Tendenzen der Globalisierung der literarischen Kommunikation im Europa der Frühen Neuzeit: Diskurstypen, Gattungen und Motive 9783737003520, 9783847103523, 9783847003526


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Tendenzen der Globalisierung der literarischen Kommunikation im Europa der Frühen Neuzeit: Diskurstypen, Gattungen und Motive
 9783737003520, 9783847103523, 9783847003526

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Beatrice Nickel

Tendenzen der Globalisierung der literarischen Kommunikation im Europa der Frühen Neuzeit Diskurstypen, Gattungen und Motive

Mit 2 Abbildungen

V& R unipress

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISBN 978-3-8471-0352-3 ISBN 978-3-8470-0352-6 (E-Book) Ó 2014, V& R unipress in Göttingen / www.vr-unipress.de Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Printed in Germany. Druck und Bindung: CPI buchbuecher.de GmbH, Birkach Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier.

Für Christina und Justus Maximilian

Inhalt

1. Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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2. Die Diffusion von Diskurstypen und die Teilglobalisierung poetischer Produktion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1 Die Ausdifferenzierung des petrarkistischen Liebesdiskurses . . . 2.2 Zur Adaption des petrarkistischen Systems durch die schreibende Frau . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2.1 Vorbemerkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2.2 Vittoria Colonna, Rime (1538) . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2.3 Gaspara Stampa, Rime (1554) . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2.4 Louise Lab¦, Sonnets (1555) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3 Transformationen des petrarkistischen Liebesdiskurses . . . . . . 2.4 Zur Pluralisierung des Liebesdiskurses . . . . . . . . . . . . . . . 2.4.1. Lukrezianischer Hedonismus . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.4.1.1 Pierre de Ronsard, Les Amours de Cassandre (1552) . 2.4.1.2 Herrn von Hofmannswaldau und andrer Deutschen auserlesener und bißher ungedruckter Gedichte (1695 – 1727) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.4.1.3 Pietro Aretino, I modi / Sonetti lussuriosi (um 1525) . 2.4.2 Zur Amalgamierung von Liebesdiskursen . . . . . . . . . . 2.4.2.1 Lope de Vega, Rimas (1602) . . . . . . . . . . . . . . 2.4.2.2 William Shakespeare, Sonnets (1609) . . . . . . . . . 2.5 Schlussbemerkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

63 65 69 69 74 76

3. Gattungsentwicklung unter den Bedingungen literarischer Teilglobalisierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1 Die Novelle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1.1 Giovanni Boccaccio, Il decameron (um 1530, EA 1353) . . 3.1.2 Geoffrey Chaucer, Canterbury Tales (um 1478) . . . . . . . 3.1.3 Marguerite de Navarre, L’Heptam¦ron (vor 1549, EA 1558)

77 78 86 92 95

. . . . .

17 17 22 22 25 27 32 48 56 60 60

8

Inhalt

3.1.4 Miguel de Cervantes, Novelas ejemplares (um 1590 – 1612, EA 1613) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2 Das Sonett . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2.1 Poetologischer Diskurs im Sonett . . . . . . . . . . . . . . 3.2.2 Das Sonett in Honor¦ d’Urf¦s Pastoralroman L’Astr¦e (1607 – 1628): Im Spannungsfeld zwischen Tradition und Innovation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2.3 Das Sonett im Spanien des 16. und 17. Jahrhunderts . . . 3.2.4 Schlussbetrachtungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

. . .

102 110 119

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142 151 166

4. Literarische Motive und ihre europaweite Verbreitung in der Frühen Neuzeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.1 Der Romeo-und-Julia-Stoff . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.1.1 Romeo und Julia in Italien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.1.1.1 Luigi da Porto, Historia novellamente ritrovata di due nobili amanti (um 1524) . . . . . . . . . . . . . 4.1.1.2 Matteo Bandello, La sfortunata morte di dui infelicissimi amanti che l’uno di veleno e l’altro di dolore morirono, con vari accidenti (1554) . . . . . . 4.1.2 Romeo und Julia in Frankreich . . . . . . . . . . . . . . . . 4.1.2.1 Pierre Boaistuau, De deux amans, dont l’un mourut de venin, l’autre de tristesse (1559) . . . . . . . . . . 4.1.2.2 Loys Guyon, Histoire d’une damoiselle Veronoise (1604) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.1.3 Romeo und Julia in England . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.1.3.1 Arthur Brooke, The Tragicall Historye of Romeus and Iuliet, written first in Italian by Bandell, and nowe in Englishe by Ar. Br. (1562) . . . . . . . . . . . 4.1.3.2 William Shakespeare, The Most Excellent and Lamentable Tragedie of Romeo and Juliet (EA 1597) . 4.1.4 Romeo und Julia in Spanien . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.1.4.1 Lope de Vega, Castelvines y Monteses (vor 1610, EA 1647) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.1.4.2 Francisco de Rojas Zorrilla, La gran Comedia famosa de Los bandos de Verona (vor 1640, EA 1645) 4.1.5 Romeo und Julia in Deutschland . . . . . . . . . . . . . . . 4.1.5.1 Georg Philipp Harsdörffer, Die vezweiffelte Liebe (1649) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.1.5.2 Anonym, Schawplatz der Verliebten (1669) . . . . . . 4.1.6 Schlussbemerkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

169 169 172 172

173 176 176 179 181

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Inhalt

4.2 Literarische Flüge zum Mond . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.2.1 Johannes Kepler, Somnium, seu opus posthumus de astronomia lunari (um 1609, EA 1634) . . . . . . . . . . . . 4.2.2 Francis Godwin, The Man in the Moone Or a Discovrse of a Voyage thither by Domingo Gonsales, the Speedy Messenger (um 1627, EA 1638) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.2.3 Cyrano de Bergerac, Histoire comique des ¦tats et empires de la lune (um 1649, EA 1657) . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.2.4 Schlussbemerkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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5. Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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6. Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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1.

Einleitung

Wir leben bekanntermaßen in Zeiten der Globalisierung, egal, ob man diesen Umstand positiv oder negativ bewertet. Der Begriff der Globalisierung ist geradezu zu einem Leitmotiv des Weltverständnisses im 20. Jahrhundert geworden, und zwar in den unterschiedlichsten Bereichen. Kaum ein anderer Begriff scheint dessen Charakter treffender zu beschreiben. Dabei wird der Blick zunehmend darauf verstellt, dass das Phänomen der Globalisierung ab dem Ende des 20. Jahrhunderts als das Produkt langwieriger entwicklungsgeschichtlicher Prozesse, von der nicht zuletzt auch die (europäische) Literatur und deren Vernetzung Zeugnis ablegen, begriffen werden muss. In diesem Bereich haben sich viele Ideen und Konzepte seit Jahrhunderten oder gar seit Jahrtausenden weit über ihren Entstehungsort hinaus verbreitet. In diesem Kontext sind vor allem die diversen romanischen und angelsächsischen Schübe zu partiellen Globalisierungen von Bedeutung, denn sie bilden den historischen Hintergrund für die Herausbildung jener vielzitierten Weltliteratur, die den Horizont der Komparatistik darstellt. Die Verwendung von Epochenbegriffen ist stets mit Problemen und Risiken verbunden. Die Lage wird zunehmend schwieriger, wenn ein Epochenbegriff sich auf mehr als ein Land beziehen soll. Einen gemeinsamen Epochenbegriff für Gesamteuropa zu finden, der das 15. bis 17. Jahrhundert abdeckt, ist ein schwieriges Unternehmen, da in den verschiedenen europäischen Ländern unterschiedliche Epochenumbrüche anzusetzen sind.1 Aus diesem Grund wurde im Titel der vorliegenden Untersuchung statt des hochgradig problematischen Renaissance-Begriffs derjenige der Frühen Neuzeit gewählt, auch wenn dieser das Problem nur graduell verkleinert. In Ermangelung einer sinnvollen Alternative und im vollen Bewusstsein der mit dem Begriff einhergehenden Problematik ist die Wahl auf ihn gefallen. Im Kern bezeichnet der Begriff der Frühen Neuzeit hier das 16. und 17. Jahrhundert, aus denen die meisten der literarischen Beispiele, die dieser Untersuchung zugrunde liegen, stammen. In einzelnen 1 Vgl. hierzu Buschhaus: 1984.

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Einleitung

Kapiteln wurden diesen der Vollständigkeit halber jedoch literarische Texte aus dem 14. und 15. Jahrhundert zur Seite gestellt, wann immer dies sinnvoll erschien. Üblicherweise wird der Beginn der Globalisierung frühestens mit der Beschleunigung der internationalen Austauschprozesse seit dem 19. Jahrhundert angesetzt. Im Sinne einer archäologischen Sichtung der Globalisierung sind jedoch erheblich frühere Prozesse ins Auge zu fassen und zu untersuchen. Dazu gehören Tendenzen zur Internationalisierung der europäischen Literatur, die sich sowohl in formal-ästhetischer wie auch in inhaltlicher Hinsicht manifestieren. Diese können schon in Stoff- und Formtransfer im 12. Jahrhundert erkannt werden. Auch wenn wir schon in der Frühen Neuzeit globale kulturelle Transferprozesse verzeichnen können, so findet der Kulturtransfer primär innerhalb Europas statt. Nichtsdestoweniger können wir zu Recht von Tendenzen der Globalisierung, die sich mit dem Begriff der europäischen Teilglobalisierung beschreiben lassen, sprechen. Dies soll im Folgenden aufgezeigt werden, und zwar anhand von Diskurstypen, Gattungen und Motiven. Ausgangspunkt ist die Tatsache, dass sich mit der ersten Teilglobalisierung, nämlich der französischen, spanischen und portugiesischen Expansion nach Amerika und Asien, auch in Europa das frühneuzeitliche literarische Gattungssystem herausbildet. Frankreich nimmt in diesem Kontext insofern eine Sonderrolle ein, als hier bereits ab etwa 1360 eine für das Europa der damaligen Zeit einzigartige Übersetzungstätigkeit antiker sowie italienischer Texte einsetzt und von der Krone gefördert wird. Es werden beispielsweise alle in lateinischer Sprache verfügbaren Schriften des Aristoteles ins Französische übertragen. Übersetzt werden dabei auch jene Texte, die maßgeblichen Einfluss auf die Entwicklung der frühneuzeitlichen europäischen Literatur haben, nämlich die Poetik des Aristoteles, die davor nur in Form einer kurzen lateinischen Paraphrase verfügbar war, und die poetologisch relevanten Aussagen Platons (in der Politeia und vor allem im Dialog Ion). Signifikanterweise ist die erste PlatonAusgabe am Ausgang des 15. Jahrhunderts das Ergebnis eines mediterranen Publikationsprojektes: Marsilio Ficino (1433 – 1499) hat vom Kardinal und Humanisten Basilius Bessarion (1403 – 1472) die finanziellen Mittel erhalten, um eine kritische Ausgabe der Dialoge Platons herstellen zu können. Marsilio Ficino hat darüber hinaus auch an der Erschließung anderer antiker Quellen mitgewirkt, zum Beispiel durch seine Kommentierung der Enneaden Plotins. Dies sind nur einzelne Beispiele für die mit Intensität in der Frühen Neuzeit in Europa betriebenen Anstrengungen zur Verbreitung als wichtig erachteter Schriften antiker Autoren, u. a. auch der einschlägigen Texte zur antiken Literaturtheorie. Im Ergebnis werden die dichtungstheoretischen Positionen von Platon und Aristoteles zu Referenzpunkten der europäischen Poetik. Das heißt, einerseits die Vorstellung, dass die Poesie eine Form von Mimesis ist, also

Einleitung

13

Handlungen von Menschen auf eine ganz bestimmte poetische und wahrscheinliche Weise nachbildet, und andererseits die Vorstellung, dass der Dichter im furor poeticus dichtet. Die Auffassung von der Dichtung als einem erlernbaren Handwerk, einer ars/techn¦ steht hier der Inspirationslehre gegenüber. Gänzlich unter Absehung nationaler literarischer Traditionen wird das, was man üblicherweise als Renaissance bezeichnet, – auf die Problematik dieses Begriffs wurde bereits hingewiesen – zum allgemeinen Hintergrund des literaturtheoretischen Denkens in Europa und damit zur maßgeblichen Grundlage der weiteren literarischen Entwicklung. Zu dieser Zeit also entwickeln sich literaturtheoretische Diskurse, die sich auf antike Vorbilder beziehen, was jedoch nicht heißt, dass bestimmte Positionen des Mittelalters in Vergessenheit und daher völlig außer Gebrauch geraten. Exemplarisch lässt sich dieser Befund an Frankreich aufzeigen: Hier belegt dies beispielsweise die Novelle, deren erste Spuren wir im 12. Jahrhundert in der Polemik des Bernard de Clairvaux gegen die die novela vel levia lesenden Mönche finden.2 Dieses Urteil zeigt, dass Novellen oder novellenhafte Erzählungen schon früh eine Rolle gespielt haben müssen. Mittelalterliche Verurteilungen haben sich langfristig jedoch nicht durchsetzen können, weil die Neuigkeit, das charakteristische Merkmal dieser Kurzerzählungen, ganz offensichtlich ein menschliches Grundbedürfnis befriedigt. Im Frankreich des 16. Jahrhunderts bleiben auch die mittelalterliche chanson de geste und der roman courtois in Prosaform im Umlauf. Wir wissen, dass Francois I. (1494 – 1547) den Druck von altfranzösischen Prosaromanen gefördert hat. Dabei haben die chanson de geste und der roman courtois bereits seit dem ausgehenden 12. Jahrhundert zu europäischen Nachbildungen inspiriert, und noch in den Epen des 15. und 16. Jahrhunderts ist deren Einfluss zu verspüren, wenn auch ins Burleske gewendet. Dies können wir als Schwundstufe des ursprünglichen Modells deuten. Beispiele hierfür sind neben anderen Matteo Maria Boiardos Orlando innamorato (1495) und Ludovico Ariostos Orlando Furioso (1532). Und schließlich bleibt auch das Sonett erhalten, das vermutlich die Transformation einer nicht identifizierbaren Gedichtform aus Südfrankreich darstellt, die in Sizilien entwickelt wurde.3 Ebenso wie im Falle des roman courtois ist auch hier die Beschränkung auf Frankreich obsolet, denn eines der wesentlichen Merkmale der Geschichte des Sonetts ist gerade seine Diffusion im gesamten frühneuzeitlichen Europa. Bis hierhin lässt sich festhalten, dass im Europa der Frühen Neuzeit einerseits 2 Vgl. hierzu Krüger : 2002, 94. 3 Zu den Ursprungshypothesen bezüglich des Sonetts vgl. Schlütter : 1979, 1 ff. und Mönch: 1955, 55 ff.

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Einleitung

die Positionen Platons zur dichterischen Inspiration und andererseits diejenigen des Aristoteles zum handwerklichen und damit lehr- und erlernbaren Aspekt der Dichtung im Umlauf sind. Mit diesen antiken Dichtungstheorien werden auch antike Formen übernommen, wie beispielsweise die Tragödie, Komödie, Satire, Elegie und Ode. Der frühneuzeitliche Gattungskanon beschränkt sich aber eben nicht nur auf diese antiken Modelle, sondern er zeugt ebenfalls vom Überleben und der Weiterentwicklung einiger mittelalterlicher Formen, wie eben des Sonetts. Positiv bewertet und aus diesem Grund empfohlen wird das Sonett beispielsweise in drei wichtigen poetologischen Schriften aus der Frühen Neuzeit: Joachim Du Bellays La deffence, et illustration de la langue franÅoyse (1549), Sir Philipp Sidneys The Defence of Poesie (1595) und Martin Opitz’ Buch von der deutschen Poeterey (1624).4 Können wir im Mittelalter einen europaweit stattfindenden Rezeptionsvorgang lateinischer Textsorten beobachten, so spielen in der Frühen Neuzeit neben diesen antiken Modellen auch literarische Traditionen und Modelle eine Rolle, die selbst erst den volkssprachlichen Traditionen des Mittelalters entstammen. Im Hauptteil der vorliegenden Untersuchung soll dies am Beispiel der Verbreitung der Novelle und des Sonetts, die jeweils das Prinzip der imitatio mit demjenigen der variatio verbindet, aufgezeigt werden. Dabei entsteht letztlich die innovatio in der variatio. Es wurde eine lyrische und eine narrative Form gewählt, wobei jedoch nicht der Eindruck entstehen soll, dass sich entsprechende Verbreitungsprozesse nur in Lyrik oder Narrativik nachzeichnen lassen. Auf den Bereich der Dramatik wird ausführlich im Kontext des Romeo-undJulia-Stoffes eingegangen. Den beiden ausgewählten Gattungen, dem Sonett und der Novelle, ist dabei gemein, dass ihr Ursprung in Italien liegt, dem in dieser Zeit eine der antiken Kultur vergleichbare Bedeutung zugesprochen wird. Im Folgenden soll es darum gehen, der Verbreitung beider Gattungen, vor allem aber den damit einhergehenden Transformationsprozessen, die aus dem Bestreben einer jeweils nationalen Anverwandlung resultieren, nachzuspüren. Nicht zuletzt handelt es sich hierbei um einen Beleg für die frühneuzeitlichen translatio studii und die zeitgenössischen Hegemoniebestrebungen im kulturellen bzw. literarischen Bereich. Vor dem Kapitel zu diesen beiden Gattungen steht jedoch ein solches zu Diskurstypen, die sich in der Literatur der Frühen Neuzeit abzeichnen und die im Bereich der inszenierten poetischen Kommunikation über die zwischenmenschliche Liebe anzusiedeln sind. In der Frühen Neuzeit lässt sich sowohl innerhalb der nationalsprachigen Literaturen als auch im Bereich ihrer Vernetzung eine ausgesprochene Tendenz zur Pluralisierung von Liebesdiskursen 4 Am stärksten fordert Du Bellay zum Sonettieren auf: »Sonne moy ces beaux Sonnetz […].« (Du Bellay : 2001, 136). Vorzüge gestehen auch Sidney und Opitz dem Sonett zu.

Einleitung

15

verzeichnen, wobei drei dominante Liebesdiskurse das Feld anführen: der petrarkistische, der neo-platonische und der hedonistische Liebesdiskurs. Aufgrund seiner extremen Beliebtheit in den europäischen Literaturen des 16. und 17. Jahrhunderts wird der petrarkistische Liebesdiskurs samt der aus ihm abgeleiteten bzw. aus seiner Variation resultierenden erotischen Diskurse am ausführlichsten betrachtet. Der Prozess der europäischen Teilglobalisierung der Literatur in der Frühen Neuzeit lässt sich jedoch nicht nur im Rahmen der Verbreitung von Diskursen oder Gattungen beobachten, sondern auch durch den Transfer von Stoffen. Darum werden schließlich zwei frühneuzeitliche Motive mit großem Verbreitungsradius in den Blick genommen, nämlich der – ebenfalls aus Italien stammende – Romeo-und-Julia-Stoff und das Motiv des Fluges zum Mond. Befindet sich der Mythos der tragischen Liebe der beiden jungen Leute im Zentrum der motivlichen Nachahmung innerhalb Europas, so ist die Mondthematik an deren Peripherie anzusiedeln. Dadurch lässt sich die Vernetzung der europäischen Literaturen im 16. und 17. Jahrhundert und damit jener Aspekt der europäischen Teilglobalisierung, um den es in der vorliegenden Untersuchung zentral geht, jedoch umso eindrucksvoller belegen.

2.

Die Diffusion von Diskurstypen und die Teilglobalisierung poetischer Produktion

Eines der wesentlichen Merkmale der europäischen Literatur der Frühen Neuzeit ist die auffallende Tendenz zur Ausdifferenzierung unterschiedlicher Diskurstypen, die weit über Landes- oder Sprachgrenzen hinaus Verbreitung finden. Im Folgenden soll dies anhand des repräsentativen Bereichs der literarischen Kommunikation über die zwischenmenschliche Liebe aufgezeigt werden. Hier können wir prinzipiell das Nebeneinander dreier unterschiedlicher Diskurse ausmachen, nämlich des petrarkistischen, neo-platonischen und hedonistischen Liebesdiskurses. Muss dies innerhalb der einzelnen Nationalliteraturen differenziert betrachtet werden, so lässt sich für die gesamteuropäische Literatur der Frühen Neuzeit nichtsdestoweniger festhalten, dass der petrarkistische Liebesdiskurs am stärksten verbreitet ist, auch wenn der ursprüngliche Diskurs innerhalb kurzer Zeit mannigfaltige Transformationen erlebt. Dies liegt nicht zuletzt daran, dass er die italienische Literatur des Cinquecento stark dominiert, und zwar maßgeblich durch die Vermittlung Pietro Bembos. Hierauf wird an geeigneter Stelle näher einzugehen sein.5 Von Italien aus gelangt der Petrarkismus – nicht ohne das ursprüngliche Diskursmodell national anzuverwandeln – zunächst nach Portugal, Spanien und Frankreich, in einer zweiten Welle nach England und in die Niederlande und schließlich nach Deutschland.

2.1

Die Ausdifferenzierung des petrarkistischen Liebesdiskurses

Zu denken ist hier zunächst und vor allem an das vielbeschworene ›petrarkistische System‹,dessen notwendige Grundkomponenten simplifizierend ein antinomisches Liebeskonzept, das untrennbar mit dem Aspekt der Schmerzliebe des vergeblich Werbenden zusammenhängt, der innere Konflikt des Liebenden zwischen Affekt und Norm und ein narratives Substrat innerhalb des jeweiligen Gedichtzyklus sind. Hierauf wird später noch genauer zurückzukommen sein. 5 Vgl. hierzu S. 11 der vorliegenden Untersuchung und Leopold: 2009, 25 f.

18

Die Diffusion von Diskurstypen und die Teilglobalisierung poetischer Produktion

Der Begriff des Systems soll dabei nicht darüber hinwegtäuschen, dass es sich hier nicht um ein statisches, sondern vielmehr um ein dynamischen Prozessen unterliegendes Konstrukt handelt. Haben sich in der bisherigen Forschung zwei unterschiedliche Forschungsansätze herauskristallisiert, nämlich einerseits die Annahme eines (relativ) konstanten Systems und andererseits diejenige eines Dialogs, so konnte bereits eindrucksvoll aufgezeigt werden, wie beide Ansätze gewinnbringend miteinander kombiniert werden können bzw. werden sollten:6 »[…] Forschungsansätze, die auf petrarkistische Strategien ›dialogischer‹ Differenzierung abheben, [können] den ›systemtheoretischen‹ Ansatz mit seiner […] Tendenz zur Starrheit fruchtbar ergänzen.« (Huss: 2001, 154 f.) Der durchschlagende Erfolg des Petrarkismus im Europa der Frühen Neuzeit ist maßgeblich auf die Vermittlung durch Pietro Bembo (1470 – 1547), auf seine »Systematisierung und Propagierung« (Leopold: 2009, 25), zurückzuführen. Zunächst und vor allem hat Bembo Petrarca in seiner sprachtheoretischen Schrift Prose della volgar lingua (1525)7, die vor allem den Zweck hat, die prinzipielle Eignung des Italienischen als Literatursprache darzulegen und die besondere Eignung des Toskanischen des Trecento im Bereich der Literatur zu erläutern, so wie Giovanni Boccaccio (1313 – 1375) für die Prosa Francesco Petrarca (1304 – 1374) für die Dichtung zum nachahmungswürdigen Vorbild erklärt. Hinzu kommt, dass Bembo Petrarcas Canzoniere oder korrekter die Rerum vulgarium fragmenta (1470),8 der bzw. die bisher nur in einer unter philologischen Gesichtspunkten ungenügenden Druckversion vorlagen, in einer textkritischen Ausgabe verfügbar gemacht hat. Und schließlich waren Bembos Rime (1530; erweiterte Ausgabe 1535) Ausgangspunkt für die europaweite Rezeption des ›petrarkistischen Systems‹,9 insofern er Petrarcas Liebeskonzeption auf ein überschaubares Arsenal nachahmbarer Formeln und Formen reduziert und konzentriert hat.10 In Anbetracht dessen mag es erstaunen, dass diese Gedichtsammlung des großen Petrarca-Verehrers Bembo dennoch einen auffal-

6 Vgl. hierzu Huss: 2001. Huss führt die gegenseitige Ergänzung beider Forschungsansätze am Beispiel der Sonetti (parte prima) (1555) Benedetto Varchis vor und kommt zu folgendem Schluss: »Gerade in der beschriebenen Abwendung vom petrarkistischen Liebeskonzept bei gleichzeitiger Beibehaltung systemkompatibler Strukturen zeigt sich freilich auch, daß die Bewegung, in der Varchi hier befangen ist, nur die Radikalisierungsstufe einer dem Cinquecento-Petrarkismus immer schon inhärenten Dynamik darstellt. (Huss: 2001, 154) Schon Hempfer, der den Begriff des ›petrarkistischen Systems‹ eingeführt hat, hat sich für einen »dynamische[n] Systembegriff« (Hempfer : 1987, 269) eingesetzt. 7 In Bembo: 1992, 71 – 309. 8 Zur Entstehungs- und Publikationsgeschichte des Canzoniere vgl. Hoffmeister : 1997, 86 ff. 9 Zum Begriff des petrarkistischen Systems vgl. Hempfer: 1988 und Hempfer : 1991. 10 In Zahlen lässt sich der enorme Erfolg der Rime daran messen, dass bereits dreißig Jahre nach ihrem ersten Erscheinen die dreißigste Auflage dieser Sammlung vorlag.

Die Ausdifferenzierung des petrarkistischen Liebesdiskurses

19

lenden Grad an »selbstbewußter Hybridisierung«11 (Leopold: 2009, 33) aufweisen. Dies betrifft vor allem den Aspekt der gegenseitigen Liebe und der Sinnlichkeit, die Bembo – anders als Petrarca – nicht konsequent aus seinen Gedichten ausschließt. Und auch in Bembos philosophischem Dialog über die zwischenmenschliche Liebe Gli Asolani (1505)12 ist die petrarkische Schmerzliebe neben dem »sinnenfrohen Hedonismus, de[m] sublimatorischen Platonismus und d[er] mystischen Askese«13 (Leopold: 2009, 34) nur eine der vier vorgestellten Liebeskonzeptionen. Nichtsdestoweniger haben vor allem Bembos Rime einen entscheidenden Anteil an der ersten frühneuzeitlichen Petrarkismuswelle in Europa gehabt. Der Cinquecento-Petrarkismus wird nicht zu Unrecht auch als bembismo bezeichnet. Der Petrarkismus verbreitet sich – ausgehend von Italien – im 16. Jahrhundert zunächst in den anderen romanischsprachigen europäischen Ländern (Portugal, Spanien, Frankreich), dann in England und den Niederlanden und aufgrund der vielbeschworenen ›deutschen Verspätung‹ schließlich im 17. Jahrhundert auch in Deutschland.14 Schon der frühe Petrarkismus bembistischer Prägung zeugt vom dynamischen Charakter des petrarkistischen Systems. Denn er bewegt sich im Spannungsfeld der Dialektik zwischen Systembestätigung und Transformation des Systems: Seit der Öffnung des petrarkistischen Systemraums durch Bembo ist der italienische Petrarkismus [und in geringerem Maße darüber hinaus auch der europäische; B.N.] auf eine ebenso typische wie prekäre Weise auf ein Dichten eingeschworen, das einerseits systemorientiert ist und andererseits ›das System‹ gerade dadurch immer wieder bestätigend zu rekonstituieren hat, daß es tentativ seine Grenzen abschreitet. Ein nahezu paradoxales Verhältnis zwischen imitatio und superatio bedingt dabei, daß ›das System‹ mitnichten ein statisches ist, sondern vielmehr in einem komplexen ›dialogischen‹ Wechselspiel zwischen Prätexten und je neuem Phänotext immer erst und immer wieder neu in Existenz tritt. (Huss: 2001, 154)

Mit dem Begriff Petrarkismus ist die direkte oder indirekte Nachahmung Petrarcas bzw. seines Canzoniere gemeint. Diese kann von mehr oder weniger wörtlichen Übersetzungen und Übernahmen, über relativ freie Paraphrasen bis hin zu bloßen Anspielungen reichen. Im Folgenden soll es um die von Pietro Bembo systematisierte petrarkistische Liebesauffassung gehen, und zwar um den typischen Motivkreis, die charakteristischen Stilfiguren und schließlich die 11 Kursivierung vom Autor. Vgl. hierzu auch Schneider: 2007, 36: »Bembo rekurriert in seinen Rime insgesamt […] ganz zentral auf Petrarca, fügt ihnen jedoch Elemente ein, die nicht dem Liebeskonzept Petrarcas entsprechen; dabei wahrt er die Nähe zum Zentrum Petrarca, begreift aber zugleich die imitatio als einen ›aktiven Dialog‹ mit dem Modell […].« 12 In Bembo: 1992, 311 – 504. 13 Zu den vier Liebeskonzeptionen Bembos in Gli Asolani vgl auch Hempfer : 1991, 24. 14 Vgl. hierzu die schematische Darstellung in Schlosser : 92002, 124.

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Die Diffusion von Diskurstypen und die Teilglobalisierung poetischer Produktion

Gattungswahl, wobei Grundsätzliches vermittelt werden soll, Vollständigkeit hingegen nicht angestrebt wird.15 Die europäischen Petrarkisten übernehmen zunächst die prinzipielle Konzeption der Liebe als ein antinomisches Verhältnis. Die Distanz zwischen dem Werbenden und der Ablehnenden kann als gattungskonstitutiv gelten. Die Möglichkeit, positive Reaktionen der geliebten Dame poetisch darzustellen, bieten einzig fiktive Träume des Werbenden. Zur Beschreibung der prinzipiellen Antinomie zwischen Mann und Frau wird dabei bevorzugt der topos vom Liebeskrieg bemüht. Dementsprechend wird Amor vornehmlich in der Tradition Ovids nicht als kleiner nackter Junge, der blind seine Pfeile abschießt, dargestellt, sondern als ein kriegsführender und unerbittlicher Gott, dem der Liebende hilflos ausgeliefert ist. Die Ausgangssituation der bereits angeführten antinomischen Liebeskonstellation ergibt sich daraus, dass ein Mann vergeblich um die Gunst einer Dame wirbt. In dieser Hinsicht ist der Petrarkismus dem Neoplatonismus diametral entgegengesetzt, denn dieser basiert auf der Annahme der Gegenseitigkeit des Liebesgefühls und schließt die körperliche zwischenmenschliche Liebe keinesfalls aus. In den Dialoghi d’amore (Druck 1535) des Leone Ebreo stellt die körperliche Vereinigung zweier Liebender eine notwenige Voraussetzung für deren geistige Vereinigung, nämlich den Austausch ihrer Seelen, dar. Über den Geschlechtsakt heißt es daher wie folgt: »l’amore À desiderio d’unione.« (Ebreo: 1558: 137) Typisches Kennzeichen des Werbens in petrarkischer Manier ist die prinzipielle Unerfüllbarkeit, die die Liebe des Mannes zu einer Schmerzliebe werden lässt, die allerdings begleitet wird von einer Freude an der Qual, der charakteristischen »dolendi voluptas« (Hoffmeister : 1997, 123), die Züge einer masochistischen Einstellung aufweisen kann. Trotz der Ausweglosigkeit seiner Lage schwört der Liebende der von ihm umworbenen Dame die ewige, bis über den Tod hinaus andauernde Treue. Die fehlende positive Reaktion der Angebeteten wird in der petrarkistischen Lyrik damit kompensiert, dass dem vergeblich Werbenden die Natur zur Seite steht. Ihr kann er sich anvertrauen und sein Leid mitteilen: »Die Klage wird in idyllischer, sympathetisch zuhörender Natur (»Natursympathie«), unter Nymphen, Tieren und Bäumen seufzend und tränenreich vorgebracht […].« (Hoffmeister : 1973, 27) Die vom Werbenden angebetete Dame weist zunächst einen signifikanten Widerspruch zwischen überirdischer Schönheit und unmenschlicher Kälte, die sich bis zur sadistischen Haltung gegenüber dem Werbenden steigern kann, auf: »Auf die Bitten des Geliebten reagiert sie kalt wie Eis, hartherzig und grausam.« (Hoffmeister : 1973, 25) Zu diesem stereotypen Verhalten der petrarkistischen Dame gesellt sich ein stereotypes Äußeres, das mit stereotypen Metaphern beschrieben wird: »Wie Einträge in einem Lexikon bezeichnen praktisch immer 15 Die folgende Darstellung ist stark an Hoffmeister : 1973, 25 ff. orientiert.

Die Ausdifferenzierung des petrarkistischen Liebesdiskurses

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Korallen die Röte der Lippen, Edelsteine oder Quellen die Augen, der weiße Schnee die Haut […].« (Niefanger : 2000, 104) Diese Aufzählung gibt selbstverständlich nur einen kleinen Teil des den Petrarkisten verfügbaren Arsenals wieder. Aufgrund ihrer Beliebtheit sei noch auf die beiden folgenden Motive hingewiesen: Die Augen der geliebten Dame werden oftmals einer metaphorischen Ersetzung durch Sterne unterzogen und das Herz durch Edelsteine, die natürlich sowohl dazu dienen, auf die Kostbarkeit als auch auf die Unbarmherzigkeit der Angebeteten zu verweisen. Eine derart typisierende Beschreibung der Geliebten, die auf einem begrenzten »Schönheitskatalog« (Hoffmeister : 1973, 25) basiert, lässt dabei keinen Raum für Individualität. Zu den bevorzugten Stilfiguren im Petrarkismus zählen Antithese und Oxymoron, und zwar deshalb, weil sich beide für die Darstellung der antinomisch angelegten paradoxalen Liebeskonzeption Petrarcas besonders eignen. Hinzu kommen Metapher und Vergleich, die vor allem im Kontext des bereits erläuterten stereotypen ›Schönheitskatalogs‹ Verwendung finden. Außerdem kommt auch der Paronomasie einige Bedeutung zu, gilt es für die Petrarkisten doch, Petrarcas Wortspiele mit dem Namen seiner Laura (l’auro, lauro, l’oro etc.) mit dem von ihnen jeweils gewählten Namen der Geliebten nachzuahmen.16 Und schließlich muss in diesem Kontext auf den auffallend häufigen Gebrauch der Hyperbel hingewiesen werden. Zumal es den Petrarkisten in der Nachfolge Petrarcas nicht um einen authentischen Gefühlsausdruck und Realitätsnähe geht, scheuen sie sich nicht davor, der angebeteten Dame immer wieder die ewige Treue zu schwören, ihre Schönheit zum Schönsten auf der Welt zu erklären, auf die unmenschlichen Qualen, die sie ihm zufügt, hinzuweisen, ihr die unzählbaren von ihm aus Liebeskummer vergossenen Tränen vorzuwerfen etc. Petrarcas Vorbildfunktion erschöpft sich nicht in der von ihm entworfenen und im Canzoniere präsentierten speziellen Liebeskonzeption und den von ihm vorgeführten rhetorischen Stilfiguren, sondern auch bezüglich der Gattungswahl hat Petrarca einen großen Einfluss auf die europäische Lyrik der Frühen Neuzeit gehabt: Nachdem er sich in 317 von 366 Gedichten des Canzoniere für das Sonett entschieden hat, kommt es in Europa zur ersten Flut von Sonetten. Das Sonett wird in der Nachahmung Petrarcas zur »[…] vorherrschende[n] Gedichtform der europäischen Renaissancelyrik« (Meid: 2000, 28), und zwar vornehmlich deshalb, weil sich diese prinzipiell dialektische Form besonders gut für die Darstellung der antinomischen Liebesdarstellung bei Petrarca (und seien europäischen Nachahmern) eignet. In dieser Nachahmung Petrarcas wird die Sonettistik einem poetischen Standard angepasst und dadurch europaweit homogenisiert. Das heißt, der Petrarkismus hat nicht nur maßgeblich zur Eta-

16 Vgl. hierzu Regn: 22001, 22.

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Die Diffusion von Diskurstypen und die Teilglobalisierung poetischer Produktion

blierung einer ganz bestimmten Liebeskonzeption beigetragen, sondern ebenfalls zur Herausbildung des frühneuzeitlichen Gattungssystems in Europa. Da die poetischen Möglichkeiten des Petrarkismus, wie aufgezeigt wurde, sehr beschränkt sind, kam es schnell zur Gegenreaktion, zum Antipetrarkismus, am stärksten in Form pornographischer oder parodistischer Sonette. Selbst in antipetrarkistischen Gedichten bleibt allerdings das Vorbild Petrarca erkennbar, wenn auch ex negativo. Wir können hier eine graduelle Abwendung vom Petrarkismus feststellen, die jedoch nicht als zeitliche Entwicklung gedeutet werden darf: von der Einpassung der Sonettistik in die jeweiligen Lebenswelten (z. B. durch die Konzepte Treue und Ehe) bis hin zur Negation. Die Herausbildung eines ›antipetrarkistischen Systems‹ ist ein Vorgang, der sich in Italien im ausgehenden 15. Jahrhundert, in Spanien dann an der Wende vom 15. zum 16. Jahrhundert und in Frankreich und England im 16. Jahrhundert vollzieht. In Deutschland gestaltet sich die Lage insofern etwas anders, als hier Petrarkismus und Antipetrarkismus aufgrund der so oft beschworenen allgemeinen deutschen ›Verspätung‹ im Bereich der Literatur zeitgleich rezipiert werden. Es kann hier als symptomatisch gelten, dass Martin Opitz zwar den Petrarkismus in Deutschland kultiviert, aber zugleich mit Du schöne Tyndaris, das er in seinem Buch von der deutschen Poeterey (1624) neben deutsche Bearbeitungen von geradezu prototypischen petrarkistischen Gedichten Pierre de Ronsards als nachzuahmendes Beispielsonett anführt, eines der ersten antipetrarkistischen deutschen Gedichte vorgelegt hat. Im Folgenden soll es nun gerade um Transformationen bis hin zur Negation des petrarkistischen Systems innerhalb der europäischen Liebeslyrik der Frühen Neuzeit gehen.

2.2

Zur Adaption des petrarkistischen Systems durch die schreibende Frau

2.2.1 Vorbemerkungen Das petrarkistische System hat, wie bereits erläutert, schon in der Frühen Neuzeit zahlreiche Transformationen erfahren. Auf eine dieser Transformationen, nämlich die Aneignung des Systems durch Dichterinnen, den so genannten weiblichen Petrarkismus, soll im Folgenden genauer eingegangen werden. Der kleinste gemeinsame Nenner der Gedichtzyklen (frühneuzeitlicher) weiblicher Petrarkisten besteht darin, dass hier »die weibliche Leerstelle im petrarkistischen System« (Oster : 1995, 44) ausgefüllt wird. Es müssen mindestens vier Bedingungen erfüllt sein, damit es sich um diese Ausprägung des Petrarkismus

Zur Adaption des petrarkistischen Systems durch die schreibende Frau

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handelt: Erstens stammt der entsprechende Gedichtzyklus von einer Dichterin, zweitens besitzt dieser ein zumindest rudimentäres narratives Substrat, das um das Thema Liebe kreist, drittens muss das lyrische Ich als weiblicher Sprecher präsentiert werden, das heißt, es muss ein »systeminterner Perspektivwechsel« (Schneider : 2007, 77) vorgenommen werden,17 und viertens muss in diesem weiblichen Canzoniere trotz aller Variationen und Überschreitungen des petrarkischen und petrarkistischen Systems dennoch das Modell Petrarcas deutlich erkennbar bleiben. Den Zyklen weiblicher Petrarkisten der Frühen Neuzeit ist damit die »Wahrung der sinnmodellierenden Referenz auf Petrarca« (Schneider : 2007, 214) gemein. Zunächst einmal liegt auf der Hand, dass petrarkistische Gedichte aus weiblicher Feder und aus der Sicht eines weiblichen lyrischen Ich prinzipielle Abweichungen vom männlich geprägten Petrarkismus aufweisen müssen. Der weibliche Petrarkismus »zeichnet sich […] durch eine weibliche Umkodierung der systemischen Vorgaben aus […].« (Schneider : 2007, 316) Dies gilt schon für die Ausgangssituation, denn einer Sprecherin ist aufgrund der prinzipiellen Nichtakzeptanz einer Liebeswerbung durch die Frau, die auf die zeitgenössischen Normen für das jeweils schicht- und geschlechtsspezifische Verhalten zurückgeht, von vornherein die Möglichkeit einer Werbung genommen. Daraus folgt, dass das Moment des van desio bei Petrarca und den Petrarkisten bei den Petrarkistinnen grundsätzlich nicht auf ein vergebliches Werben bezogen sein kann. Um den zwei wesentlichsten Voraussetzungen des petrarkistischen Systems, dem »Postulat der Unerreichbarkeit der geliebten Person« (Schneider : 2007, 202) und der unerwiderten Liebe, dennoch nachzukommen, muss der weibliche Canzoniere eine Alternative zur vergeblichen Werbung finden. In der Frühen Neuzeit haben sich hier zwei grundsätzlich unterschiedliche Konzeptionen, die die Umsetzung dieser beiden Systemkonstituenten gewährleisten, durchgesetzt: Entweder finden die frühneuzeitlichen Dichterinnen »[…] das Hindernis, das der Erfüllung der Liebe im Wege steht, im Tod des geliebten Mannes […], oder aber das Hindernis ist die Untreue des Geliebten, verursacht durch eine längere Abwesenheit infolge einer Reise oder ganz elementar durch seine Unbeständigkeit oder beides zugleich« (Schulze-Witzenrath: 22001, 75). Eine markante Abweichung des petrarkistischen Systems besteht darin, dass die überwiegende Mehrzahl der weiblichen Petrarkisten der Frühen Neuzeit in ihren Gedichten auch der körperlichen Dimension der zwischenmenschlichen Liebe Rechnung trägt. Diese steht der entkörperlichten und vergeistigten Lie17 Da dies im Falle der deutschen Dichterin Sibylle Schwarz, der ›pommerschen Sappho‹, nicht zutrifft, insofern ihr lyrisches Ich nicht explizit weiblich markiert ist und sich ihre Gedichte darüber hinaus eindeutig an weibliche Liebesobjekte richten, werden diese Gedichte (Deutsche Poetische Gedichte, 1650) im Folgenden nicht berücksichtigt. Zu Sibylle Schwarz’ Liebeslyrik vgl. Greber : 2002 und Meid: 2000, 79.

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Die Diffusion von Diskurstypen und die Teilglobalisierung poetischer Produktion

beskonzeption im Petrarkismus natürlich diametral entgegen. Völlig zu Recht wurde im weiblichen Petrarkismus eine Tendenz zur Verschiebung hin zur Körperlichkeit bzw. den sinnlich-erotischen Aspekten der Liebe festgestellt (vgl. Leopold: 2009, 44 ff.) Diese Verschiebung hängt maßgeblich damit zusammen, dass ein Charakteristikum des weiblichen Petrarkismus das Moment der Liebeserwiderung ist, auch wenn dieses in der Gegenwart der jeweiligen Sprecherin nicht mehr gegeben ist. Trotz aller Unterschiede in der jeweiligen Ausgestaltung lässt sich die Liebessituation in den Gedichtzyklen frühneuzeitlicher weiblicher Petrarkisten grob wie folgt zusammenfassen: Die liebende Frau ist in ganz besonderer Weise an den Mann gebunden, sie hat wenigstens ein subjektiv begründetes Anrecht auf seine Liebe, das sie z. B. aus einer Liebesbegegnung ableitet. Der Geliebte ist zwar in der Regel nicht u n n a h b a r, aber in verschiedener Weise u n e r r e i c h b a r […]. Somit erscheint die Liebende – entweder von vornherein oder doch von einem bestimmten Zeitpunkt des dargestellten Verlaufs an – in der Rolle der um die Liebe und Glück Gebrachten, der ›Verlassenen‹. Aber gerade hier trifft sie sich wieder mit dem petrarkistischen Liebenden in der gemeinsamen Klage über die Härte des Geliebten oder die ihres Geschicks […] und in der Darstellung der eigenen Liebesqualen. (Schulze-Witzenrath: 1974, 55)18

Des Weiteren ist weiblichen Canzonieri gemein, dass die Ich-Sprecherinnen Bescheidenheitstopoi formulieren, die sich bevorzugt aus dem zeitgenössischen Frauenbild ableiten lassen.19 So ist der Zweifel am Wert der Verse fast leitmotivisch in den Gedichtzyklen frühneuzeitlicher weiblicher Petrarkisten zu finden. Hierin unterscheidet sich der weibliche Petrarkismus stark vom (männlichen) Petrarkismus: Wo bei Petrarca und bei männlichen Petrarkisten der Ruhm der donna unmittelbar an den Lobpreis durch den männlichen Liebenden und Dichter gebunden ist und die männlichen Sprecher dies qua Dichter textintern als ihre Aufgabe, aber auch als ihr Verdienst herausheben, sprechen sich die Sprecherinnen in Texten weiblicher Autoren dieses Vermögen in aller Regel ab. (Schneider : 2007, 318)

Der weibliche Petrarkismus muss zum einen in Beziehung zu seinem männlichen Pendant und zum anderen zu weiteren literarischen Modellen, an die die entsprechenden Dichterinnen anknüpfen konnten, gesetzt werden. Es soll hier nichtsdestoweniger nicht auf die Vorläufer eines früheren vergleichbaren weiblichen Dichtens eingegangen werden. Auf die Vorreiterrolle zweier in der Frühen Neuzeit verfügbarer literarischer Modelle, Ovids Heroides und die so genannte Eheelegie, wurde an anderer Stelle ausführlich hingewiesen.20 Im 18 Hervorhebungen von der Autorin. 19 Vgl. hierzu Segler-Meßner : 2004. 20 Vgl. hierzu Schneider: 2007, 132 ff. und Schulze-Witzenrath: 1974, 54 f. Ein solcher Rekurs

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Folgenden soll es vielmehr darum gehen, den weiblichen Petrarkismus hinsichtlich seiner Referenz auf den petrarkischen und petrarkistischen Liebes- und Dichtungsdiskurs hin zu untersuchen. Hierzu werden drei konkrete Fälle eines weiblichen Petrarkismus in den Blick genommen, nämlich aus der Feder Vittoria Colonnas (1490 – 1547), Gaspara Stampas (1523 – 1554) und Louise Lab¦s (?1524 – 1566), wobei die Frage im Zentrum steht, inwieweit diese Dichterinnen der Frühen Neuzeit den petrarkischen und petrarkistischen Diskurs geschlechtsspezifisch umkodieren,21 überschreiten oder ihm andere Liebesdiskurse einschreiben.

2.2.2 Vittoria Colonna, Rime (1538) Der Beginn des weiblichen Petrarkismus wird für gewöhnlich mit den Rime (1538) von Vittoria Colonna angesetzt. Sie gilt gemeinhin als »Initiantin weiblichen Sprechens« (Tiller : 1996, 701), wobei dies mit Blick auf den petrarkischen und den petrarkistischen Liebesdiskurs spezifiziert werden müsste, und ihre Rime als »Prototyp des weiblichen Petrarkismus« (Schneider : 2007, 331). Inwieweit sie zu Recht als Repräsentantin des weiblichen Petrarkismus angesehen werden kann, soll nun erläutert werden. Betrachten wir dazu zunächst das narrative Substrat, das ihrem Gedichtzyklus zugrundeliegt: Die Ausgangssituation besteht darin, dass ein weibliches lyrisches Ich, das sich – dem petrarkischen Modell folgend – explizit als Dichterin in Szene setzt, das Dichten insofern funktionalisiert, als es dazu dient, die Trauer um den Tod des geliebten Ehemannes zu verarbeiten: »Scrivo sol per sfogar l’interna doglia« (v. 1.) heißt es im Proömialsonett der Rime. Zunächst muss vorausgeschickt werden, dass das lyrische Ich innerhalb der Rime explizit als ein weiblicher Ich-Sprecher präsentiert wird. Es handelt sich daher auf »systemischer Ebene um ein gendercrossing […], insofern die Sprecherin die diskurskonventionell männlich markierte Sprechposition einnimmt« (Schneider : 2007, 176). Daneben lässt sich aus der oben benannten Ausgangssituation mindestens zweierlei hinsichtlich der Referenz auf das petrarkische und petrarkistische System schließen: Erstens nimmt Colonnas Konzeption den zweiten Teil des Canzoniere, die Sonetti e canzoni in morte de Madonna Laura, und zwar bis zu wörtlichen Übernahmen,22 auf, und zweitens weicht die Dichterin insofern von Petrarcas poetischem Modell ab, als ihr Liebeskonzept die Ehe einschließt, die zunächst einmal nicht »dient den Dichterinnen dabei […] als Legitimation ihres Schreibens im Anschluss an (fiktive) weibliche vorgängige Rede« (Schneider : 2007, 325). 21 Zur allgemeinen »Gender-Kategorie im (weiblichen) Petrarkismus« vgl. Schneider: 2007, 83 – 155. 22 Vgl. hierzu Schneider : 2007, 173 ff.

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Die Diffusion von Diskurstypen und die Teilglobalisierung poetischer Produktion

kompatibel mit dem »Unerreichbarkeitspostulat« (Schneider : 2007, 179) in der petrarkischen und petrarkistischen Dichtung ist. Dies geht aus zwei mit einer glücklichen Ehe notwendigerweise zusammenhängenden Konzepten, nämlich der Gegenseitigkeit des Liebesgefühls und dem Vollzug der Ehe auch in körperlicher Hinsicht, hervor : »Vittoria Colonna klagt eigentlich über die Auflösung der glücklichen Vereinigung mit dem Geliebten, die es für Petrarca nie gegeben hat.« (Schulze-Witzenrath: 1974, 64) Daraus folgt, dass man das dem Petrarkisten eigene Moment der Verzweiflung über die Ablehnung des von ihm umworbenen Liebesobjektes in Colonnas Rime vergeblich sucht: »Die für den ›männlichen‹ Petrarkismus charakteristische Phase des van desio fällt bei ihr [scil. Vittoria Colonna; B.N.] […] aus.« (Leopold: 2009, 45) Damit wird die Liebesklage zugleich zum Beweis ehelicher Treue – selbst über den Tod hinaus und nicht – wie bei den Petrarkisten zum Schwur ewiger Treue bis über den Tod hinaus – trotz der konstanten Ablehnung der Frau. Colonna setzt die ihrem Zyklus zugrunde liegende Ehekonstellation nicht nur voraus, sondern betont diese mehrfach: »Im Proöm noch nicht explizit gemacht, wird sie [scil. die Ehesituation; B.N.] doch im Verlauf der Sammlung wiederholt vereindeutigt.« (Schneider: 2007, 179)23 Dies heißt zugleich, dass Colonna in ihrem Canzoniere auch der poetischen Darstellung der erwiderten Liebe in all ihren Dimensionen Raum einräumt. Dies geschieht allerdings vor allem – anders als im Falle der präsentischen Trauer um den verstorbenen Gatten – in Form einer »nachträgliche[n] Vergegenwärtigung auf einer rein geistigen Ebene […], also durch Erinnerungen, Träume oder Visionen […]« (Schneider: 2007, 178). Ist die Ehekonstellation auch eine prinzipielle Überschreitung der petrarkischen und petrarkistischen Diskurse, so gelingt es der Dichterin dennoch, die Ehe mit diesen zu vermitteln, und zwar gerade durch die Anbindung an den zweiten Teil des Canzoniere. Denn auch in ihrem Zyklus ist das (wenn auch männliche) Liebesobjekt für das lyrische Ich – zumindest im irdischen Leben – unerreichbar, weil dieses Liebesobjekt, nämlich der Gatte, zum Zeitpunkt der Sprechsituation bereits verstorben ist. Alle Hoffnung ruht in dieser Situation auf einer jenseitigen Vereinigung mit dem geliebten Mann. Die Nichterwiderung des Liebesgefühls wird hier ersetzt durch den Tod als Hindernis der Erfüllung der Liebessehnsucht eines lyrischen Ich. Insofern ist dem Urteil, es handle sich bei Vittoria Colonna um eine »diskurskonforme Dichterin« (Leopold: 2009, 45) und bei ihren Rime um einen »Witwenpetrarkismus« (Leopold: 2009, 45) prinzipiell zuzustimmen. Gelingt Colonna in dieser Hinsicht eine Assimilierung des Ehediskurses mit dem petrarkischen und petrarkistischen Diskurs, so bleibt in diesem Kontext dennoch eine Systemüberschreitung festzuhalten. Anders als Petrarca, der seine Liebe zu Laura im Proömialsonett als jugendlichen Fehler (»mio primo giovenile 23 Hier auch entsprechende Belegstellen aus den Rime (1538).

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errore«, v. 3) beschreibt, kann Colonna die in ihrem Zyklus präsentierte Liebe auch rückblickend nicht negativ bewerten, weil diese Liebe durch das heilige Band der Ehe geradezu sakralisiert wurde. Damit hängt nun wiederum ein weiterer Aspekt zusammen: Wenigstens ebenso sehr wie der Trauerbewältigung dienen die Rime auch dem enkomiastischen Lob des geliebten, nun toten Gatten. Sie erfüllen damit zugleich die Funktion eines »panegyrischen Dienst[es] am Verstorbenen« (Tiller: 1996, 698). Bereits im Proömialsonett rechtfertigt das weibliche lyrische Ich ihre Trauer und implizit damit zugleich auch ihre Dichtung mit dem (menschlichen) Wert des Liebesobjektes: »giusta cagione — lamentar m’invoglia« (v. 5) Den verstorbenen Gatten überhöht das weibliche lyrische Ich geradezu zum Ideal eines frühneuzeitlichen Kriegsherrn und Hofmannes.24 Als Referenz bedient sich Colonna hier einer überbordenden Sonnenmetaphorik: Bereits im Proömialsonett wird der Verstorbene als »mio bel Sole« (v. 3) präsentiert. Mit dem Lobpreis des verstorbenen Gatten geht im Zyklus »eine deutliche, gender-konnotierte Unterordnung der Liebenden […]« (Schneider: 2007, 218) unter diesen einher. In diesem Kontext tauchen immer wieder Bescheidenheitstopoi auf, die den Wert der eigenen Dichtung betreffen, und damit zusammenhängend die Frage, ob diese dazu geeignet sei, den Ruhm eines solch bedeutenden Mannes zu mehren. Hat ihr Gatte die Sprecherin der Rime in vita gelenkt, so kommt ihm in morte die Führung ihrer Seele zu. Wie bereits erläutert, besitzen die Gedichte in Colonnas Rime insofern einen starken neoplatonischen Zug auf, als sie einen Weg weg vom Diesseits und hin zum Jenseits weisen: Die Gattenliebe wird damit zur »Vorbereitung zur Gottesliebe« (Schulze-Witzenrath: 1974, 57). Insofern weisen auch Colonnas Rime den von Petrarca vorgezeichneten Weg der Diesseitsverhaftung hin zur Weltabkehr: In beiden Sammlungen ist »[d]as Grundthema […] der ersehnte Weg des lyrischen Ich aus der eitlen, nichtigen Welt des Mundanen hin zur göttlichen Transzendenz« (Huss: 2001, 141).

2.2.3 Gaspara Stampa, Rime (1554) Der weibliche Canzoniere Gaspara Stampas25 zeugt sowohl vom Modellcharakter der Rime Vittoria Colonnas,26 die gewissermaßen den Prototyp des 24 Zum Bild des verstorbenen Gatten in Colonnas Rime vgl. Tiller : 1996, 698. 25 Mit dem Canzoniere Gaspara Stampas ist hier und im Folgenden ausschließlich das Sonettkorpus innerhalb der Rime, dem die drei Kanzonen und zwei Sestinen zugerechnet werden, gemeint. Daneben bestehen Stampas Rime aus den Capitoli und den Madrigali, wobei diese beiden Teile kein narratives Substrat aufweisen. Vgl. hierzu Schneider: 2007, 306 ff. Zu Gaspara Stampas Rime vgl. auch Leopold: 2009, 47 f. 26 Schneider weist die Modellfunktion von Colonnas Rime bis in Einzelbezüge nach. Vgl. hierzu Schneider : 2007, 267 ff.

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weiblichen Petrarkismus darstellen, als auch von einer Abgrenzung von diesem Modell. In den Kategorien der frühneuzeitlichen Poetik ausgedrückt, ließe sich festhalten, dass die Rime Gaspara Stampas mehr als dem Prinzip der imitatio demjenigen der variatio verpflichtet sind, und zwar sicherlich mit dem Ziel der æmulatio. Stampa bildet hierin keine Ausnahme, sondern steht für eine sich mit Blick auf die Rezeption der Rime Vittoria Colonnas ab der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts abzeichnende Tendenz: »Das Verhältnis der nachfolgenden Autorinnen gegenüber dem Modell ist durch Annäherung an das Modell und Distanznahme ihm gegenüber geprägt.« (Schneider : 2007, 329) Was die Erstausgabe der Rime (1554) betrifft, so bietet sich zunächst die Schwierigkeit, dass Gaspara Stampa zu früh gestorben ist, als dass sie diese hätte autorisieren können. Die Anordnung der Gedichte innerhalb der Sammlung geht auf – ihre ebenfalls dichtende – Schwester Cassandre zurück. Mag darum zunächst die Verlässlichkeit der Textgestalt der Erstfassung der Rime in Frage gestellt werden, so konnte überzeugend dargelegt werden, dass es mehrere Gründe gibt, allen Untersuchungen gerade diese zur Grundlage zu machen: Es spricht […] viel dafür, die Erstausgabe in ihrer spezifischen Anordnung ernst zu nehmen: Ob sie getreu nach den Vorstellungen der Autorin erstellt wurde, ist nicht mit Gewissheit zu sagen; es ist hingegen davon auszugehen, dass sie einen zeitgenössischen Verständnishorizont wiedergibt, der zu rekonstruieren ist und der auch aufschlussreich bezüglich der Vorstellungen einer Canzoniereform sein kann – und diesbezüglich stellt sie in jedem Fall eine verlässlichere Textgrundlage dar als die modernen Ausgaben. (Schneider : 2007, 245)

Dass die Anordnung der einzelnen Gedichte innerhalb der Rime, wie sie Salza in der ersten kritischen Ausgabe von 1913 »editorisch manipuliert« (Schneider : 2007, 268) präsentiert, zu Fehlinterpretationen, vor allem hinsichtlich des Verhältnisses zum (orthodoxen) Petrarkismus bzw. zum Modell Petrarcas, führt, konnte unlängst nachgewiesen werden.27 Anders als Vittoria Colonnas Rime ist der Canzoniere Gaspara Stampas nicht dem verstorbenen Ehemann gewidmet, sondern einem anonymen Conte, zu dem das explizit weibliche lyrische Ich schon einmal eine enge Beziehung gehabt hat, wobei zahlreiche erotische Konnotationen und Anspielungen nahe legen, dass diese auch die sexuelle Dimension mit eingeschlossen haben dürfte. Typisch für den Stil der Sonette sind nämlich gerade jene »Ambiguisierungsstrategien […], [die] die ›Spuren‹ der Ich-Sprecherin […] verwischen [sollen]: Als Leser/in soll man gerade nicht wissen können, was ›wirklich‹ passiert ist.« (Schneider : 2007, 282) Aufgrund der damaligen Rezeptionspraxis, den Sprecher oder gegebenfalls die Sprecherin eines Gedichtzyklus mit seinem Dichter oder 27 Vgl. hierzu Schneider : 2007, 268 ff.

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seiner Dichterin gleichzusetzen, ist es wenig verwunderlich, dass Gaspara Stampa – fast zeitgleich mit Louise Lab¦ in Frankreich, deren Canzoniere übrigens zahlreiche Parallelen zu Stampas Rime besitzt, – von ihren Zeitgenossen zur Kurtisane abgestempelt wurde, wobei beide unter den Dichterinnen der Frühen Neuzeit, die auch die körperliche Dimension der Liebe zum Gegenstand ihrer Dichtung machen, keine Ausnahme darstellen.28 Durch die Thematisierung der Körperlichkeit unterscheidet sich Gaspara Stampa sowohl von der extrem vergeistigten Liebeskonzeption Petrarcas und der (männlichen) Petrarkisten als auch von Vittoria Colonna, in deren Rime, wie erläutert, die körperliche Dimension des (ehelichen) Liebesglücks weitgehend ausgeblendet ist und, falls sie thematisiert wird, dem Leser ausschließlich in Form von Erinnerungen oder Träumen vermittelt wird. Nicht zufällig betont Colonna innerhalb ihrer Rime mehrfach die Kinderlosigkeit und explizit auch die Keuschheit der früheren Ehe ihrer Sprecherin.29 Im Gegensatz zu Vittoria Colonna, die dem Leser Gedichte vorführt, die einer weiblichen Sprecherin zur Bewältigung der Trauer über den Tod ihres Ehemannes und zu seinem Lobpreis dienen, präsentiert Gaspara Stampa in ihren Rime ein vom Geliebten verlassenes weibliches lyrisches Ich, das sich offen zu seiner Liebe bekennt und ebenfalls offen um den auserwählten Mann wirbt. In ihrem Canzoniere steht nun nicht der Tod der Erfüllung der Liebe im Weg, sondern zunächst die Abwesenheit – er befindet sich immer wieder auf seinen Ländereien oder im Krieg – und schließlich die Unbeständigkeit und Untreue des geliebten Mannes, der sich von der Sprecherin abgewandt hat. Im Sonett CLXXXII heißt es dementsprechend: Anzi, misera, io so che sar— tosto, ch¦ per partenza o per cangiar volere il fin de’ miei piacer non À discosto. (CLXXXII, vv. 9 – 11)

Die Dichterin präsentiert die Sprecherin in ihren Sonetten also als eine von ihrem Geliebten verlassene Frau. Diese spezielle Liebeskonstellation wird uns im Sonettzyklus von Louise Lab¦ wiederbegegnen. Sind die meisten der Rime der (nun unerfüllten) Liebe der Sprecherin zum Conte gewidmet, so ist deren Hauptthema nichtsdestoweniger – in Analogie zu Petrarcas Canzoniere – das lyrische Ich, das explizit als dichtendes Subjekt in Szene gesetzt wird, wodurch zugleich auch immer wieder deren artifizieller Charakter offengelegt wird: »Der Geliebte ist […] immer wieder Thema oder Adressat ihrer Texte, der eigentliche Fokus der Dichtung liegt jedoch auch bei Stampa auf dem Ich der Sprecherin.« 28 Vgl. hierzu Robin: 2003 und Leopold: 2009, 44 ff. 29 Vgl. hierzu Schneider : 2007, 203.

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(Schneider : 2007, 270) Übrigens wird prinzipiell auch dadurch eine Unerreichbarkeit geschaffen, dass der Conte nicht nur durch sein Geschlecht, sondern auch aufgrund seiner adligen Geburt sozial höhergestellt ist als die Sprecherin: »An die Stelle der tugendhaften Unnahbarkeit der von fern angebeteten Dame tritt die hohe Geburt und der gesellschaftliche Rang des Geliebten« (Schulze-Witzenrath: 1974, 71), die durch die vielfache Anrede innerhalb des Sonettkorpus als Conte stets präsent sind. Eine Besonderheit von Stampas Canzoniere tritt bereits im Sonett CXXVII hervor, nämlich die Möglichkeit einer zweiten Liebe und damit der Abwendung vom Conte, auch wenn diese neue Liebe hier ebenfalls als eine Schmerzliebe imaginiert wird: E, se questo non basta, un altro amore si prenda, e lassi questo onde ora avampo, e cos‡ vinca l’un l’altro dolore. (CXXVII, vv. 9 – 11)

In jedem Fall ist die Erwägung einer zweiten Liebe nicht kompatibel mit dem petrarkistischen Schwur zur ewigen Treue, selbst bis über den Tod hinaus, den auch Vittoria Colonnas Canzoniere poetisch vorführt. Nichtsdestoweniger bleibt die Liebe zum Conte im Zyklus dominant. Und diese Liebe ist mittels vielfacher Ambiguisierungen stark erotisch aufgeladen. Aus diesem Grund spielt hier auch die Sinnlichkeit in Form der äußeren Schönheit des Geliebten eine Rolle.30 Die körperliche Seite der Liebe spielt vor allem in jener Gruppe von Sonetten innerhalb des Zyklus eine Rolle, in denen die Phase beschrieben wird, in der der Geliebte sich bei der Sprecherin befindet und ihre Liebe – auch körperlich – erwidert, nämlich den Sonetten C bis CIV. Die stärkste Überschreitung des petrarkischen und petrarkistischen Liebeskonzepts stellt in dieser Hinsicht das berühmte Sonett (CIV) dar, das als Höhepunkt der Liebeserwiderung des Geliebten eine gemeinsame Liebesnacht der beiden schildert. Das petrarkistische System wird hiernicht nur durch den hohen Grad an Sinnlichkeit überschritten, sondern darüber hinaus durch zwei weitere Aspekte: Das Sonett »schildert die Liebeserfüllung nicht als Wunschvorstellung, sondern als tatsächlich erfolgt, – und es feiert sie vom Standpunkt der liebenden Frau aus.« (Schulze-Witzenrath: 1974, 75) Das Sonett CIV, das explizit die Liebesnacht apostrophiert, sei nun in voller Länge wiedergegeben: O notte, a me pi¾ chiara e pi¾ beata che i pi¾ beati giorni ed i pi¾ chiari, notte degna da’ primi e da’ pi¾ rari ingegni esser, non pur da me, lodata; 30 Vgl. hierzu Schneider : 2007, 275 und 292.

Zur Adaption des petrarkistischen Systems durch die schreibende Frau

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tu de le gioie mie sola sei stata fida ministra; tu tutti gli amari de la mia vita hai fatto dolci e cari, resomi in braccio lui che m’ha legata. Sol mi mancý che non divenni allora la fortunata Alcmena, a cui stÀ tanto pi¾ de l’usato a ritornar l’aurora. Pur cos‡ bene io non potrý mai tanto dir de te, notte candida, ch’ancora da la materia non sia vinto il canto. (CIV)

Als Überschreitung des petrarkistischen Systems, nämlich konkret als »Verstoß gegen das Postulat der Unerreichbarkeit der bzw. des Geliebten« (Schneider : 2007, 278), muss dieses Sonett auch dann gewertet werden, wenn die gemeinsame Liebesnacht »nur im Rückblick geschildert und damit bereits distanziert […]« (Schneider : 2007, 277) wird.31 Im Gegensatz zu Petrarca, aber in Übereinstimmung mit Colonna, stellt auch Stampa die Liebe vornehmlich als ein positives Phänomen dar. Nichtsdestoweniger finden sich gegen Ende der Rime die so genannten Reuetexte (CCIV – CCCXI), die die Liebe zum Conte aus der Retrospektive darstellen. Diese unterscheiden sich von der petrarkischen und petrarkistschen revocatio in einer bedeutsamen Hinsicht: Diese Sonette »bringen zwar die Einsicht der Sprecherin in ihre vergebliche, weil dem Irdischen verhaftete Liebe zum Ausdruck, sie implizieren aber keine konsequente Umkehr« (Schneider : 2007, 286). Endet die kritische Ausgabe der Rime mit dem vierten Reuesonett (CCLXXVIII), so stellt dieser Text in der Erstausgabe von 1554 nicht den Schluss der Sammlung dar. Es folgen vielmehr weitere Sonette, die dem Thema der Reue zuzuordnen sind, und schließlich drei Sonette, die den Nexus zwischen Liebesund Dichtungsdiskurs herausstellen. Stampa präsentiert hier ein neues Liebeskonzept, das dem Neoplatonismus verpflichtet ist. Die Liebe der Sprecherin soll sich nun nicht mehr auf die äußere Schönheit des Geliebten, sondern ausschließlich auf seine Tugenden richten. Dass diesem gewandelten Liebeskonzept auch ein neuartiges Dichtungskonzept an die Seite gestellt werden muss, thematisiert das letzte Sonett der Erstausgabe. Stampa distanziert sich hier explizit vom einstigen Dichtungskonzept, das den vorangehenden Sonetten der Rime zugrunde liegt und deren Funktion vornehmlich im Lobpreis der irdischen Liebe besteht. Hier ist der Bezug auf Colonnas Rime nun offensichtlich: »Colonna [wird] konkret als Modell aufgerufen, und zwar sowohl für ein be31 Vgl. hierzu Tiller : 1996, 719 und Schulze-Witzenrath: 1974, 75.

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stimmtes, neuplatonisch fundiertes Liebeskonzept […] als auch für einen diesem Konzept angemessenen Typus der Liebesdichtung« (Schneider : 2007, 300). Das letzte Sonett der Erstausgabe der Rime Stampas sei an dieser Stelle ganz zitiert: Canta tu, musa mia, non pi¾ quel volto, non pi¾ quegli occhi e quell’alme bellezze, che ’l senso mal accorto par che prezze, in quest’ombre terrene impresso e involto; ma l’alto senno in saggio petto accolto, mille tesori e mille altre vaghezze del conte mio, e tante sue grandezze, ond’oggi il pregio a tutti gli altri ha tolto. Or sar— il tuo Castalia e ’l tuo Parnaso Non fumo ed ombra, ma leggiadra schiera di virt¾ vere, chiuse in nobil vaso. Quest’À via da salir a gloria vera, questo puý farti da l’orto a l’occaso e di verace onor chiara ed altera. (CCVI)

Ob der Sprecherin hier tatsächlich attestiert werden kann, dass sie ihre Diesseitsverhaftung überwunden hat, kann aufgrund ihres dichterischen Ruhmesstrebens zumindest in Frage gestellt werden. Nichtsdestoweniger zeugt die hier vorgeführte Hinwendung zum Neoplatonismus davon, dass die Dichterin sich nicht nur der Pluralität des Liebesdiskurses in der Frühen Neuzeit bewusst gewesen ist, sondern auch von ihrer Beherrschung unterschiedlicher Liebesdiskurse.

2.2.4 Louise Labé, Sonnets (1555) Aus dem bisher Gesagten folgt zwar, dass Louise Lab¦s Sonettzyklus nicht der erste weibliche Canzoniere ist, besondere Bedeutung kommt ihm aber dennoch insofern zu, als es sich um den ersten und nach wie vor einzigen weiblichen französischsprachigen Canzoniere handelt. Wie bereits vorweggenommen, weist Lab¦s Zyklus mehrere Ähnlichkeiten mit Stampas Rime (1554) auf. Ob die französische Dichterin diesen italienischen Canzoniere kannte, kann aufgrund der zeitnahen Publikation beider Gedichtsammlungen relativ sicher ausgeschlossen werden.32 Die offensichtlichsten Analogien zwischen beiden Canzo32 Dies gilt nicht für einzelne Gedichte Stampas, die schon vor der offiziellen Publikation

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nieri bestehen zunächst und vor allem darin, dass die jeweilige Sprecherin sich dem Leser als Verlassene präsentiert und die zugrunde liegende Liebeskonzeption auch die körperliche Dimension nicht ausschließt. Interessanter als diese Parallelen sind jedoch die Unterschiede zwischen den beiden Sammlungen. Um diese deutlich zu machen, ist es sinnvoll, das narrative Substrat, das Louise Lab¦s Sonettzyklus präsentiert, nachzuzeichnen: Hier bietet sich zunächst die Schwierigkeit, dass – anders als in Colonnas und Stampas Rime – die Anordnung der Gedichte nicht chronologisch begründet ist, sondern Lab¦ zwar unterschiedliche Phasen in der Liebe ihres weiblichen lyrischen Ich zu einem anonym bleibenden Geliebten33 poetisch dargestellt hat, diese aber keiner ›realen‹ Abfolge entsprechen. Vielmehr wird der Zyklus dadurch charakterisiert, dass Gedichte, die einen früheren Zustand der Sprecherin thematisieren, Gedichten, die einen späteren Zustand beschreiben, vorangehen. Lab¦s Sonette stehen […] fast durchweg unverbunden und ohne ersichtliche chronologische Ordnung nebeneinander, indem sie nach Art von Momentaufnahmen die jeweilige Situation der Liebenden und ihr Verhältnis zum Geliebten festhalten. So muss der Leser nach und nach mosaikartig die besondere ›petrarkistische Situation‹ dieses Canzoniere rekonstruieren. (Schulze-Witzenrath: 1974, 84)

Weniger als um ein relativ leicht nachvollziehbares narratives Substrat scheint es Lab¦ darum gegangen zu sein, schon in der Struktur ihres Canzoniere die Liebesverwirrung der Sprecherin abzubilden. Um die Besonderheiten des Zyklus aufzuzeigen, bietet es sich dennoch an, sein narratives Substrat nachzuzeichnen. Grundsätzlich lassen sich die vierundzwanzig Sonette der Sammlung drei Phasen zuordnen: Die erste Phase besteht in der vergeblichen Werbung des Mannes, die in mehreren Sonetten explizit als Werbung in petrarkistischer Manier beschrieben wird (vgl. hierzu vor allem Sonnet XXIII), und der mit Blick auf den Petrarkismus diskurskonformen und darüber hinaus hinsichtlich der damals bestehenden gender-Konventionen korrekten Ablehnung der Sprecherin. Diese Phase ist der Vergangenheit zuzuordnen. Die zweite Phase thematisiert Momente des gegenseitigen Liebesglücks, auch wenn dieser Glücksphase nur wenige Sonette gewidmet sind (vgl. hierzu vor allem Sonnet XVIII). Den größten Raum im Zyklus nimmt die Beschreibung der dritten und vorerst letzten Phase ein: In der Gegenwart der Sprecherin haben sich die Verhältnisse ins kursierten, sondern für den Zyklus als Ganzes und im Besonderen für die konkrete ›petrarkistische Situation‹ in den Rime. Vgl. hierzu Schulze-Witzenrath: 1974, 83. 33 Die Annahme, dass es sich hierbei um Louise Lab¦s Dichterkollegen Olivier de Magny handelt, muss reine Spekulation bleiben. Nichtsdestoweniger gilt er der (biographisch ausgerichteten) Forschung nach wie vor als historische Referenz des fiktionsinternen Geliebten des Zyklus und damit zugleich als der Adressat von Lab¦s Sonetten. Genährt wird diese Annahme durch zahlreiche Implikationen, die den Geliebten als Dichter erscheinen lassen.Vgl. hierzu u. a. die Sonnets 10 und 17.

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Gegenteil verkehrt: Sie hat nun ihre Liebe für den Mann entdeckt, er hat sich jedoch von ihr abgewandt. Ob der Grund für seinen Gesinnungswandel eine andere Frau ist oder allgemein die Unbeständigkeit seines Gefühls, ist – anders als in Stampas Rime – völlig offen. Wesentlich ist, dass Lab¦ ihre Sprecherin in dieser Konstellation als eine vom Geliebten Verlassene präsentiert. Diese besondere Konstellation des Zyklus bringt auf einzigartige Weise das zweite Sonett zum Ausdruck. Dieses sei hier nun in voller Länge zitiert: O beaus yeus bruns, ú regars destournez, O chaus soupirs, ú larmes espandues, O noires nuits vainement atendues, O jours luisans vainement retournez : O tristes pleins, ú desirs obstinez, O tems perdu, ú peines despendues, O mille morts en mile rets tendues, O pires maus contre moy destinez. O ris, ú front, cheveus, bras, mains et doits : O lut pleintif, viole, archet et vois : Tant de flambeaus pour ardre une femmelle ! De toy me plein, que tant de feus portant, En tant d’endrois d’iceus mon cœur tatant, N’en est sur toy vol¦ quelque estincelle. (Lab¦: 1981, 142)

Diesem Sonett kommt in mehrfacher Hinsicht eine besondere Bedeutung innerhalb des Zyklus zu: Erstens handelt es sich um das erste Sonett des Zyklus in französischer Sprache. Denn das erste Sonett ist auf Italienisch verfasst. Weist Lab¦ auf diese Weise indirekt auf das Modell Petrarca hin, so verstärkt sie diesen Bezug durch mehrere Referenzen in diesem ersten Sonett auf Petrarcas Dichtung und zum Teil fast wörtliche Übernahmen. Das heißt, dass die Dichterin zu Beginn explizit Petrarca als Bezugspunkt ihrer Sammlung hervorhebt. Dass sie das petrarkische System jedoch nicht einfach übernimmt, sondern ihre imitatio in den folgenden Sonetten, wie dies schon für die Rime Stampas festgestellt werden konnte, vor allem dem Prinzip der variatio verpflichtet ist, wird sich zeigen. Diesen Befund bestätigt schon das oben zitierte zweite Sonett des Zyklus, dessen anaphorische Struktur zunächst stark auf Petrarca und die Petrarkisten zu verweisen scheint.34 Auch soll an dieser Stelle kurz erwähnt werden, dass von Olivier de Magny, dem vermeintlichen Geliebten der Sonnets, ein Sonett exis34 Ganz konkret folgt der anaphorische Aufbau von Lab¦s Sonnet II stark Petrarcas Canzoniere 161, das vor allem die Dichter der Pl¦iade vor Lab¦ rezipiert haben. Das heißt, Lab¦s Sonett reiht sich in eine längere Tradition der Rezeption und Variation dieses Gedichtes Petrarcas ein. Vgl. hierzu Schulze-Witzenrath: 1974, 84 ff.

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tiert, dessen Wortlaut in den beiden Quartetten identisch ist mit demjenigen im vorliegenden Sonett.35 Dies soll hier nun aber keine weitere Rolle spielen. Kehren wir zunächst zur Frage der besonderen Bedeutung dieses Sonetts zurück: Zweitens findet sich in diesem Sonett der einzige eindeutige Beleg dafür, dass das lyrische Ich weiblich ist, und zwar im folgenden durch die Interpunktion mit starkem Nachdruck versehenen Vers: »Tant de flambeaus pour ardre une femmelle !« Der Begriff, der das weibliche Geschlecht der Sprecherin markiert, betont dabei zugleich ihre Schwäche und – so dürfen wir ergänzen – impliziert zugleich die allgemeine Schwäche des weiblichen Geschlechts, auf die sich auch schon Colonna und Stampa berufen haben, wenn auch in Form traditioneller Bescheidenheitstopoi. Lab¦ weist also vom (französischen) Beginn ihres Canzoniere explizit auf den von ihr vorgenommenen internen Sprecherwechsel hinsichtlich des Geschlechts hin. Dass das Gegenüber des weiblichen lyrischen Ich ein Mann ist, dürfen wir an dieser Stelle voraussetzen, denn anders als durch diese gender-Differenz lässt sich der Nachdruck, mit dem die Sprecherin ihr Geschlecht betont, kaum erklären. Und drittens geht die besondere Bedeutung des zweiten Sonetts darauf zurück, dass es auf kondensierteste Weise die spezifische petrarkistische Situation, die Lab¦s Canzoniere aufweist, formuliert: Es wurde zu Recht festgestellt, dass das Hauptmerkmal dieses Sonetts insofern eine umfassende Ambiguisierung ist, als über weite Strecken – konkret genau bis vor das ›Schlussquartett‹ – nicht zu entscheiden ist, ob sich die Beschreibungen auf den männlichen Adressaten der Rede oder das weibliche lyrische Ich beziehen.36 Mit anderen Worten: Lab¦ lässt den Leser des Sonetts im Unklaren darüber, ob es sich um eine Beschreibung des Zustandes einer verlassenen Frau oder eines vergeblich werbenden Mannes handelt. In späteren Sonetten wird die Sprecherin auf diese Werbung genauer eingehen und sie dabei als Werbung im petrarkistischen Stil desavouieren (vor allem in Sonnet 23). Auch wird hier dann deutlich, dass die Sprecherin – vollkommen in Einklang mit den damaligen gesellschaftlichen Konventionen – dieser Werbung nicht nachgegeben hat. Im Gegensatz zu den vorhergehenden Versen zeugen die letzten vier Verse nicht mehr von einer »Ambiguisierungsstrategie« (Schneider : 2007, 236) der Dichterin. Hier sind das Ich und das Du und der jeweilige Zustand deutlich voneinander geschieden: Die Sprecherin klagt den Geliebten an (»De toy me plein, […]«, v. 12), ihre Liebesglut entfacht zu haben, ihre Liebe zum gegen35 Es handelt sich dabei um das fünfundfünzigste Sonett aus Olivier de Magnys Soupirs. Wurden diese auch erst zwei Jahre nach Lab¦s Sonnets veröffentlicht, so kann nicht rekonstruiert werden, wann Magny sein Sonett tatsächlich verfasst hat und ab wann dies möglicherweise schon in Manuskriptform kursierte. So müssen alle Versuche, das genaue Verhältnis der beiden Sonette zueinander zu rekonstruieren, reine Spekulation bleiben. 36 Vgl. hierzu Ruwet: 77 ff. und Martin: 1999, 124 ff.

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wärtigen Zeitpunkt jedoch nicht zu erwidern. Viele der Sonette sind daher die poetische Liebesklage einer abgewiesenen Frau. Anders als die Sprecherin in Gaspara Stampas Rime erscheint das weibliche lyrische Ich in Louise Lab¦s Zyklus niemals in der Rolle der Werbenden. Lab¦ betont demgegenüber ja gerade das Faktum der früheren Werbung des Mannes. Damit ist eine grundsätzlich andere gegenwärtige Situation gegeben: Stampas Sprecherin dienen ihre Verse explizit auch dazu, den Geliebten zu verführen, nachdem beide bereits eine Phase der gegenseitigen Liebeserwiderung erlebt haben. Außerdem kommt es während der Aufenthalte des Conte in der Nähe der Sprecherin im Verlauf des Canzoniere immer wieder zu Momenten der körperlichen Liebe beider, die ihren Höhepunkt in der gemeinsamen Liebesnacht finden. In den Phasen seiner Abwesenheit übernimmt die liebende Frau dann aktiv die Rolle der um Zuneigung Werbenden. Lab¦ hingegen präsentiert ihre Sprecherin als eine verlassene Liebende, was primär zwei Vorteile bietet, nämlich, dass die Fiktion einer anfänglichen Werbung des Mannes und Verweigerung der Frau beibehalten und damit an die traditionelle Rollenverteilung der Geschlechter angeknüpft werden konnte. Zugleich konnte die sich zunächst umworbene, dann aber verlassene und unglückliche Liebende viel tiefer in ihre Liebe verstrickt und existentiell von ihr betroffen zeigen, als es der werbende und hoffende Mann je hatte sein können. (Schulze-Witzenrath: 22001, 75)

Die Fiktion einer früheren Werbung des nunmehr Abgewandten findet eindrucksvoll in Sonnet 17 ihren Ausdruck. Hier trifft der Leser auf das zunächst petrarkistische Motiv der Einsamkeitssuche, nur dass diese hier völlig unpetrarkistisch motiviert wird: Anders als der petrarkistisch Liebende, der eine einsame Umgebung sucht, um sich der sympathetisch zuhörenden Natur anzuvertrauen, flieht die Sprecherin vor der Werbung des Mannes in die Einsamkeit: »Je fuis la ville, et temples, et tous lieus,/ Esquels prenant plaisir — t’ouir pleindre« (v. 1 f.). Hier ist es bezeichnenderweise noch der Mann, der zur Liebesklage anstimmt. Wie sinnlos die Flucht der Sprecherin übrigens ist, bringen die letzten vier Verse des Sonetts zum Ausdruck: […] Mais j’aperÅoy, ayant err¦ maint tour, Que si je veus de toy estre delivre, Il me convient hors de moymesme vivre, Ou fais encor que loin sois en sejour. (vv. 11 – 14)

Die Schlusspointe des Sonetts besteht also in der Einsicht der Sprecherin, »daß Amor sie auch in der größten Wildnis begleitet« (Schulze-Witzenrath: 1974, 98), insofern ihre Gedanken sich auf den um sie Werbenden konzentrieren. Nun flieht die Liebende aber nicht allein vor dem drängenden Werben des Geliebten,

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sondern Lab¦ hat die Situation insofern komplexer gestaltet, als die Liebende ebenso vor ihrem eigenen Wunsch, seiner Werbung nachzugeben (vv. 5 – 10), die Flucht ergreift. Hier scheint die Dichterin auf die spätere Liebesglut der Sprecherin vorauszudeuten. Konnte bereits festgestellt werden, dass die Eigenschaft der Unbeständigkeit des Gefühls in Stampas Rime einzig dem Conte zugeschrieben wird, so sind in Lab¦s Canzoniere beide ›Protagonisten‹ von ihr betroffen: Die Sprecherin hat sich von der ablehnenden Umworbenen zur leidenschaftlich Liebenden gewandelt und der Mann vom einstmals liebenden Werbenden zum Zurückweisenden. Damit widerspricht Lab¦s Konstellation noch stärker als diejenige Stampas dem petrarkistischen Topos von der Unwandelbarkeit des Liebesgefühls. Den Wandel beider Parteien bringen die folgenden Verse aus Sonnet 16 in aller Deutlichkeit zum Ausdruck:37 Un tems t’ay vu et consol¦ pleintif, Et defiant de mon feu peu hatif : Mais maintenant que tu m’as embrasee, Et suis au point auquel tu me voulois : Tu as ta flamme en quelque eau arrosee, Et es plus froit qu’estre je ne soulois. (vv.9 – 14)

Für diesen auf beiden Seiten erfolgten Umschwung setzt Louise Lab¦ die – auch in petrarkistischen Gedichten häufig anzutreffende – Hitze-Kälte-Metaphorik ein. Allerdings ist es als Ergebnis einer völligen Verkehrung der typisch petrarkistischen Konstellation in ihren Versen der Mann, dem ablehnende Kälte (v. 14), und zwar eine solche starke, die die Sprecherin nie hätte zeigen können, vorgeworfen wird. Hierbei handelt es sich um einen »geradezu ariostische[n] Umschwung,nur daß der Wandel, der nunmehr den Mann sich entziehen und die Frau sich in Liebe verzehren läßt, für die Zeit […] schockierender genannt werden muß als der umgekehrte Fall« (Schulze-Witzenrath: 1974, 109). Die Sprecherin reagiert ab einem bestimmten Zeitpunkt an nicht mehr nicht nur nicht ablehnend, sondern sie berichtet mehrfach explizit von dem Mitleid, das sie mit dem damals noch Werbenden gehabt habe und das sie dazu veranlasst habe, nach einer adäquaten Zeit der Zurückweisung seinem drängenden Werben nachzugeben: Puis le voyant aymer fatalement, Piti¦ je pris dee sa triste aventure :

37 Vgl. hierzu vor allem auch Sonnet 20.

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Et tellement je forÅay ma nature, Qu’autant que lui aymay ardentement. (Sonnet XX, vv. 5 – 8)

Mit der Erwähnung des Mitleids evoziert Lab¦ dabei die Formel, »mit welcher der petrarkistische Liebende um die Gunst seiner Dame fleht […]« (SchulzeWitzenrath: 1974, 112). Anders als ein Mann zur damaligen Zeit muss eine Frau, die der Werbung nachgibt, ihr Verhalten rechtfertigen, zumal die Keuschheit ja gerade eine der drei weiblichen Kardinaltugenden der Frühen Neuzeit darstellt.38 Mit den idealen Tugenden eines Mannes hingegen ist der Liebesvollzug im 16. Jahrhundert durchaus kompatibel. Dass Lab¦ in ihren Sonetten – ähnlich wie Stampa in ihren Rime – auch die körperliche Dimension der Liebe zur Sprache bringt, und zwar nicht nur als Wunsch (wie beispielsweise in Sonnet XIII) oder als Erinnerung (wie beispielsweise in Sonnet XIV), sondern auch als präsentisches Erlebnis (wie beispielsweise in Sonnet XVIII), erhöht den Rechtfertigungsdruck der Sprecherin ungemein und stellt zugleich eine der grundsätzlichen Überschreitungen des petrarkistischen Systems dar. Hierauf wird zurückzukommen sein. Die Sprecherin in Lab¦s Zyklus legitimiert ihr unkonventionelles Verhalten primär dadurch, dass sie den Verlauf ihrer Liebe als vom Schicksal vorherbestimmt darstellt (vgl. vor allem Sonnet 20). Diese Begründung unterstützt sie mit dem Hinweis auf die ihr als Frau innewohnende Schwäche. Der Rechtfertigungszwang ist selbst bzw. besonders stark im vierundzwanzigsten und damit letzten Sonett des Zyklus gegenwärtig. Hier betont die Sprecherin auch nochmals ihre Hilflosigkeit, sich gegen den übermächtigen Gott Amor zur Wehr zu setzen: Ne reprenez, Dames, si j’ay aim¦ : Si j’ay senti mile torches ardentes, Mile travaus, mile douleurs mordentes : Si en pleurant, j’ay mon tems sonsum¦, Las que mon nom n’en soit par vous blam¦. Si j’ay failli, les peines sont presentes, N’aigrissez point leurs pointes violentes : Mais estimez qu’Amour, — point nomm¦, Sans votre ardeur d’un Vulcan excuser, Sans la beaut¦ d’Adonis acuser, Pourra, s’il veut, plus vous rendre amoureuses :

38 Vgl. hierzu Leopold: 2009, 44.

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En ayant moins que moy d’ocasion, Et plus d’estrange et forte passion. Et gardez vous d’estre plus malheureuses.

Dieses Sonett dient der Sprecherin jedoch nicht nur dazu, alle Schuld in Anbetracht ihrer ›sündigen‹ Liebe von sich zu weisen und die Lyoneser Damen daran zu erinnern, dass ihnen dasselbe Schicksal wie ihr widerfahren könnte, sondern auch dazu, bis zuletzt an der, wenn auch unerwiderten und darum unglücklichen Liebe festzuhalten. Sie äußert nicht nur keine Reue ob ihres Verhaltens, sondern hebt durch den Verweis auf ihre Machtlosigkeit geradezu dessen Notwendigkeit hervor. Dies bedeutet eine starke Abweichung von der typisch petrarkistischen revocatio, die den Abschluss eines Canzoniere zu bilden pflegt. Anders als in Stampas Rime findet zuletzt auch keine Abkehr vom bisherigen Liebesdiskurs statt. Insofern besteht für Lab¦ auch keine Notwendigkeit, einen neuen Dichtungsdiskurs zu entwerfen. Schließen wir dieses Kapitel mit einem Beispielsonett, das den Befund bestätigt, »dass sich im weiblichen Petrarkismus eine Tendenz zur Verschiebung hin zur Körperlichkeit beobachten lässt« (Leopold: 2009, 47) – ausgenommen von dieser Tendenz sind, wie erläutert, die Rime Vittoria Colonnas. Auch wenn das nachfolgend zu analysierende Sonnet XVIII die körperlichen Aspekte der Liebe thematisiert, weist es eine neoplatonische Transformation des Liebesdiskurses auf. Damit zeugt es zugleich von der für die Liebeslyrik der Frühen Neuzeit charakteristische Pluralisierung des Liebesdiskurses: Das Sonett vereint den neoplatonischen und den hedonistischen Liebesdiskurs.39 Zunächst und vor allem ergreift hier ein weibliches lyrisches Ich explizit das Wort. D.h. wir haben es hier mit der »Aneignung der Subjektrolle durch die Frau, die Aneignung der Sprechinstanz und damit der Sprache […]« (Tiller : 1996, 690) selbst zu tun. Bezeichnenderweise hat sich die Dichterin an männlichen Vorbildern orientiert: an Catull und seinen neuplatonischen Imitatoren.40 Hier nun also Sonnet XVIII in voller Länge: Baise m’encor, rebaise moy et baise: Donne m’en un de tes plus savoureus, Donne m’en un de tes plus amoureus: Je t’en rendray quatre plus chaus que braise. Las, te pleins tu? Åa que ce mal j’apaise, En t’en donnant dix autres doucereus. Ainsi meslans nos baisers tant heureus Jouissons nous l’un de l’autre — notre aise. 39 Vgl. hierzu Leopold: 2009, 303 ff. 40 Vgl. hierzu Marek: 2003, 65.

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Lors double vie — chacun en suivra. Chacun en soy et son ami vivra. Permets m’Amour penser quelque folie: Tousjours suis mal, vivant discrettement, Et ne me puis donner contentement, Si hors de moy ne fay quelque saillie.

Das Sonett ist als fiktiver Dialog zwischen dem lyrischen weiblichen Ich und seinem männlichen Gegenüber inszeniert. Die Überschreitung des petrarkistischen Systems im vorliegenden Sonett besteht nicht nur darin, dass hier eine Frau spricht und somit aus der Rolle des Objekts in die des eloquenten lyrischen Subjekts wechselt, sondern vor allem im Inhalt der Rede. Denn die Sprecherin des Sonetts bekennt sich offen zu ihrer erotischen Begierde und fordert ihren Partner unverhohlen zum gemeinsamen Liebesspiel auf. Signifikanterweise wird das Sonett mit einer dreifachen Variation des doppeldeutigen Verbums ›baiser‹ eröffnet: »Baise m’encor, rebaise moy et baise« (v. 1). Dass hier nicht nur ein harmloser Kuss auf die Wange erbeten wird, machen bereits die ersten vier Silben deutlich, denn die Formulierung »m’encor« entspricht lautlich beinahe genau der Wendung mon corps. Somit wird der erotische Wunsch der Sprecherin von Anfang an auf eindeutig zweideutige Weise im Textmaterial manifestiert. Die dreifache Variation der Bitte um einen Kuss (und mehr) wirkt dabei wie eine Beschwörungsformel. Sie zeigt die Sprecherin als von ihrem Liebesverlangen überwältigt, wie im Rausch ihren Gefühlen erlegen und all ihre Gedanken einzig auf die Erfüllung ihrer erotischen Begierde gerichtet. Die Dichterin erhebt den Kuss zum »[…] Zeichen der Vereinigung zweier Liebender« (Rieger : 1999, 69) und überschreitet damit den Bereich des üblicherweise in der Sonettistik Akzeptierten. Bereits das erste Wort stellt dieses Sonett in die Tradition der erotischen Liebeslyrik, insbesondere der Baiser-Dichtung – beispielsweise eines Johannes Secundus. Lab¦s Verdienst besteht neben der Verdrängung der männlichen durch die weibliche Perspektive literaturgeschichtlich auch darin, dass sie »als erste den ›szenischen‹ Baiser der konzentrierten Sonettform angepaßt hat« (Schulze-Witzenrath: 1974, 139 f). Dies stellt zwar noch keine wirkliche Abkehr von der ursprünglichen Einschränkung der Sonettistik auf die idealisierende Liebesdichtung dar, bereitet aber in der Betonung sinnlicher Momente die in Frankreich von Joachim Du Bellay initiierte »Erweiterung des thematischen Spektrums der Sonett-Dichtung auf alle Bereiche des Lebens und der Wirklichkeit […]« (Krüger : 2002, 70) vor. Das Sonett weist die Dialektik von Formtradition und inhaltlicher Innovation auf, denn im formalen Aufbau zeigt es keine Abweichungen von der im 16. Jahrhundert üblichen Form des sonnet r¦gulier, für das die Mitglieder der ¦cole lyonnaise im Gegensatz zu denjenigen der Pl¦iade in Nachahmung des von

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Petrarca in seinen Sonetten des Canzoniere verwendeten endecasillabo den d¦casyllabe bevorzugt haben. Die Innovation findet ausschließlich auf der inhaltlichen Ebene statt und bildet ein wirkungsvolles Gegengewicht zum formalen Konservatismus: Das Sonett ist nämlich im Zehnsilbler verfasst, hält größtenteils die diesem gemäß italienischer Tradition zukommende Zäsur nach der vierten Silbe ein, realisiert die klassische ›disposition lyonnaise‹ (abba abba ccd eed) und weist sogar die später von Ronsard geforderte Alternanz zwischen männlichen und weiblichen Reimen auf. Letzteres bedeutet jedoch nicht nur eine Regelbeachtung, sondern zugleich und vor allem die formale Entsprechung der inhaltlichen Aussage, nämlich dem evozierten Liebesspiel zwischen Frau und Mann. Die Gestaltung der ersten beiden Quartette und des abschließenden ›Vierzeilers‹ als zwei männliche Reimpaare, die jeweils von weiblichen Reimen umschlossen werden, entspricht insofern der inhaltlichen Aussage, als alle Initiative von der Sprecherin ausgeht, die den Mann zu umarmen begehrt. Darüber hinaus manifestiert sich die ersehnte primär sexuell orientierte Übereinstimmung mit dem Geliebten in dem überaus hohen Reimfüllegrad (v. a. rime l¦onine, rime suffisante und rime riche). Dies zeugt von einem korrespondierenden Verhältnis zwischen »contenu et contour, entre matiÀre et maniÀre, entre Gehalt et Gestalt« (Jost: 1989, 120 f.). Die Unauffälligkeiten in formaler Hinsicht werden durch mehrere Neuerungen auf der Aussageebene ergänzt: Die augenfälligste besteht zunächst und vor allem in der Grundsituation, die eine doppelte Abwendung vom (männlichen) Petrarkismus beinhaltet. Nicht nur bleibt die Frau nicht wie in der entsprechenden Liebeslyrik stumm, sondern sie fordert ganz im Gegensatz hierzu selbstbewusst zum Vollzug des sexuellen Aktes auf: »Die traditionelle Rollenverteilung wird umgekehrt, die stumme, nicht greifbare Geliebte wird zu einer äußerst lebendigen und eloquenten Liebenden.« (Pieper : 1999, 102) Das Objekt der traditionellen Liebeslyrik lädt hier selbst zum erotischen Liebesspiel ein. Diese grundsätzliche Verkehrung des petrarkistischen Systems wird darüber hinaus durch weitere aussagekräftige Abweichungen von diesem ergänzt. Zum Beispiel beklagt der im Stile Petrarcas Werbende vergeblich die Kälte seiner Angebeteten, die auf »die Bitten des Geliebten kalt wie Eis, hartherzig und grausam […]« (Schulze-Witzenrath: 1974, 85) reagiert. Demgegenüber ist die Sprecherin im Lab¦schen Sonett nicht gewillt, ihr inneres Feuer zu verbergen, dem Adressaten werden vier Küsse »plus chaus que braise« (v. 4) versprochen. Am Rande nur sei bemerkt, dass dieser vierte Vers nicht nur die Subversion eines männlichen literarischen Vorgängers (Petrarcas), sondern zugleich auch die Variation eines anderen darstellt, denn schon Du Bellay dichtet in L’Olive XLIV folgenden Vers: »Par voz baisers se faict plus chault que braize.« (Du

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Bellay : 1969, I: 64)41 Eine weitere Überschreitung des petrarkistischen Systems besteht darin, dass nicht der Sprecher in seiner Eigenschaft als unglücklich Liebender, da vergeblich Werbender, Kummer empfindet, sondern der angesprochene Partner (»Åa que ce mal j’apaise«, v. 5). Die dem Petrarkisten typische »dolendi voluptas« (Hoffmeister : 1997, 123) weicht der dieser entgegengesetzten Begierde nach Erfüllung des primär erotischen Verlangens. Trotz der eindeutigen Zweideutigkeit ihres gewählten Gegenstandes verfällt die Dichterin im Gegensatz zu vielen ihrer männlichen Kollegen (u. a. aus dem Kreise der Pl¦iade) dennoch nicht ins im heutigen Wortsinn Pornographische.42 Das im Sonett thematisierte Liebesspiel aus weiblicher Perspektive ist nicht vergleichbar mit dem »franc ¦rotisme, la sensualit¦ drue d’un Ronsard ou d’un Baf […]« (Tyard: 1967, 76) – dies vor allem deshalb, weil Lab¦ das sexuelle Begehren und die sexuellen Fantasien ihres lyrischen Ich in den Versen 9 und 10 des Sonetts explizit auf eine rein geistige Ebene hebt. Nach der anfänglichen Betonung der Sinnlichkeit, die v. a. durch entsprechende Adjektive (»savoureus«, v. 2; »chaus«, v. 4 und »doucereus«, v. 6) erzielt wird, wirkt der Rekurs in den Versen 9 und 10 auf neoplatonistisches Gedankengut umso überraschender. Das Ergebnis ist eine »Polylogisierung unterschiedlicher Diskurse« (Tiller : 1996, 758). Lab¦ gibt ihrem Sonett die von Bembo eröffnete neoplatonische Wende. Der Akzent wird vom Verlangen nach Befriedigung der rein körperlichen Bedürfnisse unvermittelt auf den geistigen Bereich verlagert, vom »horizon classique du basium catullien […] — celui de l’humanisme n¦o-platonicien.« (Rigolot: 1997, 220) Lab¦ variiert in ihrem Sonett die dieser Philosophie eigene Vorstellung, derzufolge der wahrhaft Liebende, dessen Gefühle auch erwidert werden, sich selbst stirbt, um im geliebten Wesen zu einem doppelten Leben aufzuerstehen: »Lors double vie — chacun en suivra./ Chacun en soy et son ami vivra« (vv. 9 f.). Von der großen Originalität der Dichterin zeugt dabei ihr Umgang mit der zur damaligen Zeit (nicht zuletzt auch Pontus de Tyard durch seine Übersetzung von Leone Ebreo Dialoghi d’amore zu verdankenden) weit verbreiteten neoplatonistischen Annahme eines Lebens in der geliebten Person: »Louise Lab¦ devait lui donner un sens litt¦ral et physique : elle devait […] faire entrer dans les corps cette belle union des –mes rÞv¦e par le n¦o-platonisme.« (Lab¦: 2004, 26) Gerade die Verbindung von erotischer Sinneslust und Liebesphilosophie macht den besonderen Reiz des Lab¦schen Textes aus und unterscheidet ihn von den zahlreichen anderen Gedichten der von Catull und den Neulateinern gepflegten und besonders in der Zeit der Renaissance florierenden Gattung des Basium. Aus der augenblicksgebundenen Aufforderung zum Kuss und Geschlechtsakt in den Versen 1 bis 8 »erwächst sodann der Aufschwung des 41 Es handelt sich um Olive XLIV, v. 8. In Du Bellay (1969 – 70), I: S. 64. 42 Zu Lab¦s Sensualismus vgl. Giudici: 1981, 55.

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ersten Terzetts. Er hebt die gegenseitige Beglückung nun ausdrücklich auf eine geistig-seelische Ebene und verspricht für die Zukunft die innigste Vollendung der Gemeinschaft« (Schulze-Witzenrath: 1974, 129). Die folgenreichste Abwendung von der Tradition des Petrarkismus besteht zweifelsohne in der Darstellung eines erotischen partnerschaftlichen Austausches zwischen dem weiblichen lyrischen Ich und seinem männlichen Gegenüber (»son ami«, v. 10) und der diesem zugrunde liegenden Annahme der Gegenseitigkeit des Liebesgefühls. Am deutlichsten schlägt sich dies in Lab¦s Gebrauch der Verben donner und rendre nieder, zumal hierdurch ein Wechselspiel zwischen beiden Partnern etabliert wird. Zunächst wird die Handlung des donner dem Adressaten zugeordnet (vv. 2 f.). Dies geschieht im Rahmen der anaphorisch-parallelistischen Struktur der entsprechenden Verse mit beachtlicher Nachdrücklichkeit. Dem erbetenen Akt des Gebens von Seiten des Mannes steht dabei die Bereitschaft zur Gegenleistung von Seiten der Frau gegenüber (v. 4). Die Wechselbeziehung zwischen beiden Verben gestaltet sich in den ersten vier Zeilen des Sonetts daher als »quÞte fi¦vreuse de r¦ciprocit¦« (Martin: 1999, 274). Im zweiten Quartett hingegen wird das zuvor dem Geliebten zugeordnete Verbum donner ohne weiteres auf das weibliche lyrische Ich übertragen – dieses Mal ist sie es, die zuerst zu geben bereit ist: »En t’en donnant dix autres doucereus« (v. 6). Im vorletzten Vers des Sonetts kommt das donner erneut der Sprecherin zu, jedoch nicht mehr in seinem ursprünglichen Sinn des Gebens, sondern in einer übertragenen Bedeutung: »Et ne me puis donner contentement« (v. 13). Nachdem die Sprecherin zu der Einsicht gelangt ist, dass die erwünschte sexuelle Vereinigung mit dem Partner nichts weiter als ein Wunsch ist und bleibt, wird gerade das Verb, das zuvor im Traum vom gemeinsamen Liebesglück den partnerschaftlichen Austausch illustriert, nur noch auf die Sprecherin in ihrer Vereinzelung bezogen. Auf diese Weise wird der Diskrepanz zwischen Wunsch und Wirklichkeit Ausdruck verliehen. Strukturell gehört das Sonett dem Typus des ›szenischen Baiser‹ an.43 Das »encor« (v. 1) macht deutlich, dass es sich um einen Beginn in media res handelt, der das vorausgegangene Geschehen allerdings leicht erahnen lässt. Die ersten vier Verse evozieren die imaginäre Szene eines Austausches von Küssen, wobei bezeichnenderweise alle Initiative vom weiblichen lyrischen Ich ausgeht: Sie ist es, die Küsse und Zärtlichkeiten mittels imperativischer Formulierungen von ihrem Partner sogar verlangt (vv. 1 bis 3), ihm im Austausch dafür aber auch Küsse verspricht: »Je t’en rendray quatre plus chaus que braise« (v. 4). Die dreifache Variation der Bitte um einen Kuss (v. 1) offenbart dabei ebenso die erotische Begierde der Sprecherin wie die große »spatial dimension« (Gooley : 1993, 58) des Imperativs in Form des zweifachen Parallelismus der Verse 3 und 4 43 Vgl. hierzu Schulze-Witzenrath: 1974, 135.

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(»Donne m’en un de tes plus« + jeweiliges Epitheton). Dass lediglich ein Kuss gefordert (»un«, vv. 2 und 3), im Gegenzug dafür aber nicht weniger als die vierfache Anzahl von Küssen geboten wird (»Je t’en rendray quatre plus chaus que braise«, v. 4), wirft ein ebenso deutliches Licht auf Lab¦s Sicht von Mann und Frau wie der Umstand, dass es in ihrem Sonett der männliche Part ist, der – die traditionell Laura vorbehaltene Rolle einnehmend – zum Schweigen verurteilt bleibt. Auch erscheint er passiv, nur als Adressat der Aufforderungen der Sprecherin (vv. 1 bis 3) oder zukünftiger Empfänger ihrer Zärtlichkeiten (vv. 4 und 6). Der einzige Bezug auf eine von ihm ausgehende Handlung oder Haltung geschieht signifikanterweise lediglich in indirekter Form: »Las, te pleins tu?« (v. 5). Auch hier erscheint seine Handlung jedoch nicht direkt, sondern durch das Reflektionsvermögen des weiblichen lyrischen Ich vermittelt. Diese an den Geliebten gerichtete Frage markiert zugleich den Einsatz einer neuen Szene. Lab¦ macht sich hier die traditionelle Sonettstruktur, nämlich den Einschnitt zwischen erstem und zweitem Quartett, zunutze. Im folgenden Vers verspricht die Liebende ihrem Partner erneut Küsse, wobei dieses Mal die Zahl von vier sogar auf zehn erhöht wird, um dem immer dringlicher werdenden Wunsch nach Erfüllung der erotischen Begierde Ausdruck zu verleihen und die sich steigernde Intensität des Verlangens sprachlich wiederzugeben. Mit Recht kann man von einem »furiosen Crescendo« (Rieger : 1999, 69) sprechen. Dieses erreicht in den folgenden beiden Versen seine Klimax: »Ainsi meslans nos baisers tant heureus/ Jouissons nous l’un de l’autre — notre aise« (vv. 7 f.). Auch ohne die Hintergrundinformation, dass die Formulierung ›jouir — son aise‹ in der Lyoner Schule bevorzugt als Umschreibung des sexuellen Aktes verwendet wird, stellen diese Verse das Ziel alles erotischen Sehnens der Sprecherin dar. Formal ist dies daran erkennbar, dass statt der Pronomina der ersten oder zweiten Person Singular ausschließlich solche der ersten Person Plural Verwendung finden: Dies ist ein Zeichen dafür, dass in der Imagination des lyrischen Ich die sexuelle Vereinigung erfolgreich ist. »Zum Abschluß der Quartette fassen sie [scil. die Verse 7 und 8; B.N.] deren Sinnenfreude und Beglückung noch einmal zusammen, wobei mehrmals durch entsprechende Pronomina der ersten Person Plural die leibliche Gemeinschaft hervorgehoben wird.« (Schulze-Witzenrath: 1974, 129) Der erotische Gehalt dieser Verse bereitet dabei keineswegs auf den philosophischen Ansatz der beiden folgenden Verse vor, sondern steht in deutlichem Kontrast zu diesem: »Lors double vie — chacun en suivra./ Chacun en soy et son ami vivra« (vv. 9 f.). Diesen beiden Versen kommt auf mehrfache Weise eine Sonderstellung zu. Denn zum einen werden sie durch die Lyoner Strukturvariante des Sonetts, die die traditionelle Aufteilung der letzten sechs Verse in zwei Terzette durch die Aufteilung in Distichon und abschließenden ›Vierzeiler‹ unterläuft, und zum anderen durch die Verwendung eines Paarreimes von den übrigen Versen abgesondert. So erscheinen sie – eingerahmt von drei reimbe-

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dingten Quartetten – als Kernstück des Sonetts, als Quintessenz, die dessen Gehalt komprimiert umfasst. Wichtiger noch ist allerdings die Tatsache, dass hier weder Pronomina der ersten oder zweiten Person Singular noch der ersten Person Plural verwendet werden. Stattdessen setzt Lab¦ zweimal das neutrale »chacun« (vv. 9 und 10) ein, wodurch der Aussage ein allgemein gültiger Charakter verliehen wird, der die Einmaligkeit des geschilderten sexuellen Erlebens in den vorangehenden Versen übersteigt. Die Allgemeingültigkeit wird darüber hinaus auch durch die Verwendung des Futurs I unterstützt: Die Verben »suivra« (v. 9) und »vivra« (v. 10) markieren deutlich die Distanz der Sprechenden zum Inhalt der Rede und somit zugleich die Diskrepanz zwischen erotischer Phantasie und ernüchternder Realität, zwischen Wunsch und Wirklichkeit. Lab¦ formuliert in ihrem Distichon in epigrammatischer Kürze die neoplatonistische Vorstellung eines Lebens im anderen (»double vie«, v. 9).44 Bedeutsam, weil eine Verkehrung der ursprünglichen Idee, ist dabei die vertretene Annahme, dass die Erfüllung des sinnlichen Begehrens sich als conditio sine qua non für die geistige Vereinigung der Liebenden erweist: »Lab¦’s revision of Neoplatonism, therefore, represents a much broader accommodation of sexual love; more than a catalyst, in fact, sexual love becomes the emblem or analogy for Platonic union.« (Baker : 1996, 157) Außerdem ist es für die im Sonett entworfene Liebeskonzeption von erheblicher Bedeutung, dass der Akzent, im Gegensatz zur neoplatonistischen Tradition des Todes des Selbst und der petrarkistischen Tradition des Selbstverlustes, vollständig auf das durch die »vraye et entiere Amour« (Lab¦: 1981, 42), wie es in Lab¦s Prosatext D¦bat de Folie et d’Amour (1555) heißt, ermöglichte verdoppelte Leben (»double vie«, v. 9) verschoben ist. Dies geschieht nicht nur auf der inhaltlichen, sondern auch auf der formalen Ebene: Im Textmaterial wird das double vie dabei in der Weise abgebildet, dass zwei Vertreter aus der Wortfamilie des Lebens in Form einer figura etymologica in zwei aufeinander folgenden Versen in einer Art chiastischer Anordnung verwendet werden (»vie«, v. 9 und »vivra«, v.10). Im Gegensatz zu der generellen Aussagekraft des Distichons im Paarreim (vv. 9 und 10) erscheint die vollkommen auf die Sprecherin verengte Perspektive des abschließenden ›Vierzeilers‹, die sich im ausschließlichen Gebrauch des Pronomens der ersten Person Singular niederschlägt. Ein weiterer Kontrast entsteht dadurch, dass das lyrische Ich zwar erneut einen Imperativ formuliert, dieser sich von denjenigen der ersten drei Verse aber auf zweifache Weise unterscheidet: Statt an den Geliebten ist er an die Personifikation der Liebe, den Gott Amor selbst, gerichtet, und er bittet nicht wie diese um körperliche Zu44 Vgl. hierzu Ficinos Kommentar zum Symposion II, VIII: »O felicem mortem quam duae vitae secuntur. Quotiens duo aliqui mutua se benivolentia complectuntur, iste in illo, ille in isto vivit.«

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wendung, sondern um die Erlaubnis zu einer geistigen Tätigkeit: »Permets m’Amour penser quelque folie« (v. 11). Dem Kontrast wird durch die alliterative Verbindung von permets und penser besonderer Nachdruck auf der klanglichen Ebene verliehen. Äußerst zweideutig wird der Vers dadurch, dass nicht klar ist, ob sich die »folie« auf die vorhergehenden Verse und somit die Evokation des Liebesvollzugs oder aber auf das nachfolgende Bekenntnis der Sprecherin oder beides zugleich bezieht. In jedem Fall kommt diesem Vers im Sonettwerk Lab¦s insofern besondere Bedeutung zu, als hier zum einzigen Mal die »folie« explizit genannt wird. Erstaunlich ist deren geringe Präsenz, wenn man bedenkt, dass die Dichterin in ihrem Prosadialog D¦bat de Folie et d’Amour der Torheit eine ebenso wichtige Rolle wie dem Liebesgott selbst zugesteht. Der engen Verbindung zwischen Amour und Folie, die im Dialog durch Jupiters letztes Urteil geschaffen wird (»Et […] vous commandons vivre amiablement ensemble, sans vous outrager l’un l’autre. Et guidera Folie l’aveugle Amour, et le conduira par tout o¾ bon lui semblera.« (Lab¦: 1981, 93)), wird im Sonett dadurch Ausdruck verliehen, dass beide auf engstem Raum, nämlich innerhalb eines einzigen Verses, Erwähnung finden. Hierdurch trägt Louise Lab¦ der (nicht nur in der Zeit der Renaissance) weit verbreiteten Vorstellung Rechnung, dass die Liebe nahe der Torheit liege – man denke nur an Ariosts Orlando furioso oder Erasmus von Rotterdams Encomium morias. An dieser Stelle ist dem Urteil zuzustimmen, dass nach dem im Sonett entworfenen Konzept die Liebe nicht nur die Grenzen der Vernunft überschreitet, sondern auch diejenigen der literarischen Traditionen des Petrarkismus und des Neoplatonismus.45 Die abschließenden drei Verse des Sonetts stellen die Erläuterung der »folie« (v. 11) dar. Die hier von der Sprecherin geäußerte Einsicht besteht darin, dass ihr nur ein extrovertiertes Leben das Gefühl einer inneren Zufriedenheit bescheren kann. Dies bezieht sich dabei sowohl auf ihr Sexualverhalten, nämlich ein Leben in Ekstase, als auch auf die Veräußerlichung der intimsten Gefühle im Akt des Schreibens. Erotisches Schreiben erweist sich als Antizipation und Substitution des Eros. Dies bekräftigt Apollos Behauptung im D¦bat: »Brief, le plus grand plaisir qui soit aprÀs amour, c’est d’en parler.«46 (Lab¦: 1981, 59) So einfach die inhaltliche Aussage an dieser Stelle zu sein scheint, als so raffiniert und feinsinnig gesponnen erweist sich Lab¦s Formulierung. Denn sowohl das »vivant discrettement« (v. 12) als auch der absichtlich in suggestiver finaler Stellung positionierte Begriff »saillie« (v. 14) zeichnen sich durch einen hohen Grad an Ambiguität aus. Das Adverb »discrettement« kann je nach wertneutralem oder normativem Gebrauch zweierlei bedeuten, nämlich »separateness« (Baker : 1996, 159) und »wisely or properly in the moral sense« (Baker : 1996, 159). Erstere Bedeutung bewegt sich 45 Vgl. hierzu Baker : 1996, 158. 46 D¦bat de Folie et d’Amour, Discours V, Zeile 429 f.

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dabei in den vertrauten Bahnen des Petrarkismus und Neoplatonismus, denn Einsamkeit oder das Scheitern einer geistigen Gemeinschaft mit dem Partner führen hier jeweils zum Leid des Liebenden (»Tousjours suis mal […]«, v. 12). Demgegenüber beinhaltet letztere einen Bruch mit beiden Traditionen, in denen der Liebende den Primat der moralischen Integrität gegenüber seinen sexuellen Neigungen bereitwillig akzeptiert. Als ebenso ambig wie der zwölfte Vers erweist sich auch der letzte Begriff des Sonetts: »saillie« (v. 14). Rigolot hat zuerst auf die Doppeldeutigkeit, den militärischen und den biologischen Sinn, des Wortes hingewiesen: »›faire saillie‹ c’est op¦rer une brusque sortie pour briser le siÀge et repousser l’assaillant. En outre […] la ›saillie‹ d¦signe l’accouplement des animaux« (Rigolot: 1997, 224). Auch wenn letztere Bedeutung sich dem erotischen Gehalt des Sonetts fügt, so darf dennoch die von Rigolot nicht berücksichtigte poetologische Implikation nicht unterschätzt werden. Eine ausschließlich erotische Interpretation des Abschlussverses (wie zum Beispiel bei Rigolot47) muss sich daher als unzureichend erweisen. Gerade die Verbindung von Liebes- und Dichtungsdiskurs macht den Gehalt des Vierzehnzeilers aus, die Tätigkeit auf literarischem Gebiet erweist sich als Ersatz für das unbefriedigte sexuelle Verlangen der Sprecherin: »L’impossible plaisir amoureux cÀde au plaisir litt¦raire« (Martin: 1999, 278). Innere Zufriedenheit und Befriedigung kann das lyrische Ich (und vielleicht ja auch die Dichterin Louise Lab¦) nur finden, wenn es aus sich herausgeht, sich ganz im Gegensatz zu Petrarcas Laura äußern kann. Deutlicher noch als hier tritt dieser Zusammenhang in Verbindung mit der Summe der Küsse, die dem Geliebten von der Sprecherin in Aussicht gestellt werden, zutage: nicht zufällig ergibt die Addition der zunächst vier (v. 4) und später zehn versprochenen Zärtlichkeiten (v. 6) die exakte Anzahl der Verse des Sonetts. Und auch die Handlung des Liebenden, sein Klagen (»pleins«, v. 5), fügt sich als »synecdoque du discours amoureux« (Martin: 1999, 274) einer poetologischen Interpretation. Gerade die Verquickung von Liebes- und Dichtungsdiskurs sowie diejenige von erotischer Sinnlichkeit und platonistisch-petrarkistischer Liebeskonzeption machen das Besondere des Lab¦schen Sonetts aus. Ihre besondere Leistung liegt auch in ihrer eigenwilligen Behandlung des nicht nur im 16. Jahrhundert weit verbreiteten Kuss-Motivs, das in der Gattung des basium bis auf Catull zurückreicht: »The stereotype serves as a springboard for Louise Lab¦. […] The traditional image of the kiss has a double function in her texts, both conventional and original.« (Gooley : 1993, 60) Der Dichterin ist es in diesem Sonett auf eindeutig zweideutige Weise gelungen, der sinnlichen Begierde ihrer Sprecherin Ausdruck zu verleihen, ohne 47 In diesem Sinne fasst Rigolot Sonnet XVIII ausschließlich als »d¦veloppement m¦tonymique du paradigme ¦rotique« (Rigolot: 1997, 224) auf.

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Die Diffusion von Diskurstypen und die Teilglobalisierung poetischer Produktion

dabei ins Pornographische zu verfallen, aber auch ohne sich hinter bloßen Andeutungen des Liebesspiels zu ›verstecken‹. In einer Zeit wie der Renaissance, in der die (männliche) Liebesdichtung weitgehend von naturalistisch-sensualistischen Elementen geprägt ist, bedeutet dies eine ebenso willkommene Abwechslung wie der Umstand, dass das Liebesspiel hier aus der weiblichen Perspektive dargestellt ist. Hierin und nicht in Gooleys Behauptung, Louise Lab¦ sei »the first woman to attempt an imitation of the Basia […]« (Gooley : 1993, 52), muss die literaturgeschichtliche Bedeutung ihres berühmten Kuss-Sonetts gesehen werden. Die Lyoner Dichterin war zwar nicht die erste weibliche BasiumVertreterin, denn die trobairitz sind ihr zuvorgekommen, aber niemals zuvor wurde die erotische Begierde einer Frau auf vergleichbare Weise zum Gegenstand eines französischen Sonetts erhoben – nämlich zugleich sinnlich und philosophisch, Körper und Seele der Liebenden in gleichem Maße einbeziehend.

2.3

Transformationen des petrarkistischen Liebesdiskurses

Eine der wesentlichen Grundbedingungen zur Etablierung und Verbreitung poetischer ›Systeme‹ oder Diskurstypen wie des Petrarkismus ist die konzeptionelle Reduktion auf einen überschaubaren Kanon imitierbarer Formen und Formeln. Diese notwendige Reduktion auf das Wesentliche und damit zugleich Nachahmbare sorgt zugleich für eine Beschränkung, die mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit zur zeitnahen Herausbildung eines Gegendiskurses oder ›Antisystems‹ führt. Im Folgenden soll es darum gehen, unterschiedliche Stufen einer solchen Entwicklung im Falle des Petrarkismus aufzuzeigen. Hierfür werden unterschiedliche Transformationen eines semantischen Feldes, nämlich der äußeren Erscheinung der oder des Geliebten präsentiert, wobei die Funktion des jeweiligen Sonetts als Variation des Modells oder als contre-texte zu diesem deutlich erkennbar wird. Auf diese Weise kann die Umformung oder Erweiterung des Prätextes und schließlich die völlige Abkehr von diesem aufgezeigt werden. Betrachten wir nun zunächst das folgende Sonett aus dem Canzoniere: XC Erano i capei d’oro a l’aura sparsi che ’n mille dolci nodi gli avolgea, e ’l vago lume oltra misura ardea di quei begli occhi ch’or ne son s‡ scarsi; e ’l viso di pietosi color farsi, non so se vero o falso, mi parea: i’ che l’¦sca amorosa al petto avea, qual meraviglia se di s¾bito arsi?

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Non era l’andar suo cosa mortale, ma d’angelica forma; et le parole sonavan altro, che pur voce humana. Uno spirto celeste, un vivo sole fu quel ch’ i’ vidi: et se non fosse or tale, piagha per allentar d’arco non sana. (Petrarca: 1996, 276)

Die Grundsituation dieses Sonetts besteht darin, dass das lyrische Ich sich die Schönheit der von ihm geliebten Dame – aus dem Kontext des Canzoniere ergibt sich, dass es sich um Laura handelt – aus seiner Erinnerung heraus vergegenwärtigt. Schon das erste Wort leitet die Retrospektive ein. Im Folgenden wird die Schönheit der Angebeteten beschworen, und zwar zunächst unter Nennung ihrer Haare, ihrer Augen und ihres Gesichts. Hier beschreibt das lyrische Ich die konkrete Schönheit der Geliebten, allerdings bildet diese im Folgenden den Ausgangspunkt zur ›Entmenschlichung‹ der geliebten Dame, und zwar zunächst durch die Vergöttlichung der Dame (durch ihren engelhaften Gang, v. 9 f.; ihre nicht menschliche Stimme, v. 11) und ihre metaphorische Transformation zur Sonne (»vivo sole«, v. 12). Dies entspricht der Liebeskonzeption, die völlig von der sinnlichen Gestalt der geliebten Dame und damit zugleich auch vom körperlichen Aspekt der Liebe absieht. Es ist interessant zu beobachten, wie ein ›faßbar‹ begonnenes Porträt sich verflüchtigt und zunehmend vergeistigt wird, so daß die dargestellte Gestalt immer abstrakter wird, um schließlich in einer bloßen Metapher aufzugehen. (Schlütter : 1979, 29)

Das folgende Sonett aus der Feder Pietro Bembos ist zwar augenscheinlich an Petrarcas Gedicht orientiert, überwindet das petrarkistische System zugleich aber auch in der Hinsicht, dass er die petrarkische Vorlage mit neoplatonischem Gedankengut amalgamiert. Wie Bembos Rime (1530) im Allgemeinen, zeugt auch das folgende Sonett von einer Platonisierung des petrarkistischen Liebesdiskurses. Bembos Vorliebe für die neoplatonische Liebeskonzeption, und zwar vor allem aufgrund der Integration des Aspekts der Gegenseitigkeit des Liebesgefühls, die zur körperlichen Vereinigung der Liebenden als Voraussetzung für ihre geistige Vereinigung führt, legt schon seine bekannte Dialogschrift Gli Asolani (1505) nahe. Bembo löst das petrarkistische Liebesmodell durch die Vorstellung einer gelebten zwischenmenschlichen Liebe, die den Weg zu Gott weist, ab. Das heißt, er führt statt des monologischen Prinzips im Petrarkismus, das die Umworbene einzig als Projektionsfläche für den Liebes- und Dichtungsdiskurs nutzt, ein dialogisches Prinzip ein. Dieses alternative Liebesmodell lässt sich komprimiert mit Bembos Beschreibung der Liebenden als »amanti accorti« (v. 9) im Proömilasonett der Rime (Bembo: 1992, 507) fassen, insofern dieses

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die neuplatonische Aufhebung des petrarkisch-petrarkistischen Liebesleids [beinhaltet]: Während sich bei Petrarca eine grundsätzliche Absage an alles Irdische findet, […] geht es bei Bembo darum, daß die ›amanti‹ nicht etwa auf ihre Liebe verzichten, sondern ›accorti‹ sind, und dies sind sie, indem sie die Welt als Emanation Gottes und d. h. der göttlichen bellezza und bont— erkennen und solchermaßen den Weg zu Gott finden. (Hempfer : 1991, 27)

Zwar zeigt das folgende Sonett aus Bembos Sammlung nicht den für diese typischen »hedonistisch überformten Neuplatonismus« (Leopold: 2009, 103) und damit eine als antinom zum Petrarkismus angelegte Liebeskonzeption, aber dennoch die Erweiterung des Petrarkismus um einen platonisch geprägten Gedanken. Ausgewählt wurde gerade dieses Sonett, weil es eine große Nähe zum oben zitierten Sonett Petrarcas besitzt: V Crin d’oro crespo e d’ambra tersa e pura, ch’a l’aura su la neve ondeggi e vole, occhi soavi e pi¾ chiari che ’l sole, da far giorno seren la notte oscura, riso, ch’acqueta ogni aspra pena e dura, rubini e perle, ond’escono parole s‡ dolci, ch’altro ben l’alma non výle, man d’avorio, che i cor distringe e fura, cantar, che sembra d’armonia divina, senno maturo a la pi¾ verde etade, leggiadria non veduta unqua fra noi, giunta a somma belt— somma onestade, fur l’esca del mio foco, e sono in voi grazie, ch’a poche il ciel largo destina. (Bembo: 1992, 510 f.)

Die Nähe zu Petrarcas Sonett entsteht zunächst und vor allem dadurch, dass auch Bembo von den Haaren und Augen der Dame zu deren übrigem Gesicht und zu ihrer Stimme fortschreitet. Diese ergänzt er jedoch durch weitere ihr zugeordnete Qualitäten, die sich alle auf den geistigen Bereich beziehen und folglich immaterieller Natur sind, nämlich Verstand (»senno maturo«, v. 10), Liebreiz (»leggiadria«, v. 11) und Ehre (»onestade«, v. 12). All diesen Qualitäten lässt sich ein platonistischer Zug nicht absprechen. Die größte Anlehnung des Sonetts an den Platonismus findet sich am Ende des vierten Verses, der mit der Erwähnung einer »notte oscura« (v. 4) endet, und zwar deshalb, weil hier die Vorstellung der Anamnese impliziert ist, die die Wiedererinnerung der in irdischer Dunkelheit verhafteten Seele an ihren himmlischen Ursprung meint. Den Worten der Dame wohnt daher auch ein Gut inne, das die Seele erfüllt, und der Gesang verweist schließlich auf die Harmonie der himmlischen

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Sphären. Damit entwirft Bembo eine Stufenleiter, die vom Sinnlich-Diesseitigen in den immateriellen Bereich ewiger Ideen führt, und illustriert somit eindrücklich den eidetischen Schönheitsbegriff; denn indem der Sprecher sich an der ›somma belt—‹ (v. 12) seiner Dame entzündet, wird er immer auch teilhaftig am summum bonum göttlicher Schönheit. (Leopold: 2009, 103)

Anders als bei Petrarca und den Petrarkisten spielt bei Bembo der Aspekt der körperlichen Liebe eine wichtige Rolle. Insofern stellen schon seine Rime eine Transposition des ›petrarkistischen Systems‹ dar, und zwar vor allem durch eine Platonisierung des petrarkistischen Diskurses. Eine umfassendere Transposition des bzw. teilweise Abkehr von der petrarkistischen Dichtung findet sich im folgenden Sonett von Louise Lab¦, die wie bereits erläutert, zum weiblichen Petrarkismus gezählt wird: XXIII Las ! que me sert, que si parfaitement Louas jadis et ma tresse dor¦e, Et de mes yeux la beaut¦ comparee A deus Soleils, dont Amour finement Tira les traits causez de ton tourment ? O¾ estes-vous, pleurs de peu de duree ? Et Mort par qui devoit estre honoree Ta ferme amour et iter¦ serment ? Donques c’¦toit le but de ta malice De m’asservir sous ombre de service ? Pardonne-moy, Ami, — cette fois, Etant outree et de despit et d’ire : Mais je m’assure, quelque part que tu sois, Qu’autant que moy tu soufres de martire. (Lab¦: 1981, 163)

Vor allem das bereits als ein Repräsentant des so genannten weiblichen Petrarkismus angeführte achtzehnte Sonett aus Louise Lab¦s Sonettzyklus lässt keinen Zweifel daran, dass die Frau die Rolle einer aktiv fordernden Liebenden einnimmt. Dies hat eine »gender-spezifische Umkodierung der Rollen von Liebender und Geliebtem […]« (Schneider : 2007, 317) zur Folge. Dennoch stellt sich die Frage, ob Louise Lab¦ die traditionellen und zu ihrer Zeit gültigen Geschlechterrollen und den diesen entsprechenden Liebesdiskurs in ihrem Zyklus tatsächlich immer unterläuft. Es wäre zu fragen, ob Lab¦ in ihren Sonnets nicht viel eher ein weibliches lyrisches Ich inszeniert, das zumindest in puncto Werbung den traditionellen Geschlechterrollen der damaligen Zeit verpflichtet bleibt und dem »gender-crossing« (Schneider : 2007, 317) auf diese Weise

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Die Diffusion von Diskurstypen und die Teilglobalisierung poetischer Produktion

Grenzen gesetzt hat. Eine Werbung von Seiten des Mannes wird ja nicht prinzipiell abgelehnt, sondern nur, wenn sie auf stereotyp petrarkistische Weise betrieben wird, wie dies im Fall der früheren Werbung um das weibliche lyrische Ich der Fall gewesen ist. Daran lässt das vorletzte Sonett des Zyklus, das diese Werbung Revue passieren lässt, keinen Zweifel. Auch dieses Sonett ist wieder als inszenierter Dialog gestaltet, und wieder wird »die weibliche Leerstelle im petrarkistischen System« (Oster : 1995, 44) ausgefüllt. Mit diesem Sonett, bei dem es sich um das vorletzte des Sonettzyklus von Louise Lab¦ handelt, wendet sich das lyrische Ich ganz gezielt gegen den petrarkistischen Liebesdiskurs und seine stereotype Liebesmetaphorik. Schon der Beginn beinhaltet eine Reminiszenz an das in Petrarcas Canzoniere häufig anzutreffende lasso. Im Unterschied zu diesem zielt Lab¦s las »auf die Schmerzliebe selbst, die es als bloße Masche desavouiert« (Leopold: 2009, 285). Im vorliegenden Sonett wird in Bezug auf das dem Zyklus zugrunde liegende narrative Substrat deutlich, dass der in der Gegenwart der Sprecherin bereits abtrünnige Geliebte einst in petrarkistischer Manier um sie geworben hat und sie ihn – den Konventionen entsprechend – zunächst zurückgewiesen hat. Als sie dann jedoch plötzlich ihre Liebe für ihn entdeckte, wandte er sich von ihr ab. Diese Fiktion der verlassenen Liebenden bot Louise Lab¦ – und fast zeitgleich in Italien Gaspara Stampa – einen entscheidenden Vorteil: »Die Werbung ist […] Sache des Mannes geblieben, der einst die Initiative ergriffen und nach petrarkistischer Art um die Sprecherin geworben hat.« (Schulze-Witzenrath: 1974, 121) Diese Konstellation bleibt somit hinsichtlich der Liebeswerbung den zur damaligen Zeit geltenden Rollenzuweisungen verhaftet. Als typisch petrarkistische Elemente tauchen im Sonett das Schönheitslob und das goldene Haar (v. 2), die sonnengleichen Augen (vv. 3 f.), die Liebespfeile (vv. 4 f.), die Schmerzliebe (v. 5), der Todeswunsch des Werbenden (v. 7) und der Schwur der ewigen Liebe und Treue (v. 8) auf. Dabei handelt es sich aber eben nicht um eine imitatio der petrarkistischen Liebessprache, sondern um »ironisches Zitieren petrarkistischer Formeln« (Schulze-Witzenrath: 1974, 115). Dieses petrarkistische Werben wird von der Sprecherin jedoch als bösartige List (»malice«, v. 9) und Vorspiegelung falscher Tatsachen (»sous ombre de service«, v. 10) getadelt. Damit erhebt das weibliche lyrische Ich in diesem Sonett einen der Hauptvorwürfe gegen die petrarkistischen Dichter, der in der Frühen Neuzeit auch gegen Petrarca selbst gerichtet wurde. Unter den frühneuzeitlichen Antipetrarkisten herrschte die konsensuelle Meinung, »that Petrarch was not honest with his readers […]«(Clements: 1941, 16). Es bleibt festzuhalten, dass Louise Lab¦ im vorletzten Sonett ihres Zyklus in parodistischer Absicht Einzelheiten einer früheren Werbung um das weibliche lyrische Ich in petrarkistischer Manier zitiert, um dem angesprochenen Mann die Unaufrichtigkeit einer solchen Liebeswerbung vor Augen zu führen. Damit

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endet das Sonett allerdings nicht, denn es fehlen noch die letzten vier Verse, die dank der Reimanordnung und der damit einhergehenden internen Struktur des sonnet r¦gulier einen abschließenden dritten ›Vierzeiler‹ bilden. Hier entschuldigt sich das weibliche lyrische Ich bei ihrem männlichen Gegenüber für ihre anklagenden Worte in den ersten zehn Versen des Sonetts und erklärt diese als Ausdruck ihrer starken emotionalen Verstrickung (»Etant outree et de despit et d’ire«, v. 12). Bei klarem Verstand sei sie sich dessen bewusst, dass ihr Gegenüber genauso leide wie sie. Diese Schlusswendung ist zunächst genauso überraschend wie unverständlich. Der Schlüssel zum Verständnis könnte darin liegen, dass die Vorwürfe, die den Hauptteil des Sonetts ausmachen, sich nicht gegen den Werbenden selbst, sondern ausschließlich gegen die Art seines Werbens und damit zugleich gegen den Petrarkismus richten. Das heißt, die Unaufrichtigkeit wird nicht zur menschlichen Schwäche des angesprochenen männlichen Gegenübers, sondern zu einer der notwendigen Voraussetzungen des petrarkistischen Systems erklärt. In den letzten vier Versen wird sich die Sprecherin bewusst, dass der Angesprochene mittlerweile Opfer seines systemischen Verhaltens geworden sein könnte, er könnte in der Zwischenzeit nämlich»selbst Opfer seiner (semiotischen) Rolle geworden sei[n] und bei einer anderen Dame das Liebesmartyrium am eigenen (phänomenalen) Leib erleide [n]« (Leopold: 2009, 285). Die systematisch betriebene und durch den petrarkistischen Liebesdiskurs geradezu propagierte Unaufrichtigkeit wird auch das folgende englische Sonett explizit zum Gegenstand haben. Ist Louise Lab¦s Sonett auf den einstmals Werbenden fokussiert, so richtet das lyrische Ich in Shakespeares berühmtem Sonnet 130 sein Augenmerk auf das Gegenstück des Werbenden, in diesem konkreten Fall die dark lady, die jedoch als eine Art Anti-Laura präsentiert wird. Beiden Sonetten ist gemein, dass es über die poetische Darstellung einer der grundlegenden Komponenten des petrarkistischen Systems, des Werbenden oder der Dame, zu einer Generalabrechnung mit dem gesamten System kommt, und zwar gerade unter Wahrung der typischen Topoi und Metaphern der petrarkistischen Liebeslyrik. Diese Wahrung zeugt dabei selbstverständlich von einer parodistischen Absicht. CXXX My mistress’ eyes are nothing like the sun; Coral is far more red than her lips’ red. If snow be white, why then her breasts are dun; If hairs be wires, black wires grow on her head. I have seen roses damasked, red and white, But no such roses see I in her cheeks; And in some perfumes is there more delight Than in the breath that from my mistress reeks. I love to hear her speak, yet well I know

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Die Diffusion von Diskurstypen und die Teilglobalisierung poetischer Produktion

That music hath a far more pleasing sound. I grant I never saw a goddess go: My mistress when she walks treads on the ground. And yet, by heaven, I think my love as rare As any she belied with false compare. (Shakespeare: 1997, 1967)

Bei diesem Gedicht handelt es sich zugleich um eines der berühmtesten Sonette aus der Feder Shakespeares und eines der am häufigsten fehlinterpretierten überhaupt: Es geht nämlich nicht, wie oftmals erklärt, um eine Kritik an der im Sonett besungenen Frau,48 sondern um eine Kritik an der petrarkistischen Dichtungspraxis bzw. um eine Abkehr vom »petrarkistischen Kult« (Pfister : 4 2005, 183). Die zwei Pole der Gesamtaussage des Textes sind die »realistisch-objektive Herabwürdigung im Vergleich und ultimativ übersteigerter subjektiver Lobpreis der Geliebten mittels Ablehnung jeglichen Vergleichens […]« (Meller : 1985, 50). Die Originalität besteht im vorliegenden Sonett vor allem darin, dass weder – wie in der petrarkistischen Dichtung der Zeit üblich – eine rein positive, idealisierende noch – wie in der antipetrarkistischen Lyrik geläufig – eine negative Darstellung der Geliebten erfolgt. Das, was das vorliegende Sonett vom parodistischen Porträt des Antipetrarkismus, wie wir es beispielsweise bei Francesco Berni finden, unterscheidet, ist die Konsequenz, die der Sprecher in den beiden letzten Versen aus seinen Beobachtungen zieht. Diese sind als eindeutige Bejahung der Liebe gestaltet und stellen somit eine Art Widerruf des Widerrufs der Liebe (der revocatio im Stile Petrarcas) dar. Nun zum Verfahren: Als Gegenstand von Shakespeares Satire erweist sich, wie bereits vorweggenommen, nicht die Dame des Sonetts, sondern vielmehr der stereotype Systemcharakter der petrarkistischen Dichtungspraxis. Shakespeare setzt petrarkistische Verfahren ein, um sie der Lächerlichkeit preiszugeben. Es handelt sich um »parodies of Petrarchan praise« (Vendler : 1999, 28). Auf diese Weise entsteht eine Art Anti-imitatio des petrarkistischen Systems. Die mistress im Sonett erscheint als Gegenstück zum Laurabild der Petrarkisten. Das Sonett thematisiert »the contrast between her [scil. the speaker’s mistress; B.N.] and her Petrarchan antecedent« (Cousins: 2000, 195). Der erste Vers des Sonetts negiert den petrarkistischen Vergleich der Augen der jeweiligen Geliebten mit der Sonne. Die Augen spielen hier ja eine besonders wichtige Rolle, und zwar im Rahmen des innamoramento. Auch im zweiten Vers entstammt das metaphorische Vergleichsobjekt, in diesem Fall Korallen, dem petrarkistischen Repertoire. Hier dient das Rot der Korallen als Metapher für das 48 Selbst die Herausgeber der Norton Ausgabe sind Verfechter dieser Ansicht. Vgl. hierzu Shakespeare: 1997, 1919.

Transformationen des petrarkistischen Liebesdiskurses

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Lippenrot der angebeteten Dame. Der dritte Vers beinhaltet einen Kontrast, der kaum größer sein könnte, illustrieren die Petarkisten mit der Farbe Weiß doch auf metaphorische Weise die vollkommene Reinheit der Haut der Geliebten und damit implizit auch ihre tugendhafte Reinheit, während das Adjektiv dun mit Schmutz assoziiert wird und zugleich auch Rückschlüsse auf die moralische Bewertung der dark lady nahelegt. Shakespeare kontrastiert hier die Dunkelheit der mistress mit der hellen Erscheinung der Dame in der petrarkistischen Liebeslyrik.49 Im Folgenden werden die Haare der Dame nicht – wie üblich – als Gold beschrieben, sondern als black wires (v. 4), allerdings nur unter der Bedingung, dass Haare überhaupt als Drähte (engl. ›wires‹) bezeichnet werden können. Auf diese Weise erfolgt implizit Kritik daran, dass in der petrarkistischen Lyrik die Vergleiche der Geliebten mit den unterschiedlichsten Objekten – vornehmlich aus dem Naturbereich – als problemlos erscheinen und in keiner Weise reflektiert werden. Shakespeare hingegen problematisiert im vorliegenden Sonett die Möglichkeit, adäquate Vergleichsobjekte für die äußere Erscheinung der Geliebten zu finden: Sein Problem [scil. des Sprechers; B.N.] ist ja nicht nur die Liebe, sondern ebensosehr deren authentischer und gültiger Ausdruck, der sie nicht verfälscht und sich nicht in der gebetsmühlenhaften Wiederholung der immergleichen Preis-Topoi […] verfängt. (Pfister : 42005, 190 f.)

Die Bezeichnung der weiblichen Haare als wires allein beinhaltet dabei noch keine Abwertung, denn sie ist in der elisabethanischen Epoche einer der beliebtesten Topoi, um die Haarpracht der Geliebten zu preisen, allerdings in der Formulierung golden wires. »To Renaissance writers and readers, the comparison of hair to wires apparently suggested a likeness to threads of beaten gold used in jewelry […].« (Shakespeare: 1997, 454) Die zunächst positive Assoziation erfährt durch das Adjektiv black eine eindeutig pejorative Färbung. Zunächst vollführt das Sonett, wie es auch im Petrarkismus üblich ist, eine abwärtsgerichtete Bewegung: Die Augen des lyrischen Ich wandern von den »eyes« (v. 1) über die »lips« (v. 2) zu den »breasts« (v. 3). Diese detaillierte Betrachtung der Geliebten von oben nach unten wird im Abschlussvers des ersten Quartetts unterbrochen, denn mit dem Begriff wires kehrt der Sprecher zum Kopf der Geliebten zurück. Auch dies könnte als Kritik an den monotonen Verfahren in der petrarkistischen Dichtung gedeutet werden. Einer der beliebtesten Vergleiche in der – nicht nur, aber auch – petrarkistischen Liebeslyrik ist derjenige der Dame mit einer Blume, und zwar vor allem 49 Zu Recht wurde auf die Tradition des Schönheitsideals der Schwärze, deren Ursprung schon im Hohelied begründet liegt, hingewiesen. Vgl. hierzu Meller : 1985, 48. Diese Tradition spielt im Petrarkismus aber keine Rolle.

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Die Diffusion von Diskurstypen und die Teilglobalisierung poetischer Produktion

mit der ›Königin‹ der Blumen, nämlich der Rose. In Shakespeares Sonett wird der Frau jede Ähnlichkeit mit einer Rose abgesprochen, und zwar auf kunstvolle Weise und mit einer ganz bestimmten Absicht. Bei der Damaszenerrose (»roses damasked«, v. 5) handelt es sich um eine Blume mit einer rosafarbenen und nicht, wie von Shakespeare beschrieben, rot-weißen Blüte. Diese Abweichung ist auf eine poetologische Absicht zurückzuführen: Die unrealistische Farbkombination ermöglicht es dem Dichter, implizit auf die Unzulänglichkeit und Unglaubwürdigkeit von petrarkistischen Vergleichen aufmerksam zu machen. Erneut greift er auf diese Weise implizit einen zentralen Bestandteil der petrarkistischen Dichtungspraxis an: Der sechste Vers »denies metaphor altogether, saying cheeks are nothing like roses« (Vendler : 1999, 557). Das Schlusscouplet gibt dem Sonett dann eine überraschende Wendung: »And yet, by heaven, I think my love as rare/ As any she belied with false compare« (v. 13 f.). Das englische Substantiv love ist hochgradig ambig, denn es kann sowohl das Abstraktum Liebe als auch die personifizierte Geliebte meinen. Dies ist bedeutsam, weil so die Beurteilung der Geliebten bis zuletzt im Unklaren bleibt. Die Finalbetonung fällt ganz auf den »false compare« (v. 14), den trügerischen Vergleich, dem die Geliebte in der konventionell petrarkistischen Dichtung ausgesetzt ist. Hier ist sie ja prinzipiell »misrepresented by false comparison« (Shakespeare: 1997, 1967). Darum handelt es sich beim vorliegenden Sonett nicht um die traditionelle Frauensatire – Kritik erfolgt weder allgemein am weiblichen Geschlecht noch an der konkreten Dame,die Gegenstand der vierzehn Verse ist – , sondern um eine Satire des petrarkistischen Dichtungsdiskurses: Sonnet 130 »is a mocking treatment of contemporary sonnet fashions […] a satirical attack on the extremes of fashionable Petrarchism.« (Hyland: 2006, 99)

2.4

Zur Pluralisierung des Liebesdiskurses

Haben wir unser Augenmerk bisher auf einen in der Liebeslyrik der Frühen Neuzeit zahlreich vertretenen Liebesdiskurs und unterschiedliche Transformationen des ihm unterliegenden Liebeskonzeptes gerichtet, so soll und darf dies nicht den Blick darauf verstellen, dass der petrarkistische Liebesdiskurs nur einen der damals verfügbaren Liebesdiskurse darstellt. Die frühneuzeitliche Liebeslyrik zeichnet sich gerade durch das auffallende Nebeneinander unterschiedlicher Liebesdiskurse aus. Deren Verfügbarkeit führen zahlreiche Dichter in ihren Texten vor. Ebenso wenig wie heute lässt sich die zwischenmenschliche Liebe in der Frühen Neuzeit, unter der ich im Kern das 16. und 17. Jahrhundert verstehe,

Zur Pluralisierung des Liebesdiskurses

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völlig unabhängig vom Aspekt der Sexualität denken. Dies gilt folglich auch für das Schreiben über die Liebe in Form von Gedichten.50 Auch hier ergänzen sich idealisierende und erotisierende Konzeptionen. Oftmals wird die europäische Liebeslyrik der Frühen Neuzeit mit dem Petrarkismus und damit zugleich mit einer bestimmten Liebeskonstellation und – damit eng zusammenhängend – Lyrikkonzeption gleichgesetzt. Der europäische Erfolg des Petrarkismus geht dabei maßgeblich auf »die Systematisierung und Propagierung durch Pietro Bembo zurück« (Leopold: 2009, 25). Erstens hat Bembo Francesco Petrarca in seiner Schrift Prose della volgar lingua (1525) zum mustergültigen Dichter des Vernakular erklärt, zweitens stammt von ihm die erste textkritische Ausgabe des Canzoniere (1501), und drittens hat Bembo mit seinen Rime (1530) das Gattungsparadigma, das heute als das ›Petrarkistische System‹ gilt, etabliert.51 Nichtsdestoweniger weist dieser Gedichtzyklus »einen deutlichen Zug selbstbewußter Hybridisierung« (Hempfer : 1991, 33) auf, und zwar vor allem durch die Vermittlung des petrarkistischen mit dem (neo)platonischen Liebesdiskurs: Bembo rekurriert in seinen Rime insgesamt […] ganz zentral auf Petrarca, fügt ihnen jedoch Elemente ein, die nicht dem Liebeskonzept Petrarcas entsprechen; dabei wahrt er die Nähe zum Zentrum Petrarca, begreift aber zugleich die imitatio als einen ›aktiven Dialog‹ mit dem Modell […]. (Schneider : 2007, 36)

Tatsächlich ist ein großer Teil dieser Dichtung dem Petrarkismus zuzurechnen. Die frühneuzeitliche europäische Liebesdichtung ist jedoch nicht ausschließlich petrarkistische Dichtung, sondern zeichnet sich gerade durch eine Pluralität von Liebesdiskursen aus.52 Dies gilt selbst für Italien, auch wenn hier im Cinquecento der petrarkistische Diskurs der dominante Liebesdiskurs ist. Spätestens ab dem 16. Jahrhundert bilden sich in Europa vor allem drei konkurrierende Liebeskonzeptionen heraus, nämlich die petrarkistische, die neoplatonische und die (vor allem von der erotischen antiken Liebeslyrik inspirierte) hedonistische. Dass die frühneuzeitliche Dichtung nicht ausschließlich dem petrarkistischen Konzept folgt, macht schon ein Blick auf die frühneuzeitliche Rezeption Petrarcas in Europa deutlich: Das Modell, das Petrarca im Canzoniere präsentiert, nämlich die unerfüllte Liebe zu einer unerreichbaren Frau, hat schon bzw. auch in der Frühen Neuzeit nichts mit der Realität zu tun, und zwar sowohl im Sinne des tagtäglich Gelebten als auch der bisherigen dominanten Tradition der Liebeslyrik. Betrachten wir repräsentativ die Lage im 16. Jahrhundert in Frankreich: Hier kommt mit der petrarkistischen Tradition bzw. der Vergeistigung der Liebe bei Petrarca etwas ins Land, das nicht in den Zeitkontext passt. In Joachim 50 Vgl. hierzu Brockmeier : 2000, 119 f. 51 Vgl. hierzu Leopold: 2009, 100. 52 Vgl. hierzu Hempfer : 1988 und Schneider: 2007, 19.

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Die Diffusion von Diskurstypen und die Teilglobalisierung poetischer Produktion

Du Bellays berühmter Ode Contre les P¦trarquistes (1558)53 heißt es dementsprechend: J’ay oubli¦ l’art de p¦trarquizer, Je veulx d’Amour franchement deviser, Sans vous flatter, et sans me d¦guizer : […] Mais quant — moy, qui plus terrestre suis, Et n’ayme rien, que ce qu’aymer je puis, Le plus subtil, qu’en Amour je poursuis, S’appelle jouissance. (vv. 1 – 3, 133 – 136)

Bezeichnenderweise empfiehlt Joachim Du Bellay in der Poetik, die zugleich eine Art Manifest der Dichtergruppe La Pl¦iade darstellt, La deffence et illustration de la langue francoyse (1549), den französischen Dichtern sowohl Petrarca als auch die antiken erotischen Dichter (Martial, Tibull, Catull, Properz und Ovid) zur Nachahmung. Außerdem nennt Du Bellay ein weiteres Modell der hedonistischen Liebesdichtung, nämlich Le Roman de la Rose (um 1225 – 1277), dessen zweiter Teil von Jeung du Meung explizit den sexuellen Akt thematisiert.54 Eine solche Ambiguität der Petrarca-Rezeption, die vor allem zur Integrierung des Aspekts der körperlichen Liebe führt, weist auch die deutsche Liebeslyrik des 17. Jahrhunderts auf. Es kann hier als symptomatisch gelten, dass Martin Opitz den Petrarkismus in Deutschland kultiviert, aber zugleich mit Du schöne Tyndaris aus seinem Buch von der deutschen Poeterey (1624) eines der ersten antipetrarkistischen deutschen Gedichte vorgelegt hat. In England liegt der Fall etwas anders, zumal das petrarkistische Liebesmodell hier insofern auf einen relativ fruchtbaren Boden trifft, als die politische Situation eine Ersetzung der kalt ablehnenden petrarkistischen Dame durch die jungfräuliche Queen Elisabeth I. nahelegt. Hier haben wir es dann mit einer Form des so genannten politischen Petrarkismus zu tun.55 Im Folgenden soll es darum gehen aufzuzeigen, dass in der europäischen Liebesdichtung eine auffallende Tendenz zur Pluralisierung des Liebesdiskurses und darüber hinaus zu einer Amalgamierung der vorherrschenden Liebesdiskurse besteht. Im Zentrum sollen dabei die petrarkistische und die hedonistische Liebeskonzeption stehen. Eine Verbindung dieser beiden finden wir sowohl innerhalb von Gedichtsammlungen als auch innerhalb einzelner Gedichte. Im letzten Fall ist eine solche Amalgamierung der Liebesdiskurse natürlich umso 53 Abdruck in Du Bellay : 1947, 70 – 82. Es handelt sich hierbei um eine modifizierte Version Du Bellays älterer Verssatire õ une dame (1553). 54 Vgl. hierzu Leopold: 2009, 127. 55 Vgl. hierzu das Kapitel The political petrarchism of the Virgin Queen, in: Forster : 1969, 122 – 147.

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eindrucksvoller. Es wird dabei zwischen einer expliziten und einer impliziten Polyvalenz des Liebesdiskurses zu unterscheiden sein. Dies entspricht in etwa der Unterscheidung in erotische oder (im heutigen Wortsinn) pornographische Lyrik und eine solche, die sich durch ein zweideutiges Sprechen auszeichnet, so dass der Oberflächentext erst dechiffriert werden muss, um den erotischen Gehalt des Gedichtes freizulegen. Beide Fälle sollen im Bereich der europäischen Sonettistik der Frühen Neuzeit nachgewiesen werden, und zwar primär aus zwei Gründen: Erstens handelt es sich beim Sonett um die dominante Gattung der frühneuzeitlichen Liebesdichtung und zweitens um die lyrische Form, die Petrarca am weitaus häufigsten im Canzoniere gewählt hat: 317 von 366 Gedichten sind Sonette. Daraus folgt, dass die Wahl des Sonetts für ein frühneuzeitliches Liebesgedicht zumindest implizit immer Petrarca als Folie hervorruft. Werden erotisch-pornographische Inhalte in Form des Sonetts verhandelt, so sorgt dies auch ohne expliziten Verweis auf Petrarca oder ohne explizite Abgrenzung von diesem immer schon für eine Grundspannung, die poetisch genutzt werden kann. Oder anders formuliert: Implizit herrscht immer schon dann eine Pluralität des Liebesdiskurses vor, wenn im Sonett, das in der Frühen Neuzeit untrennbar mit dem Namen Petrarca verbunden ist, die körperliche Liebe thematisiert wird, die die im Canzoniere dargelegte Liebeskonzeption gerade ausspart. Um eine derartige implizite Pluralität des Liebesdiskurses, die man vielleicht als Pluralität der ersten Stufe bezeichnen könnte, soll es hier jedoch nicht gehen. Es hat Versuche gegeben, auch die hedonistische Liebeskonzeption in die Petrarca-Rezeption zu integrieren, beispielsweise von Klaus W. Hempfer, der in diesem Kontext den Begriff des »Diskurstypenspiels« (Hempfer 1988, 253) (v. a. am Beispiel der Sonnets (1609) Shakespeares) eingeführt hat. So ehrenvoll die Absicht gewesen sein mag, die petrarkistische Liebesdichtung differenziert betrachten zu können, für so problematisch halte ich diesen Begriff, impliziert er doch eine überstarke Dominanz des petrarkistischen Liebesmodells in der frühneuzeitlichen Dichtung, die mir gerade nicht gegeben zu sein scheint, bzw. er deutet eine Vermittlung der verschiedenen Liebesdiskurse an, die dem tatsächlichen Bild nicht entspricht. Im Hintergrund steht hier mit Blick auf das petrarkistische System die generelle Frage nach »Systemtransformation oder Systemtransgression« (Schneider : 2007, 29). Zutreffend ist der Begriff des »Diskurstypenspiels« zweifellos immer dann, wenn es um Liebesdiskurse geht, die aus dem petrarkistischen System abgeleitet sind bzw. diesem nur einen weiteren Aspekt oder mehrere Aspekte hinzufügen, wie dies beispielsweise für den so genannten Ehepetrarkismus (bei Edmund Spenser, Georg Rudolf Weckherlin u. a.) gilt, in dem der Liebesvollzug durch das heilige Sakrament der Ehe sanktioniert und somit poetisch darstellbar wird. Daneben gibt es aber auch »apetrarkische wie auch apetrarkistische« (Schneider : 2007, 28) Liebesdiskurse,

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die eben nicht auf Petrarca und den Petrarkismus rückführbar und damit folglich auch nicht mit dem petrarkistischen System kompatibel sind.

2.4.1. Lukrezianischer Hedonismus Das Gegenbild zur petrarkischen und petrarkistischen Dichtung stellen solche Gedichte dar, in denen es ausschließlich um den körperlich erfahrbaren Aspekt der zwischenmenschlichen Liebe geht. Diese Gedichte konstituieren insofern einen apetrarkischen und apetrarkistischen Diskurs, als sie dem hedonistischen Liebeskonzept folgen. Im Folgenden geht es zunächst um solche Sonette, die der frühneuzeitlichen erotischen bis im heutigen Wortsinn pornographischen Sonettistik entstammen, bei der es sich in Europa um keine Ausnahmeerscheinung handelt. Die folgenden Sonette besitzen dabei unterschiedliche Grade der Erotik. 2.4.1.1 Pierre de Ronsard, Les Amours de Cassandre (1552) Beim nun zu analysierenden Sonett handelt es sich um das zwanzigste der Sammlung: Je voudroy bien richement jaunissant En pluye d’or goute — goute descendre Dans le giron de ma belle Cassandre, Lors qu’en ses yeux le somne va glissant. Puis je voudroy en toreau blanchissant Me transformer pour sur mon dos la prendre, Quand en Avril par l’herbe la plus tendre Elle va fleur mille fleurs ravissant. Je voudroy bien pour alleger ma peine, Estre un Narcisse et elle une fontaine, Pour m’y plonger une nuict — sejour : Et si voudroy que ceste nuict encore Fust eternelle, et que jamais l’Aurore Pour m’esveiller ne rallumast le jour. (Ronsard: 1993, 34 f.)

In diesem Sonett geht es zunächst und vor allem um den sinnlichen Aspekt der Liebe, und zwar ganz konkret um die Vereinigung von Mann und Frau, die allerdings unter dem Deckmantel der mythologischen Verschleierung erscheint. Alle vom männlichen lyrischen Ich herbeigesehnten Metamorphosen (zum Goldregen, weißen Stier und zu Narziss) dienen ausschließlich dem Zweck,

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Cassandre zu verführen. Der obsession amoureuse des lyrischen Ich hat Ronsard nicht nur durch die dreifache Wiederholung der im Konditional I formulierten Wunschformel Ausdruck verliehen, sondern auch dadurch, dass der Name der Geliebten, obgleich dieser nur einmal explizit erscheint, klanglich das gesamte erste Quartett durchzieht: »La mise en relief de la nasale [¼] et des [ss] pertinents au Nom po¦tique se fait par encha„nement allit¦ratif tout au long de ce premier quatrain.« (Rigolot: 1977, 206) Einzelne Laute des Namens Cassandre sind Teil vieler bedeutungsträchtiger Wörter im ersten Quartett: »richement« und »jaunissant« (v. 1), »descendre« (v. 2) sowie auch »glissant« (v. 4).56 Der erste Wunsch des lyrischen Ich eröffnet eine Reihe von drei mythologischen Bildern, wobei bei allen durch die Verwendung des Konditional I die Diskrepanz zwischen Wunsch und Wirklichkeit hervorgehoben wird. Ronsard verweist hier auf einen Zeusmythos, ohne diesen jedoch expressis verbis zu benennen. Die Identifikation mit Zeus ist nicht zufällig, sondern durch die hohe Symbolkraft des Göttervaters als Inbegriff der sexuellen Begierde begründet. Die erste ersehnte Metamorphose bezieht sich auf die Episode mit Zeus und Danae. Diese Identifikation mit den mythologischen Gestalten nimmt Ronsards Gedicht jede zu große Deutlichkeit und bewahrt dem Text die Ebene einer erotischen Andeutung, die das Explizite meidet. Dass der Wunsch des lyrischen Ich nichtsdestoweniger auf die Erfüllung seiner erotischen Begierde abzielt, daran lässt der Folgevers allerdings keinen Zweifel: »Dans le giron de ma belle Cassandre« (v. 3).57 Das lyrische Ich möchte Cassandre nicht irgendwo berühren, sondern an einem ihrer erotisch am stärksten aufgeladenen Körperteile (giron, v. 3). Die Bewegung des Hinabsinkens in Cassandres Schoß könnte als Anspielung auf den Vollzug des sexuellen Aktes gelesen werden. Im zweiten Quartett spielt Ronsard auf einen weiteren Zeusmythos an, nämlich dessen Transformation in einen Stier und die Entführung Europas (Ovid: 2004, 114 ff.). Im Gegensatz zum ersten Wunsch wird die Metamorphose hier nun explizit thematisiert: »Me transformer pour sur mon dos la prendre« (v. 6). Der letzte Vers des zweiten Quartetts könnte auch – wie schon vorangehende Verse – auf eine Anspielung des sexuellen Aktes deuten, denn das Verbum ravir erlaubt eingedenk seiner Etymologie (lat. rapere) das Spiel mit dem Doppelsinn ›pflücken‹ und ›rauben‹ oder ›entführen‹. Die metaphorische Gleichsetzung der Geliebten mit einer Blume bezieht sich im Sonett daher sicherlich nicht nur auf das tertium comparationis Schönheit, sondern impliziert zugleich auch ein ›Pflücken‹, nämlich die Entjungferung. An dieser Stelle spitzt Ronsard das 56 Alle Kursivierungen von mir, B.N. 57 Man vergleiche hierzu die weniger eindeutige Formulierung der sinnlichen Begierde in den Fassungen aus den Jahren 1552 bis 1557: »dans le beau sein« (v. 3). In Ronsard: 1993, 1230.

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epikureische carpe diem zum carpe florem zu. Die imaginierte Eroberung Cassandres bildet dabei einen Rückverweis auf den Mythos von der Entführung der Blumen pflückenden Europa durch den zum weißen Stier verwandelten Zeus. Das erste Terzett präsentiert den dritten Transformationswunsch des lyrischen Ich, allerdings erst, nachdem der Grund dieser ersehnten Metamorphose genannt wurde: »Je voudroy bien pour alleger ma peine« (v. 9). Mag der Begriff »peine« zunächst an den petrarkistischen Liebesschmerz erinnern, so machen die stark erotisch konnotierten Wünsche des lyrischen Ich jedoch deutlich, dass seine Liebesgefühle unerwidert bleiben und er darunter leidet, dass ihm die sinnliche Erfüllung seiner körperlichen Begierde verwehrt bleibt. Das Bewusstsein des Schreibers von der Unerfüllbarkeit seines sinnlichen Begehrens erklärt auch den Irrealis. Das erste Terzett unterscheidet sich vor allem in einer folgenreichen Hinsicht von den vorangegangenen Quartetten, nämlich darin, dass die erwünschte Transformation hier nicht nur das lyrische Ich, sondern auch Cassandre betreffen soll: »Estre un Narcisse et elle une fontaine« (v. 10). Außerdem benennt Ronsard hier zum ersten und einzigen Mal das erwünschte Objekt der Metamorphose explizit, statt es durch ein hinweisgebendes Attribut nur anzudeuten. Narcisse und Cassandre sind bezeichnenderweise die einzigen Eigennamen im Sonett. Die ersehnte Metamorphose zu Narziss beinhaltet wegen der erotisch aufgeladenen Wassermetapher eine völlige Umdeutung des mythologischen Materials: Im berühmten Mythos wird Narziss als Strafe für sein hochmütiges Verhalten auferlegt, sich in sein eigenes Spiegelbild im Wasser zu verlieben, ohne das Objekt seiner Begierde jemals erreichen zu können. Im Sonett hingegen werden zwei Transformationen erwünscht, so dass es sich nicht unweigerlich um eine von vornherein unerfüllbare Liebessehnsucht handeln muss. Das lyrische Ich formuliert hier implizit den Wunsch nach der körperlichen Vereinigung mit Cassandre, wobei das Sich-in-die-Quelle-stürzen als Metapher für den Liebesakt gefasst werden muss. Durch diese erotische Umdeutung transformiert der Dichter den Tod des Narziss zur piccola morte und damit zum sexuellen Höhepunkt. Das letzte Terzett enthält dementsprechend den Wunsch des lyrischen Ich nach einer ewig andauernden gemeinsamen Liebesnacht. Das Gewicht, das das lyrische Ich einer solchen Nacht beimisst, ist vor allem daran ablesbar, dass nuict das einzige im Sonett wiederholte Substantiv ist. Dass diese Wiederholung auf engstem Raum stattfindet, verleiht dem Gedanken besonderen Nachdruck: »Pour m’y plonger une nuict — sejour :/ Et si voudroy que ceste nuict encore/ Fust eternelle, et que jamais l’Aurore/ Pour m’esveiller ne rallumast le jour« (v. 11 ff.). Innerhalb der vierzehn Verse des Sonetts findet eine Intensivierung des ersehnten Körperkontaktes mit der Geliebten statt: Im dritten Bild ist die sexuelle

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Vereinigung vollkommen, allerdings nur im Modus des Wunsches. Diese zunehmende Intensität unterstützt Ronsard dadurch, dass die Metamorphosen des lyrischen Ich vom Goldregen über den Stier zu Narziss fortschreiten. Diese sich schrittweise vollziehende ›Vermenschlichung‹ ermöglicht erst das Bild der sexuellen Vereinigung mit Cassandre im letzten Terzett. 2.4.1.2 Herrn von Hofmannswaldau und andrer Deutschen auserlesener und bißher ungedruckter Gedichte (1695 – 1727) Das folgende Sonett aus der Feder Otto Christoph Eltesters, das den Titel Die Liebe steigt nicht über sich / sondern unter sich trägt, stammt aus dem ersten Band jener Sammlung erotischer Lyrik, die zwischen 1695 und 1727 in sieben Bänden von Benjamin Neukirch herausgegeben wurde, und zwar unter dem Titel: Herrn von Hofmannswaldau und andrer Deutschen auserlesener und bißher ungedruckter Gedichte. In dieser Sammlung finden sich die wohl extremsten Beispiele erotischer deutscher Gedichte aus dem Barock, und zwar v. a. aus dem Kreise der so genannten galanten Dichter. Auch in den anderen europäischen Ländern gibt es selbstverständlich vergleichbare Sammlungen erotischer Gedichte, die einen Gegendiskurs zum Petrarkismus darstellen und oftmals inoffiziell und als Manuskript kursieren, in Spanien beispielsweise die anonym veröffentlichte Anthologie El jard†n de Venus (Alzieu/Jammes/Lissorgues: 2000, 1 – 64). Die Gedichte solcher Sammlungen präsentieren sich oftmals »[…] als höchst gekonnte Parodie auf die starren Topoi schmerzvoller Entsagungsliebe« (Leopold: 2009, 27). Diesen Befund wird auch Eltesters Sonett bestätigen. DEin auge sollte mir zum tempel neulich dienen / Allein der große brand that meiner seelen weh: Drum zog sie sich hinab zu deiner wollust see / Und kühlte wieder sich mit nectar und rosinen. Sie tranck und ward beräuscht aus deinen mund=rubinen / Und taumelte von dar auff deiner brüste schnee / Die zweyen bergen gleich / von wegen ihrer höh / Am gipffel etwas roth / sonst gantz beeiset schienen. Doch / weil hier kälte war / sie aber nackt und bloß / So kroch sie endlich gar in deinen warmen schooß / Da ward ihr allererst ihr lager angezeiget. Climene / zürne nicht. Sie folget der natur / Sie geht den regeln nach / und hält der liebe spur / Die mehrmals unter sich / nicht aber auffwerts steiget. (Kiermeier-Debre/Vogel: 1995, 80)

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Dieses Sonett hat – anders als Ronsards Sonett – einen explizit erotischen Gehalt, und zwar gerade unter Verwendung petrarkistischer Topoi und Metaphern, die in den Dienst der poetischen Darstellung des sexuellen Aktes gestellt werden. Der hedonistische und der petrarkistische Liebesdiskurs werden nicht vermittelt, sondern der petrarkistische Diskurs wird stark erotisiert und damit in sein Gegenteil verkehrt. Dies belegen schon die ersten vier Verse des Sonetts: Bezeichnenderweise nennt der Dichter gleich am Anfang (v. 1) das »Auge« der angebeteten Dame, dem auch im Petrarkismus eine wichtige Bedeutung zukommt, löst dort doch stets der Blick das innamoramento aus. Die Erwähnung des Auges, das durch die Tempelmetapher auch noch sakralisiert wird, könnte der Beginn eines traditionell petrarkistischen Sonetts sein. Allerdings wird ab dem dritten Vers klar, dass dieser anfängliche Eindruck trügt. Hier gibt der Begriff der »wollust see« das Stichwort und zugleich den Ausschlag für den erotischen Fortgang des Sonetts, in dem es zunächst um den Austausch von Körperflüssigkeiten geht (v. 4/5). Signifikanterweise geht der Blick des Dichters unmittelbar von den Augen auf die »wollust see« der Dame und somit auf den Mund. Hier dürfte Eltester auf Oralverkehr verweisen, bei dem es sich nun gerade um eine Form der sexuellen Vereinigung, die einzig auf Lustbefriedigung abzielt, insofern sie den sexuellen Akt vollkommen von seiner – von Bibel und Kirche vorgeschriebenen – generativen Funktion löst. Die »Seele« des lyrischen Ich (v. 2) dürfte sich hier implizit zum männlichen Geschlechtsorgan transformiert haben. Es folgt eine Beschreibung des weiblichen Busens, der – mehr oder weniger – petrarkistisch metaphorisch als Schnee bezeichnet wird (v. 6). Weder die Erwähnung der außerordentlichen Größe der Brüste, die die metaphorische Ersetzung mit dem Begriff »Berge« (v. 7) nahelegt, noch die Einzelheiten ihrer Beschaffenheit (v. 8) und vor allem auch nicht der Umstand, dass sie sich dem lyrischen Ich »nackt und bloß« (v. 9) darbieten, entspricht jedoch dem petrarkistischen System. Dies gilt ebenso für den Umstand, dass die Unbedecktheit der Brüste und die herrschende Kälte Anlass dazu geben, nun den »warmen schooß« (v. 10) der Dame heimzusuchen. Nach wie vor ist das grammatikalische Subjekt die Seele, allerdings dürfte spätestens an dieser Stelle außer Frage stehen, dass der Dichter tatsächlich eine Ersetzung der Seele, die ja auch im Petrarkismus und Neoplatonismus eine große Rolle spielt, durch das männliche Glied vornimmt. Mit dem weiblichen Schoß, der natürlich nur metonymisch für die weiblichen Geschlechtsorgane steht, ist derjenige Körperteil angesprochen, der im Petrarkismus konsequent ausgespart bleibt. In Frankreich hat man auf diesen ›Mangel‹ mit einer Art Gegenschönheitskatalog reagiert, der gerade das primäre weibliche Geschlechtsorgan in den Mittelpunkt stellt, und zwar in der Gattung des so genannten blason du con (vgl. Leopold: 2009, 27). Etwaige moralische Bedenken gegenüber dem im Sonett beschriebenen Hedonismus weiß das lyrische Ich durch den Einwurf zu entkräften, dass der Liebesvollzug in der

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Natur des Menschen liege und der Verzicht darauf deshalb widernatürlich sei (»[…]. Sie folget der natur«, v. 12). Hier haben wir es nicht nur mit einer Absage an jede Lebensform, die die körperliche Vereinigung ablehnt, sondern auch an die inszenierte Sexualfeindlichkeit Petrarcas und seiner ›Jünger‹ zu tun. Noch radikaler als Eltester und mit aller Konsequenz wird Aretino im folgenden Sonett aus Pietro Aretinos berühmten Sonetti lussuriosi (um 1527) den Liebesvollzug zur Natur des Menschen erklären.

2.4.1.3 Pietro Aretino, I modi / Sonetti lussuriosi (um 1525)58 Mit diesen Sonetten haben wir den wahrscheinlich höchsten Grad an sinnlicher Erotik und verbaler sexueller Freizügigkeit und Eindeutigkeit in der frühneuzeitlichen europäischen Dichtung erreicht. Aretinos Sonette sind Musterbeispiele der »erregenden Literatur« (Fischer : 1997). Natürlich sind sie zunächst der Zensur zum Opfer gefallen, was jedoch vermutlich maßgeblich zu ihrer Popularität beigetragen hat: »Alle Zensur geht einher mit der Verherrlichung der Macht des Gedruckten.« (Goulemot: 1993, 59) Schon unter seinen Zeitgenossen galt Pietro Aretino als »l’incarnation de l’¦rotisme litt¦raire« (Alexandrian: 1989, 61). Die Sonette sind entstanden zu sechzehn Bildern Giulio Romanos, die der berühmte Marcantonio Raimondi in Kupfer gestochen hat und die auf recht obszöne Weise unterschiedliche Arten des Geschlechtsverkehrs, die weit über die Missionarsstellung hinausgehen, wie beispielsweise den Analverkehr, der damals als besonders schwerwiegende Sünde galt und hart oder gar mit dem Tod bestraft wurde, präsentieren.59 Die Thematisierung gerade des Analverkehrs dürfte vor allem damit zu tun haben, dass es Aretino darum ging, die reine sexuelle Lust poetisch abzubilden, ohne den Geschlechtsverkehr als Erfüllung des »göttlichen Auftrages« an den Menschen, sich zu vermehren, zu legitimieren. Daneben mag ein weiterer sozialgeschichtlicher Grund eine Rolle gespielt haben: »der Analverkehr [war] eine absolut sichere Methode der Empfängnisverhütung, die bei außerehelichen Beziehungen – und ausschließlich um solche handelt es sich hier – ausgesprochen nützlich war.« (Fischer : 2000, 130) Schon bis hierhin dürfte deutlich geworden sein, dass Aretinos Darstellung der zwischenmenschlichen Liebe in den Sonetti lussuriosi derjenigen Petrarcas und der Petrarkisten konträr gegenübersteht. Die Sonette sind geradezu »ein demonstrativer Akt der Abkehr vom Petrarkismus« (Leopold: 2009, 27). Die Verbin58 In der von Giovanni Aquilecchia und Angelo Romano herausgegebenen kritischen Ausgabe finden wir eine dritte Titelvariante bzw. einen neuen Titelvorschlag, nämlich Sonetti sopra i ›XVI modi‹. 59 Zur Entstehungsgeschichte vgl. Fischer : 2011, 136.

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Die Diffusion von Diskurstypen und die Teilglobalisierung poetischer Produktion

dung von Text und Kupferstich ist dabei so gestaltet, dass Aretino nicht nur beschreibt, was der Betrachter ohnehin sieht, sondern das Bild zum Leben erweckt, indem er ihm einen fiktionalen Dialog der jeweiligen Sexualpartner zuordnet. Auf diese Weise lässt der Dichter den Leser unmittelbar am Geschehen teilhaben: Aretino »›vertont‹ die Szene. Damit suggeriert er Bewegungen und einen Ablauf, die im Kopf des Betrachters das starre Bild in Verbindung mit dem Dialog der Figuren zu einem Film werden lassen, der hinter den Augen abläuft.« (Fischer : 2000, 127) Bei allen sechzehn Sonetti lussuriosi handelt es sich um die Sonderform des Schweifsonetts (sonetto caudato), d. h. sie besitzen jeweils ein zusätzliches drittes Terzett am Ende. Wie gesagt, jedes Sonett ist als ein Dialog gestaltet. Oftmals lässt Aretino die Frau, die bezeichnenderweise jeweils den Namen einer der berühmtesten damaligen Kurtisanen in Rom trägt,60 zuerst sprechen und den Mann explizit zu bestimmten Sexualhandlungen auffordern. Bezeichnenderweise beginnen viele der Sonette mit eindeutigen Imperativen aus dem Munde der Frau, so auch im hier ausgewählten Sonett: »Fottiamci, anima mia, fottiamci presto Poi che tutti per fotter nati siamo; e se tu il cazzo adori, io la potta amo: e saria il mondo un cazzo senza questo; e se post mortem fotter fuss’onesto, direi: –Tanto fottiam, che ci moriamo: per fotter poi de l— Eva e Adamo, che trovaro il morir s† disonesto«; »Veramente egli À ver, che s’i furfanti non mangiavan quel pomo traditore, io so che si sfoiavano gli amanti; ma lasciamo ir le ciancie, e in sino al core ficcami il cazzo, e f— ch’ivi si schianti l’anima, che ’n su ’l cazzo or nasce or more; e s’À possibil, fore non mi tener la potta i coglioni, d’ogni piacer fottuto testimoni«. (Aretino: 1992, 105)

In der Originalausgabe ist direkt über dem Sonett einer der sechzehn Kupferstiche abgebildet: (Aretino: 1992, 104)

60 Vgl. hierzu die Kapitel I protagonisti dei Modi und I modi: und album delle cortigiane dell’epoca in Aretino: 1996, 27 ff. und 31 ff.

Zur Pluralisierung des Liebesdiskurses

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Das vorliegende Sonett eröffnet die Sammlung und ist insofern repräsentativ, als es – in deutlichem Kontrast zur petrarkischen und petrarkistischen Dichtung – in einem bewusst niedrigen und obszönen Stil verfasst ist. Letzteres geht nicht zuletzt auf die bevorzugte Verwendung der Begriffe cazzo und potta für die

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Die Diffusion von Diskurstypen und die Teilglobalisierung poetischer Produktion

männlichen und weiblichen Genitalien sowie das Verbum fottere zur Benennung des Geschlechtsaktes zurück. Schon hier wird Aretinos mehr oder weniger implizite Kritik am Petrarkismus überdeutlich: Indem er die ›Dinge‹ und darunter eben auch die Geschlechtsteile offen und unverblümt beim Namen nennt, stellt er sich gegen die metaphorischen Umschreibungen und das uneigentliche Sprechen im Petrarkismus, auch wenn die Geschlechtsteile dort selbstverständlich überhaupt nicht thematisiert werden. Außerdem unterstreicht Aretino »mit dieser Wortwahl seine Gegenposition zum Petrarkismus sowohl durch die Obszönität als auch durch die radikale Beschränkung, mit der er genau das Stilmittel verwendet, das im Zentrum der antipetrarkistischen Kritik steht« (Fischer : 2000, 131). Das heißt, Aretino versucht, den Petrarkismus mit seinen eigenen Mitteln zu schlagen. Dies gilt auch in anderer Hinsicht: Denn im vorliegenden Sonett verwendet Aretino nicht nur ein äußerst obszönes Vokabular zur poetischen Darstellung sexueller Lust, der ›sündigen‹ concupiscentia, sondern ebenfalls petrarkistisch-neoplatonische Termini, wie beispielsweise den Begriff anima (vv. 1, 14), wobei diese Termini explizit in den Kontext des Sexualaktes einbezogen werden. Außerdem spielt Aretino auf petrarkistischneoplatonische Vorstellungen an, wie zum Beispiel den Gedanken einer über den Tod hinaus andauernden Liebe und Treue, die hier umgedeutet werden zur Möglichkeit des permanenten Vollzuges des Geschlechtsaktes auch nach dem Tod (vv. 5, 6), oder die Vorstellung, die Natur sei Zeuge der Liebe und des Liebesschmerzes, auf die insofern parodistisch verwiesen wird, als Aretino die Hoden zum Zeugen des körperlich erfahrbaren Liebesglücks ernennt (v. 16 f.). Darüber hinaus unterzieht der Dichter auch den biblischen Sündenfall einer signifikanten Umdeutung: Adam und Evas Ungehorsam gegenüber dem göttlichen Gebot, keine Frucht vom Baum der Erkenntnis zu essen, und die darauffolgende Vertreibung aus dem Garten Eden interpretiert Aretino insofern als Sünde, als der Mensch von diesem Zeitpunkt an gezwungen war zu arbeiten und sich aufgrund des mit der Vertreibung aus dem Paradies einhergehenden Schamgefühls zu kleiden und darum nicht mehr ununterbrochen mit seinem Partner sexuell verkehren konnte (vgl. v. 9 ff.), wie dies im Garten Eden bis ans Ende aller Tage möglich gewesen wäre.61 Die permanente sexuelle Vereinigung erscheint aus dieser Perspektive als der Inbegriff eines ›paradiesischen‹ Lebens, was natürlich nichts mit der christlichen Paradiesvorstellung zu tun hat.

61 Vgl. hierzu Leopold: 2009, 26.

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2.4.2 Zur Amalgamierung von Liebesdiskursen 2.4.2.1 Lope de Vega, Rimas (1602) Die Verknüpfung unterschiedlicher erotischer Diskurse soll zunächst anhand von Lope de Vegas Soneto 126 aufgezeigt werden: Desmayarse, atreverse, estar furioso, ‚spero, tierno, liberal, esquivo, alentado, mortal, difunto, vivo, leal, traidor, cobarde y animoso; no hallar fuera del bien centro y reposo, mostrarse alegre, triste, humilde, altivo, enojado, valiente, fugitivo, satisfecho, ofendido, receloso; huir el rostro al claro desengaÇo, beber veneno por licor suave, olvidar el provecho, amar el daÇo; creer que un cielo en un infierno cabe, dar la vida y el alma a un desengaÇo, esto es amor, quien lo probû lo sabe. (Vega: 2003c, II, 88)

Für dieses Sonett stand das italienische Modell Vorbild, und zwar nicht nur bezüglich der formalen Anlage, sondern auch für die Art seiner Durchführung, denn Lopes Sonett steht in der Tradition des petrarkistischen Definitionssonetts.62 Lope de Vegas Gedicht enthält sowohl Elemente, die dem petrarkistischen System entsprechen, als auch solche, die dieses überschreiten. Bereits im ersten Quartett handelt es sich um die Darstellung einer beide Geschlechter gleichermaßen betreffenden, allgemein menschlichen Liebe und nicht – wie im Petrarkismus – um die Klagen eines männlichen Liebenden. Auch die teilweise heftigen Gefühlsregungen, die in Lopes Sonett benannt werden, sind im Petrarkismus nicht anzutreffen: »die vielen vehementen Gefühlsausbrüche passen nicht zu dem steril geläuterten Liebesbrauchtum der vom Neoplatonismus berückten Petrarkisten.« (Schlütter : 1979, 42) Dass Lope de Vega mit den petrarkistischen Konventionen und den hieraus resultierenden Lesererwartungen spielt, illustriert schon der Eingangsvers: »Desmayarse, atreverse, estar furioso« (v. 1). Das erste Wort des Sonetts spielt 62 Den Zustand des Verliebten in Gegensatzpaaren zu beschreiben, ist ein Verfahren, das Petrarca – wahrscheinlich unter dem Einfluss ähnlicher Verfahren der provenzalischen Troubadours – mit seinem Sonett Pace non trovo, et non ý da far guerra (Canzoniere 134) in die italienische Dichtung eingeführt hat.

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auf die petrarkistische Vorstellung an, dass der Liebende der Liebe hilflos ausgeliefert sei und diese ihn gleich einem Blitzschlag treffe: »C’est le premier trait de l’amour p¦trarquiste qu’il est soudain, fatal, irr¦sistible.« (Chamard: 1961, I, 235) Diese Passivität steht jedoch in starkem Kontrast zum nachfolgenden Verb in der Aufzählung des ersten Verses: atreverse. Hier wird das Ergreifen der Initiative vorausgesetzt. Auch das letzte Glied der Aufzählung im ersten Vers überschreitet das petrarkistische System, denn das Epitheton furioso bezeichnet eine für den petrarkistischen Liebenden viel zu heftige Gemütsregung. Das Aufbegehren gegen einen nicht zufriedenstellenden Verlauf der Liebe stellt das Gegenteil der dem Petrarkisten eigenen »dolendi voluptas« (Hoffmeister : 1997, 123) dar. Schon in diesem ersten Vers stellt Lope de Vega die Liebe als ein Phänomen zwischen zwei Polen dar : passivem Erleiden und aktivem Handeln. Während der erste Vers sich – dem klassischen Schema folgend – auf die Situation des liebenden und vergeblich werbenden Mannes beziehen könnte, legt der Folgevers einen Perspektivwechsel nahe: »‚spero, tierno, liberal, esquivo« (v. 2). Hier nun scheint die Beschreibung aus Sicht der Frau zu erfolgen. Dass die Adjektive dennoch maskuliner Form sind, dient zweifelsohne der Wahrung der zuvor benannten Ambiguität. Diese ermöglicht Lopes Spiel mit literarischen Konventionen und den Erwartungen seiner Leserschaft. Auch hier geht es wieder um die Darstellung der paradoxen Regungen und Zustände eines liebenden Menschen. Alle vier Adjektive im zweiten Vers scheinen die Reaktion auf die im ersten Vers einsetzende Liebe darzustellen. Im Gegensatz zu den dortigen Rahmengliedern (»Desmayarse« und »estar furioso«) benennen diese jedoch kein passives Erleiden, sondern ein bewusstes Handeln, dem ein entsprechender Wille zugrunde liegt. Die in der exponierten Initial- und Finalposition des Verses genannten Adjektive ‚spero und esquivo erinnern stark an die Beurteilung der Geliebten in der petrarkistischen Lyrik, nämlich als kalt und unnachgiebig. Im Gegensatz hierzu beinhalten die von diesen eingeschlossenen Adjektive tierno und liberal eine bedeutsame Abweichung von petrarkistischen Vorstellungen: Beide setzen ja einen körperlichen Kontakt zwischen den Partnern voraus. Der Folgevers zeigt die existentiellen Auswirkungen der Liebe: »alentado, mortal, difunto, vivo« (v. 3). Spätestens ab hier ist eine Zuordnung der Adjektive zum männlichen oder weiblichen Partner nicht mehr möglich. Es handelt sich vielmehr um die Darstellung des Phänomens der menschlichen Liebe im Allgemeinen. Auch in diesem Vers ist der Kontrast das dominierende Stilmittel. Beide Adjektivpaare stellen Reminiszenzen an das petrarkistische Paradox des lebendigen Todes dar.63 Dabei fällt das Hauptgewicht auf den positiven Aspekt 63 Vgl. hierzu Hoffmeister : 1973, 28 und Canzoniere 132, v. 7: »O viva morte, o dilectoso male«. In Petrarca: 1996, 408.

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der Liebe, denn die Adjektive, die das Leben betreffen (alentado und vivo), rahmen diejenigen, die den Tod bezeichnen (mortal und difunto), ein. Im Abschlussvers des ersten Quartetts suggeriert der Dichter erneut, dass die Liebe im Spannungsfeld zwischen Erleiden und Handeln stattfindet: »leal, traidor, cobarde y animoso«. Wieder bilden die beiden ersten und die beiden letzten Adjektive zwei Kontrastpaare. Die Architektur des ersten Quartetts bildet die Paradoxie der beschriebenen Liebeserfahrung ab: Während das erste Wort Ohnmacht bezeichnet (»Desmayarse«, v. 1), benennt das letzte eine Charaktereigenschaft, die sich in konkreten Handlungen äußert (»animoso«, v. 4). Die genannte Paradoxie bewegt sich zwischen diesen beiden Polen, die der Dichter durch eine Art chiastischer Stellung im Sonett abbildet. Im ersten Quartett nutzt Lope de Vega die klangliche Ebene des Sonetts in der Hinsicht, dass er auffallend viele a-Alliterationen (»atreverse«, »‚spero«, »alentado« und »animoso«) verwendet und dass es kaum ein Wort ohne [o]-Laut gibt. Nun ist die spanische Sprache – ganz ähnlich wie das Italienische – auf vokalischer Ebene von dem Kontrast zwischen a und o geprägt, und dies gäbe keinen weiteren Anlass zum Nachdenken, wenn Lope nicht durch die Alliteration auf a geradezu diesen Kontrast von a und o deutlich nuanciert hätte. Mit diesem Kontrast aber wird die elementare Vokalmatrix des Wortes amor evoziert, was Anlass zu der Vermutung sein könnte, Lope habe hier ganz bewusst mit Paronomasien des Wortes amor operiert. Dadurch scheint es dem Dichter zu gelingen, das Amormotiv von Anfang an lautlich in seinem Sonett zu verankern. Auf diese Weise deutet er implizit auf die Allgegenwart der Liebe hin. Das zweite Quartett könnte die Beschreibung der zweiten Phase in der Entwicklung einer Liebesbeziehung enthalten. Allerdings ist die Annahme einer solchen zeitlichen Abfolge nicht zwingend: Alle Vorgänge und Zustände könnten ebenso gut auch simultan sein. Der Eingangsvers des zweiten Quartetts spielt sowohl auf den platonischen Gedanken an, dass die Idee des Guten in der geliebten Person Gestalt annehme, als auch auf das petrarkistische Thema des Selbstverlustes infolge der Liebesverfallenheit: »no hallar fuera del bien centro y reposo« (v. 5). Dadurch, dass dieser Vers das reihende Schema des ersten Quartetts aufgibt, bewirkt er eine Ruhepause. Diese ist als Ersatz für die hier beklagte fehlende Ruhe des Liebenden zu verstehen. (vgl. Schlütter : 1979, 43) Im Gegensatz hierzu nimmt Lope im Folgevers das reihende Kontrastschema wieder auf. Erneut handelt es sich um zwei Gegensatzpaare: »mostrarse alegre, triste, humilde, altivo« (v. 6). Der Dichter stellt auf diese Weise eine enge Verbindung mit dem ersten Quartett her. Außerdem schließt auch in diesem Vers das Positive (»alegre« und »altivo«) das negativ Konnotierte (»triste« und »humilde«) ein. Letzteres erinnert darüber hinaus an die Klagehaltung des Pe-

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trarkisten. Das Verb mostrarse (v. 6) zeugt jedoch erneut vom aktiven Charakter des Dargestellten. In den beiden letzten Versen des zweiten Quartetts stiftet der Dichter einen starken Rückverweis auf den Anfang: enojado (v. 7) und ofendido (v. 8) nehmen estar furioso (v. 1) auf sowie valiente (v. 7) atreverse (v. 1), wobei die beiden ersten erneut einen Gefühlsausbruch, der keinen Platz im petrarkistischen System hat, bezeichnen. Trotz Aufgabe des antithetischen Schemas des ersten Quartetts gelingt es Lope de Vega auch an dieser Stelle, einen Eindruck von der Dynamik der Liebe zu vermitteln. Das letzte Glied der Aufzählung im siebten Vers (fugitivo) beinhaltet einen hohen Grad an Ambiguität, denn es ist – aufgrund des Infinitivs – nicht klar, ob es sich auf das Liebesphänomen, die Liebenden oder aber nur einen der beiden Liebenden bezieht. Im ersten Fall bedeutete dies einen neuen Gedanken, der darüber hinaus in starkem Kontrast zu den Schwüren ewiger Treue und Liebe des Petrarkisten stünde, im zweiten Fall wäre dies ein starker Rückverweis auf das Adjektiv traidor (v. 4). Ebenso wie das zweite vom ersten Quartett sind auch die Terzette von den Quartetten in syntaktischer Hinsicht abgesondert. Zwar behält Lope de Vega den Zeilenstil der ersten acht Verse bei, jedoch enthalten die ersten fünf Verse des Sextetts jeweils ein neues Verb. Hierdurch verlangsamt sich das Lesetempo erheblich. Diese Verse des Sextetts kontrastieren in dieser Hinsicht mit den ersten acht Zeilen des Sonetts, deren »blockartige und ruckhafte Syntax […] auf das plötzliche Aufkeimen der Empfindungen und die damit verbundene Unruhe schließen läßt« (Schlütter : 1979, 43). Lopes Sonett weist somit einen typischen Charakterzug der spanischen Sonette des Siglo de Oro auf: eine starke Zäsur zwischen Oktett und Sextett. Auch dies ist ein Erbe des italienischen Modells. In den Terzetten herrscht ein sehr viel getragenerer Ton vor als im Oktett. Dieser entspricht auf der klanglichen Ebene dem höheren Grad an Reflexion und bildet das Gegenstück zur Unruhe in den Quartetten. Die Beschreibung in den beiden Quartetten weicht nun der Analyse, die Satzperioden werden länger und außerdem sentenzartig. Die damit einhergehende Rhythmusverlangsamung lässt der epigrammatischen Zuspitzung in der Schlusspointe großes Gewicht zukommen. Dies bildet eine sukzessive Abnahme der in den Struktureinheiten des Sonetts aufgezählten Glieder ab: das erste Quartett enthält fünfzehn, das zweite elf und die beiden Terzette jeweils nur noch vier. Der Einleitungsvers des ersten Terzetts benennt eine bzw. die typische Haltung im Spanien der damaligen Zeit, nämlich die desengaÇo-Stimmung:64 »huir el rostro al claro desengaÇo« (v. 9). Dem Begriff desengaÇo kommt durch seine finale Stellung in diesem Vers und seine spätere Wiederholung (v. 13) großes

64 Vgl. hierzu Hoffmeister : 1987, 16.

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Gewicht zu. Signifikanterweise wird diese Stimmung hier als eine Folge Amors vorgestellt, jedoch nicht konkretisiert. Die beiden Folgeverse beinhalten eine Verkehrung üblicher Wertmaßstäbe und Wahlkriterien in ihr Gegenteil: »beber veneno por licor suave,/ olvidar el provecho, amar el daÇo« (v. 10 f.). Der zweite der beiden Verse ist vor allem deshalb bedeutsam, weil der Dichter hier erstmals das Verb amar verwendet. Allerdings gebraucht er es an dieser Stelle nicht im eigentlichen Liebeskontext, sondern in einem allgemeineren Sinne: »amar el daÇo«. Die Formulierung stellt eine Generalisierung der typisch petrarkistischen »dolendi voluptas« (Hoffmeister : 1997, 123) dar. Diese Vorgehensweise zeugt von Lopes Absicht, das Rätsel, worauf sich die Beschreibungen der ersten dreizehn Verse seines Sonetts beziehen, erst im Abschlussvers aufzulösen. Der erste Vers des zweiten Terzetts verweist schließlich auf die ebenfalls petrarkistisch inspirierte kosmische Dimension der Liebe, die sich hier aus einem vollkommenen Verlust des Urteilsvermögens des lyrischen Ich infolge seiner Liebesverfallenheit ergibt: »creer que un cielo en un infierno cabe« (v. 12). Hier ist mehr als nur die übertragene Bedeutung gemeint, die Busch in seiner Übertragung ins Deutsche zum Inhalt des Verses macht: »Den Himmel glauben, wo des Teufels Spur« (Staub: 1980, 147). Wie nicht anders zu erwarten, trifft Staubs – dem Original sehr nahe – Prosaübersetzung den Gedanken der spanischen Vorlage wesentlich besser : »glauben, daß ein Himmel in eine Hölle paßt« (Staub: 1980, 147). Im Sonett stellt der vollkommene Verlust des Beurteilungsvermögens ja gerade eine Folge der Liebesverfallenheit dar. Der vorletzte Vers beinhaltet die bereits benannte aussagekräftige Wiederholung des desengaÇo-Motivs: »dar la vida y el alma a un desengaÇo« (v. 13). Er stellt durch die Wiederholung des Begriffes einen Rückverweis auf den neunten Vers dar und stiftet somit zugleich die Einheit beider Terzette bzw. genauer der ersten fünf Verse des Sextetts. Auf diese Weise hebt der Dichter erneut die Sonderstellung des letzten Verses hervor. Wie durch die kontrastreichen Aufzählungen in den ersten beiden Quartetten erscheint die Liebe auch hier als ein Phänomen, das Körper und Seele gleichermaßen betrifft. Beides wird bereitwillig gegeben – fast ist man versucht zu sagen: ›geopfert‹ – im sicheren Wissen einer Enttäuschung. Dies entspricht dem typisch petrarkistischen Handeln, das gegen das eigene Wissen und alle rational nachvollziehbaren Gründe ausgeführt wird. Der letzte Vers stellt eine Art Konklusion dar : »esto es amor, quien lo probû lo sabe« (v. 14). »dies alles heißt lieben, ist die Liebe, oder, anders gewendet: so lebt ein Liebender, daran zeigt sich, was Liebe ist – die effectus amoris liefern in der Summe ihrer Widersprüche eine Definition der Liebe.« (König: 1983, 85) Erst an dieser Stelle lüftet der Dichter das (offene) Geheimnis, dass er in seinem Sonett eine Wesensbestimmung der Liebe vornehmen möchte. Besondere Bedeutung

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kommt schließlich dem zweiten Teil des letzten Verses zu: »quien lo probû lo sabe« (v. 14). D.h. zuletzt wird die Liebe von jedem konkreten Erleben gelöst, um im Allgemeinen aufzugehen. Es handelt sich bei der Formulierung um ein leicht abgewandeltes Petrarca-Zitat.65 Die parallele Konstruktion in diesem Vers (lo + Verb) formuliert die Unterstellung, dass die Liebe einen Zuwachs an Wissen bedeute, und erinnert somit an die platonische Theorie, die Liebe steigere die Selbsterkenntnis des Menschen.66 Zugleich beinhaltet der letzte Vers eine Absage an die als nicht authentisch bewertete petrarkistische Dichtung, gegen welche sich nicht nur in der Frühen Neuzeit der Vorwurf einer mangelnden Erlebnisbasis erhebt. Dies ist eine der Hauptantriebsfedern des Antipetrarkismus, in dem die Überzeugung vorherrscht, »that Petrarch was not honest with his readers […]« (Clements: 1941, 16).67 In seinem Sonett lässt Lope de Vega keinen Zweifel daran, dass man die Liebe selbst erlebt haben muss, um adäquat über sie sprechen bzw. schreiben zu können. Dem entspricht die Verwendung eines niederen Stils, mit dem sich Lope de Vega stark vom hohen Stil der petrarkistischen Dichtung abhebt. 2.4.2.2 William Shakespeare, Sonnets (1609) Zumindest ein abschließender Blick soll nun auf William Shakespeares Sonnets gerichtet werden, zumal diese ein Paradebeispiel für das Nebeneinander unterschiedlicher Liebesdiskurse sind: Sie haben »darin ihr besonderes Heterogenitätspotential, daß sie die zeitgenössisch verfügbaren und nicht aufeinander rückführbaren erotischen Diskurse nicht nur gegenseitig ausspielen, sondern zugleich als solche dekonstruieren – dies gilt zumindest für Neuplatonismus und Petrarkismus […].« (Hempfer: 1988, 260) Jedoch zeugt nicht nur der Zyklus als Ganzes von einer Pluralisierung des Liebesdiskurses, sondern dies gilt auch für einzelne Sonette, wie beispielsweise für das 144. Sonett: Two loves I have, of comfort and despair, Which like two spirits do suggest me still. The better angel is a man right fair, The worser spirit a woman coloured ill. To win me soon to hell my female evil Tempteth my better angel from my side, And would corrupt my saint to be a devil, Wooing his purity with her foul pride; 65 Auf die große Ähnlichkeit mit Petrarcas »ben sa chi ’l prova […]« aus dem ersten Capitolo des Triumphus Cupidinis hat König:1983, 86 zu Recht hingewiesen. 66 Vgl. hierzu Apolls Entwurf im D¦bat de Folie et d’Amour eines idealen Bildes der Liebe, die dem Menschen zur Selbsterkenntnis verhelfe. In Lab¦: 1981, 49 ff. 67 Vgl. hierzu auch Fischer : 2000, 11 f.

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And whether that my angel be turned fiend Suspect I may, yet not directly tell; But being both from me, both to each friend, I guess one angel in another’s hell. Yet this shall I ne’er know, but live in doubt Till my bad angel fire my good one out. (Shakespeare: 1997, 1972)

Der größte Unterschied zum petrarkistischen Liebesdiskurs besteht zunächst und vor allem in der Ausgangssituation, denn hier bekennt sich das lyrische Ich offen zu einer Dreiecksbeziehung, nämlich zu »two loves« (v. 1), die qualitative Gegensätze darstellen (»of comfort and despair«, v. 1). Aus dem Kontext der Sonnets und dem weiteren Verlauf des vorliegenden Sonetts lässt sich schließen, dass die positive Liebe diejenige zu einem jungen Mann und die negative diejenige des lyrischen Ich zur dark lady ist. In beiden Fällen wird die Liebe von Anfang an nicht als ein rein geistiges, sondern auch als ein körperliches Phänomen gefasst, und zwar durch die Ambiguität des Verbums to suggest (v. 2), das im 16. Jahrhundert neben der heutigen Bedeutung (dt. vorschlagen, eingeben o. ä.) ebenfalls ›verführen‹ in einem sexuellen Sinne meinte. Mit der Einführung von zwei Liebesobjekten des lyrischen Ich geht ein weiterer wesentlicher Unterschied zum Petrarkismus einher, denn die Attribute schön, rein und engelhaft werden zunächst dem jungen Mann (v. 3) zugeordnet. Damit handelt es sich um genau die Eigenschaften, die die Petrarkisten der von ihnen besungenen Dame zuschreiben. Die stereotype petrarkistische Dame hat Shakespeare hingegen in seinem Sonett zu einer allegorischen Figur der Verführung transformiert (u. a. v. 6), die als Gegenbild zum jungen Mann präsentiert wird: »The worser spirit a woman coloured ill« (v.4) und »my female evil« (v. 5). In der Tradition des Petrarkismus und des Neoplatonismus unterstellt auch Shakespeare eine Übereinstimmung zwischen den seelischen und physischen Qualitäten eines Menschen. Allerdings weist das lyrische Ich auch darauf hin, dass diese Übereinstimmung zumindest im Falle des jungen Mannes aufgehoben werden kann bzw. dies bereits geschehen sein könnte, falls der junge Mann den Verführungskünsten der dark lady (vv. 6 ff.) schon erlegen sein sollte: »And whether that my angel be turned fiend / Suspect I may, yet not directly tell (v. 9 f.). Der sexuelle Aspekt des Interesses der dark lady am jungen Mann tritt gegen Ende des zweiten Quartetts nochmals deutlich hervor : »Wooing his purity with her foul pride« (v. 8). Hierfür ist die frühere Bedeutung des Begriffes pride im Sinne von sexueller Lust oder Lüsternheit ausschlaggebend. Und auch direkt vor dem heroic couplet gibt das lyrische Ich zu verstehen, dass die Beziehung der dark lady zum jungen Mann zumindest in seiner Vorstellung die körperliche Vereinigung beinhaltet: »I guess one angel in another’s hell.« (v. 12) Auch der

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Die Diffusion von Diskurstypen und die Teilglobalisierung poetischer Produktion

Begriff hell verfügt im 16. Jahrhundert über eine weitere Bedeutung, er bezeichnet nämlich die Geschlechtsorgane: »Each torments the other ; they are in the ›hell‹, or middle den, of a (sexually) boisterous game called barley-break; the man occupies the sex organ (‹hell’) of the woman.« (Shakespeare 1997: 1972) Im heroic couplet formuliert das lyrische Ich dann allerdings explizit Zweifel daran, ob seine Vorstellung der sexuellen Beziehung zwischen seinen »two loves« (v. 1) zutreffe, wobei dieser Zweifel durch das Adverb yet in der Initialposition des Verses besonders stark markiert ist. Nichtsdestoweniger entspricht der Liebesdiskurs nicht den petrarkistischen oder neoplatonischen Normen.

2.5

Schlussbemerkungen

Ohne Petrarcas Bedeutung für die Entwicklung der europäischen Liebeslyrik in Abrede stellen zu wollen, steht dennoch außer Zweifel, dass die Liebeskonzeption, die er im Canzoniere entworfen hat, nur einen der in der Frühen Neuzeit in Europa verfügbaren Liebesdiskurse darstellt. Daneben tritt vor allem der realitätsnähere hedonistische Liebesdiskurs. Ein Gegengewicht zur Vergeistigung der Liebe im Petrarkismus und Neoplatonismus (vor allem in der Nachfolge Marsilio Ficinos) stellen solche Gedichte dar, die den körperlichen Aspekt der Liebe präsentieren, wobei dies auf explizite oder implizite Art und Weise geschehen kann. Auch wenn das tatsächliche Ausmaß in diesem Bereich bis heute nicht geklärt ist, steht dennoch außer Frage, dass es sich in der Frühen Neuzeit bei der erotischen Dichtung um keine quantit¦ n¦gligeable handelt. Das Zentrum der unverhohlenen poetischen Erotik bildet in der Frühen Neuzeit sicherlich Italien, dem aber dicht Frankreich und Spanien folgen. Neben ausschließlich erotischen bis im heutigen Sinne pornographischen Gedichten finden wir in der Frühen Neuzeit auch viele Gedichte, die den petrarkistischen oder neoplatonischen Liebesdiskurs mit dem hedonistischen kombinieren, und zwar oftmals, ohne beide zu vermitteln. Eine solche Tendenz muss in den Kontext der frühneuzeitlichen Bestrebung um eine Pluralisierung der Konzepte und Handlungsentwürfe in den unterschiedlichsten Lebensbereichen gestellt werden.68

68 Vgl. hierzu Stempel/Stierle: 1987.

3.

Gattungsentwicklung unter den Bedingungen literarischer Teilglobalisierung

Nach den bereits angestellten Überlegungen zum Phänomen der Teilglobalisierung der Literatur im frühneuzeitlichen Europa hinsichtlich der Verbreitung bestimmter Diskurse und Diskurstypen soll dieses nun anhand der europaweiten Diffusion zweier konkreter literarischer Gattungen weiter aufgezeigt werden, nämlich der Novelle und des Sonetts. Diese beiden Gattungen belegen auf repräsentative Weise die Konstanz des frühneuzeitlichen literarischen Gattungssystems in Europa. Darüber hinaus handelt es sich sowohl bei der Novelle als auch beim Sonett um eines der sprachkünstlerischen Erzeugnissen des Mittelalters, die auf dem Wege des romanischen Kulturnetzwerks in der Frühen Neuzeit europaweite Verbreitung und wechselseitige Beeinflussung finden. Diese beiden Gattungen wurden nicht willkürlich gewählt, sondern aus drei Gründen: Erstens sind beide Formen nicht antiken Ursprungs, zweitens gehört die eine der Narrativik und die andere der Lyrik an, und drittens repräsentieren die Novelle und das Sonett unterschiedliche Möglichkeiten des frühneuzeitlichen Kulturtransfers im Bereich der Literatur : Die frühneuzeitliche Entwicklung der europäischen Novelle ist durch eine große Vielfältigkeit gekennzeichnet, die auch eine starke Abweichung vom ursprünglichen Modell beinhalten kann, wie zum Beispiel in Deutschland, wo die Novellistik zu Beginn eine primär moralisch-didaktische Zielsetzung hat, oder in Spanien, wo mit Cervantes’ Novelas ejemplares (1613) dem Vorbild Boccaccios explizit ein nationales Modell entgegengesetzt wird. Im Unterschied hierzu weist die frühneuzeitliche Entwicklung des Sonetts in Europa eine verhältnismäßig große Konstanz auf, und zwar sowohl inhaltlich mit der starken Fokussierung auf die petrarkistische und neuplatonische Liebeskonzeption als auch formal durch die Einhaltung einer Grundstruktur, nämlich der Vierzehnversigkeit, die – bis auf die prominente Ausnahme des so genannten Shakespearean Sonnet – anhand der Reimstruktur eine Unterteilung in zwei Quartette und zwei Terzette aufweist. Das von Petrarca verwendete Metrum, der endecasillabo, wird darüber hinaus in Europa zum dominierenden Versmaß des Sonetts. Innerhalb des von Petrarca vorgegebenen formalen und inhaltlichen Rahmens enstehen allerdings im Rahmen des früh-

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Gattungsentwicklung unter den Bedingungen literarischer Teilglobalisierung

neuzeitlichen Bemühens um die translatio studii einige Varianten des Sonetts, vor allem in England und Frankreich. Dazu später mehr. Dass es sich beim Sonett im Gegensatz zur Novelle zumindest in den nationalen Standardformen, die sich ab dem 16. Jahrhundert herausbilden, um eine relativ gut definierte und definierbare Gattung handelt,69 wird in der vorliegenden Untersuchung im Folgenden keine Rolle spielen.70 Es soll nicht darum gehen, normative Aspekte der entsprechenden Gattungstheorien und Typologien in den Blick zu nehmen, was im Falle der Novelle, bei der sich keine Gattungsnorm aufstellen lässt, ohnehin aussichtslos wäre,71 sondern ausschließlich um die Ausbreitung beider Gattungen im frühneuzeitlichen Europa.

3.1

Die Novelle

Die auffallende Konstanz des frühneuzeitlichen Gattungssystems in Europa ist maßgeblich dem Prinzip der imitatio geschuldet, wobei sich diese eben nicht nur auf antike Autoren und das antike Gattungssystem bezieht, sondern auch auf als vorbildlich erachtete zeitgenössische Autoren, vornehmlich aus Italien. Von den sprachkünstlerischen Erzeugnissen des Mittelalters, die auf dem Wege des romanischen Kulturnetzwerks ausgehend von Italien europaweite Verbreitung und wechselseitige Beeinflussung finden, gehört maßgeblich neben dem Sonett vor allem die Novelle. Selbstverständlich wird eine neue Gattung nicht aus dem Nichts geschaffen. Dies gilt uneingeschränkt auch für die Novelle, die über zahlreiche Vorformen verfügt, die in Europa auch mehr oder weniger national verbreitet sein können.72 Auf eine Darstellung dieser Vorformen, denen gemein ist, dass sie alle das Erzählmuster eines um einen prägnanten, sei es witzigen, zotigen oder aber ins Moralistische oder Philosophische gehenden Plots besitzen, soll an dieser Stelle verzichtet werden. Es geht im Folgenden nicht darum, die Entstehung dieser Gattung nachzuzeichnen, sondern vielmehr darum, das europaweite Auftreten von Kurzerzählungen in Prosa bzw. von Sammlungen solcher Kurzerzählungen, die explizit mit dem Etikett ›Novelle‹ versehen werden, aufzuzeigen. Aus diesem Grund können hier auch die kulturellen, sozialen und politischen Voraussetzungen der Novelle außer Acht gelassen werden. Besonderes Augenmerk ist hingegen auf das Verhältnis von Traditionsverbundenheit bzw. Treue zum maßgeblichen Modell, Il decameron von Giovanni 69 Vgl. hierzu Nickel: 2008, 7 ff. 70 Vgl. hierzu Wetzel. 1977, 4 ff. 71 Siehe Pabst: 1967, 1 ff. Ausschließlich aus pragmatischen Gründen wird im Folgenden der Begriff der Novelle verwendet. Keinesfalls wird damit implizit eine Gattungsnorm vorausgesetzt. 72 Vgl. hierzu Aust: 42006, 56 ff.; Blüher : 1985, 19 ff. und Neuschäfer : 1969.

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Boccaccio, und innovative Umgestaltung dieser Vorlage, die ihren künstlerischen Ausdruck in der Frühen Neuzeit zumeist in Form einer nationalen Aneignung des Modells findet, zu legen. Zunächst bleibt festzuhalten, dass es – anders als für das (frühneuzeitliche) Sonett – keine Definition der Novelle gibt. Dies gilt in zeitlicher wie auch in geographischer Hinsicht.73 Als oftmals auftretende, jedoch keinesfalls zwingende gemeinsame Merkmale der frühneuzeitlichen europäischen Novelle lassen sich einige Charakteristika anführen: Der Form nach handelt es sich um eine kurze Prosaerzählung, wobei es sich um eine relative Kürze handelt, die beispielsweise auch die jeweils mehrere Dutzend Druckseiten umfassenden Novelas ejemplares (1613) von Miguel de Cervantes einschließt. Aus der Kürze folgt, dass die Handlung in den meisten Fällen einsträngig gestaltet ist, wobei die Handlungschronologie eingehalten wird. Häufig enden frühneuzeitliche Novellen darüber hinaus mit einer unvorhersehbaren Pointe. Des Weiteren führt die Kürze der Erzählung zu einer relativ begrenzten Personenzahl und dazu, dass sich das Geschehen an einem einzigen oder doch aber wenigen Schauplätzen und in einem sehr überschaubaren zeitlichen Rahmen abspielt. Die konstanten Textmerkmale der Novelle, die diese insbesondere vom Roman unterscheiden, betreffen […] vor allem die Präsentierung der ›Geschichte‹, die in der Novelle allgemein als eine ›kurze‹, funktional straff organisierte Handlung auftritt, die – vergleichbar dem Drama – eine ›geschlossene, mit einer pointiert herausgehobenen Handlungsklimax ausgestattete Struktur aufweist. (Blüher : 1985, 11)

Oftmals ist die Handlung in die zeitgenössische Gegenwart verlegt, denn der Großteil der frühneuzeitlichen europäischen Novellen ist so konzipiert, dass der Eindruck der Authentizität erweckt werden soll.74 Aus diesem Grund sind sehr viele Autoren in dieser Zeit darum bemüht, in ihren Novellen die Illusion von Mündlichkeit zu stiften, wobei die Situation des Erzählens mehr oder weniger stark im Text markiert werden kann, zum Beispiel durch eine entsprechende Rahmenhandlung. Und zuletzt erheben viele Novellen aus der Frühen Neuzeit jenen Anspruch auf ›Neuheit‹ des Gegenstandes, den schon der etymologische Ursprung des Gattungsnamens suggeriert. All die hier aufgeführten Merkmale können, müssen aber nicht in frühneuzeitlichen Novellen realisiert sein, und aus ihrem häufigen gemeinsamen Auftreten lässt sich keine Definition der frühneuzeitlichen Novelle erstellen. Im Folgenden soll zunächst eine wesentliche Voraussetzung für die erste Blütephase der europäischen Novellistik im 16. und 17. Jahrhundert erläutert 73 Zur Definitionsproblematik vgl. Eitel: 1977, 2 ff. 74 Eine wichtige Ausnahme stellt die sogenannte Märchennovelle, in der kein mimetisch-illusionistischer Eindruck erzielt werden soll, dar. Zu diesem Novellentypus vgl. Wetzel: 1977, 118 ff.

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werden, nämlich ihre enge Verbindung mit der rasanten Entwicklung der Städte und damit zusammenhängend ihrer zunehmenden Bedeutung sowie derjenigen des Bürgers, wie wir sie in der Frühen Neuzeit verzeichnen können.75 Die Novelle erweist sich geradezu als eine primär ›bürgerliche‹ Gattung.76 Exemplarisch und repräsentativ soll dies im Folgenden anhand der französischen Novellistik der Frühen Neuzeit aufgezeigt werden. Generell gilt, dass die Gattung der Novelle und der frühneuzeitliche Bürger in mehrerlei Hinsicht eng miteinander verknüpft sind: Erstens ist das Bürgertum das primäre Zielpublikum der Novelle, denn sie setzt notwendigerweise die Lesefähigkeit voraus und kommt aufgrund ihrer relativen Kürze dem nur über ein sehr begrenztes Zeitkontingent verfügenden berufstätigen Bürger entgegen: Wie die Versnovelle in Frankreich, so ist die im 14. Jahrhundert von Boccaccio standardisierte Prosanovelle für das Bürgertum geschrieben. Während das feudalistische Epos von seinen Hörern unbedingte Verfügung über ihre Zeit verlangte, muß sich umgekehrt die Novelle in einem stark begrenzten Zeitraum realisieren. Sie muß mit einem geschäftigen Bürgertum rechnen, das mit seiner Zeit haushälterisch umgehen muß und einen offenen Sinn für witzige Pointen und für rasch umrissene Anekdoten besitzt. (Krauss: 1968, 29)

Im poetologischen Vorwort des anonym erschienenen Parangon de nouvelles (1531) heißt es dementsprechend über die primäre Funktion der Novelle: Car l’arc trop longuement sans remission tendu devient lache ou se romp: ainsi faict l’entendement occup¦ de affaires urgens et cures severes sans intermission d’aulcung esbatement. Pour lequel facillement avoir, les presentes nouvelles de plusieurs bons aucteurs recitees ont est¦ assemblees en petite et jolye forme, pour plus facillement en tous lieux en avoir la fruytion totalle. (Le Parangon de Nouvelles: 1979, 1 f.)

Die Novellen dieser Sammlung sind also explizit an Menschen gerichtet, die – wie ein gespannter Bogen – der Entspannung bedürfen, und zwar wegen ihrer permanenten beruflichen Anspannung. Die Entspannung soll dabei durch eine kurze und zugleich kurzweilige Lektüre erzielt werden können.77 Es ist offensichtlich, dass wir es hier mit einer vollkommenen Umdeutung des horazischen Diktums aut delectare aut prodesse zu tun haben, denn beide überlagern sich und verschmelzen miteinander : Der Nutzen ist die Unterhaltung (während der Lektüre) bzw. die Entspannung, die noch über die Lektüre hinaus ihre positive Wirkung entfalten soll.78 Als Adressat ist hier zweifelsohne primär das städtische 75 Vgl. hierzu Brockmeier : 1972, VIII. 76 Vgl. hierzu Raymond: 1964, 134. Demgegenüber hat Werner Krauss der Novelle eine »plebejische Grundnatur« (Krauss: 1965, 49 f.) attestiert. 77 Zum wirkungspoetologischen Aspekt der ›recreatio‹ vgl. Wehle: 1981, 193 ff. 78 Vgl des P¦riers: 1980, 14: In der ersten (poetologischen) Novelle (»en forme de preambule«), die eine Pr¦face zu ersetzen scheint, erklärt der Autor explizit »que je ne fais pas peu de chose

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und vor allem kaufmännische Bürgertum gemeint: »Demnach können wir den politisch, administrativ oder in Handelsgeschäften eingespannten Menschen als den Adressaten der Novelle identifizieren.« (Krüger : 2002, 97) Mit der Novelle wird damit ein Erzählmuster etabliert, das dezidiert nicht mehr den großen epischen Atem verlangt, sondern geradezu anti-episch, kurz und knapp einer neuartigen Zeiterfahrung, nämlich dem begrenzten Zeitkontingent städtischer und insbesondere kaufmännischer Bevölkerung entspricht. Dieser Rezipientenkreis entspricht vielfach den Protagonisten der Novellen, in denen prinzipiell alle sozialen Schichten vertreten sein können: Die Novelle wird zur antihöfischen und zugleich die gesamte Gesellschaft im Partikularen reflektierenden Erzählform par exellence. Das heißt zugleich, dass die Novelle einen explizit nicht-epischen Charakter besitzt, und zwar selbst in den Fällen, in denen in Novellen Ritter auftreten. Das Personenspektrum, das der Novellistik zur Verfügung steht, bildet die gesamte soziale Stufenleiter ab und weist nicht mehr jenes strenge Ausschlussprinzip des Epos auf. Besonders beliebt ist in der Frühphase der europäischen Novellistik ein Personal, das dem kaufmännischen Bürgertum entstammt. Dies gilt schon für das Decameron, das zu Recht als »epopea dei mercantanti« (Branca 31996, 134)79 bezeichnet wurde; denn Boccaccio hat in den Novellen seiner Sammlung das kaufmännische Leben im Florenz des 13. Jahrhunderts, das bis ins 14. Jahrhundert zunehmend an Bedeutung gewonnen hat, narrativ in Szene gesetzt. Florenz repräsentiert dabei »die frühbürgerlich-merkantile Gesellschaft des Trecento« (Arend-Schwarz: 2004, 94). Zumal Boccaccio und seine (italienischen) Nachfolger und Nachahmer die wichtigsten Vorbilder für die französische Novelle im 15. und 16. Jahrhundert darstellen, ist es wenig erstaunlich, dass diese dem Decameron u. a. auch in dieser Hinsicht folgen.80 Auch schon die älteste italienische Novellensammlung, die vermutlich aus der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts stammt und anonym erschienen ist, Il Novellino (auch Le ciento novelle antiche), ist zu großen Teilen dem städtischen Leben gewidmet, wobei vor allem die ökonomischen und juristischen Beziehungen der Menschen untereinander in den Blick genommen pour vous [scil. les lecteurs; B.N.], en vous donnant dequoy vous resjouir : qui est la meilleure chiûse que puysse faire l’homme. Le plus gentil enseignement pour la vie, c’est Bene vivere et laeteri.« Hervorhebung im Original. Vgl. Hassell: 1981, 298 ff. und Leeker : 2003, 149 f. Schon Boccaccio verspricht den Lesern seines Decameron im Proemio ein »alleggiamento« (Boccaccio: 1956, 9). 79 Vgl. hierzu auch Wetzel: 1977, 23; Brockmeier : 1972, 7 ff. und Padoan: 1974. 80 Die Rezeption Boccaccios setzt in Frankreich vergleichsweise früh ein: Zum ersten Mal ins Französische übertragen wurde Il Decameron im Jahre 1414, allerdings nicht das italienische Original, sondern eine lateinische Übersetzung. Das Original ist im Jahre 1545 ins Französische übertragen worden, und zwar bezeichnenderweise auf Veranlassung von Marguerite de Navarre. Vgl. hierzu Blüher : 1985, 30.

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werden, wie dies später in Frankreich auf ähnliche Weise vor allem in den Cent Nouvelles nouvelles (1462) der Fall sein wird.81 Eine weitere Verbindung zwischen Novelle und Bürgertum besteht zweitens hinsichtlich der Thematik und drittens hinsichtlich des Handlungsortes: Die in der frühneuzeitlichen französischen Novelle vorgeführte kurze Erzählung spielt nämlich zumeist in der Stadt und handelt charakteristischerweise von sozialen Begegnungen unterschiedlichster Art, wobei die Akteure prinzipiell allen Ständen entstammen können, wir es sehr oft aber – dem vorgestellten städtischen Handlungsraum entsprechend – mit Figuren zu tun haben, denen Attribute des Bürgertums zugeordnet sind oder die sogar explizit als Bürger bezeichnet werden. Nur in der Stadt kann grundsätzlich jeder auf jeden treffen, weil die Bewegungen des einzelnen hier – ganz anders als am Hof – nicht nach dem Gesichtspunkt des sozialen Standes geregelt werden. Wenn die Stadt in der frühneuzeitlichen französischen Novelle auch den bevorzugten Ort des Geschehens darstellt, so soll dies nicht heißen, dass es nicht auch Novellen gibt, die am Hof oder in einer ländlichen Umgebung spielen. In den großen Novellensammlungen dieser Zeit finden sich neben Bürgern beispielsweise auch Adlige, Handwerker und auch Bauern. Jean-Pierre Sim¦on hat die Nouvelles r¦cr¦ations et joyeux devis (1558) von Bonaventure des P¦riers hinsichtlich der in ihnen benannten oder thematisierten sozialen Klassen untersucht und ist zum Ergebnis gekommen, dass der Großteil der Personen in diesen Novellen dem städtischen Bürgertum entstammt. (vgl. Sim¦on: 1981) Dabei handelt es sich um Justiz- und Verwaltungsbeamte, Händler, Schriftsteller, Apotheker, Ärzte, Universitätsangehörige (Professoren, Doktoren, Studenten), Geistliche und um solche Personen, denen bürgerliche Attribute (Haus, teure Wohngegend, materieller Wohlstand, große Dienerschaft, gute Bildung etc.) zugeordnet sind, deren Beruf jedoch nicht explizit genannt wird. Daneben tauchen aber auch die »classes populaires« (Sim¦on: 1981, 327) auf: die Landbevölkerung (Bauern, Hirten, Dorfbewohner etc.), Handwerker, Diener, Kammermädchen, soziale Randgruppen (wie zum Beispiel Diebe, Kurtisanen, Geisteskranke), Gaukler, Haudegen etc. Signifikanterweise sind die Vertreter des städtischen Bürgertums quantitativ den Repräsentanten aller anderen sozialen Klassen – daneben sind hier noch der Adel und der Klerus zu nennen – überlegen.82 Des P¦riers’ Novellensammlung vermittelt damit insofern kein realistisches Bild von der damaligen Gesellschaftsstruktur, als bei ihm die Landbevölkerung einen verschwindend kleinen Anteil am Gesamtpersonal ausmacht, obgleich diese im 16. Jahrhundert noch die quantitativ stärkste Bevölkerungsgruppe darstellte: 81 Vgl. hierzu Godenne: 1974, 17 ff. 82 Etwa vierzig Novellen der Sammlung handeln von Bürgern. Vgl. hierzu Sozzi: 1965, 286 ff.

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Que la grande majorit¦ de la population demeure rurale au XVIe siÀcle on ne le devinerait pas — la lecture de Devis. En effet le monde des campagnes n’appara„t, directement ou indirectement, que dans quatorze contes au plus […]. (Sim¦on: 1981, 343)83

Der Vorzug, den Bonaventure des P¦riers in seiner Novellensammlung dem städtischen Bürgertum gegenüber der Landbevölkerung gibt, spiegelt zwar nicht die tatsächliche damalige Bevölkerungsschichtung, dafür aber eine Haltung der bürgerlichen Mittel- und Oberschicht wider, nämlich »le d¦dain des gens de la ville pour les hommes des champs« (Mandrou: 31998, 346). Etwas anders als in den Nouvelles r¦cr¦ations et joyeux devis stellt sich die Lage im Grand parangon des nouvelles nouvelles (1535/36) dar : Hier reicht das Figurenspektrum nämlich auf der Gesellschaftsskala von ganz oben (Adel, Klerus) bis ganz unten zu den einfachsten Schichten, wie zum Beispiel den Handwerkern.84 Dies mag damit zusammenhängen, dass der Verfasser dieser Sammlung, Nicolas de Troyes, selbst einfacher Sattler war und möglicherweise deshalb darum bemüht war, seinen novellistischen sozialen Mikrokosmos auch bzw. vor allem mit Vertretern aus den unteren Gesellschaftsschichten zu bevölkern.85 Die Stadt eignet sich deshalb in besonderem Maße als Handlungsort, weil die Novelle per se auf einen Ort angewiesen ist, an dem Neuigkeiten entstehen: »Il suffit […] de se rappeler que, pour les hommes du XVe [et ¦galement du XVIe] siÀcle, le mot ›nouvelle‹ est indissociable de son ¦tymologie : il ne peut se rapporter qu’— ce qui est ›nouveau‹.« (Dubuis: 2005, 35 f.) Neuigkeiten im Sinne von unerhörten Begebenheiten (Goethe)86, die – außer in bestimmten Grenzfällen der Gattung (z. B. der Märchennovelle)87 – der Forderung nach vraisemblance nachkommen müssen, sind ja von Anfang an neben der relativen Kürze ein gattungskonstituierendes Merkmal der Novelle: »Dieser Authentizitätsanspruch, der zum Teil auch mit dem fiktionalen Anspruch auf ›Neuigkeit‹ der Geschichte […] verknüpft ist, stellt ein […] wesentliches Charakteristikum der Novellengattung dar […].« (Blüher : 1985, 12) Auf Neuigkeiten trifft man

83 Vgl. Delumeau: 1993, 251 ff. 84 Vgl. hierzu Kasprzyk: 1970, XXI. 85 Vgl. hierzu ib., XXV: Die Protagonisten »appartiennent aux cercles proches de l’auteur : marchands, gens de m¦tier, paysans, prÞtres et moines, soldats et huissiers pillards, larrons et escrocs, sans oublier les femmes des mÞmes milieux«. 86 Gespräch mit Eckermann vom 29. Januar 1827, Goethe: 1960, 726. Das Attribut ›unerhört‹ weist insofern eine Mehrdeutigkeit auf, als es sowohl neu als auch außerordentlich, normbrechend, wunderbar meinen kann. Vgl. hierzu Aust: 42006, 10. Die Definition der Novelle als sich ereignete unerhörte Begebenheit findet sich vor allem in der deutschen Novellentheorie des 19. Jahrhunderts wieder. 87 Vgl. Blüher : 1985, 12. Zur Märchennovelle vgl. auch Wetzel: 1981, 71 ff. und Wetzel: 1977, 118 ff.

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wohl an keinem Ort häufiger als in der Stadt. Die frühneuzeitlichen Städte stellen daher konsequenterweise den primären Schauplatz der Novellen dar : Die Novelle ist eine Form der beständig wechselnden Perspektiven, wie sie sich nur in der Stadt zeigen. Sie zeigt die sich beständig ändernden Konstellationen der miteinander interagierenden Menschen, wie es nur in urbaner Umgebung möglich ist. Das reduzierte Personal des Typus chevalier, dame, prÞtre des Fablel weicht jetzt dem Spektrum sozialer Typen, wie sie sich in der Stadt finden. (Krüger : 2002, 100)

Gab das Epos noch vor, die Totalität des Lebens zu erfassen, weil in ihm ein Modell von der gesellschaftlichen Wirklichkeit vermittelt wurde, dessen Zentrum der höfische Held darstellte, von dem gleichsam alles andere abhing, so bietet eine Novelle nie mehr als eine Partikularansicht der Welt. Die Ordnung, die das höfische Epos vorführt, verweist dabei auf eine höhere Ordnung. In der Novelle hingegen verliert »[…] der fiktionale Text die Funktion […], selbst als Zeichen für die universale göttliche Ordnung zu stehen […]« (Dürr : 2010, 15).88 Eine frühneuzeitliche Novellensammlung ließe sich mit einigem Recht als eine Art Collage einzelner Bilder des zeitgenössischen sozialen Lebens beschreiben. Da die frühneuzeitliche Novelle, wie bereits erläutert, eben nicht in einer überschaubaren höfischen Umgebung spielt, die bis ins Kleinste ganz auf den höfischen Helden bezogen ist, sondern vornehmlich in der Stadt, kann sie keine Totalität mehr abbilden. Die städtische Realität ist dafür – auch schon im 16. Jahrhundert – zu komplex. Hier fehlt ja gerade der eine höfische Held, der alles um sich herum zusammenhält. Eine einzelne Novelle liefert darum immer nur einen Ausschnitt aus der Komplexität des bürgerlichen Lebens in der Frühen Neuzeit, zusammen addieren sich die zahlreichen französischen Novellensammlungen aus dieser Zeit jedoch zu einer Art ›Enzyklopädie‹ der Formen sozialer Interaktion im urbanen Raum.89 Das soll und darf natürlich nicht den Blick darauf verstellen, dass die in den Novellen dargestellte ›Wirklichkeit‹ einer Fiktionalisierung unterliegt und sich deshalb mehr oder weniger stark vom tatsächlichen Leben im 16. Jahrhundert unterscheidet. Auch hier gilt ausnahmslos: Der Prozess »whereby experience of daily life is transformed into its literary representation involves a degree of distortion […]« (Ferguson/ LaGuardia: 2005, 5). Nichtsdestoweniger erweist sich die Novelle der Frühen Neuzeit als eine primär städtische Gattung, deren Grad an Ausdifferenzierung hinsichtlich der poetischen Inszenierung zeitgenössischer lebensweltlicher Details sehr hoch sein kann. Dies kann ebenso die damalige Esskultur wie bestimmte Berufsgruppen etc. betreffen.90 88 Vgl. Hierzu auch Dodell: 2005, 9: »Novellen sind Belastungsproben für Weltbilder.« 89 Vgl. Saulnier : 1981, VII: »tout ensemble miroir des realia, reflet incomplet mais irremplaÅable, des choses qui se passent en son temps, et des choses qui se pensent.« 90 Vgl. hierzu P¦rouse: 1977.

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Es sei an dieser Stelle wenigstens kurz darauf hingewiesen, dass die Novelle uns einen Ausblick auf die episodische Struktur des frühneuzeitlichen Romans (z. B. von Rabelais, Cervantes und d’Urf¦) gibt. Die Struktur gleicht hier oftmals »[…] einer Verknüpfung verschiedener Novellen durch einen Protagonisten […]« (Wetzel: 1977, 51). Eine Nähe zur Novelle, und zwar zur Abenteuernovelle, besitzt vor allem der Schelmenroman oder pikareske Roman, der von Spanien ausgehend in der Frühen Neuzeit in ganz Europa Verbreitung findet,91 und der Schäferroman, für den dasselbe gilt, nur dass hier das maßgebliche Modell aus Frankreich stammt: L’Astr¦e (1607sq.) von Honor¦ d’Urf¦. Man könnte also den Roman der Frühen Neuzeit so verstehen, dass er aus einer Dynamisierung des Verhältnisses von Roman und (novellistischer) Episode entstanden ist. Das Ergebnis eines solchen Vorgangs ist die Transformation des Rahmens zu einer eigenen Handlung mit eingestreuten Episoden. Es ist bekannt, dass Rabelais und Cervantes tatsächlich kurze Prosaerzählungen in ihre Romane integriert haben.92 Diese Beobachtungen führen zur grundsätzlichen Frage nach einer strikten Abgrenzung der Gattung Novelle vom Roman. Um es gleich vorwegzunehmen: Eine solche Abgrenzung existiert in der Frühen Neuzeit nicht. Wird auch allgemein unterstellt, dass die Novelle sich durch eine räumliche und zeitliche Begrenzung sowie die Konzentration auf ein Ereignis auszeichne und der Roman zu einem größeren Umfang und einem komplexen Handlungsablauf tendiere, so ist die Zuordnung zu einer der Gattungen mehr oder weniger beliebig und die Gattungsgrenzen sind zu beiden Seiten offen. Besonders anschaulich kann dies anhand der frühneuzeitlichen spanischen Novellistik aufgezeigt werden. Denn hier wird kurz nach dem Erscheinen der ersten großen Novellensammlung, den Novelas ejemplares von Miguel de Cervantes, der Begriff novela zur Gattungsbezeichnung für den Roman, was nochmals auf die relative Beliebigkeit der Zuordnung und die typologische Nähe beider Gattungen aufmerksam macht. Was die Auswahl der nachfolgend präsentierten Novellensammlungen angeht, so wurde absichtlich kein Beispiel aus Deutschland gewählt. Die deutsche Novellistik des 17. Jahrhunderts unterscheidet sich nämlich in grundlegender Hinsicht von der frühneuzeitlichen Novellistik in den europäischen Nachbarländern. Denn sie besitzt einen vornehmlich didaktisch moralisierenden Charakter. Es besteht eine große intentionale Nähe zur Gattung des Exemplums: »Vom Mittelalter bis weit ins 18. Jahrhundert hinein […] prägt der didaktischexemplarische Zug die Erzählliteratur.« (Aust: 42006, 59) Diesen Befund werden 91 Der erste Schelmenroman wurde im Jahre 1554 anonym unter dem Titel Lazarillo de Tormes veröffentlicht. In rezeptionsästhetischer Hinsicht wesentlich einflussreicher ist jedoch Mateo Alem‚ns Guzm‚n de Alfarache (1599). 92 Zu den Novellen im Don Quijote vgl. Krauss: 1965, 53 f.

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die deutschen Beispiele im Kontext der Rezeption des Romeo-und-Julia-Stoffes bestätigen.93 Die Nähe der deutschen Novelle des 17. Jahrhunderts zum Exemplum belegen repräsentativ drei Sammlungen Georg Friedrich Harsdörffers: Jämmerliche Mordgeschichten (1649/50), Lust- und Lehrreiche Geschichten (1650/51) und Geschichtsspiegel (1654). Diese drei Sammlungen enthalten fast 1000 Novellen, in denen »die Erzählfunktion eingespannt [ist] zwischen ›Morallehre‹ und ›Information‹« (Aust: 42006, 62). Ganz typisch für die literarische Praxis in Deutschland verwendet Harsdörffer den Begriff der Novelle in keinem der von ihm gewählten Titel. Dies mag vor allem auf die Ablehnung der in Deutschland als unmoralisch beurteilten italienischen Novellen zurückzuführen sein. Nichtsdestoweniger wird das Decameron auch in Deutschland rezipiert. Hiervon zeugt die erste Übertragung des Decameron ins Deutsche aus dem Jahre 1472, die von Arigos (d.i. vermutlich Heinrich Schlüsselfelder) stammt.94 Der Begriff der Novelle ist in Deutschland allerdings erst gegen Ende des 17. Jahrhunderts nachweisbar, und erst gegen Ende des 18. Jahrhunderts setzt er sich als Gattungsbezeichnung für kurze Erzählungen durch.95 Betrachten wir nun das maßgebliche Modell für die europäische Novellistik des 16. und 17. Jahrhunderts.

3.1.1 Giovanni Boccaccio, Il decameron (um 1530, EA 1353)96 Es steht völlig außer Frage, dass diese Sammlung die Entwicklung der europäischen Novelle beeinflusst hat wie keine andere. Zu Recht wurde auf »die internationalen Verknüpfungen durch das alle Novellentraditionen prägende Decameron […]« (Wetzel: 1977, 5) hingewiesen. Dies gilt, obgleich sie nicht die älteste Novellensammlung ist, die wir kennen. Bereits im 13. Jahrhundert kommt folgende anonym veröffentlichte Novellensammlung in Umlauf: Il Novellino. Le ciento novelle antiche (2. Hälfte des 13. Jhs.). Im Gegensatz zu Boccaccios Decameron ist der Einfluss dieser Sammlung nicht konkret nachzuweisen, was darauf schließen lässt, dass er nicht besonders groß gewesen sein kann. Wie im Falle des Decameron handelt es sich beim Novellino um eine Sammlung von genau 100 Novellen, die allerdings noch stark an die Gattung des Exemplums angelehnt sind, was sich nicht zuletzt auch im bewussten Verzicht auf eine narrative Ausgestaltung und der daraus resultierenden relativen Kürze 93 94 95 96

Siehe hierzu S. 225 dieser Untersuchung. Vgl. hierzu Aust: 42006, 60. Vgl. hierzu Rath: 22008, 81 f. Boccaccio: 1956.

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niederschlägt.97 Darüber hinaus besteht insofern eine strukturelle Nähe zwischen den Novellen des Novellino und der Gattung des Exemplums, als mehrere Novellen Parabeln enthalten. In diesem Kontext wurde zu Recht auf einen wesentlichen Unterschied zum Exemplum hingewiesen: »Die Parabel hat innerhalb der Novelle die Funktion eines Exempels; allerdings steht dieses Exempel nicht mehr allein, ohne novellistische Umrahmung im Verein mit anderen Exempeln wie die Fassung des gleichen Stoffes in den Exemplasammlungen […].« (Wetzel: 1977, 79) Der vergleichsweise geringe Einfluss des Novellino auf das europäische Gattungssystem mag vor allem darauf zurückzuführen sein, dass ihm das spezifische Charakteristikum des Decameron, das zu zahlreichen europäischen mehr oder weniger variierenden Nachahmungen inspiriert hat, fehlt, nämlich die Rahmenhandlung.98 Nun wird man einwenden dürfen, dass Giovanni Boccaccio nicht der erste Autor ist, der kurze narrative Texte einer Einheit stiftenden Rahmenhandlung eingliedert. Das prominenteste, wenn auch nicht älteste bekannte Beispiel einer solchen Sammlung stellt zweifelsohne Tausendundeine Nacht dar.99 Diese unterscheidet sich zunächst und vor allem dadurch vom Decameron, dass sie in gattungstypologischer Hinsicht vergleichsweise heterogen gestaltet ist, auch unter einer teilweisen Verwendung von der in der arabischen, persischen und osmanischen Literatur beliebten Reimprosa. Hierzu ist das Decameron gattungstypologisch vergleichsweise homogener gestaltet, auch wenn der Autor selbst die Verschiedenartigkeit seiner Novellen hervorhebt, wenn er die hundert Novellen seiner Sammlung wie folgt beschreibt: »intendo di raccontare cento novelle, o favole o parabole o istorie« (Boccaccio: 1956, 10).100 Dass das Zitat zugleich die Problematik einer Gattungsdefinition impliziert, die die Novellistik nicht nur, aber vor allem in der Frühen Neuzeit kennzeichnet, sei hier wenigstens am Rande erwähnt. Vergleichsweise homogen gestaltet ist das Decameron auch in thematischer Hinsicht, denn Boccaccio präsentiert seinen Lesern fast ausschließlich erotische Stoffe, und zwar in Gestalt von so genannten Schwanknovellen. Auch in stilistischer Hinsicht hält Boccaccio an der Einheitlichkeit seiner Sammlung fest. Gibt er in der Introduzione der Giornata Quarta vor, bewusst kein Werk verfasst zu haben, dass den Neid anderer hervorrufen soll, so lesen wir folgende Beschreibung des Stils der hundert Novellen: »Il che assai manifesto puý apparire a chi le presenti novellette riguarda, le quali, non solamente in fiorentin volgare e in prosa scritte per me sono e senza titolo, ma ancora in istilo umilissimo e rimesso quanto il pi¾ possono.« (Boccaccio: 1956, 313) 97 Zum Exemplum vgl. Bremond/Le Goff/Schmitt: 1982 und zum Verhältnis von Exemplum und Novelle vgl. Stierle: 1975 sowie Neuschäfer : 1969, 33 – 75. 98 Vgl. hierzu Brockmeier : 1974, 3. 99 Zu anderen Vorläufern der Rahmenstruktur vgl. Souiller : 2004, 15 ff. 100 Vgl. hierzu Brockmeier : 2008, 884.

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Im Gegensatz zu den märchenhaft entrückten Geschichten von Tausendundeine Nacht präsentiert Boccaccio im Decameron Kurzerzählungen, die sich im Italien seiner Zeit hätten zutragen können – im Gegensatz zu Marguerite de Navarre gibt Boccaccio nicht die Authentizität seiner Novellen vor. Das heißt, Boccaccios Sammlung kommt – anders als Tausendundeine Nacht – dem Bedürfnis der zeitgenössischen Leser nach Neuheit, Aktualität und Kürze nach. Die Konzeption des Decameron entspricht damit genau dem Puls der Zeit. Hierauf scheint mir die extreme Beliebtheit des Decameron im frühneuzeitlichen Europa zumindest teilweise zurückzuführen sein. Es darf auch nicht außer Acht gelassen werden, dass der Erfolg von Bocaccios Sammlung auch das Ergebnis einer Inkubationsphase der europäischen Novellistik ist. Nicht zuletzt besteht zwischen beiden Sammlungen von Kurzerzählungen noch ein wesentlicher Unterschied hinsichtlich der Motivation des Geschichtenerzählens, die die Rahmenhandlung präsentiert: Im Falle von Tausendundeine Nacht handelt es sich beim narrativen Rahmen um eine so genannte Halserzählung und damit um »eine Geschichte, in der es um ›Kopf und Kragen‹ geht […]. Das Erzählen von Geschichten hat eine direkte Wirkung auf den Ablauf der Halserzählung, ihr Ende hängt von den eingerahmten Geschichten ab.« (Wetzel: 1977, 22) Im Unterschied hierzu haben die erzählten Novellen im Decameron keinerlei Einfluss auf den narrativen Rahmen, und das Geschichtenerzählen dient den beteiligten Personen hier primär dazu, sich die Zeit sinnvoll zu vertreiben, während in Florenz die Pest wütet. Den Beginn der frühneuzeitlichen Novelle soll im Folgenden – in Übereinstimmung mit Neuschäfers Bestimmung101 – das Decameron darstellen. Seine vorbildhafte Wirkung und damit zugleich die starke Ausbreitung der Gattung der Novelle im frühneuzeitlichen Europa soll zunächst primär mit Blick auf das von Boccaccio gelieferte Strukturmodell einer die Novellen einbettenden Rahmenerzählung aufgezeigt und nachgezeichnet werden. Dies geschieht im Bewusstsein, dass in der Frühen Neuzeit Novellensammlungen sowohl mit als auch ohne einen narrativen Rahmen verfasst werden, und zwar parallel. Aus diesem Grund kann keine Tendenz auf einen solchen Rahmen hin oder von ihm weg attestiert werden. Als repräsentatives Beispiel für den variablen Umgang mit dem von Boccaccio im Decameron gelieferten Strukturmodell stellt die französische Novellistik des 15. und 16. Jahrhunderts dar : Weder in der ersten französischen Novellensammlung, den Cent Nouvelles nouvelles (1462) noch im Parangon de nouvelles (1531) trifft der Leser auf eine Rahmenerzählung, das Heptam¦ron der Marguerite de Navarre hingegen orientiert sich hinsichtlich des Rahmens stark an Boccaccio. Dass gerade die erste nationale Sammlung hier nicht dem italienischen Modell folgt, ist selbstverständlich kein Zufall, sondern 101 Vgl. Neuschäfer: 1969.

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steht im Kontext des Bemühens um die translatio studii. Daran lässt der den Novellen vorangestellte Widmungsbrief A mon treschier et tresredoubt¦ Seigneur Monseigneur Le Duc de Bourgoigne, de Brabant, etc. (Les Cent Nouvelles nouvelles: 1996, 22) keinen Zweifel. Dem Grafen kündigt der Verfasser des Briefes ein Werk an Qui en soy contient et traicte cent histoires assez semblables en matere, sans attaindre le subtil et tresorn¦ langage du livre de Cent Nouvelles [scil. D¦cam¦ron; B.N.] Et se peut intituler le livre de Cent Nouvelles nouvelles. Et pource que les cas descriptz et racomptez ou dit livres de Cent Nouvelles advinrent la pluspart es marches et metes d’Ytalie, ja long temps a, neantmains toutesfoiz, portant et retenant nom de Nouvelles, se peut tresbien et par raison fond¦e en assez apparente verit¦ ce present livre intituler de Cent Nouvelles nouvelles, jasoit que advenues soient es parties de France, d’Alemaigne, d’Angleterre, de Haynau, de Brabant et aultres lieux ; aussi pource que l’estoffe, taille et fasson d’icelles est d’assez fresche memoire et de myne beaucop nouvelle. (Les Cent Nouvelles nouvelles: 1996, 22)

In der soeben zitierten Textpassage beruft sich der anonyme Autor bzw. Kompilator der hundert Novellen zwar explizit auf Boccaccios Decameron, obgleich er von diesem nicht das charakteristische Struk-turelement der Rahmenerzählung übernommen hat, und betont außerdem die Originalität bzw. Neuheit der folgenden Novellen, die schon das qualifizierende Adjektiv im Titel betont und die das Wesensmerkmal der Novelle ausmacht. Das Innovationspotenzial bestehe laut dem Verfasser des Widmungsbriefes vornehmlich in einer – sowohl linguistisch als auch inhaltlich und stilistisch aufzufassenden – Aktualisierung der Novellen des Decameron und in einer geographischen Verlagerung dieser Novellen. Den Aspekt der Originalität und Innovation im Kontext einer Novellensammlung wird etwa 150 Jahre später Miguel de Cervantes erneut betonen.102 Gerade an der speziellen Form der Novellensammlung, nämlich eingebettet in eine Rahmenfiktion, lässt sich die Verbreitung der Gattung und der Aspekt des Kulturtransfers im frühneuzeitlichen Europa besonders eindringlich nachweisen. Das heißt jedoch nicht, dass es im Folgenden ausschließlich um Novellensammlungen mit einem solchen narrativen Rahmen gehen soll, zumal dies den Blick auf den Variantenreichtum der frühneuzeitlichen Novellistik zu sehr verengen würde. Im 16. und 17. Jahrhundert werden in Europa Novellensammlungen sowohl mit als auch ohne Rahmen vorgelegt, und zwar ohne eine erkennbare lineare Entwicklung hin zum Verzicht auf einen solchen Rahmen und weg von der Integration dieses Strukturelements oder umgekehrt. Mit Cervantes’ Novelas ejemplares wird explizit ein Modell zur europäischen Nachahmung bereitgestellt, das auf eine Rahmenfiktion verzichtet. Il Decameron illustriert auf ganz besondere Weise eine wichtige Annahme, die 102 Vgl. hierzu Wetzel: 1977, 15 und S. 101 ff. der vorliegenden Untersuchung.

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dieser Studie zugrunde liegt, denn kein antikes, sondern ein italienisches Gattungsmodell aus der ersten Hälfte des 14. Jahrhunderts wird zum Gegenstand einer großräumigen Verbreitung im frühneuzeitlichen Europa. Dass der Titel der Novellensammlung an das Griechische angelehnt ist (gr. deka (d]ja) zehn; gr. hemera (Bl]qa) Tag), unterstreicht diesen Aspekt, denn er behauptet implizit antik griechische Dignität und eine Nähe zum Hexameron, dem mosaischen Schöpfungsbericht. Die von Boccaccio angewandte Rahmentechnik bewirkt zunächst und vor allem, dass sich die hundert Novellen der Sammlung auf eine konkrete Ausgangssituation zurückführen lassen. Zugleich ermöglicht die Gestaltung der Rahmenerzählung ein sowohl in thematischer als auch stilistischer Hinsicht großes Spektrum aller Novellen, auch wenn der Typus der erotischen Schwanknovelle stark dominiert. Die Rahmenerzählung des Decameron liefert die bekannte Fiktion: Sieben Damen »di sangue nobile« (Boccaccio: 1956, 14) und drei junge Herren haben sich auf der Flucht vor der Pest in Florenz in einem Landhaus zusammengefunden. Dort versucht diese vom Erzähler als »lieta brigata« (Boccaccio: 1956, 30) bezeichnete Gruppe, sich die Zeit mit dem Erzählen von Geschichten zu vertreiben. Einer möglichen libertinage, die durch die Rahmenbedingungen gegeben zu sein scheint – immerhin befinden sich junge Adlige in einem Landhaus – wird damit durch das Erzählen eine Struktur verliehen. Den Vorschlag, sich gegenseitig Novellen zu erzählen, macht eine der jungen Damen, wie der Leser in der Introduzione der Prima giornata erfährt: Ma se in questo il mio parer si seguisse, non giucando, nel quale l’animo dell’una delle parti convien che si turbi senza troppo piacere dell’altra o di chi sta a vedere, ma novellando (il che puý porgere, dicendo uno, a tutta la compagnia che ascolta diletto) questa calda parte del giorno trapasseremo. Voi non avrete compiuta ciascuno di dire una sua novelletta, che il sole fia declinato e il caldo mancato, e potremo dove pi¾ a grado vi fia andare prendendo diletto; e per ciý, quando questo che io dico vi piaccia (ch¦ disposta sono in ciý di seguire il piacer vostro), faccianlo; e dove non vi piacesse, ciascuno infino all’ora del vespro quello faccia che pi¾ gli piace. Le donne parimente e gli uomini tutti lodarono il novellare. (Boccaccio: 1956, 31)

Das Erzählen ist dabei der Regel unterworfen, dass an jedem der zehn Tage eine der Personen, die von den anderen dazu ausgewählt wurde, einen bestimmten Themenkreis vorgibt, und jeder pro Tag eine Novelle erzählen muss, die diesem Themenkreis zugeordnet ist. Auf diese Weise stellt Boccaccio dem chaotischen Wirken der Pest in Florenz eine selbstgewählte Ordnung auf dem begrenzten Raum des Landguts gegenüber. Abgesehen vom Themenkreis werden keine weiteren Vorgaben für das Erzählen der Novellen gemacht. Über den moralischen Aspekt der Novellen muss, und dies ist vor allem mit Blick auf die teilweise recht frivolen Inhalte wichtig, vom Erzähler der jeweiligen Geschichte dabei zu keinem Zeitpunkt Rechenschaft abgelegt werden. Dies hat vor allem einen

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Vorteil: »Die Erzähler werden der moralischen Verantwortung für das Erzählte ausdrücklich enthoben; dadurch bleibt ihnen das ästhetische Wohlgefallen als edle Form der Lebensführung vorbehalten.« (Brockmeier : 1972, 3) Zu Recht wurde auf den symbolischen Gehalt dieser fiktiven Konstellation der Rahmenerzählung, die zugleich einen Bezug auf die zeitgeschichtliche Situation enthält, hingewiesen: Die Schilderung der zerstörerischen Wut der Pest stellt über den symbolischen, allgemein menschlichen Bezug hinaus einen gezielten Hinweis auf die wirtschaftliche und politische Krise in Florenz und die in den Jahren zwischen 1330 und 1350 real drohende Gefahr für die sozialen, religiösen und moralischen Normen […] dar. Die lieta brigata […] stellt im Selbstbewußtsein ihrer Macht dem ausbrechenden gesellschaftlichen Chaos ihre eigene autonome und vernünftig geordnete Welt gegenüber. (Wetzel: 1977, 24)

In der von Boccaccio entworfenen Rahmenfiktion lassen sich mindestens zwei weitere Referenzen auf die spezielle Lage von Florenz im Trecento ausmachen: Erstens entspricht das Verhalten der sieben jungen Damen und drei jungen Herren auf dem Landgut dem Verhalten jener reichen Florentiner Bürger, die insofern aristokratische Lebensformen nachahmen, als sie das Privileg des rein ästhetischen Kunstgenusses besitzen. Hier ist vor allem an eine soziale Schicht zu denken: »Der Kunstgenuss als edle Form des Müßiggangs wurde durch die wirtschaftlich und politisch abgestützte Herrschaft der reichen Florentiner Zunftherren über ihre Arbeitskräfte ermöglicht.« (Brockmeier : 1972, 2) Und zweitens weckt der ländliche Zufluchtsort Assoziationen mit einer charakteristischen Verhaltensweise des damaligen prototypischen Florentiner Großbürgers, nämlich damit, sein Geld in Grundbesitz – vornehmlich außerhalb der Stadt selbst – zu investieren. Wie der Leser in der Introduzione des ersten Tages erfährt, verfügen die Damen der Runde jeweils über mehrere solcher Landsitze. Pampinea rät den Damen, »a’ nostri luoghi in contado, de’ quali a ciascuna di noi À gran copia […]« (Boccaccio: 1956, 17), zu fliehen. Der von der lieta brigata ausgewählte Landsitz erweist sich als idyllisches Gegenbild zur durch die Pest zerrütteten Stadt Florenz: Era il detto luogo sopra una piccola montagnetta, da ogni parte lontano alquanto alle nostre strade, di varii albuscelli e piante tutte di verdi fronde ripiene piacevoli a riguardare; in sul colmo della quale era un palagio con bello e gran cortile nel mezzo, e con logge e con sale e con camere, tutte ciascuna verso di s¦ bellissima e di liete dipinture raguardevole e ornata, con pratelli da torno e con giardini maravigliosi e con pozzi d’acque freschissime e con volte piene di preziosi vini: cose pi¾ atte a curiosi bevitori che a sobrie e oneste donne. (Boccaccio: 1956, 20)

Trotz der zeitgeschichtlichen und vor allem auch geographischen Kontextualisierung des Decameron ist es, wie bereits ausgeführt, zum Gegenstand zahlrei-

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cher europäischer Nachahmungen geworden. Zwei von diesen sollen nun in den Blick genommen werden.

3.1.2 Geoffrey Chaucer, Canterbury Tales (um 1478)103 Eines der ersten Beispiele jenes Kulturtransfers, der sich in der Frühen Neuzeit mit Blick auf die Verbreitung des von Boccaccio gelieferten Strukturmodells im Rahmen der Novellistik in Europa nachweisen lässt, stammt von Geoffrey Chaucer. Seine Canterbury Tales sind jedoch unvollendet geblieben. Daraus folgt zugleich, dass die Anordnung der Novellen mehr oder weniger der editorischen Willkür unterliegt. Unstimmigkeiten in zeitlicher und geographischer Hinsicht sind die Folge: No one of the more than eighty surviving manuscripts is Chaucer’s autograph copy, and even the most reliable of them seem to represent the desire of early fifteenth century editors to achieve the best possible order of tales. (Hussey : 21981, 100)

In einer der verlässlichsten Quellen, dem so genannten Ellesmere Manuscript sind 84 Novellen nachgewiesen, von denen bis auf zwei alle in Versen verfasst sind.104 Zumal die Anordnung der Novellen als nicht gesichert gelten muss bzw. nicht von Chaucer autorisiert wurde, soll diese in der folgenden Betrachtung keine Rolle spielen. Wir beschränken uns vielmehr auf die Rahmenhandlung, die in allen Manuskriptfassungen bis auf kleinere Abweichungen übereinstimmt. In dieser Rahmenhandlung findet sich ein Hinweis darauf, dass weit mehr als 100 Novellen geplant waren, die Sammlung, wie gesagt, jedoch unvollendet geblieben ist. Hierauf wird zurückzukommen sein. Hinsichtlich der Anzahl ist Chaucer also nicht der Vorlage Boccaccios gefolgt. Nichtsdestoweniger ist es evident, dass das Decameron das maßgebliche Modell für diese Sammlung abgegeben hat, und zwar sowohl in thematischer als auch formaler Hinsicht. Einzelne Erzählungen haben möglicherweise eine Novelle aus Boccaccios Sammlung als direkte Quelle. Dies lässt sich allerdings nach wie vor nicht mit Sicherheit sagen, allerdings lässt sich auch das Gegenteil nicht nachweisen: »It is […] not certain, however, that the Decameron provides no direct source.« (Cooper : 1983, 34) Im Falle der Canterbury Tales könnte der poetische Kulturtransfer auch dadurch begünstigt worden sein, dass Chaucer im Dienste des englisches Hofes zahlreiche Reisen nach Italien unternommen hat. Es wäre durchaus denkbar, 103 Chaucer : 1968, 1 – 265. 104 Für allgemeine Informationen zu den Canterbury Tales vgl. Boitani/Mann: 1986 und Hussey : 21981, 99 ff.

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dass er hier auch auf das Decameron gestoßen ist. Solch biographische Umstände könnten dann die allgemeine starke Diffusion italienischer literarischer Modelle in dieser Zeit gefördert haben. Am offensichtlichsten manifestiert sich der Einfluss Boccaccios zweifellos darin, dass Chaucer seinen Erzählungen eine Rahmenhandlung hinzugefügt hat. Das soll jedoch nicht heißen, dass diese inhaltlich der Vorgabe Boccaccios entspricht.105 Vielmehr unterscheidet sie sich stark von derjenigen im Decameron. Der kleinste gemeinsame Nenner besteht in der Glaubwürdigkeit der Umstände des Geschichtenerzählens und damit der Glaubwürdigkeit der Rahmenfiktion: The authenticity of the frame story in both the Tales and the Decameron is a […] striking similarity, however different Tuscan palace gardens may be from the Canterbury road: both authors create a setting in which the telling of stories is plausible, where the frame imitates non-fiction. (Cooper : 1983, 49)

Auch darin, dass die einzelnen Novellen nicht speziell miteinander verbunden sind, sondern nur über die Rahmenfiktion eine gewisse Einheit bilden, besteht eine Gemeinsamkeit zwischen dem Decameron und den Canterbury Tales.106 Doch nun zu den Unterschieden zwischen den Sammlungen Boccaccios und Chaucers: Zunächst und vor allem fehlt in den Canterbury Tales eine Katastrophe wie der Ausbruch der Pest in Florenz im Decameron, die das mehr oder weniger zufällige Zusammentreffen einer Gruppe von Personen, die versuchen, sich durch das Erzählen von kurzen Geschichten die Zeit zu vertreiben, motiviert. In der Rahmenerzählung, die Chaucer seinen Geschichten voranstellt, trifft der anonyme Erzähler in einem Wirtshaus zu Southwark, einer Vorstadt Londons, mit 28 Wallfahrern zusammen, die nach Canterbury zu dem Grab des heiligen Thomas Becket pilgern wollen. Er schließt sich ihnen an wie auch der Wirt des Gasthauses. Um die Zeit der Wallfahrt zu verkürzen, schlägt letzterer Folgendes vor, dass jeder der Pilger auf dem Hin- und Rückweg je zwei kurze Geschichten erzählen solle, die von der Mühsal des Fußweges ablenken sollen: »Lordynges,« quod he, »now herkneth for the beste; But taak it nought, I prey yow, in desdeyn. This is the point, to speken short and pleyn, That ech of yow, to shorte with oure weye, In this viage shal telle tales tweye To Caunterbury-ward, I mene it so, And homeward he shal tellen othere two, Of aventures that whilom han bifalle. (vv. 788 – 795) 105 Zum General Prologue vgl. Cooper : 1989, 27 ff. 106 Vgl. hierzu Hussey : 21981, 102 ff.

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Zwei Geschichten pro Pilger und Wegstrecke, das ergibt in der Summe 116. Auch in einer anderen Hinsicht unterscheidet sich die Rahmenfiktion des Engländers von derjenigen Boccaccios, denn anders als in den Novellen des Decameron spielt bei Chaucer der Aspekt der Authentizität eine ähnlich wichtige Rolle wie später in Marguerite de Navarres ebenfalls stark am Decameron orientierten Heptam¦ron (posthumer Druck im Jahre 1558). Im Unterschied zu Boccaccio, der einleitend berichtet, dass seine Novellen unterschiedlichsten und unter anderem auch antiken Ursprungs sind, werden in dem bereits zitierten Vorschlag des Wirtes Geschichten angekündigt »All of adventures he has known befall« (v. 794) Übrigens schlägt der Wirt vor, dass derjenige der Pilger, der seine Sache am besten mache, auf Kosten aller anderen in seinem Wirtshaus eine köstliche Mahlzeit verspeisen dürfe: And which of yow that bereth hym best of alle, That is to seyn, that telleth in this caas Tales of best sentence and moost solaas, Shal have a soper at oure aller cost Heere in this place, sittynge by this post, Whan that we come agayn fro Caunterbury. (vv. 796 – 801)

Das Geschichtenerzählen wird so um den Aspekt des Wettbewerbs erweitert: »[…] this is a sort of itinerant literary contest, based on oral narrative prowess, with a gastronomical reward.« (Boitani: 1982, 236) Die Erzählungen der Sammlung werden in dieser einleitenden Rahmenhandlung als Ergebnis eines geselligen Spiels ausgegeben,107 das der listige Wirt darüber hinaus in jedem Fall gewinnt, denn mindestens ein Essen verkauft er nach der Pilgerfahrt auf jeden Fall. Zugleich erscheint das Erzählen hier in einem moralisch fragwürdigen Licht, denn während einer Pilgerfahrt sollten die Gedanken sich ausschließlich auf Gott richten. Ähnlich wie Boccaccio tritt jedoch auch bei Chaucer der didaktische Aspekt der Novellen in den Hintergrund. Eine explizite Moral sucht der Leser in den Canterbury Tales vergeblich. Dies hängt maßgeblich mit dem Aspekt des geselligen Spiels zusammen: »any morals are undercut by the circumstances of their presentation.« (Cooper : 1983, 49)108 Wie gesagt, die Rahmentechnik in den Canterbury Tales geht auf das von Boccaccio gelieferte Strukturmodell zurück. Chaucer hat dieses jedoch nicht nur 107 Für eine Analyse des Wettkampfphänomens unter dem Gesichtspunkt des Spiels vgl. Huizinga: 202006, 59 ff. 108 Vgl. hierzu Huizinga: 202006, 15: »Das Spiel liegt außerhalb der Disjunktion Weisheit – Torheit, es liegt aber auch ebensogut außerhalb der von Wahrheit und Unwahrheit und der von Gut und Böse. Obwohl Spielen eine geistige Betätigung ist, ist in ihm an sich noch keine moralische Funktion, weder Tugend noch Sünde, gegeben.«

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aufgenommen, sondern – wie gezeigt – vergleichsweise stark variiert. Zum einen fehlt bei ihm der düstere Hintergrund der Todesgefahr durch die Pest und damit das Motiv des memento mori, die in deutlichem Kontrast zu den heiteren Geschichten, die erzählt werden, stehen und zum anderen unterscheiden sich beide Rahmenerzählungen durch die Personenzahl: Den zehn Personen bei Boccaccio stehen 29 Figuren bei Chaucer gegenüber. Diese große Personenzahl ist vor allem darauf zurückzuführen, dass Chaucer ein poetisches Modell der damaligen Gesellschaft in England schaffen wollte.109 Aus diesem Grund sind mit Ausnahme der Extreme, nämlich der Mitglieder der Königsfamilie und des hohen Adels sowie der untersten Gesellschaftsschichten, alle sozialen Gruppen in der Pilgerschar vertreten, und zwar repräsentiert durch ein Mitglied jeder dieser sozialen Gruppen, die vornehmlich durch eine bestimmte Berufszugehörigkeit konstituiert werden: »Every pilgrim is […] known primarily by his profession, not by name […], so Chaucer is able to move freely between group characteristics and individual eccentricity […].« (Cooper : 1989, 28) Jede der Erzählungen stellt somit gewissermaßen eine Partikularansicht des gesamten zeitgenössischen sozialen Lebens dar. Es handelt sich hier um das Beispiel einer stark nationalisierenden Transformation des italienischen literarischen Modells. Chaucer entwirft kaleidoskopartig ein Gesamtbild der damaligen englischen Gesellschaft. Hieraus ergeben sich notwendigerweise weitere Unterschiede zum Decameron, und zwar hinsichtlich des Verhältnisses der Geschichtenerzähler untereinander und hinsichtlich deren gesellschaftlichen Ranges, denn die Pilger sind weder alle miteinander befreundet noch sozial gleichgestellt.

3.1.3 Marguerite de Navarre, L’Heptaméron (vor 1549, EA 1558)110 Auch diese Novellensammlung zeugt von der literarischen Teilglobalisierung im frühneuzeitlichen Europa. Schon durch den Titel wird das Heptam¦ron unübersehbar in die von Boccaccio begründete Novellentradition gestellt. Wie das Decameron sollte auch das Heptam¦ron hundert Novellen enthalten, doch blieb 109 Für Cooper besteht eine gattungstypologische Nähe zwischen den Canterbury Tales und der so genannten estates satire, die sie wie folgt charakterisiert: »Estates satires, which aim to give an analysis of society in terms of hierarchy, social function, and morality, were widespread throughout medieval Western Europe. They work by enumerating the various ‹estates’, the classes or professions of society, with the object of showing how far each falls short of the ideal to which it should conform« (Cooper : 1989, 28). Vgl. hierzu auch Mann: 1973. 110 Die Novellensammlung wurde posthum von Pierre Boaistuau herausgegeben. Er war es auch, der den ursprünglich von der Autorin geplanten Titel, Les nouvelles des amants fortunez, geändert hat.

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der Zyklus aufgrund des Todes von Marguerite de Navarre unvollendet. In der Boccaccio-Rezeption (in Frankreich) nimmt die Autorin insofern eine Sonderrolle ein, als sie die erste relativ originalgetreue Übertragung des Decameron ins Französische im Jahre 1545 von ihrem Sekretär Antoine Le MaÅon veranlasst hat, womit sie »einer neuen Periode vertiefter Boccaccio-Rezeption den Weg eröffnete.« (Blüher : 1985, 30) Marguerite de Navarre hat, im Rahmen einer Poetik der imitatio, das Strukturelement der Rahmenhandlung von Boccaccio übernommen, aber inhaltlich variiert, indem auch sie eine Anpassung an die eigenen nationalen Verhältnisse und damit einen Kulturtransfer des italienischen Modells vorgenommen hat: Nachahmung dieser Art bedeutet freilich nicht, daß dadurch jegliche Originalität in Frage gestellt wird. Doch manifestiert sich die eigene Leistung Marguerite de Navarres offensichtlich im wesentlichen in der Transformation des vorgegebenen Grundmodells, bei der sekundäre Strukturelemente variierend hinzugefügt worden sind. (Blüher : 1985, 61)

Uneingeschränkt gilt dies freilich nur für die Rahmenhandlung, Marguerite de Navarres Novellen unterscheiden sich in mehreren Aspekten stark von denen Boccaccios. Doch zurück zur Rahmenfiktion: Im Heptam¦ron spielt die Rahmenhandlung nicht in Italien, sondern in Frankreich, und zwar im Kloster »Saint-Savyn« (Navarre: 1999, 81) im D¦partement Haute-Pyr¦n¦es, wodurch von vorneherein ein religiöser Kontext geschaffen wird. Dies wird vor allem Auswirkungen auf die Darstellung der Liebe im Heptam¦ron haben. Und auch der Handlungsort innerhalb der Novellen ist Frankreich, was dazu führt, dass die Authentizitätsillusion stark gesteigert wird. Nun zur Rahmenhandlung: Dem Decameron gleicht diese in dem Punkt, dass eine Katastrophe zum auslösenden Moment wird (Ausbruch der Pest und starke Überschwemmung): Starke Regengüsse, die im Südwesten Frankreichs zahlreiche Überschwemmungen hervorrufen, führen dazu, dass sich eine Gruppe von fünf Männern und fünf Frauen unterschiedlichen Charakters schutzsuchend in einem Kloster einfindet. Da sich der Aufenthalt dort länger gestaltet, als von der Gesellschaft erhofft, muss ein kurzweiliger Zeitvertreib gefunden werden. Eine der Damen schlägt vor, sich ebenso die Zeit zu vertreiben, wie die Figuren bei Boccaccio es getan haben, nämlich damit, dass jeder dem anderen pro Tag eine Novelle erzählt: »je me tiendrois bien heureuse d’en suivre de prÀs ceulx qui ont desja satisfaict — vostre demande.« (Navarre: 1999, 90) Explizit wird auch die Absicht formuliert, innerhalb von zehn Tagen einhundert Novellen zum Besten zu geben: »Au bout de dix jours aurons parachev¦ la centaine […].« (Navarre: 1999, 91) Einer der beteiligten Damen legt die Autorin Marguerite de Navarre im Prolog

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der Sammlung Worte in den Mund, die zum einen auf den Kulturtransfer zwischen Frankreich und Italien, den in diesem konkreten Fall Boccaccio und sein Decameron repräsentieren, und zum anderen auf die Absicht, sich von diesem italienischen Modell abzusetzen, verweisen: je croy qu’il n’y a nulle de vous qui n’ait leu les cent Nouvelles de Bocace, nouvellement traduictes d’ytalien en franÅois, que le roy FranÅois, premier de son nom, monseigneur le Daulphin, madame la Daulphine, madame Marguerite, font tant de cas que si Bocace, du lieu o¾ il estoit, les eut peu oyr, il debvoit resusciter — la louange de telles personnes. Et, — l’heure, je oy les deux dames dessus nomm¦es, avecq plusieurs autres de la court, qui se delibererent d’en faire autant, sinon en une chose differante de Bocace : c’est de n’escripre nulle nouvelle qui ne soit veritable histoire. (Navarre: 1999, 89 f.)

Einerseits wird hier durch einen expliziten Verweis auf das von Boccaccio geschaffene literarische Modell hingewiesen und andererseits zugleich explizit die Differenzqualität des vorliegenden Zyklus benannt, nämlich die Illusion der Authentizität der Novellen. Marguerite de Navarre lässt darum auch historische Figuren auftreten. Boccaccio hingegen hat keinen Hehl daraus gemacht, dass seine Novellen auf die unterschiedlichsten Quellen, teilweise auch antiken Ursprungs, zurückgehen. Die Novellen des Decameron enthielten »cos‡ n¦ moderni tempi avvenuti come negli antichi […].« (Boccaccio: 1956, Proemio, 10) Zwischen beiden Sammlungen bestehen daneben noch weitere wesentliche Unterschiede: Marguerite de Navarre präsentiert die Figuren ihrer Rahmenfiktion deutlich weniger typisierend als Boccaccio: Es […] lassen sich bei Berücksichtigung sämtlicher Äußerungen der Figuren deutlich unterscheidbare Persönlichkeitsprofile der zehn Gesprächspartner erstellen, deren individuelle Züge im Vergleich zu den recht konventionellen Figuren der Rahmenerzählung Boccaccios wesentlich feiner und zugleich lebensnaher herausgearbeitet worden sind. (Blüher : 1985, 66)111

Das Heptam¦ron unterscheidet sich auch dadurch vom Decameron, dass die kontroversen Diskussionen nach den einzelnen Novellen sehr viel mehr Raum einnehmen und ihnen eine viel größere Bedeutung beigemessen werden muss: Im Heptam¦ron ist »[…] der Rahmen das eigentlich wichtige, sinntragende Element […].« (Schönberger : 1993, 441) Die Diskussionen stellen dabei eine nachträgliche moralische Kommentierung der Novellen dar. Denn anders als Boccaccio, dessen Decameron keine belehrende Funktion zukommt, verfolgt die Autorin auch moralisch-didaktische Absichten und erfüllt damit zweifelsohne das Horazische Diktum aut delectare aut prodesse: »Hierbei steht kein erhobener Zeigefinger, sondern – zum Schein – der Aspekt der Unterhaltung im 111 Zu den Figuren in der Rahmenfiktion des Heptam¦ron vgl. Brockmeier : 1972, 57 ff.

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Vordergrund.« (Schönberger : 1993, 443)112 Zu Recht wurde darauf hingewiesen, dass Marguerite de Navarre – wohl vor allem in ihrer Funktion als Schwester von FranÅois I. – mit der Ausweitung des Anteils der Diskussionen am Gesamttext der Sammlung auch eine politische Absicht verfolgt oder zumindest einen Dienst an der Krone geleistet haben könnte: Die originelle Erfindung der Königin von Navarra, die wahren Geschichten in einer eleganten Konversation widerzuspiegeln, entsprang wohl der Aufgabe, die der absolute Monarch dem gefährlichen anarchischen Feudaladel vorschreiben wollte: dem vielbeschäftigten Müßiggang bei Hofe. Das Erziehungsbuch von Baldesar Castiglione, Il Cortegiano (1528), hatte in diesem Sinn ein Idealbild des Höflings entworfen und ein Muster für die Kunst der vornehmen Unterhaltung vorgezeichnet. (Brockmeier : 1972, 82)113

In den Diskussionen nach den Novellen wird oft – durchaus kontrovers – das Thema der zwischenmenschlichen Liebe erörtert, und während in den Novellen sowohl der körperlichen als auch der entkörperlichten Liebe Raum gegeben wird, so lassen die Diskussionen keinen Zweifel daran, dass die körperliche Liebe als Negativbeispiel konzipiert ist.114 Haben beide Novellensammlungen auch denselben Hauptthemenkreis, nämlich die »Liebe und Lust« (Schönberger : 1993, 26), so wird das Thema der zwischenmenschlichen Liebe in Marguerite de Navarres Heptam¦ron, anders als im Decameron, in dem der Typus der erotischen Schwanknovelle stark dominiert, auf vielfältigste Weise behandelt. Das Spektrum der Möglichkeiten reicht hier von der animalisch-körperlichen bis hin zur rein spirituellen Liebe in der Tradition des Neoplatonismus und schließlich zur Gottesliebe. Selbstredend hängt gerade dieser letzte Aspekt maßgeblich mit der tiefen Religiosität der Autorin und mit der hieraus erwachsenden beabsichtigten Wirkung ihrer Novellensammlung zusammen: »Ein erzieherischer, sich platonischer Dialogkunst bedienender Anspruch, der dem christlichen Weltbild verpflichtet ist, ist […] unverkennbar.« (Schönberger : 1993, 20) Zwei unterschiedliche Gestaltungsmöglichkeiten der Liebe zwischen Mann und Frau, nämlich das triebhaft bestimmte Verlangen nach Befriedigung der sexuellen Begierde und die rein geistige neoplatonische ideelle Liebe, und deren Vermittlung durch Marguerite de Navarre sollen im Folgenden exemplarisch anhand einer Novelle (PrÀmiere journ¦e, Huictiesme nouvelle) aus dem Heptam¦ron und der anschließenden Diskussion der devisants aufgezeigt werden. 112 Vgl. hierzu auch Brockmeier : 1982, 374. 113 Erstmals ins Französische übersetzt wurde Il Cortegiano unter dem Titel Le Livre du courtisan bereits im Jahre 1537. Diese Übersetzung wird Jacques Colin d’Auxerre zugeschrieben. 114 Zum Liebeskonzept im Heptam¦ron vgl. Schönberger : 1993.

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Der Inhalt der Novelle ist schnell erzählt: Ein Bürger namens Bornet wird von der Erzählerin dieser Novelle, Longarine, zum Exempel der männlichen Doppelmoral, die die eheliche Treue predigt, allerdings nur für die Ehefrau: Et combien qu’il voulust que la sienne luy gardast loyault¦, si ne vouloit-il pas que la loy fust esgalle — tous les deux ; car il alla estre amoureux de sa chamberiere, auquel change il ne gaignoit que le plaisir qu’apporte quelquefois la diversit¦ des viandes. (Navarre: 1999, 141)

Bornet versucht mit Hilfe seines Freundes Sandras, das Stubenmädchen seiner Frau dazu zu überreden, seiner fleischlichen Begierde nachzugeben, wobei es sich um keine uneigennützige Hilfe handelt, denn Sandras hofft ebenfalls auf den Beischlaf mit dem Zimmermädchen. Dieses weigert sich aber vehement und vertraut sich seiner Herrin und damit zugleich Bornets Ehefrau an. Sie bittet um Urlaub, um den Nachstellungen zu entgehen. Ihre Herrin hat aber eine ganz andere Idee: Die Zofe soll zum Schein dem Beischlaf zustimmen und Bornet in ihre Kleiderkammer bestellen. Dort wartet im entscheidenden Moment jedoch nicht das junge Mädchen, sondern die Hausherrin selbst. Dies merkt der triebgesteuerte Bornet aber nicht, zumal es ja auch sehr dunkel ist und seine Frau während des Vollzuges des sexuellen Aktes kein Wort spricht. Beide genießen dabei das Gefühl, den Ehepartner hinters Licht zu führen: »Je ne vous sÅaurois dire lequel estoit le plus ayse des deux, ou luy de penser tromper sa femme, ou elle de tromper son mary.« (Navarre: 1999, 142) Nach vollbrachter Tat verlässt Bornet vollkommen entkräftet das Haus und stößt auf seinen Freund, der im Freien darauf gewartet hat, nun auch zum Zimmermädchen zu gehen und mit ihm sexuell zu verkehren. Dies gestattet Bornet dann auch, und so kommt es dazu, dass nun Sandras mit der Ehefrau seines Freundes schläft, ohne dass diese merkt, dass es sich nicht um ihren Mann handelt. Sowohl Ehemann als auch Ehefrau erscheinen hier als betrogene Betrüger. Die Pointe in Form der Aufklärung dieser beiden Missverständnisse wird dadurch eingeleitet, dass Sandras nach dem mit der Ehefrau seines Freundes vollzogenen Liebesakt, wobei sich dieser Vollzug zur großen Freude der Frau über die ganze Nacht bis zum Morgengrauen erstreckt, ihr den Ring vom Finger zieht und sich als eine Art Trophäe selbst ansteckt. Er weiß dabei nicht, dass es sich um einen Ehering handelt. Diesen Ehering erkennt nun aber Bornet als denjenigen seiner Frau. Daraufhin möchte er diese zur Rede stellen, die jedoch glaubt, ihn überführen zu können, und es kommt dazu, dass wenigstens der Mann von seiner Verwechslung des Kammermädchens mit seiner Frau erfährt. O, le plus meschant de tous les hommes ! A qui est-ce que vous le cuydez avoir ost¦ ? Vous pensiez bien que ce fust — ma chamberiere, pour l’amour de laquelle avez despendu plus de deux pars de voz biens, que jamays vous ne feistes pour moy ; car, — la

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premiere fois que vous y estes venu coucher, je vous ay jug¦ tant amoureux d’elle qu’il n’estoit possible de plus. Mais, aprÀs que vous fustes sailly dehors et puis encores retourn¦, sembloit que vous fussiez ung diable sans ordre ne mesure. (Navarre: 1999, 144)

Des Weiteren droht sie ihrem Ehemann, ihn zu verlassen, falls er sich nicht bessere und von nun an ein gottesfürchtiges tugendhaftes Leben führe und sich mit ihr begnüge. Kern ihrer Rede ist dabei die Verdammung der sündigen Lust ihres Ehemannes, der concupiscentia, die ausschließlich auf die körperliche Vereinigung und Lustbefriedigung abziele: Ce n’est doncques pas la beault¦ ne l’embonpoinct de vostre chamberiere qui vous a faict trouver ce plaisir si agreable, mais c’est le pech¦ infame de la villaine concupissence qui brusle vostre cueur, et vous rend tous les sens si hebestez, que par la fureur en quoy vous mectoit l’amour de ceste chamberiere, je croy que vous eussiez prins une chevre coiff¦e pour une belle fille. Or, il est temps, mon mary, de vous corriger et de vous contanter autant de moy, en me cognoissant vostre et femme de bien, que vous avez faict, pensant que je fusse une pauvre meschante. Ce que j’ay faict a est¦ pour vous retirer de vostre malheurt¦, afin que, sur vostre vieillesse, nous vivions en bonne amity¦ et repos de conscience. (Navarre: 1999, 144 f.)

Das Ziel der von ihr vertretenen Liebeskonzeption ist damit eine tugendhafte amicitia im Sinne der platonischen Liebe. Diese findet ihre Erfüllung in der rein geistigen Übereinstimmung und nicht in der körperlichen Vereinigung. Diese Form der Liebe, die das Gegenbild der animalisch-triebhaften Liebespraxis ihres Ehemannes darstellt, wird von ihr dabei mit ihrer starken Religiosität begründet. So fordert sie denn auch unter Androhung der Trennung von ihrem Mann, in Zukunft ein gottgefälliges Leben zu führen, was implizit voraussetzt, niemals mehr seiner sexuellen Lust nachzugeben und die ›Sünde‹ der concupiscentia zu begehen. Oberste Priorität hat die mystische Liebe zu Gott, deren ideeller Charakter Bornets Gattin als Modell der zwischenmenschlichen Liebe dient. Dies entspricht der christlichen Auffassung, dass die zwischenmenschliche Liebe eine notwendige Voraussetzung für die Gottesliebe ist: »Mais, s’il vous plaist congnoistre vostre faulce oppinion, et vous deliberer de vivre selon Dieu, gardant ses commandemens, j’oublieray toutes les faultes pass¦es […].« (Navarre: 1999, 145) Lehnt die Ehefrau hier auch verbal die körperliche Liebe ab, so widerspricht dem allerdings die Tatsache, dass ihr Mann sie in einem völlig ungewohnten Zustand vorfindet, nachdem sie die Freuden der ›doppelten‹ Liebesnacht genossen hat: […] le mary s’en vat — la maison, l— o¾ il trouva sa femme plus belle, plus gorgiase et plus joieuse qu’elle n’avoit accoustum¦, comme celle qui se resjouyssoit […] d’avoir

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experiment¦ jusques au bout son mary, sans rien y perdre que le dormir d’une nuict. (Navarre: 1999, 143 f.)

Dies lässt ihre anklagenden Worte in einem ganz neuen Licht erscheinen und wirft die Frage auf, ob sie nicht ebenso heuchlerisch ist wie ihr Mann, der von ihr stets Tugendhaftigkeit und eheliche Treue gefordert hat, selbst aber Ehebruch begehen wollte. Nichtsdestoweniger entschuldigt sich Bornet aufgrund der Rede seiner Frau bei ihr, ohne ihr jedoch etwas von dem nächtlichen Partnertausch zu erzählen. An der aufrichtigen Reue des Ehemannes lässt Marguerite de Navarre dabei keinen Zweifel: Qui fut bien desesper¦, ce fut ce pauvre mary, voyant sa femme tant saige, belle et chaste, avoir est¦ delaiss¦e de luy pour une qui ne l’aymoit pas et, qui pis est, avoit est¦ si malheureux, que de la faire meschante sans son sceu […]. (Navarre: 1999, 145)

Der Schluss der Novelle zeigt daher, dass die sexuelle Lust letztlich als Auslöser für die reine Liebe zu Gott geltend gemacht werden kann. Die Abwendung von der rein körperlichen Begierde und die Hinwendung zum platonischen Liebesideal wird durch die der Novelle angeschlossene Diskussion weiter verstärkt. Hier kommt der Neoplatoniker Dagoucin zu Wort, und zwar viel länger und ausführlicher als die anderen. Zunächst erläutert er in Übereinstimmung mit Ficinos Symposionkommentar Platons Idee, dass die Liebe darin bestehe, dass die Menschen ihre zweite Hälfte wiederfinden: Pource que l’homme ne peult sÅavoir, dist Dagoucin, o¾ est cette moicty¦ dont l’unyon est sy esgalle que l’un ne differe de l’autre, il faut qu’il s’arreste o¾ l’amour le contrainct ; et que, pour quelque occasion qu’il puisse advenir, ne change le cueur ne la volunt¦ ; car, si celle que vous aymez est tellement semblable — vous et d’une mesme volunt¦, ce sera vous que vous aymerez, et non pas elle. (Navarre: 1999, 147)

Dagoucin vertritt hier das Bild einer Liebe, bei der es nicht auf die körperlichen, sondern ausschließlich auf die seelischen Eigenschaften der beiden Partner ankommt: Er »[…] rät somit zu einer konstanten, unbeirrbaren Liebe, es versteht sich von selbst, daß eine solche Liebe ihrem Wesen nach nur auf seelischen Qualitäten begründet sein kann.« (Schönberger : 1993, 85) Nichts ist inkompatibler mit einer solchen Liebeskonzeption als eine Form von Liebe, die einzig auf die Befriedigung der sexuellen Lust abzielt: […] je veulx dire que, si nostre amour est fond¦e sur la beault¦, bonne grace, amour et faveur d’une femme, et nostre fin soit plaisir, honneur ou proffict, l’amour ne peult longuement durer ; car, si la chose sur quoy nous la fondons default, nostre amour s’envolle hors de nous. Mais je suis ferme — mon oppinion, que celluy qui ayme, n’ayant autre fin ne desir que bien aymer, laissera plus tost son ame par la mort, que ceste forte amour saille de son cueur. (Navarre: 1999, 57 f.)

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Auf den wenigen Seiten dieser Novelle werden zwei Liebeskonzeptionen, nämlich eine ausschließlich hedonistisch ausgerichtete und eine neoplatonisch gefärbte christliche Liebe, präsentiert. Hierbei liegt, wie dies auch für die gesamte Novellensammlung gilt, das starke quantitative Übergewicht auf der triebhaften, körperlichen Liebe. Der Verlauf und vor allem der Schluss der Novelle belegen jedoch eindeutig, dass diese als Negativbeispiel dient, vor dem Marguerite de Navarre den Leser warnen möchte: »Einer auf körperliche Lust zielenden Liebesauffassung wird entschieden eine prinzipiell monogame, auf seelischen Qualitäten aufbauende, unbedingte und ideelle Liebesidee gegenübergestellt.« (Schönberger : 1993, 88)115

3.1.4 Miguel de Cervantes, Novelas ejemplares (um 1590 – 1612, EA 1613)116 Der Aspekt der imitatio und damit der Rückbesinnung auf das italienische Modell117 bei einer gleichzeitig manifesten Abkehr von diesem, der bei allen bislang vorgestellten Novellensammlungen nachgewiesen werden konnte, ist in den Novelas ejemplares von Miguel de Cervantes bis zum Äußersten gesteigert. In dem ausführlichen Prûlogo al lector, der den zwölf Novellen vorangestellt ist, rühmt sich Cervantes nicht nur seiner besonderen literarischen Fähigkeiten und seiner alleinigen Urheberschaft der Novelas ejemplares, sondern auch damit, der erste Autor zu sein, der Novellen in kastilischer Sprache verfasst hat, die keine Übersetzungen aus anderen Sprachen sind: A esto se aplicû mi ingenio, por aqu† me lleva mi inclinaciûn, y m‚s que me doy a entender, y es as†, que yo soy el primero que he novelado en lengua castellana, que las muchas novelas que en ella andan impresas, todas son traducidas de lenguas estranjeras, y ¦stas son m†as propias, no imitadas ni hurtadas; mi ingenio las engendrû, y las pariû mi pluma, y van creciendo en los brazos de la estampa. (Cervantes: 272010, 52)

Zwar war Cervantes nicht der erste spanische Novellenautor, jedoch ist die spanische Novellistik vor Cervantes nicht anders als – im europäischen Vergleich – unterdurchschnittlich zu bezeichnen. Am ehesten ist hier noch auf die kurzen Prosaerzählungen in Pastoral- und Schelmenromanen hinzuweisen.118 Den Aspekt der Innovation seiner Werke im Allgemeinen und nicht nur der Novelas ejemplares im Besonderen hebt Cervantes darüber hinaus hervor, wenn 115 Vgl. hierzu Cazauran: 1976, 224 – 234. 116 Zur nicht unproblematischen Editionsgeschichte der Novelas ejemplares vgl. GûmezMontero: 2006, 22 ff. 117 Vgl. hierzu Eitel: 1977, 7, Krauss: 1966, 46 und Gûmez-Montero: 1998, 142 ff. 118 Vgl. hierzu Blüher : 1985, 68 ff.

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er über ein Bildnis des Autors in Holz oder Kupfer, das die erste Seite der Novellensammlung hätte zieren können, schreibt: »[…] y con esto [scil. retrato; B.N.] quedara mi ambiciûn satisfecha, y el deseo de algunos que querr†an saber qu¦ rostro y talle tiene quien se atreve a salir con tantas invenciones en la plaza del mundo […].« (Cervantes: 272010, 50 f.) Dass Cervantes seine Position im literarischen Feld hier nicht gänzlich falsch einschätzt, zeigt ein Blick auf die Geschichte der europäischen Novellistik: Nachdem Boccaccio vor allem im 16. Jahrhundert die »maßgeblichen Strukturmuster« (Blüher : 1985, 68) geliefert hat, übernimmt diese Rolle im 17. Jahrhundert Cervantes, und zwar mit den Novelas ejemplares. Rückblickend betrachtet, erweisen sie sich damit nicht nur als beispielhafte Novellen im Sinne der Gattung des exemplums, auf das das Epitheton verweisen soll, sondern zugleich im Sinne von Musternovellen, die ihrerseits zur Nachahmung bereitgestellt werden.119 So lässt sich mit Blick auf die europäische Novellistik ab der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts festhalten: Die Rezeption der Novellen von Cervantes und seiner spanischen Nachfolger hat dazu geführt, daß die herkömmlichen Novellentypen der Renaissance rasch von zwei neuen Novellenmodellen überlagert und sogar weitgehend verdrängt wurden: durch die mit romanhaften Zügen ausgestattete Abenteuernovelle und die von pikaresken Elementen beeinflußte burleske Novelle. (Blüher : 1985, 68)

Besonders groß ist die Vorbildfunktion der Novelas ejemplares außerhalb Spaniens dabei in Frankreich.120 Für den Autor selbst scheint die wirkungsästhetische Umfunktionierung der Gattung Novelle von größerer Bedeutung gewesen zu sein als die Schaffung neuer Novellentypen. Als eine seiner Innovationen im Bereich der Novellistik stellt Cervantes die moralisch-didaktische Ausrichtung der Novelas ejemplares dar : Y as†, te digo […], lector amable, que destas novelas que te ofrezco, en ningffln modo podr‚s hacer pepitoria, porque no tienen pies, ni cabeza, ni entraÇas, ni cosa que les parezca; quiero decir que los requiebros amorosos que en algunas hallar‚s, son tan honestos, y tan medidos con la razûn y discurso cristiano, que no podr‚n mover a mal pensamiento al descuidado o cuidadoso que las leyere. (Cervantes: 272010, 51 f.)

Weist Cervantes hier explizit auf den moralischen Nutzen seiner Novellen hin, so grenzt er sich damit implizit von der frühen italienischen Novellistik (Il novellino, Il decameron etc.) ab, in der die Unterhaltungsfunktion klar im Vorder119 Vgl. hierzu Wetzel: 1977, 127: »Die neue Beispielhaftigkeit der Novelas ejemplares kann […] weder ausschließlich auf dem Gebiet der Moral, noch auf dem der Poetik liegen, sie gründet sich vielmehr auf eine adäquate und vollkommene ästhetische Verbindung der beiden Bereiche.« Hervorhebung vom Autor. 120 In einer Übersetzung von Vital d’Audiguier und FranÅois de Rosset sind die Novelas ejemplares in Frankreich bereits im Jahre 1614 verfügbar. Vgl. hierzu auch Wetzel: 1977, 53.

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grund steht und daher vornehmlich obszöne Inhalte vermittelt werden.121 In den Novelas ejemplares herrscht demgegenüber eine Moralisierung und auch Christianisierung des Gegenstandes vor, die den Vergleich dieser zwölf Novellen mit Marguerite de Navarres Heptam¦ron fast schon aufzudrängen scheint. Cervantes betont den moralischen Nutzen dementsprechend nicht nur an einer Stelle in seinem Prûlogo al lector, sondern mehrfach, und zwar besonders eindringlich, wenn es um die Rechtfertigung seines Titels geht: Heles dado nombre de ejemplares, y si bien lo miras, no hay ninguna de quien no se pueda sacar algffln ejemplo provechoso; y si no fuera por no alargar este sujeto, quiz‚ te mostrara el sabroso y honesto fruto que se podr†a sacar, as† de todas juntas, como de cada una de por s†. (Cervantes: 272010, 52)122

Und schließlich stoßen wir am Ende des an den Leser adressierten Prologs auf folgendes Bekenntnis des Autors: Una cosa me atrever¦ a decirte, que si por algffln modo alcanzara que la lecciûn destas novelas pudiera inducir a quien las leyera a algffln mal deseo o pensamiento, antes me cortara la mano con que las escrib† que sacarlas en pfflblico. (Cervantes: 272010, 52)

Liegt die primäre wirkungsästhetische Intention des Autors auch auf dem moralischen Nutzen, so leugnet Cervantes keineswegs den Unterhaltungswert seiner Novelas ejemplares, und zwar zum einen dadurch, dass er die Sammlung insgesamt als »una mesa de trucos« bezeichnet, wobei der moralische Nutzen insofern relativiert wird, als im Spiel gerade keine moralische Verbindlichkeit herrscht: »Obwohl Spielen eine geistige Betätigung ist, ist in ihm an sich noch keine moralische Funktion, weder Tugend noch Sünde, gegeben.« (Huizinga: 20 2006, 15) Zum anderen gesteht Cervantes offen ein, dass der menschliche Geist so beschaffen sei, dass er zum Ausgleich für christliche und geschäftliche Aktivitäten auch eine Zeit der Muße, die gerade nicht dem moralischen Nutzen verpflichtet sei, bedürfe: »Horas hay de recreaciûn, donde el afligido esp†ritu descanse.« (Cervantes: 272010, 52) Wirkungsästhetisch sollen die Novelas ejemplares auch diesem menschlichen Bedürfnis nachkommen. Aus allem bisher Gesagten folgt, dass die Natur des Exemplarischen der Novelas ejemplares kaum so eindeutig in einer moralisierenden Absicht ihres Autors liegt, wie dieser den Leser vielleicht glauben machen möchte. Dies gilt vor allem für die Behauptung einer einheitlichen Moral, die die einzelnen Novellen, aber auch die Sammlung als Ganzes besitze.123 Gerade das Bekenntnis des Au121 Werner Krauss fasst die Obszönität als das Haupttmerkmal der frühneuzeitlichen italienischen Novelle auf. Vgl. hierzu Krauss: 1965, 52: »Die Musternovellen hießen die ›exemplarischen‹, weil in ihnen die Neigung zum Obszönen und Zügellosen durch eine moralisierende Tendenz verdrängt war.« 122 Hervorhebung vom Autor. 123 Vgl. hierzu Ehrlicher/Poppenberg: 2006, 11 ff.

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tors, sich lieber die Hand abzuhacken, als unmoralische Novellen veröffentlicht zu haben, erweist sich als wenig überzeugender Beweis einer moralischen Intention, allerdings nur bei einer genauen Lektüre: Der Satz ist erstens in seiner Logik selbstwidersprüchlich, denn das Handabhacken soll eine Publikation der Texte verhindern, die jedoch in der ›lecciûn destas novelas‹ bereits vorausgesetzt ist. Zweitens ist die bildlich evozierte Szenerie schlichtweg unglaubwürdig, denn das eigenhändige Abhacken der ›schuldigen‹ Schreibhand ist für einen Einhändigen […] eine kaum durchführbare Sache und jedenfalls nicht spontan, sondern nur mit Hilfe aufwendiger Hilfsvorrichtungen zu leisten. Der Versuch, die Drohung ernst zu nehmen, führt also durchaus ins Groteske und Bizarre. Und drittens wird in diesem metaphorischen Einsatz des eigenen Leibs, der noch einmal Gewicht auf die Seite des moralischen prodesse legen soll, ja ausgerechnet die gewaltsame Zerstückelung des Körpers aufgegriffen, die im Bild der ›pepitoria‹ [dt. des Geflügelfrikassees; B.N.] einleitend als Bild für eine falsche Rezeptionshaltung evoziert wurde. Cervantes kündigt an, sich selbst zu zerhackstücken, um den Leser vor einer Lektüre zu bewahren, die den Sinn seiner Texte zerhackstücken und zur pepitoria machen würde – auch das ein kaum überzeugender Beweisgang. (Ehrlicher/Poppenberg: 2006, 14)

Die Nichteindeutigkeit, die Cervantes vor allem hier in seinen Text eingebaut hat, darf nicht vereindeutigt und damit verengt werden, sondern muss gerade als Chance im Sinne einer literarischen Polyvalenz begriffen werden. Kommen wir nun zu den strukturellen Neuerungen, die Cervantes an der Gattung der Novelle vornimmt. Wie bereits vorweggenommen, liefert der Autor mit den Novelas ejemplares zwei neue Novellentypen, nämlich die burleske Novelle und die Abenteuernovelle, wobei wir in der Sammlung selbstverständlich auch auf Mischformen treffen. Die Abenteuernovelle dominiert quantitativ die Sammlung und kann folgendermaßen charakterisiert werden: Charakteristisch […] ist der stets überraschende glückliche Abschluß der Novellenhandlung, bei der zumeist zwei Liebende wieder vereint werden, die zuvor mannigfache Abenteuer wie Entführung, Verschleppung durch Piraten, Schiffbruch, Gefangenschaft, Reise in entfernte Länder, Verwechslung und andere Gefahren, verhängnisvolle Zufälle und Hindernisse bis unmittelbar ans Ende der Geschichte getrennt worden waren. (Blüher : 1985, 70)124

Viele der strukturellen Neuheiten der Novelas ejemplares resultieren aus diesen charakteristischen Grundbedingungen. Dabei ist zunächst an die Aufgabe der der Novelle in ihrer Frühphase eigene Reduktion und Konzentration sowohl in zeitlicher und räumlicher Hinsicht als auch hinsichtlich des Personenspektrums zu denken. Für Werner Krauss ist gerade die inszenierte »Wanderbewegung« (Krauss: 1965, 72) das Charakteristikum des Novellentypus, den Miguel de 124 Vgl. hierzu auch El Saffar : 1974, XV und Wetzel: 1977, 100 ff.

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Cervantes geschaffen hat.125 Die Novelas ejemplares weisen einen komplexeren Handlungsablauf, der häufig nicht mehr einsträngig gestaltet ist, auf. Die Zunahme an Komplexität führt dazu, dass die Novelle die Länge eines kürzeren zeitgenössischen Romans annehmen kann und die seit jeher unscharfen Gattungsgrenzen weiter verwischt werden.126 Es mag auch damit zusammenhängen, dass Cervantes, wie bereits ausgeführt, im Prûlogo al lector den einheitlichen Sinn der ganzen Novellensammlung betont.127 Eine weitere Neuerung der Novelas ejemplares besteht in der veränderten Erzählsituation, denn mehrere der zwölf Novellen werden dem Leser aus der Perspektive eines auktorialen Erzählers vermittelt: Ähnlich wie Cervantes in seinem Don Quijote die auktoriale Erzähl-instanz mit einer zuvor in der Narrativik nicht zu beobachtenden Autorität ausstattete, hat er auch in seine Novellen ein zuvor unbekanntes, hintergründiges, zuweilen ironisch-operierendes Erzählen (medias-in-res-Technik, Verrätselungsverfahren u. a.) eingeführt, das nicht nur die zeitgenössische Barocknovelle, sondern die gesamte spätere Entwicklung der Novellistik entscheidend beeinflußt hat. In diesem Sinne darf gesagt werden, daß der moderne Typ des auktorialen Novellenerzählers überhaupt erst von Cervantes geschaffen worden ist.« (Blüher : 1985, 75)

Die Aufgabe der Ich-Erzählsituation, die der Novelle vor Cervantes vorbehalten war, hat insofern zwei weitreichende Folgen, als diese die Novellistik im Kern betreffen. Erstens wirkt die auktoriale Narration der Illusion von Authentizität und zweitens derjenigen von Oralität entgegen. Die Novelle wird bei ihm zu einem Mittel der explizit schriftlichen Kommunikation: In den Novelas ejemplares wird der Diskurs daher von einer allwissenden Erzählinstanz beherrscht […], die sich als schreibender Erzähler angesichts eines lesenden Publikums versteht. Die Fiktion einer mündlichen Erzählsituation ist völlig fallengelassen und vom auktorialen Erzählmodus schriftlicher Kommunikation mit einem impliziten Leser abgelöst worden. (Blüher : 1985, 74)

Wenden wir uns nun der burlesken Novelle und damit dem zweiten Typus der Gattung, den Cervantes geschaffen hat, zu. Zumal in Spanien zur damaligen Zeit eine Übertragung der ›Ständeklausel‹ aus dem Bereich des Romans auf die Novellistik zu verzeichnen ist, ist die burleske Novelle den niederen Gesellschaftsschichten vorbehalten. Im Unterschied hierzu ist die Abenteuernovelle 125 Vgl. hierzu auch Krauss: 1965, 60: »Die Raumbewegung unterscheidet die Musternovellen von allen bisherigen novellistischen Traditionen […].« 126 Wetzel ordnet die Novelas ejemplares daher dem Typ der »Roman-Novelle« (Wetzel: 1977, 123) zu. 127 Siehe S. 104 dieser Untersuchung. Vgl. hierzu Aust: 42006, 58 und Krauss: 1965, 57: »Es ist zu beachten, daß die Novelle in ihrer spanischen Umgeburt nun ihrerseits den Richtpunkt der romanhaften Handlungseinheit aufzeigt. Der alles umfassende Sinn muß auch die Novellensammlung trotz ihrer uneinheitlichen Handlung durchdringen.«

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zumeist in adligen Kreisen angesiedelt. Charakteristisch für die burleske Ausprägung der Novelle ist, »[…] daß ihre Figuren- und Handlungsstruktur die der Abenteuernovelle ins Gegenteil verkehrt« (Blüher : 1985, 71). Dieser Typus soll nun anhand einer Novelle, nämlich der letzten Novelle der Sammlung, die den Titel El coloquio de los perros128 trägt, illustriert werden. Der grobe Inhalt der Novelle ist schnell wiedergegeben: Zwei Hunde des Hospital de la resurrecciûn in Valladolid namens Berganza und Cipiûn sind plötzlich zur Sprachfähigkeit gelangt, ohne sich dies erklären zu können: Cipión.–Berganza amigo, dejemos esta noche el Hospital en guarda de la confianza y retir¦monos a esta soledad y entre estas esteras, donde podremos gozar sin ser sentidos desta no vista merced que el cielo en un mismo punto a los dos nos ha hecho. Berganza.–Cipiûn hermano, ûyote hablar y s¦ que te hablo, y no puedo creerlo, por parecerme que el hablar nosotros pasa de los t¦rminos de naturaleza. (Cervantes: 25 2009, 299)

Nur am Rande sei an dieser Stelle angemerkt, dass sich diese Passage fast schon wie eine Vorausdeutung auf die im 19. Jahrhundert florierende Gattung des conte fantastique liest, zumal dieser gerade vom Zweifel lebt, ob sich ein übernatürliches Ereignis rational erklären lässt oder nicht. Bis zur Psychologisierung der Novelle im 19. Jahrhundert ist es allerdings noch ein weiter Weg. Also zurück zu unserem Coloquio de los perros: Zumal beide Hunde nicht wissen, wie lange sie die Gabe der Sprache besitzen werden, entschließen sie sich, sich an zwei aufeinanderfolgenden Tagen jeweils ihre Lebensgeschichte zu erzählen. Die Novelle stellt dabei die erste der ›Lebensbeichten‹, nämlich die Erzählung Berganzas, dar, wobei Cipiûn die Rolle des kritischen Zuhörers erfüllt. Cipiûn erweist sich so »[…] als äußerst kritischer Kopf, als unerbittlicher, wachsamer, fortgesetzt nörgelnder Moralist, als der er dem unbedachten Kollegen bei jedem vorschnellen Glimpfwort in die ungewaschene Rede fällt.« (Krauss: 1965, 80)129 In seiner Rede berichtet Berganza von seinen vornehmlich negativen Erfahrungen mit einer Vielzahl unterschiedlicher Herren. Der Hund berichtet hier von seiner Zeit bei einem Metzgermeister, einem Hirten, einem Kaufmann, einem Polizeidiener, einem Trommler, einem Zigeuner, einem Morisken, einem Dichter, einem Theaterdirektor und schließlich einem Ordensbruder. Konnte bisher festgestellt werden, dass die Novelas ejemplares auch dadurch vom italienischen Gattungsmodell Boccaccios abweichen, dass sie keine Rahmenfiktion besitzen, so muss dieses Urteil mit Blick auf El Coloquio de los perros 128 Von der herausragenden Bedeutung dieser Novelle zeugen nicht nur zahlreiche dramatische Bearbeitungen, sondern vor allem auch E.T.A. Hoffmanns Nachricht von den neuesten Schicksalen des Hundes Berganza (1814). 129 Vgl. hierzu El Saffar: 1974, 65: »Cipiûn is Berganza’s conscience on questions of morality […].« Zur Funktion von Cipiûn innerhalb des Gespräches vgl. auch Miranda: 1985.

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relativiert werden. Denn diese Novelle besteht nicht allein aus der Erzählung Berganzas und ihrer Kommentierung durch Cipiûn, sondern den Schluss des Coloquio bildet folgende Passage, die auf einer anderen Erzählebene anzusiedeln ist als das Gespräch der beiden Hunde: El acabar el Coloquio el Licenciado y el despertar el Alf¦rez fue todo a un tiempo, y el Licenciado dijo: –Aunque este coloquio sea fingido y nunca haya pasado, par¦ceme que est‚ tan bien compuesto que puede el seÇor Alf¦rez pasar adelante con el segundo. –Con ese parecer –respondiû el Alf¦rez– me animar¦ y disporn¦ a escribirle, sin ponerme m‚s en disputas con vuesa merced si hablaron los perros o no. A lo que dijo el Licenciado: –SeÇor Alf¦rez, no volvamos m‚s a esa disputa. Yo alcanzo el artificio del Coloquio y la invenciûn, y basta. V‚monos al Espolûn a recrear los ojos del cuerpo, pues ya he recreado los del entendimiento. –Vamos– dijo el Alf¦rez. Y con esto, se fueron. (Cevantes: 252009, 359)

Bevor wir uns an die Erläuterung der Kommunikationssituation in diesem letzten Abschnitt des Coloquio machen, sei darauf hingewiesen, dass hier nochmals das Thema der Authentizität des Hundegespräches und damit – in einer weiteren Perspektive – von Literatur angesprochen wird, sowie der Blick auf den Kunstcharakter von literarischen Texten gelenkt wird. Denn das Gespräch, das zunächst per se dem Prinzip der Oralität verpflichtet ist, wird explizit als Schriftstück in Szene gesetzt, und zwar dadurch, dass der Fähnrich ankündigt, auch das zweite Gespräch, also die Lebensgeschichte Cipiûns, niederzuschreiben. Betrachten wir nun die Kommuikationssituation dieses Schlussteils. Selbst für den aufmerksamsten Leser ist nach der Lektüre des Hundegespräches nicht klar, wer der hier auftretende Lizentiat und wer der Fähnrich ist. Dies ist darauf zurückzuführen, dass beide die Protagonisten der vorangegangenen Novelle, El casamiento engaÇoso, sind. Nachdem der Lizentiat dem Fähnrich in dieser Novelle davon berichtet hat, dass er ein Gespräch zwischen zwei Hunden, dessen Zeuge er war, niedergeschrieben hat, lesen wir am Schluss Folgendes: »Recostûse el Alf¦rez, abriû el Licenciado el cartapacio, y en el principio vio que estaba puesto t†tulo:« (Cervantes: 252009, 295) Auf diesen Satz folgt die durch die Interpunktion unmittelbar angekündigte nächste Novelle, nämlich El coloquio de los perros. Durch die Verknüpfung dieser beiden Novellen macht Cervantes nochmals mit aller Eindringlichkeit auf ein bereits eingangs erläutertes Strukturmerkmal seiner Novellensammlung aufmerksam, nämlich die Nähe zur

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formalen Anlage eines zeitgenössischen Romans, der sich aus verschiedenen Kapiteln zusammensetzt. El coloquio de los perros ist in mehrfacher Hinsicht repräsentativ für die Sammlung: Erstens ist die Novelle, wie ausgeführt, explizit als geschriebene Erzählung in Szene gesetzt, der Rezipient wird damit – wie der Fähnrich – ausdrücklich zum Leser und eben nicht, wie traditionell üblich, durch verschiedene Textstrategien, die die Illusion von Oralität erzeugen sollen, mehr oder weniger zum Zuhörer einer Anekdote gemacht. Zweitens weist die Novelle jene typische Langatmigkeit auf, die der traditionellen Kürze und Konzentration der Gattung zuwiderläuft, und in ihr finden sich zahlreiche jener »Raumbewegung[en]« (Krauss: 1965, 60), die die Novelas ejemplares charakterisieren. Auf die Wanderschaft geht hier der Hund Berganza, der immer wieder von einem Herrn zum nächsten flieht. Damit hängt drittens eng zusammen, dass El coloquio de los perros einen Querschnitt durch die spanische Gesellschaft des Siglo de Oro bietet.130 Wie in vielen der zwölf Novellen ist auch in dieser Novelle die Literatur ein wichtiges Thema, wobei der Fokus hier – neben Fragen des Erzählstils, die vor allem Cipiûn äußert,131 und Ausführungen zum damaligen Literaturmarkt (am Beispiel der zeitgenössischen Aufführungspraxis und dem Verhältnis des Dichters zu Schauspielern und dem Theaterdirektor) aus dem Munde Berganzas – auf der Frage nach dem Verhältnis von Faktizität und Fiktion oder nach der Authentizität und ›Wahrheit‹ von Literatur liegt. Dies sei exemplarisch anhand Berganzas Ausführungen zum zeitgenössischen Pastoralroman aufgezeigt, zu denen ihn jene Episode seines Lebens führt, als vorübergehend ein Hirte sein Herr war. Die Diskrepanz zwischen Schäferfiktion oder Schäferideal und Schäferwirklichkeit könnte kaum größer sein, als Berganza sie beschreibt: Berganza.–Digo que todos los pensamientos que he dicho, y muchos m‚s, me causaron ver los diferentes tratos y ejercicios que mis pastores y todos los dem‚s de aquella marina ten†an de aquellos que hab†a o†do leer que ten†an los pastores de los libros; porque si los m†os cantaban, no eran canciones acordadas y bien compuestas, sino un Cata el lobo dû va, Juanica y otros cosas semejantes; y esto no al son de chirumbelas, rabeles o gaitas, sino al que hac†a el dar un cayado con otro o al de algunas tejuelas puestas entre los dedos; y no con voces delicadas, sonoras y admirables, sino con voces roncas, que, solas o juntas, parec†a, no que cantaban, sino que gritaban, o grudžan. Lo m‚s del d†a se les pasaba espulg‚ndose o remendando sus abarcas; ni entre ellos se nombraban Amarilis, F†lidas, Galateas y Dianas, ni hab†a Lisardos, Lausos, Jacintos ni Riselos; todos eran Antones, Domingos, Pablos o Llorentes; por donde vine a entender lo que pienso que deben de creer todos: que todos aquellos libros son cosas soÇadas y bien escritas para entretenimiento de los ociosos, y no verdad alguna. (Cervantes: 252009, 308 f.) 130 Vgl. hierzu Bel Bravo/Lûpez MuÇoz: 1991. 131 Vgl. hierzu El Saffar : 1974, 65: »Cipiûn is Berganza’s […] arbiter on stylistic matters.«

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Zu Recht fühlen wir uns hier an Honor¦ d’Urf¦s Paratext L’autheur — la bergere Astr¦e, der dem Pastoralroman L’Astr¦e (1607 ff.) vorausgeht, erinnert, auch wenn es sich bei diesem Roman um das frühneuzeitliche Modell dieses Romantypus handelt. In seiner kurzen Ansprache an die Schäferin Astr¦e erklärt der Autor unmissverständlich, dass die Schäfer und Schäferinnen, die er dem Leser in den Bänden seines Romans präsentiert, nichts mit den wirklichen Schäfern der damaligen Zeit zu tun haben: Que si l’on te reproche que tu ne parles pas le langage des villageois, et que toy ny ta trouppe ne sentez gueres les brebis ny les chevres, responds leur, ma bergere, que pour peu qu’ils ayent cognoissance de toy, ils sÅauront que tu n’es pas, ny celles aussi qui te suivent, de ces bergeres necessiteuses, qui pour gagner leur vie conduisent les trouppeaux aux pastufages, mais que vous n’avez toutes pris cette condition, que pour vivre plus doucement et sans contrainte. (d’Urf¦: 1966, I, 7)

Im Kontext von Berganzas Überlegungen zum zeitgenössischen Pastoralroman taucht das in der Literatur des Siglo de Oro häufig anzutreffende desengaÇoMotiv auf. Dieses beherrscht daneben viele der Episoden aus seinem Leben, von denen Berganza Cipiûn berichtet, zumal die jeweiligen Herren des Hundes immer wieder der Heuchelei beschuldigt werden. Nicht repräsentativ für die Novelas ejemplares ist dagegen der Aspekt des Wunderbaren in El coloquio de los perros, dass Hunde nämlich sprechen können, wobei allerdings, wie gesagt, nicht klar ist, ob dies tatsächlich zutrifft oder aber nur eine poetische Fiktion des Fähnrichs ist. Für Letzteres spricht nicht zuletzt auch der Umstand, dass Berganza sich innerhalb des Gespräches mit Cipiûn explizit auf die Fabeln Äsops beruft, in denen ja auch Tiere der menschlichen Sprache mächtig sind.132 Und auch durch die Ich-Perspektive unterscheidet sich das Coloquio von vielen anderen der Novellen, in denen ein auktorialer Erzähler dem Leser das Geschehen vermittelt.

3.2

Das Sonett

Das Sonett zählt im 16. und 17. Jahrhundert europaweit zu den beliebtesten Gedichtgattungen überhaupt. Die ersten Sonette entstanden etwa um 1230 auf Sizilien, als ›Erfinder‹ der Gattung gilt gemeinhin Giacomo da Lentini. Maßgeblich für die großräumige Diffusion in Europa ist Francesco Petrarca mit seinem Canzoniere bzw. den Rerum vulgarium fragmenta (Druck 1470) geworden. Die Verbreitung des Sonetts ist primär an die direkte oder indirekte Nachahmung Petrarcas, die mit dem Begriff des Petrarkismus bezeichnet wird, 132 Vgl. Cervantes: 252009, 313. Für eine ausführliche Erörterung der Vorbildfunktion, die Äsop für El coloquio de los perros erfüllt vgl. Carranza: 2003.

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gebunden.133 Ausgehend von Italien verbreitet es sich zunächst im romanischen Sprachraum, gelangt dann nach England und mit einiger Verspätung im 17. Jahrhundert auch nach Deutschland. Das Sonett gilt vornehmlich als Herausforderung auf lyrischem Gebiet und wird als »ein Bravourstück angesehen, worin sich der Virtuose zeigen […]« (Schlegel: 1969, 344)134 kann.135 Die Popularität des Sonetts in der Frühen Neuzeit ist jedoch nicht nur auf die Herausforderung, die es dem Dichter stellt, zurückzuführen, sondern vor allem auch auf seine neuen vielseitigen Anwendungsmöglichkeiten. Diese sind Folge einer »grundlegende[n] Veränderung des Verständnisses des Sonetts und seiner Funktion im 16. Jahrhundert […]: Die Übernahme dieser italienischen Form […] zeitigt neue Funktionsbestimmungen, die vor allem auf eine Erweiterung des Gegenstands der Sonettistik hinausläuft.« (Krüger : 2004, 17)136 Vor allem in Frankreich und Spanien wird das Sonett, das in Italien ursprünglich der Liebesdichtung vorbehalten war, für vollkommen neue Gegenstandsbereiche geöffnet, die »weit über das thematische Dispositiv von Petrarca […]« (Krüger : 2004, 18) hinausführen. So entstehen in dieser Zeit insbesondere im Bereich der Kasuallyrik Sonette, die alle Bereiche des menschlichen Lebens poetisch verarbeiten.137 Das Sonett gibt daher zugleich Auskunft über den Wissensstand und den kulturgeschichtlichen Hintergrund der damaligen Zeit. Insofern erweist sich das Sonett in thematischer Hinsicht – verglichen mit anderen lyrischen Gattungen (mehr oder weniger) fester Form – als extrem wandlungs- und anpassungsfähig. Aufgrund dieser Variabilität kann es die verschiedensten Bereiche umfassen: »le sonnet admet des sujets aussi vari¦s que 133 Zum europäischen Petrarkismus in der Frühen Neuzeit vgl. S. 9 ff. dieser Untersuchung. 134 In Boileaus Art po¦tique (1674) heißt es dementsprechend: »On dit […], qu’un jour ce Dieu bizarre [scil. Apollon; B.N.]/ Voulant pousser — bout tous les Rimeurs FranÅois,/ Inventa du Sonnet les rigoureuses loix.« (Boileau: 1966, 165) Auch in der Encyclop¦die wird die Schwierigkeit der Gattung, die zu folgendem vernichtenden Urteil führt, betont: »SONNET, petit poÚme de quatorze vers, qui demande tant de qualit¦s, qu’— peine, entre mille, on peut en trouver deux ou trois qu’on puisse louer.« 135 Natürlich wurde die Regelhaftigkeit der Form nicht immer als Herausforderung, sondern auch negativ beurteilt. In der Frühen Neuzeit finden wir das Sonett aufgrund seiner formalen Strenge oftmals mit dem Bett des Prokrustes verglichen, »where some who were too short were racked; and others too long cut short«. Ben Jonson (1572 – 1637), zitiert nach Fuller: 21978, 11. 136 Insofern ist die geschichtliche Entwicklung dieser Gattung mit derjenigen der Ballade vergleichbar, deren thematische Ausweitung vor allem FranÅois Villon (um 1431 – 1463) zuzuschreiben ist. 137 Eine Untersuchung der gesamten frühneuzeitlichen europäischen Sonettistik muss dieser Themenvielfalt Rechnung tragen. Nichtsdestoweniger wird diese oftmals gerade nicht angeführt, wenn es um die Gründe für die Sonderstellung des Sonetts innerhalb der lyrischen Kleingattungen geht. Auch Roubaud: 1990, 9 benennt »six caractÀres qui lui [scil. au sonnet; B.N.] donnent une position exceptionnelle […]«, ohne auf die Mannigfaltigkeit des Gegenstandsbereiches hinzuweisen.

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la plainte amoureuse, les sujets h¦roxques, la m¦ditation religieuse, l’¦loge, la r¦flexion morale, la consolation, l’¦pitaphe, la description, la satire, et jusqu’au burlesque […].« (Graziani: 1988, 105)138 Auch der Stil des Sonetts variiert in der Frühen Neuzeit gemäß der Themenvielfalt vom banalen bis zum hohen Stil, wobei letzterer die von Theoretikern des 16. Jahrhunderts geforderte »gravit¦ du sonnet« (Sebillet: 1910, 116)139 erfüllt. Ebenso zeichnet sich der Tonfall durch einen außerordentlichen Abwechslungsreichtum aus: Er kann enkomiastisch, heiter, satirisch, elegisch etc. sein. Auch hier sind dem Dichter fast keine Grenzen gesetzt. Außerdem ist das Sonett bereits in der Frühen Neuzeit nicht auf den Bereich der Dichtung beschränkt: Das Sonett dient gerade in dieser Zeit oftmals als lyrische Digression im Drama und Roman. Unangefochtener Meister des frühneuzeitlichen ›Bühnensonetts‹ ist – zumindest in quantitativer Hinsicht – Lope F¦lix de Vega Carpio (1562 – 1635), der rund zwei Drittel seiner umfangreichen Sonettdichtung in seine comedias eingestreut hat: »Once Lope began to insert sonnets in his plays […] he carried it almost to excess, and the number of them in a comedia was unlimited, as many as seven appearing in one work.« (Delano: 1928, 27)140 In gattungstypologischer Hinsicht ist die Form des ›Bühnensonetts‹ insofern von herausragender Bedeutung, als sie das Sonett als eine explizit mündliche und nicht als die ursprünglich schriftlich konzipierte Gattung, die in der Frühen Neuzeit die bereits benannte Nähe zum Epigramm aufweist, in Szene setzt. Von hier ist es nur noch ein Schritt zur ›Degeneration‹ der Gattung zum sogenannten Stegreif-Sonett, das uns vor allem im 17. Jahrhundert begegnet und auf das der zeitweilige Rückgang der Sonettproduktion maßgeblich zurückzuführen ist, auch wenn beide Subgattungen des Sonetts selbstredend große qualitative Unterschiede aufweisen können. Die andere in der Frühen Neuzeit populäre Form des ›Binnensonetts‹ stellen jene Sonette dar, die in Romanen erscheinen, wie dies beispielsweise in Miguel de Cervantes Saavedras Don Quijote (1605) oder Honor¦ d’Urf¦s L’Astr¦e (1607 – 1628)141 der Fall ist, wobei es sich im ersten Fall vornehmlich um satirische und im zweiten Fall um vergleichsweise traditionell petrarkistische Sonette handelt. Im hier untersuchten Zeitraum lassen sich in formaler Hinsicht verschiedene 138 Graziani: 1988, S. 105. Vgl. hierzu Spiller : 1992, 2: »Identity is formal, not thematic […].« 139 Vgl. hierzu auch Peletier du Mans: 1971, 61: »Le Sonne˛t donq e˛t plus hautein que l’Epigramme : e — plus de majeste : e e˛t capable de discours graue […].« Die speziellen orthographischen Zeichen von Jacques Peletier du Mans konnten hier nicht wiedergegeben werden. 140 Einen weitaus höheren Bekanntheitsgrad als die Bühnensonette Lope de Vegas besitzen allerdings die Sonette, die Shakespeare in seine Dramen eingefügt hat, vor allem das berühmte Dialogsonett in Romeo and Juliet (1595) (I, 5, vv. 90 ff.). Vgl. hierzu S. 198 ff. dieser Untersuchung. 141 Siehe hierzu S. 145 ff. der vorliegenden Untersuchung.

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nationale Anverwandlungen des Sonetts ausmachen, es entstehen nationale ›Standardformen‹ des Sonetts. Doch zunächst zu den Formen des Sonetts beim angenommenen ›Erfinder‹ der Gattung, Giacomo da Lentini, und seinem bis heute bekanntesten Repräsentanten, Francesco Petrarca, auf dessen Canzoniere (Druck 1470) bekanntermaßen der in der Frühen Neuzeit zu verzeichnende ›Boom‹ des Sonetts maßgeblich zurückzuführen ist: Giacomo da Lentini (endecasillabo): ABAB ABAB CDE CDE ABAB ABAB CDC DCD ABAB ABAB CCD CCD Francesco Petrarca (endecasillabo): Oktett: ABBA ABBA (303 von 317 Sonetten im Canzoniere) ABAB ABAB (12 Sonette) ABAB BAAB (2 Sonett) Sextett: CDE CDE (115 Sonette) CDC DCD (108 Sonette) CDE DCE (66 Sonette)

Diese zugegebenermaßen sehr formalistische Aufstellung soll vor allem eines deutlich machen: Schon Petrarca hat das Sonett nicht auf eine Form festgelegt, sondern die Form des Sonetts in seinem Canzoniere variiert. Es wird sich zeigen, dass die von Petrarca bevorzugt verwendete Form des Sonetts mit identischen umarmenden Reimen in den beiden Quartetten für den romanischen wie auch den deutschen Sprachraum vorbildlich, wenn nicht gar verbindlich werden wird, und zwar über das 16. und 17. Jahrhundert hinaus. Wie gesagt, entstehen in der Frühen Neuzeit in mehreren europäischen Ländern nationale ›Standardformen‹ des Sonetts, wie die folgende schematisierte Darstellung, die die Etappen der Rezeption des Sonetts außerhalb Italiens chronologisch wiedergibt, zeigt: 1. Spanien (endecasilabo):

ABBA ABBA CDC DCD ABBA ABBA CDE CDE

2. Frankreich (vers commun, alexandrin): ABBA ABBA CCD EED ABBA ABBA CCD EDE (disposition marotique) 3. England (iambic pentameter):

ABAB CDCD EFEF GG

4. Deutschland (Alexandriner, Zehnsilber):

ABBA ABBA CCD EED

Abweichungen von diesen ›Standardformen‹ des Sonetts sind im 16. und 17. Jahrhundert in den meisten europäischen Ländern relativ selten. D.h. es herrscht vielfach eine Diskrepanz zwischen thematischer Vielfalt und formaler Monotonie vor : »Vari¦t¦ du contenu d’une part, rigueur formelle de l’autre.« (Roig Miranda: 1988, 310)

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Doch nun zur formalen Gestaltung des Sonetts: Im Gegensatz zur frühneuzeitlichen spanischen ›Normalform‹ des Sonetts, das stark an der italienischen Vorlage orientiert ist, beinhaltet das französische ›Standardsonett‹ eine völlige Umstrukturierung der Gattung, denn obgleich die Stropheneinteilung weiterhin zwei Quartette und zwei Terzette vorgibt, so widerspricht dem die durch die Reime vorgebene Aufteilung in drei Quartette und ein Distichon. Dieses sonnet r¦gulier wird im 17. Jahrhundert vor allem durch die Vermittlung Martin Opitz’ zum deutschen ›Standardsonett‹. Eine vollständige Abkehr von den italienischen Formvorgaben für das Sonett bildet das so genannte Shakespearean Sonnet, wobei diese Bezeichnung einer gewissen Ironie nicht entbehrt, denn zurück geht diese Form nicht auf William Shakespeare, sondern auf Henry Howard, Earl of Surrey (1516 – 1547). Ironischerweise ist gerade William Shakespeare der einzige der großen englischen Sonettisten der elisabethanischen Zeit, der keine eigene Form des Sonetts entwickelt hat.142 Eine vollständige Abkehr von den italienischen Modellen des Sonetts bildet das Shakespearean Sonnet deshalb, weil es nicht in zwei Quartette und zwei Terzette gegliedert ist, sondern stattdessen in drei Quartette und ein abschließendes Distichon, das so genannte heroic oder concluding couplet. Das elisabethanische Sonett zeichnet sich darüber hinaus eben gerade durch einen großen formalen Variantenreichtum aus. Dies mag nicht zuletzt auch damit zusammenhängen, dass in England lange Zeit Unklarheit darüber herrscht, was ein Sonett ist.143 Was die Thematik des frühneuzeitlichen europäischen Sonetts angeht, so zeichnet sich diese durch eine enorm große Mannigfaltigkeit aus. Schnell setzt hier der Prozess einer thematischen Erweiterung ein, der das Sonett von seiner ursprünglichen Beschränkung auf die Liebesthematik befreit. In diesem Kontext ist neben anderen zeitgenössischen Dichtern Joachim Du Bellay zu nennen. Dieser Dichter der Pl¦iade war »le premier en France, il utilisait le sonnet […] pour c¦l¦brer un thÀme autre que l’amour.« (Bellenger : 1994, 8)144 Im Kontext 142 Beispielsweise stammen von Sir Philipp Sidney (Apostrophil and Stella, 1591) die Reimschemata ABBA ABBA CDC DEE und ABBA ABBA CCCD EED und von Edmund Spenser (Amoretti, 1595) das Reimschema ABAB BCBC CDCD EE. 143 Erst George Gascoigne (1539 – 1578) liefert in Certayne Notes of Instruction Concerning the Making of Verse (1575) formale Vorgaben für das englische Sonett: »then have you Sonnets, some thinke that all Poemes (being short) may be called Sonets, as in deede it is a diminutive worde derived of Sonare, but yet I can beste allowe to call those Sonets whiche are of fouretene lynes, every line conteyning tenne syllables. The firste twelve do ryme in staves of foure lines by crosse meetre, and the last twoo ryming togither do conclude the whole.« (Gascoigne: 1969: I, 471 f.) Vor Gascoignes Poetik werden die Bezeichnungen song und sonnet in England synonym eingesetzt. Eine ähnliche terminologische Unsicherheit besteht in Frankreich nur in den allerersten Jahren der Sonettistik. Vgl. hierzu Roubaud: 1990, 11 ff. 144 Vgl. hierzu auch Krüger : 2002, 70: »Die konsequente und meisterhaft durchgeführte Erweiterung des thematischen Spektrums der Sonett-Dichtung auf alle Bereiche des Lebens und der Wirklichkeit ist Du Bellays große Leistung.«

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dieser Erweiterung des Themenspektrums stellen erneut die englischen Sonettisten der Frühen Neuzeit im europäischen Vergleich eine Ausnahme dar, denn sie wählen fast ausschließlich die Liebe, wenn auch in ihren unterschiedlichsten Erscheinungsformen, zum thematischen Gegenstand ihrer Sonette. Diese thematische Beschränkung scheint das Gegengewicht zur bereits erläuterten formalen Experimentierfreudigkeit darzustellen. Die thematische Vielfalt wird dabei seit dem 16. Jahrhundert zu einem dominierenden Charakteristikum der gesamteuropäischen Sonettistik.145 Nichtsdestoweniger wird dieser Aspekt nach wie vor von der Forschung stiefmütterlich behandelt.146 Durch die permanente thematische Erweiterung, die das europäische Sonett des 16. und 17. Jahrhunderts kennzeichnet, entspricht es strukturell dem ›Weltwissen‹ der Frühen Neuzeit, denn dieses ist im Gegensatz zu demjenigen des Mittelalters dynamisch zu verstehen. Als Modell kann hier Castigliones Il Libro del Cortegiano (1528) dienen: Das ›Wissen‹ des Hofmannes erscheint hier nicht statisch, sondern als ein offenes System. Offen ist es dabei für all das, was dem allgemeinen Geschmack entspricht. Eines zeigt die Themenvielfalt der Sonettistik in der Frühen Neuzeit mit Sicherheit, nämlich den Zusammenhang von Literatur und Leben. Ette weist in seiner Programmschrift anläßlich des Jahres der Geisteswissenschaften zu Recht auf diesen hin: »Denn Literatur läßt sich begreifen als […] Speichermedium von Lebenswissen […].« (Ette: 2007, 13) Der Nexus zwischen Literatur und Leben scheint im hier betrachteten Zeitraum sehr viel selbstverständlicher zu sein als heutzutage, ansonsten bedürfte es wohl kaum Ettes ermahnender Worte. Schließlich versteht schon Aristoteles Literatur als eine poetische Inszenierung aller denkbaren Formen menschlichen Handelns.147 Dies schließt natürlich auch alle kommunikativen Handlungen ein. Das europäische frühneuzeitliche Sonett erweist sich als eine Form der Verarbeitung und Speicherung von Weltwissen im Sinne von Ettes Begriff des Lebenswissens. Die verschiedenen thematischen Aspekte besitzen – bezogen auf die ursprüngliche Liebesthematik – einen unterschiedlich hohen Grad an Entgrenzung: So können zum Beispiel die Heimat, die Natur, die Gönnerin etc. den Platz der Geliebten in der traditionellen Sonettistik einnehmen. In anderen Fällen 145 Vgl. hierzu Fernando de Herrera, zitiert nach Weinrich: 1961, 1: »el Soneto […] es […] capaz de todo argumento […].« 146 Der thematischen Mannigfaltigkeit der frühneuzeitlichen Sonettistik ist Nickel: 2008 gewidmet. 147 Vgl. hierzu Aristoteles: 81977, 340 f.: »Im allgemeinen scheinen es zwei, und zwar natürliche Ursachen gewesen zu sein, die die Dichtkunst hervorgebracht haben. Denn der Nachahmungstrieb ist dem Menschen von Kindheit an angeboren […], und dann haben alle Menschen Freude an der Kunst der Nachahmung.« Literatur ahmt menschliches Handeln nach: »Da es nun handelnde Menschen sind, die man nachahmt […].« (Aristoteles: 81977, 338)

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handelt es sich im Unterschied hierzu um eine vollkommene Abkehr vom Liebesmotiv und einen Aufbruch zu neuen Themen. Ein Paradebeispiel dafür sind poetologische Sonette, in denen der jeweilige Dichter seine Kunst reflektiert. Hierbei handelt es sich um einen vollkommen neuen Typus des Sonetts: Die traditionelle dialogische ist in diesen Sonetten einer monologischen Struktur gewichen.148 Im 16. und 17. Jahrhundert weist das Sonett mannigfache Parallelen zu zwei anderen Gattungen auf, nämlich dem Epigramm und dem Em-blem.149 Die Annäherung des Sonetts an das Epigramm bewirkt zunächst, dass das Sonett stark an die Schriftlichkeit gebunden ist und somit in den Bereich der Öffentlichkeit rückt. Damit hängt eine weitere Folge zusammen, nämlich die Pluralität der Mediatisierungsformen der Gattung. Das Sonett ist in dieser Zeit nämlich nicht an die Buchform gebunden, sondern die Sonettisten der Frühen Neuzeit nutzen auch die Möglichkeiten der öffentlichen Darstellung, zum Beispiel als Vortrag in Form einer Vertonung oder Zurschaustellung an öffentlichen Orten. Vor allem Sonette von Ronsard wurden vielfach entweder vertont und in der Erstpublikation zusammen mit den Noten veröffentlicht oder am Sockel von Denkmälern o. ä. angebracht. Mit dem Epigramm ist das Sonett vor allem durch seine relative Kürze und die fast schon obligatorische »pointe d’esprit« (Colletet: 1970, 32) verbunden. Die ›Epigrammatisierung‹ des Sonetts begünstigt dabei maßgeblich die Anwendung für neue Inhalte.150 Das Epigramm weist in der Frühen Neuzeit ja eine unendliche Themenfülle auf. Die Gleichsetzung von Sonett und Epigramm wird schon im Laufe des 16. Jahrhunderts zu einem feststehenden Topos. Als erster französischer Theoretiker formuliert Sebillet die ›Epigrammatisierung‹ des Sonetts : »Le Sonnet suit l’¦pigramme de bien pr¦s, et de mati¦re, et de mesure : […] Sonnet n’est autre chose que le parfait epigramme de l’Italien […].« (Sebillet: 1910, 115) Ebenso verkündet auch Juan D†az Rengifo in seiner Arte po¦tica espaÇola (1592) den epigrammatischen Charakter des Sonetts: »El Soneto […] sirve […] para todo aquello, que sirven los Epigramas latinos.«151 Wie bereits erläutert, ist das Sonett in der frühen Neuzeit – ebenso wie das Epigramm – Teil der öffentlichen Schriftlichkeit. Vorstellungen dieser Art sind 148 Siehe S. 120 ff. der vorliegenden Untersuchung. 149 Die Ähnlichkeit zwischen dem Sonett und dem Epigramm sowie dem Emblem scheint mir wesentlich stärker und auch folgenreicher als diejenige mit dem Madrigal, die Kemp: 2002, I: S. 264 ff. besonders betont. 150 Vgl. hierzu auch Fechner : 1966, 108 ff. 151 Juan D†az Rengifo, zitiert nach Weinrich: 1961, 2. Auch in Deutschland weist das Sonett eine typologische Nähe zum Epigramm auf. In August Buchners Anleitung zur deutschen Poeterey (1665) wird das Sonett dementsprechend als eine »Art der Epigrammaten« (Buchner: 1966, 175) bezeichnet.

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bereits im 15. Jahrhundert von Leon Battista Alberti (1404 – 1472) in seiner Architekturtheorie entwickelt worden. Hiernach besteht das Neue der modernen Architektur vornehmlich in einer modernen Ornamentik, nach der gerade das Epigramm oder auch das als Hieroglyphenschrift aufgefasste Emblem die Vervollkommnung der Zierde eines modernen Gebäudes seien.152 Hiermit hängt nun ein weiterer Aspekt zusammen, der das frühneuzeitliche europäische Sonett in die Nähe des Emblems rückt: die Visualität. Sowohl Emblem als auch Sonett besitzen im hier betrachteten Zeitraum einen hohen visuellen Wert. Beide Gattungen haben außerdem häufig einen dreigliedrigen Aufbau153 und stellen eine gemeineuropäische Erscheinung mit einer ungewöhnlich großen Themenvielfalt dar, denn auch dem Emblem sind in thematischer Hinsicht keinerlei Grenzen gesetzt: »Nulla res est sub Sole qvae materiam Emblemati dare non possit.«154 Bei der Annäherung des frühneuzeitlichen Sonetts an die beiden genannten Gattungen, das Epigramm und das Emblem, spielt vor allem die Rückbesinnung in dieser Zeit auf die Antike und somit zugleich auf das bildliche Denken eine entscheidende Rolle.155 Neben allen Ähnlichkeiten gibt es auch einen offensichtlichen Unterschied: Im Gegensatz zum Emblem und Epigramm ist das Sonett formal – zumindest im hier betrachteten Zeitraum und in seinen verschiedenen nationalen Ausprägungen – relativ stark festgelegt.156 Kommen wir abschließend nochmals auf den Aspekt der thematischen Entgrenzung zurück: Die systematische Erweiterung des thematischen Spektrums, die in der europäischen Sonettistik seit dem 16. Jahrhundert zu beobachten ist, erfolgt nicht willkürlich und isoliert, sondern besitzt einen kulturgeschichtlichen Hintergrund, nämlich die Hinwendung zum Irdischen und die Abwendung vom Göttlichen. Auf exemplarische Weise lässt sich diese Hinwendung zum Irdischen in der Beschreibung der Schönheit in der frühneuzeitlichen Dichtung aufzeigen. Mit der ›sensualistischen Wende‹ wird die irdische Schönheit eine 152 Vgl. hierzu Alberti: 1556. 153 Dieser ternären Struktur ist es zu verdanken, dass in deutschen Barockpoetiken darüber hinaus eine Strukturgleichheit zwischen Sonett und Ode proklamiert wird. Vgl. hierzu beispielsweise Zesens Ausführungen: »Dieses Kling-gedichtes oder vielmehr Kling-liedes ehrster und anderer satz können nach einer gesang-weise gesungen […] werden; Der Abgesang aber mus eine sonderliche weise haben/ wie in den Pindarischen liedern gebräuchlig ist.« Philipp von Zesen, zitiert nach Fechner: 1969, 290. 154 Balbinus, zitiert nach Schöne/Henkel: 1996, XII. Eine systematische Untersuchung der frühneuzeitlichen europäischen Sonettistik unter diesem Aspekt steht bisher noch aus. 155 Vgl. hierzu Krüger : 2007, 301 f.: Wir »werden […] von der Emblematik nicht nur in das 16. oder 17. Jahrhundert verwiesen, sondern in die Frühgeschichte der menschlichen Kommunikation überhaupt. Diese nämlich, so die Grundannahme in der Renaissance, sei ursprünglich eine bildliche Kommunikation gewesen«. 156 Vgl. hierzu die schematische Erfassung der europäischen ›Standardsonette‹ in der Frühen Neuzeit auf S. 113 f. dieser Untersuchung.

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Qualität der Schöpfung. Vom materiell Gegebenen wird auf das Göttliche geschlossen, wie dies zum Beispiel sowohl bei Dante Alighieri (1265 – 1321) als auch Francesco Petrarca (1304 – 1374) der Fall ist.157 Für diesen Vorgang entwickeln die Autoren eine spezielle Metaphorik, die sich natürlich immer irdischer Vergleiche bedient, denn ein anderer Bereich ist dem Menschen mit Hilfe seiner Sinneswahrnehmungen nicht zugänglich. Nach Gott und den Engeln wird der Blick nun verstärkt auf irdische Dinge gerichtet. Repräsentativ für diese Tendenz steht dabei die Theologia naturalis (1428) von Raimundus Sabundus (?–1436) und Michel de Montaignes (1533 – 1592) entsprechende Übersetzung, die Th¦ologie naturelle (1569). Die hier postulierte Hinwendung zur Welt bildet den philosophischen Hintergrund für die Entsakralisierung der Schönheit im Sonett der Frühen Neuzeit. Das Interesse am Göttlichen wird hier durch die Neugierde auf die innerweltlichen Phänomene und Vorgänge – vor allem aus dem Bereich der Natur – substituiert.158 Der Weg führt weg vom Göttlichen hin zum Irdischen, vom Allgemeinen zum Konkreten und von der Idealität zur Realität. Die Aristoteles-Rezeption spielt in diesem Zusammenhang eine nicht unwesentliche Rolle. Die Themenvielfalt des frühneuzeitlichen Sonetts, die, wie bereits erläutert, nahezu alle Bereiche des menschlichen Lebens umfasst, steht nämlich in engem Zusammenhang mit dem aristotelischen mimesis-Gedanken: »Es spricht manches dafür, daß die Überlegung des Aristoteles, in der Dichtung […] werde menschliches Handeln und Wirken dargestellt, der Weltzuwendung der Renaissance entgegenkam […].« (Petersen: 2000, 96) Die herausgehobene Stellung des Sonetts, vor allem in den romanischen Literaturen der Frühen Neuzeit, ist nur vor dem Hintergrund eines grundlegenden Wandels des Gattungssystems zu verstehen. Dieses ist explizit auf die ständisch gegliederte Gesellschaft bezogen und zugleich eine Form der öffentlichen Kommunikation, die deren Problemen gilt. Gattungsfragen sind in der Frühen Neuzeit darum immer auch Fragen der öffentlichen Kommunikation. Dies ist wie bei der Novelle auch in besonderem Maße beim Sonett der Fall, denn es wird, wo auch immer es publiziert wird, als Medium und Ergebnis eines Kommunikationsvorganges, an dem eine Öffentlichkeit teilhaben soll, in Szene gesetzt. Es gibt Hinweise darauf, beispielsweise ›Stegreifsonette‹, von denen in Aretinos Ragionamenti (1534) berichtet wird. Außerdem finden wir dies besonders in Frankreich und Spanien in einer Vielzahl von Romanen, in denen – wie in Cervantes’ Don Quijote (1605) – zahlreiche Seiten einleitenden Sonetten 157 Stellvertretend sei hier auf das erste Quartett von Canzoniere 159 hingewiesen: »In qual parte del ciel, in quale ydea/ era l’exempio, onde Natura tolse/ quel bel viso leggiadro, in ch’ella volse/ mostrar qua gi¾ quanto lass¾ potea?« (Petrarca: 1996, 472) 158 Vgl. hierzu Blumenberg: 21980.

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vorbehalten sind. In England zeugt vor allem die Erstpublikation von Spensers Faerie Queene (1590) von diesem Funktionsbereich der Sonettistik. Wir finden dies des Weiteren in öffentlichen Widmungen von Büchern, wobei die Widmung in Form eines Sonetts dargeboten wird, und schließlich sogar – wie bei Ronsard u. a. – in Sonetten, die zunächst in Form von Plakaten oder hölzernen panneaux publiziert werden. Daher ist die These der Renaissancepoetologen, beim Sonett handle es sich um eine epigraphische Form, vollkommen nachzuvollziehen, verweist sie doch direkt auf die Funktion des Sonetts bei der Herstellung einer gesamtnationalen öffentlichen Kommunikation, deren Medien vornehmlich Buch und Schrift sind. Betrachten wir im Folgenden zunächst jenen Teil der frühneuzeitlichen Sonettistik, der eine starke Abweichung von der von Petrarca vorgegebenen Liebesthematik darstellt, etwas näher und danach ein konkretes Beispiel für die frühneuzeitliche Funktion des Sonetts als Binnengedicht in einem Roman. Den Abschluss bildet sodann ein Überblick über die spanische Sonettistik im 16. und 17. Jahrhundert. Diese zeigt exemplarisch die Vielfalt der Funktionsbestimmungen der europäischen Sonettistik der Frühen Neuzeit auf.

3.2.1 Poetologischer Diskurs im Sonett Weist die traditionelle Sonettkonstellation prinzipiell eine dialogische Struktur auf, nämlich in Form der Kommunikation zwischen einem männlichen Schreiber und der von ihm umworbenen Dame – bei den weiblichen Sonettisten ist diese Konstellation natürlich genau ins Gegenteil verkehrt –, so gibt es im Gegensatz hierzu, wie bereits erwähnt, auch solche Sonette, die sich ausschließlich mit dem lyrischen Ich befassen. Auch der kreative Akt der poetischen Schöpfung stellt eine jener Handlungen dar, die das Sonett in Szene setzen kann. Statt für den amourösen wird die Form hier für den poetologischen Diskurs genutzt. In diesem Fall besitzt sie einen hohen Grad an Selbstreflexivität. Damit geht einher, dass die implizite Funktion des lyrischen Ich als Dichter159 in solchen Sonetten explizit in den Vordergrund tritt. Dennoch darf das lyrische Ich auch in diesen Sonetten grundsätzlich nicht mit dem Autor identifiziert werden, denn es stellt zuallererst eine rein grammatikalische Funktion dar. Der Text muss daher zunächst in seiner grammatikalischen und syntaktischen Struktur erfasst werden und kann erst in einem weiteren Schritt auch hinsichtlich seiner biographischen Qualität beurteilt werden, falls dies sinnvoll erscheint. 159 Vgl. hierzu Fischer: 2007, 71: »Das poetische Ich [hat] – unabhängig vom Inhalt der von ihm als Aussagesubjekt hervorgebrachten Verse – grundsätzlich die Funktion des poeta inne.«

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Bezeichnend für die Situation des Sonetts im elisabethanischen England sind die primären Themen des nachfolgend analysierten Sonetts von Sir Philipp Sidney : Probleme des künstlerischen Schaffensprozesses und die Kritik an zeitgenössischen Dichtungspraktiken; jedoch beziehen sich sowohl Schaffensprozess als auch Dichtungspraktiken auf den Bereich der Liebeslyrik. Insofern bleibt zumindest in dieser Hinsicht die traditionelle Sonettthematik beibehalten.160 Ganz anders ist dies im zunächst zu untersuchenden Sonett Joachim Du Bellays. Die nichtsdestoweniger mehr oder minder ›unpetrarkistische‹ Funktion von Sidneys Sonett spiegelt sich auch in der hier entfalteten Poetologie wider. Denn Sidneys lyrisches Ich erhebt im Sonett Anspruch auf Authentizität und damit zugleich auf einen ›echten‹ Gefühlsausdruck und erklärt diese sogar zum Maßstab der Dichtung. Dies ist ein Maßstab, an dem auch Petrarca jahrhundertelang gemessen wurde, und zwar nicht zu seinem Vorteil. Besonders, aber nicht nur im 16. Jahrhundert herrscht Konsens darüber, »that Petrarch was not honest with his readers […]« (Clements: 1941, 16). Diese Überzeugung entwickelt sich in der Frühen Neuzeit zu einem der Hauptvorwürfe gegen die petrarkistische Dichtung: »So strong did the charge of insincerity and untruth in Petrarch become that the Petrarchistic sonnet itself became questionable as a form of addressing one’s love.« (Clements: 1941, 19) Es sieht demnach ganz so aus, als entwickle sich die antipetrarkistische Kritik gerade aus Einsicht in die Nicht-Authentizität der in petrarkistischer Tradition vorgeführten Gefühlswelten. Faktisch argumentieren die Kritiker Petrarcas von der impliziten Position aus, dass ein sprachliches Artefakt wie ein Sonett in erster Linie ein sprachliches Artefakt und eben kein authentischer Ausdruck von Gefühlen ist. Es müsste bei der Entwicklung der antipetrarkistischen Kritik daher genauer untersucht werden, wie sich die These herausgebildet hat, Petrarca habe den Anspruch erhoben, von authentischen Gefühlen zu schreiben, eine Auffassung von Petrarca, die dann im folgenden Prätext für die Petrarca-Demontage wurde. In jedem Fall scheint dem Antipetrarkismus ein Missverständnis – oder eine Fehlinterpretation – dieser Art zugrunde zu liegen, denn nur so ist zu erklären, dass einem Sprachkünstler wie Francesco Petrarca der Vorwurf gemacht werden konnte, in seinen Sonetten nicht authentisch zu sein. Die Kritik läuft damit auf zwei Thesen hinaus: Erstens wird Petrarca unterstellt, dass er authentisch habe sein wollen, ihm dies aber nicht gelungen sei, da es eben keine authentische Dichtung geben könne und man nun eingedenk der artifiziellen Qualität des Sprachkunstwerkes produzieren müsse. Die zweite Position geht aber tatsäch160 Nicht zufällig wurde ein Sonett von Sir Philipp Sidney gewählt, hat der Autor doch mit The Defence of Poesie (1595) in England einen entscheidenden Einfluss auf die Tradition poetologischer Reflexionen ausgeübt.

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lich von der naiven Annahme aus, dass es eine authentische Vorführung der Gefühle geben könne, dies Petrarca und seinen Nachfolgern aufgrund der stereotyp eingesetzten poetischen Bildwelten jedoch nicht gelungen sei und man nun in Überwindung dieses irreführenden Paradigmas neue Bildlichkeiten benötige, um authentische Inszenierungen von Gefühlen zu erzeugen. Insofern reihen sich die nachfolgend analysierten Sonette in die Traditionslinie des Antipetrarkismus ein. Die konventionelle Dichtung der Petrarca-Jünger wird scheinbar zugunsten eines individuellen Gefühls-ausdrucks abgelehnt. Jedoch weisen auch diese beiden Sonette das Paradox von rhetorischer Stilisierung und proklamierter Herzensnähe auf. Außerdem ist »[…] dieses Insistieren auf der unkonventionellen Authentizität des Ausdrucks […] selbst schon konventionell«(Hühn: 1995, I, 60). Ungeachtet ihres bewusst prosaischen Stils können selbst diese Sonette ihren artifiziellen Charakter nicht ablegen: »Am Schluß muß Klarheit und Natürlichkeit die mühsam erstellte Konstruktion des ›Gemachten‹ verdecken […].« (Ley : 1975, 66) Alle Sonette, die sich mit den poetischen Schöpfungen ihres jeweiligen Dichters befassen, bezeugen die Abwendung von der ursprünglichen Beschränkung dieser Gedichtform auf die Liebesthematik. Nehmen in anderen Fällen die patria oder die natura die Rolle der Geliebten ein bzw. werden sie in Beziehung zu ihr gesetzt, so ermöglichen die poetologisch autoreferentiellen Sonette eine solche Identifizierung nicht. Die Abkehr von der ursprünglichen Liebesthematik in poetologischen Sonetten ist im 16. und 17. Jahrhundert in Frankreich und Spanien dabei wesentlich stärker als in Deutschland und England, wobei wir in England auf die Besonderheit stoßen, dass dichtungstheoretische Betrachtungen im Sonett fast ausschließlich im Kontext der Liebesdichtung erscheinen. Auch Shakespeare thematisiert in seinen Sonnets (1609) Fragen zur Dichtkunst.161 Doch betrachten wir nun ein erstes poetologisches Sonett aus der Sammlung Les Regrets (1558) von Joachim Du Bellay näher : Je ne veulx point fouiller au seing de la nature, Je ne veulx point chercher l’esprit de l’univers, Je ne veulx point sonder les abysmes couvers, Ny desseigner du ciel la belle architecture. Je ne peins mes tableaux de si riche peinture, Et si hauts argumens ne recherche — mes vers, Mais suivant de ce lieu les accidents divers Soit de bien, soit de mal, j’escris — l’adventure.

161 Da die Belegstellen nahezu unerschöpflich sind, sei stellvertretend nur auf Sonnets 76 und 86 (Shakespeare: 1997, 1948 und 1952) hingewiesen. Ein ausführlicher Kommentar zu diesen beiden Sonetten in Vendler :1999, 344 ff. und 377 ff.

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Je me plains — mes vers, si j’ay quelque regret, Je me ris avec eulx, je leur dy mon secret, Comme estans de mon cœur les plus seurs secretaires. Aussi ne veulx-je tant les pigner & friser, Et de plus braves noms ne les veulx deguiser, Que de papiers journaulx, ou bien de commentaires. (Du Bellay : 1966, 54)

Das vorliegende Sonett gehört zu einer Gruppe von fünf Einleitungssonetten in den Regrets, in denen sich das lyrische Dichter-Ich mit seiner Dichtung auseinandersetzt, aber auch in vielen anderen Sonetten dieser Sammlung geht es um poetologische Aspekte. Hinsichtlich des Reimschemas und Metrums ist das Sonett insofern unauffällig, als es dem Typ des sonnet r¦gulier entspricht. Im Gegensatz zu dieser Traditionsverbundenheit besitzt das Sonett neben seiner neuartigen Thematik auch eine Besonderheit im Aufbau, nämlich die Abweichung von der traditionellen Aufteilung des Sonetts in zwei Quartette und zwei Terzette. Statt der üblichen dualen Struktur weist das vorliegende Sonett eine untypische Dreiteilung auf. Daher ist Vignes’ Zuordnung dieses Sonetts zum »Type A : mouvement antith¦tique« (Vignes: 1994, 91) bzw. genauer der Untergruppe A6, die einen Einschnitt zwischen dem sechsten und siebten Vers aufweist, nicht zuzustimmen. Der Übergang dieser beiden Verse beinhaltet zwar einen deutlichen Einschnitt in Form eines Kontrasts, aber eben nur einen. Vignes berücksichtigt nicht den zweiten Einschnitt zwischen dem elften und zwölften Vers, der dem Sonett eine dreigliedrige Struktur verleiht. Diese besteht jedoch nicht auf der syntaktischen Ebene, da jedes Quartett und auch jedes Terzett eine syntaktische Einheit bilden. Du Bellay erzielt die ternäre Aufteilung des Sonetts vielmehr dadurch, dass sowohl die ersten sechs als auch die letzten drei Verse jeweils Negationen enthalten, wohingegen die von ihnen umschlossenen Verse einen positiven Charakter besitzen. Auf diese Weise kontrastiert dieser zweite mit dem ersten und dritten Teil. Der Wechsel von der Negation zur Affirmation erfolgt durch einen markanten Einschnitt (»mais«) im siebten Vers, also untypischerweise inmitten des zweiten Quartetts. Innerhalb der Dreiteilung herrscht keine harmonische Ausgewogenheit zwischen Affirmation und Negation, sondern die Verse negativen Inhalts überwiegen stark: Insgesamt beinhalten neun Verse negierende Formulierungen. Insofern bestärkt dieses Sonett Rigolots Beurteilung der Dichtung Du Bellays als eine vorwiegende »po¦sie du refus« (Rigolot: 1974, 489). Die Anaphern in den ersten drei Versen und dem fünften Vers erfüllen dabei die Aufgabe, die Poetologie des lyrischen Ich ex negativo zu bestimmen. Das dominierende Strukturmerkmal des Sonetts ist die Anapher, die als »figure de rh¦torique aux r¦p¦titions rythm¦es, musicales« (Tucker : 2000, 52)

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die Klangqualität der Verse erheblich verstärkt. Jedoch handelt es sich um keine Steigerung, sondern um eine Aneinanderreihung gleichwertiger anaphorischer Aussagen. Charakteristischerweise erscheint das Personalpronomen der ersten Person Singular je mittels dieser rhetorischen Stilfigur in sechs Versen in der exponierten Initialposition. Insgesamt setzt Du Bellay dieses Pronomen zehnmal ein. Im Unterschied hierzu erscheint an keiner Stelle ein solches der zweiten Person Singular. Dies ist ein eindeutiger Beleg für das Auslöschen eines Gegenübers im Sonett. Statt einer dialogischen schafft der Dichter, wie bereits als Besonderheit der meisten poetologischen Sonette angekündigt, eine monologische Kommunikationssituation. Die anaphorische Grundstruktur tritt bereits im ersten Quartett auf markante Weise hervor : Drei von vier Versen beginnen mit der verneinenden Formel »Je ne veulx point […]« (vv. 1 – 3), die vom entschiedenen Willen des lyrischen Ich zeugt. Dass es sich dabei um eine verstärkte Verneinung handelt, verleiht den jeweiligen Aussagen zusätzlichen Nachdruck. Das Sonett entwirft zunächst keine positive Poetologie, sondern definiert die Dichtungsprinzipien des lyrischen Ich ex negativo. Die Negation erweist sich daher als eine Art von Affirmation: »Le refus du style est moins ›signifiant‹ que le style du refus. C’est l’insistance sur la n¦gation qui frappe plus que l’objet de cette n¦gation […].« (Rigolot: 1974, 500) Die negativen Formulierungen in der ersten Person Singular zeugen dabei jedoch nicht von Du Bellays Originalität, sondern vielmehr von seiner Beherrschung der Imitation antiker Vorbilder.162 Der Eingangsvers des vorliegenden Sonetts formuliert die Ablehnung einer bloßen Naturnachahmung. Damit erteilt das lyrische Ich einem der wichtigsten und folgenreichsten Prinzipien der Renaissance- und Barockpoetik eine deutliche Absage, denn imitatio meint in dieser Zeit nicht nur die Nachahmung literarischer Vorbilder, sondern – im Sinne der aristotelischen mimesis – auch eine solche der Natur : »l’imitation de la Nature […] et l’imitation des autres auteurs.« (Castor : 1998, 97) Neben der Möglichkeit, den ersten Vers im Sinne einer solch generellen Aussage zu interpretieren, besteht auch diejenige, ihn als konkrete Ablehnung der zeitgleich mit den Regrets publizierten wissenschaftlichen Hymnes Ronsards aufzufassen.163 Eine solche Identifikation vorausgesetzt, könnte sich die folgende Ablehnung auf Ronsards philosophische und kosmologische Lyrik beziehen: »Je ne veulx point chercher l’esprit de l’univers« (v. 2). In einer allgemeineren Interpretation richtet sich der Vers gegen jede Form einer solchen, in der Tradition des Neo-platonismus stehenden Dichtung, die »[…] avait pour fonction de communiquer aux mortels le secret de l’univers, le 162 Vgl. hierzu Debailly : 1994, 214 f. 163 Vgl. hierzu Vianey :1930, 68: »Le sonnet I fait allusion aux Hymnes de la Philosophie, du Ciel, des Astres, publi¦s par Ronsard dans la deuxiÀme moiti¦ de 1555.«

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message divin […]« (Wierenga: 1973, 146). Auch der nachfolgende Vers behält dieselbe Stoßrichtung bei: »Je ne veulx point sonder les abysmes couvers« (v. 3). Dieser Vers verabschiedet sich von jeder Form der gelehrten Dichtung, das lyrische Ich lehnt hier explizit jede hermetische Bildungsdichtung ab. Der Abschlussvers des ersten Quartetts gibt das verneinende Schema der drei ersten Verse nicht vollkommen auf, sondern variiert es. Statt erneut die Formel »Je ne veulx point […]« (vv. 1 – 3) zu wiederholen, verwendet Du Bellay das weniger stark betonte ny am Anfang des Verses: »Ny desseigner de ciel la belle architecture« (v. 4). Im Unterschied zu den ersten drei Versen des Quartetts, die unabhängige syntaktische Einheiten bilden, erzielt Du Bellay an dieser Stelle eine grammatikalische Abhängigkeit vom dritten Vers. Auf diese Weise verknüpft der Dichter »abysmes couvers« (v. 3) und »du ciel la belle architecture« (v. 4) miteinander. Diese Verbindung verstärkt den inhaltlichen Kontrast zwischen Tiefe und Höhe sowie denjenigen zwischen Gefahr und harmloser Schönheit, so dass beide umso deutlicher hervortreten. Die Inversion verleiht dem Begriff ciel eine starke Betonung. Das Verb desseigner (v. 4) dient dabei als Vorverweis auf die im fünften Vers unterstellte Analogie zwischen Dichtung und Malerei. Es nutzt die horazisch inspirierte ut-pictura-poesis-Metapher, die sich im 16. und 17. Jahrhundert besonderer Beliebtheit erfreut.164 Auf diese Weise erfolgt eine Art Verklammerung der beiden Quartette, die ein Gegengewicht zur starken Zäsur am Ende des ersten Quartetts darstellt. Auch hinsichtlich der Poetologie ergänzen sich beide Quartette, und zwar insofern, als das erste in negativer Form den Gegenstand der eigenen Dichtung als »rejection of conventional themes« (Katz: 1985, 96), das zweite hingegen deren Stil als »rejection of conventional stylistic devices« (Katz: 1985, 96) definiert. Das zweite Quartett setzt die im vierten Vers unterstellte Analogie zwischen Dichtung und Malerei fort. Diese erfreut sich zur Zeit Du Bellays großer Beliebtheit: »L’analogie du peintre et du poÀte, on le sait, est banale au XVIe siÀcle […].« (Du Bellay : 1966, 26) Gestiftet wird diese Analogie hier durch ein der Malerei entlehntes Vokabular : peins, tableaux und peinture (v. 5). Als Gegengewicht zur metaphorischen Übereinstimmung beider Quartette unterscheidet sich der fünfte Vers durch eine erneute Variation des negierenden Schemas von den ersten drei Versen des Sonetts. Statt der verstärkten erscheint hier eine auf ein Minimum reduzierte Form der Verneinung: »Je ne peins mes tableaux de si riche peinture« (v. 5). Im Gegenzug hierzu erzielt Du Bellay durch das Wörtchen si eine Verstärkung. In diesem Vers formuliert der Schreiber seine Ablehnung jeder Art von mimetischer Dichtung. Er verweist daher auf den Eingangsvers, in

164 Vgl. hierzu Russell: 1972, 98 und Legrand: 1990, 325 ff.

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dem ja bereits eine bloße Naturnachahmung kategorisch zurückgewiesen wird.165 Die Betonung durch si behält auch der Folgevers bei. Hier erteilt das lyrische Ich der ›hohen‹ Dichtung erneut eine deutliche Absage: »Et si hauts argumens ne recherche — mes vers«166 (v. 6). Seine wichtige Bedeutung in der Gesamtstruktur des Sonetts erlangt dieser Vers dadurch, dass hier erstmals der Begriff vers als Synekdoche bzw. pars pro toto explizit die Dichtung benennt. Konnten bisher noch Zweifel daran bestehen, worauf sich der (negative) Wille des Schreibers bezieht, so gibt sich das Gedicht an dieser Stelle eindeutig als poetologisches Sonett zu erkennen. Das lyrische Ich wendet sich in diesem sechsten Vers gegen eine ›hohe‹ Dichtung, die nur den traditionellen, der Dichtung für würdig empfundenen Themen gewidmet ist, nicht dichtungswürdige, prosaische Stoffe dagegen von vornherein ausschließt. Somit wird der Forderung nach Dignität des poetischen Gegenstandes eine unmissverständliche Absage erteilt. Der folgende Vers enthält, wie bereits erwähnt, den ersten markanten Einschnitt des Sonetts, beinhaltet er doch die erste Affirmation: »Mais suivant de ce lieu les accidents divers« (v. 7). Diese Zäsur hebt Du Bellay umso deutlicher hervor, als er sie mit der Konjunktion mais explizit und vor allem in der exponierten Initialposition des Verses benennt. Dieser sonettuntypische Einschnitt unterminiert die klassische, statische Form des Sonetts. Dieser Verstoß gegen die formale Tradition entspricht auf der inhaltlichen Ebene der proklamierten Distanzierung von den üblichen Dichtungspraktiken. Das lyrische Ich nimmt ja die Pose einer »independence from predecessors« (Shapiro: 2002, 202) ein. Der Übergang von der Negation zur Affirmation geht mit einem Wechsel der Stilhöhe einher. Hat Du Bellay bisher den hohen lyrischen Stil der traditionellen Lyrik parodistisch nachgeahmt (»l’esprit de l’univers«, v. 2; »abysmes couvers«, v. 3 und »du ciel la belle architecture«, v. 4), so nähert er seine dichterische Ausdrucksweise nun dem niederen Stil an:167 »accidents divers« (v. 7), »secretaires« (v.11) und »pigner & friser« (v. 12) entstammen alle der Alltagssprache. Auf diese Weise realisiert das Sonett selbst die in ihm formulierte Absicht des Schreibers und stellt so einen ersten Repräsentanten der neuartigen Poetologie dar. Bisher wurde die neue Art des Schreibens ausschließlich ex negativo umrissen, nun folgen positive Definitionen: Die Poesie des lyrischen Ich wird zunächst nicht durch eine göttliche Inspiration eingegeben, sondern erweist sich als Kasuallyrik (v. 7). An dieser Stelle formuliert Du Bellay eine Poetik der Spon165 Vgl. hierzu auch Regrets 21, v. 9: »Vous autres ce pendant peintres de la nature« (Du Bellay : 1966, 86). 166 Mit dem Begriff argumens sind nicht Beweisgründe, sondern die Themen der Dichtung gemeint. 167 Vgl. hierzu Gray : 1993, 59.

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taneität und Unmittelbarkeit des Erlebens. Gedichtet wird scheinbar ohne vorheriges Konzept, nämlich so wie es der jeweilige Anlass verlangt: »Soit de bien, soit de mal, j’escris — l’adventure (v. 8). Dies bedeutet nichts anderes als »den Wandel von der Idealpoesie zur wirklichkeitsnahen Dichtung, […] das Ende der platonischen Furortheorie und das Ende des hohen Stils« (Ley : 1975, 54). Zugleich macht Du Bellay hier auch eine wesentliche Aussage über die dichterische Sprache, zweifelt er doch nicht ihre Fähigkeit an, Erlebnisse wirklichkeitsgetreu übermitteln zu können. Der siebte Vers enthält eine Inversion der normalen Syntax, zumal der Dichter die Ortsbestimmung (»de ce lieu«, v. 7) verfrüht nennt. Eine textimmanente Interpretation erlaubt lediglich die Identifizierung dieses Ortes mit dem fiktiven Raum des Sonetts, eine biographische Lektüre legt jedoch eine solche Identifizierung mit Rom nahe. Dies spielt für die Analyse jedoch keine Rolle. Große Bedeutung haben an dieser Stelle – wie so oft – demgegenüber Du Bellays Reimwörter :168 Die lautliche Äquivalenz von peinture (v. 5) und l’adventure (v. 8) charakterisiert die Dichtung näher. Sie weist einerseits auf die Analogie zwischen Dichtung und Malerei und andererseits auf die spezielle dichterische Vorgehensweise des Schreibers hin. Das Reimpaar vers (v. 6) und divers (v. 7) betont ergänzend hierzu den angekündigten Abwechslungsreichtum der zu produzierenden Gedichte. An den Endreimen lässt sich die innovative Poetologie des lyrischen Ich ablesen: Seine Dichtung (»vers«, v. 6) zeichnet sich durch Vielfältigkeit aus (»divers«, v. 7), in ihrer Struktur (»architecture«, v. 4) weist sie Ähnlichkeiten zur Malerei (»peinture«, v. 5) auf, es handelt sich zum Teil um elegische Dichtung (»regret«, v. 9), die vorgibt, die intimsten Gefühle ihres Verfassers zu enthalten (»secret«, v. 10 und »secretaires«, v. 11) und deshalb eine typologische Nähe zu Tagebüchern und Kommentaren (»papiers journaulx« und »commentaires«, v. 14) besitzt. Die beiden Abschlußverse des zweiten Quartetts bindet Du Bellay durch das einzige Enjambement des Sonetts eng aneinander. Diese formale Verknüpfung findet darin eine inhaltliche Entsprechung, dass der achte Vers die zuvor benannten »accidents divers« (v. 7) näher charakterisiert: »Soit de bien, soit de mal, j’escris — l’adventure« (v. 8). Mit der Kategorie der adventure beerbt Du Bellay eine poetologische Tradition, die auch die Verfertigung eines Sprachkunstwerkes nach dem Prinzip des Zufalls in Rechnung stellt. So wie auch immer das Leben spielt, gibt es Anlass, ein Sonett zu schreiben, und dieses Sonett entsteht im Wechselverhältnis von geplanter Strukturiertheit (architecture) und dem Zufallsprinzip, das sich in der adventure manifestiert. Diese Dichtung ist nicht nur positiven Ereignissen vorbehalten, sondern thematisiert ebenso traurige. 168 Vgl. hierzu Fontaine: 1990.

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Das erste Terzett nimmt die anaphorische Struktur der drei ersten Verse des Sonetts erneut auf, dieses Mal folgt auf das Pronomen der ersten Person Singular statt einer Negation jedoch eine Affirmation: »Je me plains — mes vers, si j’ay quelque regret« (v. 9). Dem letzten Wort des Verses kommt insofern besondere Bedeutung zu, als es auf den Titel der Sammlung, dem das Sonett entnommen ist, verweist (Les Regrets). Trotz der Autonomie des Sonetts stellt der Dichter auf diese Weise einen Zusammenhang zwischen dem Ganzen und einem Teil her. Der zehnte Vers ist durch die parallelistische Anapher Je me mit diesem Vers verbunden. Diese lautliche Entsprechung dient dabei dazu, einen Kontrast hervorzuheben: Der Klage (»plains«, v. 9) steht das Lachen bzw. Auslachen (»me ris«, v. 10) gegenüber. Damit benennt Du Bellay zwei konträre Schreibarten, die auch in den Regrets vertreten sind, nämlich die elegische und die satirische. Dabei ordnet er der klagenden Dichtung dadurch größere Bedeutung zu, dass er ihr zwei Halbverse widmet, wohingegen die satirische lediglich einen einnimmt. Neben der gemeinsamen Klage und dem Spott gibt das lyrische Ich vor, seinen Versen auch geheimste Dinge anzuvertrauen: »je leur dy mon secret« (v. 10). Der letzte Vers des ersten Terzetts dient als syntaktische Ergänzung des zehnten Verses: »Comme estans de mon cœur les plus seurs secretaires« (v. 11). Durch die Inversion in diesem Vers erhält secretaires eine starke Betonung. Bei diesem Begriff handelt es sich um einen in der Liebeslyrik beliebten Topos: »Le langage de Du Bellay ¦voque celui des lyriques amoureux, qui faisaient de leurs vers le secr¦taire (confident) de leurs passions.« (Du Bellay : 1966, 55)169 Du Bellay verwendet diesen Begriff bezeichnenderweise nicht im herkömmlichen Kontext der amourösen Dichtung, sondern in seinem poetologischen Sonett, dem dadurch ein parodistischer Zug anhaftet. Darüber hinaus kommt dem Begriff secretaires im Falle Du Bellays auch biographische Bedeutung zu.170 Dichtung und lebensweltliche Wirklichkeit interagieren hier insofern, als das spannungsvolle Verhältnis von beruflichen Pflichten und dichterischer Tätigkeit ein häufig wiederkehrendes Motiv innerhalb der Regrets ist: »the conflict between the activities of secretary and poet becomes a leitmotiv.« (Bizer : 1999, 163) Es findet eine Art Rollenübertragung statt: Die Aufgaben des Sekretärs Joachim Du Bellay werden im vorliegenden Sonett auf die Verse des lyrischen Ich projiziert. Die Bedeutung dieser Übertragung erfährt durch die Alliteration seurs secretaires (v. 11) zusätzlich eine klangliche Hervorhebung. Diese findet auf der grammatikalischen Ebene in einem Superlativ (»les plus seurs«, v. 11) ihre 169 Auf traditionelle Weise setzt beispielsweise Pierre de Ronsard das Motiv in Le Premier Livre des Amours, Sonnet CLXV, vv. 1 ff. ein: »Sainte Gastine, ú douce secretaire/ De mes ennuis, qui respons en ton bois,/ Ores en haute ores en basse voix,/ Aux longs souspirs que mon cœur ne peut taire.« (Ronsard: 1993, I, 111) 170 Der Dichter war als Sekretär seines Onkels, des Kardinals und Gesandten von Henri II, Jean Du Bellay (1493 – 1560), mehrere Jahre in Rom tätig. Vgl. hierzu Tucker: 2000, S. 28 ff.

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Entsprechung. Ebenso wie »mon secret« (v. 10) hat auch »mon cœur« (v. 11) die Aufgabe, die enge Verbindung zwischen dem Dichter-Ich und seiner lyrischen Produktion, die ja durch einen echten Gefühlsausdruck charakterisiert sein soll, deutlich zu machen. Dennoch bleibt auch hier die imitatio das dominierende Prinzip. Du Bellays rhetorische Schulung tritt an dieser Stelle dadurch hervor, dass er den intendierten Eindruck von unmittelbarer Lebensnähe und Aufrichtigkeit nicht durch ein individuell entworfenes, sondern ein altbekanntes Motiv, nämlich den »Topos von der Dichtung als Trösterin und als Mittel unverstellter Konfession […]« (Ley : 1975, 223), erzeugt. Dass selbst Gedichte, die den Anschein von Natürlichkeit und Simplizität besitzen, Produkte einer bewussten Anstrengung ihres jeweiligen Verfassers sind, darauf macht Du Bellay in Regrets 142, v. 12 selbst aufmerksam: »L’artifice cach¦ c’est le vray artifice« (Du Bellay : 1966, 217)171. Die Konjunktion aussi leitet den dritten Teil des Sonetts ein. Das letzte Terzett variiert das anaphorisch negierende Schema der ersten drei Verse zu: »Aussi ne veulx-je tant les pigner & friser« (v. 12). Ein Unterschied zu jenen drei ersten Negationen besteht nicht nur in der Inversion, sondern auch darin, dass der Vers nicht wie bisher nur ein negiertes Verb enthält, sondern zwei: »pigner & friser« (v. 12). Die Einheit bleibt jedoch insofern gewahrt, als beide Verben demselben Wortfeld entstammen. Auffallend ist erneut der Gebrauch einer dem Alltag bzw. in diesem Fall sogar dem Handwerk entlehnten Sprache.172 Die beiden Verben, die ursprünglich dem Vokabular eines Friseurs angehören, verwendet Du Bellay hier in einer metaphorischen Bedeutung. Diese bezieht sich auf die Absicht des Schreibers, seine Verse nicht unnötig zu schmücken, sondern auf das Wesentliche zu beschränken. Der Primat soll nicht einer schönen Form, sondern der Authentizität des Inhalts zukommen. Diese Absicht spiegelt sich auch in der nüchternen Erscheinungsform des Sonetts, nämlich seiner »syntaxe sans ornement« (Gray : 1993, 61) und seinem »style ›naf‹, naturel, — l’allure prosaque« (Wierenga: 1973, 148) wider. Der prosaische Charakter von »pigner & friser« (v. 12) steht dabei in deutlichem Kontrast zur höheren Stilebene der vorangehenden Verse. Durch die Inversion erfährt der entschlossene Wille des Schreibers (veulx-je) eine starke Betonung. Der zwölfte Vers ist mehrfach mit den beiden auf ihn folgenden verbunden. Mit dem dreizehnten Vers ist er durch eine Art chiastischer Anordnung – einem »chiasme phon¦tique« (Legrand: 1988, 161) – von veulx verschränkt, das dort am Anfang und hier am Ende des Verses erscheint. In diesem vorletzten Vers formuliert der Schreiber seine Weigerung, die eigene Dichtung 171 Du Bellay rekurriert hier auf Erasmus’ Ars est celare artem. 172 Vgl. Du Bellays Äußerungen in der Deffence zur Verwendung fachsprachlichen Vokabulars in der Dichtung. In Du Bellay : 2001, 145 f. und 166 f.

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durch Namen anerkannter Persönlichkeiten künstlich aufzuwerten: »Et de plus braves noms ne les veulx deguiser« (v. 13). Die primäre Bedeutung dieses Verses besteht jedoch weniger in seiner inhaltlichen Aussage als vielmehr in jener Funktion, den Spannungsbogen, der im zwölften Vers einsetzt, bis zum Abschlussvers zu dehnen. Der zwölfte Vers ist mit dem vierzehnten nämlich auf der grammatikalischen Ebene verknüpft, da tant (v. 12) nach der Ergänzung que verlangt. Diese wird aber eben erst nach dem syntaktisch unabhängigen Einschub (v. 13) im letzten Vers des Sonetts nachgereicht. Im Abschlußvers erscheinen nun die Vergleichsobjekte, denen die eigene Dichtung angenähert werden soll: »Que de papiers journaulx, ou bien de commentaires« (v. 14).173 Dieses Urteil berücksichtigt jedoch nicht die Formulierung tant […] que (vv. 12 – 14), denn Du Bellays Konstruktion räumt ein, dass selbst papiers journaulx und commentaires – wenn auch in nur geringem Maße – dem Akt des pigner & friser (v. 12) unterzogen worden sind. Der proklamierte Unterschied zu der als »po¦sie » menteuse »« (Du Bellay : 1966, 55) abqualifizierten traditionellen Dichtung ist daher kein prinzipieller, sondern vielmehr ein gradueller. Daraus folgt für die Dichtung des lyrischen Ich, dass sie trotz der intendierten Lebensnähe einen künstlichen Charakter nicht vollkommen ablegen kann. Spätestens an dieser Stelle wird deutlich, dass auch die proklamierte Aufrichtigkeit und Natürlichkeit der eigenen Dichtung eine Form von Künstlichkeit darstellen. Vor allem belegen sie Du Bellays Beherrschung seines poetischen ›Handwerks‹: »this sturdy refusal to be artificial or erudite, this claim to be speaking from the heart alone, functions as a literary device just as does the frilliest pointe.« (Lapp: 1964, 110) Des Weiteren enthält der Vergleich mit papiers journaulx und commentaires grundlegende Aussagen über das Dichtungsverständnis des lyrischen Ich. »[Il] se prive du rúle de cr¦ateur, de ›nominateur‹ de choses et adopte le statut secondaire de ›commentateur‹ […].« (Gray : 1993, 61) Zum anderen weisen sowohl papiers journaulx als auch commentaires einen prosanahen Duktus auf. Der Vergleich erklärt diesen implizit zum erwünschten Charakteristikum der eigenen Dichtung.174 Zugleich legt das lyrische Ich hier die Themen seiner Poesie auf Alltäglichkeiten fest, eben auf das, was den Inhalt von papiers journaulx und commentaires bildet: »Des choses faciles, apparemment, et celles qu’on raconte chaque soir, retir¦ seul aprÀs l’ennui des foules, aprÀs le spectacle du jour […].« (Saulnier : 1951, 87 f.) 173 Dieser Vergleich stellt Du Bellay in die Tradition der satirischen Dichtung von Horaz. Vgl. hierzu Panici (1990), S. 113: »The casualness with which he says he writes and the function he assigns to his poetry as a diary or commentary are clear allusions to Horace (citing Lucilius) in his Satires […].« 174 Vgl. hierzu Regrets 2, v. 9 f.: »Aussi veulx-je (Paschal) que ce que je compose/ Soit une prose en ryme, ou une ryme en prose.« (Du Bellay : 1966, 56)

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Die Poetologie des Schreibers erhebt damit zuletzt nicht nur keinen Anspruch auf Idealität, sondern lehnt diese explizit ab. Statt Idealität gesteht Du Bellay in seinem Sonett dem Realismus einen Platz in der Dichtung zu. Dabei dürfte der »Realismusanspruch […] das Ziel verfolgt haben, sich von poetischen Stereotypen zu lösen, um den Blick wieder auf die tatsächlich erlebbare und erlebte Wirklichkeit zu richten« (Krüger : 2004, 25). Betrachten wir nun das bereits angkündigte poetologische Sonett von Sir Philipp Sidney näher : Loving in truth, and faine in verse my love to show, That the deare She might take some pleasure of my paine: Pleasure might cause her reade, reading might make her know, Knowledge might pitie winne, and pitie grace obtaine, I sought fit words to paint the blackest face of woe, Studying inventions fine, her wits to entertaine: Oft turning others’ leaves, to see if thence would flow Some fresh and fruitfull showers upon my sunne-burn’d braine. But words came halting forth, wanting Invention’s stay, Invention, Nature’s child, fled step-dame Studie’s blowes, And others’ feete still seem’d but strangers in my way. Thus great with child to speake and helplesse in my throwes, Biting my trewand pen, beating my selfe for spite, ›Foole,‹ said my Muse to me, ›looke in thy heart and write.‹ (Sidney : 1962, 165)

Das vorliegende Sonett eröffnet Sidneys Zyklus Astrophil and Stella (1591)175 und somit den ersten englischen Zyklus nach dem Vorbild des Canzoniere. Nichtsdestoweniger ist auch dieses Sonett dem poetologischen Diskurs zuzuordnen. Im Gegensatz zu Regrets 1 ist Sidneys Sonett aber auch der Liebesthematik verpflichtet, es erfüllt die Doppelfunktion »of praising Stella as the ground of all poetical invention and of providing a brief essay on the proper method of writing poetry« (Sidney : 1962, 458). Formal weicht das Sonett, wie so oft im Falle Sidneys, vom englischen Standardtyp ab, und zwar in zweierlei Hinsicht: im Reimschema und Metrum. Statt der im 16. Jahrhundert in England dominierenden Reimfolge des Shakespearean Sonnet (abab cdcd efef gg) verwendet Sidney eine von ihm eigens geschaffene: abab abab cdc dee.176 Der identische Kreuzreim in den beiden Quartetten erinnert dabei an das italienische Modell, die Binnenstruktur – drei Quartette und ein concluding couplet – hingegen an den englischen Typ. Somit erweist sich Sidneys Variante als eine Art Kombination zweier nationaler Erscheinungsfor175 Ich ziehe die Schreibweise Astrophil der ebenfalls geläufigen Variante Astrophel vor, da so der etymologische Ursprung des Namens erkennbar ist. 176 Der Großteil der Sonette dieses Zyklus besitzt das Reimschema abba abba cdc dee.

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men des Sonetts. Im Sextett wählt der Dichter nicht die syntaktische Struktur, die sein Reimschema vorgibt, nämlich die Aufteilung in Quartett und couplet, sondern in zwei Terzette. Auf diese Weise könnte Sidney den Kampf des lyrischen Ich, sein Ringen um einen adäquaten Ausdruck seiner Liebesgefühle poetisch abbilden. Hinsichtlich des Metrums dient Sidney die Pl¦iade als Vorbild. Der Dichter verwendet nämlich nicht den iambic pentameter, sondern den Alexandriner.177 Zu Recht wird dies als ein Novum gewertet: »Sidney opens the sequence with a metrical innovation (in English) […].« (Sidney : 2002, 357) Hinsichtlich des Reimschemas und Versmaßes erweist sich somit schon dieses Sonett als Auffangbecken verschiedener Einflüsse. Dies vermittelt einen kleinen Eindruck davon, wie schwer die Frage nach der Beeinflussung für den gesamten Zyklus zu klären ist. In jedem Fall demonstriert Sidney durch die Abweichung sowohl vom italienischen und französischen als auch vom englischen Typ des Sonetts die Einzigartigkeit seines Zyklus, die sich gerade durch eine variierende Nachahmung ergibt. Dies ist auch für die Analyse des vorliegenden Sonetts von Bedeutung. Die zentrale Thematik des Sonetts ist die Suche des lyrischen Ich nach einer adäquaten poetischen Darstellung seiner Liebesempfindungen. Dies macht schon der Beginn deutlich: »Loving in truth, and faine in verse my love to show« (v. 1). Den Zusammenhang von Gefühl und Dichtung manifestiert Sidney auch in der Architektur, indem er sein Sonett mit loving (v. 1) beginnt und mit write (v. 14) beendet. Als erstes und letztes Wort kommt beiden eine starke Betonung zu, beide bilden auf diese Weise nicht nur den inhaltlichen, sondern auch den architektonischen Rahmen des Sonetts. Bereits der erste Vers zeugt von Sidneys rhetorischer Schulung und Vorliebe für rhetorische Stilmittel. Er nutzt hier in einem pun die Möglichkeit der englischen Sprache zur Mehrdeutigkeit. Die Konstruktion faine in ähnelt in lautlicher Hinsicht nämlich stark dem Gerundium feigning. Auf diese Weise spielt der Dichter auf die Hauptvorwürfe gegen den Petrarkismus, nämlich mangelnde Lebensnähe und Echtheit des Gefühls, an.178 Den Gedanken eines Vortäuschens von Emotionen, die nicht authentisch sind, benennt im Folgenden auch das Verb to show. Es geht hier nicht um einen verinnerlichten Gefühlsausdruck, sondern eine öffentliche Darstellung. 177 Insgesamt weisen sechs Sonette in Astrophil and Stella dieses Metrum auf. Über hundert Sonette des Zyklus verfaßt Sidney im englischen Traditionsmetrum der Gattung, dem iambic pentameter. 178 Diesen Vorwurf äußert er an anderer Stelle explizit: »But truly many of such writings [scil. songs and sonnets; B.N.], as come under the banner of unresistable love, if I were a mistresse, would never perswade mee they were in love: so coldly they applie firie speeches […], and so caught up certaine swelling Phrases […].« (Sidney : 1950, 46)

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Als besonders feinsinnig erweist sich Sidneys Wortwahl an dieser Stelle dadurch, dass schon das Wort faine eine Ambiguität aufweist, meint es doch sowohl ›desirous‹ als auch ›obliged‹. Die zweite Bedeutung entspricht dabei der Lage des Liebenden im Petrarkismus, der seinen Zustand ja nicht freiwillig wählt, sondern seinen Liebesgefühlen hilflos ausgeliefert ist. Durch die untypische Zäsur in diesem ersten Vers nach der vierten Silbe kontrastiert Sidney die wahre Liebesempfindung mit der vor allem von den Petrarkisten verfassten konventionalisierten, nicht authentischen Liebesdichtung. Von Anfang an thematisiert Sidney explizit die poetologische Dimension seines Sonetts, nämlich durch den Begriff verse (v. 1). Zugleich betont der Dichter jedoch auch im Rahmen einer figura etymologica, in diesem Fall zwischen gerund und zugehörigem Substantiv (»Loving« und »love«, v. 1), die Liebesthematik. Der erste Vers erfüllt dabei eine expositorische Funktion, indem er die Motivation für das Sonett bzw. darüber hinaus auch für den gesamten Zyklus benennt: Ausschlaggebend sind die Liebesempfindung des lyrischen Ich und seine hieraus entspringenden Hoffnungen und Absichten. Dass diese nicht – wie im Petrarkismus gefordert – alle körperlichen Aspekte ausschließen, belegt das zuletzt genannte Ziel des Schreibers (»grace«, v. 4). Der zweite Vers beinhaltet insofern eine Besonderheit, als das lyrische Ich die Geliebte hier nicht direkt anspricht, sondern in der dritten Person Singular über sie spricht: »That the deare She might take some pleasure of my paine« (v. 2).179 Durch Überspielen der charakteristischen Mittelzäsur des Alexandriners erzielt der Dichter in diesem Vers den für ihn charakteristischen umgangssprachlichen Stil, der den Eindruck von Lebensnähe verstärkt: »The rhythms of natural speech are […] responsible for much of the aura of reality […].« (Cooper : 1968, 149) Die Alliteration pleasure – paine (v. 2) verweist auf die petrarkistische Grundkonstellation der dolendi voluptas. Durch diese alliterative Verbindung stellt Sidney der Ursache auf Seiten des Mannes (paine) die von ihm erwünschten Reaktionen auf Seiten der Dame (pleasure) gegenüber. Dasselbe gilt auch für die Endreime paine (v. 2) und obtaine (v. 4). Der Begriff pleasure benennt die erste von fünf imaginierten Reaktionen der Geliebten. Der zweite Vers eröffnet eine Reihe von Parallelismen, die die vom Schreiber erwünschte Wirkung des Sonetts als Erfolgsgeschichte bis zur Erreichung eines Endziels, nämlich der erfüllten sinnlichen Liebe (v. 4), darstellen. Die Verse bilden eine Art Klimax oder gradatio. Die erhofften positiven Wirkungen auf die Geliebte stellt der Dichter als Kausalkette dar, wobei das Verb to cause (v. 3) diese explizit 179 Die ungewöhnliche Großschreibung des Pronomens (She) bewirkt dabei eine optische Hervorhebung, die eine Identifikation der Geliebten mit der weiblichen Titelfigur des Zyklus (Stella) nahelegt.

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benennt. Die Kettenstruktur der letzten drei Verse des ersten Quartetts erzielt Sidney dadurch, dass er das zentrale Wort eines Hemistichons im jeweils folgenden in variierter bzw. zweimal auch in identischer Form aufnimmt: pleasure (vv. 2 und 3), reade und reading (v. 3), know (v. 3), knowledge (Vers 4) und pitie (zweimal in v. 4). So wie die Begriffe einander anzuziehen scheinen, sollen die verschiedenen Reaktionen der Geliebten von der rationalen Kenntnisnahme der Liebe des lyrischen Ich bis hin zu einer Verhaltensänderung aufeinander folgen. Die strenge Wahrung der Mittelzäsur des Alexandriners im dritten und vierten Vers gibt das vom lyrischen Ich erwünschte Verhaltensmuster der Geliebten als stereotyp zu erkennen. Ihre Reaktionen sind a priori so genau festgelegt, dass sie keinen individuellen Handlungsspielraum zulassen. Dass der Begriff grace (v. 4) in dieser Kausalkette nur einmal erscheint, verdeutlicht die Einmaligkeit des Begehrens des lyrischen Ich. Besondere Bedeutung kommt diesem Begriff deshalb zu, weil er eine Überschreitung des petrarkistischen Systems darstellt: Er benennt als letztes Ziel des lyrischen Ich die körperliche Liebe, die auch in der Struktur des ersten Quartetts die betonte Finalstellung einnimmt. Es geht hier zugleich um die »psychische und physische Erfüllung der Liebe« (Hühn: 1995, I, 58). Sidney, der oftmals als English Petrarch gehandelt wird, ist damit dem Sensualismus der Pl¦iade-Dichter wesentlich näher als seinem italienischen Vorgänger.180 Die letzten drei Verse des ersten Quartetts sind den beabsichtigten Reaktionen der Dame gewidmet, so dass der Schreiber in den Hintergrund tritt. Diese Gewichtung kehrt Sidney zu Beginn des zweiten Quartetts in ihr Gegenteil um: Von nun an steht das lyrische Ich bzw. genauer dessen Dichtung im Mittelpunkt. Diesen »Rollentausch« (Klotz: 2000, 229) gestaltet der Dichter ebenso abrupt wie eindringlich, und zwar dadurch, dass die Initialposition des Verses nun der Schreiber einnimmt: »I sought fit words to paint the blackest face of woe« (v. 5). Da die analoge Position im ersten Quartett der Liebe (»Loving«, v. 1) zukommt, stiftet Sidney eine enge Verbindung zwischen beiden; der Schreiber wird ganz in seiner Liebesverfallenheit gezeigt. Signifikanterweise ist es nun im Gegenzug die Dame, die nur noch in Form eines Possessivpronomens erscheint: »Studying inventions fine, her wits to entertaine« (v. 6). Den Kontrast bildet Sidney auch in der Zeitstruktur der Verse ab, denn dem Konditional I might stellt er hier die Vergangenheitsform sought gegenüber. Die Beschreibung richtet sich nun nicht mehr auf imaginierte Reaktionen der Geliebten, sondern auf das dichterische Vorgehen des lyrischen Ich während des kreativen Aktes der poetischen Schöpfung. Die folgenden Verse »konkretisieren das Problem in der Wahl und der Gestaltung des Mediums für die Kommuni180 Vgl. hierzu Spiller : 1992, 116: »one is tempted in this to call Sidney […] an anti-Petrarchan writer.«

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kation […]« (Hühn: 1995, I, 59)181. Am Anfang steht dabei die Suche nach einem ebenso angemessenen wie originellen Ausdruck der eigenen Liebesgefühle. Dass Sidney sich hierbei der traditionellen Analogie von Dichtung und Malerei bedient (»to paint the blackest face of woe«, v. 5), lässt die proklamierte Originalität des lyrischen Dichter-Ich bereits an dieser Stelle in einem fragwürdigen Licht erscheinen. Den ut-pictura-poesis-Topos setzt Sidney im Farbadjektiv blackest fort. Dieses benennt erneut die typisch petrarkistische Klagehaltung des vergeblich werbenden Mannes. Obgleich die Geliebte im fünften Vers nicht erwähnt wird, ist sie bzw. ihre vom Schreiber ersehnte Reaktion auf sein Gedicht auch hier gegenwärtig, denn die Binnenreime face (v. 5) und grace (v. 4) erscheinen als Ursache und als beabsichtigte Wirkung in der Architektur des Sonetts direkt untereinander. Auf diese Weise hebt Sidney deren Kontrast besonders hervor. Dasselbe gilt auch für den folgenden Vers, in dem dies allerdings explizit geschieht: »Studying inventions fine, her wits to entertaine« (v. 6). Hier nutzt der Dichter erneut die Mittelzäsur des Alexandriners, um die Bemühungen des lyrischen Ich und deren gewünschte Wirkungen einander gegenüberzustellen.182 Bezeichnenderweise verändert Sidney im Sonett die traditionelle Reihenfolge der aus der antiken Rhetorik stammenden Begriffe: »He first sought words (elocutio) rather than matter, and tried to find words through imitation of others rather than by the proper processes of invention.« (Sidney : 1963, 459) Gewöhnlich folgt die elocutio auf die inventio, schließlich muss zunächst ein Thema feststehen, ehe sich der Dichter mit der richtigen Wortwahl beschäftigen kann.183 Dass Sidney diese Abfolge in ihr Gegenteil verkehrt, zeugt natürlich nicht von Unwissenheit. Die Änderung beinhaltet vielmehr eine unterschwellige Kritik am Petrarkismus. Schließlich wird die dort betriebene Dichtungspraxis, den Primat einem schönen Ausdruck vor Echtheit des Gefühls zuzusprechen, häufig bemängelt. Dies ist eine Praxis, die das vorliegende Sonett ablehnt. Sidney nutzt hierzu die »Spannung zwischen dem anzitierten eloquent style der Petrarkisten und dem eigenen plain style […]« (Pfister : 42004, 103). Der Folgevers enthält das einzige Enjambement des Sonetts: »Oft turning others’ leaves, to see if thence would flow« (v. 7). Die Stelle für den Zeilensprung ist nicht willkürlich gewählt, sondern steht in Einklang mit der inhaltlichen Aussage des Verses, denn dieser bildet den thematisierten flow ab. In diesem Vers geht es nicht mehr um die inventio (v. 6), sondern die imitatio. Dabei 181 Hervorhebung vom Autor. 182 Dieselbe Absicht verfolgt Sidney auch mit der alliterativen Verbindung zwischen woe (v. 5) und wits (v. 6). 183 Vgl. hierzu Gascoigne: 1969, I, 465: »The first and most necessarie poynt that ever I founde meete to be cþsidered in making of a delectable poeme is this, to grounde it upon some fine invention.«

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handelt es sich nicht um eine sklavische Nachahmung, sondern den Versuch, sich durch die Lektüre der Werke anderer Dichter inspirieren zu lassen. Die Imitation soll auf diese Weise etwas ganz Eigenes hervorbringen. Durch die chiastische Anordnung alliterativ verbundener Adjektive zeigt Sidney die enge Zusammengehörigkeit beider Prinzipien auf: »fit words« (v. 5) und »inventions fine« (v. 6). Im achten Vers, den, wie bereits erwähnt, ein Enjambement mit seinem Vorgänger verbindet, spielt die Klanglichkeit auch in anderer Hinsicht eine wichtige Rolle. Erstens enthält er eine Alliteration (»Some fresh and fruitful […]«), und zweitens werden die alliterativ verbundenen Adjektive fresh und fruitful dem Adjektiv sunne-burn’d gegenübergestellt: »Some fresh and fruitfull showers upon my sunne-burn’d braine« (v. 8). Das letzte Adjektiv zeugt von einer persönlichen Vorliebe Sidneys, nämlich derjenigen für zusammengesetzte Epitheta.184 Sidney lässt dabei offen, ob der mit sunne-burn’d umschriebene Zustand eine Folge der Lektüre ist oder aber durch diese behoben werden soll. In jedem Fall verbleibt das Epitheton in dem durch die Formulierung »fresh and fruitful showers« (v. 8) vorgegebenen Bildbereich. Das Epitheton zeugt jedoch nicht von Sidneys Originalität, erfreut es sich doch zur Zeit des Dichters großer Beliebtheit: Es »refers to an accepted Elizabethan figure for poetic imitation« (Kalstone: 1965, 127). Das Sonett besitzt eine starke Zäsur zwischen Oktett und Sextett. Dies gehört zu den bevorzugten Verfahren Sidneys. Es zeugt erneut vom Einfluß Petrarcas. Den Einschnitt benennt das Eröffnungswort des Sextetts explizit: »But words came halting forth, wanting Invention’s stay« (v. 9). Hier wird der Leser auf einen Kontrast vorbereitet. Zugleich besteht auch eine Verbindung zum Oktett, und zwar insofern, als das erste Terzett das Scheitern der zuvor benannten Versuche des lyrischen Dichter-Ich, die alle der traditionellen Dichtungspraxis angehören, thematisiert. Sidney nimmt die Bemühungen des Schreibers im ersten Terzett in der Reihenfolge ihres ersten Erscheinens auf: Die Suche nach den »fit words« (v. 5) erweist sich als wenig erfolgreich (»But words came halting forth […]«, v. 9), die inventio verträgt sich nicht mit dem mühevollen Studium und den Konventionen (»Invention, Nature’s child, fled step-dame Studie’s blowes«, v. 10), und auch die imitatio stellt sich nicht als Erleichterung des Schreibprozesses, sondern als Hindernis heraus (»And others’ feete still seem’d but strangers in my way«, v. 11). Die Ablehnung zentraler Prinzipien der zeitgenössischen Poetik –

184 Diese Vorliebe begründet der Dichter mit der besonderen Eignung der englischen Sprache für solche Komposita: »Whereto our language […] is perticularly happy in compositions of two or three wordes togither, neare the Greeke, farre beyond the Latine, which is one of the greatest bewties can be in a language.« (Sidney : 1950, 48).

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inventio, elocutio und imitatio – verwandelt das Sonett in »another declaration of independence from renaissance [sic.] conventions […]« (Sidney : 1962, 459). Was die stilistische Gestaltung angeht, so ist das Sextett dem Oktett ebenbürtig. Auch hier verwendet Sidney eine Vielzahl rhetorischer Stilmittel. Der Dichter bindet das zweite Hemistichon des neunten Verses durch einen Kontrast an den Folgevers. Dem Kontrast zwischen dem Wunsch eines »Invention’s stay« (v. 9) und der Bewegung, die das Verb to flee (v. 10) benennt, verleiht Sidney durch die Wiederholung des Begriffes invention besondere Eindringlichkeit. Das stay ist dabei sowohl im durativen Sinn als auch als ›Unterstützung‹ zu verstehen. Durch diese Wiederholung auf engstem Raum und durch die frühere Nennung des Begriffes (v. 6) ist invention das Wort mit der größten Häufigkeit im Sonett. Auf diese Weise verrät der Schreiber seine poetologische Vorliebe: Mehr als an der elocutio ist ihm an der inventio gelegen. Ihre Vorrangstellung besteht auch gegenüber der Lektüre literarischer Vorbilder. Dies belegt die Metaphernwahl: Während die inventio dem Bereich des Natürlichen (»Nature’s child«, v. 10) zugeordnet ist, bezeichnet der Schreiber das Studium als »stepdame« (v. 10) und weist es somit dem Bereich des Nicht-Natürlichen zu. Auf diese Weise schafft Sidney zwischen beiden einen Kontrast: »the child, recognizing no filial duty to its step-dame, not only has failed to carry out her commands, but has taken flight from her blows.« (Dickson: 1944, 3) Diese Zuordnung ist durch die pejorativ konnotierte Personifikation als Stiefmutter nicht neutral, sondern stark negativ gefärbt: »Konvention und Imitation gegenüber Invention und Originalität werden durch die Bildersprache wertend kontrastiert.« (Hühn: 1995, I: 59 f.)185 Dass es sich dabei um eine Grundproblematik der Sonettistik handelt, fügt dem poetologischen einen literatur- bzw. gattungsgeschichtlichen Aspekt hinzu. In diesem Fall verstärkt auch die Typographie den Kontrast, denn Invention und Nature setzt Sidney durch ihre Großschreibung den Studie’s blowes entgegen. Letztere werden dabei mit Zwang assoziiert, zumal Schläge (blowes) zu den damaligen Erziehungsmethoden gehören. Das lyrische Ich lässt sich auf diese Weise nicht unterstützend unter die Arme greifen. Dies ergänzt Sidney durch die Abwertung einer Poetik der imitatio: »And others’ feete still seem’d but strangers in my way« (v. 11). Der Dichter stellt erneut einen Bezug zum Oktett her, da er den Begriffen leaves (v. 7) und feete (v. 11) jeweils den Zusatz others’ voranstellt. Wieder nutzt Sidney die Möglichkeit der Ambiguität: feete meint nämlich sowohl die Gliedmaßen anderer Dichter, 185 Vgl. hierzu auch Astrophil and Stella 15, v. 9 ff., in denen derjenige Dichter, der ausschließlich nachahmt, mit folgendem unmissverständlichem Urteil konfrontiert wird: »You take wrong waies, those far-fet helpes be such,/ As do bewray a want of inward tuch.« (Sidney : 1962, 172)

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die sich dem lyrischen Ich in den Weg bzw. stärker noch ihm ein Bein stellen, als auch Versfüße. Somit eröffnet auch dieser Vers eine poetologische Dimension. Erneut richtet sich die Kritik gegen eine Poetik der bloßen Nachahmung, der es naturgemäß an Originalität mangelt. Die Werke anderer stellen für den Schreiber nicht die erhoffte Hilfe beim Verfassen eigener Gedichte (vgl. v. 7 f.), sondern im Gegenteil ein Hindernis dar : »[…] die konventionell vorgeformte Ausdruckstechnik erweist sich als der eigenen Subjektivität unangemessen.« (Hühn: 1995, I, 59) Dieses bildet Sidney auf der syntaktischen Ebene durch das dem Metrum zuwiderlaufende Stocken vor but ab. Diese Pose einer Ablehnung literarischer Vorbilder erinnert dabei stark an Du Bellays erstes und mehr noch viertes Sonett der Regrets. Insofern macht sich paradoxerweise gerade in der Unabhängigkeitserklärung im englischen Sonett der Einfluss der Pl¦iade bemerkbar. Auch dieses Sonett bleibt daher dem Prinzip der imitatio verpflichtet. Dies bestätigt Levers Urteil über das Verhältnis von Innovation und Tradition in den elisabethanischen Sonetten: »Each one imitated in order to be original.« (Lever: 1956, 56) Im Gegensatz zu den anderen Struktureinheiten des Sonetts bildet das letzte Terzett keine syntaktische Einheit. Es beinhaltet eine Steigerung, die mit einer »surprising completion« (Kalstone: 1965, 128), nämlich dem Erscheinen der Muse des lyrischen Ich, endet. Zugleich bestehen auch hier Verbindungen zu den vorangehenden Versen. Einerseits erzielt Sidney eine solche durch das Einleitungswort (»Thus«, v. 12), das das letzte Terzett als logische Schlussfolgerung der drei ersten Struktureinheiten zu erkennen gibt. Andererseits setzt der Vers die Mutter-Kind-Metaphorik (vgl. v. 10) fort und intensiviert diese im zweiten Hemistichon im Bild der Zeugung: »Thus great with child to speake and helplesse in my throwes« (v. 12). Auch hier ist der Dichter allerdings wenig innovativ, denn bei der Formulierung with child handelt es sich schon zu seiner Zeit um eine verblasste Metapher, die im Sinne von ›eager‹, ›longing‹ und ›yearning‹ zu verstehen ist. Der Begriff child (v. 12) ist darum nicht mit dem zuvor genannten Kind (v. 10), nämlich der inventio, gleichzusetzen, obwohl beide in der Architektur des jeweiligen Verses an analoger Stelle erscheinen. Sidney belebt diese verblasste Metapher durch diejenige der »unborn composition« (Dickson: 1944, 3) im zweiten Hemistichon des Verses (»throwes«, v. 12). Da hier der Akt der dichterischen Schöpfung metaphorisch zur Geburt wird, ist die Bezeichnung der inventio als child (v. 10) folgerichtig. Die Wehen (»throwes«, v. 12) stellen darüber hinaus eine Verbindung zum zweiten Vers her, da dessen betonte Endstellung der Begriff paine einnimmt. Dort bezieht sich der Aspekt des Schmerzes auf die Erfahrung der unerfüllten Liebe, hier ist er hingegen in den Bereich der künstlerischen Produktion verlagert. Auch dieser Vers suggeriert jedoch eine Einheit von Liebe und Dichtung. Sidney stiftet diese durch das Adjektiv helplesse (v. 12), das erneut eine cha-

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rakteristische Haltung des männlichen Liebenden im Petrarkismus benennt. Eine ähnliche Funktion erfüllt im Sonett auch das Possessivpronomen der ersten Person Singular. Es dient nämlich als Verbindungsglied zwischen der Liebeserfahrung (»my love«, v. 1), dem hieraus resultierenden Schmerz (»my paine«, v. 2) und dem Dichtungsdiskurs (»my pen«, v. 13 und »my Muse«, v. 14). In den beiden vorletzten Versen des Sonetts dient die Mittelzäsur des Alexandriners, die Monotonie erzeugt, zur Versprachlichung der Schaffenskrise des Schreibers: »Parallelismus und Alliteration unterstreichen prägnant die psychische Stagnation.« (Hühn: 1995, I, 59) Der vorletzte Vers formuliert die Schreibblockade des lyrischen Ich und damit den Grund aller zuvor benannten Lösungsversuche: »Biting my trewand pen, beating my selfe for spite« (v. 13). Dieser Vers formuliert »Astrophel’s frustrations« (Kalstone: 1965, 127). Durch die alliterative Verbindung der beiden ersten Wörter beider Halbverse, die durch deren identische grammatikalische Funktion als Partizipien noch verstärkt wird, erzielt Sidney die Identifikation des Schreibers mit seinem pen (v. 13). Dass dieser weniger als das konkrete Schreibgerät als vielmehr als ein Symbol der Dichtung aufzufassen ist, begünstigt diese Gleichsetzung. Sie erklärt ihrerseits das Ausmaß der Frustration des Schreibers, die sich in aggressiven Handlungen äußert: zunächst gegen das dichterische Werkzeug, dann gegen das lyrische Dichter-Ich selbst. Dass das eigene ›Handwerkszeug‹ dabei einer Personifikation unterzogen wird, Sidney ihm nämlich genau diejenige Eigenschaft zuordnet, derer sich das lyrische Ich aufgrund seiner Schreibblockade schuldig macht (»trewand«, v. 13), legt eine solche Identifikation zusätzlich nahe. Den Ausweg aus der poetischen Schaffenskrise, den er im letzten Vers explizit benennt, kündigt der Dichter bereits in diesem Vers an, und zwar durch die ambige Bedeutung von beating (v. 13). Dies meint ja nicht nur ein aggressives Schlagen, sondern zugleich ein Besiegen. Die Lösung des dichterischen Problems des lyrischen Ich wird im Abschlussvers des Sonetts niemand geringerem als dessen Muse in den Mund gelegt: »›Foole,‹ said my Muse to me, ›looke in thy heart and write.‹« (v. 14). Dieser Vers beinhaltet den Appell der Muse, statt der nur durch ein mühevolles Studium zu erzielenden Belesenheit die eigene Erfahrung zur Grundlage des Schreibens zu machen. Bezeichnenderweise erfolgt hier kein traditioneller Musenanruf, sondern die Muse ruft im Gegensatz hierzu das lyrische Ich an. Dies steht in Einklang mit der Erklärung des lyrischen Ich, unabhängig von literarischen Vorgängern und Modellen zu schreiben. Auf der klanglichen Ebene hebt Sidney die Bedeutung dieses Verses durch viele einsilbige Wörter und eine Abweichung vom streng jambischen System der vorangehenden Verse hervor. Sidney erzielt durch den Einsatz einer Aposiopese im Abschlussvers eine Spannungssteigerung, denn auf die überraschende Apostrophe des lyrischen Ich folgt zunächst der erläuternde Zusatz, der die Muse als Sprecherin der Anrede zu

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erkennen gibt, ehe sie ihren Rat ausspricht. So fällt eine starke Endbetonung auf die Dichtungsanweisung der Muse: »‹looke in thy heart and write‹« (v. 14). Auf diese Weise beginnt (»verse«, v. 1) und endet (»write«, v. 14) das Sonett mit einem poetologischen Aspekt. Die Aufforderung der Muse erklärt durch Berufung auf das Herz des lyrischen Ich Unmittelbarkeit und Authentizität zu den Kriterien einer erfolgreichen Dichtung. Der Aufruf zum Niederschreiben der eigenen Liebeserfahrung ist zwar »itself conventional, and yet Sidney manages to infuse his sonnets with an extraordinary vigor and freshness« (Logan/ Greenblatt: 72000, I, 917). Beides erzielt der Dichter vor allem durch die für die Dichtung ungewöhnliche Darbietungsform (wörtliche Rede) und den kolloquialen Stil.186 Eine weitere Bedeutungsdimension tut sich unter Berücksichtigung der petrarkistischen Vorstellung auf, das Bild der Geliebten befinde sich im Herzen des Liebenden. Diese sollte jedoch nicht zur alleingültigen Bedeutung des Abschlussverses erhoben werden, wie es beispielsweise folgende Interpretation tut: »All the frustrations of the poem are finally dispelled by the energetic outburst associated with the discovery of Stella’s image in the heart.« (Kalstone: 1965, 128 f.) Zutreffend ist nichtsdestoweniger, dass sich der Rat der Muse nicht nur auf den Stil, sondern auch den Inhalt der Verse, die ausschließlich Stella gewidmet sein sollen, bezieht. Sidney stellt zwischen dem lyrischen Dichter-Ich und seiner Muse im Abschlussvers eine enge Verbindung her, nämlich durch das Possessivpronomen der ersten Person Singular, das diesen zum Günstling der Muse erhebt. Andererseits kontrastiert die Aufforderung der Muse mit dem Unvermögen des Schreibers, sich dichterisch äußern zu können. Die Muse vollführt hier, was dem lyrischen Ich nicht gelingt (vgl. v. 12). Der kolloquiale Stil der Aufforderung steht dabei in starkem Kontrast sowohl zur Dignität der Muse, die vorausgesetzt werden muss, als auch zum bisherigen Stil des Sonetts: The effect of the poem depends upon contrasting the tightly controlled rhetorical pattern of the first thirteen lines with the monosyllabic directness, the imperatives, the surprising colloquialism, of the last line […].« (Kalstone: 1965, 129)

So sehr dem Verfasser dieses Urteils zuzustimmen ist, muss dennoch erläuternd hinzugefügt werden, dass auch der letzte Vers rhetorische Stilmittel (vor allem Apostrophe und Aposiopese) aufweist. Genauso wie die anderen dreizehn rhetorisch geformten Verse des Sonetts belegt auch er, dass es nicht ausreicht, in das eigene Herz zu schauen, um eine authentische Dichtung produzieren zu können: »One must look into the cerebral cortex, the nervous system, and the digestive 186 Dieser umgangssprachliche Stil ist dabei ebenfalls zum Teil auf den Einfluss der Pl¦iade – besonders Du Bellays – zurückzuführen.

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tracts.« (Eliot: 1999, 290) Wie dies uneingeschränkt auch für Du Bellay gilt, bleibt die Proklamation eines unmittelbaren Gefühlsausdrucks eine rhetorische Strategie und Pose und der Eindruck des Autobiographisch-Bekenntnishaften bloßer Schein – dies umso mehr, als es sich beim Sonett um eine konventionelle und hochgradig artifizielle Gattung handelt. Die beiden hier analysierten Sonette zeugen von der ungewöhnlich großen Anpassungsfähigkeit dieser Gedichtform. Sie belegen durch die Thematisierung dichtungstheoretischer Fragen mehr oder weniger die Befreiung von der thematischen Beschränkung der traditionellen Sonettistik auf den Bereich der Liebeslyrik. Besonders Du Bellays Sonett illustriert diese Befreiung auf paradigmatische Weise. Es weist nicht nur keine Verbindung mit dem traditionellen Amormotiv auf, sondern verkehrt die ursprüngliche Gattungskonzeption in ihr Gegenteil: Die Idealdichtung weicht einer Darstellung der alltäglichen Trivialität, womit zugleich die Forderung nach poetischer Dignität eines im Sonett behandelten Gegenstandes vollkommen aufgegeben wird.187 Besondere Erwähnung verdient hinsichtlich der Möglichkeit, im Sonett selbst Dichtungstheorie zu betreiben, die zeitgenössische spanische Sonettistik. Poetologische Aspekte sind in den Sonetten des Siglo de Oro nämlich häufig der primäre Dichtungsgegenstand. Im Gegensatz hierzu gliedern die elisabethanischen Dichter diese – wie auch Sidney im hier interpretierten Sonett – fast ausschließlich der Liebesthematik ein. Das Paradebeispiel hierfür sind Shakespeares Sonnets, in denen Fragen zur Dichtung – und hierbei vor allem die Funktion der geliebten Person als Inspirationsquelle: »So oft have I invoked thee for my muse«188 – leitmotivisch wiederkehren.189 In Spanien entfaltet sich die Poetologie hingegen oftmals als so genannter Sonettspiegel am Sonett selbst.190 Hier macht sich der Einfluss Italiens bemerkbar, wo sich das Sonettieren über das Sonett schon seit dem 14. Jahrhundert großer Beliebtheit erfreut. Auch die Hauptmotive übernehmen die spanischen Sonettisten aus Italien: »1. Huldigung für Petrarca; 2. Die Schwierigkeiten der Komposition; 3. Adel, Majestät und Schönheit der Form; 4. Das Graziöse und Spielerische des Sonetts.« (Mönch: 1955, 277) 187 Dignität des Gegenstandes wird von den meisten Sonetttheoretikern der Fühen Neuzeit gefordert. Vgl. hierzu beispielsweise Sebillet: 1910, 116. 188 Sonnet 78, v. 1. In Shakespeare: 1997, 1949. 189 Die Belegstellen können hier unmöglich alle genannt werden, darum sei nur auf ein besonders eindringliches Beispiel hingewiesen, in dem Shakespeare sowohl die Frage nach einem angemessenen Thema als auch Stil erörtert: Sonnet 76. In Shakespeare: 1997, 1948. 190 Das Urbild des spanischen Sonettspiegels ist Diego Hurtado de Mendozas (1503 – 1575) Pedis, Reyna, vn Soneto, ya le hago. Abdruck in Weinrich: 1961, 51 und auf S. 166 der vorliegenden Untersuchung. Mendozas Sonett ist das maßgebliche Modell für Lope de Vegas Bühnensonett Un Soneto me manda hacer Violante aus seiner comedia La niÇa de plata (1617).

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Trotz des vielfältigen Themenspektrums des deutschen Barocksonetts machen poetologische Sonette hier nur einen kleinen Teil der gesamten SonettProduktion aus. Mehr als einige Exemplare sind hier kaum zu finden, und bei den meisten geht es vor allem um eine Rechtfertigung der deutschen Sprache in der Dichtung. »Ein echtes ›Meta-Gedicht‹, das poetologische Probleme erörterte […]« (Pohl: 1993, 62) muss man in der deutschen Sonettistik des 17. Jahrhunderts lange suchen. Der wohl bekannteste Repräsentant des deutschen Sonettspiegels stammt in dieser Zeit von Johann Burckhard Mencke (1674 – 1733). In thematischer Hinsicht fügt er den spanischen und französischen Vorgängern auf diesem Gebiet nichts hinzu: Auch er benennt primär die Schwierigkeiten, die sich aus den strengen formalen Vorgaben für die Gattung ergeben.191 Außerdem betont Mencke die Wichtigkeit des Reimes, die letztendlich sogar den Primat der Form vor dem Inhalt bewirke: »Und meine Kunst in vierzehn Zeilen wagen,/ Bevor ich mich auff rechten Stoff bedacht« (v. 3 f.). Wie sich die Umsetzung im konkreten Einzelfall auch gestalten mag, Poetologie im Sonett ist immer ein Gegenstand, der »über das thematische Dispositiv von Petrarca hinausführt […]« (Krüger : 2004, 18). Diese Sonette belegen durch die Thematisierung dichtungstheoretischer Fragen mehr oder weniger die Befreiung von der thematischen Beschränkung der traditionellen Sonettistik auf den Bereich der Liebeslyrik. Besonders Du Bellays Sonett illustriert diese Befreiung auf paradigmatische Weise. Es weist nicht nur keine Verbindung mit dem traditionellen Amormotiv auf, sondern verkehrt die ursprüngliche Gattungskonzeption in ihr Gegenteil: Die Idealdichtung weicht einer Darstellung der alltäglichen Trivialität, womit zugleich die Forderung nach poetischer Dignität eines im Sonett behandelten Gegenstandes vollkommen aufgegeben wird. Das Thema Dichtung spielt im Canzoniere nur indirekt eine Rolle, und zwar dadurch, dass die melancholische Liebe des Schreibers zu Laura sein dichterisches Vermögen überhaupt erst ausgelöst hat. Auf diese Weise erscheint die Geliebte primär in der Funktion der Muse des Dichter-Ich. Der Name Laura ist im Canzoniere durch Paronomasien auch mit dem Begriff lauro und somit dem Symbol des Dichterruhmes verbunden: »die Liebe zu Laura [ist] immer schon die Liebe zum ›lauro‹ […] und damit zu einem Dichten, das Ruhm und über den Ruhm Nachleben im Werke verspricht.« (Petrarca: 2001, 18)192

191 Kein Sonnet, v. 1 f.: »Bey meiner Treu es wird mir angst gemacht:/ Ich soll geschwind ein rein Sonnetgen sagen«. Abdruck in Kircher (1979), 116. Besonders der letzte Vers (»Bey meiner Treu das Werck ist schon gemacht.«) zeigt deutliche Anklänge an den Eröffnungsvers des Sonetts von Mendoza: »Pedis, Reyna, vn Soneto, ya le hago«. 192 Vgl. hierzu auch Stierle: 2003, 658: »Laura […] ist nichts anderes als die Figura der Dichtung selbst. Jedes Gedicht […] ist ein Versuch der Annäherung an Laura wie an die Dichtung.«

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3.2.2 Das Sonett in Honoré d’Urfés Pastoralroman L’Astrée (1607 – 1628): Im Spannungsfeld zwischen Tradition und Innovation Wie für die Gattung des Schäferromans traditionell vorgegeben, enthält auch Honor¦ d’Urf¦s L’Astr¦e viele lyrische Einlagen. Die Auswahl der integrierten Gedichtformen ist dabei dem Zeitgeschmack gemäß an der italienischen Renaissancelyrik orientiert: Im Roman finden sich vor allem Sonette, Madrigale, Stanzen und Villanellen. Eine Untersuchung der Sonette in der Astr¦e wirft zunächst die prinzipielle Frage nach der Legitimität des Unterfangens auf, solche Binnensonette aus ihrem narrativen Kontext herauszulösen und isoliert zu betrachten. Auf ein ähnliches Problem stößt allerdings jeder, der Sonette aus einem Zyklus einer Einzelanalyse unterzieht. Besonders im 16. und 17. Jahrhundert werden Sonette ja bevorzugt in größeren Zyklen publiziert. Auf die sich aus der Situation der Binnensonette in Honor¦ d’Urf¦s Roman ergebende Problematik wurde bereits im Jahre 1909 in den Œuvres po¦tiques choisies d’Honor¦ d’Urf¦ hingewiesen und zwar vor allem auf »[…] l’inconvenient qu’il y a — d¦tacher du roman et — isoler les morceaux po¦tiques. Ainsi separ¦s de la situation morale qui les explique, ils perdent — peu pres toute espÀce de charme […].« (d’Urf¦: 1909, 253) Vor allem dem letzten Urteil muss insofern widersprochen werden, als es mehr als fragwürdig ist, ob sich der charme der Sonette ändert, wenn man einzelne Vierzehnzeiler aus ihrem narrativen Kontext isoliert. Wäre dies der Fall, so müsste man dem Sonett die ihm immer wieder als wesentliche Charakteristika zugeordnete »Geschlossenheit und Selbständigkeit« (Mönch: 1955, 38) absprechen. Mönch erhebt diese zu Wesensmerkmalen der Gattung und beurteilt nach beiden sogar die Qualität von Sonetten: So geschieht es oft, daß Sonette innerhalb eines Zyklus nur dann gut […] sind, wenn sie – als in sich gerundete Gebilde – aus ihrem Zusammenhang isoliert werden können, und daß sie umgekehrt – als Sonette – wenig taugen, wenn sie nur im Zusammenhang verständlich sind. (Mönch: 1955, 38)

Dies darf selbstverständlich nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Anordnung eines Sonetts weder in einem Zyklus noch in einem Roman oder einem Drama willkürlich ist. In allen Fällen folgt die Anordnung einer inneren Logik. Dies soll jedoch nicht daran hindern, Sonette einzeln zu betrachten, denn Sonette werden im Folgenden als singuläre sprachliche Artefakte aufgefasst und interpretiert. Dies geschieht entgegen der weitverbreiteten Meinung, »that the Renaissance sonnet must, as a rule, not be viewed in isolation, but as a poetic unit within a sequence of sonnets« (Spitzer: 1954, 197 f.) oder – im Falle von Binnensonetten – innerhalb des entsprechenden Romans oder Dramas. So richtig es ist, Sonette auch grundsätzlich im jeweiligen Kontext zu betrachten, müssen sie doch auch

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immer alleine für sich stehen können, sind also auch immer als singuläre Sprachkunstwerke zu verstehen. Deshalb kann ein Sonett auch aus dem Gesamtzusammenhang eines Zyklus oder eines narrativen oder dramatischen Textes herausgelöst werden, ohne dass entscheidende Aspekte verlorengehen. Die quantitativ dominierende Gedichtgattung in Honor¦ d’Urf¦s Pastoralroman L’Astr¦e ist das Sonett.193 Damit trägt er jenem Aufruf Rechnung, den Joachim Du Bellay in La deffence, et illustration de la langue franÅoyse (1549) an die zukünftigen französischen Dichter gerichtet hat: »Sonne moy ces beaux Sonnetz […].« (Du Bellay : 2001, 136) Die Gattung des Sonetts bietet sich aus mehreren Gründen für L’Astr¦e an: Erstens wegen seiner relativen Kürze, zweitens wegen seiner ursprünglichen Verbindung mit der Liebesthematik und drittens wegen der besonderen musikalischen Qualitäten. Eine Neigung zur musikalischen Äußerung wird nicht nur den Schäfern im Roman unterstellt. Auf die Musikalität des Sonetts macht bereits der etymologische Ursprung des Namens vom italienischen sonare (klingen, tönen) aufmerksam. Deutlich betont auch die Bezeichnung des Sonetts als »klincgeticht« (Opitz: 1979, II, 397), wie im deutschen Barock die von Martin Opitz (1597 – 1639) aus den zeitgenössischen niederländischen Poetiken übernommene Übersetzung des italienischen Gattungsnamen lautet, die Klangqualitäten der Gattung, und schließlich weist auch das bereits angeführte Zitat Du Bellays aus der Deffence in dieselbe Richtung. Dem entspricht auch, dass besonders im 16. und 17. Jahrhundert zahlreiche Vierzehnzeiler vertont und zusammen mit den jeweiligen Noten in Umlauf gebracht wurden: »Aus der Vorstellung, dass das Sonett vor allem auch ein Klangereignis ist, resultiert eine bemerkenswerte Mediengeschichte des Sonetts, die heutzutage weitgehend vergessen ist.« (Krüger : 2002, 155) In thematischer Hinsicht ist Francesco Petrarcas Canzoniere das maßgebliche Modell für die Sonette in der Astr¦e: Die Sonette im Roman behandeln fast ausschließlich die Liebesthematik und verwenden dabei vorwiegend die typisch petrarkistische Konstellation, die stereotypen Vergleiche und auch die Vorstellung einer Natursympathie. Sie übernehmen, kurz gesagt, das sich in der Frühen Neuzeit herausbildende petrarkistische ›System‹194. Die daraus resultierende große thematische Monotonie in einer Zeit, in der dem Sonett thematisch de facto keine Grenzen mehr gesetzt sind, – in Frankreich ist dies die einmalige Leistung des Pl¦iadedichters Joachim Du Bellay ebenso wie in Spanien Lope F¦lix de Vega Carpios und Francisco Quevedo y Villegas – ist zum großen Teil bedingt durch die Vorgabe des Pastoralromans, denn was tun d’Urf¦s Schäfer? Sie sind frei zur ausschließlichen Beschäftigung mit der Liebe. Jedenfalls handelt es sich 193 In den ersten fünf Bänden, also denjenigen aus der Feder Honor¦ d’Urf¦s, erscheinen insgesamt über 70 Sonette. 194 Vgl. hierzu Hoffmeister: 1973, 25 ff.

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im Roman um keine Schäfer, die mit dieser Tätigkeit ihren Lebensunterhalt bestreiten müssen. In Honor¦ d’Urf¦s paratextuellem L’Autheur — la bergÀre Astr¦e liest man explizit Folgendes: Jene, die die mangelnde Authentizität der Schäfer Honor¦ d’Urf¦s kritisieren, sÅauront que tu [scil. Astr¦e; B.N.] n’es pas, ny celles aussi qui te suivent, de ces bergeres necessiteuses, qui pour gagner leur vie conduisent les trouppeaux aux pastufages, mais que vous n’avez toutes pris cette condition, que pour vivre plus doucement et sans contrainte. (d’Urf¦: 1966, I, 7)

Aus diesem Grund kreisen nicht nur die Sonette, sondern alle Gedichte in L’Astr¦e um diesen Gegenstand. Dass und wie sehr Honor¦ d’Urf¦ Francesco Petrarca schätzt, geht aus einer Passage im Roman hervor, in welcher der vor einem nächtlichen Gewitter Schutz suchende Alcidon an die Quelle der Sorgues in Vaucluse kommt und hört, wie der Flussgott den Nymphen das später an diesem Ort einsetzende Wirken eines großen Dichters vorhersagt: […] vingt et neuf siecles Gaulois ne seront point plustost escoulez, que sur tes rives viendra le cygne Florentin, qui, sous ombre d’un laurier, chantera si doucement que, ravissant les hommes et les dieux, il rendra — jamais ton nom celebre par tout le monde, et te fera surpasser en honneur tous les fleuves qui, comme toy, se desgorgent dans la mer. (d’Urf¦: 1966, III, 134)

Aus d’Urf¦s starker Anlehnung an den Petrarkismus ergibt sich für den Literaturwissenschaftler der Vorteil, dass die Sonette in L’Astr¦e neben den bislang genannten Gründen auch deshalb aus ihrem narrativen Rahmen isoliert werden dürfen, weil es sich bei ihnen – wie bei aller petrarkistischen Lyrik – nicht um eine individuelle, sondern um eine hochgradig konventionalisierte Dichtung handelt. In thematischer Hinsicht folgt der Autor in seinen Sonetten in der Astr¦e, wie bereits ausgeführt, größtenteils dem italienischen Urbild der Gattung. Im Unterschied hierzu stehen die Sonette in L’Astr¦e in formaler Hinsicht in der französischen Tradition: D’Urf¦ folgt überwiegend den von Pierre de Ronsard (1524 – 1585) für das sonnet r¦gulier formulierten Vorgaben. D’Urf¦ erweist sich daher weder in thematischer noch in formaler Hinsicht als experimentierfreudig. Der Autor führt in den meisten Fällen vielmehr eine Kombination des traditionellen italienischen Inhalts mit der französischen Form vor. Mag auch die künstlerische Qualität der Sonette im Roman bestreitbar oder gar fragwürdig sein, so steht ihre literaturgeschichtliche und die Grenzen Frankreichs überschreitende Bedeutung völlig außer Frage, haben sie doch einen entscheidenden Einfluss auf die deutsche Sonettistik des 17. Jahrhunderts ausgeübt. Allerdings überschätzt Heinrich Welti in seiner Geschichte des Sonettes in der deutschen Dichtung mit einer Einleitung über Heimat, Entstehung

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und Wesen der Sonettform (1884) deren Bedeutung, wenn er über die Sonette in der ersten deutschen Astr¦e-Übersetzung (1619) urteilt: »Es sind also die ältesten Sonette dieser Art [scil., in zehn- oder elfsilbigen Versen; B.N.] in der deutschen Litteratur.« (Welti: 1884, 66) Schon Anfang der 1570er Jahren finden sich in Übersetzungen von Werken des niederländischen Dichters Jan van der Noot (um 1540 – 1595) die ersten deutschsprachigen Sonette im vers commun und auch im Alexandriner. Nichtsdestoweniger beeinflusste die französische Pastoralliteratur und im Besonderen Honor¦ d’Urf¦s Astr¦e zweifellos stark die Entwicklung der Sonettistik in Deutschland, und zwar vor allem in der Hinsicht, dass die Beliebtheit der frühneuzeitlichen französischen Pastoralromane wesentlich dazu beigetragen hat, dass die deutschen Leser die neue Form des Sonetts akzeptiert haben. Die frühe Rezeption des Sonetts in Deutschland zeigt drei Entwicklungsstadien. Nach Leighton sind diese die »[…] Vermeidung der Sonettform, zögernde Aufnahmebereitschaft und endgültige Assimilierung« (Leighton: 1987, 592 f.). Die deutschen Übersetzungen von L’Astr¦e bieten ein gutes Beispiel für die sich langsam entwickelnde Aufnahme des Sonetts in Deutschland. Es darf sogar die Vermutung angestellt werden, dass die Art und Weise, wie das Sonett im Roman gehandhabt wird, die Erwartungen bestimmte, die die Leser gegenüber der Rolle des Sonetts und der Art seiner Anwendung hatten. Bezeichnenderweise werden die Sonette in der Astr¦e oft gesungen oder als Geschenk übergeben. Betrachten wir nun formale und inhaltliche Charakteristika der Sonette in Honor¦ d’Urf¦s Roman. Über die Reime der Astr¦e-Sonette schreibt Walter Mönch in seiner Untersuchung zum europäischen Sonett: »Der Sextettbau entspricht dem regulär französischen Bau, der mit einer einzigen Ausnahme […] das Schema ccd/eed aufweist. Die Quartette sind bei d’Urf¦ umschlingend gereimt.« (Mönch: 1955, 285) Dem Autor freundlich gesinnt, könnte man auf eine sehr oberflächliche Lektüre hinweisen. Objektiv betrachtet ist Mönchs Urteil allerdings schlichtweg unzutreffend. Zwar entspricht ein Großteil der Sonette in L’Astr¦e diesem Schema, aber es gibt dennoch zu viele Ausnahmen, als dass man von einer quantit¦ n¦gligeable sprechen könnte: Nicht weniger als 27 der insgesamt über 70 Sonette entsprechen im Sextettbau nicht der von Mönch beschriebenen Form, hinzu kommen noch zahlreiche Abweichungen in den Quartetten. Die Reimschemata der Sonette in den ersten fünf Teilen des Romans sind vielmehr : im Oktett der umschließende Reim (abba abba), daneben auch der Kreuzreim (abab abab) und der gewissermaßen achsengespiegelte Kreuzreim (abab baba) sowie jeweils einmal die Reimfolgen abba cddc und abba acca. Im Sextett ist die von Walter Mönch zu Recht benannte disposition marotique (ccd eed) die dominierende Form, daneben verwendet d’Urf¦ jedoch auch die zweithäufigste Form des sonnet r¦gulier (ccd ede) und jeweils einmal die

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Schemata ccd cdc und ccd eee. Bezeichnenderweise behält der Autor der Astr¦e bei aller Variation des Sextetts immer den für das französische Standardsonett seit der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts charakteristischen anfänglichen Paarreim bei. Entgegen der Tradition – üblicherweise experimentieren Dichter vor allem mit den Sextettreimen – schafft d’Urf¦ viele Abweichungen vom Standardtyp hinsichtlich der Oktettreime. Dies deutet auf das Bestreben, den französischen (Paarreim im Sextett) mit dem italienischen Typ (Kreuzreim im Oktett) kombinieren zu wollen. Ähnliches unternimmt im elisabethanischen England Sir Philip Sidney (1554 – 1586) im ersten englischen Sonettzyklus nach dem Vorbild des Canzoniere, nämlich Astrophil and Stella (1591). Als Metrum ist in den Sonetten in der Astr¦e der Alexandriner vorherrschend, wie dies Pierre de Ronsard in seiner Poetik empfiehlt.195 D’Urf¦ verwendet aber auch den von Ronsard ebenfalls zugelassenen vers commun und immerhin fünfmal den Achtsilbler, der in der französischen Sonettistik der Frühen Neuzeit aufgrund seiner Kürze relativ selten zu finden ist. In Übereinstimmung mit den Vorgaben für das sonnet r¦gulier hält der Autor in der Regel in seinen Vierzehnzeilern die Alternanz ein. Bezüglich der äußeren Form ist festzuhalten, dass alle Sonette in L’Astr¦e vierzehn Verse besitzen. Im Roman erscheint weder ein Schweifsonett noch die von den Dichtern der Pl¦iade gepflegte Sonderform des sonnet madrigalesque. Die innere Form seiner Vierzehnzeiler gestaltet d’Urf¦ derart, dass er die traditionellen Struktureinheiten einhält und somit die klassische, statische Sonettform pflegt: In keinem Sonett geht das Oktett durch ein Enjambement in das Sextett über. D’Urf¦ wahrt im Gegensatz hierzu nach dem Vorbild Petrarcas immer einen starken Einschnitt zwischen diesen beiden ursprünglichen Struktureinheiten der Form. Nach Petrarca hat sich ja die Ansicht durchgesetzt, ein Sonett müsse eine solch binäre Struktur aufweisen: »Die semantische Zäsur nach dem achten Vers kann als gattungskonstituierend verstanden werden.« (Krüger : 2002, 159) Ganz typisch für das nicht nur französische Sonett des 16. und 17. Jahrhunderts ist in denjenigen der Astr¦e die epigrammatische Schlusspointe, die »pointe d’esprit« (Colletet: 1970, 32), die laut Guillaume Colletet (1598 – 1659) Joachim Du Bellay in die französische Sonettistik eingeführt hat. Die Funktion der Sonette im Roman lässt sich am besten damit zusammenfassen, dass die Vierzehnzeiler sowohl als monologische Selbstaussprache als auch als Möglichkeit, mit einem Gegenüber zu kommunizieren, dienen. In den meisten Fällen erscheint jedoch dann ein Sonett im Roman, wenn eine Figur alleine ist. Dies steht in Einklang mit Lope de Vegas Aussage über die monologische Funktion des Bühnensonetts und damit der anderen populären Form des 195 Vgl. hierzu Ronsard: 1994, 1184.

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Binnensonetts in der europäischen Literatur der Frühen Neuzeit: »el soneto est‚ bien en los que aguardan.« (Vega: 2003a, 250) Die Integration von Sonetten – und anderen lyrischen Gattungen – in die Astr¦e bewirkt nicht nur eine größere stilistische Vielfalt, sondern provoziert manchmal auch spektakuläre Wendungen, die durch diese poetischen Dokumente ausgelöst werden. Sonette können also auch den Gang der Handlung beeinflussen. Inwiefern die Sonette in Honor¦ d’Urf¦s Roman in der petrarkistischen Tradition stehen, soll nun anhand eines repräsentativen Gedichtes aufgezeigt werden: Il a plus d’amour qu’elle n’a de cruaut¦. Mais, mon Dieu! que je l’aime! et, mon Dieu! que de peine Je supporte en aimant sa cruelle beaut¦! Fut-il jamais amour plus plein de loyaut¦? Fut-il jamais, ú Dieu! beaut¦ plus inhumaine? Plus je vay l’adorant d’une ame toute pleine Et d’amour et de feux, et plus sa cruaut¦ Augmente sa rigueur par quelque nouveaut¦, Comme si l’adorer faisoit naistre sa haine. Dieu! que ne fay-je point pour surmonter son cœur? Que ne fait-elle aussi pour montrer sa rigueur, Qu’esgale — mon amour elle voudroit bien rendre? Mais, cruelle beaut¦! vous n’y parviendrez pas: Vostre rigueur n’ira que jusqu’— mon trespas, Et mon amour encor bruslera dans ma cendre.« (d’Urf¦: 1966, IV, 244)

Repräsentativ ist dieses Sonett sowohl, was seine Form (vierzehn Verse, Alexandriner, disposition marotique und Alternanz) als auch seinen Inhalt (Liebeswerbung nach dem petrarkistischen Modell) angeht. Zunächst ist die Art, wie das Sonett vom auktorialen Erzähler eingeführt wird, bedeutsam: »l’un chantoit«. Hier wird explizit auf die bereits erläuterte musikalische Qualität der Gattung hingewiesen, die, wie gesagt, ein wesentliches Merkmal des frühneuzeitlichen Sonetts ist. Die Musikalität des vorliegenden Sonetts steigert d’Urf¦ vor allem durch den hohen Reimfüllegrad, aber auch durch die typischen rhetorischen Stilmittel wie Anapher, Wiederholung und Alliteration. Das Sonett ist ein typisches Beispiel für die petrarkistische Dichtungsweise: Zunächst einmal herrscht die Grundsituation der charakteristischen dolendi voluptas vor. Diese heben vor allem die Endreime peine (v. 1) und haine (v. 8) hervor – dies umso mehr, als es sich bei diesen Versen nicht um beliebige,

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sondern den ersten und achten Vers und damit um exponierte Positionen (Beginn und Ende des Oktetts) handelt. Der Aspekt der Schmerzliebe rahmt auf diese Weise das gesamte Oktett ein. Hinzu kommt die psychologische Dimension, die genaue Analyse der Liebesgefühle und die so genannte »Antinomie der Liebe« (Hoffmeister : 1997, 123), nämlich der Masochismus des Mannes in Form seines unermüdlichen Werbens und der Sadismus der Frau in Form ihrer unerbittlichen Ablehnung. Letztere weist den typisch petrarkistischen Widerspruch zwischen Schönheit und Grausamkeit auf, den d’Urf¦ im Oxymoron »cruelle beaut¦« (v. 12) fasst. Außerdem formuliert der Dichter die Qualen des Liebenden, den die Umworbene nicht erhört. Bereits der Titel benennt diese Situation ja unmissverständlich. Ähnlich eindeutig geschieht dies auch im Sonett Il se plaint de sa cruaut¦ (d’Urf¦: III, 600 f.): »Comme si mon amour sa hayne faisoit naistre« (v 11). Außerdem setzt d’Urf¦ die Feuermetaphorik, die Petrarca häufig verwendet, ein und auch den Treueschwur, der bei den Petrarkisten noch weit über den eigenen Tod hinausreicht. D’Urf¦ formuliert diesen im vorliegenden Sonett fast als eine Art Drohung (v. 14). In einem themengleichen Sonett, das der Schäfer Alcippe vorträgt und das den Titel Sur la constance de son amiti¦ (d’Urf¦: 1966, I, 53 f.) trägt, heißt es: »Mais de mon cœur jamais ne partira/ Le traict fatal, nymphe, de ton visage.« (v. 13 f.) Auch hier dient also einzig die Ewigkeit als Bezugspunkt. Trotz der inhaltlichen Ausrichtung auf den Petrarkismus weist das vorliegende Sonett die charakteristische Struktur des französischen Sonetts und die von Du Bellay eingeführte Epigrammatisierung, nämlich in Form der Schlusspointe in den beiden letzten Versen, auf. Angezeigt wird diese schon durch die Interpunktion, formuliert ist sie dabei wiederum auf typisch petrarkistische Weise als Antithese. Die Epigrammatisierung bewirkt dabei eine Diskrepanz zwischen Reimschema und inhaltlicher Aussage, denn das Reimschema gibt ja ein Distichon und abschließendes Quartett vor, aber auf der inhaltlichen Ebene sind die beiden letzten Verse abgesondert. Es besteht daher eine Strukturgleichheit mit dem englischen Typ des Sonetts, dem Shakespearean Sonnet mit seinem heroic couplet – trotz der augenscheinlich unterschiedlichen Reimschemata. In anderen Sonetten der Astr¦e finden sich Beispiele für die von Petrarca häufig beschriebene Natursympathie, nämlich dergestalt, dass »die Klage […] in idyllischer sympathetisch zuhörender Natur (›Natursympathie‹) […] seufzend und tränenreich hervorgebracht [wird]; […] sie [erhält] durch das Echo der Umwelt kosmische Ausmaße« (Hoffmeister : 1973, 27). Ein Beispiel hierfür wäre Clorians Sonett an Zephir (Il parle au vent) (d’Urf¦: 1966, II, 113). Das erste Terzett dieses Sonetts lautet: »Va, mais porte avec toy les amoureuses plaintes/ Que parmy ces forests j’ay tristement empraintes,/ Seul et dernier plaisir entre

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mes desplaisirs.« (vv. 9 – 11) Hier ist ebenfalls die typische Schmerzliebe vertreten. Diese ergänzt der Autor der Astr¦e durch die kosmische Dimension der Liebe und die vor allem seit der Renaissance weitverbreitete Vorstellung des Menschen als Mikrokosmos. Im Sonett muss nämlich eine Strukturgleichheit zwischen diesem und dem Makrokosmos angenommen werden, sonst könnte der Sprecher den Wind nicht um Hilfe anrufen. Typisch petrarkistisch ist auch Tirintes Sonett (d’Urf¦: 1966, IV, 129), in dem er zunächst seine geliebte Silvanire als das Schönste, was die Schöpfung je hervorgebracht hat, preist, um dann mit der beliebten Kälte-Metapher fortzufahren: »GlaÅons, ¦galez-vous vos froideurs — son ame« (v. 12). Hier realisiert d’Urf¦ die für Petrarca so charakteristische »›lyrische Osmose‹ von Mensch und Natur« (Petrarca: 2001, 21). Ebenso ist dies z. B. auch in Adamas’ Sonett Il se compare — la riviÀre de Lignon (d’Urf¦: 1966, II, 314 f.) der Fall. Wie im Petrarkismus üblich, werden auch Gegenstände, die der Geliebten gehören, thematisiert, so zum Beispiel im Sonett Sur un esvantail (d’Urf¦: 1966, IV, 394), das der Dame zusammen mit dem besungenen Fächer übergeben wurde. Im Zentrum steht hier der Neid des Sprechers auf die Nähe des Gegenstandes zur geliebten Dame: »Trop heureux esventail, que je porte d’envie/ Quand je me considere, au bon-heur qui t’attend!/ Que je serois heureux si j’en avois autant!/ Et que j’estimerois la douceur de la vie!« (vv. 1 – 4) Die Inversion der Perspektive, dass die Benutzung des Fächers nämlich nicht der Dame, sondern diesem zugutekommt, zeugt von der vollkommenen Verwirrung des Sprechers infolge seiner Liebesverfallenheit. Diese betont d’Urf¦ zusätzlich durch die starke Interpunktion. Neben diesem gibt es in der Astr¦e auch ein Sonett über einen Spiegel der Geliebten, und zuletzt sei in diesem Kontext auf das Sonett D’une mousche sur les lÀvres de sa Dame endormie (d’Urf¦: 1966, II, 498 f.) hingewiesen, um die nicht anders als fanatisch zu bezeichnende Einstellung des Werbenden aufzuzeigen. Ein weiteres typisch petrarkistisches Motiv ist die Liebe als Tod, wie sie im Sonett Doutes d’amour (d’Urf¦: 1966, III, 555 f.) dargestellt ist: »Mais si l’on ne meurt point d’amour,/ Qui me donne cent fois le jour/ Tant et tant de morts que j’endure?« (vv. 9 – 11). Ebenso typisch petrarkistisch ist die Hyperbel (cent). Bezeichnend für den petrarkistisch-platonischen Horizont dieses Sonetts hat der Tod hier nichts mit der piccola morte, nämlich dem sexuellen Höhepunkt, zu tun, wie dies im erotischen Petrarkismus und jeder anderen erotischen Dichtung der Fall ist. So weit die Übereinstimmungen mit dem italienischen Modell, daneben beinhalten die Sonette der Astr¦e auch zahlreiche Überschreitungen des petrarkistischen Systems. Die deutlichste Überschreitung stellt die Betonung der Sinnlichkeit in einigen Sonetten dar, zum Beispiel in einem Sonett über die erste jugendliche Liebesempfindung (d’Urf¦: 1966, I, 296 f.), in dem folgender

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Wunsch geäußert wird: »[…] qu’il fait son sejour/ Dans le sein de Carlis […]« (v. 13 f.). Derart sensualistische Aspekte der Liebe finden sich im Roman bevorzugt auch in denjenigen Sonetten, in denen die geliebte Dame als schlafend dargestellt ist. Eine weitere Überschreitung des petrarkistischen Systems bzw. Abweichung von der petrarkistischen Dichtungspraxis besteht darin, dass Honor¦ d’Urf¦ weiblichen Personen Sonette in den Mund legt. Im Gegensatz hierzu ist und bleibt Laura und jede andere petrarkistisch umworbene Dame ja zum Schweigen verurteilt. Diese könnten nicht wie Florice im Roman ein Sonett (d’Urf¦: 1966, II, 137 f.) als Verteidigungsrede für ihre Intrigen zum Opfer gefallene Freundin Dorinde einsetzen. Ein weiterer Aspekt der Überschreitung des petrarkistischen Systems besteht in der Gegenseitigkeit der Liebe, wie sie beispielsweise in Hylas’ Sonett Qu’il ne faut point aymer sans estre aym¦ (d’Urf¦: 1966, II, 356) proklamiert wird: »L’amour de l’amour est extraicte;/ La charge n’est jamais bien faite,/ Qui panche toute d’un cost¦.« (vv. 12 – 14) Bezeichnenderweise wählt d’Urf¦ als Metrum hier nicht den vers commun, der dem endecasillabo in den Sonetten Petrarcas entsprechen würde, sondern den Achtsilbler. Schon die Form des Sonetts reflektiert so die Abwendung vom petrarkistischen Modell. Stattdessen herrscht hier das neoplatonische Ideal des liebend Geliebten vor. Auch die Unbeständigkeit der Liebe gehört nicht zum thematischen Kanon der petrarkistischen Dichtung. Sie vertritt vor allem der flatterhafte Hylas: »Puis qu’il faut que le temps qui vid son origine,/ Triomphe de sa fin, et s’en nomme vainqueur/ Faisons un beau dessein, et sans vivre en langueur,/ Ostons en tout d’un coup, et l’espine« (d’Urf¦: 1966, I, 30 f.) (vv. 5 – 8). Hylas’ Aufruf, viele Frauen statt einer einzigen zu lieben, bildet den exakten Gegensatz zum petrarkistischen Grundsatz der ewigen Treue – selbst bis über den Tod hinaus. Noch deutlicher ist dies im Sonett D’aymer en divers lieux (d’Urf¦: 1966, III, 22) formuliert. Natürlich, wie sollte es auch anders sein, stammt auch dieses von Hylas. Hier heißt es: »La nature en changeant se rend belle ŗ bas./ Rien n’est en l’univers, qui ne change de mesme:/ Et voyant tout changer, ne changeray-je pas?« (v. 12 – 14). Hier dient der ständige Wandel in der Natur als Legitimation für die wechselhafte Liebe oder mit anderen Worten: die Untreue. In Hylas, der die Unbeständigkeit preist, ist dabei die rein körperliche Liebe vertreten. Die letzte wesenliche Überschreitung des petrarkistischen Systems betrifft die Amorvorstellung: Während Petrarca Cupido in der ovidischen Tradition als einen rächenden Tyrannen und kriegsführenden Gott darstellt, bedient sich Honor¦ d’Urf¦ vorwiegend der anakreontischen Vorstellung der Anthologia Graeca (1494), die Amor als kleinen Jüngling mit Pfeil und Bogen darstellt (Hoffmeister : 1973, 25).

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3.2.3 Das Sonett im Spanien des 16. und 17. Jahrhunderts Wie Frankreich strebt auch Spanien im 16. Jahrhundert eine Erneuerung der Dichtung an, und zwar nach italienischem Vorbild. Paradigmatisch für einen solchen Versuch ist im so genannten Siglo de Oro die Übernahme einer Kleinform, deren Ursprung bis ins 13. Jahrhundert in den Kreis der Sizilianischen Dichterschule am Hofe Kaiser Friedrichs II. zurückreicht: des Sonetts. Bezeichnenderweise werden die ersten Sonette außerhalb Italiens in Spanien verfasst. Hierin manifestiert sich einmal mehr der intensive Kontakt zwischen beiden Ländern, der sich darüber hinaus sowohl in Form politischer als auch personeller Beziehungen nachweisen lässt: Sizilien und Neapel gehören seit Mitte des 15. Jahrhunderts zur Krone von Aragûn, zahlreiche spanische Dichter halten sich an italienischen Höfen auf, daneben gibt es eine eigene spanische Kolonie in Rom, spanische Studenten an der Universität von Bologna und in Spanien ganz allgemein ein großes Interesse an der italienischen Kultur und Lebensart. Letzteres wird auch dadurch begünstigt, dass fast alle bedeutenden spanischen Dichter dieser Zeit v. a. als Soldaten, Diplomaten oder in anderen Staatsämtern längere Zeit in Italien leben oder zumindest mit den berühmtesten zeitgenössischen italienischen Humanisten in regem brieflichen Kontakt und Gedankenaustausch stehen. Andererseits leben auch viele italienische Diplomaten, Gelehrte und Geschäftsleute im Siglo de Oro in Spanien. Neben diesen Berührungspunkten lässt sich in der spanischen Dichtung eine ganz konkrete Einflussnahme Italiens nachweisen, die wegweisend für die Entwicklung des frühen spanischen Sonetts werden sollte. Denn, wie der erste namhafte spanische Sonettist des Siglo de Oro, Juan Bosc‚n de Almog‚ver (1487/92?–1542), selbst in seiner Carta a la Duquesa de Soma berichtet, wird er im Frühjahr 1526 von dem venezianischen Gesandten und Dichter Andrea Navagero (1483 – 1529) zur Aneignung italienischer Gattungen (vor allem des Sonetts) und Inhalte ermutigt: Porque estando un d†a en Granada con el Navagero […] tratando con ¦l en cosas de ingenio y de letras y especialmente en las variedades de muchas lenguas, me dixo por qu¦ no provava en lengua castellana sonetos y otras artes de trobas usadas por los buenos authores de Italia. Y no solamente me lo dixo as† livianamente, mas aun me rogû que lo hiziese. (Bosc‚n/Vega: 1995, 85)

Dieser Zeitpunkt markiert die Geburtsstunde der neuen spanischen Dichtung, weil nun systematisch die Übernahme italienischer Formen betrieben wird. Neben dem Sonett eignen sich die spanischen Dichter auch die Ottaverime, das Terzett, die Lira, die Canzone, die Silva etc. an. Der überaus große italienische Einfluss äußert sich dabei auch darin, dass die spanischen Sonettdichter dieser

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Zeit – im Gegensatz zu ihren französischen und englischen Dichterkollegen – keine eigene nationale Form des Sonetts entwickeln, sondern die beiden Typen, die Petrarca am häufigsten im Canzoniere verwendet, als Standardform des Sonetts im eigenen Land kultivieren. Dies betrifft sowohl die äußere Form (Vierzehnzeiligkeit, endecas†labo und das Reimschema abba abba cde cde oder auch cdc dcd) als auch die innere Struktur (Aufteilung in zwei Quartette und zwei Terzette). Bezüglich des Sextetts zeigt sich im Laufe des 17. Jahrhunderts in Spanien eine zunehmende Vorliebe für den zweireimigen Typus, nachdem bei den frühen Sonettisten des Siglo de Oro das dreireimige Sonettschema nach dem Vorbild Petrarcas vorherrschend war. Nicht zuletzt die Übernahme des Sonetts zeugt dabei von der großen Bedeutung des Prinzips der imitatio in der Dichtungspraxis des Siglo de Oro. Dieses beinhaltet nicht nur die Nachahmung der italienischen Dichter, wie zum Beispiel Petrarcas und Bembos, sondern auch antiker Autoren, beispielsweise Ovids und Horaz’. Die Nachahmung reicht von der Übernahme einzelner Gedanken bis hin zur wörtlichen Übersetzung. Wichtig ist jedoch, dass sie niemals ein rein passiver Vorgang im Sinne einer sklavischen Verfallenheit an das ausgewählte Modell ist, der den Vorwurf des Plagiats rechtfertigen würde. Stattdessen handelt es sich um eine produktive Auseinandersetzung mit der jeweils als nachahmungswürdig empfundenen Vorlage, so dass das Ergebnis eine schöpferische Eigenleistung darstellt, die ihren künstlerischen Wert gerade aus dem spannungsvollen Verhältnis zwischen Innovation und Tradition gewinnt. Eine bedeutende Schlüsselrolle in der spanischen Sonettistik kommt Juan Bosc‚n de Almog‚ver (1487/92?–1542) und seinem jüngeren Dichterfreund Garcilaso de la Vega (1501/1502?–1536) zu. Der Begriff Schlüsselrolle soll dabei deutlich machen, dass keiner der beiden das erste spanische Sonett verfasst hat. Ihr großes Verdienst besteht vielmehr darin, die erste Sonettenflut in Spanien ausgelöst zu haben. Wie zur Zeit Petrarcas in Italien, der Pl¦iade in Frankreich, der elisabethanischen Epoche in England und des Barock in Deutschland bedeutet das Siglo de Oro in Spanien die erste Phase der Sonettenblüte. Bereits in der Mitte des 15. Jahrhunderts versucht sich als erster Spanier der Marqu¦s de Santillana, IÇigo Lûpez de Mendoza (1398 – 1458) an dieser Form italienischen Ursprungs. Jedoch bleiben seine insgesamt 42 Sonetos fechos al it‚lico modo (1444) ohne direkte Nachfolger und damit ohne eine nennenswerte literaturgeschichtliche Wirkung. Das spanische Sonett sollte erst etwa hundert Jahre später zu neuem und dauerhaftem Leben erweckt werden. Auch ist es Bosc‚ns und Garcilasos Verdienst, die Standardform des spanischen Sonetts (s. o.) vorgegeben zu haben. Um nochmals auf die vergleichsweise unbedeutende Rolle Santillanas im Kontext der spanischen Sonettistik zurückzukommen: Bosc‚ns und Garcilasos Sonette folgen hinsichtlich des Reimschemas des Oktetts Petrarca und nicht ihrem spanischen Vorgänger, denn sie ver-

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wenden den umarmenden Reim statt des Kreuzreimes. Nichtsdestoweniger erweist sich Bosc‚ns Behauptung, er sei der erste Spanier, der italisierende Dichtung geschaffen habe, schlichtweg als unzutreffend: »querido ser el primero que ha juntado la lengua castellana con el modo de escribir italiano« (Bosc‚n/ Vega: 1995, 86). Obgleich es schwerlich vorstellbar ist, dass Bosc‚n Santillana und sein poetisches Werk nicht kannte, mag man ihm diese kleine Eitelkeit nicht zuletzt aufgrund seines tatsächlichen Verdienstes und seiner daraus resultierenden Bedeutung für die spanische Literaturgeschichte nachsehen. Übrigens wussten andere spanische Dichter Santillanas Initiationsleistung durchaus zu schätzen, wie folgender Kommentar Fernando de Herreras bezeugt: […] el marqu¦s de Santillana, gran capit‚n espaÇol y fortissimo caballero, tentû primero con singular osad†a y se arrojû venturosamente en aquel mar no conocido y volviû a su naciûn con los despojos de las riquezas peregrinas. (Cejador y Frauca: 1972, II, 294)

Das Phänomen einer relativ langen ›Anlaufzeit‹, die das Sonett bis zur großflächigen Akzeptanz benötigt, ist übrigens nicht auf Spanien beschränkt, sondern findet sich so oder in ähnlicher Weise zuvor in Italien, später in England und Deutschland wieder. In Spanien mag dies vornehmlich politische Gründe haben: Aufgrund sich intensivierender Kontakte zu Italien war man in Spanien scheinbar erst zur Zeit Bosc‚ns reif zur dauerhaften Übernahme einer italienischen Form. Und obgleich bereits Santillana den Elfsilbler in seinen Sonetten verwendet, kann dieser erst seit Bosc‚n eine ununterbrochene Tradition in der spanischen Lyrik vorweisen. Nichtsdestoweniger zeichnet sich in Santillanas Dichtung bereits eine Tendenz ab, die bis auf den heutigen Tag charakteristisch für die spanische Sonettistik ist, und zwar die Ablehnung, das Sonett ausschließlich dem Themenbereich der Liebe zuzuordnen, wie es in der Nachfolge Petrarcas zunächst üblich war. Ein Beispiel für eine Erweiterung des Themenspektrums ist Santillanas 33. Sonett, mit dem er in Spanien die Tradition des Städtesonetts einleitet. Gleich im Eingangsvers wird Sevilla mit Rom verglichen und im Fortgang die Größe und Vorbildhaftigkeit der spanischen Stadt in kultureller, religiöser und militärischer Hinsicht gefeiert: Roma en el mundo ¦ vos en EspaÇa Soys solas Åibdades Åiertamente, Formosa Ispalis, sola por fazaÇa, Corona de la B¦tica exÅellente.

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Noble por edefiÅios, no me engaÇa Vana apparienÅia, mas judgo patente Vuestra gran fama aun non ser tamaÇa, Quanto loable soys ‚ quien lo siente. En vos concurre vernerable clero, Sacras reliquias, sanctas religiones, El bravo militante cavallero; Claras stirpes, diverssas nasÅiones, Fustas sin cuento; H¦rcules primero, Hispan e Jullio son vuestros patrones. (Santillana: 1852, 291 f.)

Wie Santillana dies im vorliegenden Sonett getan hat, bewahren die spanischen Dichter des Siglo de Oro trotz der thematischen Vielfalt der spanischen Sonettistik fast alle die klassisch-italienische Sonettform, so dass die Diskrepanz zwischen strenger Form und mannigfaltigem Inhalt auffällt. Zwar ist die Mehrzahl der Sonette Santillanas nach petrarkistischer Manier dem Thema Liebe gewidmet, jedoch füllt er die Form daneben eben auch mit politischen, patriotischen, philosophischen, moralischen sowie religiösen Inhalten. Besonders das Nebeneinander von weltlich und geistlich ausgerichteter Dichtung bleibt bis hin zu den großen spanischen Sonettisten des 17. Jahrhunderts, allen voran Lope F¦lix de Vega Carpio (1562 – 1635) und seinem andalusischen ›Gegenspieler‹ Luis de Gûngora y Argote (1561 – 1627), ein wesentliches Charakteristikum der spanischen Sonettistik. Zu dieser Zeit erfreut sich die meditative Lyrik besonderer Beliebtheit. Als Höhepunkt der mystischen Sonettistik in Spanien gilt das anonym erschienene Soneto a Cristo crucificado (publiziert 1628): No me mueue, SeÇor, para quererte, el cielo que me tienes prometido, ni me mueue el infierno tan temido para dejar por eso de ofenderte. Mueues me tffl, mi Dios, mueue ›me‹ el verte clauado en vna cruz y escarnecido, mueue me el ver tu cuerpo tan herido, mueuen me tus affrentas y tu muerte. Mueue me, en fin, tu amor en tal manera que sinû vbiera cielo, yo te amara y sinû vbiera infierno te temiera

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no tienes que me dar porque te quiera porque si quanto espero, no esperara lo mismo que te quiero te quisiera. (zit. n. Weinrich: 1961, 87)

Neben der ausgeprägten Frömmigkeit fällt in diesem Sonett die Übertragung petrarkistischer Formulierungen in den religiösen Bereich (v. a. die Wiederholung der Verben amar und querer sowie die Apostrophe Gottes statt der Geliebten) auf. Auch hier handelt es sich um eine reine Liebe – nur eben zu Gott und nicht zu einer wenn auch engelsgleichen, so doch nach wie vor irdischen Geliebten. Der systematischen Nachahmung und des maßgeblichen Einflusses auf das spanische Gattungssystem erfreut sich das Sonett erst nach dem Gespräch zwischen Navagero und Bosc‚n. Die wichtige Funktion Bosc‚ns und seines Freundes Garcilaso als Erneuerer nicht nur der spanischen Sonettistik, sondern der spanischen Dichtung überhaupt ist schon daran ablesbar, dass der Traditionalist Cristûbal de Castillejo (1490?–1550) als der prominenteste Vertreter des spanischen Widerstandes gegen die Italianisierung der einheimischen Dichtung beide in einem satirischen Sonett namentlich nennt: »Garcilaso y Bosc‚n, siendo llegados/ al lugar donde est‚n los trovadores« (v. 1 f.) (Castillejo: 1958, II, 190). Den Gedanken, das Dichten nach italienischem Vorbild komme einem Verrat am eigenen Land oder schlimmer noch der Ketzerei gleich, führt Castillejo in seiner Represiûn contra los poetas espaÇolas que escriben en verso italiano (1540) weiter aus. Diese Schrift richtet sich signifikanterweise vornehmlich gegen Bosc‚n und Garcilaso. Charakteristisch ist hierbei, dass die nationalistische Gesinnung und kein ästhetisches Urteil ausschlaggebend für die Ablehnung des Sonetts ist. »Musas italianas y latinas,/ gentes en estas partes tan extraÇa« (Castillejo: 1958, II, 196) schreibt der Dichter in einem anderen Sonett. Zunächst mag es verwundern, dass ein konservativer Geist wie Castillejo seine entschiedene Ablehnung des Sonetts als Manifestation der italienischen Überfremdung hier selbst in Form eines Sonetts äußert. Bedenkt man jedoch, dass er auf diese Weise eindringlich vorführen kann, wie einfach das Sonettieren und wie berechtigt dementsprechend seine negative Haltung gegenüber dieser Gattung ist, als umso raffinierter erweist sich seine Kritik. Nichtsdestoweniger ist Castillejos Kritik mehr oder weniger folgenlos geblieben, sein Widerstand gegen die italianisierenden Bestrebungen Bosc‚ns und Garcilasos hat sich letztlich als vergeblich erwiesen. Denn beiden gelingt es, ein neues Kapitel in der Geschichte der spanischen Dichtung zu schreiben, das vor allem unter dem Zeichen des Sonetts stehen soll. Dies belegen die insgesamt 92 Sonette Bosc‚ns, mit denen er den italienischen Elfsilbler nach Spanien importiert und dort heimisch macht, und die 38 überlieferten Sonette Garcilasos. Das Sonettwerk Bosc‚ns erweist sich

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dabei in thematischer Hinsicht als wesentlich monotoner als das seines Freundes, der beispielsweise das erste Huldigungssonett in spanischer Sprache verfasst. Die Erweiterung des Themenspektrums des frühneuzeitlichen spanischen Sonetts weg von der Liebesthematik hin zu prinzipiell allen Themen des menschlichen Lebens wird wohl am weitesten getrieben, wenn ein solches als polemisches Kampfmittel im Rahmen der Auseinandersetzung mit literarischen Gegnern eingesetzt wird. Wie bereits erwähnt, nutzt schon Castillejo – wenn auch mit wenig Erfolg – diese Möglichkeit. In viel größerem Stil aber wird sie im Streit zwischen den so genannten culteranos (v. a. Gûngora) und den claros (v. a. Lope de Vega und Quevedo) genutzt. Wie erbittert ein Kampf im Medium des zunächst der Liebesthematik vorbehaltenen Sonetts geführt werden kann, belegt auf eindringliche Weise Quevedo contra Gûngora, das seine traurige Popularität nicht zuletzt seinen antisemitischen Ausfällen gegen Gûngora zu verdanken hat. Ähnliches beinhaltet auch sein berühmtes ›Nasen‹-Sonett, in dem er sich des Stereotyps des langnasigen Juden bedient. Dieser Antisemitismus, der bei Don Francisco Gûmez de Quevedo y Villegas (1580 – 1654) bei weitem kein Einzelfall ist, wird in seinem dichterischen Werk von einer ausgeprägten Misogynie begleitet. Den aggressiven und derben Stil, der bereits durch den unmissverständlichen Titel Quevedo contra Gûngora angekündigt wird, behält Quevedo bis zum Ende in seinem Sonett gegen Gûngora bei. Dabei nutzt der Dichter immer wieder die Methode der persönlichen Beleidigung, die sich sowohl auf Konfession und Herkunft seines Gegners als auch dessen Fähigkeiten als Dichter – statt wie üblich mit einem Schwan oder einem Singvogel erfährt Gûngora im Sonett die metamorphotische Transformation in einen gewöhnlichen Hund – und die damit zusammenhängende minderwertige Qualität seiner Verse, die Quevedos Meinung nach fast alle abgeschrieben sind. Das Sonett gipfelt schließlich im ironischen, als gut gemeinten Rat getarnten Appell, in Zukunft besser nicht mehr zu dichten: Yo te untar¦ mis obras con tocino, porque no me las muerdas, Gongorilla, perro de los ingenios de Castilla, docto en pullas, cual mozo de camino. Apenas hombre, sacerdote indino, que aprendiste sin christus la cartilla; chocarrero de Cûrdoba y Sevilla, y, en la Corte, bufûn a lo divino. ¿Por qu¦ censuras tffl la lengua griega siendo sûlo rab† de la jud†a, cosa que tu nariz aun no lo niega?

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No escribas versos m‚s, por vida m†a; aunque aquesto de escriba se te pega por tener sayûn la rebeld†a. (Quevedo: 1995, II, 605)

Um Quevedo nicht in einem falschen Licht erscheinen zu lassen, soll nicht unerwähnt bleiben, dass sein beleidigendes Sonett die Antwort auf ein ebensolches Gûngoras gegen ihn selbst ist. Der Andalusier äußert sich in jenem spöttisch über Quevedos Anacreûn castellano (1609). Der neunte Vers in Quevedos Sonett könnte daher eine Anspielung auf Gûngoras Kritik an seiner Übersetzung enthalten. Es ist kaum vorstellbar, dass der Dichter eines solch satirischen Sonetts zugleich auch der Verfasser eines amourösen Sonettzyklus nach dem Vorbild Petrarcas ist, und dennoch hat Quevedo einen spanischsprachigen Canzoniere vorgelegt. Dies zeugt nicht nur von der stilistischen Vielfalt Quevedos als Personalunion eines burlesken, satirischen, philosophischen und erotischen Dichters, sondern auch von der enormen Anpassungsfähigkeit des Sonetts. Nicht zu Unrecht kann im Siglo de Oro von einem wahrhaften Sonettenkrieg gesprochen werden, der in größtmöglichem Kontrast zur ursprünglichen Liebessonettistik, aber auch den vielen Lob- und Freundschaftssonetten zwischen einzelnen Dichtern steht – auch zwischen denjenigen, die sich im Medium des Sonetts bekriegen, denn nicht nur Bosc‚n und Garcilaso tauschen enkomiastische Sonette aus, sondern ebenso Gûngora und Lope de Vega. Eine andere Art der Erweiterung des Themenspektrums repräsentiert Hernando de AcuÇas Huldigungssonett Al Rey Nuestro SeÇor, das der langen Tradition der enkomiastischen Sonette – vornehmlich auf hohe Würdenträger – angehört, die Garcilaso de la Vega begonnen hat. Wohl bedacht bildet die Kernaussage das Zentrum des Sonetts: »un Monarca, un Imperio, y una Espada« (v. 8). Was ist dieser Vers anderes als die poetische Formulierung der imperialen Ideologie des spanischen Weltreichs, nach der sich die Frage, ob ein Eroberungskrieg tatsächlich als »justa guerra« (v. 11) zu bezeichnen ist, gar nicht erst stellt? Al Rey Nuestro SeÇor Ya se acerca, seÇor, o es ya llegada la edad gloriosa, en que promete el cielo una grey, y un pastor, solo en el suelo, por suerte a vuestros tiempos reservada. Ya tan alto principio en tal jornada os muestra el fin de vuestro santo zelo, y anuncia al mundo para mas consuelo, un Monarca, un Imperio, y una Espada:

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Ya el orbe de la tierra siente en parte, y espera en todo vuestra monarquia, conquistada por vos en justa guerra: que a quien ha dado Christo su estandarte, dara el segundo mas dichoso dia en que vencido el mar, venÅa la tierra. (AcuÇa: 1954, 342)

Die Bedeutung, die der dem italienischen Vorbild nachempfundenen Dichtungsweise – und hier im Besonderen dem Sonett – zugesprochen werden muss, darf jedoch nicht den Blick darauf verstellen, dass es sich hierbei nur um die eine Seite der Medaille handelt. Denn das Siglo de Oro ist gerade durch die friedliche Koexistenz zweier unterschiedlicher Dichtungsstile geprägt: italianisierend (mit humanistischen antikisierenden Bestrebungen) der eine, traditionell spanisch der andere. Zwar zeichnet sich ab Mitte des 16. Jahrhunderts auf breiter Front eine Vorliebe für die italisierende Dichtung ab, jedoch wird die autochthone Dichtung nicht ganz aufgegeben: Alle bedeutenden und auch die weniger bedeutenden Dichter dieser Zeit vollführen auf mehr oder weniger gelungene Weise den Spagat zwischen Neuem und Altem. Repräsentativ für die gesamte Epoche enthält der Cancionero general de 1554 neben 90 Gedichten im traditionellen Stil 83 weitere im italianisierenden Stil. Dies macht deutlich, dass in Spanien nicht ohne weiteres eine klare Trennung zwischen Mittelalter und Früher Neuzeit zu ziehen ist. Im Gegensatz zu Frankreich werden zwar die italienischen Dichtungsformen übernommen, nichtsdestoweniger treffen wir weiterhin auch auf die einheimischen lyrischen Gattungen. Eine wesentliche Neuerung besteht zum Beispiel darin, dass das spanische Mittelalter zwar im Bereich der Lyrik außerordentlich produktiv ist, dies jedoch fast ausschließlich in Form der Cancioneros, also Gedichtsammlungen, die unterschiedlichste Autoren vereinen, wohingegen im 16. Jahrhundert die Individualschöpfungen erheblich an Beliebtheit gewinnen. Die wichtigsten Unterschiede zwischen der italisierenden und der autochthonen Dichtungsweise bestehen sowohl in metrischer und formaler als auch in inhaltlicher Hinsicht. Die spanischen Dichter verwenden in Anlehnung an Petrarca und Dante anstelle des traditionellen Achtoder Zwölfsilblers den Elfsilbler (v. a. den endecas†labo llano). Außerdem beherrschen italienische Gattungen (Sonett, Oktave, Terzine, Kanzone etc.) und daneben auch römisch-antike Gattungen (Ode, Elegie, Epistel etc.) die Dichtungslandschaft und verdrängen die einheimischen Formen (copla, canciûn etc.). In inhaltlicher Hinsicht heißt das große nachahmungswürdige Vorbild Francesco Petrarca. Dies hat einen Rückgriff auf antike Autoren (besonders Ovid) und eine Konzentration auf die petrarkistische und neoplatonische Liebeskonzeption zur Folge, in der im Gegensatz zur mittelalterlichen Dichtung der

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sinnliche Aspekt der Liebe keine Rolle mehr spielt, sondern die Liebe gänzlich vergeistigt wird. Insofern stellt Garcilasos berühmtes 23. Sonett bereits eine Art Überwindung des streng petrarkistischen Systems dar ; denn der petrarkistische Schönheitskatalog zur Beschreibung der Geliebten wird hier mit dem horazischen carpe diem-Motiv kombiniert. Dies schließt den körperlichen Liebesgenuss mit ein. Garcilaso konkretisiert das Thema der flüchtigen Zeit zu dem der Vergänglichkeit der Schönheit. Damit gelingt es dem Dichter, das vorgegebene System mit eigenen Mitteln zu überwinden. Interessanterweise gehört Garcilaso somit nicht nur zu den Vorreitern des Petrarkismus in Spanien, sondern verfasst zeitgleich auch anti-petrarkistische Verse. Dies belegt nicht zuletzt den beschränkten Charakter des petrarkistischen Systems, der auch in Frankreich dazu geführt hat, dass Petrarkismus und Anti-Petrarkismus von den ersten Sonetten an nebeneinander bestehen. Außerdem zeigt sich bereits in diesem Sonett Garcilasos das Bestreben um eine epigrammatische Zuspitzung, die im Laufe der Frühen Neuzeit in Spanien ebenso wie in den anderen europäischen Ländern, die das Sonett rezipieren, immer mehr zur Mode wird, bis wir schließlich bei Lope de Vega eine Gleichsetzung von Epigramm und Sonett verzeichnen können. En tanto que de rosa y d’aÅucena se muestra la color en vuestro gesto, y que vuestro mirar ardiente, honesto, con clara luz la tempestad serena; y en tanto que’l cabello, que’n la vena del oro s’escogiû, con buelo presto por el hermoso cuello blanco, enhiesto, el viento mueve, esparze y desordena: coged de vuestra alegre primavera el dulce fruto antes que’l tiempo airado cubra de nieve la hermosa cumbre. Marchitar‚ la rosa el viento elado, todo lo mudara la edad ligera por no hazer mudanÅa en su costumbre. (Bosc‚n/Garcilaso: 1995, 377)

Noch entschiedener als Garcilaso wendet sich Franscisco de Aldana (1537 – 1578), der ebenso wie Garcilaso und Hernando de AcuÇa das spanische Renaissanceideal des Dichtersoldaten (armas y letras) verkörpert, gegen die Theorie der petrarkistischen und neoplatonischen Liebe, die unter anderem durch die zahlreichen Kommentare zu Platons Werk und Bosc‚ns frühe Übersetzung von Castigliones Il libro del cortegiano (1528, span. Übersetzung 1534) in Spanien eingeführt wurde. In den meisten seiner Sonette herrschen Liebes-

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leidenschaft, Hedonismus und konkrete Sinnlichkeit (»con obras«, v. 14) statt Melancholie und einer rein spirituellen Liebessehnsucht vor. Noch deutlicher als in seiner Dichtung tritt Aldanas Abkehr vom Modell der höfischen Liebe in seinem verschollenen Traktat Obra de amor y hermosura a lo sensual hervor. Als Mitglied der Dichterschule von Salamanca (s. u.) schreibt Aldana in einem gewollt einfachen, rhetorisch ungekünstelten Stil. Dies belegt das erste Quartett: Yo lo quiero jurar, y ella de presto toda encendida de un color de rosa con un beso me impide y presurosa busca atapar mi boca con su gesto. (Aldana: 1957, 12)

Und auch das zweite Terzett behält diesen Stil bei: Con esto de tal fuerza a encadenarme viene que Amor, presente al dulce juego, hace suplir con obras mi deseo. (Aldana: 1957, 13)

Auffallend ist, dass die spanischen Dichter vor allem im Bereich der Sonettistik, der naturgemäß am stärksten von Petrarca und seinem Canzoniere beeinflusst sein müsste, eine große thematische Vielfalt aufweisen, wenngleich das Amormotiv auch bei ihnen quantitativ überwiegt. Nichtsdestoweniger belegen die thematischen Entgrenzungen, wie ein Dichter durch Imitation zu Originalität gelangen kann. Dies ist beispielsweise in jenem Sonett Bosc‚ns der Fall, in dem er den Tod seines Freundes Garcilaso de la Vega auf ähnlich eindringliche Art und Weise besingt wie der petrarkistisch Werbende die ablehnende Kälte seiner Geliebten. In beiden Fällen wird nichts mehr herbeigesehnt als die physische Nähe des anderen: […] dime: ¿por qu¦ tras ti no me llevaste cuando desta mortal tierra partiste?, ¿por qu¦, al subir a lo alto que subiste, ac‚ en esta baxeza me dexaste? […] que, o quisieras onrarme con tu lado, o a lo menos de m† te despidieras; o, si esto no, despu¦s por m† tornaras. (Bosc‚n/Garcilaso: 1995, 196)

Besonders offensichtlich ist die Abwendung vom traditionellen Liebesmotiv, wie bereits vorgeführt wurde, in solchen Sonetten, die anstatt der Angebeteten sich

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selbst zum Thema haben und somit einen poetologischen Charakter besitzen. Das Urbild des spanischen Sonettenspiegels stammt aus der Feder eines Zeitgenossen Bosc‚ns und Garcilasos, namentlich Diego Hurtado de Mendozas (1503 – 1575), des Urenkels Santillanas, des ersten spanischen Sonettisten. Sein Pedis, reina, un soneto; ya le hago enthält jene Kerngedanken, die leitmotivisch in fast allen Sonetten über das Sonett wiederkehren: Pedis, Reyna, vn Soneto, ya le hago, Ya el primer verso y el segu˜do es hecho, Si el tercero me sale de prouecho, Con otro verso el vn quarteto os pago. Ya llego al quinto : EspaÇa, Santiago : Fuera, que entro en el sexto : sus, buen pecho, Si del septimo salgo, gran derecho Tengo a salir con vida deste trago. Ya tenemos a vn cabo los quartetos, Que me dezis, seÇora ? no ando brauo ? Mas sabe Dios si temo los tercetos. Y si con bien este Soneto acabo, Nunca en toda mi vida mas Sonetos. Ya deste, gloria a Dios, he visto el cabo. (zit. n. Weinrich: 1961, 51)

Einerseits betont Mendoza hier die Schwierigkeit der Gattung (Reimzwang und vorgegebene Länge bzw. Kürze), andererseits die Erhabenheit, das Graziöse und Spielerische der Form, welche den Dichter für das peinvolle Unternehmen (vgl. Lope de Vegas poetische Beschreibung seines Zustandes, als ein Sonett von ihm gefordert wird: »que en mi vida me he visto en tanto aprieto«196 (zit. n. Weinrich: 1961, 50)) letztendlich entschädigen – dies bestätigt schon allein die Existenz ebensolcher Sonette, die sich nicht nur im Siglo de Oro großer Beliebtheit erfreuen. Die berühmtesten stammen außer von Mendoza von Alc‚zar und eben Lope de Vega. Die Poesie und somit auch die Sonettistik im Spanien der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts werden vor allem von zwei konkurrierenden Dichterschulen in Salamanca und Sevilla beherrscht. Während die Salmatiner unter Leitung Fray Luis de L¦ons (1527 – 1591) sich um einen bewusst einfachen und der Rhetorik abgeneigten Stil bemühen, nutzen die Sevillaner um Fernando de Herrera (1534 – 1597) ihre meist als schwülstig empfundene Rhetorik für allerlei Wortspielereien und Klangeffekte und weisen hierdurch einerseits auf ihre beiden 196 Es handelt sich hierbei um den zweiten Vers des berühmten poetologischen Sonetts Un soneto me manda hacer Violante.

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Gründungsväter Bosc‚n und Garcilaso de la Vega zurück – Herreras Anotaticiones a las obras de Garcilaso (1580) stellt die bedeutendste Poetik des Siglo de Oro dar, und Garcilasos Beiname El pr†ncipe de la Poes†a espaÇola geht auf ihn zurück – und andererseits auf den primär von Gûngora vertretenen culteranismo, der oft als ›Formlyrik‹ bezeichnet wird, hin, gegen den immer wieder der Vorwurf der Dunkelheit und der hermetischen Abgeschlossenheit erhoben wird. Ihren Höhepunkt erreicht die Sonettistik etwa in der Mitte des Siglo de Oro in den Werken Lope F¦lix de Vega Carpios (1562 – 1635) und Luis de Gûngora y Argotes (1561 – 1627). Lope de Vega soll über 3000 Sonette verfasst haben, von denen allerdings ›nur‹ die Hälfte erhalten ist. Was Lopes exponierte Stellung in der Geschichte des spanischen Sonetts rechtfertigt, ist jedoch nicht die Quantität seiner lyrischen Produktion auf diesem Gebiet, sondern vielmehr die Tatsache, dass er einem bestimmten Typus zu besonderer Popularität und auch Geltung verholfen hat, nämlich dem Bühnensonett. Lope de Vega hat nicht weniger als zwei Drittel seiner Sonette als lyrische Digressionen in seine Comedias eingestreut. Wer sich mit dem spanischen Drama dieser Zeit auskennt, mag einwenden, dass in der Praxis diese Methode zu Zeiten Lopes längst üblich war. Das berühmteste Beispiel ist hier zweifelsohne Miguel Saavedra Cervantes (1547 – 1616), der übrigens auch in seinem Don Quijote (1605/1615) Sonette als lyrische Digressionen verwendet, wodurch einmal mehr die enorme Anpassungsfähigkeit der Gattung belegt wird. Lopes Leistung besteht jedoch darin, dass er die gewöhnliche Anzahl von Bühnensonetten von maximal zwei pro Drama in vielen Fällen auf das Drei- bis Vierfache erhöht hat. Außerdem hat er als erster spanischer Autor die Funktion solch lyrischer Einschübe im dramatischen Text reflektiert. In seiner Anleitung für Dramenautoren, dem Arte Nuevo de Hacer Comedias (1609), heißt es hierzu: »El soneto est‚ bien en los que arguardan« (v. 308) (Lope de Vega: 2003a, 250). Hieraus erklärt sich auch, dass Lopes Bühnensonette im Gegensatz zu Shakespeares berühmtem Dialogsonett aus Romeo and Juliet197 größtenteils monologisch gehalten sind. Daraus ergibt sich für den Spanier der pragmatische Vorteil, dass seine lyrischen und dramatischen Sonette austauschbar sind. Betrachten wir ein konkretes Sonett Lopes aus den Rimas von 1602, das das widersprüchliche Wesen der Liebe thematisiert:

197 Eine ausführliche Auseinandersetzung mit diesem Sonett erfolgt auf S. 198 ff. dieser Untersuchung.

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Desmayarse, atreverse, estar furioso, ‚spero, tierno, liberal, esquivo, alentado, mortal, difunto, vivo, leal, traidor, cobarde y animoso; no hallar fuera del bien centro y reposo, mostrarse alegre, triste, humilde, altivo, enojado, valiente, fugitivo, satisfecho, ofendido, receloso; huir el rostro al claro desengaÇo, beber veneno por licor suave, olvidar el provecho, amar el daÇo; creer que un cielo en un infierno cabe, dar la vida y el alma a un desengaÇo: esto es amor, quien lo probû lo sabe. (Lope de Vega: 2003c, 88 f.)

Hierbei handelt es sich um einen bei Lope de Vega weit verbreiteten Typus, nämlich das Definitionssonett. Wie Lope, um den Spannungsbogen vom ersten bis zum letzten Vers zu erhalten, erst im Abschlussvers verrät, soll die Liebe näher bestimmt werden, allerdings erweist sich diese als ein paradoxes Phänomen. Der Leser fühlt sich – zu Recht – an Petrarca erinnert, von dem die berühmtesten Definitionssonette stammen. Nichtsdestoweniger lässt sich an diesem Sonett zeigen, wie Lope einerseits petrarkistische Tendenzen aufnimmt, andererseits aber das strenge petrarkistische System gerade im Medium des petrarkistischen Typus des Liebesdefinitionssonetts überwindet. So erinnern zwar das erste Wort und die Beschreibung der widersprüchlichen Gefühlsausbrüche des Liebenden an die petrarkistische Liebeskonzeption, jedoch wird diese durch verschiedene Zusätze ergänzt bzw. umgedeutet. Zum einen handelt es sich nicht um die Klage eines Liebenden. Nach der Thematisierung der Werbung des Mannes (v. 1) und der Reaktion der Frau (v. 2) verschmelzen beide ab dem dritten Vers zu einem gewissermaßen transsexuellen ›Opfer‹ der Liebe, dessen Entwicklungsstufen das Sonett nachzeichnet. Gerade die realistische Darstellung und auch die vielen Gefühlsausbrüche (vgl. beispielsweise »estar furioso«, v. 1) lassen sich nicht in das aller Realität enthobene idealistische System des Petrarkismus eingliedern. Auf der anderen Seite thematisiert das Sonett mit dem desengaÇo-Motiv eine für das Siglo de Oro charakteristische Haltung. Den Zustand der Enttäuschung oder der Desillusionierung gestaltet Lope de Vega besonders eindringlich: Erstens nennt er ihn explizit und zweitens wiederholt er ihn auf engstem Raum (v. 9 und v. 13), und zwar jeweils in der betonten Position als Endreim. Ebenso wie dieses sind die meisten Sonette Lope de Vegas dem Thema der

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zwischenmenschlichen Liebe gewidmet, obgleich er keinen Canzoniere nach dem Vorbild Petrarcas verfasst hat. Daneben behandelt jedoch auch er völlig andere Themen, die zum Beispiel den Bereichen Religion, Geschichte, Politik und Mythologie entstammen. Auch soll nicht unerwähnt bleiben, dass er für den Großteil seiner Kasuallyrik und enkomiastischen Dichtung die Form des Sonetts wählt. Und schließlich nimmt auch er – wie bereits erwähnt – mit burlesken und satirischen Vierzehnzeilern am ›Sonettenkrieg‹ teil. Für letztere stehen – ebenso wie im Falle Quevedos – als antike Vorbilder allen voran Horaz, Juvenal und Martial Pate. Ebenso wie Gûngora dies umgekehrt tut, verfasst jedoch auch Lope Sonette, in denen er den andalusischen Dichter in einem positiven Licht erscheinen lässt. In seinem A Don Luis de Gûngora wird der Bedichtete regelrecht mit Lobeshymnen überhäuft (in der damaligen Zeit scheint man genauso gerne zu loben wie zu spotten): Nicht nur sei er ein »Claro cisne del betis« (v. 1) (man vergleiche hierzu die Beschimpfung Gûngoras als »perro« in Quevedos Spottsonett), sondern auch der Liebling der Musen und ähnlich leuchtend wie die Sonne, so dass auch er es vermag, die Federn aller seiner ikarusgleichen Nachahmer verglühen zu lassen. Obgleich Lope an dieser Stelle einen Imitationsversuch des großen Andalusiers mit der Hybris des Ikarus vergleicht, so bringt er dem culterano dadurch die größte Ehrerbietung entgegen, dass er den gongoristischen Stil in dessen Thematik, erhabener Stilhöhe, eigenwilliger Syntax und kühner Metaphorik in seinem Sonett imitiert. Claro cisne del Betis que, sonoro y grave, ennobleciste el instrumento m‚s dulce, que ilustrû mfflsico acento, baÇando en ‚mbar puro el arco de oro, a ti lira, a ti el castalio coro debe su honor, su fama y su ornamento, fflnico al siglo y a la envidia exento, vencida, si no muda, en tu decoro. Los que por tu defensa escriben sumas, propias ostentaciones solicitan, dando a tu inmenso mar viles espumas. Los †caros defienda, que te imitan, que como acercan a tu sol las plumas de tu divina luz se precipitan. (Lope de Vega: 2003c, 103)

Bei seinem ›Gegenspieler‹ Gûngora sticht im Gegensatz zur Produktivität Lopes weniger der Aspekt der Quantität ins Auge als vielmehr derjenige der vollkommenen thematischen Entgrenzung des Sonetts. Das Themenspektrum dieser Gattung erfährt durch die Feder des Andalusiers eine Ausdehnung hin zu

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ungeahnten Weiten: neben Liebessonetten verfasst Gûngora Sonette an Dichter und Gelehrte, historische, enkomiastische, satirische, philosophische, religiöse, burleske und Epitaph-Sonette, aber auch Sonette über Städte, Landschaften, Kirchen usw., Votivsonette, Scherz- und Spottsonette, Invektiven in Sonettform und auch drei Bühnensonette. Auch hier belegt die bunte Themenfülle die vielfältigen Funktionsbereiche des Sonetts. Jedoch steht Gûngora, wie bereits ausgeführt, nicht allein auf weiter Flur, denn spätestens im 17. Jahrhundert dominiert in spanischen Sonetten nicht mehr die Liebesthematik. Besondere Beachtung verdienen vor allem die parodistischen und satirischen Sonette Gûngoras, in denen er sowohl feindlich gesinnte Dichter angreift, als auch die Missstände des höfischen Lebens und der spanischen Gesellschaft anprangert, aber auch seine moralisch-philosophischen Sonette. Letztere sind zumeist dem desengaÇo-Motiv gewidmet, das auch Quevedo in vielen seiner Sonette thematisiert und teilweise bis zum Todesmotiv steigert. Ein entsprechendes Beispiel von Gûngora trägt den vielsagenden Titel De la brevedad engaÇosa de la vida: Menos solicitû veloz saeta destinada seÇal, que mordiû aguda; agonal carro por la arena muda no coronû con m‚s silencio meta, que presurosa corre, que secreta, a su fin nuestra edad. A quien lo duda (fiera que sea de razûn desnuda) cada sol repetido es un cometa. Confi¦salo Cartago, ¿y tffl lo ignoras? Peligro corres, Licio, si porf†as en seguir sombras y abrazar engaÇos. Mal te perdonar‚n a ti las horas, las horas que limando est‚n los d†as, los d†as que royendo est‚n los aÇos. (Gûngora: 1982, 247)

Dieses Sonett vereint die wesentlichen Charakteristika des – nicht nur von Lope de Vega – kritisierten gongoristischen Stils (culteranismo), nämlich den auffallend hohen Schwierigkeitsgrad, der vor allem auf die kühnen metaphorischen Umschreibungen, die mythologischen Anspielungen, die eigenwillige Syntax und die abschließende Pointe, die die Flüchtigkeit des Lebens durch den ovidischen Topos des nagenden Zahnes der Zeit benennt, zurückzuführen ist. Beachtung verdient dabei nicht zuletzt auch die künstlerische Umsetzung der inhaltlichen Aussage, denn mittels der Stilfigur der Anadiplose (vv. 12 – 14)

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Gattungsentwicklung unter den Bedingungen literarischer Teilglobalisierung

gelingt es Gûngora, den stetigen Fluss der Zeit in der Klangstruktur seines Sonetts abzubilden. Den Ausklang der spanischen Sonettkunst im Siglo de Oro bildet das Schaffen der Dichterin Sor Juana IǦs de la Cruz (1651?–1695), der zugleich auch eine bedeutende Rolle in der mystischen Dichtung zukommt. In den beiden Terzetten ihres Sonetts En que da moral censura a una rosa, y en ella a sus semejantes nimmt auch sie das bereits erläuterte desengaÇo-Motiv in aller Deutlichkeit auf: ¡Cu‚n altiva en tu pompa, presumida, soberbia, el riesgo de morir desdeÇas, y luego desmayada y encogida de tu caduco ser das mustias seÇas! Con que con docta muerte y necia vida, viviendo engaÇas y muriendo enseÇas. (Sor Juana de la Cruz: 1992, 43 f.)

Nach diesem letzten Aufschwung tritt das spanische Sonett im 18. Jahrhundert erst einmal seinen Rückzug aus dem Zentrum der dichterischen Produktion an seine Peripherie an. Wie in den meisten anderen europäischen Ländern folgt auf die erste Phase der Sonettbegeisterung eine solche der Sonettarmut, ohne dass diese Form jedoch ganz verschwinden sollte, was bis auf den heutigen Tag gilt: Die Akzeptanz des Sonetts läßt sich nicht geradlinig, stets nach oben weisend darstellen, sondern gleicht eher einer Berg- und Talfahrt. So folgen auf Phasen, in denen sich die Sonettbegeisterung zur Mode steigert, Abstürze in die Bedeutungslosigkeit. (Stemmler : 1999, 27)

3.2.4 Schlussbetrachtungen So wichtig der Rückgriff auf antike Positionen und deren Aktualisierung oder zumindest Teilaktualisierung für die Herausbildung des frühneuzeitlichen europäischen Gattungssystems auch ist, so darf auch die Rolle bestimmter mittelalterlicher Traditionen nicht unterschätzt werden. Dies belegen u. a. zwei Gattungen, die sich ab dem 15. Jahrhundert ausgehend von Italien sukzessive in Europa ausbreiten, nämlich das Sonett und die Novelle. Das maßgebliche italienische Modell für das frühneuzeitliche Sonett liefert Francesco Petrarca mit seinen Rerum vulgarium fragmenta, dasjenige der Novelle stammt von Giovanni Boccaccio, und zwar das Decameron. Zu mustergültigen Modellen für diese beiden Gattungen werden beide Autoren übrigens ungeachtet dessen, dass von ihnen nicht die ersten Exemplare der jeweiligen Gattung stammen. Petrarca und Boccaccio werden im frühneuzeitlichen Europa nicht nur in gattungstypologischer Hinsicht als vorbildhaft erachtet, sondern vor allem auch deshalb, weil sie

Das Sonett

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eindrucksvoll vor Augen führen, dass das Lateinische als Literatursprache durch das volgare ersetzt werden kann, ohne an Qualität einzubüßen. Es handelt sich bei Petrarca und Boccaccio dabei gerade um jene Autoren, die Pietro Bembo in seiner sprachtheoretischen Abhandlung Prose della volgar lingua (1525)198 zu nachahmungswürdigen Vorbildern im Bereich der Lyrik und der Prosa und damit zugleich zu ›Klassikern‹ der volkssprachlichen Literatur Italiens erklärt. Hierin werden diese beiden Autoren modellhaft für andere europäische Länder, in denen es im 16. Jahrhundert und in Deutschland aufgrund der allgemeinen ›Verspätung‹ im Bereich der Literatur im 17. Jahrhundert starke Tendenzen gibt, die jeweils eigene Landessprache als Sprache der Dichtung zu etablieren. Repräsentativ belegt dies das programmatische Manifest der so genannten Pl¦iade, einer Gruppe sieben junger Dichter, die sich in Paris zusammengeschlossen haben und deren Absicht es war, das französische Gattungssystem zu reformieren, wenn nicht gar zu revolutionieren und das Französische als Literatursprache gegenüber dem Lateinischen aufzuwerten. Gemeint ist die von Joachim Du Bellay verfasste Schrift La deffence, et illustration de la langue franÅoyse (1549). Über die französische Sprache wird hier prophezeit, dass sie puisse un jour parvenir au point d’excellence, et de perfection aussi bien que les autres, entendu que toutes Sciences se peuvent fidelement, et copieusement traicter en icelle, comme on peut voir en si grand nombre de Livres Grecz, et Latins, voyre bien Italiens, Espaignolz, et autres traduictz en FranÅoys, par maintes excellentes plumes de nostre tens. (Du Bellay : 2001, 84 f.)

Die Novelle und das Sonett zeugen von jenem europäischen Kulturtransfer in der Frühen Neuzeit im Bereich der Literatur, der für eine gewisse Stabilität und Konstanz des Gattungssystems gesorgt hat. Diesen hätte man selbstverständlich an einer Vielzahl von Gattungen neben den beiden gewählten aufzeigen können, wie beispielsweise dem Roman, Emblem o. ä. Ebenso hätte man ihn aber auch stofflich und motivgeschichtlich – auch jenseits von Gattungsgrenzen – nachweisen können (›petrarkistisches System‹, Romeo-und-Julia-Stoff etc.). Die Novelle und das Sonett stellen jedoch insofern besonders eindrucksvolle Belege eines Kulturtransfers dar, als beide in der Frühen Neuzeit aufgrund ihrer außerordentlichen Beliebtheit eine privilegierte Stellung im europäischen Gattungssystem einnehmen. Anhand der Ausbreitung beider Gattungen im frühneuzeitlichen Europa auf der Basis eines jeweils konkreten Modells konnte gezeigt werden, dass es sich niemals um eine exakte Übernahme des jeweiligen Modells handelt, sondern eine wesentliche Säule des Kulturtransfers das Prinzip der variatio, und zwar mit dem Ziel der æmulatio ist. Sowohl die Novelle als auch das Sonett belegen diesen Zusammenhang auf repräsentative Weise. 198 Bembo: 1992, 128 – 131.

4.

Literarische Motive und ihre europaweite Verbreitung in der Frühen Neuzeit

Neben dem europaweiten Auftreten von Diskursformen und Gattungen zeugt auch die Verbreitung einzelner Motive vom Prozess der frühneuzeitlichen europäischen Teilglobalisierung und von der engmaschigen Vernetzung der nationalsprachigen Literaturen Europas durch die Rezeption verschiedener poetischer Diskurstypen. Im Folgenden soll dies am Beispiel eines der berühmtesten Stoffe der Weltliteratur, nämlich dem Romeo-und-Julia-Mythos, und dem Thema der Fiktion der Reise zum Mond aufgezeigt werden. Diese Wahl ist insofern nicht willkürlich, als es sich beim ersten Stoff um einen (nicht nur) in der Frühen Neuzeit stark rezipierten und beim zweiten um einen durch nur wenige Beispiele belegten handelt. Dass sich nicht nur die ›großen‹ Stoffe in unterschiedlichen europäischen Literaturen nachweisen lassen, sondern eben auch ein peripheres Motiv wie der Mondflug, verweist umso mehr auf die realen Dynamiken und die umfassenden Distributionsprozesse innerhalb der Literaturen des frühneuzeitlichen Europas.

4.1

Der Romeo-und-Julia-Stoff

Die wichtigste Voraussetzung für die europaweite Rezeption dieses Stoffes in der Frühen Neuzeit ist sicherlich, dass er prinzipiell nicht national beschränkt ist, sondern dem europäischen Leser qua Menschsein zugänglich ist. Fast könnte man behaupten, dass das Motiv einer unerfüllten Liebe mit tragischem Ausgang eine anthropologische Konstante darstellt. Daraus folgt zugleich, dass der Stoff auch nicht zeitlich begrenzt ist. Dies belegt die bis heute bestehende Aktualität des Romeo-und-Julia-Stoffes.199 Diese fortdauernde Aktualität lässt sich kaum besser aufzeigen als durch den folgenden Hinweis auf die Präsenz dieses Stoffes in einer der modernsten medialen Präsentationsformen, nämlich dem Internet: Unter Nutzung des Mikroblogging-Dienstes Twitter schuf die Royal Shakespeare 199 Vgl. hierzu beispielsweise Brunet: 2002.

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Literarische Motive und ihre europaweite Verbreitung in der Frühen Neuzeit

Company in Zusammenarbeit mit einer britischen Produktionsfirma eine digitale Version des Romeo-und-Julia-Stoffes mit dem Titel Such Tweet Sorrow.200 Handlungsort der Geschichte, die nun in der Gegenwart spielt und in der immer wieder ein Bezug zum aktuellen Tagesgeschehen hergestellt wird, ist eine namenlose englische Kleinstadt. Den Handlungsverlauf bestimmen die Darsteller durch die von ihnen verfassten Tweets, die jeder Interessierte ab dem 10. April 2010 abonnieren konnte. Dank der potenziellen internationalen Zugänglichkeit des Internets und der ausschließlichen Verwendung des Englischen als lingua franca weist der Romeo-und-Julia-Stoff spätestens hier tatsächlich eine globale Verbreitung auf. Und tatsächlich ist es so, dass das bis heute andauernde große Interesse an diesem Stoff primär auf die Bearbeitung William Shakespeares zurückzuführen ist.201 Zur beständigen Aktualität des Romeo-und-Julia-Stoffes kommt ein weiterer Aspekt hinzu, der deutlich macht, dass diese Thematik nicht an spezifische zeitgeschichtliche Bedingungen und Umstände gebunden ist. Denn schon lange vor der Erfindung des spezifischen Romeo-und-Julia-Stoffes in den 1520er Jahren begegnet uns das diesem Stoff zugrunde liegende Motiv der unbedingten Liebe zweier junger Menschen, deren Realisierung äußere Hindernisse entgegenstehen und die ein tragisches Ende im Tode beider findet, in der Literatur. Die entsprechende Tradition reicht dabei bis in die Antike zurück. Die beiden griechischen Mythen von Hero und Leander und von Pyramus und Thisbe sind nur zwei der zahlreichen Beispiele, die das Vorkommen dieses Motivs in der Antike belegen.202 Obgleich der Romeo-und-Julia-Stoff nicht nur auf den Bereich der Literatur beschränkt war und ist, sondern ebenfalls Eingang in andere Künste gefunden hat – zu denken wäre hier beispielsweise an Wolfgang Amadeus Mozarts Oper Il dissoluto punito ossia il Don Giovanni (1787, KV 527), Louis Hector Berlioz’ Sinfonie Rom¦o et Juliette (1839), Leonard Bernsteins West Side Story (1957) und Baz Luhrmanns Kinoerfolg Romeo + Juliet (1996) mit Leonardo DiCaprio und Claire Danes in den Hauptrollen – , soll es im Folgenden ausschließlich um die literarische Präsenz dieses Stoffes im frühneuzeitlichen Europa gehen, zumal diese ja die notwendige Voraussetzung für die spätere Rezeption des Stoffes in anderen Künsten darstellt. Im Folgenden soll es darum gehen, der Verbreitung des literarischen Romeound-Julia-Stoffes im frühneuzeitlichen Europa nachzuspüren und herauszuarbeiten, wie hier im Kontext einer Poetik der imitatio und variatio ein themati200 http://suchtweetsorrow.com. Letzter Zugriff am 21. 4. 2010. Mittlerweile ist diese Seite leider nicht mehr verfügbar. 201 Signifikanterweise wurde William Shakespeares Tragödie im 20. Jahrhundert vielfach verfilmt. Vgl. hierzu Boose/Richard: 1998, Buchmann: 1991 und Rothwell: 1999. 202 Für die wichtigsten antiken Vorläufer des Romeo-und-Julia-Stoffes vgl. Hager : 1999, 33 – 47.

Der Romeo-und-Julia-Stoff

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sches Grundmuster mannigfaltigen Transformationen und Ergänzungen unterzogen wird. Zwar zeugt der Romeo-und-Julia-Stoff vom frühneuzeitlichen Kulturtransfer im literarischen Feld, jedoch lassen sich im Kontext der europaweiten Rezeption schon bzw. gerade im Laufe der Frühen Neuzeit nationale Anverwandlungen ausmachen, die jedoch durch die prinzipielle Beibehaltung bzw. Übersetzung der ursprünglichen Namen der Protagonisten das ursprüngliche italienische Modell erkennen lassen. Diese Texte könnte man als Beispiele des expliziten Romeo-und-Julia-Stoffes bezeichnen. Interessant ist in diesem Kontext auch die Gattungsfrage, denn die ›Geschichte‹ von Romeo und Julia ist in dieser Zeit nicht ausschließlich der narrativen Form der Novelle vorbehalten, sondern ebenfalls in Lyrik und Dramatik vertreten. Im Folgenden soll es um den ›expliziten‹ Romeo-und-Julia-Stoff gehen, d. h., ausschließlich um solche narrativen oder lyrischen Texte, deren Protagonisten die Namen Romeo und Julia bzw. deren nationalsprachliche Entsprechungen tragen.203 Wie bereits erwähnt, verfügt das zugrunde liegende Motiv dieses Stoffes über eine lange Tradition, die bis in die Antike zurückreicht. Dies bestätigt den Befund, dass der Stoff von Romeo und Julia einen überzeitlichen Charakter besitzt und eine zu jeder Zeit mögliche prinzipielle Liebeskonstellation beschreibt.204 Dass sich dieser Stoff gerade in der Frühen Neuzeit so großer Beliebtheit erfreut, liegt zunächst und vor allem an den Globalisierungsbestrebungen, die das literarische Feld in dieser Zeit kennzeichnen. Selbst im 16. und 17. Jahrhundert sind die Belegstellen einer literarischen Bearbeitung des Romeo-und-Julia-Stoffes zu zahlreich, als dass hier alle hätten erfasst werden können. Vollständigkeit ist ohnehin nicht das Ziel der folgenden Ausführungen, sondern es geht darum, exemplarisch anhand repräsentativer Beispiele den Verbreitungsradius des Romeo-und-Julia-Stoffes im frühneuzeitlichen Europa zumindest erahnen zu lassen.

203 Aus diesem Grund wird hier auch Masuccio Salernitanos entsprechende Erzählung (XXXIII) aus seinem Novellino (1476) übergangen, obgleich vieles dafür spricht, dass diese Luigi da Porto als Vorlage zur ersten Romeo-und-Julia-Novelle gedient hat. Zumal Salernitanos Novelle viele der wesentlichen Handlungselemente späterer Bearbeitungen der Romeo-und-Julia-Geschichte enthält, sei an dieser Stelle zumindest das Argomento in voller Länge zitiert: »Mariotto senese, innamorato di Giannozza, come omicida se fugge in Alessandria: Giannozza se fenge morta, e da sepoltura tolta va a trovare l’amante; dal quale sentita la sua morte, per morire anche lui, ritorna a Siena, e conosciuto À preso, e tagliatali la testa. La donna nol trova in Alessandria, ritorna a Siena, e trova l’amante decollato, e lei sopra il suo corpo per dolore se more.« Salernitano: 1990, 417. Zu Salernitanos Novelle vgl. Hager : 1999, 58 – 63. 204 Vgl. hierzu Brunet: 2002.

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Literarische Motive und ihre europaweite Verbreitung in der Frühen Neuzeit

4.1.1 Romeo und Julia in Italien 4.1.1.1 Luigi da Porto, Historia novellamente ritrovata di due nobili amanti (um 1524)205 Erstmals greifbar wird die Geschichte von Romeo und Julia in Luigi da Portos Historia novellamente ritrovata di due nobili amanti.206 Da Porto beschreibt in seiner Novelle die Liebe zweier junger Menschen namens Romeo und Giulietta und verlegt den Schauplatz der Handlung nach Verona. Der Liebe der beiden steht die langjährige Feindschaft ihrer Familien, die aus diesem Grund eine Hochzeit kategorisch ablehnen würden, entgegen. Signifikanterweise hat der Autor den beiden Familien jeweils einen der Namen zugeordnet, die in Dantes Divina Commedia ebenfalls den Konflikt zweier Adelsgeschlechter repräsentieren, nämlich Cappelletti und Montecchi.207 Da Porto liefert in seiner Novelle die maßgebliche stoffliche Vorlage, die etwas später zunächst Matteo Bandello in seiner Version aufnehmen und zugleich auch schon umgestalten wird: Romeo nimmt an einem Ball der Cappelletti teil, um der Dame, in die er sich verliebt hat, die ihm bisher jedoch keine Beachtung geschenkt hat, näherzukommen, trifft dort jedoch Giulietta und entflammt unmittelbar in Liebe zu ihr. Und auch sie verliebt sich sofort in den schönen Romeo. Zunächst wissen beide nicht, mit wem sie es zu tun haben, sie finden jedoch relativ schnell heraus, dass sie Mitglieder verfeindeter Familien sind. Nichtsdestoweniger entsagen sich beide nicht, sondern treffen sich heimlich, verloben sich im Kontext der weltberühmten Balkonszene und lassen sich schließlich von einem befreundeten Mönch namens Lorenzo im Verborgenen trauen. Bei da Porto soll die Heirat der Liebenden auch dazu dienen, Frieden zwischen den beiden Adelsgeschlechtern zu stiften. Diese Möglichkeit wird jedoch dadurch im Keim erstickt, dass es wenige Tage nach der Eheschließung von Romeo und Giulietta zu einem öffentlichen Kampf zwischen den Cappelletti und Montecchi kommt, den Romeo zu schlichten unternimmt, dabei jedoch scheitert und schließlich aus Notwehr Giuliettas Vetter Tebaldo ersticht. Daraufhin flieht Romeo aus Verona nach Mantua. Giulietta reagiert auf diese Ereignisse mit einer tiefen Schwermut, deren Ursache sie ihrer Familie jedoch nicht preisgibt. Dies führt dazu, dass ihre Eltern den Zustand ihrer Tochter fälschlicher- und tragischerweise als Ausdruck eines allgemeinen Ehewunsches interpretieren und 205 Da Porto: 1936. 206 Bekannt ist diese Novelle auch unter dem Titel Novella di Giulietta e Romeo. 207 Vgl. Purgatorio VI, vv.106 – 108: »Vieni a veder Montecchi e Cappelletti, / Monaldi e Filippeschi, uom senza cura! / color gi— tristi e costor con sospetti.« Auf eine Darlegung des historischen Gehaltes dieser beiden Adelsgeschlechter wird hier bewusst verzichtet. Vgl. Hierzu Moore: 1930 und Cornelli/Tesei: 2006.

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ihr eine ›passende‹ Partie suchen. Ausgewählt wird auf diesem Wege der untadelige und Giulietta in jeder Hinsicht würdige Conte di Lodrone. Um der geplanten Hochzeit zu entgehen, beschließt Giulietta zunächst, Selbstmord zu begehen, lässt sich von Bruder Lorenzo dann aber von diesem Vorhaben abbringen und stimmt seinem Plan zu: Sie soll einen Schlaftrunk nehmen, den der in der Alchemie bewanderte Mönch gemischt hat und der vorübergehend einen todesähnlichen Zustand herbeiführt. Sobald ihre Familie Giulietta in der Familiengruft beerdigt hat, soll Romeo, der zu diesem Zeitpunkt schon durch einen Brief von allem in Kenntnis gesetzt worden sein soll, zu Giulietta eilen und gemeinsam mit ihr fliehen. So der erdachte Plan des Mönches. Die Umsetzung dieses Plans scheitert jedoch daran, dass der Ordensbruder, der den entsprechenden Brief zu Romeo bringen soll, auf seinem Weg aufgehalten wird, so dass Romeo nur von Giuliettas vermeintlichem Tod, nicht jedoch von ihrem Scheintod unterrichtet wird. Romeo eilt daraufhin unverzüglich zur Familiengruft der Cappelletti und trifft dort auf Giulietta, die er für tot hält und vergiftet sich daraufhin aus Liebesschmerz und Verzweiflung selbst. Noch bevor er stirbt, sprechen beide ein letztes Mal miteinander, denn zufälligerweise hat Giulietta genau in diesem Moment das Bewusstsein wiedererlangt. Kurz nach Romeos Tod beschließt auch Giulietta ihren Freitod. Sie hält hierzu den Atem an, bis sie schließlich tot zu Boden sinkt. Zeuge der Geschehnisse ist der herbeigeeilte Bruder Lorenzo und der Mönch, der den schicksalsentscheidenden Brief nicht rechtzeitig an Romeo hatte zustellen können. Die positive Folge des Selbstmordes von Romeo und Giulietta ist in der literarischen Präsentation Luigi da Portos die Versöhnung der beiden einstmals verfeindeten Adelsgeschlechter.

4.1.1.2 Matteo Bandello, La sfortunata morte di dui infelicissimi amanti che l’uno di veleno e l’altro di dolore morirono, con vari accidenti (1554)208 Matteo Bandellos Novelle ist so stark an Da Portos Novelle orientiert, dass hier auf eine vollständige Inhaltsangabe verzichtet werden kann und ausschließlich die von Bandello vorgenommenen Neuerungen gegenüber dieser Vorlage in den Blick genommen werden sollen.209 Diese Neuerungen sind weniger das Ergebnis der Einführung neuer Motive als vielmehr der Intensivierung von Aspekten, die bereits bei da Porto implizit angelegt oder aber kurz ausgeführt sind. Letzteres betrifft gleich den Anfang von Bandellos Novelle, denn während Romeos Liebe zu einer anderen Frau als Giulietta bei da Porto lediglich eine Randnotiz zu sein scheint, hebt Bandello Romeos unglückliche Liebe und sein vergebliches Wer208 Bandello: 1990, 279 – 316. 209 Für eine ausführliche komparatistische Analyse der Novellen von da Porto und Bandello vgl. Perocco: 2010. Zu Bandellos Romeo-und-Julia-Novelle vgl. Menetti: 2011, 31 ff.

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ben explizit hervor. Im Unterschied zur Figur des Romeo in da Portos Novelle, der den Ball der Capelletti besucht, um dieser Frau zu begegnen, geht Bandellos Romeo gezielt auf diesen Ball, um eine andere Frau für seine Liebeswerbung auszuwählen, damit er schnell über die unerwiderte Liebe hinwegkommt. Bezüglich des veränderten Anfangs bei Bandello wird noch auf die Figur von Romeos Freund zurückzukommen sein. Des Weiteren stellt Bandello Romeos Liebe zu seiner Giulietta viel detaillierter dar als da Porto, indem er dem Leser nämlich ihre unterschiedlichen Facetten vor Augen führt. Dies betrifft vor allem auch die körperliche Dimension dieser Liebe, die er zwar nicht auf pornographische, nichtsdestoweniger aber auf eindeutige Weise beschreibt. Die von Bandello entworfene Liebeskonzeption zielt auch auf die körperliche Vereinigung der jungen Leute, die sich schon während ihres ersten Treffens, das unmittelbar nach dem Ball im Hause der Capelletti stattfindet, miteinander verloben. Völlig neu sind bei Bandello zwei Figuren, nämlich Giuliettas Amme und Romeos Freund. Diesem kommt insofern eine gewichtige Funktion zu, als er es ist, der Romeo gleich zu Beginn davon überzeugt, sich nicht länger nach der Frau zu verzehren, die sein Werben nicht erwidert, sondern sich stattdessen einer anderen Frau zuzuwenden. Den klaren und mahnenden Worten dieses Freundes ist es zu verdanken, dass Romeo den Ball im Hause der Capelletti besucht, und zwar in eindeutiger Absicht: Con molte altre ragioni ch’ora non dico essortý il fedel compagno il suo Romeo a distorsi da la mal cominciata impresa. Romeo ascoltý pazientemente quanto detto gli fu e si deliberý il savio conseglio metter in opra. Il perch¦ cominciý andar su le feste, e dove vedeva la ritrosa donna, mai non volgeva la vista, ma andava mirando e considerando l’altre per sceglier quella che pi¾ gli fosse a grado, come se fosse andato ad un mercato per comprar cavalli o panni. Avvenne in quel d‡, come s’À detto, che Romeo mascherato andý su la festa del Capelletto […]. (Bandello: 1990, 282)

Mit der Einführung der Figur von Romeos Freund und seinen mahnenden Worten hängt ein wesentlicher Unterschied zu Luigi da Portos Novelle zusammen: Romeo besucht den Ball der Capelletti, um den Weg zu einer neuen Liebe zu ebnen, und eben nicht, um die Frau, die seine Liebeswerbung bisher nicht erhört hat, zu treffen und gegebenenfalls weiter vergeblich um sie zu werben. Die Amme erfüllt zunächst und vor allem die Funktion als enge Vertraute Giuliettas. Sie ist die einzige Person, der die junge Frau ihre Liebe zu Romeo gesteht. Dadurch wird die Amme zur Mitwisserin und im Fortgang der Novelle ebenfalls zur Mittäterin: Von Anfang an unterstützt sie aktiv die Zusammenführung der beiden jungen Liebenden, indem sie auf die dringlichen Bitten Giuliettas hin Romeo einen Liebesbrief, der Details zur konkreten Umsetzung der geplanten heimlichen Trauung beider enthält, übergibt. Ebenso wie Romeos

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Freund übernimmt daher auch die Amme eine Schlüsselfunktion im Handlungsverlauf. Hätte sie sich geweigert, Romeo den Brief zu überbringen oder gar Giuliettas Eltern die Liebe ihrer Tochter zum Sohn der verfeindeten Familie offenbart, hätte die Liebesgeschichte unweigerlich einen anderen Ausgang nehmen können oder auch müssen. Des Weiteren ist es die Amme, die Giulietta scheinbar tot in ihrem Bett vorfindet, nachdem diese von ihr unbemerkt Bruder Lorenzos Schlaftrunk zu sich genommen hat. Darum verbreitet auch die Amme die Nachricht von Giuliettas vermeintlichem Tod im Hause der Capelletti: Del che la povero vecchia fieramente spaventata e veggendo che n¦ pi¾ n¦ meno faceva sembiante di sentire come averebbe fatto un corpo morto, tenne per fermo Giulietta esser morta. Onde fuor di misura dolente e trista, amarissimamente piangendo se ne corse a trovar madonna Giovanna a la quale, dal soverchio dolor impedita, a pena puot¦ dire ansando: – Madonna, vostra figliuola À morta. (Bandello: 1990, 304)

Insofern bringt die Amme unwissentlich und unbeabsichtigt jenen Stein ins Rollen, der letztlich zum tragischen Selbstmord Romeos und Giuliettas führt. Wie im Kontext der Annäherung der beiden Liebenden wirkt sie auch hier als eine Art Katalysator. Beide Figuren, die Bandello bei da Porto nicht vorgefunden hat, Romeos Freund und Giuliettas Amme, tragen zu jener Dramatisierung des narrativen Grundgerüsts bei, die ihren Höhepunkt in der Tragödie Shakespeares erreichen wird. Ebenfalls eine Dramatisierung der Handlung bewirkt eine weitere innovative Ausgestaltung der Vorlage da Portos, nämlich die ausführliche Erörterung der Zweifel, die Giulietta quälen, bevor sie Bruder Lorenzos Schlaftrunk zu sich nimmt. In da Portos Novelle ist Giulietta von Anfang an vollkommen überzeugt davon, dass ihr keine andere Möglichkeit als genau der Scheintod durch diesen Schlaftrunk bleibt, um ihre Liebe zu Romeo leben zu können. Diese Gewissheit erstickt bei ihr alle Zweifel im Keim. Bandello hingegen lässt seine Giulietta ihre Ängste ausführlich reflektieren. Auf diese Weise werden dem Leser der innere Konflikt, der für Giulietta besteht, und der tragische Charakter ihrer Liebe zu Romeo explizit vor Augen geführt: Con questo pauroso pensiero mille abominevoli cose imaginando, quasi si deliberý di non prender la polvere e fu vicina a spargerla per terra, e andava in strani e vari pensieri farneticando, dei quali alcuno l’invitava a pigliarla ed altri le proponevano mille casi perigliosi a la mente. A la fine poi che buona pezza ebbe chimerizzato, spinta dal vivace e fervente amore del suo Romeo, che negli affanni cresceva, ne l’ora che gi— l’Aurora aveva cominciato a por il capo fuor del balcone de l’oriente, ella in un sorso, cacciati i contrari pensieri, la polvere con l’acqua animosamente bevendo, a riposar cominciý e guari non stette che s’addormentý. (Bandello: 1990, 303)

Auch wenn wir bei Weitem noch nicht von einer psychologischen Ausgestaltung der Figur der Julia sprechen können, so ist diese doch der Tendenz nach schon in

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Bandellos Novelle angelegt. Es mag auch damit zusammenhängen, dass diese Bearbeitung des Romeo-und-Julia-Stoffes in der Folgezeit zum maßgeblichen europäischen Modell werden wird.

4.1.2 Romeo und Julia in Frankreich 4.1.2.1 Pierre Boaistuau, De deux amans, dont l’un mourut de venin, l’autre de tristesse (1559)210 Diese französischsprachige literarische Umsetzung der Liebesgeschichte von Romeo und Julia stammt aus einer Novellensammlung, die den Titel Histoires Tragiques extraictes des Œuvres de Bandel (1559) trägt. Zumal der Autor der Novelle, nämlich Pierre Boaistuau, im Titel seiner Sammlung Bandellos Werke als Prätexte für seine eigenen Geschichten angibt, soll seine Bearbeitung vor diesem Hintergrund kommentiert werden. Anders als es der Titel erwarten lässt, man vielleicht annehmen könnte, weist Boaistuaus Novelle zahlreiche und darunter auch wesentliche Abweichungen von Bandellos Vorlage auf. Diese zielen vor allem darauf ab, dem Leser die zerstörerische Kraft der Liebe von Romeo und Julia vor Augen zu führen. Im Kontext der Abgrenzung vom Modell Bandellos ist zunächst interessant, dass Pierre Boaistuau in seiner Pr¦face explizit darauf hingewiesen hat, lediglich die stoffliche Vorlage des Italieners genutzt, diese aber in ein neuartiges Gewand gekleidet zu haben: Sa phase m’a sembl¦ tant rude, ses termes impropres, ses propos tant mal liez, & ses sentences tant maigres, que i’ay eu plus cher la refondre tout de neuf, et la remettre en nouvelle forme, que me rendre si superstitieux imitateur : n’ay–t seulement pris de luy que le subject de l’histoire, comme tu pourras ais¦ment descouvrir, si tu es curieux de conferer mon stile avec le sien. (Boaistuau: 1977, 5)

Pierre Boaistuau hat die Novelle Bandellos jedoch nicht nur in formaler und stilistischer Hinsicht umgeformt, wie zum Beispiel durch eine starke Rhetorisierung, sondern er hat auch inhaltliche Veränderungen vorgenommen, von denen nun die bedeutsamsten erläutert werden sollen. Erstens lässt Boaistuau Julliette in einem langen Monolog über den Mord an ihrem Vetter Thibault, den Rhomeo mehr aus Versehen begangen hat, klagen: O malheureuse fenestre, par laquelle furent ourdies les ameres trames de mes premiers malheurs ! si par ton moyen j’ay receu autresfois quelque leger plaisir ou contentement transitoire, tu m’en fais maintenant payer un si rigoureux tribut que mon tendre corps, ne le pouvant plus supporter, ouvrira desormais la porte — la vie, — fin que l’espit, 210 Boaistuau: 1977, 61 – 119.

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descharg¦ de ce mortel fardeau, cheche desormais ailleurs plus asseur¦ repos. Ah, Rhomeo, Rhomeo ! (Boaistuau: 1977, 85 f.)

Durch diese reflektierte, wenn auch recht pathetisch anmutende Analyse der eigenen zunächst ausweglos erscheinenden Lage und die rationale Auseinandersetzung damit, dass der geliebte Mann durch den Mord an einem Familienmitglied endgültig zur persona non grata geworden ist, erzielt Boaistuau eine deutliche Dramatisierung der Handlung. Rhomeo entstammt nun nicht mehr nur der feindlichen Familie, sondern hat durch den Mord an Julliettes Vetter aktiv Schuld auf sich geladen. Mit dieser Erkenntnis der Protagonistin geht eine – verglichen mit da Portos und Bandellos Vorlagen – starke Moralisierungstendenz einher, die die Liebe als Ausdruck einer persönlichen Neigung, ähnlich wie später in den Tragödien Pierre Corneilles, primär in Opposition zum devoir gegenüber dem eigenen Geschlecht setzt. In dieselbe Richtung zielen auch die mahnenden Worte, die Julliettes Vater aufgrund ihres ungehorsamen Verhaltens an sie richtet. Auch diese sucht der Leser in den beiden bereits erläuterten italienischen Novellen vergeblich. Zur starken Moralisierung des Romeo-und-Julia-Stoffes in dieser französischen Version trägt außerdem bei, dass Rhomeo in Boaistuaus Bearbeitung Julliettes Zimmer erst nach der heimlich vollzogenen Hochzeit beider betreten darf. Dementsprechend musste die Balkonszene angepasst werden. Eine Abwandlung anderer Art betrifft das in der Novelle agierende Personal, denn der französische Autor lässt nicht nur »frere Laurens« Julliette den unheilbringenden Schlaftrunk geben, sondern er führt zu einem ähnlichen Zweck eine neue Figur ein, nämlich den Apotheker, der Rhomeo das tödliche Gift verkauft. Damit stiftet Boaistuau eine Parallele zwischen den Schicksalen der Liebenden, deren innere Bindung dadurch umso stärker betont wird. Die damit gegebene Konstellation ist vor allem aus Shakespeares Tragödie bekannt. In Boaistuaus Version bittet Rhomeo den Apotheker um Folgendes: »Maistre, voyla cinquante ducats que je vous donne, et me delivrez quelque violente poison, laquelle en un quart d’heure face mourir celuy qui en usera. Le malheureux, vaincu d’avarice, luy accorda ce qu’il luy demandoit, et feignant luy donner quelque autre medecine devant les gens, luy prepare soudainement le venin […]. (Boaistuau: 1977, 108)

Durch die Einführung des Apothekers erfährt auch der Schluss der Novelle eine wesentliche Abweichung von Bandellos Novelle und weist eine wesentlich komplexere Handlungsfolge auf: Als Julliette in der Familiengruft erwacht, ist Rhomeo bereits tot. Anders als in da Portos und Bandellos Versionen findet hier kein letzter Dialog zwischen den beiden Liebenden statt, in dem sie ihr Unglück beklagen, bevor sie sterben. Des Weiteren stirbt Boaistuaus Julliette nicht dadurch, dass sie aus Schmerz den Atem anhält, bis sie erstickt, sondern sie ersticht

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sich mit Rhomeos Dolch. Hier erweist sich mit Blick auf den Titel De deux amans, dont l’un mourut de venin, l’autre de tristesse eine Inkonsistenz: Julliette stirbt nicht, wie in Luigi da Portos und Bandellos Novellen daran, dass sie aus Schmerz über den Tod des geliebten Mannes den Atem anhält, sondern sie begeht mit Rhomeos Dolch Selbstmord. Boaistuau scheint bei der Titelwahl blind der Vorgabe Bandellos gefolgt zu sein. Durch den Selbstmord Julliettes mittels Rhomeos Dolches erfährt die Verbundenheit beider einen letzten tragischen Ausdruck. Bei der anschließenden Untersuchung des Falles durch den Magistrat klärt Bruder Laurens in einer langen Rede die Hintergründe des Todes der beiden jungen Leute auf. Er wird daraufhin für unschuldig erklärt, während Julliettes Amme verbannt wird, weil sie die Hochzeit der beiden geheim gehalten hat, und der Apotheker wird zum Tod durch den Galgen verurteilt, weil er Rhomeo das tödliche Gift verkauft hat. Das Grab der beiden Liebenden wird mit einem marmornen Ehrenmal und zahlreichen Epitaphgedichten geschmückt. Enden die beiden bereits erläuterten italienischen Bearbeitungen des Romeo-undJulia-Stoffes mit der Aussage, dass der tragische Tod beider wenigstens zum Frieden zwischen ihren Familien geführt habe, so entspricht der Ausgang von Boaistuaus Novelle der Tendenz zur Moralisierung des Stoffes, die schon anhand mehrerer Einzelbelege nachgewiesen werden konnte: Die Amme wird aufgrund ihrer Pflichtverletzung gegenüber ihrem Herrn, nämlich Julliettes Vater, verurteilt und der Apotheker für eine der sieben Todsünden (avaritia) bestraft. Bruder Laurens hingegen erfährt keine Verurteilung. Boaistuaus Moralisierungsbestrebungen betreffen nicht zuletzt auch seine Liebeskonzeption: Das zunächst unrechtmäßige Handeln Rhomeos und Julliettes wird letzten Endes dadurch rehabilitiert, dass es im Dienste der wahrhaftigen amicitia und der damit verbundenen Tugend der constantia steht. Aus diesem Grund wird für die beiden Selbstmörder auch ein Denkmal errichtet, und sie werden in der Familiengruft bestattet. Bezeichnenderweise interpretiert Boaistuau die selbstverständlich auch körperliche Liebe zweier junger Menschen zu einem nicht geschlechtsspezifischen Ideal menschlicher freundschaftlicher Beziehungen um, dessen Ursprünge in der Antike liegen: Et pour immortaliser la m¦moire d’une si parfaicte et acomplie amiti¦, le seigneur de Veronne ordonna que les deux corps de ces pauvres passionnez demeureroient enclos au tombeau auquel ils avoient finy leur vie, qui fut erig¦ sur une haulte colonne de marbre et honor¦ d’une infinit¦ d’excellens epitaphes. (Boaistuau: 1977, 119)

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4.1.2.2 Loys Guyon, Histoire d’une damoiselle Veronoise (1604)211 Weist Boaistuaus Bearbeitung des Romeo-und-Julia-Stoffes bereits eine moralisierend-didaktische Intention auf, so ist diese in der nachfolgend analysierten Variante aus der Feder Loys Guyons noch erheblich gesteigert. Dies ergibt sich schon aus dem Publikationskontext der Geschichte, denn sie ist Teil der Diverses LeÅons (1604) und damit Teil einer jener moralisierenden Exemplasammlungen, die im 17. Jahrhundert in Deutschland das primäre literarische Medium der Rezeption des Romeo-und Julia-Stoffes sind. Es ist aus diesem Grund nicht verwunderlich, dass Guyon nicht an einer Ausschmückung des Stoffes gelegen ist, sondern er ihn auf die wesentlichsten Handlungsmomente und auf ein Minimum an Informationen für den Leser reduziert. Betrachten wir den Titel dieser französischen Bearbeitung, Histoire d’une damoiselle Veronoise, so stellt er insofern im Kontext der Rezeption des Stoffes eine Ausnahme dar, als gewöhnlich beide Protagonisten im Titel namentlich oder als Liebespaar genannt werden. Dass Guyon im Titel lediglich auf Julia verweist, deutet schon auf die Richtung des impliziten moralischen Zeigefingers hin, die die Geschichte im Fortgang nehmen wird. Nach dem Bericht des tragischen Selbstmordes von Romeau und Iuliette präsentiert Guyon dem Leser nämlich folgende Erklärung und damit zugleich den einzig Schuldigen am tragischen Geschehen: »[…] voila le funeste desastre qui aduint, — cause que le pere de Iuliette ne la maria comme il estoit requis.« (Guyon: 1604, 605) Guyons Widmungsschreiben an seinen adligen Mäzen lässt einen gänzlich anderen Eindruck bezüglich der Intention des Autors entstehen, denn hier wird nicht der moralische Nutzen der Erzählung hervorgehoben, sondern vielmehr der Aspekt der Unterhaltung, d. h. das prodesse scheint zugunsten des delectare in den Hintergrund getreten zu sein: Guyon schreibt hier jedenfalls, dass er in seiner Sammlung zahlreiche Geschichten präsentiere »tous traictans de diuerses matieres, — fin de resiouyr vostre esprit […] eslanguy, & fatigu¦ de la grande charge qu’excercez treslaborieuse.« (Guyon: 1604, o. S.) Damit ist klar, dass Guyon, ähnlich wie der anonyme Verfasser des Parangon de Nouvelles (1531), den horazischen Gedanken der nutzbringenden Funktion von Literatur so umdeutet, dass der Nutzen nicht in einer moralischen Lehre, sondern vielmehr in der Entlastung des mit alltäglichen Geschäften belasteten Geistes besteht: Car l’arc trop longuement sans remission tendu devient lache ou se romp : ainsi faict l’entendement occup¦ de affaires urgens et cures severes sans intermission d’aulcung esbatement. Pour lequel facillement avoir, les presentes nouvelles de plusieurs bons

211 Guyon: 1604, 603 – 605.

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aucteurs recitees ont est¦ assemblees en petite et jolye forme, pour plus facillement en tous lieux en avoir la fruytion totalle. (P¦rouse: 1979, 1 f.)212

Dementsprechend heißt es in Guyons Widmungsschreiben explizit: »Chacun sÅait, que le continuel trauail de l’esprit, n’ayant aucune intermission, corrompt — la longue, la bonne disposition de la personne […].« (Guyon: 1604, o. S.) Und insofern kann Guyon für seine Sammlung auch in Anspruch nehmen, dass sie für den Leser »du plaisir, & de l’vtilit¦« bereithalte. Kommen wir nun zur Histoire d’une damoiselle Veronoise: Verglichen mit den italienischen, französischen und englischen Bearbeitungen, die Guyons Bearbeitung des Romeo-und-Julia-Stoffes vorangehen, fällt zunächst der geringe Umfang seiner Variante auf. Schon die ersten beiden Sätze präsentieren dem Leser die wesentlichen Grundzüge der Handlung. Im Sinne der moralischdidaktischen Ausrichtung seiner Kurzerzählung ist Guyon nicht am Spannungsaufbau gelegen, so dass er problemlos das tragische Ende vorwegnehmen kann. Hier also die beiden einleitenden Sätze: AVeronne, ville d’Italie, vne fille nommee Iuliette, de la noble maison des Montesches, son pere ne l’ayant voulu marier lors que les partis se presentoyent, & que la fille estoit pourueuÚ d’aage nubil, parquoy en sa plus grande fleur, espousa — l’insceu de ses parents le fils d’vne autre maison & famille gentilhomme, appellee Capelets, nomm¦ Romeau, ennemie capitale des Montesches. Ce mariage ne rapporta sinon que la mort ignominieuse des deux amans.« (Guyon: 1604, 603)

Im Folgenden werden sodann die Umstände geklärt, die zum tragischen Ende Romeaus und Iuliettes geführt haben: Ein Franziskanermönch namens Laurent habe die beiden Liebenden heimlich getraut, und zwar aus einer »compassion de la feruente amiti¦ & peine que se portoyent ces deux amans« (Guyon: 1604, 603). Wie Boaistuau eliminiert also auch Guyon die körperliche Dimension der Liebe von Romeau und Iuliette. Noch konsequenter als Boaistuau erweist sich dieser Autor dadurch, dass er von keiner Liebesnacht der beiden Protagonisten berichtet. Nachdem Romeau von Iuliettes Onkel angegriffen wird, muss er diesen aus Notwehr töten. Bezeichnenderweise hat Guyon aus dem in der Tradition überlieferten Vetter den Onkel gemacht, denn dem Autor ist insgesamt ja daran gelegen, die Schuld der beiden Liebenden möglichst gering erscheinen zu lassen. Bei Iuliettes Onkel ist eher an einen älteren Mann zu denken, wohingegen ihr Vetter tendenziell eher als junger Mann vorzustellen ist, weshalb Romeaus Mord – wenn dieser in den meisten Bearbeitungen des Stoffes auch aus Notwehr geschieht – drastischer erscheinen mag. In Guyons Erzählung entwickelt der Mönch folgenden Plan: Iuliette soll einen Schlaftrunk einnehmen, der sie für mehr als dreißig Stunden in einen todes212 Vgl. hierzu Krüger: 2002, 97.

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ähnlichen Zustand versetzt, und nach Ablauf dieser Zeit möchte er Iuliette, die er zuvor als Mönch verkleidet hat, zu Romeau bringen. Allerdings erfährt Romeau zu früh durch seinen Diener vom vermeintlichen Tode Iuliettes, eilt zu ihr in die Gruft, hält sie für tot und tötet sich daraufhin mit einem Gift, das ihm zuvor »vn necessiteux Apothicaire« (Guyon: 1604, 604) verkauft hat. An dieser Stelle zeichnet sich erneut die – verglichen mit vielen früheren Bearbeitungen des Romeo-und-Julia-Stoffes – völlig neue Stoßrichtung der moralischen Kritik ab. Denn anders als beispielsweise bei Boaistuau geht der Apotheker in Guyons Version vollkommen straffrei aus. Hier wird an das Mitleid mit dem bedürftigen Apotheker appelliert, der das Gift wohl nur an Romeau verkauft hat, um selbst nicht Hungers sterben zu müssen. Aus derselben grundsätzlichen Entscheidung hat Guyon in seiner Bearbeitung auch auf die Amme verzichtet, die in den meisten Varianten ja ebenfalls eine Art Mitschuld am tragischen Ende Romeos und Julias trägt und folglich auch bestraft wird. Nachdem Iuliette aus ihrem todesähnlichen Schlaf erwacht ist und Romeau leblos neben sich vorfindet, ersticht sie sich mit seinem Dolch. Am darauffolgenden Tag werden die Leichname der beiden jungen Liebenden entdeckt und ihre traurige Geschichte von Bruder Laurent erzählt. Den Abschluss bildet hier, wie bereits vorweggenommen, nicht die Verkündung der jeweiligen Strafen für die Beteiligten, sondern der bereits zitierte lapidare Satz, dass Iuliettes Vater nämlich die alleinige Schuld am Unglück seiner Tochter und ihres Geliebten Romeau trage: »voila le funeste desastre qui aduint, — cause que le pere de Iuliette ne la maria comme il estoit requis.« (Guyon: 1604, 605)

4.1.3 Romeo und Julia in England 4.1.3.1 Arthur Brooke, The Tragicall Historye of Romeus and Iuliet, written first in Italian by Bandell, and nowe in Englishe by Ar. Br. (1562)213 Zunächst bleibt festzuhalten, dass Arthur Brookes Beitrag zur frühneuzeitlichen Rezeption der Geschichte von Romeo und Julia sich insofern von den anderen hier bereits vorgestellten maßgeblich unterscheidet, als er nicht die Prosa-, 213 Brooke/Painter : 1965, 3 – 92. Auf eine etwas spätere englische Bearbeitung der Geschichte von Romeo und Julia, William Painters The goodly Hystory of the true and constant Loue betweene Rhomeo and Julietta (1567), soll hier nicht eingegangen werden, weil diese sehr stark an Boaistuaus Novelle angelehnt ist. Hierauf verweist schon der folgende Zusatz, der dem Titel beigegeben ist: Translated by William Painter from the French paraphrase, by Pierre Boaistuau, of Bandello’s version of Romeo e Giulietta. Brooke/Painter : 1965, 93 – 144. Zwar handelt es sich natürlich nicht um eine philologisch exakte Entsprechung des französischen Prätextes in der englischen Sprache, aber Painter bleibt Boaistuaus Vorgabe sehr verpflichtet und nimmt kaum eigene Veränderungen des Stoffes vor.

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sondern die Versform gewählt hat, und zwar ganz konkret im Metrum des so genannten poulter’s measure, d. h. in paargereimten, abwechselnd sechs- und siebenfüßigen Jamben. Ohne die Leistung Brookes eines solchen Gattungstransfers schmälern zu wollen, muss an dieser Stelle an die Versbearbeitung des Romeo-und-Julia-Stoffes hingewiesen werden, die Clitia bzw. Gherardo Bolderi bereits im Jahre 1553, also neun Jahre vor der Publikation von Brookes Gedicht, vorgelegt hat: L’infelice amore dei due fedelissimi amanti Giulia e Romeo, scritto in ottava rima da Clitia, nobile Veronese, ad Ardeo suo. Man kann Brookes Text daher nicht als den ersten innovativen Gattungstransfer dieser Art in der europäischen Tradition des Romeo-und–Julia-Motivs werten. In Anbetracht dessen, dass der Aspekt der Innovation in der frühneuzeitlichen Poetik ohnehin keine Rolle spielt, mag dieser Hinweis an dieser Stelle genügen. Entscheidend soll hier nun nicht das formale Innovationspotenzial des Textes sein, sondern die zahlreichen stofflichen Veränderungen, die Arthur Brooke am vorgefundenen Material vorgenommen hat. Ebenso wie Pierre Boaistuaus Version, der Brooke stärker folgt als den anderen bereits analysierten Romeo-und-Julia-Bearbeitungen, jedoch im Gegensatz zu den italienischen Novellen da Portos und Bandellos, scheint Arthur Brookes Verserzählung über das Schicksal Romeos und seiner Julia primär didaktische Zwecke zu verfolgen. Diesen Eindruck erweckt jedenfalls die stark moralisierende Vorrede To the Reader : The glorious triumphe of the continent man vpon the lustes of wanton fleshe, incourageth men to honest restraynt of wyld affections, the shamefull and wretched endes of such, as haue yelded their libertie thrall to fowle desires, teache men to witholde them selues from the hedlong fall of loose dishonestie. So, to lyke effect, by sundry meanes, the good mans exaumple byddeth men to be good, and the euill mans mischefe, warneth men not to be euyll. To this good ende, serue all ill endes, of yll begynnynges. And to this ende (good Reader) is this tragicall matter written, to describe vnto thee a coople of vnfortunate louers, thralling themselues to vnhonest desire, neglecting the authoritie and aduise of parents and frendes, conferring their principall counsels with dronken gossyppes, and superstitious friers (the naturally fitte instrumentes of vnchastitie) attemptyng all aduentures of peryll, for thattaynyng of their wished lust, vsyng auriculer confession (the kay of whoredome, and treason) for furtheraunce of theyr purpose, abusyng the honorable name of lawefull mariage, to cloke the shame of stolne contractes, finallye, by all meanes of vnhonest lyfe, hastyng to most vnhappye deathe. (Brooke/Painter : 1965, 3 f.)

Lässt der Oberflächentext dieser Vorrede keinen Zweifel am exemplarischen Charakter der Geschichte von Romeo und Julia, die sich beide durch Zügellosigkeit und Ungehorsam schuldig machen, so spricht einiges im Gedicht selbst dafür, dass es Brooke nicht darum geht, den Tod der beiden Liebenden als notwendige Konsequenz eines »vnhonest desire« zu präsentieren. Zum Beispiel

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wird die erste gemeinsame Liebesnacht auf positivste Weise geschildert (»I graunt that I enuie / the blisse they liued in« v. 903) und die Gefühle beider füreinander als »so perfect, sound / and so approued loue« (v. 3112) beschrieben. Des Weiteren betont Brooke die Macht Fortunas so stark, dass die beiden Liebenden statt der Täter- die Opferrolle einnehmen, weil sie der Allmacht des Schicksals vollkommen hilflos gegenüberstehen. Zum Beispiel wird der Umschlag des Liebesglücks durch Romeus’ Mord an Tybalt als Ergebnis von »Fortunes turning wheele« (v. 1442) gedeutet und die darauffolgende Notwendigkeit zur Flucht als »lookeles lot by Fortunes gylt« (v. 1060) beschrieben. Den Aspekt, dass die Geschichte von Romeus und Iuliet nicht ein abschreckendes Beispiel für die notwendigen Folgen einer unkeuschen Liebe darstellt, sondern als Illustration der Tugend der constantia dient, benennt der Titel, unter dem das Gedicht im Jahre 1587 posthum erneut publiziert wurde, explizit: The Tragicall historie of Romeus and Iuliet, contayning in it a rare example of true constancie: with the Subtill Counsels and practises of an old Fryer, and their ill euent. Die moralisierende Vorrede an den Leser scheint daher eher eine rhetorische Sicherheitsmaßnahme mit Blick auf etwaige moralische Angriffe gegen den Autor darzustellen. Dies ändert jedoch nichts daran, dass die Liebe der beiden Protagonisten bei Brooke in einem ambivalenten Licht erscheint. Die Veränderungen, die Brooke am Romeo-und-Julia-Stoff vornimmt, dienen vornehmlich dazu, das dramatische Potenzial der Geschichte zu steigern, wie dies ähnlich schon für Pierre Boaistuaus Novelle festgestellt werden konnte. Insofern bildet Brooke eine der wesentlichen Grundlagen für die Transposition des Stoffes in die dramatische Form der Tragödie, die in England erstmals William Shakespeare vornehmen wird.214 Des Weiteren wurde ein solcher Gattungstransfer auch dadurch implizit durch Brookes Bearbeitung vorbereitet, dass er zahlreiche Passagen, die sowohl in den Novellen da Portos und Bandellos als auch in der Novelle Boaistuaus einen narrativen Charakter besitzen, zu Monologen oder Dialogen umgeformt hat. Solche Dialogisierungen tragen natürlich primär dazu bei, der Handlung größere Lebendigkeit zu verleihen. Insgesamt legt Brooke wesentlich stärkeres Gewicht auf die innere Handlung als die Autoren der bereits analysierten literarischen Belege des Romeo-undJulia-Motivkomplexes. Sein Gedicht hat nicht nur die äußeren Geschehnisse zum Gegenstand, sondern gleichermaßen das Gefühlsleben der beiden Liebenden. Vornehmlich diesem Zweck dienen drei Dialoge, die Brooke in sein Gedicht eingefügt hat, und zwar ein Gespräch zwischen Romeus und der Amme und danach zwischen Iuliet und der Amme, wobei beide die Planung der bevorstehenden heimlichen Hochzeit thematisieren, und der Dialog zwischen Romeus und Bruder Lawrence. Des Weiteren erzielt Brooke eine starke Psy214 Vgl. hierzu beispielsweise Delius: 1881.

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chologisierung der Romeo-Figur, denn im Gegensatz zu den italienischen Vorlagen vermittelt er die Geschehnisse kurz nach Romeus’ Flucht nach Mantua nicht nur aus Iuliets Perspektive, sondern führt dem Leser ebenfalls Romeus’ Lage im Exil vor Augen: […] this whyle (alas) / thy Iuliet must thou [scil. Romeus; B.N.] misse, The only piller of thy helth, / and ancor of thy blisse. Thy hart thou leauest with her, / when thou dost hence depart, And in thy brest inclosed bearst / her tender frendly hart. But if thou rew so much / to leaue the rest behinde, With thought of passed ioyes content / thy vncontented mynde; So shall the mone decrease / wherwith thy mynd doth melt, Compared to the heauenly ioyes / which thou hast often felt. (vv. 1455 – 1463)

Romeus und Iuliet sind nicht die einzigen Figuren, die Brooke stärker psychologisiert, als dies in den beiden italienischen Novellen der Fall ist, sondern auch Iuliets Amme gewinnt bei ihm an Kontur. Dies liegt schon darin begründet, dass die beiden Liebenden sich ihr vor ihrer geplanten Eheschließung nacheinander anvertrauen. Ihre Funktion für die jungen Leute erschöpft sich allerdings nicht darin, Ratgeberin und postillon d’amour zu sein, auch im entscheidenden Moment, nämlich in der Nacht vor der von Iuliets Vater festgesetzten Hochzeit mit dem Earle Paris kommt ihr eine gewichtige Funktion zu, denn sie bestärkt, ohne es zu wissen, Iuliet in ihrem Entschluss, den Schlaftrunk des Mönches einzunehmen. Dabei ist die Amme der Meinung, eine Lösung für Iuliets Problem gefunden zu haben: Sie solle zwar Paris heiraten, ihre Liebesbeziehung zu Romeus aber trotzdem nicht beenden. Diese unkonventionelle Lösung ist neu in Brookes Version der Romeo-und-Julia-Geschichte. Der Ratschlag der Amme, den Iuliet als unmoralisch ablehnen muss, stürzt sie in eine umso tiefere Verzweiflung. Es scheint für sie keinen anderen Ausweg zu geben, als den Schlaftrunk zu sich zu nehmen. Im entsprechenden Dialog zwischen Iuliet und ihrer Amme lässt Brooke Letztere durch ihre Ausdrucksweise als recht vulgär erscheinen und nutzt sie somit als eine Art Gegenbild zur moralisch einwandfreien Iuliet: She setteth foorth at large / the fathers furious rage, And eke she prayseth much to her / the second mariage; And County Paris now / she praiseth ten times more, By wrong, then she her selfe by right / had Romeus praysde before. Paris shall dwell there still, / Romeus shall not retourne; What shall it boote her life / to languish still and mourne. The pleasures past before / she must account as gayne; But if he doe retorne, what then? / for one she shall haue twayne. (vv. 2297 – 2304)

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Aufgrund des moralisch verwerflichen Verhaltens der Amme ist es dann auch wenig verwunderlich, dass sie am Ende, ebenso wie in Boaistuaus Bearbeitung des Romeo-und-Julia-Stoffes, offiziell verbannt wird.

4.1.3.2 William Shakespeare, The Most Excellent and Lamentable Tragedie of Romeo and Juliet (EA 1597)215 Von der Forschung konnte eindeutig nachgewiesen werden, dass die primäre Quelle von Shakespeares Tragödie Arthur Brookes episches Gedicht zum Romeo-und-Julia-Motivkomplex darstellt216. Bei diesem handelt es sich, wie bereits erläutert, wiederum um eine Bearbeitung von Pierre Boaistuaus Adaption der Novelle Matteo Bandellos. Eine weitere Quelle für Shakespeare könnte William Painters englische Übersetzung von Pierre Boaistuaus französischer Version des Romeo-und-Julia-Stoffes gewesen sein, die im Jahre 1567 im Palace of Pleasure veröffentlicht wurde: The goodly Hystory of the true and constant Loue betweene Rhomeo and Julietta. Translated by William Painter from the French paraphrase by Pierre Boaistuau, of Bandello’s version of Romeo e Giulietta (1567) (Brooke/Painter : 1995, 93 – 144). Dass Shakespeare vornehmlich Brooke und nicht Painter folgt, mag vor allem darin begründet liegen, dass Painter Boaistuaus Version philologisch relativ exakt ins Englische übersetzt hat, während Brooke, wie bereits erläutert, durch thematische Änderungen das dramatische Potenzial der Liebesgeschichte erhöht hat. Shakespeares Tragödie war dabei selbst wieder Ausgangsmaterial zahlreicher Bearbeitungen. Auf die vielen Adaptionen der Shakespeareschen Romeo-undJulia-Version kann ich an dieser Stelle nicht im Einzelnen eingehen. Schon im Jahre 1680 wurde Romeo and Juliet in einer Adaption von James Howards mit einem glücklichen Ausgang inszeniert. In diesem Kontext soll wenigstens kurz eine Innovation Shakespeares am Romeo-und-Julia-Stoff angesprochen werden, nämlich die Einführung komischer Elemente, die durch die Kontrastierung mit den dominierenden tragischen Momenten des Dramas die Tragik des Ganzen noch verstärken. Diese Einführung komischer Elemente geht dabei maßgeblich auf die Praxis des elisabethanischen Theaters und seine Funktion als kommerzielles Unterhaltungstheater zurück.217 Die komischen Momente betreffen vor allem die Figur des Mercutio, der durch seinen verbalen Witz und seine Schlagfertigkeit den Zuschauer immer wieder zum Lachen verleitet. Daneben steigert auch die Amme das komische Potenzial der Tragödie. In der frühneu215 Bei dieser Ausagbe handelt es sich um einen Raubdruck. Die erste authorisierte Fassung der Tragödie stammt aus dem Jahre 1599. Shakespeare: 1997, 865 – 941. 216 Vgl. hierzu Bullough: 1964. 217 Vgl. hierzu Suerbaum: 62007, 399 ff. und Weiß: 1979, 28 ff.

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zeitlichen Rezeptionsgeschichte des Romeo-und-Julia-Stoffes hat Shakespeare dadurch den Grundstein dafür gelegt, dass dieser auch in Form der Komödie präsentiert werden kann. Einen weiteren Schritt in dieser Entwicklung wird Lope de Vega in seiner Tragikömodie Castelvines y Monteses (geschrieben vor 1610, Druck 1647) gehen, denn diese endet nicht mit dem Tod der beiden Liebenden, sondern deren glücklicher Vereinigung, einer zweiten Hochzeit sowie der Versöhnung der beiden Familien.218 Den Endpunkt dieser frühneuzeitlichen Tendenz wird Francisco de Rojas Zorrilla mit seiner farcenhaften Komödie Los Bandos de Verona (vor 1640, EA 1645) setzen.219 Shakespeares Bearbeitung des Romeo-und-Julia-Stoffes stimmt weitgehend mit Brookes Version überein. Umso mehr lohnt es sich, die von Shakespeare vorgenommenen stofflichen Veränderungen in den Blick zu nehmen: 1. Erstreckt sich die Handlung bei Brooke auf neun Monate, so verkürzt Shakespeare sie auf nur wenige Tage. Diese Raffung bewirkt eine erhebliche dramatische Steigerung: Vor allem fallen Tybalts Tod und Romeos Verbannung zwischen Trauung und Liebesnacht, sodass Romeo und Juliet nur eine gemeinsame Nacht verbringen können, die allerdings schon von der bevorstehenden Trennung überschattet wird. 2. Mercutio und die Amme sind bei Shakespeare individueller ausgestaltet. Mercutio ist vor allem kein beliebiger Höfling mehr, sondern ein Verwandter des Prinzen und ein enger Freund Romeos, wodurch dessen Rache für Mercutios Ermordung umso nachvollziehbarer wird. Auf Mercutios Funktion, in die tragische Handlung komödienhafte Elemente einzustreuen, wurde bereits hingewiesen. 3. Die weibliche Protagonistin ist erst dreizehn Jahre alt, während sie in Brookes Version drei Jahre älter und in Bandellos Bearbeitung bereits achtzehn Jahre alt ist: Durch ihre Jugend in Shakespeares Tragödie ist klar, dass es sich um die erste Liebe handelt, und ihr Ungehorsam gegenüber ihren Eltern erscheint umso eindrucksvoller. Außerdem erscheint Juliet so naiver und unschuldiger als bei Brooke, der sie als vergleichsweise erfahren und listig oder berechnend erscheinen lässt. Sie weiß zum Beispiel ganz genau, wie sie ihre Mutter täuschen kann. Trotz ihrer relativ kindlich anmutenden Naivität durchläuft auch Shakespeares Julia-Figur einen inneren Reifungsprozess. 4. Auch Romeo stellt Shakespeare positiver dar, als Brooke dies tut. Vor allem betont er den Unterschied zwischen seiner unerwiderten Liebe zu Rosaline und der echten gegenseitigen Liebe zu Juliet. Shakespeare räumt hierfür der Beschreibung der Liebe zu Rosaline viel Raum ein. Dies mag vornehmlich damit zusammenhängen, dass er diese Liebe als Anlass zu einer Auseinan218 Vgl. hierzu Kapitel 4.1.4.1 der vorliegenden Untersuchung. 219 Vgl. hierzu Kapitel 4.1.4.2 der vorliegenden Untersuchung.

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dersetzung mit dem Petrarkismus nutzt. Diese literaturgeschichtliche Dimension fehlt bei Brooke völlig. Hierauf wird zurückzukommen sein. In Shakespeare Tragödie ist die Figur des Benvolio neu. Dieser dient Romeo als Vertrauter. Insofern erfüllt er für Romeo eine ähnliche Funktion wie die Amme für Juliet. Graf Paris wirbt schon zu Beginn des Dramas um Juliet (I, 2). Im Unterschied hierzu führt ihn ihr Vater in Brookes Version erst nach Romeus’ Verbannung als für seine Tochter auserwählten Ehemann ins Geschehen ein. Bei Shakespeare wird die Liebe der beiden Protagonisten daher von Anfang an nicht nur durch die Familienfehde bedroht, sondern zusätzlich durch das Werben eines anderen Mannes um Juliet. Dementsprechend taucht Graf Paris in Shakespeares Tragödie relativ oft auf, nämlich in fünf Szenen (I, 2; III, 4; IV, 1; IV, 5; V, 3). In Brookes Gedicht hingegen ist nur selten die Rede von ihm. Neu bei Shakespeare ist auch die Vorverlegung der geplanten Hochzeit zwischen Juliet und Graf Paris um einen Tag. Hierdurch erzielt Shakespeare eine Beschleunigung und Dramatisierung des Geschehens: Juliet muss den Schlaftrunk sofort einnehmen, und der Mönch muss Romeo von allem in Kenntnis setzen, damit dieser rechtzeitig in der Gruft erscheint. Shakespeare hat Brookes lange Beschreibung des Bestattungszeremoniells und der Beisetzung nicht szenisch umgesetzt, zumal dies den elisabethanischen Theatergewohnheiten widersprochen hätte. Wie gesagt, besteht eine wesentliche Neuerung Shakespeares in der Einführung komischer Elemente, die ein Gegengewicht zur Tragik des Geschehens bilden.

Alle diese Änderungen, die Shakespeare gegenüber Brookes Version des Romeound-Julia-Stoffes vorgenommen hat, stehen im Dienste einer Konzentration und Intensivierung, die teilweise schon in der Wahl der dramatischen Form begründet liegt. Shakespeares Aufgabe bestand primär ja darin, ein Gedicht epischer Länge in eine kurze dramatische Handlung zu transformieren. An dieser Stelle mag ein kurzes Beispiel für die von Shakespeare durchgeführte dramatische Raffung genügen: Bei Brooke klagt Iuliet nach der Ballszene in einem langen Monolog darüber, ein Mitglied einer verhassten Adelsfamilie zu lieben, bei Shakespeare thematisiert sie dies hingegen nur kurz in einem Monolog auf ihrem Balkon, den Romeo aber von Anfang an belauscht, um im weiteren Verlauf dann gemeinsam mit ihr konkrete Hochzeitspläne zu schmieden. Im Folgenden sollen die wichtigsten Unterschiede zwischen Brookes Verserzählung und Shakespeares Tragödie herausgearbeitet werden, zumal damit eine wichtige Intention Shakespeares zusammenhängt. Diese betrifft die unterschiedliche Bewertung der Liebe bei Shakespeare und bei Brooke. Im Gegensatz zu Brooke erscheint diese Liebe bei Shakespeare in einem ausschließlich

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positiven Licht. Sie erfüllt hier jedoch keinen Endzweck, sondern – so die hier vertretene These – wird von Shakespeare primär zu einem Medium der Kritik am Petrarkismus bzw. an der petrarkistischen Liebesdichtung funktionalisiert. Damit verleiht Shakespeare dem Romeo-und-Julia-Stoff eine völlig neue literaturgeschichtliche Dimension. Die Liebe von Romeo und Juliet wird in der Tragödie zu einem positiven Gegenbild der petrarkistischen Liebe, die statt einem Gefühl einer angenommenen Geisteshaltung entspringt.220 Was Brookes epische Romeo-und-Julia-Bearbeitung betrifft, so ist die Bewertung der Liebe der beiden jungen Leute, wie bereits erläutert, ambivalent gestaltet: In seiner Address to the Reader tadelt der Dichter die Lüsternheit und den Ungehorsam der Liebenden gegenüber ihren Eltern. Romeus’ und Iuliets Tod werden hier als Strafe für ein unmoralisch geführtes Leben bzw. eine unmoralische Liebe interpretiert, die verurteilt werden muss. Im Gedicht selbst hingegen werden Iuliets Tugendhaftigkeit und Romeos Integrität hervorgehoben. Der Tod der beiden Liebenden erscheint hier nun als ein von ihnen unverschuldetes Ereignis, das allein durch die Missgunst der Sterne verursacht wurde. In der Folge bietet sich dem Zuschauer oder Leser also ein ambivalentes Bild der Liebe der beiden jungen Leute, wobei dieser tendenziell eher dazu neigen dürfte, Brookes Address to the Reader als ein notwendiges moralisches Zugeständnis anzusehen. Im Unterschied zu Brooke stellt Shakespeare seine beiden Liebenden ausschließlich und mit aller Konsequenz als Opfer des blinden Schicksals und widriger gesellschaftlicher Umstände dar. Keinesfalls ist an eine aristotelische Katharsis durch den Tod der tragischen Helden infolge einer schuldhaften Verstrickung zu denken. Shakespeares dramatische Romeo-und-Julia-Adaption intendiert stattdessen beim Zuschauer oder Leser die Erweckung von Mitgefühl und auch Bewunderung für den großen Mut der beiden Liebenden. Damit steht die Tragödie in der elisabethanischen Tradition, die dem move den Primat gegenüber dem teach zukommen lässt und die Sir Philip Sidney in seiner Apology for Poetry (auch Defence of Poesy) (geschrieben um 1580, Druck 1595) wie folgt beschrieben hat: So that the right use of Comædie, will I thinke, by no bodie be blamed; and much lesse of the high and excellent Tragedie, that openeth the greatest wounds, and sheweth forth the Ulcers that are covered with Tissue, that maketh Kings feare to be Tyrants, and Tyrants manifest their tyrannicall humors, that with sturring the affects of Admiration

220 Hier soll es ausschließlich um diese literaturgeschichtliche Auseinandersetzung gehen und nicht darum zu entscheiden, ob Romeos und Juliets Liebe der ›wahren Liebe‹ zuzuordenen ist. Lubrich: 2001 hat eindrucksvoll vorgeführt, dass die Liebe der beiden jungen Leute diesem romantischen Mythos nicht entspricht.

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and Comiseration, teacheth the uncertaintie of this world, and uppon how weak foundations guilden roofes are builded […]. (Sidney : 1950, 27)

Um Shakespeares diesbezügliche Intention aufzuzeigen, reicht zunächst schon ein Blick auf den Beginn und den Schluss seiner Tragödie: Die letzten Worte legt er Prince Escalus in den Mund, der das unvergleichliche Leid der beiden jungen Liebenden beklagt. Auf diese Weise bleibt die öffentliche Dimension ihrer Liebe, die bereits im Eingangssonett des Chores eine zentrale Rolle spielt, bis zuletzt evident: For never was a story of more woe Than this of Juliet and her Romeo. (V, 3, v. 309 f.)

Eingeleitet wird Romeo and Juliet von einem Chor, der die Hauptthemen und die Handlung des Stückes kurz vorstellt, und zwar in Form des folgenden Sonetts:221 The Prologue. CHORUS Two households, both alike in dignity, In fair Verona, where we lay our scene, From ancient grudge break to new mutiny, Where civil blood makes civil hands unclean. From forth the fatal loins of these two foes A pair of star-crossed lovers take their life, Whose misadventured piteous overthrows Doth with their death bury their parents’ strife. The fearful passage of their death-marked love And the continuance of their parents’ rage – Which but their children’s end, naught could remove – Is now the two hours’ traffic of our stage; The which if you with patient ears attend, What here shall miss, our toil shall strive to mend.

Zunächst wird hier durch die Erwähnung der langen Streitigkeiten zwischen zwei Adelsgeschlechtern in Verona der soziale Rahmen geschaffen, und der Chor weist darauf hin, dass diese Fehde durch den Tod der beiden liebenden Kinder beendet werden wird. Anders als Brooke stellt Shakespeare die öffentliche Sphäre heraus, die dem privaten Glück Romeos und Juliets im Wege steht. Dabei hebt der Chor die Schicksalhaftigkeit und die Tragik der Liebe hervor (»starcrossed«, »death-marked«), wodurch er mehr oder weniger offen zum Mitleid mit den jungen Leuten aufruft (»piteous«). Die beiden jungen Liebenden erscheinen im Prologsonett als Mittel zum Zweck, nämlich so, als wären sie vom Schicksal dazu bestimmt, durch ihre Liebe 221 Zu den Sonetten in Romeo and Juliet vgl. Dubu: 1993.

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die Fehde ihrer Familien zu beenden. Weder hier noch später im Drama wird diese Liebe daher in irgendeiner Weise verurteilt, und das obgleich sie stark lukrezianische Züge besitzt. Shakespeare tadelt diese Liebe jedoch nicht nur nicht, sondern nutzt sie, um der neuplatonisch-petrarkistischen Liebeskonzeption die Vorstellung einer auch sinnlich erlebten Liebe entgegenzusetzen. Diese Auseinandersetzung mit der petrarkistischen Dichtung ist – neben der eingestreuten Komik – eine der wesentlichen Neuerungen in der Tradition der Bearbeitungen des Romeo-und-Julia-Stoffes, die Shakespeare vorgenommen hat. Shakespeares Tragödie wird zum Medium einer Kritik an der konventionalisierten Liebessprache und der realitätsfernen Liebeskonzeption der Petrarkisten. Implizit erfolgt schon durch die zahlreichen Binnensonette oder Sonettfragmente formal eine Auseinandersetzung mit dem Petrarkismus, zumal das Sonett zunächst der petrarkistischen Liebesdichtung vorbehalten war. Romeos Vater charakterisiert seinen Sohn gleich zu Beginn der Tragödie im Gespräch mit Benvolio (I, 1) als einen liebeskranken jungen Mann, dessen Werbung von seiner angebeteten Dame Rosaline nicht erhört wird. Wie der typisch petrarkistisch Liebende verleiht Romeo seiner unerfüllten Liebe durch permanente Seufzer Ausdruck, sucht die Isolation und versucht, sich dem natürlichen Lauf der Dinge zu widersetzen. Der am Ende des letzten Verses besonders stark betonten »artificial night« (v. 133) wird Shakespeare im Fortgang der Tragödie (III, vor Szene V, die den Morgen ›danach‹ zeigt) eine ›natürliche‹ Nacht gegenüberstellen, in der die Liebe zwischen Romeo und Juliet auch ihre körperliche Vollendung findet: MONTAGUE Many a morning hath he there been seen, With tears augmenting the fresh morning’s dew, Adding to clouds more clouds with his deep sighs. But all so soon as the all-cheering sun Should in the farthest east begin to draw The shady curtains from Aurora’s bed, Away from light steals home my heavy son, And private in his chamber pens himself, Shuts up his windows, locks fair daylight out, And makes himself an artificial night. (I, 1, vv. 124 – 133)

Auch Romeos eigene Äußerungen erhärten das Bild von sich als einem petrarkistisch Liebenden. Er bedient sich der typischen Bilder und Vergleiche (z. B. beklagt er ebenso die Blindheit der Liebe wie die ablehnende Kälte der Angebeteten, beschreibt die Liebe als Feuer, Meer, Wahnsinn, Galle und Süße (I, 1, 170 f., 189, 193, 207 – 223)). Damit repräsentiert Romeos Lage die charakteristische antinomische Grundkonstellation zwischen dem Werbenden und der Angebeteten im Petrarkismus. Shakespeare lässt Romeos zelebriertes Liebes-

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leid, seine dolendi voluptas, damit als vorgetäuscht erscheinen, zumal es nur dem dominanten zeitgenössischen Liebesdiskurs entspricht. Das positive Gegenbild dieser unerfüllten Liebe stellt die Liebe von Romeo und Juliet dar. Das Scheitern der Liebe zu Rosaline weist weit über den konkreten Einzelfall hinaus, indem es zugleich auf das Scheitern des Petrarkismus verweist. In diesem Sinne wäre Shakespeares Tragödie zunächst und vor allem als eine Abrechnung mit dem gleichsam beschränkten wie realitätsfernen petrarkistischen System zu deuten. Romeos unerfüllter Liebe zu Rosaline, die die entsprechenden Konventionen vollkommen erfüllt, setzt Shakespeare eine Liebe entgegen, die sowohl auf die seelische als auch auf die körperliche Vereinigung mit dem Partner zielt. Dass auch diese Liebe letzten Endes scheitert, liegt nicht in ihrer eigenen Natur begründet, sondern sie fällt widrigen gesellschaftlichen Umständen zum Opfer. Auch Mercutio verspottet seinen Freund Romeo als den idealtypischen Repräsentanten des petrarkistisch Werbenden, und zwar bei expliziter Nennung Petrarcas: MERCUTIO Without his roe, like a dried herring.O flesh, flesh, how art thou fishified! Now is he for the numbers that Petrarch flowed in. Laura to his lady was but a kitchen wench – marry, she had a better love to berhyme her – Dido, a dowdy, Cleopatra a gypsy, Helen and Hero hildings and harlots, Thisbe a grey eye or so, but not to the purpose […]. (II, 3, vv. 33 – 38)

Außerdem übt Romeos enger Vertrauter Benvolio Kritik am Petrarkismus, und zwar ganz konkret am stereotypen Versprechen der ewigen Treue des Werbenden. Diese Kritik äußert er bezeichnenderweise in einer parodistischen Verstümmelung des typischen petrarkistischen Sonetts, indem er ein Sonett vorführt, von dem nur noch die letzten sechs Verse erhalten sind. Dies legt die Annahme nahe, dass die ersten acht Verse jenen petrarkistischen Schwur der ewigen Treue – selbst über den Tod hinaus – enthalten haben könnten. Zumal dieser Schwur nach Benvolio keinen Bestand haben kann, ist es nur konsequent, dass diese ersten acht Verse nicht im Textmaterial erscheinen, sondern vom Sprecher unterschlagen werden. BENVOLIO Tut, man, one fire burns out another’s burning, One pain is lessened by another’s anguish, Turn giddy, and be holp by backward turning. One desperate grief cures with another’s languish. Take thou some new infection to thy eye, And the rank poison of the old will die. (I, 2, vv. 43 – 48)

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Das wohl berühmteste Binnensonett in Romeo and Juliet stellt der erste Dialog zwischen Romeo und Juliet dar. Shakespeare wendet sich hier im ureigensten poetischen Medium der Petrarkisten, dem Sonett, das sogar im iambic pentameter und damit der englischen Entsprechung von Petrarcas endecasillabo geschrieben ist, inhaltlich völlig von der petrarkistischen Liebeskonzeption ab. Und schon die Form des Dialogsonetts macht deutlich, dass die Liebe zwischen Romeo und Juliet zunächst und vor allem auf Gegenseitigkeit basiert. Außerdem zeichnet das Sonett kein Bild von der Liebe als einem ausschließlich geistigen Phänomen. Signifikanterweise erfährt die religiöse Metapher der Pilger eine radikale Umdeutung ins Erotische, die dem sexuellen Aspekt der zwischenmenschlichen Liebe Rechnung trägt, und zwar zunächst in Form des ersten Kusses. Eine konventionelle religiöse Metapher wird damit zum Ausgangspunkt einer Liebeskonzeption, die nach gegenseitiger Erfüllung auch in körperlicher Hinsicht strebt. ROMEO [to JULIET, touching her hand] If I profane with my unworthiest hand This holy shrine, the gentler sin is this: My lips, two blushing pilgrims, ready stand To smooth that rough touch with a tender kiss. JULIET Good pilgrim, you do wrong your hand too much, Which mannerly devotion shows in this: For saints have hands that pilgrims’ hands do touch, And palm to palm is holy palmers’ kiss. ROMEO Have not saints lips, and holy palmers; too? JULIET Ay, pilgrim, lips that they must use in prayer. ROMEO O, then, dear saint, let lips do what hands do: They pray ; grant thou, lest faith turn to despair. JULIET Saints do not move, though grant for prayers’ sake. ROMEO Then move not while my prayer’s effect I take. [He kisses her] (I, 5, vv. 90 – 103)

Diese erste Begegnung stellt sowohl in semantisch-inhaltlicher als auch in formal-struktureller Hinsicht eine Absage an das petrarkistische System dar. In inhaltlicher Hinsicht gilt dies aus zwei Gründen: Erstens lehnt Juliet Romeos Werbung nicht ab, sondern lässt sich zunächst auf den Austausch verbaler Spitzfindigkeiten ein, und zweitens findet die Liebe der beiden ihren Ausdruck in zunächst einem und dann einem zweiten Kuss, wobei Juliet nicht den kleinsten Widerstand leistet. Wie gesagt, es handelt sich um die erste persönliche Begegnung der beiden, d. h. ihre Liebe wird von Anfang an sowohl als ein emotionaler Zustand als auch ein physiologisches Phänomen charakterisiert, Gefühl und Körperlichkeit sind dabei untrennbar miteinander verbunden und

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stellen zwei komplementäre Wirkungen einer Ursache, nämlich des Amor/Eros dar. Größer könnte die Differenz zur petrarkistischen Liebe, deren Grundvoraussetzung die Distanz zwischen Mann und Frau darstellt, kaum sein. Fast noch interessanter als diese thematische Abwendung vom petrarkistischen System ist deren formale Umsetzung. Wie gesagt: Shakespeare lässt Romeo seine Liebeswerbung und Juliets positive Reaktion auf diese in Form eines Dialogsonetts äußern. Schon darin, dass innerhalb des Sonetts nicht nur der Werbende, sondern auch die Umworbene zu Wort kommt, muss selbstverständlich als eine Absage an den Petrarkismus aufgefasst werden. Dieser verurteilt die Dame ja konsequent zum Schweigen. Doch bleibt es nicht dabei, denn Shakespeare ist hier mit einer weitaus größeren Raffinesse ans Werk gegangen. Betrachten wir dazu die entsprechenden Verse näher : Das Sonett besteht in der Tradition des von Surrey geschaffenen so genannten Typus des Shakespearean Sonnet aus drei Quartetten im Kreuzreim und dem heroic couplet, in dem Shakespeare geradezu die Sakralisierung der körperlichen Liebe vorführt, und zwar dadurch, dass er hier den Kuss zum Ergebnis einer religiösen Handlung, nämlich des Gebets, erklärt. Das zweite Quartett weist eine bedeutsame Abweichung vom idealtypischen Shakespearean Sonnet auf, denn der zweite Reim entspricht dem zweiten Reim des ersten Quartetts: abab cbcb. Eingedenk dessen, dass Romeo das erste Quartett und Juliet dieses zweite Quartett spricht, könnte Shakespeare auf der klanglich-formalen Ebene hier eine Übereinstimmung andeuten, die später ihren expliziten Ausdruck in der gemeinsamen Liebesnacht der beiden finden wird. Analoges gilt auch für das heroic couplet, das ebenfalls gerecht auf Romeo und Juliet verteilt ist. Shakespeare belässt es nicht bei diesem einen dialogisch gestalteten Sonett, sondern fügt ihm einen Vierzeiler an, den man als das erste Quartett eines weiteren Sonetts auffassen könnte, wobei die Aufteilung zwischen den Protagonisten dieses Mal folgendermaßen gestaltet ist: ROMEO Thus from my lips, by thine my sin is purged. JULIET Then have my lips the sin that they have took. ROMEO Sin from my lips? O trespass sweetly urged! Give me my sin again. [He kisses her] JULIET You kiss by th’ book. (I, 5, vv. 104 – 108)

Romeo spricht den ersten und dritten Vers, Juliet den zweiten, und den vierten Vers teilen sich beide: Romeo spricht den ersten Halbvers und Juliet komplettiert diesen zu einem vollständigen Vers. Betrachten wir die Gestaltung dieses letzten Verses genauer :

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Give me my sin again. [He kisses her] You kiss by the book.

Mit dieser Gestaltung des ohnehin privilegierten letzten Verses des Quartetts suggeriert Shakespeare die Vereinigung der beiden Liebenden durch den zweiten Kuss. Nun sind sich beide schon so nahe, dass sie sich gemeinsam einen Vers teilen. Dies bedeutet, verglichen mit dem ersten Sonett, eine starke Annäherung der Liebenden, die auch eine körperliche Annäherung impliziert. Was zu erwarten wäre, wenn die Rede der beiden nicht durch die Amme unterbrochen würde, bleibt an dieser Stelle einzig der Phantasie jedes Zuschauers oder Lesers überlassen. An dieser Stelle in der Tragödie ist Romeos Transformation vom stereotyp petrarkistisch Liebenden zum aufrichtig und tief Empfindenden noch nicht vollständig vollzogen, denn seiner Liebe verleiht er nach wie vor keinen individuellen Ausdruck, sondern er richtet sein Verhalten an den Konventionen der allgemeinen Schicklichkeit aus. Signifikanterweise enden die vier Verse mit Juliets Feststellung, dass Romeo »by the book« küsse. Hiermit ist nichts anderes gemeint, als dass Romeo den Kuss ritualisiert, indem er ihn den Regeln der höfischen Etikette anpasst. Insofern verhindert nicht nur das plötzliche Auftreten der Amme die vollständige Erfüllung der Liebe. In der zweiten Szene des zweiten Aktes wird es Juliet gelingen, Romeo endgültig von den letzten Resten einer durch die petrarkistische Dichtung konventionalisierten Liebessprache zu befreien und ihm den Weg zu einem authentischen und individualisierten Liebesverhalten aufzuzeigen: ROMEO Lady, by yonder blessÀd moon I vow, That tips with silver all these fruit-tree tops – JULIET O swear not by the moon, th’inconstant moon That monthly changes in her circled orb, Lest that thy love prove likewise variable. ROMEO What shall I swear by? JULIET Do not swear at all; Or if thou wilt, swear by thy gracious self, Which is the god of my idolatry, And I’ll believe thee. ROMEO If my heart’s dear love – JULIET Well, do not swear. […] (II, 1, vv. 149 – 158)

Diese radikale innere Wandlung Romeos wird im Prologsonett des zweiten Aktes, das wieder der Chor vorträgt, explizit thematisiert. Signifikanterweise findet die Ablehnung des petrarkistischen Liebesverhaltens erneut in Form eines Sonetts ihren Ausdruck. Shakespeare überwindet den Petrarkismus damit sozusagen mit dessen eigenen Mitteln:

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CHORUS Now old desire doth in his deathbed lie, And young affection gapes to be his heir. That fair for which love groaned for and would die, With tender Juliet matched, is now not fair. Now Romeo is beloved and loves again, Alike bewitchÀd by the charm of looks; But to his foe supposed he must complain, And she steal love’s sweet bait from fearful hooks. Being held a foe, he may not have access To breathe such vows as lovers use to swear, And she as much in love, her means much less To meet her new belovÀd anywhere. But passion lends them power, time means, to meet, Temp’ring extremities with extreme sweet.

Dem »old desire« (v. 1), d. h. Romeos unerfüllter Liebe zu Rosaline, steht nun eine »young affection« (v. 2) gegenüber, wobei diese sich nicht nur graduell, sondern prinzipiell voneinander unterscheiden (siehe v. 3 ff.). Denn seinem durch die stereotype Ablehnung der umworbenen Dame verursachten früheren Liebesleid steht nun eine auf Gegenseitigkeit (v. 5) und auch Offenheit basierende Liebesbeziehung, zu deren Erfüllung auch die körperliche Vereinigung von Romeo und Juliet maßgeblich zählt, gegenüber. Im Gegensatz zu der aufgrund ihres konventionalisierten Charakters austauschbaren Liebe zu Rosaline zeichnet sich diese neue Liebe dementsprechend durch ihre Einzigartigkeit aus.

4.1.4 Romeo und Julia in Spanien 4.1.4.1 Lope de Vega, Castelvines y Monteses (vor 1610, EA 1647)222 Wie bereits erläutert, ist eine der großen Leistungen Shakespeares im Kontext der frühneuzeitlichen Rezeption des Romeo-und-Julia-Stoffes in Europa die Einführung komischer Momente in die tragische Handlung. Sind es bei Shakespeare nur einzelne Elemente, die der Komik zuzurechnen und maßgeblich auf der sprachlichen Ebene auszumachen sind, vor allem in den Äußerungen der in Shakespeares Romeo and Juliet neuen Figur des Mercutio, so hat ein spanischer Dichter den ursprünglich ausschließlich tragischen Stoff zur Tragikomödie umgewandelt.223 Gemeint ist hier einer der bekanntesten Dichter 222 Vega: 2003b. Für einen Versuch der genauen Datierung der Tragikomödie vgl. Garc†aPrados: 1927, 71 – 74 und Morley/Bruerton: 1968, 299. 223 Zum Einfluss Shakespeares auf Lope de Vega vgl. Friedman: 1989.

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des Siglo de Oro, nämlich Felix Lope de Vega Carpio (1562 – 1635). Mit diesem Gattungstransfer kommt der spanische Dichter einer Forderung nach, die er in seinem Arte nuevo de hacer comedias en este tiempo (1609) mit Blick auf den Geschmack des zeitgenössischen spanischen Publikums formuliert hat: Lo tr‚gico y lo cûmico mezclado, y Terencio con S¦neca, aunque sea como otro Minotauro de Pasife, har‚n grave una parte, otra rid†cula, que aquesta variedad deleita mucho: buen ejemplo nos da naturaleza, que por tal variedad tiene belleza. (vv. 174 – 180)

Die Metamorphose des tragischen Stoffes zur Komödie wird erst Francisco de Rojas Zorrilla vornehmen, und zwar fast ein halbes Jahrhundert nach Shakespeare, nämlich in Los Bandos de Verona (1645). Selbstredend waren für die Transposition des Stoffes in die dramatische Form der Tragikomödie zahlreiche Abweichungen vom ursprünglichen italienischen Modell Luigi da Portos bzw. Matteo Bandellos nötig. Denn auch in Spanien wird im 17. Jahrhundert vornehmlich Bandellos Bearbeitung des Romeo-und-JuliaStoffes rezipiert. Schon der Beginn von Lope de Vegas Bearbeitung des Romeound-Julia-Stoffes weicht erheblich von den bisherigen Beispielen ab, denn Roselo befindet sich gleich in der ersten Szene des ersten Aktes auf dem Fest im Hause der Castelvines. Anders als in den anderen Bearbeitungen erfährt der Zuschauer oder Leser den Anlass dieses Festes: Gefeiert wird die Verlobung und baldige Hochzeit der Tochter des Hauses, nämlich Iulia, mit ihrem Cousin namens Otauio. Damit erscheint der tragische Konflikt, der die Liebe von Roselo und Iulia im Fortgang des Stückes begleiten wird, erheblich gesteigert: Erstens geht von Anfang an für Roselo eine konkrete Bedrohung dieser Liebe durch einen zweiten Mann aus, und zweitens handelt es sich bei diesem um einen Familienangehörigen. Shakespeare verfährt in seiner Tragödie ähnlich, wenn er Paris von Anfang bis Ende eine relativ starke Präsenz sichert, allerdings handelt es sich hier – wie in der italienischen Urfassung des Stoffes von da Porto – um einen reichen Adeligen, der nicht mit Iulia verwandt ist. Die erste komische Situation stellt das erste Gespräch zwischen Roselo und Iulia dar, zumal es sich im Beisein Otauios ereignet und dieser der Meinung ist, Julia spreche ihre Liebeserklärung zu ihm. Tatsächlich spricht sie zwar zu Otavio bzw. schaut ihn an, meint aber Roselo. Der entsprechende Paratext lässt hieran keinen Zweifel: »Aduiertase que Iulia hable con Otauio, pero la intencion, y seÇas sean con Roselo, y el lo mismo, pero Otauio piense que es por el« (I). Mit dem gezielten Aneinandervorbeireden hat sich Lope de Vega eines der ältesten Mittel zur

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Erzielung eines komischen Effekts bedient. Am Ende dieses ersten Gespräches übergibt Iulia Roselo als Zeichen ihrer Liebe einen Ring. Schon anhand dieser Übergabe wird das Potenzial dieser Vorgehensweise Lope de Vegas zur Komik mehr als deutlich: Pone Iulia a Roselo vn anillo en la mano que le tiene. Iul. Guarde aqueste. Ros. Que este guarde? Ota. Que me das? Ros. Que os deuo Cielos. Iul. Luego no me has entendido. Ota. No Iulia. Iul. Puse la mano en el coraÅon, que es llano, que te le ha dado, y rendido, y por esso te dezia guarda aqueste. Ota. Y dizes bien, porque tus manos le den, y le guarde el alma mia. Ros. Que diuina discreciûn de oyrla me marauillo, dize que guarde el anillo, y el piensa que el coraÅon, matome el entendimiento, si me rindio la hermosura. (I, vv. 494 – 513)

Später gesteht Iulia ihrer Dienerin dann sogar explizit ihre List: Iul. Con Otauio hablaua, ay Cielo.

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Cel. Pues de que triste te pones, Iul. De que todas las razones, las dixe siempre a Roselo, de suerte que hablaua a Otauio, y Roselo me entendia. (I, vv. 590 – 595)

Dieser Komik steht direkt im Anschluss an das erste Gespräch eine Erkenntnis entgegen, die droht, das Schicksal der beiden Liebenden in Richtung eines tragischen Ausgangs zu lenken. Als Iulia nämlich noch am selben Abend von ihrer Dienerin Celia, die hier die in der Rezeption des Romeo-und-Julia-Stoffes üblicherweise vorkommende Figur der Amme als Iulias Vertrauter ersetzt, erfährt, wer Roselo ist, ist sie wild entschlossen, ihrer Liebe entsagen zu müssen. Dazu soll Celia Roselo ausrichten, dass Iulia ihn niemals wiedersehen möchte. Iulias entsprechende Anweisung an ihre Dienerin ist unmissverständlich: maÇana Celia, maÇana le busca, y di que he sabido quien es, y di que le pido, ya que he sido tan liuiana, que no atrauiesse esta calle. (I, vv. 614 – 618)

Zugleich möchte Iulia jedoch durch Celia erfahren, ob Roselo eine andere Frau liebt. Dies lässt große Zweifel daran entstehen, ob Iulia in der Lage sein wird, ihre verstandesmäßig getroffene Entscheidung, Roselo fortan nicht mehr zu sehen, tatsächlich in die Tat umsetzen wird bzw. kann: Assi, ya no me acordaua, dile que inocente estaua, y que no passe esta calle, pero que puede daÇar, que sepas si quiere bien? (I, vv. 637 – 641)

Celia befolgt die Anweisungen ihrer Herrin vor allem deshalb sehr gerne, weil sie in Liebe zu Roselos Diener Mar†n entflammt ist. Diese Konstellation ist völlig neu in Lope de Vegas Rezeption des Romeo-und-Julia-Stoffes und wird vor allem Auswirkungen auf den Ausgang seines Stückes haben. Allen widrigen Umständen zum Trotz trifft Roselo Iulia ein zweites Mal im Garten des Hauses ihrer Eltern und überzeugt sie davon, seinen Hochzeitsplänen zuzustimmen. Durchführen soll die Trauung ein mit ihm befreundeter Mönch namens Aurelio. Roselos fast wichtigstes Argument für die Eheschließung ist

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dabei der familiäre Nutzen, der aus dieser Verbindung seiner Meinung nach unweigerlich entstehen muss, nämlich die Versöhnung der Castelvines und Monteses: estos bandos con tu casamiento cesen: mira que por dicha el cielo, nos proboca ocultamente a este amor honesto, y santo, con que todos en paz quede. (I, vv. 1088 – 1093)

Auch in Lope de Vegas Bearbeitung des Romeo-und-Julia-Stoffes kommt es nach der heimlich vollzogenen Hochzeit zu einem Kampf zwischen den Castelvines und Monteses, wobei der Herausforderer Roselos dieses Mal nicht nur Iulias Vetter, sondern eben zugleich ihr zukünftiger Ehemann ist, nämlich Otauio. Auch hier versucht Roselo, den Streit zu schlichten, muss seinen Rivalen dann aber aus Notwehr töten, nachdem er ihm seine Liebe zu Iulia gestanden hat. Das Motiv, dass Otauio Roselo aus Eifersucht angreift, hat Lope de Vega dem traditionellen Stoff hinzugefügt. Von Veronas Herrscher wird Roselo im Folgenden von jeder Schuld freigesprochen, er solle aber dennoch Verona verlassen, damit es nicht zu weiteren Kämpfen kommt. So muss Roselo sich von seiner Frau verabschieden, nachdem sie ihm nochmals ihre Liebe versichert hat. Auch Lope de Vegas Julia fällt nach Roselos Fortgang aus Verona in eine tiefe Schwermut. Als sie ihrem Vater diese damit erklärt, dass sie ihren Ehemann beweine, so bezieht dieser diese Aussage fälschlicherweise auf Otauio und ist entschlossen, seiner Tochter einen Ersatz für den toten Zukünftigen zu beschaffen, nämlich den Grafen Paris, der schon früher um seine Tochter geworben hat. In diesem Kontext kommt es zu neuen komischen Verwirrungen, denn Roselo stößt zufälligerweise mit seinen Gefolgsleuten auf seinem Weg nach Ferrara auf den Grafen Paris bzw. der Graf Paris stößt zufälligerweise auf Roselo und seine Gefolgsleute, die von einigen Mitgliedern der Castelvines angegriffen werden. Der mutige Graf Paris schlägt sich auf Roselos Seite und hilft ihm dabei, die Gegner zu verjagen. Nun ereignet sich die folgende Ironie des Schicksals, dass Roselos Retter von eben plötzlich sein größter Feind und seine größte Bedrohung wird, und zwar dadurch, dass Paris noch im Beisein Roselos ein Brief von Iulias Vater Antonio übergeben wird, in dem dieser Paris die Hand seiner Tochter anbietet und den der Graf Roselo zu lesen gibt: Si alguna cosa pudiera consolarme en tal dolor, sera que vengas seÇor, donde esta casa te espera.

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Honrala con tu persona porque ha defender te inclines, no solo a los Casteluines, pero a tu patria Verona. Ya sabras como Roselo mato a mi sobrino Otauio, cuya sangre, y nuestro agrauio dan juntos vozes al Cielo. Todos te quieren aqui, por amparo, y proctetor, y yo por yerno, y seÇor Iulia te espera, ay de mi! Iulia te espera, que es esto? (II, vv. 958 – 974)

Rasend vor Eifersucht, weil er ja nichts von den Geschehnissen in Verona weiß und deshalb an Iulias Treue zweifelt, eilt Roselo nach Ferrara: Quien pensara, que en aquel angel Marin, huuiera tantas mudanÅas, los Cielos dizen que mueue con velocidad tan rara. Vn angel que en solo vn dia do vn polo al otro los passa, o lo imitas, o lo eres, pues en tan breue distancia, las esferas del alma, desde los Cielos al infierno passas. (II, vv. 1032 – 1042)

Das Motiv, dass auch die Liebe Roselos zu seiner Iulia Schwankungen unterlegen ist, hat Lope de Vega dem traditionellen Stoff hinzugefügt. In den anderen bislang präsentierten Versionen steht die Liebe der beiden gerade für Konstanz und Treue, sogar bis über den Tod hinaus. In Lope de Vegas Tragikomödie lässt sich spätestens in jenem Moment, als Roselo sich aus Eifersucht von Iulia abwendet, der Ausgang nicht absehen. Dies gilt noch mehr, als Roselo sich in Ferrara einer anderen Dame zuwendet, um sich an seiner vermeintlich untreuen Ehefrau zu rächen. Schon nach Kurzem erfährt Roselo jedoch durch einen Brief des Mönches Aurelio von den wahren Begebenheiten, dass Iulia sich nämlich mit einem Schlaftrunk in einen todesähnlichen Zustand versetzt habe und er nun gemeinsam mit ihr fliehen solle. Was die Szene mit dem Schlaftrunk angeht, so hat Lope de Vega erneut eine Abweichung von der ursprünglichen Geschichte vorgenommen: Iulia ist nicht alleine und wird nicht erst am Morgen, nachdem sie das Schlafmittel eingenommen hat, scheinbar tot aufgefunden, sondern ihre

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Dienerin Celia ist in den entscheidenden Minuten bei ihr. Dies gibt Iulia die Möglichkeit, sich ihr vor Einnahme des Mittels nochmals anzuvertrauen. Vor allem hält Iulia an ihrer bedingungslosen Liebe und Treue fest. Zumal der Zuschauer und Leser weiß, dass Roselo an dieser Liebe und Treue Iulias gezweifelt hat, ist für ihn hier sicherlich der tragische Höhepunkt des Stückes erreicht. Iulias letzte Worte an Celia sind Worte, die diese Roselo ausrichten soll: Dile que su esposa fuy? dile, que le guarde el cielo? dile que muero por el, y por no ser de otro, y di, que no se oluide de mi? (III, vv. 193 – 197)

Auch in Lope de Vegas Bearbeitung eilt Roselo zur Gruft, in der seine vermeintlich tote Frau bestattet ist, und es kommt – anders als von der Tradition vorgegeben – nicht zum tragischen Selbstmord der beiden, sondern zum glücklichen Wiedersehen. Mit dieser Entscheidung ist klar, dass Lope de Vega sich im Fortgang auf keinen Vorläufer mehr beziehen kann, sondern den Ausgang seines Stückes individuell gestalten muss. Dies gibt ihm die Möglichkeit, die ursprünglich tragische Geschichte Romeos und Julias glücklich enden zu lassen. Damit ist der spanische Dichter, wie gesagt, in der europäischen Rezeptionsgeschichte dieses Stoffes der erste, der die beiden Liebenden nicht sterben bzw. sich umbringen lässt. Das happy end der vorliegenden Bearbeitung ist nun folgendermaßen gestaltet: Nachdem Roselo Iulia in der Gruft lebend vorgefunden hat, machen sich beide – in Begleitung von Anselmo und Mar†n und als Bauern verkleidet – auf den Weg zu einem nahe gelegenen Landgut, auf dem die Hochzeit von Iulias Vater mit seiner Nichte Dorotea stattfinden soll. Dort angekommen, gelingt es den vier, unerkannt zu bleiben und sich an den Hochzeitsvorbereitungen zu beteiligen. Iulia, die ja bereits bewiesen hat, dass sie bereit und fähig ist, Menschen zu überlisten, um ihre Ziele zu erreichen – zum Beispiel, als sie Otauio das Gefühl gibt, mit ihm zu sprechen, obgleich jedes ihrer Worte an Roselo gerichtet ist, – wendet nun eine List gegen ihren Vater an, damit er seine Einwilligung zu ihrer Ehe mit Roselo gibt. Antonio geht nach wie vor vom Tod seiner Tochter aus, und als diese ihm plötzlich erscheint, glaubt er, einen Geist zu sehen. Iulia bestärkt ihn in dieser Annahme, indem sie ihn für ihren Tod verantwortlich macht: Iul. Yo me matÀ por tu causa. Ant. Por mi causa?

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Iul. Claramente tu me casauas por fuerÅa. Ant. Mi intento fue bueno. Iul. Aduierte, que el Conde me merecia, mas no quiso amor que fuesse mi esposo por que ya estaua casada. (III, vv. 1007 – 1016)

Auch wenn Iulias Vater alle Schuld von sich weist, so ist sein schlechtes Gewissen dennoch so groß, dass er auf das Drängen seiner Tochter hin Roselo und ihr vergibt und sogar bereit ist, den jungen Mann an Sohnes Stelle anzunehmen und ihm darüber hinaus auch seine zukünftige Gattin Dorotea zur Frau zu geben. Daraufhin löst Iulia auf, dass sie kein Racheengel oder das personifizierte schlechte Gewissen ihres Vaters ist, sondern genauso lebendig ist wie er. Mit dieser Versöhnung, die übrigens die Versöhnung der beiden Adelsfamilien nach sich zieht, ist der Ausgang Lope de Vega allerdings noch nicht positiv genug gestaltet. Der Segen für eine glückliche gemeinsame Zukunft wird zuletzt drei Liebespaaren gegeben, nämlich Iulia und Roselo, Anselmo und Dorotea und schließlich Mar†n und Celia. Die dreifache Kraft der Liebe wird künftig die tiefverwurzelte Feindschaft der Castelvines und Monteses beenden. Leer geht am Ende nur der unter den Anwesenden sich befindende Graf Paris aus, der Iulia ja ebenfalls heiraten wollte: Par. Dime esposa que nos quieres, Iul. No soy tuya Conde Paris de Roselo soy. (III, vv. 1151 – 1153).

Wie gesagt, hat Lope de Vega mit seiner Tragikomödie Castelvines y Monteses erstmals in der europäischen Rezeptionsgeschichte des Romeo-und-Julia-Stoffes diesem einen versöhnlichen Ausgang gegeben. Erstmals in der europäischen Geschichte dieses Stoffes müssen Romeo und Julia nicht sterben, um die beiden verfeindeten veronesischen Adelsfamilien miteinander zu versöhnen. Vom tragischen Selbstmord der beiden jungen Liebenden ist hier nur noch übrig geblieben, dass Iulia ihrem Vater als vermeintlicher Geist erscheint. Wiegen bei Lope de Vega die tragischen Momente noch stärker als die komischen und wird

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der Zuschauer und Leser kaum an einer Stelle herzhaft lachen können, so wird sich dies in Francisco de Rojas Zorrillas Los bandos de Verona (1659) grundlegend ändern.

4.1.4.2 Francisco de Rojas Zorrilla, La gran Comedia famosa de Los bandos de Verona (vor 1640, EA 1645)224 Mit Los bandos de Verona hat Francisco de Rojas Zorrilla die zweite spanische Bearbeitung des Romeo-und-Julia-Stoffes vorgelegt, und zwar auch mit glücklichem Ausgang.225 Damit hat er insofern ein schweres Erbe angetreten, als sein Stück dem Vergleich mit Lope de Vegas Castelvines y Monteses ausgesetzt war und diesem kaum standhalten konnte.226 Hier soll es nun primär nicht darum gehen, eine Lanze für Rojas Zorrillas Bearbeitung des Romeo-und-Julia-Stoffes zu brechen, sondern es soll vielmehr dargelegt werden, inwiefern Los bandos de Verona eine Transformation des tradierten Stoffes darstellt. Dies liegt zunächst natürlich darin begründet, dass Rojas Zorrilla den ursprünglich tragischen Stoff zur Komödie mit zahlreichen Elementen der Farce und einem glücklichen Ausgang für die beiden Liebenden umgeformt hat. In diesem markanten Gattungstransfer erschöpft sich die Sonderstellung von Los bandos de Verona allerdings nicht, denn bei der vorliegenden Komödie handelt es sich darüber hinaus unter den hier präsentierten Bearbeitungen des Romeo-und-Julia-Stoffes um diejenige, die den höchsten Grad an nationaler Anverwandlung des italienischen Stoffes aufweist. Das heißt nichts anderes, als dass Rojas Zorrilla eine Hispanisierung sowie zugleich eine Aktualisierung des Romeo-und-Julia-Stoffes vornimmt und somit ein repräsentatives Beispiel des frühneuzeitlichen Kulturtransfers zwischen Italien und Spanien im literarischen Feld darstellt. Auf diese Hispanisierung des Stoffes sind zahlreiche Änderungen, die Rojas Zorrilla am ursprünglichen Romeo-und-Julia-Mythos vornimmt, zurückzuführen. Zunächst soll aufgrund der relativen Unbekanntheit von Los bandos de Verona eine kurze Inhaltsangabe gegeben werden: Die Komödie beginnt damit, dass dem Zuschauer oder Leser zwei junge Frauen präsentiert werden, die beide unter Liebeskummer leiden: Julia Capelete beklagt die Feindschaft zwischen den 224 Rojas Zorrilla: 2012, 205 – 321. 225 Die dritte frühneuzeitliche spanische Bearbeitung des Romeo-und-Julia-Stoffes, Cristûbal de Rozas’ Los amantes de Verona (1666), wird im Unterschied hierzu das tragische Ende des italienischen Modells wieder aufnehmen. 226 Inwieweit auch Lope de Vegas frühere Komödie Los bandos de Sena (1635), in der es ebenfalls zentral um die Zwistigkeiten zweier italienischer Adelsfamilien geht, einen Einfluss auf Rojas Zorrillas Los bandos de Verona ausgeübt haben könnte, soll hier nicht zu klären unternommen werden. Zur zeitgenössischen Rezeption von Los bandos de Verona vgl. Rojas Zorrilla: 2012, 193 ff.

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Capeletes und Montescos, die ihrer Liebe zu Alejandro Romeo Montesco im Wege steht, und Elena Montesco berichtet traurig von der Missachtung, die ihr ihr Mann, nämlich Graf Par†s, aufgrund ihrer Familienzugehörigkeit entgegenbringt. Auf diese Weise erscheinen beide Frauen als Opfer der Feindschaft ihrer Familien. In Rojas Zorrillas Bearbeitung ist es – anders als in der traditionellen Variante des Romeo-und-Julia-Stoffes – nicht Romeo, der über eine unerfüllte Liebe trauert. In dieser völlig neuen Ausgangssituation liefert Rojas Zorrilla auch den Grund für die Feindschaft zwischen den beiden Adelsfamilien, und zwar erstmals in der Geschichte Romeos und Julias in der europäischen Literatur : Elenas Vater, Octavio Romeo Montesco, auf den noch zurückzukommen sein wird, hat Julias Bruder, Luis Capelete, im Rahmen eines Turniers getötet. Dies berichtet Julia: Julia. Fue el principio de estos bandos una inffltil academia en que justaron un d†a el valor y la destreza. Tu padre, Otavio Romeo –a cuya anciana experiencia Verona debiû m‚s lauros que Roma triunfos a C¦sar–, mantenedor de un torneo, vibrando en la mano diestra contra su sompetidor asta de pino ligera, por la visera una astilla hallû la entrada tan cierta –que a veces hace el acaso mucho m‚s que la destreza– que dio la muerte a mi hermano Luis Capelete, sin que hubiera quien achacase a su enojo de aquella muerte una seÇa. (I, vv. 111 – 130)

Nichtsdestoweniger hat sich Julia schon bei der ersten Begegnung unsterblich in Elenas Bruder, nämlich Alejandro Romeo Montesco verliebt. Neu in der Personenkonstellation der vorliegenden Bearbeitung des Romeo-und-Julia-Stoffes ist auch die Situation der Figur des Grafen Par†s, denn dieser ist zu Beginn der Komödie bereits mit Elena Capelete verheiratet. Julias Vater möchte seine Tochter mit seinem Neffen Andr¦s verheiraten und geleitet ihn darum zu seiner Tochter. In dieser Szene kommt es zur ersten komischen Situation, denn bevor der Vater und der zukünftige Ehemann zu Julia gelangen, ist Romeo in Anwesenheit seiner Schwester Elena und seines Dieners mit dem vielsagenden Namen Guardainfante – Julias Dienerin heißt übrigens sinnigerweise Esperanza – gerade noch dabei, Julia seine unendliche Liebe zu

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erklären. Den drei gelingt es, sich noch vor dem Eintreffen Antonios und Andr¦s’ hinter dem Vorhang zu verstecken. Nichtsdestoweniger ist Andr¦s davon überzeugt, es befinde sich ein Mann bei Julia. Kurzerhand taucht dann Guardainfante, der aufgrund eines Abenteuers über und über mit Gips beschmutzt ist, auf, und Julia erklärt, dass er der Maurer sei, der sich um das Dach kümmere. Auch im weiteren Verlauf der Komödie wird vor allem Guardainfante, den Rojas Zorrilla bereits im Verzeichnis der dramatis personæ als »gracioso« beschreibt, für die Situationskomik sorgen. Mit dieser List, die sehr an Verfahren in der Farce erinnert, gelingt es Julia, die akute Gefahr erst einmal abzuwenden. Die nächste brenzlige Situation folgt jedoch auf dem Fuße, und zwar in der Person des Grafen Par†s. Dieser eilt ganz aufgeregt zu Antonio und möchte ein geheimes Gespräch mit ihm führen, das allerdings von Alejandro, Julia und Elena aus sicherer Entfernung hinter den Vorhängen belauscht wird. Zur Komik der Situation trägt dabei maßgeblich bei, dass der Graf vor Beginn des Gespräches explizit nachfragt, ob beide allein seien: »¿Estamos solos?« (I, v. 771) Par†s bittet Antonio um die Hand seiner Tochter Julia und vergißt dabei auch nicht, seine Vorzüge und die Vorteile einer solchen Verbindung hervorzuheben. Seine bisherige Ehefrau Elena möchte er verstoßen, weil sie eben ein Familienmitglied der Montescos sei: Antonio. Pues ¿por qu¦ la aborrec¦is? Conde. Como Alejandro Romeo es su hermano, y como es del ‚rbol noble Montesco, y yo Capelete soy, […] (I, vv. 847 – 857)

Dieses Hochzeitsangebot des Grafen nimmt Julias Vater sehr gerne entgegen. Der Graf und Juilas Vater bestimmen jedoch nicht nur die Hochzeit mit Julia, sondern auch die Ermordung Alejandros, um den feindlichen Clan so zu schwächen, dass er leicht ganz ausgelöscht werden kann. Zeugen dieser Unterredung sind, wie gesagt, Alejandro, Julia und Par†s’ Noch-Ehefrau Elena. Als Julias Vater und der Graf ihren Mordgelüsten freien Lauf lassen – zuerst soll Elena und dann Alajandro aus dem Weg geräumt werden –, verlassen die drei entrüstet ihr Versteck, und es kommt zu einer Prügelei, zu der sich weitere Capeletes und Montescos gesellen. Im Zuge des Gefechtes entwaffnet Alejandro den Grafen Par†s und könnte ihn ohne Weiteres umbringen. Auch diese Szene entbehrt einer gewissen Komik nicht, zumal Alejandro von Julia aufgefordert wird, den Grafen zu töten, seine Schwester Elena ihn jedoch bittet, ihren Ehemann am Leben zu lassen: Elena. Julia

¡Det¦n el acero, que es mi esposo! ¡Dale muerte,

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que es mi enemigo! (I, vv. 1016 – 1019)

Schließlich siegt die Stimme der Menschlichkeit, und Alejandro lässt den Grafen leben. Damit ist der erste Tag abgeschlossen. Der zweite Tag beginnt damit, dass Alejandro seinen Diener damit beauftragt, Julia einen Brief zu übergeben, in dem er ihr den Vorschlag unterbreitet, noch in derselben Nacht gemeinsam zu fliehen. Guardainfante, der sich wieder als Maurer verkleidet hat, gelingt es, Elena diesen Brief zu geben; als er zu Julia gehen möchte, taucht jedoch plötzlich ihr Vater auf, so dass er keinen anderen Ausweg sieht, als sich unter einem Schrank zu verstecken. Wie bereits angekündigt, ist vor allem Guardainfante für die Situationskomik verantwortlich. Das nun einsetzende Gespräch, das Guardainfante belauscht und – nur für den Zuschauer hörbar – kommentiert, verläuft nun alles andere als komisch, denn Julias Vater stellt sie vor die Wahl, einen Capelete – wahlweise Andr¦s oder den Grafen – zu heiraten oder zu sterben. Antonio. Hija inobediente, advierte que si en mi cuerda elecciûn no tomas resoluciûn, te tengo de dar la muerte. (II, vv. 1401 – 1404)

Ein derart autoritärer Vater, der seine Tochter lieber tot als mit einem Montesco verheiratet sehen möchte, ist ebenfalls neu in der frühneuzeitlichen Rezeptionsgeschichte des Romeo-und-Julia-Stoffes. Hier bedarf es keines Mönches, der Julia einen Schlaftrunk gibt, weil Julias Vater selbst ihr ein vermeintliches Gift reicht, dies allerdings nur, um den Ernst seiner Worte zu untermauern. Als Julia das Getränk dann tatsächlich schluckt, ist Antonio dementsprechend erschüttert und bereut seine Strenge, noch bevor Julia bewusstlos wird. Julia hingegen trinkt das vermeintliche Gift in vollster Überzeugung, das Richtige zu tun, weil sie dies für ihre Liebe tut: Julia. por dejar a las edades un ejemplo, quede escrito en los m‚rmoles y bronces, hojas del futuro siglo, que Julia por Alejandro muere as†. B¦bese la bebida. (II, vv. 1577 – 1582)

Wenn schon nicht in Marmor und Bronze, so ist ihr Schicksal wenigstens in Form der vorliegenden Komödie für die Nachwelt aufgeschrieben worden. Spätestens in Anbetracht dieser hochgradig tragischen Szene wird der Zu-

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schauer oder Leser sich zu Recht fragen dürfen, wie Rojas Zorrilla die Ereignisse zu einem glücklichen Ende bringen wird. Da Guardainfante ja ein von Julias Vater unbemerkter Zeuge des Geschehens war, berichtet er in der Folge seinem Herrn von allem. Alejandro ist von Anfang an überzeugt davon, dass seine geliebte Julia keinesfalls tot sein könne, während er noch lebe, und beschließt daher, Julia nachts aus ihrem Grab zu befreien. Nun sind er und Guardainfante nicht die einzigen Figuren, die in dieser Nacht um die Kirche schleichen, in der Julia aufgebahrt liegt, sondern es befinden sich dort noch eine Reihe anderer, und zwar aus ganz unterschiedlichen Motivationen: Antonio und der Graf Par†s sind gekommen, um Alejandro zu töten; Andr¦s Capelete hat sich auf den Weg zu Julia gemacht, weil er weiß, dass das Getränk, das sie zu sich genommen hat, kein Gift, sondern ein Schlaftrunk war, zumal er es besorgt hat; und schließlich ist auch Elena vor der Kirche, um dort ihren Bruder zu treffen und gemeinsam mit ihm zu fliehen. Bis hierhin unterschiedet sich Rojas Zorrillas vorliegende Bearbeitung des Romeo-und-Julia-Stoffes in einem wesentlichen Punkt von den ›traditionelleren‹ frühneuzeitlichen Varianten: Zwischen Romeo und Julia hat es vor ihrem vermeintlichen Selbstmord keine heimlich vollzogene Hochzeit gegeben. Dies mag darin begründet liegen, dass Rojas Zorrilla auf diese Weise keinen Geistlichen in die Handlung verstricken muss, was wiederum mit seiner Angst vor der spanischen Inquisition zusammenhängen könnte. Bezeichnenderweise übergibt Julias Vater selbst seiner Tochter das Gift, und sie bekommt es nicht – wie in den anderen Bearbeitungen – von einem Mönch. Alejandro und Guardainfante gelangen als erste in die Kirche und Guardainfante benetzt Julias Gesicht mit Weihwasser, woraufhin sie das Bewusstsein wiedererlangt. Nicht zufällig erweckt diejenige Figur Julia zum Leben, die im Stück für die meiste Komik sorgt. Noch unwahrscheinlicher könnte Rojas Zorrilla die Vereinigung der beiden Liebenden in diesem Moment kaum gestaltet haben. Die trotz des Ernstes der Lage entstandene Komik führt Rojas Zorrilla dadurch fort, dass es beim Verlassen der Kirche, in der es selbstverständlich sehr dunkel ist, zu einer schwerwiegenden Verwechslung kommt. Die entsprechende Regieanweisung gibt uns folgende Auskunft: »Tropieza Julia, suelta la capa de Alejandro. A este tiempo Elena ‚sese de Alejandro, atravi¦sase Andr¦s y ‚sese Julia de Andr¦s, pensando que es Alejandro.« (II, vor v. 2144). Auch dies gehört eher in die Farce als in eine Komödie zum Romeo-und-Julia-Stoff. Vollkommen zu Recht wurde dies als »una escena cûmica de matices farsescos« (Domen¦ch Rico: 2000, 158) beschrieben. Mit dieser zugleich komischen und tragischen Verwechslung endet der zweite Tag. Handlungsort des dritten Tages sind die Verona umgebenden Berge. Dort präsentiert Rojas Zorrilla zunächst das Paar Alejandro – Elena dem Zuschauer oder Leser, und zwar in der Weise, dass Alejandro endlich merkt, dass die Frau,

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die ihm aus der Kirche gefolgt ist, nicht Julia, sondern seine Schwester Elena ist. Auch hier ist die Wirkung eine durchweg komische, obgleich diese Verwechslung ja durchaus tragische Folgen haben könnte; denn das Publikum weiß zu diesem Zeitpunkt ja bereits, dass Julia aufgrund einer weiteren Verwechslung statt Alejandro Andr¦s aus der Kirche gefolgt ist. In dem Moment, als Alejandro seines Fehlers gewahr wird, erscheint Carlos Romeo auf der Bühne und berichtet ihm davon, dass er von allen Capeletes gesucht werde, sich aber auch schon alle Montescos eingefunden hätten, um mit diesen zu kämpfen. Kaum dass Alejandro mit dieser Nachricht konfrontiert wurde, gesellt sich auch schon Guardainfante zu den drei und berichtet seinerseits davon, dass er gesehen habe, wie Julia vor Andr¦s davongelaufen sei. Daraufhin bestimmt Alejandro heldenhaft, dass Carlos Romeo Elena in Sicherheit bringen solle, während er an der Spitze der Montescos ins Feld gegen die Capeletes ziehe. So viel zum Schicksal unseres Protagonisten. Natürlich dürfte es nun auch von Interesse sein, wie es Julia seit ihrer Flucht aus der Kirche ergangen ist. Konsequenterweise holt Rojas Zorrilla sie in diesem Moment auf die Bühne: Nachdem es Julia gelungen ist, vor Andr¦s zu fliehen, irrt sie nun hilflos in der Dunkelheit der Nacht in den Bergen um Verona umher und hadert mit ihrem Schicksal. Julia. Escapeme de Andr¦s, perd† a mi esposo, y mi padre le busca riguroso. All† el conde Par†s con m‚s recelos, caudillo valeroso de sus celos, alcanzarle procura, y yo por la espesura de aquellas ramas encubrirme espero. ¡Oh!, ¿para cu‚ndo el hado lisonjero me guarda una fortuna? ¿O es que me muevo al orden de la luna? Plantas, que agora logro su menguante, huirme por aqu† sera importante, pues que ya al cielo ordena. (III, vv. 2419 – 2431)

Spätestens ab dieser Szene zeigt sich, dass Rojas Zorrilla in gewisser Hinsicht in der Tradition Lope de Vegas steht, nämlich insofern, als in allen ›traditionelleren‹ frühneuzeitlichen Varianten des Romeo-und-Julia-Stoffes das Ende relativ schnell nach der Szene in der Gruft erreicht ist. Im Zustand der völligen Verzweiflung trifft Julia dann gerade auch noch auf ihren Vater Antonio, der Alejandro sucht, um ihn zu töten, und auf den Grafen Par†s, der seinerseits Alejandro und seine Frau Elena sucht. Statt sich darüber zu freuen, dass seine Tochter noch lebt, hält Antonio an ihrer Entscheidung fest, lieber zu sterben, als seinem Wunsch bzw. Befehl, einen Capelete zu ehelichen, nachzukommen, und

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ist bereit, seine seiner Meinung nach »traidora hija« (III, v. 2505) zu töten. Von diesem Vorhaben bringen ihn jedoch die Bitten des Grafen Par†s ab, woraufhin Antonio beschließt, seine Tochter in den Turm eines nahe gelegenen Kastells zu sperren, statt ihr das Leben zu nehmen. Wie es der Zufall so will, befindet sich in eben jenem Turm bereits Elena, die dort von den Capeletes gefangengehalten wird. Auf den Weg zu diesem Turm machen sich nun auch Alejandro und Carlos, und zwar in Begleitung weiterer Montescos, nachdem sie siegreich aus dem Kampf mit den Capeletes hervorgegangen sind. Zumal Alejandro der Meinung ist, dass seine Julia zu diesem Zeitpunkt bereits tot ist, gibt er den Befehl, den Turm zu stürmen und alle, die sich dort versteckt haben, umzubringen, und zwar aus Rache für die von ihm totgeglaubte Julia und den vermeintlich toten Carlos und nicht zuletzt auch als Antwort darauf, dass die Capeletes ihn umbringen wollten, wie er in den folgenden Versen Guardainfante erklärt: Alejandro.

Con los mismos instrumentos con que intentaron matarme, darles la muerte pretendo. ¡Ea, amigos, asestad, del bronce a metales hechos, esos tiros a la torre! ¡Ea, disparad! Guardainfante. Me convengo. Alejandro. Elena no ha parecido, Carlos debe de ser muerto, Julia falleciû. Pues mueran todos. (III, vv. 2890 – 2902)

Vor allem dieser letzte Befehl Alejandros, alle Capeletes auszulöschen, macht deutlich, wie stark Rojas Zorrilla – im Vergleich zu den bereits präsentierten Bearbeitungen des Romeo-und-Julia-Stoffes – die ursprüngliche Liebesgeschichte zweier junger Menschen in den öffentlichen Raum verlegt hat. Diese Tendenz haben wir bereits in Shakespeares Tragödie feststellen können. Dass Rojas Zorrilla diese dort bereits angelegte Tendenz in Los bandos de Verona derart radikalisert hat, liegt vornehmlich an der von ihm vorgenommenen Hispanisierung des Stoffes, wie noch zu zeigen sein wird. Alejandro können weder die Bitten Antonios noch Elenas und auch nicht Carlos’ vom Entschluss zum endgültigen Auslöschen der Capeletes abbringen. Die Situation scheint aussichtslos, und schon wieder werden sich die Rezipienten fragen, wie es Rojas Zorrilla gelingen wird, ihnen einen glücklichen Ausgang statt der in Anbetracht der Situation auf der Bühne kurz bevorstehenden Katastrophe zu präsentieren. Wie nicht anders zu erwarten, bedient sich der Autor hierzu einer weiteren unwahrscheinlichen Zufälligkeit: Julia erscheint plötzlich an einer Mauerzinne des Turms und fleht Alejandro an, allen zu ver-

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geben, was Alejandro dann auch tut und damit verbindet, dass er Antonio um die Hand seiner Tochter bittet und dazu auch die Zustimmung Antonios bekommt. Unverhoffter und unwahrscheinlicher hätte Rojas Zorrilla das Ende seiner Romeo-und-Julia-Bearbeitung wohl kaum gestalten können: Alejandro. Pues vivan los Capeletes y Julia vive con ellos, que yo a una hermana, a un amigo, indignado y desatento, puede negar mis piedades, pero a mi dama no puedo. ¿Dasme a Julia por esposa, Antonio? (III, vv. 3101 – 3107)

So endet die Komödie mit der Aussöhnung der Montescos und der Capeletes. Abschließend wendet sich Alejandro als Sprachrohr Rojas Zorrillas in der Geste des stolzen Spaniers an sein Publikum. Anzumerken bleibt noch, dass die Premiere von Los bandos de Verona anlässlich der Einweihung des Coliseo del Buen Retiro am 4. Februar 1640 stattfand. Alejandro. Pues tegan dichoso fin Capeletes y Montescos. Y don Francisco de Rojas a tan grande Coliseo pide el v†tor, por que siempre merezca el aplauso vuestro. (III, vv. 3115 – 3120)

Kommen wir nun zurück zur Frage, inwieweit Rojas Zorrilla eine Hispanisierung und damit zugleich Aktualisierung des zur Abfassung seiner Komödie bereits mehr als 100 Jahre alten italienischen Stoffes vornimmt. Als ein erster vager Hinweis auf ein solches Vorgehen des Dichters darf aufgefasst werden, dass er Los bandos de Verona für den spanischen Hof unter Felipe IV geschrieben hat, wie aus dem Ort der Premiere, den Rojas Zorrilla Alejandro in seinen Schlussworten ja explizit nennen lässt, eindeutig hervorgeht. Zunächst fällt auf, dass Rojas Zorrilla in seinem Drama nicht nur einen jungen Mann namens Romeo auftreten lässt, sondern gleich zwei, nämlich den Protagonisten Alejandro Romeo und seinen Freund Carlos Romeo. Wann immer im Stück der Protagonist erscheint, wird er als Alejandro angesprochen oder im Paratext mit diesem Namen bezeichnet. Daraus dürfen wir schließen, dass es Rojas Zorrilla nicht darum ging, eine weitere dem Original Luigi da Portos mehr oder weniger entsprechende Figur des Romeo zu schaffen, sondern er den Protagonisten in einem bestimmten Sinne uminterpretierten und ihm eine neue Facette hinzufügen wollte. Als seinen ersten Vornamen Alejandro zu wählen, weckt sofort die Assoziation mit Alexander dem Großen, und zwar umso mehr,

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als sich bei Carlos Romeo die Assoziation mit Karl dem Großen und damit einem weiteren der wichtigen Eroberer der Geschichte aufdrängt. Verändert hat Rojas Zorrilla auch die Figur des Grafen Par†s. Dient er in fast allen anderen bisher vorgestellten Bearbeitungen des Romeo-und-Julia-Stoffes vornehmlich dazu, als Katalysator in Form der konkreten Bedrohung der Liebe der beiden Protagonisten durch die geplante Zwangsverheiratung Julias zu dienen, und bleibt daher auch vergleichsweise konturlos, so wird er in Los bandos de Verona zu einem wichtigen Handlungsträger. Rojas Zorrilla ist hier sicher Lope de Vega gefolgt, der in Castelvines y Monteses dem Grafen ja auch schon eine wichtigere Bedeutung zugesprochen hat, als die anderen hier präsentierten Texte zum Romeo-und-Julia-Stoff, indem er ihn nämlich in einem Kampf gegen die feindlichen Castelvines zu Roselos Retter werden lässt.227 In Los bandos de Verona ist Par†s erstens mit der Schwester des Protagonisten verheiratet, von der er sich zweitens jedoch trennen möchte, um Julia zu ehelichen, und drittens ist er einer der größten Feinde der Montescos und damit primär Alejandros. Daraus folgt, dass der Graf hier nicht mehr als unbeteiligt an den Streitigkeiten zwischen den beiden verfeindeten Adelsgeschlechtern präsentiert wird, sondern er vielmehr auf der Seite einer der beteiligten Parteien, nämlich den Capeletes, gegen die andere kämpft. Auch darf nicht unberücksichtigt bleiben, dass Rojas Zorrilla für den Grafen nicht wie Lope de Vega den Namen Paris, sondern Par†s verwendet und damit zweifelsohne auf die Hauptstadt Frankreichs verweist. In diesem Kontext ist auch der Grund, den Rojas Zorrilla für die Feindschaft zwischen den Capeletes und Montescos angibt, bedeutsam. Wie gesagt, ist er damit der einzige unter den hier vorgestellten Autoren, der einen konkreten Anlass für diese Feindschaft anführt. Wie er Julia berichten lässt, habe Elenas und Alejandros Vater Octavio Romeo Montesco (vgl. I, vv. 115 – 130) während eines Turniers ihren Bruder Luis Capelet getötet. Für das zeitgenössische Publikum wird sich hier eine Anspielung aufdrängen müssen, vor allem weil Rojas Zorrilla diese Vorgeschichte, wie bereits festgestellt, von keiner früheren Bearbeitung des Romeo-und-Julia-Stoffes übernehmen konnte: ¿a qui¦n, en la ¦poca, no le [scil. la muerte casual de Luis Capelet en un torneo; B.N.] recordar†a la desdichada muerte de Enrique II de Francia, alcanzado por la lanza del conde de Montgomery en un torneo en Par†s en 1559, cuando se celebraran las bodas de su hija Isabel de Valois con Felipe II de EspaÇa? (Domen¦ch Rico: 2000, 160)

Dieser Bezug auf ein historisches Ereignis lässt sich nur sehr schwer übersehen, vor allem eingedenk des Umstandes, dass der zu Zeiten der Abfassung der Komödie regierende König Spaniens, Felipe IV, ebenfalls mit einer Französin 227 Vgl S. 207 dieser Untersuchung.

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verheiratet war, nämlich mit Êlisabeth de Bourbon, der Tochter von Henri IV und Maria de’ Medici. All dies deutet darauf hin, dass Rojas Zorrilla möglicherweise eine Identifikation der Capeletes mit dem französischen Königshaus nahelegen wollte. Hier könnte ihm auch die ursprüngliche Namensgebung der Familie Julias entgegengekommen sein. Bei da Porto lesen wir von den Cappelletti, die Rojas Zorrilla zu den Capeletes umbenennt, indem er eine Hispanisierung des italienischen Namens vornimmt. Diese geht bei ihm jedoch nicht so weit wie bei Lope de Vega, der sich für den Familiennamen der Castelvines entschieden hat. Roja Zorrilla könnte deshalb näher an der italienischen Vorlage geblieben sein, weil er so eine relativ große Klangähnlichkeit mit den Kapetingern (frz. Cap¦tiens) erzielt, die wiederum nach Frankreich weist. Demgegenüber weisen die Montescos nach Spanien, und zwar zunächst und vor allem durch ihre beiden jungen Repräsentanten, Alejandro Romeo und Carlos Romeo, auf deren Namen bereits eingegangen wurde. Wie schon erläutert, wecken sie die Assoziation mit Alexander dem Großen und Karl dem Großen. Zu diesen beiden ›großen‹ Männern muss sich für das zeitgenössische spanische Publikum fast unweigerlich ein dritter gesellt haben, und zwar Felipe IV, dem nach mehreren Siegen sicherlich nicht gegen seinen Willen der Beiname El Grande verliehen wurde:228 »uno de los motivos centrales de la propaganda alrededor de Felipe IV fue el denominarlo Felipe el Grande […].« (Domen¦ch Rico: 2000, 161) Von diesem Unterfangen zeugen zahlreiche zeitgenössische Bilder, Gedichte, Dramen etc., die die Größe des spanischen Monarchen auf unterschiedlichste Weise inszenieren. Dass Felipe IV in Los bandos de Verona als Personalunion zugleich Alejandro und Carlos symbolisieren könnte, könnte gerade dazu dienen, die übermenschliche Größe des Monarchen abzubilden, und außerdem könnte Rojas Zorrilla damit dem historischen Umstand Rechnung tragen, dass die spanische Monarchie, die Felipe IV repräsentiert, neben der österreichischen Monarchie aus der Habsburger Monarchie hervorgegangen ist.229 Primär ist es natürlich aber der Protagonist, mit dem Felipe IV identifiziert werden soll. Dies legt auch der Vergleich Alejandros mit Jupiter nahe, zumal es sich hierbei um eine beliebte Identifikationsfigur des spanischen Königs handelt: »La identificaciûn de Felipe el Grande con Jfflpiter es otro de los tûpicos de la propaganda filipina.« (Domen¦ch Rico: 2000, 162) Diese Propaganda nimmt dabei eine bis in die Antike zurückreichende Tradition der Verbindung Jupiters mit Königen auf und transformiert diese zur Personalunion. Die ursprüngliche Funktion des Gottes zeigt das folgende Emblem: (Henkel/Schöne: 1996, 1722)

228 Vgl. Brown/Elliott: 1981, 28 ff. 229 Vgl. hierzu Domen¦ch Rico: 2000, 163 und Brown/Elliott: 1981, 11.

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Nescis in mentem magno quid venit Homero, Discipulos reges dum putat esse Iouis. An quod eos nulli voluit virtute secundos, Queis sunt a summo credita regna Deo?

Doch zurück zu der von Rojas Zorrilla intendierten Identifikation von Felipe IV mit Alejandro Romeo. Verfolgen wir diese konsequent weiter, so ergeben sich weitere Assoziationen bzw. Identifikationen mit historischen Persönlichkeiten des 17. Jahrhunderts: Bei Julia ist an die französische Königin Isabelle de Bourbon und bei Elena an Anna von Österreich zu denken, deren Situation am französischen Königshof derjenigen Elena Montescos im Hause der Capeletes vergleichbar gewesen sein dürfte. Doch wie setzt Rojas Zorrilla nun seinen Protagonisten und damit implizit zugleich seinen realen Monarchen in Szene? Zunächst muss eine Voraussetzung geklärt werden, die Rojas Zorrilla durch eine markante Abweichung vom tradierten Romeo-und-Julia-Stoff erzielt. In allen bislang kommentierten frühneuzeitlichen Bearbeitungen des Romeo-und-Julia-Stoffes – auch in Lope de Vegas Castelvines y Monteses, wo der Fürst von Verona im Namen des öffentlichen Rechts und der Ordnung Harmonie stiftet, – kommt dem Fürsten von Verona insofern eine bedeutende Rolle zu, als er es ist, der letzten Endes die Ordnung, die durch die Zwistigkeit der beiden Adelsgeschlechter gestört worden ist, wiederherstellt und die am Tode des jungen Liebespaares Schuldigen bestraft. In Rojas Zorrillas Komödie hingegen taucht eine solche neutrale Instanz,

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die die Ordnung wiederherstellt, nicht auf. Mehr nebenbei erfahren wir in der Grabszene, dass der Herrscher von Verona zum Zeitpunkt der Geschehnisse nicht mehr am Leben ist. Als Alejandro und Guardainfante nämlich nach dem Grab Julias suchen, stößt Guardainfante auf folgende Grabinschrift: Guardainfante.

»Aqu† yace–dice en esta [scil. esta bûveda; B.N.]– Bartolom¦ de la Escala, seÇor de Verona«. (II, vv. 1967 – 1969)

Zum einen gelingt Rojas Zorrilla durch diese Abweichung vom traditionellen Romeo-und-Julia-Stoff eine Aktualisierung und zum anderen eine weitere Glorifizierung Alejandro-Felipes IV. Letzteres bedarf einer Erklärung: Zumal der glückliche Ausgang in Los bandos de Verona nicht »Bartolom¦ de la Escala« zuzuschreiben ist, so muss dieses Verdienst einem anderen zukommen, und zwar dem Protagonisten selbst. Zumal dieser, wie bereits erläutert, den spanischen Monarchen symbolisiert, fällt das Verdienst der Wiederherstellung der Ordnung in Form der Versöhnung der beiden verfeindeten Adelsgeschlechter durch die geplante Hochzeit mit Julia gleichsam Felipe IV zu, wobei die geplante Hochzeit stark an dessen Ehe mit Isabelle de Bourbon denken lässt. Das heißt, auch die Schlussszene steht ganz im Dienst einer Lobpreisung der zeitgenössischen spanischen Monarchie. Dies scheint mir der wesentliche Grund dafür zu sein, dass Rojas Zorrilla sich für eine Transformation des ursprünglich tragischen zu einem glücklichen Ausgang entschieden hat. Den Gattungstransfer damit erklären zu wollen, dass es sich um eine »concesiûn a los gustos del pfflblico« (Rojas Zorrilla: 2012, 177) gehandelt hat, wird der Komödie hingegen keinesfalls gerecht. Betrachten wir nun den glücklichen Ausgang der Komödie etwas genauer : Zunächst scheinen die Entwicklungen eher auf eine Katastrophe als auf ein happy end hinzudeuten, denn im Glauben, dass Julia tot sei, ist Alejandro fest entschlossen, gegen die Capeletes in den Kampf zu ziehen und alle Mitglieder der verfeindeten Familie zu töten. Von diesem Entschluss können Alejandro weder die Bitten Antonios noch Elenas und auch nicht Carlos’ abbringen, denn natürlich ist es die Pflicht Alejandros als Ehrenmann, seine Geliebte zu rächen. Aus diesem Grund können nur das Auftreten Julias und ihr Aufruf an Alejandro, allen zu vergeben, die Katastrophe verhindern. Alejandro erscheint damit als ein Sieger, der sich zugleich gnädig gegenüber den von ihm Besiegten zeigt. Hierbei handelt es sich um ein Verhalten, das auch Felipe IV zugeschrieben wurde. Dies belegen zahlreiche zeitgenössische Bilder und literarische Texte. Das Ideal des gnädigen Siegers verbreitet vor allem auch die

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frühneuzeitliche Emblematik, und zwar nicht nur in Spanien.230 (Henkel/ Schöne: 1996, 379) Eine Alejandros Gnadenakt gleichkommende Geste eines ›Siegers‹ hat etwas früher schon Pierre Corneille in seiner Tragödie Cinna ou la cl¦mence d’Auguste (EA 1639, ED 1643) in Szene gesetzt. Neben der alliterativen Verbindung der Namen ist Alejandro und Augustus gemein, dass sie jeweils persönlichen Feinden vergeben, von denen eine unmittelbare Gefahr für das eigene Leben ausgegangen ist. Zu einem solchen Akt der fast übermenschlichen Gnade ist im ersten Fall außer dem Protagonisten nur Felipe IV und im zweiten außer Augustus nur Louis XIII fähig, so könnte die implizite Botschaft beider Dramen lauten. Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass es außer Frage steht, dass Los bandos de Verona, ebenso wie die anderen am und für den Königshof gespielten Komödien, nicht nur Rojas Zorrillas, eine eindeutig politische Zielsetzung hat: son una defensa de la concordia frente a la desuniûn y el caos producidos por las guerras civiles. En ese sentido, so nun instrumento apropiado para la exaltaciûn del poder mon‚rquico y una denuncia de la anarqu†a feudal que est‚ siempre latente en el r¦gimen seÇorial. Se trata de una de las preocupaciones centrales de la teor†a pl†tica de la ¦poca, y no solamente en EspaÇa […]. (Domen¦ch Rico: 2000, 158)

Mit dieser Instrumentalisierung des Romeo-und-Julia-Stoffes im Sinne eines Lobs der spanischen Monarchie nimmt Rojas Zorrilla unter den hier präsentierten frühneuzeitlichen europäischen Beispielen eine Sonderrolle ein, die höchstens noch Shakespeares literarischer Kampfansage an den Petrarkismus vergleichbar ist. Anders als bei Shakespeare führen die nationale Anverwandlung und damit in diesem Fall die Hispanisierung und Aktualisierung des Stoffes zu zahlreichen wesentlichen Abweichungen vom traditionellen Romeo-undJulia-Mythos, den Luigi da Porto geschaffen hat. Deren Höhepunkt stellt natürlich der glückliche Ausgang für alle Parteien dar, eine deutliche Akzentverschiebung hinsichtlich des tradierten Stoffes erzielt der spanische Dichter aber schon dadurch, dass die Liebe der beiden jungen Leute in den Hintergrund tritt und nur insofern von Bedeutung ist, als sie das auslösende Moment für die Handlungen des Protagonisten darstellt. Denn primär geht es Rojas Zorrilla darum, die heldenhafte Größe Alejandros und damit zugleich seines lebensweltlichen Pendants, nämlich Felipes IV, auf der Bühne in Szene zu setzen. So verwundert es dann auch wenig, dass Rojas Zorrilla der Darstellung der Liebe der beiden nur vergleichsweise wenig Raum gibt, zum Beispiel fehlen bei ihm die heimliche Hochzeit und die gemeinsame Liebesnacht. In Los bandos de Verona bekennen sich sowohl Julia als auch Alejandro von Anfang an öffentlich zu ihrer 230 Vgl. Henkel/Schöne: 1996, 379.

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Liebe, und das Hauptanliegen der Komödie ist es vorzuführen, wie es Alejandro gelingt, die beiden Familien zu versöhnen, um die Liebe zu Julia tatsächlich auch leben zu können. Dementsprechend fehlt bei Rojas Zorrilla auch jede moralische Verurteilung der Liebe Alejandros und Julias.

4.1.5 Romeo und Julia in Deutschland 4.1.5.1 Georg Philipp Harsdörffer, Die vezweiffelte Liebe (1649)231 Auch Georg Philipp Harsdörffer hat eine Bearbeitung des Romeo-und-JuliaStoffes vorgelegt, und zwar in Form einer kurzen Prosaerzählung. Zu Recht wurde festgestellt, dass Deutschland insofern eine Ausnahme in der europäischen Novellistik der Frühen Neuzeit darstellt, als hier fast ausschließlich eine didaktische Zielsetzung verfolgt wird. Der Nutzen der Novelle wird hier – Horaz folgend – als Vermittlung einer moralischen Lehre interpretiert. Beispiele anderer Art finden sich in Frankreich. Hier wird der Nutzen der Novelle zur Entspannung für den mit Pflichten belasteten und von Sorgen geplagten menschlichen Geist umgedeutet, wie dies im Vorwort des Parangon de nouvelles (1531) explizit zu lesen ist.232 Die deutsche Barocknovelle nähert sich stark der Gattung des Exemplums an. Dementsprechend taucht der Romeo-und-JuliaStoff im 17. Jahrhundert ausschließlich in moralisierenden Exemplasammlungen auf.233 Harsdörffers Erzählung Die vezweiffelte Liebe stammt aus seiner Sammlung Der Grosse Schau-Platz jämmerlicher Mord-Geschichten (1649/50) und kommt der Gattung des Exemplums schon durch die – gemessen an der Länge der bereits analysierten Bearbeitungen des Romeo-und-Julia-Stoffes – auffallende Kürze und die damit einhergehende starke Raffung der Handlung nahe. Außerdem gibt der Publikationskontext einen ersten Hinweis auf die didaktische und moralisierende Ausrichtung von Harsdörffers Version der Geschichte von Romeo und Julia: Sie wird von den Geschichten Die bestraffte Unzucht und Ehbruchsrug eingerahmt. Und zuletzt verstärkt Harsdörffer den didaktischmoralisierenden Charakter der Erzählung dadurch, dass er keine Dialoge ver-

231 Harsdörffer : 1656, 387 – 393. 232 Vgl. hierzu Aust: 42006, 59 – 63. 233 Vgl. Frenzel 91998, 691. Die starke Tendenz zur Moralisierung des Romeo-und-Julia-Stoffes ist im 17. Jahrhundert nicht auf die Novellistik beschränkt, sondern findet ihr Pendant in der damaligen Dramatik: Für das Jesuitendrama hat Jacob Masen in seiner poetologischen Abhandlung Palaestra eloquentiae ligatae (1654) den Stoff als Exempel für die zerstörerische Macht der Liebe vorgeschlagen.

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wendet, sondern dem Leser die Handlung ausschließlich aus der Perspektive eines auktorialen Erzählers darbietet. Betrachten wir nun die Struktur von Harsdörffers Bearbeitung des Romeound-Julia-Stoffes näher : Eingeleitet wird die Geschichte von der sentenzartigen Äußerung, dass zwei Liebende, die ihre Liebe nicht durch den heiligen Bund der Ehe durch Gott segnen lassen, als Blinde zu bezeichnen seien: Laut Harsdörffer gilt, »daß die Liebenden / und Verliebte / ohne die Ehe / […] / blinde Leute weren.« (Harsdörffer : 1656, 387) Auf diese einleitende Aussage folgt sogleich sowohl als Absicherung als auch als Vorwegnahme des Schicksals von Romeo und Julia ein abgewandelter Bibelspruch mit explizitem Verweis auf die Quelle: Wie glückselig aber solten sie seyn / wann sie noch der Blinden Fürsichtigkeit hetten / und alle ihre Schritte zuvor mit dem Stab der Furcht Gottes versicherten. Wie aber in vorgesetzter Erzehlung solches nicht beschehen: also folget auch in nachgesetzten /daß die Buler solche Blinde / die mit andern Blinden die sie leiten / in die Gruben fallen / Matth. 15. 14. (Harsdörffer : 1656, 387)234

Auf dieses variierte Bibelzitat folgt die eigentliche Geschichte der beiden Liebenden Romeo und Julietta. Was den Handlungsverlauf betrifft, so hat sich Harsdörffer stark an Pierre Boaistuaus Bearbeitung orientiert. Natürlich muss dies im Kontext der allgemeinen Vorbildfunktion der französischen Autoren des 16. Jahrhunderts für die deutschen Barockdichter gesehen werden. Dass Boaistuaus Novelle Harsdörffer als primäre Quelle für seine Bearbeitung gedient hat, belegen vor allem vier Handlungsmomente, die sich in den beiden italienischen Versionen des Stoffes von da Porto und Bandello nicht finden: 1. Die gemeinsame Liebesnacht findet erst nach der vom Mönch Laurentz heimlich vollzogenen Trauung statt. 2. Romeo kauft bei einem Apotheker das tödliche Gift. 3. Als die Wirkung des Schlaftrunks nachlässt und Julietta in der Gruft erwacht, findet sie Romeo bereits tot vor. Aus diesem Grund fehlt – wie in Boaistuaus Novelle – ein letzter Dialog der Liebenden. 4. Julietta ersticht sich mit Romeos Dolch. Am Schluss der Geschichte weicht Harsdörffer jedoch in einem wesentlichen Punkt, der in der didaktisch-moralisierenden Intention seiner Bearbeitung begründet liegt, von Boaistuaus Vorlage ab: Bei Harsdörffer wird nicht nur der Apotheker zum Tode verurteilt und die Amme des Landes verwiesen, sondern auch der Mönch Laurentz geht nicht straffrei aus: Ihm wurde »[…] sein Unrecht zu erkennen gegeben / welcher ihm selbst die Straffe auferlegt / daß er die Zeit seines übrigen Lebens in einer Einsamkeit als ein Einsiedler zugebracht.« 234 Zum Vergleich das Originalzitat in Matth. 15, 14: »Laßt sie, es sind blinde Blindenführer. Und wenn ein Blinder einen Blinden führt, werden beide in eine Grube fallen.« Jesus bezieht diese Aussage auf Pharisäer.

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(Harsdörffer : 1656, 392) Die Schuld des Mönches besteht dabei darin, dass er zu »solcher Winkel Ehe« geholfen hat, und zwar obgleich er weiß, dass die Eltern beider dieser Ehe nicht zustimmen und sie darüber hinaus nicht den Frieden zwischen den beiden verfeindeten Adelsgeschlechtern herstellen kann, was Romeo hingegen annimmt: Als Romeo ihre Meinung verstanden / und verhofft daß solche Verehlichung ein Freundschafft-Band ihrer Geschlechte seyn / und aus sonderlicher Schikkung Gottes herrühren müsste / hat er seinem Beichtvater einem Minoriten Mönichen / Laurentz genamt /solches vertraut / und ihn üm Raht gebetten. Der Mönich führte ihm zu Gemüt / daß diese Heurat von den Eltern nicht wol würde verstattet werden / und daß er an seinem Orte ihm gerne darzu behülfflich seyn wolte / wüsste aber keine Mittel / weil die Feindschafft beederseits unversöhnlich. (Harsdörffer : 1656, 388 f.)

Damit ist die eigentliche Handlung abgeschlossen, im Sinne der didaktischen Funktion seiner Romeo-und-Julia-Bearbeitung beendet Harsdörffer sie mit einer Moral in Form eines allgemeinen Lehrsatzes, der die Tugend der Ehrlichkeit und das heilige Sakrament der Ehe rühmt: Ob wol ihre Liebe ehrlich und ehlich verbunden / so haben sie solche doch nicht ehrlich angefangen / und deßwegen elendiglich hinaus geführet: Massen nicht genug ist / einen guten Vorsatz haben / sondern man muß auch durch rechtmässige Mittel darzu gelangen. (Harsdörffer : 1656, 392)

4.1.5.2 Anonym, Schawplatz der Verliebten (1669)235 Eine ähnlich große Nähe zum Exemplum wie Harsdörffers Kurzgeschichte weist auch die anonym erschienene Erzählung mit dem Titel Schawplatz der Verliebten (1669) auf, wobei der exemplarische Charakter der Liebe von Romeo und Julietta in eine andere Richtung weist als bei Harsdörffer, der ja vor allem darauf insistiert, dass die Liebe der beiden auf Unehrlichkeit ihren Familien gegenüber beruht und in einer unrechtmäßig vollzogenen Trauung ihren Ausdruck findet. Der Umfang der vorliegenden Bearbeitung des Romeo-und-Julia-Stoffes ist dabei unwesentlich geringer als derjenige von Harsdörffers Geschichte. Wie in allen vorangehenden Versionen dieses Stoffes ist die grundlegende Voraussetzung für die tragischen Ereignisse um die beiden Liebenden die Feindschaft zwischen ihren Familien, und zwar den Montescher und Capeleten/ Cabelleten. Ebenfalls wie in fast allen anderen frühneuzeitlichen Varianten dieses Stoffes – die Ausnahme stellt Rojas Zorrillas Bearbeitung dar – gibt auch der anonyme Autor dieser Geschichte keinen Grund für die tiefverwurzelte Feindschaft an, sondern weist nur auf die Geringfügigkeit des einstigen auslö235 Anonym: 1669, 243 – 253.

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senden Moments hin: »und ob wol die vrsache solcher Feindschafft anfangs gar gering / so hat sie doch / wie das anklimmende Feur / nach und nach zugenommen / und noch viel andre beydersets belanget.« (Anonym: 1669, 244) Auch der Schawplatz der Verliebten zeugt davon, dass die Rezeption des Romeo-und-Julia-Stoffes im 17. Jahrhundert in Deutschland fast ausschließlich über die Vermittlung durch die Bearbeitung Pierre Boaistuaus erfolgt. In diesem konkreten Fall lassen mehr oder weniger wörtliche Übernahmen keinen Zweifel daran, dass auch Harsdörffers Die vezweiffelte Liebe (1649) Vorbild gestanden hat. Im Schawplatz der Verliebten ist Romeo in Liebe zu einer anderen Frau entflammt, die sein Werben jedoch nicht erhört, und wird von seinen Freunden zum Ball im Hause von Juliettas Eltern gebracht, um Ablenkung von dieser unglücklichen Liebe zu finden. Anders als bei Shakespeare, der dieser ersten Liebe aus den bereits erörterten Gründen ein relativ großes Gewicht zukommen lässt, berichtet der Autor der vorliegenden Erzählung nur in einem Satz von dieser unerwiderten Liebe Romeos und nennt auch nicht den Namen der vergeblich umworbenen Dame. Bereits nach dem ersten Treffen zwischen Romeo und Julietta, das sich noch am Abend des Balles ereignet, schmiedet Romeo Hochzeitspläne, und zwar auch deshalb, weil er der Meinung ist, dass »solche Verehelichung ein Freundschafft Band ihrer Geschlechter […]« (Anonym: 1669, 145) sein könnte. Der Mönch Laurentz erklärt sich bereit, Romeo und Julietta miteinander zu verheiraten, obwohl er weiß, dass die Eltern beider dieser Hochzeit nicht zustimmen und die Feindschaft der Familien darüber hinaus unversöhnlich ist. Im Gegensatz zu den moralisierenden Bearbeitungen Boaistuaus und Harsdörffers trägt der anonyme Autor des Schawplatz der Verliebten auch dem körperlichen Aspekt der Liebe von Romeo und Julietta Rechnung: Nachdem Romeo mit Hilfe einer seidenen Leiter, die Juliettas Amme an ihrem Fenster befestigt hat, Juliettas Zimmer erklommen hat, heißt es explizit, dass er »sein ehliches Versprechen / mit grossem Vergnügen« (Anonym: 1669, 146) vollziehe. Dieses eheliche Glück ist Romeo und Julietta nach der ersten gemeinsamen Nacht drei Monate lang beschieden. Dass neben Boaistuau und Harsdörffer auch Guyon eine Vorbildfunktion für den anonymen Autor des Schawplatz der Verliebten erfüllt hat, lässt sich anhand eines Motivs nachweisen, dass sich nur in der Bearbeitung des Romeo-undJulia-Stoffes durch diesen französischen Autor findet: Nachdem Romeo im Rahmen seines Schlichtungsversuchs Juliettas Vetter Tibau erstochen hat und daraufhin fliehen musste – statt nach Mantua führt Romeo sein Weg nach Modena – , möchte der Mönch Laurentz Julietta als Mann verkleiden und zu Romeo bringen. Auch im Schawplatz der Verliebten gibt der Mönch der Protagonistin ein

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Mittel, das sie vorübergehend in einen todesähnlichen Zustand versetzen soll, als sie ihm von der Verzweiflung berichtet, die sie wegen der Pläne ihres Vaters, der sie mit dem Grafen Paris verheiraten möchte, verspürt. Dem Plan des Mönches, das Mittel, bei dem es sich nicht um einen Schlaftrunk, sondern ein Schlafpulver handelt, einzunehmen, stimmt Julietta dabei aufgrund ihrer strengen moralischen Vorstellungen zu, denn »durch die Verlöbnis mit dem Grafen Paris / [müsste sie] ehbrüchig und untreu werden […] / welches sie für sündlicher gehalten / als besagter massen getreu zu sterben« (Anonym: 1669, 149). Der Schluss dieser frühneuzeitlichen deutschen Bearbeitung des Romeound-Julia-Stoffes weist deutlich auf Harsdörffers Version hin, denn mit den Mitschuldigen am tragischen Ende der beiden jungen Liebenden wird folgendermaßen verfahren: Der Apotheker wird zum Tode verurteilt, weil er Romeo das tödliche Gift verkauft hat, Romeos Knecht, der seinem Herrn vom vermeintlichen Tod Juliettas berichtet hat, wird freigesprochen, der Mönch Laurentz wird dazu verbannt, fortan als Einsiedler zu leben, und Juliettas Kindsmagd schließlich wird des Landes verwiesen, und zwar mit derselben Begründung, mit der in Harsdörffers Bearbeitung die Strafe für den Mönch begründet wird, weil sie nämlich »zu solcher Winckel-Ehe geholffen« (Anonym: 1669, 152) hat. Dem tragischen Tod Romeos und seiner Julietta steht im Schawplatz der Verliebten das Ende der lang andauernden Feindschaft der Familien der beiden jungen Leute gegenüber. Am Schluss wird den beiden Selbstmördern ein Grabmal errichtet. Nichtsdestoweniger weist der anonyme Autor der Geschichte explizit auf die moralische Schuld, die sowohl Romeo als auch Julietta auf sich geladen haben, hin. Vorgeworfen wird den beiden hier im Kern, dass der Zweck eben nicht die Mittel heiligt: »Masten nicht genug ist / einen guten Vorsatz haben / sondern man muß auch durch rechtmässige Mittel darzu gelangen.« (Anonym: 1669, 152) Hält der Autor hier an der moralischen Schuld der beiden Liebenden fest, so treffen wir in der von ihm zuletzt vorgeschlagenen Grabschrift für die beiden Selbstmörder auf eine gänzlich andere Bewertung der Qualität ihrer Liebe: Die wir vns gar kurze Zeit ehr und ehlich fest geliebet / hat die Feindschafft Haß und Neid in dem Leben offt betrübet. Wann die gleich gesinnten Herzen Nach dem Tod einander lieben / Werden wir in Freuden-Scherzen Uns in jenem Leben üben (Anonym: 1669, 152 f.)

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Wird zuvor die Unrechtmäßigkeit der gewählten Mittel beider angeprangert, so wird ihre Liebe in der Grabschrift als »ehr und ehlich« und damit als moralisch einwandfrei beschrieben. Nicht nur werden Romeo und Julietta hier nicht als Täter dargestellt, sondern ihnen wird eindeutig die Opferrolle zugeschrieben, denn ihrer Liebe stand als unüberwindbares Hindernis die Feindschaft ihrer Familien im Wege. Mit diesem deprimierenden Befund endet die Grabschrift allerdings nicht, sondern sie entwirft das Bild einer jenseitig lebbaren Liebe, deren grundsätzliche Bedingung die Liebe Romeos und Juliettas aufgewiesen hat: die über den Tod hinausgehende Unbedingtheit der Liebe und Treue der beteiligten Partner.

4.1.6 Schlussbemerkungen Die Rezeption des Romeo-und-Julia-Stoffes stellt einen der eindrucksvollsten Belege für die Vernetzung der europäischen Nationalliteraturen in der Frühen Neuzeit dar. Die zahlreichen nationalen Anverwandlungen dieses Stoffes sind Beispiele für jene kulturellen Austauschprozesse, die sich mit dem Begriff des Kulturtransfers sinnvoll beschreiben lassen. Am stärksten national anverwandelt hat unter den hier vertretenen Autoren Francisco de Rojas Zorrilla den Mythos um Romeo und Julia. Was die frühneuzeitliche Rezeption dieses Stoffes angeht, so ist besonders bemerkenswert, dass er schon im 16. und 17. Jahrhundert, auf die sich die vorliegende Untersuchung konzentriert hat, nicht auf eine bestimmte literarische Gattung festgelegt ist, sondern sowohl in Form der kurzen Prosaerzählung als auch der epischen Lyrik und der Dramatik verhandelt wird. Die Adaptationsfähigkeit des Romeo-und-Julia-Stoffes mag primär darin begründet liegen, dass er eine allgemein menschliche Grunderfahrung beinhaltet, die sich in Narrativik, Lyrik und Dramatik poetisch umsetzen lässt, nämlich zunächst die Liebe zweier junger Menschen, die von den Familien beider nicht zugelassen wird und damit zum Scheitern verurteilt ist bzw. sich in dieser Welt nicht realisieren lässt und schließlich zum tragischen Tod beider führt. Diese grundsätzliche Konstellation ist darüber hinaus an keinen bestimmten sozialgeschichtlichen Rahmen gebunden, womit sich die seit der Frühen Neuzeit bestehende Aktualität des Stoffes erklären lässt. Die prinzipielle Konstellation des Romeo-und-Julia-Motivs hat die frühneuzeitlichen europäischen Dichter zu den unterschiedlichsten Variationen dieses narrativen Grundgerüstes inspiriert. Hierbei muss zwischen solchen Bearbeitungen unterschieden werden, die die ursprünglich von Luigi da Porto vorgegebene Situation beibehalten und nur einzelne Details verändern, und solchen, die grundsätzliche Änderungen am Stoff vornehmen. Zur ersten Gruppe zählen all jene Texte, die lediglich unterschiedliche Intentionen in der Bewertung der

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Liebe von Romeo und seiner Julia vornehmen. Stellen manche frühneuzeitliche Autoren diese Liebe als Beleg der constantia dar und rügen konsequenterweise dann nur das Fehlverhalten der ›Mittäter‹ (z. B. von Julias Amme oder vom Apotheker), so erklären andere die Liebe der beiden jungen Leute für verwerflich, weil sie den Ungehorsam gegenüber der eigenen Familie nicht nur billigt, sondern notwendigerweise erfordert. Diese Akzentsetzungen erfolgen dabei im Rahmen einer Poetik der imitatio und der variatio. Des Weiteren lassen sich diese unterschiedlichen Bearbeitungen durch eine mehr moralisierende oder eine eher psychologisierende Ausrichtung unterscheiden. Daneben gibt es eben aber solche frühneuzeitlichen Texte, die das Substrat des Romeo-und-JuliaStoffes angreifen bzw. dieses stark abwandeln. Dies trifft per se auf alle Bearbeitungen zu, die die ursprünglich tragische Liebesgeschichte nicht mit der Katastrophe, nämlich dem Selbstmord Romeos und Julias, enden lassen, sondern mit einem – wie auch immer konkret gestalteten – glücklichen Ausgang für die Liebenden. Des Weiteren hat sich gezeigt, dass die frühneuzeitliche europäische Rezeption des Romeo-und-Julia-Stoffes sich weniger auf da Portos Novelle und somit auf den ersten literarischen Beleg dieses Stoffes bezieht als vielmehr auf Bandellos entsprechende Bearbeitung.236 Repräsentativ belegen dies der Titel von Arthur Brookes epischem Gedicht (The Tragicall Historye of Romeus and Iuliet, written first in Italian by Bandell, and nowe in Englishe by Ar. Br. (1562)) und der Titel des Bandes, dem Pierre Boaistuaus Novelle De deux amans, dont l’un mourut de venin, l’autre de tristesse entnommen ist (Histoires Tragiques extraictes des Œuvres de Bandel (1559)). Das heißt, der Stoff wird im Europa der Frühen Neuzeit nicht in seiner ursprünglichen Variante rezipiert, sondern vor allem durch die Vermittlung Bandellos, dessen Novelle hier wiederum vor allem durch die Vermittlung Boaistuaus indirekt verbreitet und bearbeitet wird. Repräsentativ belegt dies der Band, der den Romeo-und-Julia-Stoff nach Spanien gebracht hat: Historias tr‚gicas exemplares, sacadas del Bandello Verones. Nueuamente traduzidas de las que en la lengua Francesa adornaron Pierres Bouistau, y Francisco de Belleforest (1589).237

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Literarische Flüge zum Mond

Bei der im vorangehenden Kapitel analysierten Rezeption des Romeo-und-JuliaStoffes im Europa der Frühen Neuzeit handelt es sich zweifelsohne um eines der repräsentativsten Beispiele für die sich gerade in dieser Zeit abzeichnende 236 Zur europäischen Wirkung Bandellos vgl. Pozzi: 2005. 237 Vgl. hierzu Dom¦nech Rico: 1999, 155.

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Tendenz einer europaweiten Distribution bestimmter literarischer Stoffe und für die damit zusammenhängende engmaschige Vernetzung der europäischen Nationalliteraturen der Frühen Neuzeit. Diese lässt sich jedoch nicht nur anhand solch herausragender Beispiele aufzeigen, sondern auch bzw. gerade anhand marginaler Motive, wie zum Beispiel des Themas des Mondes in der frühneuzeitlichen Literatur. Um dieses Thema soll es im Folgenden gehen. Präsentiert werden drei Texte, denen neben zahlreichen Unterschieden die folgenden drei Kriterien gemein sind: 1. Es handelt sich jeweils um eine Erzählung. 2. Poetisch beschrieben wird eine Reise zum Mond. 3. Es herrscht eine Verbindung von literarischer Fiktion und naturwissenschaftlichem Denken vor oder anders ausgedrückt: Wir haben es mit Reisen zum Mond zwischen Wissenschaft und Fiktion zu tun. Aus diesem dritten Kriterium folgt, dass die ausgewählten Erzählungen immer auch eine Popularisierung des jeweils zeitgenössischen astronomischen und kosmologischen Wissens sowie der Mondforschung intendieren oder sich wenigstens der Faszination dieses Themas für die Erzielung des poetischen Effekts des merveilleux bedienen. Schon Aristoteles hat das Wunderbare und die Faszination an diesem zum Grundprinzip des Poetischen erklärt (vgl. Aristoteles: 1994, 83). Das Verhältnis von Fiktion und Naturwissenschaft ist dabei ganz unterschiedlich gestaltet, wobei sich generell im Laufe der Geschichte literarischer Darstellungen einer Reise zum Mond eine Zunahme an poetisch verarbeiteten naturwissenschaftlichen Details beobachten lässt, die natürlich dem beständig wachsenden astronomischen, kosmologischen und selenographischen Wissen geschuldet ist. Die poetische Beschäftigung mit dem Thema des Mondes setzt – anders als die Rezeption des Romeo-und-Julia-Stoffes – nicht erst in der Frühen Neuzeit ein, sondern verfügt über eine lange literarische Tradition: Schon seit der Antike ist das Motiv der Mondreise ein immer wieder bearbeitetes Thema der literarischen Fiktion, und zwar sowohl in Narrativik und Dramatik als auch Lyrik, wobei die Erzählungen über eine Mondreise deutlich überwiegen. Die frühesten bekannten Beispiele dieser Art stammen von Lukian von Samosata. Es handelt sich hierbei um die Verae historiae und die Erzählung Ikaromenippus. Beide führen die beiden prinzipiellen Möglichkeiten einer poetisch inszenierten Reise zum Mond vor: Entweder verschlägt es den Mondreisenden mehr oder weniger zufällig und damit ungewollt auf den Erdtrabanten (wie in den Verae historiae), oder er landet dort planmäßig (wie in Ikaromenippus, wo die Reise zum Mond das Ziel hat, die irdischen Dinge in ihrer angenommenen Bedeutung zu relativieren, wie dies ähnlich auch für Ciceros Somnium Scipionis aus De re publica gilt).

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4.2.1 Johannes Kepler, Somnium, seu opus posthumus de astronomia lunari (um 1609, EA 1634)238 Der mit diesem Titel versehene Band enthält – nach den Anweisungen, die Kepler noch vor seinem Tode im Jahre 1630 gegeben hat, – drei Teile: eine annotierte Traumerzählung, einen ebenfalls annotierten Brief an den Jesuiten Paul Guldin (Appendix Geographica) und eine kommentierte Übersetzung von Plutarchs De facie in orbe lunae. Im Folgenden beschränke ich mich auf die Traumerzählung und verwende den Titel Somnium ausschließlich im engeren Sinne als Bezeichnung für diesen narrativen Teil des dreiteiligen Bandes. Keplers Traumerzählung nimmt in der Geschichte der literarischen Mondreisen insofern eine Sonderrolle ein, als hier erstmals die literarische Fiktion der Reise zum Erdtrabanten mit den zeitgenössischen naturwissenschaftlichen Erkenntnissen (in diesem Fall vor allem der Lehre des Kopernikus) verbunden ist. Keplers Mond im Somnium ist nicht mehr derjenige, den antike Autoren wie Cicero, Plutarch und Lukian beschrieben haben, sondern der Mond, den Galileo Galilei (ab 1609) mit dem Teleskop beobachtet und im Sidereus Nuncius (1610), dem Sternenboten, beschrieben hat. Dieser Sonderstellung ist es geschuldet, dass ich meine Ausführungen mit Kepler beginne, obgleich im Somnium kein Mondflug präsentiert wird, sondern der Mond – wie zum Beispiel auch bei Dante – über eine Himmelsleiter erreicht wird. Übrigens unterscheidet sich Kepler durch die Wahl eines solch traditionellen Mittels für die Mondreise von den meisten seiner Nachfolger auf dem Gebiet der poetischen Mondfiktion, denn die Autoren von poetisch fiktionalisierten Mondflügen neigen generell dazu, die originellsten Fluggeräte zu erdenken und diese dann auch detailliert zu beschreiben. Kepler hat seine Traumerzählung im Nachhinein mit vielen wissenschaftlichen Anmerkungen versehen, die astrologisches und selenographisches Wissen vermitteln: »The moon which Kepler describes in Somnium […] is not the imaginary land of Lucian, but the astronomical body he has seen through his telescope.« (Crouch: 1982, 12)239 Auf diese Weise hat er Naturwissenschaft, der die Notae vorbehalten sind, und die literarische Fiktion des Haupttextes voneinander getrennt, wodurch sich dieser Text stark von den anderen hier präsentierten poetischen Mondfiktionen unterscheidet. Signifikanterweise übersteigt der kommentierende den narrativen Teil um ein Vielfaches. Kepler hat 238 Kepler : 1993, 321 – 379. Im Jahre 2011 ist folgende Übersetzung ins Deutsche erschienen: Der Traum, oder: Mond-Astronomie. Somnium sive astronomia lunaris. Aus dem Lateinischen von Hans Bungarten und mit einem Leitfaden für Mondreisende von Beatrix Langner, Berlin: Matthes & Seitz 2011. 239 Vgl. Nicolson: 1960, 47: »Kepler transformed the old Lucianic literary tradition into the modern scientific moon voyage.«

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insgesamt 223 Anmerkungen verfasst. Der Anmerkungsteil ist damit in etwa dreimal so lang wie der narrative Teil des Somnium. Dieser Apparat bewirkt eine Verwissenschaftlichung der Erzählung und erfüllt zugleich eine Schutzfunktion, indem er beispielsweise die biographischen Bezüge, die die Erzählung zweifelsohne enthält, abschwächt, und zwar vornehmlich auf dem Wege der Verallgemeinerung oder Allegorisierung.240 Unter anderem werden im Somnium das heliozentrische Weltbild, die Gravitation und andere Hindernisse während der Reise zum Mond thematisiert.241 Vor allem wollte Kepler mit seiner Schrift das kopernikanische Weltbild popularisieren und die Menschen seiner Zeit davon überzeugen, dass das geozentrische Weltbild nicht länger haltbar sei. In der vierten Anmerkung erklärt er explizit, dass er mit seiner Traumerzählung die Bewegung der Erde belegen und die allgemeinen Widerstände gegen die kopernikanische Lehre bekämpfen wollte: »C¾m igitur Somnij mei scopus sit, argumentum pro motu Terrae, […] moloiri exemplo Lunae […].« (Kepler : 1993, 333) Thematisiert wird im Somnium auch die Frage nach dem Leben auf dem Mond. Im Gegensatz zu Galilei bejaht Kepler diese Frage: Seine Mondbewohner sind keine Menschen, sondern überdimensional große Schlangenwesen. Im Somnium hat Kepler die Mondreise als Traumerlebnis und damit sozusagen als doppelte Fiktion inszeniert: Dementsprechend enthält der Text zwei Erzählebenen: Auf der ersten träumt ein anonymer Ich-Erzähler, ein Buch zu lesen. In diesem Buch tritt ein zweiter Erzähler namens Duracotus auf. Dessen Mutter beschäftigt sich mit der Heilkunde und stellt Kräuterbeutel zusammen, die Schiffe vor Gefahren schützen sollen. Aus Neugierde öffnet Duracotus eines Tages einen solchen Beutel, woraufhin seine Mutter ihn zur Strafe an einen Schiffskapitän verkauft, der ihn schließlich auf eine dänische Insel bringt, auf der Tycho Brahe lebt und seine astronomischen Forschungen betreibt. Tycho Brahe nimmt Duracotus daraufhin in die Lehre. Nach mehreren Jahren kehrt dieser zu seiner Mutter nach Island zurück, die ihn als Wiedergutmachung für die harte Bestrafung mit der Geisterwelt vertraut macht, und zwar im Besonderen mit ihrem Lehrer, den man mit den Zauberworten Astronomia Copernicana herbeirufen kann. An dieser Stelle im Text erfolgt der erste explizite Verweis auf Kopernikus und seine Lehre, und zwar bezeichnenderweise im Kontext der Geisterbeschwörung durch Duracotus’ Mutter. An dieser Stelle endet der erste Teil des Somnium. Der zweite Teil, der mit Daemon ex Levania überschrieben ist, umfasst den Bericht des herbeigerufenen Geistes vom Mond, den Kepler in der fünfzigsten Anmerkung als einen Vertreter der »scientia apparitionis siderum« (Kepler : 1993, 338) beschreibt. Dieser 240 Vgl. hierzu Swinford: 2006. 241 Siehe Nicolson: 1960, 47.

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Dämon berichtet im Folgenden Mutter und Sohn vom Mond. Zunächst erklärt er, wie man zum Mond komme: Dies sei nur während einer Mondfinsternis möglich. Man müsse die Himmelsleiter hinaufsteigen, was für Dämonen kein Problem darstelle, jedoch für Menschen. Nur wenige von ihnen würden dazu ausgewählt, und zwar aufgrund ihrer besonderen körperlichen und seelischen Eigenschaften. Am geeignetsten seien in Anbetracht ihres sportlichen Körperbaus und natürlichen Hanges zum Sport die Spanier, die Deutschen hingegen seien aufgrund ihrer Neigung zur Völlerei vollkommen ungeeignet. Diese Privilegierung der Spanier wird Francis Godwin in seiner Mondfiktion umsetzen. Als besonderes Hindernis auf dem Weg zum Mond beschreibt der Geist die Grenze des Gravitationsfeldes der Erde, passierbar sei diese nur unter dem Einfluss bestimmter Betäubungsmittel. Kepler vergleicht dies mit dem Schuss aus einer Kanone. Nichtsdestoweniger ist die von ihm beschriebene Methode, zum Mond zu gelangen, vergleichsweise traditionell und wenig spektakulär. Dies ist insofern konsequent, als es Kepler primär ja nicht darum ging, eine möglichst innovative poetische Fiktion einer Mondreise zu verfassen, sondern vielmehr darum, das zeitgenössische astronomische, kosmologische und selenographische Wissen in seiner Erzählung auf unterhaltsame Weise zu vermitteln – nach dem horazischen Prinzip aut delectare aut prodesse. Der Geist beschreibt im Folgenden ausführlich den Mond, und zwar in Übereinstimmung mit dem zeitgenössischen Wissen über den Mond. Er bestehe aus zwei Hemisphären (Subvolva und Privolva). Die Mondoberfläche gleicht weitgehend derjenigen, die Galilei im Sidereus Nuncius beschrieben hat. Damit entspricht der Mond in geographischer Hinsicht zugleich in etwa der Erde, dies gilt allerdings nicht für die Ausmaße auf dem Mond: Hier ist alles extremer als auf der Erde. Die – wenn auch kurze – Beschreibung der Mondbewohner zeugt davon, dass Kepler sich intensiv Gedanken darüber gemacht hat, welche Lebensformen unter den Extrembedingungen hinsichtlich Schwerkraft, Temperatur und Atmosphäre möglich sind, wobei er nochmals zwischen den Bewohnern der erdabgewandten (Privolva) und der erdzugewandten Seite (Subvolva) unterscheidet. In Anmerkung 219 (Kepler 1993, 363) erklärt Kepler, zur Beschreibung der Lebewesen auf der erdabgewandten Hemisphäre des Mondes auf reale zeitgenössische Reiseberichte aus Afrika zurückgegriffen zu haben. Genau in dem Augenblick, als der Geist dann über den Regen auf Subvolva berichtet, wacht der anonyme IchErzähler plötzlich durch einen Regenschauer auf, der übrigens den letzten Teil des Buches unleserlich gemacht habe. An dieser Stelle durchdringen sich die beiden Erzählebenen gegenseitig. Es liegt in der Zielsetzung des Somnium, nämlich die Richtigkeit der kopernikanischen Lehre darzulegen, begründet, dass der Dämon in seiner Rede vor allem auf die Mondastronomie und die Mondgeographie eingeht und nur kurz

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die Lebensformen auf dem Mond beschreibt. Erst in der auf die Traumerzählung folgende Appendix Geographica wird Kepler versuchen, die Existenz von geistigem Leben auf dem Mond nachzuweisen. Bemerkenswert an Keplers Somnium ist nicht nur, dass der Autor hier poetische Fiktion und naturwissenschaftlichen Diskurs miteinander verbunden hat, sondern dies ebenso für Astronomie (repräsentiert durch das Wissen des Tycho Brahe) und Dämonologie (repräsentiert durch das ›Wissen‹ von Duracotus’ Mutter) gilt. Bezeichnenderweise tritt ein Geist auf, bei dem die Annahme naheliegt, es handle sich um Kopernikus. Für die Verbindung von Astronomie und Dämonologie eignet sich der Mond deshalb besonders gut, weil ihm der Aberglaube seit jeher eine wichtige Bedeutung zuschreibt, er zugleich aber auch das Objekt naturwissenschaftlicher Forschungen ist, vor allem in der Nachfolge Galileo Galileis.

4.2.2 Francis Godwin, The Man in the Moone Or a Discovrse of a Voyage thither by Domingo Gonsales, the Speedy Messenger (um 1627, EA 1638) Ebenso wie Keplers Somnium, das für diese Mondfiktion eine große Vorbildfunktion hatte, hat auch Godwins Roman eine starke europäische Wirkung gehabt. Dieser zeichnet sich vordergründig zwar durch ein ambivalentes Verhältnis zur neuen Naturwissenschaft bzw. Astronomie und Kosmologie aus, er lässt sich aber dennoch als »Rechtfertigung der kopernikanischen Lehre« (Gnüg: 1999, 88) bezeichnen und ähnelt hierin Keplers Schrift. Zwar stimmen die empirischen Beobachtungen des Protagonisten Gonsales während seines Fluges durch die obere Atmosphäre mit den Entdeckungen von Kopernikus und Galilei überein, jedoch zeigt er eine Ambivalenz hinsichtlich der Gültigkeit der Lehre vom heliozentrischen Weltbild, die die Ablehnung des ptolemäischen Weltbildes bedeutet. Es ist anzunehmen, dass dieser Widerspruch vor allem ein diplomatisches Zugeständnis an die Lehre der Katholischen Kirche darstellt, der der Geistliche Godwin offiziell verpflichtet war. Bezeichnenderweise schickt der britische Autor keinen Landsmann auf den Mond, sondern einen Spanier. Hierin folgt er, wie bereits angekündigt, der Empfehlung Keplers im Somnium. Gonsales ist ein Empiriker, und wenn er Kopernikus verteidigt, so geschieht dies, weil seine Erfahrung dessen Erkenntnisse bestätigt, wie zum Beispiel bezüglich der Bewegung der Erde. Gonsales wird damit zum Repräsentanten der neuen Gültigkeit der Ergebnisse der empirischen Forschung. Godwins Protagonist gelangt auf recht wundersame Weise zum Mond, und zwar ohne es geplant zu haben. Gonsales zähmt sich auf einer Insel Gänse, ohne Kenntnis davon zu haben, dass es sich um eine spezielle Rasse handelt, die auf dem Mond überwintert, wohin die Tiere ihn dann auch mit sich ziehen. Es bleibt

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also festzuhalten, dass Godwin sich einer der traditionellsten menschlichen Flugvisionen bedient, die wir schon in antiken Texten vorfinden, nämlich mit Vögeln. Zum Beispiel schnallt sich der Protagonist in Lukians Erzählung Ikaromenippus die Flügel eines Geiers und eines Adlers um. Es ist in diesem Kontext auch an den Mythos vom Schamanenflug zu denken. Hier verwandelt der Schamane sich in seiner Imagination in einen Vogel und beginnt zu fliegen. Italo Calvino hat dies folgendermaßen beschrieben: Alla precariet— dell’esistenza della trib¾, – siccit—, malattie, influssi maligni – lo sciamano rispondeva annullando il peso del suo corpo, trasportandosi in volo in un altro mondo, in un altro livello di percezione, dove poteva trovare le forze per modificare la realt—. (Calvino: 1988, 28)

In anderer Hinsicht als Keplers Mondfiktion nimmt auch Godwins eine privilegierte Rolle ein, denn die Beschreibung des Mondfluges seines Protagonisten enthält die erste literarische Reflexion des Phänomens der Schwerkraft: It was now the season that these birds were wont to take their flight away, as our cuckoos and swallows do in Spain, towards the autumn. They, as after I perceived, mindful of their usual voyage, even as I began to settle myself for the taking of them in, as it were with one consent rose up, and, having no other place higher to make toward, to my unspeakable fear and amazement struck bolt upright and never did lin towering upward and still upward for the space, as I might guess, of one whole hour, toward the end of which time methought I might perceive them to labour less and less till at length, O incredible thing! They forbore moving anything at all and yet remained unmoveable, as steadfastly as if they had been upon so many perches. The lines slacked; neither I nor the engine moved at all, but abode still, as having no manner of weight. I found then by this experience that which no philosopher ever dreamed of, to wit, that those things which we call heavy do not sink toward the centre of the earth as their natural place, but as drawn by a secret property of the globe of the earth, or rather something within the same, in like sort as the loadstone draweth iron, being within the compass of the beams attractive. (Godwin: 1995, 86 f.)

Während seines Fluges in seinem von Gänsen angetriebenen ›Mondflieger‹ macht Gonsales außerdem folgende Beobachtung, die mit der Lehre des Kopernikus von der Rotation der Erde übereinstimmt: Again, the earth, which ever I held in mine eye, did as it were mask itself with a kind of brightness like another moon, and even as in the moon we discerned certain spots or clouds as it were, so did then in the earth. But whereas the form of those spots in the moon continue constantly one and the same, these little and little did change every hour. The reason thereof I conceive to be this, that whereas the earth, according to her natural motion (for that such motion she hath I am now constrained to join in opinion with Copernicus), turneth around upon her own axis every twenty-four hours from the west unto the east […]. (Godwin: 1995, 90)

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Signifikanterweise erfolgt hier jedoch auch eine gewisse Distanzierung von der Lehre des Kopernikus: Aufgrund seiner eigenen Erfahrung während des Fluges zum Mond ist der Protagonist »constrained to join in opinion with Copernicus« (Godwin: 1995, 90). Um es noch einmal ganz deutlich zu sagen: Der Rotation der Erde stimmt Gonsales nur aufgrund seiner eigenen Beobachtungen zu, nicht jedoch, weil ihn die Lehre des Kopernikus überzeugt hat. Auch dies dürfte eine Schutzmaßnahme des Autors sein. Interessant ist an dieser Stelle die Verbindung des Neuen mit dem Alten, denn die Erkenntnis von der Bewegung der Erde erlangt Gonsales dadurch, dass er sich – wie bereits erläutert – einer der ältesten Flugvisionen bedient, nämlich mit Vögeln bzw. in diesem Fall mit Gänsen. Die Glaubwürdigkeit des Neuen soll hier offensichtlich durch die Anbindung an Altbekanntes und Altbewährtes gesteigert werden. An der Erdrotation besteht für Gonsales kein Zweifel, alles andere ist für ihn eine überholte Lehre: »Philosophers and mathematicians […] should now confess the wilfulness of their own blindness. They have made the world believe hitherto that the earth hath no motion.« (Godwin: 1995, 91) Übrigens distanziert sich Gonsales auch von seinem eigenen früheren Wissensstand, nämlich »the astronomy that I learned being a young man at Salamaca« (Godwin: 1995, 89). Studiert hat er nämlich an dieser traditionsreichen spanischen Universität. Die dort erlernte Theorie wird hier jedoch durch die Empirie des Protagonisten widerlegt und überwunden. In einem wesentlichen, wenn nicht gar dem wesentlichsten Punkt distanziert sich Gonsales explizit von den Lehren des Kopernikus, und zwar hinsichtlich des heliozentrischen Weltbildes, das dieser in De Revolutionibus Orbium Coelestium (1543) beschrieben hat: »I will not go as far as Copernicus, that maketh the sun the centre of the earth and unmoveable, neither will I define anything one way or the other.« (Godwin: 1995, 91) Zwar stimmt er dem heliozentrischen Weltbild nicht zu, er streitet es aber auch nicht ab, denn er entscheidet sich an dieser Stelle auch nicht für die Lehre vom geozentrischen Weltbild, d. h. er weist beiden Möglichkeiten einen rein spekulativen Status zu. Insofern relativiert sich die Distanzierung von der Lehre des heliozentrischen Weltbildes. Dass sich Gonsales gerade in diesem Punkt nicht explizit Kopernikus anschließt, entspricht der tatsächlichen Rezeptionsgeschichte der kopernikanischen Lehren.242 Für seine Zeitgenossen stand Kopernikus fast ausschließlich für die Lehre von der Erdrotation: »Copernicanism meant the threefold motion of the Earth, and, initially, that alone.« (Kuhnle: 2003, 48) Vor allem im damaligen England gab es nur wenige, die der Lehre vom heliozentrischen Weltbild anhingen. In diesem Kontext ist wichtig, dass die Hauptschrift des Kopernikus erst im Jahre 1616, also erst 73 Jahre nach ihrem ersten Erscheinen von der Indexkongregation bean242 Vgl. u. a. Kuhnle: 2003, 48.

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standet wurde. Einer der wenigen englischen Vertreter des Heliozentrismus war Thomas Digges, der Verfasser der Schrift Perfit Description of the Caelestialal Orbes (1576), die Godwin vermutlich kannte.243 In Godwins Roman besitzt der Mond einen vornehmlich funktionalen oder instrumentellen Charakter, insofern er in Beziehung zur Erde gesetzt wird, wobei es auch persönliche Beziehungen zur Erde gibt, denn der Urahn des aktuellen Mondherrschers kam von der Erde und kehrte auch wieder dorthin zurück. Ganz traditionell stellt der Mond in Godwins Roman eine Art Gegenwelt dar, wozu er sich deshalb besonders gut eignet, weil er von der Erde aus mit bloßem Auge zu erkennen ist. Daneben dient die Mondreise aber eben auch dazu, zeitgenössische naturwissenschaftliche Erkenntnisse im Medium der literarischen Fiktion zu verifizieren. Die enge, wenn auch antagonistische Beziehung zwischen Mond und Erde bzw. die Funktion des Mondes als Gegenwelt der Erde kommt in Godwins Utopie insofern zum Tragen, als er den Mond als ein hierarchisch aufgebautes Tugendreich inszeniert, in dem eine starke Religiosität vorherrscht: »[…] through an excellent disposition of the nature of the people there, all […] do hate all manner of vice and do live in such love, peace, and amity as it seemeth to be another Paradise.« (Godwin: 1995, 106) Auf dem von Godwin inszenierten Mond gibt es keine Verbrechen und keine Lügen. Falls ein Lunarier aufgrund eines Fehlers der Natur doch einmal straffällig geworden ist, wird er verbannt, und zwar signifikanterweise auf die Erde. Übrigens kehrt auch Gonsales nach seinem anderthalbjährigen Mondabenteuer wieder dorthin zurück: Mittels Wundersteinen, die die Schwerkraft überwinden, landet er schließlich mit seinen Gänsen in China. Hier antizipiert Godwin das Antischwerkraftmittel Cavorite, das dem Leser in H.G. Wells’ The First Men in the Moon (1901) begegnen wird. Die Wirkung von Godwins Mondutopie in Europa war gewaltig. Hiervon zeugen nicht nur zeitnahe Übersetzungen ins Französische (1648) und Deutsche (1659),244 sondern auch die nachfolgend analysierte Mondutopie.

243 Vgl. hierzu Gribbin: 2002, Johnson: 1937 und Kugler : 1982. 244 L’Homme dans la lune, ou le Voyage chim¦rique fait au monde de la lune nouvellement d¦couvert, par Dominique Gonzales. Mis en notre langue par J.B.D [Jean Baudoin] (1648) und Der fliegende Wandersman[n] nach den Mond: Oder Eine gar kurtzweilige und seltzame Beschreibung der Neuen Welt deß Monds: wie solche von einem gebornen Spanier mit Namen Dominico Gonsales beschrieben: Und der Nachwelt bekant gemacht worden ist (1659).

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4.2.3 Cyrano de Bergerac, Histoire comique des états et empires de la lune (um 1649, EA 1657) Ebenso wie Keplers und Godwins Texte wurde auch Bergeracs Mondutopie erst posthum veröffentlicht, und das aus gutem Grund, denn dieser Roman stellt ein Kompendium neuerer naturwissenschaftlicher Erkenntnisse dar, von denen viele im Konflikt mit der kirchlichen Lehrmeinung der damaligen Zeit standen. Selbst bei der posthumen Veröffentlichung hat der Herausgeber Lebret zahlreiche Eingriffe vorgenommen, um den Roman zu ›entschärfen‹. Signifikanterweise trägt der Protagonist in der hier zugrunde gelegten Fassung des Romans aus dem Jahre 1657 nicht mehr den Namen Dyrcona wie in den Manuskriptfassungen, der als Anagramm des Autors gelesen werden kann. Dieser Name zeugt übrigens durch die große klangliche Ähnlichkeit mit dem Namen des Protagonisten im Somnium auch von der Beeinflussung Bergeracs durch Kepler. Die wissenschaftsfeindliche Haltung der Kirche führt Cyrano de Bergerac in seinem Roman zweimal vor : erstens in der Figur des Spaniers Domingo Gonsales – wir haben es hier mit einer Anspielung auf den gleichnamigen Protagonisten in Francis Godwins The Man in the Moone (1638) zu tun –, der dem Protagonisten von seiner eigenen negativen Erfahrung mit der Inquisition berichtet. Bergerac war zu schlau, um Kritik an den Praktiken der Kirche im eigenen Land zu äußern: »On m’a voulu mettre, en mon pays, — l’Inquisition, parce qu’— la barbe des p¦dans j’avois soutenu qu’il y avoit du vide, et que je ne connoissois point de matiÀre au monde plus pesante l’une que l’autre.« (Bergerac: 1962, 149) Zweitens enthält der Roman eine deutliche Anspielung auf den Prozess gegen Galileo Galilei im Jahre 1633 und vor allem auf seinen berühmten Widerruf. Der Mondreisende wird nämlich von den machthabenden Priestern dazu gezwungen, folgende Erklärung lauthals zu verkünden: »Peuple, je vous d¦clare que cette Lune-ci n’est pas une Lune, mais un Monde; et que ce Monde l—bas n’est pas un Monde, mais une Lune. Tel est ce que le Conseil trouve bon que vous croyiez.« (Bergerac: 1962, 166) Der parodistische Charakter dieser Erklärung macht Cyrano de Bergeracs ablehnende Haltung überdeutlich und muss als Kritik an den damaligen Möglichkeiten der Kirche, Macht außerhalb ihres eigentlichen Zuständigkeitsbereiches auszuüben, gelesen werden. Der Roman wird zum Medium eines ›Kampfes‹ der neuen Naturwissenschaft gegen die religiöse Orthodoxie, und zwar in der literarischen Gattung der Utopie. Zunächst und vor allem popularisiert der Roman die These Giordano Brunos und Johannes Keplers, dass mehrere Welten möglich seien und diese auch bewohnt sein könnten. Aus diesem Grund musste – per Analogieschluss – auch die Existenz von menschenähnlichem Leben auf dem Mond, wie sie Cyrano de Bergerac in seinem Roman thematisiert, durchaus plausibel erscheinen. Zur Zeit

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der Abfassung des Romans wurde in wissenschaftlichen Kreisen tatsächlich darüber diskutiert, ob es auf anderen Planeten Leben geben könne, zum Beispiel auch in den Vorlesungen Pierre Gassendis (1592 – 1655), die Cyrano de Bergerac vermutlich selbst besucht hat.245 Die Frage nach extraterrestrischem Leben ist jedoch nicht erst im 17. Jahrhundert diskutiert worden, sondern hat eine lange Tradition, die bis in die Antike zurückreicht. Beispielsweise heißt es in Lukrez’ naturphilosophischem Gedicht De rerum natura: »andere [Samen der Dinge] gibt es in anderen Teilen / Erden und bunte Stämme der Menschen und Rassen von Tieren.« (Lucretius Carus: 2005, 162, v. 1075 f.) Im Hinblick auf die Frage nach Leben jenseits der Erdbegrenzungen nahm dabei aufgrund seiner relativen Erdnähe seit jeher der Mond eine herausragende Rolle ein: »In ganz Europa war die Bewohnbarkeit des Mondes ein Lieblingsthema.« (Jordan: 1910, 69) Im 17. Jahrhundert waren die Meinungen über die Möglichkeit von lunarem Leben dabei geteilt: Kepler und Gassendi nahmen Leben auf dem Mond an, Galileis Mondkarten hingegen enthalten keine Hinweise auf Lebewesen. Gleich zu Beginn des Romans schließt der Protagonist sich explizit den Thesen des Kopernikus und Keplers an: »je crois, […] que la Lune est un monde comme celui-ci ; — qui le nútre sert de Lune.« (Bergerac: 1962, 113 f.) Der Protagonist unternimmt eine Mondreise – mit dem Ziel »de faire conno„tre aux hommes que la Lune est un monde« (Bergerac: 1962, 114). D.h., er schließt sich implizit der Behauptung des Galilei an, der Mond gleiche (hinsichtlich seiner Landschaftsformen) der Erde. Übrigens dient auch dem Protagonisten in Bergeracs Roman ein Buch als Auslöser für die Mondreise: Nachdem er nämlich in einem Buch von Cardanus von einem Besuch zweier Mondbewohner auf der Erde gelesen hat, möchte er sich selbst auf den Weg dorthin machen und beweisen, dass der Mond bewohnt ist. Der erste Versuch, mittels Tauflaschen zum Mond zu fliegen, scheitert, denn der Reisende landet nicht dort, sondern in La Nouvelle-France (Kanada), und zwar deshalb, weil sein Gewicht die Anziehungskraft der Sonne überstiegen hat. Vergeblich war der Flug aber dennoch nicht, weil er die Annahme des Kopernikus von der Erdrotation bestätigt hat: »Ce qui accrut mon ¦tonnement, ce fut de ne point conno„tre le pays o¾ j’¦tois, vu qu’il me sembloit qu’¦tant mont¦ droit, je devois Þtre descendu au mÞme lieu d’o¾ j’¦tois parti.« (Bergerac: 1962,

245 Pierre Gassendi erscheint zweimal namentlich im Roman. Der Dämon des Sokrates, dem der Protagonist auf dem Mond begegnet, berichtet davon, dass er Gassendi getroffen und (wie vermutlich auch Cyrano de Bergerac) seine Vorlesungen gehört habe: »J’ai fr¦quent¦ […] en France La Mothe Le Vayer et Gassendi. Ce second est un homme qui ¦crit autant en Philosophe que ce premier y vit.« (Bergerac: 1962, 136) Außerdem erzählt der Vizekönig von La Nouvelle-France, dass er in Büchern von Gassendi über die Erdrotation gelesen habe: »aussi bien, ai-je-lu, sur ce sujet, quelques Livres de Gassendi.« (Bergerac: 1962, 120)

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32) Wie Gonsales in Godwins Mondroman leitet auch Bergeracs Protagonist die Erkenntnis der Erdrotation einzig aus der Empirie ab. Ebenfalls wie bei Godwin lassen sich auch in Bergeracs Roman Schutzmaßnahmen ausmachen, zum Beispiel vertritt größtenteils nicht der Protagonist selbst die neuen naturwissenschaftlichen Erkenntnisse, sondern seine Gesprächspartner auf dem Mond. Eine Schutzfunktion erfüllt daneben selbstverständlich auch die Wahl des Mondes als Handlungsort: Le voyage permet — la fois de d¦centrer l’objet du discours, puisque formellement c’est la r¦alit¦ de l’ailleurs et non celle de notre monde qu’il sera prioritairement question, de d¦gager dans une certaine mesure la responsabilit¦ de l’¦nonciateur, puisque le voyageur se borne — rapporter ce qu’on lui a dit ou ce qu’il a observ¦ sans chercher — formuler des opinions propres […]. (Racault: 2003, 73)

Cyrano de Bergeracs Mondutopie vermittelt auf unterhaltsame Weise zeitgenössisches Wissen, auf diese Weise verbindet auch er Naturwissenschaft und literarische Fiktion. Dies wird zum Beispiel an der überaus wissenschaftlichen Beschreibung des ersten Fluggerätes für den Mondflug deutlich, die weitgehend dem Wissen der damaligen experimentellen Physik entspricht.246 Dieser Rekurs auf die Physik stellt eine wichtige »Strategie der Plausibilisierung« (Kuhnle: 2003, 53) dar. Die entsprechende Romanpassage lautet: J’avois attach¦ autour de moi quantit¦ de fioles pleines de ros¦e, sur lesquelles le Soleil dardoit ses rayons si violemment, que la chaleur, qui les attiroit, comme elle fait les plus grosses nu¦es, m’¦leva si haut, qu’enfin je me trouvai au-dessus de la moyenne r¦gion. Mais, comme cette attraction me faisoit monter avec trop de rapidit¦, et qu’au lieu de m’approcher de la Lune, comme je pr¦tendois, elle me paroissoit plus ¦loign¦e qu’— mon d¦part, je cassai plusieurs de mes fioles, jusques — ce que je sentis que ma pesanteur surmontoit l’attraction, et que je redescendois vers la terre. (Bergerac: 1962, 115)

Bergerac wagt sich auch an das heikle Thema des heliozentrischen Weltbildes heran. Im Roman vertritt der Protagonist selbst diese Lehre, allerdings stellt er diese nicht als seine persönliche Meinung, sondern als Erkenntnis des Menschenverstandes dar : »il est du sens commun de croire que le Soleil a pris la place au centre de l’univers […].« (Bergerac: 1962, 118) Das heliozentrische Weltbild wird an dieser Stelle damit begründet, dass alle natürlichen Körper des Urfeuers (d. h. der Sonne) bedürfen und die Natur diese Ursache alles Lebens ins Zentrum gesetzt hat, so wie die Zeugungsorgane sich auch in der Mitte des menschlichen Körpers befinden.247 Diese Begründung steht in der langen Tradition der Analogie von Mikro- und Makrokosmos. 246 Vgl. hierzu Gipper : 2002, 72 f. 247 Die Idee des Zentralfeuers geht auf die Lehre des Pythagoras zurück.

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Wie bereits eingangs erwähnt, ist auch Cyrano de Bergeracs Mondreisender – wie vor ihm Keplers und Godwins – der Schwerelosigkeit ausgesetzt. Sein zweiter Flugversuch ist erfolgreich: Er baut sich nämlich eine Maschine, die Soldaten in La Nouvelle-France zum Spaß mit Knallkörpern behängt haben. Diese zündet er an, und weil er sich mit Ochsenmark eingerieben hat, gelangt er in das Schwerefeld des Mondes, da der Erdtrabant im Zustand des Vollmondes – so ein damals verbreiteter Aberglaube – das Knochenmark der Tiere aufsaugt. Somit zieht er nun auch den Protagonisten an. Cyrano de Bergerac antizipiert hier die Gravitationstheorie Isaac Newtons (1642 – 1727) und stützt sich, ebenso wie diese, auf die Erkenntnisse Johannes Keplers. Erneut ist Bergerac um eine physikalisch korrekte Beweisführung bemüht. Die entsprechende Passage orientiert sich dabei stark an Godwins Beschreibung der Schwerelosigkeit: Quand j’eus perc¦, selon le calcul que j’ai fait depuis, beaucoup plus des trois quarts du chemin qui s¦pare la Terre d’avec la Lune, je me vis tout d’un coup choir les pieds en haut, sans avoir culbut¦ en aucune faÅon ; encore, ne m’en fuss¦-je pas aperÅu, si je n’eusse senti ma tÞte charg¦e du poids de mon corps. (Bergerac: 1962, 125)

Damit komme ich auf die Frage nach Leben auf dem Mond zurück: Diese Frage wurde zur Zeit Bergeracs völlig kontrovers diskutiert. Er bevölkert seinen Mond mit menschenähnlichen Wesen, weil sich so – unter Berücksichtigung der Gattungstradition der Utopie – Aussagen über die Lunarier in irgendeiner Weise auf die Erdbewohner beziehen lassen. Zunächst und vor allem erfüllen Bergeracs Ausführungen im Roman den Zweck, die Unsinnigkeit jeglicher Art von Anthropozentrismus offenzulegen. Ein kurzes Beispiel kann dies belegen: Entgegen des von Kirche und Bibel vertretenen Bildes des Menschen als Krone der Schöpfung wird der Protagonist im Roman von den Lunariern zum Tier (Affen, federlosen Vogel u. ä.) erklärt. Der Autor wendet sich damit gezielt gegen das Überlegenheitsdenken vieler seiner Zeitgenossen:248 Der Protagonist wird wie ein Zirkustier behandelt und gezwungen, die Lunarier zu unterhalten: »[L]e bateleur me porta — son logis, o¾ il m’instruisit — faire le godenot, — passer des culbutes, — figurer des grimaces ; et, les aprÀs-din¦es, il faisoit prendre — la porte un certain prix, de ceux qui me vouloient voir.« (Bergerac: 1962, 133 f.) Cyrano de Bergerac wollte mit dieser Episode kaum nahelegen, dass der Mensch das eigentliche ›Tier‹ sei. Der Autor nutzt hier vielmehr das Mittel der satirischen Verkehrung und Überspitzung, um zu zeigen, dass es mindestens ebenso viele und ebenso gute Gründe gibt, den Menschen nicht von vornherein als dem Tier übergeordnet zu betrachten, wie ihn geringer zu schätzen. Der Höhepunkt dieser Satire wird erreicht, als der Protagonist, von dem man an248 Vgl. hierzu Gnüg: 1999, 90: »Geschickt nutzt Cyrano die Fiktion der Mondreise eines Erdbewohners, um in den offenkundig verkehrten Ansichten der Mondbewohner über die Erde die bornierten Meinungen seiner Zeitgenossen […].«

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nimmt, er sei ein Weibchen, dem – nach Meinung der Lunarier – passenden Männchen, nämlich dem ebenfalls auf dem Mond gelandeten Spanier Gonsales, zugeführt wird, um Nachkommen dieser unbekannten Art zu züchten. Das Gelingen dieses Unterfangens kontrollieren die Lunarier durch regelmäßiges Abtasten des Bauches des Protagonisten. Selbst der König und die Königin beteiligen sich daran: »le Roi et la Reine prenoient eux-mÞmes assez souvent la peine de me t–ter le ventre, pour conno„tre si je n’emplissois point, car ils br¾loient d’une envie extraordinaire d’avoir de la race de ces petits animaux.« (Bergerac: 1962, 156)

4.2.4 Schlussbemerkungen Für den Nachweis einer europäischen Teilglobalisierung wurde im vorliegenden Kapitel die Verbreitung eines relativ marginalen Themas gewählt, nämlich der poetischen Fiktionalisierung einer Mondreise, die vornehmlich als Flug zum Mond gestaltet ist. Das Vorkommen dieses Themas in mehreren frühneuzeitlichen europäischen Nationalliteraturen belegt deren Vernetzung umso deutlicher. Dies gilt auch, wenn sich die entsprechenden narrativen Texte, wie aufgezeigt werden konnte, recht stark voneinander unterscheiden können. Allen gemein ist, dass es sich jeweils um ein Paradebeispiel der science fiction – wobei dieser Begriff durchaus problematisch ist – handelt, denn in diesen Fiktionalisierungen von Mondreisen werden Naturwissenschaft und poetische Fiktion miteinander verbunden, und zwar mit dem mehr oder weniger expliziten Ziel einer Popularisierung zeitgenössischer naturwissenschaftlicher Theorien und Erkenntnisse. Zugleich spielt die Erzielung des ästhetischen Effekts, nämlich das Wunderbare in den Texten zu erhöhen, eine nicht zu vernachlässigende Rolle. Auch diese Texte sind zuerst poetische Konstruktionen, die unter den Bedingungen der ihnen eigentümlichen Rezeptionsweise wirken sollen. Das Verhältnis von Naturwissenschaft und Fiktion kann dabei ganz unterschiedlich gestaltet sein und der wissenschaftliche Schwerpunkt variieren. Die beiden möglichen Pole bilden unter den hier präsentierten Mondfiktionen Keplers Erzählung und Bergeracs Roman. In Letzterem stehen das Abenteuer und die Utopie im Vordergrund. Bergeracs Mond erfüllt vornehmlich eine subversive Funktion, indem der Autor ihn primär dazu nutzt, zu zeitgenössischen Problemen philosophischer, politischer und anthropologischer Art auf poetische Weise Stellung zu beziehen. Die naturwissenschaftlichen Einschübe dienen zwar auch der Plausibilisierung des Erzählten, aber es handelt sich dennoch nicht um eine rein utilitaristische Verwendung dieses Wissens; vielmehr ist Cyrano de Bergerac Vertreter und Fürsprecher dieses Wissens. Es handelt sich auch hierbei nicht mehr um die rein literarische Mondfiktion, die

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beispielsweise Lukian verfasst hat. In Keplers Somnium hingegen überwiegen die Naturwissenschaft und der wissenschaftliche Anspruch – allein schon quantitativ durch den ausführlichen wissenschaftlichen Anmerkungsapparat. Zugespitzt könnte man sagen, dass die narrative Traumfiktion hier einen Vorwand darstellt, um auf einem allgemeinverständlichen Niveau naturwissenschaftliche Betrachtungen anzustellen, und sie zunächst und vor allem im Sinne einer Popularisierung entsprechender Erkenntnisse eingesetzt wird.249 Würde man das Thema der Mondreise in der europäischen Literatur weiterverfolgen, so ließe sich im Laufe der Geschichte eine zunehmende Aufladung des fiktionalen Textes mit naturwissenschaftlichem Wissen beobachten. Damit einher geht eine zunehmende ›Entromantisierung‹ und ›Entzauberung‹, die der Mythologisierung des Mondes beispielsweise in Gedichten der Romantik und in Bildern Caspar David Friedrichs (1774 – 1840) entgegensteht und diese demontiert und die im futuristischen Manifest Uccidiamo il chiaro di Luna! (1909) (Marinetti: 1968, 14 – 26) in aller Radikalität zum Programm erhoben werden wird: »Fu cos‡ che trecento lune elettriche cancellarono coi loro raggi di gesso abbagliante l’antica regina verge degli amori.« (Marinetti: 1968, 22) In den hier analysierten Beispielen frühneuzeitlicher poetisch fiktionalisierter Reisen zum Mond ist eine solche Entmythologisierung im Gegensatz hierzu nicht anzutreffen. Die Autoren sind vielmehr darum bemüht, Mondmythologie und neue Wissenschaft produktiv miteinander zu verbinden. Kein Text zeugt mehr von diesem Ansinnen als Keplers Somnium.

249 Interessant ist in diesem Sinne Anmerkung 44, in der Kepler eine ›Modernisierung‹ der Magie vornimmt, indem er die Ähnlichkeit zwischen ihren Methoden und zeitgenössischen streng naturwissenschaftlichen Vorgehensweisen behauptet: Dass die Mutter ihren Sohn in der Erzählung dazu auffordert, das Gesicht mit einem Tuch zu verhüllen, bevor sie die magischen Worte spricht, die den Dämon aus Levania herbeirufen, veranlasst Kepler zu folgender Bemerkung: »Haec quoque magica ceremonia: cui respondet in ratione docendi Astronomiam, quod ea nequaquam est professoria seu extemporanea, sed indiget omnis expedita responsio quiete, recollectione sensuum, conceptisque verbis. In particulari observationis cujusdam praxi, quae mihi Pragae circa illos annos crebra erat […]; solitus ego sum prius ab illis colloquentibus me subducere in angulum domus proximum, ad hoc opus electum, diei lucem excludere, fenestellam aptare minutissimo ex foramine, parietem albo vestire […]. Hae mihi caeremoniae, hi ritus […].« (Kepler : 1993, 338)

5.

Fazit

Im Jahre 2005 erschien der von Teresa Pinheiro und Natascha Ueckmann herausgegebene Sammelband Globalisierung avant la lettre. Reiseliteratur vom 16. bis zum 21. Jahrhundert, innerhalb dessen zwischen drei großen Phasen unterschieden wird: Erste Globalisierung (16. bis 18. Jahrhundert), zweite Globalisierung (19. Jahrhundert) und dritte Globalisierung (20. bis 21. Jahrhundert). Diesem Band und der vorliegenden Untersuchung ist gemein, dass der Beginn des Phänomens der Globalisierung im 16. Jahrhundert angesetzt wird. Weisen die zahlreichen Beiträge des Sammelbandes sich vollziehende Globalisierungsprozesse im Bereich der Reiseliteratur vom 16. bis zum 21. Jahrhundert nach, so war es Ziel dieser Untersuchung, Tendenzen der Globalisierung am Beispiel der europäischen Teilglobalisierung in der Frühen Neuzeit und damit im 16. und 17. Jahrhundert aufzuzeigen, und zwar konkret anhand von Diskursformen, Gattungen und Motiven. Dass der Protagonist in Cyrano de Bergeracs Mondfiktion mit seinem Fluggerät zunächst in La Nouvelle-France in Kanada statt auf dem Mond landet, schafft zwar eine Brücke zur Verbindung von Globalisierung und Reiseliteratur, jedoch kam es auf diese hier nicht an. Ziel der vorliegenden Untersuchung war es, die Ansätze zur Globalisierung, die die frühneuzeitliche Literatur aufweist, anhand ausgewählter Beispiele systematisch zu erfassen, zumal eine solche Studie bislang noch ausstand. Im Gegensatz hierzu ist der Zusammenhang von Globalisierung und Literatur aus dem 20. Jahrhundert bereits vielfach Gegenstand umfangreicher Forschungen geworden.250 War die Welt in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts durch die elektronische Vernetzung für den Medien- und Kommunikationstheoretiker Marshall McLuhan zum »global village« (McLuhan: 1962, 31)251 geworden, so war dies nur möglich, weil dieser Prozess spätestens schon seit dem 11. Jahr250 Vgl. hierzu beispielsweise Schmeling/Schmitz-Emans/Walstra: 2000. 251 Der dazu viel zitierte Satz lautet: »The new electronic interdependence recreates the world in the image of a global village.« (Mc Luhan: 1962: 31) Zur Begrifflichkeit vgl. Eric McLuhan: 1996.

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Fazit

hundert vorbereitet worden war. Diese Studien wurden hier im Bewusstsein vorgelegt, dass es sich in der Frühen Neuzeit nur um eine Phase beschleunigter Globalisierungsprozesse im Zuge des Auf- und Ausbaus transatlantischer Beziehungen handelt. Tatsächlich können wir weiträumige globale Wechselprozesse, die auch Auswirkungen auf die Literatur hatten, konstatieren, seit mit den Kreuzzügen (seit dem ausgehenden 11. Jahrhundert) und der nachfolgenden Ausrichtung des Blicks auf Indien und China die globale Erfassung der eurasischen Kontinentalplatte und ihrer Kulturräume (seit dem 13. Jahrhundert) einsetzte.

6.

Literaturverzeichnis

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