung gegenüber der Schauspielerin als amoralisches Subjekt spiegelt eine lange theater- und schauspielerfeindliche Tradition wider. Bis ins 19. Jahrhundert hinein hatte sich diese schwierige Situation für die Bühnenkünstler – zumindest auf der sozialen Ebene – nur wenig verbessert, wie Kellen angibt: „Im Laufe des 19. Jahrhunderts haben sich die Anschauungen [über die Schauspieler] bedeutend verändert […]. Rechtlich sind sie jetzt allen anderen Staatsbürgern gleichgestellt, aber in gesellschaftlicher Hinsicht werden sie auch jetzt noch vielfach als minderwertig betrachtet.“17
13 Bab 1915: 69f. 14 Bab 1915: 54. 15 Bab 1915: 53. 16 Kellen 1902: 18. 17 Kellen 1902: 17.
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Noch zusätzlich zu der Verurteilung des vorgeblich amoralischen Verhaltens wurde um 1900 – gerade aus bürgerlichen Kreisen – weitere Kritik an den Bühnenkünstlerinnen laut. Diese Kritik grenzte die Schauspielerin nicht nur in ihrem Gebaren vom bürgerlichen Subjekt-Ideal ab, sondern, in der Argumentation mit diesem allerdings eng verknüpft, auch vom bürgerlichen Kunstideal. Bei diesem handelte es sich um eine häufig am 18. Jahrhundert orientierte Vorstellung vom Theater als moralischer Anstalt. So wurde im Diskurs besonders verurteilt, dass ein großer Teil der zeitgenössischen Schauspielerinnen, nämlich jene ‚moralisch verkommenen‘, geradezu inflationär andere Bühnenkünstlerinnen verdrängten, die dem bürgerlichen Theaterideal eines Orts der Bildung folgen wollten und es ernst meinten mit der Kunst. Statt der hehren Kunst zu frönen, zögen erstere es vor, dem Publikum ihre Körper und das modische Kostüm zu präsentieren, gäben sich also der Übertreibung der – wie es im zeitgenössischen Kontext heißt – „Toilettenkunst“ hin. Darunter wurde das Streben danach verstanden, mit den Kostümen, v.a. dem modernen Bühnenkostüm, stets der aktuellen internationalen Mode zu entsprechen und besonders elegant und prachtvoll aufzutreten, um wiederum ein modisches Vorbild für die weiblichen Zuschauer im Publikum zu sein. Dass diese Schauspielerinnen selbst für einen mehr als geringen Lohn arbeiteten, käme der im Diskurs außerdem so häufig kritisierten wirtschaftlich orientierten Theatersituation in Deutschland äußerst gelegen. Dies führe jedoch zu einer inflationären, durch die Bühnendirektoren wie durch die Schauspielerinnen selbst vorangetriebenen Situation – ein Zustand, der als schwerwiegender Mangel beanstandet wurde, wie am folgenden Zitat von Herbert Roland aus seiner 1893 erschienenen Schrift Die Vampyre der Schauspielerinnen erkennbar wird: Aber weil sie „billig“ sind und gerade auch nicht „ungefällig“, so nehmen sie die Stellungen ein, und die ehrliche, wirkliche Künstlerin, die, um ehrlich zu bleiben, unmöglich für Sündengage arbeiten kann, wird überflüssig. […] Der Glanz der Kostüme und Brillanten, Keckheit und scrupelfreie Talentlosigkeit triumphieren über das ernste, ehrenhafte Genie.
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Auch der zeitgenössische Theatermacher und Autor Heinrich Stümcke erkennt in seiner Abhandlung Die Frau als Schauspielerin aus dem Jahr 1905 diese künstlerischen Defizite. Statt sich der Kunst zu widmen, seien die Schauspielerinnen nur auf den äußeren Schein bedacht, was seiner Meinung nach ein verheerendes Defizit der zeitgenössischen Theatersituation darstellte: Die Damen, die ohne Gage mitspielen, sitzen nicht nur in den Logen, sondern sie machen sich in der Pracht der neuesten Pariser Robe und der funkelnden Brillanten auch auf der Bühne breit; es sind die skrupellosen Evastöchter, die nicht Kunstbegeisterung zur Bühne trieb, 18 Roland 1893: 8.
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sondern der Wunsch, Reize, mit denen sie die Natur freigebig bedacht, zur Schau zu stellen, um sie so vorteilhaft wie möglich an den Meistbietenden zu verkaufen. 19
Die das zeitgenössische Theater prägende Verwässerung der Bühnenkunst führt also auch Stümcke auf diejenigen Schauspielerinnen zurück, die durch ihr exhibitionistisches, geradezu prostitutives Verhalten das bürgerliche Bildungsideal unterminierten. Da über all diesen Aspekten, durch die eine Abgrenzung der Subjektform Schauspielerin vom gesellschaftlich dominierenden bürgerlichen Subjekt stattfand, stets ein Schleier der bürgerlichen Kritik – und eine Faszination – lag, kann man die Schauspielerin also als ‚Anti-Subjekt‘ zum bürgerlichen Ideal-Subjekt bezeichnen, ein ‚Anti-Subjekt‘, welches sehr viel Reibungsfläche bot: So konnte es natürlich nicht gutgeheißen werden, dass die Schauspielerin in die bürgerlich-männlich dominierte Arbeitswelt eindrang, denn damit – und durch das Stehen in der Öffentlichkeit – konterkarierte sie das Bild der bürgerlichen Hausfrau, deren Sphäre die familiäre Privatheit war. Dadurch, dass sie zum Symbol für sexuelle Freizügigkeit und Objekt des Begehrens in einer eigentlich durch Restriktionen und Kontrolle (aber auch durch Doppelmoral) charakterisierten Gesellschaft gemacht wurde, unterminierte sie die moralischen Werte der Gesellschaft, die ihre Bestimmung ursprünglich im Ideal der bürgerlichen Familie fand. Und auch das Untergraben der bürgerlichen Idee eines Theaters als Ort der Bildung und der Moral durch die Zurschaustellung der Reize des weiblichen Körpers und der Kostümpracht, statt der Kunst, machte sie zur Zielscheibe der bürgerlichen Kritik. Somit bildete die Subjektform Schauspielerin eine perfekte Folie, um die Differenzmarkierung zur Selbstaffirmation der eigenen bürgerlichen Rolle als gesellschaftlich dominierendes Subjekt zu üben. Um zu verdeutlichen, in welchem geradezu abstrusen Maß dies passierte, soll zum Schluss noch einmal unter Rückgriff auf einen Teil des den vorliegenden Beitrag einleitenden Zitats verwiesen werden. Dort heißt es: „Man hat [den Beruf der Schauspielerin] nicht mit Unrecht mit dem Licht verglichen, um das die Falter schwirren, um in den weitaus meisten Fällen umzukommen.“20 Die Warnung vor dem Scheitern als Schauspielerin, welches mit einem sozialen Totalabsturz der Frau gleichzusetzen wäre, zieht sich wie ein roter Faden durch Kellens Buch, das doch eigentlich ein Ratgeber sein möchte. Doch die Schrift verkommt mehr und mehr nicht nur zum „Mahnwort“, wie es behauptet, sondern zur Warnung vor den Risiken des Berufs. So rät Kellen den Frauen letzten Endes sogar ganz von der Berufswahl ab, wenn er schreibt: „Den besten Teil erwählen noch diejenigen, die eine vor19 Stümcke 1905: 72f. 20 Kellen 1902: 1.
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teilhafte Heirat schließen und der Bühne den Rücken kehren. Aber die vielen andern? Sie fristen zumeist ein kümmerliches Dasein und sterben in Vergessenheit.“21 Der beste – und scheinbar auch einzige – Weg, der die Schauspielerin vor dem sozialen Tod rettet, bleibt letztlich also doch der in die bürgerliche Eheintimität durch eine Verheiratung – und damit die Wandlung vom ‚Anti-Subjekt‘ „amoralische Schauspielerin“ zum bürgerlich-weiblichen Subjekt. Und um der Doppelmoral noch die Krone aufzusetzen: Der einzige Retter in der Not der gefallenen Schauspielerin bleibt dann, glaubt man zumindest Paul Schlenther, den Kellen hier zitiert, schließlich doch der bürgerliche Mann: „Aus sehr übelbeleumundeten Frauen sind an der Hand eines edlen Mannes vortreffliche Hausfrauen geworden, die ihren Kindern im gut bürgerlichen Sinne eine um so musterhaftere Erziehung gaben, je besser sie aus eigner Erfahrung die Klippen des Lebens kannten.“22
L ITERATUR Bab, Julius: Die Frau als Schauspielerin: ein Essay. Berlin: Oesterheld 1915. Helleis, Anna: Faszination Schauspielerin. Von der Antike bis Hollywood. Wien: Braunmüller 2006. Kellen, Tony: Die Not unserer Schauspielerinnen. Leipzig: Verlag von Otto Wigand 1902. Reckwitz, Andreas: Das hybride Subjekt. Weilerswist: Velbrück Wissenschaft 2006. Reckwitz, Andreas: „Die Moderne und das Spiel der Subjekte“, in: Bonacker, Thorsten/Reckwitz, Andreas (Hg.): Kulturen der Moderne: Soziologische Perspektiven der Gegenwart. Frankfurt: Campus-Verlag 2007, 97-118. Roland, Herbert: Die Vampyre der Schauspielerinnen. Blicke hinter die Kulissen. Chemnitz: Hager 1893. Stümcke, Heinrich: Die Frau als Schauspielerin. Leipzig: Rothbarth 1905.
21 Kellen 1902: 31. 22 Paul Schlenther, zit. nach Kellen 1902: 30.
„Subjection“ Schauspielen als Unterwerfung unter die Macht der Schönheit K ATHARINA WILD
Jahrhundertelang kreiste das europäische Theater um kaum etwas anderes als das Subjekt. Einer der ersten Theaterschaffenden, der diese Sichtweise vehement in Frage stellte, war Edward Gordon Craig. Mit seiner Forderung nach „subjection“1, nach völliger Unterwerfung des Menschen unter die Macht der Schönheit ebnete er den Weg für ein neuartiges Verständnis des Schauspielers als Medium einer geheimnisvollen Kraft. Damit legte Craig den Grundstein sowohl für eine neue Spielweise als auch eine Neubestimmung des Subjekts und seiner Entstehung. Um seinen Ideen Gehör zu verschaffen, schreckte Craig vor radikalen Forderungen nicht zurück. Mit folgendem Zitat der Schauspielerin Eleonora Duse begann er seinen 1908 erschienenen Aufsatz „The Actor and the Über-Marionette“: „TO SAVE THE THEATRE, THE THEATRE MUST BE DESTROYED; THE ACTORS AND ACTRESSES MUST ALL DIE OF THE PLAGUE. … THEY MAKE ART IMPOSSIBLE.“2 Als Craigs Text veröffentlicht wurde, ging ein Aufschrei durch die Theaterwelt. Den Schauspielern, die (zumindest in Europa) unangefochten im Zentrum des Theaters standen, die Pest an den Hals zu wünschen, war eine Kampfansage an
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Wörtlich verwendet Craig „subjection“ sehr selten, etwa im weiter unten zitierten Gespräch zur Rolle der Disziplin im Theater (Craig 1962: 171). Seine Schriften sind jedoch durchdrungen vom Konzept einer Unterwerfung, die das Subjekt zugleich auslöschen und neu erschaffen will. Sie drückt sich daher nicht nur in der Forderung nach Unterordnung unter strenge Regeln aus. Vielmehr fallen unter „subjection“ beispielsweise auch die Einordnung ins Gesamtbild der Inszenierung oder der absolute Gehorsam gegenüber dem Regisseur.
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Craig 1962: 54.
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alles, was bis dato im Zentrum der Theaterarbeit gestanden hatte: eine enge Bindung an den dramatischen Text, eine in sich geschlossene und schlüssige Handlung oder die glaubwürdige Nachahmung und Darstellung der Figuren. Dennoch ging es Craig nicht darum, das Theater zu zerstören. All sein Denken, Schreiben, Zeichnen, Experimentieren und Inszenieren war vielmehr auf die Suche nach der wahren Kunst des Theaters ausgerichtet. Deren Ziel war nichts weniger als die Schöpfung vollendeter Schönheit, die Geburt eines „perfect and balancing life ... to be called Beauty“.3 Der menschliche Schauspieler war Craig dabei vor allem Hindernis. Für ihn stand außer Frage, dass Kunst nur mithilfe genauer Planung entstehen könne: „Art arrives only by design. Therefore in order to make any work of art it is clear we may only work in those materials with which we can calculate. Man is not one of these materials.“4 Die Unberechenbarkeit und Zufälligkeit des menschlichen Spiels stand in Craigs Augen all dem entgegen, was so essentiell für die Hervorbringung von Schönheit und damit wahrer Theaterkunst war: Ausgewogenheit, Harmonie, Unvergänglichkeit, Gleichgewicht. Besonders skeptisch betrachtete Craig die Einfühlung. Kaum etwas fürchtete er mehr als die dämonische Macht der Emotion, die den Schauspieler ganz in ihre Gewalt zu bringen vermochte und dadurch alles zerstören konnte, was der Verstand möglicherweise an Schönem zu schaffen in der Lage war. Entschieden wandte Craig sich damit gegen eine der Grundlagen des traditionellen europäischen Theaters, das stets den Menschen samt seiner Handlungen, Gedanken und Gefühle in den Mittelpunkt gerückt hatte. Craigs negative Beurteilung der Emotionen, die Angst vor der Versklavung des Körpers durch das Fühlen, führten ihn zu einer Loslösung vom menschlichen Subjekt. Der Körper des Menschen als Form und Gestalt kann seiner Ansicht nach zwar weiterhin Schönheit transportieren, allerdings nicht auf dem Wege emotionaler Einfühlung und Verkörperung einer Figur. Dies legt unter anderem auch Craigs Bevorzugung von Marionetten nahe, deren Körperform zwar der menschlichen Gestalt gleicht, die aber nicht dem schädlichen Einfluss der Emotion ausgesetzt sind. Aus dieser Haltung spricht eine Vorstellung vom Subjekt als einer abgeschlossenen, von äußeren Einflüssen weitgehend unabhängigen Instanz, die ständig darum kämpft, in ihrer Eigenart und Eigenheit bestehen zu dürfen. Eine solche Vorstellung ist mit Craigs Überzeugung von der Un- und Überpersönlichkeit wahrer Kunst ganz und gar unvereinbar. Für ihn ist der Schauspieler nie als in sich geschlossenes Subjekt von Interesse, sondern nur als Medium für die Ideen des Künstlers. Deshalb lag ihm auch nichts ferner als der Gedanke des Einfühlens. Nur wenn der Schauspieler gerade nichts mehr fühlt, wenn die Bereiche des Unbewussten, Instinkt, Gefühle 3
Guidry 1966: 185.
4
Craig 1962: 55-56.
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und Leidenschaften soweit ausgeschaltet sind, dass sie weder den Geist beeinflussen noch sich gewollt oder ungewollt in Körperbewegungen und -haltungen manifestieren, kann der Künstler seine Botschaft übermitteln und etwas Schönes schaffen. Im Unterschied zu Puppen oder Marionetten ist es für den menschlichen Spieler jedoch nahezu unmöglich, ganz und gar frei von Gefühlen zu sein. Zudem sind Schauspieler, anders als Marionetten, ständig versucht, im Spiel ihrer Persönlichkeit Ausdruck zu verleihen. Dies mag zwar Publikumserfolg garantieren, künstlerisch und schön sei dies jedoch nicht, erklärt Craig: But we are here talking about other things than excellent spirits, and though we applaud the actor who exhibits such a personality as this, I feel that we must not forget that we are applauding his personality, he it is we applaud, not what he is doing or how he is doing it; nothing to do with art at all, absolutely nothing to do with art, with calculation, or design. 5
Was Craig dabei vor allem stört, ist die Vernachlässigung der für ihn so wesentlichen Form der Darstellung gegenüber ihrem Inhalt. Nicht die Art und die Qualität des Schauspielens stehen mehr im Vordergrund, sondern die Individualität des Schauspielers. Diese darf für Craig jedoch nicht sichtbar sein. Besonders problematisch ist dies, wenn die Individualität sich nicht nur in äußeren, nur bedingt veränderbaren Faktoren wie Alter, Geschlecht, Aussehen manifestiert, sondern der Charakter und die innere Disposition des Schauspielers das Spiel bestimmen. Schon in seinen Aussagen über die Gefahren der Emotion klingt diese Überzeugung Craigs immer wieder an. Wenn das Spielen bloß expressiv ist und somit dem Aus- und Darstellen persönlicher Gefühle dient, kann es nicht als Kunst bezeichnet werden. Was durchaus eine Qualität der Darstellung sein kann, ist für Craig ein Makel. Nur Entpersönlichung und Formalisierung führen in seinen Augen zur wahren Vollkommenheit und Schönheit. Die Ausstrahlung einer charakteristischen Persönlichkeit kann zwar ein Publikum begeistern, doch sie vermittelt nicht diejenige Schönheit, die Craig vorschwebt, denn dazu wäre die Unterordnung unter strenge Regeln erforderlich, nicht ihre Suspendierung oder Überschreitung. Craigs Gedanken kreisten daher immer wieder um ein Theater ohne menschliche Darsteller. So dachte er beispielsweise über Inszenierungen nach, die allein in der Bewegung architektonischer Bühnenelemente bestanden. Ausführlich experimentierte er mit Marionetten, und immer wieder spricht er von seiner Suche nach einem nicht-menschlichen, nicht-körperlichen Instrument, mit dessen Hilfe Schönheit sichtbar gemacht werden könne. Vor allem aber stellt er dem Schauspieler die Über-Marionette als ideale Figur gegenüber. In ihr überschneiden sich Göttliches und Menschliches, Schönheit und Schrecken, Tod und Leben. Sie besticht durch ihre edle Künstlichkeit, die auf absoluter Selbstbeherrschung beruht und in einer 5
Craig 1962: 70.
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besonderen Form von Mut wurzelt. Dieser befähigt die Über-Marionette, die dem Menschen eigene Furcht vor Leid, Schmerz und dem Tod zu überwinden. Negative Erfahrungen sind ihr sogar notwendiges Durchgangsstadium um zur wahren Schönheit vorzudringen. Als vollkommenes Medium dieser Schönheit ist sie völlig frei von individuellen Wünschen, Haltungen oder Sichtweisen. Die ÜberMarionette steht für eine Seinsweise, die personale Identitäten im Sinne des klassischen Individuums nicht mehr kennt. Sie kann nicht als in sich geschlossenes Subjekt betrachtet werden, das sich der Welt konfrontieren muss. Eher geht sie darin auf, deutet auf eine permanente Überschreitung des eigenen Selbst, auf dynamische Konstellationen überindividueller Energien. Die Über-Marionette ist eine Figur, in der sich Schönheit, Harmonie und Vollkommenheit auf immer neue Weise aktualisieren und materialisieren. Dem Schauspieler ist sie Leitbild und Antrieb, sich selbst ganz und gar aufzugeben und sich gleichfalls vorbehaltlos der Macht der Schönheit zu unterwerfen. Geht man mit Judith Butler davon aus, „that a subject is not only formed in subordination, but that this subordination provides the subject’s continuing condition of possibility“ 6, so kann die Über-Marionette allein aufgrund dieser Unterwerfung als sie selbst existieren. „Subjection“, wie Craig sie denkt, zielt daher einerseits auf die totale Auslöschung des Subjekts und will es andererseits völlig neu erschaffen. Craig lässt eine solche Selbstaufgabe und Entstehung eines Selbst in ein fortwährendes Wechselspiel eintreten, das an eine fundamentale Erfahrung des Menschseins rührt: Sterben und Tod. Nur an dieser letzten Grenze des Lebens wird in ähnlicher Weise deutlich, wie in der Aufgabe alles Eigenen, alles Gesicherten, alles Erfahrenen und zuverlässig Gewussten die Entfaltung eines Neuen, noch Unvorstellbaren aufscheint. Für Craig, dem Sterben nicht das Ende bedeutet, sondern Übergang in neues Leben ist, ist der Tod auch aus diesem Grund Quelle vielfältiger Inspiration und Ursprung wahrer Lebendigkeit: […] from that mysterious, joyous, and superbly complete life which is called Death – that life of shadow and of unknown shapes, where all cannot be blackness and fog as is supposed, but vivid colour, vivid light, sharp-cut form; and which one finds peopled with strange, fierce and solemn figures, pretty figures and calm figures, and those figures impelled to some wondrous harmony of movement […]. From this idea of death, which seems a kind of spring, a blossoming – from this land and from this idea can come so vast an inspiration, that with unhesitating exultation I leap forward to it; and behold, in an instant, I find my arms full of flowers. I advance but a pace or two and again plenty is around me. I pass at ease on a sea of beauty, I sail whither the winds take me – there, there is no danger. 7 6
Butler 1997: 8.
7
Craig 1962: 74-75.
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Im Tod liegt der Schlüssel zu Craigs Schauspielerideal. Die Über-Marionette etwa kennt, anders als der Mensch, keine Todesangst. Vielmehr feiert sie den Tod als Eintritt ins wahre Leben, in ein Reich vollendeter Schönheit und Harmonie. Der Mensch hingegen fürchtet den Tod deshalb so sehr, weil er seine Subjektivität auslöscht. Der Tod ebnet alle Unterschiede ein, da er jeden Menschen gleichermaßen trifft. Er zerstört alles das, was im Leben das (klassische) Subjekt konstituierte, er vernichtet die Individualität der physischen und psychischen Beschaffenheit. Zudem ist der Tod ein einmaliges Ereignis, das nicht antizipiert werden kann. Wie er ist und was auf ihn folgt, entzieht sich der Kenntnis des Menschen. Eine Ahnung davon können höchstens die Erfahrungen von Schmerz und Leid vermitteln. Ähnlich wie der Tod, nur in abgeschwächter Form, greifen sie in die Physis und Psyche ein, destruieren unter Umständen wesentliche Bereiche der eigenen Identität oder stellen sie zumindest in Frage. Wer jedoch zur wahren Schönheit vordringen will, kann ihnen nicht ausweichen. Er muss, so legen es Craigs Texte nahe, Schmerzen auf sich nehmen, sich selbst sterben und alles Persönliche abtöten, um dem Un- und Überpersönlichen Raum zu geben. Dieses ist so schön und vollkommen, dass der Verlust der Persönlichkeit im Vergleich dazu völlig bedeutungslos wird. Craig ist überzeugt: das unpersönliche im menschen ist sein bester teil, und seine persönlichkeit kommt erst an zweiter stelle. Auf den ersten blick scheint es zwar, dass das persönliche einer sache deren charakter ausmacht, ja deren identität bildet. Aber wenn man genauer darüber nachdenkt, erkennt man, dass man bei dem verzicht auf das persönliche eine kraft erhält, die sich von allen anderen unterscheidet und jeder anderen kraft überlegen ist.8
Im Vertrauen auf die Kraft des Unpersönlichen kann der ideale Schauspieler zu einer neuen Spiel- und Bewegungsweise finden, die allein der Sichtbarmachung und Übertragung von Schönheit dient. Sie orientiert sich unter anderem an todähnlichen Zuständen wie Stille und Stillstand. Beide können als Spielarten von „subjection“ gesehen werden, indem sie vom Schauspieler die Unterordnung unter formale Vorgaben (des Nicht-Sprechens beziehungsweise des Nicht-Bewegens) verlangen, die ausgerechnet die zwei wesentlichen Merkmale des menschlichen Spiels beschneiden.9 Dennoch sind Stille und Stillstand für Craig unerlässlich, um aus dem Verzicht auf Althergebrachtes eine neue Art des Sprechens und Bewegens entwi8
Craig 1969: 47. Bei dem hier zitierten Abschnitt handelt es sich um eine Übersetzung einer Fußnote aus der französischen Ausgabe von On the Art of the Theatre. Craig hatte sie erst in einer der späteren Fassungen seines Buchs ergänzt. In den englischen Ausgaben taucht diese Anmerkung nicht auf.
9
Craig selbst definiert das Theater als Zusammenspiel aus „ACTION, SCENE, and VOICE“ (Craig 1962: 180).
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ckeln zu können. Dabei greift er durchaus auf die Theatergeschichte zurück: Craig war beispielsweise sehr angetan von den elisabethanischen „dumb shows“10, pantomimischen Vor- oder Zwischenspielen, die das Thema der Aufführung auf allegorische Weise aufgriffen. In ihnen spielten Musik oder ein ausgefeiltes Bühnenbild und aufwendige Kostüme eine ebenso wichtige Rolle wie die schauspielerische Darbietung. Keineswegs ging es darum, einen individuellen Charakter zu spielen.11 Dies war ganz im Sinne Craigs, der gleichfalls kein Interesse an der Darstellung einzelner Persönlichkeiten hatte. Das Fehlen der Sprache lässt sich aus dieser Perspektive auch als eine Absage an die Subjektivität des Schauspielers beziehungsweise der von ihm verkörperten Figur deuten. Ihm wird das Sprechen als eine der wesentlichen Möglichkeiten des Menschen, sich zu artikulieren und mit der Welt in Beziehung zu treten, genommen. Zwar kann der Körper auch auf stumme Weise individuelle Erlebnisse, Gefühle und Befindlichkeiten ausdrücken, doch sind ihm dabei engere Grenzen gesetzt. Ist überdies die Bandbreite der Körperhaltungen und -bewegungen durch eine strikte Kodifizierung eingeschränkt, verringert sich der Spielraum für persönlichen Ausdruck noch weiter. Indem Craig die Schauspieler zum Schweigen bringt und ihnen jede Bewegung genau vorschreibt, reduziert er ihre Individualität auf ein Minimum. Vergleichbares gilt für den Verzicht auf Bewegung. Der Schauspieler wird zu einer Art Skulptur, deren Form und Kontur sich ins Gesamtbild der Inszenierung einfügt. Craigs Szenenskizzen und die wenigen Inszenierungs- und Probenfotos zeigen, wie er den Körper als ein Element der Bühnengestaltung verwendet. Die Figuren scheinen mit ihrer Umgebung zu verschmelzen, die Körperformen und silhouetten wiederholen Linien des Bühnenbildes und wirken so wie Teil einer Landschaft, in der jedes Objekt gleichberechtigt ist. Überdies lenkt die Nähe zur Skulptur den Blick auf Überzeitlich-Ewiges. Dies wird unter anderem durch ein Zitat von Walter Pater unterstrichen, demzufolge die Skulptur den Gott im Menschen enthülle, und nicht dessen Zufälligkeit, Leidenschaftlichkeit und Ruhelosigkeit.12 Ähnliches fordert Craig für den Schauspieler. Alles Willkürliche, Unmittelbare und Spontane, alles Ungefähre, Unbestimmte und Emotionale lehnt er ab und diskreditiert es als hässlich und der Kunst unwürdig. Für ihn wurzelt dies in der Persönlichkeit des Menschen, die ausgelöscht werden müsse. Nicht das SubjektivMenschliche, sondern das Objektiv-Ewige sei einem Kunstwerk angemessen. Stille und Stillstand können daher als Übergangszustände gelten, die dem Schauspieler helfen, sich von seiner Subjektivität zu befreien. Statt auf sich selbst
10 In einem seiner unveröffentlichten Manuskripte spricht Craig etwa davon, dass Schauspielen „Dumbshow“ sei (Craig 1905: o.S.). 11 Vgl. dazu Mehl 1965. 12 Siehe Pater zit. nach Craig 1962: 80.
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soll er allein auf den Künstler13 schauen, der alle Fäden der Inszenierung in der Hand hält. Ihm ist er fraglosen, bedingungslosen Gehorsam schuldig. Dies verlangt eiserne Disziplin. Hier zeigt sich eine weitere Facette von „subjection“. Neben der Unterordnung unter formale Regeln ist auch die Unterwerfung unter denjenigen gefragt, der diese Regeln vertritt. In einem fiktiven Dialog zwischen einem Regisseur und einem Zuschauer führt Craig dies folgendermaßen aus: STAGE-DIRECTOR: And discipline – what is that the result of? PLAYGOER: The proper and willing subjection to rules and principles. STAGE-DIRECTOR: And the first of those principles is obedience, is it not? PLAYGOER: It is. […] STAGE-DIRECTOR: […] what I wish to show you is that until discipline is understood in a theatre to be willing and reliant obedience to the manager or captain no supreme achievement can be accomplished. 14
Die völlige Unterwerfung unter den Theaterkünstler wirkt auf den ersten Blick wie eine besonders grausame Spielart von Craigs Wunsch, die Schauspieler aus dem Theater zu verbannen. Sie erscheint jedoch in anderem Licht, wenn man bedenkt, dass Craig davon ausgeht, dass auch der Künstler sich ganz der Schönheit unterordnet. Alle am Theaterprozess Beteiligten sind in Craigs Augen den ewigen Gesetzen ihrer Kunst unterworfen und müssen auf ihre Weise dazu beitragen, dass sich Schönheit im Theater ereignen kann. Wenn alle sich mit Haut und Haar der Schönheit verschreiben, sich grundlegend und gründlich von ihr disziplinieren lassen, dann kann sie sich als Schönes in einer Aufführung aktualisieren. Das Theater wird so zu einem Ort, an dem Leben und Arbeiten ganz im Dienst der Schönheit stehen, und an dem jeder, sei es auf, vor oder hinter der Bühne, die Erfahrung des Schönen machen kann. Im Kleinen ist darin schon verwirklicht, was Craig als Erfüllung seines eigenen Sehnens und Strebens nach Schönheit beschreibt: das eben bereits zitierte Erreichen des „Jenseits“: „I pass at ease on a sea of beauty, I sail whither the winds take me – there, there is no danger.“15 Hier ist alle Gefahr, aller Zwang, alle Gewalt aufgehoben. Die Disziplin und der Gehorsam, die für den Weg ins Reich der Schönheit unerlässlich sind, münden in größtmögliche Freiheit und Losgelöstheit. 13 Vom Künstler bzw. im englischen Original „Artist“ spricht Craig immer dann, wenn er sein erneuertes Theater der Zukunft im Blick hat. Es handelt sich dabei um eine außerordentliche Persönlichkeit, deren Fähigkeiten und Aufgaben diejenigen des Regisseurs übertreffen. Nur mithilfe des Künstlers können wahre Kunstwerke des Theaters entstehen. 14 Craig 1962: 168-170. 15 Craig 1962: 75.
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„Subjection“ ist daher immer motiviert vom unerschütterlichen Glauben an Schönheit als heilende, beglückende, erfüllende Kraft. In dieser Perspektive bleibt die Unterwerfung zwar immer „[a] power exerted on a subject“, ist aber zugleich „a power assumed by the subject“16. Dabei gilt es stets im Blick zu behalten, dass das Leid und die Schmerzen, die die (Selbst-)Disziplinierung mit sich bringt, für Craig lediglich Übergangszustände sind. Seine vielfach anklingende Bevorzugung des Todes legt jedoch nahe, dass sie notwendig sind, um zur wahren Schönheit zu gelangen. Nicht zufällig bemüht Craig in seiner Vision von der Rückkehr der Schönheit ins Theater das biblische Bild vom Tag der Auferstehung: „Once let the meaning of this word Beauty begin to be thoroughly felt once more in the Theatre, and we may say that the awakening day of the Theatre is near. Once let the word effective be wiped off our lips, and they will be ready to speak this word Beauty.”17 Schönheit kann in all ihrer Bedeutung offenbar nur empfunden werden, wenn ihr ein Sterben vorausgeht. Der Tod als Voraussetzung der Auferstehung ist die Bedingung für eine Erneuerung des Theaters im Zeichen der Schönheit. Ein möglicher Grund dafür ließe sich aus der Gegenüberstellung von „Beauty“ und „effective“ herauslesen, die auf eine Definition von Schönheit als Gegenteil von Wirkung weist. Versteht man „effective“ also nicht nur in auf Publikumserfolg berechnetem, sondern allgemeiner in wirkungsvollem oder lohnendem Sinne, kann aus Craigs Ablehnung des Effektiven eine Präferenz für das scheinbar Nutz- und Zwecklose abgeleitet werden. So wäre es im Leiden die vermeintliche Sinnlosigkeit, die der Schönheit den Weg ebnet. Ein ähnlicher Gedanke findet sich in Craigs „Jenseits“Vorstellung vom Segeln auf einem Meer von Schönheit. Sich vom Wind treiben zu lassen, ist ein Bild für die vollkommene Absichtslosigkeit, die Tod und Schönheit miteinander teilen. Der Tod und alle ihm verwandten Erfahrungen von Schmerz und Qual würden dann den Weg zu einem Nichtswerden öffnen, auf dessen Grund neue Schönheit aufstrahlen kann. Die Auslöschung der eigenen Subjektivität führt den Schauspieler letztlich zu einer Steigerung seiner selbst. Im Prozess des Sich-Aufgebens und Neu-Findens kann er höchste Erfüllung erlangen. Craig erinnert darin an Butler, für die „submission a condition of subjection“ 18 („subjection“ meint hier Subjektwerdung) darstellt. Auf den ersten Blick zielt „subjection“ für Craig zwar weniger auf die Entstehung als auf die Vernichtung des Subjekts; doch ist sie auch ihm Voraussetzung für eine neue Art und Weise des Subjektseins jenseits klassischer Vorstellungen. Craig geht es eben nicht mehr um die Konstruktion fester Identitäten, sondern um ein permanentes Überschreiten von Subjektivität.
16 Butler 1997: 11. 17 Craig 1962: 37. 18 Butler 1997: 2.
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Wesentlich für eine solche Erfahrung der Selbstunterwerfung und Selbstüberschreitung ist das Eingebundensein in die Theatergemeinschaft. Diese umfasst selbstverständlich auch das Publikum. Schauspieler und Zuschauer stehen sich nicht mehr als Aktive und Passive, Gebende und Nehmende gegenüber. Vielmehr sind sie aufeinander angewiesen im Bemühen, der Schönheit Raum zu schaffen. Auf diese Weise kann eine neue Aufmerksamkeit für die Anwesenheit des anderen entstehen. Es ist nicht mehr nur der Schauspieler, der für das Publikum da ist, auch der Zuschauer gewinnt an Bedeutung. Seine Verzauberung, die sich den Spielern auf der Bühne wieder mitteilt, schließt den Kreislauf der Schönheit und festigt den Eindruck, eine eingeschworene Gemeinschaft und Gemeinde zu bilden. Schönheit ist bei Craig eine dynamische, spirituelle Kraft, die davon lebt, dass sie durch den Schauspieler ins Innere des Zuschauers und wieder zurück strömt, empfangen und weitergegeben wird. Der Austausch zwischen Spielenden und Schauenden ist daher von besonderer Art und erinnert an die „theatrale Kommunikation qua Körper“19 im postdramatischen Theater: Der Körper „trifft“ den Zuschauer weniger als Information denn als Mitteilung – so wie man von Kräften sagt, dass sie sich einem Gegenstand mitteilen. Solche Kommunikation entspricht eher dem Modell einer „Ansteckung“ durch das Theater, wie es Artaud in „Das Theater und die Pest“ als Metapher für die magische Wirkungsweise des Theaters phantasierte. Kommunikation als Ansteckung wie durch einen Bazillus ist nicht Übertragung von Information, sondern kommt einer mimetischen Verschmelzung und „Teilhabe“ gleich. 20
Schönheit teilt sich unmittelbar mit, ereignet sich zwischen den Körpern und bewirkt so eine Vereinigung von Schauspieler und Zuschauer. Die direkte Begegnung der Körper ist eine Chance, sich und den anderen neu zu erfahren und gemeinsam in einem alles übersteigenden Erleben des Schönen aufzugehen. Sie setzt bei allen Beteiligten eine besondere Offenheit für das Theatererlebnis voraus. Theater kann dann nicht mehr dazu dienen, Inhalte zu transportieren und Botschaften zu übermitteln. Absolute Setzungen und eindeutige Zuordnungen sind nicht mehr möglich, feste Strukturen geraten in Bewegung. Das Theater wird um die Dimension des Unvorhersehbaren, Abgründigen, Affektiven und Irrationalen bereichert. Eine solche Öffnung ist jedoch nicht ohne das Risiko von Verunsicherung und Verletzung zu haben. Allen voran trifft dieses Risiko die Schauspieler. Letztlich wissen sie nie, wohin die „subjection“ sie tatsächlich führt. Stets laufen sie Gefahr, ausgenutzt zu werden. Ihre innige Verbindung zum Regisseur, die auf zwar freiwilligem, aber unbedingtem Gehorsam beruht, kann jederzeit in Unterdrückung und Abhängigkeit umschlagen. Zudem können sie nie ganz sicher sein, ob es gelingt, 19 Lehmann 1999: 369. 20 Lehmann 1999: 369.
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zur Schönheit vorzustoßen, die sich nach Craigs Auffassung auch und gerade in Leid und Schrecken verbirgt. Allen Bemühungen zum Trotz kann es geschehen, dass Schönheit sich nicht erschließt und die mit ihr verbundene Glücksverheißung sich nicht erfüllt. Bei bestimmtem Verhalten mit der Schönheit zu rechnen, hieße, sie in menschliche Kategorien von Ursache und Wirkung bannen zu wollen. Das aber widerspricht dem Wesen der Craigschen Schönheitsidee. Wäre sie berechenund beherrschbar, würde sie einen großen Teil ihrer Kraft einbüßen. Für den Schauspieler gibt es dennoch keine Alternative zur „subjection“, zur völligen Unterwerfung unter die Macht der Schönheit. Nur so kann er seine Aufgabe der Übertragung eben dieser Schönheit erfüllen. Nur indem er davon absieht, aus dem Material seiner Persönlichkeit eine Figur zu erschaffen und eine Rolle zu gestalten, kann er eine symbolische Spielweise entwickeln. Dabei muss er auf herkömmliche Ausdrucksmittel wie die klassische Figurenrede oder realistische Verhaltens- und Bewegungsmuster verzichten. Das neue Spielen dient schließlich nicht mehr der Nachahmung und Darstellung eines eindeutig bestimmten und bestimmbaren Subjekts, das sich in einer klar definierten Welt behaupten muss. Vielmehr geht es darum, unterschiedliche Konstellationen von Haltungen, Bewegungen, Verhaltensweisen und sprachlichen Äußerungen zu erproben und zu reproduzieren, in denen und durch die Schönheit aufscheinen kann. Der Schauspieler soll daher möglichst neutrales Zeichen, leere Projektionsfläche, von sich selbst befreites Medium sein. Wahre Kunst, so Craigs feste Überzeugung, ist nur auf diesem Weg zu erreichen. In einem (vermutlich nicht abgeschickten) Brief an Isadora Duncan schreibt Craig zunächst: „Personality and Art are opponents. This is shown to be true by looking back across History. The Impersonal and an empty stomach suits art – suits Life – suits everything but the entirely idiotic and trembling ME.“21 Craigs rigorose Absage an die Persönlichkeit weist auf eine Kunst-, aber auch eine Weltauffassung, die herkömmlichen Verfahren der Subjektkonstitution nicht mehr traut. Aus dem Aufruf zur Unterwerfung spricht eine Sichtweise des Subjekts, die in Foucaults Worten Unterwerfung als Konstituierung von Subjekten begreift: „[…] es gilt, die materielle Instanz der Unterwerfung als Konstitution der Subjekte zu erfassen.“22 So ist einerseits gefordert, alles Persönliche auszulöschen, dem Unpersönlichen Raum zu geben und damit die Voraussetzung zu schaffen, dass Schönheit sichtbar, spürbar, erfahrbar werden kann. Andererseits gilt es, die Erschaffung des Selbst als einen Prozess zu begreifen, der im spielerischen Ausprobieren unterschiedlichster Ausdrucksformen den Weg zu einem je neuen Verständnis der eigenen Identität bahnt. Theater wird so zu einem Übungsfeld, das dem Menschen die Möglichkeit bietet, sich immer wieder aufs Neue zu suchen und zu (er)finden. 21 Craig/Duncan 1974: 275. 22 Foucault 2003: 237.
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L ITERATUR Butler, Judith: The Psychic Life of Power. Theories in Subjection. Stanford: Stanford University Press 1997. Craig, Edward Gordon: The Theatre. Costume. Action. [Unveröffentlichtes Manuskript aus der Collection Craig der Bibliothèque Nationale de France: E.G.C.Ms.A.42] 1905. Craig, Edward Gordon: On the Art of the Theatre. London: Mercury Books 1962. Craig, Edward Gordon: „Motion. Being the Preface to the Portfolio of Etchings“, in: Guidry, Lorelei F. (Hg.): The Mask. A Quarterly Illustrated Journal of the Art of the Theatre. New York: Benjamin Bloom 1966. Craig, Edward Gordon: über die kunst des theaters. Berlin: Gerhardt 1969. Craig, Edward Gordon/Duncan, Isadora: ‚Your Isadora‘. The love story of Isadora Duncan & Gordon Craig. Hg. von Francis Steegmuller. New York: Random House 1974. Foucault, Michel: Dits et Ecrits. Schriften. Dritter Band. Frankfurt am Main: Suhrkamp 2003. Lehmann, Hans-Thies: Postdramatisches Theater. Frankfurt am Main: Verlag der Autoren 1999. Mehl, Dieter: The Elizabethan Dumb Show. The History of a Dramatic Convention. London: Methuen 1965.
Zimtfarbener Überrock und Spazierstock-Pirouetten Über Henri Beyle und Stendhal S EBASTIAN H AUCK
Sich verstellen zu können oder sich verstellen zu müssen gehört zu den zentralen Anforderungen an das frühneuzeitliche Subjekt. Die Fähigkeit, sich als jemand auszugeben, der man (noch) nicht ist und gleichzeitig das zu verhehlen, was ist, war Gegenstand theoretisch-ethischer Reflexionen und wurde in den entsprechenden Traktaten und Abhandlungen als eine zentrale Eigenschaft von Castigliones Cortegiano, Machiavellis Principe, Kardinal Mazarins Politicien oder Jacques du Boscs Honnête Femme und somit als in der höfischen Gesellschaft unabdingbar beschrieben. Diese hier angesprochenen zentralen Techniken des Lebenstheaters oder des Theaters der sozialen Lebensrealität, die Verstellung und Verhehlung, Simulatio und Dissimulatio, gehen als suggestio falsi und suppressio veri über die reine Affektkontrolle hinaus und stellen so gleichzeitig die Frage nach ,Wahrheit‘ und ,Authentizität‘: Die sprezzatura von Castigliones Hofmann besteht in einer dissimulatio artis, einer Verhehlung der ungeheuren Kunstfertigkeit, die notwendig ist, sich bei Hofe angemessen zu verhalten; Machiavellis Fürst „deve essere gran simulatore e dissimulatore“1; Kardinal Mazarin empfiehlt Politikern gründliche Selbsterforschung und – in einem Klima ständiger Überwachung2 – Auskundschaftung anderer: „1. Simule. 2. Dissimule. 3. Ne te fie à personne.“3 Vertraue niemandem! Und du Bosc erkennt in seinem 17. Jahrhundert ein „siècle d’artifice“, dem die „première simplicité“ oder ein ideales Zeitalter ohne Verstellung und Arglist entgegenstand.4 1
Machiavelli 1986: 136.
2
Siehe Matt 2006: 100.
3
Mazarin 1996: 123.
4
Siehe Geitner 1992: 111-112.
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Hinter die Artifizialität und das Gewölk der Verstellung zu schauen, ihre Mechanismen und Techniken offenzulegen, stellten sich die Moralisten-Anthropologen wie La Bruyère, La Rochefoucauld oder Blaise Pascal zur Aufgabe. Ihnen stand vor Augen, aus einer ex-zentrischen Beobachterposition den Deformationen nachzuspüren, die das Leben (speziell bei Hofe) mit den Rollenzwängen hervorbrachte und den Blick zu eröffnen auf den Menschen ‚tel qu’il est‘, wie er ,wirklich‘ und ,wahrhaftig‘ ist. Gegen die Maxime des ,Mehr scheinen als sein‘ und um Heuchelei und Verstellung zu entgehen, empfahlen sie den Rückzug aus der Gesellschaft auf eine Nicht-Theater-Position, die von einer Welt ohne Theater(ei) träumte, getragen von der Sehnsucht nach einem Leben ohne Falschheit und Theater, das in Wahrheit und Aufrichtigkeit geführt werden könnte. Die Aporie moralistischer, d.h. auf die Beschreibung menschlichen Verhaltens ausgerichtete Menschenbeobachtung ist hier bereits enthalten. Wie die anderen erkennen, wenn schon der Weg zum eigenen Herzen verstellt ist? „Nous sommes si accoutumés à nous déguiser aux autres, qu’enfin nous nous déguisons à nous-mêmes.“5 Wir sind so sehr gewohnt, uns vor anderen zu verstellen, dass wir uns schließlich vor uns selbst verstellen. Den Gegensatz zwischen Verstellung und Wahrheit, Heuchelei und Aufrichtigkeit kleideten Moralisten in eine teleologische Geschichtsphilosophie, in der ein ideales, goldenes Zeitalter der eigenen Gegenwart gegenübergestellt wurde. Die Zeit eines ursprünglichen und harmonischen Gemeinschaftszustandes, in dem sich jeder zeigt, wie er (wirklich) ist, wurde abwechselnd in der aetas aurea, première simplicité, bei Torquato Accetto und Tomaso Garzoni im Paradies vor dem Sündenfall6 oder, wie im Fall der Comédiens Italiens, auf den „Champs-Elysées“ gesucht. Die italienischen Berufsschauspieler schauten wie die Moralisten aus der exzentrischen Position einer ,anderen‘ auf diese Welt und legten mittels des schauspieltechnischen Verfahrens der moltiplicità di personaggi Mechanismen des sozialen Rollenspiels offen, wobei es ihnen „vor allem um die Erhellung der Internalisierung des sozialen Rollenspiels, um die Ent-larvung der Maskenhaftigkeit des Lebens durch Masken“7 ging. Und das aus der jenseitigen Sicht einer Welt des Nicht-Theaters, einer Welt ohne Comédie italienne oder Commedia all’improvviso, ohne Drama, Oper und die Verstellungen des alltäglichen Lebens(-theaters). All diese Mechanismen des Gegensatzes von Verstellung und Aufrichtigkeit sowie der Sehnsucht nach einer Welt ohne Theater lassen sich gleichsam après la lettre bei einem der berühmtesten französischen Schriftsteller finden, bei Henri Beyle – besser bekannt unter seinem Pseudonym Stendhal.
5
La Rochefoucauld 1964: 419.
6
Siehe Hauck 2010 bzw. ausführlicher Hauck 2012.
7
Münz 1979: 87.
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„… ÊTRE
UN AUTRE “
„Qu’est-ce que le moi?“ fragte er sich in seinen Promenades dans Rome, Naples et Florence en 1817. „Je n’en sais rien. Je me suis un jour réveillé sur cette terre; je me trouve lié à un corps, à un caractère, à une fortune. Irai-je m’amuser vainement à vouloir les changer, et cependant oublier de vivre?“8 Über dem Bestreben, seinen Körper, seinen Charakter, sein Schicksal zu ändern, vergessen zu leben – diese Mahnung zur Gelassenheit und Schicksalsergebenheit hörte Beyle selbst nur selten. Zu Beginn des Jahrhunderts hatte er gerade nicht Körper, Charakter und Schicksal hinnehmen, sondern im Gegenteil nachdrücklich ändern wollen. Im Jahr 1803, einer Phase seines Lebens, die er als „Seconde éducation“ 9 bezeichnete, litt der Zwanzigjährige unter seiner Hässlichkeit und seiner als „Tour ambulante“10 – er maß ungefähr einen Meter siebzig – verspotteten Gestalt, die sich offensichtlich schon im Kindesalter gezeigt hatte: „Mon oncle plaisantait sa sœur Henriette (ma mère) sur ma laideur. Il paraît que j’avais une tête énorme, sans cheveux, et que je ressemblais au Père Brulard, un moine adroit, un bon vivant.“11 Und auch die Worte seines Großvaters – „Tu es laid, mais personne ne te reprochera jamais ta laideur“12 – dürften sich als wahr erwiesen haben angesichts […] des zur Fülle neigenden Körpers und der viel zu kurz geratenen Brieftaubenschenkel […] Außerdem litt er an Kurzatmigkeit, geriet leicht ins Schwitzen und musste schon früh ein Toupet tragen, um seine Kahlköpfigkeit zu kaschieren. […] Um seine unvorteilhafte Erscheinung zu verbergen, legte er stets größten Wert darauf, wenigstens makellos elegant gekleidet zu sein, wurde er zum Dandy. Wie Balzac, der am ähnlichen Komplex litt, gab er deshalb Unsummen für seine Garderobe aus, stand immer bei den Schneidern in der Kreide. 13
8
Zitiert nach Blin 2001: 3. „Ich weiß es nicht. Eines Tages bin ich auf dieser Welt aufgewacht; ich bin mit einem Körper verbunden, einem Charakter, einem Schicksal. Werde ich mich damit unterhalten, sie ändern zu wollen, und unterdessen vergessen zu leben?“ (Übersetzung d.A.)
9
Stendhal 1981b: Bd. 2, 548.
10 Crouzet 1990: 103. 11 Stendhal 1981b: Bd. 2, 577. „Mein Onkel Romain zog seine Schwester Henriette, meine Mutter, wegen meiner Häßlichkeit auf. Wie es scheint, hatte ich einen riesigen Kopf ohne Haare und glich dem Pater Brulard, einem gewandten Mönch und Lebemann“ (Stendhal 1981a: 52). 12 Stendhal 1981b: Bd. 2, 660. „Du bist häßlich, aber niemand wird dir je deine Häßlichkeit vorwerfen“ (Stendhal 1981a: 138). 13 Willms 2010: 72.
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Er war also immer mehr bestrebt, ein anderer zu werden, was sich nicht nur in seiner Vorliebe für teure und elegante Kleidung ausdrückte – seine Schwester Pauline bittet er wiederholt in Briefen, ihm Handschuhe in einem ganz bestimmten Farbton zu schicken – sondern auch in seiner Vorliebe für Pseudonyme – man zählte an die 130! – wie Stendhal, Henri Brulard, Dominique, Salviati, Banti, Cotonnet, Bombet, Chamier, Baron de Cutendre oder William Crocodile. Es ging darum, mit theatralen Mitteln wie Kleidung, eleganter Haltung und gefälliger Konversation ein anderer zu werden. In seinem autobiographischen Werk Souvenirs d’égotisme berichtet er von einer Reise nach London im Jahr 1821: „Je n’avais que du dégoût pour Paris. […] J’étais au désespoir, ou, pour mieux dire, profondément dégoûté de la vie de Paris, de moi surtout. Je me trouvais tous les défauts; j’aurais voulu être un autre.“14 Sich als hässlich zu empfinden und ein anderer sein zu wollen – dieser Konflikt sollte Beyle sein ganzes Leben über begleiten. In seinem Journal finden sich vor allem für die Jahre zwischen 1803 und 1805 zahlreiche Passagen, die diesen Konflikt behandeln und die Erfolge und Misserfolge dieser Strategie aufzeigen. In einem Eintrag vom 25. Februar 1805 schreibt er: „Je crois que je n’ai jamais été si brillant, ni si bien rempli mon rôle. J’étais en gilet, culotte de soie et bas noirs, avec un habit bronze cannelle, une cravate très bien mise, un jabot superbe. Jamais, je crois, ma laideur n’a été plus effacée par ma physionomie.“15 Beyle sieht seine Strategie endlich aufgegangen. Indem er seine Häßlichkeit und Schüchternheit überwunden und sich mit Hilfe seiner eleganten Kleidung und seines gewandten Verhaltens gleichsam in den Entwurf seiner Persönlichkeit verwandelt hatte, erlebte er einen Moment großen Glücks: „Toute mon âme paraissait, elle avait fait oublier le corps, je paraissais un très bel homme, dans le genre de Talma.“16 François-Joseph Talma, dem berühmten Schauspieler der ComédieFrançaise, war er, der in diesen Jahren für das Theater schwärmte und ständig dort anzutreffen war, einmal persönlich begegnet17 und nicht zufällig erwähnt er ihn an 14 Stendhal 1983: 97. „Paris war mir zuwider. […] Ich war verzweifelt, oder besser, zutiefst angeekelt vom Leben, von Paris, vor allem von mir selbst. Alle Fehler sah ich in mir; ich wünschte ein anderer zu sein“ (Stendhal 1961: Bd. 2, 751). 15 Stendhal 1981b: Bd. 1, 237-238. „Ich glaube, ich war noch nie zuvor so brillant gewesen, noch habe ich je meine Rolle so gut gespielt. Ich trug eine Weste, seidene Hosen und schwarze Strümpfe, dazu einen zimtfarbenen Überrock, eine gut gebundene Krawatte und ein wunderbares Jabot. Nie zuvor, so bin ich überzeugt, ist meine Hässlichkeit durch mein Äußeres besser überspielt worden“ (Willms 2010: 77). 16 Stendhal 1981b: Bd. 1, 238. „Meine ganze Seele wurde sichtbar, sie ließ den Körper vergessen, ich erschien wie ein sehr schöner Mann in der Art Talmas“ (Stendhal 1961: Bd. 1, 195). 17 Siehe Arbelet 1934: 15-16.
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gerade dieser Stelle, als es ihm gelungen war, mittels der Lebenstheater-Techniken der Simulatio und Dissimulatio die eigene Hässlichkeit zu verhehlen und seine Seele, den idealen Entwurf, das Modell seiner selbst, zu simulieren. „Malheureux d’être ce qu’il est“, unglücklich damit, was er ist, beschloss er, so Jean Starobinski in seinem Essay über Stendhal, „se métamorphoser sans relâche, se faire autre que soi“, sich ohne Unterlass zu verwandeln und sich zu einem anderen als er selbst zu machen, und das Leben wie einen „bal masqué“ zu betrachten.18 Das Glück, das er am 25. Februar 1805 in seinem Tagebuch festhält, entspringt der Feststellung, zu dem geworden zu sein, was er vorstellen wollte, sich selbst nach seinen Wünschen und Sehnsüchten modelliert zu haben. Die Simulation des nicht mehr hässlichen Beyle ist zu einer Tatsache geworden: „en même temps auteur et acteur“ 19, gleichzeitig Autor und Akteur seiner selbst gewesen zu sein, darin besteht sein Triumph. Die Diskrepanz zwischen dem, wie Beyle war und wie er sein wollte (ein großer Autor und Nachfolger Molières, Stendhal eben), zwischen dem „être profond“ und dem „être social“, „personne“ und „personnage“, „être réel“ und „masque“, „vérité“ und „fiction“, „être“ und „paraître“, „sensation“ und „perception“ scheint er überwunden zu haben20 – gleichsam eine Illustration dessen, was Blaise Pascal in seinen Pensées festgehalten hatte: La nature de l’amour-propre et de ce moi humain est de n’aimer que soi et de ne considérer que soi. Mais que fera-t-il? Il ne saurait empêcher que cet objet qu’il n’aime ne soit plein de défauts et de misère; il veut être grand, il se voit petit; il veut être heureux, et il se voit misérable; il veut être parfait, et il se voit plein d’imperfections; il veut être l’objet de l’amour et de l’estime des hommes, et il voit que ses défauts ne méritent que leur aversion et leur mépris. […] il met tout son soin à couvrir ses défauts et aux autres et à soi-même, et qu’il ne peut souffrir qu’on les lui fasse voir ni qu’on les voie.21
18 Starobinski 1968: 201-202. 19 Stendhal 1981b: Bd. 1, 246. 20 Starobinski 1968: 196-198, 219, 221-222. 21 Pascal 2004: 499. „Die Natur der Eigenliebe und dieses menschlichen Ich besteht darin, daß man nur sich selbst liebt und nur sich selbst betrachtet. Aber was soll der Mensch tun? Er kann es nicht verhindern, daß dieses Objekt, das er liebt, voller Mängel und Erbärmlichkeiten ist: er will groß sein und er sieht sich klein; er will glücklich sein und er sieht sich elend; er will vollkommen sein und er sieht sich voller Unvollkommenheiten; er will das Ziel der Liebe und der Achtung der Menschen sein, und er sieht, daß seine Fehler nur ihre Abneigung und ihre Verachtung verdienen. […] er verwendet alle Mühe darauf, seine Fehler vor den anderen und vor sich selbst zu verbergen, und er kann es nicht ertragen, daß man ihn dazu bringt, sie zu sehen, oder daß andere sie sehen“ (Pascal 1925: 360-361).
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Dass Beyle diesen Text kannte, steht außer Zweifel. Am 18. Mai 1804 hatte er gegen drei Livres ein Exemplar der Pensées gekauft und unter seinen Werken finden sich ebenfalls eine „Sammlung von Maximen und Gedankensplittern“22 unter dem Titel Pensées. Den Weg, ein anderer sein zu wollen, ging Beyle bis zur grotesken Übersteigerung. Am 10. April 1840 stellte er in Rom einen „in dreiundzwanzig Artikel gegliederten Wunschzettel“ 23 unter dem Titel Les Privilèges zusammen. Nach Belieben kann der Privilegierte über seine äußere Gestalt bestimmen: God me donne le brevet suivant: Article 1 Jamais de douleur sérieuse jusqu’à une vieillesse fort avancée […] Article 3 La mentula, comme le doigt indicateur, pour la dureté et pour le mouvement; cela à volonté. La forme deux pouces de plus que l’orteil, même grosseur. […] Article 4 Miracle. Le privilégié ayant une bague au doigt et serrant cette bague en regardant une femme, elle devient amoureuse de lui […] Article 7 Miracle. Quatre fois par an il pourra se changer en l’animal qu’il voudra, et ensuite se rechanger en homme. 24
„… LE
SPECTACLE DE
S OI-MÊME “
Schon im 17. Jahrhundert hatte der Chevalier de Méré in seinen Einlassungen De la conversation dem Honnête Homme geraten, sich in Gesellschaft vorzustellen, man spiele Theater und stehe auf einer Bühne. Diesen Rat hatte eine Comtesse angenommen, von der in der Comédie italienne Le départ des comédiens aus der Spieltextsammlung von Evaristo Gherardi die Rede ist.25 Sie engagiert einen „comédien grimacier & fort laid“, der ihr die Sprache der angenehmen und wohlgefälligen Mienen beibringen soll. Als er Arlequin Beispiele zeigt, rät der ihm verwundert, sich aufs Land zurückzuziehen und sich als Vogelscheuche zu verdingen. Der Vorbildcharakter des Lebenstheaters für das Kunsttheater des französischen klassischen
22 Alter 1982: 101. 23 Willms 2010: 290. 24 Stendhal 1981b: Bd. 2, 982-984. „God erweist mir folgende Gnaden: Artikel 1 Niemals ernstliche Schmerzen bis in ein sehr hohes Alter; […] Artikel 3 Das Glied ist wie der Zeigefinger in Bezug auf Härte und Beweglichkeit, ganz wie es gewünscht wird. Die Form – zwei Zoll länger als üblich und die gleiche Stärke. […] Artikel 4 Wenn der Privilegierte einen Ring am Finger trägt und diesen Ring berührt, während er eine Frau anschaut, entbrennt diese in leidenschaftlicher Liebe zu ihm […] Artikel 7 Viermal im Jahr vermag er sich in jedes gewünschte Tier und wieder zurück in einen Menschen zu verwandeln“ (Stendhal 1961: Bd. 2, 829-831). 25 Siehe Gherardi 1969: Bd. 3, 331-332.
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Theaters und vice versa reichte bis ins 19. Jahrhundert, denn de Mérés Ratschlag wurde auch von Henri Beyle befolgt, der zwischen 1803 und 1805 nicht nur häufiger Theaterbesucher war, sondern auch Unterricht in Deklamation nahm. Zunächst mit seinem Cousin Martial Daru bei dem Schauspieler Jean Mauduit dit Larive und dann bei Jean-Henry Gourgaud dit Dugazon. Wieder steht diese Tatsache im Kontext der Selbstschöpfung Beyles als Ideal, als Schriftsteller Stendhal, als neuer Molière usw.: die eigene Hässlichkeit und Schüchternheit überwinden, z.B. durch einen zimtfarbenen Überrock, zumal er 1805 in die Schauspielerin Mélanie Guilbert (Louason) verliebt war. Als Grund für den Deklamationsunterricht gibt er im Leben des Henri Brulard an, seinen Grenobler Akzent ablegen zu wollen: J’étais au cour-se où M. Passe-kin (Pasquin) m’a lu une pièce de ver-se sur le voyage d’Anver-se à Calai-ce. Ce n’est qu’en arrivant à Paris en 1799 que je me suis douté qu’il y avait une autre prononciation. Dans la suite j’ai pris des leçons du célèbre Larive et de Dugazon pour chasser les derniers restes du parler traînard de mon pays.26
Der zweite Grund ist ein moralistischer: Er erhoffte sich durch die eigenen Erfahrungen mit dem Schauspielen, die Gefühle und Leidenschaften anderer besser durchschauen zu können. So liegt sein Triumph am 25. Februar 1805 nicht nur in der Perfektion des eigenen Spiels; er liegt auch darin, in seinem Tagebuch eine Beobachterposition auf die Ereignisse des Tages eingenommen und bei seinen ,Zuschauern‘ die gewünschte Wirkung erzielt bzw. in ihrem Verhalten ,gelesen‘ zu haben – Effekte, für die er einmal sogar einen Spazierstock benutzte: J’achète une canne avant d’aller chez Mme P[ietragrua]. J’ai pensé qu’une canne me rajeunirait de quatre ans. Cela a fort bien réussi; je me suis trouvé avec avoir dans la main une douzaine de tours de canne qui prouvent, à n’en pas douter, un homme du grand monde et un homme à femmes. Ainsi, je n’ai plus eu les mains derrière le dos, à la papa.27 26 Stendhal 1981b: Bd. 2, 798. „Dafür sagten wir: ich war im „Kur-ssus“, wo Herr „Passekin“ (Passequin) mir ein Stück in „Ver-ssen“ über die Reise von „Anver-se“ nach „Calaise“ vorgelesen hat. Erst als ich im Jahre 1799 nach Paris kam, kam ich dahinter, daß es eine andere Aussprache gab. Ich habe später bei dem berühmten La Rive und bei Dugazon Unterricht genommen, um die letzten Spuren der schleppenden Mundart meiner Heimat auszumerzen“ (Stendhal 1981a: 261). 27 Stendhal 1981b: Bd. 1, 741-742. „Ich kaufte mir einen Spazierstock […] bevor ich zu Mme. Pietragrua ging. Ich sagte mir, dass ein solcher Stock mich um vier Jahre jünger macht. Das hat auch ganz vorzüglich geklappt; es ist mir gelungen, mit dem Stock wenigstens zwölf Pirouetten vorzuführen, die zweifelsfrei beweisen, dass ich ein homme à femmes bin. Auf diese Weise konnte ich außerdem vermeiden, die Hände, à la papa, auf dem Rücken zu falten“ (Willms 2010: 138).
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Er erhoffte sich also, durch den Schauspielunterricht bei Larive und Dugazon auch in der Liebe und der Eroberung von Frauen Fortschritte zu machen. „Feindre parfaitement tous les sentiments à volonté“28, nach Belieben alle Gefühle vorzuspielen, zu simulieren, wie der Vicomte de Valmont in Choderlos de Laclos’ Briefroman Les liaisons dangereuses, darin bestand sein Bestreben. Hässlichkeit als Schönheit zu betrachten vermittels der Schauspielkunst, diese Wirkung hatte er schon in seinem Essay De l’Amour beschrieben: „die Zuschauer reagieren nicht mehr auf ihre [die Schauspieler; Anm. d. A.] wirkliche Schönheit oder Häßlichkeit. Lekain erweckte, trotz seiner auffallenden Häßlichkeit, haufenweise die Leidenschaften, auch Garrick […].“29 Bühne, Theater, ‚Maskenball‘ waren die grundlegenden Metaphern für das Verhalten und den Selbstentwurf Henri Beyles als Stendhal, wie Paul Valéry in seinem Vorwort zu Lucien Leuwen schrieb: Sur ce tréteau privé, il donne sans relâche le spectacle de Soi-Même; il se fait de sa vie, de sa carrière, de ses amours, de ses ambitions très diverses, une pièce perpétuelle; joue ses gestes, articule ses répliques, ses réponses à ses impulsions, à ses naïvetés, à ses „fiascos“ de divers genres.30
„J E M ’ HABILLERAI EN ARLEQUIN …“ In seinen Pensées stellte sich Beyle vor, unter den Augen der Großen des Jahrhunderts Ludwigs XIV. zu leben. Wie sie war er zeitweise der Simulatio und Dissimulatio, seines zimtfarbenen Überrocks und seiner Spazierstock-Pirouetten überdrüssig.31 In seinen Souvenirs d’égotisme wünschte er sich, wie Angelica aus dem Orlando furioso einen Ring zu besitzen, der unsichtbar macht und ihn den Augen der anderen entzieht: „Je porterais un masque avec plaisir, je changerais de nom avec délices.“32 Die hier, wie bei Molières Misanthrope, den er am 25. Februar 1805 bei Dugazon deklamierte, anklingende Sehnsucht nach einem Leben ohne Verstellung,
28 Stendhal 1981b: Bd. 1, 186. 29 Stendhal 1981c: 68. 30 Valéry 1957: 560. „Auf dieser intimen Bühne stellt er unablässig sich selbst zur Schau; er macht für sich selbst aus seinem Leben, seiner Laufbahn, seinen Liebschaften, seinem so mannigfachen Ehrgeiz ein dauerndes Schauspiel; er agiert seine Gebärden, deklamiert seine Repliken, die Antworten auf seine Antriebe, auf seine Naivitäten, auf seine ‚Niederlagen‘ verschiedener Art“ (Valéry 1929: 14). 31 Siehe Alter 1982: 101. 32 Stendhal 1981b: Bd. 2, 453. „Ich trüge mit Freuden eine Maske und änderte mit Wonnen meinen Namen“ (Stendhal 1961: Bd. 2, 726).
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ohne Theater(ei), hatte er auch 1811 reflektiert, als er, in erotisch derangiertem Zustand, heimlich eine Frau beobachtete: „Elle est naturelle, je ne suis pas occupé de mon rôle, et tout à la sensation. Mes amours ont toujours été un peu troublés par le soin d’être aimable, ou, en d’autres termes, occupé d’un rôle.“33 Ohne soziales Rollenspiel, ohne Überrock und Pirouetten, ohne Lebenstheater, ohne Lüge, Heuchelei und Verstellung, in einem Zustand des Nicht-Theaters leben zu können, darin bestand eine der großen Sozialutopien des 17. Jahrhunderts, von der auch Schauspieler wie die Vertreter der Commedia all’improvviso träumten. In Charles Cotolendis Arliquiniana (1694) begleitet der Leser Arlequin auf die Champs-Elysées, in eine „,andere‘ Welt“34 also, in der solche großen Theaterleute leben wie Corneille, Molière und Lully. Dort wird aber nicht vollkommenes Theater aufgeführt, sondern im Gegenteil – überhaupt kein Theater: „Nous qui sommes dans les veritez, nous n’avons pas besoin de comédies.“35 Die in der Wahrheit leben, brauchen kein Theater mehr. Hier erscheint und zeigt sich jeder, wie er wirklich ist. Eine Utopie, der Stendhal auch zeitweise nachhing. In seinem Tagebuch entwirft er am 9. September 1810 einen Turm – rund, zwanzig Meter hoch, neunzehn Meter im Durchmesser –, in den er sich wie Montaigne zurückziehen will, nicht ohne zu erkennen, dass das Leben ohne Theater für ihn unmöglich ist: „Non. His happiness is solitude, il est vrai, but in a great city“36, stellt er kategorisch fest. Und doch kokettiert er zeitweise auch mit der ex-zentrischen Position der professionellen Schauspieler und der Arlequins. Über das soziale Rollenspiel zu lachen, seine Wirksamkeit zu relativieren, diese Haltung musste ihm sympathisch gewesen sein, wenn man bedenkt, dass er 1830 in einem Brief an Sophie Duvaucel schreibt: „Je m’habillerai en Arlequin […] Je me moquerai de tout ce qui existe […], et […] je vous ferai sourire.“37
33 Stendhal 1981b: Bd. 1, 726-727. „Sie verhält sich ganz natürlich und ich muss nicht meiner Rolle genügen, sondern kann mich ganz dem Sinnengenuss hingeben. – Mein Liebesleben war immer dadurch gestört, dass ich dem Zwang genügte, liebenswürdig zu sein, oder, anders gesagt, eine Rolle zu spielen hatte“ (Willms 2010: 135). 34 Münz 1998: 273. 35 Cotolendi 1694: 15. 36 Stendhal 1981b: Bd. 1, 630. 37 Zitiert nach Bauer 1998: 89. „Ich werde mir das Kleid des Harlekin anziehen. Ich werde mich über alles, was existiert, lustig machen, und ich werde Sie zum Lachen bringen.“ (Übersetzung d.A.)
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L ITERATUR Alter, Robert: Stendhal. Eine kritische Biographie. München: Hanser 1982. Arbelet, Paul: Stendhal au pays des comédiennes. Grenoble: B. Arthaud 1934. Bauer, Lydia: Ein italienischer Maskenball. Stendhals „Chartreuse de Parme“ und die „commedia dell’arte“. Frankfurt am Main et al.: Peter Lang 1998. Blin, Georges: Stendhal et les problèmes de la personnalité. Paris: Corti 2001. Cotolendi, Charles: Arliquiniana ou les bons mots, les histoires plaisantes et agréables. Recueillies des conversations d’Arlequin. Paris: Delaulne et al. 1694. Crouzet, Michel: Stendhal ou monsieur moi-même. Paris: Flammarion 1990. Geitner, Ursula: Die Sprache der Verstellung. Studien zum rhetorischen und anthropologischen Wissen im 17. und 18. Jahrhundert. Tübingen: Niemeyer 1992. Gherardi, Evariste: Le Théâtre italien ou le Recueil général de toutes les Comédies et Scènes françaises jouées par les Comédiens Italiens du Roi. 3 Bände. [orig. 1741] Genève: Slatkine 1969. Hauck, Sebastian: „Gallus Vibius und die Macht der Phantasie“, in: Baumbach, Gerda (Hg.): Auf dem Weg nach Pomperlörel. Kritik ‚des‘ Theaters. Aufsätze. Leipzig: Universitätsverlag 2010, 280-296. Hauck, Sebastian: „Ohne Theater leben? Verstellung und Aufrichtigkeit im Zeitalter Ludwigs XIV. Eine Monade“, in: ders./Kirschstein, Corinna (Hg.): Akteure und ihre Praktiken im Diskurs. Aufsätze. Leipzig: Universitätsverlag 2012 [im Erscheinen]. La Rochefoucauld, François de: Œuvres complètes. Edition établie par L. MartinChauffier. Paris: Gallimard 1964. Machiavelli, Niccolò: Il Principe. Der Fürst. Stuttgart: Reclam 1986. Matt, Peter von: Die Intrige. Theorie und Praxis der Hinterlist. München et al.: Hanser 2006. Mazarin, Jules: Bréviaire des politiciens. Traduit du latin par François Rosso. Présenté par Umberto Eco. Paris: Arléa 1996. Münz, Rudolf: Das ,andere‘ Theater. Studien über ein deutschsprachiges teatro dell’arte der Lessingzeit. Berlin: Henschel 1979. Münz, Rudolf: „Aldilà teatrale. Konzeptionsentwurf für Studien zu Theatralitätsgefügen“, in: ders.: Theatralität und Theater. Zur Historiographie von Theatralitätsgefügen. Hg. von Gisbert Amm. Berlin: Schwarzkopf & Schwarzkopf 1998, 273-287. Pascal, Blaise: Gedanken. Nach der endgültigen Ausgabe übertragen von Wolfgang Rüttenauer. Leipzig: Dieterich’sche Verlagsbuchhandlung 1925. Pascal, Blaise: Pensées. Hg. von Michel Le Guern. Paris: Gallimard 2004. Starobinski, Jean: „Stendhal pseudonyme“, in: Starobinski, Jean: L’Œil vivant. Essai (Corneille, Racine, Rousseau, Stendhal). Paris: Gallimard 1968, 189-240.
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Subjekt und Objekt zugleich Gedanken zum ‚geteilten‘ Körper in der Peking Oper D ANIELA P ILLGRAB
K ULTUR
DES
‚AB -W ESENS ‘
Nähert man sich Fragen zum menschlichen Körper in chinesischen Denktraditionen aus einer europäischen Perspektive, ist eine erste Herausforderung die eigene Grundannahme dessen, was den menschlichen Körper auszeichnet. Nicht nur Fragen, was oder wie der Körper ist, müssen gestellt werden, sondern auch die Frage, ob ‚der Körper‘ in einer ähnlichen, materialistischen Weise wie im griechischabendländisch geprägten Denken existiert. Die chinesische Philosophie kennt weder die aristotelische Substanztheorie, noch den cartesianischen Dualismus von ‚res cogitans‘ und ‚res externa‘ und folglich auch keine Subjekt-Objekt-Spaltung. Zwar werden auch in der chinesischen Philosophie Prinzipien zur Einteilung vollzogen, und diese sind stark von einem daoistischen Weltbild geprägt – so wird die Außenseite des Körpers der Denkfigur Yang zugeteilt, wenn sie mit der Innenseite (Yin) in Beziehung treten soll. Allerdings geht dieses Denken von einer Einheit des Menschen aus, weshalb nicht an Gegensätzlichkeiten gedacht wird, sondern vielmehr an einen fließenden Übergang von Yang und Yin ineinander und an ein gegenseitiges Wechselverhältnis zueinander. Dabei wirkt die Lebenskraft Qi als verbindendes Element. Im Wesentlichen wird in chinesischen Denktraditionen der Beobachtung von Prozessen größere Aufmerksamkeit zugedacht als materiellen Entitäten. BjungChul Han bezeichnet daher auch die uns Europäern fremde Kultur Chinas als eine der abendländischen Kultur des Wesens diametral entgegen gesetzte Kultur des ‚Ab-Wesens‘: „Der Begriff ‚Wesen‘, der Identität, Dauer und Innerlichkeit, Wohnen, Verweilen und Besitzen in sich versammelt, beherrscht die abendländische Metaphysik.“1 Dem gegenüber investiert das daoistische Denken eine ganze Reihe 1
Han 2007: 8.
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von Negationen, so Han, um zur Sprache zu bringen, dass die Existenz im Grunde keine Exigenz, keine Insistenz, kein Wohnen ist: „Der Weise wandert im NichtSein“; das Wesen wird mit diesem Nicht negiert, es entzieht sich als Ab-Wesen jeder substanziellen Festlegung.2 Genauso wenig wie Fragen nach dem Wesen oder nach dem Sein ist auch eine genaue Definition des Ich kein Gegenstand chinesischer Denktraditionen. Die großen konfuzianistischen und daoistischen Schriften verhandeln weniger ontologische Fragestellungen als vielmehr die Beziehungen zur Außenwelt des Menschen. Erst durch Verknüpfung mit einem Außen – der Gesellschaft oder der Natur – tritt das Ich in Erscheinung. Im Theater fanden diese philosophischen Setzungen ihren besonderen Ausdruck: schon in den alten Nuo-Riten wurden die Körper von Performern als Grenzgänger aufgefasst, das heißt als vereinende Kraft von Yin und Yang, um Präsenz oder eben Qi zu erzeugen. Auch heute noch sind die Denkfiguren Yin und Yang Gestalt gebende Elemente für Schauspieltechniken der Peking Oper; die so genannte Wolkenhände-Übung – eine Grundbewegung der Hände – etwa unterscheidet eine Yin- von einer Yang-Form. Dem körperlichen Ausdruck wird in der Peking Oper viel Beachtung geschenkt. Peking Oper ist die gängige Übersetzung des chinesischen Begriffs ‚Jingju‘ Ӣ࢝. Wenn ‚Jing‘ mit Hauptstadt und ‚Ju‘ in den Wörterbüchern mit Theater übersetzt wird, meint ‚Jingju‘ eigentlich Theater der Hauptstadt. Es findet hierbei die Übertragung des europäischen Theaterbegriffs in eine andere Kultur statt. Das Verständnis von Theater in China unterscheidet sich allerdings grundlegend von der griechisch-abendländischen Idee des Theaters. Ende des 19. Jahrhunderts erwacht in Europa ein starkes Interesse an anderen Kulturen. An neu entstandenen Kreuzungspunkten werden nicht nur Waren und Geld ausgetauscht, sondern auch philosophische Denkansätze und politische Ideologien, Kulturtechniken und ästhetische Verfahrensweisen. Techniken aus traditionellen performativen Künsten Chinas treten ein in europäische Schauspielpraktiken und Diskurse – und umgekehrt. Vor allem in den europäischen Avantgarden entdecken Künstler ostasiatische Schauspielformen und beginnen, Elemente daraus in ihre eigenen Arbeiten einfließen zu lassen. In dieser Zeit des Experimentierens wird Schauspielstil und Schauspieltechniken viel Beachtung geschenkt und der MaterialCharakter des Körpers rückt ins Zentrum der Aufmerksamkeit. Dabei wird dem Schauspieler, in der Funktion eines Konstrukteurs, Subjekt-Status zugedacht und dem Körper als dem Material des Schauspielers Objekt-Status. In meinem Beitrag steht die Frage im Zentrum, wie ästhetische Verfahrensweisen aus der Peking Oper Einzug in europäische Theaterpraktiken gehalten haben und, daran anknüpfend, was diese gleichsam interkulturellen Zusammenstöße bewirkten. Wenn im Folgenden nun von Subjekt und Objekt – Kategorien, die im tra2
Han 2007: 12f.
‚GETEILTER‘ K ÖRPER IN DER P EKING OPER | 451
ditionellen chinesischen Denken so nicht vorkommen – die Rede sein wird, so passiert dies aus einer europäisch-abendländisch geprägten Perspektive.
AUFTRITT Y ANG Y UHUAN :
DIE BAOYUESHI-P OSE
Das Theater beginnt mit einem körperlichen Akt: Eine Schauspielerin betritt die Bühne. Ihr in Szene gesetzter Körper ist das erste, das vom Publikum wahrgenommen wird. In unserem Fall handelt es sich um eine Peking Oper-Schauspielerin. Ihr Kostüm und ihre Maske, aber auch ihre Körperbewegungen verraten dem Publikum sofort die Rolle, die sie darstellt. Die erste Silbe des chinesischen Begriffs ‚biaoyan‘ ⾲₇ (dt. performen) bedeutet wörtlich zeigen, ausstellen, die zweite Silbe meint entstehen, entwickeln. ‚Biao‘ bezieht sich vor allem auf das äußere Erscheinen einer Figur, die Demonstration des inszenierten Körpers: Kostüm, Maske, Farben, Mimik und Gestik, also all das, was bereits beim ersten Auftritt auf der Bühne sichtbar wird. Doch nicht nur Schauspieler verwenden zur Beschreibung ihres Tuns den Begriff ‚biaoyan‘ – auch Geschichtenerzähler tun dies. Schauspielen und Geschichtenerzählen sind nach chinesischer Auffassung nicht streng voneinander getrennt. Auch im traditionellen chinesischen Theater sind diese Kunstformen miteinander verflochten: die Figuren der Peking Oper erzählen, was sie tun, während sie dies tun. Schon im knapp 2000 Jahre alten Vorwort zum ersten schriftlich überlieferten Text über Tanz aus der Zeit der östlichen Han-Dynastie heißt es, Tanz sei Poesie in Bewegung,3 und auch Wang Guowei (1877-1927), einer der bedeutendsten Theaterwissenschaftler Chinas, bezeichnete die klassische chinesische darstellende Kunst als „performance of a story through song and dance“4. Wang setzte im Jahr 1913 die beiden Zeichen ㆷ ‚xi‘ und ∏ ‚ju‘ erstmals zu dem Begriff ‚Xiqu‘ ㆷ∏ zusammen: ㆷ ‚xi‘ bedeutet so viel wie Spiel bzw. Wettstreit und ∏ ‚ju‘ meint die liedhaften Gedichte der Zeit der Song-Dynastie (960-1270) – in der Kombination der Zeichen ergibt sich der Begriff ‚Xiqu‘ (wörtlich ins Deutsche übertragen also so viel wie ‚Spiel mit liedhaften Gedichten‘). Mit dieser Beschreibung hat Wang erstmals einen Begriff für die traditionelle chinesische Form jenes Dispositives, das in der deutschen Sprache als Theater bezeichnet wird, gesetzt. Nun gibt es in der Peking Oper eine ganz spezielle Schauspieltechnik, bei der ihr epischer Charakter auf sehr eindrucksvolle Weise ausgestellt wird: mit verschiedenen Teilen des Körpers wird zur selben Zeit Unterschiedliches dargestellt. Das heißt: Performer sind zum einen Teil der Präsentation, zum anderen Teil der Mani-
3
Siehe Faye 1999: 23.
4
Yu 1996: 2.
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pulation.5 Sie schlüpfen in die Rolle hinein und aus der Rolle heraus, sind Erzähler, die mit Händen – scheinbar losgelöst vom Rest des Körpers – ein Objekt beschreiben, während sie zur selben Zeit Rollenfigur, also Subjekt, sind. Die Schauspielerin, die soeben die Bühne betreten hat, spielt die Rolle der Yang Yuhuan in der berühmten Peking Oper Die betrunkene Konkubine (Guifei zujiu). In ihrem Eröffnungslied besingt sie eine Insel im Meer, Himmel und Erde und schließlich den Mond. Während sie erzählt, was sie beobachtet, beschreibt sie dies mit ihrem Körper: sie tut einige Schritte nach vorn, dreht sich im Kreis, ihre Augen folgen dabei den Bewegungen der Hände. In der fünften Zeile schließlich, in der sie den Mond besingt, vollzieht sie die so genannte ‚baoyueshi‘ ᢺᴸᔿ -Pose.6 Dazu hebt sie ihre Arme in die Höhe, bildet damit einen Kreis und formt jeweils Daumen und Zeigefinger zu einer bestimmten Geste, um den Mond anzudeuten. Für einen kurzen Augenblick verharrt die Schauspielerin in dieser Pose; sie ist nun Subjekt und Objekt zugleich – verglichen mit dem Marionettentheater könnte man sagen, sie hat einzelne Teile ihres Körpers wie eine Marionettenmeisterin bewegt, ist aber gleichzeitig selbst Marionette. 7 Die Grenzen zwischen derjenigen, die die Rolle spielt und derjenigen, die die Objekte kontrolliert werden verwischt, die Marionette wird als Teil der Marionettenmeisterin wahrgenommen. Die Schauspielerin verwendet ihren Körper gleichsam als Material und wird dadurch – den Mond zeigend – selbst zum Mond, wird Objekt; sie objektifiziert sich gewissermaßen. Marionettenmeisterin und Marionette sind ein einziger, darstellender Körper. Die Performerin bewegt sich dabei in einem Zwischenraum von Nähe und Distanz – sowohl zum Subjekt, als auch zum Objekt. Auf diese Weise ist es möglich, der Rolle nah und fern zugleich zu sein; Einfühlung und Distanz passieren zur selben Zeit.
D ER K ÖRPER
ALS
G RENZGÄNGER
Während eines Peking Oper-Schauspiels kommt es immer wieder zu Doppelungen bzw. Wiederholungen durch die verschiedenen Kunstformen: was sprachlich mitgeteilt wird, wird in den Bewegungen des Körpers aufgenommen. Das chinesische Wort für Identität, ‚shenfen‘ ㌟ศ, bedeutet im wörtlichen Sinne ‚geteilter Körper‘. Dieser Bedeutungsursprung spiegelt sich in Schauspieltechniken wider: In mehrere verschiedene Ausdrucksbereiche zergliedert, wird er für die Performance zu einem gleichsam ‚neuen‘ Körper zusammengestellt. Spaltung und Zusammenführung unterschiedlicher Teile des bewegten Körpers sind ständig stattfindende Prozesse
5
Siehe Riley 1997: 137.
6
Baoyueshi bedeutet ‚den Mond Umarmen‘.
7
Siehe Riley 1997: 155.
‚GETEILTER‘ K ÖRPER IN DER P EKING OPER | 453
während einer Performance. Performer oszillieren zwischen Subjekt und Objekt, oder sind gar beides zur gleichen Zeit. Sie teilen ihren Körper in Erzähler, Subjekt und unbelebtes Objekt. Die Konkubine Yang Yuhuan etwa verwandelt sich während sie erzählt in die Gänse, die sie beobachtet, ebenso in den Mond, den sie betrachtet, aber auch in andere Figuren. Ihre Rolle setzt sich aus verschiedenen Ichs, welche die Schauspielerin mit je unterschiedlichen Teilen ihres Körpers darstellt, zusammen. Auch das Bühnenbild wird erst durch stilisierte Gesten hervorgebracht. Der japanische Noh- und Kabuki-Schauspieler Yoshi Oida beschreibt aus seiner Tradition heraus den menschlichen Körper als ein Objekt, das zu Zwecken der Theaterkunst geformt werden muss. Der Körper von Schauspielern, so Oida, sei „ein ‚Gegenstand‘, der volltönender und bedeutungsvoller gemacht werden kann“. Er sei kein alltäglicher Körper, der einkaufen geht oder den Abwasch macht, sondern vielmehr ein ‚darstellender Gegenstand‘: „Wenn du deinen Körper trainierst, ist es wichtig, immer daran zu denken, daß du den ‚Körper des Schauspielers‘ trainierst, der ‚größer‘ und tönender ist als der ‚alltägliche Körper‘.“8 Auch in der traditionellen chinesischen Schauspielkunst wird der darstellende Körper als ein anderer, nicht gewöhnlicher, nicht alltäglicher Körper wahrgenommen – als ‚Grenzgänger‘, dem durch Bestimmung und hartes Training das Recht gegeben wurde, darzustellen.9
D ER K ÖRPER UND DIE D INGWELT : V ERFLECHTUNG VON S UBJEKT UND O BJEKT IN EUROPÄISCHEN T HEATERFORMEN Ende des 19. Jahrhunderts erwacht in Europa – in politischer wie in kultureller Hin10 sicht – ein starkes Interesse an Asien. Europa musste in Asien eindringen, um mit sich selbst identisch sein zu können, so der japanische Sinologe Takeuchi Yoshimi in seinen Überlegungen zur Moderne: Es handelt sich dabei um ein unabwendbares Schicksal, das mit seiner [Europas, Anm. D. P.] Selbstbefreiung einherging. Durch die Konfrontation mit dem Fremden vergewisserte es sich umgekehrt seiner selbst. Schon seit dem Altertum gab es eine Sehnsucht Europas nach Asien
8
Oida/Marshall 2005: 69.
9
Siehe Riley 1997: 143.
10 Mit der Problematik dieses Eindringens Europas in andere Kulturen der Welt beschäftigen sich seit den 1970er Jahren die Postcolonial Studies, und auch Studien zu interkulturellem Theater thematisieren die Begegnungen zwischen den Kulturen unter politischen bzw. postkolonialen Gesichtspunkten. Eine ausführliche Reflexion und Diskussion dieser Problematik würde den Rahmen meines Beitrages sprengen.
454 | DANIELA P ILLGRAB – Europa besteht eigentlich von Anfang an in einer Art Vermischung beider – doch eine Bewegung in Form des Eindringens in Asien erfolgte erst seit dem Beginn der Moderne. 11
Die Folge dieser Bewegungen sind ‚crossroads‘ – Kreuzungspunkte, an denen unterschiedliche Kulturen nun aufeinander stoßen. Der Ende des 19. Jahrhunderts beginnende Kulturaustausch ist eine Folge des Verschwindens einer starken westlichen Tradition, so Patrice Pavis in seiner Studie Theatre at the crossroads of culture aus dem Jahr 1992.12 Die Begegnung mit anderen Kulturen zwingt dazu, die eigenen kulturellen Parameter und ihre Anschauungen zu überdenken. Europäische Theaterleute entdeckten andere Schauspieltheorien und Schauspielpraktiken, und sie beginnen, diese neuen Entdeckungen zu nutzen, um eine Leerstelle des westlichen Theaters zu füllen: den körperlichen Ausdruck. In seinen Überlegungen zu einem Postdramatischen Theater formuliert Hans-Thies Lehmann: Jahrhunderte lang hat im Theater Europas ein Paradigma geherrscht, das sich von außereuropäischen Theatertraditionen deutlich abhebt. Während beispielsweise indisches Kathakali oder das japanische Noh-Theater gänzlich anders strukturiert sind und im wesentlichen aus Tanz, Chor und Musik, hochstilisierten zeremoniellen Abläufen, erzählenden und lyrischen Texten bestehen, hieß Theater in Europa Vergegenwärtigung von Reden und Taten auf der Bühne durch das nachahmende dramatische Spiel. [...] Das dramatische Theater steht unter der Vorherrschaft des Textes. 13
Der Körper war im Theater des Abendlandes lange Zeit ein dem Text untergeordnetes Element. In den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts sind es die Avantgarden, die den naturalistischen Darstellern innerer Emotionen Artisten, Akrobaten, Tänzer, Pantomimen und in biomechanischen Übungen trainierte Schauspieler gegenüberstellen. Die bewegten Körper verdrängen das Wort, das über Jahrhunderte hindurch die Bühnen des Abendlandes dominiert hatte. „An die europäisch erzogenen Theaterleute“, so Lehmann, „tritt aufgrund dieser Verschiebung eine neue Aufgabe heran. Sie müssen üben, was in anderen Theaterkulturen selbstverständlich war, den Körper neu zu erlernen, zumal die Gesetze seiner Intensität“.14 Die Körperbilder im Theater der 1920er und 1930er Jahre entstehen in Auseinandersetzung mit den neuen Medien und den Entwicklungen in Industrie und Technik – und in Auseinandersetzung mit außereuropäischen Schauspieltraditionen. Antonin Artaud z.B. notiert, nachdem er auf der Pariser Kolonialausstellung balinesische Tänze sieht: „Die Offenbarung des balinesischen Theaters ist dazu angetan gewesen, uns 11 Takeuchi 2005: 12. 12 Siehe Pavis 1992: 6. 13 Lehmann 2005: 20f. 14 Lehmann 2005: 367.
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eine körperliche und keine verbale Vorstellung vom Theater zu verschaffen“ 15 und Wsewolod Meyerhold – inspiriert durch die seit Beginn des 20. Jahrhunderts durch Europa tourenden japanischen Schauspielerinnen Sada Yakko und Hanako (ƿta Hisa) – verwendet bereits 1906 in seiner Inszenierung von Arthur Schnitzlers Der Schrei des Lebens Techniken des japanischen Theaters; so betrachtet er etwa „jede Bewegung als Tanz“ und nennt dies die „japanische Methode“16. Formulierungen wie ‚westliches‘ bzw. ‚abendländisches‘ Theater werden erst in Auseinandersetzung mit – und in Abgrenzung von – dem Nicht-Westlichen notwendig; gerade die Beschäftigung mit dem Fremden ermöglicht nun einen neuen Blick auf das Gewohnte. Auf viele europäische Künstler und Philosophen des 20. Jahrhunderts übte die Andersartigkeit speziell Chinas eine große Faszination aus – den Grund dafür sieht der französische Philosoph und Sinologe François Jullien in der Tatsache, dass China für viele „den größten, explizierten kulturellen Abstand zur Verbreitung der westlichen Humanwissenschaften und den mit ihnen verbundenen Kategorien“ 17 bedeutete. Im traditionellen chinesischen Theater zeigt sich dieser von Jullien diagnostizierte größte kulturelle Abstand besonders deutlich: Mehrere verschiedene künstlerische Elemente werden hinzugezogen, um ein dramatisches Moment zu veranschaulichen; Stimme und Körper sind gleichberechtigte Teile der Performance. Auch wenn die Avantgarde in Europa – wie Hans-Thies Lehmann betont – „das Wesentliche des ‚dramatischen Theaters‘ allen revolutionären Neuerungen zum Trotz bewahrt hat“18, leistet die Loslösung von der Vorherrschaft des Textes einen wesentlichen Beitrag zu experimentellen Formen, die sich seit den 1960er Jahren im westlichen Theater entwickeln. Für diese Formen, die nunmehr nach der Geltung des Paradigmas Drama operieren, hat Lehmann den Begriff ‚postdramatisch‘ geprägt. Anstelle des dramatischen Textes rücken nun andere Bereiche künstlerischen Ausdrucks ins Blickfeld – etwa der Tanz, den Lehmann als „exemplarisch für das postdramatische Dispositiv“19 bezeichnet, oder aber die Dingwelt: Während in der Tradition des dramatischen Theaters die Verstrickung des Körpers in die 15 Artaud 1996: 73. An dieser Stelle ist allerdings darauf hinzuweisen, dass es sich bei diesen Tänzen keineswegs um authentisches balinesisches Theater handelte, sondern, wie Michael Prager es formuliert, um dessen koloniale Repräsentation. Artauds Beobachtungen waren selbst in einem kolonial geprägten Kontext positioniert, in dem auf inszenierte Weise – gleichsam wie durch einen Guckkasten – auf fremde Kulturen gespäht werden konnte, und in dem der Akt der Beherrschung selbst einen Teil der Inszenierung darstellte (siehe Prager 2000: 198). 16 Bochow 2005: 32 o. Wolkow 1929: 248. 17 Jullien 2002: 102. 18 Lehmann 2005: 22f. 19 Lehmann 2005: 373.
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Dingwelt unterdrückt blieb, belebt das postdramatische Theater die Wechselwirkung von menschlichem Körper und Objektwelt neu und spielt gleichsam mit der Verwandtschaft von Puppe, Marionette und Leib.20 Doch was interessiert und fasziniert uns am Objekt? Lehmann erklärt dies wie folgt: Daß es Subjekt wird und dadurch das Gefühl erregt, wir selbst wären umgekehrt nicht einfach lebendige Subjekte, sondern zu einem Teil selbst Objekt. Es fasziniert, wenn die Grenze verschwimmt, das Subjekt zum Ding tendiert, das Ding zum lebendigen Wesen, wenn die Sicherheit verloren geht [...] zwischen Subjekt und Objekt sicher trennen zu können. [...] Ein Theater folglich, das dem dramatischen Modell absagt, vermag den Dingen ihren Wert und den menschlichen Akteuren die fremd gewordene Erfahrung der Dingwelt wiederzugeben.21
Auch diese Ästhetik des Verschwimmens der Grenze zwischen Subjekt und Objekt, zwischen Schauspieler und Körper-Material, ist bereits Teil der Experimente der russischen Theateravantgarde der 1920er Jahre. Es erinnert fast ein wenig an die oben zitierten Worte Yoshi Oidas, wenn Wsewolod Meyerhold in seinem berühmten Vortrag Der Schauspieler der Zukunft und die Biomechanik, den er am 12. Juni 1922 in Moskau hält, den Körper als formbares und kontrollierbares Material verstanden wissen will: Die Kunst des Schauspielers besteht in der Organisation seines Materials, d.h. in der Fähigkeit, die Ausdrucksmittel seines Körpers richtig auszunützen. In der Person des Schauspielers kongruieren der Organisator und das, was organisiert werden soll (d.h. der Künstler und sein Material). In der Formel ausgedrückt sieht das so aus: N = A1 + A2, wobei N der Schauspieler ist, A1 der Konstrukteur, der eine bestimmte Absicht hat und Anweisungen zur Realisierung dieser Absicht gibt, A2 ist der Körper des Schauspielers, der die Aufgaben des Konstrukteurs (des ersten A) ausführt und realisiert.22
Meyerhold teilt hier den Schauspieler ein in Künstler-Konstrukteur und MaterialKörper, wobei ersterem Subjekt-Status und letzterem Objekt-Status zukommt. Diese Art der Reflexion über den Materialcharakter des menschlichen Körpers stand, so betont Erika Fischer-Lichte, bei der Entwicklung einer neuen Schauspielkunst im Vordergrund: bei Meyerhold etwa wird „[d]em Subjekt […] vollkommene Verfügungsgewalt über das Körper-Objekt zugesprochen“ 23.
20 Siehe Lehmann 2005: 385f. 21 Lehmann 2005: 385. 22 Meyerhold 1974: 73f. 23 Fischer-Lichte 2004: 137.
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Eine „systematische Entpersönlichung“24 der Schauspielenden bzw. deren Objekt-Werdung will Antonin Artaud bei seiner Begegnung mit dem balinesischen Theater bemerken: „Kurzum, die Balinesen verwirklichen mit äußerster Stringenz die Vorstellung vom reinen Theater, in dem alles, Konzeption wie Realisation, nur nach Maßgabe seiner Objektivierung auf der Bühne Wert und Dasein erlangt.“25 Artaud beobachtet bei ihrem Spiel unter anderem „Finger, die sich von der Hand loszulösen scheinen“, und bezeichnet dies als „ein fortwährendes Sich-Spiegeln, bei dem es uns so vorkommt, als ob die menschlichen Gliedmaßen einander zum Echo, zur Musik würden“.26 Die Verstrickung des Körpers in die Dingwelt hält in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts Einzug in europäische Theatertheorien und Theaterpraktiken; nicht nur Marionetten, Puppen und Automaten betreten die Bühnen, sondern auch Schauspieler, die ihren eigenen Körper als Objekt begreifen, ihn als solches zerlegen, um ihn dann – gleichsam montageartig – wieder zusammenzufügen.
AUFTRITT S HEN T E :
DIE BAOYUESHI-P OSE
Der singapurianische Regisseur Ong Keng Sen hat in seiner Inszenierung von Brechts Parabelstück Der Gute Mensch von Sezuan im Linzer Landestheater im Jahr 2009 die Verstrickung des Körpers in die Dingwelt auf ganz besondere Weise mit ästhetischen Verfahrensweisen der Peking Oper verflochten. Ong Keng Sen, Gründer von TheatreWorks und ArtsNetworkAsia, ist in seinen Produktionen stets darum bemüht, traditionelle und moderne ästhetische Verfahrensweisen aus unterschiedlichen Theatertraditionen miteinander zu verknüpfen. Oft arbeitet er in Europa, um den kulturellen Austausch und die Zusammenarbeit zwischen Europa und Asien zu fördern, aber auch um den Möglichkeitsraum künstlerischer Ausdrucksmittel zu vergrößern. Es ist meiner Ansicht nach nicht unproblematisch, der Arbeit von Ong Keng Sen den Stempel des Postdramatischen aufzudrücken, da er – aus einer asiatischen Kultur her kommend – Theater ohnedies nicht vom Drama her denkt. Inspiriert von Brechts Begegnung mit dem chinesischen Schauspieler Mei Lanfang 1935 in Moskau, die Brecht dazu angeregt hatte, über Verfremdungseffekte in der chinesischen Schauspielkunst nachzudenken, verbindet Ong Keng Sen in seiner Linzer Inszenierung Brechts Theorie und Stücktext sowohl mit Elementen moderner Video- bzw. Computertechnologie, als auch mit traditionellen ästhetischen Verfahrensweisen
24 Artaud 1996: 62. 25 Artaud 1996: 56. 26 Artaud 1996: 60.
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aus seinem Kulturraum. Diese unterschiedlichen Elemente lässt er zu etwas Neuem explodieren, was dem postdramatischen Dispositiv nahe kommt. Er eröffnet mit diesem Konzept für Schauspieler und Zuschauer einen Raum, der es möglich macht, sich selbst fremd zu werden. Bei der Begegnung mit Techniken aus einer anderen Schauspieltradition macht sich bei den Linzer Schauspielern ein Gefühl von Unsicherheit bemerkbar – vor allem durch Ong Keng Sens spielerischen Umgang mit Identität und mit verschwindenden Grenzen von Subjekt und Objekt. Wie es in der Peking Oper üblich ist, fordert er die Schauspieler dazu auf, den gesprochenen Text durch Gesten und Bewegungen des Körpers zu verdoppeln, Teile ihres Körpers zum Gegenstand, zum Objekt zu machen, sich zu objektifizieren. Und wie die Konkubine Yang Yuhuan in der Peking Oper Die betrunkene Konkubine, so zeigte auch die Protagonistin in Brechts Der Gute Mensch von Sezuan, die Prostituierte Shen Te, in Ong Keng Sens Linzer Inszenierung die ‚baoyueshi‘-Pose. Mit derartigen Regieanweisungen versteht es Ong Keng Sen ein Ungleichgewicht zu erzeugen, indem er gewissermaßen die Ordnung der Dinge des abendländischen Denkens bricht. Viele Schauspieler argumentierten, dass es ihrer Meinung nach ausreicht, den Text zu sprechen; wozu sollten sie ihre Worte durch Mimik und Gestik zusätzlich beschreiben? Würde dies nicht ein doppeltes Zeigen – durch Text und Körper – bedeuten? Doch genau in diesem doppelten Zeigen liegt Ong Keng Sen zufolge die Quelle für das, was er ‚Schatten‘ oder ‚Geister‘ der Wahrnehmung nennt: durch mehrere unterschiedliche Blicke auf die Handlung – gezeigt mittels 27 Text und Körper – entsteht ein Gefühl von Unbehagen und Befremden. Die dem chinesischen Begriff ‚shenfen‘ – Identität – eingeschriebene Bedeutung ‚geteilter Körper‘ findet in Ong Keng Sens Inszenierung eine besondere Umsetzung: Brechts Parabelstück Der gute Mensch von Sezuan wird mittels Text, Gesten und Bewegungen auf die Bühne gebracht. Ong Keng Sen greift auf eine uralte Technik des chinesischen Theaters zurück und lässt die Akteure ihre Körper als gleichsam geteilte Körper verwenden: Sie bewegen sich im Zwischenraum von Subjekt- und Objekt-Status, von wo aus sie mal das eine, mal das andere, mal beides gleichzeitig darstellen. Es ist dies zugleich auch ein Spiel mit der Unsicherheit der Zusehenden, nicht mehr klar zwischen Subjekt und Objekt unterscheiden zu können.
27 Gespräch zwischen D. P. und Ong Keng Sen, Linz, 25. September 2009.
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L ITERATUR Artaud, Antonin: „Orientalisches und Abendländisches Theater,“ in: ders.: Das Theater und sein Double. München: Matthes & Seitz 1996, 73-78. Bochow, Jörg: Das Theater Meyerholds und die Biomechanik. Berlin: Alexander 2005. Brecht, Bertolt: „Bemerkungen über die chinesische Schauspielkunst“, in: Hecht, Werner et al. (Hg.): Bertolt Brecht Werke. Große kommentierte Berliner und Frankfurter Ausgabe, Bd. 22.2. Berlin/Weimar: Aufbau, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1988-2000, 151-155. Faye, Chunfang Fei: Chinese Theories of Theater and Performance from Confucius to the Present. Michigan: The University of Michigan Press 1999. Fischer-Lichte, Erika: Ästhetik des Performativen. Frankfurt am Main: Suhrkamp 2004. Han, Byung-Chul: Abwesen. Berlin: Merve 2007. Jullien, François: Der Umweg über China: Ein Ortswechsel des Denkens. Berlin: Merve 2002. Lehmann, Hans-Thies: Postdramatisches Theater. Frankfurt am Main: Verlag der Autoren 2005. Meyerhold, Wsewolod: „Der Schauspieler der Zukunft und die Biomechanik“, in: ders.: Theaterarbeit 1917-1930. Hg. von Rosemarie Tietze. München: Hanser 1974, 72-76. Oida, Yoshi/Marshall, Lorna: Der unsichtbare Schauspieler. Berlin: Alexander Verlag 32005. Pavis, Patrice: Theatre at the Crossroads of Culture. London/New York: Routledge 1992. Prager, Michael: „‚Lebendige Hieroglyphen.‘ Bali, Artaud und das Theater der Grausamkeit,“ in: Köpping, Klaus-Peter/Rao, Ursula (Hg.): Im Rausch des Rituals: Gestaltung und Transformation der Wirklichkeit in körperlicher Performanz. Hamburg: LIT 2000. Riley, Jo: Chinese Theater and the Actor in Performance. Cambridge: Cambridge University Press 1997. Takeuchi, Yoshimi: „Was bedeutet die Moderne? Der Fall Japan und der Fall China (1948)“, in: ders.: Japan in Asien. Geschichtsdenken und Kulturkritik nach 1945. Hg. von Wolfgang Seifert und Christian Uhl. München: Iudicum 2005, 954. Wolkow, N. D.: Meyerhold, Bd. 1. Moskau/Leningrad 1929. Yu, Weijie: Mei Lanfang’s innovation in Beijing opera: a historical documentation of his artistic career & his representative stage productions. Dissertation, Bayreuth 1996.
Bruscambille – Des Lauriers – Jean Gracieux Wer ist jetzt wer? Komödiantische Dreieinigkeit versus Identität K ATHARINA D UFEK
Das europäische Menschenbild des 21. Jahrhunderts ist nach wie vor stark geprägt durch ein Konzept, das sich bereits bei antiken Denkern zeigt und sich danach, quasi leitmotivisch, durch die neuere Philosophie zieht.1 Seine unterschiedlichen Ausprägungen fasst der Soziologe Norbert Elias mittels des Ausdrucks „homo clausus“ zusammen. Er bezeichnet damit die Vorstellung des Menschen, „eine kleine Welt für sich“ zu sein, „die letzten Endes ganz unabhängig von der großen Welt außerhalb seiner existiert [...]“.2 Elias problematisiert dieses Konzept im Hinblick auf die sich daraus ergebenden Schwierigkeiten für die Bildung soziologischer Theorien. Diese Vorstellung vom Menschen schafft jedoch auch auf individueller Ebene häufig Probleme im Umgang mit dem eigenen Ich, setzt sie doch einen „Kern“, ein „Wesen“, ein „eigentliches Selbst“ voraus, das nicht nur „von allem was draußen ist [...] abgeschlossen“, sondern auch in sich unveränderlich und eine „geschlossene Persönlichkeit“ ist. Die tatsächlichen, häufig widersprüchlichen Selbsterfahrungen und die miteinander und mit den eigenen Vorstellungen kollidierenden Erwartungshaltungen anderer waren und sind aber nur schwer mit dem Konzept eines abgeschlossenen Individuums mit fester Identität vereinbar. Komödiantische Theaterpraxen der frühen Neuzeit zeigen jedoch die Relativität und Historizität jeglichen Menschenbildes: Ihnen liegt häufig ein Konzept zugrun1
Siehe zum Folgenden Elias 1997: 46-73. Elias nennt als Beispiele für das Vorkommen dieses ‚Leitmotivs‘ abendländischer Philosophie das „denkende[…] Ich des Descartes, [...] Leibniz’ fensterlose[…] Monaden“, das „Kantische[…] Subjekt der Erkenntnis, das aus seinem apriorischen Gehäuse nie recht zu dem ‚Ding an sich’ vorzudringen vermag“ ebenso wie existenzphilosophische und soziologische (Max Weber!) Konzepte (Elias 1997: 57-58).
2
Elias 1997: 52.
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de, das die Existenz eines Kern-Selbst nicht kennt und den Menschen nicht als unabhängiges und mit sich selbst immer identisches Wesen betrachtet. Stattdessen wird er als mit anderen Menschen interagierendes, in sich mehrfach geteiltes, oft widersprüchliches Wesen mit unterschiedlichen Aufgaben und Funktionen gesehen. Wie so ein Subjekt verfasst sein kann und welche Schlussfolgerungen sich daraus auch für das eigene Leben ziehen lassen, soll im Folgenden am Beispiel der Maske Bruscambille erläutert werden. Hinlänglich bekannt ist, dass im späten 16. und frühen 17. Jahrhundert Schauspieler unter einem anderen als ihrem eigentlichen Geburtsnamen auftraten und zusätzlich noch Masken für ihre Auftritte in Farcen und Zwischenspielen kreierten. Diese drei Aspekte – bürgerlicher Name, nom de guerre für durchgeschriebene Stücke und Maske – waren mehr oder weniger streng voneinander getrennt, besonders die Masken konnten eine große Autonomie erreichen, sodass sie unabhängig von ihrem ursprünglichen Erfinder weiterleben konnten. Ein berühmtes Beispiel ist der Farceur Gaultier Garguille: Geboren als Hugues Guéru trat er in den grandes pièces, also jenen durchgeschriebenen Stücken, die den Hauptteil der Aufführungen bildeten, als Fléchelles auf. Seine Texte und Lieder schrieb er aber durchgehend als Gaultier Garguille.3 Obwohl also ernsthafter Schauspieler und Maske in ein und derselben Person fußten, wurde die Maske streng getrennt von der Bühnenpersönlichkeit wahrgenommen. Bei der Konstruktion dieser Maske griff Guéru auf zwei unterschiedliche Traditionen zurück: Zum einen war der Name Gaultier im Volksmund eng mit Zügellosigkeit und Übermut verknüpft, was sich auch auf die Maske übertrug. Viele Narren und Gaukler gaben sich diesen Namen, sodass sich bereits früh ein Bühnentypus mit diesem Namen entwickelte. 4 Garguille auf der anderen Seite geht zurück auf das Garguille-Fest in Rouen, einer Prozession, bei der Bilder von Drachen durch die Stadt getragen wurden, um diese als Symbole des Unglaubens auszutreiben. Die Bruderschaft der Gargouillards führte dabei allerlei Unfug mit den Darstellungen der Drachen auf. 5 Bezeugt sind auch Auftritte eines „outrocuidé comte de la Gargouille“ in der Abbaye des Cornards, der Narrengesellschaft in Rouen. Garguille wurde so zum Inbegriff eines Lebe3
An diesem Punkt ist anzumerken, dass die Autorschaft in vielen Fällen nicht zweifelsfrei geklärt werden kann. Dementsprechend wäre es exakter zu sagen, dass die angesprochenen Texte und Lieder unter dem Namen Gaultier-Garguille veröffentlicht wurden. Gerade diese Tatsache unterstreicht aber die Autonomie dieser Maske, der gewisse Verhaltensund Ausdrucksweisen zugeordnet wurden, die sich möglicherweise auch andere Autoren zunutze machten.
4
So wird um die Mitte des 16. Jahrhunderts immer wieder ein Gaultier zusammen mit ei-
5
Siehe Levertin 1890: 115-116.
nem anderen Komödianten namens Philippot erwähnt (siehe Levertin 1890: 118).
B RUSCAMB ILLE – DES LAURIERS – J EAN G RACIEUX | 463
manns, der dem Müßiggang und gutem Essen nicht gerade abgeneigt ist.6 Guéru verbindet hier jedoch keine Widersprüchlichkeiten miteinander, wie es sonst im komödiantischen Theater häufig der Fall ist. Die beiden Namen kommen auch gemeinsam in Redewendungen (z.B. „prendre Gaultier pour Garguille“) vor, sodass der Klang des Doppelnamens den Zuschauern vertraut war. So verwundert es auch nicht, dass um 1530 ein Farceur unter dem Namen Garguille jenen Typus spielte, der zuvor Gaultier genannt worden war.7 Am Beispiel seines Zeitgenossen Bruscambille lässt sich besser verdeutlichen, wie die Widersprüchlichkeiten im Menschen verbunden werden können, statt sie einer dem aufklärerischen Ideal entsprechenden ‚Identität‘ zu opfern. Eine Maske dieses Namens scheint es vorher nicht gegeben zu haben, sodass sie mehr oder weniger neu, wenn auch mit Anleihen an die als Pantalone berühmt gewordene Magnifico-Maske der Commedia all’improvviso erfunden werden konnte. Lange Zeit kannte man zwar Bruscambilles Prologe, nicht aber die Person hinter der Maske. Erst 1986 konnte die Maske durch Alan Howes intensive Archivarbeit mit Jean Gracieux, einem Schauspieler, der bis dahin nur unter seinem Bühnennamen Des Lauriers bekannt gewesen war, identifiziert werden. Die titelgebende Frage von Howes Aufsatz8 – „Wer war Bruscambille?“– ist aber mit der Gleichsetzung dreier Namen alleine noch nicht hinreichend beantwortet. Im Folgenden soll daher ein gewagter Spagat versucht werden: Zum einen soll die vorläufige Antwort von Howe um einige Bemerkungen zur Maske Bruscambille ergänzt werden. Zum anderen soll gezeigt werden, dass eine wie auch immer geartete ‚Identität‘ Bruscambilles, wie Howe sie zu finden versucht hat, aufgrund der Dreifachheit des hier zu Tage tretenden komödiantischen Subjekts letztlich nicht fixierbar ist. Bereits das Verhältnis zwischen der Privatperson Jean Gracieux und der Bühnenpersönlichkeit Des Lauriers ist nicht leicht bestimmbar. Es ist wahrscheinlich, dass poetische Namen dieser Art gewählt wurden, um die Profession des Schauspielers zu adeln und das Theater somit zu legitimieren. Mit „Des Lauriers“ ist Gracieux eine besonders aussagekräftige Kreation gelungen: Hier klingt der akademische Titel des poeta laureatus an. Andere Schauspieler dürften bei der Wahl ihrer Namen nicht ganz so geschickt gewesen sein, wie eine Prologstelle vermuten lässt: Bruscambille parodiert hier die Praxis seiner Kollegen, durch SelbstZuschreibung adelig klingender Namen die eigenen, durch das Nomadenleben bedingten Zeugungs-, Geburts- und Lebensumstände zu verschleiern:
6
Siehe Levertin 1890: 117.
7
Siehe Levertin 1890: 117. Levertin spricht hier allerdings fälschlich von „Charakterrol-
8
Howe 1986: 390-396.
len“.
464 | K ATHARINA D UFEK Quelqu’un engendré d’un pelerin de sainct Jacques, à l’ombre d’un buisson, se fera appeler Monsieur de l’Espine, Monsieur de la Violette: quelques autres fils des eaux, Monsieur de la Seine, Monsieur du Vivier, Monsieur de l’Estang, Monsieur du Moulin, les autres engendrez [engendrés] en raze campagne, Monsieur du chemin, Monsieur de la Route, Monsieur de la Place: Les autres trouvez [trouvés] en quelque marché, Monsieur de la Potence, Monsieur de l’Eschelle […].9
Das Verhältnis des comédien Des Lauriers zum Farceur Bruscambille ist wesentlich interessanter und für die Frage nach der ‚Dreieinigkeit‘ des Subjekts ergiebiger: In einer Art Spaltung der eigenen Person scheint Des Lauriers zu versuchen, eine Differenz zwischen ihm und Bruscambille zu behaupten. Erstes Indiz dafür ist bereits die erste Ausgabe der Prologues aus dem Jahr 1610. Zwar trägt sie den Titel Les Prologues de Bruscambille, als Verfasser fungiert jedoch „le Sieur D. L.“, also Des Lauriers. Er ist es, der Bruscambille die Worte in den Mund legt. Der ‚ernsthafte‘ Schauspieler distanziert sich also vom Farceur und Prologsprecher. Den Fantaisies von 1612 wird der Verfasserangabe „Faits par le Sieurs des Lauriers“ sogar ein stolzes „Comédien“ hinzugefügt, ein Titel, den, so Bruscambille, nur wenige zu tragen verdienen und der jenen „petits basteleurs qui usurpent la qualité de Comedien, & qui n’ont pas si bonne provision de science, que de rubens [!] [...]“ 10 nicht verliehen werden könne. Die Trennung von Farceur und Schauspieler kann gerade bei diesen ersten Publikationen natürlich auch der Tatsache geschuldet sein, dass die Maske Bruscambille noch nicht ausreichend bekannt gewesen sein könnte. Für die Facétieuses Paradoxes aus dem Jahr 1615 wird Des Lauriers nämlich nicht mehr als Verfasser angegeben.11 Eine Differenzierung findet jedoch nach wie vor statt: Diesmal sind es jedoch nicht mehr die Gaukler, denen Bruscambilles Verachtung entgegen schlägt, sondern „ces Comediens de la nouvelle creuɺ qui d’une voix croaçante, & d’une action contrefaicte & desreiglee, offensent la veuɺ & l’ouye des assistans“12. Seine Aufgabe als Prologsprecher, die ihn doch mit einigem Stolz zu erfüllen scheint, verteidigt er gegen jene dilettantischen „Theaterjünger“ („suivant[s de] la Commédie“13), die sich mit einem Prolog abmühen und doch nichts dabei zustande bringen. Sie erinnern ihn an „ces Perroquets apris [pris] en cage, qui ne sçauroient rendre raison de leur dire“ 14. 9
Bruscambille 1613: 72 („Des Accidens Comiques“).
10 Bruscambille 1613: 69 („Des Accidens Comiques“). 11 Der Titel lautet hier: Facecieuses Paradoxes de Bruscambille, & autres discours Comiques. Le tout nouvellement tiré de l’Escarcelle de ses imaginations. 12 Bruscambille 1615: o.S. („En faveur de la scène“). 13 Bruscambille 1615: o.S. („En faveur de la scène“). 14 Bruscambille 1615: o.S. („En faveur de la scène“).
B RUSCAMB ILLE – DES LAURIERS – J EAN G RACIEUX | 465
Es ist zudem zu bemerken, dass hier erstmals die „Paradoxes“ als Haupttitel genannt werden. Zuvor war diese Bezeichnung entweder gar nicht (1610, 1613) oder nur im Untertitel als „ebenfalls enthalten“ angegeben gewesen.15 Die der Maske immanente Widersprüchlichkeit und paradoxe Weltsicht scheinen sich also zu diesem Zeitpunkt bereits herumgesprochen zu haben. Umso mehr verwundert es, dass Bruscambille gerade in diesem Band die Aufführungen seiner Truppe als schlicht und natürlich beschreibt: La naʀveté formee sur le patron mesme de la Nature, sera fidellement observee en nos representations, ces graves enjambees à la Castillane n’y trouveront point de place, une prolation à la Pedentesque, dont la pluspart de ces avortons de Roscie s’empestrent la langue, sera retranchee & reduitte [!] à une douce prononciation & liaison de paroles, qui donnera une merveilleuse grace au Vers.
16
Eben hier liegt das vielleicht größte, von Bruscambille jedoch nicht näher ausgeführte Paradoxon begründet. In zahlreichen Prologen wird eine klare Position zur zeitgenössischen Theaterpraxis formuliert: Mehrfach finden sich hier Verteidigungen des Theaters, mit dem Hauptargument, es sei ein anständiger Zeitvertreib und damit nützlich für das Publikum.17 So heißt es gleich im ersten Prolog der Imaginations: [V]ostre vertueuse curiosité […] reçevra […] l’offre d’une honneste recreation, d’un modeste passe-temps pour tromper l’oisiveté, d’un exercice delectable qui invite les plus rustiques ames à cherir & caresser la vertu, & que les plus severes & fascheux seront contraincts de ratifier & approuver d’un commun consentement.18
Das Theater biete also einen ehrlichen Zeitvertreib, der nicht nur dem Müßiggang vorbeuge, sondern zudem dazu auffordere, tugendhaft zu handeln. Es gibt für Bruscambille keinen besseren Zeitvertreib, als das Theater, denn „[c]hacun se sent là pincer [pincé] sans rire, se faict sage sans scandale, aux depens d’autruy, & s’en retourne beaucoup plus content chez soy […].“19 Auch wird immer wieder hervorgehoben, dass es sich bei dem Theater seiner Truppe nicht um derbes, unanständiges Theater handelt. Zwar würde sie immer 15 So bei den Fantaisies 1612, deren vollständiger Titel lautet: Les fantaisies de Bruscambille. Contenant plusieurs Discours, Paradoxes, Harangues & Prologues facecieux […]. 16 Bruscambille 1615: o.S. („En faveur de la scene“). 17 Zu Bruscambilles Theaterapologien vgl. auch Wiley 1959. 18 Bruscambille 1613: 4r-4v („Ouverture pour le premier“). 19 Bruscambille 1613: 65r („Du loisir“).
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noch Farcen aufführen, dies liege aber nur am Publikum selbst, das dem Irrglauben anhänge, ohne Farce sei ein Theaterabend nicht vollständig und nichts wert. Reste la derniere objection de nos detracteurs, qui disent qu’encor[e] de deux maux eslisant le moindre, nos representations Tragiques & Comiques sembleroient tollerables, mais qu’une farce garnye de mots de gueule gaste tout, que d’une pluye contagieuse elle pourrit nos plus belles fleurs. Ah vrayement pour ce regard, je passe condemnation. Mais à qui en est la faute ? à une folle superstition populaire qui croit que le reste ne vaudroit rien sans elle, & que l’on n’auroit pas du plaisir pour la moitié de son argent. 20
Bruscambille betont an dieser Stelle, dass seine Truppe sofort bereit wäre, auf die Aufführung von Farcen verzichten, wenn das Publikum das wünsche: „Dès à present nous y renonçons & protestons de l’ensevelir en une perpetuelle oubliance, si vous le voulez[,] elle ne nous sert que d’un faix insuportable & prejudiciable à la renommee.“21 Er scheint sich aber bewusst zu sein, dass ein solcher Wunsch eher nicht zu erwarten ist, denn er verteidigt die französischen Aufführungen gegenüber jenen der in Paris äußerst erfolgreichen italienischen Komödianten – deren Farcen seien demzufolge noch sittenloser als die eigenen: „Encor[e] que je puisse dire avec verité que la plus chaste Comedie Italienne soit cent fois plus depravee de paroles & d’actions, qu’aucune d’icelles […].“22 Bruscambilles Prologe künden so auch von den kommenden Änderungen im Repertoire französischer Truppen: 1610 war noch am Ende mehrerer Prologe die Aufführung von Farcen angekündigt worden, so hatte Bruscambille beispielsweise im „Prologue sur un habit“ das Publikum um wohlwollende Aufmerksamkeit für „une petite farce gaillarde que nous vous allons representer“ gebeten.23 Nur drei Jahre später nimmt Bruscambille für seine Truppe, in humanistischer Tradition, die Autoritäten des antiken Theaters in Anspruch: „Terence sert de cul de lampe à nostre theatre, Senecque de chandelier pour suppleer aux soltices d’Hyver, Ovide d’Arcboutant, Roscius de Portier, pour recueillir le fruict des marmites estrangeres.“24 Während er sich also für ein neues, ‚gereinigtes‘ Theater ausspricht, degradiert er gleichzeitig das auf Masken basierende Theater zu einer Unterhaltungsform für das unwissende Volk, die im Sinne einer Theaterreform abzuschaffen sei. Paradox daran ist, dass er sich damit im Grunde genommen selbst die Existenzberechtigung abspricht, da sich die Idee eines regelmäßigen Theaters auch gegen die Vermi20 Bruscambille 1613: 134r-135v („En faveur de la Comedie“). 21 Bruscambille 1613: 135v („En faveur de la Comedie“). 22 Bruscambille 1613: 135v („En faveur de la Comedie“). 23 Bruscambille 1610: 54v („Prologue sur un Habit“). 24 Bruscambille 1613: 73r-73v („Des Accidens Comiques“).
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schung komischer und tragischer Theaterformen sowie gegen den vielfältigen und bunten Ablauf eines durchschnittlichen Theaterabends richtete. Doch da Des Lauriers in den durchgeschriebenen grandes pièces auftrat, musste er versuchen, ihnen mehr Popularität und Anerkennung zu verschaffen. Auch zog Des Lauriers/Bruscambille zeitweise mit der Truppe Valleran le Comtes durch die Lande, der als Begründer des französischen Berufstheaters angesehen wird und mit Alexandre Hardy erstmals einen poète à gages mit sich führte, der die Truppe regelmäßig mit neuen Pastoralen, Tragikomödien und anderen Stücken versorgte.25 Bruscambille musste jedoch auch weiterhin der karnevalesken Tradition sowie den volkstheatralen Formen der Farce und der Sottie seine Referenz erweisen, weil diese beim öffentlichen Publikum und teilweise auch bei Hof, vor allem bei Henri IV, äußerst beliebt waren. Dass die Erwartungen der zahlenden Zuschauer und jene der Gelehrten häufig divergieren, wird hier einmal mehr deutlich. Ob Bruscambille sich lediglich den ökonomischen Zwängen beugte oder ob er andere Gründe dafür hatte, (auch) an ‚unregelmäßigen‘ Genres festzuhalten, kann wohl nicht zweifelsfrei geklärt werden. Es wäre umgekehrt auch möglich, dass er aus ‚politischen‘ Gründen begann, ein regelmäßiges, nützliches Theater zu verteidigen, immerhin sind gerade die Imaginations, aus denen der Großteil der einschlägigen Zitate stammt, nicht irgendjemandem, sondern niemand geringerem als Henri II de BourbonCondé, Cousin und Rivale des Königs Henri IV, gewidmet. Dass Bruscambille diesen „si grand Prince si favorable aux muses & si favory d’elles“26 auch in einem eigens für ihn geschriebenen Prolog verherrlicht, versteht sich von selbst. Nicht weniger zahlreich jedenfalls als Bruscambilles ‚Reformtheaterprologe‘ sind beispielsweise die Galimatias, eine eng an den Karneval gebundene Textsorte, die Robert Garapon mit anderen Textsorten, wie beispielsweise dem Coq-à-l’âne, unter dem Begriff „fantaisie verbale“ zusammenfasst: „[C]’est [...] le détournement du langage de son objet normal, utilitaire, qui est la signification et la communication; c’est essentiellement le fait de jouer avec les mots, au lieu de s’en servir.“27 Dieses Spiel mit der Sprache scheint, so Garapon, Teil des alltäglichen Lebens gewesen zu sein, bevor es gegen Ende des 14. Jahrhunderts Eingang in die frühe französische Literatur fand. Ihre Blütezeit erfährt die fantaisie verbale in den Mysterienspielen, Farcen und Sottien des 15. und 16. Jahrhunderts. Garapon führt dies auf das noch frühe Stadium der französischen Sprache und deren noch rudimentären Wortschatz zurück: Diese haben seiner Meinung nach Schriftsteller und Intellektuelle dazu inspiriert, neue Worte und Zusammenhänge zu erfinden und die fantaisie verbale angeregt. Nachdem die Verfasser der humanistischen Komödien des ausgehenden 16. Jahrhunderts diese mittelalterliche badinage zunächst gemie25 Siehe Howe 1986: 392; zu Alexandre Hardy vgl. Deierkauf-Holsboer 1972. 26 Bruscambille 1613: 187r („Prologue à Monseigneur le Prince“). 27 Garapon 1957: 336.
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den hatten, kehrten sie, bedingt durch ihre Übersetzungen italienischer und antiker Komödien, bald zu dieser Praxis zurück.28 So kam es zu Beginn des 17. Jahrhunderts zu einer zweiten Hochphase, deren Ende Garapon erst mit dem beginnenden Niedergang der burlesken Komödie um 1660 in Verbindung bringt.29 Einerseits ist es wahrscheinlich, dass die neuen Farceure sich bei älteren Texten und Autoren bedienten, andererseits betont Garapon, dass gerade Bruscambille sich bei der Weiterentwicklung der Galimatias äußerst originell gezeigt hat.30 Für einen Prologsprecher war es vor allem die durch die Entnationalisierung der Sprache ausgelöste, spezifische Wirkung auf das Publikum, die dieses Genre so interessant machte, ging es doch (auch) darum, die Zuschauer auf den Übertritt in eine andere Welt vorzubereiten, in der die Gesetze des Alltags nicht oder nur begrenzt gültig waren. Das ‚normale‘ Denken sollte verwirrt, die moralischen Werte und Grenzen verwischt werden. Levertin findet für diese Wirkung besonders schöne Worte, wenn er sie auch nur auf den „modernen Leser“ bezieht. Für ihn machen sie „auf das Hirn des modernen Lesers einen ähnlichen Eindruck [...], als drehe er sich auf einem Karussell in wildester Flucht im Kreise herum“31. 1615 versucht Bruscambille, das Genre, dessen er sich bisher so häufig bedient hatte, zu verteidigen. Das Paradox „En Faveur du Galimatias“ wird seinem Titel inhaltlich allerdings nicht gerecht, fehlt es hier doch an jenen Argumenten, die für Bruscambilles Apologien üblich sind. Stattdessen ist es selbst ein Galimatias, das mit den wenig ermutigenden Worten endet, Bruscambille wolle nicht riskieren, das Publikum „abzukühlen“ und würde daher die Bühne nun dem Farceur Jean Farine überlassen um alle Zuschauer zufrieden zu stellen: Mais de peur de vous attiedir, je suis d’advis de m’en aller là derriere, faire en sorte que Jean Farine vous apporte tous ses ingrediens, & une farce qui vous face [!] tellement rire que vous en puissiez tous chier en vos chausses, afin d’avoir chacun dequoy porter à collationner chez vous.32
Der größte Teil der von Bruscambille gesprochenen Prologe setzt sich zwar inhaltlich mit typischen Themen der Farce auseinander, sie gehen aber häufig auf Sprachund Gedankenspiele gelehrter Männer zurück. Viele von ihnen sind paradoxe Lobreden, also Lobreden auf Dinge, die normalerweise nicht als lobenswert gelten. Bruscambille spricht sich unter anderem für das Gefängnis als lebenswerte Umgebung, die Hässlichkeit als Schutz vor Untreue und die Armut als Mutter aller Erfin28 Siehe Garapon 1957: 336-337. 29 Siehe Garapon 1957: 220. 30 Siehe Garapon 1957: 145. 31 Levertin 1890 [Repr. 1970]: 133-134. 32 Bruscambille 1615: 46v („En faveur du Galimatias“).
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dungen aus.33 Natürlich klingt hier zunächst die ‚verkehrte Welt‘ des Karnevals an. Es darf aber nicht übersehen werden, dass es sich um eine Tradition handelt, die bis in die Antike zurückverfolgt werden kann und dadurch auch eine hochkulturelle Legitimation erfährt.34 Zahlreich sind daher auch die Bezüge auf antike Autoren wie u.a. Vergil, Horaz, aber auch Herodot und Aristoteles, die auch zitiert und ‚bearbeitet‘, d.h. parodiert und verfremdet werden. Durch einen besonders großen Unterschied in Ernsthaftigkeit und Anstand fällt Bruscambilles Version eines Zitats aus der Aeneis auf. Zu Beginn des zweiten Buches reagiert Aeneas auf Didos Aufforderung, von seiner Flucht aus Troja zu erzählen mit zurückhaltenden Worten, bevor er sich doch dazu überreden lässt: Aber verlangt dich so sehr, unser Jammergeschick zu vernehmen/Und über Ilion kurz die letzten Leiden zu hören –/Wenn auch mein Herz im Gedenken sich sträubt und vor Trauer zurückbebt –/Nun, ich beginne!35
Auch Bruscambille beginnt seinen Prolog mit dem Titel „Paradoxe VI: Qu’un Pet est une chose bonne“ zurückhaltend: Für die vom Publikum erwartete Lobrede auf den ‚Furz‘ sei er nicht die geeignete Person. Nur unter einer Bedingung sei jemand dieser ehrenvollen Aufgabe würdig: „celuy [...] devroit [...] avoir ouy plusieurs fois peter Apollon & les muses“36. Zudem müsse er – und auch hier wirft er einige lateinische Worte ein – „an Antlitz und Schultern einem Gott gleich“37 sein. Dass er sich dieser Herausforderung trotzdem stellt, erklärt er anschließend mit den leicht veränderten Worten Vergils: „Aber ist die Liebe, unsere Geräusche zu erkennen/und endlich die höchsten Anstrengungen des Hinterns zu hören so groß/wenn auch der Geist bei der Erinnerung daran springt und im Gelächter entflieht:/Wegen der außerordentlichen Ausdehnung von schallendem Gelächter werde ich beginnen.“38 33 „Prologue de la laideur, & deformité de visage“ (1610: 10-13v); „Prologue de la Pauvreté. Egestas nobilissima“ (1612: 274-281); „Paradoxe sur le Prison. A Gautier Garguille“ (1615: 1-11v). 34 Siehe dazu Tomarken: 1990: besonders 162-166. 35 „Sed si tantus amor casus cognoscere nostros/et breviter Troiae supremum audire laborem,/quamquam animus meminisse horret luctuque refugit,/incipiam“ (P. Vergilius Maro, Aeneis, II, 10f. in P. Vergilius Maro 2007: 29). 36 Bruscambille: 1612, 121 („Paradoxe VI. Qu’un Pet est une chose bonne“). 37 „os humoresque deo similis“ (Bruscambille 1612: 121, „Paradoxe VI. Qu’un Pet est une chose bonne“). 38 „Sed si tantus amor crepitus cognoscere nostros/Et podicis tandem supremos audire labores/Quamquam animus meminisse salit risuque efugit/Propter nimiam cachinnorum ex-
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Das hier zu Tage tretende Wissen mag rückblickend als Einschränkung betrachtet werden, wenn man, post-aufklärerisch, von einer klaren Trennung hochkultureller von volkskulturellen Praktiken ausgeht. Diese aber hatte sich zu Beginn des 17. Jahrhunderts noch nicht vollzogen, wenn auch immer mehr Gelehrte sich darum bemühten, sie durchzusetzen. Gerade Des Lauriers, der wohl ein klares Bild eines reformierten Theaters vor sich hatte, verstand es, beiden Traditionen gerecht zu werden und so breitere Publikumsschichten zu erreichen. Es scheint Jean Gracieux also nicht zu gelingen, eine Maske zu kreieren, die sich von seiner eigenen, privaten Bildung löst. Bruscambille kann schließlich nichts sagen, was Gracieux nicht selbst weiß. So werden hier auch Rückschlüsse auf seine Herkunft und Biographie möglich. Im Prolog „Pour les écoliers de Toulouze“ wirft der Gott Apollo höchstpersönlich Bruscambille vor, seine ehemaligen Kameraden an der dortigen Universität vergessen und vernachlässigt zu haben: Et quoy dit il qu’elles [quelles] lotes t’ont fait oublier tes [les] premieres parties de ton devoir, quel breuvage stygieux a biffé la souvenance de ceux la, avec lesquels tu [Bruscambille, Anm.] as filé le plus delicat de tes ans, & leur consacrant encore le plus meur de ta vie, pourquoy ne chante tu pas leurs lonanges [louanges][?] 39
Es ist natürlich möglich, dass es sich hier um die fiktive Biographie Bruscambilles handelt, immer wieder haben die Erfinder für ihre Masken ja auch eine Lebensgeschichte erfunden.40 Ebenso denkbar ist es aber, dass Gracieux tatsächlich ein Jahr an der Universität von Toulouse verbracht und dort Jura studiert hat, denn dass er tatsächlich über Basiswissen auf diesem Gebiet verfügte, zeigt sich in jenen Prologen, in denen Bruscambille als Richter auftritt, um Streitigkeiten zu schlichten. 41 Zwar findet er nicht in allen Fällen zu einem Urteil, schließlich gelten ihm Spruch und Widerspruch gleich viel. Doch die Rhetorik des Gerichts sowie einige Paragraphen sind ihm geläufig, sodass anzunehmen ist, er habe Gerichtsverhandlungen zumindest beigewohnt. tensionem incipiam.“ Zwei Fehler („miniam“ statt „nimiam“, „exensionem“ statt „extensionem“) in den ersten beiden Ausgaben (1612, 1615) wurden hier der dritten Ausgabe (1618) folgend korrigiert (Bruscambille 1612: 121, „Paradoxe VI. Qu’un Pet est une chose bonne“). 39 Bruscambille 1612: 192-193 („Prologue en Faveur des escoliers de Thoulouze“). 1618 heißt es statt „le plus meur de ta vie“ nunmehr „le plus menu“. 40 Bekanntestes Beispiel ist wahrscheinlich Josef Anton Stranitzky, der seinem Hanswurst ein Leben als Sau- und Krautschneider andichtete. 41 Beispiele hierfür finden sich u.a. im „Prologue pedentesque sur un Plaidoyer“ (1610: 32r35v); „Prologue sur un autre Plaidoyé“ (1610: 35v-38v); „Procez du Pou & du Morpion“ (1613: 112v-119v).
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Andere Prologe scheinen einen mehrfach kolportierten, jedoch nicht belegten Mythos über Jean Gracieux’ Leben zu bestätigen. Zahlreiche Forscher aus dem 19. Jahrhundert behaupten, er sei eine Zeit lang mit dem selbsternannten Arzt Jean Farine durch die Lande gezogen und habe diesem geholfen, seine Allheilmittel unter die Leute zu bringen. Beispielsweise schreibt Fournel, „qu’il était le compère et l’orateur de l’empirique Jean Farine, qu’il courut la France avec lui, sans doute après avoir épuisé à Paris le succès qu’avaient valu à leur association les drogues de celui-ci et ses propres calembredaines“42. Auch wenn die Forschungen Alan Howes43 keine Angaben über eine derartige Tätigkeit Bruscambilles machen, scheint doch einiges auf eine Kollaboration mit Jean Farine hinzuweisen. Im zweiten Teil seines „Discours de l’Amour & de sa verité“44 bittet Bruscambille das Publikum um Applaus und Gelächter für die folgende Farce, um Jean Farine, der als Prinzipal der Truppe erscheint, zufrieden zu stellen: [M]oy je vous dis que si vous voulez que je m’en retourne content, & que Jean Farine ne m’acuse [!] de ne vous avoir exhortez [exhortés] a [à] rire a sa farce ou [où] il ne vous dira rien que la verité[, q]uand il mentiroit je vous adjourne d’avoir trois paire[s] de maschoires, & vingt six gorges pour rire amplement avant que je vienne demain discourir de l’amour […].45
Jean Farine wird auch mehrfach als ‚Koch‘ der zu servierenden Farce erwähnt: beispielsweise kürzt Bruscambille seinen Prolog „En Faveur du crachat“, weil er bereits „Jean Farine qui brusle [brûle] d’impatience qu’il ne vous vient apporter un plat de son mestier“46 hinter der Bühne rumoren hört. Auch die „Harangue funebre en faveur du bonnet de Jean Farine“47 ist ein deutlicher Hinweis auf eine Zusammenarbeit der beiden, sei es als opérateurs oder als Schauspieler. Hinzu kommen Prologe, in denen Bruscambille selbst als Arzt auftritt und fantasievolle ‚Heilmittel‘ präsentiert, die sich vor allem durch ihre Rarität und exotische Herkunft auszeichnen.48 Dass er auch über tatsächliches Wissen auf dem Gebiet der Pflanzenkunde verfügt, behauptet er selbst im „Prologue de la medecine“: „La cognoissance des plantes, pour revenir à la Medecine, m’est fort familiere, j’ayme la Mante [menthe], 42 Fournel 1863: 343-344. 43 Siehe Howe 1986: 390-396. 44 Ab 1615 heißt es richtig „Discours de l’Amour & de la verité [...]“ (Bruscambille 1615: 285). 45 Bruscambille 1612: 296 („Discours de l’Amour & de sa verité divisé en trois parties ou Prologues. Seconde Partie“). 46 Bruscambille 1615: 71r („En faveur du crachat“). 47 Bruscambille 1613: 189r-192v. 48 Siehe u.a. „Prologue des Receptes en forme de Galimatias“ (1610: 80v-83v); „De la Mexique“ (1613: 74r-78v); „Des receptes“ (1613: 167v-170v).
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mais sur tout l’orpin, la consolide, grande, petite & moyenne, avec le gratecul, Ad excitandum stuporem clunium.“49 Der komödiantischen Praxis der molteplicita degli personaggi folgend übernimmt Bruscambille also unterschiedliche soziale Funktionen bzw. gibt er vor, unterschiedliche Berufe auszuüben, wobei die seiner Maske eigene Rhetorik und Gelehrtheit als durchgehende Elemente zu bezeichnen sind. Dessen ungeachtet bezeichnet Bruscambille die Wissenschaften, zu denen damals auch die Rhetorik zählte, nicht nur als unnütz und gesundheitsschädlich, sondern wirft ihnen sogar vor, im Kern schlecht zu sein und nur zum Schlechten zu führen: [D]’une mauvaise cause ne peut issir un bon effect […] Pour conclusion, en toutes les fautes que nous commettons, la science apporte une circonstance aggravante, […] & l[’]ignorance la reprime: […] la science ne pourroit pas donner ceste saleté à nos actions, si elle n’en estoit entachée, donc messieurs rendons nous tous en l’Abbaye des freres ignorants, […] & ne prenons d’autre couverture pour noz [!] actions que l’ignorance. 50
Gleichermaßen aber sind es die Gelehrten, denen es zukommt, der Wahrheit zu ihrem Thron zu verhelfen: „Eam tamen ab re doctorum nullus muneri suo deesse debet, mais par vives raisons falsitati ac mendacio exilii finem debet præscrire & intronizer la verité, dans les terres que son adversaire avoit occupées.“51 In einfacheren Worten spricht sich Bruscambille bereits 1610 gegen die Wissenschaften aus und erklärt in einem „Prologue autant serieux que facecieux“, selbst die besten Menschen würden durch zu viel Wissen verdorben: [S]i les sciences se logent en l’esprit d’un homme de bien, elles le feront devenir meschant. Si elles prennent place en celuy d’un meschant elles le feront devenir encor[e] pire, & si elles s’arrestent en un cerveau leger, elles le feront devenir incensé. Car il n’y a rien qui trouble plustost [!] un esprit solide et rassis que la multitude des livres et des sciences. Et qu’ainsi ne
49 „…bis dass die Hinterbacken gefühllos werden“ (Bruscambille 1613: 165, „De la medecine“ [Hervorhebung im Original]). Einschränkend ist zu bemerken, dass es sich bei Minze, Fetter Henne, Beinwell und Hagebutte zwar um Pflanzen mit heilender Wirkung handelt, diese aber genauso gut zu Speisen verarbeitet werden konnten, sodass nicht klar wird, wozu Bruscambille sie zu verwenden weiß. 50 Bruscambille 1612: 107 („Paradoxe ii. Nihil scientia peius, aut inutilius“). 51 „Dennoch darf sich kein Gelehrter seiner Pflicht entziehen, mais par vives raisons muss er das Ende der Zuflucht für Falschheit und Lüge vorschreiben [...]“ (Bruscambille 1612: 103, „Paradoxe ii. Nihil scientia peius, aut inutilius“).
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soit[,] par les sciences un Grammairien deviendra malin, un Poɺte menteur, un Historien mensonger, un Rhetoricien flatteur [...].52
Es braucht also Gelehrte um jenes höchste Gut durchzusetzen, wenn auch die Wissenschaften Geist und Körper verderben und nicht selten in den Dienst der Lüge gestellt werden. Vor allem die Rhetorik diene nur dazu, die Menschen das Lügen zu lehren: [L]a rhetorique n’est autre choses [!] (comme je vous ay predit) qu’un artifice de persuader & bien mentir, propre a [à] conduire les affections, ravissant les esprits par une subtile maniere de parler, langage fardé & frauduleuse verisimilitude. [...] Car pour estre parfait menteur, il faut estre bon Rethoricien. 53
Bruscambille, der es sich laut eigener Aussage zum Ziel gemacht hat, die Lüge zu vernichten, muss also zunächst deren Grundlage, die Redekunst, zerstören: Bref cet art fortifie beaucoup le mensonge, l’un ne pouvant subsister sans l’autre: Et se doit l’homme plutost munir de paroles propres qu’elegantes : & suivant la proprieté des choses, & non l’ornement du langage faire paroistre la verité pure & entière. Elle est simple, mais vive, & tient son principal siege au cœur.54
Dass er diese Ausführungen in gewohnt eleganter und rhetorisch geschulter Manier vorträgt, ist ein weiteres Paradoxon, untergräbt seine Argumentation jedoch keineswegs, ebenso wenig die Tatsache, dass er sich nur wenige Seiten zuvor für die Lüge ausspricht, die „fort utile & necessaire à l’homme“ 55 sei und daher sogar in Form der Redekunst in den Schulen gelehrt werde. So sei es auch nicht weiter schlimm, dass auch er und seine Truppe dem Publikum etwas vorgaukeln, schließlich sei das Theater seiner Truppe „comme un abbregé de ce grand monde, auquel
52 Bruscambille 1610: 22v-23r („Prologue autant serieux que facecieux. VI.“). Wie alle Texte aus den Prologues 1610 ist auch dieser in den späteren Ausgaben der Fantaisies (ab 1612) enthalten – in den Fantaisies sind also die gelehrte, mit lateinischen Stellen gespickte, sowie die einfachere Version einer Rede gegen die Wissenschaften enthalten. 53 Bruscambille 1610: 48r-48v („Prologue en Faveur de la Verité“). Der den Sinn des Zitats verdrehende Fehler („république“ statt „rhétorique“), der den Verlegern in dieser Ausgabe und der den Text ebenfalls enthaltenden Ausgabe der Fantaisies 1612 unterlaufen ist, wird hier der Ausgabe der Fantaisies von 1615 folgend korrigiert (Bruscambille 1615: 151). 54 Bruscambille 1610: 48r-48v („Prologue en Faveur de la Verité“). 55 Bruscambille 1610: 39r („Prologue en Faveur du Mensonge“).
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se void en grand & petit volume, le principe, le milieu, & la fin de la vie de l’homme“56. Die durch die Dreifachheit des Subjekts bedingte, unklare Sprecherposition macht es also möglich, unterschiedliche Standpunkte einzunehmen, ohne an Glaubwürdigkeit zu verlieren. An einem Abend kann Bruscambille problemlos das Elend der Menschen beklagen, ohne daran gehindert zu werden, anderntags Loblieder auf die herausragenden Leistungen der Menschheit und deren Vortrefflichkeit zu singen.57 Dem komödiantischen Subjekt ist alles eins ohne dabei bedeutungslos zu werden. Meinungen, Ansichten und Prinzipien sind veränderbar und können einander auch widersprechen. Die Versuchung ist groß, in den rund 120 überlieferten Prologen den ‚echten‘ Bruscambille auszumachen und herauszufinden, welche Meinungen tatsächlich die ‚seinen‘ sind. Diese Suche nach einer ‚Identität‘ muss, wie bereits angedeutet, allerdings fehlschlagen, nicht nur, weil unklar bleibt, wer ‚echt‘ ist – Bruscambille, Des Lauriers oder Gracieux? Zahlreiche Überschneidungen und Widersprüche verunmöglichen es zusätzlich, eine Grenze zu ziehen. Der Rhetorik der Paradoxie folgend muss daher auch die im Titel gestellte Frage „Wer ist jetzt wer?“ schlussendlich für nichtig erklärt werden. Sie zu stellen zeigt nur, wie schwierig es für den post-aufklärerischen Menschen ist, dem bürgerlichen Konzept von ‚Identität‘ zu entkommen, obwohl im 20. Jahrhundert bereits andere Subjektentwürfe entstanden und theoretisiert worden sind. Es ist wohl richtiger und auch sinnvoller, jeden der drei – Gracieux, Des Lauriers und Bruscambille – als Teilaspekt eines Subjekt zu sehen, das nur erfasst werden kann, wenn man die Widersprüchlichkeiten anerkennt und akzeptiert, dass sie nebeneinander stehen können, ohne dabei an ‚Wahrheit‘ zu verlieren. Die Konstitution der Maske Bruscambille kann zudem exemplarisch für den Prozess der ‚Ich-Werdung‘ und damit für ein offeneres Menschenbild im Sinne Norbert Elias’ stehen: Ebenso, wie sich die Maske im Zusammenspiel mit den sie umgebenden Theatertraditionen bildet und abhängig von der Zusammensetzung des Publikums auch leicht geändert werden kann, bildet sich auch das ‚Ich‘ in Interdependenz mit anderen Menschen heraus.58 Etwas wie ‚Identität‘, im Sinne eines 56 Bruscambille 1610: 38v („Prologue en Faveur du Mensonge“). 57 Siehe Bruscambille 1613: 98r-104r („De la misere de l’homme“); 104v-112r. („De l’excellence de l’homme“). 58 „An die Stelle des Bildes vom Menschen als einer ‚geschlossenen Persönlichkeit‘ [...] tritt dann das Bild des Menschen als einer ‚offenen Persönlichkeit‘, die im Verhältnis zu andern Menschen einen höheren oder geringeren Grad von relativer Autonomie, aber niemals absolute und totale Autonomie besitzt, die in der Tat von Grund auf Zeit ihres Lebens auf andere Menschen ausgerichtet und angewiesen, von andern Menschen abhängig ist“ (Elias 1997: 70).
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Identifikationsfaktors für sich selbst und andere, kann maximal in gleich bleibenden Merkmalen wie beispielsweise Bruscambilles Gelehrtheit gesehen werden. Dass ein zu starkes Festhalten an gewissen Attributen auch zur Einschränkung werden kann, sowie, dass sich diese auch ändern können, ohne dass der Mensch ‚sich selbst verliert‘ sind nur zwei der wesentlichen Erkenntnisse, die aus einer Beschäftigung mit Texten Bruscambilles bzw. anderer frühneuzeitlicher Komödianten gewonnen werden können. Das Konzept ‚Identität‘ ist (nicht nur) aus dieser Perspektive betrachtet eher Störfaktor denn Desiderat, da es nicht nur die Bedingtheiten menschlichen Seins verschleiert, sondern auch die Prozessualität von Subjektkonstitution negiert und die Entwicklung dessen, was gemeinhin Persönlichkeit genannt wird, be- bzw. sogar verhindert.
L ITERATUR Bruscambille [Des Lauriers, dit]: Prologues tant serieux que facecieux. Avec plusieurs Galimatias par le Sr. D. L. Paris: Jean Millot & Jean de Bordeaulx 1610. Bruscambille [Des Lauriers, dit]: Les fantaisies de Bruscambille. Contenant plusieurs Discours, Paradoxes, Harangues & Prologues facecieux. Faits par le sieur Des Lauriers, Comedien. Paris: Jean de Bordeaux 1612 [weitere Ausgaben: Paris: Jean Millot 1615; Lyon: s.e. (1618); Troyes: Oudot 1620; Lyon: Claude Chastellard 1622; Rouen: D. Ferrand 1630; Paris: Lambert 1668]. Bruscambille [Des Lauriers, dit]: Les nouvelles & plaisantes Imaginations de Bruscambille, en suitte de ses Fantaisies. A Monseigneur le Prince. Par le S. D. L. Champ. Paris: François Huby 1613 [weitere Ausgabe: Bergerac: Martin La Babille 1615]. Bruscambille [Des Lauriers, dit]: Facecieuses Paradoxes de Bruscambille & autres discours Comiques. Le tout nouvellement tiré de l’escarcelle de ses imaginations. (Jouxte la coppie imprimée à) Rouen: Thomas Maillard 1615 [weitere Ausgaben: Lyon: s.e. 1618; Lyon: C. Chastellard 1622]. Deierkauf-Holsboeur, Wilma: La Vie d’Alexandre Hardy. Poète du roi 1572-1632. Paris: Nizet 21972. Elias, Norbert: Über den Prozess der Zivilisation. Soziogenetische und psychogenetische Untersuchungen. Erster Band: Wandlungen des Verhaltens in den weltlichen Oberschichten des Abendlandes. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1997. Fournel, Victor: Tableau du vieux Paris. Les spectacles populaires et les artistes des rues. Paris: E. Dentu 1863. Garapon, Robert: La fantaisie verbale et le comique dans le théatre français, du Moyen Age à la fin du XVIIe siècle. Paris: Armand Colin 1957. Howe, Alan: „Bruscambille, qui était-il?“, in: XVIIe Siècle 153 (1986), 390-396.
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Levertin, Oskar: Studien zur Geschichte der Farce und Farceurs seit der Renaissance bis auf Molière. Greifswald: J. Abel 1890 [Nachdruck Genf: Slatkine 1970]. Tomarken, Annette: The Smile of Truth. The French Satirical Eulogy and its Antecedents. Princeton: University Press 1990. Vergilius Maro, Publius: Aeneis. Epos in zwölf Gesängen. Unter Verwendung der Übertragung Ludwig Neuffers übersetzt und herausgegeben von Wilhelm Plankl unter Mitwirkung von Karl Vretska. Stuttgart: Reclam 2007. Wiley, William Leon: „Bruscambille’s Defense of the Theater“, in: Modern Language Notes 74,6 (1959), 502- 507.
Subjektmodellierung und Subjektrepräsentation Fernsehdokumentationen zur Schauspielausbildung in BRD und DDR1 A NJA K LÖCK
Die Anforderungskataloge von Ausbildungsprogrammen für den Berufsschauspieler, wie sie sich im 20. Jahrhundert und insbesondere im Rahmen von Institutionalisierungsprozessen nach dem Ende des zweiten Weltkriegs in Deutschland herausbildeten, verweisen auf jene Komplexe sozialer Praktiken und Wissensordnungen, die Andreas Reckwitz als vom Anspruch her subjektmodellierend beschreibt: Sie haben den Anspruch – ob sie ihn einlösen, ist jeweils im Einzelfall zu befragen – „ihre Subjekte bis in ihre körperlichen Bewegungen, ihre Emotionen und ihr privates Selbstverstehen hinein [zu] modellieren“. 2 Praktiken der Schauspielausbildung und Ausbildungsprogrammatiken unter dem Subjektaspekt zu betrachten, wie ihn Reckwitz für die kulturwissenschaftliche Forschung entwickelt, heißt fragen, wel-
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Dieser Beitrag ist Teil einer Studie zu den diskursiven Konstruktionen des Schauspielers in dokumentarischen Fernsehbeiträgen über staatliche Schauspielausbildung in Deutschland in der Zeit zwischen 1952 und 1990, die im Rahmen des von der DFG geförderten Forschungsprojekts „Systemische Körper? Kulturelle und politische Konstruktionen des Schauspielers in schauspielmethodischen Programmen Deutschlands 1945 – 1989“ an der HMT Leipzig durchgeführt wird. Gegenstand dieser Studie sind Fernsehproduktionen sowohl der DDR als auch der BRD über staatliche Schauspielprogramme in Deutschland während der Zeit der Koexistenz bzw. Konkurrenz zweier verschiedener Gesellschaftssysteme. Dabei markiert das Jahr 1952 den Beginn des regelmäßigen Fernsehbetriebs, zunächst mit Versuchsprogrammen sowohl in West- als auch in Ostdeutschland, während das Ende des aufgespannten Zeithorizonts sich an dem Ende der speziellen Situation der Koexistenz zweier deutscher Staaten orientiert.
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Reckwitz 2008: 7.
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che Dispositionen eines schau-spielenden Subjekts diese Ausbildungsprogrammatiken und -praktiken nahe legen. Es gilt zu analysieren „über welche Wege ihnen diese Modellierung eines entsprechenden Körpers, eines Wissens und einer Psyche gelingt“3. Nun wäre es aber freilich zu kurz gedacht, wollte man die diskursive Hervorbringung des Subjekts in dokumentarischen Fernsehbeiträgen über Schauspielausbildung mit den möglichen Subjektformen, die den Ausbildungspraktiken und internen Ausbildungsdiskursen anhaften, gleichsetzen. Über die je spezifischen Ausbildungsdiskurse hinaus entwerfen die medialen Diskurse Subjektrepräsentationen: Dispositive, die nicht nur einer Spezialistengruppe von Auszubildenden und angehenden Schauspielern, sondern gesellschaftlich verfügbar gemacht werden sollen und somit in Wechselwirkung mit anderen und weiter gefassten Diskursfeldern innerhalb einer spezifischen Gesellschaftsordnung stehen. Diese Überlegungen werde ich im Folgenden anhand der filmischen Darstellung einer Probenszene an der Staatlichen Schauspielschule Berlin (der heutigen Hochschule für Schauspielkunst Ernst Busch) im Ost-Berliner Stadtteil Schöneweide aus dem Jahr 1961 entwickeln. Der Probenmitschnitt bildet den Abschluss zu einem Künstlerportrait des Schauspielers und Regisseurs Wolfgang Heinz, der seit 1959 Leiter der Schauspielschule war.4 Dabei geht es mir nicht darum, anhand der dokumentarischen Darstellung von Probenarbeit subjektmodellierende Strategien der dort stattfindenden Schauspielausbildung zu beschreiben. Vielmehr werde ich mich auf die filmisch-dramaturgischen Mittel der Darstellung dieser Strategien als erklärbare und widerspruchsfreie Methode konzentrieren. Die Analyse dieser Mittel der diskursiven und idealisierenden Konstruktion des gut bzw. ‚richtig‘ ausgebildeten und arbeitenden Schauspielers bedarf einer Historisierung des Filmausschnitts innerhalb der ihn hervorbringenden spezifischen normativen Ordnungen. Diese beschränke ich im Rahmen der Möglichkeiten dieses Beitrags auf drei Bereiche: Auf den Kontext der Konkurrenz zweier unterschiedlicher Gesellschaftsordnungen in Ost- und Westdeutschland und die besondere Situation nach dem Mauerbau im August 1961, auf den Kontext der kulturpolitischen Debatten innerhalb der DDR zur Gestaltung eines gegenwärtigen sozialistischen Theaters Ende der fünfziger und Anfang der sechziger Jahre, sowie auf die Einbettung des Probenausschnitts in das dokumentarische Format des Künstlerportraits, das in diesem Fall den Schauspieler, Regisseur und Schauspielpädagogen Wolfgang Heinz der Fernsehöffentlichkeit vorstellt. Die komplexe Verwebung dieser drei Diskursfelder lässt sich anhand des gewählten Beispiels besonders gut aufzeigen: So kann die DFF-Dokumentation 3 4
Reckwitz 2008: 135. Das Künstlerportrait – Wolfgang Heinz. Deutscher Fernsehfunk 1961, 45‘00‘‘, Erstausstrahlung am 26.12.1961 im ersten Programm des DFF.
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sowohl als Reaktion auf und Kulmination einer DDR-internen kulturpolitischen Debatte zum so genannten ‚sozialistischen Nationaltheater‘, als auch als Reaktion auf einen Bericht über die West-Berliner Schauspielschule, die so genannte MaxReinhardt-Schule, gelesen werden. Dieser Bericht war anlässlich des zehnjährigen Bestehens der Schule im Auftrag des Senders Freies Berlin gedreht und von der Arbeitsgemeinschaft der öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten der Bundesrepublik Deutschland (ARD) drei Monate vor dem Künstlerportrait von Heinz erstausgestrahlt worden.5 Gerade weil ich mich im Rahmen dieses Beitrags auf den DFF-Film konzentrieren werde, möchte ich anhand des Films über die WestBerliner Schule kurz skizzieren, inwiefern das Spannungsverhältnis Ost-West im Kontext der Systemkonkurrenz immer schon auch medial produziert wurde und 1961 bereits historisch geprägt war. Im Film des SFB über die Max-ReinhardtSchule werden beispielsweise Bildmotive verwendet, die zur Darstellung der Arbeit an einer Schauspielschule nicht zwingend notwendig wären: Großaufnahmen von neuen Autos, Bussen und Straßenbahnen, vogelperspektivische Aufnahmen von betriebsamen und gut funktionierenden urbanen Verkehrsknoten West-Berlins und Einstellungen auf belebte Einkaufsstraßen. Die Präsentation der Arbeit an der MaxReinhardt-Schule von 1961 ist eingebettet in eine mediale Darstellung der westlichen Wirtschaftswunder-Gesellschaft, die durchaus als normativ zu betrachten ist. Denn die hier verwendeten Motive des Überflusses, der Betriebsamkeit und einer funktionierenden Infrastruktur auf den Straßen und Plätzen West-Berlins gehörten bereits in den unmittelbaren Nachkriegsjahren zu den Topoi der medialen Selbstinszenierung Westdeutschlands in Abgrenzung von dem Erscheinungsbild der Städte in der Ostzone.6 Entsprechend rekurriert, wie zu zeigen sein wird, die Darstellung der Probenarbeit an der Ost-Berliner Schauspielschule im Film des DFF auf einen 1961 bereits im medialen Diskurs verankerten Topos der ideologischen Überlegenheit des Ostens gegenüber dem Westen. Es handelt sich bei den jeweils aufgezeigten dokumentarischen Bilderwelten also um „ästhetisch und rhetorisch gestaltete ‚Konstruktionen‘, die von bewussten ideologischen Weltbildern ebenso wie von verinnerlichten, kultur- und technikgeschichtlich geprägten Dispositionen abhängen.“7 Im Folgenden interessiert mich nun, wie die leibgebundenen Prozesse der Subjektmodellierung in der Dokumentation der Probenarbeit an der Ost-Berliner Schauspielschule im Kontext des Künstlerportraits von Heinz und im Rahmen der 5
Es bildet ein Talent sich in der Stille. SFB 1961, 55‘19‘‘, Erstausstrahlung am 27.09.1961 in der ARD.
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Vgl. die Beschreibung dieser Topoi anhand der DFU-Produktion Zwei Städte von 1949 durch Matthias Steinle (DFU war die Documentary Film Unit der amerikanischen Militärregierung). Steinle 2003: 40-48.
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Steinle 2003: 25.
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gesellschaftlich und medial gegebenen Normen 1961 filmisch dargestellt und ausgehandelt werden. Leitfrage hierbei ist, inwiefern die filmische Darstellung der Probenarbeit über die Vermittlung von Ausbildungsparameter hinaus Subjektrepräsentationen entwirft, die sowohl in die DDR-Gesellschaft hineinwirken als auch diese innerhalb einer Konkurrenzsituation von der westdeutschen Theaterarbeit und -ausbildung abgrenzen sollten.
Z UR FERNSEHDOKUMENTATION D AS K ÜNSTLERPORTRAIT – W OLFGANG H EINZ VON 1961 Das Künstlerportrait war ein dokumentarisches Format des DDR-Fernsehens, das sich Ende der fünfziger bzw. Anfang der sechziger Jahre herausbildete.8 Im Rahmen dieser Reihe wurden regelmäßig Maler wie Otto Nagel, Regisseure wie Konrad Wolf und Schauspieler wie Marianne Wünscher oder Erwin Geschonneck der Fernsehöffentlichkeit vorgestellt. Mit derartigen Portraits wurden kulturpolitische Ziele und Maxime stark personalisiert und an Prominente gebunden vermittelt. 9 Zugleich eignete sich das Format zur Präsentation einer sozialistischen Nationalkultur, da mit der Leistungsschau einzelner Künstler in der Form der Protagonistengeschichte immer auch jüngste Kunst- bzw. Theatergeschichte der DDR geschrieben werden konnte. Die Forderung der SED-Führung nach einer „neuen sozialistischen Nationalkultur“10 war im April 1959 auf der Bitterfelder Konferenz veröffentlicht worden.11 Dass sich langfristig eine solche Nationalkultur nicht nur über den „Kumpel mit der Feder“12 im kulturellen Gedächtnis verankern lassen würde, sondern gerade auch über durch ihre künstlerische Arbeit bereits als professionell etablierte Künstlerpersönlichkeiten, verdeutlichen nicht zuletzt die Künstlerportraits des DFF aus den frühen sechziger Jahren. Inwiefern sich nun im Künstlerportrait von Wolfgang Heinz zum Ende des Jahres 1961 die persönliche Biografie mit dem Bestreben der SED-Führung nach der Schaffung einer kulturellen nationalen Identi-
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Siehe Prase 2006: 65.
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Siehe Prase 2006: 65.
10 Walter Ulbricht zit. nach Stuber 2000: 194. 11 Siehe Stuber 2000: 192-200. 12 Siehe den gleichnamigen Dokumentarfilm der DEFA aus dem Jahr 1959: Der Kumpel mit der Feder. DEFA 1959, 0‘18‘‘. Bei dem Film handelt es sich um ein Portrait des Arbeiterdichters Hans Marchwitza. Filminhalt und Titel greifen das Motto der ersten Bitterfelder Konferenz am 24. April 1959 auf: „Greif zur Feder Kumpel, die sozialistische deutsche Nationalkultur braucht dich!“
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tät verschränken, zeigt eine Beschreibung von Heinz in einer Publikation der Akademie für Gesellschaftswissenschaften beim ZK der SED aus dem Jahr 1980: Wolfgang Heinz hat seit 1951, seitdem er als Gast aus Wien am Deutschen Theater Berlin inszenierte, und vor allem seit 1956, seitdem er – nach der Schließung des fortschrittlichen Wiener Neuen Theaters in der Scala durch reaktionäre Kräfte – in der DDR lebt, mehr als 25 Stücke inszeniert und 12 wichtige Rollen gespielt. Er hat damit – und nicht nur damit – einen wichtigen Beitrag zur Schaffung unseres sozialistischen deutschen Nationaltheaters geleistet. 13
Das ist bekannt.
Retrospektiv macht dieser Allgemeinplatz zu Heinz die kulturpolitischen Strategien transparent, die ihn bei seinem Wechsel an das Deutsche Theater Ende der fünfziger Jahre umspülten und den Auftrieb und die Etablierung seiner eigenen künstlerischen Arbeit in der DDR mit bedingten. Die Konzeption eines „sozialistischen deutschen Nationaltheaters“14, das als Begriff im kulturpolitischen Diskurs von 1980 fest verankert war, fiel – im Sinne eines programmatischen Entwurfs – eben genau in jene Zeit der späten fünfziger Jahre. In dieser Zeit wurde auch vom Theater als Institution und Praxis eine Umsetzung des in Bitterfeld von der SEDFührung verkündeten Programms einer sozialistischen Nationalkultur erwartet. Dabei war die neuerliche kulturpolitische Debatte, wie das zeitgenössische sozialistische Theater aussehen sollte, bereits seit 1956 voll im Gange.15 Sie glich, wie Petra Stuber treffend beschreibt, „in ihren Grundmustern den FormalismusDiskussionen ein Jahrzehnt vorher“, unterschied sich von ihnen aber dadurch, dass nun nicht mehr radikal polarisiert wurde (beispielsweise zwischen ‚StanislawskiSystem‘ und ‚Brecht-System‘).16 Vielmehr ging es anstelle der früheren Repression der „bürgerlichen Moderne“, zur der das Brechtsche Theatermodell gezählt wurde, nun „schon um den Einbau beziehungsweise den Einschluß [sic] der Moderne in die eigene Kunstgeschichte“: „Am Ende der fünfziger Jahre war die SED-Kulturpolitk selbst auf die freundliche Aneignung der Positionen Brechts bedacht [...].“17 Die Gegenüberstellung von Brecht und Stanislawski, die in den frühen fünfziger Jahren stattgefunden hatte, aber in kulturpolitischen Leitschriften nie offen als Gegensatz formuliert worden war, musste nun ausgesöhnt werden.18 Dabei wurde auch gern die Gegenseite bemüht. Wolfgang Heinz wurde, besonders durch seine Arbeit am 13 Waack 1980: 69. 14 Waack 1980: 69. 15 Siehe Stuber 2000: 173. 16 Stuber 2000: 173. 17 Stuber 2000: 186. 18 Einen Einblick in diese Zeit verdanke ich einem Gespräch mit Peter Kupke im April 2011.
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Neuen Theater in der Scala Wien, vornehmlich mit der Stanislawski-Methode und einer illusionistischen Spielweise assoziiert,19 hatte aber vor und nach seiner Zeit im Schweizer Exil auch kürzere Kontakte mit Bertolt Brecht gehabt und seit 1931 zunehmend größere Rollen in dessen Stücken gestaltet beziehungsweise diese auch inszeniert.20 Somit war er, insbesondere in seiner Stellung als Leiter der Staatlichen Schauspielschule Berlin (Ost), im Jahr 1961 bestens geeignet (wenn nicht gar zwingend notwendig), um ein derartiges Aussöhnungsverfahren im Sinne einer Widerspruchsauflösung voranzutreiben. Die Funktion des Probenausschnitts an der Schauspielschule Berlin (Ost) als Abschluss und Kulmination der Fernsehdokumentation zu Heinz wird erst vor dem Hintergrund dieser DDR-internen Entwicklungen verständlich. Sie erweist sich als sehr viel komplexer als die verwendete Abgrenzungsrhetorik gegenüber dem Theater in Westdeutschland aus heutiger Sicht vermuten ließe. Vor diesem Hintergrund erscheint die Dramaturgie, Heinz zunächst als Schauspieler, dann als Regisseur und schließlich als Pädagogen zu portraitieren, nicht als zufällig. Strukturell alternieren Sequenzen, die Heinz bei der künstlerischen Arbeit zeigen, mit Zeitzeugenberichten im O-Ton. Ein Sprecher führt durch diese Bilderwelten. Die „Schauspielkunst von Wolfgang Heinz“ 21 wird durch abgefilmte Szenenfotos und einen Ausschnitt aus dem DEFA-Film Professor Mamlock, in dem er die Titelrolle spielte, präsentiert. Kommentiert wird sie vom Regisseur des Films, Konrad Wolf, der über die Zusammenarbeit mit Heinz bei den Dreharbeiten spricht. Wolf bezeichnet sich selbst als „Vertreter der jüngeren Generation der Künstler“ und Wolfgang Heinz als „großes Vorbild als Menschendarsteller, als Mensch und Persönlichkeit“, der „die dreißiger Jahre bewusst erlebte, […] als Antifaschist und als Kommunist“ und „in dem sich die Auffassung von der Aufgabe seines Berufs mit dem Antlitz des bewussten Kämpfers für unsere Sache zu einer vorbildlichen Einheit harmonisch verbindet.“ 22 Als ein weiteres Beispiel folgt ein Szenenausschnitt mit Heinz als Lear in der Inszenierung von Wolfgang Langhoff am Deutschen Theater. Den Regisseur Wolfgang Heinz stellt ein Schauspieler des Deutschen Theaters vor, Herwart Grosse. Er spricht von dessen „Sucht nach Wahrheit“ und von seiner Liebe für die Stücke von Michail Tschechow und Maxim Gorki. Wie sehr bei Heinz Regie und Schauspielkunst miteinander verknüpft seien, soll ein Szenenausschnitt aus der Inszenierung der Kleinbürger von Maxim Gorki 19 Siehe Deutsch-Schreiner 2001: 148-181. 20 Siehe Waack 1980: 11-63. 21 Das Künstlerportrait – Wolfgang Heinz: TC 5:02:00 (die Angaben entsprechen dem TCR des Bands im DRA Potsdam-Babelsberg und können die zitierten Stellen nur ungefähr benennen). 22 Das Künstlerportrait – Wolfgang Heinz: TC 2:56:00-4:58:00.
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zeigen. Heinz führte hier gemeinsam mit Karl Paryla sowohl Regie und spielte auch die Rolle des verbitterten Alkoholikers Teterew. Bevor dann eine Sequenz mit Heinz am Regiepult während der Probenarbeit zu seiner Inszenierung von Gorkis Sommergästen am DT die Arbeit des Regisseurs vorstellt, wird mit einem Einschub über seine Zeit am Neuen Theater in der Scala in Wien referiert. Seine Ehefrau, die Schauspielerin Erika Pelikowsky, beschreibt unter anderem, wie er dieses Theater für Arbeiter im Jahr 1948 mitbegründete sowie den „gewaltsamen Tod“ der Scala im Jahr 1956 und die Übersiedelung von Heinz mit seinen Schauspielern nach OstBerlin ans DT, wo er bereits seit 1951 inszenierte.23 Nach dieser künstlerischen Leistungsschau widmen sich die letzten zehn Minuten – als Kulmination und zukunftsorientierte Synthese aller vorangegangenen Sequenzen – der Arbeit von Wolfgang Heinz an der Ost-Berliner Schauspielschule, deren Leiter er von 1959 bis 1962 war. Der Sprecher präsentiert ihn auf der Grundlage seiner Erfahrungen als ein „Vorbild für alle jungen Künstler“. Das Motiv des Vorbilds, das bereits zu Beginn des Films durch Konrad Wolf etabliert wurde, wird somit zum Ende des Beitrags aufgegriffen und veranschaulicht. Der Sprecher zitiert: „Stanislawski sagt: ‚In der Kunst kann man nur mitreißen und lieben. Es gibt in ihr kein Befehlen.‘ Die künstlerische Arbeit von Wolfgang Heinz ist der beste Beweis für diesen Satz.“ 24 Es ist bemerkenswert, wie dieses Zitat vor dem Hintergrund der Schauspielausbildung Heinz erstmals im Film explizit in die Tradition Stanislawskis stellt, ohne dadurch eine Methodendiskussion anzustoßen: Stanislawski als Autorität erscheint, aber inhaltlich beschreibt das Zitat zunächst nur, wie zu unterrichten sei, aber nicht was. Im Bild sehen wir Schauspielschüler auf dem Weg zur Schule, einige von ihnen tauchen im folgenden Probenausschnitt wieder auf: Dieser wird vom Sprecher angekündigt als: „Die Dozentin Ursula Birnbaum erarbeitet mit ihren Schülern eine Szene aus Gerhart Hauptmanns Drama Michael Kramer.“25 In der nächsten Einstellung zu sehen ist rechts am Regietisch Ursula Birnbaum, links eine Studentin, und in der Mitte Wolfgang Heinz, der zunächst stumm die Probenarbeit beobachtet (Abb. 1).
23 Das Künstlerportrait – Wolfgang Heinz: TC 24:07:00. 24 Das Künstlerportrait – Wolfgang Heinz: TC 30:55:00-31:06:10. 25 Das Künstlerportrait – Wolfgang Heinz: TC 31:18:00.
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Abbildung 1: Probensituation an der Staatlichen Schauspielschule Berlin im Film Das Künstlerportrait – Wolfgang Heinz (1961). Rechts im Bild die Dozentin Ursula Birnbaum, in der Mitte Schulleiter Wolfgang Heinz.
Ein Student und eine Studentin beginnen, einen erarbeiteten Szenenausschnitt zu spielen. Birnbaum unterbricht: Die Studenten seien hinter das letzte Probenergebnis wieder zurückgefallen. Der Student würde sich im Spiel des Arnold Kramer bemitleiden. Er habe eine andere Version gehabt, die besser gewesen sei. Birnbaum ermuntert ihn, diese andere Version zu zeigen. Die Studierenden spielen die Szene nochmals. Nachdem das Vorspiel der zweiten Variante von der Dozentin als richtiger bewertet wurde, fordert der Student sie heraus: Er verstehe nicht, warum sich Michael Kramer nicht selbst bemitleiden solle, denn er gehe am Ende ja auch ins Wasser und nehme sich das Leben. Diese Kontroverse zwischen Dozentin und Student ist alles andere als zufällig, sondern dramaturgisch gewollt. Sie wird durch eine konfrontative Bildeinstellung mitinszeniert: Die Kamera zeigt den Studenten frontal und hinter dem Tisch auf der Bühne stehend, während Frau Birnbaum, in derselben Einstellung von hinten, am Regietisch sitzend zu sehen ist.26 Diese Konstruktion unterstützt den Anschein eines Widerspruchs, der dann gelöst werden muss. Dabei liefert die Auseinandersetzung zwischen Studenten und Dozentin die Steilvorlage für die im Raum anwesende Autorität Wolfgang Heinz. Birnbaum bittet die Studenten von der Bühne herunter an den Tisch, um die Frage zu klären. Die Studenten laufen nun direkt auf die Kamera zu, sprich zum Tisch der Dozentin. In der folgenden Einstellung sieht man dann alle gemeinschaftlich um einen kleinen runden Tisch herumsitzen. Die Kamera setzt sich mit dazu, so dass der Zuschauer den Eindruck bekommt, direkt an einem offenen Gespräch teilzuhaben. Birnbaum 26 Das Künstlerportrait – Wolfgang Heinz: TC 35:00:00.
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erklärt, wenn man die Szene in der ersten Version spiele, käme am Ende des Stückes heraus, dass der junge Mann den Selbstmord aus Mitleid mit sich selbst begehe. Hingegen müsse Kramer aber als ein Mensch gezeigt werden, der kämpft. Der Student entgegnet, dass Arnold Kramer in seiner Zeit vielleicht noch kein gesellschaftliches Bewusstsein gehabt habe, das ihn zum Kämpfen hätte veranlassen können. Schließlich greift Wolfgang Heinz mit dem Argument ein, man müsse sich ja nicht mit diesem Mann identifizieren (Abb. 2): Wenn Sie zum Beispiel als Maler ein Bild malen mit dem Thema „das Elend der unterdrückten Menschen“, und Sie werden Elendsgestalten und ein schreckliches Milieu darstellen, in dem sie leben müssen und in dem sie bis zu ihrem Lebensende verharren müssen, so wird das im Beschauer vielleicht eine sehr starke Erschütterung erwecken, aber auch vielleicht ein Achselzucken, denn was soll man dagegen tun. Und die Religion hat ja genügend dafür gesorgt, dass die Menschen sagen, das ist gottgewollt und nicht zu verändern. Wir aber wissen, dass es zu verändern ist. Und deshalb muss die Kunst, bei aller Thematik immer ein Appell sein. Das ist auch die Forderung des sozialistischen Realismus, dass eine Perspektive bei der Darstellung gegenwärtiger Verhältnisse gegeben wird.27
Abbildung 2: Wolfgang Heinz im Gespräch mit Schauspielschülern ‚am runden Tisch‘.
An der bislang beschriebenen filmischen Darstellung der Probenarbeit lässt sich erkennen, inwiefern die Formung von Motorik, Gestik, Mimik, die Verinnerlichung von praktischem Wissen, von Deutungswissen und die Formung der Affekte im Prozess der Schauspielausbildung sich wechselseitig bedingen und subjektmodellie-
27 Das Künstlerportrait – Wolfgang Heinz: TC 36:52:00-37:54:06.
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rend wirken können: Es vernetzen sich die der Probenarbeit inhärente und als ‚natürlich‘ vorausgesetzte Norm einer realistischen Spielweise mit den Kommentaren und Korrekturen durch die Dozentin in der Probensituation. In die Probenarbeit hinein normierend wirken ein am dramatischen Text orientierter Theaterbegriff und das im Rahmen einer illusionistischen Spielauffassung von den Studierenden bereits verinnerlichte praktische Wissen zu Stimmgebrauch, Sprechtechnik, zum Umgang mit Requisiten, zum Spiel mit dem Partner, zur Etablierung des Raums durch Bewegung. Innerhalb dieser normativen Ordnung erfolgt in der hier dargestellten Probenarbeit nun die Ausformung der Affekte des probenden Schauspielers durch die Kommentare und Korrekturen der Dozentin: weg vom Ausdruck von Selbstmitleid hin zu einer kämpferischen Grundhaltung. Zusätzlich verschränkt sich diese Affektausformung mit dem Deutungswissen einer Autorität – dem „erfahrenen Praktiker“ und Schulleiter Wolfgang Heinz. Interessant ist nun, wie das Deutungswissen auf der Grundlage des sozialistischen Welt- und Menschenbilds und auf der Grundlage der zuvor mediendramaturgisch konstruierten Autorität von Heinz als alle anderen Aspekte der Subjektivation legitimierend inszeniert und medial vermittelt wird. Die Subjektformen des naturalistischen Dramas lassen den Menschen eben durchaus, wie vom Studenten impliziert, als individuell biologisch determiniert und damit auch ein Stück weit als nicht veränderbar erscheinen. Diese werden in den Erläuterungen von Wolfgang Heinz ersetzt mit einer nach außen, d.h. am Gesellschaftlichen und Kollektiven orientierten gegenwärtigen Subjektstruktur, die ihre Umwelt immer schon als veränderbar begreift. In anderen Worten: Heinz ersetzt den naturalistischen Helden durch einen sozialistischen. Diese Belehrung der Studierenden wendet sich, von den Bildeinstellungen her gesehen, über die Köpfe der Studierenden hinweg, auch und in besonderem Maße in direkter Ansprache an den Zuschauer. Wenn Heinz sagt: „Wir aber wissen, dass es zu verändern ist“, dann schließt das ‚Wir‘ nicht nur die Schauspielstudierenden ein, sondern auch die Fernsehzuschauer in Ostdeutschland. Die Subjektivation des Schauspielers wird somit kollektiviert und dient als Subjektmodell innerhalb der ostdeutschen Gesellschaftsordnung. Die direkte explizite Abgrenzung vom Anderen, nämlich von der westdeutschen Schauspielpraxis und Gesellschaftsordnung, wird im Film den Studierenden überlassen. Es ist der konfrontative Student, der etwas flapsig fragt, ob „nur wir allein jetzt richtig Kunst machen und richtig schauspielen“ und seine Spielpartnerin bringt den Abgrenzungsdiskurs auf den Punkt: „Liegt darin nicht auch der Unterschied zwischen unserem Theater bei uns hier und in Westdeutschland zum Beispiel, dass wir hier mit anderen Voraussetzungen an das Spiel herangehen.“ 28 Wir, unser Theater, der Unterschied zu Westdeutschland: Abgrenzungen dieser Art waren im Vor- und Nachgang des Mauerbaus am 13. August 1961 in den medialen Diskursen weit verbreitet. Und Heinz antwortet: 28 Das Künstlerportrait – Wolfgang Heinz: TC 38:00:00-38:13:17.
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Also sagen wir so, wir versuchen, richtiger Theater zu spielen und manchmal gelingt es uns. Weil wir die Realität widerspiegeln und zwar die Realität deren Gesetzmäßigkeit wir mit Hilfe der materialistischen Dialektik begreifen, so dass wir das Zufällige vom Wesentlichen sondern können.29
Heinz stellt der affektiven Natürlichkeit, die einen Affekt 1:1 und scheinbar zufällig zum Ausdruck bringt, die bewusste schauspielerische Gestaltung gegenüber. Sie basiert auf einer rationalen Analyse gesellschaftlicher Zusammenhänge, ist aber nicht ent-emotionalisiert, sondern macht den Kampf gegen und die Beherrschung des Affekts sichtbar. In dieser Argumentation und filmischen Inszenierung des Deutungswissens von Wolfgang Heinz zeigt sich das eingangs beschriebene Bestreben der SED-Führung, den durch die Debatten der frühen fünfziger Jahre entstandenen Anschein eines Widerspruchs zwischen Stanislawski und Brecht aufzulösen und Brechts Theatermodell für die Allgemeinheit verständlich zu machen. In der Beschreibung der Arbeit des idealen Malers, der die Betrachter seiner Bilder nicht nur mitfühlen lassen, sondern sie auf veränderbare gesellschaftliche Verhältnisse aufmerksam machen soll, steckt Brechts Konzept des Verfremdungseffekts. Allerdings dient es, eingebettet in eine illusionistische Spielweise nach Stanislawskischer Provenienz und in die Erzählformen des sozialistischen Realismus, nicht dazu, Widersprüche und Missstände in der gegenwärtigen Gesellschaft aufzuzeigen. Vielmehr soll die geforderte analytische Distanz des Schauspielers gegenüber der Rolle den naturalistischen Helden bei Hauptmann durch den sozialistischen Helden der Gegenwart ersetzen. Die Darstellung von Widersprüchen wird somit von der gesellschaftlichen Ebene auf die Ebene der schauspielerischen Figurengestaltung verlegt. So deutet Heinz die Forderung Birnbaums, Arnold solle gegen seine Erregung ankämpfen, wie folgt: [...] weil hier bewiesen wird, dass ein Inhalt vielgestaltig ist und nicht linear. Dass dieser Mensch, der spürt, instinktiv, dass man mit Argumenten und Vernunft einen Protest besser ankommen lassen kann, sich aber aufgrund seiner inneren Erregung nicht so beherrschen kann, im Moment wo er sich nicht beherrschen kann sich wieder die Zügel anlegt, im nächsten Moment wiederum ausbricht, und das gibt dann eine besonders individuelle interessante Gestaltung des Protestes. 30
Die Vermutung, dass es hier um eine Synthese aus Stanislawski und Brecht auf der Grundlage des sozialistischen Realismus geht, ohne dass Brecht explizit erwähnt wird, bestätigt ein Beitrag von Heinz über „Gesichtspunkte für die Nachwuchsaus29 Das Künstlerportrait – Wolfgang Heinz: TC 38:18:00-38:42:13. 30 Das Künstlerportrait – Wolfgang Heinz: TC 39:15:08-39:48:15
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bildung“ in Theater der Zeit im Juli 1961. Unter der Zwischenüberschrift „Stanislawski und Brecht“ schreibt er: „Wenn wir auf den Kern der Systeme dieser beiden großen Meister des Theaters vordringen, werden wir sehen, daß [sic] in Wirklichkeit keine so großen Unterschiede vorhanden sind, wie sie viele zu finden wissen.“31 So wie sich die Brecht-Stanislawski-Kontroverse auflösen soll, löst sich im Film dann auch die Kontroverse zwischen Dozentin und Student. Nach der Rede von Heinz zu der ‚individuellen interessanten Gestaltung des Protests‘ des Schauspielers, sehen wir im Bild, wie sich der Student, der den Michael Kramer probiert hat, in die Jacke greift und dabei sagt: „Jetzt will ich mal protestieren und meinen Buckel, den falschen Buckel herausnehmen.“32 Danach erfolgt ein scharfer Schnitt auf das ernste Gesicht von Heinz im Close-Up, der in keiner Weise auf diese Aktion reagiert, sondern auf eine Weise fortfährt, die vermuten lässt, dass die nun folgenden Abschlussworte separat gedreht und hier hineingeschnitten wurden. Es bleibt die Frage, was es mit dem Buckel auf sich hat; warum diese Sequenz nicht herausgeschnitten, sondern vielleicht absichtlich eingebaut wurde. Im Kontext der bisherigen Analyse liegt es nahe, die Szene als bewusst eingesetztes Element des ‚comic relief‘ zu deuten, dessen Funktion ja bekanntlich ist, Spannungen abzubauen. Die konfrontative Situation zwischen dem Studenten und der Dozentin wird anhand des Buckels nochmals aufgegriffen, kommentiert, und dann, in der Form des Buckels, entfernt. Der Widerspruch des Studenten ist überwunden auf seinem Weg zum Verständnis des idealen sozialistischen Schauspielers, zu dem ihm ein Dritter, Wolfgang Heinz, verholfen hat. Das Aufzeigen von Widersprüchen in der gegenwärtigen Gesellschaft, das für das Theater Bertolt Brechts Hauptantriebskraft war, wird hier mit Hilfe der Kamera und der szenischen Konstruktion eingefangen und domestiziert: der Widerspruch des Studenten erscheint plötzlich marginal, trivial; als ein Stück unwichtiger, weil bis dato im Film nicht thematisierter Theaterausstattung, das einfach nebenbei entfernt werden kann. Diese Szene verdeutlicht nochmals die eingangs aufgestellte These, dass wir durch die filmische Dokumentation der Probenszene nicht so viel über das Schauspielen und die subjektmodellierenden Ausbildungspraktiken erfahren, sondern viel mehr über eine ideologische Strategie der Subjektrepräsentation, die filmisch produziert wird. Was hier anhand des dokumentarischen Materials nachvollzogen werden kann, ist nicht etwa der Anspruch der Schule, sondern der Anspruch der filmischen Darstellung der Probenarbeit an der Schule, der sich – über die Gemeinschaft der Theaterlernenden mit den Theaterlehrenden hinaus – an die Öffentlichkeit der Fernsehzuschauer wendet. Der noch lernende Schauspieler wird in diesem filmischen ‚Lehrstück‘ zum Protagonisten und Vorbild eines viel weiter gefassten 31 Heinz 1961: 61. 32 Das Künstlerportrait – Wolfgang Heinz: TC 39:48:00.
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gesellschaftlichen Lernprozesses. In diesem sind sowohl Theaterschaffende als auch die Gesellschaft an sich auf Konsens verpflichtet: Konfrontationen und interne Widersprüche werden als so trivial wie ein Theaterbuckel dargestellt, und die Anwesenden werden auf eine Gemeinschaft eingeschworen, die sich nur vom Anderen, dem westdeutschen Theater und seinen Ausbildungspraktiken, radikal abgrenzt. Das Künstlerportrait von Wolfgang Heinz findet in der exemplarischen filmischen Darstellung einer künstlerischen Subjektmodellierung seinen Abschluss und Höhepunkt in der Probenszene an der Staatlichen Schauspielschule Berlin. Mit dem Nachdruck der vorangegangenen künstlerischen Leistungsschau stellt dieser Abschluss unter anderem einen Versuch dar, öffentlichkeitswirksam die oben skizzierten Theater-Diskussionen der fünfziger Jahre und damit einen Suchprozess abzuschließen: An der Schauspielschule in Schöneweide jedenfalls, so wird suggeriert, scheint man sich einig zu sein, wie sozialistisches Theater gemacht und gelehrt werden könnte. Am Beispiel dieser Fernsehdokumentation lässt sich exemplarisch aufzeigen, inwiefern im Spannungsfeld des Ost-West-Konflikts Schauspielkunst und Schauspielausbildung in mediale Diskurse der Vergesellschaftung von Persönlichkeits- und Verhaltensidealen von Selbst- und Fremdbildern eingebunden waren. In einem nächsten Schritt wäre zu klären, inwiefern diese Subjektivationsstrategien nun wiederum in die Ausbildungsdiskurse und -praktiken hineinwirkten oder wie in der konkreten Ausbildungssituation die Spannung zwischen Affirmation und Subversion von Subjektnormen performativ verhandelt wurde.
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F ILM Es bildet ein Talent sich in der Stille – Zehn Jahre Max-Reinhardt-Schule. Regie: Evelyn Lazar, Autorin: Evelyn Lazar, Kamera: Max Remus, Redaktion: Für die Frau, Produktion: Eigenproduktion SFB, sw, 1961 (Sd: 27.09.61), 55‘19'‘ [RBB 201264/FIDOS 1/1/1]. Das Künstlerportrait – Wolfgang Heinz. Regie: Ingrid Sander, Autorinnen: Ingrid Sander und Dorthea Vebrig, Kamera: Horst Orgel, Schnitt: Inge Dochow, Produktion: Eigenproduktion DFF, sw, 1961 (Sd: 26.12.61), 45‘00‘‘ [DRAB/S941].
Der Blick auf das Publikum Demontage des tragischen Subjekts in populären Theaterformen M ARTINA G ROSS
Der Zusammenhang von Dramenstruktur und Zuschauerrolle wurde von Wolfgang Matzat eindrucksvoll für die Epoche der französischen Klassik beschrieben. 1 Was aber passiert, wenn die Episteme der Klassik in Hinsicht auf das Publikum nicht mehr zu greifen scheint? Wenn das noch vorherrschende klassische Ideal, die Wertevorstellungen, kurz das gesamte kognitive Ordnungsschema brüchig wird,2 wie es am Ende des 17. Jahrhunderts geschieht, wenn die Repräsentation klassischer Wertevorstellungen ihr Publikum verliert? In diesem epochalen Umbruch,3 inmitten einer „Krise des Bewusstseins“4, geprägt durch, im Foucaultschen Sinne, diskursive Brüche, zeigt sich Alain-René Lesages Markttheater als interessanter Ort des Verhältnisses von Subjekt und Theater. Verbunden ist dies mit der Unterminierung klassischer Wertevorstellungen und ihrer Repräsentation im zeitgenössischen Drama. Die folgenden Überlegungen konzentrieren sich in diesem Sinne zunächst auf eine skizzenhafte Darstellung des tragischen Subjekts im klassischen Drama und
1
Vgl. Matzat 1982.
2
Vgl. hierzu die umfassende Forschungsarbeit zur Krise des Europäischen Geistes von
3
Vgl. Spielmann 2002.
4
Die sogenannte „Krise des europäischen Geistes“ konstatiert Hazard insbesondere in den
Paul Hazard (Hazard 1935).
klassischen Bereichen der Geistes- und Sozialwissenschaften. Die von ihm aufgezeigte Bedeutung jener Umbruchzeit für die Ideengeschichte der Neuzeit bleibt dabei bis heute unbestritten (vgl. Hazard 1935).
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zum anderen auf dessen Demontage mittels der komischen Parodie in populären Theaterformen dieser Zeit. 5 Dem Theater der französischen Klassik haftet ein starker Subjektbegriff an, die Betrachtung der tragédie classique führt gewissermaßen zum Kern des Phantasmas der Subjektkonstitution: Dieser starke Subjektbegriff, wie ihn auch Szondi in seiner Theorie des modernen Dramas6 und seinem Versuch über das Tragische7 darlegt, ist ursprünglich weniger ein Konstrukt der Epoche der Klassik als selbst eine spekulative Konstruktion, die sich bei ihm eng an das Hegelsche Subjektverständnis anlehnt. Jedoch vermag Szondis Definition des Dramas hier – gerade mit Blick auf Racines Tragödien – zu greifen. Führt man seine Gedanken zum Drama weiter, so scheint es nur folgerichtig, in der Krise des Dramas auch eine Krise des Subjekts, oder wie Hans-Thies Lehmann dies in seiner Einleitung zu Theater und Mythos8 ausführt, eine Krise des Subjektbegriffs zu sehen, der dem Drama zugrunde liegt. Zwar bezieht sich Szondi in seinen Überlegungen auf das moderne Drama, den Zeitraum 1880-1950, doch finden sich in seinen allgemeinen Ausführungen zum Drama Überlegungen, die den Gedanken einer subversiven und gleichsam innovativen Antwort der Markttheater auf die Vorgänge und Restriktionen im Pariser Theaterkrieg verdeutlichen können. Konzentriert sich der Eindruck der Krise auf das französische klassische Drama, so wird dessen Überwindung gemeinhin in der Mitte des 18. Jahrhunderts gesehen. Dem mag man aus literarhistorischer Sicht auch zustimmen. Betrachtet man jedoch die Entwicklungen von Theaterformen um 1700, also quasi noch zur Zeit der französischen Klassik, so muss man sagen, dass sich eine Krise im Hinblick auf theatrale Aufführungsformen schon wesentlich früher abzeichnet. Dies findet, wie ich im zweiten Teil meiner Überlegungen darlegen möchte, kaum zufällig jenseits des institutionalisierten Theaters, d.h. der offiziellen Bühnen statt und zwar im sogenannten Théâtre de la Foire, dem Pariser Markttheater. Als inoffizielles Theater im korporativen Kultursystem seiner Zeit, ist 5
Zum Bereich des Komischen und der Krise des Geistes bzw. dem Zusammenbruch der Erfahrung vgl., auch über den hier thematisierten Kontext hinaus, Müller-Schöll 2003: 299-319. So verweist Müller Schöll darauf, dass „[d]er Einbruch des Komischen den Charakter einer Unterbrechung der linearen Zeit, eines Bruches mit deren Kontinuität [hat]. Das Komische läßt sich daher nicht im Rahmen der Geschichte und SubjektPhilosophie begreifen, die sich in der ‚Sattelzeit‘ zu begründen sucht. Begreift man als Modernitätserfahrung diejenige Erfahrung, die in nichts anderem als in einem Zusammenbruch der Erfahrung und insofern in einem Zusammenbruch aller geläufigen Vorstellungen von Moderne liegt, so kann das Komische paradox als Paradigma solcher Erfahrung begriffen werden.“ (Müller-Schöll 2003: 299-300).
6
Szondi 1963.
7 Szondi 1961. 8
Lehmann 1991: 6.
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es mit Verboten und Restriktionen belegt. Sein Innovationspotential ist daher auch nicht von der kulturpolitischen Situation abzukoppeln. Als wichtigster Repräsentant erscheint hier Alain-Réné Lesage, der nach dem Skandalerfolg um seinen Turcaret (1709) die Comédie Française, das Haus der ‚institutionalisierten Klassik‘, verlässt, um sich dem populären Markttheater zuzuwenden und damit gleichsam auch symbolisch den Wechsel von Hochkultur zu Populärkultur vollzieht. Um diese Überlegungen zu verdeutlichen, sollen im Folgenden einige Charakteristika der tragischen Subjektkonstitution kurz skizziert werden.
I. Bezeichnen wir die französische Klassik als (zeitlich relativ kurzen) Höhepunkt und reinste Ausprägung des Dramas, in der die Konzentration auf den zwischenmenschlichen Dialog am stärksten erscheint, dann kommt man nicht umhin hierin die Vollendung dieser Bestrebungen im Theater Racines zu sehen. Erwähnung finden soll in diesem Zusammenhang auch die Pratique du théâtre des Abbé D’Aubignac von 1657.9 Mag sie zwar im Einzelnen und auch durch ihr Erscheinungsdatum eher der frühklassizistischen Phase zugeordnet werden, lassen sich an ihr dennoch dramenbzw. theatertheoretische Parallelen zum Diskurs der französischen Klassik ausmachen. Sie erscheint, auch in kulturpolitischer Hinsicht, als Wegbereiter der französischen Klassik. Die durchgängige Besorgnis um Klarheit und Verständlichkeit des Theaters sowie die Warnungen vor „obscurité“10 brachten diesem Werk nicht von ungefähr den Ruf eines Leitfadens zur Befriedung des Publikums ein. Die Konzentration der Handlung auf die Sprachgestalt, „parler, c’est agir“11, verdeutlicht die Bestrebungen der französischen Klassiker. Ebenso erscheint die Berufung auf Kontrolle und ‚raison‘ nur folgerichtig, geht sie doch sehr genau mit dem Menschenbild und den Wertevorstellungen der französischen Klassik einher. Dementsprechend ist die Bedeutung des Subjekts in der klassischen Tragödie zu verorten: Das freie Individuum ist unterworfen und wird erst durch Zwänge zu dem, was es ist; das Schicksal, das der Held ergreift, steht im Zentrum. Das Moment der Krise, die man auf sich nimmt, die Übernahme der Verantwortung für etwas, in das das Subjekt unverschuldet geraten ist, führt zu einer freiwilligen Unterwerfung, in der man sich die Regeln jedoch selbst sucht.12
9
D’Aubignac 2001.
10 D’Aubignac 2001. 11 D’Aubignac 2001: 407. 12 In seinem Kommentar über Schelling merkt Szondi an, dass „Schellings ganzes System, dessen Wesen die Identität von Freiheit und Notwendigkeit ist, in seiner Bestimmung des
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In Corneilles Theater der ‚gloire‘, in seiner Darstellung der Selbstkontrolle des Menschen durch Vernunft und Willen, findet sich diese Vorstellung dokumentiert. Man denke an Corneilles Tragödie Cinna, in welcher Kaiser Augustus gegenüber der Verschwörung republikanischer Patrizier großmütig aber zugleich auch aus politischem Kalkül Vergebung walten lässt. Bei Racine hingegen taucht eine Spaltung im Subjekt auf, die jeden Gedanken an eine solche Kontrolle zunichtemacht. 13 Sein Theater der ‚passion‘ zeigt Leidenschaft als notwendige Empfindung für die menschliche Existenz, mag sie sich auch als noch so zerstörerisch erweisen. Zu berücksichtigen bleibt dabei, dass Racine trotz dieser Diskrepanz in formaler Hinsicht die Regeln einer Poetik beherzigt, deren Grundgedanken er kaum zu teilen vermag. Im Unterschied zum Theater Corneilles, zeichnet Racine ein heterogenes Subjekt, dass nicht nur durch Ratio und Reflexion Ruhm erlangen kann, sondern in der tragischen Schilderung seiner Leidenschaft immer auch ein begehrendes Subjekt ist.14 Dieses Begehren verweist in jedem Moment auf das Zwischenmenschliche, auf den Dialog: „Das sprachliche Medium dieser zwischenmenschlichen Welt aber war der Dialog.“15 Szondi sieht einzig im klassischen Drama die Alleinherrschaft des Dialogs. Die „zwischenmenschliche Aussprache im Drama, spiegelt die Tatsache, daß es nur aus der Wiedergabe des zwischenmenschlichen Bezuges besteht, daß es nur kennt, was in dieser Sphäre aufleuchtet.“16 So schließt sich mit Szondi auch die Klammer, die sich zwischen Corneille und Racine partiell aufgetan tragischen Vorgangs als der Wiederherstellung dieser Indifferenz im Streit“ gipfelt. Er folgert in dieser Hinsicht: „der Schauplatz des Kampfes ist nicht ein Zwischengebiet, das dem streitenden Subjekt äußerlich bliebe, er ist in die Freiheit selber verlegt, die so, gleichsam mit sich selber zerfallen, zu ihrem eigenen Gegner wird“ (Szondi 1961:16). 13 Als Beispiel denke man hier an die Qualen der Phädra, deren tragische Existenz sich in ihrer Zerrissenheit zwischen Leidenschaft und Kontrolle entfaltet: „Könnte sie ihrer Liebe oder ihrer Treue entsagen, wäre der Zwiespalt überbrückt, das Tragische im Kompromiß beseitigt. Weil sie aber weder das eine noch das andere vermag, weil zu beidem die Möglichkeit in ihr selber und dennoch nicht in ihrer Macht liegt, ist sie eine tragische Heldin“ (Szondi 1961: 85). 14 Lehmann plädiert in Theater und Mythos hinsichtlich „dieses schwierigen Nicht-Orts des Subjekts im Diskurs des Theaters“, das Subjekt „als einen Ort der Frage, der Ungewißheit“ aufzufassen, um letztlich dadurch auch eine neue Sehweise auf den tragischen Helden zu ermöglichen (Lehmann 2003: 23). Darüber hinaus ist anzumerken, dass das begehrende Subjekt hier als doppelt konnotiert angesehen werden muss. Zum einen im Sinne einer tragischen Schilderung seiner Leidenschaft und zum anderen im Sinne der Lacanschen Subjekttheorie, als per definitionem ‚begehrend‘, d.h. das Begehren geht dem Subjekt gewissermaßen voraus (Lacan 1987). 15 Szondi 1963: 14. 16 Szondi 1963: 15.
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hat, mit dem Verweis, dass es in eben dieser Hinsicht zum Instrumentarium der Autoren der Klassik gehört, das Subjekt aus dem Dialog zu konstituieren.
II. Wie bereits angesprochen, verlässt der schon zu seiner Zeit berühmte Autor AlainRené Lesage die Comédie Française 1709 nach einem regelrechten Skandalerfolg um seine Gesellschaftssatire Turcaret. Die im Stil der Molièreschen Sittenkomödie verfasste satirische Komödie wurde trotz des großen Erfolgs beim Publikum nach der siebten Vorstellung abgesetzt. Dies ist zurückzuführen auf den Druck, den die Gegner Lesages und seines Stückes nicht nur abseits der Bühne, sondern auch während der Aufführungen ausübten. Der Skandal um den Turcaret, in welchem ihm von Seiten der Comédiens Français keine Unterstützung, sondern nur Feindseligkeit entgegengebracht wurde, markiert die Abwendung Lesages vom Théâtre Français.17 Die Comédie Française konnte ihm keine Wirkungsstätte mehr sein, da sie ein Theater darstellt, das sich nicht am Publikum orientiert, sondern es aus Prestigegründen vorzieht, in den erstarrten Formen der französischen Klassik zu verbleiben. Damit ist für ihn das oberste Gebot der Theaterarbeit, das ‚plaire‘, nicht mehr gewährleistet.18 Die korporative Kulturpolitik des Ancien Régime hatte zu einer absoluten Reglementierung und Institutionalisierung der Theater geführt. Lagrave beschreibt dieses Theatersystem als aller Freiheiten beraubt, mit Regeln, Privilegien und Monopolen versehen, auf deren Einhaltung die einzelnen Bühnen eifersüchtig beharrten.19 Eine Lücke in diesem System boten lediglich die Markttheater, welche deswegen von den etablierten Bühnen bekämpft wurden. Diese Lücke oder Leerstelle besetzt Lesage in seiner Suche nach neuen Aufführungsmöglichkeiten. Er etabliert einen offensiven Umgang mit der institutionalisierten Kultur, die dem Markttheater als einem ‚genre grossière‘, als einem vermeintlich niederen und überflüssigen Theater den Kunstcharakter abspricht. Besonders einprägsam zeigt sich dieses Vorgehen anhand Lesages Trilogie zum Pariser Theaterkrieg: La Querelle des Théâtres (1718), Les Funerailles de la Foire (1718) und Le Rappel de la Foire á la vie (1719/1721), spiegeln die zeitgenössische krisenhafte Konstellation der Pariser
17 Lesage fügt der gedruckten Ausgabe eine „Critique de la Comédie de Turcaret par le Diable boiteux“ hinzu, in der er darauf hinweist, dass sich nicht nur die betroffene Finanzwelt, sondern auch eifersüchtige Kollegen gegen ihn gestellt haben (Lesage 1972: 159). 18 Siehe Lesage 1972: 157-159. 19 Siehe Lagrave 1972: 361.
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Theater wider und setzen sich in selbstreferentieller Manier und kritischer Haltung mit der Diktion und Spielweise der französischen Klassik auseinander.20 Dem Vorwurf der niederen Unterhaltung begegnet Lesage gerade dadurch, dass er sich der Mittel und Motive der klassischen Tragödie bedient und gleichsam die Hochkultur gegen sich selbst ausspielt. Durch diese Art der Subversion wird die klassische Rhetorik gegen sich selbst gekehrt und gipfelt schließlich, durch die Einführung der Figur eines „Monsieur Le Public“, in einer Auseinandersetzung mit dem, was jetzt neu ist: der Frage nach der Öffentlichkeit, der Frage nach dem (neuen) Publikum, welches zugleich den Ruf nach neuen Theaterformen mit sich bringt. Das Théâtre de la Foire ist bekannt für seine Parodien, insbesondere der klassischen Diktion und Spielweise. Die dramatische Parodie, als diskursives Genre par excellence, stellt eine überaus wichtige Möglichkeit künstlerischer Auseinandersetzung mit dem klassischen Theatermodell des Ancien Régime dar. Sie liefert wie keine andere Gattung eine Verbindung zwischen Produktion und Reflexion.21 Im Falle Lesages wird zudem klar, dass es sich nicht nur um ein ‚Darstellen von‘ bzw. ein ‚Darstellen über‘ das zeitgenössische Theater, sondern vor allem in poetologischer Hinsicht, um eine ‚Konzeption gegen‘ die tradierten Theatervorstellungen der französischen Klassik handelt. Bezeichnenderweise sind es gerade die parodistischen Stücke, die zur Zeit Lesages neben dem einfachen Volk zugleich Adel und Stadtbürgertum anziehen, welches ansonsten die privilegierten Bühnen zu besuchen pflegte. 22 Der große Erfolg der Stücke Lesages resultierte mit Sicherheit nicht nur aus seiner prekären Stellung im Theatersystem seiner Zeit – es war, zumindest bis zur endgültigen Erteilung des Privilège de l’Opéra-Comique 1723, nicht nur ein Theater am Rande des offiziellen Theatersystems, sondern ein Theater gegen das offizielle System. Inhaltlich wie formal bestimmt in Lesages Stücken die Orientierung am Publikum stets den intendierten Wirkungszusammenhang.23 Er entwickelt
20 Lagrave führt bezüglich der Beschäftigung mit den hier thematisierten Stücken an: „Si nous avons insisté sur ces pièces, qui s’échelonnent de 1718 à 1721, c’est que cette courte période est la plus riche en incidents et en péripéties dans la guerre des théâtres“ (Lagrave 1972: 401). 21 Siehe Schmidt 2001: 12. Zur ausführlichen literaturtheoretischen Debatte um die Parodie sei an dieser Stelle auf Gérard Genettes Studie Palimpsestes. La littérature au second degré verwiesen. 22 Siehe Lever 2001 : Kap. IV. 23 Bereits Andrea Grewe hat in ihrer 1989 erschienenen Dissertation auf Lesages Rezeptionsästhetik verwiesen und aufgezeigt, dass Lesage und seine Mitstreiter ihre Stücke auch in formaler Hinsicht umstrukturiert und sich dabei allein an den Vorlieben des Theaterpublikums orientiert haben (siehe Grewe 1989).
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komplexe Strategien um verschiedene Publikumsschichten anzusprechen:24 Kreise der Hochkultur, einfaches Volk und Bürgertum. Deutlich wird in diesem Zusammenhang Lesages für diese Zeit ungewöhnliches Spiel mit den Theaterkonventionen des Ancien Régime, wobei das Verhältnis von Publikum und Bühne für ihn von besonderem Interesse ist. Diese Erläuterungen seien hier vorangestellt um drei wichtige Punkte hervorzuheben, die Lesages Markttheater in Beziehung zum Theatermodell der Institutionalisierten Klassik setzen: Die konfliktreiche Beziehung der Pariser Bühnen, die in den ersten beiden Jahrzehnten des 18. Jahrhunderts zum sogenannten Pariser Theaterkrieg führen; die daraus resultierenden Verbote, denen sich die Marktheater ausgesetzt sehen, worunter das Dialogverbot von 170625 den deutlichsten Verweis auf die Idee des klassischen Dramas in sich trägt; und die Bedeutung des Publikums, das sich als Handlungskonstante durch die hier thematisierte Trilogie zieht.
III. Nach diesen Überlegungen erscheint das von der Comédie Francaise erstmals bereits 1706 erwirkte Dialog-Verbot für die Markttheater in einem neuen Licht. 26 Hier kann es nicht allein darum gegangen sein, ihr Monopol als einzige französischsprachige Sprechbühne zu verteidigen. Der polizeilich erwirkte Erlass sollte mehr schaffen: ein Drama jenseits der offiziellen Bühne ganz und gar verhindern; und damit ein Subjekt, das sich aus dem Dialog konstituiert, dem Dialog, der Träger des Dramas ist – ohne Dialog gibt es kein Drama: „Von der Möglichkeit des Dialogs hängt die Möglichkeit des Dramas ab.“27 Dass dies ganz dem zeitgenössischen Verständnis entspricht, wird z.B. an dieser Stelle der Pratique du théâtre deutlich: „En un mot, les discours ne sont au Théâtre que les accessoires de l’Action, quoique toute la Tragédie, dans la Représentation ne consiste qu’en discours; [...] aussi
24 Hier ließen sich diverse Beispiele aus den Stücken nennen (La Querelle des Théâtres, Les Funerailles de la Foire und Le rappel des la Foire à la vie). Durch den Bezug auf die Hoch- bzw. Elitenkultur (Racine) ebenso wie auf aktuelle Ereignisse (Pariser Theaterkrieg), durch eine Form der dargestellten Theaterkritik, aber auch der Gesellschaftskritik, bindet Lesage thematisch die unterschiedlichen Publikumsschichten in sein Spiel ein. 25 Siehe hierzu die Memoiren der Brüder Parfaict (Parfaict/Parfaict 1743: 57 – 58). 26 Vgl. Parfaict/Parfaict 1743. 27 Szondi 1963: 19.
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n’irait-on pas au Théâtre en si grande foule, si l’on ne devait y rencontrer que des Acteurs muets.“28 Fast ironisch mag es anmuten, wenn D’Aubignac an dieser Stelle zu verstehen gibt, dass die Massen wohl kaum ins Theater strömen würden, träfen sie dort lediglich auf stumme Akteure. Auf das Dialog-Verbot reagierten die Markttheater äußerst geschickt. Dabei war ihre stärkste Waffe das Publikum. So scheint es nur folgerichtig, wenn Lesage in den Stücken um den Pariser Theaterkrieg, in welchen die krisenhafte Konstellation der Pariser Bühnen und ihre Machenschaften reflektiert werden, alle daran beteiligten Bühnen als personifizierte Theater auftreten lässt. Die Comédie Française, die Comédie Italienne, die Oper und das Marktheater bzw. die Foire. Als auffälligste Konstante erscheint dabei, dass die gesamte Trilogie durchzogen ist von einem Ringen um die Gunst des Publikums. Schon im ersten Einakter, La Querelle, der den Krieg der Theater thematisiert, wird ein Besuch der Comédie Française und der Comédie Italienne auf der Foire beschrieben. Die beiden völlig ‚entkräfteten‘ Theater müssen einander stützen, um sich überhaupt aufrecht halten zu können. Zitate aus Racines Phèdre deklamierend, betrachten die beiden Comédies neidvoll die Zuschauermenge, und die Comédie Française echauffiert sich über die Publikumsmassen auf der Foire um sich sogleich zu wundern, warum sie nicht bei ihr anzutreffen sind. Mes yeux sont étonnez du monde que je voi: Pourquoi faut-il, hélas! qu’il ne soit pas chez moi! (Szene III) 29
An das Publikum gewandt, dem sie mangelnden „goût“ vorwirft, appelliert sie an den bekannten Wert ihrer Aufführungen und äußert ihr Unverständnis, dass ein Publikum an den schändlichen Präsentationen der Foire teilhaben kann. Public, qui connoissez le prix de mes ouvrages, Pouvez vous accorder à ceux-ci vos suffrages? (Szene III)
In einem Streitgespräch mit der Foire erörtern die beiden Besucherinnen die Gründe für den Publikumsrückgang in ihren Häusern. Während die Comédie Italienne ratlos scheint und nicht weiß, wie man dieses Publikum zufrieden stellen soll, ist die Comédie Française erschüttert über den „mauvais goût“ dieses „Public bizarre“. Darüber wird nun auch die Foire ungehalten und wirft den Konkurrentinnen ihre
28 D’Aubignac 2001: 408. 29 Zitiert wird hier und im Folgenden aus der neunbändigen Ausgaben die Lesage und D’Orneval zwischen 1721 und 1737 herausgegeben haben (Lesage/D’Orneval 17211737).
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Doppelmoral vor, da sie ein Publikum „raisonnable“ finden, wenn es zu Ihnen kommt, aber von widerlichem Geschmack, geht es zum Markttheater. Vous le trouvez raisonnable, Lorsqu’il va s’amuser chez vous; mais vient-ils s’amuser chez nous, Sont goût vous paroît détestable. (Szene III)
An dieser Stelle wird deutlich, wie scharf sich Lesage mit seinem Theaterverständnis von der Comédie Française, der er ihren Hochmut und die damit verbundene Ignoranz der Publikumsbedürfnisse vorwirft, abgrenzt. In dieser Hinsicht bleibt allerdings zu berücksichtigen, dass sich gerade in der Darstellung des Publikums bzw. seiner vornehmlichen Bedürfnisse ein Interessengelage zu erkennen gibt, das den Konflikt zwischen den einzelnen Bühnen und Theaterformen zur Zeit des Pariser Theaterkriegs verdeutlicht. Generell ist dies, neben allen poetologischen und darstellerischen Differenzen, der markanteste Vorwurf des Markttheaters an die klassischen Bühnen: „Ihr interessiert euch nicht für das Publikum, ja ihr seht es nicht einmal!“ Hier sei noch einmal der Rekurs auf Szondi unternommen, der das klassische Drama in seinem Verhältnis zum Zuschauer als ebenso absolut ansieht, wie in seiner Konzeption der Wiedergabe des zwischenmenschlichen Bezuges: „Sowenig die dramatische Replik Aussage des Autors ist, sowenig ist sie Anrede an den Zuschauer.“30 Szondi fasst für das Verhältnis Zuschauer-Drama zusammen, dass es „nur vollkommene Trennung und vollkommene Identität, nicht aber Eindringen des Zuschauers ins Drama oder Angesprochen-werden des Zuschauers durch das Drama“31 kenne. Auch wenn die Deutung hier eine differenzierte Betrachtung erfahren muss, vor allem da die Rolle des Dramas für das französische Theater anders zu bewerten ist als für die Entwicklung des deutschen Theaters, kann in diesem Zusammenhang auf ein tatsächliches Problem der Theaterästhetik und -praxis in der ausgehenden Klassik und im Übergang zur Frühaufklärung hingewiesen werden, der mit dem Vorwurf der Ignoranz des Zuschauers seitens der Markttheater einhergeht: Sowohl die Comédie Française als auch die Oper standen kurz vor ihrer Schließung, da der Publikumsrückgang gerade in den ersten Jahren des 18. Jahrhunderts gravierend war. Zeitgleich – wie wäre sonst der Theaterkrieg zu erklären – ging das Publikum, das vorher die klassischen Bühnen zu besuchen pflegte, auf die Märkte, um dort seiner Theaterbegeisterung zu frönen. Szondis Charakteristik des Dramas als „absolut“ vermag auf Seiten des Publikums das Problem des ‚Hauses 30 Szondi 1963: 15. 31 Szondi 1963: 16.
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der institutionalisierten Klassik‘ erläutern: Das Publikum fühlte sich nicht mehr angesprochen.32 Auch im zweiten Einakter, Les Funerailles, der eine Reaktion auf die Schließung der Markttheater 1719 auf Betreiben der offiziellen Theater darstellt, zeigt Lesage die Sorge der Comédie Française um ihr Fortbestehen. Als die Nachricht vom Tod der Foire die beiden Comédies erreicht, danken sie dem Himmel, dass er sie von dieser „Kuh“ befreit hat (Szene XII). Mit einem Freudentanz und der Hoffnung auf eine nun ungeteilte Aufmerksamkeit des Publikums beschließen sie die Beerdigung. Im dritten Einakter, der die Wiedereröffnung 1721 der Foire unter dem Titel Le Rappel de la Foire à la vie thematisiert, geraten die so unterschiedlichen Theater zum wiederholten Male in Streit. Dieser wird unterbrochen von dem Auftreten Mezzetins, der einen „gros & grand Monsieur“ ankündigt (Szene XIV). Bei diesem Monsieur handelt es sich um niemand anderen als „Le Public“, der als Repräsentant des zeitgenössischen Theaterpublikums ihrer aller ‚Maître‘ ist. Damit wird noch einmal deutlich, wie weitgehend Lesage einer rezeptionsorientierten Theaterästhetik folgt und sich insofern in die historische Linie einer publikums- bzw. öffentlichkeitsbezogenen Theaterarbeit einreihen lässt.33 Eigentlich gekommen, um der Foire zu ihrer Rückkehr zu gratulieren, hört sich Monsieur Le Public die Anliegen der Comédies an. Bevor jedoch ein erneuter Streit ausbrechen kann, verspricht er seine Aufmerksamkeit allen Theatern zu schenken, da das Theater wie auch eine gute Ernährung von der Vielseitigkeit lebe: Point de prévention, Mesdames, point de vanité mal-entendue. La Foire a son mérite. Je vous regarde toutes trois, De même que dans un repas Je considère trois bons plats Dont chacun me plaît & et me pique; [...] (Szene XV)
Nicht nur gelingt es damit dem Publikum Frieden zu stiften und den ‚querelles‘ ein Ende zu setzen, sondern gleichzeitig versucht sich Lesage hier auch an einer Vermittlung zwischen Hoch- und Populärkultur. In welchem Haus man als Autor arbeiten kann und unter welchen politischen Situationen, bestimmt auch den Darstellungsstil. Durch die politische Situation kann auf 32 Die Konkurrenzsituation der Pariser Bühnen und welche Rolle das Publikum innehat, findet sich bei Lagrave im Kapitel „La concurrence“ eingehend thematisert (Lagrave 1972). 33 Siehe Denis 2000: 78-83.
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der Foire das Subjekt-Modell der französischen Klassik gar nicht zum Tragen kommen, da, nach dem vorherrschenden zeitgenössischen Verständnis, sich das Subjekt nur aus dem Dialog konstituieren kann. Dennoch scheint, auf der Ebene der Aushandlung von Subjekt und Theaterverständnis, als Ort gerade der Markt prädestiniert: Lesage etabliert auf der Foire ein für das Theater neues Subjekt. Hierbei bezieht sich Lesage auf den kleinsten gemeinsamen Nenner: das Publikum, welches in seinen Stücken auch die einzige Instanz ist, die konstruktiv erscheint. Diese Aushandlung auf der Ebene des Publikums ist zugleich verbunden mit dem Konflikt zwischen Hochkultur und Populärkultur. Hier zeigt sich vorausgreifend, durch den Charakter des Monsieur Le Public, die Idee des kollektiven Subjekts, das einheitsstiftend und repräsentativ angesprochen werden kann, damit eine Änderung der herrschenden Verhältnisse im Theater als Wechselspiel mit dem Publikum angestrebt werden kann. Und so tritt diese Figur in den Stücken auch auf. Zu berücksichtigen gilt in diesem Zusammenhang, dass dieser Charakter, ebenso wie auch das tragische Subjekt, eine Leerstelle markiert. Hierin lässt sich ein Verweis auf die absolutistische Monarchie und den König sehen, der ebenfalls als eine Art Leerstelle anzusehen ist: Im Zentrum der Repräsentation kann nichts sein.34 Nehmen wir also die von Szondi charakterisierten Eigenschaften des (klassischen) Dramas, führt das Verbot des Dialogs zur Vereitelung des Dramas. Dies jedoch mündet in einer direkten Auseinandersetzung mit dem Kern des Dramas, der Subjektvorstellung. Diese und ihre Repräsentation auf der klassischen offiziellen Bühne werden von Lesage demontiert, indem er nicht nur inhaltlich, sondern auch durch formale Kriterien unterstützt (das Publikum singt und spricht, wird Teil des Dialogs, der durch die Verbote nicht mehr auf der Bühne stattfinden kann), ein neues, ein kollektives Subjekt auf die Bühne bringt: das Publikum. Möchte man also davon ausgehen, dass jede Theaterform ein ihr eigentümliches Subjekt konstruiert oder auch konstituiert, dann mag man im Falle von Lesages Markttheater und besonders der hier angeführten Beispiele abschließend sagen, dass diese Theaterform ein Subjekt weniger konstituiert als das vorhandene Subjekt des klassischen Dramas dekonstruiert. Eine Besonderheit nimmt dabei zweifelsohne das Publikum und dessen Darstellung ein: Durch die Figur des Monsieur Le Public, unter den dargestellten Protagonisten die einzige Figur, die auf den menschlichen Charakter verweist, wird das Publikum als Subjekt konstituiert. Gleichwohl zu einem kollektiven Subjekt, das gar chorisch anmutend sich zur einzigen Instanz in 34 Siehe Lacan 1975: 175. Im Sinne Lacans ist das Subjekt nichts Substantielles, da es auf den Akt der Repräsentation angewiesen ist. Dieser Umstand macht das Subjekt zu einer Leerstelle, zur „Diskontinuität im Realen“. Peter Widmer führt dazu aus, dass dieser „abwesende Ort“ sich als äußerst bedeutsam erweise. Als „Nicht-präsentes“ ist „das Subjekt immer schon repräsentiert wie auch repräsentierend“ (Widmer 1990: 53).
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allen Fragen der Theaterpraxis konstituiert. Dieses neue Subjekt, das sich inmitten des Spiels von Ordnung und Chaos konstituiert, gilt es zu reflektieren.
L ITERATUR D’Aubignac, François Hédelin: La Pratique du théâtre. Hg. von Hélène Baby. Paris: Honoré Champion 2001. Denis, Benoît: Littérature et engagement – de Pascal à Sartre. Paris: Éditions du Seuil 2000. Genette, Gérard: Palimpsestes. La littérature au second degré. Paris: Éditions du Seuil 1982. Grewe, Andrea: Monde renversé – Théâtre renversé. Lesage und das Théâtre de la Foire. Bonn: Romanistischer Verlag 1989. Hazard, Paul: La crise de la conscience européenne 1680-1715. Paris: Boivin 1935. Hegel, Georg Friedrich Wilhelm: Vorlesungen über die Ästhetik III, Werke 15. Frankfurt: Suhrkamp 1986. Lacan, Jacques: „Subversion des Subjekts und Dialektik des Begehrens im Freudschen Unbewußten“, in: ders.: Schriften II. Weinheim/Berlin: Quadriga 1975. Lacan, Jacques: Die vier Grundbegriffe der Psychoanalyse. Das Seminar Buch XI. Weinheim/Berlin: Quadriga 1987. Lagrave, Henri: Le théâtre et son public de 1715 à 1750. Paris: Klincksiek 1972. Lehmann, Hans-Thies: Theater und Mythos. Zur Konstitution des Subjekts im Diskurs der antiken Tragödie. Stuttgart: Metzler 1991. Lesage, Alain-René/D’Orneval, Carolet: Le Théâtre de la Foire ou L’Opéra Comique. Contenant les meilleures pièces qui ont été représentées aux foires de S. Germain et S. Laurent. 9 Bde. Paris: Étienne Ganeau, Pierre Gandouin, Prault fils 1721-1737. Lesage, Alain-René: „Turcaret. Comédie 1709. Critique de la Comédie de Turcaret par le Diable boiteux“, in: Truchet, Jacques (Hg.): Théâtre du XVIIIème siècle. 2 Bde. Paris: Gallimard 1972. Lever, Maurice: Théâtre et Lumières – Les spectacles de Paris au XVIIIe siècle. Paris: Fayard 2001. Matzat, Wolfgang: Dramenstruktur und Zuschauerrolle. Theater in der französischen Klassik. München: Fink 1982. Müller-Schöll, Nikolaus: „Das Komische als Ereignis. Zur Politik (mit) der Komödie zwischen Molière, Marivaux und Lessing“, in: ders. (Hg.): Ereignis. Eine fundamentale Kategorie der Zeiterfahrung. Anspruch und Aporien. Bielefeld: transcript 2003. Parfaict, Claude/Parfaict, François: Mémoires pour servir à l’Histoire des Spectacles de la Foire, par un acteur forain. 2 Bde. Paris: Briasson 1743.
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Schmidt, Dörte: Armide hinter den Spiegeln. Lully, Gluck und die Möglichkeiten der dramatischen Parodie. Stuttgart/Weimar: Metzler 2001. Spielmann, Guy: Le Jeu de l’Ordre et du Chaos. Comédie et pouvoirs à la Fin de règne, 1673-1715. Paris: Honoré Champion 2002. Szondi, Peter: Versuch über das Tragische. Frankfurt: Insel 1961. Szondi, Peter: Theorie des modernen Dramas (1880-1950). Frankfurt: Suhrkamp 1963. Widmer, Peter: Subversion des Begehrens. Jacques Lacan oder die zweite Revolution der Psychoanalyse. Frankfurt: Fischer 1990.
Chor und Mit-Sein: Subjekt des Chores
Inszenierungen des Kollektivsubjekts im Thingspiel E VELYN A NNUSS Vom Feind muß man sich belehren lassen! Genossen, wenn ihr heut das Blatt aufschlagt Lest ihr; er hat den Sprechchor untersagt. Da heißt’s, sich mit dem Sprechchor jetzt befassen.
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Pünktlich zur Olympiade wird im Frühsommer 1936 allen Gliederungen der Partei vom Reichspropagandaministerium die Verwendung von Sprechchören untersagt. 2 Darauf reagiert Bertolt Brechts zu Lebzeiten unveröffentlicht gebliebenes, im Exil entstandenes3 Sonett Als Hitler den Sprechchor verbot. Es verweist auf jene Umbruchphase in der Ausbildung nationalsozialistischer Ästhetik, deren springender Punkt die Frage nach einer angemessenen szenischen Darstellung der Volksgemeinschaft als Subjekt ist – mithin auf die Problematik des Verhältnisses von kollektiver Figuration und einzelnem Körper.
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Indikator für den Wandel der volksgemeinschaftlichen Inszenierung im Theater ist denn auch das kulturelle Rahmenprogramm der Berliner Olympiade. Entsprechend wird es in der Gegenwart noch einmal zum Referenzpunkt zweier ansonsten gänz1
Brecht 1993, GBA 14: 327.
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Siehe die von Goebbels gezeichnete entsprechende Anordnung, abgedruckt in Das Deutsche Volksspiel, den von Hans Niggemann herausgegebenen Blättern für Jugendspiel, Brauchtum und Sprechchor, Volkstanz, Fest- und Freizeitgestaltung (1936: 220); vgl. hierzu Stommer 1985: 130-134.
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Siehe Brecht 1993, GBA 14: 626.
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lich unterschiedlicher bewegungschorischer Interventionen im öffentlichen Raum: Das Hamburger Performance-Label Ligna organisiert im Rahmen des Festivals play Leipzig im Juni 2010 ein Re-enactment der Massenchoreografie Vom Tauwind und der neuen Freude. Als diese Choreografie Rudolf von Labans im Vorfeld der Olympiade auf der Dietrich-Eckart-Bühne (der heutigen Waldbühne) aufgeführt, vom Reichsdramaturgen Rainer Schlösser zunächst befürwortet und nach einem Besuch des Reichsministers für Volksaufklärung und Propaganda Joseph Goebbels dann doch aus dem offiziellen Rahmenprogramm gestrichen wird, ist der Sprechchor schon verboten. 4 An dieses komplizierte Verhältnis zwischen kollektiven Darstellungsformen und nationalsozialistischer Propaganda erinnert Lignas Reenactment. Public Movement, ein Performance Label aus Tel Aviv, präsentiert bereits 2009 unter dem Titel Also thus! eine Art uniformiertes Paradetheater auf dem ehemaligen Aufmarschplatz vor Werner Marchs Berliner Olympiastadion.5 Durch die vor Ort aufgerufenen Referenzen untersucht Public Movement das Fortleben militaristischer Spektakel in ihrer Theatralität und verweist auf den Einsatz des Chors als volksgemeinschaftliche Figur. Was die beiden Aktionen von Ligna und Public Movement verbindet, ist nicht nur die Neubesetzung des städtischen Raums unter Bezugnahme auf bewegungschorische Inszenierungen Mitte der 1930er Jahre. Darüber hinaus können sie – nicht zuletzt vor dem Hintergrund gänzlich veränderter kollektiver Auftrittsformen im öffentlichen Raum heute – wie eine Art retrospektiver V-Effekt gelesen werden. Dabei markieren sie zugleich den gegenwärtigen Wandel in der Rezeption chorischer Formationen: Noch in den 1990er Jahren nämlich ist die Arbeit an der Chorfigur zumindest hierzulande gerade wegen des historischen Bezugspunkts, den sowohl Public Movement als auch Ligna erzeugen, für viele Tabu.6 Daran erinnert wiederum René Polleschs Mädchen in Uniform am Hamburger Schauspielhaus 2010. Seine zwischen den Aktionen von Ligna und Public Movement entstandene Inszenierung akzentuiert im Unterschied zu den genannten bewegungschorischen Performances den von Brecht verteidigten Sprechchor und ruft einen für den Theaterdiskurs der 1990er Jahre kennzeichnenden Skandal ins Gedächtnis. Intonation, Rhythmus, Bewaffnung und geschlossene Formierung eines zehnköpfigen ‚Mädchenchors‘ erinnern ebenso wie die von Bert Neumann entworfene Bühne an Einar Schleefs Brecht-Inszenierung Herr Puntila und sein Knecht Matti am Berliner Ensemble 1996. 60 Jahre nach dem Sprechchor-Verbot wird 4
Siehe Müller/Stöckemann 1993: 164-168. Dies auch im Unterschied zu Hardts Versuch, die für Labans Massenchoreografie bestimmende Kreisform als Gegensatz zur nationalsozialistischen Ästhetik zu deuten (Hardt 2004: 255).
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Siehe Miller 2009.
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Vgl. Kurzenberger 1999.
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darin die brechtsche Knechtsfigur kollektiviert und soldatisch kostümiert. Obschon Pollesch diese Figur seinerseits im Zitat verfremdet, macht er doch untergründig jene hysterischen Reaktionen gegenüber Schleefs Arbeit am kollektiven Sprechen erinnerbar, über die die Chorfigur in den 1990er Jahren allererst wieder Eingang ins hiesige öffentliche Gedächtnis findet: Peter Iden beispielsweise empört sich schon angesichts von Schleefs Frankfurter Inszenierungen über dessen „ReichsparteitagsDramaturgie“7. Und in der Badischen Zeitung versteigt man sich anlässlich der Puntila-Inszenierung zum Vergleich von Schleefs Chor- mit dem kultischen Thingtheater der Nazis.8 Spätestens seit dieser Zeit aber ist der Sprechchor wieder als relevante Figur anerkannt, die es – Brechts eingangs zitierte Forderung noch einmal aufgreifend – von der Gegenwart aus formgeschichtlich zu untersuchen gilt.
D ER S PRECHCHOR UND SEIN
VORLÄUFIGES
A BLEBEN
Seit der Machtergreifung ist die nationalsozialistische Kulturpolitik darauf ausgerichtet, neben dem herkömmlichen Betrieb ein neues Volkstheater ‚der 100.000‘ zu schaffen, wie es Goebbels im impliziten Rückgriff auf Max Reinhardts Rede vom „Theater der Fünftausend“ proklamiert.9 Im Rahmen dieses monumentalritualistischen Freilichttheaters soll der Chor in eigens dafür einzurichtenden Kultstätten als Figur der Volksgemeinschaft auftreten und diese im Medium des Sprechens als einheitliches, handlungsfähiges Subjekt erlebbar machen.10 Gerade die Massenchöre, so die zunächst einhellige Meinung, dienen dazu, dem Phantasma Volksgemeinschaft rhetorisch ein Gesicht zu verleihen. In einer Sondernummer zum Thingspiel der Zeitschrift Bausteine zum deutschen Nationaltheater beschwört der Autor Bruno Nelissen Haken entsprechend noch 1935 „die Volkesstimme des Chors“ 11 und ruft, wie viele seiner Zeitgenossen, offenbar vergeblich nach passenden Stücktexten: „Wo aber ist das Thingspiel, das endlich dem Sinn des Thingplatzes, der ein Platz der Landschaft ist, im großen Raum gerecht wird?“12 Ein Teil der NSAvantgarde imaginiert ein nationalrevolutionäres Partizipationstheater, in dem die Differenz zwischen Chor und Zuschauern aufgehoben ist. Viele träumen anfangs
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Iden 1986.
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Siehe Wiegenstein 1996. Vgl. demgegenüber Schmidt 2010 und Haß 2000; zu Schleefs
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Reinhardt 1989: 446-447; siehe Göbbels [sic] 1934.
Arbeit am Thingspiel vgl. Annuß 2008. 10 Vgl. Stommer 1985; darüber hinaus Eichberg et al. 1977; Fischer-Lichte 2005: 122-158 und 2006; Ketelsen 2004 u. 2007; Kloss 1981; Strobl 2007: 65-88. 11 Haken 1935: 140. 12 Haken 1935: 140.
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von einem kultischen Parallelspektakel neben dem herkömmlichen Theaterbetrieb, das das Publikum quasiliturgisch beteiligt. Otto Laubinger hingegen – Leiter der Reichstheaterkammer im Propagandaministerium, Präsident des Reichsbundes der deutschen Freilicht- und Volksschauspiele e.V. und pragmatischer ‚Frontkämpfer‘ der organisierten Thingbewegung – zielt auf inszenierte Gefolgschaft; früher selbst Schauspieler zweiter Garde, bleibt in seinem Programm der protagonistische Auftritt dem Berufsschauspieler vorbehalten. ‚Dem Volk‘ selbst schreibt er von Anfang an eine andere Rolle zu; Aufgabe des Publikums ist die „Hinnahme einer theatralischen Schau“13. Und diese passive Rolle ist zunehmend auch dem Chor als Stellvertreter der Volksgemeinschaft zugedacht. Das Thingspiel, so der geschützte Begriff, wird sowohl von Seiten des Reichsministeriums für Volksaufklärung und Propaganda und der ihm unterstellten Reichstheaterkammer als auch zunächst von Seiten des rosenbergschen Kampfbundes für deutsche Kultur als genuin nationalsozialistische Erfindung mit germanischen Wurzeln gehandelt14 und als Instrument zur volksgemeinschaftlichen Mobilisierung gegen die Niederlage im Ersten Weltkrieg begriffen. Schlösser entwirft die Vision eines neuen völkischen Nationaltheaters, das aus dem Stahlbad des Krieges hervorgegangen sein soll.15 Tatsächlich handelt es sich beim Thingspiel um eine in den soldatischen Aufmarsch von Massenchören übersetzte Mischung unterschiedlicher, längst existierender Theaterpraxen, die sich in je spezifischer Weise dem Theater des Dramas widersetzen. 16 Der Ausdruckstanz und Max Reinhardts Massenszenen liefern ebenso Anregungen wie patriotische Feiern, das proletarische Massenspiel und – die kommunistische Sprechchorbewegung. Doch über diese maßgebliche Bezugnahme auf die Arbeiterkulturbewegung hinaus spielt noch eine andere Form chorischer Darstellung eine zentrale Rolle. Deutlich sind die Anleihen beim Passionsspiel und Massen- als Gemeindeszenen, wie wir sie noch heute aus Oberammergau kennen. Erika Fischer-Lichte weist bereits an anderer Stelle auf das erste und wohl erfolgreichste Thingspiel hin: Richard Euringers Deutsche Passion 1933.17 Es entsteht schon vor der Machtergreifung als Radiostück und akzentuiert damit das für die Thingspiele bestimmende
13 Laubinger 1933: 141. 14 Siehe Wolf Braumüller, Leiter der Abteilung „Freilicht- und Thingspiele“ in Rosenbergs aus dem Kampfbund für deutsche Kultur hervorgegangener NS-‚Kulturgemeinde‘ (Braumüller 1934: 10). 15 Siehe Schlössers bereits vor seiner reichsdramaturgischen Tätigkeit als Chefredakteur des Völkischen Beobachters in der Zeitschrift Der neue Weg veröffentlichten programmatischen Artikel zum ‚neuen Nationaltheater‘ (Schlösser 1933). 16 Siehe Menz 1976. 17 Siehe Fischer-Lichte 2005: 122-158 u. 2006
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akustische Moment.18 Im Rahmen der Heidelberger Reichsfestspiele 1934 wird es schließlich unter der Leitung des Opernregisseurs und Massenchoreografen Hanns Niedecken-Gebhard im Schlosshof uraufgeführt, weil die Thingstätte auf dem Heiligenberg nicht rechtzeitig fertig gestellt werden kann.19 Der Auftritt eines toten, mit Stacheldraht gekrönten namenlosen Soldaten aus dem Ersten Weltkrieg, der die durcheinander stöhnenden Massen schließlich gegen die Figur des Bösen Geistes vereint, zeugt von der militaristisch ausstaffierten Übersetzung einer religiösen, aus der Liturgie kommenden Theatertradition in die politische Religion des Nationalsozialismus.20 An diesem formgeschichtlich bedeutsamen Punkt interveniert Eberhard Wolfgang Möllers Frankenburger Würfelspiel wenige Jahre später im Rahmen der Berliner Olympiade. Möller ist zu diesem Zeitpunkt als Referent der Reichstheaterkammer tätig. Das Stück entwirft er im Auftrag seiner Vorgesetzten. Am 2. August 1936 wird mit ihm das olympische Kulturprogramm auf der Dietrich-Eckart-Bühne vor über 20.000 Zuschauern eröffnet. 21 Ihm kommt also eine besondere Bedeutung in der Selbstpräsentation nationalsozialistischer Kunst zu. Das Stück und seine Inszenierung durch den Schauspieler Mathias Wieman und den Rundfunkexperten Werner Pleister ist deutlich als bestimmte Reaktion auf die Auseinandersetzungen mit der Rosenbergfraktion und deren zunehmender Kritik vor allem am Formzitat der Passionsspiele konzipiert. Die Leidensgeschichte der Reichswehr, für deren Übersetzung ins Szenische Richard Euringers Deutsche Passion 1933 nur ein Beispiel ist, wird entsprechend entsorgt. Damit aber nicht genug: Ruft Haken 1935 noch nach passenden Chorstücken, wird mit dem Frankenburger Würfelspiel die tragende Säule der Thingkonzeption über den Haufen geworfen. Den Anschluss Österreichs offenbar schon im Blick, zitiert Möller einen Roman des österreichischen Autors Karl Itzinger. 22 Vor internationalem Publikum wird mit Möllers Stück ein von Itzinger bereits beschriebenes Ereignis aus der Zeit der Gegenreformation in Szene gesetzt. Die Inszenierung gerät zu einer Art Re-enactment eines makabren Spiels aus dem 17. Jahrhundert: In Oberösterreich werden protestantische Bauern von katholischen Feudalherren dazu gezwungen, um ihr Leben zu spielen. Mit dem epischen Theater durchaus vertraut, lässt Möller die Toten aus ihren Gräbern rufen und, an Brechts Maßnahme erinnernd, das Vergangene nachspielen, um auf der Dietrich-Eckart-Bühne noch einmal über die Geschichte zu 18 Siehe Döhl 1992: 51-54 und Ketelsen 2007. 19 Siehe Helmich 1989: 173-180. 20 Siehe Euringer 1933 und Eggers 1933; zur Frage der politischen Religion des Nationalsozialismus vgl. Bärsch 2002. 21 Siehe Alfred Jungraithmayrs Dokumentarfilm Das Frankenburger Würfelspiel von 1987; vgl. darüber hinaus zur Aufführungsgeschichte Gadberry 1977 und Sulzenbacher 1997. 22 Siehe Itzinger 1933.
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befinden. Die Niederlage des Ersten Weltkriegs, das bestimmende Sujet der Thingspiele, wird untergründig in einen anderen Kontext verschoben, der zugleich die zukünftigen geopolitischen Interessen offenbart. Im Unterschied zu Euringers allegorischer Figur des namenlosen, leidenden Soldaten aus Deutsche Passion 1933 führt Möller daher auch einen anderen Protagonisten ein: Der Souverän, der im Namen der Toten Herrschaftsgeschichte revidiert, tritt an die Stelle des Opfers. Den ehemals Herrschenden stellt Möller die Göttliche Gestalt des Geharnischten, einen schwarzen Ritter, entgegen. Und diese dezisionistische Refiguration der protagonistischen persona wiederum bedingt die Entmachtung des Chors. 1200 Laiendarsteller sind an der Berliner Uraufführung des Frankenburger Würfelspiels beteiligt. Für „Volk und Soldaten“ wird der Reichsarbeitsdienst rekrutiert, der in geschlossenen Formationen auftritt und ein von Möller gefordertes Bild strenger Ordnung bietet. Akustisch aber ist der Massenchor, ursprüngliches Charakteristikum des Thingtheaters, auf wenige Singstimmen eingeschmolzen. In einem seinem Stück vorangestellten Text beschreibt Möller die Form und Funktion des Chors entsprechend: Der Chor hat die Aufgabe, in den Höhepunkten der Szenen die natürlichen Spielpausen mit lyrischen Betrachtungen über den tieferen Sinn des Ganzen auszufüllen. Er muß sich als Vertreter einer außenstehenden und zuschauenden höheren Instanz gänzlich von den übrigen Faktoren des Spiels unterscheiden. Er darf auf keinen Fall die Zahl der dramatischen Figuren erweitern, sondern muß das Bindeglied zwischen den Zuschauern und den szenischen Vorgängen sein und als Chor im ganzen sichtbar Aufstellung nehmen. Seine Funktion ist eine […] lyrisch-musikalische. Demgemäß muß er […] seine Texte nach Art der Chöre im Oratorium singen.
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Dem Chor wird also keine dramatische Interventionsmöglichkeit zugeschrieben. Von der Orchestra aus soll er lediglich das szenische Geschehen singend kommentieren. In Euringers Stück werden die Chöre anfangs noch als Stimmengewirr entworfen. Im Schlussmarsch vereint, soll sich dann auch das „hörende Volk“24 beteiligen. Weder das von Euringer imaginierte Stimmengewirr noch die Beteiligung des Publikums gibt es in Möllers Konzeption. Sein Stück setzt vielmehr Goebbels’ Sprechchorverbot für das Massentheater um. Zwar wird dieses Sprechchorverbot in der Folge weder strikt noch flächendeckend durchgesetzt. Das offizielle Programm der Berliner 700-Jahrfeier von 1937 beispielsweise verzeichnet durchaus einen Sprechchor im Stadtraum. Im Massentheater aber wird der kollektive Einsatz der Stimme nunmehr auf den chorischen Gesang beschränkt. Damit markiert das Frankenbur23 Möller 1936: 6. 24 Euringer 1933: 8.
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ger Würfelspiel formgeschichtlich jenen Bruch in der nationalsozialistischen Kulturpolitik, auf den Brechts eingangs zitiertes Sonett hindeutet.
F ORMPROBLEMATIK Das Sprechchorverbot zeugt ebenso wie Möllers Auftragsarbeit von der gewichtigen Rolle, die die NS-Propaganda der sprechenden Figur als Mittel volksgemeinschaftlicher Darstellung zuschreibt. Zugleich offenbart es die Formproblematik kollektiven Sprechens im Nationalsozialismus: Im Gegensatz zur dramatischen Repräsentation der protagonistischen Figur, die innerhalb des Guckkastens erscheint, als sei sie aus Fleisch und Blut, exponiert der Thing- als Sprechchor immer schon das allegorische25 Moment volksgemeinschaftlicher Darstellung. Der kollektive Sprechakt verweist gerade durch seine theatrale Rahmung auf die szenische wie akustische Herstellung der sprechenden Kollektivfigur und damit auf den Fiktionscharakter der ‚einstimmigen‘ Rede im Namen der Volksgemeinschaft. Offenbar zeigt sich dieser Fiktionscharakter in den frühen Thingspielen gerade dann zu aufdringlich, wenn das gemeinsame Sprechen allzu sehr holpert; denn genau daran entzündet sich die zunehmende Dilettantismus-Kritik der Parteigenossen.26 Der Chor spricht – wie es Ulrike Haß einmal mit Blick auf Schleef formuliert hat – nie aus einem Mund.27 Und weil der Sprechchor also immer schon die performative Verfasstheit der fingierten persona offenlegt, wird er bereits in den brechtschen Chorexperimenten der Lehrstückphase, mithin vor dem Thingspiel, als reflexive Figur des Figurierens eingesetzt. Der in der Maßnahme auftretende Kontrollchor ist entsprechend gerade nicht identisch mit der Partei als solcher; und die chorische Rede der Genossen wird als uneigentliche vorgeführt.28 Grundfrage der Maßnahme ist im Unterschied zum Frankenburger Würfelspiel, inwiefern sich der
25 Zum seit Benjamins Arbeit zum Trauerspiel rehabilitierten Begriff des Allegorischen vgl. Haverkamp/Menke 2000. 26 Hinsichtlich der technischen Problematik vgl. Ketelsen 2007. 27 Siehe Haß 2000: 158; siehe auch Lehmann 1999: 235. 28 Zum uneigentlichen Sprechen vgl. Horn 2001.
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Partei mit den „tausend Augen“29, die mehr sieht als zwei, überhaupt eine Stimme, ein Gesicht verleihen lässt: „Wer aber ist die Partei?“30 In Schleefs eingangs genannter Puntila-Inszenierung wird diese Frage nach der Figuration des Kollektivs fortgeschrieben, indem sie in einer Wendung gegen den späten Brecht die protagonistische Knechtsgestalt, also die Stellvertreterin des Kollektivs, ins Chorische übersetzt. Dabei wird ihr der Anstrich souveränen Auftretens permanent entzogen. Die (Uni-)Formierung der brüllenden Mattis kippt immer wieder in den Auftritt einer nackten, durcheinander bellenden Meute. Und Polleschs zu Beginn genannte, an Schleef anknüpfende Arbeit reakzentuiert die Entkopplung von persona und Körper noch einmal, indem sie permanent das Problem, den Chor als Person zu adressieren, in Szene setzt. Der Chor wird von Pollesch als Figur präsentiert, die sich dem dramatischen Dialog und dem auf einen Augenpunkt ausgerichteten Blick entzieht. Im Widerstand gegen die Beschränkungen dramatischer Repräsentation und ihrer zentralperspektivischen Organisation korrespondiert das nationalrevolutionäre Sondermodell eines Theaters der Massen in der Tat mit dem brechtschen Lehrstück oder den chorischen Experimenten im Gegenwartstheater. 31 Freilich ist die dramaturgische Funktion des Sprechchors im frühen Thingspiel – anders als in den genannten Arbeiten Brechts, Schleefs oder Polleschs – keine reflexive; sie wird, wie sich bei Euringer deutlich zeigt, dem Modell der Liturgie entwendet. Im Thingspiel geht es nicht um die Exposition, sondern um die Überwindung des Als-Ob – also gerade um die Verstellung des Allegorischen. Aber das Sprechchorverbot und die gänzlich veränderte Rolle des Chors im Frankenburger Würfelspiel deuten auch auf die allmähliche Einsicht des Propagandaapparats in ein Missverständnis hinsichtlich der Form und des Funktionierens kollektiver Rede hin: Dass der Sprechchor 1936 untersagt wird, mag auch damit zusammenhängen, dass die Chorfigur noch in ihrem formierten Auftritt die von Brecht gebrandmarkte „Theatralik des Faschismus“32, die Personalisierung von Politik, strukturell unterläuft – jene Theatralik also, die ‚den Führer‘ als souveränen Repräsentanten des volksgemeinschaftlichen Subjekts dramatisiert und im propagandistischen Filmdrama der nationalsozialistischen Massenkultur fortlebt.
29 Brecht 1988, GBA 3: 120. Dies im Unterschied zu Reichls totalitarismustheoretischer, formvergessener Gleichsetzung von Lehrstück und Thingspiel (Reichl 1988). Zur Kritik an der metaleptischen Projektion auf das von den Nazis zitierte Material vgl. mit Blick auf die Arbeiterkulturbewegung Alkemeyer 1996. Vgl. auch Warstat 2005 im Gegensatz etwa zu Eichberg et al. 1977. 30 So der Junge Genosse in: Brecht 1988, GBA 3: 119. 31 Vgl. etwa Budde 1934. 32 Brecht 1993, GBA 22: 561-569.
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Denn anstelle der Fiktion des sprechenden und ansprechbaren Gesichts liefert der Sprechchor den Ausblick auf die Ungestalt des volksgemeinschaftlichen Subjekts, mithin auf die Kehrseite der (Kollektiv-)Figur, und verweist zugleich auf die Übertragungsleistung, die der Personalisierung von Volkes Stimme durch die Figur des Souveräns zugrunde liegt. Der formale Widerspruch der Chorfigur zur nationalsozialistischen Essenzialisierung der Volksgemeinschaft trägt daher möglicherweise mit zur Demontage des Thingspiels bei. Als ornamentaler Bewegungschor existiert die Figur der Volksgemeinschaft im Massentheater fort. Aber die unglückliche Verbindung von sprechender Figur und chorischem Auftritt, die szenisch wie akustisch die Vorstellung vom souveränen Sprechakt und der Einstimmigkeit des volksgemeinschaftlichen Subjekts subvertiert, wird 1936 offiziell gelöst: „’s ist schlecht für ihn, wenn ihr im Sprechchor sprecht / Und gut für euch, Genossen: er hat recht.“33
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33 Brecht 1993, GBA 14: 327.
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„Der Golgathaweg der Arbeiterklasse“ Einar Schleefs Neuformulierung der Tragödie C HRISTINA S CHMIDT
In seiner Untersuchung Theater und Mythos über die Konstitution des Subjekts in der antiken Tragödie1 arbeitet Hans-Thies Lehmann nicht zuletzt gegen das idealistische Missverständnis des Subjekts als einem autonomen, handlungsmächtigen, sich selbst gewissen Individuum. Angesichts einer tragischen, weil ausweglosen, nicht handhabbaren Situation erfahre sich das Subjekt im Diskurs der antiken Tragödie vielmehr in seiner Ohnmächtigkeit. Ästhetisch erweise sich diese für das Subjekt konstitutive Erfahrung in der Bewusstwerdung des Gesehenwerdens, des Objekt-Seins, der Abhängigkeit, im Ausgesetztsein des einzelnen Körpers auf der Bühne, im Schweigen des Protagonisten und nicht zuletzt im Echo der protagonistischen Klage in der Vielstimmigkeit des Chors. Das Subjekt, das sich hier konstituiert, ist, so Lehmann, weder personale Identität noch das Substrat des logischen Bewußtseins und seiner Synthesis, noch auch moralisches Freiheits- und/oder Verantwortungsbewußtsein. Mit dem Begriff Subjekt beschreiben wir vielmehr ein Bewußtsein von sich selbst, das untrennbar ist von einer Beziehung auf die Instanz eines ‚Anderen‘ und sich in der Tragödie zu erkennen gibt als Objektsein, Opfersein, Abhängigkeit und Angewiesenheit auf diese andere Instanz.2
Das Subjekt der Tragödie als ein – im modernen Sinn – ‚autonomes‘ Individuum erweist sich somit als eine idealistische Fiktion. Genau hierin, in einer nichtidealistischen Auffassung des Subjekts, begründet sich die von Lehmann konstatierte (verborgene) Linie vom ‚prädramatischen‘ Theater der Tragödie zum postdramatischen Theater der Gegenwart. 1
Lehmann 1991.
2
Lehmann 1991: 129.
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In der jüngeren Vergangenheit hat sich der Autor und Regisseur Einar Schleef (1944-2001) am deutlichsten und nachhaltigsten auf die antike Tragödie bezogen. In seinem Essay Droge Faust Parsifal beschreibt Schleef die Konfliktsituation und Bühnenform der antiken Tragödie als Szene „Vor dem Palast“3. Vor dem Palast ist der tragische Protagonist zwischen Skene und Orchestra ausgesetzt und begründet damit das Proszenium als Un-Ort – in der gekappten Verbindung zum Chor sowie zur Skene, die als Machtzentrum (Palast) definiert ist. Im Theater der Moderne, das sich in vielfacher Weise auf die Tragödie bezieht, macht Schleef einen entscheidenden Bruch aus, den er die „Umkehrung der antiken Konstellation“ nennt: Nicht mehr die Einzelfigur sei jetzt die ausgestoßene Figur, deren Opferung bevorstehe, sondern der Chor. Im Vorwort zu Droge Faust Parsifal skizziert Schleef diese Bewegung der Umkehrung, die er im Theater Gerhart Hauptmanns ausmacht, in wenigen Sätzen: In Hauptmanns Webern erfährt der Chor, die Weber, eine neue Deutung, eine moderne. Obwohl Hauptmann im Stoff historisch zurückgeht, der Chor wird zum Ausgestoßenen, die Umkehrung der antiken Konstellation. Ödipus ist der Chor-Ausgestoßene, konträr stößt Dreißiger den Chor aus.4
Schleef beschreibt diese „Umkehrung der antiken Konstellation“ als „Neudefinierung des Opfers“5, welche die Form der nach-klassischen, modernen Tragödienarbeit kennzeichne. Hauptmanns Definition des theatralen Konflikts ergebe sich, so Schleef, aus der Definition der gesellschaftlichen Zustände, in denen er lebt. Die Menschenzusammenballung, die jetzt mit ‚Proletariat‘ bezeichnet wird, ist der neue Chor, der aber nicht die Herrschaft trägt, sondern, von ihr verstoßen, verheizt, sich irgendwo verstecken muß, sofort mit seinem Erscheinen auf der Bildfläche ‚pestkrank‘ ist.6
Mit dieser Umkehrung der Gewaltbewegung, die dem Opfervorgang inhärent ist, den Schleef als zentrale Problematik noch im Theater der deutschen Klassik definiert, werde auch die Figurenkonstellation radikal auf den Kopf gestellt: Wenn bei und nach Hauptmann nicht mehr der Einzelne als Opfer für eine zu gründende Gemeinschaft definiert sei – wie es Schleef noch an den Frauenfiguren Goethes, etwa Margarethe in Faust, und Wagners, so Kundry in Parsifal, analysiert –, sondern nun die vom Zentrum der Macht ausgeschlossene, „verstoßene“, von den Machthabern 3
Schleef 1997: 19, 265.
4
Schleef 1997: 12.
5
Schleef 1997: 12.
6
Schleef 1997: 12.
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„verheizte“ Masse in den dramatischen Vordergrund rücke, so folge daraus für die theatrale Ästhetik, dass die lange Zeit verdrängte Figur des Chors wieder zentrale Figur des Theaters werde. Somit hängt nach Schleefs Analyse die Wiederkehr des Chors mit dem Einzug der sozialen Thematik ins Theater zusammen, ja ist gar dessen notwendige Folge. In Schleefs letzter fertiggestellter Inszenierung Verratenes Volk7, die hauptsächlich mit Alfred Döblins Roman-Tetralogie November 1918 die Revolution 1918/19 thematisiert, wird die Frage nach dem Opfer im Hinblick auf die moderne „Umkehrung der antiken Konstellation“8 zentral. Döblins polyperspektivische Erzählung schildert die Ereignisse in den Wochen zwischen der Ausrufung der Republik und der Ermordung von Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg, indem Erzählperspektive und inhaltliche Fokussierung beständig wechseln. Schleefs Inszenierung konzentriert sich zum einen auf die Figur der Rosa Luxemburg, die als inhaftierte Intellektuelle und Politikerin porträtiert wird, sowie zum anderen auf die von Döblin geschilderten Massenversammlungen und Demonstrationen im Januar 1919 in Berlin. Die Inszenierung schildert den Fortgang und das Scheitern der Revolution im Wechsel hauptsächlich zwischen diesen Perspektiven, das heißt im Wechsel zwischen Einzelfigur und Chor, deren Verlautbarungen und Auftrittsweisen sich jedoch mehr und mehr durchdringen. Die zentrale, sowohl inhaltliche wie räumliche Bewegung der Inszenierung ist das Zurücktreten der Einzelfigur zugunsten des Chors, der mit Fortschreiten der Erzählung der revolutionären Ereignisse mehr und mehr zur Hauptfigur auf dem Theater wird. Die folgende Beschreibung einer Szene aus Verratenes Volk soll verdeutlichen, wie die von Schleef konstatierte „Umkehrung der antiken Konstellation“ für seine Suche nach einer neuen Form der Tragödie exemplarisch wird. Gegen Ende der Inszenierung stehen die beiden Protagonisten der Revolution, ‚Rosa Luxemburg‘ und ‚Karl Liebknecht‘, parallel zueinander auf einer (gedachten) Linie unter dem Eisernen Vorhang.9 Die Szene zeigt die beiden Figuren Anfang 1919 in ihren Versteckwohnungen bei der Zeitungslektüre. Sie diskutieren ihre Standpunkte und blicken aus der Perspektive nach der Revolution auf die vergangenen Ereignisse. Schleefs Textfassung zitiert mit Döblins Erzählung aus Artikeln von Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht, die im Januar 1919 in der Roten Fahne erschienen sind. „Die Ordnung herrscht in Berlin“10 titelt Luxemburg am 14. Januar. Der Titel nimmt Bezug auf ein gleichnamiges Flugblatt der Regierung Ebert/ 7
UA: 29.5.2000, Deutsches Theater Berlin.
8
Schleef 1997: 12.
9
In Schleefs „Formenkanon“ sind sie schon durch diesen szenischen Ort als Opfer markiert (siehe Schleef 1997: 465).
10 Luxemburg 1974b.
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Scheidemann, das den Sieg über die Aufständischen als Wiederherstellung der Ordnung verkündet. „Trotz alledem!“ 11 betitelt Karl Liebknecht am 15. Januar seinen Artikel, in dem in gleichsam theologischem Vokabular die Niederlage der Revolution als Ankündigung ihrer Wiederkunft definiert wird.12 Das Gespräch auf dem Theater, in dem die Artikel zitiert werden, thematisiert vor allem die Verantwortlichkeit für die revolutionäre Niederlage und die zahlreichen Toten der Kämpfe um das besetzte Zeitungsviertel und das Polizeipräsidium. Nachdem sie sich in zuvor erschienenen Artikeln bereits mit dem „Versagen der Führer“13 auseinandergesetzt hatte, fragt Luxemburg hier kritisch, ob die Januarkämpfe, hinsichtlich der von ihr konstatierten „allgemeinen Unreife der deutschen Revolution“14, nicht überhaupt ein Fehler gewesen seien. Letzten Endes verteidigt sie jedoch die Spontaneität der Aufstände und entwickelt eine Dialektik des Siegs der Revolution im historischen Durchgang durch ihre Niederlagen. Sie beharrt jedoch auf dem „Versagen der Führer“, das sie in dem theatralen Gespräch vor allem auch ‚Karl Liebknecht‘ vorwirft. Die Konfrontation zwischen den beiden Figuren gipfelt auf dem Theater in einem Satz ‚Luxemburgs‘, der auf Liebknechts Artikel „Trotz alledem!“ verweist, welcher in Döblins Erzählung nicht explizit zitiert wird. So ‚Luxemburg‘ in Schleefs Inszenierung: „Das ist dein Golgathaweg der Arbeiterklasse!“15. Mit der Einfügung dieses Satzes verknüpft die Inszenierung die in der Szene diskutierte Beurteilung der revolutionären Niederlage ausdrücklich mit der Frage nach dem Opfer, denn in Liebknechts Artikel vom 15. Januar 1919 heißt es vollständig: „Noch ist der Golgathaweg der deutschen Arbeiterklasse nicht beendet – aber der Tag der Erlösung naht.“16 Mit der Einfügung des Golgatha-Zitats in die Szene stellt sich nicht nur die Frage, wer hier geopfert wird und für wen, sondern auch, in welcher Beziehung Arbeiterklasse und Einzelner im Kontext der quasi heilsgeschichtlichteleologischen Erzählung des kommenden Siegs des Sozialismus stehen. In seinem Artikel „Trotz alledem!“ pflichtet Liebknecht zunächst Luxemburgs Analyse bei, dass die revolutionäre Niederlage eine vorläufige sei. Dann jedoch nimmt der Text eine bemerkenswerte Wende, indem er die besiegten Kämpfer des Januar 1919 in einen weiter gefassten ideellen Kontext stellt: Indem sie für das „edelste Ziel der leidenden Menschheit“ gekämpft hätten, das nicht nur materielle, sondern auch geistige Erlösung sei, würden sie zu Vorkämpfern gerade dieser zukünftigen Erlösung, deren notwendiges Kommen im Folgenden dargelegt wird. Das 11 Liebknecht 1974. 12 Ausführlich analysiert werden diese anspielungsreichen Texte und deren Funktion und Bedeutung in Schleefs Inszenierung in: Schmidt 2010. 13 Luxemburg 1974a. 14 Luxemburg 1974b: 533. 15 Schleef o.J.: 61. 16 Liebknecht 1974: 713.
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„Ziel“ selbst, um das blutig gerungen worden sei, wird als ein „Heiliges“ bezeichnet. Das darum vergossene „Blut“, mithin die Opfer auf dem Weg zur Erringung dieses Ziels, seien daher selbst „geheiligt“. Das Blut der Opfer wird als „Drachensaat“ für die gegenwärtigen Machthaber definiert, deren Sieg somit als vorläufig gelten müsse.17 Die Dialektik des durch Niederlagen vorwärtsschreitenden Siegs der Revolution nähert sich in dieser Kontextualisierung – mit der Heiligung der Opfer durch das Blut derselben – einer quasi heilsgeschichtlichen Erzählung an. Den gegenwärtigen ‚Siegern‘, so Liebknecht weiter, bliebe nur mehr eine „kurze Galgenfrist“, bis sie „am Pranger der Geschichte“ stünden und somit deren hier gezeichneter Verrat offensichtlich und öffentlich verkündet werde. Denn die vorgeblichen Sieger – das ist die von Ebert geführte MSPD-Regierung – würden sich durch ihren offenkundig werdenden Verrat als „Judasse“ erweisen: „Nie waren solche Judasse in der Welt wie sie, die nicht nur ihr Heiligstes verrieten, sondern auch mit eigenen Händen ans Kreuz schlagen.“18 Bemerkenswert ist die in diesem Bild enthaltene Umkehrung: Anders als in der christlichen Erzählung, nach der Jesus für die zukünftige Erlösung der Menschen stirbt, wird hier nicht ein Einzelner für das Volk (der Gläubigen) geopfert, sondern das Volk selbst, die verratene Arbeiterklasse! Liebknechts Text mündet in eine Gegenüberstellung von „Kreuz“ und „Jüngstem Gericht“ – also gegenwärtiger Opferung der Arbeiterklasse durch ihre Verräter zum einen und der Ankündigung einer überzeitlichen Gerechtigkeit, die sich in der metaphysisch konnotierten Verurteilung der Schuldigen manifestiert, zum anderen: „Noch ist der Golgathaweg der deutschen Arbeiterklasse nicht beendet – aber der Tag der Erlösung naht. Der Tag des Gerichts für die Ebert-Scheidemann-Noske und für die kapitalistischen Machthaber“. Zum Schluss betont Liebknecht noch einmal die überindividuelle Qualität dieser Zukunft: „Und ob wir dann noch leben werden, wenn es erreicht wird – leben wird unser Programm; es wird die Welt der erlösten Menschheit beherrschen. Trotz alledem!“ 19 Dieser Glaube an die überindividuelle und überzeitliche Wirksamkeit der Idee der Revolution als endgültiger Befreiung der Menschheit, der in Liebknechts Artikel zum Ausdruck kommt, wird in Schleefs Inszenierung nachhaltig in Zweifel gezogen. In der Szene des letzten Gesprächs der Protagonisten in Verratenes Volk wird nach dem Hinweis ‚Luxemburgs‘ auf den Artikel Liebknechts – „Das ist dein Golgathaweg der Arbeiterklasse!“ – ein Chor von der Hinterbühne hörbar, der wie ein Echo ‚Luxemburgs‘ zweimal singend wiederholt: „Der Golgathaweg der Arbeiterklasse“. Dieses chorische Echo des Liebknecht-Zitats ist selbst wiederum ein musikalisches Zitat: Der Satz des Chors wird auf die Melodie der Anfangsund Endzeile eines Rezitativs aus Bachs Matthäus-Passion gesungen. Dieses Alt17 Liebknecht 1974: 710. 18 Liebknecht 1974: 711 . 19 Liebknecht 1974: 713.
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Rezitativ mit dem Titel „Ach Golgatha“ folgt der Schilderung der Kreuzigung durch Evangelisten und Chor und beklagt den Tod Jesus’. Die „Schimpflichkeit“ des Kreuzestodes tritt hier antithetisch in Gegensatz zur „Herrlichkeit“ des Menschheitserlösers: Ach Golgatha, unselges Golgatha! Der Herr der Herrlichkeit muss schimpflich hier verderben, Der Segen und das Heil der Welt Wird als ein Fluch ans Kreuz gestellt. Der Schöpfer Himmels und der Erden Soll Erd und Luft entzogen werden. Die Unschuld muss hier schuldig sterben, Das gehet meiner Seele nah; Ach Golgatha, unselges Golgatha!20
In Schleefs Inszenierung wiederholt der auf der Szene nicht sichtbare Chor die Melodie der Anfangs- und Endzeile des Golgatha-Rezitativs. Der Text des Chor-Satzes „Der Golgathaweg der Arbeiterklasse“ zitiert sowohl Schleefs Luxemburg-Figur, und somit Liebknechts Artikel „Trotz alledem!“, als auch Bachs Matthäus-Passion. Mit der Übernahme der Rezitativ-Melodie wird zunächst die Form der Klage aufgerufen, wie sie in Bachs Passionen auftritt. Diese Form der bei Bach von der Einzelstimme vorgetragenen Klage wird hier aber von der Chor-Figur übernommen, was den Status der Klage wesentlich verändert. Die chorische Übernahme von Bachs Klagefigur stellt in der stimmlichen Potenzierung zuerst eine Vervielfältigung der Klage dar. Diese formale Vervielfältigung der Klage korrespondiert auch inhaltlich mit der Pluralität der beklagten Figur: Die Chor-Klage bezieht sich explizit auf die Arbeiterklasse. Diese befinde sich, obzwar der „Tag der Erlösung“ nahe, wie Liebknecht schreibt, „noch“ auf dem „Golgathaweg“.21 Das chorische Zitat des BachRezitativs streicht diese messianische Ankündigung der Erlösung, die bei Liebknecht die notwendig kommende Revolution ist. Mit der chorischen Umwendung des Klage-Rezitativs steht der Aspekt der Opferung in Liebknechts Zitat im Vordergrund. Die Vielstimmigkeit der Klage rückt auf der Folie des Bach-Rezitativs die von Liebknecht vorgenommene Umkehrung der Kreuzigungsszene in den Blick: Nicht der Einzelne wird hier als (geheiligtes) Opfer gezeigt, sondern die plurale Figur der Arbeiterklasse. Das von der Chor-Klage herausgestellte Skandalon ist gerade diese Umkehrung der Opferkonstellation. An die Stelle der Ankündigung der Erlösung – die im Gegensatz zu Liebknechts Text in Bachs Golgatha-Rezitativ 20 Johann Sebastian Bach: Matthäus-Passion. Satz 59 (NBA). 21 Liebknecht 1974: 713.
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abwesend bleibt – ist der Gestus der Frage getreten. Genau wie die Alt-Stimme im Bach-Rezitativ beharrt auch Schleefs Chor mit der wiederholten Nennung des Namens „Golgatha“ – also der Hinrichtungsstätte, wie der Evangelist in der MatthäusPassion übersetzt22 – auf der Frage nach dem Opfer, das in Verratenes Volk die geopferte Arbeiterklasse ist. So zieht das chorische Echo des Liebknecht-Zitats auf der Folie des Bach-Rezitativs die Messianizität des sozialistischen Erlösungsgedankens, der in Liebknechts Artikel in post-theologischer Terminologie theatralisch entfaltet wird, radikal in Zweifel. Unter dem Gesichtspunkt der Grundierung der Einzelfigur durch den Chor wird die Frage nach dem Opfer insofern ausgeweitet, als die Opferung von Chor und Einzelnem in einem reziproken Verhältnis stehen und nicht voneinander abgelöst betrachtet werden können. Die Szene der verfolgten Politiker, die, wie Döblins Erzählung schildert, ihrem unvermeidlichen Tod entgegensehen, indem sie ihre nahende Ermordung vorausahnen, stellt mit dem chorischen Echo auf das LiebknechtZitat die Frage, wie und ob auf der Basis der oder nach der Opferung der Arbeiterklasse beziehungsweise des Volks überhaupt eine wie auch immer geartete neue Gesellschaft begründet werden kann. Mit der Position der Klage, die der Chor in Verratenes Volk einnimmt, wird nicht nur die Opfer-Terminologie, in der Liebknecht die messianische Geschichtsauffassung darlegt, untergraben, sondern die Opferfigur selbst radikal in Frage gestellt. Das beschriebene, zur chorischen Klage umgeformte Echo auf das LiebknechtZitat korrespondiert mit Schleefs These von der „Umkehrung der antiken Konstellation“23, insofern diese die in der sozialen Problematik bestehenden Grundkonflikte des modernen Theaters bezeichnet. Mit der von Schleef konstatierten Umkehrung der Opferfigur scheint die Form der Klage geradezu notwendig chorisch zu werden – oder sich ihrer chorischen Traditionslinie zu erinnern. Mit der Zuspitzung der Frage nach dem Opfer, beziehungsweise mit der radikalen Infragestellung der Opferfigur überhaupt, tendiert der Chor in Verratenes Volk dazu, nicht nur die Position der Klage, sondern über weite Teile auch die gesamte Erzählung zu übernehmen – so in Berichten und Szenen von Krieg und Revolution, die weite Teile der Inszenierung darstellen. Zudem erinnert die häufige Einfügung von Chor-Liedern oder ganzer Lied-Szenen in die Aufführung strukturell an den stark vom Chor geprägten und auf diesen hin konzipierten Aufbau der Passionen Bachs. Hinsichtlich der von Schleef für die neue, (post-)moderne Tragödie konstatierten Umkehrung der antiken Figuren- und Konfliktkonstellation erscheint die szenische Bedeutungszunahme der Chor-Figur in Verratenes Volk also nicht zuletzt als ästhetische Konsequenz aus der politischen Zuspitzung des Konflikts, der in der Inszenierung mit der Thematisierung der Opfer-Frage ausgesprochen wird. 22 Siehe Johann Sebastian Bach: Matthäus-Passion. Satz 58a (NBA). 23 Schleef 1997: 12.
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Gleichwohl zeigt der Schluss der Inszenierung noch einmal, dass die Schicksale von Chor und Einzelfigur nicht getrennt voneinander betrachtet werden können: Nach einem vom großen Chor gesungenen Dies irae24, das den Tag des Jüngsten Gerichts ankündigt, gehen die Chormitglieder zur rückseitigen Brandmauer des Theaterraums, wo sie, mit erhobenen Händen und den Rücken zum Publikum, stehen bleiben. Als sich die Chor-Figur, die zuvor gleichsam als Sichtschranke vom linken zum rechten Portal an der Bühnenrampe stand, in der Bewegung auflöst und nach hinten geht, sieht man die beiden Einzelfiguren ‚Luxemburg‘ und ‚Liebknecht‘ bewegungslos am Boden liegen. Die chorische Geste der wie zur Erschießung erhobenen Arme verknüpft die Erzählung vom Tod der Revolutionsprotagonisten noch einmal mit dem Chor. Auch die „Umkehrung der antiken Konstellation“, die für Schleef Grund und Anlass für die Suche nach einer neuen Form der Tragödie ist, löst den Zusammenhang zwischen Chor und Einzelfigur/Einzelnem nicht auf, sondern stellt ihn, im Gegenteil, ins Zentrum des Theaters. Die „Abhängigkeit“, das „Objektsein“, „Opfersein“ des Einzelnen, der sich im „Diskurs der antiken Tragödie“ als Subjekt konstituiert,25 wird in Schleefs chorischem Theater deutlich herausgestellt. In diesem Sinne kann Schleefs Theater als radikal subjektiv aufgefasst werden. Was, wenn das Theater der Tragödie, sei es die antike oder der Versuch einer (post-)modernen Neuformulierung der Tragödie, überhaupt radikal subjektiv wäre, im Sinn von Hegels Beschreibung des negativen Zugs der Einbildungskraft als „Nacht der Welt“26, der, wie Slavoj Žižek schreibt, dunklen Seite der Subjektwerdung, die durchschritten werden muss wie ein Traum/a? So schreibt Hegel 1805/06: Der Mensch ist diese Nacht, diß leere Nichts, das alles in ihrer Einfachheit enthält – ein Reichtum unendlich vieler Vorstellungen, Bilder, deren keines ihm gerade einfällt –, oder die nicht als gegenwärtige sind. Diß die Nacht, das Innre der Natur, das hier existirt – reines Selbst, – in phantasmagorischen Vorstellungen ist es rings um Nacht, hier schießt dann ein blutiger Kopf, – dort eine andere weisse Gestalt plötzlich hervor, und verschwindet ebenso – Diese Nacht erblickt man wenn man dem Menschen ins Auge blickt – in eine Nacht hinein, die furchtbar wird, – es hängt die Nacht der Welt hier einem entgegen.27
24 Dt.: „Tag des Zorns“, musikalische Sequenz, seit dem 13. Jh. fester Bestandteil der Totenmesse der römischen Liturgie. 25 Lehmann 1991: 129. 26 Žižek 2010: 44. 27 Hegel 1976: 187. Hervorhebung im Original.
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L ITERATUR Döblin, Alfred : November 1918. Eine deutsche Revolution. Vollständige Ausgabe in 4 Bänden. Bd. 1 Bürger und Soldaten, Bd. 2 Verratenes Volk, Bd. 3 Heimkehr der Fronttruppen, Bd. 4 Karl und Rosa. München: dtv 1978. Hegel, Georg Wilhelm Friedrich: Gesammelte Werke Bd. 8, Jenaer Systementwürfe III. Naturphilosophie und Philosophie des Geistes. Vorlesungsmanuskript zur Realphilosophie (1805-1806). Hamburg: Felix Meiner Verlag 1976. Lehmann, Hans-Thies: Theater und Mythos. Die Konstitution des Subjekts im Diskurs der antiken Tragödie. Stuttgart: Metzler 1991. Liebknecht, Karl: „Trotz alledem!“ (Die Rote Fahne, Nr. 15 [15.01.1919]), in: ders.: Gesammelte Reden und Schriften. Bd. 9, Mai 1916 bis 15. Januar 1919. Berlin: Dietz 1974, 709-713. Luxemburg, Rosa: „Das Versagen der Führer“ (Die Rote Fahne, Nr. 11, [11.01.1919]), in: dies.: Gesammelte Werke. Bd. 4, August 1914 bis Januar 1919. Berlin: Dietz 1974a, 523-526. Luxemburg, Rosa: „Die Ordnung herrscht in Berlin“ (Die Rote Fahne, Nr.14, [14.01.1919]), in: dies.: Gesammelte Werke. Bd. 4, August 1914 bis Januar 1919. Berlin: Dietz 1974b, 531-536. Schleef, Einar: Droge Faust Parsifal. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1997. Schleef, Einar: Verratenes Volk. Spielfassung. Computertyposkript. Einar SchleefArchiv, Akademie der Künste Berlin, o. J., Sign. 2139. Schmidt, Christina: Tragödie als Bühnenform. Einar Schleefs Chor-Theater. Bielefeld: transcript 2010. Žižek, Slavoj: Die Tücke des Subjekts. Frankfurt am Main: Suhrkamp 2010.
Ein Chor, der um seine (Ver-)Fassung ringt Roland Schimmelpfennigs Idomeneus in der Inszenierung von Jürgen Gosch S TEFAN T IGGES Jetzt ist in der Gruppe Alles Handlung, Alles Bewegung [...].1 Äußerst wichtig ist dieses Kunstwerk durch die Darstellung des Moments. Wenn ein Werk der bildenden Kunst sich wirklich vor dem Auge bewegen soll, so muß ein vorübergehender Moment gewählt seyn [...].2
Die letzte Inszenierung von Jürgen Gosch, die am 28. April 2009 am Deutschen Theater in Berlin Premiere hatte, erstaunt vielfach und löst Fragen aus, von denen ich einige aufgreifen und im Folgenden dazu erste Arbeitsthesen formulieren möchte. Nur wenige Tage später und kurz vor dem Tod Jürgen Goschs fragt sich Roland Schimmelpfennig am gleichen Ort in seiner Laudatio für den Regisseur und dessen Bühnenbildner Johannes Schütz anlässlich der Verleihung des Theaterpreises Berlin der Stiftung Preußische Seehandlung: Also: Was jetzt? Jetzt nach Hier und Jetzt und Idomeneus – denke ich, man müsste in einem nächsten Schritt noch einmal versuchen, wirklich einmal auf Handlung weitgehend zu verzichten. Jetzt könnte man – ohne dabei zu verkrampfen – die Sprache fast vollkommen im Hintergrund lassen, es gäbe keine Erzählung, kein Epos, keine Zeitsprünge, wenig Handlung. Vielleicht gar keine. Stattdessen: Bewegung. Ich stelle mir ein Stück vor, in dem sich alles
1
Herder 1884: 280, zit. in Schmälzle 2006: 47.
2
Goethe 1789, zit. in Schmälzle 2006: 60.
530 | S TEFAN T IGGES die ganze Zeit nur um einen einzigen, sehr langen Moment dreht: So wie in einem Film von Antonioni [...].3
Schimmelpfennig, dessen Theaterstücke von Gosch zwischen 2001 und 2009 zehn Mal (ur-)aufgeführt wurden, spricht – noch unmittelbar von der letzten Arbeitserfahrung geprägt – von einer gemeinsamen „Aufbruchsstimmung“, deren Radikalisierungsprozess sich bereits, so die These, spürbar in der Inszenierung abzeichnet und die gegenwärtige Theaterpraxis und deren Theoriebildung gleichermaßen herausfordert. Gefragt wird entsprechend danach, wie sich diese als ästhetischer FortSchritt in Form einer Ästhetik der Reduktion bzw. Verdichtung in der Spielvorlage, der Inszenierung sowie in der Bühnenraumkonzeption inhaltlich und formal ausdrückt.4 Dabei soll sich zeigen, dass die Inszenierung als „szenischer Essay“ 5 bzw. „Denk-Spiel-Raum“6 verstanden werden kann, welche aus einem „Theater der Vorstellungskraft“ (Schimmelpfennig) hervorgehen, und von einem chorisch geprägten Sprecherkollektiv begründet wird, dessen Mitglieder als fragile Subjekte sprechend Halt in der zusammenwachsenden als auch auseinanderfallenden Gemeinschaft suchen und individuell wie kollektiv um ihre (Ver-)Fassung ringen.
D IE S PIELVORLAGE Was ist, angesichts des Wirklichen, die Vermittlerrolle der Phantasie?7
Roland Schimmelpfennig befragt in seiner Überschreibung des Antike-Stoffes, die 2008 von Dieter Dorn am Münchener Cuviliestheater uraufgeführt wurde – am selben Ort erlebte 1781 Mozarts gleichnamige Oper Idomeneo (Libretto: Giambattista Varesco) ihre Uraufführung – zentrale Motive des von Homer und Vergil unter-
3
Vgl. die in Theater heute (06/2009) vollständig abgedruckte Laudatio von Roland Schimmelpfennig.
4
Kurz vor Probenbeginn bemerkt Schimmelpfennig in einem unveröffentlichten (Konzeptions-)Gespräch mit Jürgen Gosch und Johannes Schütz: „Also vielmehr kann man einem Text kaum vertrauen“ worauf Schütz erwidert: „Da kann man ihn nur noch vorlesen oder projizieren. – Mann kann es aber auch anders herum ausdrücken: Mehr kann man fast allen Theatermitteln nicht misstrauen“ (vgl. auch Tigges 2011: 221-244).
5
Lehmann 1999: 203-205.
6
Lehmann 1991: 31.
7
Bresson 2007: 111.
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schiedlich überlieferten Mythos des Königs von Kreta, die er immer wieder variierend durchspielt, verwirft, tragisch oder gut enden lässt und dabei mit Rück- als auch Vorausblenden spielt. Symptomatisch heißt es im Text, der gerade durch seine Suchbewegungen besticht – die Sprecher befragen immer wieder aus wechselnden Perspektiven den Mythos, anstatt miteinander in einen Dialog zu treten – und sich wiederholt bewusst widerspricht: DER ZWEITE MANN: So war es nicht. DIE FRAU: So ist es nicht gewesen. DER ERSTE MANN: Es ist so gewesen.8
Ungeklärt bleibt u.a., ob Idomeneus, dessen Schiff nach der Rückkehr aus dem zehnjährigen trojanischen Krieg vor der Küste Kretas als einziges von achtzig Booten dem Sturm trotzt, sein an sein Überleben gebundenes Versprechen einlöst und den ersten an Land erblickten Menschen, d.h. seinen Sohn Idamantes opfert. Oder ob der König sich selbst tötet, er nach seiner Verbannung nach Sizilien ins Exil geht und sein Widersacher Nauplios in dessen Abwesenheit seine Frau Meda „fickt“ 9, um seinen von Odysseus in Troya gesteinigten Sohn Palamedes zu rächen. Oder ob Nauplios überhaupt auf Kreta war und Idamantes mit der Tochter eines Fischers bzw. mit Elektra ein Kind gezeugt hat.10 Im Gegensatz zum Libretto der hochdramatischen und ohne Menschenopfer glücklich ausgehenden „heroischen Oper in drei Akten“, für die Varesco sechs Personen vorsah,11 bleibt in Schimmelpfennigs 18 Szenen der Verlauf und der Ausgang der Geschichte völlig offen. Dies sollte auf dramaturgischer Ebene aber nicht primär als Suspense-Technik gedeutet, sondern im Sinne Blumenbergs als eine re8
Schimmelpfennig 2007: 22. Die gleichen Repliken werden in der letzten Szene von „Ein Mann“ gebündelt und wiederholt.
9
Schimmelpfennig 2007.
10 Im Kontext von Nauplios heißt es entsprechend: EIN MANN: Und hier ist auch kein Nauplios gewesen, nie. EIN ANDERER MANN: Die ganze Sache. EIN DRITTER MANN: Der ganze Nauplios. ZWEI FRAUEN: Ein Gerücht, eine Erfindung, EIN MANN: Quatsch. ZWEI MÄNNER: Das ist Quatsch. EIN MANN: Oder? (Schimmelpfennig 2007: 30-31). 11 Neben Idomeneo, dem König von Kreta, treten bei Varesco noch sein Sohn Idamantes, Elektra (die Tochter von Agamemnon), Ilia (die Tochter des Primaos), Arbaces (Idomeneos Freund) sowie ein Oberpriester auf. Varesco motiviert in seinem Libretto neben der Frage des Menschenopfers vor allem das Liebesdrama um Idamantes, Elektra und Ilia. Am Ende heiratet Idamantes Ilia und wird zugleich vom Volk zum Nachfolger seines Vaters bestimmt (siehe Angermüller 2005: 475-530).
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flexive Arbeit am (steinbruchartigen) Mythos sowie als szenisch-struktureller Diskurs verstanden werden. Offen bleibt auch die Anzahl der (namenlosen) Protagonisten. Anstelle eines dem Stück vorangestellten Figurenverzeichnisses heißt es in den ersten Regieangaben schlicht: „Eine Gruppe von etwa zehn bis vierzehn Männern und Frauen. Es können auch mehr oder weniger sein.“12 Mit dieser programmatischen Setzung, die ein „standardisiertes Protagonistentheater“13 im Keim erstickt, entscheidet sich der Autor für die Form eines kollektiv geprägten, entdramatisierten Erzähltheaters, womit sich die Frage nach der Konstitution des Kollektiv- bzw. Ensemblesubjekts stellt, aber auch, inwieweit noch individuell skizzierte Figurenhülsen sprechend aus der zumeist chorisch agierenden Gemeinschaft heraustreten können. Entsprechend der tragisch bis tragisch-komisch anmutenden, zahlreichen Variationen seiner Mythen-Paraphrase variiert der Autor seine Sprecher-Gruppierungen immer wieder neu, womit der Chor(-Körper) kontinuierlich dynamisiert und (re-)konfiguriert wird. Das Prinzip der gleichgewichteten, in ihren Sprachbewegungen fein justierten Sprecher, für die Schimmelpfennig keine Auf- und Abgänge vorsieht und die er in ihrer Präsenz bereits im Vorfeld als sich gegenseitig kontinuierlich wahrnehmendes Kollektiv potenziert, bildet in Bezug auf die von Jürgen Gosch in den letzten Jahren entwickelte spezifische Ensemble-Präsenz sowie hinsichtlich der von Johannes Schütz entworfenen Raumästhetiken eine ideale Spielgrundlage, welche die Frage nach der gegenseitigen Befruchtung von Schreibpraxis, Spielpraxis und Szenographie umso bedenkenswerter erscheinen lässt.14 12 Schimmelpfennig 2007: 3. Entsprechend variieren die Sprecher-Fixierungen des Autors dann auch im Stück: „Wenige, verstreut“, „Andere Frauen“, „Fünf Verschiedene“, „Einer von ihnen“, „Eine Gruppe von Männern“, „Eine Gruppe von Frauen“, „Eine Gruppe“, „Viele“, „Einer“, „Zwei“ etc. Damit ist die Regie gefordert weibliche und männliche Stimmen auszuwählen, Konstellationen zu bestimmen, diese im Raum zu choreographieren und die vom Autor angebotenen Freiräume produktiv zu übersetzen. 13 Kurzenberger 2009: 91. 14 Im Kontext der permanenten Bühnenpräsenz des Ensembles, die Rainer Werner Fassbinder in dieser Form wohl erstmalig in der deutschen Theaterlandschaft in seinen Bremer Arbeiten (u.a. in Das Kaffeehaus [1969]) ästhetisch konsequent entwickelte, stellt sich die weiterzuverfolgende Frage, inwieweit dieser Einfluss von dem damaligen Ausstattungsleiter des Bremer Theaters Wilfried Minks auf dessen Schüler Johannes Schütz ausstrahlte bzw. dieser wiederum Jürgen Gosch mit seinen Raumordnungen in seiner Spielästhetik mit beeinflusste. Dabei ließen sich nicht nur die ästhetischen Verhältnisse von Regie und Ausstattung bei Gosch und Schütz genauer bestimmen, sondern durch exemplarische Spiegelungen (unter Berücksichtigung der Arbeiten Axel Mantheys bzw. der in Bremen begründeten Zusammenarbeit Mantheys und Goschs) auch der möglicherweise unterschätzte Dialog zweier zentraler Theateravantgardeströmungen neu vermessen.
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Schimmelpfennig fokussiert in Idomeneus am Beispiel des Menschenopfers die Frage, welchen Preis die eigene Rettung hat bzw. in welchem Sinne und mit welchen Konsequenzen die Vernichtung eines Familienmitglieds (Vater, Sohn, Tochter, Mutter) das eigene Überleben ermöglicht, womit grundlegende, um das Thema des Schreckens, der Schuld, der Liebe, der Endlichkeit sowie der Todesangst/des Todes kreisende Aspekte berührt werden. Dabei wird das zerbrochene bzw. zerspringende Mythenmaterial, das Schimmelpfennig – wie es im Text heißt – an der sich auflösenden Grenze der Zeitalter von Aberglauben und Vernunft vermisst, verdichtet, indem z.B. der Elektra-Stoff mit dem möglichen Schicksal von Idomeneus und Idamantes verknüpft wird: DIE FRAU: Treue und Anstand und Rache und Strafe. DER MANN: Alles hat Gründe. DIE FRAU: Und sie soll die Mutter umbringen, und er soll sich vom Vater umbringen lassen, und der Sohn sagt: DER MANN: Lieber Vater, bevor du mich umbringst, bringe ich dich um, und die Tochter sagt: DIE FRAU: Böse Mutter, bevor ich dich umbringe, bringe ich mich selber um.15
Wenig später wird die Problematik erneut aufgenommen und von z.T. anderen Sprechern weiterreflektiert, womit durch die neuen Blickwinkel sowohl die Konzentration bzw. das Reflexionsmoment unter den Sprechern als auch die Auseinandersetzung des Publikums, dem keine vormodellierten Identifikations-, Spielillusions- und Rollen- bzw. Figurenmuster angeboten werden, mit den aufgerufenen Fragen motiviert wird: DIE FRAU: Regeln, Gesetze. DER MANN: Treue und Anstand. Rache und Strafe. [...] EIN ANDERER MANN (DER ZWEITE): Und der Sohn sagt: Lieber Vater, bevor du mich umbringst, bringe ich dich um, denn ich will nicht sterben, EIN WEITERER MANN (DER DRITTE): und nun ist die Frage, wer stärker ist, DER ANDERE MANN: und wer mehr Übung hat, Erfahrung im Töten, im Kampf, DER DRITTE: ist eine Frage der Ausdauer, DER ZWEITE: der Zähheit, der Technik, des Gewichts, des Alters, DER DRITTE: der Heimtücke, der Feigheit und des Muts, der Größe: Und der Sohn sagt: DER ERSTE MANN: Lieber Vater, bevor du mich umbringst, bringe ich dich um, [...].16
15 Schimmelpfennig 2007: 57. 16 Schimmelpfennig 2007: 61-62.
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Auch wenn durch die Erzählalternativen und Erzählweisen ein gewisser Ironiegrad durchschimmert – an einer Stelle heißt es: DIE DREI MÄNNER: „Alles könnte gut sein, alles könnte anders sein, nur dass es so ist: am Ende [...]“17 – ist dieser nach der anfänglichen tödlichen Katastrophe, die als einzige als ‚wirklich‘ vorausgesetzt wird, tragisch grundiert. Er wirkt durch die nicht fixierbaren jeweiligen Endpunkte fort,18 womit ein anwachsendes tragisches Bewusstsein ins Spiel kommt, das speziell im Schlussmonolog (in der Inszenierung von Alexander Khuon gesprochen) kulminiert: EIN MANN: Das Schiff ist weg. Ich lebe noch, hier seht mich an, ich habe alles verloren, mein Kind, meine Frau, meine Heimat, meine Gefährten, meine Schiffe, ein Königreich, ich bin ein König gewesen, ich, ich werde, wenn ich dem Untergang entkomme, wenn ich den Strand Kretas jemals wieder erreiche, werde ich -, hier bin ich, ich lebe noch. Ich weiß, was ich bin, ich weiß, was ich bin, ich bin Idomeneus, siegreich und schiffbrüchig, ich hänge am Leben, ich hänge am Leben, und ich weiß, aber ich weiß, wohin die Reise geht: in das Grauen, in den Schmerz. 19 17 Schimmelpfennig 2007: 67. 18 Im Text heißt es u.a.: DREI, DIE MITEINANDER AUSKOMMEN MÜSSEN: Wie sollte, wie könnte, nach allem was geschehen ist, nach dem Krieg, nach dem Warten im trojanischen Pferd, nach dem Überleben und dem großen Töten, das Ende begreifbar sein? (Schimmelpfennig 2007: 8). 19 Schimmelpfennig 2007: 70-71. Aufgrund der fortgeschrittenen schweren Erkrankung von Jürgen Gosch erhielten diese Zeilen eine zusätzliche, sehr persönliche Konnotation, womit die Premiere, aber auch nachfolgende Vorstellungen, unter Extrembedingungen stattfanden, die die Schauspieler und das Publikum durchlebten und miteinander teilten. Dieser Umstand wurde in den Rezensionen auf unterschiedliche Weise beschrieben, wobei es auch zu groben Missverständnissen kam. So konstatierte ein Kritiker: „Am Ende von Schimmelpfennigs Text stehen die Worte: ‚Ich bin Idomeneus, und ich hänge am Leben, ich hänge am Leben.‘ In der Aufführung spricht Alexander Khuon diese Zeilen, und ihm und einem großen Teil des Ensembles rinnen die Tränen herunter. Es ist mittlerweile kein Geheimnis mehr, dass der Regisseur Jürgen Gosch sehr krank ist, und dass bei jeder seiner Inszenierungen die Furcht mitschwingt, es könnte die letzte sein. Es ist nun nicht wichtig, ob die kollektiven Tränen ‚gemacht‘ sind oder nicht (bei Khuon sahen sie eher gemacht aus, bei Margit Bendokat weniger): Doch sie tragen, zumal in dieser Massierung, das Mal des Kitsches. Da sie aber auf die existentielle Situation Goschs zutreffen, scheinen sie aus dem Bereich des Ästhetischen herauszutreten. Diese Tränen wollen authentisch sein und sich unantastbar machen. Und genau das hat dem Kritiker Widerwillen eingeflößt. Er hat diese Tränen – ohne jeden Vorwurf – als Lüge empfunden. Ein Ende ohne Tränen wäre ein Ende mit Schrecken gewesen. Ein Schrecken jedoch, den es auszuhalten gilt“ (vgl. Behrens 2009: o.S.).
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Schimmelpfennig lässt in Idomeneus nur wenig Platz für weitere Monologe und unterbindet durch Episierungsstrategien und ein bewusst löchrig gehaltenes Narrationsgewebe konventionelle dialogische Muster, deren verbleibende Ausläufer durch Störungen schnell an ihre Grenzen stoßen, wie es im 6. Bild der Fall ist, in dem EIN MANN den Kommunikationsmissstand gleich zwei Mal auf den Punkt bringt: „So kommt das Gespräch nicht in Gang.“20 Indem die Sprecher zumeist von ihrer Figuren-Last befreit werden und eine längerfristige Figuren-Kontur in den springenden Erzählfragmenten auch deshalb verhindert wird, weil die wiederholt in der dritten Person sprechenden ‚Figuren‘ bzw. Sprecher nur in Ausnahmefällen ihre eigene Geschichte erzählen und sich stattdessen immer neue, sich spiegelnde Sprecherkollektive bilden, die erzählend und kommentierend Position beziehen, eine steigende Dialogizität entfachen und dabei zu Dramaturgen (ihrer selbst) bzw. Reflexionspartnern des Publikums werden können, wachsen die unterschiedlichen Standpunkte des Ensembles zu einem (sprachlich) handelnden, d.h. vielstimmig sprechenden Kollektiv zusammen, das laut über seine (Ver-)Fassung nachdenkt, ein aufeinander angewiesenes Kollektiv, das sich untereinander sehr genau beobachtet, sich zuhört, sich widerspricht, sich in Frage stellt, aufgrund prekärer Vertrauensschübe mehr zusammen als miteinander sprechend auftritt, aber menschlich durch das Krisenbewusstsein (die permanent zur Disposition stehende Familie/Gemeinschaft) bzw. durch die anhaltende Extremsituation (Schuld-, Identitäts-, Überlebensfrage) zusammenwächst und sich gerade deswegen zunehmend kunstvoll entfaltet. Diagnostiziert Hans-Thies Lehmann für „die Konstitution des Subjekts im Diskurs der antiken Tragödie“, dass das Selbstbewusstsein beginne, indem der Mensch sich als Wesen erfahre, das gesehen werde, bzw. erkennt Lehmann in der Tatsache „Objekt eines Blickes zu sein die Voraussetzung für die Konstitution des Subjekts“, wobei er im Fall des die Bühne der Tragödie betretenden „abendländischen“ Subjekts ebenso auf die irrtümliche Vorstellung eines „autonomen Individuums“ hinweist, trifft dies grundsätzlich auch auf Idomeneus zu.21 Dagegen bestätigt sich in den chorisch geprägten Konstellationen von Schimmelpfennig die von Lehmann später ins Spiel gebrachte Position Jacques Lacans nur bedingt: „Was ich im Sprechen suche, ist die Antwort des anderen. Was 20 Schimmelpfennig 2007: 31. Eine Ausnahme bildet u.a. folgender Dialog: DIE FRAU: Du hast geschworen, den Sohn zu opfern? Unseren Sohn? DER MANN: Nicht den Sohn. Das erste Lebewesen, das mir am Strand begegnet – und war der Sohn. DIE FRAU: Das Kind – und jetzt? Ja, bring es um: Das ist der Preis. DER MANN: Der Preis wofür? DIE FRAU: Der Preis des Überlebens. Der Preis des Überlebens ist der Tod der Kinder, fick mich, ich kann dir neue Kinder schenken, bring den Jungen um (Schimmelpfennig 2008: 32-33). 21 Lehmann 1991: 130-131, 141.
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mich als Subjekt konstituiert, ist meine Frage.“22 Der Grund für eine Einschränkung liegt vor allem darin, dass die eine „Gruppe“ bildenden „zehn bis vierzehn Männer und Frauen“ bei Schimmelpfennig weniger selbst sprechen, d.h. eigenständig Fragen formulieren, als dass die Fragen vom Autor durch den Text bewegt werden, Umwege nehmen, indem sie von anderen Mitgliedern (chorisch) ausgesprochen und multipliziert werden, womit die internen und externen Kommunikationsstrukturen zwischen den Sprechenden und Hörenden (inkl. des Publikums) in ihrer Komplexität ausgebaut werden. Demzufolge erweist sich auch die Suche nach möglichen Antworten als noch schwieriger, wodurch zugleich für alle Beteiligten die individuelle, d.h. personenzentrierte Subjekt-Modellation erheblich brüchiger ausfällt und aufgrund des offenen Spannungsverhältnisses bzw. der Ungelöstheit oder Nicht-Fixierbarkeit die Aufmerksamkeit Richtung Kollektivsubjekt gelenkt wird, das darin potenziert wird, indem es diese Krisen miteinander teilt bzw. leibhaftig aushandelt. In Idomeneus wird der gravierend gesunkene individuelle Spiel- und Handlungsraum der einzelnen verunsicherten Subjekte gerade deswegen erfahrbar, weil der Autor seine Figuren stark ausbleicht und in sich ablösenden situativen Geschehensfolgen die Aufmerksamkeit immer wieder auf die sich just herstellenden Augenblicksaufnahmen richtet, diese jedoch durch das Öffnen von anderen/neuen Zeit-Räumen erfahrungsreich ausdehnt, womit die einzelnen ‚Figuren‘ zunehmend mit ihrer jeweiligen zusammenhängenden möglichen Vor- und Nachgeschichte konfrontiert und aufgeladen werden. Damit wird das Publikum gezwungen, sich im multiperspektivischen und fein orchestrierten Stimmengewirr Figurenkonturen selbst zu erarbeiten, verweigerte, ausgesprochene oder imaginierte Handlungen nachzuvollziehen, sich in divergierenden Zeit-Räumen im Hier und Jetzt zu bewegen, reflexiv in den (mythischen) Hörraum einzugreifen, einzelne gebrochene und über wechselnde Sprecher verhandelte Positionen in nicht-dramatischen Zwischenräumen eigenständig zusammenzusetzen, diese Figuren zuzuordnen sowie die Befindlichkeiten des Kollektivs zu ergründen. Obgleich Schimmelpfennig die Auslöschung der Figuren und damit deren Subjektabbau ästhetisch vorantreibt, stellt sich doch die Frage, inwieweit diese Form den Darstellern nicht auch eine neue spielerische Freiheit ermöglicht, die sie gleich doppelt herausfordert: zuerst in der Arbeit an einem Rollenverständnis, das nicht durch vorgefertigte Figuren und eine zementierte Fabel vorbelastet ist und eine andere Vorstellungskraft einfordert, und schließlich in einer Förderung des Zusammenspiel(en)s, womit das Ensemble kollektiver als zuvor die Spielräume seiner szenischen Präsenz ergründet und im Rahmen des gemeinsamen Aushandelns an Kontur gewinnt.
22 Lehmann 1991: 141. Vgl. auch Lacan 1995: 143.
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Dem Moment des Verlustes stünde dementsprechend auch ein ästhetischer und menschlicher Zugewinn gegenüber, der möglicherweise die von Schimmelpfennig in seiner Laudatio beschriebene „Aufbruchsstimmung“ mit-konstituiert – wenngleich sich dieser in Form des Kollektivs immer zwischen zwei Polen bewegt: „Was ist ein Kollektiv? Ein Kollektiv ist ein Traum mit Wahrheitswert. [...] Das Subjekt des Kollektivs bewegt sich auf der Trennscheibe zwischen Möglichem und Unmöglichem.“23
Abbildung 1: Idomeneus (Ensemble), Proben-Foto, Deutsches Theater Berlin, April 2009.
INSZENIERUNG
UND
B ÜHNENRAUM Ich lasse lieber alles über den Rand der Leinwand hinauslaufen, als die Formen einzuzwängen.24
Führt man sich nochmals zwei Grundvorstellungen von Jürgen Gosch vor Augen, dass alles spielbar sei, so lange es im Texte steht,25 und dass er versuche mit seiner
23 Steinweg 2009: 39. 24 Hughes 2007: 22. 25 Vgl. die bereits zitierte Laudatio von Roland Schimmelpfennig.
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Theaterarbeit nichts zu vermitteln, was über ihre Gegenstände hinausweist,26 und berücksichtigt die Position von Johannes Schütz, der für sich feststellt, dass er die Kondition brauche, Dinge nicht zu realisieren sowie das Ziel verfolge, „Ergänzungsenergien“ beim Publikum freizusetzen,27 und konfrontiert diese Auffassungen mit Schimmelpfennigs Credo, dass für ihn Spielen und Geschichte untrennbar zusammen gehören,28 so unterstreicht ihre letzte Zusammenarbeit eins: Idomeneus realisiert und komprimiert diese künstlerischen Standpunkte im Vergleich zu früheren gemeinsamen Arbeiten nochmals, indem das Mittel der verdichtenden Verknappung weiter radikalisiert und eine fast maximale Form der spielerischen Freiheit erzielt wird, die aus den augenblicksgebundenen Spielereignissen immer wieder hervorbricht. In Bezug auf die von Schütz für Idomeneus entwickelte Raumästhetik fällt auf, dass er mit dem Entfallen der Seitenwände und des Plafonds ästhetisch vor allem an Die Möwe anschließt, aber die ‚Winkelästhetik‘ nochmals reduziert, indem er den (Spiel-)Raum extrem verkürzt und diesen unmittelbar auf der vorderen Vorderbühne wie in einem „Kraftfeld“29 vor dem Publikum verortet. Durch den Verlust der Tiefe des Raums, die in früheren Arbeiten wie z.B. im Sommernachtstraum oder in Wie es euch gefällt eine wichtige Rolle spielte, wird durch die weiße Rückwand, vor der eine Stufe für die zumeist sitzenden Schauspieler eingelassen ist, von der wiederum ein minimaler weiterer Wirkungsraum (ca. 1m) zur Rampe bzw. zum Bühnengraben führt, eine zunächst auffällige Flächigkeit suggeriert. Durch die Präsenz der Schauspieler wird der flächige Charakter jedoch schnell unterdrückt, da diese aus der Hinterwand, die wie ein weißes Blatt Papier oder wie eine leere Leinwand wirkt, – der Weiße ist ebenso der Tod bzw. die Auslöschung eingeschrieben – in ihren ‚Alltags-Kostümen‘ plastisch hervortreten und (demokratisch) zentriert werden.30 26 Siehe Dössel 2011. Ganz ähnlich bilanziert Wilfried Minks für seine Bühnenräume und Regiearbeiten: „Es war der Versuch, Theater aus sich selbst heraus zu definieren, als totales Spiel“ (Maack/Minks 2011: 161). 27 Siehe Schütz 2008: 15. 28 Schimmelpfennig präzisiert: „Theater ist eine direkte Kunstform. Theater ist eine Kunst, die sich bei der Herstellung durch Schauspieler zusehen lässt. Spielen und Geschichte gehören untrennbar zusammen. Etwas Schöneres gibt es für mich nicht – solange das Theater nicht anfängt, mir etwas vorzumachen“ (Schimmelpfennig 2009: 315-317, hier 316). 29 Schütz 2008: 13. Schütz präzisiert: „Man muss Maßnahmen treffen, damit sich die Konzentration auf die Darsteller erhöht – zum Beispiel sie in ein Gestell bringen, um ein Kraftfeld zu erzeugen [...].“ 30 Hier wäre es interessant erneut nach dem Einfluss von Wilfried Minks zu fragen, der eine „Reinheit“ bzw. „literarische Neutralität des Raumes“ anstrebt(e) und als Begründer des „weißen Bühnenraums“ gilt, der (zunächst) keine Assoziationen zulässt, Interpretations-
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Im Gegensatz zu Olaf Altmanns Raumkonzeption für Die Ratten in der Regie von Michael Thalheimer (Deutsches Theater, Berlin 2007), in der das Prinzip der Raumreduktion Gefahr läuft, dass die nicht mehr aufrecht stehen könnenden und deshalb zwangsläufig gebückt auftretenden Schauspieler zu unmündigen, z.T. nur bedingt sichtbaren, einflusslosen Angestellten eines ästhetischen Konzepts bzw. einer (eindimensionalen) dramaturgischen Lesart werden, motiviert die Raumverknappung in Idomeneus das Gegenteil: Die Schauspieler werden hier vergrößert, indem sie nicht in den Raum gestellt bzw. gesetzt werden, sondern sich den Raum (körper-)sprachlich erarbeiten müssen, um ihr Gewicht zu entwickeln. Erstaunlicherweise motiviert gerade die strenge Raumordnung eine spielerische Freiheit der Akteure, die in ihrem reduzierten Bewegungsraum individuell nach möglichen Zwischen- bzw. Freiräumen suchen, um sich maximal verorten zu können.31 Die Auseinandersetzung jedes einzelnen Schauspielers mit den Freiräumen setzt jedoch voraus, sich gerade bei Positionswechseln (Änderung der Sitzordnung) oder Minimalbewegungen (Spiel vor der Stufe) einzelner Ensemblemitglieder immer auch mit allen anderen Darstellern auseinanderzusetzen, da sich alle ‚auf der Pelle‘ sitzen. Damit ermöglicht und fokussiert der vorgegebene Raum nicht nur ein kontinuierliches kollektives körper-sprachliches Aushandeln von Spiel-, Bewegungs-, Handlungs-, Wahrnehmungs- und Erfahrungsraum, sondern leistet im Zusammenspiel mit den Schauspielern einen unmittelbaren Diskurs mit der Spielvorlage und der darin verhandelten Fragilität bzw. permanenten Infragestellung des Zusammenhalts – womit die Geschichte und das Spiel im Sinne Schimmelpfennigs aktiv zusammenspielen.32
ansätze unterdrückt und ebenso ein anderes Figurenverständnis bzw. eine avancierte kollektive Präsenzästhetik der Schauspieler motiviert (Maack/Minks: 2011: 89, 243, 247248). Minks formuliert in Bezug auf seine Bremer Bühnenräume, die er u.a. für Zadek und Hübner realisierte: „Der weiße Raum arbeitet auch nicht mit der Tiefe des Raums, die Schauspieler werden durch ihn vielmehr in den Vordergrund geschoben, geradezu in einer Parallele zur Bühnenkante, wodurch sie eine gleichwertige Spannung zueinander bekommen und eine Präsenz, die keine Nachlässigkeit im Spiel duldet. [...] Daher die Bedeutung der Fläche, die für mich Gleichrangigkeit der Figuren ist, sozusagen demokratisch ist“ (Maack/Minks: 2011: 247). 31 Schimmelpfennig charakterisiert die Raumästhetik von Schütz in seiner Laudatio wie folgt: „Diese Räume haben manchmal in ihrer großen Kraft etwas von allgemeingültigen, weit übertragbaren Grundsatzerklärungen zum Verhältnis von Mensch und Sprache zum Raum und zur Zeit“ (Schimmelpfennig 2009: 39). 32 Interessant wäre hier auch genauer danach zu fragen, mit welchen Strategien die Regie und Ausstattung den von Schimmelpfennig entfachten sprachlich-szenischen Abbildungsdiskurs fortführen, wenn zum Beispiel Christian Grashof den aus einem Palastfens-
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Hinsichtlich der Frage der Relationalität von Bühnenraum und Spielästhetik ließe sich noch genauer danach fragen, inwieweit die minimalistische Raumordnung die spielerische Freiheit beflügelt bzw. in welcher Form die aufgeladene Ensemblepräsenz diese Form von Spielraum einfordert. Stellte Jürgen Gosch in seiner Inszenierung von Was ihr wollt (Schauspielhaus Düsseldorf 2007) das Schiffsunglück mit vom Ensemble auf der Bühne entleerten Wassereimern dar, wird der Untergang hier ganz ohne Requisiten gespielt, indem das elfköpfige Ensemble33 als ein an den „Rändern ausfransender Kollektivkörper“34 in einem choreographierten Anfangsbild rein körper-sprachlich die Todesangst erfahrbar macht, individuell als auch kollektiv aneinander/miteinander Halt sucht und den Moment des Chaos und der Todeserfahrung quälend lang ausdehnt, womit der Regisseur die Spielvorlage körperlich öffnet und den „Sauerstoff des Textes in den Schauspielern entfaltet“35. Das plastische Heraustreten des ineinander verschlungenen Ensembles aus dem weißen Hintergrund, das u.a. ikonologische Analogien zu Gericaults Floß der Medusa oder Picassos Guernica zulässt – ebenso ließe sich von einer choreographierten Körper-Installation sprechen –, stellt nicht nur im Sinne des LaokoonDiskurses die Frage nach den Grenzen der Darstellbarkeit des Schreckensereignisses, sondern thematisiert auch unmittelbar den Schwellenraum zwischen Bühnenund Publikumsbereich, dessen räumliche Ausdehnung, Tiefe und Dichte hier als Raumkonflikt körperlich ausgehandelt wird und dabei im wahrsten Sinne des Wortes ‚auf dem Spiel steht‘. Trotz der eintretenden Schockwirkung geht es hier weniger um die Illustration des Textes, um die ausschließliche Entfaltung von Vorstellungskraft oder einer hier unmöglich gemachten Schaulust als um eine augenblickszentrierte Verräumlichung der Erfahrungen der um ihr Gleichgewicht kämpfenden Schauspieler, die den Raum mit ihren Blicken, Haltungen, Handlungen und ihrer Sprache maßgeblich (aus-)formen. Dabei werden die Zuschauer aktiv in den Prozess des kollektiven körper-räumlichen/raum-körperlichen Aushandelns sowie in die Produktion der BildRäumlichkeit einbezogen und müssen sich als Angesehene und Angesprochene im beunruhigten Blickverkehr bzw. Aktionsraum positionieren. Verhandelt Lessing in seiner kunsttheoretischen Schrift Laokoon: oder über die Grenzen der Malerei und Poesie (1766) die Frage der (Wirkungs-)Grenzen der Nachahmung und der Imagination am Beispiel der 1506 in Rom ausgegrabenen ter blickenden Idamantes mit einem Stift auf die Hinterwand skizziert oder das Ensemble für einen Augenblick als Greise markiert, indem er diesem Mehl über die Köpfe streut. 33 Zum Ensemble gehören: Margit Bendokat, Meike Droste, Christian Grashof, Alexander Khuon, Niklas Kohrt, Peter Pagel, Katharina Schmalenberg, Barbara Schnitzler, Bernd Stempel, Valery Tscheplanowa sowie Kathrin Wehlisch. 34 Behrens 2009: o.S. 35 Gosch zit. in Peters 2006: 21-26.
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Laokoon Gruppe, die er mit dem zweiten Buch aus Vergils Aeneis vergleicht, und kommt u.a. zu dem grundsätzlichen und hier stark verkürzt wiedergegeben Befund, dass die Malerei bzw. bildende Kunst primär als eine Raum- und die Poesie dagegen als eine Zeitkunst zu verstehen seien,36 ist es interessant, diese Position vor allem auf die anfängliche Sturmszene der Inszenierung zu beziehen, die, so die These, Lessings ästhetische Grenzziehung attackiert und verflüssigt. Wie gelingt es Gosch und seinen Schauspielern dieses Schreckensszenario auf offener Bühne ohne (technische) Hilfsmittel festzuhalten, möglichst intensiv darzustellen und dabei der Illustrationsfalle zu entgehen? Indem, so mein Vorschlag, jeder einzelne Buchstabe der Spielvorlage ernstgenommen und der Text und die ihm innewohnende Dimension der Todeserfahrungen, wie bereits skizziert, körper-sprachlich veräußert wird und in einen transparenten Projektionsraum strömt, den das Publikum mit seiner Vorstellungskraft vergegenwärtigt bzw. verwirklicht. Die entscheidende Intensität wird nun damit erreicht, dass das Potential des Theaters als Raum-Zeit-Kunst37 voll ausgeschöpft wird, indem die einzelnen Körper im Raum in einem limitierten spezifischen Augenblick nebeneinander ausgestellt werden und miteinander eine Räumlichkeit erzeugen, womit der (Spiel-)Raum zunehmend leiblich modelliert, konstituiert und konfiguriert wird. Zugleich wird der Raum der Zeit von den Darstellern aber auch in einer Dimension des Nacheinander ausgeweitet, indem der angehaltene Augenblick als Momentaufnahme erfahrungsreich zerbricht und prozessartig körper-sprachlich zerlegt bzw. fragmentiert wird, wodurch der Schrecken schmerzvoll ausgedehnt wird. Der hierbei von wechselnden, miteinander auf engstem Raum verflochtenen Ensemblemitgliedern in verschiedene Richtungen ausgestoßene Text, der den Untergang der Schiffe beschreibt, entwickelt eine Sogwirkung, die auch deshalb so kraftvoll ist, da die Stimmen beginnen, sich von den Körpern zu lösen, aber zutiefst körperlich nachhallen bis sie sich schließlich im Raum verlieren. Diagnostizierte Bernhard Waldenfels jüngst, dass „das moderne Theater mit seinen Grenzen spiele, um den Prozeß der Theatralisierung offenzuhalten“38 und betonte im Kontext des „Wechselspiels der Sinne und Künste“ nochmals, wie körperlich sich all unser Sprechen und Hören vollzieht,39 möchte ich abschließend die These aufstellen, dass Jürgen Gosch ästhetisch genau hier anknüpft: Indem er in Idomeneus bereits zu Beginn das Hörbare sichtbar sowie das Sichtbare hörbar 36 Siehe Lessing 1996: 7-189 (speziell Kap. 17). Vgl. auch Saletta 2006: 69-76. 37 John Cage unterstreicht in einem kurzen Text genau dieses Möglichkeitspotential des Theaters: „theater ist raum-zeit ist kunst ist leben unterschiedliche aktionen – dinge beieinander jedes an seiner eigenen mitte koexistent dass alles sich durchdringt wie des einen behinderung des anderen verhindern vermeid die kontrolle beider [...]“ (Cage 1991: 280). 38 Waldenfels 2010: 245. 39 Siehe Waldenfels 2010: 246.
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macht, gelingt es Gosch die Formen des chorisch geprägten Sprech- und Körpertheaters in ein verfeinertes Zusammenspiel zu bringen, wodurch die Schauspieler mit körper-sprachlich ausdifferenzierten Diskursen der individuellen sowie kollektiven Subjektbefindlichkeit konfrontiert werden und damit die Frage nach dem Wesen, dem Potential und der Funktion des Kollektivs auf der Bühne neu gestellt wird. Es wird jedoch auch danach gefragt, wie sich heute überhaupt der „Grundgestus des Mythos“ (Gosch)40 erzählen lässt, womit die Inszenierung eine noch zu präzisierende Position in der aktuellen Antike-Rezeption andeutet.41 Dass Schimmelpfennigs Theatertext eine „kluge zeitgenössische Befragung des Mythos“42 ist, liegt wohl auch daran, dass der Autor das zentrale „Gravitationszentrum des Mythos“43 diskursiv freilegt, indem er die Fabel produktiv aufhebelt, vielstimmig mit deren Variationen spielt und dabei neue Zeit-Räume öffnet, die szenisch gerade deswegen so herausfordern, da diese nicht nur einen avancierten Darstellungsmodus und einen stringenten formalen Zugriff einfordern, sondern auch eines Schauspieler-Kollektivs bedürfen, das miteinander in großer Transparenz und Konzentration die ‚Arbeit am Mythos‘ aufnimmt und das Publikum daran teilhaben lässt. Forderte Wilfried Minks jüngst, dass das Theater wieder zur Sprache bzw. zum Text finden sollte,44 so arbeiten Schimmelpfennig, Gosch und Schütz in ihrer letzten Zusammenarbeit (erneut) genau daran, indem sie die Körperlichkeit, Räumlichkeit und Zeitlichkeit der Sprache sinnlich-intellektuell ausloten und über die Darsteller szenische Diskurse entfachen, die speziell die individuellen und kollektiven Subjektkonstitutionen befragen. Damit eröffnen sich für die beteiligten Künstler sowie für das Publikum neue Erfahrungsräume – Räume, deren Dichte bereits von Merleau-Ponty vorkonturiert wurde: „So gibt es denn für den Hörer und Leser sowohl als für den Sprecher und Schreiber ein Denken in der Sprache, von dem kein Intellektualismus etwas zu ahnen scheint.“45
40 Unveröffentlichter Text. 41 Diese Präzisierung wäre durch einen vergleichenden Blick umso fruchtbarer ausgefallen, wenn Jürgen Gosch und Johannes Schütz noch ihr zweites Bakkchen-Projekt (in der Spielfassung von Roland Schimmelpfennig) realisieren hätten können, das im Anschluss an Idomeneus als Koproduktion der Salzburger Festspiele und dem Berliner Ensemble geplant war. 42 Laages 2009: o.S. 43 Lehmann 1991: 53. 44 Siehe Maack/Minks 2011: 250. 45 Merelau-Ponty 1966: 213.
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Plus d’un rôle Zusammen spielen in gegenwärtiger Tanz-, Theaterund Performance-Praxis N IKOLAUS M ÜLLER -S CHÖ LL
V ON DER R OLLE Mitunter gibt es Erosionsprozesse, die so langsam verlaufen, dass man ihrer erst gewahr wird, wenn an ihrem Ende, gleichsam mit einer Katastrophe, ein großer Einsturz schlagartig verdeutlicht, dass ein Haus, eine Epoche und manchmal eine ganze Welt verschwunden ist. Ein solcher Erosionsprozess lässt sich, blickt man von den experimentellen Arbeiten in Theater, Tanz und Performance des frühen 21. Jahrhunderts auf das Theater des 20. Jahrhunderts zurück, mit Blick auf die Rolle beobachten. Wie wenig andere zentrale Begriffe des bürgerlichen Theaters und der klassischen Schauspieltheorien steht und fällt sie mit den im 18. Jahrhundert geprägten modernen Vorstellungen des Subjekts als eines seiner selbst mächtigen, präsenten Souveräns, der Herr in seinem Haus ist, das er nach Maßgabe seines Verstandes zu regeln wüsste, wenn er sich denn nur endlich dessen zu bedienen wagte.1 Die Hochzeit der Subjektphilosophie, die Zeit der großen Entwürfe eines auf dem Subjekt aufbauenden Systems und eines vom Modell des Subjekts bestimmten ontotheologischen Gemeinwesens, das im vollständigen Besitz seiner eigenen Substanz ist, ist zugleich die Zeit, in der im Theater jene vom Bürgertum und seiner Vorstellungswelt geprägte moderne Rollenauffassung des bürgerlichen Literaturtheaters entsteht, das seinen Schauspielern die Aufgabe erteilt, einer fiktiven Figur Körper, Stimme und Gesicht zu verleihen; und dies, indem möglichst ‚natürlich‘2, wie das 18. Jahrhundert sich ausdrückt, gespielt wird, was immer weiter verfeinerter Methoden bedarf, die von Theoretikern ersonnen und von Kritikern
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Siehe Kant 1975: 53.
2
Vgl. zur ‚Natur‘ des 18. Jahrhunderts de Man 1979; Derrida 1988a; Heeg 2000.
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bewacht werden – wobei der Schauspieler selbst in der ihm spezifischen Doppelung (Diderot) als sein erster Kritiker eingesetzt wird.3 Lässt der immanent bleibende Blick auf die Gründungsschriften der Schauspieltheorie im 18. Jahrhundert bereits deutlich werden, dass ihre Reinheitsgebote phantasmatischer Natur sind, so stellen sie sich im Lichte der jüngeren und jüngsten Diskussion zur Frage der Gemeinschaft als Teil einer Immunisierungsstrategie dar, die letztlich darauf abzielt, die Gemeinschaft – im Staat, aber auch in einem Mikrokosmos wie dem Theater – gegenüber ihrem Außen abzuschirmen, von Berührung, Ansteckung und letztlich von jenem munus abzuschotten, auf den die communitas ihrer Tradition nach bezogen war, von der Bindung an das Andere, das Gesetz und Gabe zugleich ist.4 Der auf seine Rolle im Spiel reduzierte, mit ihr verschmelzende Schauspieler erscheint als Äquivalent jenes von seiner spezifischen Form getrennten bloßen oder nackten Lebens, das im Mittelpunkt der Kalkulationen moderner Politik steht.5 Das im 19. und 20. Jahrhundert dominante Theater verwandelt die – in den Schriften des 18. Jahrhundert noch in all ihrer Brüchigkeit erkennbare – Arbeit an der Rolle zum Programm, das aller Gegenbewegungen zum Trotz bis auf den heutigen Tag in den trägen Institutionen des deutschsprachigen Sprechtheaters und der zu ihm führenden Ausbildungsgänge zu überleben vermag, als wäre es eine zeitlose conditio sine qua non des Theaters. Dass es eine solche selbstverständlich nicht ist, lehrt gleichermaßen der Blick in die Theatergeschichten anderer Kulturen, wie auch in diejenige des Abendlandes, die eine Rolle im heutigen Sinne erst in der Neuzeit kennt und mit Beginn des 20. Jahrhunderts sukzessive aufzulösen beginnt.6 Als solche Stationen der Auflösung einer mit sich selbst identischen Rolle im Spiel könnten begriffen werden: Brechts Theaterarbeit, die auf die fünf großen Anfechtungen, die das selbstbewusste, präsente Subjekt seit der Mitte des 19. Jahrhunderts heimsuchten – auf Krieg, Warenwirtschaft, Lustprinzip, Destruktion des Logozentrismus und die physikalischen Erkenntnisse Einsteins und Heisenbergs – mit dem die Rolle in ihrer Differenz zum Spieler ausstellenden epischen Theater wie auch mit dem Modell des Lehrstücks antwortet, das seiner Tendenz nach, speziell in der ‚Maßnahme‘, die 3
Siehe Lehmann 2000.
4
Siehe Esposito 2004; Esposito 2004a; Zumbusch 2009.
5
Siehe zu den Umbrüchen, in deren Kontext die Herausbildung der modernen Schauspielkunst in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts zu betrachten wäre Agamben 1994: 251257; vgl. auch die Bände des von Agamben unter dem Obertitel „Homo sacer“ zusammengefassten größeren Projekts über den Wandel der modernen Politik; Foucault 1988, 1997; daneben wäre an die Parallele zwischen der Herausbildung des bürgerlichen Theaters und den von Foucault beschriebenen Institutionen der Klinik und des Gefängnisses zu erinnern.
6
Siehe zur Geschichte der Rolle Haß 2005a: 278-283.
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Rolle zu einem immer vorläufigen und nur nachträglich fixierbaren Konstrukt eines je anderen Spieles macht.7 Die Stücke oder besser Texte Gertrude Steins, Becketts, Heiner Müllers, Elfriede Jelineks oder Sarah Kanes, die auf eine je andere Weise, wenn überhaupt, Rollen nur noch in Zitat, Wiederholung, Fragmentierung und als Resultat einer die eigene Sprachlichkeit ausstellenden sprachlichen und texträumlichen Inszenierung erscheinen lassen. Die vielfältige Wiederentdeckung der Commedia dell’Arte bzw. des HarlekinPrinzips8 also eines Spiels mit feststehenden Masken, die, vom Spieler getrennt, ihrerseits eine vorübergehende Rolle in Spielhandlungen einnehmen können, ohne doch jemals restlos in ihnen aufzugehen. Konkret: die Bühnenpraxis der Theateravantgarden von Craig über Meyerhold, Copeau, Reinhardt und Brecht bis zu Barrault, Dario Fo, Ariane Mnouchkine, Benno Besson, Eugenio Barba, Giorgio Strehler, Roberto Ciulli und zu Forced Entertainment.9 Vor allem aber – in den vergangenen zwei Jahrzehnten vielbeleuchtet – die Wiederentdeckung des Chores in Drama und Theater des 20. Jahrhunderts, wie sie sich in Auseinandersetzung mit Massemensch, proletarischen Nicht-Helden und schließlich mit den chorischen Ursprüngen des griechischen Theaters von Brecht über Heiner Müller bis zu Einar Schleef verfolgen lässt, der mit seiner Inszenierungspraxis und Theorie das Chorische als das Verdrängte der Praxis zu verdeutlichen vermochte, die seit den Reformen des 18. Jahrhunderts in den stehenden Bühnen gepflegt wurde.10 Wie ich nachfolgend an einigen Beispielen der gegenwärtigen Arbeit im Grenzbereich zwischen Choreographie, Performance, Objekt- und Sprechtheater ausführen möchte, lässt sich das Verschwinden der Rolle in den experimentellen Formen der heutigen Bühnenpraxis als Ausdruck einer Art von kollektivem Unbewussten begreifen, als Verweis auf den gemeinsamen Grund der Rollen in Strukturen, die ihnen vorangehen, letztlich in einer Gemeinschaft, die beständig ihrer eigenen Alteration ausgesetzt ist.
7
Siehe Müller-Schöll 2002: 187-230; Müller-Schöll 1999: 251-267.
8
Siehe Münz 1998: 60-65; Haß 2005: 160-171.
9
Vgl. Müller-Schöll 2012.
10 Vgl. Schleef 1997.
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S PIEL MIT DEM T EXT DER R OLLEN (C HÉTOUANE )
STATT
R OLLENSPIEL
Ausgehend von seiner Inszenierung der Bildbeschreibung von Heiner Müller löste der Regisseur und Choreograph Laurent Chétouane in seinen darauffolgenden Arbeiten sukzessive die Zuordnung von Spielern und Rollen auf. 11 Seine jüngeren Arbeiten im Sprechtheater zeichnet aus, dass sie Arbeitsweisen des zeitgenössischen Tanztheaters auf das Spiel mit Text übertragen. Zum ersten Mal ließ sich dies in Chétouanes Weimarer Faust II-Inszenierung beobachten,12 die ihren Ausgang von seinem als Tanzstück #2 vorab veröffentlichten Abend Antonin Artaud liest den 2. Akt von Goethes Faust II nahm und wie die folgende Arbeit mit dem Faust I, auf die ich mich hier konzentrieren werde, als Eloge auf die Veränderbarkeit, als Abend der Metamorphosen begriffen werden kann.13 Sie steht im Rahmen einer alle neueren Arbeiten Chétouanes bestimmenden Frage nach der Möglichkeit eines Zusammenspiels als Gruppe, die ihren vorläufigen Höhepunkt in seinem Tanzstück #4 fand, das unter dem von Roland Barthes abgeleiteten Titel leben wollen (zusammen) stand,14 sowie in der von diesem ausgehenden Inszenierung von Dantons Tod.15 Chétouanes Kölner Faust I kann als eine aus den Tanzstücken heraus entwickelte Improvisation über Motive und Themen von Goethes Stück begriffen werden. Der Abend, nach einer Brechts Fatzer und Hölderlins Empedokles gewidmeten ersten, die zweite Arbeit Chétouanes in Köln,16 trug neben den Spuren des ihm vorausgehenden Faust II in Weimar auch die der Beschäftigung mit dem Fatzer. Formulierte Heiner Müller einmal über den Fatzer, dass er Brechts Faust sei,17 so könnte man behaupten, dass Chétouane den Faust I gewissermaßen als Goethes Fatzer begriff: als Stoff, der, selbst wenn er letztlich in die Form eines Stückes gebannt und kanonisiert wurde, weiterhin die Qualität eines großen, jede Form sprengenden Fragments behalten hat – als eines der großen geschichtsträchtigen Bruchstücke der deutschen Literatur. Als Kernsatz sollten seine Schauspieler die
11 Siehe Müller-Schöll 2009: 299-304. 12 Goethe: Faust II. Nationaltheater Weimar, Regie: Laurent Chétouane. Premiere: 20.03. 2008. 13 Goethe: Faust I. Schauspiel Köln, Regie: Laurent Chétouane. Premiere: 17.10.2008. 14 Tanzstück #4: leben wollen (zusammen). Sophiensäle Berlin, Choreographie: Laurent Chétouane. Uraufführung: 13.11.2009. Vgl. Barthes 2007. 15 Büchner: Dantons Tod. Schauspiel Köln, Regie: Laurent Chétouane. Premiere: 16.01. 2010. 16 Hölderlin/Brecht: Empedokles Fatzer. Schauspiel Köln, Regie: Laurent Chétouane. Premiere: 22.02.2008. 17 Siehe Müller 1990: 35.
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Selbstdefinition Mephistos begreifen, der auf die Frage Fausts, wer er sei, sagt: „Ich bin ein Theil des Theils, der Anfangs alles war […]“.18 Alle Spieler des Abends, sechs Schauspieler und zwei Tänzer, spielen mit dem Text der Rollen, imaginieren, was es mit ihnen auf sich hat. Insofern gibt es nicht nur keine Lektüre des Ganzen, keine vorgängige Idee oder große Erzählung, die alles, was szenisch zutage tritt, verbindet und in einem Referenten verankert, sondern darüber hinaus auch keine inkorporierten Rollen und Charaktere, stattdessen eine Art unbekanntes Textobjekt, das die Phantasie der mit ihm spielenden und sich bewegenden Akteure beflügelt, die es im permanenten Mit- und Gegeneinander vorführen, darstellen, umsetzen, ohne es zu appropriieren. Der Text wird so gesprochen, dass an ihm eher die durchgängige Sprache, als die gesetzte Struktur hervortritt. Im Zusammenspiel verschiedener Sprecher einer Figur entsteht er in Varianten, die – eben weil die Ablenkung durch Dialog, Drama und Konflikt fehlt – seine potentielle Polyphonie hörbar machen. Er erscheint als eine Art minimalistische Sprachmusik, vielgestaltiges Material, mit dem en gros wie en detail gespielt werden kann, auf unterschiedliche Weise: in der Art eines mit Sprechsequenzen begleiteten Tanztheaterstückes, wenn er stehend, liegend, in unterschiedlichsten Positionen und aus diesen heraus gesprochen wird; als Improvisationsmaterial für eine szenische Praxis, die an Jazz-Sessions erinnert; aus Bewegungszusammenhängen heraus: Alle gehen im Kreis und sprechen dabei im Wechsel Texte. Alle beschäftigen sich an unterschiedlichen Orten der Bühne mit den dort jeweils zu findenden Materialien und nehmen einander dabei jeweils den Text ab. Auerbachs Keller wird gleichsam gegen den Strich gekehrt. Einer sitzt am Klavier, spielt klassische Musik, während nebenan die ‚coole Party‘ läuft, in die man ihn, den ‚party pooper‘, hineinziehen will. Die Walpurgisnacht unterbricht, einem Spiel im Spiel gleich, das Theaterstück. Ein Vorhang wird geöffnet, dann erscheint auf der Rückwand ein Film, der die Geschehnisse gleichsam in Gestalt einer surrealen Traumcollage einspielt. Es ist bei alledem, als ginge es vor allem darum, gemeinsam herauszufinden, was es überhaupt damit auf sich hat, was denn zum Beispiel „Faust“ sein könnte, der Mann, das Stück, der Mythos. Ein Abend als Suche, szenische Forschung. Auf der Ebene der Bewegung lassen sich tänzerische Elemente und Gänge ausmachen, die zunächst einmal als bloßes Tun auf der Bühne erscheinen, nicht in erster Linie darstellend, wenngleich auch nicht ganz auf Darstellung verzichtend, vielleicht nichts anderes als das Entstehen von Darstellung sind. Diese Darstellung liegt gleichwohl niemals abgeschlossen vor uns, sondern bleibt im Stadium der Gemachtheit; als wären wir bei einer Probe anwesend. Zu deren Eindruck trägt nicht zuletzt bei, dass die Schauspieler in einer alltäglich wirkenden Kleidung und Strümpfen, die Tänzer barfuß auftreten.
18 Goethe 2005: 65.
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Der Auffassung der Tänzer in Chétouanes Tanzstücken vergleichbar, definieren sich die Spielenden in allen Teilen des Abends niemals lediglich durch eine imaginierte Situation der Stückhandlung, sondern immer zugleich auch durch die Situation des Abends, also die Theatersituation, die dadurch gekennzeichnet ist, dass die Spielendenals operative Einheit19 ihres Tuns Figuren vor einem Publikum entstehen lassen, mit dem sie die Außenspielstätte des Kölner Schauspiels, die Halle Kalk teilen. Es gibt keine geschlossene 4. Wand. Wenn uns die Schauspieler anblicken, dann erkennen sie uns gleichsam, sehen uns, nehmen uns und sich als in einer Wechselbeziehung von Blick und Angeblicktwerden wahr, spielen deshalb nicht unbedingt für uns, aber auch in keinem Moment so, als seien wir überhaupt nicht da.
D IE VERSCHWUNDENE R OLLE – N ATURE THEATRE OF O KLAHOMA Geht Chétouanes Auflösung der bürgerlichen Rollenauffassung auch auf einen sehr spezifischen Kontext seiner Arbeiten zurück, so steht er doch andererseits selbst im größeren Zusammenhang eines szenischen Forschens, das derzeit an vielen verschiedenen Orten und von unterschiedlichsten Ausgangspunkten her zum gleichen Resultat der Auflösung der Rolle gelangt. Life and Times – Episode One20, so lautet der Titel einer knapp vier Stunden dauernden Musiktanztheaterperformance, die von Pavol Liska und Kelly Copper zunächst am Wiener Burgtheater erarbeitet wurde, mittlerweile aber mit den sechs Performern und drei Musikern gespielt wird, welche die beiden Regisseure unter dem Namen „Nature Theatre of Oklahoma“ um sich versammelt haben. Drei Frauen und später drei Männer singen in der Ich-Form die Geschichte einer amerikanischen Kindheit und Jugend: Es ist eine Erzählung, die sich aus durch und durch trivialen Erinnerungen zusammensetzt, aus den alltäglichen Merkwürdigkeiten der Nachbarn, aus Begebenheiten im Schulunterricht und den kleinen Katastrophen – wenn sich der Schwarm für eine andere interessiert, wenn man den Vater auf der Toilette zu sehen bekommt usw. Gleichsam skandiert wird die Geschichte durch ein wiederkehrendes „ähm“, das die Gesänge immer wieder unterbricht und auf den Ursprung des Textes verweist, der ihnen zugrunde liegt, auf ein 16 Stunden dauerndes Telefongespräch der Regisseure mit einer Be-
19 Wie Gabriele Brandstetter ausführt, begreift der Choreograph William Forsythe die Figur im Rahmen seiner Choreographien als „operative Einheit“ (siehe Brandstetter 1999: 23). 20 Die Beschreibung bezieht sich auf die „New York Version“ von Life and Times – Episode One, die ich im Rahmen des Sommerfestivals Hamburg 2010 am 12.08. auf Kampnagel gesehen habe.
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kannten, der 34-jährigen Kristin Worrall. Wir hören, wenn wir nur auf den Inhalt des gesungenen Textes hören, eine Amerikanerin im Small Talk über ‚damals‘. Dem steht andererseits entgegen, dass wir zugleich diese Alltagserinnerung gleichsam in Übergröße vor Augen geführt bekommen: durch die Länge des Abends, durch das große Gewicht, das die mit viel Liebe zum Detail erzählten Anekdoten in ihrer neuerlichen Verlangsamung durch die Übertragung in Musik erhalten, durch die Vertonung in einer sich bei Country, Weird Folk und Filmmusik bedienenden Musik, die, wie treffend geschrieben wurde, das „Rezitativ als dramatische Form“ einsetzt und die triviale Kleinstadtgeschichte als alltägliches Oratorium erscheinen lässt.21 Zugleich beschwört eine sehr einfache Kulisse mit beleuchtbarer Rückwand und Klappen im Boden, durch die neue Spieler auftreten können, die Welt des Varietés oder Musicals herauf – wenngleich nur als deren Zitat oder mit einfachen Strichen gezeichnete Karikatur. Man könnte von szenischer Pop-Art sprechen: Wie in den übergroßen Comic-Bildern Roy Lichtensteins oder der zum Bildgegenstand erhobenen Suppendose Andy Warhols wird die durch Industrialisierung jeder Originalität und Einzigartigkeit beraubte alltägliche Lebenswelt mit Mitteln, die bis auf die Renaissance zurückverfolgt werden könnten – hier mit der Guckkastenbühne wie dort mit dem Tafelbild – ausgestellt. Dabei verweist die Differenz zwischen zitierter Form und Gegenstand, zwischen den geistlichen Erzählungen der Oratorien und ihrem Menschheitsversprechen und dem alltäglichen Leben ‚in the middle of nowhere‘, auf eine radikale Desillusionierung. Von dem im Zuge der Säkularisierung Gott beerbenden Subjekt der Neuzeit und den mit ihm artikulierten Ansprüchen und Hoffnungen ist nichts als dessen hohle Form geblieben, ein komisches Relikt. Mit dieser Differenz von zitierter Form und trivialem Inhalt dürfte das Nature Theatre of Oklahoma aber nicht zuletzt jenes Programm aufgreifen, das in seinem Namen versprochen wird. Er spielt auf Kafkas Roman Der Verschollene (früher: Amerika) an, in dem das „große Teater von Oklahama“ bekanntlich an einer Straßenecke mit den Worten Personal sucht: „Jeder ist willkommen! Wer Künstler werden will, melde sich! Wir sind das Teater, das jeden brauchen kann, jeden an seinem Ort.“22 Walter Benjamin kommentierte dies mit den Worten: „Nach welchen Maßstäben die Aufnahme erfolgt, ist nicht zu enträtseln. Die schauspielerische Eignung, an die man zuerst denken sollte, spielt scheinbar gar keine Rolle.“23 Die Besetzung der Rollen in der vom Nature Theatre selbst (und nicht vom Burgtheater) besetzten Fassung lässt an diese Sätze denken. Die Performer auf der Bühne können als Fremdkörper bezeichnet werden, als durchweg nach dem Prinzip gewählt, dass sie das (Mittel-)Maß überschreiten sollten. Sie lassen weder an die durch das Büh21 Siehe Abendzettel der Veranstaltung auf Kampnagel. 22 Kafka 1994: 295. 23 Benjamin 1980: 422f.
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nen-Set angedeutete, makellose Welt der Varietés denken, noch an eine nach dem Prinzip möglichst nahtloser Verschmelzung von Text, Rolle und Spieler zur Figur erfolgter Besetzung im Schauspielertheater: Etwas zu dick, etwas zu klein, etwas zu ausgemergelt, etwas zu sehr schwitzend, lenkt ihre körperliche Erscheinung beständig vom Erzählten ab, formt es um, gibt ihm ein zusätzliches mit. Ihre Bewegungen erinnern weniger an kunstvollen Tanz oder Tanztheater, als vielmehr an Cheerleader-Bewegungen und Show Dance, wenn nicht an rhythmische Gymnastik. Immer wieder entstehen komische Momente, wenn die Beschreibungen im Text auf die auf der Bühne stehenden Performer bezogen werden. Wir sehen hier nicht die Schauspieler einer Jugend vor uns, sondern Performer, die sich gemeinsam deren Inszenierung verschrieben haben. Der Übergröße der dargestellten Geschichte einer letztlich anonym bleibenden Figur korrespondiert die auf sechs Sänger verteilte Arbeit an ihrer Darstellung. Jeder von ihnen singt Text, der zu jener Figur beiträgt. Keiner von ihnen verschmilzt dabei mit dem Ich seiner Aussage, allenfalls für kurze Momente ihrer Umsetzung. Was deshalb auch diese Performance neben vielem anderen zu denken gibt, ist ein gänzlich neues Verhältnis von Text, Spieler, Rolle und Figur. War im bürgerlichen Theater seit dem 18. Jahrhundert der Spieler mit dem Text in der Rolle verbunden, um auf diese Weise eine Figur zu erschaffen, so ist das Spiel des Nature Theatre im Vergleich dazu mehrfach verschoben: Performer singen den Text einer Figur, in die sie singend gleichsam ein- und austreten, die sie singend und mit rudimentärer Verkörperung gestalten, die sie also dergestalt zusammenspielend figurieren. Was in ihrem Spiel dabei ausfällt, ist die Rolle.
R OLLEN IN V ERHANDLUNG – IVANA MÜLLER : W ORKING T ITLES Ein drittes Beispiel, Ivana Müllers konzeptuelle Theaterarbeit, erscheint mir für die Frage der Rolle besonders ergiebig. Was sie erkennen lässt, ist der in der Tradition des 19. Jahrhunderts verdeckte allegorische Charakter jedes Rollenspiels. In der vielbesprochenen und preisgekrönten Arbeit While we were holding it together24 lässt sie über eine Stunde lang fünf in unterschiedlichen Posen stillgestellte Performer darüber imaginieren, was sie dorthin geführt hat, wo sie nun stehen: Sind sie die Teilnehmenden eines Familienausflugs, die Tiere eines Zoos, die Stücke eines Museums oder Soldaten einer Armee? In Sätzen, die mit „I imagine …“ beginnen, stellen sie sich beständig neu vor und im Vorstellen ihrer potentiellen Rollen jeweils auch dieses Vorstellen selbst aus. Man könnte die Performance als Rollen-
24 Detaillierte Informationen zu Mitwirkenden und Aufführungsdaten sind zu finden unter: www.ivanamuller.com, zuletzt aufgerufen am 17.08.2011.
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spiel im permanenten statu nascendi bezeichnen, als Vorstellung an der Schwelle zu möglichen Erzählungen, die gleichwohl unerzählt bleiben. Wie in den allegorischen Darstellungen des Barocks scheinen die Performer eben deshalb, weil sie, wie man im Verlauf des Abends begreift, für alles stehen können, letztendlich auch für nichts zu stehen. Zugleich verweisen sie aber dadurch, dass sie für das Bündel möglicher Rollen in keiner anderen Konstellation als eben in dieser, für eine bestimmte Zeit gehaltenen, stehen, auf ihr bloßes Dasein in Gemeinschaft und genauer noch auf ein diesem unablösbares ‚Stehen-für‘. While we were holding it together stellt so letztlich nichts aus als den bloßen Träger des Vorstellens oder der Rolle, das, was einem Rollenspiel in jedem Fall vorauszugehen hat, der klassischen Vorstellung zufolge verschwinden soll, doch durch keine Arbeit an der Rolle jemals restlos zu verschwinden vermag, was ohne Rolle zu sein, Rollen überhaupt erst ermöglicht, ihr Eingebundensein in eine szenische Konstellation, kurz: ihre Darstellbarkeit.25 Diesen Träger aber erkennt man im Spiel der fünf Performer vor allem in den mehr oder weniger unwillkürlichen Schwankungen einer Hand oder im Blinzeln der Augen, in den Momenten also, in denen die Umrisse des gezeigten Tableau vivants gleichsam zu zittern beginnen. In der darauffolgenden Arbeit Working Titles26 lässt Müller vier Spieler mit sieben Puppen in acht Kapiteln eine stumme Abfolge von Tableaus darstellen, die durch auf die Rückwand projizierte Titel den Sinnbildern barocker Embleme gleich mit Sinn belegt und so gewissermaßen belebt werden. Dabei ist das Puppenspiel durch zwei Besonderheiten gekennzeichnet: Zum einen bleiben nicht nur die unbelebten Puppen, sondern auch die sie tragenden und in gewisser Hinsicht belebenden Spieler bis kurz vor Schluss stumme Akteure, die ihren Sinn durch die Titel im Hintergrund zugeschrieben bekommen. Zum anderen sind die mit einfachen Mitteln gestalteten, an Schaufenster erinnernden Puppen allesamt kopflos. Es wird so von Beginn an deutlich, dass nichts, was in dieser Performance geschieht, abgelöst werden kann von einem Spieler wie Zuschauer umfassenden Prozess der Imagination, in dessen Zentrum eine nicht zu füllende Lücke steht, die Abwesenheit des Gesichts. Am deutlichsten wird dies, wenn irgendwann über eine Puppe verraten wird, dass es sich bei ihr um einen Schwarzen handelt. Doch wir erfahren es auch, wenn einzelne Szenen mit mehrfachen Deutungsmöglichkeiten belegt oder Geschichten umgeschrieben werden. Die Mottos der Szenen sind, wie der Titel der Performance ankündigt, Arbeitstitel, die beständig noch veränderbar bleiben und zugleich Titel, die selbst eine Arbeit vollbringen: In Verbindung mit den vor ihnen 25 Der Begriff der Darstellbarkeit geht auf die Begriffsfamilie der ‚-barkeiten‘ bei Walter Benjamin zurück, so u.a. auf dessen Begriff der Mitteilbarkeit (siehe Benjamin 1980a: 145f.; Müller-Schöll 2002: 89-100 und 152-156; Weber 2008). 26 Ivana Müller: Working Titles. Mein Text bezieht sich auf die Aufführung im Rahmen des Live Art Festivals auf Kampnagel, Hamburg, vom 19.05.2010.
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stehenden Spielern und Puppen stellen sie neue Figurationen her. Sie führen dergestalt gleichsam das Prinzip des Rollenspieles vor Augen: dass sich die in einem Kontext eingenommene Rolle buchstäblich einem auf den Leib geschriebenen Text verdankt. Doch dieser Leib ist, wie wir im Lauf des Abends erfahren, niemals bloße Schrifttafel oder beliebig beschreibbare Matrix. Er verändert die ihm zugeschriebene Geschichte, lenkt von ihr ab, reformuliert sie dergestalt, dass er den Buchstaben, das signifikante, ‚blöde‘ (Lacan)27 Material der Sprache als Körper auf die Bühne überträgt. Alle Auftretenden in dieser Performance bleiben nolens volens im Grunde in beständiger Verhandlung über die Rolle, die ihnen am Ende zugekommen sein wird. Was die Arbeit dergestalt über das Rollenspielen im Allgemeinen zutage bringt, ist, dass sich Rollen einer Zuordnung verdanken, die zwar willkürlich, gleichwohl aufgrund ihrer Bindung an ein je spezifisches Ensemble nicht beliebig ist.
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RÔLE – MEHR ALS EINE R OLLE , KEINE
R OLLE
MEHR
Insofern die klassische Auffassung der Rolle im Theater, wie eingangs angedeutet, als das Äquivalent eines auf perfekte Kontrollierbarkeit reduzierten nackten oder bloßen Lebens betrachtet werden kann, wie es im Zentrum des Politischen in der Moderne steht,28 und ihre sukzessive Bestimmung, Isolierung und Erarbeitung auch als Form einer Immunisierung gegen die Störungen, die der Rollengestalt durch den Körper wie durch die Wahrnehmung der Bühnensituation, des Zuschauerraums, der geteilten Zeit und der die Rollen verbindenden Sprache drohen, gelten kann, lassen sich die Stationen ihres Erosionsprozesses auch als Stationen der Widerständigkeit des Theaters gegen die Ideologie des Politischen als solchen lesen – gegen die Vorstellung, es könnte in gleich welcher Weise eine prästabilierte Ordnung des Politischen und der Politik geben, die auf anderem als einem letztlich immer aporetischen, antinomischen, widersprüchlichen Kern beruhte. Die Auflösung der Rolle kann, anders gesagt, als Symptom eines Paradigmenwechsels betrachtet werden, von dem die gegenwärtigen szenischen Praktiken, in denen die Spieler für sich beanspruchen, nicht länger Rollen zu spielen, sondern vielmehr als Performer da zu sein, um bestimmte Spielregeln auszuführen, ebenso eine Spielart darstellen wie die mannigfaltige Wiederentdeckung des Chorischen
27 Vgl. Lacan 1986, 19-30. 28 Siehe Agamben 1994. Die von Agamben aufgegriffene Formulierung vom „bloßen Leben“ geht auf Walter Benjamins Frühschriften sowie speziell seine geschichtsphilosophischen Thesen zurück (siehe dazu kritisch Lindner 2003: 204-209).
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oder die Übertragung von Praktiken des Tanztheaters, der Choreographie und des Objekttheaters in die Spielweisen des Sprechtheaters. Dieser mit solchen Symptomen einhergehende Paradigmenwechsel im Theater reagiert selbst auf Umbrüche, die nicht minder grundlegend erscheinen als jene, mit denen im 18. Jahrhundert die Moderne und ihr Theater der Rollen beginnt. Damals wie heute steht im Mittelpunkt die Frage danach, wie das Zusammen, die Gemeinschaft oder Gesellschaft, gedacht werden soll,29 und wie im 18. Jahrhundert ist das Theater neuerlich gleichermaßen Teil wie auch Spiegel der es umgebenden Gesellschaft.30 Als Teil von ihr erfährt es wie diese die Auflösung traditioneller Gemeinschaftsstrukturen: Das Ensemble als Form einer Verschwörung des Theaters gegen die umgebende Stadt, das Land und die Welt erscheint neben Ehe, Familie, Betrieb, Gewerkschaft, Kirche und Nation als überholte Organisationsform des Gemeinsamen, als Anachronismus angesichts von ökonomischen Bedingungen, die die Schauspieler, Regisseure und Techniker einer Produktion längst in kleine, punktuell sich verbindende Ich-AGs verwandelt haben. Spiegel solcher Veränderungen wird das Theater dort, wo sein Spiel nicht länger suggeriert, es könne unter heutigen Bedingungen auf gleich welcher Ebene eine unverbrüchliche Einheit geben, zuvorderst diejenige einer – und nur einer – Rolle. Was es in seiner Widerständigkeit gegen die Ideologie der Rolle vor Augen führt, könnte zu einem besseren Verständnis ökonomischer und politischer, letztlich gesellschaftlicher Prozesse beitragen, die in den Kategorien der Bewusstseinsphilosophie nicht länger begreifbar sind. Sucht man nach einem Gemeinsamen der verschiedenen Varianten der Auflösung der Rolle, so wäre dieses vielleicht darin zu sehen, dass Choreographen und Regisseure wie Chétouane, Ivana Müller, Liska und Kelly begriffen haben, dass – um es in Anlehnung an eine berühmte Formulierung Derridas über die Sprache zu sagen – wir alle davon geprägt sind, dass wir plus d’un rôle spielen, mehr als eine Rolle und keine Rolle mehr.31 In dieser Verfasstheit liegt aber dasjenige, wovon jede Gemeinschaft ihren Ausgang zu nehmen hätte – und worin das Gemeinsame jeder Gemeinschaft unversöhnlich endet.
29 Vgl. zur Frage der Gemeinschaft vor allem Nancy 1988. 30 Vgl. Nancy 2003. 31 Siehe Derrida 1988b: 31.
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Das politische Subjekt
Der Auftritt des politischen Subjekts Robert Prutz und die Theater-Öffentlichkeit im Vormärz1 M EIKE W AGNER
Je mehr das Theater die Interessen des Volkes aufnimmt, desto erfreulicher und bestimmter wird es wirken; denn wenn das Theater seinen großen nationalen Zweck erfüllen soll, muß es nicht nur die Zeit verkürzen, sondern muß der Mittelpunkt des öffentlichen Lebens, muß die Arena werden, auf welcher die Stürme der Zeit sich bekämpfen. […]2
So äußerte sich 1848 ein anonymer Autor in Theodor Rötschers Jahrbüchern für dramatische Kunst und Literatur zur Lage der Nation und seines Theaters. Der Autor reihte sich hier ein in den politischen und theaterhistorischen Diskurs und brachte nach der März-Revolution eine Kunst- und Gesellschaftsentwicklung auf den Punkt, die eine Neukonzeption von Theater und gesellschaftlichem Individuum bewirkte. Das Theater musste nun zum „Mittelpunkt des öffentlichen Lebens“, zur ‚öffentlichen Kampfarena‘ werden. Wodurch dies ermöglich wurde, ist im zweiten Abschnitt benannt: Im Angesichte des stürmenden Fortschritts können wir jetzt auch von Deutschland ein Theater im nationalen Sinne des Wortes erwarten, weil das Volk seine Freiheit begründen hilft und stolz auf seine freiheitliche Heimath wird; ausgeschnitten und ausgebrannt hat es endlich jenen Krebsschaden der Censur und Tyrannei, die an seiner geistigen Entwicklung bejammernswürdig so lange genagt, und ihren Wachsthum aufhielten. Das Drama, wenn es frei dasteht, muß belebt sein durch eine Idee die das Ganze beseelt, durch ein großes Motiv,
1
Es handelt sich bei diesem Text um einen bearbeiteten Auszug aus meiner Habilitationsschrift Theater und Öffentlichkeit im Vormärz. Berlin, München und Wien als Schauplätze bürgerlicher Öffentlichkeit. Berlin 2013 [i.E.].
2
Anonym 1848: 293.
562 | MEIKE W AGNER dessen Endzweck zur mächtigen That wird. Es müssen die Elemente der Nation darin ringen und charaktervoll wetteifern, es muß seine Geschichte abspiegeln, seine Volksthümlichkeit und seine Thaten. 3
Das Volk hatte politische Handlungsfähigkeit bewiesen, es hatte geholfen, „seine Freiheit [zu] begründen“, durch seine politische Aktion wurden Zensur und Tyrannei „ausgeschnitten und ausgebrannt“. Das Drama musste nun seinerseits eine politische Gesamtkonzeption erkennen lassen, es musste die Geschichte, das Wesen des Volkes und seiner Taten spiegeln. Das Drama sollte an das politische und gesellschaftliche Leben anknüpfen, damit das Theater als öffentlicher Akteur in der politischen Arena wirken konnte. Zusammenfassend kann man feststellen, dass hier der Konnex zwischen einer Handlungsfreiheit politischer Subjekte und dem Theater als notwendiges öffentliches Medium einer politischen Kultur hergestellt wurde. Dies scheint von außen betrachtet ein typisches Diskurskonstrukt der revolutionären Kampfzeit zu sein. Doch möchte ich hier feststellen, dass diese politische Konzeption von Theater als öffentliches Medium in der 1848er Revolution nur den lautstarken Höhepunkt einer theater- und öffentlichkeitshistorischen Entwicklung darstellte, die schon seit der Aufklärung in Gang gekommen war. Es geht im Folgenden darum, die Abstraktion des Subjektes aus den traditionellen Bindungen als Voraussetzungen eines Geschichtsbewusstseins und der Idee einer politischen Handlungsmöglichkeit zu erläutern, um dies dann in einen Zusammenhang mit der Theaterarbeit von Robert Prutz zu bringen.
ABSTRAKTION DES S UBJEKTS Das seit dem 18. Jahrhundert in Europa verbreitete Denken der Aufklärung basierte auf der Idee einer Herauslösung des Menschen aus seiner „selbstverschuldeten Unmündigkeit“4, einer Emanzipation also von hierarchisch und religiös wirksam eingeengten Denkstrukturen. Politische Faktizität erhielt diese Emanzipation durch die Erklärung der Menschenrechte am 26. August 1789, die zu den weltgeschichtlich weitreichendsten Errungenschaften der französischen Revolution gehört. Die Idee, dass das Recht auf Freiheit für alle Menschen gleich sei und somit unabhängig von den geschichtlichen Voraussetzungen der Herkunft eine universale Geltung habe, setzt die emanzipatorische Herauslösung der Menschen aus ihren kulturellen, geistigen und religiösen Zusammenhängen voraus.
3
Anonym 1848: 293.
4
Siehe Kant 1784: 481-494.
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Das gefährliche Umschlagen dieser Abstraktion in eine absolut bindungslose Rationalität, das in der Französischen Revolution zur ‚Terrorherrschaft der Vernunft‘ geführt hatte, war ein zentrales Problem der Philosophie des 19. Jahrhunderts. Georg Wilhelm Hegel hat dies in seiner dialektischen Konzeption der „Entzweiung des Menschen“5 aufgenommen und formuliert. Die Begründung der subjektiven Freiheit durch die Universalität der Menschenrechte berge das Moment der Entzweiung in sich, so Hegel, nämlich den Widerspruch von geschichtsloser Abstraktion (Universalität der Menschenrechte) und geschichtlicher Substanz (Bindung an Herkunft und Sitte). Dies führe unweigerlich zu einem modernen existenziellen Zustand der Entzweiung in der bürgerlichen Gesellschaft, zu einer ‚negativen Freiheit‘, die Hegel positiv als Form einer Dialektik der Geschichte umwendet. 6 Damit beschreibt Hegel quasi die Grundkonstellation des modernen Subjektes. Gleichzeitig lässt sich aus dieser Abstraktion des Menschen, die in eine entzweite Subjektkonzeption mündet, die Situation einer spezifischen Geschichtsbewusstheit herleiten. Reinhart Koselleck hat in seiner grundlegenden Studie Kritik und Krise (1959) herausgearbeitet, inwiefern die Bürger in der Aufklärung in zunehmendem Maß eine kritische Distanz zu politischem Staatshandeln entwickelten und in Widerspruch zu einem Staat gerieten, der ihnen gleichzeitig politische Verantwortung vorenthielt.7 Nach der französischen Revolution weitete, wie ja Habermas in Strukturwandel der Öffentlichkeit (1962) analysiert hat, der nach vorne drängende Kapitalismus den öffentlichen Raum für die bürgerliche Kritik aus und es entwickelte sich ein weiteres Verlangen nach politischer Teilhabe. Davon ausgehend kann man auch das bürgerliche Theater als Teil dieser zunehmenden Beanspruchung des Öffentlichen betrachten. Sowohl im Theaterdiskurs als auch in der konkreten Aufführungs- und Darstellungspraxis der Zeit lassen sich Versuche ausmachen, diese Konzeption von ‚öffentlichem Theater‘ zu konturieren. Ich möchte allerdings in Abstand zu Haber-
5
Hegel entwickelte den Begriff der Entzweiung in seiner Differenzschrift im Zusammenhang mit dem „Bedürfnis der Philosophie“, also der notwendigen Funktion der Philosophie, die Entzweiung als dialektisches Verhältnis aus ihrer Fixierung auf das entgegen Gesetzte zu lösen. Siehe Hegel 1979: 20-25.
6
Siehe Ritter 1957: 33: „Es gibt keine Möglichkeit, dadurch aus der Entzweiung herauszukommen, daß man sich entweder auf die eine oder die andere Seite schlägt, um das ihr jeweils Entgegengesetzte als Nichtseiendes zum Verschwinden zu bringen. Subjektivität und Objektivität sind vielmehr geschichtlich aufeinander verwiesen; sie sind zusammen das substanziell ganze geschichtliche Dasein“ (Hervorhebung im Original).
7
Siehe Koselleck 1976: 8.
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mas nicht von einem normativen Modell von bürgerlicher Öffentlichkeit ausgehen8, sondern eher von einer Versuchsanordnung des Politischen durch Nutzung der öffentlichen Spielräume sprechen. Es wird angenommen, dass wir es in der Zeit zwischen 1800 und 1850 mit einer Experimentalphase des Öffentlichen zu tun haben. Mit dem Aufkommen der Massenpresse und der Durchsetzung eines institutionellen Theatermodells etablierten sich neue mediale Konfigurationen, die jedoch noch keineswegs verfestigt waren. Entsprechend war der Diskurs zur Öffentlichkeit vielschichtig und nicht ausgereift zur hegemonialen Durchsetzung einer Praxis des Öffentlichen als Leitmodell. Ausgehend von konkreten Fallbeispielen lassen sich mediale Knotenpunkte zwischen Theater, Presse und Staatsmacht als Krisen von Öffentlichkeit bestimmen, die Anzeichen der andauernden Verhandlungen und Aushandlungen waren um das, was öffentlich sein darf und was öffentlich wirksam sein kann. Es geht hier also nicht darum, ein Öffentlichkeitsmodell von Theater in einer bestimmten Zeit zu definieren, sondern anhand der Theaterarbeit von Robert Prutz (1816-1872) in den 1840er Jahren und seiner ‚Öffentlichkeitsarbeit‘ die konkrete Situation und Funktion von Öffentlichkeit spezifisch herauszuarbeiten.
D IE
THEATRALE
Ö FFENTLICHKEIT DES R OBERT P RUTZ
Der Linkshegelianer Robert Prutz (1816-1872) entwickelte seine Idee von Theater vor dem Hintergrund eines zunehmenden Anspruchs an das eigene politische Aktionspotential, der gespeist wurde von der modernen Subjektkonzeption und von neuen Medienentwicklungen. Die Einflussnahme Hegels war zu dieser Zeit nicht nur in literarischen Kreisen stark verbreitet, nein, seine Ideen gingen im Vormärz auch in den allgemeinen bürgerlichen Sprachgebrauch ein und erfuhren dort eine große Verbreitung. Inwiefern die Hegelsche Sentenz „Was vernünftig ist, das ist wirklich; und was wirklich ist, das ist vernünftig“9 den progressiven Theaterleuten und Literaten zu einem schlagenden Argument für ein politisches Theater und Tendenzdrama verhalf, erläutert Horst Denkler: Damit wurde einerseits der stetige Zuwachs an Freiheit in der Geschichte als vernunftgesteuert und das historisch gewordene Wirkliche als vernunftgewollt ausgegeben. […] Andererseits erschien nun unzeitgemäß und geschichtsfeindlich verweigerte Freiheit als grobe Vernunftwidrigkeit, die überkommen werden mußte, weil das Vernünftige – nach den elemen-
8
Hier befinde ich mich völlig im Einklang mit der kritischen US-Rezeption von Habermas,
9
Hegel 1995: 14.
wie sie in den Beiträgen in Calhoun 1992 differenziert vorgetragen wird.
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taren Gesetzen der Logik – Wirklichkeit zu gewinnen hatte. […] Mit dieser Argumentation gab Hegel seinen Schülern die durchschlagende Waffe für die Umwälzung der Realität an die Hand.10
In seinen Vorlesungen zur Geschichte des deutschen Theaters (1847) lässt Robert Prutz auch eine konsequente methodische Anwendung des Hegelschen Geschichtsbewusstseins erkennen. Dort postulierte Prutz, wir seien alle Kinder unserer Zeit und könnten uns ihr nicht entziehen. Und noch stärker sich dem Zeit der Geist verpflichtend, stellte er in seiner Geschichte des deutschen Journalismus (1845) fest, dass die Geschichte eines Volkes aus dem „Organismus des Geistes und seiner immanenten Nothwendigkeit“ hervorwachse und aus diesem Grunde jede Geschichte (also Geschichtsschreibung) als Geschichte des Geistes betrachtet werden müsse.11 Prutz formulierte hier im Prinzip den methodischen Ansatz einer Diskursanalyse avant la lettre. Diese Geschichte des Geistes komme nun, so Prutz, an einen Punkt, an dem der deutsche Geist sich aus seiner jahrhundertelangen ‚Innerlichkeit‘ befreie. „[J]etzt endlich, den Forderungen der Gegenwart, den Bedingungen unsrer eigenen Existenz Gehör gebend, rüsten wir uns, ein politisches, das heißt wahrhaft ein Volk zu werden.“12 Abzulehnen war daher die elitäre Haltung der Romantiker, welche die Kunst verstünden als „etwas Exclusives, Apartes, von dem das dumme Volke, die blödsinnige Masse nichts versteht und auch niemals etwas lernen noch ahnen noch fühlen wird.“13 Es müsse jetzt vielmehr darum gehen, das Volk als Teil des literarischen Geschehens zu integrieren, als Partner im politischen Kampf um Freiheit anzuerkennen. Gleichzeitig verpflichtete Prutz das Theater auf die Gegenwart und setzte im Prinzip eine Parallele zu den journalistischen Medien. In einer Art seismographisch reagierenden Spiegelung stelle das Theater die Gegenwart ins Bild und sei somit eng in die gegenwärtige oder auch geschichtliche Öffentlichkeit eingebunden: Kein anderer Zweig derselben […] ist so genau mit der Oeffentlichkeit verbunden, als das Theater; sogar es bildet selbst einen Theil dieser Oeffentlichkeit: ja es fehlt nicht viel, und es hat Zeiten und Völker gegeben, bei denen die Oeffentlichkeit des Theaters die einzige war, die überhaupt existirte – und auch sie war von Gensd’armen überwacht.14
10 Denkler 1973: 29. 11 Siehe Prutz 1845a. 12 Prutz 1847: 5. 13 Prutz 1847: 393. 14 Prutz 1847: 10.
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Öffentlichkeit und Gegenwartsbezug sollten das Theater zu einem politischen Medium der Zeit werden lassen. Prutz ließ seine Vorlesungen zur Geschichte des deutschen Theaters in einem politischen Aufruf gipfeln, der die Bühne zur ‚Vorkämpferin der Freiheit‘, zur ‚Feindin der Fürstenmacht‘ und als aus dem politischen Leben erwachsende Erscheinung idealisiert: Schon sehen Sie die leisen Anfänge erwachenden politischen Bewußtseins, die seit vier, fünf Jahren die Herzen unseres Volkes durchzittern, von den Anfängen einer neuen dramatischen Dichtung begleitet […] Derselbe Strom geistiger Bewegung, der die Erstarrung unseres öffentlichen Lebens zu lösen verspricht, berührt auch schon in munterm Wellenschlage die Welt des Theaters.15
Und Robert Prutz selbst war einer der Protagonisten dieser politischen „Anfänge einer neuen dramatischen Dichtung“.
MORITZ VON S ACHSEN Am 19. August 1844 wurde sein Stück Moritz von Sachsen am Königlichen Schauspielhaus aufgeführt und verursachte einen weit reichenden Theaterskandal. Das Stück, in dem es um Moritz von Sachsens (1521-1553) Kampf um Glaubensfreiheit im Zuge der Reformation geht, bringt deutlich politisch zündende Anspielungen auf das Recht des Volkes auf Geistesfreiheit und Widerstand gegen staatliche Willkürakte. So benennt der Hofnarr von Karl V. den politischen Zeitgeist und das probate fürstliche Gegenmittel: Ha, Politik! – Sie ist nun ’mal die Lieblingskost der Welt Und auch der Narr will seinen Theil daran! Die Welt hat sich ein wenig übergessen Am Kinderbrei der Häuslichkeit; sie hungert Nach den Fleischtöpfen der Historie. […] Das Volk braucht Viel – gieb ihm ein Weniges, Vom Abhub Deines Mahles – gib sie ihm! Und satt und stumm, schweifwedelnd, kriecht der Hund In seine kalte Hütte und schläft ein.16
15 Prutz 1847: 399. 16 Prutz 1845b: 94-95.
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Deutlich drückt Prutzens Narr aus, welcher politische Wind weht und obgleich er hier dem Kaiser eine Abwehrstrategie gegen politischen Aufruhr vorschlägt, so lässt sich dies auch gleichzeitig als eine Warnung an das politisch bewusster werdende Volk deuten, sich eben nicht mit dem „Abhub der Mahles“ abspeisen zu lassen. Der dritte Akt des Stückes schließt mit kämpferischen Freiheitsparolen. Moritz ruft, das Schwert ziehend: „Sonne der Freiheit, leuchte meinen Pfad!“ 17 Nach dem Abgang des Schauspielers jubelte das Publikum; lautstark wurde der Dichter hervorgerufen. Prutz erschien auf der Bühne und dankte dem Publikum. Dann jedoch überschritt er deutlich die Grenzen des sittlich und politisch Akzeptablen im Theater: Robert Prutz suchte die öffentliche politische Solidarisierung mit dem Publikum und drückte indirekt seinen Wunsch nach einer weiteren Zunahme der politischen Tendenzen aus. Prutz referierte dies später folgendermaßen: Vielleicht, fuhr ich fort, […] vielleicht, daß die Gesinnung, welche sich in meinem Stücke auszusprechen suche, mit sympathetischem Klang die Herzen der Zuschauer berührt und sie nachsichtig gemacht habe gegen die Schwächen meines Kunstwerks. Ich glaube daher, setzte ich hinzu, meinen Dank nicht besser aussprechen zu können, als durch den Wunsch, daß diese Gesinnung immer allgemeiner, immer kräftiger sich entfalte und in fröhlichem Wachsthum hervorbringe, beides, Werke des Lebens, Werke der Kunst – und unter Anderem auch beßre Theaterstücke, als heut das meinige. 18
Die Stimmung im Publikum war angeheizt, Prutz’ Rede wurde jubelnd aufgenommen. Das Stück wurde fortgesetzt und ging einem weiteren provokativen Höhepunkt entgegen: Im Finale dankt Kaiser Karl V. nach der militärischen Niederlage gegen Moritz von Sachsen zugunsten seines Bruders ab. In einer letzten Begegnung zwischen Moritz und Karl V. kann ersterer den Kaiser von der Richtigkeit seiner politischen Motive überzeugen. Karl V. tritt ab mit der Einsicht, dass es der Geist der Freiheit ist, dem er weichen müsse: Die Freiheit ist der wahre Herr der Welt! Ihr beug ich mich: mit meinem Blute zwar, Doch hast Du mich gelehrt und unterwiesen Und freudig steig’ ich ins lebend’ge Grab:
17 Prutz 1845b: 91. 18 „Immediatbeschwerde des Dr. ph. R. E. Prutz in Halle über das von einem Hohen Königl. Ministerium des Innern erlassene Verbot des Trauerspiels Moritz von Sachsen.“ Abgedruckt in: Prutz 1845b: 154-160, hier 158.
568 | MEIKE W AGNER Ich weiß ja doch, daß Einer bleiben wird, Unsterblich Einer, der die Welt regiert, Wenn Du und ich in Asche längst zerfielen: Es bleibt der Geist, der heute mich entthront! – 19
Und dieser Geist ist natürlich der Geist der Freiheit, der sich nicht mehr aufhalten lässt und dem selbst der größte Kaiser seine Macht zu Füßen zu legen gezwungen ist. Damit hatte Robert Prutz im Gewande des historischen Stoffes allerhand Zündstoff für die Preußischen Obrigkeiten geliefert. Das Verbot der Aufführung folgte auf dem Fuße, bereits die zweite Vorstellung am 22. August 1844 konnte nicht mehr stattfinden. Am 2. September 1844 erging das Aufführungsverbot für ganz Preußen.20 Der Augenzeugen-Bericht des ehemaligen Justizministers Karl von Kamptz21 ließ keinen Zweifel offen an der politischen Brisanz des Dramas: Das Stück ist nicht allein eine ganz unhistorische, vom Zaun gebrochene Apotheose der modernen Freiheit, sondern auch eine eben so verschlagen bemäntelte, wie böswillig angelegte Invective gegen das monarchische Princip. Moritz von Sachsen kämpft und siegt darin als der Verfechter der Freiheit – nicht der religiösen oder der deutschen – gegenüber Karl V., dem Vertreter des monarchischen Principes, welcher endlich die politische Bühne mit der Erkenntnis verläßt, daß sein Streben das falsche gewesen und gegen die Bewegung der freien Geister nicht anzukämpfen sei. 22
Kamptz unterstellte Prutz weiters, eine ‚politische Claque‘ mobilisiert zu haben: „[…] daß Sperrsitz und Parterre von auffallend vielen jüngeren Männern in Besitz genommen waren, ließen es erkennen, daß nicht allein das Kunstinteresse das
19 Prutz 1845b: 132. 20 Siehe GStA, I HA, Rep. 77, Tit. 1000, Nr. 5, Bd. 1. Runderlass des Innenministeriums, 2. September 1844. 21 Siehe GStA, I HA, Rep. 77, Tit. 1000, Nr. 5, Bd. 1. Kamptz hatte sich in den späten 1810er und frühen 20er Jahren als unbarmherziger Verfolger jeder liberalen Tendenz hervorgetan. Während seiner Tätigkeit als Direktor im preußischen Polizeiministerium und Mitglied der Untersuchungskommission des deutschen Bundes hatte er sich in der Demagogenverfolgung einen höchst verhassten Namen gemacht. 1824 wechselte er ins Justizministerium, 1832 bis 1842 war er Staats- und Justizminister. Sein Bericht über den Theaterskandal und die Einmischung in den Fall Prutz sprechen von seiner ungebrochen konservativen Gesinnung gegenüber dem politischen Wandel. 22 GStA, I HA, Rep. 77, Tit. 1000, Nr. 5, Bd. 1.
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Publicum angezogen hatte.“ 23 Jede anstößige, d.h. politisch anspielende Stelle des Stückes sei mit stürmischem Applaus aus dem Parterre und der Galerie aufgenommen worden.24 Das Heraustreten und die Ansprache des Dichters Prutz stellte für Kamptz den Höhepunkt der politischen Provokation dar, „meines unvorgreiflichen Dafürhaltens hätte bei der bekannten Gesinnung dieses Mannes es demselben zur Pflicht gemacht werden müssen, in dem Falle des Hervorrufens nicht zu dem Publicum zu sprechen.“ 25 Auch wenn das Theaterstück politische Anspielungen aufweist, so war doch die Aufführungssituation die eigentliche Provokation, wenn Parterre, Galerie und Dichter das vorgeschriebene Format sprengten und somit ein gefährliches politisches Potential freizusetzen drohten.
D IE E RKLÄRUNGSNOT DER AUTORITÄTEN Da der Theaterskandal bereits zwei Tage später durch eine ausführliche Rezension der Königlich privilegirten Berlinischen Zeitung26, die auch die Dichter-Rede zitierte, publizistisch bekannt gemacht worden war, musste es das Bestreben der preußischen Behörden sein, ihre folgenden Kontroll- und Zensur-Maßnahmen weitgehend unauffällig wirken zu lassen, aus Furcht vor einer heftigen Reaktion eben seitens der theatralen und journalistischen Öffentlichkeit. Und so lag auch Kamptz’ Vorschlag für das weitere Vorgehen auf dieser Linie der ‚unauffälligen Kontrollübernahme‘, nämlich, „das Trauerspiel von Prutz morgen nicht zur Aufführung zuzulassen, vielmehr unter der Angabe, daß einer der Darsteller erkrankt sei, eine andere Vorstellung statt finden zu lassen.“27 Was nun folgte, war ein Ausweis der Prutzschen Selbstwahrnehmung als aktives politisches Subjekt. Nicht nur, dass er ein deutlich politisches Stück zur Aufführung brachte und die öffentliche Kommunikation der Theatersituation nutzte, um die politische Gesinnung der Anwesenden zu beschwören, nein, er lieferte sich mit den preußischen Behörden einen politischen Schlagabtausch um das Aufführungsrecht. Am 30. August 1844 legte er eine Immediatbeschwerde beim König ein. Prutz trat hier selbstbewusst gegenüber dem König auf und berief sich auf die Freiheit der Kunst: „Diese Freiheit [innerhalb des Gesetzes sich selbständig zu entfalten], die schon nicht mehr eine Königliche Gnade, eine Vergünstigung der Königli-
23 GStA, I HA, Rep. 77, Tit. 1000, Nr. 5, Bd. 1. 24 Siehe GStA, I HA, Rep. 77, Tit. 1000, Nr. 5, Bd. 1. 25 GStA, I HA, Rep. 77, Tit. 1000, Nr. 5, Bd. 1. 26 Anonym 1844. 27 Anonym 1844.
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chen Macht, nein! die ein Recht der Kunst ist, nehm’ auch ich, als ein R e c h t meines Kunstwerks, für dasselbe in Anspruch.“28 Prutz ahnte, dass seine Rede an das Publikum der eigentliche Grund für das Aufführungsverbot sei, und benannte dies offen in seiner Beschwerde. Weder inhaltlich noch formal konnte er jedoch einen Gesetzesverstoß darin finden. 29 Rhetorisch geschickt argumentierte Prutz mit der Frage nach der Gesetzmäßigkeit seines Handelns und bat den König, das Innenministerium anzuweisen, ihm die Gründe für das Verbot zu nennen und ihn im Falle eines strafrechtlichen Vergehens gerichtlich zur Verantwortung zu ziehen oder anderenfalls das Verbot aufzuheben. 30 Der Innenminister musste einen guten und rechtlich fundierten Grund finden, die für gefährlich erachtete Aufführung des Stücks in ganz Preußen zu verbieten. Und das gelang ihm. Im Runderlass an alle preußischen Regierungspräsidenten vom 2. September 1844 bestimmte er ein allgemeines Aufführungsverbot, da ein verstorbenes Mitglied der königlichen Familie, nämlich der Markgraf Albrecht, auf die Bühne gebracht würde.31 Die Kabinettsorder, auf die sich der Runderlass bezog, war anlässlich des Lustspiels Zopf und Schwert von Karl Gutzkow am 20. April 1844, ergangen.32 Dies war auch die knappe Begründung, die Robert Prutz am 7. Oktober 1844 vom Hausministerium auf seine Frage nach den Gründen des Verbots erhielt.33 Doch Prutz ließ nicht locker, er schickte eine geänderte Fassung des Stückes zurück34, in der er den Markgrafen Albrecht herausgestrichen hatte, mit der Bitte um nunmehrige Erlaubnis der Aufführung. Die abschlägige Antwort des Hausministe-
28 Prutz 1845b: 156-157. Hervorhebung im Original. 29 Siehe Prutz 1845b: 156-157. 30 Siehe Prutz 1845b: 156-157. 31 Siehe GStA, I HA, Rep. 77, Tit. 1000, Nr. 5, Bd. 1, Runderlass des Innenministeriums, 2. September 1844. 32 Gutzkow hatte in diesem Stück Friedrich Wilhelm I. auf die Bühne gebracht, siehe Houben 1965: 319. Dort führte Houben auch die ergänzende Kabinettsorder vom 13. Juli 1844 an, die besagte, dass vom Darstellungsverbot betroffene Stücke, sobald sie auf dem königlichen Theater in Berlin aufgeführt würden, für ganz Preußen erlaubt seien. Houben erläutert ausführlich die Aufführungs- und Zensurgeschichte von Gutzkows Zopf und Schwert, siehe Houben 1965: 315-323. 33 Siehe „Antwortschreiben Eines Hohen Ministeriums des Königlichen Hauses an den Dr. ph. R. E. Prutz in Halle auf dessen Immediatbeschwerde vom 30. August 1844“, in: Prutz 1845b: 161-162. 34 Siehe „Eingabe des Dr. ph. R. E. Prutz zu Halle an Ein Hohes Ministerium des Königlichen Hauses, in Erwiederung des von gedachtem Hohen Ministerium ihm zugegangenen Schreibens vom 7. October 1844“, in: Prutz 1845b: 163-164.
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riums vom 6. November 184435 war eine Herausforderung für den jungen Dichter dar. Prutz unterstellte in seiner Antwort einen willkürlichen Machtakt, das Verbot sei „lediglich als Act der Königlichen Souveränität“ zu betrachten, der jeder Rechtsgrundlage entbehre36 und forderte, „daß man mir n eue Gründe nachweise, welche das Verbot auch des geänderten Stückes g es et zli ch rechtfertigen.“37 Prutz berief sich hier beharrlich auf transparente und verlässliche Verfahren des Rechtsstaates, die doch völlig konträr liefen zur Praxis der Machtausübung im Preußen des frühen 19. Jahrhunderts. Deutlich wird hier, inwieweit der politische Diskurs von Literaten und politisch Denkenden der Zeit und das obrigkeitsstaatliche Handeln der preußischen Monarchie auseinanderklafften. Obgleich sein Stück weiterhin verboten blieb, ließ sich Prutz eine weitere Handlungsmöglichkeit nicht nehmen. Er veröffentlichte den kompletten Aktensatz der Auseinandersetzung mit den preußischen Behörden38 im Anhang seines Stückes, das 1845 vom Literarischen Comptoir in Zürich herausgegeben wurde. In dieser Zeitphase – Ende der 1830er bis Mitte der 1840er Jahre – war die Schweiz ein wichtiger Druck- und Verlagsort für kritische Schriften. 39 Zunächst bedankte er sich ironisch für die ungeheure „Celebrität“40, die sein Stück bzw. seine Person durch die preußischen Restriktionen nun genösse, dann aber reflektierte er sehr genau die Wirkung einer Veröffentlichung des Aktenverlaufs der Auseinandersetzungen. 1845 erläuterte Prutz in der Einleitung des Anhangs zur Edition von Moritz von Sachsen die Motivation für die Veröffentlichung der preußischen Aktenstücke.
35 Siehe „Antwortschreiben Eines Hohen Ministerium des Königlichen Hauses an den Dr. ph. R. E. Prutz in Halle auf dessen Eingabe vom 12. October 1844“, in: Prutz 1845b: 165. 36 Siehe „Immediateingabe des Dr. R. E. Prutz in Halle über das fortbestehende Verbot seines Trauerspiels Moritz von Sachsen“, in: Prutz 1845b: 166-171, 168. 37 Prutz 1845b: 169. 38 Als Vorbild für eine solche Öffentlichkeitsstrategie kann hier der Freund und Kollege Arnold Ruge gelten, der etwa in den von ihm 1843 herausgegebenen und in der Schweiz (ebenfalls im Verlag des literarischen Comptoirs) verlegten Anekdota zur neuesten Philosophie und Publicistik eine „Aktenmäßige Darlegung der Censurverhältnisse der Hallischen und Deutschen Jahrbücher in den Jahren 1839, 1841 und 1842“ veröffentlichte. 39 Siehe Ziegler 1983: 123. Prutz veröffentlichte sein Stück Moritz von Sachsen im liberalen Verlag des Literarischen Comptoir. Zur Rolle der Schweizer Verlage für den deutschen Liberalismus vgl. Keller 1935, darin speziell zum Literarischen Comptoir 46-68. Das Literarische Comptoir traf im März 1845 das Debitverbot, somit die Einfuhrmöglichkeit seiner Erzeugnisse in die Länder des Deutschen Bundes (siehe Schneider 1966: 268 und Anm. 103). 40 Prutz 1845b: 143.
572 | MEIKE W AGNER Nicht also […] aus irgend einem persönlichen Motive: meine Person ist bei der ganzen Angelegenheit schon mehr ins Spiel gezogen worden, als mir lieb war – auch nicht etwa um mich vor dem Publicum zu rechtfertigen: das Publicum selber hat mir diese Mühe, in einer mich beschämenden Weise, abgenommen – noch weniger, um die preußischen Behörden wegen der Unterdrückung meines Stückes, vor der öffentlichen Meinung anzuklagen: ich bin ihnen ja im Gegentheile Dank schuldig – sondern lediglich als einen Beitrag zur Kenntniß des gegenwärtigen Rechtszustandes der deutschen Bühne, als ein Problem, an welchem der Witz unsrer Rechtsgelehrten, der Scharfsinn unsrer Gesetzgeber sich üben möge, ja wenn es sein kann, als ein Samenkorn zu dem organischen Wachsthum einer künftigen, historisch gewordenen Bühnengesetzgebung, habe ich meinem Stücke diesen Anhang beigefügt, und theile ich namentlich im Nachfolgenden die hauptsächlichsten Actenstücke mit, welche in dieser Angelegenheit gewechselt worden sind. Ich enthalte mich dabei aller Zwischenreden und eigener Zusätze, um das freie Urtheil, das sich ein jeder aus Lesung dieser Actenstücke bilden wird, in nichts zu beschränken, noch auch die eigenthümliche Beweiskraft derselben zu schwächen. 41
Prutz setzte also hier ein allgemeines Interesse an der historischen Entwicklung eines ‚Theatergesetzes‘ voraus, das die aus den Aktenstücken sprechende willkürliche Handlungsmacht des preußischen Staates verhindern sollte. Letztlich unterstellte er hier, dass auch der preußische Staat an einer solch transparenten Regelung künftiger Konflikte im Bereich der Theaterpraxis interessiert sein müsste und brachte also seine Veröffentlichung in eine Reihe mit durchaus legitimierten Reformversuchen. Auch der hier betont neutrale und unkommentierte Abdruck der Aktenstücke deutet in diese Richtung, Prutz mochte nicht in den Ruf der Meinungsmache kommen. Er wollte sein Anliegen und sein Vorgehen der Veröffentlichung als legitimes bürgerliches Recht darstellen. Aber er nahm die Öffentlichkeit in Anspruch, um solche offenen Fragen, wie die nach der Gesetzeskraft einer nicht im Amtsblatt veröffentlichten Bestimmung (Darstellungsverbot per Kabinettsorder) und die nach der finanziellen Haftung der beteiligten Instanzen – das Stück sei von der Intendanz der Hofbühne genehmigt worden, wer müsse nun, bei späterem Eingreifen des Innenministeriums für den Verlust des Dichters bei der Versagung weiterer Aufführungen und vereinbarter Tantiemen42 aufkommen – einem öffentlichen Diskurs zu übergeben. Der Abdruck der preußischen Aktenstücke alleine stellte schon eine Provokation an den preußischen Staat und das königliche Haus dar. Prutz veröffentlichte seine wiederholten schriftlichen Eingaben wegen einer Aufhebung des Auffüh41 Prutz 1845b: 149-150. 42 Der General-Intendant der königlichen Bühnen, Karl Theodor von Küstner, hatte im März 1844 das Tantieme-System für das Hoftheater eingeführt, vgl. „Bekanntmachung vom 10. März 1844“, in: Allgemeine Theaterzeitung (27. März 1844).
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rungsverbotes und die jeweilig abschlägigen Bescheide des Haus- und Innenministeriums. Aus den Akten wird deutlich ersichtlich, dass Prutz die Argumentation für das Verbot aushebelte, so dass den preußischen Behörden nur der Willkürakt für die Beibehaltung des Verbots übrig blieb. Relativiert wurde dieser öffentliche Schachzug jedoch von Prutz mit der sachlichen juristischen Begründung und dem Projekt eines ‚Bühnenrechts‘. Prutz gelang 1845 eine doppelte öffentlichkeitspolitische Strategie: einmal die persönliche Provokation und dann gleichzeitig die Rückführung des Angriffs auf die Frage eines allgemeinen politischen Interesses. Damit machte Prutz deutlich, dass er sich als politischer Theaterakteur in der Öffentlichkeit behauptete und nicht willens war, der preußischen ‚Entmündigung‘ stattzugeben. Der Versuch, das Theater zum politischen Medium der Öffentlichkeit zu machen, gelang hier zwar nur teilweise, der Anspruch einer politischen Handlungsfreiheit basierend auf einer modernen Subjektkonzeption ließ sich jedoch nicht mehr vollständig zurückdrängen. Er handelte medienübergreifend in der Öffentlichkeit und positionierte sich so als politisches Subjekt: Robert Prutz als politischer Theater- und Öffentlichkeitsakteur.
L ITERATUR Anonym: Beilage zur Königlich privilegirten Berlinischen Zeitung Nr. 195 (21.08.1844). Anonym: „Gedanken über die Aufgabe des deutschen Dramas nach der Befreiung Deutschlands“, in: Rötscher, Theodor (Hg.): Jahrbücher für dramatische Kunst und Literatur. Berlin/Frankfurt an der Oder: Trowitzsch & Sohn 1848. Calhoun, Craig (Hg.): Habermas and the Public Sphere. Cambridge et al.: MIT Press 1992. Denkler, Horst: Restauration und Revolution. Politische Tendenzen im deutschen Drama zwischen Wiener Kongress und Märzrevolution. München: Fink 1973. Geheimes Staatsarchiv (GStA), I HA, Rep. 77, Tit. 1000, Nr. 5, Bd. 1. Runderlass des Innenministeriums, 2. September 1844. Habermas, Jürgen: Strukturwandel der Öffentlichkeit. Untersuchungen zu einer Kategorie der bürgerlichen Gesellschaft. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1990 [Unveränderter Nachdruck der Ausgabe von Neuwied: Luchterhand 1962]. Hegel, Georg Wilhelm Friedrich: Differenz des Fichteschen und des Schellingschen Systems der Philosophie. (=Werke, Bd. 2) [orig. 1801] Hg. von Eva Moldenhauer und Karl Markus Michel. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1979. Hegel, Georg Wilhelm Friedrich: Grundlinien der Philosophie des Rechts. Textedition von Johannes Hoffmeister. Hamburg: Meiner 1995. Houben, Hubert Heinrich: Verbotene Literatur von der klassischen Zeit bis zur Gegenwart. Bd. 1. Hildesheim: Olms 1965.
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Kant, Immanuel: „Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung?“, in: Berlinische Monatsschrift 12 (1784), 481-494. Keller, Hans Gustav: Die politischen Verlagsanstalten und Druckereien in der Schweiz 1840-1848. Ihre Bedeutung für die Vorgeschichte der Deutschen Revolution von 1848. Bern u.a.: Haupt 1935. Koselleck, Reinhart: Kritik und Krise. Eine Studie zur Pathogenese der bürgerlichen Welt. Frankfurt am Main: Suhrkamp 21976. Prutz, Robert E.: Geschichte des deutschen Journalismus. Hannover: Kius 1845a. Prutz, Robert E.: Moritz von Sachsen. Trauerspiel in fünf Akten. Zürich/Winterthur: Verlag des literarischen Comptoirs 1845b. Prutz, Robert E.: Vorlesungen über die Geschichte des deutschen Theaters. Berlin: Duncker & Humblot 1847. Ritter, Joachim: Hegel und die französische Revolution. Köln/Opladen: Westdeutscher Verlag 1957. Schneider, Franz: Pressefreiheit und politische Öffentlichkeit. Studien zur politischen Geschichte Deutschlands bis 1848. Neuwied/Berlin: Luchterhand 1966. Ziegler, Edda: Literarische Zensur in Deutschland 1819-1848. München/Wien: Hanser 1983.
Kriegsmaschinentheater Versehrte Körper, entmachtete Subjekte, aufständische Dinge – vom Unterhaltungstheater zur Avantgarde (1914-1922) E VA K RIVANEC
Das rationale, selbstidentische und sich selbst transparente Subjekt, das die Aufklärung ins Zentrum gestellt hatte, war auf theoretischer Ebene schon Jahrzehnte vor 1914 in Frage gestellt worden. Interessant scheint mir aber, dass Sigmund Freud gerade im Jahr 1917, mitten im Ersten Weltkrieg, in dem kurzen Aufsatz „Eine Schwierigkeit der Psychoanalyse“ seine bekannte These entwickelte, „daß der allgemeine Narzissmus, die Eigenliebe der Menschheit, bis jetzt drei schwere Kränkungen von seiten der wissenschaftlichen Forschung erfahren hat“.1 Die dritte dieser Kränkungen schreibt Freud sich selbst und der Psychoanalyse zu, „daß das Ich nicht Herr sei in seinem eigenen Haus“2, während die ersten zwei Kränkungen den Menschen bereits durch die Entdeckung des Kopernikus – der Mensch befindet sich nicht im Mittelpunkt des Weltalls – sowie Darwins Evolutionstheorie – der Mensch ist „nichts anderes und nichts besseres als die Tiere“ 3 – zugefügt worden seien. Doch dies ist nur die eine Ebene einer sich steigernden Entmachtung des Subjekts. Denn während Freud diese These zu Papier brachte, hat der Erste Weltkrieg als industrieller Massenkrieg, als zermürbende Materialschlacht, auf einer ganz materiellen Ebene die Konzeption des Subjekts bis hin zur Integrität des Körpers und zur Intelligibilität der Wahrnehmung fundamental beschädigt. Auf welche Arten der Krieg nicht nur einer selbstbestimmten Subjektivität zu Leibe rückte, sondern auch Körper und Sinneseindrücke angriff, soll im ersten Teil dieses Beitrags erörtert werden. Im zweiten Teil folge ich exemplarisch anhand ei-
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Freud 1917: 3.
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Freud 1917: 7.
3
Freud 1917: 4.
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niger erfolgreicher Kriegsproduktionen aus Berlin, Paris und Wien den Spuren des ‚entmachteten Subjekts‘ im Unterhaltungstheater. Der dritte Teil schließlich soll eine Verbindung zwischen populären – auch propagandistischen – Theaterformen und der frühen Avantgarde herstellen, in deren verschiedenen Ausprägungen, oft ins Groteske verfremdet, Körper zerlegt oder mechanisch zusammengesetzt, Maschinen selbständig und Dinge aufsässig wurden.
D IE FUNDAMENTALE B ESCHÄDIGUNG DES S UBJEKTS IM E RSTEN W ELTKRIEG Wache Zeitgenossen registrierten schon sehr früh und sehr genau, welche neuen Dimensionen der Zerstörung dieser Krieg mit sich brachte und in welche (vermeintlich geschützten) Bereiche diese Zerstörung vordrang. Alfred Polgar beschrieb im Januar 1915 das Unbehagen, das ihn bei einem Theaterbesuch in Wien erfasste, angesichts der Tatsache, dass die Realität des Krieges in diesem – wie er sagte – „geräumigen Unterschlupf“4 geleugnet zu sein schien. In einer Beschreibung der Szenerie im Zuschauerraum verschaffte sich die Wirklichkeit an unerwarteten Stellen Einlass: „Das Parterre sitzt wohlgeordnet, in den ersten Reihen der Ränge liegt es wie Linien abgeschlagener Köpfe hinter der samtenen Brüstung.“ 5 Schließlich „läuft eine Welle von Gelächter durch den Saal, brandet in den Gesichtern und macht sie für ein paar Augenblicke in einer schiefen Grimasse erstarren. Bei einigen liegt das Zahnfleisch ganz bloß und die Augen werden so klein wie Durchschlagsöffnungen eines Gewehrprojektils“6. Zu diesem Zeitpunkt waren die ersten Verwundeten und Kriegsversehrten bereits von der Front zurückgekehrt; sie machten deutlich, dass es kein sauberer, auch kein heldenhafter Krieg war, sondern im Gegenteil ein schmutziger und von Technik bestimmter Abnutzungskrieg, der hier stattfand. In Polgars Text überlagern sich diese zwei Wahrnehmungsebenen – die geschützte Innenwelt der Hauptstadttheater und die geradezu groteske Brutalität und Zerstörung der Körper ‚draußen im Feld‘. Tatsächlich erschütterten die neuartige technische Kriegsführung und die Erlebnisse, denen die Soldaten an der Front ausgesetzt waren, selbst elementare Wahrnehmungskategorien wie die gewohnten Raum- und Zeitwahrnehmungen, sie zerstörten die Einheit und Folgerichtigkeit von Ereignissen. Der Kontrast zwischen den langen Momenten des angespannten und scheinbar endlosen Wartens in den Schützengräben und den unendlich kurzen Augenblicken, die Leben und Tod trennten, warfen eine lineare, kontinuierliche und einheitliche Zeitwahrnehmung unweiger4
Polgar 2004: 4.
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Polgar 2004: 3-4.
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Polgar 2004: 4.
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lich durcheinander.7 Auch die Ödnis und Leere des Schlachtfelds, das nur noch vom Flugzeug aus überblickt und vermessen werden konnte, stand in krassem Widerspruch zur Möglichkeit, dass jederzeit aus dem Nichts Artilleriefeuer oder eine Gaswolke herankommen konnten. Menschen verloren innerhalb von Sekunden ihre körperliche Integrität. Überlebende verloren Gliedmaßen oder Teile ihres Gesichts, Tote waren oft nur noch zerstückelt und in Teilen aufzufinden. Un soir, Jacques en patrouille a vu, sous leurs capotes déteintes, des rats s’enfuir, des rats énormes, gras de viande humaine. Le cœur battant, il rampait vers un mort. Le casque avait roulé. L’homme montrait sa tête grimaçante, vide de chair; le crâne à nu, les yeux mangés. Un dentier avait glissé sur la chemise pourrie et de la bouche béante une bête immonde avait sauté.8
Mit solcherart entgrenzten Wahrnehmungen konfrontiert, erlebten die Soldaten an der Front, aber auch jene, die sahen, wie die Verletzten und Verstümmelten in die Lazarette und Spitäler eingeliefert wurden, die Zerstörung der Idee eines unverletzten, ganzen Körpers als existenziellen und zutiefst verstörenden Schock. Joseph Roth schrieb 1920, anlässlich eines Besuchs in einem Garnisonslazarett, in einer an Schärfe kaum zu überbietenden Reportage mit dem Titel „Lebende Kriegsdenkmäler“: Wißt ihr was das sind: Kieferbeschädigte? Es sind Menschen, die Gott nach seinem Ebenbilde schuf und die dann der Krieg nach seinem Ebenbild umarbeitete. Hier siehst du die Fratze der Großen Zeit. So sah der Krieg aus: Das Kinn ist weggeschossen und Nase und Oberlippe hängen frei in der Luft. Oder nur ein halbes Kinn fehlt. Und dafür eine Nasenhälfte der Länge nach. Oder quer durch das ganze Gesicht fuhr eine Granate spazieren und ihr Führungsring blieb im Ebenbilde Gottes haften. […] Oder irgendeinem fehlt der Mund, die Lippen fehlen, die Lippen, mit denen er küssen, flüstern konnte. Die Lippen, nur die Lippen… Es ist den „Kieferbeschädigten“ verboten, Photographien ihrer Entstelltheit zu besitzen. Es ist verboten, der Öffentlichkeit Kieferbeschädigungen bzw. Gipsabgüsse, die im Lazarett aufbewahrt sind, zu zeigen. Warum? In allen illustrierten Blättern der Welt, in allen Museen, an allen Litfasssäulen sollten Kieferbeschädigungen zu sehen sein. Und das Kultusministerium
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Siehe Rogg 2006: 267-280.
8
„Eines Abends hat Jacques beim Patrouillengang unter ausgebleichten Mänteln Ratten weglaufen gesehen, riesige Ratten, fett gefressen von Menschenfleisch. Mit Herzklopfen ist er zu einem Toten gekrochen. Der Helm war heruntergerollt. Der Mann zeigte seinen Schädel mit Grimasse, ohne Fleisch; die Schädelknochen nackt, die Augen gefressen. Ein Gebiss war auf das verrottende Hemd gerutscht und aus dem weit offen stehenden Mund war ein ekelerregendes Tier gesprungen“ [Übersetzung E.K.], (Zeugenbericht von Raymond Naegelen, zit. nach Ferro 1969: 163).
578 | E VA K RIVANEC sollte für die Dauer eines halben Jahres anordnen, daß in sämtlichen Kinotheatern Deutschlands vor dem Beginn der Meßterwoche und am Schluß des siebenundsiebzigsten Teiles der „Vampire“ ein Bild gezeigt werde: der Mann ohne Lippen. 9
Die in ihren Dimensionen völlig neue Zerstörungskraft der Waffentechnik im Ersten Weltkrieg führte zu einem Kollaps der gewohnten Ordnung in vielerlei Hinsicht. Sämtliche Erfahrungen der Vorkriegszeit wurden – wie Walter Benjamin in dem kurzen Essay „Erfahrung und Armut“ schreibt – durch die Kriegsereignisse „Lügen gestraft“10: „die strategischen durch den Stellungskrieg, die wirtschaftlichen durch die Inflation, die körperlichen durch den Hunger, die sittlichen durch die Machthaber“11.
S PUREN
DER ‚E NTMACHTUNG DES S UBJEKTS ‘ IM POPULÄREN U NTERHALTUNGSTHEATER AB 1914 Die Spuren dieser von Benjamin als Krise der Erfahrung charakterisierten Krisenerfahrung der europäischen Gesellschaften im Krieg finden sich in der kulturellen Produktion nicht erst nach dem Krieg, sondern schon bald nach dessen Beginn. Gerade das populäre Unterhaltungstheater in seinen diversen Genres – Operette, Revue, Varieté, Zirkus etc. – reagierte besonders sensibel auf die fundamentale Beschädigung von souveränem Subjekt und kontinuierlicher Erzählung. In der Operette etwa erleben wir eine Art ‚fröhliche Apokalypse‘, die in ihrer Überdrehtheit symptomatisch ist für ein diffuses Unbehagen – so zum Beispiel in Emmerich Kálmáns Csárdásfürstin (Uraufführung am 17.11.1915, Johann-StraußTheater, Wien). In der überbordenden, fast manischen Vitalität gegen Schluss des Stücks verbirgt sich mehr als nur eine apokalyptische Verszeile – getanzt wird, auch wenn die ganze Welt versinkt. So etwa im Refrain des Terzetts im Dritten Akt, in dem in immer schnellerem Tempo die Protagonisten Feri, Sylva und Boni singen: Jaj, mamám, Bruderherz, ich kauf’ mir die Welt! Jaj, mamám, was liegt mir am lumpigen Geld! Weißt du, wie lange noch der Globus sich dreht, Ob es morgen nicht schon zu spät!12
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Roth 1989: 351-352. Hervorhebungen im Original.
10 Benjamin 2006: 213. 11 Benjamin 2006: 213-214. 12 Stein/Jenbach 1916: 33.
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Das Stück schließt mit der berühmten Verszeile, die wohl ein dominantes Lebensund Weltgefühl von 1915 auf den Punkt brachte: „Mag die ganze Welt versinken,/ Hab ich dich!“ 13 Die Csárdásfürstin war der Kriegserfolg auf den Wiener Bühnen; nach 533 En-Suite-Aufführungen legte sich die erste Euphorie zwar ein wenig, doch viele weitere Aufführungen folgten noch. Wiederholt findet man in den Kritiken und Feuilletons Bemerkungen dazu, dass dem Theaterpublikum in diesem Krieg der Sinn ganz nach Revuen stehe, dass es keine Geduld für lange Erzählungen habe. „On écoute une revue, comme on lit un journal, avec l’obsession de l’actualité.“14 Und tatsächlich fand das Modell der Revue – die lose Aneinanderreihung einzelner Nummern, die nur durch eine oder zwei Figuren (commère, compère), die das Publikum durch den Abend geleiten, zusammengehalten wird – Eingang in zahlreiche andere Theatergenres. Die klassische bürgerliche Theaterillusion, die wesentlich mit der Einhaltung einer linearen Dramaturgie und einer psychologischen Figurenzeichnung verbunden ist, wurde immer häufiger gebrochen zugunsten einer Dramaturgie des Spektakulären, in der jede Einzelszene versucht, mit ihrem Neuigkeitswert, mit Witz, aufwändiger Bühnentechnik und Kostümgestaltung, die Aufmerksamkeit des Publikums zu gewinnen. Bis in die Zentren der Hochkultur drang das Modell von Revue und Varieté während des Kriegs vor: Die Opéra de Paris brachte während der Kriegsjahre vorzugsweise ‚Opern-Potpourris‘, d.h. Zusammenstellungen einzelner Akte aus verschiedenen Opern auf die Bühne. Dies war einerseits dem kriegsbedingt geschrumpften Ensemble geschuldet, das mitunter keine vollständige Besetzung einer großen Oper zuließ. Doch es entsprach wohl auch einem Bedürfnis des Publikums, gut dosierte, bekannte und besonders hörenswerte ‚Opernhäppchen‘ serviert zu bekommen. Auch in der Figurenzeichnung und im Schauspielstil wurde die Revue paradigmatisch für eine neue Unterhaltungsästhetik. Die Figuren waren immer weniger konsistente, psychologisch motivierte Individuen, auch keine Typen wie in der klassischen Komödie, sondern eher fragmentarische, aber durchaus lebensnahe Figuren, bei denen die Ambivalenz zwischen Verkörperung der Figur und Präsenz des Schauspielerkörpers offen zur Schau getragen wurde. In den entstehenden Choreographien von Revue-Girls verschob sich das Verhältnis nun vollends hin zur Bühnenpräsenz der Körper, oder besser gesagt: eines Kollektivkörpers, weg von der Subjektivität einer handelnden Figur auf der Bühne. Dementsprechend berichteten Kritiker auch über einen neuartigen Schauspielstil, den sie meist direkt mit dem Film in Verbindung brachten, oft auch ‚kinematographischen Stil‘ nannten. Gemeint waren damit vor allem Geschwindigkeit in der Bewegung, starke Mimik und Gestik, eine virtuose, schnelle Sprechweise, die 13 Stein/Jenbach 1916: 35. 14 „Man sieht eine Revue wie man eine Zeitung liest, mit dem obsessiven Drang nach Aktualität“ [Übersetzung E.K.], (Brisson 1915).
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nichts Getragenes an sich hatte, und, wie es der französische Kritiker Guillot de Saix ausdrückte, die „clownesken Einfälle“ 15 des Schauspielers, der so den Reiz der Improvisation wieder auf der Bühne etablierte. Gleichzeitig lässt sich während der Kriegsjahre auch die wachsende Bedeutung von Kriegsgerät und allgemeiner von den neuesten Maschinen und technischen Erfindungen auf der Bühne nachvollziehen. In den frühen Kriegsstücken im Herbst 1914 spielten Waffen und Kriegsmaschinen zunächst lediglich auf diskursiver Ebene eine Rolle. Zeppeline, Kriegsschiffe, Bomben und Kanonen wurden besungen und deren Schlagkraft gefeiert. Zusehends wurde jedoch dieses neue Kriegsgerät, selbst U-Boote oder Flugzeuge, direkt auf die Bühne gebracht, im Rahmen von spektakulären Sensationsstücken, ‚Kriegsmanegestücken‘ oder anderen monumentalen Schauereignissen. In dem Sensationsstück Les Exploits d’une petite Française (Uraufführung am 10.12.1915, Théâtre du Châtelet, Paris) verfolgte das Publikum einen regelrechten Krieg um eine Kriegserfindung. „Un vieil ingénieur français, émigré en Australie, a inventé un explosif nouveau qui nous assurerait une prompte et définitive victoire; le colonel allemand von Blitz a reçu l’ordre de s’approprier la découverte à tout prix.“16 Daraufhin kommt es zu einer wilden Verfolgungsjagd, die die Protagonisten des Stücks von einem Ende der Welt zum anderen bringt. Der deutsche Oberst von Blitz versucht mit allen Mitteln, das Patent für diese Wunderwaffe in seinen Besitz zu überführen. Schließlich ist es Mariette, ein junges französisches Mädchen, das dem Oberst das Handwerk legt, und zwar in einem bemerkenswerten ShowDown: Blitz, der die Formel, um den Sprengstoff herzustellen, in die Finger bekommen hat, beginnt diesen in einer Fabrik im Elsass herzustellen. Doch durch eine List von Mariette wird Blitz in einem Stahlrohr gefangen und so fliegt die ganze Fabrik mit ihm in die Luft. Man kann sich gut vorstellen, dass der Erfolg dieses Stücks vor allem in der aufwändigen Bühnengestaltung und in der atemberaubenden Geschwindigkeit des Spiels lag. In der Wiener Kriegsausstellung, die von Juli bis Oktober 1916 im Wiener Prater stattfand, gab es in der Abteilung „Im Felde“, einer Nachstellung von Schützengräben, Befestigungen und Fronteinrichtungen, als besondere Attraktion das Marineschauspiel im Schützengraben mit den vier Akten Kriegserklärung im Heimathafen, Ein Unterseebootangriff, Der Angriff der Flotte auf den feindlichen Kriegshafen und Nach dem Kampfe zu bewundern. Im Programmheft wurde die erste Szene so beschrieben: 15 De Saix 1915: 6. 16 „Ein alter französischer Ingenieur, der nach Australien emigriert war, hat einen neuen Sprengstoff erfunden, der uns einen schnellen und endgültigen Sieg garantieren würde; der deutsche Oberst von Blitz hat den Befehl erhalten, sich diese Erfindung um jeden Preis anzueignen“ [Übersetzung E.K.], (Le Semainier 1915: 72).
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Es ist gegen fünf Uhr nachmittags. Heller Sonnenschein breitet sich über Meer und Hafen aus. Die Kunde von der erfolgten Kriegserklärung ist bereits in der Hafenstadt bekannt. Abfahrbereit liegt die Kriegsflotte. Auf einmal erscheint ein Torpedoboot und meldet jedem Kriegsschiffe die erfolgte Kriegserklärung, welche jedes Mal mit einem donnernden ‚Hurra‘ aufgenommen wird.17
Als Akteure und Sprecher wurden hier das Torpedoboot und die Kriegsschiffe genannt, Menschen kamen offenbar keine vor. Von Ende Juni bis Anfang September 1918, während sowohl Front als auch Heimatfront von Hunger und Erschöpfung gebeutelt waren und sich in einzelnen Meutereien und Streiks auflehnten, ließ der Dresdner Zirkusdirektor Hans StoschSarrasani im Berliner Zirkus Busch sein mit hohem technischen und materiellen Aufwand inszeniertes Militär-Schaustück Torpedo – los! spielen. „Mehr als alle bisherigen Schaustücke Stoschs setzte es auf die ‚Überwältigung‘ der Zuschauer durch einen geballten Einsatz von Menschen, Tieren und Technik, die in eine reißerische, von spektakulären Effekten getragene Handlung eingebunden waren.“18 Von der Explosion einer Werft hin zur Versenkung eines feindlichen durch ein deutsches U-Boot, vom ‚Flottenballett‘ zur Bombardierung Londons – das alles war hautnah mitzuerleben. Es wurde sämtliches noch vorhandenes Pulver verschossen. Kriegsmaschinen, ihr möglichst spektakulär inszeniertes technisches und zerstörerisches Potential, spielten auch hier die Hauptrolle. Wie in den Schauschützengräben der Kriegsausstellungen das Publikum in die Rolle des anonymen Frontsoldaten schlüpfen konnte, so zeigte auch Torpedo – los! keine individuierten Helden, sondern in Formationen auftretende Uniformierte, die – ähnlich den Revue-Girls – die Bühne in Massenchoreographien belebten.
D ESINTEGRIERTE K ÖRPER , SELBSTÄNDIGE MASCHINEN , AUFSTÄNDISCHE D INGE IN DER FRÜHEN AVANTGARDE Im Jahr 1919 forderte Kurt Schwitters in Stuttgart, etwas abseits von den dadaistischen Avantgarden in Berlin, in seinem Manifest „An alle Bühnen der Welt“, Folgendes: Ich fordere die Merzbühne. […] Ich fordere die prinzipielle Gleichberechtigung aller Materialien, Gleichberechtigung zwischen Vollmenschen, Idiot, pfeifendem Drahtnetz und Gedankenpumpe. Ich fordere die restlose Erfassung aller Materialien vom Doppelschienenschweißer bis zur Dreiviertelgeige.
17 „Programm des Marine-Schauspiels“. 18 Baumeister 2005: 188.
582 | E VA K RIVANEC Ich fordere die gewissenhafteste Vergewaltigung der Technik bis zur vollständigen Durchführung der verschmelzenden Verschmelzungen. 19
Dieses Plädoyer für die Gleichstellung von Menschen und Dingen auf der Bühne war kein Einzelfall in den Manifesten der Avantgarde. Es ging diesen Manifesten der Nachkriegsjahre aber bereits eine avantgardistische Theaterpraxis voraus, die ich hier anhand einiger Beispiele in Erinnerung rufen möchte. Am 18. Mai 1917 wurde in Paris, im Théâtre du Châtelet das (sur-)realistische Ballett Parade uraufgeführt.20 Es handelte sich dabei um eine kollektive Arbeit des Ensembles der Ballets Russes unter der Leitung von Serge Diaghilev und der Mitwirkung bedeutender Künstler wie Jean Cocteau (Thema, Dramaturgie), Erik Satie (Musik), Pablo Picasso (Kostüme und Bühnenbild) und Léonide Massine (Choreographie). Der Inhalt ist originell, aber einfach und schnell erzählt: Vor einem Jahrmarktstheater versuchen drei Manager dem Publikum zu erklären, dass das eigentliche Spektakel im Inneren stattfindet und dass die Artisten, die vor dem Eingang ihre Künste zeigen – ein Akrobat, ein chinesischer Zauberkünstler und eine amerikanische Tänzerin – nur ein Vorgeschmack sind auf das, was drinnen wartet. Doch das Publikum geht nicht hinein. Parade schien mit keinem auch noch so modernen Ballett vergleichbar, das die Zuschauer vorher gesehen hätten und führte zu einer grundlegenden Erschütterung der ästhetischen Maßstäbe wie auch der Sehgewohnheiten des Publikums: die Musik, die von Geräuschmontagen durchsetzt war, die kubistischen Kostüme, die die Körper in technische Assemblagen verwandelten, die durch ihre Machart menschliche in mechanische Bewegungen transformierten, die anti-individualistische, typisierte Figurenkonzeption. All das waren Symbole nicht nur für den Kampf um eine neue Kunst, sondern auch für den Kampf um eine neue Gesellschaftsordnung – nicht zufällig waren es die Manager, die als riesige kubische Pappkonstruktionen, auf denen Wolkenkratzer und Straßen zu sehen waren, auf die Bühne kamen. Der Kritiker Henry Bidou schrieb als Reaktion auf diese Darstellung: Il a inventé deux managers en constructions cubistes: ce sont des plans, des volumes géométriques d’un agencement fantasque. Mais sous le ventre de l’un sortent deux petites pattes humaines, qui se trémoussent ignoblement. Et tout cet échafaudage, où la figure humaine n’est reconnaissable qu’à une pipe et à une trompette est d’une laideur à peine pittoresque. 21
19 Schwitters 2001: 110. 20 Guillaume Apollinaire schrieb die Einleitung zum Programm von Parade und verwendete dabei zum ersten Mal den Begriff „sur-realistisch“, der Untertitel von Parade lautete aber eigentlich ballet réaliste, also realistisches Ballett. 21 „Er hat zwei Manager in kubistischen Konstruktionen erfunden: Es sind Flächen, geometrische Volumen, in seltsamer Anordnung. Aber unter dem Bauch des einen stehen zwei
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Was Bidou hier interessanterweise als besonders hässlich empfand, war also die Tatsache, dass diese Figuren keine erkennbare menschliche oder sonst einem Lebewesen nachempfundene Gestalt hatten, sondern „Gerüste“ und „geometrische Volumen“ waren. Nur wenige Wochen später, am 24. Juni 1917, präsentierte Guillaume Apollinaire sein „surrealistisches Drama“ Les Mamelles de Tirésias auf der kleinen Bühne des Conservatoire René Maubel in Montmartre. In der vermeintlich leichten Tonlage einer grotesken Komödie griff Apollinaire einige der großen gesellschaftlichen Veränderungen im Zuge des Kriegs auf: die Umwälzung der Geschlechterverhältnisse; die Desintegration der Körper – Thérèse warf ihre Brüste als Luftballons ins Publikum und verwandelte sich so in Tirésias – und die ideologische Debatte um niedrige Geburtenraten in Frankreich – ‚les berceaux vides‘ – Thérèses Mann übernahm gerne die Fortpflanzung und gebar wie durch ein Wunder 49.051 Kinder an einem Tag, „[…] avant d’engendrer sous les yeux du public un fils journaliste, voyou et maître chanteur fabriqué à partir de journaux déchirés, d’encre, de colle, d’un porte-plume et de ciseaux“22. In dieser Szene verpackte Apollinaire nicht nur eine beißende Kritik an der amoralischen Praxis der Pariser Presse, sondern auch hier ging es wieder um die mechanische Fabrikation eines Menschen, dessen Bestandteile bereits seine berufliche Laufbahn, sein (Dys-)Funktionieren in der Gesellschaft vorbereiteten. Im Sommer 1918 gaben sich die Berliner Dadaisten (George Grosz, Raoul Hausmann, Richard Huelsenbeck, Wieland Herzfelde etc.) ein äußerst maschinelles Stelldichein bei einer ihrer Soiréen 23 und veranstalteten den Wettkampf zwischen Nähmaschine und Schreibmaschine, von dem Wieland Herzfelde in seinen Memoiren Folgendes berichtet hat: Der nicht eben für solche Wettkämpfe gebaute Saal war überfüllt. Eine gute halbe Stunde lang klapperte die Schreibmaschine, und ein Blatt nach dem anderen wurde fix aus der Maschine gerissen, ein neues eingespannt, während die Nähmaschine ununterbrochen schwarzen Trauerflor steppte, der im Gegensatz zum Papier endlos war, nämlich an seinen beiden Enden zusammengenäht, so daß man, so lange die Beine es aushielten, ewig nähen konnte und der Assistent nur darauf achten mußte, daß das Florband sich nicht verhedderte. Ansager, Confékleine menschliche Beine heraus, die ekelhaft herumzappeln. Und dieses ganze Gerüst, an dem die menschliche Gestalt nur an einer Pfeife und an einer Trompete erkennbar ist, ist von einer kaum pittoresk zu nennenden Hässlichkeit“ [Übersetzung E.K.], (Bidou 1917: 3). 22 „[…] bevor er unter den Augen des Publikums einen Sohn fabriziert, der als Journalist, Ganove und Erpresser aus zerrissenen Zeitungen, Tinte, Klebstoff, einem Federhalter und Scheren hergestellt ist“ [Übersetzung E.K.] (Read 2000: 53). 23 Siehe Zanetti 2005: 205-234.
584 | E VA K RIVANEC rencier und Schiedsrichter war George Grosz. Als er schließlich die Nähmaschine zum Sieger erklärte, schmetterte der Verlierer Huelsenbeck die Schreibmaschine (sie war nicht gut, gehörte aber dem Verlag) auf den Boden der Bühne. Der Sieger, Raoul Hausmann ließ sich nicht stören. Er steppte den endlosen Trauerflor mit unverminderter Verbissenheit weiter. 24
Die Symbolik von endloser Textproduktion einerseits – auch hier liegt die Assoziation mit dem Journalismus nahe – und endloser Herstellung eines Trauerflors, beides mittels Maschinen, die untereinander in einem Wettstreit standen, war zum Ende des vierten Kriegsjahrs mehr als deutlich. Der Berliner Club Dada hielt sich mit seiner revolutionären, pazifistischen Haltung trotz Zensur nicht mehr zurück. Aber auch ästhetisch war diese Bühnen-Aktion von Bedeutung, handelte es sich doch um eine der ersten Formen des Happenings. Die Aktivität der Maschinen wurde zwar von zwei Menschen angetrieben, doch die eigentlichen Akteure des Happenings – zumindest bis zu dem Zeitpunkt als Huelsenbeck die Schreibmaschine auf den Boden warf – waren Nähmaschine und Schreibmaschine, sie traten gegeneinander an, eine von ihnen gewann.
F AZIT Die Beschädigung des Subjekts in seiner Selbstgewissheit und gesellschaftlichen Handlungsfähigkeit wurde nicht erst vom Ersten Weltkrieg hervorgerufen, sie war ein Produkt von Modernisierung und Massengesellschaft, doch die Kriegsereignisse beschleunigten und radikalisierten die Krise des Subjekts bis hin zur Desintegration der Körper und der Sinneswahrnehmungen. Diese Krise hinterließ ihre Spuren in der kulturellen Produktion nicht erst nach dem Krieg, sondern schon bald nach dessen Beginn. Gerade die verschiedenen Spielarten des populären Unterhaltungstheaters – Operette, Revue, Varieté, Zirkus, etc. – reagierten besonders sensibel auf diese ‚Entmachtung des Subjekts‘. Auf Mobilisierungsromantik und siegesgewisse Witzeleien der frühen Kriegspossen folgten monumentale Ausstattungsstücke, in denen Kriegsmaschinen die Hauptrolle spielten. Das dramaturgische Modell von Revue und Varieté drang bis in die Zentren der Hochkultur vor, wie ich am Beispiel der Opern-Potpourris der Opéra de Paris in den Kriegsjahren zeigen konnte. Auch sonst brachen geschlossene narrative Strukturen auf, die Zeit- und Sprachsyntax, die Zentralperspektive, alle visuellen und narrativen Ordnungssysteme fielen auseinander, der Mensch auf der Bühne rückte im Verhältnis zu Objekten, Technik und Maschinen in den Hintergrund oder wurde klein und verletzlich. Was sich in den Theater-Avantgarden als Maschinen-Obsession manifestierte, hatte seine Wurzeln
24 Herzfelde 1976: 447-448.
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also ebenso auf den Unterhaltungsbühnen der europäischen Metropolen wie auf den Schlachtfeldern und in den Munitionsfabriken des Ersten Weltkriegs.
L ITERATUR Baumeister, Martin: Kriegstheater. Großstadt, Front und Massenkultur 1914-1918. Essen: Klartext 2005. Benjamin, Walter: „Erfahrung und Armut“, in: ders.: Gesammelte Schriften. Bd. II/1. Frankfurt am Main: Suhrkamp 2006, 213-219. Bidou, Henry: „La semaine dramatique: A propos des Ballets“, in: Le Journal des Débats (21.05.1917), 3. Brisson, Adolphe: „Théâtre Antoine. La nouvelle Revue 1915“, in: Le Temps (18.10.1915). De Saix, Guillot: „‚Kit‘ aux Bouffes-Parisiens“, in: L’Éclair (30.10.1915). Ferro, Marc: La Grande Guerre. 1914-1918. Paris: Gallimard 1969. Freud, Sigmund: „Eine Schwierigkeit der Psychoanalyse“, in: Imago. Zeitschrift für die Anwendung der Psychoanalyse auf die Geisteswissenschaften, Jg. V (1917), 1-7. (Zuerst in ungarischer Sprache erschienen in der Zeitschrift Nyugat, Budapest 1917) Herzfelde, Wieland: Zur Sache. Geschrieben und gesprochen zwischen 18 und 80. Berlin/Weimar: Aufbau Verlag 1976. Le Semainier, „La Semaine – Châtelet“, in: Les deux Masques, N°9 (19.12.1915), 72. Polgar, Alfred: „Theaterabend 1915“, in: ders.: Musterung. Kleine Schriften. Bd. 1. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 2004, 3-6 (Erstveröffentlichung in: Die Schaubühne XI, 1 (07.01.1915), 19-22). „Programm des Marine-Schauspiels [Faltblatt]“, Druckschriftensammlung der Wienbibliothek, C 67.052 (Kriegssammlung aus den Jahren 1914-1919; 7.1. [Konvolut]). Read, Peter: Apollinaire et ‚Les Mamelles de Tirésias‘. La révanche d’Éros. Rennes: Presses Universitaires 2000. Rogg, Matthias: „‚Kampf mit der Uhr.‘ Zeit, Strecke und Geschwindigkeit im I. Weltkrieg“, in: Heller, Hartmut (Hg.): Gemessene Zeit – gefühlte Zeit. Tendenzen der Beschleunigung, Verlangsamung und subjektiven Zeitempfinden. Münster/Wien/Berlin: Lit-Verlag 2006, 267-280. Roth, Joseph: „Lebende Kriegsdenkmäler“, in: ders.: Werke I. Das journalistische Werk 1915-1923. Hg. von Klaus Westermann. Köln: Kiepenheuer & Witsch 1989, 347-352 [Erstveröffentlichung in: Neue Berliner Zeitung – 12-Uhr-Blatt (31.08.1920)].
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Schwitters, Kurt: „An alle Bühnen der Welt [1919]“, in: Brauneck, Manfred (Hg.): Theater im 20. Jahrhundert. Programmschriften, Stilperioden, Reformmodelle. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 92001, 110-112. Stein, Leo/Jenbach, Bela: Die Csárdásfürstin. Operette in drei Akten. Musik von Emmerich Kálmán. Textbuch der Gesänge. Wien/Frankfurt am Main/London: Josef Weinberger 1916. Zanetti, Sandro: „Techniken des Einfalls und der Niederschrift. Schreibkonzepte und Schreibpraktiken im Dadaismus und im Surrealismus“, in: Giuriato, Davide/Stingelin, Martin/Zanetti, Sandro (Hg.): ‚Schreibkugel ist ein Ding gleich mir: von Eisen‘. Schreibszenen im Zeitalter der Typoskripte. München: Fink 2005, 205-234.
Wer ist Othello? Zur Konstruktion von Identität und Fremdheit in zeitgenössischen Inszenierungen von Shakespeares Othello M IRIAM D REYSSE
Die Rolle des Othello aus William Shakespeares gleichnamiger Tragödie ist über Jahrhunderte die einzige Protagonistenrolle des europäischen Theaters, die eine nicht weiße Hautfarbe hat. Und Othello ist über die Jahrhunderte zugleich eines der meist gespielten Stücke Shakespeares. Es liegt also nahe zu fragen, wie das europäisch-westliche Theater in der Figur des Othello das Fremde, und durch dieses Fremde die eigene Identität konstruiert.
D ARSTELLUNGSTRADITIONEN Im Jahre 1965 kam eine Verfilmung von Othello nach einer Theateraufführung am Royal National Theatre in London mit Laurence Olivier heraus. Die Leistung der Schauspieler wurde damals gefeiert, es gab Oskarnominierungen für drei von ihnen, und besonders Laurence Olivier mit seiner Darstellung des Othello wurde in der Kritik hoch gelobt.1 Olivier tritt als blackface auf, d.h. als weißer Schauspieler dunkel geschminkt, aber nicht, wie es bei der Tradition des blackface üblich ist, nur mit einer klar begrenzten schwarzen Maske auf dem Gesicht, sondern mit schwarzbrauner Schminke auf dem gesamten Körper verteilt; die Handflächen sind heller geschminkt. Es handelt sich um eine Maske, die versucht, die dargestellte Rolle naturalistisch abzubilden.2 Auch durch die anderen theatralen Mittel wie Körperbewe-
1
Siehe Neill 2006: 58.
2
Olivier selbst beschreibt minutiös das Auflegen dieses Make-ups in verschiedenen Schichten (siehe Olivier 1986: 109).
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gung, Mimik, einen ‚exotischen‘ Akzent und eine besonders tiefe Stimmlage versucht Olivier, seine Vorstellung eines Schwarzen mimetisch zu verkörpern. „Sir Laurence embodies blackness“, schreibt dann auch der Kritiker Herbert Kretzmer.3 Olivier interpretiert die Figur des Othello also als durch die Hautfarbe charakterisiert, identifiziert Othello, sein Auftreten und Verhalten mit der Hautfarbe und mit bestimmten Attributen, die seiner Ansicht nach auf natürliche Weise mit der Hautfarbe verbunden sind. Diese Art der Darstellung wurde in der damaligen Kritik hervorgehoben, wobei in den Beschreibungen rassistische Stereotype zum Ausdruck kommen: „He sauntered downstage, with a loose, bare-heeled roll of the buttocks […] He had [studied] how an African looks, moves, sounds“.4 Olivier konstruiert durch seinen Darstellungsmodus, entsprechend des sich im 18. Jahrhundert in Europa herausbildenden Begriffs der Rasse, einen biologischen Unterschied zwischen Menschen verschiedener Hautfarben. Die Darstellungsweise der naturalistisch-illusionistischen Verkörperung, die seine Zeitgenossen begeisterte, verschleiert die Konstruiertheit der Figur des Othello. Das schwarze Subjekt wird dabei auf stereotype Erkennungszeichen reduziert; das weiße Subjekt ‚hinter‘ der Maske wird als Normalität gesetzt. Die Tradition des blackface geht vermutlich schon auf die Uraufführung im Jahre 1604 zurück, bei der Richard Burbage den Othello spielte.5 Sicher ist, dass ab Ende des 17. Jahrhunderts ausschließlich weiße Schauspieler in dieser Rolle auftraten, die schwarze Schminke, also das blackface, trugen. Im Jahre 1826 spielte der afroamerikanische Schauspieler Ira Aldridge als erster Schwarzer den Othello in London. 6 Aldridge tourte Mitte des 19. Jahrhunderts als Othello mit großem Erfolg durch Europa; er wurde als „natural black Othello“ für seine besonders starke Identifikation mit der Rolle gelobt: „Real tears roll down his cheek, he foams at the mouth, his eyes flash fire; never have I seen an artist so completely identify himself with the person he represents“.7 Aldridge blieb aber eine Ausnahme in der Darstellungstradition des 19. Jahrhunderts, in der sich ab 1814 mit Edmund Kean die Figur des Othello als hellhäutiger ‚edler Araber‘ etablierte. Diese Orientalisierung kommt einer Abschwächung der Fremdheit Othellos gleich, die sich über das ganze Jahrhundert hält. Bereits Ende des 18. Jahrhunderts hatte in der Kritik eine Diskussion begonnen, die über das 19. Jahrhundert anhielt und das Schwarzsein Othellos in Frage stellte, denn ein so edler Mann könne unmöglich ein „blackamoor“ gewesen sein: „Shakespeare war 3
Kretzmer zit. nach Neill 2006: 58.
4
Bryden 1997: 270.
5
Siehe Neill 2006: 45.
6
Siehe Potter 2002: 107-118.
7
Neill 2006: 50.
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ein viel zu sorgfältiger Zeichner der menschlichen Natur, als dass er Othello hätte schwarz kolorieren können […], Othello war ein Weißer.“8 Anderen Kritikern hingegen schien die Hellhäutigkeit Othellos im Widerspruch zu den wilden Leidenschaften zu stehen, die die Rolle am Ende der Tragödie charakterisieren. In beidem lassen sich unschwer rassistische Stereotype erkennen, die die Rezeption des Dramas seit Ende des 18. Jahrhunderts, also seit der Entwicklung und Normalisierung des modernen Rassismus, wesentlich bestimmen.9 Es dauerte fast einhundert Jahre bis mit Paul Robeson 1931 wieder ein schwarzer Schauspieler in der Rolle des Othello zu sehen war. Nachdem Robeson in London erfolgreich war, spielte er im Jahr 1943 auch den ersten schwarzen Othello in den USA, am Broadway in New York.10 Die Tradition des blackface blieb aber dennoch weiterhin erhalten, so gab es gerade in England nach dem Krieg kaum schwarze Schauspieler.11 Erst ab den 1960er Jahren wurde sie im Kontext des wachsenden Bewusstseins rassistischer Strukturen, der Bürgerrechtsbewegung in den USA und im Kontext neuer, experimenteller Theaterformen zunehmend in Frage gestellt. Inzwischen gibt es gerade in den USA vielfältige Versuche, die Hautfarben-Logik von Othello und seiner Rezeptionsgeschichte szenisch zu reflektieren und zu durchbrechen.12 Wie die Weißseinsforschung gezeigt hat, ist die Normalisierung der weißen Perspektive Voraussetzung für Rassismus – Weißsein ist eine kulturelle Konstruktion, deren Künstlichkeit verborgen wird; von diesem angenommenen Nullpunkt des Weißseins aus erscheint alles Andere als Abweichung von der Norm.13 Eine solche Normalisierung des Weißseins erfolgt beispielsweise in kulturellen Praktiken wie die der Mimikry des Laurence Olivier, also einer realistischen Abbildung, die den Akt der Konstruktion verschleiert. Aus heutiger Sicht liegt das Problem mithin nicht allein in der rassistischen Stereotypisierung einer schwarzen Figur durch einen weißen Schauspieler; sondern es handelt sich um ein grundsätzliches Darstellungs8
Mary Preston 1869, zit. nach Günther in Shakespeare 2010: 271; siehe auch Loomba 2002: 92.
9
Zur Rezeptionsgeschichte siehe Rosenberg 1972; Potter 2002; Kolin 2002.
10 Siehe Potter 2002: 118-121. 11 In der Royal Shakespeare Company gibt es schwarze Schauspieler sogar erst seit den 1990er Jahren; Daileader zufolge bleiben sie auch dann auf stereotype Rollen beschränkt (siehe Daileader 2000: 177). 12 Durch ‚colour-blind‘ oder ‚colour conscious‘ casting soll die Rezeptionsgeschichte mitberücksichtigt werden: z.B. durch die ‚photo-negative‘ Besetzung des Othello mit einem weißen und aller anderen Rollen mit schwarzen Schauspielerinnen und Schauspielern, z.B. in Washington 1997, Regie: Jude Kelly (siehe Iyengar 2002: 118-124). 13 Vgl. Hill 1997.
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problem: Der Darstellungsmodus der realistischen Verkörperung eines anderen Subjekts behauptet die Möglichkeit, vom Ort des Eigenen aus den anderen glaubhaft, also wahrhaftig, abbilden zu können und verschleiert die Konstruiertheit sowohl des Vorgangs der Verkörperung als auch der eigenen Perspektive - diese Perspektive wird als Natur, als natürliche Norm gesetzt. Nicht nur die Stereotypien vom Anderen werden auf diese Weise naturalisiert, sondern auch der eigene Blick, die eigene Identität. Einerseits stellt mithin die Darstellung des Othello durch Olivier aus heutiger Sicht die Eignung weißer Schauspieler für die Rolle des Othello grundsätzlich in Frage. Andererseits ist auch die Besetzung dieser Rolle mit schwarzen Schauspielern nicht per se unproblematisch, denn auch sie verfängt sich nur allzu leicht in einer Logik der Rasse. So wurde Ira Aldridge, wie bereits erwähnt, als „natural black Othello“ als besonders glaubhaft empfunden; und Paul Robeson hatte wegen seiner „black nature“ nicht nur mit rassistischer Kritik zu kämpfen, sondern seine „natürliche“ Eignung für die Rolle war auch der Grund für das Lob anderer Kritiker.14 Die Regisseurin der Broadway-Produktion, Margret Webster, spricht beispielsweise von „the very image of nature“15, das Robeson der Rolle verleihe. Und auch in der Praxis des ‚black castings‘ ab den 1960er Jahren (und ihrer Kritik) lässt sich eine Tendenz zur Essentialisierung beobachten, die auf größere ‚Authentizität‘ der Figur abzielt. Die Ansicht, ein schwarzer Schauspieler passe besser in die Rolle des Othello als ein weißer, geht davon aus, dass das Handeln der Figur in ihrer Hautfarbe begründet ist und reproduziert letztlich den weißen Blick auf diese Figur. Die Essentialisierung der Figur Othello und des Verhältnisses von Schauspieler und Rolle läuft so Gefahr, die für den Rassismus notwendige Illusion der Natürlichkeit abzusichern.16 Und so gibt es im Kontext postkolonialer Theorien auch den Standpunkt, Othello sei gerade für einen schwarzen Schauspieler nicht spielbar: „If a black actor plays Othello does he not risk making racial stereotypes seem legitimate and even true? […] Of all parts in the canon, perharps Othello is the one which should most definitly not be played by a black actor.“17 In der Figur des Othello zeigt sich also ein Darstellungsproblem, das nicht nur mit ethischen Fragen und der Vision eines nicht eurozentrierten, interkulturellen Theaters zu tun hat, sondern auch grundsätzlich mit den Bedingungen und Möglichkeiten der Konstitution von Identität auf der Bühne.
14 Siehe Neill 2006: 54, 55. 15 Webster zit. nach Hankey 2005: 4. 16 Auf die Problematik naturalisierend eingesetzter Ethnizität weist auch Balme 2002: 115 hin. 17 So der Schauspieler Hugh Quarshie, zit. nach Hankey 2005: 3.
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O THELLO IM ZEITGENÖSSISCHEN T HEATER Wie geht das zeitgenössische deutschsprachige Theater, das ja in besonderem Maße von der blackface-Tradition geprägt ist, mit diesem Darstellungsproblem um? In den letzten Jahren gab es einige Ansätze, Othello als Figur des Fremden auf ganz eigene Art und Weise szenisch zu reflektieren, beispielsweise eine Inszenierung an den Münchner Kammerspielen von Luk Perceval in der Übersetzung von Feridun Zaimoglu, der den Othello von einem nicht geschminkten Thomas Thieme spielen lässt (2003), oder die Inszenierung am Deutschen Theater in Berlin von Jette Steckel mit Susanne Wolff in der Titelrolle, bei der das Problem der Hautfarbe in eines der Geschlechteridentität übertragen wird (2009). Ich möchte im Folgenden zwei weitere Ansätze erörtern: die Inszenierung des Othello von Stefan Pucher am Deutschen Schauspielhaus in Hamburg von 2004 sowie die Performance Othello, c’est qui von Gintersdorfer/Klaßen aus dem Jahr 2008.
O THELLO ALS P OPSTAR Im Jahr 2004 inszeniert Stefan Pucher Othello mit Alexander Scheer in der Titelrolle. Scheer läuft der Erwartungshaltung der Figur des Othello schon durch sein junges Alter, seinen eher schmächtigen Körper und ein jugendliches Auftreten entgegen: Rasche Bewegungen, Sprünge, lässiges Herumstehen, Tänze und Popsongs prägen seinen Othello. Auffallend ist aber vor allem seine Maske: Kohlrabenschwarz und glänzend ist sein Gesicht geschminkt, knallrot die Lippen. Die Lippen wirken dick durch die Schminke, die Augen, die er oft weit öffnet, leuchten weiß aus dem glänzend schwarzen Gesicht hervor, ab und an bleckt er die Zähne – er zitiert tradierte rassistische Klischees, die teilweise auch in Shakespeares Text vorkommen („thick-lipped“). Die offensichtliche Künstlichkeit der Maskerade denaturalisiert den Akt der Darstellung, führt den Rassismus der blackface-Konvention vor Augen und macht die eigene Perspektive (des Regisseurs, Schauspielers, Zuschauers) auf den Anderen bewusst, den eurozentrischen Blick auf das Fremde, klar von uns geschieden, um uns unserer eigenen Identität zu versichern.18 Aber die Offenlegung der Maskerade Othellos bei Pucher ist nicht nur ein kritischer Kommentar zur Aufführungstradition der Rolle des Othello, sondern kehrt auch einen anderen Aspekt dieser Maskerade hervor: die Frage der Identität, wie sie bei Shakespeare verhandelt wird, in ihrem Verhältnis von Innen und Außen, Sein
18 Ähnlich verfährt Peter Zadek 1976: Ulrich Wildgruber als Othello hat die schwarze Schminke so dick aufgetragen, dass sie bei jeder Berührung auf Desdemona (Eva Matthes) abfärbt.
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und Schein. Judith Butler hat aufgezeigt, wie unterschiedlich der Begriff der Maskerade in verschiedenen Theorien des 20. Jahrhunderts verwendet wird und stellt, u.a. mit Lacan, die Existenz eines inneren Kerns, der durch die Maskerade verdeckt würde, in Frage; Innerlichkeit ist ihr zufolge ein Effekt der Maskerade.19 Die Rolle des Othello bei Shakespeare ist die Repräsentation der Idee eines ‚moor‘, nicht die Repräsentation eines schwarzen Subjekts; der Stücktext selbst reflektiert die Konstruktion dieser Figur des Fremden: Othello ist ein Effekt des Blicks und der Rede der anderen und seiner Internalisierung des Bildes, das die anderen sich von ihm machen, er ist ein Effekt von Sprechakten. So wird er nicht nur von seinen Feinden mit rassistischen Ausdrücken, die auf Stereotype des Animalisch-Sexuellen und Teuflischen zurückgreifen, belegt („the devil“, „the lusty Moor“, „black ram“ etc.), 20 sondern auch von allen anderen Rollen durchgängig als „moor“ oder „black“ bezeichnet und angeredet („our brave Moor“, „black Othello“). Darüber hinaus kontrastiert Shakespeare die dunkle Haut Othellos mit der weißen Haut Desdemonas („white ewe“, „fair Desdemona“) und verwendet eine Vielzahl an schwarzweiß bzw. hell-dunkel Metaphern, so dass der Eindruck einer grundlegenden Polarität von heller und dunkler Haut erzeugt wird; Othello als Anderer konstituiert sich durch sprachliche Differenz. 21 Auch die Liebe der Desdemona resultiert aus dem Bild des Exotischen, Anderen, das sie sich von ihm macht und das er internalisiert hat und ausspricht (Akt I, Szene 3), so wie er im weiteren Verlauf der Handlung die ihm zugewiesenen Stereotype real werden lässt. Und nicht zuletzt ist Othello eine der wenigen Tragödien, in der der Protagonist nicht den meisten Text hat – Othello wird gesprochen. Es ist die performative Macht der Sprache, die Othello isoliert, ihn als Fremden innerhalb der dargestellten Gesellschaft konstituiert. Die performative Kraft der Sprache ist es auch, die sowohl die Liebe von Desdemona zu Othello stiftet, als auch die Eifersucht in Othello entzündet und zu dem Mord an Desdemona führt. Mehr noch als in anderen Tragödien Shakespeares tritt in Othello die konstitutive Macht der Repräsentation hervor, die Sein und Schein ununterscheidbar werden lässt, und die doch in einem ganz realen Mord endet. Bei Pucher ist Scheer/Othello durch sein Aussehen, seine Maske von Anfang an isoliert, ist ein Fremdkörper unter den Bürgern der venezianischen Gesellschaft. Die Maskerade des Othello/Scheer steht für die konstitutive Macht der Repräsentation, die performative Erzeugung von Identität, Alterität und Normativität. Auch die anderen theatralen Mittel der Inszenierung wie die Songs und Tänze, Brechungen der 19 Siehe Butler 1991. 20 Im Elisabethanischen Zeitalter galten Schwarze als Verwandte des Teufels, auch das Stereotyp des sexualisierten Wilden ist aus der Frühen Neuzeit bereits bekannt (siehe Loomba 2002: 91-97). Zu Othellos Eifersucht siehe Floyd-Wilson 2003: 132-159. 21 Zur hell-dunkel Metaphorik vgl. Newman 1987.
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Spielweise, das Ausstellen zitierender äußerer Zeichen z.B. in Kostüm und Frisur, oder die Unterbrechung des Bühnenspiels durch Filmeinspielungen denaturalisieren den Akt der Darstellung und hinterfragen scheinbar natürliche Setzungen wie Rasse, Geschlecht, soziale Rolle und letztlich die Repräsentation selbst als Mittel der Abbildung von Realität. Butler zufolge erhält die diskriminierende Sprache („excitable speech“), die so wesentlich ist in Shakespeares Text, nur deshalb performative Macht, weil sie den Normen entspricht.22 In der Pucher-Inszenierung wird durch denaturalisierende Brechungen von Identitäten deutlich: Das Gesicht neben dem offensichtlich maskierten, das vermeintlich ‚naturbelassene‘, ‚normale‘, ‚weiße‘ Gesicht ist eine ebensolche Maskerade – auch die Norm ist konstruiert. Auffallend ist die Selbstsicherheit von Scheers Othello. Dieser Eindruck der Selbstsicherheit wird zum einen durch sein lässiges Auftreten erzeugt. Er springt leichtfüßig auf die Bühne, die Hände in den Hosentaschen tritt er dem Dogen entgegen, blickt abschätzig in den Zuschauerraum, mit einem lässigen „Auf nach Zypern“ zieht er in den Krieg, um kurz darauf der coole Leadsänger von James Browns „I Feel Alright“ zu sein, dem das gesamte Ensemble als Background-Chor dient. Nicht umsonst wählt Pucher ein Stück von James Brown, dem ‚Godfather of Soul‘, dieser Symbolfigur schwarzen Selbstbewusstseins, der zu Zeiten der Bürgerrechtsbewegung gerade durch sein von vielen Weißen als provokant empfundenes selbstbewusstes Auftreten bekannt wurde. Und ähnlich wie James Brown bemächtigt sich auch Scheers Othello stereotyper Gesten, die normalerweise der rassistischen Darstellung schwarzer Menschen dienen, wie z.B. chauvinistisch wirkende, breitbeinige Posen, ein Blecken der Zähne oder ein laszives Öffnen des Mundes, setzt sie isoliert ein und stellt sie auf diese Weise aus. Über diese Bemächtigungsstrategie erlangt Scheers Othello eine Subjektposition den Zuschauern gegenüber, die die ihm zugewiesene Identität verstört. Stuart Hall nennt eine solche Strategie „reversing the stereotypes“ und schränkt ein: „Das Stereotyp umzukehren, bedeutet nicht notwendigerweise, es umzustürzen und zu untergraben“. 23 Allerdings bezieht Hall sich auf die Blaxploitation-Filme der 1970er Jahre; im Unterschied zu diesen werden die Stereotype bei Pucher nicht einfach umgekehrt, sondern durch ihre Isolation, die weiße Besetzung und die Maske mehrfach gebrochen. Dies wird in der Tribunalszene besonders deutlich: Während Jana Schulz als Desdemona ihre Liebe zu Othello vor dem Senat erklärt, stellt sich Scheer dicht hinter sie und blickt über ihre Schulter ins Publikum. Dieser demonstrative Blick ins Publikum, den er in vielen Szenen einsetzt, durchbricht nicht nur die Geschlossenheit des Bühnengeschehens, sondern verhindert auch eine Objektivierung seiner Figur: Dieser Othello ist keine Projektionsfläche für unsere Vorstellungen des Anderen, kein Objekt zur Abgrenzung unserer eigenen Identität, sondern blickt zurück, 22 Siehe Butler 2006. 23 Hall 2004: 161.
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macht uns unsere Präsenz als Zuschauende bewusst. Mitten in dem berühmten Zitat: „I saw Othello’s visage in his mind“ („Othellos Aussehen das zeigt mir sein Geist“ heißt es in der Übersetzung Frank Günthers bei Pucher), schlägt Othello Desdemona auf den Po. Desdemonas Text geht weiter: „Und seine Ehre, seinem tapfern Wesen hab ich mein Herz und all mein Glück geweiht.“24 Die sexistische Geste Othellos widerspricht einer solchen Vorstellung von Ehre und Tapferkeit bzw. deutet das beschriebene ritterliche Männlichkeitsideal als Teil einer patriarchalischen Kultur um, die chauvinistisch geprägt ist (und gegen die Desdemona sich mit der Heirat Othellos zugleich auflehnt). Die sexistische Geste läuft der üblichen Interpretation der gesamten Szene entgegen. Diese zeigt Othello als Ehrenmann, als ‚noble Moor‘, als Vertreter eines ritterlich-feudalen Männlichkeitsbildes, der vernünftig und kontrolliert seine Sache darlegt, und steht damit konträr zu rassistischen Stereotypen sowohl der Frühen Neuzeit als auch der Moderne. Zugleich ist die Szene wesentlich für die Rolle des Othello als tragischen Helden.25 Die sexistische Geste, die dieser üblichen Lesart entgegenläuft, scheint genau jene rassistischen Klischees nun wiederzubeleben: die ‚Beschmutzung‘ der weißen Frau durch den schwarzen Mann, die Reduktion der Beziehung beider auf die Sexualität. Nicht nur Brabantio erschrickt, auch wir im Zuschauerraum erschrecken: Ist das nicht rassistisch, diese Koppelung der Darstellung eines Schwarzen mit einer sexistischen Geste? – und werden so unserer eigenen stereotypen Vorstellungen überführt. Wir sind alles andere als colour-blind.
24 Shakespeare 2010: 47. 25 Die Shakespeareforschung hat hervorgehoben, dass entgegen Stereotypen seiner Zeit und der eigenen Praxis in anderen Stücken (Aaron, Caliban), Shakespeare mit Othello einen schwarzen Protagonisten als tragischen Helden geschaffen hat, der nicht das Böse verkörpert oder, wie der Prinz von Marokko, lächerlich gemacht wird (siehe Hendricks 2000: 2-4).
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Abbildung 1: Alexander Scheer und Jana Schulz in Othello, R.: Stefan Pucher.
Was uns beunruhigt ist aber vielleicht nicht nur der Sexismus seiner Geste, sondern seine Selbstsicherheit, mit der er dem Tribunal des venezianischen Senats und demjenigen der Hamburger Öffentlichkeit im Parkett des Schauspielhauses gegenübertritt. Diese Selbstsicherheit passt nicht in unser Bild des Anderen, der durch Diskurse über ihn konstituiert wird und so vom Ort des Eigenen aus immer in einer Objektposition verharrt.26 Sie passt auch nicht in unser Bild vom ‚guten Anderen‘, der Opfer ist und unserer Hilfe bedarf, wie Slavoj Žižek darlegt.27 Der „wirkliche/bewirkende Andere“28 aber, der eine Subjektposition für sich behauptet und sich dafür einer sexistischen Geste, also einem ihm zugeschriebenen Stereotyp bedient, entzieht sich unserer Definitionsmacht, verstört die Ordnung unserer Zuschreibungen und hinterfragt sicher geglaubte Kategorien von Eigenem und Fremden. Am Ende, wenn Othello von Desdemonas weißer Haut spricht, „her whiter skin than snow“, trägt Desdemona/Schulz ein weißes Brautkleid, Othello/Scheer einen gold glitzernden Pailletten-Anzug. Er nimmt sie von oben, stößt sie weg, zieht sie wieder an sich, nimmt sie von hinten – bis er sie tötet mit einem raschen, trockenen Genickbruch. Das abendländische Stereotyp der weißen, reinen Frau, die vom schwarzen, virilen Mann befleckt wird, wird dabei durch das Abfärben der schwar26 Solche diskursiven Strategien der Erzeugung des Anderen als Fremden hat Edward Said in seiner Studie Orientalism von 1978 analysiert (Said 2009). 27 Siehe Žižek 1994: 26. 28 Žižek 1994: 26.
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zen Schminke auf Desdemona konkretisiert. Gleichzeitig erscheint Othello in seinem glitzernden Anzug als fetischisierter Anderer, der von unserer voyeuristischen Lust zugleich objektiviert, genossen und verleugnet wird.29 Der Mord erfolgt als Brechung des Blicks Desdemonas, die ihn durch ihren Blick als ein solch Anderen konstituiert.30 Othello überlebt bei Pucher, er überlebt mit einem weiteren Song von James Brown, zu dem er in seinem Paillettenanzug in Michael-Jackson-Manier tanzt: „I paid the cost to be the boss“. Er zitiert so zwei verschiedene Arten des Umgangs mit den Zeichen für Identität und kulturelle Differenz: die Bemächtigungsstrategie des James Brown, die ihn zur Identifikationsfigur schwarzen Selbstbewusstseins werden ließ, und die groteske Neuerfindung des Selbst eines Michael Jackson, die ihn zum Inbegriff desjenigen macht, der „den Preis gezahlt hat“. Nimmt man den Song-Text im Kontext der Ermordung Desdemonas wörtlich, so ist die Frau der Preis, der in einer soldatischen Männergesellschaft gezahlt werden muss; anders ausgedrückt ist das Andere (das Weibliche, das Fremde) der Preis, den man für die eigene Identität, den man für eine anerkannte Identität in der weißen, patriarchalischen Gesellschaft zahlen muss. Eine weitere Lesart dieser letzten Szene der Inszenierung wäre: Überleben kann man nur als fetischisierter Anderer, als Exot, als Popstar im Paillettenkostüm, oder eben: in der Rolle des Othello.
O THELLO , C ’ EST QUI Vier Jahre später steht auf einer anderen Hamburger Bühne ein schwarzer Schauspieler hinter einer weißen Schauspielerin und schlägt ihr auf den Hintern. Er sagt dabei: Was er an Scheer möge, sei seine Arroganz, und wiederholt die Geste unzählige Male. Wie im Original, ruft auch dieses Zitat Unwohlsein hervor, denn es führt uns unsere Klischees vor Augen, deutet sie aber zugleich um und erzeugt eine Unentscheidbarkeit der Zeichen, die sicher geglaubte Identitäten in Frage stellt. Es ist eine Szene aus der Inszenierung Othello, c’est qui des Künstlerduos Gintersdorfer/Klaßen von 2008, die u.a. 2009 mit dem Preis des Festivals Impulse ausgezeichnet wurde und 2010 auf dem Theatertreffen in Berlin zu sehen war. Othello ist der berühmteste Schwarze des europäischen Theaters, in Afrika kennt ihn kaum jemand: Das ist der Ausgangspunkt eines Dialogs zwischen der deutschen (weißen) Schauspielerin Cornelia Dörr und dem ivorischen (schwarzen) Tänzer und
29 Zur Fetischisierung des Anderen als rassistischer Repräsentationspraktik siehe Hall 2004: 151-157. 30 Im Stücktext verliebt sich Desdemona in Othello aufgrund seiner exotischen Biographie; er übernimmt dieses Bild von sich selbst (siehe Shakespeare 2010: 41).
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Performer Franck Edmond Yao über kulturelle Differenzen und Identitäten und den europäischen Blick auf das Fremde. Yao und Dörr reflektieren Mechanismen der Wahrnehmung und Identitätskonstruktion, indem sie Darstellungskonventionen ausstellen und kommentieren und auf diese Weise denaturalisieren. Es ist ein Dialog, verstanden als eine Begegnung zwischen Eigenem und Fremdem, als ein Prozess der gegenseitigen Annäherung, der Differenzen zulässt und zugleich kulturelle Konstruktionen von Eigenem und Fremdem reflektiert – und dabei das Eigene auch fremd werden lässt. Othello ist seit 400 Jahren auf dem europäischen Theater eine Figur des Fremden und bis weit ins 20. Jahrhundert hinein sein einziger schwarzer Protagonist. Ob als blackface, als hellhäutiger Nordafrikaner oder als schwarzer Schauspieler in einem weißen Ensemble – immer ist die Figur des Othello durch den weißen, europäischen Blick erzeugt, der durch diese Rolle das ihm Andere gestaltet. Das wird gleich zu Beginn deutlich wenn Yao erzählt, wie er für die Rolle angefragt wurde und sie nicht kannte, und dass auch alle seine afrikanischen Freunde noch nie von ihr gehört hätten, während in Deutschland selbst der Schaffner und die zufällige Sitznachbarin im Zug Othello kennen. Auf seine Frage aber: „Othello, c’est qui?“ erhält er keine Antwort. Gleich zu Beginn wird so der Blick auf Othello, die Konstruktion dieser Figur als europäische Phantasie, als Leerstelle für Projektionen und als Ziffer in der Logik von Bedeutungs- und Besetzungshierarchien zum Thema gemacht – denn die einzige Antwort, die Yao erhält, ist die der Regisseurin: „Das ist eine ganz wichtige Rolle“. „Chez nous en Afrique“ sagt er ebenfalls zu Beginn des Stücks, „bei uns in Afrika heißt eine gute Nachricht, dass es Geld gibt“. Geld einerseits, Besetzungspolitik andererseits – kennzeichnend für die ganze Aufführung ist das Nebeneinander unterschiedlicher Bedeutungen, Werte und Ansichten, die zwar im Gespräch hinterfragt, aber nie bewertet, harmonisiert oder aufgelöst werden. Die Performerhaltung ist dabei eine des Berichtens, Erzählens und Erklärens, entweder direkt an die Zuschauer oder an den je anderen Performer gewandt. Yao spricht Französisch, Dörr übersetzt ins Deutsche, fragt auf Französisch nach, übersetzt die eigenen Fragen und wiederum die Antwort. Bilingualität und Stimmwechsel rhythmisieren die Aufführung. Die Verwendung der Muttersprache betont das Eigene, das für die Zuschauer in Deutschland zugleich das Fremde ist. Die fremde Sprache nimmt szenisch Raum ein und der Akt der Übersetzung wird sichtbar gemacht. Das Übersetzen ist zum einen ein distanzierendes Mittel, zugleich konkretisiert es den interkulturellen Dialog. Die Inszenierung der Übersetzung hinterfragt den Austausch zwischen den Kulturen, fragt immer wieder neu nach der Übersetzbarkeit und den Grenzen des Verstehens. Die Übersetzung bemüht sich um Neutralität und kann doch nie alle Details erfassen und eindeutig übertragen. Übersetzung meint hier, das Andere zu akzeptieren, so wie es ist, auch wenn es den eigenen Ansichten oder Werten zuwiderläuft, und zugleich Lücken zuzulassen. Die Übersetzung versucht
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nicht, sich das Fremde anzueignen, sondern es sichtbar zu machen, sich ihm anzunähern und es dabei als Anderes, vielleicht Unverständliches bestehen zu lassen. In analoger Weise funktioniert das gesamte Gespräch zwischen den beiden Performern; es ist ein Dialog, der nicht Polarität, dialektische Vermittlung oder eine Lösung im zwischenmenschlichen Austausch sucht, sondern eher einen „dritten Raum“ (Bhabha) eröffnet, der von Differenzen und „Verflechtungen“ der verschiedenen Kulturen lebt.31
Abbildung 2: Cornelia Dörr und Franck Edmond Yao in Othello c’est qui von Gintersdorfer/Klaßen.
Yao und Dörr zeigen sich gegenseitig, wie in ihrem Freundeskreis getanzt wird und welches Bild sie von der Tanz- oder Bewegungskultur des anderen haben. Es entstehen kurze gemeinsame Tanzszenen, die durch Erklärungen und den Gestus des Vor- und Nachmachens verfremdet werden. Sie unterhalten sich über Eigenarten, Werte und Konventionen der beiden Kulturen, über Theater- und Tanzkultur in ihren Ländern sowie über Themen, die in Othello verhandelt werden, z.B. Sex. Dabei werden auch gegenseitige Vorurteile deutlich: „Wenn ihr tanzt, ist das Sex pur“, sagt Dörr, und Yao antwortet, „Nein, aber in Europa, da sieht man ständig Sex, immer berührt ihr euch in der Öffentlichkeit“. Solche Missverständnisse und unterschiedliche Vorstellungen werden nicht aufgelöst, sondern bleiben bestehen. Der
31 „Verflechtung von Theaterkulturen“ ist der Titel eines von Erika Fischer-Lichte und Gabriele Brandstetter geleiteten Forschungskollegs an der FU Berlin; zum Begriff der Verflechtungen siehe Brandstetter 2008: 17.
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Andere wird nicht vereinnahmt, umgekehrt wird auch das Eigene durch die Rahmung als fremd erfahrbar – Monika Gintersdorfer und Knut Klaßen inszenieren so auch das Selbst als ein Anderes. Auf diese Weise werden Vorstellungen vom Anderen, Konstruktionen kultureller Identität, aber auch Selbstbilder hinterfragt und zugleich Freiräume geschaffen, in denen Widersprüche, Ambivalenzen, Differenzen bestehen können. Immer wieder werden Darstellungskonventionen des deutschen Theaters thematisiert. Dörr beschreibt, wie sie sich einer Rolle annähert und reflektiert das Verhältnis von Schauspielerin und Rolle im zeitgenössischen Theater, in dem immer mehr Regisseure beim Casting keine Rolle vorgesprochen bekommen, sondern ‚sie selbst‘ kennen lernen möchten. Yao und Dörr unterhalten sich über andere Inszenierungen von Othello und spielen einzelne Szenen nach, wie etwa die eingangs erwähnte Szene aus Puchers Inszenierung. Das Erläutern und Kommentieren des Nachspielens macht es als Zitat kenntlich und hinterfragt auf diese Weise Konventionen der Darstellung des Anderen. Darüber hinaus bindet Yao die Realität des Theaters immer wieder an die konkrete Wirklichkeit schwarzer Menschen in einer weißen, westlichen Gesellschaft an, so z.B. wenn er seine Vorliebe für die Arroganz des Scheerschen Othellos damit begründet, dass kein Schwarzer jemals vor einem weißen Gericht so selbstsicher auftreten würde. Im Laufe der Aufführung passiert aber noch etwas anderes: Die Darstellungshaltung selbst – und damit auch die Zuschauerposition – wird verunsichert. Dörr und Yao kommen auf Fremdgehen und Eifersucht zu sprechen. Dörr führt vor, wie Scheer in Puchers Othello Eifersucht darstellt; Yao beschreibt, wie eng das Thema in der Elfenbeinküste mit der Vorstellung von Ehre und Familie verbunden ist. Dabei verändert sich Yaos Darstellungshaltung, er scheint sich mehr und mehr mit dem Erzählten zu identifizieren und versucht, Dörr von dem Dämon des Fremdgehens zu befreien. Was anfangs noch wie ein Spiel wirkt, kippt immer mehr in ein tatsächliches Bedrängen der weißen Frau durch den schwarzen Mann, in körperliche Gewalt um („Sort! Sort!“ schreit er den Dämon an und hält sie fest); oder: in die realistische Verkörperung einer Rolle, der Rolle des von Eifersucht und Irrglauben besessenen, ‚wilden‘ Schwarzen, der sich der unschuldigen weißen Frau bemächtigt und damit die abendländische Phobie vor der ‚Rassenmischung‘, zentrales Motiv des Stücktexts und seiner Rezeption, zu bestätigen scheint. War jede Nachahmung, jede Identitätskonstruktion bisher durch Rahmung und Erläuterung kenntlich gemacht, geht der Übergang von der distanzierten Darstellerhaltung zur Verkörperung nun schleichend vonstatten. Bislang wurde die Fremdheit zwar als Differenz belassen, aber intellektuell durch Erklärung überbrückt, jetzt bleibt nur das Nicht-Verstehen – der schwarze Mann wird uns plötzlich tatsächlich fremd, wir können ihn nicht mehr einordnen, können den Akt der Darstellung nicht mehr klar von der Realität unterscheiden. So wie die Rolle Othello in ihrer unmäßigen Gewalt am Ende der Tragödie Stereotype des ‚Wilden‘ verkörpert, so scheint
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Yao am Ende der Aufführung ebenfalls solche noch heute gültigen Klischees und Ängste vor dem Fremden zu verkörpern, scheint das christlich geprägte, rationale Selbst ernsthaft zu gefährden, verstört auf alle Fälle unsere Erwartungshaltung. Er ist jetzt Othello – ein Othello, dessen Konstruiertheit in der um Realismus bemühten Verkörperung verschleiert wird und der auf diese Weise die Identität des Eigenen absichert. Dabei tritt auch die enge Verbindung von kultureller und geschlechtlicher Identität in unserer Vorstellungswelt hervor: Das Paar Desdemona-Othello, das in der Narration einerseits rassistische und patriarchalische Muster überwindet, wird am Ende Opfer beider Normen, denn Othello verkörpert in seiner Eifersucht und der Ermordung Desdemonas nicht nur rassistische Stereotype sondern auch die Normen der patriarchalischen Gesellschaft.32 Das rassistische Stereotyp schwarzer Männlichkeit als viriler, gewalttätiger ist nicht zu trennen von der patriarchalischen Gesellschaft, in der es entstanden ist. Die Verunsicherung des Spiels am Ende von Othello c’est qui legt so die Problematik jeder Darstellung von Othello offen: die Gefahr der Reproduktion rassistischer und geschlechtlicher Stereotypen. Othello, c’est qui reflektiert an Othello entlang den Zusammenhang von Identität, Fremdheit und Darstellungskonventionen. Darstellungskonventionen, die Identitäten hervorbringen, das Eigene normalisieren und den anderen kolonialisieren. Die Aufführung eröffnet dabei Möglichkeiten, den eigenen Standpunkt zu denaturalisieren, Nicht-Verstehen zuzulassen und auf diese Weise Freiräume zu schaffen für eine Begegnung mit dem Anderen jenseits stabiler Identitäten.
L ITERATUR Balme, Christopher: „Wie schwarz muss Othello sein? Polemische Überlegungen zur Repräsentation kultureller Fremdheit im Theater“, in: Balme, Christopher/ Schläder, Jürgen (Hg.): Inszenierungen. Theorie – Ästhetik – Medialität. Stuttgart: Metzler 2002, 105-116. Brandstetter, Gabriele: „Verflechtungen von Tanzkulturen. Pichet Klunchun und Jérôme Bel“, in: Weiler, Christel/Roselt, Jens/Risi, Clemens (Hg.): Strahlkräfte, Festschrift für Erika Fischer-Lichte. Berlin: Theater der Zeit 2008, 16-27. Butler, Judith: Gender Trouble. Das Unbehagen der Geschlechter. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1991. Butler, Judith: Haß spricht. Zur Politik des Performativen. Frankfurt am Main: Suhrkamp 2006.
32 Zur Inszenierung von Gender in Othello siehe Newman 1987; Daileader 2000; Loomba 2002.
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Bryden, Ronald: „On Laurence Olivier as Othello, 1 May 1964“, in: Wells, Stanley (Hg.): Shakespeare in the Theatre. An Anthology of Criticism. Oxford: Clarendon Press 1997, 270-272 (zuerst erschienen in: The New Statesman, 01.05.1964). Daileader, Celia R.: „Casting black actors: beyond Othellophilia“, in: Alexander, Catherine M.S./Wells, Stanley (Hg.): Shakespeare and Race. Cambridge: University Press 2000, 177-202. Floyd-Wilson, Mary: English Ethnicity and Race in Early Modern Drama. Cambridge: University Press 2003. Hall, Stuart (Hg.): Ideologie, Identität, Repräsentation. Hamburg: Argument 2004. Hankey, Julie (Hg.): Shakespeare in Production: Othello. Cambridge: University Press 2005. Hendricks, Margo: „Surveying ‚race‘ in Shakespeare“, in: Alexander, Catherine M.S./Wells, Stanley (Hg.): Shakespeare and Race. Cambridge: University Press 2000, 1-22. Hill, Mike (Hg.): Whiteness. A Critical Reader. New York/London: Routledge 1997. Iyengar, Suajata: „White Faces, Blackface: The Production of Race in Othello“, in: Kolin, Philip C. (Hg.): Othello: New Critical Essays. New York: Routledge 2002, 103-131. Kolin, Philip C.: „Blackness Made Visible. A survey of Othello in Criticism, on Stage and on Screen“, in: ders. (Hg.): Othello: New Critical Essays. New York: Routledge 2002, 1-87. Loomba, Ania: Shakespeare, Race, and Colonialism. Oxford: University Press 2002. Neill, Michael: „Introduction“, in: ders. (Hg.): William Shakespeare. Othello, the Moor of Venice. Oxford: University Press 2006, 1-179. Newman, Karen: „‚And wash the Ethiop White‘: Femininity and the Monstrous in Othello“, in: Howard, Jean/O’Connor, Marion (Hg.): Shakespeare reproduced: The Text in History and Ideology. New York: Methuen 1987, 143-162. Olivier, Laurence: On Acting. London: Weidenfeld and Nicolson 1986. Potter, Lois: Shakespeare in Performance: Othello. Manchester: Manchester University Press 2002. Rosenberg, Marvin: The Masks of Othello: The Search for the Identity of Othello, Iago and Desdemona by Three Centuries of Actors and Critics. Berkley: University of California Press 1972. Said, Edward: Orientalismus. Frankfurt am Main: Fischer 2009. Shakespeare, William: Othello. Zweisprachige Ausgabe, Deutsch von Frank Günther. München: Deutscher Taschenbuch 2010. Žižek, Slavoj: „Genieße dein Opfer! Symbolische Gewalt und die Universalisierung des Opferbegriffs“, in: Lettre International, 26 (1994), 22-27.
‚Spielverderber‘ oder: Das subjektkonstituierende Potential des Subversiven Der Aktionist und Theaterperformer Joe Berger J ULIA D ANI ELCZYK
„Kommen S’ in zehn Jahren wieder, da ist er eine Kultfigur“1, soll einer der Geldgeber zu dem Journalisten Karo Wolm gesagt haben, als dieser 1992 seinen Film über den im Jahr zuvor verstorbenen Joe Berger fertigstellen wollte.2 Joe Berger – an dessen Oeuvre sich die Frage nach der Konstituierung des Subjekts in der künstlerischen und aktionistischen Praxis der 1960er bis 80er Jahre in Österreich stellt, war wesentlicher Drahtzieher für Aktionen, Performances sowie Schauspieler, Dramatiker und Kultfigur bereits zu Lebzeiten. Bis heute wird Berger folgendermaßen rezipiert: Lebenskünstler – Kampftrinker – Kuriosum der Wiener Literatenszene – legendäre Figur der Wiener Szene – Großzelebrator des Spontanen – lustiger Vulkan – Querkopf und Anarchist – Kaspar de la nuit – Poseur und Provokateur – Szene-Habitué.3 Mit diesen Zuschreibungen versuchte man sich kritische Geister – wie Joe Berger einer war – vom Leibe zu halten. Das Gemeinsame all dieser Epitheta: Der Blick ist starr auf die Person gerichtet, die damit auf ein – wie positiv auch immer gemeintes – Anderssein festgenagelt wird. Natürlich muss der Künstler ‚anders‘ sein, sich vom Mittelmäßigen abheben, vom Bürger unterscheiden, es bleibt aber die Frage nach der Differenz zwischen dem selbstbestimmten ‚anders‘ und den Zuschreibungen von außen.
1
Wolm 1992: 41.
2
Siehe Polt-Heinzl 2011: 51.
3
Siehe Pohl 1991.
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Was also bleibt vom produktiven Potential des Außenseiters, jener Figur, die Künstler häufig als Antipode zum Angepasstsein für sich in Anspruch nehmen? Dass es aktuell eine Art Sehnsucht gibt, sich an anarchische Lebens- und Schaffensformen zu erinnern, belegt das 2008 erschienene Narratorium von Ulrich Holbein.4 Erwartungsansprüche an den als ‚Original‘ verbuchten und akzeptierten künstlerischen Außenseiter unterliefen Akteure wie Joe Berger, Wolfgang Bauer, Hermann Schürrer, Reinhard Priessnitz oder der Maler Franz Ringel gezielt in ihren Aktionen und Auftritten. Berger war Repräsentant jener Gruppe antibürgerlicher Künstler, die ihre Idee von Theater als subversive poetisch-politische Aktionen, als Interventionen im Alltagsleben verstanden.5 Ähnlich wie für die Situationisten gilt auch für diese Künstler, dass sie sich gegen eine Verfälschung der Realität richteten, die mediale Abbilder für die Wirklichkeit heranzieht und damit das Leben verpasst. Der künstlerische Impuls bestand auf „dem lebenden, malenden, dichtenden, leidenden, sich wehrenden Menschen. Gerade wenn er zerstört, worunter er leidet, handelt er damit auch über seine Subjektivität hinaus.“6 Das als antibürgerlicher Gestus interpretierte Leben bietet eine Spiegelfläche für eigene, nicht gelebte Sehnsüchte und verstellt den Blick auf das Produktive: Hier interessiert das Leben, kaum das Werk. Berger selbst thematisierte in seiner Theorie von Theater die kategoriale Verwechslung der biologisch-menschlichen und künstlerischen Persönlichkeit als Frage nach dem Subjekt: „1939 wog er in der Wiege 3,5 kg, ein Gewicht, das er durch systematische Nahrungsaufnahme in zwanzig Jahren auf das 19,4fache zu steigern vermochte.“7 So beginnt Joe Berger 1973 eine kurze Selbstbiografie – in einem Entwurf im Nachlass überschrieben mit joe berger: gewichtsverlauf.8 Berger führt dadurch genannte Zuschreibungen wie auch das Verständnis von Autorschaft ad absurdum. Über die schleichende Aushöhlung oder gar den Tod des Autors, den Roland Barthes 1967 verkündete, wurde viele Jahre lang theoretisiert, im Zeichen der Kommerzialisierung ist er als versiertes Ein-Mann-Unternehmen fester verankert denn je, um im rücksichtslosen Kampf um mediale Präsenz den individuellen Marktwert zu erhöhen.9 Unvorstellbar ist auch, dass sich die Aktionisten der 1960 und 1970er Jahre penible Eigendokumentation „Leben, Werk und Wirkung“ betrieben hätten, die heute auf hunderten von selbst gestalteten Websites die Autorinnen
4
Siehe Holbein 2008.
5
Siehe Polt-Heinzl 2011.
6
Dreßen 1991: 240.
7
Berger/Walter 1973: o.S., siehe auch Antonic/Danielczyk 2009: 151.
8
Berger o.J.
9
Siehe Polt-Heinzl 2011: 53-54.
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und Autoren selbst übernehmen. Au Contraire: Man spielte und gründete Theatergruppen unter Pseudonymen, Gunter Falk nannte sich Gunter Smart10, Toni Dusek trat als Gerd Hautz auf, man spielte Stücke von Autoren etwa mit Namen wie Fum Melampwe, die reine Erfindung waren. Aber nicht nur der Autor verschwindet hinter seinem Werk, es gibt auch keine Figuren mehr, die Sprache selbst wird zum konstituierenden Subjekt: „Da dieses Verhältnis umkehrbar ist d.h. ein Handlungsschema kann Sprachschemata produzieren, die letz[t]lich erst den verborgenen Sinn eines Handlungsschemas zeigen, wird in einigen der Improvisationen dieses Verhältnis Sprache – Aktion in das Verhältnis Aktion – Sprache auch umgekehrt.“11 Alle Exponenten dieser Gruppe – Berger, Bauer, Priessnitz, Falk oder Dusek – waren von den Erfahrungen den Zweiten Weltkriegs geprägt und versuchten auf einer spielerischen Ebene die Problematik des traumatisierten Menschen zu variieren, das Spiel selbst wird zum Thema der (Theater-)Texte, das Spiel mit der Sprache und der ihr innewohnenden Kraft ihr Ausdrucksmittel. „Wir müssen etwas zeigen, was die Leute wissen sollten, und was durch eine spezielle Spielweise und durch die Sprache mitgeteilt werden kann.“12
D AS S CHAUSPIEL HEBT SICH AUF , DIE INSZENIERUNG WIRD W IRKLICHKEIT In diesem Sinne verstand sich Bergers Konzept von Theater als ein Prozess der Subjektivation im Rahmen von politischen Aktionen bis hin zu FakeZirkusvorstellungen. Diese Performances hatten Modellcharakter, in welchen die Sprache als handlungstreibendes Moment sowie deren Ausnutzung für von der Obrigkeit geforderte Verhaltensmaßregeln entlarvt werden. So verhält es sich auch in Bergers Theatertexten. Hier verselbständigt sich die Sprache in ihrer akustischen Materialität, dementsprechend löst sich auch das sprechende Ich, das Subjekt auf; etwa im Einakter der berg, den er zusammen mit Konrad Bayer 1962 inszenierte. Immer wieder geht es um die Erfahrungen und Traumatisierungen des Krieges, die nicht direkt thematisiert, sondern verschlüsselt dargestellt werden: „wir gehen in die irre / wir gehen in der irre“13. Bayer baut Wiederholungsspiralen, die auf sprachli-
10 Smart und Falk sind österreichische Zigarettenmarken. 11 Berger, Brief vom 21.03.1971. Typoskript im Teilnachlass Joe Berger, Privateigentum Sara Berger. 12 Gubsco 1970: o.S. 13 Bayer, Konrad: der berg. Typoskript, 3, Teilnachlass Joe Berger, Wienbibliothek im Rathaus (=WBR), H.I.N. 235.597.
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cher Ebene die Suche und die Irrwege abbilden, doch der Gipfel entfernt sich immer mehr. Im Sinne des Verständnisses von Kunst und Leben als politische Intervention im Gesellschaftsraum gründeten Berger und Dusek 1965 die so genannte „Arbeitsgruppe Bauernschnapsen“, die Kunst als subversive poetische Aktionen fasste, als Interventionen im Alltagsleben. Die Arbeitsgruppe Bauernschnapsen hatte „es sich zur Aufgabe [ge]setzt [...], durch den Einsatz ludischer Elemente in die gegebenen sozioökonomischen Strukturen deren Background zu röntgenisieren.“ 14 Ähnlich wie bei den Situationisten richtete sich ihr Konzept gegen eine Verfälschung der Realität. Hier gilt auch für die Arbeitsgruppe Bauernschnapsen, was Wolfgang Dreßen über die Situationisten schreibt: Er vertraute auf keinen „Geschichtsgang“, sondern hier und jetzt sollte so gelebt werden, wie es den einzelnen Menschen paßte, gegen jede vorgegebene Regel. [...] Dieser „Guierillero“ verweigert sich, als Rädchen zu funktionieren und er setzt seine „sinnliche Erfahrung“ gegen die Maschinerie. Gerade wenn er zerstört, worunter er leidet, handelt er damit auch über seine Subjektivität hinaus. Ohne dieses Moment realer Destruktion würde die „sinnliche Erfahrung“ in einem alternativen Ghetto verkommen.15
Dementsprechend wählte die Arbeitsgruppe Bauernschnapsen für ihre Aktionen stets ‚öffentliche Kommunikationsorte‘ aus, wie etwa die Geisterbahn im Wiener Prater oder Denkmäler, aber auch Wirtshäuser und Galerien oder auch einmal das Wiener Burgtheater. 16 „Parks, Plätze, Häuser, auch die Straßen wurden selbst zur Bühne, wenn zu ausgedehnten Begehungen und Demonstrationen mit HappeningCharakter geladen wurde.“17 So fand am 8. Juni 1967 die damals bekannteste Aktion der Arbeitsgruppe Bauernschnapsen mit dem Titel Mausi – Mausi statt. Es handelt sich dabei um jene Veranstaltung, die unter dem Namen Geisterbahn-Aktion berühmt geworden ist.
14 Berger: Arbeitsgruppe Bauernschnapsen. Teilnachlass Joe Berger, WBR, ZPH 775, Archivbox 4. 15 Dreßen 1991: 240. 16 Die Aktion im Burgtheater mit etwa 100 daran beteiligten Personen wurde jedoch aufgrund eines gut argumentierenden Theaterportiers („des sind ja nur alte Leut“) abgeblasen. O-Ton Joe Berger in einem Interview: Das Burgtheater „wurde nicht besetzt, aber dank des Portiers und nicht dank des Direktors“. Siehe Berger 2000, Track 11. 17 Pfeiffer 2011: 136.
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Eine Geisterbahn wurde gemietet (Prater, Wien). Sämtliche Geister wurden restlos entfernt, das Licht abgeschaltet (ausgeknipst), eine Tafel mit der Aufschrift „DENKEN SIE“ in der Halbzeit der Fahrt durch die Geisterbahn angebracht und das Publikum einzeln mittel[s] dazu zur Verfügung stehender Beförderungsmittel (Wagerln) hindurch expediert. Bei der Tafel mit der Aufschrift | „DENKEN SIE“ | erfolgte ein einminütiger Stop, sodaß jeder gezwungenermaßen dieser Aufforderung nachkommen mußte. 18
Bei Austritt aus der Geisterbahn gab es dann eine zweite Tafel mit der Aufschrift „Für Ihre Gedanken dankt die Gruppe Bauernschnapsen“.19 „Die Reaktionen der einzelnen wurden auf Tonband festgehalten und durch eine darauf folgende Fragebogenaktion ergänzt.“20
INTERNATIONALISIERUNGSMASSNAHMEN – FIRST VIENNA WORKING GROUP : MOTION 1968 wurde die Arbeitsgruppe Bauernschnapsen internationalisiert und in die first vienna working group: motion überführt. Als Gründe nennt Berger, „die Einladungen deutscher progressiver Theater[,] wodurch es notwendig wurde, die Ideen der AGB bühnengerecht zu adaptieren und so einem größeren Publikumskreis zugänglich zu machen.“21 Die ‚Proben‘ für die Aktionen fanden aus Prinzip im Kaffeehaus statt.22 Das behielt die Gruppe auch im Ausland bei, „um hier das politische Milieu und den Sprachgebrauch zu studieren.“23 Während der Aufführungen wurde aus dem Stegreif heraus diskutiert, um das Publikum herauszufordern bzw. wie Berger schreibt,
18 Berger: First Vienna Working Group: Motion. Teilnachlass Joe Berger, WBR, ZPH 775, Archivbox 3. 19 Siehe Schatz 1974: 119. 20 Berger: First Vienna Working Group: Motion. Vgl. auch Joe Berger in einem Interview, in dem er davon erzählt, dass alle Geister entfernt, eine Tafel „Denken Sie“ am Ende aufgestellt wurde, und die Geisterbahnfahrer dem dann auch nachkommen konnten, die „Gedanken durften sie dann aufschreiben“, siehe Berger 2000: Track 9. 21 Berger: First Vienna Working Group: Motion. 22 Als wichtiger Aspekt für ein Verständnis des Zusammenhangs von Joe Berger und „leben/schreiben in Kaffeehäusern“, ist festzuhalten, dass er sich selbst niemals – wohl in Abgrenzung zu den bekannten der Jahrhundertwende – als Kaffeehausliterat verstanden hatte oder verstanden wissen wollte. Siehe Antonic/Danielczyk 2009: 296. 23 Ponger/Schmatz/Schwendter 1990: 167.
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sollten sich „die vorerst passiv Zusehenden […] zu aktiv Mitwirkenden“24 entwickeln. In der Aktion Hunger: Biafra beschäftigt sich die Gruppe vorwiegend mit dem Verhältnis Sprache – Verhaltensweisen. So war z.B. „Hunger: Biafra“ bloß als ein Handlungsmodell zu verstehen (vor einem überdimensionalen Plakat mit der Aufschrift „Hunger: Biafra“ wird ein zehngängiges Mahl verzehrt, das aus den Eintrittsgeldern bezahlt wird, nach Abzug der Spesen bleibt ein lächerlich geringer Restbetrag, der den Hungernden auf ein Spendenkonto überwiesen wird). Innerhalb dieses Handlungsmodells praktiziert die Gruppe ihre Improvisationen, die sich mit Dingen beschäftigen, die mit der ursprünglichen Absicht (Biafra) nichts mehr gemein haben. Dieser Abstand zwischen weltpolitischer Tatsache und persönlichem Verhalten entspricht aber genau der Verhaltensweise des Publikums, es fühlt sich provoziert und verlangt, nun einmal unsicher gemacht, nach Diskussion. […] Das „Spiel“ hebt sich selbst auf, der Theaterabend wird zu einem Stück Wirklichkeit. 25
Die first vienna working group: motion übte also fundamentale Gesellschaftskritik, die aber keinen ideologischen Unterbau vorweisen konnte, und erregte somit Unverständnis bis harsche Ablehnung. Als die first vienna working group: motion 1969 zusammen mit den (späteren) Größen der deutschen Liedermacherszene beim legendären Festival auf Burg Waldeck auftrat, „blies der Gegenwind so heftig, dass es den Österreichern sogar einen Eintrag ins deutsche Nachrichtenmagazin Der Spiegel eintrug“26: Die Happening-Truppe besteht aus zwei leicht vampirischen Wienern, dem einstigen „Lackingenieur“ Joe Berger, 30, und dem gewesenen Kohlenträger und Schauspieler Otto Kobalek, 38; ihre Einlagen waren von ruchlosem Witz. Kobalek etwa, stets in Begleitung einer Rotweinpulle, heftete, des Sex & Revolutions-Geredes überdrüssig, eine Suchanzeige ans schwarze Waldeck-Brett: „Welche Genossin“, so schrieb er, „möchte noch vor der Revolution den Geschlechtsverkehr vollziehen? Interessenten bitte melden bei O. Kobalek.“ Sein Kompagnon Berger, er macht Proletarier beim Kartenspiel zu Sozialisten, brachte die apostolische Linke mit einem Happening zum Glühen. Im großen Festzelt, wo gewöhnlich nach Mitternacht blocksbergmäßige Free-Rock-Orgien anhoben, ließen sich die Wiener ein kapitales Menü auf die Bühne servieren (Krabben etc.) und spielten „Waldeck: Diskussion“ will sagen: Berger provozierte mit gotteslästerlichen Sprüchen („Auch der Onkel Ho geht nicht
24 Berger: First Vienna Working Group: Motion. 25 Berger: First Vienna Working Group: Motion. 26 Polt-Heinzl 2011: 63.
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mehr aufs Klo“), wurde als „Faschist“ von der Bühne gedrängt und fand, am letzten Tag, sein Automobil demoliert vor. 27
Die Aktion auf Burg Waldeck zeigt den rücksichtslosen Willen zur Provokation, die Demontage des sich eben konstituierenden revolutionären Subjekts. Zu tun hatte der Waldeck-Auftritt auch mit der österreichischen Tradition des Practical jokes. Er kommt als gesellschaftskritische Intervention vom Grubenhund her, der um 1900 eifrig gepflegt wurde, um mit ‚subversiv‘ in Zeitungsredaktionen eingeschleusten Absurditäten die Glaubwürdigkeit medialer Berichterstattung zu hinterfragen. Nach 1945 besorgte seine Wiederaufnahme vor allem Helmut Qualtinger, im klassischen Sinn war das die berühmte Invention des Eskimo-Nationaldichters Kobuk, von dessen bevorstehender Ankunft die Presse bereitwillig berichtete.
„Z IRKUS SPEISESODA“ – DIE GRÖSSTE P OESIE DES U NIVERSUMS ODER P ARODIE DER W IRKLICHKEIT? Auch wenn sich die first vienna working group: motion 1972 „wegen beruflicher Verpflichtungen eines Großteils der Mitglieder“28 auflöste, wurde sie 1976 noch einmal aktionistisch aktiv. Das Festival steirischer herbst in Graz hatte bei Wolfgang Bauer um eine Produktion angefragt und das Duo Bauer & Berger sprang mit dem Projekt Zirkus Speisesoda oder die größte Poesie des Universums29 ein. Berger hatte einen alten Zirkus mit einem Bären, einem Hundeballett und einem Schimpansen billig erworben und fuhr nun damit nach Graz. Der Maler Franz Ringel hatte im Vorfeld das Plakat für die Veranstaltung gestaltet, Reinhard Priessnitz hatte Gedichte vorbereitet. 30 Dem vorausgeeilt waren hanebüchene Ankündigungen, wie etwa dass das Krokodil Kartenzwicken könne. 31 Wolfgang Bauer trat mit „Lotosblütenkranz über dem Overall“ und dem Schimpansen Rudi auf. Dabei verstand sich die Aktion als Parodie auf die Fernsehshows der Zeit, die mit dem viel geliebten Südseeflair geboten wurden.
27 Rumler 1969: 198. 28 Ponger/Schmatz/Schwendter 1990: 167. 29 Bekannt unter „Zirkus Speisesoda“, öfter auch unter „Zirkus Speisesoda springt ein“, ist der Titel in voller Länge etwa in Draw: „Quo vadis, Wolfgang Bauer?“, in: Südost Tagespost (17.11.1976) zitiert. 30 Siehe Mittermayr/Ringel 2004. 31 Informationen einerseits aus einem Interview mit Wolfgang Bauer (in: Doblhofer/Wolm 1992) und andererseits aus einem Interview mit Franz Ringel (Mittermayr/Ringel 2004).
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Auch hier werden Handlungen und Dialoge jeglicher Logik entzogen. Der deklarierte Unsinn hinter all den Aktionen bezieht sich auch auf die unmittelbare historische Wirklichkeit, die nicht mehr fassbar ist. Was Spiel und scheinbar komisch ist, versteht sich als Parodie der Wirklichkeit. Im Versuch der Konstituierung des politisch-revolutionären Subjekts (und das im Zusammenspiel mit dem Antisubjekt) kritisierte Berger auch in seinen theoretischen Texten zur aktionistischen Theaterpraxis vehement den täglichen Eintopf, die Verachtung weiterführender Utopien, das Aufgehen in der allesbeherrschenden Routine, [die] unbewußt das Gegenteil dessen [bewirkt], was als deklariertes Ziel unserer Gesellschaft gilt: Pluralität. Eine plurale Gesellschaft bedarf des Außergewöhnlichen, des Ungewohnten und Unbequemen, bedarf einer Art formierter Unordnung [...].32
„S PIELVERDERBER “:
ANARCHISCHES
S UBJEKT
Bergers subversive Denkansätze wurden von der damaligen Kritik gerne durch verharmlosende Stilisierungen und Hinzudichtungen entschärft. Dabei reflektiert Berger in seinen Texten chauvinistisches und (unterschwellig) aggressives Diskursverhalten der Nachkriegszeit, indem er – ganz ähnlich zu den literarischen Verfahren Samuel Becketts – den Dialogen jeglichen Sinn nimmt und verdeckte Verhaltensweisen durch totalen Nonsens sichtbar macht. Berger verpackt seine scharfe Kritik an der Nachkriegsgesellschaft mit ihren Verdrängungsmechanismen in die Form der Groteske und Parodie, die mehr als eine „bloß närrische und burlesk verschrobene Spielerei verbirgt.“33 Er experimentiert dabei nicht – wie etwa Autorenkollegen der Wiener Gruppe – mit Sprache, sondern behält eine scheinbare Sinnhaftigkeit bei, um diese allerdings im Verwenden von Phrasen und sinnverfremdeten Redewendungen als inhuman und brutal auszustellen. Somit entlarvt Berger die Potenz der Sprache, etabliert diese zum eigentlichen Subjekt, die sich nicht nur in den Aktionen, sondern auch in den Prosatexten, vor allem aber in seinen (kaum gespielten34) Theaterstücken zu erkennen
32 Berger: Sujets für Stegreiftheater. Typoskript, Teilnachlass Joe Berger, Wienbibliothek im Rathaus (=WBR), ZPH 775, Archivbox 3. 33 Jäggi 1962: 6. 34 Von seinen zahlreichen Stücken wurden nur zwei aufgeführt: Plädoyer für den Alkohol im Theater beim Auersperg, Mai 1990, Regie: Joe Berger, Darsteller: Ulrich Radtke sowie Traumziele im Theater Kreis, im Rahmen der Zeit/Schnitte der Wiener Festwochen, Juni 1990, Regie: Joe Berger, Darsteller: Bettina Barth-Wehrenalp, Alfred Schedl, Roland Selva.
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gibt. Denn „Alogik hat ihre Funktion, sie hellt auf“35 bzw. nach Yvan Golls These: „Alogik ist heute der geistigste Humor, also die beste Waffe gegen die Phrasen, die das ganze Leben beherrschen.“36 Sowohl Unsinn als auch ‚formierte Unordnung‘ sind Fehler im System der leistungsorientierten Generation der (Täter) Väter; der Unsinn das Prinzip, das Bergers Schreiben bestimmt, die ‚formierte Unordnung‘ das Prinzip zur Formierung des anarchischen Subjekts. Den Unsinn, den Berger meint, versteht auch er als eine Art „sinnliches Paradox, die Gestalt nämlich der Ungestalt […] genauso wie unser Denken ohne den Begriff des Paradoxen nicht mehr auszukommen scheint; so auch unsere Kunst, unsere Welt [...].“37 Das sich neu konstituierende Subjekt ist bei Berger jenes, das sich gegen sämtliche Regeln und Normen, gegen jede Form von Herrschaft im Sinne des eigenständigen Denkens und freien Willens stellt. In diesem Sinn geht es Berger, der sich stets mit den Aspekten des Spiels auseinandergesetzt hat, um den Außenseiter als „Spielverderber“, um jenen, der aus der Rolle fällt. Im Theaterstück Die Hierarchie der Spirituosen oder Die demokratische Trinkerheilanstalt kommen etwa die scheinbar Gesunden zur Kur in eine Heilanstalt, die Nichttrinker zu Trinkern machen soll, in dem Mikrodrama Die Spielenden werden Papierfetzen zu Waffen deklariert, der Kampf will aber nicht in Fahrt kommen; zu gut verstehen sich die vier Spieler. Am Ende wird das Spiel, dieser Zerrspiegel einer grotesk gewordenen Welt, missverstanden. Ein Kind erscheint, der ‚Spielverderber‘, der die Akteure für wirkliche Krieger hält und eine Handgranate in den Raum wirft. Die Rolle des ‚Spielverderbers‘ wird hier doppelt verkehrt, bis dieser schließlich marginalisiert, therapiert oder als ‚lustiger Narr‘ gesellschaftlich zwangsintegriert ist. Es sind die Bruchstellen zwischen Aktion, Spiel und Leben, an welchen sich Bergers anarchisches Subjekt konstituiert.
35 Völker 1962: 29. 36 Goll zit. nach Völker 1962: 29. 37 Jäggi 1962: 6.
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L ITERATUR Antonic, Thomas/Danielczyk, Julia (Hg.): Hirnhäusl. Prosatexte aus dem Nachlass & verstreut Publiziertes. Klagenfurt/Wien: Ritter 2009. Antonic, Thomas/Danielczyk, Julia (Hg.): „Denken Sie!“ Interdisziplinäre Studien zum Werk Joe Bergers. Klagenfurt/Wien: Ritter 2011. Berger, Joe: Arbeitsgruppe Bauernschnapsen. Teilnachlass Joe Berger, WBR, ZPH 775, Archivbox 4. Berger, Joe: First Vienna Working Group: Motion. Teilnachlass Joe Berger, WBR, ZPH 775, Archivbox 3. Berger, Joe: Sujets für Stegreiftheater. Teilnachlass Joe Berger, WBR, ZPH 775, Archivbox 3. Berger, Joe/Walter, Nikolaus: Zehn extraordinaire photographische Abbildungen von Nikolaus Walter. Mit Text von Joe Berger. Dornbirn: Vorarlberger Verlagsanstalt 1973. Berger, Joe: Denkwürdigkeiten. Audio-CD. Wien: Strecketon 2000. Doblhofer, Hannes/Wolm, Karo: „Rumpelstilzchen lebt hier nicht mehr. Das Leben des toten Dichters, Schauspielers und Aktionisten Joe Berger.“ Radiosendung ORF Radio Ö1, Erstsendung 31.05.1992. Dreßen, Wolfgang: „Platons Höhle sprengen“, in: Nilpferd des Höllischen Urwalds. Spuren in eine unbekannte Stadt. Situationisten Gruppe SPUR Kommune 1. Katalog zur Ausstellung des Werkbund-Archivs Berlin. November 1991, 231-240. Gubsco, Georg: „Bergers Vierteln“, in: Die Presse (1970), o.S. Holbein, Ulrich: Narratorium. 255 Lebensbilder. Zürich: Ammann 2008. Jäggi, Willy: „Vorwort“, in: Esslin, Martin (Hg.): Sinn oder Unsinn? Das Groteske im modernen Drama. Basel: Basilius 1962, 6-7. Mittermayr, Florin/Ringel, Franz: „Immer ein politischer Mensch. Interview“, in: Megaphon 12 (2004), http://www.megaphon.at/de/strassenmagazin/archiv/ megaphon_2004/dezember/76 [13.4.2011]. Pfeiffer, Gabriele C.: „‚Warum sticht der Bube die Dame nicht?‘ oder: Joe Berger hat ‚aktionismus gmacht mit freunden‘“, in: Antonic, Thomas/Danielczyk, Julia (Hg.): „Denken Sie!“ Interdisziplinäre Studien zum Werk Joe Bergers. Klagenfurt/Wien: Ritter 2011, 131–157. Pohl, Ronald: „Ein Kaspar de la nuit: Kunst und Leben des Joe Berger“, in: Der Standard (03.06.1991). Polt-Heinzl, Evelyne: „Eine Szene-Figur kennt keiner oder Der Künstler ist der ‚Pausentrottel der Politik‘ (Zeppel-Sperl). Versuch über Joe Berger“, in: Antonic, Thomas/Danielczyk, Julia (Hg.): „Denken Sie!“ Interdisziplinäre Studien zum Werk Joe Bergers. Klagenfurt/Wien: Ritter 2011, 51–68. Ponger, Lisl/Schmatz, Ferdinand/Schwendter, Rolf: Doppleranarchie. Wien 19671972. Wien: Falter 1990.
DAS SUBJEKTKONSTITUIERENDE P OTENTIAL DES S UBVERSIVEN | 613
Rumler, Fritz: „Auch der Onkel Ho geht nicht mehr aufs Klo“, in: Der Spiegel (22.09.1969), 198. Schatz, Vivienne Marina: Neue Kommunikationsformen des Theaters in Österreich. Aktionismus, Happening, Straßentheater (1946–1973). Diss., Salzburg 1974. Völker, Klaus: „Das Phänomen des Grotesken im neueren deutschen Drama“, in: Esslin, Martin (Hg.): Sinn oder Unsinn? Das Groteske im modernen Drama. Basel: Basilius 1962, 9-46. Wolm, Karo: „Fünf Schilling pro Paket“, in: Salto (24./25.09.1992), 41.
Zwischen Entwurf und Verlust Oszillationen von Subjekt und Körper in Bewegung S USANNE F OELLMER
In einer Szene zu Beginn von William Forsythes Stück Decreation (2003) hält die Tänzerin Dana Caspersen eine Rede. Während sie englische Worte regelrecht in den Raum hinausspuckt, ziehen die Hände zur gleichen Zeit an ihrem T-Shirt. Dabei wirken diese wie Fremdkörper, die an der Oberbekleidung zupfen und dehnen. Nicht der Körper selbst scheint mehr der Initiator der Bewegungen zu sein, vielmehr ergeben sich diese als Impulse von außen, denen die Darstellerin zu folgen gezwungen ist. Nahezu leitmotivisch winden sich jene disjunktivierenden Zug- und Reißsequenzen durch das gesamte Stück und entmächtigen den Körper in seiner Rolle des ‚Bewegers‘. So zum Beispiel in einer Szene, in der der Tänzer Christopher Roman mit einer Männergruppe im Kreis sitzt und sich unterhält. Zunehmend kommt es zu destabilisierenden Motionen, ausgelöst durch die umgebende Garderobe sowie zu Verzerrungen des sprechenden Mundes, dessen Lippen sich verziehen und verschieben, als wollten sie den sinnbildenden Konsonanten im verhinderten Mundschluss ausweichen. Die Bewegungen verlagern sich allmählich in die Peripherie, an die äußeren Ränder des Mundes und lassen in ihrer Vehemenz und Wucht den Kopf nach hinten oder zur Seite kippen. Die für Forsythes Verfahren vielfach festgestellte Multiplikation und Dissemination der Bewegungszentren etwa vom Solarplexus in die Extremitäten1 verlagert sich in Decreation nun weiter in die äußersten Winkel des Körpers beziehungsweise in das Beiwerk der Kleidung hinein. Die Bewegungen scheinen gar vom Stoff initiiert und zwingen den Körper in Torsionen und Ausweichbewegungen. Formuliert Forsythe im Rahmen seiner Improvisation Technologies das Ideal reaktiver Tänzer, die Bewegungen nicht gezielt formen, sondern „[…] es dem Körper über1
Siehe Gilpin/Baudoin 2004: 119 sowie Brandstetter 1997: 619; Evert 2003: 124; Siegmund 2006: 261.
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lassen [sollen], dich zu tanzen“2, überhöht er in Decreation dieses Prinzip: Der Körper veräußert seine verstreuten Zentren an die Kleidung. Mithin bewegt anscheinend nicht mehr der Körper die Tänzer, sondern das umgebende Rahmenwerk die Körper.3 Die Tanzwissenschaftlerin Sabine Huschka formuliert das Sich-Bewegen als wesentliches Merkmal von Subjektivierung: Das Subjekt biete sich als ein solches im Initiieren von Bewegung dar.4 Zugleich ist im zeitgenössischen Tanz die Faszination und das beständige Arbeiten am Kontrollverlust in der Bewegung präsent, so etwa in den Choreographien Meg Stuarts. In Forsythes Decreation kommt es nun zu Oszillationen zwischen dem Körper als Impulsgeber und dem Beiwerk, das sich verselbstständigt, einer Spaltung zwischen bewegt werden und sich bewegen, in einer heuristisch verstandenen Trennung mithin zwischen Subjekt und Objekt. Zurückblickend auf Forsythes obige Aussage ergibt sich entsprechend eine doppelte Verfasstheit des Körpers: als Instrumentarium von Bewegung, als Objekt, das „dich tanzt“ – und hier allerdings gleichsam eine cartesianische Kehrtwende vollzieht, denn was wäre das „dich“, das hier bewegt wird, wenn es nicht mehr das Subjekt ist, welches die Bewegung allererst auslöst? Folglich generiert sich der Körper selbst als Subjekt, als Initiator von Bewegung – Huschka betont entsprechend, dass der Körper (im Tanz) zugleich „Objekt und Subjekt“5 der Darstellung sei. Folgt man dieser doppelten Wendung, bedeutet dies in letzter Konsequenz, dass der Körper den Körper tanzt. Ist dieser also tanzend selbst-reflexiv oder vielmehr selbst-vergessen im Dich-Tanzen, das die Überwindung einer rationalen Instanz nahezulegen scheint? Im Anschluss sollen jene Wechselspiele zwischen Subjekt und Objekt anhand einer aktuellen Inszenierung aus dem zeitgenössischen Tanz nachvollzogen werden.
V ERHÜLLTE E NTSCHÄLUNGEN In Unturtled, eine seit dem Jahr 2009 fortlaufende Kooperation der Berliner Choreographin Isabelle Schad und des bildenden Künstlers Laurent Goldring (Paris), erscheint die Silhouette der Tänzerin Schad in fortwährenden Dehnungen und Schrumpfungen, Plusterungen und Blähungen begriffen. Provoziert durch ein übergroßes Hemd, das die Hände verbirgt, und eine ebensolche Hose, aus der die Füße bisweilen wie dünnen Fäden herausragen, schwankt ihr Körper beständig zwischen
2
Forsythe/Haffner 2003: 27.
3
Siehe auch Foellmer 2009: 403.
4
Siehe Huschka 2002: 24.
5
Huschka 2002: 26.
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Verhüllungen und Entschälungen, zwischen Unkenntlichkeit und physisch unwahrscheinlichen Formen, denen nur der Kopf immer wieder zu entkommen scheint (Abb. 1). Es entstehen Eindrücke einer unzusammengehörigen Anatomie, etwa wenn die Arme in den Weiten des Hemdes verborgen sind und sich (für das Zuschauerauge unsichtbar) in Richtung Schulter schieben, so dass diese mit einem Mal wie ein drittes, monströses Organ aus den Falten des Hemdes herauszuwuchern scheint. Im Verlaufe der Aufführung entsteht der Eindruck, die Kleidung der Darstellerin führe ein Eigenleben und löse abgekoppelt von den Motionen ihrer Trägerin die Bewegungen nun ‚eigenverantwortlich‘ aus. Hinzu gesellen sich irritierende Sensationen, als wachse unter den umgebenden Stoffhüllen eine Art extrakorporales Wesen heran. Sind über weite Strecken des Stücks die Körperformen der Tänzerin noch für kurze Augenblicke erkennbar, so wandeln sie sich im letzten Drittel der Aufführung in zunehmend amöbenhafte Gestaltungen, in denen kaum noch anthropomorphe Gliederungen auszumachen sind (Abb. 2). Auch die theatrale Situation als solche wird aufgebrochen: Das Stück folgt keiner erkennbaren bewegungsmotivischen oder narrativen Dramaturgie, vielmehr wandelt sich der Körper von einem metamorphen Tableau zum nächsten. Dieses nachgerade bewegungsbildliche Moment wird durch die Anordnung des Settings noch verstärkt: Gänzlich in Weiß ausgekleidet, mit einer seitlich links und nach hinten begrenzenden Wand wirkt das Bühnenbild eher wie der Ausstellungsraum einer Galerie, in der sich das fluide Geschehen vor den Augen einer staunenden Anzahl von Zuschauern ereignet.6 In Unturtled zeigen sich Entkopplungsbewegungen in mehrfacher Hinsicht, wobei nachfolgend die phänomenologische und die mediale Perspektive genauer betrachtet werden.
Abbildung 1: Isabelle Schad, Laurent Goldring: Unturtled (2009).
6
Ich habe das Stück im Juni 2009 in den Sophiensaelen Berlin gesehen.
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Abbildung 2: Isabelle Schad, Laurent Goldring: Unturtled (2009).
E NTKOPPLUNGEN DER B EWEGUNG
VON
S UBJEKT UND O BJEKT
Als eine Signatur des zeitgenössischen Tanzes durchzieht nicht nur Isabelle Schads Arbeiten die Erforschung der Materialität des Körpers im Tanz im Sinne der Frage: Was ist es, das sich bewegt? Spaltungs- und Fusionserscheinungen zwischen dem Körper als Sub- und Objekt zeigen sich unter anderem in Xavier Le Roys mittlerweile schon als Schlüsselstück geltenden Self unfinished (1998).7 Die Filmwissenschaftlerin Vivien Sobchack greift ähnliche Tendenzen im Film auf, indem sie auf dessen Materialität fokussiert. In ihrem Buch Carnal Thoughts beruft sie sich zunächst auf Maurice Merleau-Pontys Konzept der Intersubjektivität,8 welches das intentionale, handelnde Subjekt im Sinne eines In-der-Welt-Seins in den Mittelpunkt rückt.9 Sobchack stellt sich auf dieser Basis jedoch die Frage, wie es dann möglich ist, etwas als (nicht intentional seiendes) Objekt grundsätzlich wahrzunehmen, im Sinne einer Faszination am eigenen Körper als materiellem und zugleich empfindendem ‚Gegenstand‘.10 Merleau-Ponty löst diesen Zwiespalt mit der Metapher des Fleisches, als Medium des leiblichen Eingebundenseins mit der Welt, als kommunizierende Stofflichkeit zwischen Subjekt und Objekt.11 Allerdings ist hierin nicht unbedingt die Möglichkeit einbezogen, sich selbst als Objekt zu erfahren, als 7
Siehe Foellmer 2009: 12.
8
Siehe Sobchack 2004: 311.
9
Siehe Merleau-Ponty 1966: 106.
10 Siehe Sobchack 2004: 310. 11 Siehe Merleau-Ponty 1986: 178.
OSZILLATIONEN VON S UBJEK T UND K ÖRPE R IN B EW EGUNG | 619
Material im Sinne eines „Körperding[es]“12 zu empfinden, wie dies jedoch viele Arbeiten im zeitgenössischen Tanz nahelegen. Die anthropozentrische Perspektive eines handelnden Subjekts verwerfend, entwickelt Sobchack folglich die Idee einer „interobjectivity“, die allerdings, so das Paradox, nur aus dem eigenen Blick heraus, als Subjekt erfahrbar sei13 – eine mithin phänomenologische Grundkonstante, die auch sie nicht verwirft. Vielmehr geht es ihr um eine Verschiebung der Perspektive: […] we never really sense a nonintentional ‚thing‘ existing in the world as an object in-itself but rather sense its real and present presence as in excess of our comprehension and as being for-itself. […] this kind of subjectification takes up the object’s excess objectivity as opacity and its inertia as somehow a refusal or judgement.14
Sobchack plädiert schließlich für eine negative Perspektive des Subjektiven: Das Objekt verhalte sich als „negative Relation“ 15 zum Körpersubjekt, ein Verhältnis, das sich besonders in Momenten der Entfremdung und der Erfahrung von Alterität zeige.16 Allerdings hat Merleau-Ponty durchaus keinen solch eindimensional auf Handlung fixierten Subjektbegriff, wie es sich in Sobchacks Lesart andeutet. Das französische ‚sujet‘ verweist vielmehr auf etwas, das im Werden begriffen ist und erst (noch) eine Gestaltung erfährt.17 Zwar betont der Philosoph Bernhard Waldenfels in seiner Lektüre Merleau-Pontys die intentionale Komponente dieses Zustands, im Sinne eines gestaltenden Sich-auf-etwas-hin-Entwerfens.18 Merleau-Ponty selbst jedoch setzt vor die Intentionalität das Empfinden, postuliert im „Primat der Wahrnehmung“19. Das Empfindlich-Sein für Eindrücke – etwa für Farbe – trägt folglich die Tendenz des Apersonalen in sich – vor jeder Entscheidung, zum Beispiel etwas als etwas sehen zu wollen: „Wollte ich […] die Wahrnehmungserfahrung in aller Strenge zum Ausdruck bringen, so müsste ich sagen, daß man in mir wahrnimmt, nicht, daß ich wahrnehme. Jede Empfindung 12 Bernhard Waldenfels unterscheidet heuristisch zwischen dem „fungierenden Leib“ und dem „Körperding“ (Waldenfels 2000: 15). 13 Siehe Sobchack 2004: 316. 14 Sobchack 2004: 315. Hervorhebung im Original. 15 Sobchack 2004: 317. 16 Siehe Sobchack 2004: 315. 17 Siehe Merleau-Ponty 1966: 7. 18 Siehe Waldenfels 2000: 74. 19 Titel des 2003 erschienen Aufsatzes, der die Thesen und anschließende Diskussion der Disputation (1946) von Merleau-Pontys Schrift zur Phänomenologie der Wahrnehmung enthält.
620 | S USANNE F OELLMER trägt in sich den Keim eines Traumes und einer Entpersönlichung: wir erleben es an dem Betäubungszustand, in den wir geraten, wenn wir uns gänzlich einem Empfinden überlassen.“20
Bezogen auf das Stück Unturtled ließe sich die Merleau-Pontysche Rede vom Empfinden zu einem entsprechenden ‚dass man sich in mir bewegt‘ anpassen, das wiederum auf William Forsythes Etwas, das ‚dich bewegt‘ verweist. In Schads und Goldrings Stück entsteht ein Taumel zwischen dem Tänzerinnenkörper, der scheinbar von außen, von der Kleidung, von unbelebten Objekten her bewegt wird, und dem sich immer wieder hinein schiebenden (rezeptiven) Wissen, dass dieser Körper sich doch selbst bewegt, amorphe Formen entwirft und sogleich wieder verwirft. So entstehen oszillierende Sensationen als Inversionsbewegungen zwischen einem autonomen, sich bewegenden Objekt – der Kleidung – und dem bewegt werdenden Subjekt, das dadurch einen temporären Objektstatus erhält. Formuliert nun Merleau-Ponty einen Dualismus, der bereits im eigenen Leib beginnt und sich über einen Weltbezug und einen Selbstbezug desselben bestimmt 21 – als Umschlagort und vermittelnde Instanz ein „ontologische[s] Relief“ bildend, das zwischen den zwei „Blattseiten“ des Leibes changiert22 –, so könnte diese ontologische Bestimmung des Leibes im vorliegenden Fall auch auf das Subjekt selbst ausgedehnt werden, das, Bewegungen unterworfen, für Momente nicht mehr ‚Herr im eigenen Hause‘, nicht mehr Kontrolleur der physischen Regungen zu sein scheint. Ein Anhaltspunkt hierfür sind zum Beispiel die mit Wasser gefüllten, halb durchsichtigen Gummihandschuhe, die wie leblose, gefühllose Objekte aus den Ärmeln von Schads Hemd herausbaumeln – im Grunde nutzlos, da buchstäblich nicht handelnd. Darüber hinaus ist der immer wieder erscheinende Kopf Schads ein (identifizierender) markierender Pol im Schwanken der subjektiven und objektiven Positionen. Er gibt der scheinbar willkürlichen Metamorphosen unterworfenen Tänzerin immer wieder ein Gesicht, das Rückschlüsse auf ein entwerfendes Subjekt zu geben vermag. Zugleich zeigt sich jedoch der Körper bisweilen als ‚bloßes‘ Medium entkoppelter Bewegungen, ein nicht zuletzt visueller Aspekt, der besonders durch die Zusammenarbeit mit dem bildenden Künstler Laurent Goldring Bedeutung erhält.
20 Merleau-Ponty 1966: 253. Hervorhebung im Original. 21 Siehe Waldenfels 2000: 43, 285. 22 Merleau-Ponty 1986: 121, 181.
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MEDIALE E NTKOPPLUNGEN Folgt man Huschkas Annahme, so ist der Körper als Bewegungsmedium immer durch seine Dopplung bestimmt: als Motor von Bewegung einerseits und andererseits als Organismus, der bewegt wird. In Unturtled ergibt sich jedoch phasenweise der Eindruck, als sei der Tänzerinnenkörper zumindest visuell nahezu gelöscht, in Bewegung subsumiert, die sich wiederum auf die Kleidung als Bewegungsvermittlerin und als Körper im Sinne eines (extensiven) Volumens überträgt, im Zwischenraum von Bewegungsinitiation und Dinghaftigkeit. Jenes Körper-Kleid-Gebilde fungiert mithin buchstäblich als Medium, als Überträger von Bewegung an ein gerahmtes (Bühnen-)Außen. Diese Medienperspektive wird befördert durch das Setting, das – durch die offen gelassene Seite unfertig wirkend – gleich einem Zwitter zwischen Bühne und Galerie auf die de-figurierten Körper-Bilder verweist, die im Verlaufe der Aufführungen gleichermaßen performt und ausgestellt sowie für Momente in unerkennbaren Figurationen still gestellt werden, um sich gleich darauf wieder zu verflüssigen. Es entstehen Pattern des Amorphen, Musterungen des Unfertigen, wie sie für den Tanz seit einigen Jahren nahezu stilbildend sind, so etwa die Körpermetamorphosen Xavier Le Roys in Self unfinished.23 Sie stehen mittlerweile für eine spezifische Art und Weise metamorpher Körperpraktiken, mit denen Körpergrenzen überschritten werden, und zeigen sich in (De-)Figurationen wie etwa transformierenden Torsi, Körperverdoppelungen und -fusionen sowie verschiedensten Motiven von Körperöffnungen. 24 Schad thematisiert in ihrem Stück gemeinsam mit Goldring die Bildhaftigkeit solcher Körper, der sich diese mithin auch in zeitgenössischen Produktionen nicht zu entziehen vermögen. Dies liegt besonders in der Arbeitsweise des Künstlerduos begründet, die einem besonderen Produktionsprozess unterliegt. Während der Proben verblieb Goldring ausschließlich in der Perspektive des durch die Kamera blickenden und anschließend kommentierenden Beobachters, während Schad sich auf der Bühne des Probenraums bewegte und lediglich über die verbalen Einwürfe Goldrings Bewegungen veränderte, ohne sie visuell, etwa durch ein spiegelndes Gegenüber, abzugleichen. 25 So kommt es zunächst zu einer gezielten Trennung im Rahmen des Probenprozesses selbst, der sich hierbei in eine rezipierende und eine produzierende Ebene aufspaltet: Jene des kommentierenden Blicks durch Kameraauge und Sprache sowie die des sich bewegenden und aufnehmenden Körpers.
23 Siehe Foellmer 2009: 19-20. Die Tanztheoretikerin Krassimira Kruschkova spricht u.a. in Bezug auf Le Roy von „bereits ‚klassisch‘ gewordenen Beispiele[n]“ (Kruschkova 2011). 24 So etwa im grotesken Motiv des geöffneten Mundes (siehe Foellmer 2009: 232-254). 25 Publikumsgespräch mit Isabelle Schad und Laurent Goldring, 5. Juni 2009, Sophiensaele Berlin.
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Damit wird zunächst offenbar ein tradiertes Schema wieder aufgegriffen: der Blick des männlichen Choreographen, der die ausführende Tänzerin lenkt und korrigiert – eine Praxis, die der zeitgenössische Tanz, nicht zuletzt mit Rückgriff auf die Judson Church Bewegung der 1960er Jahre, vehement ablehnt. Schad unterwandert jedoch zugleich die nach außen hin autokratische Ebene des männlichen Blicks, indem sie nicht den Vorgaben räumlicher oder durch Tanztechnik induzierter Choreographie folgt, sondern das Body-Mind Centering (BMC) nutzt. Es handelt sich dabei um eine Praxis, die üblicherweise nicht für die Bühne verwendet wird, sondern Bewegungen aus dem Körperinneren heraus generiert und sich an imaginären Bildern orientiert, die beispielsweise dem Fluss der Lymphe im Körper oder dem Verlauf der Knochen folgen und entsprechende Bewegungen verursachen.26 BMC ist mithin dem visuellen Primat des Balletts und dessen Bewegungsgenerierung über äußere Bilder diametral entgegengesetzt, ebenso seinen räumlichen Anordnungen und der Formung der Körpersilhouette, die beständig im Spiegel überprüft und korrigiert wird. Nicht zuletzt deshalb erscheint BMC seit einigen Jahren als Gegenentwurf zum repräsentativen Charakter solcher Tanzformen auf zeitgenössischen Tanzbühnen in Europa.27 Schad wiederum unterwandert mithilfe des BMC die Ebene des Bildkommentars durch Goldring. Ihr SichBewegen und Empfinden ähnelt dem Zustand der Betäubung, wie Merleau-Ponty ihn formuliert: eine „Entpersönlichung“, die sich „gänzlich einem Empfinden“ überlässt28 – was gleichwohl nur ein temporärer Zustand sein kann, wie mit dem Erscheinen des Gesichts der Tänzerin bereits betont worden ist. Isabelle Schad setzt sich zudem seit einiger Zeit mit der Kritik an Spektakel und Repräsentation auseinander, wie sie Guy Debord formuliert hat.29 Das künstlerische Sich-selbst-Versichern über das Bild-Sein eines virtuosen Körpers etwa im Ballett, wie es die Tanzavantgarde seit den 1960er Jahren verwirft30, ist zwar auch Bestandteil der Auseinandersetzungen ihrer Stücke. Zugleich jedoch entwerfen sich durch das Body-Mind Centering innere Bilder, die als Eindrücke des Amorphen im Wechselspiel von Körper und Kleidung nach außen, ins visuelle Feld des Publi26 Entwickelt durch Bonnie Bainbridge Cohen ist mit dem Body-Mind Centering die Vorstellung eines ganzheitlichen Konzeptes verbunden, das den Körper nicht nur als mechanischen Bewegungsausführenden (besonders über Arme und Beine) versteht, sondern gesellschaftliche Bedingungen, persönliche Biographie und Verhaltens- sowie Bewegungsmuster mit bedenkt, um eine besseren Ausrichtung (alignment) des Körpers zu erreichen (siehe Sieben 2004: 37). 27 Beispiele hierfür sind die Stücke des französischen, in Berlin lebenden Choreographen Frédéric Gies. 28 Merleau-Ponty 1966: 253, wie Anmerkung 19. 29 Vgl. Debord 1996. 30 So beispielsweise Yvonne Rainer in ihrem „NO“-Manifest (Rainer 1974: 51).
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kums transportiert werden.31 Über die Rahmung der Galerie/Bühne entstehen temporäre Bilder, die beständig de- und rekomponiert werden und in denen sich die Tänzerin wiederum als buchstäbliches Ausstellungs-Stück beständig selbst als volatile Skulptur formt und deformiert. Unturtled vollzieht folglich eine gezielte Spaltung zwischen dem Körper als Kameraobjekt und dem Körper als selbstermächtigtem Impulsgeber der Bewegung – die sich allerdings zugleich in dessen geweblicher Binnenebene wie auch im gedanklich Imaginären abspielt: in jenem der Tänzerin, welche Bilder fluider Bewegungen in das körperlich sichtbare Außen trägt wie auch im Imaginären des Publikums, das die Tänzerin über weite Strecken als metamorph-anthropologisches Gebilde wahrnimmt und je eigene, persönliche Vexierbilder kreiert. Folgt man Dieter Merschs Postulat einer „negative[n] Medientheorie“, wonach sich das Medium als Vermittelndes an sich nur in der Störung zeige32 – etwa im Rauschen des Radios –, wird hier die Negation noch weiter getrieben: in der zeitweisen (visuellen) Löschung des Körpers, der seine ‚Aufgabe‘ als Bewegungsvermittler an seine stoffliche Umgebung abgegeben hat. Unturtled ist insofern auch der darstellerische Versuch einer heuristischen Trennung des Körpers in Subjekt und Objekt. Zeitweise kommt es zur Übergabe eines handelnden, sich bewegenden Leibes an das umgebende Beiwerk, wobei die Recherche ergeben hat, dass es sich hierbei nicht nur um ein rezeptiv wahrgenommenes Phänomen handelt, sondern dies im Kreationsprozess bereits gezielt herausgefordert worden ist. Allein der Störfaktor Kopf, das sichtbare Gesicht der Tänzerin schiebt bisweilen die Persona in den Vordergrund, weist Schad als Mit-Autorin der (eigenen) Bewegungen aus. Die so entstehenden Pendelbewegungen des zuschauenden Blicks verdeutlichen die doppelte Verfasstheit des Körpers: als bewegtes Ding und Quelle der Motionen zugleich. Slavoj Žižek betont in seinen Ausführungen zu Interaktivität und Interpassivität, dass dem Subjekt-Sein auch ein gewisser Wahrnehmungsglaube innewohne, der sich immer schon an ein Anderes veräußert habe. Er führt dies etwa anhand des (Marxschen) Fetischcharakters von Waren aus, die eine Persönlichkeit zu haben scheinen, obwohl wir doch um ihre Dinghaftigkeit wüssten.33 In ähnlicher Weise entkoppelt er auch den Modus des Performativen von seiner Handlungszentriertheit, unter anderem anhand des Beispiels buddhistischer Gebetsmühlen, die das Beten für einen selbst übernähmen: „Darin liegt das Paradox des Begriffs der ‚Performativität‘ oder des Sprechaktes: gerade in der Ausführung einer Handlung durch das
31 Ich danke Gerald Siegmund für diesen Hinweis. 32 Mersch 2004: 75. 33 Siehe Žižek 2000: 14.
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Äußern von Worten werde ich meiner Autorschaft enteignet, der ‚große Andere‘ (die symbolische Institution) spricht durch mich.“34 Schad und Goldring wiederum stellen die Hervorbringung von Bewegung im Sinne von Selbstermächtigung und Agency in Frage und verweisen mithin auf den gefährdeten Status des Subjekts als solchem. Das Subjekt-Werden wird als fortdauernder Prozess buchstäblich ausgestellt, der sich jedoch nicht nur in DeFigurationen ergibt, sondern jene bereits als Bildlichkeiten und Markierungen des zeitgenössischen Tanzes ausweist. Unturtled vollzieht das Herstellen und Verwerfen eines wahrnehmend un-/wahrscheinlichen Körpers, jedoch ist nicht nur das Subjekt-Werden beständigen Wandlungen unterzogen, sondern – und das ist mit Sobchack gesprochen die Pointe des Stücks – auch das Körper-Ding selbst zeigt sich als ein Unabgeschlossenes. Phasenweise wird die Tänzerin Isabelle Schad zum Objekt der eigenen Wahrnehmung und untersucht präzise, wie wir als Körper-Ding wahrnehmen und wie sich mithin der Körper als Mittler zwischen Subjekt und Objekt konstituiert.
L ITERATUR Brandstetter, Gabriele: „Defigurative Choreographie. Von Duchamp zu William Forsythe“, in: Neumann, Gerhard (Hg.): Poststrukturalismus: Herausforderung an die Literaturwissenschaft. Stuttgart/Weimar: Metzler 1997, 598-623. Debord, Guy: Die Gesellschaft des Spektakels [orig. 1967]. Berlin: Tiamat, 1996. Evert, Kerstin: DanceLab. Zeitgenössischer Tanz und Neue Technologien. Würzburg: Königshausen & Neumann 2003. Foellmer, Susanne: Am Rand der Körper. Inventuren des Unabgeschlossenen im zeitgenössischen Tanz, Reihe TanzScripte, Band 18. Bielefeld: transcript 2009. Forsythe, William/Haffner, Nik: „Bewegung beobachten. Ein Interview mit William Forsythe“, in: Forsythe, William: Improvisation Technologies. A Tool for the Analytical Dance Eye. Ostfildern: Hatje Cantz 2003, 17-27. Gilpin, Heidi/Baudoin, Patricia: „Vervielfältigung und perfektes Durcheinander: William Forsythe und die Architektur des Verschwindens“, in: Siegmund, Gerald (Hg.): William Forsythe. Denken in Bewegung. Berlin: Henschel 2004, 117-124. Huschka, Sabine: Moderner Tanz. Konzepte – Stile – Utopien. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 2002.
34 Žižek 2000: 19-20.
OSZILLATIONEN VON S UBJEK T UND K ÖRPE R IN B EW EGUNG | 625
Kruschkova, Krassimira: „Defigurationen. Zur Szene des Anagramms in zeitgenössischem Tanz und Performance“, in: Corpus, Internetmagazin für Tanz, Choreographie, Performance, www.corpusweb.net/index.php?option=com_content &task=view&id=256&Itemid=32 [15.04.2011]. Merleau-Ponty, Maurice: Phänomenologie der Wahrnehmung [orig. 1945]. Berlin: De Gruyter 1966. Merleau-Ponty, Maurice: Das Sichtbare und das Unsichtbare [orig. 1964]. München: Fink 1986. Merleau-Ponty, Maurice: „Das Primat der Wahrnehmung“ [orig. 1946], in: ders.: Das Primat der Wahrnehmung. Frankfurt am Main: Suhrkamp 2003, 26-84. Mersch, Dieter: „Medialität und Undarstellbarkeit. Einleitung in eine ‚negative‘ Medientheorie“, in: Krämer, Sybille (Hg.): Performativität und Medialität. München: Fink 2004, 75-95. Rainer, Yvonne: „Parts of Some Sextets. Some retrospective notes on a dance for 10 people and 12 mattrasses called ‚Parts of Some Sextets‘, performed at the Wadsworth Atheneum, Hartford, Connecticut, and Judson Memorial Church, New York, March 1965“, in: dies.: Yvonne Rainer: Work 1961-73. Halifax: Press of the Nova Scotia College of Art and Design 1974, 45-51. Sieben, Irene: „Wie wird Verletzlichkeit zu einer Kraft? Irene Sieben im Gespräch mit der Gründerin des Body-Mind Centering, Bonnie Bainbridge Cohen“, in: BalletTanz 8/9 (2004), 34-37. Siegmund, Gerald: Abwesenheit. Eine performative Ästhetik des Tanzes. William Forsythe, Jérôme Bel, Xavier Le Roy, Meg Stuart. Bielefeld: transcript 2006. Sobchack, Vivian: Carnal Thoughts. Embodiment and Moving Image Culture. Berkley/Los Angeles/London: University of California Press 2004. Waldenfels, Bernhard: Das leibliche Selbst. Vorlesungen zur Phänomenologie des Leibes. Frankfurt am Main: Suhrkamp 2000. Žižek, Slavoj: „Die Substitution zwischen Interaktivität und Interpassivität“, in: Pfaller, Robert (Hg.): Interpassivität. Studien über delegiertes Genießen. Wien/New York: Springer 2000, 13-32.
Rehearsing Boal J OEL A NDERSON /T ONY F ISHER
The following paper takes the form of a staged dialogue between two characters who meet on a country road. We chose the dialogical form for a number of reasons. The first is that the theatrical form which is the subject of our piece forefronts the technique and art of argument – and so, here two characters engage in an extended argument over the meaning and possibility of political theatre, following the death of Augusto Boal in 2009. Second, the literary conceit of a written dialogue has a long history within discourses of theatre, philosophy and politics – going back to Plato, but one also finds it in Diderot and in Brecht’s Messingkauf dialogues. It may appear that there is a certain irony to our approach, which uses a staged dialogic form to talk about a mode of theatre that is essentially improvised with an audience who are incorporated as its participants. However, our aim is to engage the reader through a deliberately polemical technique: to engage Boal, not as most of the literature on Theatre of the Oppressed does, by reporting on practice, but through an imagined discussion with philosophical interlocutors. Thus, we connect Boal with the broader question (and tradition) of political theatre and its current meaning. A third reason is that we wanted to retain a certain fidelity to the way this thinking originated, which as a co-authored piece, presented performatively at conferences, also derives from many hours of discussion. Fourth, and finally, we wanted to invite reflection on the paradox of theatre itself, which stages dialogue, at the same time as making it impossible. Here we wanted our dialogue to function a little like Benjamin’s automaton chess player, who “respond[s] to every move […] with a countermove [to] ensure the winning of the game”.1
1
Benjamin 2003: 389.
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SCENE: A tree. A country road. Evening. DRAMATIS PERSONAE: Two characters, A and B, who may or may not be Thespis and Solon. B: Ah, Thespis, I’ve been looking for you all over. Where have you been? A: I’ve been visiting an old friend, Solon. Alas, when I arrived I found out that he had died the day before. B: Ah, yes, I heard tell – a great man of the theatre is dead. Was it a good funeral though? A: Yes. He had a lot to say for himself, as always. B: My God, he attended his own funeral? A: I joke of course. But who wouldn’t want to know what people had to say after they’d gone! Still, let us not forget the lesson of Hamlet, who is incapable of mourning. B: And what is your point? A: Hamlet’s problem, if you remember, is that he can’t quite let the spectre speak, the spectre that is and is not his father… B: But a great man of the theatre is dead! Do you mean to say we are not to speak of him? A: And add elegy to eulogy! Tribute to acclamation! No, my friend, we do not honour the dead by simply singing their praises. There would be no surer way of burying dear Augusto! B: Then how? A: My friend, we must keep silent – for what speaks, with the passing of a great man of the theatre, as you say, can only be heard if we hold off from indulging in lugubrious praise. B: And what is that? A: Theatre’s radical repressed. B: Please explain. A: By all means, since it is really quite simple: what is repressed in the theatre is its politics. To pay tribute to Boal, in my view, is to pay tribute to his theatre – to what in my view must be seen as pre-eminently a political theatre. B: The ‘theatre of the oppressed’? A: Yes – and to what that theatre does. B: Then let us discuss not the man but his theatre. A: Good. Nothing could be more important, or timelier. B: You were saying, to speak of the theatre of the oppressed is to speak of theatre’s repressed – explain further.
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A: It is a theatre that reveals the politics of theatre specifically insofar as it rehearses the very condition of theatre. In fact, Boal has expressed it clearly: the theatre of the oppressor, the theatre of the bourgeoisie, reigns. And as long as that state of affairs endures, then oppression remains the condition of theatre. And why today the theatre of the oppressed is not just necessary, but essential. B: Those are substantial claims, my friend. A: Indeed. B: Then you are going to have to make the case for them! A: Well, I suggest we begin by proposing a few axioms, which are in fact founding principles of the theatre of the oppressed. B: Go on then. A: The first of these is that the theatre of the oppressed is participatory… B: That’s hardly news! Isn’t all theatre participatory? A: Well, if that’s really true, my question would be: what’s the nature of the participation? Or to be specific: What is the theatrical assembly to which Boal’s theatre appeals for its participants? B: Assembly – what an odd way to speak of the theatre! Do you mean the audience? A: Yes, in a way… B: Assembly sounds a little like Rousseau’s ‘general will’, the ‘free association’ of the people, or some other such thing. I’d like to know what on earth that has to do with the theatre. What has a theatrical audience got to do with politics? A: Well, Boal relates at one point how the theatre of the oppressed aims at what he calls a “collective denotation”2 rather than individual connotations. For him, the theatre is not about individual subjects… as it is in bourgeois theatre. B: Hmm. In any case, hasn’t the idea of the assembly been exposed as a myth, where’s the evidence for it? As Jean Luc Nancy has suggested, it is the myth of a “pure collective totality”3. A: Okay, yes, in that sense perhaps. B: I’d say, what we’re witnessing today, and quite rightly so, is the dissolution of every concept capable of making sense of the word ‘community’ – whether that’s understood as the being-together of the people, fraternal love, our ‘identity’ and our ‘values’, the nation and its ‘spiritual life’, and so on… A: And so, would you agree that there’s “no such thing as society, that there are only individuals and families”.4 B: Of course not! That misses the point: if community refers us to an assembly, 2
Boal 2000: 138.
3
Nancy 1991: 6.
4
According to Margaret Thatcher, British Prime Minister from 1979-1990, “there is no such thing as society. There are individual men and women, and there are families.”
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it is precisely because the assembly was always already a simulacrum! The fact is there have only ever been assembly lines. A: Well okay. Let’s set aside the problem of assembly for a moment! I am talking about how we can conceive of the collective in a meaningful sense: that’s all I meant by assembly. A starting point, which will allow us to understand what’s at stake here, I think, is something like Sartre’s concept of ‘seriality’ – the dispersion and impotence of social agents, mediated by what he calls the ‘practico-inert’.5 B: The what? A: Let me give you an example: think of a bus stop (that’s Sartre’s own example6) – a serial community can be thought in analogy with a group of people waiting at the stop: they all have the same objective in mind, they’re waiting for the same bus, but they do so, at best, only as isolated individuals, and, at worst – as competitors… B: Fitting, then, that one of Boal’s favourite techniques – what he calls forum theatre – often seems to involve scenes set at bus stops! A: Ah, that’s because at bus stops there is always the possibility of people forming collectives – that each bus stop shelters a nascent proletariat. But it’s not about ‘community’, in the sense you were referring to before! The bus stop is a potential revolutionary stage. B: Okay, but to get back to your first axiom: If ‘theatre of the oppressed’ is meant to be ‘participatory’, what does ‘seriality’ tell us about the nature of participation in theatre? A: Well, Boal begins with the experience of tragedy. B: In a thoroughly discredited reading of Aristotle! A: Whose isn’t? One has to recall, unlike Aristotle, Boal’s actually talking about bourgeois theatre; we need to understand that his ‘reading’ of Aristotle is not an exegesis on the Poetics, but is historically situated: his interpretation is a political intervention. B: So what is the tragic, according to Boal’s interpretation of politics? A: Consider how in bourgeois theatre it is the tragic hero who acts. By contrast – or so it is claimed by Boal, the spectator doesn’t act, having already handed over the reins to the actor, and in the process, becoming a passive void. B: I think this talk of passivity and activity is a bit jejune, the poles of a simplistic dialectic… A: Yes, but if this is a ‘dialectic’, as you say, by no means can we assert that the meaning of its two premises are self-evident. If, indeed, for Boal, the spectators are constituted as pure passive exteriority, then this is the objective appearance of a subjective condition. 5
On the concept of seriality, see Sartre 2004: 262-264.
6
See Sartre 2004: 256-260.
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B: The spectators – these passive beings, as Boal says, delegate all power of action to the dramatic character? Is that really how it works? A: For Boal, tragedy forms a nexus for the desire of the audience, and that fantasy is one in which they appear to be able to slip the constraints of the prevailing societal ethos. But they cannot. There’s a stark lesson here for the spectator, according to Boal: what tragedy rehearses is the failure of that desire, not simply in its diegesis, but in its formal dispositif. The problem is structural. B: So, it’s not quite right to say that the spectator delegates the power of action to the actor, but is rather structured as, or perhaps, better still, interpellated into a condition of passivity? A: Passivity is the very condition of the bourgeois stage. B: So who exactly gets to act then? After all, as Diderot well knew, it was certainly not the actor: they’re only pretending to act! So, what are the conditions of real action? A: Hamlet’s father says ‘remember’, and Hamlet fails to act! Perhaps we should say, with Nietzsche, that amnesia is a precondition of action.7 The point is: in both tragedy and bourgeois theatre, nobody gets to act. That is the suppressed truth of tragedy. And that’s why it reinforces the status quo! B: And that’s what you mean when you say that the condition of theatre is oppression? Oppression is a condition of choice, then: the choice made by the spectator not to act? A: Choice, yes, although it’s not a free choice. B: So someone going to a theatre is choosing to deny their freedom to act – dear Thespis, my head is beginning to hurt! A: Let me be more to the point, dear Solon: as you more than any of us must know, where there is oppression there is already an implicit threat of violence. What that violence produces is passivity; passivity, by the same token, is already a form of participation: one chooses acquiescence rather than resistance! B: So, you think that the situation of the audience is akin to one of oppression and violence? It’s hardly the same thing, though, is it, to equate audience passivity to political oppression? A: Oppression is tragedy’s native form of participation. Tragedy rehearses the slipping of constraints and the inevitable punishment that ensues from transgression of the law. Think of the myth of Prometheus: Prometheus – the one who dares to act – suffers for his insolence. To put it bluntly, what tragic theatre represents is a rehearsal for bourgeois conditions of social life. Those ‘conditions’, as Marx puts it, “under which [the oppressed] can […] continue its slavish existence”.8 7
This idea recurs throughout Nietzsche’s oeuvre; on the concept and conditions of historical action see Nietzsche 1980: 10.
8
Marx 1968: 49.
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B: So let me get this straight: the concealed of tragedy for Boal is collective action, which is suppressed by a focus on individuals and their flaws. A: Yes. B: The bourgeois theatre (which is what Boal is talking about) does not produce theatre, it produces an audience. A: Exactly! It is a structure whose operation engenders not merely audience passivity, however, but precisely stated – seriality as the very form of the bourgeois audience. Hence, the object lesson of tragedy is ‘don’t act’! The meaning of tragic passivity is that it is the desire of no desire belonging to the part, as Rancière says, that has no part.9 B: And that is why, as we have already established, oppression is the condition of theatre. A: Right. And so, in order to make sense of the notion of participation, we must allow ourselves to be drawn – one way or another – to the notion of emancipation. If oppression is the condition of theatre, then it is clear that we need to liberate ourselves from the condition of theatre. B: The first question was: how is solidarity possible today? And, we’re suggesting that it is with this that theatre should be concerned. A: Indeed... Now, to our second axiom: the theatre of the oppressed is emancipatory. B: Once again, isn’t there something trivial about this? After all, isn’t all theatre emancipatory? A: After what we’ve agreed, I don’t see how. In any case, what’s the nature of this emancipation? Now, we have already specified who is to be emancipated: the theatre audience, the oppressed. At the very least, they are to be emancipated from theatre! B: But does one really go to the theatre to be emancipated? A: On the contrary, I would say one goes to the theatre to enjoy the pleasures and thrills of a weak oppression. B: Tragic desire again? A: Precisely! The placation of the reality principle. And yet, this is not an objection, but rather a demonstration of the thesis that the situation of theatre is the situation of the oppressed: The fact that one goes to the theatre to enjoy weak oppression is itself evidence of an oppressive structure at play. B: I thought one went to the theatre to be entertained; I’m not sure I’d enjoy watching Boal’s theatre – if one can call it that. A: Spectating is hardly the point of Boal’s theatre! Nevertheless, it’s a good
9
See Rancière 1999: 14.
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question. Why look for theatre in the theatre of the oppressed? To paraphrase Barthes, I would argue that theatre of the oppressed is theatre minus theatre!10 B: You mean we will not find any theatre there? A: Theatre of the oppressed redistributes politics by subtracting theatre from theatre. By contrast, the bourgeois theatre simply subtracts politics from theatre, which is why it cannot transform social relations. B: And yet, if theatre is a structure of oppression, as you contend, then what can replace it without leaving a vacuum? What can supplant it? If one subtracts the oppression, then one subtracts the condition! What would remain of the theatre? A: The only true erasure would be replacement with the same. Theatre of the oppressed replaces theatre with theatre! B: That’s a paradoxical formulation! A: Or rather, a formulation that exposes the paradox of the bourgeois theatre! B: In which case, what is the theatre of the oppressed actually for, then? Is it a simulacrum? Is it an end in itself or a means to an end? A: To talk of rehearsal, which Boal does, is to talk of means not ends. To state it somewhat boldly: the “rehearsal for the revolution” 11, as Boal puts it, in my view, replaces a communism of ends with a communism of means. B: What Gramsci would call a “war of position”12, then? A: I think that’s one way of defending Boal. B: It has been suggested by some of Boal’s detractors (and indeed, some of his defenders!) that this emancipation, of which you are speaking, is only available to individuals (or to a paradigm that posits individual subjects). A: But that presupposes that the category of the individual exists! I would argue the contrary! Now, in Boal’s theatre, we find the figure of the ‘Joker’. In Boal’s best known technique, that of ‘forum theatre’, the Joker, who accompanies the action, but is outside it, has the role of inciting the audience to act. It is the Joker’s task to universalise each intervention. There are two issues here. The first has to do with the social mechanics at play within the context of forum theatre. Each individual has the responsibility to intervene in the stage action; it is the joker’s job to validate the intervention at the same time as challenging it – if the intervention is to be validated, it must be validated collectively. That’s what I mean by universalising the intervention. The second issue is that one must understand universality in the specific sense that the universal here finds a level of social necessity that transcends the level of individual subjects. Now, let us introduce a new term, one of Boal’s favourites: metaxis (which he claims is necessary for all who participate in
10 Barthes famously defines theatricality as theatre minus text (see Barthes 1972). 11 Boal 2000: 122. 12 Gramsci 1971: passim.
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forum theatre). 13 The problem of metaxis is not the transformation of the individual – the reassertion of individual autonomy – rather, metaxis marks the passage from ‘seriality’ to ‘reciprocity’ – and at the same time, it describes a movement from passivity to activity. Activity is always already social. As Augusto Boal puts it, “Two beings, not just one, since theatre studies the multiple interrelations of men and women living in society, rather than limiting itself to the contemplation of each solitary individual taken in isolation.”14 B: So it’s not nineteenth-century ‘liberation’ that is at stake, but rather a form of emancipatory struggle structured around multiple social ensembles. A: Theatre of the oppressed stages combat ‘on a platform’. The joker is not the general, or the subaltern, working for the vanguard party. The joker is the harvester of conflict, the one who provokes antagonism; the guarantor that theatre will happen… Let’s consider again Boal’s idea of rehearsal. B: Yes, I’d like to know how it differs from anyone else’s idea of rehearsal. A: For Boal, rehearsal is about intervention in a situation of real life, rehearsing alternatives to such situations. If I could return to Sartre’s bus stop for a moment: In a perfect society, you would never need to wait for a bus – but our society is far from perfect. So, at the bus stop there will be antagonism, which results wherever there is scarcity (the scarcity of the bus, of seats, of space), and which manifests itself as competition between the passengers. If Boal suggests that the theatre of the oppressed is ‘rehearsal for revolution’, he means that through the apparatus of theatre we can, as it were, test out those antagonisms, examine them, critique them – and more importantly – we can, in this way, show that what we thought was a natural condition – the competition between the passengers – is in reality an expression only of existing social relations; what rehearsal will show, then, is what these relations both presuppose and suppress: the fundamental reciprocity, or potential for reciprocity, at least, of human life. B: Fine words; but I’d like to press you on something you have just said: that rehearsal for Boal targets ‘real life’. Hasn’t Jacques Rancière already warned us about this: “There is no ‘real world’ that functions as the outside of art!” 15 A: Then is everything art? In any case, for Boal it’s not a binary between the real and art. He speaks of metaxis, after all. B: Yes, which as you said is the simultaneous coexistence of two levels of reality. And this metaxis is the domain of rehearsal, is that right? A: Yes: metaxis allows for the juxtaposition of the real of representation and the 13 Boal uses this term passim to mean the condition of occupying two states simultaneously: it is what makes theatre possible insofar as it makes ‘acting’ possible, and indeed theatricality possible. 14 Boal 1995: 16. 15 Rancière 2010: 148.
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representation of the real – like rehearsal. But more significantly, I’m suggesting it’s about the possibility of rehearsal being the permanent strategy. B: Strategy? A: Of revolutionary struggle and emancipation. B: So rehearsal here is rehearsal for permanent revolution. But isn’t there a potential confusion here since rehearsal is the operative word, and not revolution? A: Exactly. B: If it were merely a question of rehearsal for revolution then wouldn’t revolution simply be deferred – by its rehearsal? In which case where does emancipation come into it? And if it doesn’t emancipate, then what use is a ‘theatre of the oppressed’? What’s the point of a liberatory theatre practice that stages rehearsal rather than the ‘real thing’? A: The answer to all of those questions is that Boal is proposing we rehearse in real life. By real life, he means a contradictory and thus inherently alienating reality. Rehearsal signifies the constant recognition of existing social conditions, of their contradictions, and of the constant need to overcome them. B: So, we are suggesting that the emancipatory potential of the theatre of the oppressed lies in the fact that it is a rehearsal for a reality yet to come. What’s the next axiom, please? A: How did you know there was another one? B: I assumed there’d be at least three. A: The third axiom is that theatre of the oppressed proposes a novel, and one might say situational, aesthetics. B: Do you mean Relational Aesthetics?16 A: Certainly not! Relational aesthetics is bourgeois aesthetics – it’s an aesthetics of appreciation, cultural disposition, a curatorial view from above – it has no class, or rather, no sense of class, because is not situated! Situational aesthetics, if anything, is what theatre of the oppressed is proposing (it is not about the relational per se, but about the situation which demands a radical response – overturning the relations that constitute it). Boal only defines this negatively though; this relates to what we were saying earlier about tragedy: theatre of the oppressed rejects the anaesthetics of bourgeois taste. B: Is this what you mean by bourgeois aesthetics; it anaesthetises its audience? A: Bourgeois aesthetics presents art as a consolation for life. Boal would on the contrary suggest that art should make life impossible! An aesthetics of rehearsal is an aesthetics of resistance, a resistance to passivity, a challenge to passivity as the state of the spectator.
16 See Bourriaud 1998.
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B: That reminds me of something. Guy Debord once said, “[the spectacle] is the sun which never sets over the empire of modern passivity”. 17 A: Who would have thought of a link between Debord and Boal, but yes, okay… B: As it happens I have more Debord to hand: The alienation of the spectator in aid of the contemplated object (which is the result of his own unconscious activity) is expressed in the following way: the more he contemplates, the less he lives; the more he accepts recognising himself in the dominant images of need, the less he understands his own existence and his own desire. [Such is] the externality of the spectacle in relation to his own desires. The externality of the spectacle in relation to the active man appears in that his own gestures are no longer his own, but are those of another who represents them to him. This is why the spectator feels at home nowhere, since spectacle is everywhere.18
A: Boal would concur – the theatre of the oppressed would then be a rejoinder – or better – a riposte to the spectacle of Capital! B: So, let me get this right… We know the spectator, for Boal, is in a state of passivity – and that’s what defines the experience of bourgeois theatre. Now, if we follow Debord, we should also say, at the same time, that the spectator in the society of the spectacle exemplifies a condition of homelessness? And what links these two conditions – passivity and homelessness – is nothing less than the alienation of the spectator with respect to the representation of the world given to him on the bourgeois stage. Alienation in the sense that bourgeois enjoyment of art is also the failure to recognise, in being held captive to the spectacle, and in the spectator’s situation of externality, the conditions of one’s own oppression… and thus it is alienation that structures the oppressive desire of tragedy, and why you say it is of the essence of theatre. A: Right. And so, an aesthetics of rehearsal would be one that recognises the condition of homelessness qua the fundamental condition of oppression. Bourgeois aesthetics, I would say, to the contrary, naturalises this homelessness, makes it palatable – isn’t this the true meaning of ‘realism’ – the world given as ‘a fait accompli’; the aesthetics of the theatre of the oppressed, opposes… such ‘reality effects’. B: I think we need to get Brecht into this. How is Boal a significant development of Brecht? Where does one begin and the other end? A: True. One could show that both Brecht and Boal are concerned with overthrowing Aristotelian theatre and its aesthetics of passivity; both seek to reconfigure the relationship between spectators and actors, and above all else, both 17 Debord 1992: 13. 18 Debord 1992: 30.
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seek a collision of form and content, intensifying the crisis of reality and our consciousness of it; consequently, both see theatre as the site of ideological struggle. But I would also assert a more important kinship between them: Boal’s aesthetic techniques, like Brecht’s, have much to do with temporal rupture. B: Rehearsal – like the performance of film acting, as described by Benjamin in his famous essay on the work of art, is characterised by discontinuity! So we’re back to rehearsal again? A: …and let us not forget the dramaturgy and montage developed by Piscator, and so beloved of Brecht. B: So, perhaps what Benjamin – writing about Brecht – describes in filmic terms19 – so in the tradition of Eisenstein or Vertov!? A: That’s right. Boal’s theatre, with its interruptions – the stop! of the intervention, the invocation to join in, to ‘participate’ in and thereby break the flow of diegesic reality, but also expose its contingency, is profoundly filmic. B: So, the filmic procedure is the procedure of the cut, if I understand it correctly. A: Yes, but we should be precise, since this is what’s significant about the procedure: the cut makes and marks a shift from one kind of temporality to another. From the time of metaphor to the time of metonymy. From a diachronic temporality to a synchronic time, from an individual ‘I’ to a collective ‘we’. B: And that’s why it interrupts the spectators’ passive consciousness, inviting what – radical wakefulness? A: A revolutionary time. As Althusser once said: “this inexhaustible work of criticism in action […] is really the production of a new spectator, an actor who starts where the performance ends, who only starts so as to complete it, in life.”20 B: Brecht all over! But how does this happen? A: By way of the image. First: theatre of the oppressed, through its image-work, demonstrates how the bourgeois theatre is incapable of generating an image. Second, and by contrast, in Boal, the image points to itself, while pointing to something else; it points to the indexicality of the image! A theatre of quotation, or better still, of citation – unlike Bourgeois theatre, but like Brecht’s, it brings into question its own conditions of production. It is a form of theatre that is concerned with its own aesthetical relations rather than with broader ‘relational aesthetics’. B: And the gestus? Is the image the same as the gestus? A: Boal’s images are attitudes not representations. For Boal, the image – the still – is the basic unit of theatre. B: So what is shown (through the still) is that which the diegetic flow otherwise conceals? 19 See Benjamin 1998: 6. 20 Althusser 1999: 151.
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A: Yes, the still – the ‘pregnant moment’ as Barthes says, at one point, quoting Lessing – a “hieroglyph in which can be read at a single glance… the present, the past, and the future” 21: this is the ‘social gestus’, the essence of the aesthetics of the theatre of the oppressed. B: But, why even discuss the aesthetics of the theatre of the oppressed? Surely it’s a contradiction in terms! Has it not been said that “theatre cannot occur unless theatre is good.”22 Isn’t theatre of the oppressed a ‘poor’ theatre of meagre resources like all ‘political theatre’, mere clunky agit-prop and passé, pretentious sloganeering? Nobody goes in for that anymore. A: What do you mean, ‘anymore’? But to answer your point about whether such a theatre is any good… First, who should we elect as the arbiter of taste in the aesthetic domain? Who is qualified to make that judgement? The actor? The dramaturg? The theatre critic? The Scholar? Second, implied in what you say there is an assumption that the aesthetic is reducible to a question of taste – to subjective acts of judgement: but according to what independent criteria can we say something is to be judged good or bad?! Taste reduces to the biases of cultural capital; to the prejudices of the immaculate taste of the cultivated. Third, more crucial still, also implicit in the criticism is the idea that political theatre and its pedagogical dispositif is itself a corruption of the aesthetic. I would say, on the contrary, theatre of the oppressed as an aesthetic promotes the redistribution of the field of the aesthetic; it cannot – and should not – be assessed according to the criteria of bourgeois aesthetics. B: I see, so the ‘spect-actors’ have nothing to lose but their seats!? A: Presumably that’s the joker talking! B: So, Boal proposes, to borrow from Rancière, an aesthetics that is a redistribution of the sensible, although Rancière would object to being recruited to a project predicating itself on the passivity of the spectator in even the most conventional theatre! Still, the link is a useful one, especially if one considers that ‘distribution’ in French has a theatrical meaning too, meaning ‘casting’ as well as specifying the prevailing conditions according to which a given social formation appears – or holds sway! In short, we are claiming that Boal’s aesthetic is the continuation of Brecht by other means; although with the following difference: where Brecht extends the stage to include the auditorium, Boal extends the auditorium to encompass the stage. A: Which brings us to the final axiom – that the theatre of the oppressed is pedagogical. B: Surely, after what we’ve just said, it’s impossible to separate the category of the aesthetic from pedagogy! 21 Barthes 1977: 73. 22 Read 2009: 47.
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A: Again, both are linked together in the idea of rehearsal! The training of the troupe! B: Again, I’m reminded of Brecht: “Thus the pleasure of learning depends on all sorts of things; but none the less there is such a thing as pleasurable learning, cheerful and militant learning.”23 A: This makes me think that Brecht rather than Freire is Boal’s superego! That’s not to deny the importance of Freire of course; Freire’s pedagogy inscribes ‘the oppressed’ into history. But here we get to something I wanted to say earlier about the ‘repressed’ in Boal. Theatre of the oppressed reminds theatre of the genitive, reminds it that it belongs to the oppressed: and in my view that ties it to the necessity of a certain, rigorous form of political analysis. Indeed, Olivier Neveux has recently claimed – that in this way theatre of the oppressed avoids both “exoticism of the margin and pity for the lumpen”. It demands, as he puts it, “transformation which is not magical but political!”24 Theatre is an ‘ideological space’, which – again, as Neveux says, “hosts the social order […] oppression is structural and contained within theatre, in its expectations and structures […]” it is a structure of normalisation, as Foucault would say… B: Still, I’m not sure what this has to do with pedagogy; and in any case – aren’t we simply reinscribing oppression into situations by insisting on, as Rancière would have it, a structure of pedagogical mastery – and thus domination: that of the teacher over his students? I’m thinking here of the story of Joseph Jacotot, the ‘ignorant schoolmaster’, who for Rancière undermined the logic of the ‘classical pedagogue’, which insists on the radical separation of schoolmaster and student, and which therefore rests on what Rancière calls the “inequality of intelligence”. 25 A: But surely we are in agreement. In any case, Rancière is not the only one to have proposed a radical conception of pedagogy – one might well point to similar moves in Friere. And so, arguably, by extension, the same approach can be found in Boal. It’s certainly not a question of the theatre-maker ‘teaching’ the participant to ‘know their place’. Pedagogy here is rather an incitement to act and to learn through acting. It incites those who are willing to participate to engage actively in disrupting the conditions of their own oppression… for instance, by trying out for themselves the techniques of the oppressors, so as to better understand them. B: And it does this by means of the theatre? A: Yes, precisely: as we said – by theatrical means. Or, rather by theatre, since theatre is more than a means, just as rehearsal is more than rehearsal. B: I’m still not convinced that Rancière’s objection is disarmed by merely
23 Brecht 1964: 73. 24 Neveux: “L’Oppression théâtrale” [unpublished article]. 25 See Rancière 1991: 9.
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assimilating the story of Jacotot26 to Friere: consider a different version of the same problem. The emancipation of the oppressed from the condition of theatre is surely another version of the ancient allegory of the cave. A group of spectators are captivated by a theatrical spectacle projected before their eyes on the wall of the cave (in which they are imprisoned). Unaware that they are merely watching the shadows cast by puppets, they take the spectacle for reality. It’s not until they are liberated from the condition of spectatorship that they see this reality for what it actually is... deception on a mass scale. But then the problem arises: how are the prisoners to be emancipated? Who shall take the role of the first – the ‘protagonist’ – the liberator? It’s a question that Plato never answers, at least not directly – though he did have an answer, of course: it is the philosopher-King. One might think here of the invisible hands of a puppeteer, pulling the strings… A: Invisible hands? Not of the puppeteer, surely – History pulls the strings. B: Ah, History! For Lenin, of course, the philosopher-King is to be replaced by the party… or rather, it is the party that is to act as the master of the proletariat insofar as it alone has the intelligence to interpret, for the oppressed classes, the true nature of their oppression: “the organisation of the vanguard of the oppressed”27, (as he puts it, describing the ‘dictatorship of the proletariat’.) The problem is, in this way, the proletariat are cast in the role of the ignoramus; they subsist in a state of infantilism, incapable of attaining a consciousness of the true nature and aims of the revolution. Now, perhaps you will say the first to be liberated, for Boal, is the ‘joker’, and that – as the name implies – the joker assumes nothing, and indeed places himself in the role of the fool. Still, isn’t that ultimately a ruse – a mere posture? And if he is the first to be liberated, we still need to know: who liberated the joker? And what forms of mastery are presupposed however tacitly by the ‘system’ under which he operates? A: Here I would like to propose the first steps towards a theory of the joker, as a means of answering you. It is certainly true that the joker must represent the interests of the oppressed. The problem is that this cannot be done without pedagogy. One hears it said, ‘do we have the right to intervene?’, ‘to educate’, ‘to impose our own assumptions’… I ask: do we have time for such bad conscience? If the joker is a pedagogue, and a thus corrupter of youth – a Socratic figure, then one should bear in mind that the Socratic tactic was precisely one of ignorance. If the joker provokes, it is only in order to enable the oppressed to become more fully aware of itself: not by telling them what they must do or become, but by posing, as Socrates did, questions. In short, I would say, the pedagogy of the Joker is not at all the pedagogy of the master, for whom to learn means to ‘transmit knowledge’ into the craniums of the ignorant. 26 See Rancière 1991: 9. 27 Lenin 1992: 79.
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B: Then it is time for us to rethink a theory of the joker. A: Let us stop here. We can go no further for the hour is late; but let us mark a modest start by summarising what we have said. The first question, to recall, was: how is solidarity possible today? And, we’re suggesting that it is with this that theatre should concern itself. B: With the second axiom we suggested that the emancipatory potential of the theatre of the oppressed lies in the fact that it is a rehearsal for a reality yet to come. A: The third was the claim that Boal’s aesthetic is the continuation of Brecht by other means; although with the following difference: where Brecht extends the stage to include the auditorium, Boal extends the auditorium to encompass the stage. B: The fourth, we suggested the necessity of reconnecting Brecht with Boal, and pointed to the requirement of evolving a theory of the joker. CURTAIN
W ORKS C ITED Althusser, Louis: For Marx. London: Verso 1999. Barthes, Roland: “Baudelaire’s Theater.” Critical Essays. Chicago: Northwestern University Press 1972, 25-32. Barthes, Roland: “Diderot, Brecht, Eisenstein.” Image – Music – Text. London: Fontana 1977, 69-78. Benjamin, Walter: “What is Epic Theatre?” [first version, ca. 1939] Understanding Brecht. London: Verso 1998, 1-13. Benjamin, Walter: “On the Concept of History.” Selected Writings: Volume 4 – 1938-1940. Cambridge: Belknap/Harvard University Press 2003, 401-424. Boal, Augusto: The Rainbow of Desire. London: Routledge 1995. Boal, Augusto: Theatre of the Oppressed. London: Pluto Press 2000. Bourriaud, Nicholas: Relationals Aesthetics. London: Les Presses Du Reel 1998. Brecht, Bertolt: Brecht on Theatre: The Development of an Aesthetic. Ed. John Willett. London: Methuen 1964. Debord, Guy: La Société du Spectacle. Paris: Gallimard 1992. Gramsci, Antonio: Selections from the Prison Notebooks of Antonio Gramsci. Ed. and transl. Quintin Hoare and Geoffrey Nowell Smith. New York: International Publishers 1971. Lenin, V.I.: The State and Revolution. London: Penguin 1992. Marx, Karl and Engels, Frederick: “The Manifesto of the Communist Party.” Selected Works. London: Lawrence and Wishart 1968.
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Nancy, Jean-Luc: The Inoperative Community. London: University of Minnesota Press 1991. Neveux, Olivier: “L’Oppression théâtrale” [unpublished article]. Nietzsche, Friedrich: On the Advantage and Disadvantage of History for Life. Indianapolis: Hackett 1980. Rancière, Jacques: The Ignorant Schoolmaster. Five Lessons in Intellectual Emancipation. Stanford: Stanford University Press 1991. Rancière, Jacques: Disagreement, Politics and Philosophy. Minneapolis: University of Minnesota Press 1999. Rancière, Jacques: Dissensus. London: Continuum 2010. Read, Alan: Theatre, Intimacy and Engagement: the Last Human Venue. London: Palgrave Macmillan 2009. Sartre, Jean-Paul: Critique of Dialectical Reason. Vol. 1. London: Verso 2004.
Vom verlorenen Subjekt zum ‚Global Player‘? Postkoloniale Identitätskonzepte im Theater Robert Lepages J ULIA P FAHL Robert Lepage […] is the Québec playwright who has become an international phenomenon. [...] Not only is he internationally celebrated, but transnationalism is the very theme of his work. [...] Lepage seems to incarnate a cosmopolitanism, an internationalism, which is in every way a refutation of the traditionalism of Québec identity. He is a culture that travels. [...] Lepage’s work offers a particularly useful perspective from which we can observe […] the changing configurations of Québec culture […].
1
Robert Lepage zählt zu den renommiertesten Vertretern einer Theaterästhetik, die sich durch den Einsatz von technischen Bildmedien auf der Bühne auszeichnet, und seine Arbeit kann in gewisser Weise als künstlerisches Pendant der theaterwissenschaftlichen Intermedialitätsdebatte gelesen werden.2 Als die internationale Theaterkritik und -wissenschaft Mitte der 1980er Jahre auf den Québecer Theatermacher aufmerksam wurde, war diese intermediale Ästhetik noch nicht besonders ausgeprägt, und man interessierte sich vor allem aufgrund der interkulturellen Thematik der Inszenierungen für seine Arbeit.3 Der Paradigmenwechsel im Schaffen Lepages scheint nicht nur ästhetisch begründet zu sein, sondern auch der veränderten kulturellen Situation seiner Heimat Québec Rechnung zu tragen. Während das kulturelle Selbstverständnis der frankophonen kanadischen Provinz bis in die 1990er Jahre 1
Simon 1998: 126-127.
2
Vgl. Balme 1999 und 2004 sowie Pfahl 2008.
3
Vgl. exemplarisch Fréchette 1987, Hunt 1989 sowie Donohoe/Koustas 2000.
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durch Autonomisierungsbestrebungen gegenüber dem anglophonen Teil Kanadas einerseits und dem Wunsch nach Emanzipation vom europäischen Erbe andererseits geprägt war, scheint sich seit der Jahrtausendwende das Bewusstsein einer ‚identité québécoise‘ zu stärken, die sich an einem Ort des Dazwischen situiert und die postkoloniale Zerrissenheit zugunsten transkultureller Identitätskonzepte überwunden hat. Die Solostücke Lepages, die er in regelmäßigen Abständen seit Beginn seiner Karriere produziert, zeigen in kondensierter Form die ästhetischen Entwicklungsschritte seiner Theatersprache auf, aber sie sind auch Spiegel einer sich sukzessiv verändernden Konzeption des Subjekts im postkolonialen Diskurs Québecs. Statt also Lepages Theater ausschließlich unter dem Paradigma des Intermedialen zu fokussieren, kann der Theatermacher auch als Leitfigur eines interkulturellen Theaters gelten – mehr noch: sein Theater wird zum Spiegel einer kulturellen Entwicklung, die den postkolonialen Kampf um Anerkennung einzelner Minderheiten hinter sich gelassen hat und das Subjekt stattdessen in einem auf produktiven kulturellen Interferenzen beruhenden Kulturkonzept verortet. Dass Québec und besonders seine Metropole Montréal heute einer der größten ethnischen und kulturellen Schmelztiegel des nordamerikanischen Kontinents sind, ist nicht lediglich das Ergebnis von Globalisierungstendenzen der vergangenen zwanzig Jahre, sondern Resultat der höchst komplexen Geschichte dieses Kulturraums, die bereits seit dem 16. Jahrhundert durch kulturelle Vermischung geprägt ist.4 Am Beginn dieser Hybridisierung5 steht die Inbesitznahme der Gebiete am Sankt Lorenz-Strom durch Frankreich ab etwa 1534, wobei der postkoloniale Dis4
Zur historischen Entwicklung der Provinz Québec vgl. ausführlich Durand 1999 sowie
5
Während der ursprünglich im Sinne einer ‚Verunreinigung‘ negativ besetzte Begriff der
Kolboom 1998. ‚Hybridität‘ im Kontext der Postcolonial Studies eine positive Umcodierung erfährt und zur Metapher für Vielfalt und produktive Heterogenität wird, favorisiert die jüngere theaterwissenschaftliche Forschung aufgrund der Vorstellung von Hybridität als eine Vermischung dichotomisch voneinander abgrenzbarer Phänomene, die natürlicherweise nicht zusammengehören, zur Beschreibung des Aufeinandertreffens verschiedener Kulturen den Terminus ‚Verflechtungen‘. Erika Fischer-Lichte argumentiert, dass sowohl der Begriff ‚interkulturell‘ als auch der der ‚Hybridität‘ die Annahme impliziert, dass Kulturen in sich abgeschlossene Einheiten bilden; dass aber, wenn man davon ausgeht, dass Kulturen beständig in Austauschprozessen begriffen sind und sich demnach permanent verändern, eine Unterscheidung in das ‚Eigene‘ und das ‚Fremde‘ nicht mehr sinnvoll erscheint (siehe Fischer-Lichte 2010: 179-180; 217). Sowohl aufgrund des kolonialen Kontexts der Geschichte Québecs, in dem die kulturellen Vermischungen zu dem hier beschriebenen Zeitpunkt noch in keiner Weise als Bereicherung wahrgenommen wurden, als auch in
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kurs Québecs diese erste Kolonialisierung der indigenen Bevölkerung bis heute konsequent marginalisiert. Erst der lang anhaltende Konflikt um die wirtschaftliche und politische Vorherrschaft zwischen Frankophonen und Briten, der 1763 mit dem Verkauf der Kolonie Neufrankreich an die englische Krone und der kulturellen Unterwerfung der frankophonen Bevölkerung endet, wird als eigentliche Kolonialgeschichte Québecs wahrgenommen und prägt deren kulturelles Selbstverständnis bis mindestens zum Ende des 20. Jahrhunderts. Es dauert schließlich bis zum Beginn der 1960er Jahre, bis im Kontext der so genannten ‚révolution tranquille‘ ein politisches Bewusstsein für die eigene identitäre Zerrissenheit entsteht, das, verbunden mit dem Willen nach Autonomisierung gegenüber dem anglophonen Teil Kanadas, zunächst in eine nationalistische Bewegung und schließlich im Zuge erhöhter Migration seit den 1980er Jahren in ein multi- bzw. interkulturelles Kulturverständnis mündet. Der Kampf um die historische, kulturelle und politische Anerkennung der französischen Wurzeln der Provinz wird in den folgenden Jahren vor dem Hintergrund der neuen Einwanderungsgesetze Québecs durch eine vollständig andere Form kultureller Vermischung überlagert. Um nämlich die politischen Errungenschaften der frankophonen Minderheit zu stützen, fördert die Regierung Québecs die Einwanderung von Migranten, die bereit sind, sich in die frankophone Gemeinschaft zu integrieren und damit deren demographische Macht zu stärken.6 Die Metropole Montréal und ihre anglophonen und frankophonen Stadtviertel zeugen nun nicht mehr nur vom doppelten europäischen Erbe der Provinz, sondern Québec wird zu einem der bedeutendsten kulturellen melting pots Kanadas und kulturelles Zentrum einer Vielzahl von Migrationsethnien. Damit vollzieht sich in Québec eine Dominantenverlagerung, die der gerade erkämpften Anerkennung der frankophonen Minderheit zunächst zuwider zu laufen scheint. Die offizielle Québecer Politik des Multikulturalismus definiert die kulturelle Vielfalt der Provinz als konstitutives Element ihrer Kultur.7 Damit entsteht ein Konkurrenzkampf zur Anerkennung der Bilingualität und Bikulturalität Québecs und es wird deutlich, dass die puren und reinen (anglophonen und frankophonen) Formen der frankokanadischen Kultur bei genauerem Hinsehen auch nur a posteriori konstruiert wurden. Das postkoloniale (frankophone) Subjekt steht also plötzlich in einem Konkurrenzkampf mit vielen weiteren ethnischen Minderheiten, die gleichermaßen um kulturelle Rechte kämpfen und nach politischer Anerkennung streben. Was aber den gerade errungenen Status der Frankophonen zunächst zu Anlehnung an Sherry Simons Text Hybridité Culturelle (Simon 1999: 56), die den Terminus im Sinne Homi Bhabhas versteht, wird der Begriff hier bewusst in seiner kulturwissenschaftlichen Ambivalenz verwendet. 6
Siehe Têtu de Labsade 1997: 159-175.
7
Siehe Fleras/Elliott 1992.
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bedrohen bzw. in seinem politischen Gewicht einzuschränken scheint, erweist sich in der Entwicklung der folgenden Jahrzehnte eher als ein Segen, denn die besondere postkoloniale Disposition des Kulturraums Québec führt zu einer produktiven Verschiebung des Kulturbegriffs. Die der integrativen Québecer Politik der 1970er Jahre zugrunde liegende Idee von Kultur suggeriert durch das Präfix multi- bzw. inter- zwar den Willen zu Pluralisierung, verschleiert dabei aber die normativen, auf Homogenisierung und Abgrenzung zielenden Tendenzen dieser Konzepte.8 Trotz des Paradigmas einer Koexistenz unterschiedlicher Kulturen innerhalb ein und derselben Gesellschaft und des Bewusstseins für die Notwendigkeit interkulturellen Dialogs erweisen sich sowohl das Konzept des Multikulturalismus als auch das der Interkulturalität als ungeeignet, den Herausforderungen kultureller Pluralität zu begegnen. Wie Andreas Reckwitz hervorhebt, 9 basieren die Sozialtheorien des Multikulturalismus von Charles Taylor und Will Kymlicka, deren soziokulturelles Fundament die spezifische Situation der Provinz Québec war, auf der Idee einer Multiplikation klar voneinander abgrenzbarer Monokulturen und setzen damit die klassische koloniale Differenz von ‚Eigenem‘ und ‚Fremdem‘ fort. „Es ist die spezifische Kombination von Elementen einer Theorie moderner Kultur und […] einer normativen Philosophie, die dem Konzept des Multikulturalismus seine Doppeldeutigkeit verleiht“ 10 – es also in politischer wie kulturtheoretischer Perspektive aufgrund seiner Bindung an einen traditionellen, auf der Idee von Einzelkulturen basierenden Kulturbegriff, problematisch macht. Tatsächlich entsprechen den dem Inter- bzw. Multikulturalismus inhärenten kulturfundamentalistischen Tendenzen der Ghettoisierung und Partikularisierung Phänomene wie die Entstehung ethnisch geprägter Stadtviertel wie China Town oder Little Italy in Montréal, aber auch die Herausbildung bestimmter wissenschaftlicher Schwerpunktsetzungen wie etwa die Gründung spezifischer Québec-Forschungszentren. Erst nach dieser Fokussierung auf verschiedene einzelkulturelle Phänomene innerhalb der sich mehr und mehr durch transnationale Verflechtungen charakterisierenden Kultur Québecs entsteht Ende der 1990er Jahre eine kulturwissenschaftliche Perspektive, die den Kulturraum Québec unter Verwendung postkolonialer Begrifflichkeiten wie Homi Bhabhas Terminus des ‚third space‘ oder dem Begriff der ‚kulturellen Hybridität‘ thematisiert.
8
Siehe Welsch 2000: 332.
9
Siehe Reckwitz 2008a: 75-76.
10 Reckwitz 2008a: 70.
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Hybridität ist als Gegenkonzept zu einem Essentialismus wie einem Multikulturalismus der Kulturen zu verstehen […] und verweist auf den synkretistischen, kombinatorischen Charakter kultureller Praxis, die […] hybride Identitäten produziert, in denen sich Elemente unterschiedlicher Zeiten, Räume und Milieus kreuzen.
11
Die Literaturwissenschaftlerin und Soziologin Sherry Simon liest die „hybridité culturelle“ Montréals in ihrem gleichnamigen Essay als Inbegriff eines transkulturellen Kulturverständnisses, das die Produktivität eines hybriden Dazwischen jenseits eindeutiger kultureller Zuschreibungen hervorhebt: [E]n imposant un défi aux catégories pleines et pures, l’hybride déstabilise les certitudes et crée des effets de nouveauté et de dissonance. L’hybridité produit un choc, nous étonne et oblige à replacer nos repères. Elle a le pouvoir de nous troubler, et ainsi, de nous trans12
former.
Das Konzept der Transkulturalität zielt dabei auf ein „vielmaschiges und inklusives, nicht separatistisches und exklusives Verständnis von Kultur“13, das im Gegensatz zur Vorstellung einer uniformen Weltzivilisation in einer Doppelbewegung von Vereinheitlichungs- und Mischungsprozessen einerseits und dem Hervortreten neuer Diversitäten andererseits gründet.14 Damit scheint es besonders geeignet, brisanten politischen Partikularisierungstendenzen, die für scheinbar globalisierte Gesellschaftsstrukturen wie die Québecs nicht untypisch sind, entgegen zu wirken und das Verlangen nach spezifischer Identität innerhalb eines hybriden kulturellen Netzes zu stärken. Indem unterschiedliche Gruppen und Individuen eine transkulturelle Gesellschaft bilden, greifen sie auf ihre höchst verschiedenen kulturellen Quellen zurück und bilden dadurch komplexe und heterogene Netzstrukturen, die zu einem hohen Grad an kultureller Mannigfaltigkeit führen und dabei prinzipiell anschlussfähiger sind, als es die alten kulturellen Identitäten je waren. Das führt zwar, wie Wolfgang Welsch mit Blick auf den Kulturbegriff resümiert, zu einer komplexen „Differenzierungsmechanik“, die aber damit zum ersten Mal auch „genuin kulturell [ist], denn sie folgt nicht mehr geographischen oder nationalen Vorgaben, sondern rein kulturellen Austauschprozessen.“15
11 Reckwitz 2008b: 103; vgl. hierzu auch Fußnote 5. 12 Simon 1999: 27. 13 Welsch 2000: 344. 14 Siehe Welsch 2000: 348. 15 Welsch 2000: 347.
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Die für das Konzept der Transkulturalität charakteristische Entkopplung kultureller Identität von nationaler Zugehörigkeit findet sich auch im Theater Robert Lepages. Anders als für ihre Zeitgenossen in den Stücken Michel Tremblays oder JeanClaude Germains, beschränkt sich für die Figuren Lepages die Auseinandersetzung mit der eigenen Geschichte und die Suche nach Identität nicht auf das eng gesteckte Feld der Québecer Gesellschaft und deren soziokulturelle Probleme. Ihr wenig ausgeprägtes identitäres und kulturelles Selbstbewusstsein steht für sie vielmehr nur am Anfang einer Suche, die sie im Rahmen einer Reise – ganz symbolisch also in Form eines Aufbruchs aus den geographischen und nationalen Grenzen ihrer Herkunft – mit fremden Menschen, Kulturen oder Lebensformen in Kontakt bringt. Im Verlauf von fast zwanzig Jahren, die zwischen der Europareise des Photographen Philippe aus Vinci und der Mitarbeit Frédérics an einem internationalen Kulturprojekt in Le Projet Andersen liegen, lässt sich eine Verschiebung der Konzeption des Subjekts verzeichnen, die das Theater Lepages zum Paradigma des sich verändernden Kulturverständnisses seiner Heimat werden lässt. Dass die Figuren seiner Stücke dabei allesamt Künstler sind und die Auseinandersetzung mit dem ‚Eigenen‘ und dem ‚Fremden‘ sich stets über eine bestimmte visuelle Darstellungsform – wie etwa Malerei, Photographie, Film oder Theater – vollzieht, ist zwar eher in Relation zu Lepages intermedialer Ästhetik und seiner Auseinandersetzung mit unterschiedlichen Bildmedien auf dem Theater zu sehen,16 könnte aber auch als Wirkfaktor für sein grundsätzliches Verständnis von Theater als einem Medium transkultureller Kommunikation fruchtbar gemacht werden. Vinci erzählt die Geschichte des jungen Québecer Photographen Philippe, der sich nach dem Suizid seines Freundes Marc auf eine Reise zu den Wurzeln der europäischen Kultur begibt. Marc hatte sich das Leben genommen, weil er am künstlerischen Wert seiner Arbeit als Filmemacher gezweifelt hatte, und Philippe versucht nun an klassischen Orten der europäischen Kulturgeschichte – etwa in der National Gallery in London, in Paris oder auf den Spuren da Vincis in Italien – diese Frage für sein eigenes künstlerisches und kulturelles Selbstverständnis zu klären.17 Ironischerweise findet eine der Schlüsselszenen der Inszenierung, nämlich die Begegnung Philippes mit der Mona Lisa, nicht im Louvre, sondern in einem Pariser ‚Burger King‘-Restaurant statt. Die vielleicht bedeutendste Figur der europäischen Malerei verurteilt hier Philippes Kunst als kaltes und ausdrucksloses Medium, das sie dem warmen Medium der Malerei gegenüberstellt.
16 Siehe Pfahl 2008: 127-215. 17 Uraufführung am 3. März 1986, Théâtre de Quat’Sous/Théâtre Repère, Montréal. Textzitate aus der unveröffentlichten Manuskriptfassung Lepage 1986.
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What do you photograph? Comment?! Bazrooms? Why ze bazrooms? Eh ben! Dites donc! It’s very frrigid your treep. […] But zey are real icebergs, your photos, all toilettes and bidets! And in Canada, zey allow you to exhibit them? […] All zese new techniques, so cold and esthétique, zey freeze our dreams. Anyway, I don’t like ze photography. Me, I prefer a warm medium like ze painting.
18
Gleichzeitig plädiert sie aber für eine zeitgemäße Form des Umgangs mit Kunst: Statt sich hinter dem Sicherheitsglas im Museum verstecken zu lassen, habe sie versucht, sich ihrem Publikum in einer zeitgemäßen Form zu präsentieren, nämlich im Rahmen einer Nackt-Performance vor einem Kulturzentrum in Lyon, aber ihre subversive Aktion sei von den Sicherheitsbehörden unterbunden worden: I am so fed up wiz breaking my ass in zis stupide museum de merde à la con. […] Do you know what I did before? I paraded myself completely nude in front of ze cultural centre in ze suburbs of Lyon. […] Do you believe that one half hour later zey had the CRS on my back? […] I said to zem: Listen to me, messieurs les gendarmes, I am fighting for ze liberty of expression and I am stubborn. Alors attention! Fragile, work of art, handle wiz care. And zey zhrew me into ze jail. 19
Die Gegenüberstellung von Malerei und Photographie kann hier zwar zunächst als Konfrontation der alten Werte des traditionsreichen Europa mit den angeblich kalten neuen Darstellungsformen der Neuen Welt respektive Québecs gelesen werden, aber statt Philippe mit seinem Selbstzweifel allein zu lassen, bestärkt ihn die Mona Lisa, nach einer Form des Ausdrucks zu suchen, mit der er sich identifizieren kann und die ihm zeitgemäß erscheint. Die Transformation ihres Selbst vom Gemälde da Vincis in eine Live-Performance ist dabei nicht nur als Plädoyer für die Freiheit des Individuums zu verstehen. In der Überschreitung von Gattungsgrenzen und als ästhetischer Grenzfall zwischen Kunst und Alltagskultur erscheint das Beispiel der Performance mehr noch als ein doppelter Appell an die produktive Kraft der Hybridisierung.20 In gewisser Weise als zweite Version der gleichen Geschichte steht im Zentrum von Les Aiguilles et l’Opium der Québecer Robert, der in Paris als Synchronsprecher für eine Filmproduktion engagiert ist und in einem einsamen Hotelzimmer 18 Lepage 1986: 19. 19 Lepage 1986: 20-21. 20 In Anlehnung an seine Verwendung in kulturwissenschaftlichen Kontexten hat der Begriff der ‚Hybridität‘ auch Eingang in die Medienwissenschaft gefunden und bezeichnet hier formale und ästhetische Phänomene der Interaktion unterschiedlicher Medien. Vgl. hierzu Schneider/Thompson 1997 sowie in theaterwissenschaftlicher Perspektive Pfahl 2008.
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gegen den Schmerz einer zerbrochenen Liebe kämpft. 21 Die Geschichte dieser fiktiven Figur verwebt Lepage mit Schnipseln aus den Biographien Miles Davis’ und Jean Cocteaus. Die Spiegelung der Situation des Québecers in der Vita historischer Figuren führt zu einer Reflexion transkultureller Beziehungen zwischen beiden Seiten des Atlantiks und der je – auch ästhetisch – unterschiedlichen Wertesysteme. Robert selbst kommentiert diese Verwebung lakonisch zunächst mit Bezug auf sein Hotelzimmer: „Alors chaque fois quand je prends un bain ici, j’ai l’impression de mariner dans la crasse et la saleté de tous les grands artistes et intellectuels du Paris des années 40 et 50.“22 Seine unruhigen Träume überlagern sich im Folgenden mit Textpassagen aus Cocteaus Lettre aux Américains, in dem dieser nach seiner Rückkehr aus den Vereinigten Staaten seine Eindrücke reflektiert. Cocteau beschreibt New York als pulsierende, schwindelerregende Metropole und führt die dortige negative Rezeption eines seiner Filme auf die mangelnde intellektuelle Agilität des amerikanischen Publikums zurück: Est-ce ma faute, hommes de New York [...], si vous n’avez pas mon esprit agile et si vous me traitez d’acrobate, puisque voilà quarante ans que je m’exerce à ce que mon âme soit aussi bien faite que les acrobates ont le corps? Et je me félicite que vous connaissiez tous si bien mon nom et tous si peu mes œuvres, car la connaissance de mes œuvres vous entraînerait sur des chemins de somnambules qui vous donneraient le vertige et que vous ne me pardonneriez jamais.23
Cocteau, seine Reise und sein Arbeiten zwischen den Kontinenten können hier als Metapher für das Verhältnis Québecs zu seinen dominanten anglophonen Nachbarn interpretiert werden. Während die Begegnung mit dem Fremden für die eine Seite schwindelerregend ist, löst auch umgekehrt die Auseinandersetzung mit der anderen Kultur – um im Bild Cocteaus zu bleiben: mit einem fremden kulturellen Produkt, nämlich der Literatur – eine Unsicherheit aus, die aber nicht per se negativ zu werten ist, sondern im Gegenteil inspirierend und bereichernd sein kann. Entscheidend erscheint in dieser Szene die Haltung des Franzosen/Frankophonen Cocteau gegenüber der mächtigen Kulturindustrie Amerikas: statt um des Erfolgs Willen auf der anderen Seite des Atlantiks künstlerische Kompromisse zu machen, verweist sein Kommentar eindeutig auf sein Selbstbewusstsein als europäischer AvantgardeKünstler – Lepages Wunschprojektion auf seine Québecer Figur Robert.
21 Uraufführung am 15. Oktober 1991 in Québec-Ville. Textzitate aus der unveröffentlichten Manuskriptfassung Lepage 1991. 22 Lepage 1991: 8. 23 Lepage 1991: 11.
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Das 2005 entstandene Projet Andersen war eine Auftragsarbeit anlässlich des 200. Geburtstags des dänischen Dichters Hans-Christian Andersen und erzählt die Geschichte des Québecer Autors Frédéric Lapointe, der im Rahmen eines französisch-britisch-dänisch-kanadischen Kulturprojekts als ‚auteur en résidence‘ der Pariser Opéra Garnier auf Grundlage eines Andersen-Märchens das Libretto für eine Kinderoper schreiben soll.24 Gegenspieler des schüchternen Frédéric, der mit den Spielregeln des internationalen Kulturbusiness wenig vertraut ist, ist der Direktor der Opéra Garnier, Arnaud de la Guimbretière, der dem hochmotivierten Frédéric die Illusion hinsichtlich der ihn erwartenden Aufgabe schnell nimmt. Er bezeichnet Andersen aufgrund der Menge seiner Texte als nicht sehr „benutzerfreundlichen“ Autor und ergänzt, dass die geplante Kurzoper aus Kostengründen nicht mehr als fünfzig Minuten dauern solle und ohne Chor zu konzipieren sei, weil dieser die im Theater „gewerkschaftlich am besten organisierte“ Gruppe sei und Chorsänger „immer Probleme bereiten.“25 Gleichzeitig betont er, dass Frédéric sein Engagement nur ihm zu verdanken habe, denn er habe das Entscheidungsgremium davon überzeugt, dass die verwandtschaftliche Beziehung zwischen den nordischen Kulturen Skandinaviens und Kanadas sowie die lautliche Nähe zwischen dem Québecer Französisch und dem „primitiven dänischen Dialekt Andersens“ für die Realisierung des Projekts vorteilhaft sein könnten.26 Lepage inszeniert hier auf höchst eindringliche, aber auch ironische Weise das Aufeinandertreffen Frankreichs mit seiner ehemaligen Kolonie, aber trotz der Unbeholfenheit Frédérics ist die Figur des Québecers eindeutig der Sympathieträger des Stücks. Zwar wird Fredéric im Verlauf des Plots immer mehr zum Spielball des intriganten Arnaud de la Guimbretière, aber er schlägt sich tapfer im internationalen Kulturzirkus. Als er den Manager bei einem Meeting der Projektpartner in Kopenhagen kurzfristig vertreten muss, tragen sein lokal gefärbtes Französisch und sein gebrochenes Englisch eher zur Charmeoffensive des Québecer Exoten bei, als dass sie ihn kulturell degradieren würden: Oui, bonjour, ça me fait vraiment plaisir de faire partie du projet. En fait, Monsieur de la Guimbretière m’a demandé de vous expliquer ma vision pour vous rassurer sur la question du budget... Pardon? In English? Mon Dieu... Is ok, I try... Excuse my English because is not so good... Mister de la Guimbretière say me to explicate my vision for The Dryade to reassure for the budget. 24 Uraufführung am 22. Februar 2005 in Québec-Ville. Textzitate aus der unveröffentlichten Manuskriptfassung Lepage 2005. 25 Lepage 2005: 3-6 (Szene 4). 26 Lepage 2005: 5-6.
652 | J ULIA P FAHL So I explicate... La première chose... Is very simple concept. Is a history complicate. Is important for the comprehension we explicate to children by a ... comment on dit ça... narrateur. Narrateur is Hans-Christian Andersen [...].27
Die Protagonisten der Soloproduktionen Lepages spiegeln die sich schrittweise vollziehende Entwicklung der Québecer Gesellschaft und ihre Suche nach einem identitären Selbstverständnis zwischen der Révolution Tranquille am Ende der 1960er Jahre und dem Beginn des 21. Jahrhunderts. Während die identitäre Krise Philippes in Vinci in direkter Relation zum Verhältnis Québecs zu seinen europäischen Wurzeln steht, thematisiert Lepage in Les Aiguilles et l’Opium die kulturelle Selbstbehauptung der frankophonen Provinz gegenüber der Dominanz des anglophonen Teils Kanadas und der Vereinigten Staaten. Damit rückt er eine zweite Phase der Québecer Identitätsdebatte ins Zentrum seiner Geschichte. In der Inszenierung ist es erstaunlicherweise der französische Schriftsteller Jean Cocteau, der im Sinne Québecs für die Selbstbehauptung einer kleinen Kultur gegenüber einer Supermacht argumentiert. Le Projet Andersen schließlich präsentiert einen jungen Québecer Künstler, der zwar im globalen Kulturbetrieb von den großen europäischen Kulturnationen (noch) nicht ernst genommen wird, für den das transnationale Projekt, für das er engagiert ist, aber durchaus zur Arbeitsnormalität geworden ist. Nicht seine Unbeholfenheit im internationalen Business wird dabei zum Lächerlichkeitsfaktor, sondern im Gegenteil das kulturimperialistische Gebaren seines Antagonisten Arnaud de la Guimbretière – eine Spitze des größten Kulturexporteurs Québecs Robert Lepage gegen die Grande Nation Frankreich. Die Veränderung in der Figurenkonzeption lässt sich also als eine sukzessive Emanzipation des Québecer Subjekts beschreiben. Zu Beginn des 21. Jahrhunderts steht hinter der Frage nach einer ‚identité québécoise‘ nicht mehr der Kampf um Anerkennung des Französischen, um Bewahrung von Traditionen und die Suche nach dem Eigenen, sondern die kulturelle Identität der Provinz situiert sich jenseits fester Zuschreibungen in einem transkulturellen Netz nationaler, religiöser, sprachlicher und ethnischer Verflechtungen, in dem das Hybride zum Paradigma der Zukunft wird. Die Frage nach dem Erfolg dieser Entwicklung ist auf soziokultureller Ebene ohne Zögern zu bejahen. Ob sie auf der Ebene des theatralen Plots wirklich eine Erfolgsstory ist, bleibt fraglich, denn Lepages Protagonisten sind nach ihren Initiationsreisen keine Winner-Figuren. Sie sind keine Global Player, die auf internationalem Parkett souverän ihr Spiel spielen, sondern Typen, deren Ecken und Kanten in hohem Maße der Geschichte ihrer Kultur geschuldet sind. Sie sind unbeholfen, 27 Lepage 2005: 12.
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sprechen ein kantiges Französisch mit einem archaischen Vokabular, aber sie alle finden über ihre Kunst zu ihrem Selbstverständnis und zum Verständnis des Fremden. „L’arte è un veicolo“ sagt eine Figur in Lepages erstem Solostück Vinci – ein Credo, dass nicht nur für die Protagonisten seiner Solostücke Gültigkeit hat, sondern auch für Lepages eigenes künstlerisches Selbstverständnis steht.
L ITERATUR Balme, Christopher: „Robert Lepage und die Zukunft des Theaters im Medienzeitalter“, in: Fischer-Lichte, Erika/Kolesch, Doris/Weiler, Christel (Hg.): Transformationen. Theater der neunziger Jahre. Berlin: Theater der Zeit 1999, 133146. Balme, Christopher: „Theater zwischen den Medien. Perspektiven theaterwissenschaftlicher Intermedialitätsforschung“, in: ders./Moninger, Markus (Hg.): Crossing Media. Theater – Film – Fotografie – Neue Medien. München: epodium 2004, 13-31. Donohoe, Joseph I./Koustas, Jane M. (Hg.): Theater sans frontières. Essays on the Dramatic Universe of Robert Lepage. East Lansing: Michigan State University Press 2000. Durand, Marc: Histoire du Québec. Paris: Editions Imago 1999. Fischer-Lichte, Erika: Theaterwissenschaft. Eine Einführung in die Grundlagen des Fachs. Tübingen/Basel: Francke 2010. Fleras, Augie/Elliott, Jean Leonard: Multiculturalism in Canada: the challenge of diversity. Scarborough: Nelson 1992. Fréchette, Carole: „L’arte è un veicolo. Entretien avec Robert Lepage“, in: Cahiers de Théâtre Jeu 42 (1987), 109-126. Hunt, Nigel: „The global voyage of Robert Lepage“, in: The Drama Review (TDR): A Journal of Performance Studies 33 (2) (1989), 104-118. Kolboom, Ingo: „Le Québec: lignes de force et enjeux majeurs“, in: ders./Lieber, Maria/Reides, Edward (Hg.): Le Québec: Société et cultures: Les enjeux identitaires d’une Francophonie lointaine. Dresden: University Press 1998, 13-26. Lepage, Robert: Vinci. Théâtre Repère. Québec 1986. Lepage, Robert: Les Aiguilles et l’Opium. Théâtre Repère. Québec 1991. Lepage, Robert: Le Projet Andersen. ExMachina. Québec 2005. Pfahl, Julia: Zwischen den Kulturen – zwischen den Künsten. Medial hybride Theaterinszenierungen in Québec. Bielefeld: transcript 2008. Reckwitz, Andreas: „Multikulturalismustheorien und der Kulturbegriff. Vom Homogenitätsmodell zum Modell interkultureller Interferenzen“, in: ders.: Unscharfe Grenzen. Perspektiven der Kultursoziologie. Bielefeld: transcript 2008a, 69-93. Reckwitz, Andreas: Subjekt. Bielefeld: transcript 2008b.
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Schneider, Irmela/Thompson, Christian W. (Hg.): Hybridkultur. Medien, Netze, Künste. Köln: Wienand 1997. Simon, Sherry: „Robert Lepage and Intercultural Theatre“, in: Tötösy de Zepetnek, Steven/Leung, Yiu-nam (Hg.): Canadian Culture and Literature and a Taiwan Perspective. Edmonton: Research Institute for Comparative Literature (University of Alberta) 1998, 123-143. Simon, Sherry: Hybridité Culturelle. Montréal: L’Ile de la tortue 1999. Têtu de Labsade, Françoise: Le Québec. Un pays, une culture. Montréal: Boréal 1997. Welsch, Wolfgang: „Transkulturalität. Zwischen Globalisierung und Partikularisierung“, in: Jahrbuch Deutsch als Fremdsprache 26 (2000), 327-351.
The Baltic Way as a Political Performance of Subjectivization1 S TEVE W ILMER
On 23 August 1989, a 600 km human chain linked Tallinn, Riga and Vilnius to condemn the Ribbentrop-Molotov pact on its 50th anniversary. It was a symbolic performance uniting three republics of the Soviet Union in an extraordinary act to denounce the Soviet occupation of these three independent nation-states in 1939 and to demand restitution of their sovereign rights. As an embodied performance of national as well as transnational solidarity, it challenged the Soviet interpretation of history, countering the assertion that the Baltic countries entered willingly into the Soviet Union, and demonstrated, through the participation of approximately 2 million people, the popular opposition to Soviet domination. More particularly, it redrew the political geographical map, highlighting national borders between the Baltic countries, which had become only administrative rather than political units, as well as forming a living physical connection between the three Baltic States. By disputing the geo-political frame, the Baltic Way asserted the rights of national citizenship and sovereignty, which had been denied for fifty years, and heralded the demise of the Soviet Union and the Iron Curtain. In this essay I want to apply Rancière’s notion of political dissensus in order to reconsider the performativity of this political event. The Baltic Way was a symbolic event staged by the popular fronts of the three Baltic republics to denounce the secret arrangements made by Hitler and Stalin when they agreed to divide up Europe in 1939. Under the Molotov-Ribbentrop pact that was signed prior to the commencement of the Second World War, Latvia and Esto1
An earlier version of this article appeared as “Staging Dissensus: the Baltic Way as a Performative Act to Reframe the Geo-political Sphere”, in: Art History and Criticism 6 (2010), 122-126.
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nia were to become part of the Soviet sphere of influence, while Lithuania would fall under Germany’s area.2 During the negotiations of this agreement, there was a dispute between Stalin and Hitler over the division of the Baltic States. Hitler at first claimed Latvia and Lithuania, but Stalin insisted on taking Latvia. Following the signing of this pact in August 1939, Germany and the Soviet Union invaded Poland from opposite sides.3 After German forces quickly advanced on Warsaw, Stalin then proposed that in return for giving a greater share of Poland to the Germans, Germany should cede Lithuania to the Soviet Union. 4 This revision of the 23rd of August pact was ratified on the 28th of September.5 Soviet troops then occupied all three Baltic countries on the pretext of protecting them from German aggression and placed puppet regimes in power, forcing them to agree to become republics of the Soviet Union. The process of occupation and annexation was hidden from public view under a mask of voluntary acquiescence by announcing that the governments of the independent Baltic countries wished to become part of the Soviet empire. When the Ribbentrop-Molotov pact dissolved as a result of Hitler’s decision to attack the Soviet Union in 1941, the Baltic countries were invaded by German forces who were eventually defeated by Soviet forces in 1944. The Soviet government could then represent the result as the liberation of the Baltic countries and the restoration of their status as Soviet republics.
2
The first two articles of the secret protocols read: “Article I. In the event of a territorial and political rearrangement in the areas belonging to the Baltic States (Finland, Estonia, Latvia, Lithuania), the northern boundary of Lithuania shall represent the boundary of the spheres of influence of Germany and U.S.S.R. In this connection the interest of Lithuania in the Vilna area is recognized by each party. Article II. In the event of a territorial and political rearrangement of the areas belonging to the Polish state, the spheres of influence of Germany and the U.S.S.R. shall be bounded approximately by the line of the rivers Narev, Vistula and San” (in: www.fordham.edu/halsall/mod/1939pact.html [17 April 2012]).
3
On 19 September 1939 German, Lithuanian and Soviet forces attacked Vilnius, which had been seized by Poland in 1920 and had led to the establishment of a provisional capital in Kaunas. The Lithuanian forces entered Vilnius on 20 September 1939, and, after occupying it, the German government allowed Lithuania to annex the Vilnius region. See, for
example,
http://althistory.wikia.com/wiki/Lithuanian_invasion_of_Poland_(1939)
[17 April 2012]. 4
Telegram from German Ambassador in Moscow to German Foreign Office, 25 September 1939 (in: www.ibiblio.org/pha/nsr/nsr-03.html#27 [17 April 2012]).
5
See “secret supplementary protocol” signed by Ribbentrop and Molotov, 28 September 1939 (in: www.ibiblio.org/pha/nsr/nsr-03.html#27 [17 April 2012]).
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Forty years later, Gorbachev introduced a policy of glasnost (openness) and perestroika (restructuring), allowing more discussion of the past as well as more political mobilization and dissent. Under this new spirit of liberalism, national movements emerged in the Baltic States and established the Baltic Council consisting of representatives from the Popular Front of Estonia Rahvarinne, the Popular Front of Latvia and the Lithuanian Reform Movement SąMnjdis. They began to agitate for more autonomy and to enquire into the circumstances leading to the MolotovRibbentrop pact and the secret protocols that had been signed. The leaders of the popular fronts argued that the annexation of their countries by the Soviet Union had been illegal, and they demanded to see the secret protocols. While negotiations between the leaders of the popular fronts and the Soviet government progressed, the leaders of the popular fronts of the three Baltic States decided to organize a mass and unique demonstration. What was unusual about this event was that it was not a single demonstration in a particular city but a continuous mass demonstration over the territory of three separate states. On a fine summer day on 23 August 1989 at 7 pm, over 2 million people of all ages and walks of life from Estonia, Latvia and Lithuania formed a human chain, holding hands for fifteen minutes, from Tallinn to Vilnius in a peaceful act of solidarity and defiance. Despite the policy of glasnost, the action entailed considerable risks. The first of these risks was the high chance that the populations of the three states would be reluctant to take part in the event. Previous events such as “Embrace the Baltic Sea” and “Embracement of Ignalina” had been failures because of low participation. To combat this risk, many local groups were engaged to help organise the event with precise distribution of the entire distance to be covered by the specific groups of participants. The Estonian government declared the day as a national holiday. Also a radio program was dedicated to the occasion so that people travelling by car could keep in touch with the organization. Main events were scheduled on the borders between the states, where the leaders would give speeches that would be broadcast on radio. Moreover, a major Declaration by the Sajudis Seimas Council was published calling for the restoration of Lithuanian independence. 6 The main anxiety over popular participation came from the risk of a negative reaction from the Soviet authorities. It was difficult to predict how the Soviet government and the Soviet military would act, and whether they might disrupt the event with military aggression (as later occurred when Soviet tanks attacked strategic sites in Vilnius in January 1991 and killed sixteen people). Erich Honecker, the leader of the GDR, and Nicolae Ceauúescu, President of Romania, for example, of-
6
See www.balticway.net/index.php?page=documents&hl=en for the text of this declaration in English and Lithuanian [17 April 2012].
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fered to provide military support to the Soviet Union to break up the demonstration.7 To overcome this risk, the plans were developed in great secrecy. It was also made clear that it would be a peaceful manifestation. Nevertheless, there were efforts to interfere with its success. For example, the Latvian radio was prevented at the last minute from transmitting the speech of Dainis Ivans, the head of the Latvian Popular Front. However, he had taken the precaution of pre-recording it so that it could be transmitted on alternative wavelengths.8 In the end, it was a much more successful event than had been anticipated. The participation by an estimated 2.2 million (700,000 Estonians, 500,000 Latvians, and one million Lithuanians) far exceeded the predictions of the Baltic Council of 1.5 million, with the singing of traditional and national songs, and many colourful and theatrical events happening along the way. In addition, a one hundred kilometre traffic jam formed on the Kaunas to Vilnius highway that lasted for two hours, with people struggling to participate in the event.9 On the Latvian-Estonian border 20,000 people gathered, and there was such a large crowd that the Estonian leader Edgar Savisaar, who arrived by helicopter from an earlier demonstration in Tallinn, had to land far away and walk a long distance to get to the border where the podium had been erected for his speech. The Latvian and Estonian leaders held a symbolic funeral ceremony in which a large black cross symbolising the Hitler-Stalin pact was lit on fire, and much dancing and singing took place. Despite using different languages on the podium with the resultant cacophony, Dainis Ivans recalls this as a utopian moment when the Baltic people spoke with a single voice.10 In reviewing the Baltic Way event, it is useful to consider the demonstration as both a symbolic performance and as a performative act. The uniting of hands and singing traditional songs across the three states was not just a symbolic act of celebrating ethnic and national identities. It was a more profound performative act, renaming and redefining the status of the Baltic Soviet Republics through the physical action of uniting the peoples of the three states, and reasserting the borders between them. Thus the event represented a new way of marking the limits of the Soviet Union. The Baltic Way was an act of remapping and reconfiguring the Baltic States that challenged the Soviet version of history as well as the territory of the Soviet Union. In considering the Baltic Way as an act of remapping, one might recall
7
See Ashbourne 1999: 24.
8
Interview with Dainis Ivans, Riga, 16 December 2008.
9
Landsbergis announced on the radio that those who were stuck in the traffic jam should just get out of their cars wherever they were and join hands with others. Interview with Vytautas Landsbergis, Vilnius, 19 December 2008.
10 Interview with Dainis Ivans, 16 December 2008.
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Richard Schechner’s comment that “the authors of the new maps have scenarios of their own which their maps enact. Interpreting maps this way is to examine mapmaking ‘as’ performance. Every map not only represents the Earth in a specific way, but also enacts power relationships”.11 In 1939 the Soviet Union mapped out the Baltic States as part of their territory. In the performance of the Baltic Way, the boundaries of the Baltic States were being redrawn by the popular fronts of each state, and the human chain linking the three states redefined the borders and the links between them. During the manifestation, the borders between the three states were staged as important focal points, charging the borders with a certain energy that defined the political power and authority of the nation as a separate state and at the same time linking the three states together in a new configuration. For example, the leaders of the popular fronts made important declarations at the border between Latvia and Estonia that enacted a new relationship between the two future independent states, while Vytautas Landsbergis, the leader of the Lithuanian Popular Front, announced the demand for Lithuanian independence in Vilnius. Under the Soviet constitution, Soviet republics had the right to leave the Soviet Union, while in practice they had been coerced into acquiescence. However, late in 1988 Gorbachev announced that he intended to revise the constitution to redefine this right. The Baltic Council then found itself having to step up the momentum, and, in what seemed to many like a crazy thing to do at the time, given the history of Soviet aggression in Hungary, Czechoslovakia and Poland, the Lithuanian government declared independence after the successful staging of the Baltic Way. As the citizens erected barricades to protect the parliament and other strategic sites, the Soviet tanks were sent in to Vilnius. The Lithuanian government later erected border controls on the main roads at the national border and this led to the Soviet authorities repeatedly dismantling them and arresting or killing the border guards. By renaming and remapping themselves as separate entities and united in a common bond, the Baltic popular movements ushered in a new reality. In this sense we can see the Baltic Way as an act of empowering the population as political subjects. According to Jacques Rancière, Political subjects […] put the power of political names – that is, their extension and comprehension – to the test. Not only do they bring the inscription of rights to bear against situations in which those rights are denied but they construct the world in which those rights are valid, together with the world in which they are not.
11 Schechner 2006: 42. 12 Rancière 2010: 69.
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As part of the process, the popular fronts of the Baltic States began to register the citizens of the new states, which did not legally exist in terms of the Soviet Union, but existed in historic terms. In so doing, they were calling attention to their rights and the denial of those rights. According to Vytautas Landsbergis, the Baltic Way was “a move towards freedom. A demand to give back what is ours. Freedom is ours. It was taken away illegally.” 13 Applying Rancière’s theories to the Baltic Way, we can see that the participants were acting “as subjects of the Rights of Man in the precise sense that […] they acted as subjects that did not have the rights that they had and that had the rights that they had not.”14 In their process of subjectivization, the Baltic people were manifesting their right to become citizens of individual independent Baltic States. In the Lithuanian case, the action was more extreme. They were claiming that the Lithuanian people had never legally agreed to Soviet occupation and annexation, and that legally they should be a separate and independent state. Both actions can be seen as forms of political dissensus. Rancière discusses this as “a division inserted in ‘common sense’: a dispute over what is given and about the frame within which we see something as given.”15 By disputing the geo-political frame and “the putting of two worlds in one and the same world”16 (Soviet and Baltic), the Baltic Way created a visible dissensus, converting the population into political subjects, renaming themselves as citizens of the Baltic States, and remapping the territory. Rancière argues, A political subject is a capacity for staging scenes of dissensus […]. The very difference between man and citizen is not a sign of disjunction, proving that rights are either void or tautological. It is the opening of an interval for political subjectivation. Political names are litigious names, whose extension and comprehension are uncertain, and which for that reason open up the space of a test or verification.
17
In addition to seeing it as a performative act, one can also view the Baltic Way in terms of Alain Badiou’s notion of an “event”, which gains resonance when it is juxtaposed with another event. By staging the demonstration on the anniversary of the Molotov-Ribbentrop pact, the event gained further significance by contrasting it with the historical moment that had deprived the states of the autonomy that they were declaring. The Baltic Way was a political moment that signalled a change in the society. As Alain Badiou argues, events enable new truths to emerge because of
13 Interview with Vytautas Landsbergis, Vilnius, 19 December 2008. 14 Rancière 2010: 69. 15 Rancière 2010: 69. 16 Rancière 2010: 69. 17 Rancière 2010: 69.
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the process of decision making that each person witnessing and participating in the event must undergo in determining how to receive or place it: “an event is what decides about a zone of encyclopaedic indiscernibility”, 18 for example, whether to be a Soviet citizen or a citizen of a Baltic country. The truth that is produced in this decision-making event forms their subject status. Like Badiou’s example of St. Paul’s experience on the road to Damascus, the truth of the event on the road from Vilnius to Tallinn made the Baltic peoples choose to become political subjects of their own countries rather than of the Soviet Union. “Subjectivization is that through which a truth is possible.”19 Thus the Baltic Way through its dialectical relationship with the Molotov-Ribbentrop pact (as an “interval (écart) of two events”20) exposed the historic remapping of the Baltic territory and heralded the reversal of that process. It further signalled that the reformist movement in the Baltic republics under perestroika and glasnost had transformed into a collective independence movement. The Baltic Way was not simply a political demonstration but a physical performance, remapping the territory and expressing new collective subjectivities. Today there is a feeling among many disgruntled people in the Baltic countries that the evils of communism have been supplanted by the evils of capitalism and that there was not much to celebrate on the twentieth anniversary of the Baltic Way. Ironically, at the beginning of 2009, Latvians and Lithuanians, rather than barricading their parliaments against Soviet tanks, were attacking their parliaments with bricks and stones to complain about the current economic mess. Likewise, women in the Baltic countries today might question whether their status has improved or become more restricted under western and nationalist cultural values. Furthermore, the Baltic countries today appear to be competing with each other rather than cooperating harmoniously. Regardless of these and other pressing issues, one can look back on the Baltic Way as a moment of great significance when the Baltic peoples took their destiny into their own hands and became political subjects in a defining moment of history that had repercussions throughout the world.
18 Badiou 2006: 147. 19 Badiou 2007: 393. 20 Badiou 2007: 232.
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W ORKS C ITED Ashbourne, Alexandra: Lithuania: The Rebirth of a Nation, 1991-1994. Maryland: Lexington Books 1999. Badiou, Alain: Theoretical Writings. London: Continuum 2006. Badiou, Alain: Being and Event. London: Continuum 2007. Rancière, Jacques: Dissensus: On Politics and Aesthetics. London: Continuum 2010. Schechner, Richard: Performance Studies: An Introduction. New York and London: Routledge 2006.
Betwixt and Between Dämonen-Trickster im brasilianischen Theater D ANIA S CHÜÜRMANN
Betwixt and Between: Weder-Noch. Dämonen und Trickster-Figuren des brasilianischen Theaters sollen in diesem Beitrag unter dem Blickwinkel der Personifikation bzw. der Verkörperung eines abstrakten Prinzips betrachtet werden. Inwiefern ist die Personifikation, bekannt aus den geistlichen Spielen, heute noch eine maßgebliche Analysekategorie für das Verständnis der Figurenkonstellationen modernen Theaters? Der Dämon, oder im nicht-christlichen, nicht-moralischen Sinne Trickster, ist in meiner Konzeption die Personifikation der Differenz, sowohl in Bezug auf den menschlich Anderen, den Fremden, als auch in Bezug auf eine existentielle Erfahrung der Begrenzungen von Sprache und Erkenntnisvermögen, anders gesagt einer Unmöglichkeit von Einheit und Identität. Die Geschichte des Theaters setzt in Brasilien im 16. Jahrhundert mit den jesuitischen geistlichen Spielen ein, in denen die Figur des Dämons als Personifikation des Bösen und damit Protagonist im agonalen Kampf der Missionierung fungiert. Die zentrale Hypothese in Bezug auf die Personifikation als Trope im Allgemeinen, epochenübergreifend, steht mit dem Schema der geistlichen Spiele folgendermaßen in Zusammenhang: die Personifikation referiert als Bedeutungszusammenhang an rituelle Strukturen und ermöglicht damit eine besondere Form der Performativität. Überdies ist sie in einem Spannungsfeld mit der Subjektivität zu sehen, an der Figur des Dämons oder Tricksters besonders veranschaulicht. Als Figur dient sie häufig dazu, die Vielheit, ja Widersprüchlichkeit der eigenen Identität(en) und der Werte, die diese konstituieren, deutlich zu machen. Diese beiden Hypothesen – Performativität und Vielheit von Identitäten – sind an den folgenden Stücken nachzuweisen. Das erste Stück stammt aus dem Kontext des brasilianischen ‚schwarzen‘ oder afrobrasilianischen Theaters, von einem Kollektiv in den 1980er Jahren im Eigenverlag publiziert. Das zweite Stück ist von der vor allem durch Lyrik und Prosa bekannten Autorin Hilda Hilst (1930-2004), die in den späten 1960er Jahren und damit während der Militär-
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diktatur in Brasilien Versuche im dramatischen Genre unternahm, die bis heute eher unbekannt geblieben sind und erst 2001 in einer neuen Edition verlegt und öffentlich zugänglicher wurden.1 In beiden Stücken steht ein Familienkonflikt zwischen Mutter und Tochter im Zentrum der dramatischen Handlung. Auch in der Performance von Luciana Saul, die an dritter Stelle untersucht werden soll, ist ein Familienkonflikt dramatisches Herzstück, nämlich die Tragödie um Medea. Ausgehend von diesem klassischen Material entwickelt die Künstlerin anhand der afrobrasilianischen Gottheiten der orixás eine eigene Interpretation rund um die Medea-Figur. Als Archetypen, aber auch Personifikationen bestimmter menschlicher Eigenschaften fungieren die orixás hier als Spiegel für die Komplexität der Identität Medeas. In allen drei Stücken werden dramatische Subjekte durch Personifikationen reflektiert, in Frage gestellt und als fragmentiert dargestellt. Wie ein Lichtstrahl durch das Prisma in eine Vielheit von Lichtbündeln zerfällt, so zeigen sich die Identitäten durch das Prisma der Personifikation.
T ERRAMARA (1988) Das erste zu besprechende Stück ist in den Kontext des ‚schwarzen‘ oder afrobrasilianischen Theaters einzuordnen und ist insofern als Hommage an die Kultur(en) der afrobrasilianischen Bevölkerung zu verstehen. Die Handlung gestaltet sich, grob zusammengefasst, folgendermaßen: Dona Joana sieht sich aus finanziellen Schwierigkeiten gezwungen, ihre älteste Tochter Marilda zur Obhut in ein Kloster zu geben. Marilda erhält dort eine hervorragende Ausbildung. Allerdings ist die Tochter dem (afrobrasilianischen) Schoß der Familie entfremdet. Einst gab die Mutter der Tochter eine gesegnete Kette, in Verbindung stehend mit dem afrobrasilianischen Kult des Candomblé, als Andenken ins christliche Kloster mit; Marilda aber traut (vorerst) allein ihrem Rosenkranz. Die beiden Geschwister Marildas, die jugendliche Mara und der kleine Tato, weisen der älteren Schwester den Weg und das Ziel: das mythisch-afrobrasilianische Universum der Mara, oder wie der Titel des Stückes beschreibt ‚terramara‘ (‚terra de Mara‘ oder Erde/Welt der Mara).2
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Bevor die neue Gesamtedition der Werke Hilda Hilsts im Globo Verlag erschien, war allerdings in der Bibliothek der ECA (Escola de Comunicação) der Universidade de São Paulo (USP) eine Fassung von dem hier behandelten Stück O Visitante unter der Signatur Pt388 einzusehen.
2
Terramara kann auch als terra amarga, das wäre ‚bittere Erde/Welt‘, verstanden werden. Auch das Verb amarar, das heißt „aufs hohe Meer hinausfahren“, spielt mit in die Bedeutung hinein. Die Referenzen an das Meer, mar, sind zahlreiche, nicht nur die Eigennamen Mara und Marilda erinnern daran. Die Sklaven für die Kolonie kamen aus Übersee. Da-
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Mara ist als Personifikation zu sehen. Das folgende Zitat ist eine typische Handlungsbeschreibung Maras: „Mara läuft rot gekleidet vorbei, sie lacht leise und sarkastisch, dreht sich. In den Händen bringt sie 2 Puppen – eine schwarz, die andere weiß – und bewegt sie mit ausladenden Bewegungen.“3 Die jüngere Schwester ist ein mythisches Wesen, Botschafterin der Welten und Gegensätze. Sie wird vor allem durch Gestik und Mimik, außerhalb der Worte, gekennzeichnet. An wen erinnert die Charakterisierung? Es finden sich wichtige Hinweise auf die TricksterGottheit Exu: Mara kleidet sich in Rot; sie lacht häufig, aber satirisch; sie verwechselt die Zeiten, bringt Zukunft, Gegenwart und Vergangenheit durcheinander, und erschafft damit einen mythischen Zusammenhang; sie wiederholt bedeutende Textpassagen, meistens genau dreimal – im Ritualzusammenhang und den mythischen Überlieferungen sind dies Hinweise und Attribute Exus. Eine der bekanntesten Erzählungen zum Trickster konstituiert einen nennenswerten Intertext: Exu veranlasst zwei Freunde zu einem Todeskampf Zwei befreundete Bauern begannen sehr früh ihre Felder zu bestellen, jedoch unterließ es der Eine, dann der Andere Exu zu lobpreisen. Exu, der ihnen stets Regen und gute Erträge gegeben hatte! Exu wurde wütend Mit einer spitzen Mütze, von der einen Seite weiß, von der anderen rot, einen Freund zur Rechten, den Anderen zur Linken, ging er zwischen den beiden Freunden vorbei und grüßte sie nachdrücklich. Die Bauern schauten sich an. Wer war der Unbekannte? „Wer ist der Fremde mit der weißen Kappe?“, fragte der Eine. „Wer ist der Unbekannte mit der roten Kappe?“, wollte der Andere wissen. „Die Kappe war weiß, weiß“, betont der Eine. „Nein, die Kappe war rot“, ist sich der Andere sicher. Weiß. Rot. Weiß. Rot.
mit ist das Meer für eine afrobrasilianische Kultur grundsätzlich von Bedeutung. Die hier genannten möglichen Bedeutungen des Titels schließen sich natürlich nicht aus, sondern ergänzen sich in der Vieldeutigkeit. 3
„Mara passa vestida de vermelho, rindo silenciosamente com sarcasmo e girando. Traz nas mãos duas bonecas – uma preta e outra branca – movimentando-as com gestos largos“ (Cuti et al. 1988: 14). Die Übersetzungen der Zitate aus dem brasilianischen Portugiesisch stammen allesamt von der Autorin dieses Artikels.
666 | DANIA S CHÜÜRMANN Für den Einen benutzte der Unbekannte eine weiße Mütze, für den Anderen eine rote Mütze. Sie begannen über die Farbe der Kappe zu streiten. Weiß. Rot. Weiß. Rot. Schließlich schlugen sie sich mit der Ackergerätschaft und brachten sich gegenseitig um. Exu sang und tanzte. Exu war gerächt.4
Der Trickster Exu stiftet Verwirrung durch Halb-Wahrheiten. ‚Halb-Wahrheit‘ ist zudem auch der Zweitname einer Personifikation in dem Stück Hilda Hilsts, auf das ich noch zu sprechen kommen werde. Die Farbe dieses Tricksters ist Rot. Exu singt und tanzt, ist fröhlich, zugleich aber rachsüchtig. Stets muss er im Ritual besänftigt werden. So gilt ihm die erste rituelle Ehrbezeugung im Candomblé, einem afrobrasilianischen Besessenheitskult. Der Anthropologe Paul Radin kennzeichnet den Trickster, basierend auf seinen Feldforschungen zu den Winnebago Indianern Nordamerikas, als eine unmoralische, aber im Grunde seines Wesens gut gewillte Figur.5 Als Betrüger und Betrogener ist Exu als Trickster eine ambivalente Figur. Die Doppeldeutigkeit wird physisch als Hinken deutlich: „Esu is said to limp as he walks precisely because of his mediating function: his legs are of different lengths because he keeps one anchored in the realm of the gods while the other rests in this, our human world.“6 Die negative Auswirkung seiner Ambivalenz ist die Unbere4
„Exu leva dois amigos a uma luta de morte//Dois camponeses amigos puseram-se bem cedo/a trabalhar em suas roças,/mas um e outro deixaram de louvar Exu./Exu, que sempre lhes havia dado chuva e boas colheitas!/Exu ficou furioso./Usando um boné pontudo,/de um lado branco e do outro vermelho, tendo um à sua direita/e o outro à sua esquerda/Passou entre os dois amigos/e os cumprimentou enfaticamente./Os camponeses entreolharam-se. Quem era o desconhecido?/„Quem é o estrangeiro de barrete branco?“, perguntou um./„Quem é o desconhecido de barrete vermelho?“, questionou o outro./„O barrete era branco, branco“, frisou um./„Não, o barrete era vermelho“, garantiu o outro./Branco. Vermelho. Branco. Vermelho./Para um, o desconhecido usava um boné branco,/para o outro, um boné vermelho./Começaram a discutir sobre a cor do barrete./Branco./Vermelho./Branco./Vermelho./Terminaram brigando a golpes de enxada,/mataram-se mutuamente./Exu cantava e dançava./Exu estava vingado“ (Prandi 2001: 48f.).
5
Siehe Radin 1956/2002.
6
Gates 1996:162.
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chenbarkeit, Lüge und Verantwortungslosigkeit: „Esu, do not undo me,/Do not falsify the words of my mouth,/Do not misguide the movements of my feet,/You who translates yesterday’s words/In novel utterances,/Do not undo me,/I bear you sacrifice.“7 Der Angst einjagende Exu wird um Nachsicht gebeten. Allerdings ist Exu auch der Übersetzer des Gestrigen ins Heutige; Exu ist Botschafter und Bewegung. Die Ambivalenz verkörpert der orixá als Herr über das Wort: einerseits Kommunikation, andererseits Trughaftigkeit. Die Parallele zu dem griechischen Botschafter Hermes und der Hermeneutik drängt sich auf: Esu’s most direct Western kinsman is Hermes. Just as Hermes’ role as a messenger and interpreter for the gods lent his name readily to hermeneutics, our word for the study of methodological principles of interpretation of a text, so too is it appropriate for the literary critic to name the methodological principles of the interpretation of black texts Esu’tufunaalo, literally „one who unravels the knots of Esu“ [...] Esu’tufunaalo is the secular analogue of Ifa divination, the richly lyrical and densely metaphorical system of sacred interpretation that the Yoruba in Nigeria have consulted for centuries, and which they continue to consult. Whereas the god Ifa is the text of divine will, Esu is the text’s interpreter (Onitumo), „the one who translates, who explains, or ‚who loosens knowledge‘”.8
Die Orakelsprüche des Ifa sind verschlüsselt; Exu ist in seiner Ambivalenz das Instrument der textuellen Analysen. Als Sinnbild für eine verlorene schwarze Sprache und Ausdrucksweise bestimmt Exu die Suche danach. Mara aus Terramara ist als ein solcher Exu zu verstehen; durch das Prisma ihrer Figur lösen sich Identitäten auf und die Vielheit gewinnt eine Stimme. Die Schwester Marilda ist eine abgewandelte Form des Eigennamens Mara: die entfremdete Marilda wird zu Mara werden. Exu ist als Trickster-Figur in christlichen Kreisen mit dem Dämon gleichgesetzt worden, und eignet sich in seinen hysterisch übertriebenen Facetten ausgezeichnet für die Gegenüberstellung der religiösen Welten und für das lustvolle Spiel mit den Vorurteilen. So wird Exu in Maras Verkleidung auch als teuflischer Lustmolch in Begegnung mit einem Christen (Téofilo) dargestellt: Rhythmussequenz von Exu mit einem agogô im Off. Mara kommt rot und schwarz gekleidet herein, mit Fetzen der weißen Puppe, die an ihrer Kleidung hängen. Lässt ein sarkastisches Gelächter erklingen. Ergreift das Brot aus den Händen Teófilos. Dieser bleibt unbewegt als würde er noch immer die Brot-Hostie festhalten. Mara geht zum Bühnenrand. Sie betrachtet das Brot mit einem spöttischen Lächeln. Feierlich hält sie es unterhalb des Bauches. Im Beckenbereich macht sie es zu ihrem Penis. Sie macht sexuelle Kopulationsbewegungen. 9 7
Traditionelles Oriki Esu zitiert in Gates 1996: 160.
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Gates 1996: 163.
9
„Toque de Exu com agogô em off. Mara entra trajando vermelho e preto, com pedaços da
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Die überwiegende Charakterisierung durch Gesten und Handlungen statt allein durch Worte, und die Verschränkung mit rituellen Zügen Exus, machen das besondere performative Potential der Personifikation Mara deutlich. Mara wird überdies mit Puppen und in Interaktion mit Masken dargestellt, Varianten der figuralen Gestaltung. Zu guter Letzt möchte ich auf die Referenz an den eucharistischen Bedeutungszusammenhang des Brots aufmerksam machen: Mara entweiht die BrotHostie, die als Zeichen der Verwandlung, doch auch als zentrales Motiv des Stücks gelten kann. Hiermit ist unmittelbar auf die geistlichen Spiele der Kolonialzeit gewiesen, die sich als Fronleichnamsspiele auszeichneten. Für das folgende Stück von Hilda Hilst sind ähnliche Referenzen im Zusammenhang mit der Personifikation festzustellen.
O V ISITANTE (1968) Das Stück Der Besucher von Hilda Hilst beschreibt ebenfalls einen Mutter-TochterKonflikt und eine Selbstsuche. Ähnlich wie die Mara, gibt es eine Figur, die als Personifikation zu verstehen ist und den dramatischen Subjekten den Weg weist. Die hier auftretende Personifikation des Corcunda bzw. Buckligen wird so beschrieben: Hochgewachsener Mann, mit einem kleinen Buckel. Weder hässlich noch hübsch. 45 Jahre. [...] Der Bucklige sollte nicht ostentativ als magisches Element behandelt werden. Er sollte keine merkwürdigen Angewohnheiten haben, nur ein bestimmtes Lächeln, einen bestimmten Blick und einige verunsichernde Gesten.10
Dieser Mann ist der unerwartete Besucher in einem Haus, das von drei Bewohnern und ihren Beziehungen zueinander geprägt wird: Mutter, Tochter und Ehemann der Tochter. Die Tochter hasst die Mutter – so viel wird in den ersten Dialogzeilen unmittelbar deutlich. Zugleich tragen Mutter und Tochter die gleiche Kleidung,
boneca branca dependurados na roupa. Solta uma gargalhada sarcástica. Apanha o pão das mãos de Teófilo. Este fica imóvel como se ainda estivesse segurando o pão-hóstia. Mara vai para a boca de cena, olha o pão com sorriso zombeteiro. Solenemente coloca-o abaixo do ventre. Na região pélvica, transformando-o em seu próprio pênis. Faz evoluções sexuais de copulação“ (Cuti et al. 1988: 45). 10 „Homem alto, com uma leve corcova. Nem feio, nem bonito. 45 anos. [...] O corcunda não deve ser tratado ostensivamente como um elemento mágico. Não deve ter tiques apenas 145).
um certo sorriso, um certo olhar e alguns gestos perturbadores“ (Hilst 1968/2001:
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ebenso wie der Ehemann und der Bucklige. Es handelt sich um Alter Egos. Der bucklige Gast zeigt sich beeindruckt von der Mutter Schönheit und Wesen. Diese jedoch lehnt seine Komplimente ab und verweist auf drängendes Nachfragen des Buckligen auf die Erfahrungen einer unheimlichen Nacht: Die Nacht, ja die Nacht war hell ...(Pause)/Und ich dachte an diejenigen, die ich verloren habe/bittere Finsternis/Als sich an meiner Seite zeigte/ein Schatten, der anfangs/an etwas Nobles erinnerte/Wegen der geraden, hochgewachsenen Figur..../Und deswegen, wegen seiner Schönheit/Schaute ich hin. Aber ach, Herr/Der Schatten wurde dichter!/Und während ich besser hinschaute, (betont) „dachte ich, ich sähe“.../Den, dessen Namen ich euch nicht einmal sagen kann.../Sie kennen ihn. Er sagte mir:/So schön, so viel Wissen/So allein in der leeren Nacht?/Mit diesen Lippen, dieser Haut./Verzeihen Sie mir, aber so sprach er./Ach, was für ein Schluchzen, welcher Schmerz/Welche Kämpfe ich mit ihm austrug!/Und der Morgen zeigte sich schon/Als das Ding sich auflöste (Pause)/Seit diesem Tag denke ich/dass die Schönheit hell sein kann/Und dunkel. Seit diesem Tag/Ich weiß nicht, habe ich Angst um alles/das schön ist. Habe ich Angst...11
Corcunda, der Bucklige, Zweitname Meia-Verdade oder Halb-Wahrheit, gibt zu bedenken, es habe auch das Göttliche sein können, das sie in jener Nacht erfuhr, und nicht der von ihr gefürchtete Dämon. Dieser Corcunda, der Verkrüppelte, der Quasimodo, der Bucklige, ist in der Umbanda, einer spiritistischen Abwandlung und Erweiterung des afrobrasilianischen Pantheons, als ein Exu bekannt: Exu Corcunda, Trickster oder Dämon. Weder gut noch schlecht, muss der Bucklige sich durch gute Taten beweisen, um bei einer folgenden Inkarnation als ein höhergestelltes Wesen Erlösung zu finden. Hiermit steht er stellvertretend für die dramatischen Charaktere des Stückes, die gegen den Dämon in sich kämpfen, ohne sicher zu wissen, was das Gegenstück, nämlich das Göttliche überhaupt sei. Die verschiedenen Alter Egos zeigen fragmentierte Persönlichkeiten, die der bucklige Exu als Personifikation der Ambiguität verkörpert und denen er in den Dialogen den Weg weist. Der Bucklige ist vor allem ein Weder-Noch: weder alt noch jung (45 Jahre), weder schön noch hässlich, weder 11 „A noite sim era clara...(pausa)/E eu pensava naqueles a quem perdi/Treva amara./Quando a meu lado se fêz/Uma sombra que a princípio/Lembrava um todo cortês/Pelo porte ereto, altivo.../E por isso, por ser tão belo/Eu olhei. Mas ah, senhor,/A sombra se fez mais densa!/E olhando bem, (Acentua) ‚penso que vi‘.../Aquele cujo nome eu nem vos posso dizer.../Vós o sabeis. Me dizia:/Tão bela, tanto saber/Tão só na noite vazia?/Com essa bôca, essa tez./Perdoai-me assim dizia./Ah, que soluço, que dor/Que lutas com êle travei!/E a manhã já se mostrava/Quando a coisa de desfez. (pausa)/Desde êsse dia pensei/Que a beleza pode ser clara/E sombria. Desde êsse dia/Nem sei, temo por tudo/O que é belo. Temo...“ (Hilst 1968/2001: 167-168).
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Wahrheit noch Lüge, weder Dämon noch Gott. Ein Betwixt and Between. Als Verweis auf mögliche Transformationen steht auch hier das Brot als Referenz an die Eucharistie: Die Tochter, die am stärksten durch einen inneren Konflikt gekennzeichnet ist, trägt während des gesamten Stückes Brot hin und her, von und auf die Bühne. Hierin zeigt sich eine weitere Gemeinsamkeit zwischen den Stücken und ein weiterer Bezug auf die geistlichen Spiele als Ursprung des brasilianischen Theaters. Zwei Dämonen-Trickster, Mara und der Bucklige, zwei als Personifikationen zu begreifende Figuren, zwei Exus. In religiös-rituell orientierten Stücken wie dem um das Kollektiv Cuti ist das Prinzip der Personifikation naheliegend und performativ nutzbar. In dem Werk Hilda Hilsts kann es vielmehr als Prinzip der hermeneutischen Entschlüsselung gelten. Wenn das Individuum oder Subjekt nicht in reiner Subjektivität an sich und für sich verharren will, so ist von einer Personifikation bestimmter Ideen, eventuell von Werten, auszugehen – auch wenn es sich um den Wert der Ambivalenz, der Vielheit, der Komplexität handelt. In der Dramatik bietet sich die Personifikation besonders an, da sie den Gegensatz verschiedener personifizierter Kräfte befördert und weitere Formen der Personifikationen bzw. Variationen der figuralen Gestaltung wie Masken und Puppen nach sich zieht. Die orixás – afrobrasilianische Gottheiten und Prinzipien – haben so, nämlich als Personifikationen, Eintritt in die brasilianische Theaterwelt gefunden. Wenn Victor Turner mit seinem geflügelten Wort vom Zustand des Betwixt and Between die liminale Phase eines rite de passage beschreiben will,12 so ist der Trickster als sein Wesen im modernen Theater nicht mehr als in Bewegung auf ein Ziel, nämlich die Initiation in eine neue Phase, gedacht, sondern ein Wesen der ewigen und unabänderlichen Transformation, ein Schwellenwesen, das sich nicht in Identität fassen lässt.
12 Siehe Turner 1969/1995.
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ITÃS O DU 13 M EDÉIA (2006/2007) Doch nun vom Archiv zum Repertoire: In der Performance von Luciana Saul aus dem Jahr 2007 in São Paulo stehen die orixás als Personifikationen ebenso wie in den vorherigen Stücken im Mittelpunkt, allerdings auf eine andere Weise.14 Schwitzende Körper auf der Bühne, fast zu berühren, zu riechen, führen einen griechischen Mythos auf; der Mythos um Medea, die Frau in der Fremde, die aus Rache an der Untreue ihres Mannes die der Verbindung entsprungenen Kinder ums Leben bringt, ist ein beliebter Stoff für Adaptionen. So existieren u.a. Versionen von Euripides, von Seneca, von Heiner Müller und auch eine brasilianische Adaption von Paulo Pontes und Chico Buarque, die allesamt in der Inszenierung von Luciana Saul aufgegriffen werden. Die für diese Performance wichtigste Quelle der Ausgestaltung des Mythems der Medea entspringt allerdings dem Repertoire des Candomblé: Iansã und Oxum, weibliche orixás und Rivalinnen um die Gunst der Kriegergottheit Ogun, sind die fundamentalen Personifikationen, die Medea und ihre Gegenspielerin in der Performance mit einem Bewegungs- und Tanzrepertoire darstellen. Es handelt sich hierbei um einen Versuch, die spezifische Körpersprache der orixás, wie in den Riten des Candomblé übermittelt, einzusetzen. Iansã, die kriegerische Göttin, der Medea gleich, wird mit sowohl kämpferischen als auch defensiven Gesten gezeichnet. Oxum dagegen ist die Rivalin um die Gunst des Mannes. Die schöne Oxum sitzt in einer ihr zugeteilten Ecke der Bühne, in einem Boudoir
13 Itãs (oder ìtàns) bezeichnen nach Juana Elbein dos Santos Legenden, die in Orakelsprüchen aus Ifá überliefert sind; die itãs bezeichnen gewissermaßen einen Kanon in der ansonsten oralen Literatur der Yoruba (siehe Santos 1976:50). Die itãs sind wiederum in 256 Bänden der odu aufgenommen (siehe Santos 1976: 54). In ihrer interessanten Arbeit zu den Texten der Orìshà-Kulte im Benin unterscheidet Lidwina Meyer die ìtàns in weitere spezifische Kategorien, die hilfreich sind, um den Charakter der Yoruba-Texte zu verstehen. Der Autorin zufolge sind ìtàn im engeren Sinne Geschichten, die ohne Umschweife und Zusätze von einem historischen Ereignis oder den Orìshà erzählen. Die sogenannten àló-Texte dagegen verfahren indirekt und analogisch (Lieder, Verse, Rätsel). Die òwe sind Geschichten, die ein Sprichwort erläutern oder einen spekulativen Charakter haben. An letzter Stelle ihrer Kategorisierung stehen die àrò, welche als eine formelhafte Rede mit moralisch-philosophischem Charakter beschrieben werden können (siehe Meyer 1999: 78). 14 Ich beziehe mich auf die Performance Itãs Odu Medéia unter der künstlerischen Leitung von Luciana Saul, aufgeführt am 14.8.2007 im Viga Espaço Cênico in São Paulo. Zu der Performance existiert eine dramaturgische Ausarbeitung in Form einer akademischen Abschlussarbeit von Luciana Saul (Saul 2006).
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voller Kissen und Spiegel und singt; sie wird mit dem ihr typischen Accessoire, dem Spiegel, dargestellt und mit einem Arsenal an eitlen, kreisenden und langsamen Gesten, die sich vor allem durch ihre Sinnlichkeit auszeichnen. Ogun, der Mann, der Jason, wird als ein Kriegergott präsentiert, der manchmal lächerlich und unentschieden wirkt in den fahrigen Bewegungen seines ständigen Hin und Hers zwischen den beiden Frauen seines Lebens. Kreon, Vater der Rivalin Oxum, wird durch die weisen orixás Olodumarê und Oxalá begriffen.15 Auch er zeichnet sich durch langsame und überlegte Bewegungen aus. Die zentrale Bedeutung der physischen, sowohl gestischen als auch mimischen Ausdrucksstärke der Schauspieler verstärkt sich durch die weißgeschminkten Gesichter und die Nähe der Körper zum Publikum. Das Publikum ist nämlich angewiesen, vereinzelt auf Requisiten des Bühnenbildes, wie etwa Baumstämmen, in unmittelbarer Nähe zum Geschehen zu sitzen. Nicht allein die Sitzgelegenheiten des Publikums, sondern einzelne Objekte aus den terreiros de candomblé, den Kultgemeinschaften, statten die kleine, intime Bühne aus: Altäre, ein Thron und systematische Ansammlungen von Gegenständen, die eine Symbolfunktion in der Identifizierung der orixás ausüben, versammeln sich hier. Schwerter und aufwendig gestaltete Zepter und Waffen hängen dort von der Decke, wo Ogun seine Kriegstänze ausführt. Der Thron ist Olodumarê zugeordnet. Von der privaten Ecke der häuslichen Oxum haben wir bereits gehört. Nur die Medea, oder Iansã, ist in ihrer Welt hinter einem fensterartigen Gitter verborgen, hinter dem sie plötzlich hervorstößt, tanzend, kämpfend. Noch vor Beginn des Stückes wird der Zuschauer in einen kleinen Raum gebeten, der mit Blättern bestreut ist und in dessen Ecken jeweils zwei Trommeln stehen sowie eine Opferstätte für Exu. Die Gestaltung des Ortes der Performance ist bedeutend, da sie den rituellen Referenzzusammenhang klarmacht. Nach rituellen Gesängen und der Niederlegung von Opfergaben für Exu, geleiten die Schauspieler das Publikum auf die eigentliche Bühne. Die evokativen pontos der orixás, rhythmische Gesänge, jeweils bestimmten Gottheiten zugeordnet, übernehmen eine strukturierende und symbolische Funktion. Ähnlich wie die Farbgebung der Schleifen, die, um die Hüften der weißgekleideten Schauspieler gebunden, deren augenblickliche Inkarnation eines orixá indizieren, so sind auch die Gesänge als Symbole eingesetzt, die Handlungen hervorrufen, also eine Funktion jenseits der atmosphärischen, dekorativen Untermalung erfüllen. Nun beginnt die Handlung der Performance, die sich im Wesentlichen an dem Erzählstrang des griechischen Mythos orientiert. Jeder Handlungsblock wird dabei konterkariert mit den Tanzbewegungen und den Mythen um die orixás. Die Protagonisten tanzen, sprechen und trommeln; sie tanzen und trommeln ausschließlich als orixás, aber sie sprechen in verschiedenen Rollen, und zwar in ihrer herkömmlichen Rolle im grie15 Die Zuordnung bestimmter orixás zu den Figuren des Mythos wird manchmal um weitere orixás ergänzt. Grundsätzlich wird jedoch die beschriebene Zuordnung eingehalten.
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chischen Mythos um Medea, im Universum der Medea-Figuren verschiedener Adaptionen, und schließlich sprechen auch die orixás. Darüber hinaus sind die Mythen der Yoruba und die dazugehörigen Bewegungen nicht immer übereinstimmend mit der Handlung um die griechische Medea entwickelt, sondern konstituieren gelegentlich einen bewussten Gegensatz. Von der Komplexität der so entwickelten unterschiedlichen Schichten der Inszenierung abgesehen, sind die orixás als Personifikationen für menschliches Verhalten schwerlich in eine solche konkrete Erzählung und ihre schwitzenden individuellen Körper einzufügen. Mit Anatol Rosenfeld: „Kein Archetyp widersteht der Tatsache ihn schwitzen sehen und mit der Hand berühren zu können.“16 Die Nähe der Zuschauer zu den Darstellern auf der kleinen Bühne führte nun in dieser Performance genau dazu: man sah die archetypischen Götter schwitzen. Ein ausgedehntes Textbeispiel der dramaturgischen Ausarbeitung einer Szene wird das bisher Gesagte deutlicher erscheinen lassen: OXUMARÊ: Oxumarê war ein sehr hübscher und beneideter Junge./Seine Kleider hatten alle Farben des Regenbogens/und seine Schmuckstücke aus Gold und Bronze funkelten von Weitem./Alle wollten sich Oxumarê nähern,/Frauen und Männer, alle wollten ihn verführen/und sich mit ihm verheiraten./Aber Oxumarê war auch sehr verschlossen und einzelgängerisch./Er zog es vor, allein im himmlischen Gewölbe zu wandeln,/wo alle es gewohnt waren, ihn an Regentagen zu sehen. XANGÔ: Einmal sah Xangô Oxumarê vorbeikommen,/mit allen Farben seiner Kleidung und allem Glanz seiner Metalle./Xangô wusste um den Ruf Oxumarês,/niemanden an sich heranzulassen./Xangô bereitete also eine Falle vor, um den Regenbogen zu fangen./Er befahl, ihn zu einer Audienz in seinen Palast rufen zu lassen. JASÃO: Der Herr will, dass ich mich setze? Physische Aktion von Jasão: Xangô bereitete also eine Falle vor, um den Regenbogen zu fangen. Physische Aktion von Creonte: Xangô befahl ihn zu einer Audienz in seinen Palast. CREONTE: Ich will eine sehr wichtige Sache sagen. Physische Aktion von Jasão: Aber Oxumarê war auch sehr verschlossen und einzelgängerisch. Physische Aktion von Creonte: Oxumarê war ein sehr hübscher und beneideter Junge. 17 16 „Nenhum arquétipo resiste ao fato de se poder vê-lo transpirando e tocá-lo com a mão“ (Rosenfeld 1993: 23). 17 „OXUMARÊ: Oxumarê era um rapaz muito bonito e invejado./Suas roupas tinham todas as cores do arco-íris/e suas jóias de ouro e bronze faiscavam de longe./Todos queriam aproximar-se de Oxumarê,/mulheres e homens, todos queriam seduzi-lo/e com ele se casar./Mas Oxumarê era também muito contido e solitário./Preferia andar sozinho pela abóbada celeste,/onde todos costumavam vê-lo em dias de chuva. XANGÔ: Certa vez Xangô viu Oxumarê passar,/com todas as cores de seu traje e todo o
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In der vorliegenden Szene wird zuerst der Mythos von den orixás Oxumarê und Xangô erzählt. Dann werden die beiden orixás jeweils mit den Figuren des Jason und Kreon, übrigens in der Adaption des Medeamaterials von Heiner Müller, abgewechselt. Die Worte Jasons und Kreons werden allerdings mit den Körperbewegungen der jeweiligen orixás untermalt. In diesem Falle stimmen die beiden mythologischen Inhalte überein: Jason/Oxumarê wird von Kreon/Xangô hinters Licht geführt. In anderen Szenen allerdings erhöht sich die Undurchsichtigkeit durch sich widersprechende Inhalte und Bewegungen. Um es kurz zu machen: das Verweben verschiedener Medeamaterialien mit den Mythen und überdies den rituellen Tanzbewegungen der einzelnen orixás mutet als ein für den Schauspieler interessantes Experiment an, dem aber in der Performance teils schwer zu folgen ist. Es zeigt sich, wie Personifikationen dargestellt werden müssen, um die Abstraktheit ihrer verkörperten Prinzipien zu wahren; Gestik und Mimik sowie vorgeschriebene, ritualisierte Bewegungen bieten sich an. Das Außerhalb der Sprache steht ihnen gut. Allerdings führt eine exzessive Körperlichkeit, Schwitzen, Nähe zum Publikum, und ein weites Spektrum an Bewegungen zum Gegenteil. Subjekte wie Medea oder Jason können Personifikationen begegnen, nicht aber mit ihnen verschmelzen. So bleibt der nur im Ritual apostrophierte Exu die einzige überzeugende Personifikation der Performance.
S UBJEKT ALS K REATUR : B EGEGNUNGEN MIT P ERSONIFIKATIONEN Wie in Hölderlins Konzeption des Tragischen vorgezeichnet, ist das menschlichtragische Subjekt nicht in seiner Autonomie und seinem Bewusstsein, sondern vielmehr in seiner etymologischen Bedeutung als Unterworfenes zu verstehen. Unterworfen unter die Natur, ihren zerstörerischen Kräften ausgeliefert, geht das tragische Subjekt zu Grunde und vermittelt in seinem Untergang eine Ahnung von
brilho de seus metais./Xangô conhecia a fama de Oxumarê/de não deixar ninguém dele se aproximar./Xangô preparou então uma armadilha para capturar o Arco-Íris./Mandou chamá-lo para uma audiência em seu palácio. JASÃO: O senhor quer que eu sente? Ação física de Jasão: Xangô preparou então uma armadilha para capturar o Arco-Íris. (...) Ação física de Creonte: Xangô mandou chamá-lo para uma audiência em seu palácio. CREONTE: Eu quero dizer uma coisa muito importante. Ação física de Jasão: Mas Oxumarê era também muito contido e solitário. Ação física de Creonte: Oxumarê era um rapaz muito bonito e invejado“ (Saul 2006: 104f.).
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der Macht der ihm überlegenen Natur, die sich nur so, ex negativo, zum Ausdruck bringen kann.18 Der Mensch ist hier gewissermaßen Kreatur oder zumindest ist das tragische Subjekt als unterworfenes dem christlichen Bild der Kreatur eines mächtigen Schöpfers verwandt. In allen drei Stücken, die in diesem Artikel thematisiert wurden, sind Dämonen-Trickster – Mara, der Bucklige und die orixás – als Personifikationen oder Verkörperungen eines abstrakten Prinzips analysiert worden. In der experimentellen Performance der Gruppe um Luciana Saul geht es um eine Annäherung an Figuren der griechischen Tragödie, die durch orixás begriffen werden sollen, vor allem in der körperlichen Erfahrung, die durch die Riten des Candomblé strukturiert wird. Das Subjekt des Schauspielers soll sich hier in der körperlichen Arbeit einem Prinzip unterordnen. In den beiden Stücken, die anhand ihrer Texte untersucht wurden, begegnen die dramatischen Subjekte einem Gegenüber, das als Personifikation entworfen ist, als Verkörperung eines Prinzips. Die Familie Maras wird durch das Prinzip der Ambivalenz auf ihrem Weg zu einer freien afrobrasilianischen Subjektivität begleitet. Nur in der Auseinandersetzung mit dem ÜberSubjektiven, dem Prinzipiellen, können sich hier Identitäten formieren. Der Bucklige leistet für die menschlichen Subjekte des Stückes von Hilda Hilst Vergleichbares; er eröffnet durch seine Ambivalenz neue Horizonte und macht die Transformation möglich. Die Instabilitäten der Identität(en), ja die Unmöglichkeit einer abgeschlossenen und in sich schlüssigen Identität werden hier durch Trickster-Figuren symbolisiert. So wie der orixá den Menschen in Besitz nehmen kann, ein Zustand, der als Besessenheit umschrieben wird, so ist das menschliche Subjekt immer mehrere. Zugleich weist die Trope der Personifikation als Verkörperung von Abstrakta immer auch auf die Notwendigkeit des überindividuellen Prinzips, das sich nicht in der Vielheit postkolonialer Identitäten auflösen kann. Dass dieses Prinzip Ambivalenz heißt, ist Paradoxon und Aporie des Tricksters.
18 „Diese Dialektik, daß das Starke von sich aus nur als Schwaches erscheinen kann und eines Schwachen bedarf, damit seine Stärke in Erscheinung trete, begründet die Notwendigkeit der Kunst. In ihr erscheint die Natur nicht mehr ‚eigentlich‘, sondern durch ein Zeichen vermittelt. Dieses Zeichen ist in der Tragödie der Held. Indem er gegen die Naturmacht nichts auszurichten vermag und von ihr vernichtet wird, ist er ‚unbedeutend‘ und ‚wirkungslos‘. Aber im Untergang des tragischen Helden, [...] stellt zugleich die Natur als Siegerin ‚in ihrer stärksten Gabe‘ sich dar, ist ‚das Ursprüngliche gerade heraus‘. So deutet Hölderlin die Tragödie als Opfer, welches der Mensch der Natur darbringt, um ihr zur adäquaten Erscheinung zu verhelfen“ (Szondi 1961: 17).
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L ITERATUR Cuti, Miriam Alves/Arnaldo, Xavier: Terramara (peça em 3 atos). São Paulo: Edição dos Autores 1988. Gates, Henry Louis Jr.: „A Myth of Origins: Esu-Elegbara and the Signifying Monkey“, in: Asante, Molefi Kete/Abarry, Abu S. (Hg.): African Intellectual Heritage. A Book of Sources. Philadelphia: Temple University Press 1996, 160-175. Hilst, Hilda: „O Visitante“, in: dies.: Teatro Completo. São Paulo: Ed. Globo 1968/2001, 143-182. Meyer, Lidwina: Das fingierte Geschlecht. Inszenierungen des Weiblichen und Männlichen in den kulturellen Texten der Orìshà- und Vodun-Kulte am Golf von Benin. Frankfurt am Main: Peter Lang 1999. Prandi, Reginaldo: Mitologia dos Orixás. São Paulo: Schwarcz 2001. Radin, Paul: „The Winnebago Trickster Figure“, in: Lambek, Michael (Hg.): A Reader in the Anthropology of Religion. Malden/Oxford: Blackwell 1956/2002, 244-257. Rosenfeld, Anatol: Prismas do Teatro. São Paulo: Perspectiva 1993. Santos, Juana Elbein dos: Os Nagô e a Morte. Rio de Janeiro: Ed. Vozes 1975/2007. Saul, Luciana: Rituais do Candomblé. Uma inspiração para o trabalho criativo do ator. Dissertação de Mestrado. São Paulo: USP 2006. Szondi, Peter: Versuch über das Tragische. Frankfurt am Main: Insel 1961. Turner, Victor W.: The ritual process: structure and anti-structure. New York: De Gruyter 1969/1995.
Körper-Ränder und Grenzen des Humanen
„Ich bin anders“ Subjektkonstitutionen physischer Alterität im zeitgenössischen Tanz C HRISTINA T HURNER
„Ich liebe mein Leben“, singt vorsätzlich misstönig Eugénie Rebetez alias Gina in ihrer gleichnamigen Soloperformance. An anderer Stelle rappt sie: „My name is Gina […] fat diva“ und gar: „I am too fat to dance“. Doch genau das, tanzen u.a., tut diese Figur in dem Stück und bemerkt dazu noch: „Schaut mir zu, sonst existiere ich nicht.“1 Da konstituiert, verwirft und manifestiert sich also vor den Augen des Publikums ein Subjekt, das vorgibt, von sich selbst zu erzählen, zu singen, zu tanzen, aber eben anders als erwartet, als üblich oder gar als erlaubt. Was treibt diese Performerin dennoch an, sich im Scheinwerferlicht mit ihrem ganzen Gewicht buchstäblich sowie metaphorisch in den choreographierten ‚Kampf‘ und in den Spagat zu werfen? Und was geschieht dabei mit den Zuschauenden? Wenn in diesem Beitrag von Subjektkonstitutionen physischer Alterität im zeitgenössischen Tanz die Rede ist, dann wird von folgender Konstellation ausgegangen: Das theatralisch scheinbar freie Ich, das nichtsdestotrotz tänzerischen Konventionen unter-worfene Sub-jekt stellt sich vorsätzlich als ein Anderes in einen normierten Kontext und schafft so einen subversiven Spielraum. Judith Butler schreibt in ihrem Aufsatz „Body“: „[E]rst wenn wir erkennen, daß wir nicht gänzlich von Normen kontrolliert werden, werden wir auf eine paradoxe Art und Weise frei dafür, an ihrer radikalen Dekonstruktion und Umwandlung mitzuwirken.“2 Um Bühnen- sowie soziale Konventionen zu sprengen, haben Choreographen wie Meg Stuart, Lloyd Newson, Pina Bausch, Maguy Marin, Alain Platel u.a. in ihren Stücken Tänzerinnen und Tänzer auf die Bühne gebracht, deren Körper signifikant von Tanzkörpernormen abweichen. Dabei ist allerdings zu präzisieren, dass auch 1
Rebetez 2010: 1.
2
Butler 2002: 168.
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Tänzerkörpernormen historisch, kulturell und je nach Tanzstil per se schon disparat sind. Im folgenden Beitrag interessiert jedoch vielmehr das Subjekt, das die Abweichung von physischen Normen und damit die körperliche Alterität choreographisch am eigenen Leib zum Thema macht. In Soloperformances etwa von Raimund Hoghe und Eugénie Rebetez windet sich vor den Zuschaueraugen ein Subjekt (auch im etymologischen Wortsinn) aus der normativen Unter-werfung – mit jeweils ähnlichem Effekt, wie ihn Butler anlässlich der Begegnung mit ‚anderen‘ Körpern beschreibt: „[S]olche Begegnungen sind vielfach von einer besonderen Art von Angst und Panik begleitet.“3 Dabei kann und soll – wie am Beispiel von Hoghe und Rebetez zu zeigen sein wird – diese Begegnung auf der Bühne über Angst und Panik hinausgehen und über die vorsätzlich inszenierte Irritation zu einer neuen spielerisch-poetischen Körperwahrnehmung führen. Wenn nun im Folgenden von Alterität im Zusammenhang mit Subjektkonstitution die Rede ist, dann beziehe ich mich mit Christopher Balme auf einen Alteritätsbegriff, der „im hegelschen Erkenntnismodell verankert“ ist; dieses begreift „Subjektkonstitution als ein reziprokes Verhältnis“ beziehungsweise setzt „Erkennen durch ein Gegenüber oder eine(n) Andere(n) voraus“.4 Die Kategorie des Anderen wird dabei verstanden „als Bedingung der eigenen Selbstvergewisserung“5. Allerdings ist dieses Selbst, wie auch Annemarie Matzke in ihrem Buch Testen, Spielen, Tricksen, Scheitern. Formen szenischer Selbstinszenierung im zeitgenössischen Theater festhält, „kein Gegenstand, sondern beschreibt den Entwurf oder ein Konzept eines Selbstverhältnisses, das aus der Darstellung auf der Bühne resultiert und vom Zuschauer rezipiert wird“6. Matzke spricht von Selbst-Darstellungen beziehungsweise -Inszenierungen auf der Bühne, die die „Frage nach dem ‚Ich‘, nach der Verfasstheit menschlicher Subjektivität neu“ stellten; 7 sie macht diese als neueres Phänomen innerhalb der Theatertradition aus,8 wobei sie insbesondere auf die
3
Butler 2002: 167.
4
Balme 2001: 8. Diese Fokussierung ist m. E. wichtig und sinnvoll, v.a. vor dem Hintergrund der „Forschungsexplosion im Zeichen des Alteritätsbegriffs“, von der Balme ebd. spricht.
5
Balme 2001: 7.
6
Matzke 2005: 10. Sie schreibt weiter: „Gerade das Theater als exemplarischer Ort zum Durchspielen von Subjektmodellen problematisiert das Konzept eines einheitlichen Subjekts“ (Matzke 2005: 11).
7
Matzke 2005: 6.
8
Matzke 2005: 5, 23. Sie weist außerdem darauf hin, dass dieses Phänomen nicht nur auf der Bühne, sondern auch in der (Theater-)Wissenschaft ein Novum darstelle: „Darstellungsformen, die sich vor allem durch Selbstbezüglichkeit und die Absage an eine drama-
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Bereiche Performancekunst und Tanz hinweist.9 Von der Form der „autobiographical performance“ spricht Marvin Carlson in seinem Aufsatz „Performing the Self“ und versteht darunter ebenfalls künstlerische Arbeiten, „where instead of creating a character or assuming a role in a dramatic structure, the actor presents or seems to present personal reminiscence, anecdote or opinion“10. Carlson führt dieses verstärkte Interesse nach „autobiographical performance“ in den zeitgenössischen Künsten u.a. darauf zurück, dass auch die Gesellschaft sich seit einigen Jahren eingehend mit dem Selbst und dessen Inszenierung befasse.11 Indem es im vorliegenden Beitrag nun besonders um Alterität geht, genauer um physische Alterität, sollen insbesondere solche Selbst-Darstellungen und -Inszenierungen betrachtet werden, die die eigene Subjektkonstitution als eine dynamische auf die Bühne bringen und am eigenen Leib gewissermaßen das Verhältnis von Norm und Anderem durchspielen. Butler stellt in einem allgemeineren gesellschaftlichen Zusammenhang die Fragen, was es „für einen Körper [heißt, C. T.], eine Angleichung an eine Norm anzustreben. Was geschieht während dieses Prozesses, welcher Körper vollzieht diese Angleichung nicht?“ 12 Und weiter: „Was sind die Normen, die stillschweigend und machtvoll unser Verständnis davon bestimmen, was als Mensch gilt, wie der Körper beschaffen sein muß […]?“13 Diese Fragen lassen sich nun auf den Kontext des künstlerischen Tanzes übertragen und dann aber auch umkehren. Es spielt ebenfalls eine Rolle, dass die Tänzerkörper der Norm entsprechen – allerdings ist hierbei zu fragen: welche Körper welcher Norm? Es spielt weiter eine Rolle, wie diese Norm allenfalls unterlaufen werden kann, d.h. nicht als Angleichung des Körpers an die Norm, wovon Butler ausgeht, dargestellt und gesehen wird, sondern eine Infragestellung oder gar eine – zumindest momentane – Aufhebung der Norm über den Körper provozieren kann. Deshalb müssen denn auch, um auf die Beispiele zu kommen, die Fragen, die in diesem Kontext immer wieder ähnlich auftauchen, umformuliert werden. Zu fragen ist nicht etwa: Was treibt eine gemäß Body-Maß-Index übergewichtige Tänzerin an, im Scheinwerferlicht Pirouetten zu drehen? Oder: Was hat ein Buckliger in einem Tanzsolo zu suchen? Nicht warum diese Körper trotz ihrer Alterität auf der Bühne stehen, ist zu erkunden, als vielmehr, wie diese Alterität mittels ästhetischer Verfahren konstituiert und inszeniert wird und mit welchen Konsequenzen für die Wahrnehmung der Zuschauenden. tische Textvorlage auszeichnen, sind bisher noch nicht umfassend Gegenstand theaterwissenschaftlicher Forschung“ (Matzke 2005: 6). 9
Siehe Matzke 2005: 98-99.
10 Carlson 1996: 599. 11 Siehe Carlson 1996: 599; außerdem Matzke 2005: 7. 12 Butler 2002: 167. 13 Butler 2002: 167.
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Raimund Hoghe hat seit 1994 diverse Soli, aber auch Stücke mit mehreren Darstellern realisiert.14 Dabei geht es jeweils um verschiedene gesellschaftliche, historische und ästhetische Themen, wie etwa in Meinwärts u.a. um die Geschichte des jüdischen Tenors Joseph Schmidt, der 1933 Deutschland verlassen musste und dessen Lieder im Stück zu hören sind,15 es geht aber immer auch um den Hauptdarsteller und Protagonisten selbst. Zwei augenfällige Merkmale werden an Hoghe (und auch von ihm selbst in den Stücken) immer wieder hervorgehoben: Seine Körpergröße (1,54 m) und sein verwachsener Rücken. Dabei rückt sogleich die Alterität in den Vordergrund. Allerdings schreibt Hoghe zum erstgenannten Aspekt seiner physischen Alterität, der Körpergröße: „Ich bin 1,54 m groß und viele Tänzer sind nicht sehr viel größer, aber bei ihnen wird es in Kritiken nicht erwähnt. Bei mir wird die Größe dagegen immer wieder zum Thema gemacht.“16 Während ein erwachsener Mensch mit Körpergröße 1,54 m im alltäglichen (nordeuropäischen) Leben statistisch eher von der Norm abweicht als im Umfeld der Tanzbühne, gilt dies für Hoghe offenbar nicht. Das rührt daher, dass er, obwohl er auf einer (Tanz-)Bühne steht, nicht an der Tänzer-, sondern an der gesellschaftlichen Körpernorm gemessen wird. Dies wiederum hängt mit dem zweiten Merkmal von Hoghes körperlicher Alterität zusammen. Dazu sagt er selbst: „Man kann schreiben, dass ich einen Buckel habe, damit habe ich kein Problem, ich wehre mich nur gegen die Gleichsetzung anders gleich hässlich.“17 Die physische Andersheit manifestiert sich hier im reziproken Verhältnis zum gerade, ebenmäßig hochgewachsenen Normkörper, wobei ‚lediglich‘ die ästhetische Interpretation, eben = schön, bucklig = hässlich, in Frage gestellt wird, die in unserer Kultur offenbar so festgeschrieben ist. Dagegen hält Hoghe in seinen Stücken allerdings hoch ästhetisierte Bilder und Aktionen, die ihn und seinen Körper dem Kontext gesellschaftlicher Körpernormen – zumindest für Augenblicke – entheben.
14 Vgl. Hoghe 2010: 1. 15 Siehe Hoghe 2006: 15: „Mein erstes Solo Meinwärts zitiert im Titel ein Gedicht von Else Lasker-Schüler, deren Arbeit ich seit meiner Schulzeit liebe. […] Ein Thema darin ist die Geschichte des jüdischen Tenors Joseph Schmidt, der 1933 Deutschland verlassen musste und dessen Lieder im Stück zu hören sind. Er ist vor den Nazis quer durch Europa geflohen und starb 1942 in einem Internierungslager in der Schweiz.“ 16 Hoghe 2006: 15. 17 Hoghe 2006: 15.
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Abbildung 1: Raimund Hoghe in Chambre séparée.
Hoghes Stücke, v.a. seine Soli, verbinden stets die Inszenierung der eigenen mit einer darüber hinausweisenden, kollektiven physischen Alterität. D.h. Hoghe meint nie nur sich selbst, auch wenn er jeweils von sich ausgeht beziehungsweise mit seiner eigenen Alterität umgeht.18 Die Bühne ist ihm dabei nicht der Ort, persönliche Probleme therapeutisch zu verarbeiten, 19 „er begreife sich nicht als Behinderten18 Siehe Hoghe 2006: 15: „Dabei geht es nicht um meine persönliche Geschichte, meinen persönlichen Körper. Ich wollte einfach meinen Körper als Beispiel nehmen und sagen: ‚Diesen Körper gibt es auch. Es gibt andere Körper als die bekannten Tänzerkörper.‘“ Vgl. auch ebd.: „Mich interessiert die Verbindung von persönlicher Biographie mit kollektiver Biographie.“ Außerdem Siegmund 2010: 2: „Doch sein Körper, der durch seinen Buckel nicht der gesellschaftlichen Norm entspricht, ist immer auch ein Platzhalter für uns alle und unsere persönlichen Erinnerungen.“ Vgl. auch Soboczynski 2005: „Es werde ihm manchmal vorgeworfen, sagt Hoghe, dass er in einigen seiner Stücke sein Leben zu stark in den Vordergrund rücke. Seinen Körper, die Schlager seiner Jugend. Aber es gehe ihm um kollektive Bilder einer bestimmten Vergangenheit, nie um Nabelschau.“ 19 Siehe Hoghe 2006: 15: „Ich will auf der Bühne nicht persönliche Probleme verarbeiten. Theater ist nicht das Leben und auch keine Therapie. Ich kann meinen Körper auf der Bühne zeigen und es ist etwas anderes, wenn ich denselben Körper in einem Schwimmbad oder am Strand zeige. Es hilft mir dort nicht, dass ich meinen Körper auf der Bühne gezeigt habe – der Theaterraum und die Kunstform sind auch ein Schutz.“ Vgl. außerdem Hahn 2008: 38: „Auf der Bühne hilft die Herausforderung, sich lebendig zu fühlen. ‚Aber sie ist keine therapeutische Einrichtung, es geht um Ästhetisches!‘“
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aktivist […], wolle kein Theater, in das die Leute mitleidig strömten, um sich an ihm als Opfer zu ergötzen oder als Freak“20. Sehr wohl will er aber auf der Bühne – durchaus politisch – erreichen, dass „andere Körper“, wie er es nennt, „sichtbar bleiben – auf der Bühne und im Alltag“, u.a. um sich gegen eine Ideologie zu stellen wie in der Geschichte jene der Nationalsozialisten, die von einer gesetzten Norm abweichende Körper ‚aussortierten‘.21 Es geht ihm darum, diesen anderen Körper – in Anlehnung an Pier Paolo Pasolini – in den ästhetischen Kampf zu werfen und Subjektivität als Alterität zu konstituieren im Sinne eines Erkennens durch ein Anderes.22 „Wie jeder Performer sucht er den Blick der Anderen auf seine Person und seinen Körper“23, schreibt Thomas Hahn über Hoghe. Tatsächlich gelingt es Hoghe durch die ästhetisierte Inszenierung seines Körpers auf der Bühne verändernd auf die Wahrnehmung der Rezipienten einzuwirken und damit über seine eigene Subjektivität hinauszuweisen – z.B. wenn er in Meinwärts minutenlang mit dem Rücken zum Publikum nackt an einer Trapezstange hängt, bis sein Rücken vor den Augen der Zuschauenden kein verkrümmter Rücken mehr ist, sondern als ein Bild mit Licht und Schatten, als eine Topographie erscheint. Er selbst spricht von seinem Körper als Landschaft.24 „Die perfekten Rücken wirken neben Hoghe plötzlich, als fehle ihnen ein zentraler Körperteil“, stellt wiederum Hahn fest und zitiert Hoghe: „‚Das hat auch damit zu tun, dass es für mich viel formaler ist, als die Leute denken, wenn ich den Körper nackt präsentiere. Da interessiert mich nicht Psychologie oder das Zeigen einer Behinderung, sondern die Form.‘ Und da ist er wieder: ‚Der Körper als Landschaft‘, als lebendige Skulptur.“25 Und der Journalist Hahn greift noch zu weiteren Metaphern, die Hoghes Absicht und Wirkung illustrieren: „Der Buckel als Spreng-Körper der ästhetischen Norm, als Bilderstürmer spiegelglatter Oberflächlichkeit“, schreibt er in einer zugleich räumlich und ethisch geprägten Metaphorik, und weiter: Seine Erhebung sei auch 20 Soboczynski 2005. Vgl. auch Hahn 2008: 38: „‚Vielleicht ist das Problem, dass in Deutschland die Arbeit mit andersartigen Körpern in den Bereichen Amateurtheater und Behindertenkunst angesiedelt ist, mit denen ich nichts zu tun habe‘, vermutet Hoghe.“ 21 Hoghe 2006: 15. 22 Siehe Hoghe 2010: 1: „‚Den Körper in den Kampf werfen‘, schreibt Pier Paolo Pasolini. Dieser Satz: für mich auch ein Anstoß, auf die Bühne zu gehen.“ 23 Hahn 2008: 38. 24 Siehe Hoghe 2006: 15: „Das Meer ist schön und die Berge sind hässlich – das kann man so nicht sagen. Es gibt Berge und es gibt das Meer und man kann nicht sagen: Die Berge sollen alle weg, wir wollen nur noch flaches Land. Und vergleichbar mit den verschiedenen Landschaften sind für mich auch die Körper von Menschen. Der Körper ist wie eine Landschaft und es geht darum, dass man sorgsam mit ihnen umgeht – mit Körpern und Landschaften.“ Vgl. auch Soboczynski 2005; Hahn 2008: 38. 25 Hahn 2008: 38.
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„Seismograph verdrängter und verleugneter Intoleranz. Sie beweist, dass Projektionsflächen nicht immer glatt sein müssen“.26 Hoghes Subjektkonstitution ist demnach topographisch und nicht psychologisch gesetzt, auch wenn die ästhetische Wirkung durchaus auch ethische Konsequenzen haben soll. Indem die (im mehrfachen Sinn) hervortretende Reflexionsfläche, Hoghes Körper, in seiner Dreidimensionalität präsentiert und damit choreographiert ist, verschiebt sich dessen Wahrnehmung und lädt zur Reflexion ein (ebenfalls im mehrfachen Sinne).27 Signifikanterweise verwendet auch das zweite Beispiel eine topographische Metapher, um den Tanz eines/ihres ‚anderen‘ Körpers zu definieren; die Protagonistin und gleichzeitig Solistin (Eugénie Rebetez alias Gina) sagt: „Meine Bewegungen sind die Hügel meines Dorfes.“28 Auch hier werden die Aktionen eines Körpers, der nicht der Norm eines Tanzkörpers entspricht, diesmal, weil er füllig ist, mit einer Landschaft verglichen. Diese physische Projektionsfläche ist somit ebenfalls betont nicht glatt. Dabei meint auch diesmal ‚glatt‘ einerseits nicht eben, flach – wie ein Tänzer- oder Tänzerinnenkörper (beziehungsweise -Bauch, -Brustbereich und -Rücken) der entsprechenden Norm gemäß zu sein hätte – und andererseits nicht regelkonform, sondern im Gegenteil: sich auf-lehnend, auf-bäumend, auf-begehrend. In ihrer Rezension zur Uraufführung schreibt Martina Wohltat in der Neuen Zürcher Zeitung, dass die Performerin „in der nicht zu übersehenden Differenz zu den genormten Idealbildern zugleich ihre Einsamkeit und Verletzlichkeit“29 zeige. Und die Berner Journalistin Marianne Mühlemann hält fest: „Ginas imposanter Ballerinenbody steckt in einem offenherzigen Kleinen Schwarzen. Es ist elastisch wie ihr Ego, das auf dünnem Grat zwischen Grössenwahn und Selbstzweifeln balanciert.“30
26 Hahn 2008: 38. 27 Der Künstler selbst bemerkt dazu, dass die Zuschauer seiner Stücke aufgrund seines Körpers auf sich selbst zurückgeworfen würden. Als Begründung führt er an, „dass Menschen häufig in Tanzvorstellungen gehen, um einen schönen Körper zu sehen und sich mit diesem schönen Körper zu identifizieren. Was mehr oder weniger gelingt, weil die meisten Tänzer bestimmten Idealvorstellungen entsprechen. In meinen Vorstellungen fällt diese Identifikation mit dem Körper weg – wer will schon eine Behinderung haben? Da der Zuschauer nicht die Möglichkeit sieht, sich zu identifizieren, ist er auf sich zurückgeworfen“ (Hoghe 2006: 15). 28 Rebetez 2010: 1. 29 Wohlthat 2010: 23. 30 Mühlemann 2010: 33.
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Abbildung 2: Eugénie Rebetez in Gina.
Rebetez konstituiert in ihrem Stück ihre Figur Gina als ein Subjekt, das wissentlich nicht der physischen Tänzerinnen-Norm entspricht, das jedoch zwischen einer trotzig-ironischen bis melancholischen Betonung ihrer Alterität oszilliert – ob sie nun auf Stöckelschuhen im knappen Abendkleid mit voller physischer Wucht durch den Raum stapft, ob sie eine technisch tadellos ausgeführte Ballettexercice unvermittelt in ein vorsätzlich vulgäres Schütteln ihrer Körpermassen übergehen lässt, ob sie mit zynisch gemimtem Feelgood-Eifer ausgeführte Fitnessübungen buchstäblich sowie in übertragenem Sinne in ein rhythmisches Abklopfen des reichlich vorhandenen Fleisches und in eine Selbstentblößung münden lässt. Rebetez beziehungsweise Gina wechselt immer wieder abrupt – und sehr gekonnt – die semantischen Register; sie verkörpert und spielt mit Alterität, indem sie ihr Gegenüber, die Zuschauer, so mit deren eigener Rezeptionshaltung konfrontiert. Einmal lässt sie das Publikum sich mit der Figur Gina identifizieren, dann über diese staunen, sich von ihr überraschen und vor den Kopf stoßen, sich angezogen und abgestoßen fühlen. Mit Matzke kann dabei ein signifikanter Bezug auf zeitgenössische Formen von Selbstdarstellung hergestellt werden: Rebetez geht es in ihrem Solo nicht um eine „authentische[…] Darstellung der eigenen Person“, sondern vielmehr um ein „Spiel mit Identitäten, mit Multiplizierung und Inszenierung von Selbstbildern“ und von Fremdbildern; das Stück ist sicherlich keine „authentische Darstellung eines Selbstverhältnisses“ – wie in einigen Kritiken indiziert –, sondern ein „Spiel mit Selbst-
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darstellungsformen“,31 ebenso wie ein Spiel mit Normen und Normüberschreitungen, mit Identitäten und Alteritäten.32 Die Figur Gina konstituiert dabei ein Selbst als ein Anderes, um es in Anlehnung an Paul Ricoeur auszudrücken; allerdings tut sie dies gerade nicht über eine verbale narrative Konstruktion, sondern über eine physische, indem sie ihren Körper so inszeniert, dass er unter anderen Körpern als „ein Anderer unter allen Anderen“ erscheint und damit Selbstheit und Andersheit verschränkt.33 Eine solche – reziproke – Verschränkung hält das Stück den Zuschauenden nicht nur vor Augen, vielmehr setzt es das Publikum zwangsläufig in eine Beziehung dazu, indem dieses unweigerlich Eigenes und Fremdes auf den üppig dargebotenen Körper projiziert und von diesem prompt wiederum reflektiert, zurückgeworfen bekommt. Hoghe und Rebetez eröffnen über die Konstitution eines/ihres Subjekts physischer Alterität einen subversiven Spielraum, indem sie ihren nicht der Norm entsprechenden Körper als räumliche, choreographierte Projektionsfläche so in Szene setzen, dass Körpernormen für Momente ästhetisch oder ironisch ausgehebelt werden und die Zuschauenden durch das Andere auf die Bedingungen ihrer eigenen (normativen) Selbstvergewisserungen zurückgeworfen werden. Damit gehen die beiden Beispiele, so unterschiedlich sie in ihren Dramaturgien auch sind, in eine Richtung, die anfangs mit Judith Butler angesprochen wurde: „[E]rst wenn wir erkennen, daß wir nicht gänzlich von Normen kontrolliert werden, werden wir auf eine paradoxe Art und Weise frei dafür, an ihrer radikalen Dekonstruktion und Umwandlung mitzuwirken.“34 Hoghe und Rebetez zielen beide auf diese Erkenntnis, sie arbeiten sich in ihren Stücken künstlerisch daran ab, setzen sie für Augenblicke frei und wirken dadurch je auf ihre Art an der Dekonstruktion einer normativ konventionalisierten Subjektkonstitution mit – im Tanz und anderswo.
31 Matzke 2005: 39. 32 Siehe dazu auch Rebetez 2010: 1-2: „Indem sie über ihre Körperrundungen lacht, setzt sie gängige Schönheitsnormen ausser Kraft, die hier sowieso nicht ins Gewicht fallen.“ 33 Ricoeur 1996: 392, 12. 34 Butler 2002: 168.
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L ITERATUR Balme, Christopher: „Einleitung“, in: ders. (Hg.): Das Theater der Anderen. Alterität und Theater zwischen Antike und Gegenwart. Tübingen/Basel: Francke 2001, 7-19. Brandstetter, Gabriele: „Selbst-Beschreibung. Performance im Bild“, in: FischerLichte, Erika/Kreuder, Friedemann/Pflug, Isabel (Hg.): Theater seit den 60er Jahren. Grenzgänge der Neo-Avantgarde. Tübingen/Basel: Francke 1998, 92134. Butler, Judith: „Body: recognizable/unrecognizable. Über das Stück ‚Körper‘ von Sasha Waltz“, in: Sasse, Sylvia/Wenner, Stefanie (Hg.): Kollektivkörper. Kunst und Politik von Verbindung. Bielefeld: transcript 2002, 165-168. Carlson, Marvin: „Performing the Self“, in: Modern Drama 39 (1996), 599-608. Connolly, Mary Kate: „An Audience with the Other: The Reciprocal Gaze of Raimund Hoghe’s Theatre“, in: Forum Modernes Theater 23, 1 (2008), 61-70. Hahn, Thomas: „Der Buckel“, in: ballet-tanz 8, 9 (2008), 38. Hoghe, Raimund: „Den Körper in den Kampf werfen. Behinderungen schockieren auf der Bühne oft mehr als Gewalt: ein Plädoyer für das Unperfekte“, in: du – Zeitschrift für Kultur 765, 3 (2006), Supplement STEPS-Festival, 15. Hoghe, Raimund: „Raimund Hoghe“, in: www.raimundhoghe.com/deutsch.php, 1 [06.10.2010]. Matzke, Annemarie M.: Testen, Spielen, Tricksen, Scheitern. Formen szenischer Selbstinszenierung im zeitgenössischen Theater. Hildesheim: Olms 2005. Mühlemann, Marianne: „‚Gina‘, eine Hymne an das Leben in XXL“, in: Der Bund (16.04.2010), 33. Rebetez, Eugénie: „Gina“, in: www.eugenierebetez.com/assets/files/download/ Eugenie_Rebetez_GINA-de.pdf >10.09.2010@. Ricoeur, Paul: Das Selbst als ein Anderer. München: Fink 1996. Siegmund, Gerald: Abwesenheit. Eine performative Ästhetik des Tanzes. William Forsythe, Jérôme Bel, Xavier Le Roy, Meg Stuart. Bielefeld: transcript 2006. Siegmund, Gerald: „Raimund Hoghe“, in: www.raimundhoghe.com/deutsch.php, 2 >06.10.2010@. Soboczynski, Adam: „Über sich hinaus“, in: Die Zeit (08.09.2005). Wohlthat, Martina: „‚Gina‘ erzählt mit dem Körper. Tanz von und mit Eugénie Rebetez“, in: Neue Zürcher Zeitung (13.03.2010), 23.
In Rage reden Zum Verhältnis von Wut und Subjekt in amerikanischen Performance-Monologen der 1980er V IVIEN A EHLIG
Der Monolog in Theater und Performancekunst wird häufig als Ort begriffen, an dem sich ein Selbst artikuliert. Insbesondere autobiographische Monologe versprechen einen Zugang zu persönlichem Erleben – was sie zu einem bevorzugten Genre früher feministischer Performancekunst machte, deren Anliegen das (Mit-)Teilen ‚weiblicher‘ Erfahrung war.1 Wie Hans-Thies Lehmann gezeigt hat, akzentuieren Formen des Monologs im Theater das Sprechen des Schauspielers als Ansprache an das Publikum und verweisen so auf die Aufführungssituation als Zusammentreffen von Akteuren und Zuschauern.2 Es besteht daher die Tendenz, die „‚emotive‘ Dimension“3 der monologischen Rede dem realen Akteur zuzurechnen. Hierin, sowie in der Tendenz, die menschliche Stimme als Garant von Identität und Wahrheit aufzufassen, gründet das Versprechen des Monologs, ein Selbst hörbar werden zu lassen.4 Dabei sind die Verflechtungen von Selbst und Rede komplex. Sowohl Forschung als auch künstlerische Praxis haben deutlich gemacht, dass dieses Verhältnis jedenfalls nicht einfach nach dem Inhalt-Behältnis-Modell gedacht werden kann. Ein Selbst drückt sich in der Rede nicht einfach aus, sondern inszeniert und konstituiert sich erst in dieser. Identitätskritik setzt dementsprechend häufig bei Inszenierungsmustern an, die die Fiktion eines mit sich selbst identischen, stabilen
1
Siehe Forte 1988: 223-224.
2
Siehe Lehmann 2005: 229-232.
3
Lehmann 2005: 230.
4
Zum Potential der Stimme, gleichzeitig Garant von und Gefahr für Identität zu sein vgl. Lehmann 2004: 40-41.
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Ichs erzeugen. 5 Den Monolog im Theater kennzeichnet also das Potential, gleichzeitig das Versprechen einer unmittelbar zugänglichen, persönlichen Erfahrung zu evozieren und, durch die Herausstellung seiner theatralen Verfasstheit, gerade auf deren Status als Inszenierung hinzuweisen.6 In den USA haben Künstlerinnen wie Annie Sprinkle, Karen Finley, Lydia Lunch oder Kathy Acker in den 1980er Jahren auf den Monolog zurückgegriffen, um die Konstitutionsbedingungen weiblich codierter Identität zu erkunden und die Kategorie des Selbst kritisch zu befragen. Insbesondere die Performances Karen Finleys und Lydia Lunchs bedienen sich dabei einer vulgären, kruden Redeweise, die in Kritik und Forschung als eine Art Wut-Tirade charakterisiert wird.7 Bemerkenswert ist, dass dabei das Moment des ‚Wütend-Seins‘ häufig der Künstlerin als Person zugeschrieben wird und so, abhängig vom jeweiligen Standpunkt, als leidenschaftliches Engagement die Wirksamkeit der im Monolog geäußerten Kritik verbürgt oder als Hinweis auf eine problematische Persönlichkeit Ablehnung begründet.8 In jedem Fall steht diese Verortung von Wut im Spannungsverhältnis zu der ähnlich häufig vertretenen Auffassung, dass Finleys und Lunchs PerformanceMonologe Essentialisierungen jeglicher Art gerade problematisieren.9 In Hinblick auf das Verhältnis von Theater und Subjektkonstitution werfen ihre Performances daher insbesondere Fragen nach Selbst und Gefühl auf. Es gilt im Folgenden, zu erkunden, wie Finley und Lunch Subjektivität über die Gestaltung ‚zornigen Redens‘ verhandeln, ohne dabei in authentifizierende Zuschreibungen zurückzufallen.10 5
Aus theaterwissenschaftlicher Perspektive zeigt dies u.a. Fischer-Lichte 1998: 50-65. Sie legt dar, dass die Performances Rachel Rosenthals nicht als Repräsentationen eines Selbst begriffen werden dürfen, sondern als Vorführung von Inszenierungsverfahren eines Selbst.
6
Siehe Geis 1993: 153.
7
Vgl. Apfelthaler 2001: 147-148; Dolan 1987: 162; Forte 1988: 234; Goldstein 1999: 102.
8
Vgl. den Interview-Band Juno/Vale 1991, der Finley, Lunch und andere Künstlerinnen unter dem affirmativ verstandenen Label ‚Angry Women‘ als Kritikerinnen gesellschaftlicher Missstände feiert, sowie die in der Kontroverse um die zunächst gewährten, nach Protesten entzogenen, Förderstipendien des National Endowment for the Arts (NEA) geäußerten Anfeindungen gegen Finley u.a. in den 1990ern (vgl. Bolton 1992).
9
Eine Analyse des Wechselspiels zwischen der Ausweisung von Identität als performativ innerhalb der Performances Karen Finleys und Holly Hughes und einer Festlegung der Künstlerinnen auf eine als ablehnungswürdig befundene Identität im Diskurs der Rezeption leistet Goldstein 1999.
10 Ich verwende die Begriffe ‚Wut‘ und ‚Zorn‘ synonym. Mir ist bewusst, dass aus philosophischer und linguistischer Perspektive die Termini unterschiedliche, wenn auch eng verwandte, Phänomene bezeichnen. Da es mir hier nicht so sehr um eine begriffliche
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W UT . E INE ANNÄHERUNG Mit der Frage nach Theater und Gefühl hat sich die jüngere theaterwissenschaftliche Forschung intensiv beschäftigt und dabei auf den Aufführungscharakter von Gefühlen hingewiesen.11 Demnach dürfen Gefühle nicht als innere Zustände verstanden werden, die es lediglich auszudrücken gilt, sondern müssen „als Effekte komplexer Prozesse des – bewussten oder unbewussten – Wahrnehmens und Darstellens, des Zeigens, Beobachtens und Interpretierens“12 begriffen werden. Dem Theater als Ort der Inszenierung und Erfahrung von Emotionen kommt daher eine besondere Bedeutung zu. Es ist Schauplatz sowohl einer Einschreibung emotionaler Verhaltenskodizes, als auch Forum einer potentiell kritischen Auseinandersetzung mit diesen.13 Wenn Emotionen nicht mehr als individualpsychologische Regungen verstanden werden, die es auszudrücken gilt, steht allerdings ein ganzes Subjektmodell auf dem Spiel. Das Selbst erscheint nicht mehr als Ursprung von Gefühlen, sondern als komplizierter Effekt der Aufführung von Emotionen. Daraus ergibt sich die Konsequenz, dass jede theatrale Verhandlung von Gefühlen immer auch eine Verhandlung von Subjektivität ist. Der Monolog ist in dieser Hinsicht ein besonders einsichtiger Fall, wendet sich doch hier oft explizit ein Ich an ein Publikum. In der Rede spielen Körper, Gestik, Stimme und semantisches Potential des Gesagten zusammen und inszenieren ein Selbst, das im Falle der Performance-Monologe Karen Finleys und Lydia Lunchs als zornig beschrieben werden kann.14 Indem, so meine These, Lunchs und Finleys Performances Rede-Modi wie die Drohung und die Anklage aufgreifen, die im Alltag mit Zorn in Verbindung gebracht werden, reflektieren ihre Performances das Verhältnis von Gefühl und (weiblich codiertem) Subjekt und legen deren Inszenierungscharakter offen. Dass gerade das Repertoire des Zorns aufgegriffen wird, steht dabei in Zusammenhang mit der besonderen Nähe von Wut und Wehrhaftigkeit. In
Klärung oder Ontologie geht, erscheint mir diese Unschärfe in der Formulierung dennoch erlaubt. 11 Vgl. etwa Risi/Roselt 2009. 12 Kolesch 2007: 13. 13 Siehe Kolesch 2007: 14. 14 Das Zusammenspiel von Gefühl und Selbst in der Rede ist zu komplex, um hier abschließend geklärt zu werden. Wichtig erscheint mir jedoch, dass Konzeptionen von ‚Selbst‘ und ‚Gefühl‘ häufig miteinander verschränkt sind und sich in bestimmten Rede-Idealen niederschlagen. Während die Affekttheorien des Barock das Selbst als Treffpunkt affektiver Energien vorstellten, zwischen denen es in der rhythmisierten Rede Balance zu halten galt, prägte das 18. Jahrhundert das Ideal empfindsamer Verinnerlichung, das in der „beseelten“ Rede seinen Ausdruck fand (siehe Lehmann 2004: 56).
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gegenwärtigen philosophischen und psychologischen Diskursen wird Wut in der Regel als intensives, unangenehmes Gefühl charakterisiert, das mit der Mobilisierung von Kräften einhergeht, die sich gegen den Urheber einer als ungerecht angesehenen Tat richten.15 Wut erscheint zudem ambivalent. Einerseits stärkt sie das Subjekt, indem sie dieses zu einer Abwendung von Verletzungen befähigt. Gerade Diskurse der Selbstermächtigung, z.B. feministische Diskussionen, rufen daher dazu auf, Zorn zuzulassen.16 Andererseits gilt Wut als potentiell destruktiv. In ihrer ungezügelten Form bedroht sie die Integrität des Subjekts. Für Balance im eigenen Wuthaushalt zu sorgen, ist dementsprechend eine Forderung, die nicht zuletzt durch die umfangreiche Ratgeberliteratur zum Anger Management perpetuiert wird. Wann und wie Wut gezeigt wird, unterliegt zudem kulturell und historisch kontingenten Normierungen, die geschlechtsspezifisch codiert sind.17
T HE GUN IS L OADED (1988) Die ersten Arbeiten der Musikerin, Schriftstellerin und Performancekünstlerin Lydia Lunch entstanden im Kontext der Musik- und Filmszene des New Yorker No Wave.18 In Teilen der Gothic- und Punk-Szene ist Lunch auch heute identifikatorischer Bezugspunkt.19 Ihre Themen sind meist düster und drehen sich um Gewalt, Missbrauch, aber ebenso um Verletzbarkeit und Sehnsüchte. Die Haltung des Zornig-Seins wird von Lydia Lunch auch in Interviews kultiviert, so dass sie als streitbare Provokateurin gilt. Entsprechend kündigt der Klappentext der Videoaufzeichnung ihres Monologs The Gun is Loaded Lydia Lunch auch als „confrontationalist“ an, deren schonungslose Ansprache den wahren Zustand der Nation offenlege.20 Tatsächlich besteht The Gun is Loaded größtenteils aus konfrontativen Passagen, die auf der Bühne der New Yorker Performance Garage und in den Straßen der
15 Vgl. Ben-Ze’ev 2002: 152; Demmerling/Landweer 2007: 287-310; Glick/Roose 1993: 1-9. 16 Eine der frühesten Auseinandersetzungen mit Wut aus einer feministischen Perspektive ist Susi Kaplows Getting Angry (siehe Kaplow 1973). 17 Vgl. für die USA Curry/Allison 1996; Lutz 1996; Stearns/Stearns 1986. 18 No Wave entstand Ende der 1970er Jahre als avantgardistische Spielart des Punk Rock, die sich mit ihren ungewohnten Geräusch- und Klangkombinationen gegen eine Kommerzialisierung des Punk Rocks stellte. Lydia Lunch war Frontfrau der No-Wave-Band Teenage Jesus & the Jerks. 19 Vgl. Hancunt 1999. Dies ist meines Wissens die bisher umfangreichste Monographie zu Lydia Lunch. Sie enthält auch mehrere Interviews. 20 Siehe Lunch 1988.
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Stadt gedreht wurden. Lunch posiert in verlassenen Seitengassen, streunt, zeitweilig mit einem Baseballschläger bewaffnet, durch heruntergekommene Viertel, vorbei an Hausfassaden, von denen der Putz bröckelt. Auch die Wall Street, ein New Yorker Rotlichtviertel und ein Friedhof werden zur Kulisse für Lunchs Monologe, die sie mit direktem Blick in die Kamera vorträgt, so dass der Betrachter des Videos Adressat von Lunchs Rede zu sein scheint. Diese Eindringlichkeit wird durch zahlreiche Großaufnahmen und einmal durch Lunchs impulsiven Griff nach dem Kameraobjektiv verstärkt. Es handelt sich hierbei natürlich um Effekte, die dem Medium Film zuzuschreiben sind. Doch auch die Rede und somit die stimmliche und körperliche Performanz Lunchs sind im Gestus des Konfrontierens gehalten. Selbstbewusst in die Hüfte gestemmte Hände und die geballte Faust gehören ebenso zum Repertoire wie ein energischer Stimmeinsatz, der von einem gepressten Zischen bis zu Schreien reicht. Dabei zitiert Lunch immer wieder Rede- und Darstellungs-Modi der Alltags- und Populärkultur: die politische Ansprache, die Predigt oder die Pose des Rebellen. Lunch erobert in The Gun is Loaded so nicht nur räumlich randständige Zonen, in denen ein weiblicher Körper nicht vorgesehen, gar gefährdet ist, sondern eignet sich auch Formen des Redens an, die konventionellerweise männlich codiert sind. Zu Beginn ihres Monologs steht Lunch in einem schwarzen Bühnenraum an einem Pult. Im Hintergrund hängt ein Banner mit der Aufschrift „The Gun is Loaded“, so dass die Szene an eine Wahlkampfansprache erinnert.21 Die Beleuchtung legt ihr Gesicht in tiefe Schatten. Der Einstieg ist direkt, krude und bringt die pessimistische Gesellschaftsdiagnose, um die Lunchs Monolog kreist, auf den Punkt: „It’s all about getting fucked… that’s what it’s all about… getting fucked up, fucked over, fucked around with or just plain good ole fashioned fucked.“ 22 In den folgenden 37 Minuten rechnet Lunchs Monolog-Persona mit korrupter Politik, kapitalistischer Konsumorientierung und nuklearer Bedrohung ab. Die gesellschaftskritische Referenz eröffnet dabei einen Kontext für Lunchs Rede, der sie als Anklage ausweist, insofern diese typischerweise einen „Begründungszusammenhang [eröffnet], der letztlich zu einem Schuld-Diskurs führt“23. Die Verantwortlichen für den apokalyptischen Zustand der Nation sind tatsächlich schnell identifiziert: „greedy men“24. Doch bei einer derartig klaren Verteilung der Täter- und Opferrolle bleibt der Monolog nicht. Lunchs Persona betont mehrfach, dass ihre Ablehnung universell und nicht geschlechtsspezifisch orientiert ist. Zudem geriert 21 Tatsächlich wird einmal der Slogan „Lydia for President“ eingeblendet. 22 Lunch 1992: 98. Die gedruckte Version des Monologs weicht in mehreren Stellen erheblich von der Videoversion ab. Aus ihr wird daher nur zitiert, wenn die Unterschiede zu vernachlässigen sind. 23 Roselt 2008: 167. 24 Lunch 1992: 103.
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sich das Ich des Monologs selbst wiederholt als potentiell gewalttätig. Nach einer Szene auf einem Friedhof, die mit der Verkündigung, als Grabinschrift wünsche sie sich den Spruch „At 176 years of rage: Lydia Lunch“25 endet, wendet sich Lunch in einer verlassenen Seitengasse der Kamera und damit dem Betrachter zu: You’re looking a little bit cynical, a little bit surprised that I am still here today. […] By the way you see it, I should have been struck by a lightning, […] hung from a tree, shot in the face […] maybe even stabbed repeatedly in a lovers’ quarrel at the hands of a maniac – wishful thinking. But it ain’t that easy to get rid of me. […] And besides, when I go down, I plan on taking a few of you assholes with me. […] You could be next. And what is stopping me, what is preventing me from just crushing that one last thread of constraint, that one last iota of restraint from finally doing exactly what the fuck I want – like slitting open your stupid fat white ugly pork belly?26
Mit einer ähnlich bedrohlichen Passage endet The Gun is Loaded. Es ist Nacht in New York. Während man Lydia Lunch eine Straße entlanggehen sieht, beschreibt eine aus dem Off ertönende männliche Stimme sie als „a walking time bomb… the devil in a red dress […] who has grown up to become your worst living stinking nightmare“27. In Bezug auf die Frage nach der Inszenierung von Wut ist festzustellen, dass Lunchs Monolog das mimische, gestische und stimmliche Repertoire, das sich mit Zorn verbindet, immer wieder verdichtet. Rhetorisch erzeugen die Häufung von Vulgarismen und die auffallende Tendenz zum Hyperbolischen den Eindruck von affektiver Intensität. Dabei verschiebt sich der Rede-Modus im Verlauf des Monologs von der Anklage zur Drohung. Nicht zuletzt verdichtet ja der Titel des Performance-Monologs den Rede-Modus der Drohung zum Bild einer geladenen Waffe, die zum Schuss bereit ist. Zwar wird die anfänglich eingeführte systemkritische Referenz wiederholt aufgegriffen. Doch soziale Ungerechtigkeit, Gewalt und kapitalistischer Konkurrenzdruck werden zunehmend als quasi-natürlicher Kontext präsentiert, in dem es durch Härte und Abgeklärtheit zu überleben gilt.28 Wie sich in der zuvor ausführlich zitierten Passage zeigt, nutzt Lunch insbesondere den RedeModus der Drohung, um explosionsartig Spitzen zu erzeugen, die ein Verletzungsszenario evozieren.29 Lunchs Inszenierung folgt also einer Strategie „konzentrierter 25 Transkription nach der 1988 veröffentlichten VHS-Kassette. 26 Transkription nach der 1988 veröffentlichten VHS-Kassette. 27 Lunch 1992: 119-120. Diese Passage ist der einzige Text, der im Video nicht von Lunch gesprochen wird. 28 Dies macht im Video eine Einblendung des ironischen Ausspruchs „Survival of the Shittiest“ deutlich, die die bekannte Formulierung Darwins aufgreift. 29 Eine Drohung, schreibt Judith Butler, ist ein Sprechakt, der „die Umrisse der kommenden Handlung entwirft“ (Butler 2006: 25).
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Verausgabung“30, die Peter Sloterdijk als charakteristisch für den Umgang mit Zorn als Energie beschrieben hat. Wichtig ist auch, dass Lunchs Performance keine kohärente Erzählung präsentiert, in deren Rahmen sich die Drohgebärden und Anklagen des Ich individualpsychologisch erklären ließen. Lunchs Performance-Monolog folgt darin der Tendenz zum Anekdotischen, die im Theater seit den 1980ern beobachtet werden kann und die mit einer Skepsis gegenüber jeglicher Tiefen-Struktur einhergeht.31 The Gun is Loaded führt Wut nicht als Anlass und Instrument verinnerlichter Selbstbefragung vor, sondern als Energie, die vom Subjekt gezielt verwaltet werden muss, um wehrhaft und damit in einer feindlichen Umgebung existenzfähig zu sein. Lunchs Performance-Monolog ist so in zweifacher Hinsicht eine Herausforderung für eine bürgerliche Gefühlskultur, die Emotion als inneren Zustand begreift und die Rede-Modi der Wut insbesondere für eine weibliche Subjektposition tabuisiert.32
T HE C ONSTANT S TATE
OF
D ESIRE (1986)
Im Gegensatz zu den Arbeiten Lydia Lunchs sind Karen Finleys Performances gut erforscht. Ihre bekannteste Performance The Constant State of Desire (1986) enthält eine Passage, die Lunchs kruder Rede besonders ähnelt, so dass eine vergleichende Gegenüberstellung in Hinblick auf die Aushandlung von Wut und Subjekt dennoch interessante Einsichten verspricht. Es geht um den Monolog Enter Entrepreneur.33 Bevor Finley an das an der Rampe aufgestellte Mikrofon tritt und zum Sprechen ansetzt, zerschlägt sie rohe Eier in einem Plastiksack, trägt mithilfe von Plüschtieren das flüssige Ei auf ihren nackten Körper auf, bestreut diesen mit Glitzerpaillet-
30 Sloterdijk 2008: 90. 31 Siehe Brandstetter 1999: 29 u. 38. Eine Ausnahme bildet in dieser Hinsicht in The Gun Is Loaded der Monolog Daddy Dearest, der auf Erfahrungen sexuellen Missbrauchs, die die Künstlerin Lydia Lunch in ihrer Kindheit durchlebte, Bezug nimmt. 32 Als spezifisch ‚weiblicher‘ Rede-Modus des Zorns gilt die Beschwerde, deren ambivalente Verstrickung in gesellschaftliche Normstrukturen Lauren Berlant ausführlich diskutiert hat. Die Beschwerde erweist sich als Weg, Kritik zu äußern, ohne mit den gegebenen Normierungen und ihren Glücksversprechungen zu brechen (siehe Berlant 2008: 22). Insofern Lunchs Monolog kaum Visionen gesellschaftspolitischer (Nach-)Besserung aufscheinen und keine Spur von Sentimentalität aufkommen lässt, erweist er sich als radikaler als der von Berlant beschriebene Modus der Beschwerde. 33 In der in TDR gedruckten Fassung von The Constant State of Desire ist die hier diskutierte Passage die 1. Szene des 2. Akts (siehe Finley 1988: 140-143). Die Betitelung der Passage als Enter Entrepreneur folgt der CD-Aufnahme (siehe Finley 1994).
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ten und legt sich abschließend eine Girlande um den Hals.34 Enter Entrepreneur erzählt, in Ich-Form gehalten, von einem amokartigen Rachefeldzug. Im Monolog verbindet sich dabei vulgäre, skatologische Sprache mit bizarren Gewaltfantasien, die auf makabere Weise humorvoll sind. So zwingt Finleys Monolog-Persona ein als Yuppie bezeichnetes Gegenüber nicht nur dazu, die Reifen seines BMWs abzulecken, sondern lässt ihren Rachefeldzug gar in Kastration enden, wobei die abgetrennten Genitalien als in Schokolade gerollte Delikatesse wieder in den ökonomischen Kreislauf eingeführt und in einem Feinkostgeschäft verkauft werden.35 Finleys charakteristische, stilisierte Sprechweise, insbesondere das Auslaufen-Lassen der Stimme in einem Vibrato am Satzende und die repetitive Setzung eines quietschend-jauchzenden Lautes am Satzanfang, erzeugen den Eindruck affektiver Erregung, arbeiten einer psychologischrealistischen Lesart der Rede dabei jedoch ebenso entgegen wie die irreal anmutenden Gewaltszenarien der Erzählung: So I take you Mr. Entrepreneur, Mr. Yuppie, Mr. Yesman and tie you up in all of your Adidas, your Calvin Klein, your Ralph Lauren, your Anne Klein too, your Macy’s, your Bloomingdale’s. […] So I open up those designer jeans of yours. Open up your ass and stick up there sushi, nouvelle cuisine. […] Then I make you lick the tires of your BMW. Then I leave you on the street and I steal your BMW ’cause I know nothing is going to happen. […] I drive down to Wall Street and break into the Exchange. I go up to all the traders and cut off their balls. They don’t bleed, only dollar signs come out. They don’t miss their balls ’cause they’re too busy fucking you with everything else they’ve got. 36
Finleys Enter Entrepreneur eröffnet, wie Lydia Lunchs Performance-Monolog, eine gesellschaftskritische Referenz. Allerdings werden Materialismus und kapitalistischer Konkurrenzdruck nicht als zwar problematischer, aber gegebener, düsterer Lebenskontext reflektiert, sondern durch Offenlegung und Übertreibung ihrer zugrundeliegenden Strukturierung von Lust und Begehren ad absurdum geführt. Die Gewaltfantasien und die sich fast überschlagende Vortragsweise Finleys evozieren eher die „fieberhafte Heiterkeit“37 des Apokalyptikers als die Bedrohlichkeit eines mörderischen Vernichtungsversprechens. Wichtig ist, dass, anders als in Lydia Lunchs The Gun Is Loaded, die körperliche und stimmliche Inszenierung der RedeModi der Drohung und Anklage, mit denen Finleys Performance ebenso spielt, 34 Die Beschreibung des Aufführungsgeschehens basiert auf der Aufzeichnung dieser Passage in Stuart S. Shapiros Videodokumentation über die New Yorker Performanceszene der 1980er Jahre (siehe Shapiro 1988). 35 Siehe Finley 1988: 142-143. 36 Finley 1988: 142. 37 Sloterdijk 2008: 170.
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nicht zur Deckung kommen, sondern zueinander in Kontrast treten.38 Tatsächlich lassen sich Finleys bunt geschmückter nackter Körper, der Konventionen femininer Schönheit gleichzeitig evoziert und ironisiert, und die krude Drohung nicht zur Deckung bringen. Finley verfällt an einigen Stellen zudem in ein Grunzen oder stottert einzelne Worte wie ‚balls‘ oder ‚excrements‘, so dass diese in einzelne Laute zerfallen.39 Dass gerade affektiv stark konnotierte Worte derartig seziert und Material genussvollen Spiels werden, hat zur Folge, dass sie sich aus ihrem konventionellen Bedeutungspotential lösen. Sie werden damit nicht nur neuen Besetzungen zugänglich gemacht, sondern es wird auch bewusst, dass erst durch das Einhalten kulturell vertrauter Inszenierungsvorgaben die Rede semantisch und affektiv bestimmbar wird. Fallen wie in Finleys Enter Entrepreneur körperliche, stimmliche Inszenierung und Bedeutung des Gesagten auseinander, erscheint auch die Bestimmbarkeit des emotionalen Gehalts der Rede problematisch. Finleys Enter Entrepreneur befolgt so insgesamt eine Strategie der Diffusion. Anders als in Lunchs The Gun Is Loaded, in der das Ich der Rede sich mehrmals als ‚Lydia Lunch‘ identifiziert, bleibt das Ich in Finleys Monolog unbestimmt. Finleys Rede wechselt frei zwischen männlicher und weiblicher Sprecherposition, Täterund Opferdiskurs, so dass das Ich ihres Monologs sich weder auf eine geschlechtliche Identität, noch auf eine eindeutige soziale (Verantwortungs)Position festlegen lässt. Noch stärker als in The Gun Is Loaded wird das Selbst so als Inszenierungseffekt ausgewiesen bzw. jede Möglichkeit von Identität grundlegend in Zweifel gezogen.40 Indem Finleys Enter Entrepreneur Brüche und Widersprüche in der stimmlichen und körperlichen Inszenierung der Rede vorführt und die erzählten Gewaltszenarien ins Abstruse steigert, bringt die Performance den Rede-Modus der Drohung an die Grenzen der Plausibilität und letztlich Identifizierbarkeit. Wut erscheint hier so weder als Zeichen psychologischer Tiefe, noch als Energie, die von einem Selbst verwaltet wird, sondern wird angesichts eines Verschwindens von Identität zu einem obsoleten Beschreibungsmuster.
F AZIT Karen Finleys The Constant State of Desire und Lydia Lunchs The Gun Is Loaded reflektieren, wie sich gezeigt hat, das Verhältnis von Gefühl und Subjekt. Indem die Performance-Monologe die Rede-Modi der Anklage und Drohung verdichten,
38 Auf die Inszenierung von Kontrasten als Merkmal von Finleys Performance weist auch Fischer-Lichte 1998: 70 hin. 39 Siehe Finley 1994. 40 Siehe hierzu auch Fischer-Lichte 1998: 67-73.
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überspitzen oder zerlegen, machen sie auf deren Aufführungscharakter aufmerksam. Während sich in Lunchs Rede ein weibliches Selbst tabuisierte Rede-Modi aneignet und Zorn als Energie ausweist, die dessen Überleben sichert, zieht Finleys Rede die generelle Möglichkeit eines Selbst in Zweifel und wirft damit letztlich die Frage auf, ob und wie sich Gefühle jenseits jeglicher Form von Identität und Subjekt überhaupt denken lassen. Finleys und Lunchs Performance-Monologe brechen jedenfalls mit einem Gefühlsverständnis, das Emotionen als innere Regungen eines Selbst versteht und stellen Wut in ihrer Theatralität aus. In beiden Fällen wird das Selbst als Effekt performativer Akte ausgewiesen. Die Unterschiede der Inszenierungsstrategien lassen sich dabei als verschiedene Taktiken der Identitätskritik verstehen. Lydia Lunchs The Gun Is Loaded verweist auf die Performativität von Identität und führt zugleich als eine Möglichkeit das Modell eines wehrhaften Selbst vor. Finleys The Constant State of Desire privilegiert kein spezifisches Inszenierungsverfahren und problematisiert die grundlegende Möglichkeit eines Selbst.
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Skin Taking Place Tracing the Nomadic Skin into the 1990s and thereafter Y U-C HIEN W U Humans have always been crawling out of their skin on the way to android consciousness, and robots dream every night about giving birth to little humanoids. After all, human skin is the very best android flesh of all. ARTHUR AND MARILOUISE KROKER1 Lewis Mumford, in his The City in History, considers the walled city itself an extension of our skins, as much as housing and clothing. […] In the electric age we wear all mankind as our skin. MARSHALL MCLUHAN 2
Amelia Jones and RoseLee Goldberg 3 point out the return of the body in performance in the 1990s, whereas critiques of the posthuman body which flourish at the turn of the last millennium revolve around how the body is dissolved into monitoring screen and images, claimed by Jean Baudrillard in the late 1980s4, for instance. Similarly, media theorist Arthur Kroker warns against the “flesh-eating 90s” where electronic information gained the upper hand over the fleshy body, 5 and the social theorist Paul Virilio expresses his misgivings at the digitalization as the effect of late 20th-century technoscience which puts the human condition in jeopardy.6 The 1
Kroker/Kroker: 1996: 17.
2
McLuhan 1962: 52.
3
See Jones 1998: 198 and Goldberg 2004: 99.
4
See Baudrillard 1988: 12.
5
See Kroker/Kroker 1996: 79-81.
6
See Virilio 1997: 47.
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circumstances urged a new understanding of the human and thus fuelled the discourse of posthumanism in terms of the impact of technologies. By tracing the history of cybernetics since the postwar era alongside the development of disembodied subjectivity since then, Katherine N. Hayles notices that the imagination of posthuman selfhood is profoundly associated with the drawing of corporeal boundaries; for instance, the subject is viewed from the perspective of the whole organism to the molecular scale.7 Unlike the theorists mentioned above, Hayles arrives at a lucid insight that on one hand counterblasts the “apocalyptic visions”8 of posthumanism which claims the termination of humanity as biological beings and, on the other hand, insists on the nature of the posthuman as an always already constructed and embedded being, overcoming the information/materiality dualism. Following the heyday of the debates were certain body artists whose works interrogated the singular agencies that evince a coherent self, contained inside the bodily surface. As I will observe, what underlies their works echoes the contentions of embodiment resulting from the critiques of a hyper-technological age, but the issues are represented by their return to the skin rather than to the concept of the body as a whole. This paper, derived from this position, will argue that artists such as Stelarc, Orlan and Kira O’Reilly do more than crossing the boundaries between inside and outside, self and other, or human and non-human; their works, based on the suspicion of skin as a cultural and natural border, reflects the subtle relations between the skin and the body that Steven Connor calls the skin’s “out-of-body-experiences” through which it “is able also to take leave of [the body], but taking the whole of the body with it.”9 The relation between the skin and the body here is best illuminated by Connor who states that “[t]he very wholeness that the skin possesses and preserves, its capacity to resume and summarize the whole body, means that it is always in excess of, out in front of the body, but as another body. The skin is thus always in part immaterial, ideal ecstatic, a skin that walks.”10 If Connor is to sketch out the figuration of skin becoming increasingly visible and ostensible on its own account, my aim is slightly different, evoking instead a figure of ‘nomadic skin’ – a term that I coin to refer to the literal or metaphorical transformation of skin occurring in relation to the artists that obtain the subject position of an eternal other. Though the image of nomadic skin is inspired by the skin that walks, it owes its theoretical ground to the model of ‘nomadic subjects’ proposed by the Deleuzian feminist Rosi Braidotti, who calls for a critical attitude that resists symmetric or hierarchical patterns of thought which form the foundation of steady identities. Braidotti places a stress on the transition between interconnecting experiences, the 7
See Hayles: 279.
8
Hayles: 6.
9
Connor 2004: 29.
10 Connor 2004: 29.
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nomadic subject “blurring boundaries without burning bridges”11. These remaining bridges throw open new routes for reflection on the proposition of the disappearance of the body debated within posthuman discourses.12 By addressing the construct of human experience entailed by posthuman characters in science fictions of the 1980s and the cyborg portrayed by Donna Haraway, Hayles points out that “[t]he postmodern anticipates and implies the posthuman”13. The cyborg therefore becomes the byword not only for the “postmodernism’s celebrated deconstruction of subject”, but also for the subversion of patriarchal orders. 14 For this reason, its empowering strategies offer a point of departure for the rhetoric of the artists Orlan and Stelarc, with whom Kira O’Reilly shares certain concerns relating to the body as a site where the making and unmaking of personal narratives interplay with sexual, social, and political ones “in shifting permutations” 15 . In Haraway’s most frequently quoted question, “why would our bodies end at the skin or include at best other beings encapsulated by skin?”16, this theoretical tendency is more than obvious in such a way that skin is synonymous to the outdated ‘organic holism’ and becomes a burden that should be discarded in favour of cyborg hybridity; it makes possible the act of “rewriting the texts of bodies and societies”, which had been inscribed by patriarchal orders.17 The struggle with the limitations of human biological form is also shown by Stelarc’s strategies of enhancing the body into a “hollow, harden[ed] and dehydrate[d]”18 entity. He constantly talks about redesigning the obsolete body and he experiments by plugging it into the extended techno-system; his expulsion of the body is made implicit by his reliance on the skin first required and then abandoned unhesitatingly later. However, the irony in these reiterated ideas is the crucial role that the skin plays for him in his definition of human experience as embedded in the increasingly multiple and flowing relations. For this reason, I intend to propose an idea of nomadic skin to call attention to how the skin takes place in itself throughout the performance. Coupled with Stelarc’s contested motto – “body is obsolete” – is his narration of a hollow body which is achieved by the practice of the “shedding of skin” 19. 11 Braidotti 1994: 4. 12 For example, David Brande points out that “[i]n post-humanism, human ontology is disrupted by the ‘disappearance of the unified, organic human body into ever more complex relations with technology’” (Brande, qtd. in Pitts 2003: 152). 13 Hayles qtd. in Brande 1994: 512. 14 Pitts 2003: 152. 15 O’Reilly 2008: 96-97. 16 Haraway 1991: 178. 17 Haraway 1991: 177-178. 18 Stelarc 1989: 18-23. 19 Stelarc 1999: 119.
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Skin, being a part of the whole body, is also emblematic of the body in the paradoxical sense that a drastic change happening on the skin ensures a revolution in the thinking of the human body with regard to technology that “defines human being”20. If the body is obsolete, the skin, as its ‘interface’, is undoubtedly obsolete, too. From this perspective, what makes effective the better version of the body, applicable to the information age “may well reside in the act of the body shedding its skin”21. As a key illustration of this model, the Stomach Sculpture was inserted approximately 40 cm into the stomach with a video endoscope tracking and recording the stomach cavity that was projected outward. “The body is experienced as hollow with no meaningful distinctions between public, private and physiological space”22; another reading of this text is that the border, be it closed or porous, gives significance to the body, while being appropriated for and subjected to it. As Luce Irigaray’s criticism of the division between matter and form in the Western philosophical tradition, the bodily surface is treated like the “mother-matter [that] affords man the means to realize his form”23 and then passed over as if it never existed. Skin, through the act of stretching and penetrating, is marked as an other of the other, if body was already an other; skin is passive, subordinate, and can disappear since body is argued to be disembodied by the socio-technological changes. It is in this precarious moment that Stelarc’s works, with the cyborg in Haraway, can be understood as a disembodied mode of being that “reaffirm[s] literary traditions of Christian humanism”24 , which suggest the platitude in which body provides a foundation in opposition to the elevated mind. The critic Simon Penny, likewise, does not see the idea that body is obsolete as peculiar to Stelarc but rather a conviction overrunning the cybercultural circles where the privileged soul or intelligence “is a strong continuous thread in Western philosophy, from Christian Neoplantonism to Descartes and beyond” 25 . In addition, Stelarc’s attitude that unleashes the body from a master agency makes his work, for Meredith Jones and Zoë Sofia, “a perverse Cartesianism in which mind and cognitive knowledges are deployed so as to give away control of the body” 26. As we have seen, the message of body’s obsolescence together with an alternative hybrid invention has come under harsh accusations of Cartesian dualism. In response to these criticisms, Stelarc reasserts his denial of a self in an immanent sense; on the contrary, the pronoun “I” can only become “meaningful when this body is in the vicinity of another body op20 Stelarc qtd. in Atzori/Woolford 2010. 21 Stelarc 1999: 119. 22 Stelarc 2005. 23 Irigaray 1985: 166. 24 Muri 2003: 84, 90. 25 Muri 2003: 31. 26 Jones/Sofia 2002: 60.
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erating in a social space”27. Here, without espousing either side and thereby continuously polarizing the argument, I want to point out that their divergence results from a conceptual blind point that any issue relating to skin must deal with insofar as the body is concerned. It is a failure to recognize our growing dependency on and the complexity of skin which has increased due to the volume of information that accumulates. As a result, the body’s predominance over skin fails. The disregard for the existence of skin attests to the status of skin to be body’s other, which “we know as void”28. Why then does the skin, which has received too little recognition, come out to be crucial for this matter of contention? We shall look into this question through a lens provided by Irigaray, who reveals that Platonic metaphysics foreground a set of oppositions, such as, illusion and truth, copy and origin, which “assume the leap from a worse to a better” 29 . Consequently, an urgent jump from inside (i.e. cave/womb) to outside (i.e. the outer world) is made, whereas the passage of ‘gobetween’ is erased. In Irigaray’s reading, these binary terms are incorporated within a Cartesian framework to sustain Decartes’ self-grounding subject, and thus its link to maternity/materiality is more radically eradicated. 30 In an interview, Stelarc makes the blatant remark that “simply through a change of skin, we could radically hollow out the human body [that] would be a better host for all the technological components you could pack into it!” 31 The idea of improving the body’s biological capacity in order to survive in the environment of powerful and speedy technology is rooted in the skin as a primary material, but it does not receive the acknowledgement that it deserves. Hence, I argue that it is the stretched, penetrated, severed and even digitalized skin in Stelarc’s performance that makes possible his speculations on the multiplicity of agency, which is featured in the involuntary movements prompted by remote participants or random Internet activities. In Stelarc’s project Ping Body shown in Sydney in 1996, the body dances with the ebb and flow of Internet traffic transferring between domains scattered over the world that are pinged live during the performance. 32 Being actuated by the values generated by random pinging actions to over 30 sites, Stelarc, whose images are re27 Stelarc 1999: 136. 28 Irigaray 1985: 169. 29 Irigaray 1985: 247. 30 In her essay “And If, Taking the Eye of a Man Recently Dead” (1985: 180-190), Irigaray traces how the reflective function of Plato’s cave is transformed into Cartesian subject deriving from self-reflection. Rachel Jones makes a lucid comment that “[p]hilosophy’s dependence on a material other becomes even more obscured, as this ‘other’ is incorporated within the self” (Jones 2011: 102). 31 Stelarc qtd. in Smith 2005: 229. 32 See Stelarc 2002: 18-27.
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uploaded to the website for another group of viewers in the distance, becomes a passive puppet of the collective activities of the network. In Stelarc’s own words, “the body itself becomes a prosthesis” in his projects engaged with cyberspace “for the manifestation of a virtual entity’s behaviour”33. I do not doubt the prosthetic nature of the human body in the performance; nevertheless, I believe, while skin’s function of receiving sensory feedback is played down by stressing that the body is moved by flows of data, the role that skin entails in Ping Body can be said to set in motion the transformation of the body into a prosthesis. The artist regards the process as “a powerful inversion of the usual interface of the body to the Net” 34. Then some questions appear: What becomes of the skin? Is it shed to disappear? My answer is undoubtedly in the negative, because the interactions rely on the endings of nerves on the bodily surface to transduce information, both input and output; the skin loses its body, which had been bestowed upon its metaphorical force as an interface. More explicitly, I revise the question in the light of the title of Lyotard’s essay “Can Thought Go On Without A Body?” to delineate the survival of the skin: can skin go on without a body? Without giving a direct answer, Lyotard comes down to the analogous quality of thought deriving from “the irremediable differend of gender”35 that represents a sort of perceived experience. If perceptual thinking, to a certain degree, defends the last evidence of subsistence, skin can be expected to go on without the body because of its hybrid potential for transmitting, proliferating, combining, and dividing substances on a neurological or molecular scale. What leaves the body behind is the nomadic skin akin to the machine that will survive the death of the solar system in Lyotard’s fantasy. The notion of the nomadic skin finds its best expression in Claudia Castañeda’s rendition of the robot envisioned by Hans Moravec, one of the most famous supporters of developing artificial intelligence (AI). In Moravec’s Mind Children, the robot surgeon extracts the information stored in the human patient’s brain by means of touching the skull to download the data into its computerized body, and subsequently resects the brain cells piece by piece. In her rendering of this story, Castañeda eschews retelling the disembodied consciousness into the privileged concept; rather, she lays the emphasis on the imperative touch of the robot’s hand, which materializes a new subject in another body that cannot relinquish its own embodiment “to the extent that the robot’s functionality is in their skins and the quality of their touch, neither can escape this limit”.36 Framed in this way, the Ping Body allows us to consider the relationship between the body and the nomadic skin as one that reifies a parasitic version of agency. An agency requires at least two 33 Stelarc 2002: 129. 34 Stelarc qtd. in Fernell 2000: 146. 35 Lyotard 1991: 21-22. 36 Castañeda 2001: 233.
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to co-exist in a close relation with one another without becoming one. Like mother and child linked through the birth canal, the nomadic skin cannot be mapped via the dichotomy of inside and outside. Instead, it “allows one to pass through another in a journey in which mother and child remain in intimate contact without being either the same or substitutable for one another”37. We shall now return to the battle cry of ‘the shedding of skin’ that may evoke a misleading translation into a body beyond/without skin. However, I would suggest that it introduces a process of the skin taking place against the body in the performances not only of Stelarc, but also of the younger artist Kira O’Reilly. Fascinated with the question “where does my body end and where does the world outside begin?”38, the artist cuts, scores, and performs wet cupping on her skin and also turns her interest to the interactions between human and non-human beings. Bad Humours/Affected was set at the reception of the Bonington Gallery in 1998; the artist kneeled down and bended her upper body over itself, where her assistant slowly placed two leeches. When the first leech fell off, a small wound was left, from which red blood seeped. This performance shares with Ping Body a political goal of calling into question the concept of self-hood that incorporates the other as its supplier. Similar to the sensory feedback loops generated in Stelarc’s work, the mechanism between O’Reilly and the small creatures has the ability to force the body to react and to transmute with the leeches, which exposes the body to a kind of parasitic status of the unknown. Ostensibly, the scene is composed of two parts: body/self versus leeches/others; however, the penetrated skin disturbingly reminds us of its separation from the body and thus calls into question the unique subject position of body by its irreducible otherness. It is a moment in which the nomadic skin takes on its ethical condition that, inspired by Irigaray, arises from physical love (eros) “whose most elementary gesture […] remains the caress”.39 Where the blood flows outside the body marks how the nomadic skin interferes in the mutual obligation by which the other defines the subject;40 it breaks down the symmetrical relationship by bringing in the interval, the wound endowed with the strength of becoming, leading to infinite renewals. Once the fecund relations are retrieved by the ruptured skin as such, the relations between the artist and the leeches are likewise sliding in ways that all stories shared by women and this animal are being rewritten. Besides, the interval, accord37 Jones 2011: 83. 38 O’Reilly qtd. in Duggan 2009: 316. 39 Irigaray 1993: 186. 40 Irigaray, like Emmanuel Lévinas, regards the subject responding to other’s irreducible strangeness, which in Lévinas’s text is termed as alterity, to be ethical; however, she challenges the symmetrical logic in which the subject is singularized and as such the other falls back into the stereotype of “an Other of the same” (Irigaray 1993: 213).
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ing to Irigaray, preconditions the place where a status of the subject is made possible, and furthermore, the desire caused by the gap promises the locomotion in between: “in this sense, the interval would produce place” 41, a place that the skin has always been yet never possesses. To watch the making of a wound is therefore to witness the nomadic skin taking place, thereby it becomes a subject by constantly othering itself to be an other in its own right, rather than the other underlying the self/other scenario. This exciting journey explains the critical role that skin plays in regard to how we think about and represent models of subjectivity under posthuman circumstances42, especially when the fancy of body’s obsolescence overruns itself. The most evident trace of nomadic skin might be observed in French artist Orlan’s performative surgical interventions The Reincarnation of Saint Orlan starting from 1990, followed by eight other public facial operations through to 1995. The serial earns a high visibility by the photographs taken during the surgeries, in which her face is marked by cut lines and torn open under the scalpel. During the operations, she responds to questions live and reads a text by Eugenie LemoineLuccioni: “Skin is deceiving […] I never have the skin of what I am”, and responds to the questions live.43 The opened mouth, alongside the flayed skin, partitions the speaking I in both a visual and imaginary way: who is reciting? The question, echoing to her assertion “I is an other,” conjures up a dis-symmetrical doubling wherein the body is objectified to be a prosthesis of something other than an I, whilst the shivering lips of her mouth and wounds touch each other, folding and unfolding. “I caress you, you caress me, without unity – neither your, nor mine, nor ours.”44 The emergence of the two does not occur; instead, their encounters give rise to flowing mutations. The fluidity overtakes the body through “a thickness shaped by rhythmic movements that articulate self and other together”45 in which her skin entails a becoming-body as much as her body involves a becoming-skin. The process of becoming here is fundamentally nomadic which, if following Braidotti, “is neither reproduction nor just imitation, but rather emphatic proximity, intensive interconnectedness” 46 . Instead of maintaining a determinate organisation of self or a 41 Irigaray 1993: 48. 42 I use the term, posthuman, in response to the insight of Judith Halberstam and Ira Livingston, who make the point as follows: “the posthuman does not necessitate the obsolescence of the human; it does not represent an evolution or devolution of the human. Rather, it participates in re-distributions of difference and identity” (Halberstam/Livingston 1995: 10). 43 Orlan 1996. 44 Irigaray 1992: 59. 45 Jones 2011: 62. 46 Braidotti 1994: 5. Braidotti’s idea of nomadic becoming has its root in Gilles Deleuze and Félix Guattari’s A Thousand Plateaus, where the concept of becoming is defined to be an
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clear-cut border between self and other, Orlan puts her works, including her flesh, her skin, her images, into flows of dissolving and re-merging that give rise to “new forms of living”47. The skin lifted above the face makes us attentive to its specificity necessitating a distance from the body that is far from a traumatic and eternal separation, but rather the site where the subjectivity of Orlan comes about, of “ethical fidelity to incarnation”48. Within my reading of Orlan’s surgeries is my dissenting opinion against skin’s state of non-being, which is declared by Stelarc: “the self becomes situated beyond the skin”49 and adopted by the critics of Stelarc and Orlan who judge their works in terms of a centring or decentring Cartesian subject. The skin continues to dominate the artistic strategies of Stelarc, Orlan and O’Reilly who move from conducting cuts on the skin to investing a more complex register of identity at the cellular level. On the first exhibition of the project Ear on Arm in 2003, which inserts a duplicated left ear grown out of the artist’s own skin cell into his left arm, a literal organ without body is actualized. In the extra ear that is capable of transmitting the sounds it receives, skin’s function of interface is detached, displaced and relocated in the excess skin – “created with an implanted skin expander in the forearm”50 – which does not confront the body so much as create its own body. Stelarc never refers his works to the myth of Marsyas, however his desire to modify the topography of the body through engineering the bodily structure and skin in particular resonates with the representation of the flayed Marsyas as portrayed by Renaissance artists, whose “self-figuration” was encouraged by the accelerated anatomical techniques.51 To read the figure of Marsyas into Stelarc’s experiments enables me to envisage an interpretation of the myth of Marsyas which pervades the oeuvres of Orlan and O’Reilly too. Their questioning of the Western concept of self and body is enacted by their vulnerable position facing the procedure of skin tissue culture; likewise Apollo stands in the same situation as soon as his body is turned “into living matter” by Marsyas’s “caressing and integrating integument”.52 I thereby argue that the flayed skin – a place where the border between flaying and caress, or loss and
act of extracting elements and reconfiguring their interrelations through which one emerges and approaches another (Braidotti 1994: 300-301). 47 Lorraine 1999: 183. 48 Irigaray 1993: 217. 49 Stelarc 1999: 120. 50 Stelarc 2008: 102. 51 Sawday 1995: 185. 52 Benthien 2002: 78. In the paintings of Jusepe de Ribera and Melchior Meier, the figure of Apollo is clothed in drapery that is visually inseparable from the flayed skin of Marsyas.
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appropriation is blurred53 – defies Apollo to crystallize Marsyas as an inferior object, since it is Marsyas’s skin that marks the monstrous otherness making the master’s attempt of merging impossible. To make this point clear, we shall turn to O’Reilly’s Marsyas – running outside the skin, in which she tried to develop an in vitro living lace of skin cultured from cells biopsied from a pig and the artist’s body, but the desired outcome had not been achieved by the end of her residency. 54 Taking a biopsy from pig tissue with her hand, the artist is repulsed by her intention to “meld into the warm flesh”: “Following the pig biopsy I feel deeply ashamed. You stupid, stupid cow.” 55 This disillusionment reflects my interpretation of the myth that the severed skin – always of myth of departure – troubles the relationship between the satyr and Apollo. Eventually, the artist makes herself prey to a reversible relation with the pig, as she is related to her skin: a subject-to-subject relationship. From this perspective, I would like to conclude with another performance, Red Dragon by the Polish group Suka off, to reveal how the irreducible nature of nomadic skin finds its significance in the skin of this half-beast satyr. Red Dragon begins in a very peaceful atmosphere, where the artist sits on a red chair and his entire body is painted red. The colour comes from five layers of red latex, which is torn by his assistant to fix a couple of red strings on this artificial integument and tie the other ends of the strings to the railings beside the artist. Initially he looks like he is bound by the strings, but very slowly he rips off the latex skin and finally leaves the stage naked at the end of the show, when his fair skin becomes a sharp contrast to the blood-red anonymous creature remaining on the stage. 53 Here might be the point where my idea of nomadic skin comes closest to the “creative skin” elaborated by Stéphane Dumas that refers to “the medium in which a body takes shape and becomes writing” (Dumas 2008: 19) through his tracing the mutating skin in contemporary art that caricatures various aspects the myth of Marsyas, including Joseph Beuys’ felt-wrapped piano, Maurice Benayoun’s interactive installation entitled World Skin, bio-art pieces of Kira O’Reilly and Jilia Reodica and so forth. The creative skin stresses the “roughness of the satyr’s skin” (Dumas 2008: 23) that revives to cross the boundaries between human and animals, and between subject and object, while I do not see Dumas’ ambition to reverse the subject/object relationship implied in that between Apollo and Marsyas. Furthermore, as I have argued by digging into the nomadic skin so far, the subject/object dichotomy originates the paradigms of the traditional human relations to the surroundings that the artists intend to deconstruct, such as self/other, human/non-human, embodied/disembodied. Perhaps the difference between my and Dumas’ approach best explains the specialty of the nomadic skin. 54 It is the project O’Reilly carries out during her residency at SymbioticA Laboratory at the University of Western Australia between 2003 and 2004. 55 O’Reilly 2008: 97.
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I see this performance as a response to and a criticism of the body shedding its skin, I see the latex to be less a double of skin than its ‘outside’, demonstrating the excessiveness of skin’s virtual sphere, which, according to Elizabeth Grosz does not exclusively refer to cyberspaces, but rather to “the space of emergence of the new, the unthought, the unrealized, which at every moment loads the presence of the present with supplementary, redoubling a world through parallel universes, universes that might have been”56. The new layer of casing as a proliferated surface no longer has concerns about the inside/outside reversal; instead, it becomes a kind of “deep surface” 57 which brings into the flatness a temporal vector that opens up the unknown possibilities: the virtual. The red latex, as both the displaced inner part and the excessive outer layer, becomes a deep surface as a result of the simultaneous explosion and implosion that makes the role of the red layer indeterminable: to reveal or conceal the flesh? To re-enact or to cover the real skin? Thus, something new is brought into play in the course of the performance, for the act of skinning here can be understood as a mutual (re-)production. Before we conclude, it is important to reassert that I do not mean to equate the red latex to the skin which the artists carve; on the contrary, Suka off expose the virtual dimension underlying the myth of Marsyas and literalize their subject-tosubject relationship. The body in Red Dragon is undergoing a painful birth to another creature; from another perspective, the skin is shedding the burden of the flesh. The creature left on stage is suggestive of a skin that does not expect a nostalgic reunion with the body but rather enjoys its gesture of departing. Be it the shedding of skin or body of shedding, the nomadic skin manifests itself as a field of relations that provokes the division of self and body, real and virtual, since in its nomadic terrain they are all selves, bodies, real and virtual.
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56 Grosz 2001: 77. 57 “Deep surface” is a model proposed by the artist and architect Alicia Imperiale that “challenges the fixed conditions of inside/outside and surface/depth” as well as “allow[s] for the combination of two elements to provide for a third, serendipitous new element. (x+y= x+y+z)” (Imperiale 2000: 51).
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Matrixial Subjectivity at the Borders of Theatre and Life1 BRANISLAVA K UBURO VIû
N AKED G IRL F ALLING D OWN T HE S TAIRS “Naked Girl Falling Down The Stairs” is the title of The Cramps’ 1994 song from their Flamejob album, a likely inspiration for Kira O’Reilly’s Stair Falling piece, performed initially only months after the death of The Cramps’ founding member and lead singer Lux Interior.2 O’Reilly’s deceptively simple piece consisted of ‘just’ that, a “naked girl falling down the stairs of a museum/gallery, performing the action of falling down the stairs backwards over four hours, repeated daily for 17 days/one descent per day”, as the artist pithily put it on her blog.3 The formal simplicity of the piece allowed the artist to focus fully on the falling. This potentially highly dangerous idea was unlocked through carefully controlled, extremely slow movement, which unfolded both the funniest and the most frightening idea for a meditation in motion: a naked backwards ‘fall’, first performed down the exquisite Victorian staircase of the Whitworth Gallery in Manchester, which I recorded, already some time after the event, in the following notes:
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This is a shorter and somewhat altered version of my article entitled “Sta(i)r Falling” published in Performance Research. Vol. 16: No. 1 (March 2011), 91–101. © Taylor & Francis.
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The piece was first performed between July 3 and July 19, 2009 at the Whitworth Art Gallery in Manchester, as part of “Marina Abramoviü Presents…” at the Manchester International Festival. The work has been repeated several times since, first time on October 4, 2010 in Gruberjeva Palace, as a part of the 16th International Festival Mesto Žensk (The City of Women) in Ljubljana, where the images by the photographer Nada Žgank that accompany this article were made.
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O’Reilly 2009.
716 | B RANISLAVA K UBUROVIû Mounting the steps I see, up on the turning of the staircase, light pouring through the three wings of a very tall oriel window onto high-sheen white walls and dark stone stairs, and onto strangely shaped clusterings of people, white-clad like me, sitting or standing, observing quietly. As I reach closer I realise that the people are in fact moving slowly back down the steps following the artist’s deliberate and very slow backwards tumble. They remain several steps below to allow enough space for the artist; a few of us moving closer, some people sitting on stairs, some laying down, staying long; someone always seems to be there with the artist as she continues her highly focused, strenuous upside down descent. As I stop and lean against the wall close to the artist, the most striking effects of her presence that I immediately have to negotiate are her nakedness and the complexity of her inverted position in relation to my standing body. Hers is a body exposed, given-to-be-seen, mine doubly clothed, with a white lab coat worn over my clothes. My body upright, hers apparently abandoned to the force of gravity. This is not an ordinary kind of nakedness either; it is the nude in its root meaning of exposure, with each line, each hair on this clearly sexed body starkly visible. And yet it is this very visibility, this overexposure that overwhelms my gaze, dissolves it into a myriad of pieces, absorbing details of skin texture, the different shades and shapes of each small segment of skin and hair. The initial opposition of the upright and the horizontal planes dissolves as well as her movement proves equally uncontainable. Her entire naked body is at work, exertion clearly showing in the tensing of the muscles and the stretching of the skin, her head continually and slowly turning, pressing sideways and then downward, face reddening and tensing as the gravity makes the blood flush through to the head, then relaxing slightly once again. The muscles along the spine seem especially exerted as her legs continually reach up to an almost vertical position and then feel their way down over the head, yet she allows each leg to find its way softly, carefully following the movement of the body’s skeletal frame. While the artist negotiates the many minute shifts down each stone step, her eyes are wide open but although she is fully aware of her audience, these eyes appear as exposed as her body is, and her negotiations seem to occupy an altogether different kind of awareness.
I will later read of the notion of “focusing in space” in the sKu-mNyé practice, 4 what O’Reilly elsewhere describes as “peering, a gazing and glazing of the eyes onto planes of nothingthereness, onto thin air”5, and the effect this relaxing of her gaze has on me as an audience member/wit(h)ness6 brings about a similar kind of
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Psychophysical movement exercises of the Tibetan Buddhist Aro Tradition that the artist has been studying extensively (O’Reilly in Chamberlain 2009: 59).
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O’Reilly 2010.
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The notion of wit(h)nessing is proposed by the theorist Bracha Ettinger to address an important shift in contemporary art and performance: “In art today we are moving from [art as] phantasm to trauma. Contemporary aesthetics is moving from phallic structure to
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blurring and dis-attachment, a softening of vision that awakens other senses, and relaxes and embeds my body in a suddenly almost tangible air, expands it onto the architecture of the steps with their cool dark stone, so much so that I can feel its taste in my mouth, although it cannot be their stone I sense, as I have never tasted it; this is another stone emerged from memory, a warm stone step of another building, or a rock licked on a beach somewhere as a child perhaps. The sense of slowness and lack of tension set the rhythm of this shared journey. As the artist’s body continually alternates between rest and motion throughout her complex movement, the piece opens itself up as a dance form in its own right, its vocabulary continually made (and) undone through the hours of complex negotiation of the anatomy of the artist’s body and the anatomy of the architecture that O’Reilly engages with in the work. Her entire body is performing a skeletal dance of sorts, each posture establishing the middle ground between two frames, that of the human animal and its shifting contours with no straight lines, and that of the architectural structure, with continual, parallel lines of the many steps softened by the long, curved shape of the staircase itself. It is a sense of movement that does not invite comparison, an idiosyncratic vocabulary of the artist who “has begun to make ‘dances’, with her 41 year old non-dance trained body, attempting to totter at the edge of some kind of capacity and some unnamed ground.”7 I look at my scribbled notes: “You are in this body, a-maze-d.” A maze of flesh-in-motion, a water-filled, fluid body expanding over the slippery edges of the steps, and a fluid kind of consciousness in which I sense, or only interpret it as such, a slow deliberate act of abandon, astonished and diving into a very different kind of awareness. And the space itself invites this upside down body, somehow it seems this is how it should always have been with bodies and sets of steps that move between different levels of height: as if architecture was materialising the imagined journey of this inverted consciousness. There is another significant inversion being made here, this is not the struggle to the top but a negotiation of gravity in the down-fall, undoing the jinx of that doomed word “downfall”. “This will be your downfall”, he says; “yes, indeed, and what a jolly roll it shall be”, goes the answer it seems. But this imagined dialogue of a gendered opposition is only a vaguely present aspect within the dense mesh of time of her ‘fall’.
matrixial sphere. We are carrying […] enormous traumatic weight, and aesthetic wit(h)nessing in art brings its awareness to culture’s surface” (Ettinger 2004: 87). 7
O’Reilly: artist’s statement, available at www.kiraoreilly.com/blog/about [07.10.2011].
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Figures 1-3: Kira O'Reilly, Stair Falling, Durational performance, 15 Oct. 2010, from 2-6pm, Gruberjeva Palace, Ljubljana, Slovenia.
The writing seems to summon the artist’s presence so vividly but I am surprised and rather suspicious of the details that emerge in my delayed description. How much of it has already shifted in my memory, joined with other dances, other movements, remembered, left unsaid and now gathering hastily around the vortex of her fall? I let them hover there, or disappear entirely, drawn in by its strong pull. Having made that blind journey back in time, there was nothing to meet me there before I could build a tenuous sort of staircase for my memory so that her body finally emerged slowly against the illusion of solid shapes of architecture. So I return to what I think
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I know, holding on to what can be made out from the documentation, and the hard facts of the almost impossibly narrow surfaces down which O’Reilly performed her tumbling dance: “riser: 16 cm (6 1/2 inches), tread: 31.75 cm (12 1/2 inches)”, as noted by the curator Mary Griffiths.8 Yet the piece again refuses to settle in what prove to be equally fictional spaces. The apparent solidity of sizes is now just a mark on the measuring tape resting on my desk as I write, and the pixilated outline of her body on the staircase a mark in different media. The work occupies another kind of space, and another sense of time. It is “an event unremembered”: If the work of art can only be born into and out of amnesia, the work of the artist is a working-through and bringing into being of that which cannot be remembered. An event unremembered – yet that cannot be forgotten – is located in a transsubjective borderspace.9
This borderspace does not belong to my memory any more than it belongs to the artist. It marks a space of non-belonging, and a time not unlike the “topographical time” of which O’Reilly writes in another context, comparing the work with time in her art with biotechnology, which “allows metric, linear time to collapse into an unexpected topography of proximities and distances where other connections are made and events pulled backwards and forwards in the same time at the same place.”10 I intuit such concerns in her Stair Falling piece although it does not appear to involve any sophisticated manipulation of the biological processes. Yet in the enduring suspension of the flow of movement, in her examination of the acute pull of gravity, in the practice of sustainment and of total exposure to the gaze, and in her own non-attached, soft vision that disorientates and quietens the conceptual mind, the artist’s own body’s biological processes are ‘manipulated’ over a markedly long period and the framework of linear space and time on which we are conditioned to fully depend for our sense of stability and against which we negotiate our movements, is collapsed into another unexpected, dense and affected topography, and tested to the extreme. As a form of dance, it approaches the movement of ‘biological’ recollection, working with an ontogenetic kind of memory, with a way in which, “beyond the symbolic and beyond representation, living systems ‘make sense’ which is inseparable from the history of their transformation, and the transformation itself is inseparable from this making sense.”11 The notion of art working with what Lacanian psychoanalytical language terms as the Real is profoundly implicated in such transformation. The Real marks the 8
Griffiths in O’Reilly 2009.
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Ettinger 2006: 163.
10 O’Reilly 2008: 100. 11 Ettinger 1996: 134.
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psychic zone nearest to our bodily experience, where “the first transformations from biological entity to psychological entity take place.”12 It is also the psychic zone of structural trauma, of the “unthoughtful knowledge on the borderline.”13 This knowledge is lost to our conscious, conceptual minds and can awaken through such an ontogenetic, transformational, idiosyncratic dance. This psychic zone opens the borders of our bodies most profoundly towards others, and O’Reilly’s tentative movement along its diffuse boundaries is inevitably to some degree a shared transformation.
A D IFFERENT C ONTRACT WITH THE S KIN O’Reilly’s performances happen in the disputed ground where highly charged, deeply tabooed aspects of our embodied affectivities are activated in controlled situations of an art event, where trauma can become unattached from its situation in reality without foreclosing the entire mess of our sexual, economic, political and social embodied relations. Her work is a profoundly material re-negotiation of our contemporary experience of the symbolic screen that shields consciousness from the traumatic real. Such work is often theorized as an exploration of abjection, of “the repressing of the maternal body said to underlie the symbolic order [through] exploit[ing] the disruptive effects of its material and/or metaphorical rem(a)inders.”14 However, the way O’Reilly ‘stages’ the female body the theory has marked as the absent, traumatic ‘Thing’, opens up an entirely different dynamic of relations of the (female) body and trauma. O’Reilly’s piece is a highly particular intervention into sexuality in the field of vision through a relation between stasis and motion as a means of doing away with the ‘naturalness’ of vision and of linear temporality, thus shifting the affectivity of the work away from its fixation on sight. The work intervenes in the stability of the gaze, of the spectator’s arresting I/eye. O’Reilly’s slow-motion descent relaxes retinal vision and although it is an entirely specific, material reconfiguring of the body through the medium of performance, it shifts gender specificity and body’s materiality away from any stable identifiable position. It does this, among other things, through overexposure and temporal duration, refocusing and delay, in which the status and shape of gender is transitory. I always feel I am becoming something else, that gender slips and slides, becomes somewhat undone and redone as I move and as physicality
12 Ettinger 1996: 138. 13 Ettinger 2004: 77. 14 Foster 1996: 157.
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and its tremendous permeability revolve in relation to without. This malleability is subtle and inexact; these art works are perhaps brief framings of it for an imprecise encounter.15
The effect of this destabilization is both humorous and deeply disturbing, a challenge to any effort of the gaze to fix the body’s eroticism. O’Reilly’s work is an examination of the body in body’s own terms, or rather in terms of jouissance and trauma as the closest possible rapport with and awareness of the body’s biological processes. The political stakes of such focus on the body, especially in relation to the modernist tradition, start with what Rebecca Schneider identifies in feminist performance as part of the feminist reversal of subject-object relations that regulate the gaze: The contemporary feminist project to turn the eye of the visceralized, marked object back on to the detached eye of the modern attempts not simply to re-enunciate modernist horror, but to examine the terms of that horror to survey the entire field of her visceralization from the (space-off) perspective of the visceralized. 16
O’Reilly’s examination of the visceral/ized, however, moves away from “the terms of [the] horror” of the grasping, fixating gaze. The work employs duration to carefully soften and disengage perspectival vision and blur the distinction between the subject and the object, not through any play with reversal but in a complex act of remaining on the (traumatic) borders where heightened awareness meets abandonment, blurring the difference between our human and animal consciousness. O’Reilly’s nakedness does not seek an erotic or overtly sexual narrative to somehow ‘contain’ the exposed breasts and genitalia and is no longer invested in debunking the “plethora of patriarchal fears.”17 O’Reilly’s work starts in their very midst only to dissolve them and show them as equally permeable and malleable as any other attempt at severing the human away from the animal. Her body is exposed in a manner of a female animal, non-descript, simple in her nakedness, unconcerned and at home in her/its skin, simple in her/its concentrated focus on her/its task, fully absorbed in the straining of the muscles and the stretching of the skin. The beauty of this movement comes in the stilling of attention, in the stretch of the muscle, in the shape of the bone, the malleability of the skeletal frame, in the subtle changes and inexorable force of the moving body and our own implication in its idiosyncratic dance.
15 O’Reilly in Snæbjörnsdóttir/Wilson 2010: 47. 16 See Schneider 1997: 85–86. 17 Schneider 1997: 86.
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While much of O’Reilly’s art involves one-to-one performances where the negotiations of levels of intimacy and relation are heightened to their extreme, the effect of the physiological unsettling in her performances is never dependent on this proximity alone but rather stems from a very particular focus on the skin as the material marker of the (traumatic) borders where our psychological being touches most closely on the biological. This focus on the skin has been central to much of O’Reilly’s work, it is the most consistent theme throughout the long trajectory of her practice from her early performances of opening skin by cutting or using leeches, via her more recent (and continuing) laboratory work with skin cells, expanding in the recent years to include her investigation of the political and ethical stakes in relations of humans to other animals, again examined through the materiality and complexity of their embodied relations. I would like to argue that these same concerns are present, perhaps less obviously but equally importantly, in the pieces where this work with skin increasingly engages movement. In O’Reilly’s movement practice, this ‘breaking’ open of her body’s (naked) skin appears to have shifted to an expansion of the porosity of the body’s borders through her examination of varying rhythms of breathing, through deep engagement with the body’s temporality in the notion of syncopation as neither stasis nor motion.18 O’Reilly’s work with skin is not separate from her movement work, as suggested in her statement that “somehow [she] can only do tissue culture if [she is] moving.”19 They are intertwined and implicated in one another, perhaps most obviously in the way her scarred skin brings the temporality of these past performances into her movement practice, but also through the awareness in her moving body of these other, microscopic movements, and her awareness that “[t]he techne is entirely cognisant of embodiment.”20 “What if thought were as much an affair of the skin as of the brain?” as Didier Anzieu asks in his book on the Skin Ego. 21 If indeed it were, would the minute, precise cuts, gridded blood-trickling marks that open the skin in some of O’Reilly’s performances, be a tentative map of a grammar, minute organs of an emergent speech of the skin? Doesn’t her skin become a similar temporal record in her Stair Falling performance, bearing the marks of the stairs as a “sense of build up, of a deposit of effort, or of travel”?22 This grammar consists equally of the artist’s highly controlled, extremely slow movement, of her practice of sustainment and total exposure to the gaze, and her profound generosity unconcerned with anything outside the complex physiological minutiae of her task and the encounter with her 18 Cf. Duggan 2009: 317. 19 O’Reilly 2010a, n. pag. 20 O’Reilly, email exchange with author, July 2010. 21 Anzieu 1989: 9. 22 O’Reilly 2009.
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audiences/wit(h)nesses. The complex experience that evolves from our encounter with this work brings forth an awareness of the “incremental, tiny consistencies of body shifts, skin textures altering from smooth to in¿nitesimally wrinkling, strata of fatty deposits shifting, lumping into areas of cellulite, drying, bulging, sagging, stiffening, many, many moments of startlingness”23 that constitute our bodies’ unacknowledged and profoundly shared eventfulness that O’Reilly tends to in this encounter. Kathy O’Dell has theorized extensively the links between Anzieu’s notion of the skin ego and a certain strand of “masochistic performance art”24. The notion of masochism inherent in the problem of pain points to the moment when an infant’s fantasy of common skin, of the safe envelope of a mothering environment, has to be suppressed in order for this primary dependency to be overcome and for the subject to ‘open out‘ into the world. O’Reilly’s practice relates strongly to such work through its challenging the physiological borders of the body. However, the breach implied in this passage, the binary logic of a necessary schism from what is recognized as a ‘symbiosis’ of pregnancy, through birth and to the split that marks our entry into the symbolic, as theorized most extensively by Jacques Lacan, and included in O’Dell’s writing on the masochistic ‘contract with the skin’, has been challenged in Bracha Ettinger’s theory of the matrixial trans-subjectivity. Rather than emphasizing the breach, matrix connotes the porousness of skin, the porousness of subjectivity in the intrauterine encounter which, rather than being a symbiotic union, embodies a relation-without-relating of our first links to and awareness of another partial subjectivity. In the matrixial sphere, there is no linear passage from union to schism. In the matrixial relation-without-relating, subject is constituted not in relation to an other-as-an-object but in relation to the trembling experience of oscillation between I and non-I in the encounter, and she cannot recognize transsubjective-objects in any voyeuristic way. She joins the other-Encounter and witnesses the other’s event: she wit(h)nesses in weaving. 25
In the light of Ettinger’s theory, O’Reilly’s work may be theorized as opening and unfolding the complex material pathways that activate such matrixial limit-events and (traumatic) encounters. Matrix as a notion enables theorizing of the feminine not as forever receding and unavailable to consciousness but as a stratum of subjectivity, a psychic sphere to which we can, or indeed must become re-attuned. The fluid borders of the matrixial subjectivity are a highly fertile ground for experimentation in performance. They shift affectivity from its fixation on identifica23 O’Reilly in Snæbjörnsdóttir/Wilson 2010: 47. 24 O’Dell 1998. 25 Ettinger 2004: 91.
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tion, and acting from its habitual psychological and narrative context, so that audiences are no longer locked in identificatory relationships. Instead of a selfcontained matrix of an actor’s craft, much of which involves complex training to ensure that the borders of an imaginary matrix of space, time and character are well preserved, awareness of matrixial partial-subjectivity in performance can activate the edges of this matrix and start ‘shaking’ them without the fear of the entire structure of the work collapsing. For, as Ettinger reminds us, matrixial borderspace is not introduced as a notion to shatter the subject but to suggest that outside the borders of a more or less contained phallic subject there is not just psychosis – although the rigidity of our sense/s of self may easily induce it in what is after all a profound instability for any identity-bound subject – but a different sense of being-with and of wit(h)nessing, of sharing.
W ORKS C ITED Anzieu, Didier: The Skin Ego: A Psychoanalytic Approach to the Self. New Haven/ London: Yale University Press 1989. Chamberlain, Franc: “Playing with Post-Secular Performance: Julia Lee Barclay, Ansuman Biswas, Traci Kelly, and Kira O’Reilly in conversation with Franc Chamberlain.” PAJ: A Journal of Performance and Art. Vol. 31: No. 1 (2009), 54-67. Duggan, Patrick: “The Touch and the Cut: an Annotated Dialogue with Kira O’Reilly.” Studies in Theatre and Performance. Vol. 29: No. 3 (2009), 307-325. Ettinger, Bracha: “Metramorphic Borderlines and Matrixial Borderspace.” Rethinking Borders. Ed. John C. Welchman. London: Macmillan 1996, 125-159. Ettinger, Bracha: “Weaving a woman artist within the matrixial encounter-event.” Theory, Culture and Society. Vol. 21: No. 1 (2004), 69-93. Ettinger, Bracha: “Transcryptum: Memory Tracing in/for/with the Other.” Matrixial Borderspace: Essays by Bracha Ettinger. Ed. Brian Massumi. Minneapolis: Minnesota University Press 2006, 162-172. Foster, Hal: The Return of the Real: the Avant-garde at the End of the Century. Cambridge/Massachusetts: The MIT Press 1996. O’Dell, Kathy: Contract with the Skin: Masochism, Performance Art, and the 1970s. Minneapolis: University of Minnesota Press 1998. O’Reilly, Kira: “Marsyas – beside myself.” Sk-interfaces: Exploding Borders – Creating Membranes in Art, Technology and Society. Ed. Jens Hauser. Liverpool: Liverpool University Press 2008, 96-101. O’Reilly, Kira: “Notes for the Whitworth Gallery staircase (north).” Blog entry 2009: www.kiraoreilly.com/blog/p=216 [07.10.2011]. O’Reilly, Kira: “Brief notes on peering, gazing and scrying:” Blog entry 2010: www.kiraoreilly.com/blog/archives/421 [07.10.2011].
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O’Reilly, Kira: Reading and presentation for Textures, 6th SLSA European meeting in Riga, June 16, 2010a (unpublished, courtesy of the artist). Schneider, Rebecca: The explicit body in performance. London: Routledge 1997. Snæbjörnsdóttir, Bryndis/Wilson, Mark: “Falling Asleep with a Pig.” Interview with Kira O’Reilly. Antennae. The Journal of Nature in Visual Culture. Vol. 13 (2010), 38-48.
Subjektkonstitution in vernetzten Systemen BIRGIT W IENS
‚T ECHNOLOGIEN DES S ELBST ‘ IM Z EITALTER DES INTERNET . Ü BERLEGUNGEN ZUM W ANDEL VON S UBJEKTKULTUREN Sei es die eigene Website, auf der man sich darstellt, die Nutzung von Online-Foren wie Xing, Facebook, Youtube oder Twitter oder auch der Auftritt in Gestalt eines selbst entworfenen Avatars in Spielumgebungen wie Second Life: fast jeder ist heute in der einen oder anderen Weise im Internet präsent. Diese kulturellen Praktiken virtueller Selbstthematisierung und Selbst-Inszenierung, die seit der Wende zum 21. Jahrhundert als rezentes Phänomen hervortreten, können – mit Michel Foucault – auch als „Technologien des Selbst“ bezeichnet werden: als Strategie der ‚Selbstsorge‘, mit deren Hilfe der (bzw. die) Einzelne „Operationen an […] seinem Denken, seinem Verhalten und seiner Existenzweise“ vornimmt – verbunden mit dem Ziel, sich zu gestalten, zu verändern und sich erfolgreich ‚in Szene‘ und zu anderen in Relation zu setzen.1 Sicherlich nicht zufällig sind es vor allem die sogenannten ‚social media‘ (wie beispielsweise Facebook), die heute die Internetnutzung dominieren. Im Vergleich zu älteren, analogen Medien (sei es Malerei, Fotographie oder Film) besteht ihr wohl signifikantestes Merkmal darin, dass mit ihnen die Optionen eines alltagsästhetischen ‚Sich-Darstellens‘ eine neue Qualität erhalten haben: potentiell jeder/jede kann daran teilhaben und audiovisuelle Botschaften ‚ins Netz‘ einspeisen und, falls gewollt, in ‚Echtzeit‘ austauschen. Mithin werden dabei, wie die Mediensoziologin Barbara Becker beobachtet hat, die entsprechenden Plattformen und Chatrooms geradezu als „Probebühnen“ eines sich gestaltenden, sich in den Reaktionen der anderen spiegelnden Selbst genutzt.2 Allerdings sind die – in den Anfängen des Internet zunächst geheimnisumwitterten – Online-
1
Siehe Foucault 2005: darin den Abschnitt: „Technologien des Selbst“, hier 968.
2
Siehe Becker 2004: 414.
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Welten längst nicht mehr Spielplätze allein von Computer-Nerds und Cyberpunks. Seitdem die elektronischen Netze, auch mithilfe zunehmend benutzerfreundlicher Programme, allgemein zugänglich wurden, sind sie zu einem von vielen alltäglich genutzten ‚Raum‘ der virtuellen Selbstinszenierung geworden: man stellt sich dar, modelliert sich, maskiert sich, erfindet sich neu – und all dies nach der Maßgabe der eigenen Kreativität, wobei zugleich allerdings immer auch eine Fülle kultureller Konventionen und Codes, die trotz der dort vermuteten Freiheit auch online gelten, die Möglichkeiten prägen. Unter diesen Vorzeichen sind die virtuellen Plattformen des Internet, nach Becker, heute in der Tat zu einer ‚Bühne‘ sich inszenierender Subjekte geworden. Dabei ist der Web-Auftritt kein reines Online-Spiel mehr: das Erlebnis, im ‚WorldWideWeb‘ präsent zu sein und gesehen zu werden, die globale, schier grenzenlose Reichweite des Mediums und das Feedback der vielen auf die eigene, virtuelle Präsenz, all dies greift – auch diesseits der Bildschirme – in die Lebenswelt und in das ‚Ich-Gefühl‘ ein. Die elektronischen Netze sind somit zu einem nicht zu vernachlässigenden Faktor zeitgenössischer Subjektivation geworden; damit liegt, allgemeiner gesprochen, die These nahe, dass es Medienumbrüche sind, die, neben anderen Faktoren, zur Transformation von Subjektkulturen in signifikanter Weise mit beitragen. Mit dem vorliegenden Beitrag soll dieser These genauer nachgegangen werden: Welche Auswirkungen haben Medienumbrüche in Bezug auf Subjektivationsprozesse? Wie werden solche Umbrüche (zuletzt die Etablierung des Internet) reflektiert: 1. im kulturtheoretischen Diskurs, und 2. in den Künsten? Die New Yorker Theater- und Medienkünstlerin Toni Dove arbeitet seit einiger Zeit an ganz ähnlichen Fragen. In ihrem – als künstlerische Forschung angelegten – Work-inProgress-Projekt Lucid Possession (2009 erstmals präsentiert im Rahmen des Münchner Festivals Spielart) unternimmt sie den Versuch, die ‚Bühnen‘ des Internets im Theater zum Thema zu machen. In der Spielanordnung, die sie dazu entwickelt hat, betritt die Hauptfigur des Stücks (Bean), vermittelt über einen Avatar, verschiedene Online-Plattformen; Beans ‚digitaler Doppelgänger‘ gerät dabei jedoch außer Kontrolle, und es entspinnt sich ein komplexes – für die Hauptfigur offenbar riskantes – Spiel zwischen materiellen und virtuellen Räumen. In der Art und Weise, wie dieses Spiel angelegt ist, leistet das Projekt dabei, gleichsam nebenbei, eine Kritik jener seit den 1990er Jahren diskutierten Positionen, mit denen – unter dem provokativen Leitbegriff des ‚Posthumanen‘ – postfeministische Theoretikerinnen wie Donna Haraway (Manifesto for Cyborgs 1989) sowie Medienwissenschaftlerinnen wie Katherine N. Hayles (How we became Posthuman 1999) das sowohl kreative als auch soziale Emanzipationspotential der sich damals gerade ankündigenden, medientechnologisch vernetzten Daseinsformen hoffnungsfroh beschworen. Wie die Auseinandersetzung mit Toni Doves Projekt zeigen wird, versuchen sie und ihr Team eine Dekade später, eine Art Erfahrungsbericht und
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künstlerischen Kommentar: Wie erlebt sich ein ‚Ich‘ – im Horizont der elektronischen Netze?
‚V ERNETZT -S EIN ‘ ALS P ROBLEMSTELLUNG DER INTERMEDIALEN B ÜHNE – AM B EISPIEL VON T ONI P ROJEKT L UCID P OSSESSION
D OVES
Seiner Anlage nach ist das Projekt Lucid Possession eine intermediale Versuchsanordnung; formalästhetisch betrachtet, ist dies dem Umstand geschuldet, dass sich auf der Theaterbühne – aufgrund der ihr eigenen Medialität3 – das Medium Internet, in seiner raumgreifenden Vernetztheit und Virtualität, nicht zur Darstellung bringen lässt. Wie Toni Doves Projekt zeigt, kann Theater jedoch das Internet zum Thema machen, indem es – intermedial – die veränderten Kommunikations- und Wahrnehmungskonventionen, die die neuen Medientechnologien mit sich bringen, reflektiert.4 Wie erwähnt, kreist das Projekt auf der inhaltlichen Ebene um die Figur der Bean, eine junge Künstlerin. Gleich zu Beginn erfährt man, dass Bean einen Avatar entworfen hat, der ihr ähnlich sieht und den sie auf verschiedene InternetPlattformen eingespeist hat. Irgendwie scheint er sich von dort aus jedoch verselbstständigt zu haben, und Bean macht eine Reihe merkwürdiger Erfahrungen. Dazu gehört, dass andere Internetnutzer ihren Avatar offenbar entwendet haben und ihn nun tragen ‚wie ein Kostüm‘ („like a costume“).5 Aber auch in der realen, physischen Welt geschehen seltsame Dinge: auf der Strasse (sie lebt in Manhattan) sprechen sie fremde Leute an, die Bean offenbar kennen. Sie selbst wiederum hört plötzlich Stimmen, fühlt sich wie ein ‚Radioempfänger‘ („a radio receiver, that ‚picks up people‘“), ihr Kopf sei voller ‚Twitter-Feeds‘. Mithin dringt eine ihr unbekannte, weibliche Figur (Arathusa) in ihre Wahrnehmungswelt, und Bean fühlt sich verfolgt, wie von Schatten. All dies erfährt man narrativ im Ablauf des Abends; abgesehen von der Geschichte ist dabei freilich vor allem interessant, wie
3
Das Medium Theater verlangt, seiner vorherrschenden Definition zufolge, die physische Versammlung von Akteuren und Publikum; ihr ästhetisches Tun und Wahrnehmen konstituiert demnach den Theatervorgang; mediale Vernetzung und dislozierte Konstellationen gelten insofern als ‚theaterfremd‘ (siehe von Herrmann 2005: 196-199).
4
Intermedialität gilt als gegeben, wenn im Theater versucht wird, „die ästhetischen Konventionen und/oder Seh- und Hörgewohnheiten eines anderen Mediums zu realisieren“ bzw. zu thematisieren (Balme 2004: 19).
5
Das Zitat folgt der Videoaufzeichnung der Performance beim Münchner Spielart-Festival 2009, die der Verfasserin von Toni Dove freundlicherweise bereitgestellt wurde.
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all jene Erfahrungen, die die Hauptfigur durchlebt, auf der Bühne vergegenwärtigt werden. Toni Doves Arbeiten konfigurieren oft mehrere Medien; meist handelt es sich hierbei, wie sie selbst präzisiert hat, um „Hybride aus Film, Installationskunst und experimentellem Theater“6. Betrachtet man seine Szenographie, so trifft dies auch auf den Aufbau von Lucid Possession zu, das sich zudem erkennbar darstellt als vernetztes System (vgl. Abb. 1-3). Auf der Bühne – das Publikum sitzt ihr ganz ‚klassisch‘ gegenüber – fallen mehrere Projektionsflächen ins Auge, eine große und zwei kleine; auf der linken Bühnenhälfte sieht man zudem eine große, roboterartigpuppenhafte Figur, die eine Art Reifrock aus Metallreifen trägt und mit Stoffen behängt ist: sie bildet eine plastische Projektionsfläche. Am linken Bühnenrand steht die Violinistin Mari Kimura (Abb. 1) und neben ihr (auf der Abb. nicht sichtbar) die Sängerin Hai-Ting Chinn. Als Darstellerin der Bean ist Hai-Ting Chinn gewissermaßen die Hauptdarstellerin, wobei sie aber – im gesamten Ablauf der Performance – das Zentrum der physischen Bühne nie betritt. Stets bleibt sie am Rand oder man sieht sie, als ‚Close Up‘, im Film (vgl. Abb. 2); auch spricht sie durch den Avatar der Bean, der via Spracherkennung ihre Stimme ‚lernt‘, oder sie übernimmt Gesangspassagen. Die Geigerin, deren Streichbewegungen über Sensoren erfasst werden, kann (ähnlich wie man es von Laurie Anderson kennt) zu den Klängen der Geige eine verfremdete menschliche Stimme ertönen lassen und zudem auf die Videoschaltungen Einfluss nehmen. Auf der rechten Bühnenseite steht Toni Dove, die Handbewegungen, vergleichbar einer Puppenspielerin, vollführt (Abb. 3). Vor sich hat sie ein vierteiliges Interface, und mit ihren Bewegungen, die ebenfalls über Motion Tracking erfasst werden, kann sie verschiedene, simultan ablaufende Videos dirigieren, vor- oder zurückspulen, abspielen oder stoppen. Im Publikum, unter den Zuschauern, sitzt noch Leif Crinkle, der die Roboter-Figurine entwickelt hat. Von dort aus steuert er die Figurine, die sich aufrichten, neigen und etwas drehen kann, über ein App auf seinem iPhone. Mit diesem komplex vernetzten, auf vielen Ebenen verschalteten Szenario hat Toni Dove einen Versuchsaufbau entwickelt, in dem die Problemstellung der Performance – die Frage nach der Verfasstheit des Subjekts in vernetzten Systemen – seine szenographische Entsprechung findet.
6
Vgl. Programmheft des Münchner Spielart-Festivals 2009.
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Abbildungen 1-3: Szenen aus Toni Doves Projekt Lucid Possession (2009/10).
„W HAT IF ... YOUR HEAD WAS LIKE A T WITTER-F EED ?“ – ‚T ERROR UND V ERGNÜGEN ‘. S ELBST -O RGANISATIONEN ZWISCHEN L EIBLICHKEIT UND V IRTUALITÄT Die Figur der Bean – dies wird auf der Narrationsebene wiederholt deutlich – entwirft und reflektiert sich selbst als urbanes, postfeministisches, vernetztes und (zumindest vom Selbstverständnis her) unabhängiges Kreativsubjekt. Sie ist eine junge New Yorkerin und Künstlerin: All dies erfährt man in ihren Gesprächen mit ihrer Freundin Tisi in den Filmabschnitten auf der großen Leinwand. Zudem gibt es noch die Dialoge, die Bean mit ihrer digitalen Doppelgängerin führt; das Programmheft nennt diese Passagen „Schizoid Duetts“. Im Spannungsfeld zwischen virtuellem und materiellem Raum entfalten sich unterschiedliche Facetten ihrer Identität: Wie die Figur hier gezeigt wird, kommt sie in vielem dem nahe, was Katherine Hayles Ende der 1990er als Jahre Paradigma einer dezentrierten, sich (auch mithilfe von Medientechnologien) stets neu erfindenden, ‚posthumanen‘ Subjektivität beschrieben hatte. Aufgrund der intensiven medialen Präsenz, die solche Subjekte auf ihren diversen Plattformen entfalten, existiert demnach von jedem von ihnen ein flottierender ‚Datenkörper‘, der das physische Selbst gleichsam verdoppelt, aber auch angreifbar macht und mithin seine (ohnehin als instabil gedachte) Souveränität unterläuft.7 Hayles sprach in diesem Sinne auch von der ‚Bedingung der Virtualität‘
7
Siehe Hayles 1999a. „The posthuman subject is an amalgam, a collection of heterogeneous components, a material-informational entity whose boundaries undergo continuous construction and reconstruction“ (Hayles 1999a: 3).
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(„condition of virtuality“)8, die ein wesentliches Daseinsmerkmal ‚posthumaner‘ Existenz darstelle, jedoch zwei Seiten habe: Da ist einerseits die Freiheit des nachbürgerlichen, aus allen fixen Bindungen gelösten Subjekts, das nun die Chance hat, sein Leben und eigenes Selbst zu gestalten und in die gewünschten Zusammenhänge zu bringen, und andererseits sind da aber auch die noch wenig verstandenen Mechanismen der Online-Welt, die mithin ins Reale hinüberspielen. Die Perspektiven des ‚posthumanen‘ Seins verortete Hayles insofern, durchaus ambivalent, auf einer Scala zwischen ‚Terror und Vergnügen‘ („terror and […] pleasure“).9 Tatsächlich sind ‚Terror und Vergnügen‘ offenbar auch, was die Figur der Bean in Toni Doves Stück durchmacht – mit all jenen Symptomen, die man den ‚dezentrierten Subjekten‘ des herannahenden Medienzeitalters in den 1980er und 1990er Jahren prognostiziert hatte. Viel rezipiert wurden in diesen Zusammenhängen unter anderem die Überlegungen Matthew Causeys, der in einem Text mit dem Titel „The Screen Test of the Double“ das Phänomen des ‚digitalen Doppelgängers‘ mit Freuds Diskussionen des Unheimlichen in Zusammenhang brachte.10 Demnach können – in Momenten, in denen die Grenzen zwischen Belebtem und Leblosem gleichsam verwischen – Körper wie Puppen, Spiegelbilder oder Automaten Ängste auslösen, indem sie beim wahrnehmenden Betrachter Verdrängtes oder auch überwunden geglaubte Wahrnehmungsmuster aktivieren.11 Einen ähnlich verunsichernden Effekt bescheinigte Causey auch den digitalen Bildern; des Weiteren bezog er sich mit seiner Argumentation aber nicht nur auf Freud, sondern auch auf die Subjekttheorie Jacques Lacans und dessen Aufsatz über das „Spiegelstadium“. Dieser besagt bekanntlich, dass das Subjekt sich in einer dynamischen Trias zwischen dem (im Realen verorteten) Selbst, dem Imaginären (Selbstbild) und der symbolischen Ordnung (Sprache, gesellschaftliche Regeln) herausbildet und sich ein Leben lang selbst revidiert; dabei ist das Subjekt stets von Ausgrenzung oder gar ‚Zerstückelung‘ bedroht, sollte es sich von geltenden Normen und herrschenden kulturellen Codes zu sehr entfernen.12 An Lacans Modell (das für die poststrukturalistische Subjektanalyse grundlegend wurde) schließt auch Causey an, indem er die Irritationen, die die audiovisuellen Repräsentationen sogenannter ‚digitaler Doppel8
Hayles 1999b: 68. Hayles schließt mit ihrer medientheoretischen Perspektive auf das Subjekt explizit an die poststrukturalistische Subjektanalyse (namentlich Foucaults, Jacques Lacans und Judith Butlers) an; vgl. Reckwitz 2006: 73-96 sowie Reckwitz: „Schwankende Gestalten. Die Analyse von Subjekten im Zeitalter ihrer Dezentrierung“, in: ders. 2008: 5-22.
9
Siehe Hayles 1999a: 283.
10 Siehe Causey 2006. 11 Siehe Freud, Sigmund: „Das Unheimliche“ [orig. 1919], in: ders. 1999, 227-268. 12 Siehe Lacan, Jacques: „Das Spiegelstadium als Bildner der Ichfunktion“ [orig. 1949], in: ders. 1986, 61-70.
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gänger‘ hervorrufen, als Zeichen jener Spaltungen interpretiert (‚split subjectivity‘).13 Es mag an der veränderten, an Virtualisierungseffekte inzwischen gewohnten Medienkompetenz liegen, dass – rund zehn Jahre später – gegen solche Thesen Einwände erhoben werden.14 Sicherlich zu Recht wurde betont, dass ‚digitale Doubles‘ zwar eine gewisse Fremdheit und Abständigkeit gegenüber dem Selbst bzw. seinem leiblich verankerten Körperbild bedingen, die Assoziation dieser Phänomene mit Gespenstern und Geistern erscheint aus heutiger Sicht aber allzu archaisierend.15 Doch die zunehmende Relevanz, die das Virtuelle inzwischen offenkundig gewonnen hat, wirft weiterhin zu klärende Fragen auf: Inwiefern können wir heute zwischen ‚virtuell‘ und ‚real‘ überhaupt noch trennen und sinnvoll unterscheiden? Und besteht tatsächlich die Gefahr, dass das Virtuelle überhand nimmt, in alles eindringt und sich – wie Toni Doves Projekt Lucid Possession es vorführt – mithin gar verselbständigt? Inzwischen tendiert die Diskussion eher dahin, mit Lacan einzuräumen, dass Subjekte gewisse Virtualisierungsleistungen benötigen bzw. selbst erbringen müssen, um eine eigene Identität zu konstituieren und weiter auszubilden (auch in der Hirnforschung und Neurophysiologie gilt diese Annahme als bestätigt).16 Die virtuellen ‚Bühnen‘ der digitalen Netze bieten der medialen Inszenierung und Spiegelung des Selbst freilich ganz neue Foren, und die Folgen, die sich dort – zwischen ‚Vergnügen und Terror‘ – ergeben, sind, wie sich abzeichnet, in der Tat ambivalent. Ob all dies allerdings den ‚Tod‘ des Subjekts bedeutet bzw. ob dessen Beschreibung als ‚fragmentiert‘ oder gar ‚schizoid‘ notwendig zutrifft, steht, in kritischer Revision des Postmoderne-Diskurses, allerdings zunehmend in Zweifel. Geht es – im Spannungsfeld zwischen materiellen und virtuellen Bühnen, zwischen menschlichen Akteuren, Leiblichkeit, ‚digitalen Doubles‘ und medialen Netzen und Apparaten – nicht vielmehr um Medienkompetenz und die Frage nach der Steuerung von Bewusstseinsprozessen (‚Agency‘)? Toni Doves Projekt lässt, nach der soeben vorgestellten Interpretation, eben diese Fragen – live und auf der Theaterbühne – fast drängend zum Thema werden. Zwar wird die Anlage des Stücks, wie erwähnt, in der Projektskizze ihrerseits als „Schizoid Duett“ zwischen Bean und ihrem offenbar außer Rand und Band geratenen Avatar beschrieben. Während des gesamten Performance-Vorgangs wird aber – trotz aller Irritation (und obwohl sie physisch auf der Bühne nicht erscheint) – die Zentrierung auf die Figur der Bean nie aufgegeben. 13 „I propose that the experience of the self as other in the space of technology can be read as an uncanny experience, a making material of a split subjectivity“ (Causey 2006: 17). 14 Siehe Dixon, Steve: „The digital Double“, in: ders. 2007: 241-270; Ralf Remshardt: „Posthumanism“, in: Bay-Cheng et al. 2010, 135-139. 15 Siehe Remshardt 2008: 52-55. 16 Siehe Münker 2004: 342-345.
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Vielmehr wird (vor allem in den Filmsequenzen) gezeigt, wie Bean durch bestimmte Handlungen und Selbst-Management die Kontrolle bewahrt bzw. es wird vorgeführt, wie sie darum ringt und Kontrolle immer wieder herstellt. Dabei ist signifikant, dass Bean nicht nur Monologe, sondern auch Dialoge führt: nicht nur mit ihrer Freundin Tisi, sondern auch mit ihrem Avatar. „You are not really me“, sagt sie in einer Szene, und der Avatar meint zustimmend: „I am the part you want people to see […] but you’re the one who’s driving“. Somit gibt es ein ‚Ich‘ und ein ‚Du‘, und der Abend endet damit, dass Bean verkündet, dass der Avatar längst nicht alles über sie wisse: „She doesn’t know, she doesn’t know – she does not, you know...!“
„W HO ’ S DRIVING ?“ T ONI D OVES P ROJEKT ALS E XPERIMENTIERFELD UND K OMMENTAR ZUM D ISKURS UM DAS ‚P OSTHUMANE ‘ Die Frage ‚Wer steuert den Vorgang?‘ scheint auf mehreren Ebenen gleichsam die Schlüsselfrage des Abends zu sein. Sowohl auf der narrativen Ebene als auch auf der Ebene der Szenographie setzt sich das Stück mit Netzwerken auseinander und stellt – in einer verwobenen, partizipativen und interaktiven Struktur – selbst ein komplexes Netzgefüge her. Dieses Gefüge birgt ein Paradox: eigentlich – diese Erwartung wird zumindest üblicherweise mit dem Netzprinzip verbunden – müsste hier jeder Beteiligte (also jeder Knotenpunkt in diesem Netzwerk) gleichberechtigt und die Interaktion entsprechend offen, dynamisch und ungesteuert sein. Im Fall von Lucid Possession, wie sich schon andeutete, ist dies jedoch nicht so; die Struktur ist zwar offen, doch ganz dem Zufall überlassen wird wenig. Sogar die Regisseurin Toni Dove – geradezu als ‚Master Mind‘ – ist auf der Bühne anwesend, setzt dort immer wieder Impulse und steuert Teile des Vorgangs. Das Paradox, das sich hier zeigt, kennzeichnet, wie Steve Dixon ironisch vermerkt hat, viele jener multibzw. intermedialen Performances, die sich eigentlich dem Netzgedanken, dem Partizipatorischen oder gar dem ‚Posthumanen‘ verschrieben haben: „[T]he posthuman performer […] is typically a control freak, with acute awareness of the double as both an embodied representation and performed index of the self, not a separate, differentiated subject, nor far less some uncontrollable chimera“17. Von ‚split subjectivity‘ und Kontrollverlust – obwohl solche Konstellationen oft vorgeben, dies zu durchzuspielen – könne sofern kaum die Rede sein. Bei Toni Dove – wie erwähnt – ist die geradezu notorische Frage „Who’s driving?“ hingegen selbst Teil des Geschehens: explizit verhandelt wird auf der beschriebenen, intermedialen
17 Dixon 2007: 154.
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Bühne das Verhältnis zwischen dem leiblichen Selbst und den technisch mediatisierten Phänomenen, die es umgeben. Wer den Vorgang steuert: Toni Doves Versuchsanordnung führt, wie dargelegt, somit vor, dass die Entscheidung darüber in einem hochkomplexen, noch kaum verstandenen Feld ausgehandelt werden muss. Implizit legt die Versuchsanordnung zudem die Vermutung nahe, dass es offenbar vor allem Momente von Medienumbrüchen sind, die besondere Risiken für die Subjekte bergen. Dass zwischen Medienumbrüchen und der Transformation von Subjektformen kulturhistorische Zusammenhänge bestehen, ist ein weiterer, inhaltlicher Aspekt des Projekts: fast medienarchäologisch arbeitet es mit einer Reihe von Verweisen, die an vergangene Umbrüche (z.B. das Aufkommen des Films) erinnern oder auch an die schon seit der Moderne problematisierte Relation zwischen Mensch und Maschine sowie die damit verbundenen Subjektkrisen: u.a. zitiert es Collagen der Dadaisten, Figuren aus Fritz Langs Film Metropolis (die ‚schwarze Maria‘) sowie Figurinen Oskar Schlemmers.18 Vor allem – wie der Titel verrät – sind aber Elektrizität und künstliches Licht als moderne kulturelle Errungenschaften gleichsam ein Schlüsselthema des Projekts:19 In einer Szene schmückt Bean ihren Körper mit LED-Lämpchen, in einer anderen sieht man sie (via Filmbild) eintauchen in die glitzernde Lichterwelt Manhattans. Überhaupt wäre auf der Bühne von Lucid Possession freilich nichts zu sehen ohne elektrisches Licht, auch gäbe es keinen Film und ebenso wenig die so mächtig gewordenen elektronischen Netze, über die das Projekt reflektiert. Künstliches Licht illuminiert in den Szenarien von Lucid Possession gleichermaßen die menschlichen Körper und ihre virtuellen Erscheinungen; es macht die Körper und Dinge sichtbar bzw. unsichtbar, lässt sie anwesend oder abwesend erscheinen, lässt 18 Als Projektionsfläche für Beans Avatar ist, wie erwähnt, die eigens für das Projekt gebaute Roboter-Figurine von zentraler Bedeutung. Wie die im Internet publizierte Entwurfszeichnung zeigt, diente die Figur „Spirale“ (aus dem 3. Teil des Triadischen Balletts) dafür als Vorbild: ein Kostüm aus Glas, Metall und Stoff, das bei Schlemmer unter dem Stichwort „Entmaterialisierung“ firmierte und seine besondere Wirkung durch Lichtreflexe erhielt: „Lichtreflexe auf dem glasartigen Material sorgen für zusätzliche Wirkung des Kostüms. Schlemmer gelingt es mit der Spirale, die den Serpentinentänzen der legendären amerikanischen Jugendstil-Tänzerin Loïe Fuller mit ihren fließenden Licht- und Stoffbewegungen zugrundeliegende Idee in die feste Form des Bühnenkostüms zu übersetzen“. Scheper 1988: 45. Vgl. außerdem: www.lucidpossession.com/images/building _the_robot_scrim [15.04.2011]. 19 Auf die sich damit andeutenden, bisher wenig untersuchten Zusammenhänge zwischen Medienumbrüchen, Licht, unterschiedlichen Virtualisierungsphänomenen sowie Subjektkulturen kann an dieser Stelle nur hingewiesen werden; einige Anhaltspunkte gibt Zajonc in seiner Untersuchung Die gemeinsame Geschichte von Licht und Bewusstsein (2001).
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die Grenzen zwischen materieller und virtueller Welt zunehmend verschwimmen: Hier bedarf es immer nur eines Fingerzeigs, eines Knopfdrucks oder einer Manipulation an der geeigneten Schnittstelle, damit die Konstellationen sich ändern. Zusammenfassend könnten man sagen, dass Toni Dove auf dieser kaleidoskopischen, sich zwischen unterschiedlichsten Medien und Räumen situierenden Bühne ein neues (im modifizierten Sinne ‚posthumanes‘) Bild des Menschen reflektiert, dessen Bewusstsein und Subjektivität zwar weiterhin wie gewohnt in seinem Körperbild und leiblichen Wahrnehmungsapparat grundiert ist, dessen ‚In-der-WeltSein‘ sich jedoch – im Licht unserer vernetzten, zunehmend technisierten Kultur – signifikant verändert. Entsprechend macht die Hauptfigur Bean ungewohnte Erfahrungen: wie beschrieben, erfährt sie sich in einem ‚Flow‘ zwischen verschiedenen Welten, wobei sie es aber offenbar lernt, ihren permanent gefährdeten Subjektstatus – auch unter diesen Bedingungen – zu verteidigen und kreativ auszuhandeln.
S CHLUSSBEMERKUNG Toni Doves intermediales Work-in-Progress-Projekt, das mit den Mitteln des Theaters den Versuch unternimmt, ein so gänzlich andersartiges Medium wie das Internet künstlerisch zu thematisieren, ist sicherlich ein singuläres Projekt. Obschon es sich um eine Live-Performance handelt, sprengen solche Konfigurationen geradezu die Medialität des Theaters, das es sich – im Spannungsfeld zwischen Publikum und Akteuren – sonst eher zur Aufgabe macht, auf der Bühne Sichtbares zu verhandeln. Die Bühne von Lucid Possession hingegen, wie deutlich wurde, stellt sich eher dar als Bühne der Absenz bzw. virtuellen Präsenz: Ihr Zentrum bleibt leer, die Hauptfigur ist nicht (oder nur am Rande) physisch anwesend, und aus der Sicht des Zuschauers wird sie erkennbar als vernetztes, ‚verteiltes‘, gleichsam irrlichterndes Selbst. Der Produktion gelingt damit, ihr Thema ästhetisch zu umkreisen, zugleich verletzt sie dabei aber wesentliche Theaterkonventionen, namentlich die der physischen Präsenz. Wie das Projekt jedoch auch zeigt, liegt gerade die besondere Qualität der intermedialen Bühne darin, dass sie es vermag, einem rezenten Phänomen – der alltagsästhetischen Selbst-Inszenierung im Netz – eine Bühne zu geben, die eine spielerische Betrachtung und, wie deutlich wurde, zudem einen kritischen Diskurs ermöglicht.
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L ITERATUR Balme, Christopher: „Theater zwischen den Medien: Perspektiven theaterwissenschaftlicher Intermedialitätsforschung“, in: ders./Moninger, Markus (Hg.): Crossing Media. Theater – Film – Fotographie – Neue Medien. München: ePodium 2004, 13-31. Barkhoff, Jürgen/Böhme, Hartmut/Riou, Jeanne (Hg.): Netzwerke. Eine Kulturtechnik der Moderne. Köln/Weimar/Wien: Böhlau 2004. Bay-Cheng, Sarah et al. (Hg.): Mapping Intermediality in Performance. Amsterdam: University Press 2010. Becker, Barbara: „Selbst-Inszenierung im Netz“, in: Krämer, Sybille (Hg.): Performativität und Medialität. München: Fink 2004, 413-429. Causey, Matthew: „The Screen Test of the Double: The Uncanny Performer in the Space of Technology“ [orig. 1999], in: ders.: Theatre and Performance in Digital Culture. London/New York: Routledge 2006, 15-29. Dixon, Steve: Digital Performance. A History of New Media in Theater, Dance, Performance Art, and Installation. Cambridge/Mass./London: MIT Press 2007. Fischer-Lichte, Erika/Kolesch, Doris/Warstat, Matthias (Hg.): Metzler Lexikon Theatertheorie. Stuttgart/Weimar: Metzler 2005. Foucault, Michel: Dits et Écrits. Schriften, Bd. IV, 1980-1988. Frankfurt am Main: Suhrkamp 2005. Freud, Sigmund: Gesammelte Werke, Bd. 12. Hg. von Anna Freud. Frankfurt am Main: Fischer 1999. Haraway, Donna: Die Neuerfindung der Natur. Primaten, Cyborgs und Frauen. [orig. 1989] Hg. von Carsten Hammer und Immanuel Stieß. Frankfurt am Main/New York: Campus Verlag 1995. Hayles, Katherine N.: How we became Posthuman. Virtual Bodies in Cybernetics, Literature, and Informatics. Chicago/London: University of Chicago Press 1999a. Hayles, Katherine N.: „The Condition of Virtuality“, in: Lunenfeld, Peter: The Digital Dialectic. New Essays on New Media. Cambridge/Mass./London: MIT University Press 1999b, 69-94. Herrmann, Hans-Christian von: „Medialität“, in: Fischer-Lichte, Erika/Kolesch, Doris/Warstat, Matthias (Hg.): Metzler Lexikon Theatertheorie. Stuttgart/Weimar: Metzler 2005, 196-199. Krämer, Sybille (Hg.): Performativität und Medialität. München: Fink 2004. Lacan, Jacques: Schriften, Bd. 1. Hg. von Norbert Haas. Weinheim/Berlin: Quadriga 1986. Lunenfeld, Peter: The Digital Dialectic. New Essays on New Media. Cambridge/ Mass./London: MIT University Press 1999. Münker, Stefan: „Ich als Netzeffekt. Zur Konstitution von Identität als Prozess virtueller Selbsterschließung“, in: Barkhoff, Jürgen/Böhme, Hartmut/Riou,
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Abbildungen
S. 64
Foto: Janine Ortiz.
S. 79
Notenblatt: Paris: Christophe Ballard 1681.
S. 80
Notenblatt: Lüneburg: Lipper 1692.
S. 206
Zeichnung: Stefanie Husel nach einem Videostill der DVD Bloody Mess, Forced Entertainment 2004.
S. 244
Grafik: Kaspar Manz.
S. 251
Grafik: Kaspar Manz.
S. 289
Foto: Matthias Rick.
S. 292
Foto: Annika Wehrle.
S. 341
Holzschnitt: Der Zeichner des liegenden Weibes, 1538. Kupferstichkabinett Berlin.
S. 384
Foto: Janet Cardiff. A Survey of Works including Collaborations with George Bures Miller. Hg. von Carolyn Christov-Bakargiev, Long Island City: P.S. 1 Contemporary Art Center 2003.
S. 484
Filmstill: Es bildet ein Talent sich in der Stille – Zehn Jahre Max-Reinhardt-Schule. Regie: Evelyn Lazar, Deutsches Rundfunkarchiv Babelsberg 1961.
S. 485
Filmstill: Das Künstlerportrait – Wolfgang Heinz. Regie: Ingrid Sander, Deutsches Rundfunkarchiv Babelsberg 1961.
740 | A BBILDUNGEN
S. 537
Foto: Arwed Messmer.
S. 595
Foto: Arno Declair.
S. 598
Foto: Knut Klaßen.
S. 617
Foto: Laurent Goldring.
S. 618
Foto: Laurent Goldring.
S. 683
Foto: Rosa Frank.
S. 686
Foto: Augustin Rebetez.
S. 718
Fotos: Nada Žgank. Mit freundlicher Genehmigung der Künstlerin und Mesto Žensk/City of Women Festival.
S. 731
von links nach rechts: Foto: Carl Skutsch © Toni Dove (HERE Arts Center, New York, 2010). Foto: Karen Young © Toni Dove (EMPAC | Experimental Media and Performing Arts Center, Troy, N.Y. 2009, technische Probe). Videostill: NIGHTFROG/Benedict Mirow (Spielart-Festival, München 2009).
Autorinnen und Autoren
Vivien Aehlig studierte Theater- und Medienwissenschaft und Amerikanistik an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg und der University of Maryland, College Park (Fulbright-Stipendium). Seit 2008 ist sie Mitarbeiterin am Institut für Theater- und Medienwissenschaft der Universität Erlangen-Nürnberg. Joel Anderson ist Lecturer an der Central School of Speech and Drama, University of London. Er forscht und publiziert u.a. zu dramaturgischen Fragestellungen sowie zur Beziehung von Photographie und Theater. Mehrere Jahre hat er am Pariser Theater der Unterdrückten gearbeitet. Evelyn Annuß ist wissenschaftliche Mitarbeiterin im Rahmen des DFG-Forschungsprojekts „Chor im Thingspiel“ am Institut für Theaterwissenschaft der Ruhr-Universität Bochum. Veröffentlicht hat sie u.a. zum Theater Einar Schleefs, René Polleschs und Christoph Schlingensiefs. Michael Bachmann ist Juniorprofessor für Theaterwissenschaft an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz. Zu seinen Publikationen zählen u.a. Der abwesende Zeuge: Autorisierungsstrategien in Darstellungen der Shoah (2010) sowie Politik mit dem Körper: Performative Praktiken in Theater, Medien und Alltagskultur seit 1968 (hg. zus. mit Friedemann Kreuder, 2009). Petra Bolte-Picker war bis 2011 wissenschaftliche Mitarbeiterin und Studiengangkoordinatorin an der Justus-Liebig-Universität Gießen. Promotion: Die Stimme des Körpers – Vokalität im Theater der Physiologie des 19. Jahrhunderts bei Helga Finter 2011; weitere Veröffentlichungen zu Theater und Wissenschaft, Theatralität und Politik, zeitgenössischem Theater und Tanz.
742 | THEATER UND S UBJEKTKONS TITUTION
Annette Bühler-Dietrich ist Privatdozentin für Neuere Deutsche Literatur und Theaterwissenschaft an der Universität Stuttgart. Publikationen u.a. zum deutschsprachigen Drama und Theater im 19. und 20. Jahrhundert sowie zum afrikanischen Theater der Gegenwart. Anke Charton lehrt seit 2007 am Institut für Theaterwissenschaft der Universität Leipzig, wo sie auch promovierte. Publikationen u.a. zur Gesangs- und Stimmforschung, zur Operngeschichte und zum frühneuzeitlichen Geschlechtergefüge. Adam Czirak ist seit 2006 wissenschaftlicher Mitarbeiter im Sonderforschungsbereich „Kulturen des Performativen“ an der Freien Universität Berlin und verfasste im Rahmen des Teilprojektes „Ästhetik des Performativen“ eine Dissertation mit dem Titel: Partizipation der Blicke. Szenerien des Sehens und Gesehenwerdens. Julia Danielczyk ist seit 2009 stellvertretende Leiterin der Handschriftensammlung der Wienbibliothek, Lehrbeauftragte an der Universität Wien und Theaterkritikerin bei der Tageszeitung Salzburger Nachrichten sowie Die Furche. Publikationen u.a. zu Joe Berger, Hugo Wolf, zu Theater und Literatur des 19. Jahrhunderts sowie zum Gegenwartstheater. Miriam Drewes ist seit 2008 wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Theaterwissenschaft der LMU München. Publikationen u.a. Theater als Ort der Utopie. Zur Ästhetik von Ereignis und Präsenz; Die Passion des Künstlers. Kreativität und Krise im Film (hg. zus. mit Christopher Balme und Fabienne Liptay). Miriam Dreysse ist Professorin für Theaterwissenschaft und Dramaturgie für Performance und Theatertext am Studiengang Szenisches Schreiben der Universität der Künste Berlin. Publikationen u.a. über Einar Schleef, Rimini Protokoll, zeitgenössische Performance sowie Geschlechterkonstruktionen in Theater und Performance. Katharina Dufek war bis 2011 wissenschaftliche Assistentin am Institut für Theater-, Film- und Medienwissenschaft an der Universität Wien, wo sie weiterhin als externe Lektorin unterrichtet. Sie arbeitet an einer Dissertation zum französischen Theater des frühen 17. Jahrhunderts. Lutz Ellrich ist seit 2003 Professor am Institut für Medienkultur und Theater der Universität Köln. Publikationen u.a. zur Kommunikations- und Theatertheorie, zur Soziologie des Computers sowie zur Konflikt- und Gewaltforschung.
A UTORINNEN UND A UTOREN | 743
Andreas Englhart ist Privatdozent am Dept. Kunstwissenschaft der LMU München, Dozent am Centre for British Studies der Universität Bamberg u. Forschungsleiter des Projektes „Bühne als Brücke. Theater und Drama im polnisch-deutschen Kulturtransfer nach 1989“ der LMU und der Universität Lodz. Aktuelle Publikationen u.a.: Einführung in das Werk Friedrich Schillers; Junge Stücke. Theatertexte junger Autorinnen und Autoren im Gegenwartstheater (hg. zus. mit Artur Pelka). Wolf-Dieter Ernst ist seit 2010 Professor für Theaterwissenschaft an der Universität Bayreuth. Zahlreiche Veröffentlichung zur Theorie, Geschichte und Ästhetik von Theater, Performance und neuen Medien. Tony Fisher ist Lecturer für Drama an der Central School of Speech and Drama, University of London. Zu seinen Forschungsinteressen zählt das Verhältnis von Politik, Philosophie und Performance; er hat Aufsätze in internationalen Zeitschriften wie Performance Research, Cultural Theory und Continental Philosophy Review veröffentlicht. Susanne Foellmer ist tätig am Institut für Theaterwissenschaft der Freien Universität Berlin sowie als Dramaturgin u.a. für die Tanzcompagnie Rubato, Compagnie Isabelle Schad u. Jeremy Wade. Arbeitsschwerpunkte: Tanz der 1920er Jahre sowie zeitgenössische darstellende Kunst, mit Fokus auf ästhetischer und Körper-Theorie in Tanz, Performance und visuellen Medien. Caroline Fries ist Doktorandin des internationalen Promotionsprogramms (IPP) „Performance and Media Studies“ und war von 2010 bis 2012 wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Theaterwissenschaft der Universität Mainz. Seit 2012 arbeitet sie in Israel an ihrer Promotion (Minerva-Stipendium) über performative Vergemeinschaftungsstrategien kultureller Erinnerung der Shoah. Barbara Gronau ist Juniorprofessorin für Theaterwissenschaft am Institut für Medien- und Kulturwissenschaft der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf. Publikationen u.a. zum Gegenwartstheater, zum Verhältnis von Theater und Bildender Kunst, Performance Art und Performativität. Martina Groß ist seit 2008 wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Theater-, Film- und Medienwissenschaft der Goethe-Universität Frankfurt am Main. Publikationen u.a. zum Théâtre de la Foire, zum Theater um 1700 und zum Gegenwartstheater.
744 | THEATER UND S UBJEKTKONS TITUTION
Sebastian Hauck ist wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Universität Leipzig. Promotion zum Thema Die Harmonie der Sphären und der Wahnsinn der Isabella. Florentiner Intermedien und Commedia all'improvviso. Eine Monade. Publikationen zu Theater im barocken Rom, zum Verhältnis von Lebens- und Nicht-Theater. Carl Hegemann ist Professor für Dramaturgie an der Hochschule für Musik und Theater "Felix Mendelssohn Bartholdy" in Leipzig und seit der Spielzeit 2011/2012 Dramaturg am Thalia Theater Hamburg sowie seit 2004 Dramaturg bei den Bayreuther Festspielen. Publikationen u.a. Identität und Selbst-Zerstörung; Plädoyer für die unglückliche Liebe – Texte über Paradoxien des Theaters 1980-2005. Beate Hochholdinger-Reiterer ist Assistenzprofessorin am Institut für Theater-, Film- und Medienwissenschaft der Universität Wien u. zur Zeit Vertretungsprofessorin am Institut für Theaterwissenschaft der Universität Bern. Publikationen u. a. zu Theater, Schauspielkunst und Dramatik im 18. Jahrhundert, Genderforschung und Gegenwartsdramatik. Eva Holling ist seit 2010 wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Angewandte Theaterwissenschaft der Justus-Liebig-Universität Gießen. Monographie zu Theater im Stadtraum, zudem Aktivitäten in der künstlerischen Praxis und als freie Autorin. Stefanie Husel promoviert über Inszenierungen Forced Entertainments und deren Aufführungssituationen. Sie arbeitete in unterschiedlichen Theaterberufen, z.B. als Festivalproduzentin, Dramaturgin und Beleuchterin. Die Gruppe Forced Entertainment hat sie seit 2003 immer wieder ethnographisch begleitet. Sabine Kim ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Department of English and Linguistics der Johannes Gutenberg-Universität und Doktorandin im Internationalen Promotionsprogramm „Performance and Media Studies“ (Mainz). Ihre Dissertation beschäftigt sich mit dem Verhältnis von Klang und Schreiben in künstlerischen Praktiken seit dem 19. Jahrhundert. Sebastian Kirsch ist Theaterwissenschaftler und Redakteur von Theater der Zeit. Von 2008 bis 2011 war er Mitarbeiter am Bochumer Institut für Theaterwissenschaft, wo er 2011 seine Dissertation über Das Reale der Perspektive abgeschlossen hat. Corinna Kirschstein arbeitet derzeit an ihrem Habilitationsprojekt Formationsprozesse von Theater in der Frühen Neuzeit. Publikationen u.a. zur Fachgeschichte und zur Theatergeschichte der Frühen Neuzeit des 20. Jahrhunderts.
A UTORINNEN UND A UTOREN | 745
Anja Klöck ist seit 2003 Professorin für Schauspiel an der Hochschule für Musik und Theater „Felix Mendelssohn Bartholdy“ in Leipzig. Publikationen u.a. zur historischen Avantgarde, zu Schauspiel- und Mediendiskursen seit der frühen Neuzeit und zum Gegenwartstheater. Doris Kolesch ist Professorin für Theaterwissenschaft an der FU Berlin. Veröffentlichungen u.a.: Theater der Emotionen. Ästhetik und Politik zur Zeit Ludwigs XIV. (2006); Herausgeberschaften u.a.: Stimm-Welten. Philosophische, medientheoretische und ästhetische Perspektiven (2008, zus. mit Vito Pinto und Jenny Schrödl), Lexikon Theatertheorie (2005, zus. mit Erika Fischer-Lichte und Matthias Warstat). Andreas Kotte ist seit 1992 Professor und Institutsleiter der Theaterwissenschaft an der Universität Bern. Publikationen u.a. zur systematischen Theaterwissenschaft und Theatergeschichte, Hg. des Theaterlexikons der Schweiz und der beiden Publikationsreihen Theatrum Helveticum und Materialien des ITW Bern. Friedemann Kreuder ist seit 2005 Professor und Institutsleiter der Theaterwissenschaft an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz. Publikationen u.a. zu Klaus Michael Grüber, zum Theater des 18. Jahrhunderts und zum Gegenwartstheater. Eva Krivanec ist wissenschaftliche Assistentin am Institut für Theater-, Film- und Medienwissenschaft der Universität Wien. Im Februar 2012 erschien ihre Monographie Kriegsbühnen. Theater im Ersten Weltkrieg. Berlin, Lissabon, Paris und Wien; Aufsatzpublikationen zum Theater im Krieg, zum jüdischen Theater und zu populärem Unterhaltungstheater. Branislava Kuburoviü ist Associate Lecturer im Master-Studiengang Art Theory am Chelsea College of Art & Design und bei Goldsmiths, University of London. Ihre Publikationen beschäftigen sich u.a. mit dem Verhältnis von traumatischer Erinnerung und Performance sowie mit Intimität in bzw. von Performance-Kunst; insbesondere setzt sie sich mit der Arbeit zeitgenössischer Künstler/-innen auseinander. Bianca Michaels ist wissenschaftliche Assistentin am Institut für Theaterwissenschaft der LMU München. Gemeinsam mit Prof. Christopher Balme leitet sie die berufsbegleitende Weiterbildung Theater- und Musikmanagement an der LMU. Forschungsgebiete: Theater als Institution, Cultural Governance, Theater und Kulturpolitik, zeitgenössisches Musiktheater, (Musik-)Theater und audiovisuelle Medien.
746 | THEATER UND S UBJEKTKONS TITUTION
Nikolaus Müller-Schöll ist seit 2011 Professor für Theaterwissenschaft am Institut für Theater-, Film- und Medienwissenschaft sowie Leiter des Masterstudiengangs Dramaturgie an der Goethe-Universität Frankfurt. Publikationen u.a. zu Walter Benjamin, Bertolt Brecht, Heiner Müller, zum Komischen (17.-20. Jahrhundert) und zu Gegenwartstheater und -performance. Julia Pfahl ist seit 2008 wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Film-, Theater- und empirische Kulturwissenschaft der Johannes Gutenberg-Universität Mainz. Publikationen u.a. zum Verhältnis von Theater und Medien, zu Robert Lepage sowie zu interkulturellen Fragestellungen. Gabriele C. Pfeiffer ist seit 2012 Gastprofessorin und seit 2010 Vizestudienprogrammleiterin am Institut für Theater-, Film- und Medienwissenschaft der Universität Wien. Publikationen u.a. zu inter- und transkulturellem Theater, experimentellen Theaterphänomenen des 20. und 21. Jahrhunderts wie z.B. Carmelo Bene sowie zum Dario Fo-Theater in den Arbeiterbezirken. Daniela Pillgrab hat seit Januar 2012 eine Hertha Firnberg-Stelle des FWF am Institut für Theater-, Film- und Medienwissenschaft der Universität Wien. Aktuelle Publikation: Inszenierung von ‚Weiblichkeit‘. Zur Konstruktion von Körperbildern in der Kunst (2011), hg. zus. mit Christine Ehardt, Marina Rauchenbacher und Barbara Alge. André Schallenberg ist seit 2011 Künstlerischer Produktionsleiter der Ruhrtriennale. Zuvor war er wissenschaftlicher Mitarbeiter für Theaterforschung an der Universität Hamburg. Publikationen u.a. zu Audiokunst, Moskauer Konzeptualismus und Barocktheater. Christina Schmidt ist Theaterwissenschaftlerin und lebt in Berlin. Promotion an der Ruhr-Universität Bochum zur Szenographie des Chors bei Einar Schleef. Publikationen u.a. zum Gegenwartstheater sowie zur Problematik des Bühnenraums. Monographie: Tragödie als Bühnenform. Einar Schleefs Chor-Theater. Jenny Schrödl ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Theaterwissenschaft der Freien Universität Berlin. Arbeitsschwerpunkte und Publikationen u.a. zum Gegenwartstheater, zur Ästhetik der Stimme, zur ästhetischen Erfahrung sowie zu Gender Performances. Dania Schüürmann ist seit 2009 wissenschaftliche Mitarbeiterin der Transkulturellen Studien an der Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg.
A UTORINNEN UND A UTOREN | 747
Constanze Schuler ist seit 2007 Akademische Rätin am Institut für Film-, Theaterund empirische Kulturwissenschaft an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz. Breitgefächerte Lehrtätigkeit im Fach Theaterwissenschaft; Publikationen u.a. zu den Salzburger Festspielen und zum Verhältnis von Theater und Raum. Gerald Siegmund ist seit 2012 Professor für Angewandte Theaterwissenschaft an der Justus-Liebig-Universität Gießen. Publikationen u.a. zu William Forsythe, zum Tanz und Theater der Gegenwart. Julia Stenzel ist seit 2012 Juniorprofessorin für Theaterwissenschaft an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz. Publikationen u.a. zum Potential wahrnehmungstheoretischer Modelle für die Theaterwissenschaft, zum Theater der Antike und seiner Rezeption im 19. Jahrhunderts sowie zum Tanztheater des 20. Jahrhunderts. Clemens Stepina ist Privatdozent und war 2011 Vertretungsprofessor am Kölner Institut für Theater-, Film- und Fernsehwissenschaften. Er ist Vorstandsmitglied des iTi Unesco Österreich. Interessensschwerpunkte und zahlreiche Publikationen auf dem Gebiet der Handlungs- und Sozialphilosophie sowie zur Methodologie der interdisziplinären Theater- und Medienwissenschaft. Christina Thurner ist seit 2007 Professorin für Tanzwissenschaft am Institut für Theaterwissenschaft der Universität Bern. Publikationen u.a. zur Tanzgeschichte (seit dem 17. Jahrhundert) und -historiographie sowie zum zeitgenössischen Tanz. Stefan Tigges ist wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Ruhr-Universität Bochum. Publikationen u.a: Von der Weltseele zur Über-Marionette. Cechovs Traumtheater als avantgardistische Versuchsanordnung (2010); Das Drama nach dem Drama. Verwandlungen dramatischer Formen in Deutschland nach 1945 (hg. zus. mit Artur Pelka, 2011). Sandra Umathum ist seit 2010 Vertretungsprofessorin für Dramaturgie an der Hochschule für Musik und Theater „Felix Mendelssohn Bartholdy“ in Leipzig. Publikationen u.a. zu den Relationen von Theater und bildender Kunst seit den 1950er Jahren, zu Ästhetik und Theorie der Performance Art und des Gegenwartstheaters. Dorothea Volz arbeitete 2008 bis 2011 als wissenschaftliche Mitarbeiterin der Theaterwissenschaft an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz. Sie ist Stipendiatin der Stipendienstiftung Rheinland-Pfalz und promoviert über Inszenierungsstrategien europäischer Identitäten.
748 | THEATER UND S UBJEKTKONS TITUTION
Meike Wagner ist seit 2006 wissenschaftliche Assistentin am Institut für Theaterwissenschaft der LMU München und habilitierte sich 2011 mit einer Schrift zu Theater und Öffentlichkeit im Vormärz. Publikationen u.a. zum Theater des 19. Jahrhunderts, Gegenwartstheater, Figurentheater und zu neuen Medien. Matthias Warstat ist seit 2008 Inhaber des Lehrstuhls für Theater- und Medienwissenschaft an der Universität Erlangen-Nürnberg. Publikationen u.a. zu Wirkungsästhetiken des Theaters, zur Kulturgeschichte der Avantgarden und zur Theatralität des Politischen. Stefanie Watzka ist seit 2006 wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Film-, Theater und empirische Kulturwissenschaft an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz. Publikationen u.a. zum Theater des 19. Jahrhunderts. Annika Wehrle ist seit 2009 wissenschaftliche Mitarbeiterin der Theaterwissenschaft an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz und Koordinatorin des Internationalen Promotionsprogramms IPP „Performance and Media Studies“. Sie veröffentlichte eine Monographie zum Festival d‘Avignon. Birgit Wiens realisiert derzeit das DFG-geförderte Forschungsprojekt „Intermediale Szenographie. Raum-Ästhetiken des Theaters am Beginn des 21. Jahrhunderts“ am Institut für Theaterwissenschaft der Ludwig-Maximilians-Universität München. Publikationen u.a. zu Adolphe Appia, zur Schauspieltheorie der Goethezeit sowie zur Szenographie im Theater der Gegenwart. Katharina Wild ist freiberuflich als Autorin, Dozentin und Journalistin in den Bereichen Theater und Film tätig. 2011 erschien ihre Monographie Schönheit. Die Schauspieltheorie Edward Gordon Craigs bei Theater der Zeit. Steve Wilmer ist Professor für Drama und war Leiter der School of Drama, Film and Music am Trinity College Dublin. Zu seinen jüngsten Buchveröffentlichungen zählen die Sammelbände Interrogating Antigone in Postmodern Philosophy and Criticism (zus. mit Audronơ Žukauskaitơ, 2010), Native American Performance and Representation (2009) sowie Reflections on Beckett (hg. zus. mit Anna McMullan, 2009). Yu-Chien Wu ist Doktorandin an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz. Ihre Promotion beschäftigt sich mit Praktiken der Selbstverletzung in zeitgenössischer Performancekunst und untersucht dabei die Rolle der Haut aus psychoanalytischer und feministischer Perspektive sowie mit Bezug auf Diskurse des Post-Humanen.
Theater Nina Birkner, Andrea Geier, Urte Helduser (Hg.) Spielräume des Anderen Geschlecht und Alterität im postdramatischen Theater November 2012, ca. 300 Seiten, kart., ca. 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1839-6
Eckhard Mittelstädt, Alexander Pinto (Hg.) Die Freien Darstellenden Künste in Deutschland Diskurse – Entwicklungen – Perspektiven Februar 2013, ca. 280 Seiten, kart., zahlr. Abb., 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1853-2
Ulf Otto Internetauftritte Eine Theatergeschichte der neuen Medien November 2012, ca. 300 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 28,80 €, ISBN 978-3-8376-2013-9
Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de
Theater Patrick Primavesi, Jan Deck (Hg.) Stop Teaching! Neue Theaterformen mit Kindern und Jugendlichen Dezember 2012, ca. 300 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1408-4
Jens Roselt, Ulf Otto (Hg.) Theater als Zeitmaschine Zur performativen Praxis des Reenactments. Theater- und kulturwissenschaftliche Perspektiven August 2012, 264 Seiten, kart., zahlr. Abb., 27,80 €, ISBN 978-3-8376-1976-8
Wolfgang Schneider (Hg.) Theater und Migration Herausforderungen für Kulturpolitik und Theaterpraxis 2011, 236 Seiten, kart., 24,80 €, ISBN 978-3-8376-1844-0
Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de
Theater Martin Bieri Neues Landschaftstheater Landschaft und Kunst in den Produktionen von »Schauplatz International« August 2012, 430 Seiten, kart., zahlr. z.T. farb. Abb., 39,80 €, ISBN 978-3-8376-2094-8
Johanna Canaris Mythos Tragödie Zur Aktualität und Geschichte einer theatralen Wirkungsweise 2011, 370 Seiten, kart., 34,80 €, ISBN 978-3-8376-1565-4
Adam Czirak Partizipation der Blicke Szenerien des Sehens und Gesehenwerdens in Theater und Performance Februar 2012, 326 Seiten, kart., 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1956-0
Jan Deck, Angelika Sieburg (Hg.) Politisch Theater machen Neue Artikulationsformen des Politischen in den darstellenden Künsten 2011, 186 Seiten, kart., 24,80 €, ISBN 978-3-8376-1409-1
Andreas Englhart, Artur Pelka (Hg.) Junge Stücke Theatertexte junger Autorinnen und Autoren im Gegenwartstheater November 2012, ca. 300 Seiten, kart., ca. 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1734-4
Susanne Valerie Granzer Schauspieler außer sich Exponiertheit und performative Kunst. Eine feminine Recherche
Eva Krivanec Kriegsbühnen Theater im Ersten Weltkrieg. Berlin, Lissabon, Paris und Wien Januar 2012, 380 Seiten, kart., zahlr. Abb., 33,80 €, ISBN 978-3-8376-1837-2
Annemarie Matzke Arbeit am Theater Eine Diskursgeschichte der Probe Juni 2012, 314 Seiten, kart., 32,80 €, ISBN 978-3-8376-2045-0
Katharina Pewny Das Drama des Prekären Über die Wiederkehr der Ethik in Theater und Performance 2011, 336 Seiten, kart., 32,80 €, ISBN 978-3-8376-1651-4
Jens Roselt, Christel Weiler (Hg.) Schauspielen heute Die Bildung des Menschen in den performativen Künsten 2011, 268 Seiten, kart., zahlr. Abb., 25,80 €, ISBN 978-3-8376-1289-9
Jenny Schrödl Vokale Intensitäten Zur Ästhetik der Stimme im postdramatischen Theater Mai 2012, 318 Seiten, kart., mit CD-ROM, 35,80 €, ISBN 978-3-8376-1851-8
Berenika Szymanski Theatraler Protest und der Weg Polens zu 1989 Zum Aushandeln von Öffentlichkeit im Jahrzehnt der Solidarnosc Februar 2012, 310 Seiten, kart., 32,80 €, ISBN 978-3-8376-1922-5
2011, 162 Seiten, kart., 19,80 €, ISBN 978-3-8376-1676-7
Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de
Zeitschrif t für Kultur wissenschaf ten Dorothee Kimmich, Schamma Schahadat (Hg.)
Essen Zeitschrift für Kulturwissenschaften, Heft 1/2012
Mai 2012, 202 Seiten, kart., 8,50 €, ISBN 978-3-8376-2023-8 Der Befund zu aktuellen Konzepten kulturwissenschaftlicher Analyse und Synthese ist ambivalent. Die Zeitschrift für Kulturwissenschaften bietet eine Plattform für Diskussion und Kontroverse über »Kultur« und die Kulturwissenschaften – die Gegenwart braucht mehr denn je reflektierte Kultur sowie historisch situiertes und sozial verantwortetes Wissen. Aus den Einzelwissenschaften heraus wird mit interdisziplinären Forschungsansätzen diskutiert. Insbesondere jüngere Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen kommen dabei zu Wort. Lust auf mehr? Die Zeitschrift für Kulturwissenschaften erscheint zweimal jährlich in Themenheften. Bisher liegen 11 Ausgaben vor. Die Zeitschrift für Kulturwissenschaften kann auch im Abonnement für den Preis von 8,50 € je Ausgabe bezogen werden. Bestellung per E-Mail unter: [email protected]
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