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German Pages 653 [654] Year 2016
Christoph Hochholzer Teile und Teilhabe
Topics in Ancient Philosophy/ Themen der antiken Philosophie
Herausgegeben von / Edited by Ludger Jansen, Christoph Jedan, Christof Rapp
Band 7
Christoph Hochholzer
Teile und Teilhabe
Eine Untersuchung über Platons „Sophistes“
Zugl.: Saarbrücken, Univ., Diss., 2015
ISBN 978-3-11-045170-2 e-ISBN (PDF) 978-3-11-045363-8 e-ISBN (EPUB) 978-3-11-045197-9 ISSN 2198-3100 Library of Congress Cataloging-in-Publication Data A CIP catalog record for this book has been applied for at the Library of Congress. Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2016 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Druck und Bindung: CPI books GmbH, Leck ♾ Gedruckt auf säurefreiem Papier Printed in Germany www.degruyter.com
Vorwort Die vorliegende Arbeit wurde im Januar ���� an der Philosophischen Fakultät I der Universität des Saarlandes als Dissertation angenommen. Auf dem Weg dahin habe ich viel Unterstützung erhalten, für die ich mich herzlich bedanken möchte. Niko Strobach hat mein Promotionsprojekt betreut und mir in allen Bereichen mit Rat und Tat zur Seite gestanden. Viele Ideen, die meiner Untersuchung zugrunde liegen, entstanden in stundenlangen Gesprächen mit ihm. Ulla Wessels und Christoph Fehige haben die Arbeit durch eine Anstellung als Mitarbeiter am Lehrstuhl für Praktische Philosophie ermöglicht. Ulrich Nortmann und Thomas Buchheim haben das Zweit- und Drittgutachten verfasst. Georg Meggle und Nikos Psarros haben mich während meines Studiums an der Universität Leipzig an Platons Philosophie herangeführt. Von Luc Schneider und Mathias Brochhausen habe ich am Institute for Formal Ontology and Medical Information Science viel über formale Ontologie gelernt. Viele Korrekturen und kritische Kommentare habe ich erhalten von: Robert Armbruster, Felix Blass, Cord Friebe, Daniel Friedrich, Andrea Grisse, Alexander Gunkel, Angela Hochholzer, Rebecca Hub, Ludger Jansen, Argyri Karanasiou, Walter Mesch, Jan Michel, Julia Momper, Matthias Naumann, Tim Philippi, Martin Pleitz, Anna Schriefl, Stephan Schweitzer und Benedikt Strobel. Mein Dank gilt außerdem Ludger Jansen, Christoph Jedan und Christof Rapp für die Aufnahme des Buches in der Reihe »Themen der antiken Philosophie«. Die Untersuchung wurde im September ���� mit dem Werner-Jäger-Preis für Nachwuchswissenschaftler ausgezeichnet. Dafür bedanke ich mich beim Deutschen Altphilologenverband, der Gesellschaft für antike Philosophie und der Stadt Nettetal.
Leipzig, März ����
Christoph Hochholzer
Inhalt Teil 1 1
Einleitung � 3
2 2.1 2.1.1
Dihairetik � 19 Sokratische Dihairetik � 20 Die τί ἐστιν-Frage und Teile von Formen in den frühen Dialogen � 20 Teile des Wahnsinns, Metaphysik, Dialektik und Rhetorik im PHAIDROS � 27 Eleatische Dihairetik � 38 Das Grundmodell der Methode � 40 Die oberste Gattung � 41 Dihairese � 43 Klassifizierung � 50 Iteration � 50 Abschluss � 57 Natürliche Glieder � 60 Die Regel der Trennung � 62 Die Regel der wenigen Arten und die Regel der Kleinschrittigkeit � 63 Die Regel der Vollständigkeit � 68 Die Regel der gleichen Hinsicht � 71 Die Regel disjunktiver und negativer Arten � 73 Anwendung und Missachtung der Regeln im SOPHISTES und POLITIKOS � 74 Dihairetik als Erkenntnismethode � 76 Intensionale Mereologie � 78 Die Verknüpfung von Dihairesen � 88 Die Dihairese der Kunst � 88 Copy & Paste � 90 Dihairese und Synagôgê der artspezifischen Differenz � 92 Artspezifische Differenzen und die Semantik von Definitionsausdrücken � 93 Zur Metaphorik des Weges und der Jagd � 97
2.1.2 2.2 2.2.1 2.2.1.1 2.2.1.2 2.2.1.3 2.2.1.4 2.2.1.5 2.2.2 2.2.2.1 2.2.2.2 2.2.2.3 2.2.2.4 2.2.2.5 2.2.2.6 2.2.2.7 2.2.3 2.2.4 2.2.4.1 2.2.4.2 2.2.4.3 2.2.5 2.2.6
viii � Inhalt
3 3.1 3.2 3.3 3.3.1 3.3.2 3.3.3
Die Verknüpfung der Gattungen � 103 Die Spätlerner und das Problem des ›many over one‹ � 104 Eigenschaften von Formen � 109 Eine Ambiguität im SOPHISTES? � 115 Das Problem � 115 Vlastos’ Analyse � 116 Ruhe und Bewegung in Platons Ideenlehre � 120
Logik � 123 Mehrstellige Prädikate in der Ideenlehre � 125 Das Problem der mehrstelligen Prädikate in der Ideenlehre � 126 Die Teile des Verschiedenen � 131 Mereologie und mehrstellige Prädikate � 137 Die Syntax von P2 � 141 Alphabet � 141 Formregeln � 141 Kommentare zur Definition � 142 Die Differenzbeweise � 145 Differenz 1: Ruhe ist verschieden von Bewegung (I) � 148 Differenzen 2 und 3: Ruhe und Bewegung sind verschieden vom Seienden � 151 4.3.3 Differenz 4: Selbiges ist verschieden vom Verschiedenen (I) � 162 4.3.4 Differenzen 5 bis 8: das Theorem � 165 4.3.5 Differenzen 5 und 6: Bewegung und Ruhe sind verschieden vom Verschiedenen � 171 4.3.6 Differenzen 7 und 8: Bewegung und Ruhe sind verschieden vom Selbigen � 174 4.3.7 Differenz 9: Seiendes ist verschieden vom Selbigen (I) � 175 4.3.8 Differenz 10: Seiendes ist verschieden vom Verschiedenen � 182 4.3.9 Differenz 9: Seiendes ist verschieden vom Selbigen (II) � 188 4.3.10 Differenz 4: Selbiges ist verschieden vom Verschiedenen (II) � 189 4.3.11 Differenz 1: Ruhe ist verschieden von Bewegung (II) � 190 4.4 Die formale Sprache P2 � 191 4.4.1 Die Semantik von P2 � 191 4.4.2 Allgemeingültigkeit � 194 4.4.3 Schlussregeln � 194 4.4.4 Kommentare zur Definition � 196 4 4.1 4.1.1 4.1.2 4.1.3 4.2 4.2.1 4.2.2 4.2.3 4.3 4.3.1 4.3.2
Inhalt � ix
4.5 4.5.1 4.5.1.1 4.5.1.2 4.5.1.3 4.5.1.4 4.5.1.5 4.5.1.6 4.5.1.7 4.5.1.8 4.5.1.9 4.5.1.10 4.5.1.11 4.5.2 4.5.2.1 4.5.2.2 4.5.2.3 4.5.2.4 4.5.2.5 4.6 4.7 4.8 4.9
Axiome und Theoreme von P2 � 211 Axiome von P2 � 211 Eindeutigkeitsprinzip � 211 Transitivität der Teil-Ganzes-Relation � 212 Axiom der Kleinschrittigkeit � 212 Allgemeines Ergänzungsprinzip � 213 Allgemeines Überlappungsverbot � 214 Allgemeines Vollständigkeitsprinzip � 214 Vererbung von Merkmalen � 215 Allgemeines Seinsprinzip � 215 Allgemeines Prinzip der Selbstidentität � 215 Axiom über den Gegensatz von Identität und Differenz � 215 Spezielles Seinsprinzip � 216 Theoreme von P2 � 216 ThASYM: Asymmetrie der Teil-Ganzes-Relation � 216 ThSyI: Symmetrie der Identitätsrelation � 219 ThSyD: Symmetrie der Differenzrelation � 220 ThUA: Allgemeines Prinzip der Unterarten � 222 ThSP: Das Theorem über Selbstprädikation � 224 Partikularia � 225 Versuch einer rein dihairetischen Logik � 227 Die größten Gattungen � 230 Die Wissenschaft freier Menschen � 239
Teil 2 � Ontologie � 253 �.� Der Satz des Parmenides � 253 �.�.� Der Satz � 255 �.�.� Wohin wird ›das Nicht-Seiende‹ gebracht? � 257 �.�.�.� Nicht zu Seiendem � 260 �.�.�.� Nicht zu etwas � 261 �.�.�.� Also nirgendwohin � 263 �.�.� Was wird zum Nicht-Seienden gebracht? � 268 �.�.�.� Nichts Seiendes � 269 �.�.�.� Keine Zahl � 271 �.�.� Das Selbstanwendungs-Argument � 274 �.�.� Ergebnis der Untersuchung � 279
x � Inhalt
�.� �.�.� �.�.�.� �.�.�.� �.�.� �.�.�.� �.�.�.� �.�.�.� �.�.�.� �.�.�.� �.�.� �.�.�.� �.�.�.� �.�.�.� �.�.�.� �.�.� �.�.�.� �.�.�.� �.�.�.� �.�.�.� �.�.�.� �.� �.�.� �.�.� �.�.� �.�.� �.� �.�.� �.�.� �.�.�.� �.�.�.� �.�.� �.�.�.� �.�.�.� �.�.�
Seiendes, Nicht-Seiendes und die analytische Methode � 283 Ontologie und Sprachanalyse � 284 Fredes ›… ist1 …‹ und ›… ist2 …‹ � 285 Freges vier Bedeutungen von ›ist‹ und P2 � 291 Die Verwendungen von ›… ist …‹ und ›… ist nicht …‹ in 255e3– 256d10 � 293 Das existenzielle ›… ist‹ und Fredes ›… ist2 …‹ in 256a1 � 293 Das identifizierende und das prädizierende ›… ist …‹ � 298 Vier Widersprüche in 255e11–256d10 � 302 Das existenzielle ›… ist (seiend)‹ und das deflationäre ›… ist … seiend‹ � 316 Das existenzielle ›… ist‹ und Fredes ›… ist1 …‹ � 320 Das Differenzzeichen ›Nicht-…‹ in 257b1–c3 � 321 Die Definition von ›das Nicht-Seiende‹ in 257b3–4 � 321 Vom Satznegator zum Differenzzeichen � 324 Das Nicht-Große und Fredes negative Ideen � 326 Das Differenzzeichen ›Nicht-…‹ � 330 Die Verwendung von ›seiend in Bezug auf …‹ und ›nicht-seiend in Bezug auf …‹ in 256d11–257a7 � 331 Das konverse ›ist‹ und die Arten des Seienden � 332 Das Nicht-Seiende ›κατὰ πάντα τὰ γένη‹ in 256d11–12 � 336 Die Analyse von ›κατὰ‹ und ›οὐκ ὂν‹ in 256d12–e5 � 338 ›μὴ ὂν περὶ …‹ und ›ὂν περὶ …‹ in 256e6–8 � 340 ›Das Seiende ist nicht …‹ in 257a1–7 � 343 Vatermord? � 345 Drei Bitten an Theaitetos � 345 Das Sein des Nicht-Seienden � 350 Die Apologie des Fremden und Platons Apologie � 355 1:0 gegen die Sophisten � 364 Platons philosophiehistorische Prolegomena � 371 Die ionischen und sikelischen Musen � 371 Pluralismus und Monismus � 383 Pluralismus � 383 Monismus � 393 Die Gigantenschlacht � 408 Die Erdgeborenen � 413 Die Ideenfreunde � 420 Die Aporie über das Seiende � 437
Inhalt � xi
Wahrheitstheorie � 449 Das sophistische Argument gegen die Möglichkeit falscher Sätze � 449 6.1.1 Der falsche Satz und das Nicht-Seiende � 449 6.1.2 Das Argument � 454 6.2 Die Bildtheorie des Satzes � 459 6.2.1 Der dihairetische Kontext � 459 6.2.2 Das wahre und das falsche Bild � 467 6.2.3 Die Aporie des Bildes � 473 6.2.4 Die Aporie des falschen Bildes � 477 6.3 Die Prädikationstheorie des Satzes � 481 6.3.1 Der einfache Aussagesatz � 485 6.3.1.1 Die Unterscheidung zwischen Subjekt- und Prädikatausdrücken � 486 6.3.1.2 Die Struktur des einfachen Aussagesatzes � 490 6.3.2 Theaitetos sitzt – Theaitetos fliegt � 496 6.3.3 Wahre und falsche Meinung und Erscheinung � 507 6 6.1
7 7.1 7.1.1 7.1.2 7.2 7.3 7.4 7.5 7.5.1 7.5.2 7.5.3
Die Definition der Sophistik � 513 Die Form des Sophisten � 514 Sein und Schein � 515 Korrektur und Abschluss der Untersuchung � 527 Eine Form der Jagd � 550 Drei Formen von Wissenshandel � 560 Eine Form der Kampfkunst � 567 Eine Form von Reinigungstechnik � 574 Katharsis � 575 Dihairesis � 579 Elenchos � 581
Literaturverzeichnis � 599 Abbildungsverzeichnis � 611 Stellenverzeichnis � 613 Sachregister � 635 Personenregister � 639
�
Teil 1
1 Einleitung Das Ziel der vorliegenden Untersuchung besteht in der Analyse eines Dialogs aus Platons später Schaffensperiode, des SOPHISTES. Dabei wird eine neue Interpretation der Ideenlehre herausgearbeitet, deren Fokus vor allem auf die von der Forschung kaum wahrgenommene Annahme dieser Theorie gerichtet ist, dass es Teile von Formen gibt. Platonische Formen werden in der Fachliteratur häufig als abstrakte, singuläre und unteilbare Entitäten beschrieben. Dagegen wird gezeigt, dass sie Platon hingegen als abstrakte, singuläre, aber aus Teilen bestehende Entitäten auffasst und in einem gewissen Sinn als teilbar betrachtet. Der Interpretationsansatz besteht zunächst darin, die Grundgedanken der Ideenlehre in einer semantischen Theorie über allgemeine Prädikatausdrücke zu verorten sowie in den damit verbundenen metaphysischen Annahmen über ihre Bedeutungen, die als ›Ideen‹ oder ›Formen‹ bezeichnet werden. Die zentralen Thesen dieser Theorie, die im Folgenden kurz dargestellt werden, vertritt Platon sowohl in den frühen und mittleren als auch in den späten Dialogen, in denen es um Ideen geht. Gegenstand der Ideenlehre sind zwei Typen von Aussagesätzen, nämlich erstens prädikative Aussagesätze und zweitens – das wird in der Forschung kaum berücksichtigt – Klassifikationsaussagen. Als Sinn eines prädikativen Aussagesatzes der Form ›a ist F‹ wird der Sachverhalt betrachtet, dass a an der Idee F teilhat. Der Zusammenhang wird von Platon häufig so ausgedrückt, dass a die Eigenschaft F hat bzw. F ist, weil (διὰ) a an F teilhat.1 Das lässt sich so auffassen, dass ›a hat teil an F‹ eine metaphysische oder, allgemeiner ausgedrückt, fachsprachliche Formulierung für das natürlichsprachliche Äquivalent ›a ist F‹ ist.2 Als Bedeutung eines allgemeinen
�� 1 Vgl. Phaid. ���c�–�: »Φαίνεται γάρ μοι, εἴ τί ἐστιν ἄλλο καλὸν πλὴν αὐτὸ τὸ καλόν, οὐδὲ δι᾽ ἓν ἄλλο καλὸν εἶναι ἢ διότι μετέχει ἐκείνου τοῦ καλοῦ· καὶ πάντα δὴ οὕτως λέγω.« (»Mir scheint nämlich, wenn irgendetwas anderes als das Schöne selbst schön ist, dass es dann wegen gar nichts anderem schön ist, als weil es teilhat an jenem Schönen. Und so sage ich das von allem.«) 2 Vgl. Vlastos (����: ��� f.): »Take a simple sentence in natural Greek assigning some property to some indivual, say ›Σοφός ἐστι Σωκράτης,‹ ›Sokrates is wise.‹ A familiar doctrine of Plato’s middle period correlates with each such sentence in the natural language (›NL‹) an ontological revealing (›OR‹) sentence which purports to disclose the ontological basis of its meaning and truth. Thus NL(Socrates is wise) ↔ OR(Socrates participates in Wisdom).«
4 � Einleitung
Prädikatausdrucks F wird also eine Idee oder Form der F-heit angenommen, während die Kopula ›… ist …‹ für die Relation der Teilhabe oder die Methexis verwendet wird. Im SOPHISTES und POLITIKOS wird diese Analyse dadurch eingeschränkt, dass nicht jedem allgemeinen Prädikatausdruck eine Form entspricht.3 Dies soll zunächst keine Rolle spielen, indem angenommen wird, dass die behandelten Sätze nur Prädikatausdrücke für Formen enthalten. Als Sinn einer Klassifikationsaussage der Form ›F ist eine Art der Gattung G‹ wird hingegen – das ist weniger bekannt als ersteres – der Sachverhalt betrachtet, dass die Form F ein Teil der Form G ist.4 Auch dabei werden wieder Formen als Bedeutungen von allgemeinen Prädikatausdrücken angenommen. Solche Sätze werden aber nicht mithilfe der Methexis analysiert, sondern mithilfe des zweiten Grundprädikats der ideentheoretischen Fachsprache, der TeilGanzes-Relation. Die Metaphysik der Formen und ihrer Teile wird in der vorliegenden Arbeit durch ein rein intensionales Modell adäquat und widerspruchsfrei beschrieben, was bisher als nicht möglich betrachtet wurde.5 Das bedeutet, dass Teile von Formen nicht als Teilmengen von Mengen dessen betrachtet werden, was an der jeweils ganzen Form teilhat. Sie werden stattdessen im Rahmen einer Mereologie, einer Logik von Teil und Ganzem, beschrieben. Das ist zum einen aus interpretatorischen Gründen notwendig, weil Platon Teile von Formen selbst als Formen betrachtet und Formen nicht als Mengen, sondern als singuläre Entitäten. Die Rekonstruktion der Theorie wird zum anderen deutlich machen, dass dies auch aus systematischer Perspektive möglich ist. Dabei wird nicht nur nachgewiesen, dass die Annahme von Teilen platonischer Formen textlich gesichert ist, sondern auch, dass die Ideenlehre ohne diese Annahme ihre wesentlichen systematischen Funktionen nicht erfüllen könnte. Ausgehend von der Neuinterpretation der Ideenlehre wird gezeigt, wie sie Platon im SOPHISTES für die Beantwortung von unterschiedlichsten philosophischen Fragen fruchtbar macht, ohne dabei neue metaphysische Annahmen einführen oder alte verwerfen zu müssen. So gelingen ihm erstmals ideentheoretisch fundierte Erklärungen von mehrstelligen Prädikaten und Eigenschaften von Formen. Die Analyse des Textes wird deutlich machen, wie die
�� 3 Vgl. dazu Abschnitt �.�. 4 Stellen dafür werden ausführlich in Kapitel � genannt. 5 Vgl. Brown (����: ��� f.): »An exchange between Moravcsik [(����b)] and Marc Cohen [(����)] explored the question whether these terms should be taken extensionally or intensionally: are what gets divided classes or properties or what? But, as both authors agree, neither a fully extensional nor a fully intensional reading of the key terms is possible.«
Einleitung � 5
Ideenlehre dabei für die Bearbeitung der zentralen Themen des Dialogs genutzt wird, nämlich für die Entwicklung einer Theorie des Satzes, für eine darauf aufbauende Wahrheitstheorie und schließlich für die Definition der Sophistik. Durch die Analyse der ideentheoretischen Fachsprache lassen sich Rückschlüsse auf die zugrunde liegenden metaphysischen Annahmen ziehen. Interessant sind dabei vor allem Passagen, in denen die Ideenlehre im Rahmen von strengen Beweisführungen angewendet wird. Eine Rekonstruktion der Argumente legt offen, welche fachsprachlichen Aussagen aus welchen geschlussfolgert werden, woraus sich eine entsprechende Axiologie ableiten lässt. Eine Interpretationsmethode der vorliegenden Arbeit besteht deshalb in einer logischen Analyse des Textes. Die Argumente werden dabei durch eine Logik rekonstruiert, die als eine formalsprachliche Darstellung der Ideenlehre zu verstehen ist. Diese formale Sprache P� – ›P‹ für Platon und ›�‹ für die beiden Grundprädikate der Ideenlehre – wird im ersten Teil der Arbeit Schritt für Schritt anhand der Interpretation von ausgewählten Textpassagen entwickelt: In Kapitel � geht es um die Teil-Ganzes-Relation in Definitionen und sogenannten Dihairesen, d. h. in Klassifikationen von platonischen Formen. Damit kann der Grundstein für P� als eine formale Mereologie gelegt werden. In Kapitel � geht es um die Relation der Teilhabe mit einem Schwerpunkt auf der sogenannten Theorie über die Verknüpfung von Gattungen. Es wird sich zeigen, dass es sich dabei nicht um eine Revision der früheren Ideenlehre handelt, sondern um eine konsequentere Anwendung. Nach wie vor gilt im SOPHISTES nämlich die Annahme, dass alles das F ist, was an der entsprechenden Form der F-heit teilhat. Dabei werden jedoch nicht nur Fälle betrachtet, in denen Partikulares an Formen teilhat, sondern auch Fälle, in denen Formen an Formen teilhaben, sofern sie selbst Eigenschaften haben. In Kapitel � wird schließlich anhand einer Rekonstruktion der Differenzbeweise in soph. ���d�–���e� die Entwicklung von P� abgeschlossen. Ein Problem gerade von neueren Interpretationen der analytischen Tradition besteht darin, dass sie aus der Analyse weniger und kurzer Abschnitte, die losgelöst vom argumentativen Kontext betrachtet werden, weitreichende Schlussfolgerungen ziehen wollen.6 Ein solches Vorgehen ist für den SOPHISTES jedoch ungeeignet, weil Platon in diesem Dialog verschiedene philosophische
�� 6 Vgl. de Rijk (����: �): »Interpreters of Plato must [also] resist the temptation of applying methods as disjointing the dialogue and selecting specific passages only, in their eagerness to prove that Plato was explicitly interested in (their own favourite) problems of ›identity and predication‹ (not to mention such oddities as the ›self predication of Forms‹), or the distinctions between different senses (or applications) of ›is‹.«
6 � Einleitung
Teilgebiete – nämlich vor allem die Definitionstheorie, die Ontologie, die Sprachphilosophie und die Wahrheitstheorie – miteinander in Verbindung bringt, von der Ideenmetaphysik als übergeordnete Theorie ableitet und zu einem großen philosophischen System zusammenführt. Dies alles unternimmt er für das Ziel, eine Definition des Sophisten erreichen. Deswegen sind die einzelnen Abschnitte nicht ohne den ganzen Dialog zu verstehen und es muss sich die Interpretation einer einzelnen Stelle durch die Interpretation des gesamten Textes bestätigen. Ausgehend von der formalen Sprache P� als Rekonstruktion der Ideenlehre wird im zweiten Teil der Arbeit deshalb eine Analyse der restlichen Textpassagen vorgestellt, die im ersten Teil noch nicht detailliert behandelt wurden. In Kapitel � geht es um die so genannte Ontologie, womit eine Theorie über die Bedeutung der Ausdrücke ›ὄν‹ (›Seiendes‹), ›ἔστιν‹ (›ist‹) und weiterer Formen von ›εἶναι‹ (›sein‹) gemeint ist. In Kapitel � wird die Wahrheitstheorie mit Bezug auf zwei verschiedene sprachphilosophische Theorien behandelt, die im SOPHISTES miteinander kontrastiert werden. In Kapitel � wird schließlich die Definition des Sophisten rekonstruiert. Durch dieses Vorgehen wird der Dialog nicht chronologisch dargestellt, sondern neu organisiert. Der Text wird dabei nach systematischen Gesichtspunkten hinsichtlich der verschiedenen Themengebiete zergliedert, während zunächst die metaphysischen Grundlagen geklärt werden. Der SOPHISTES ist nicht nur in Hinsicht auf die Argumentationsstruktur en gros ein sehr komplexer Dialog, so dass er als Ganzes interpretiert werden muss. Er ist aufgrund seiner sprachlichen und dramatischen Ausgestaltung auch en detail so facettenreich, dass die einzelnen Passagen ohne eine genaue Analyse kaum richtig verstanden werden können.7 Wegen dieser Interpretationsbedürftigkeit der Details wird die Methode des Textkommentars angewendet, so dass der gesamte Dialog, wenn nötig Zeile für Zeile, interpretierend kommentiert wird. Aufgrund der häufigen Bezüge auf den genauen Wortlaut, die dafür nötig sind, werden die jeweiligen Passagen im Rahmen ihrer Interpretation vollständig zitiert. Der griechische Text folgt dabei weitestgehend der Ausgabe von Diès,8 wurde aber an einigen Stellen geändert, wofür jeweils argumentiert wird. Die Zeilennummerierung bezieht sich auf dieselbe Ausgabe, die Angabe der
�� 7 Ebd.: ��: »Every student of Plato would do better to listen to him in the course of closereading. Most of all, let Plato be his own spokesman.« 8 Diès (�����).
Einleitung � 7
Seiten und Abschnitte a–e wie üblich auf die Stephanus-Ausgabe.9 Die deutsche Übersetzung ist im Rahmen der Interpretation entstanden und von ihr abhängig, wodurch sie sich von anderen Übersetzungen teils stark unterscheidet. Dabei wurde ähnlich wie von Schleiermacher10 der Versuch unternommen, die Syntax des Originals soweit es die deutsche Sprache erlaubt zu übernehmen. Dadurch soll eine möglichst zugängliche Lektüre des griechischen Textes gewährleistet werden. Darüber hinaus wurde versucht, Platons Wortwahl ähnlich wie in Heideggers Übersetzung11 möglichst getreu wiederzugeben. Daraus ergibt sich teilweise eine recht eigenwillige Sprache, die aber dadurch gerechtfertigt ist, dass auch Platons Griechisch im SOPHISTES, das sich durch eine intensive Verwendung sowohl von Fachsprache als auch von Metaphorik auszeichnet, als nicht weniger eigenwillig einzuschätzen ist. Weil die interpretationsbedürftigen Stellen intensiv kommentiert werden, wurde auf eine interpretierende Übersetzung im Stil Apelts verzichtet,12 da sie den originalen Wortlaut verfälscht. Die literarische Form des Dialogs ist nicht nur wegen seiner sprachlichen Details bemerkenswert, sondern auch wegen seiner dramatischen Ausgestaltung. Die Szene gliedert sich in eine unmittelbar aufeinanderfolgende Reihe von sieben Dialogen Platons ein, die in einer kurzen Zeitspanne um ��� v. Chr. spielen und die letzten Tage aus dem Leben des Sokrates darstellen: THEAITETOS, EUTHYPHRON, APOLOGIE, SOPHISTES, POLITIKOS, KRITON und PHAIDON. Die Geschichte beginnt im THEAITETOS, wo Sokrates durch den Mathematiker Theodoros mit zwei seiner Schüler, dem auch philosophisch hochbegabten Theaitetos und dem jüngeren Sokrates, bekannt gemacht wird.13 Es wird die Frage aufgeworfen, was Wissen (ἐπιστήμη) sei.14 Die erste Theorie, die zur Beantwortung dieser Frage angegeben wird, besteht in der relativistischen Position des Sophisten Protagoras, der zufolge für jeden das Wissen ist, was ihm erscheint.15 Daraus wird geschlussfolgert, dass es keine falsche Meinung gibt, eine prominente These der Sophisten. Im Gespräch zwischen Sokrates und Theaitetos stellt sich heraus, dass diese Position nicht haltbar ist, und dass es einen Unterschied zwischen wahrer und falscher Meinung geben muss.16 Auch die Definition von �� 9 Stephanus (����). 10 Schleiermacher (����/�����). 11 Heidegger (����–����/����). 12 Apelt (����–����/����). 13 Vgl. Tht. ���c�–���e�. Im THEAITETOS sind noch weitere Jünglinge anwesend, vgl. Tht. ���b�–c�, ���b�–�, ���d�. 14 Vgl. Tht. ���e�–���a�. 15 Vgl. Tht. ���a�–���e�. 16 Vgl. Tht. ���e�–���e��.
8 � Einleitung
Wissen als wahre Meinung17 wird als unzureichend zurückgewiesen. Abgesehen davon, dass nicht geklärt wird, was eine wahre von einer falschen Meinung unterscheidet, wird die Definition als zu weit betrachtet, weil angenommen wird, dass derjenige, der die wahre Meinung hat, zudem einen λόγος – irgend eine Art von Erklärung – für sie haben müsse, damit ein Fall von Wissen vorliegt. Der Versuch, Wissen als wahre Meinung mit λόγος zu definieren, scheitert aber, weil nicht genau geklärt werden kann, was ein λόγος ist.18 Nebenbei erfährt der Leser durch die Art und Weise der Gesprächsführung auch viel über Sokrates’ Verhältnis zum Wissen: Er tritt nicht als Lehrer auf, sondern versucht mithilfe seiner Hebammenkunst oder Mäeutik durch seinen Gesprächspartner an Wissen zu gelangen.19 Zu diesem Zweck stellt er Fragen, prüft die Antworten und zeigt mit der elenktischen Methode Widersprüche auf, die darin vorliegen. Er bringt seinen Gesprächspartner damit zunächst zu dem Wissen, dass er nichts weiß, und in diesem Sinn endet der Dialog auch aporetisch. Sokrates verabschiedet sich mit der kurzen Bemerkung, er müsse noch einen Gerichtstermin wahrnehmen, und verabredet sich mit den Anwesenden für eine Fortsetzung des Gesprächs am folgenden Tag.20 Er muss sich nämlich mit einer APOLOGIE gegen die Anklage verteidigen, die ihm schließlich den Schierlingsbecher einbringen wird. Aber vorher ereignet sich noch eine andere Episode: Vor dem Gerichtsgebäude begegnet Sokrates der Titelfigur des EUTHYPHRON und es ergibt sich ein philosophisches Gespräch. Weil Euthyphron, der gerade im Begriff ist, seinen eigenen Vater anzuklagen, behauptet »zu wissen, wie es sich mit den göttlichen Dingen verhält und mit den Frommen und Unfrommen«,21 will Sokrates sein Schüler werden. Da er selbst nämlich wegen Unfrömmigkeit angeklagt ist, erhofft er sich dadurch einen Freispruch vor Gericht.22 Nachdem Sokrates einige Definitionsversuche widerlegt, bricht Euthyphron plötzlich mit dem Kommentar auf, er sei in Eile.23 Dadurch bestätigt sich ein Eindruck, der sich im Laufe des Gesprächs bereits aufgedrängt haben dürfte, nämlich dass Euthyphron zu der Art von Leuten gehört, die selbst zwar ahnen, etwas nicht zu wissen, dies aber �� 17 Vgl. Tht. ���e��–���c�. 18 Vgl. Tht. ���c�–���d�. 19 Vgl. Tht. ���e�–���d�. 20 Vgl. Tht. ���d�–�. 21 Vgl. Euthyphr. �e�–�: »ἐπίστασϑαι περὶ τῶν ϑείων ὅπῃ ἔχει, καὶ τῶν ὁσίων τε καὶ ἀνοσίων«. 22 Vgl. Euthyphr. �a�–d�, dazu auch �a�–b�, �c�–d�, �e�–�, �a�–b�, �c�–d�, ��b�–c�, ��c��–e�. 23 Vgl. Euthyphr. ��e�–�.
Einleitung � �
nicht zugeben wollen. Sokrates zeigt sich enttäuscht, weil er entgegen seiner Hoffnung vor Gericht den Beweis nicht vorbringen kann, er sei nun über das Fromme und Unfromme belehrt worden.24 Schließlich erreicht Sokrates das Gericht, in dem er seine Verteidigungsrede hält. Es wird schnell deutlich, dass er nicht nur der Asebie, des Frevels gegenüber den Göttern, angeklagt ist, sondern dass ihm zudem vorgeworfen wird, seine Lehren zu verbreiten. Einer der Anklagepunkte lautet: »Sokrates frevelt und treibt Torheit, indem er unterirdische und himmlische Dinge untersucht und Unrecht zu Recht macht, und dies auch anderen lehrt.«25 Bezeichnend ist nun, dass Sokrates sich nicht damit verteidigt, dass er sich doch mit dem Göttlichen auskenne. Das zeugt für seine Ehrlichkeit, weil ja auch das Gespräch mit Euthyphron aporetisch ausgegangen ist. Stattdessen leugnet er sowohl, dass er ein Wissen lehrt, als auch, dass er überhaupt ein Wissen hat. Das macht er, indem er gleichzeitig seine Tätigkeit als Philosoph rechtfertigt. Er berichtet von einem Orakelspruch, demzufolge er der weiseste Mensch sei. Weil er dies nicht glauben wollte, habe er sich auf die Suche nach weiseren Menschen gemacht, die er nach ihrem Wissen ausgefragt hat. Dabei habe er festgestellt, dass diese Menschen das, was sie glauben zu wissen, nicht wissen, wodurch er begriffen habe, dass seine Weisheit darin besteht, nicht zu glauben, etwas zu wissen, was er nicht weiß. Nachdem Sokrates seine Verteidigungsrede gehalten hat, trifft er sich am nächsten Tag wieder mit seinen Freunden aus dem THEAITETOS. Hier beginnt der SOPHISTES. Θεόδωρος· Κατὰ τὴν χϑὲς ὁμολογίαν, ὦ Σώκρατες, ἥκομεν αὐτοί τε κοσμίως καὶ τόνδε τινὰ ξένον ἄγομεν, τὸ μὲν γένος ἐξ Ἐλέας, ἑταῖρον δὲ τῶν ἀμφὶ Παρμενίδην καὶ Ζήνωνα [ἑταίρων], μάλα δὲ ἄνδρα φιλόσοφον.26
Theodoros: Wie gestern verabredet, mein Sokrates, kommen wir ordnungsgemäß selbst und bringen auch diesen Fremden hier mit, der sowohl seiner Abstammung nach aus Elea als auch ein Gefährte derer aus dem Umfeld von Parmenides und Zenon ist, einen sehr philosophischen Mann.
Mit dem eleatischen Fremden ändert sich die Gesprächssituation gegenüber dem Vortag und auch gegenüber den frühen und mittleren Dialogen Platons im Allgemeinen. Während der Fremde die Gesprächsführung übernimmt, wird Sokrates dem Gespräch nur noch schweigend zuhören. �� 24 Vgl. Euthyphr. ��e�–��a�. 25 Vgl. apol. ��b�–c�: »Σωκράτης ἀδικεῖ καὶ περιεργάζεται ζητῶν τά τε ὑπὸ γῆς καὶ οὐράνια καὶ τὸν ἥττω λόγον κρείττω ποιῶν καὶ ἄλλους ταὐτὰ ταῦτα διδάσκων.« 26 Soph. ���a�–�.
�� � Einleitung
Der Fremde wird im doppelten Sinn als ein Eleat vorgestellt: Er stamme zum einen aus Elea, der griechischen Kolonie in Süditalien, und gehöre zum anderen der philosophischen Schule der Eleaten an, die in der Tradition von Parmenides und Zenon stehen. Deswegen setzt er sich im Gespräch mit Theaitetos später auch intensiv mit der Lehre des Parmenides auseinander, den er metaphorisch als seinen Vater bezeichnet.27 Die Interpretation wird zeigen, dass er ihn im Gegensatz zu Euthyphron, der seinen Vater verklagt, dabei verteidigt und seine Hauptthesen im Sinn der Ideenlehre übernimmt.28 Σωκράτης· Ἆρ᾽ οὖν, ὦ Θεόδωρε, οὐ ξένον ἀλλά τινα ϑεὸν ἄγων κατὰ τὸν Ὁμήρου λόγον λέληϑας; Ὅς φησιν ἄλλους τε ϑεοὺς τοῖς ἀνϑρώποις ὁπόσοι μετέχουσιν αἰδοῦς δικαίας, καὶ δὴ καὶ τὸν ξένιον οὐχ ἥκιστα ϑεὸν συνοπαδὸν γιγνόμενον ὕβρεις τε καὶ εὐνομίας τῶν ἀνϑρώπων καϑορᾶν. Τάχ᾽ οὖν ἂν καὶ σοί τις οὗτος τῶν κρειττόνων συνέποιτο, φαύλους ἡμᾶς ὄντας ἐν τοῖς λόγοις ἐποψόμενός τε καὶ ἐλέγξων, ϑεὸς ὤν τις ἐλεγκτικός.29
Sokrates: Solltest du, mein Theodoros, wohl nicht etwa einen Fremden, sondern entsprechend dem Vers Homers unwissentlich einen Gott mitbringen? Er sagt nämlich, dass sowohl andere Götter als nicht zuletzt auch der Gott der Fremden denjenigen Menschen, die an der gerechten Scham teilhaben, Wegbegleiter werden, um Frevel und auch Rechtschaffenheit der Menschen zu erkunden. Vielleicht folgt hier wohl auch dir einer von den Besseren, um uns, die wir schlecht in den Reden sind, zu beobachten und zu widerlegen, ein Gott der Widerlegung.
Sokrates’ Vermutung, der Fremde sei ein Gott der Widerlegung (ϑεὸς ἐλεγκτικός) trifft zumindest insofern zu, als auch der Fremde ein Elenktiker (ἐλεγκτικός) ist, also jemand, der die Methode der Widerlegung anwendet, um Widersprüche aufzuzeigen. Besonders ausführlich geschieht dies in der Auseinandersetzung mit verschiedenen ontologischen Positionen, die er in soph. ���b�–���d� führt.30 Während er den Fremden noch nicht kennt, macht Sokrates vor allem Theodorus, mit dem er sich am Vortag im THEAITETOS unterhalten hatte, implizit Komplimente, indem er behauptet, dass er »an der gerechten Scham teilhaben« würde. Mit dieser Formulierung weist er nicht nur auf die Ideenlehre hin, sondern auch auf einen Aspekt der Elenktik. Das Ziel des Aufzeigens von Widersprüchen besteht nämlich darin, Scham (αἰδώς) hervorzurufen, die eine reinigende Funktion in Hinblick auf den Glauben haben soll, etwas zu wissen, was
�� 27 Vgl. soph. ���a�–���c� und ���c�–���e�. 28 Vgl. Abschnitte �.� und �.�. 29 Soph. ���a�–b�. 30 Vgl. Abschnitt �.�.
Einleitung � ��
man nicht weiß.31 Die Methode funktioniert also nur mit Gesprächspartnern wie Theodoros und nicht mit schamlosen Menschen, die auf diese Weise keine Reinigung (κάϑαρσις) erfahren können. Die Konsequenz, die sich daraus ergibt, solche Gespräche mit den falschen Gesprächspartnern zu führen, ist Sokrates inzwischen bewusst geworden. In der APOLOGIE hat er nämlich eindrucksvoll geschildert, wie er sich dadurch verhasst gemacht hat32 und wie daraus der Anschein hervorgegangen ist, er würde die Jugend verderben.33 Der Fremde wird später zeigen, dass auch die Sophisten in diesem Sinn schamlos sind und gerade dadurch mit ihrer Unwissenheit die Jugend verderben. Θεόδωρος· Οὐχ οὗτος ὁ τρόπος, ὦ Σώκρατες, τοῦ ξένου, ἀλλὰ μετριώτερος τῶν περὶ τὰς ἔριδας ἐσπουδακότων. Καί μοι δοκεῖ ϑεὸς μὲν ἁνὴρ οὐδαμῶς εἶναι, ϑεῖος μήν· πάντας γὰρ ἐγὼ τοὺς φιλοσόφους τοιούτους προσαγορεύω.34
Theodoros: Nicht dies, mein Sokrates, ist die Art des Fremden, sondern gemäßigter ist er als diejenigen, die sich um einen Streit bemühen. Und mir scheint dieser Mann ein Gott zwar keineswegs zu sein, wohl aber göttlich. Denn alle Philosophen nenne ich so.
Theodoros stellt klar, dass der Fremde kein Gott ist und auch nicht vorgibt, einer zu sein. Er ist damit gemäßigter als die Eristiker,35 also gemäßigter als die Sophisten, die sich um einen Streit (ἔρις) bemühen. Denn diese schreiben sich zu, was keinem Menschen zukommt, nämlich alles zu wissen.36 Allerdings hält Theodorus den Fremden, wie alle Philosophen, für göttlich. Auch diesbezüglich wird Sokrates später keine Einwände haben, hält er doch die dihairetische Methode für ein Geschenk der Götter.37 Σωκράτης· Καὶ καλῶς γε, ὦ φίλε. Τοῦτο μέντοι κινδυνεύει τὸ γένος οὐ πολύ τι ῥᾷον ὡς ἔπος εἰπεῖν εἶναι διακρίνειν ἢ τὸ τοῦ ϑεοῦ· πάνυ γὰρ ἇνδρες οὗτοι παντοῖοι φανταζόμενοι διὰ τὴν τῶν ἄλλων ἄγνοιαν »ἐπιστρωφῶσι πόληας«, οἱ μὴ πλαστῶς ἀλλ᾽ ὄντως φιλόσοφοι, καϑορῶντες
Sokrates: Und sicherlich zu Recht, mein Freund. Allerdings ist zu befürchten, dass diese Gattung, wie man sagt, nicht viel leichter herauszusondern ist als die des Gottes. Denn diese Männer erscheinen wegen der Unwissenheit der anderen durchaus vielartig, wenn sie sich »der Stadt zuwenden«, nicht die vorgeblichen, sondern die
�� 31 Vgl. soph. ���b�–���b� bzw. Abschnitt �.�. 32 Vgl. apol. ��b�–��e�. 33 Vgl. apol. ��e�–��b�. 34 Soph. ���b�–c�. 35 Vgl. soph. ���e�–���a� bzw. Abschnitt �.�. 36 Vgl. soph. ���e�–���a� bzw. Abschnitt �.�.�. 37 Vgl. Phileb. ��c�–��a�.
�� � Einleitung
ὑψόϑεν τὸν τῶν κάτω βίον, καὶ τοῖς μὲν δοκοῦσιν εἶναι τοῦ μηδενὸς [τίμιοι], τοῖς δ᾽ ἄξιοι τοῦ παντός· καὶ τοτὲ μὲν πολιτικοὶ φαντάζονται, τοτὲ δὲ σοφισταί, τοτὲ δ᾽ ἔστιν οἷς δόξαν παράσχοιντ᾽ ἂν ὡς παντάπασιν ἔχοντες μανικῶς. Τοῦ μέντοι ξένου ἡμῖν ἡδέως ἂν πυνϑανοίμην, εἰ φίλον αὐτῷ, τί ταῦϑ᾽ οἱ περὶ τὸν ἐκεῖ τόπον ἡγοῦντο καὶ ὠνόμαζον. Θεόδωρος· Τὰ ποῖα δή; Σωκράτης· Σοφιστήν, πολιτικόν, φιλόσο φον.38
wahren Philosophen, wenn sie von oben das Leben der Niederen erkunden, und manchen erscheinen sie nichts wert, manchen aber über alles. Und manchmal erscheinen sie als Politiker, manchmal als Sophisten und manchmal dürften sie wohl die Meinung veranlasst haben, als verhielten sie sich völlig wahnsinnig. Von dem Fremden würde ich allerdings gerne erfahren, wenn es ihm lieb ist, wie sie diese in seinem Umfeld einschätzen und nennen. Theodoros: Welche denn? Sokrates: Den Sophisten, den Politiker und den Philosophen.
Weil dem Fremden die Eigenschaft zugesprochen wurde, ein Philosoph zu sein, leitet Sokrates – wie üblich – das Gespräch zur entsprechenden Was-ist-Frage nach der Form (hier: γένος, Gattung) des Philosophen über. Sofern man den Ausdruck verwendet, muss man auch die entsprechende Form, die seine Bedeutung ist, heraussondern (διακρίνειν) können. Dies geschieht mit einer diakritischen, d. h. heraussondernden oder trennenden, Kunst,39 der Dihairetik.40 Sokrates spricht wohl aus eigener Erfahrung, die er gesammelt hat, als er sich im Gespräch mit den Menschen »der Stadt zuwenden«41 wollte. Das Problem besteht darin, dass Philosophen, Sophisten und Politiker häufig miteinander verwechselt werden, weshalb es notwendig wird, alle drei Formen zu bestimmen. Der Fremde wird zu diesem Zweck die entsprechenden Dihairesen durchführen und Gründe für die Verwechslungen aufzeigen.42 Θεόδωρος· Τί δὲ μάλιστα καὶ τὸ ποῖόν τι περὶ αὐτῶν διαπορηϑεὶς ἐρέσϑαι διενοήϑης; Σωκράτης· Τόδε· πότερον ἓν πάντα ταῦτα ἐνόμιζον ἢ δύο, ἢ καϑάπερ τὰ ὀνόματα τρία, τρία καὶ τὰ γένη διαιρούμενοι καϑ᾽ ἓν ὄνομα [γένος] ἑκάστῳ προσῆπτον;
Theodoros: Was im Besonderen und von welcher Art ist es, was du im Zweifel über sie zu erfragen gedenkst? Sokrates: Dies: Ob sie dies alles eins nannten oder zwei oder ob sie ganz wie die drei Namen auch drei Gattungen unterschieden und jeder einzelnen einen Namen anhefteten?
�� 38 Soph. ���c�–���a�. 39 Vgl. soph. ���c� und ���c�. 40 Vgl. Abschnitt �.�.�. 41 Sokrates zitiert dabei Homer, vgl. soph. ���c� und Hom. Od. ��.���. 42 Vgl. Kapitel �.
Einleitung � ��
Θεόδωρος· Ἀλλ᾽ οὐδείς, ὡς ἐγᾦμαι, φϑόνος αὐτῷ διελϑεῖν αὐτά· ἢ πῶς, ὦ ξένε, λέγωμεν; Ξένος· Οὕτως, ὦ Θεόδωρε. Φϑόνος μὲν γὰρ οὐδεὶς οὐδὲ χαλεπὸν εἰπεῖν ὅτι γε τρί᾽ ἡγοῦντο· καϑ᾽ ἕκαστον μὴν διορίσασϑαι σαφῶς τί ποτ᾽ ἔστιν, οὐ σμικρὸν οὐδὲ ῥᾴδιον ἔργον.43
Theodoros: Gewiss hat er, wie ich meine, keine Bedenken dies durchzugehen. Oder wie sollen wir sagen, Fremder? Fremder: Genau so, mein Theodoros. Bedenken habe ich nämlich keine, noch ist es auch schwer zu sagen, dass sie es für dreierlei hielten. Von jedem einzelnen aber klar abzugrenzen, was es ist, das ist weder ein kleines noch ein leichtes Werk.
Sokrates geht zunächst einen Schritt zurück und fragt, ob die Ausdrücke ›Sophist‹, ›Politiker‹ und ›Philosoph‹ synonym sind oder verschiedene Formen bezeichnen.44 Weil der Fremde als Eleat vorgestellt wurde, ist zu erwarten, dass er der These »ἓν πάντα« zustimmt und annimmt, dass »alles eins« ist.45 Dem ist aber nicht so. Er geht von einer offensichtlichen Bedeutungsverschiedenheit aus, deren Nachweis er jedoch für schwierig hält. Der Differenzbeweis besteht nämlich im Definieren – Abgrenzen, διορίσασϑαι – der drei Formen. Θεόδωρος· Καὶ μὲν δὴ κατὰ τύχην γε, ὦ Σώκρατες, λόγων ἐπελάβου παραπλησίων ὧν καὶ πρὶν ἡμᾶς δεῦρ᾽ ἐλϑεῖν διερωτῶντες αὐτὸν ἐτυγχάνομεν, ὁ δὲ ταὐτὰ ἅπερ πρὸς σὲ νῦν καὶ τότε ἐσκήπτετο πρὸς ἡμᾶς· ἐπεὶ διακηκοέναι γέ φησιν ἱκανῶς καὶ οὐκ ἀμνημονεῖν.46
Theodoros: Und in der Tat, mein Sokrates, hast du, wie es die Fügung will, Gedanken aufgegriffen, die denen ganz nahe stehen, worüber wir ihn füglicherweise schon ausgefragt haben, bevor wir hier ankamen. Er hat aber das, was er jetzt dir gegenüber, auch vorher schon uns gegenüber vorgeschützt. Denn dass er davon schon ausreichend gehört hat, hat er zugestanden, und dass er es nicht vergessen hat.
Der Fremde wird mehr oder weniger dazu verpflichtet, eine Untersuchung durchzuführen, darf sich aber ihre Form aussuchen. Σωκράτης· Μὴ τοίνυν, ὦ ξένε, ἡμῶν τήν γε πρώτην αἰτησάντων χάριν ἀπαρνηϑεὶς γένῃ, τοσόνδε δ᾽ ἡμῖν φράζε. Πότερον εἴωϑας ἥδιον αὐτὸς ἐπὶ σαυτοῦ μακρῷ λόγῳ διεξιέναι λέγων τοῦτο ὃ ἂν ἐνδείξασϑαί τῳ βουληϑῇς, ἢ δι᾽ ἐρωτήσεων, οἷ-
Sokrates: Werde also keiner, mein Fremdling, der die Gunst verweigert, die zum ersten Mal von uns erbeten wurde: Ob du gewohnt bist, lieber selbst für dich eine lange Rede haltend dies durchzugehen, was du einem aufzeigen willst, oder durch Fragen, so wie ich damals auch beim Parmenides war,
�� 43 Soph. ���a�–b�. 44 Zur Debatte über dieser Frage in Platons Zeit vgl. Wolff (����: �� f. u. �� ff.) und dazu Crivelli (����: ��). 45 Vgl. soph. ���b�–���e� bzw. Abschnitt �.�.�.�. 46 Soph. ���b�–�.
�� � Einleitung
όν ποτε καὶ Παρμενίδῃ χρωμένῳ καὶ διε- der es so machte und sehr schöne Gedanken ξιόντι λόγους παγκάλους παρεγενόμην durchforstete, als ich noch ein Jüngling war, jener ἐγὼ νέος ὤν, ἐκείνου μάλα δὴ τότε ὄντος aber schon sehr alt. πρεσβύτου;47
Die Unterscheidung zwischen dem Monolog und dem Dialog spielt auf die besondere Form der platonischen Texte selbst an und wird auch später für den Gegenstand der Untersuchung relevant.48 Sokrates nutzt die Gelegenheit, um darauf hinzuweisen, dass er Parmenides kennengelernt und ein Gespräch mit ihm geführt hat. Damit stellt er seine Gesprächsführung in die Tradition der Eleaten und weist somit auf eine Gemeinsamkeit mit dem Fremden hin. Platon stellt gleichzeitig einen Bezug zu seiner gleichnamigen Schrift, dem PARMENIDES, her, die von dem Gespräch berichtet. Anders als Sokrates auf dem Marktplatz will der Fremde das Gespräch nur mit jemandem führen, der für eine Reinigung durch die elenktische Methode empfänglich ist.49 Ξένος· Τῷ μέν, ὦ Σώκρατες, ἀλύπως τε καὶ εὐηνίως προσδιαλεγομένῳ ῥᾷον οὕτω, τὸ πρὸς ἄλλον· εἰ δὲ μή, τὸ καϑ᾽ αὑτόν.50
Fremder: Jedenfalls mit einem, mein Sokrates, der schmerzfrei und gut zu zügeln ist, lieber auf diese Weise unterhaltend, das mit einem anderen; andernfalls das mit mir selbst.
Da er ihn bereits aus dem Dialog des Vortages kennt, empfiehlt Sokrates den Theaitetos als Gesprächspartner. Σωκράτης· Ἔξεστι τοίνυν τῶν παρόντων ὃν ἂν βουληϑῇς ἐκλέξασϑαι, πάντες γὰρ ὑπακούσονταί σοι πρᾴως· συμβούλῳ μὴν ἐμοὶ χρώμενος τῶν νέων τινὰ αἱρήσῃ, Θεαίτητον τόνδε, ἢ καὶ τῶν ἄλλων εἴ τίς σοι κατὰ νοῦν.51
Sokrates: Es ist also an dir, von den Anwesenden auszusuchen, wen du willst, denn alle werden dir zahm gehorchen. Wenn du mich aber als Berater nimmst, dann wirst du einen von den Jünglingen wählen, den Theaitetos oder einen von den anderen, der deinem Geist entspricht.
Damit ist der Fremde zur Gesprächsführung verpflichtet.
�� 47 Soph. ���c�–�. 48 Vgl. soph. ���b�–�� und ���a��–b�. 49 Vgl. dazu Abschnitt �.�.�. 50 Soph. ���c�–d�. 51 Soph. ���d�–�.
Einleitung � ��
Ξένος· Ὦ Σώκρατες, αἰδώς τίς μ᾽ ἔχει τὸ νῦν πρῶτον συγγενόμενον ὑμῖν μὴ κατὰ σμικρὸν ἔπος πρὸς ἔπος ποιεῖσϑαι τὴν συνουσίαν, ἀλλ᾽ ἐκτείναντα ἀπομηκύνειν λόγον συχνὸν κατ᾽ ἐμαυτόν, εἴτε καὶ πρὸς ἕτερον, οἷον ἐπίδειξιν ποιούμενον· τῷ γὰρ ὄντι τὸ νῦν ῥηϑὲν οὐχ ὅσον ὧδε ἐρωτηϑὲν ἐλπίσειεν ἂν αὐτὸ εἶναί τις, ἀλλὰ τυγχάνει λόγου παμμήκους ὄν. Τὸ δὲ αὖ σοὶ μὴ χαρίζεσϑαι καὶ τοῖσδε, ἄλλως τε καὶ σοῦ λέξαντος ὡς εἶπες, ἄξενόν τι καταφαίνεταί μοι καὶ ἄγριον. Ἐπεὶ Θεαίτητόν γε τὸν προσδιαλεγόμενον εἶναι δέχομαι παντάπασιν ἐξ ὧν αὐτός τε πρότερον διείλεγμαι καὶ σὺ τὰ νῦν μοι διακελεύῃ.52
Fremder: Mein Sokrates, eine gewisse Scham ergreift mich, dass ich, der ich nun zum ersten Mal unter euch gekommen bin, nicht durch ein kurzes Wort nach dem anderen die Zusammenkunft gestalte, sondern eine ausgedehnte zusammenhängende Rede ausbreite, ob vor mir selbst oder einem anderen gegenüber, als wenn ich eine Schaustellung veranstalten wollte. Denn in der Tat ist das jetzt Versprochene nicht so, wie es zu sein wohl jemand erhoffen dürfte, wenn er danach fragt, sondern gerade die Sache einer sehr langen Rede. Aber dir wiederum nicht gefällig zu sein und diesen hier, zumal auch bei deinen eben gesprochenen Worten, scheint mir einem Fremden nicht zu ziemen, sondern einem Bauern. Denn dass Theaitetos mein Gesprächspartner ist, akzeptiere ich auf alle Weise aufgrund dessen, worüber ich mich vorher selbst mit ihm unterhalten habe, und aufgrund dessen, was du mir nun angeraten hast.
Auch der Fremde hat offenbar »an der gerechten Scham« teil53 und er befürchtet, durch die Gesprächsleitung für einen Schausteller gehalten zu werden, dem es mehr um die Selbstdarstellung als um das Wissen gehe. Die »sehr lange Rede«, die er dennoch halten wird, erstreckt sich über die Dialoge SOPHISTES und POLITIKOS. Der Fremde stellt in ihr unter Beweis, dass er nicht die Kunst der Schaustellung, die er nebenbei definieren wird,54 betreibt, sondern ganz andere philosophische Techniken. Θεαίτητος· Δρᾶ τοίνυν, ὦ ξένε, οὕτω καὶ Theaitetos: Mach es also, Fremder, auf diese Weise καϑάπερ εἶπε Σωκράτης πᾶσιν κεχαρισ und ganz so, wie Sokrates sagte, wirst du allen μένος ἔσῃ. gefällig sein. Ξένος· Κινδυνεύει πρὸς μὲν ταῦτα οὐδὲν Fremder: Wahrscheinlich ist zu dieser Sache nichts ἔτι λεκτέον εἶναι, Θεαίτητε· πρὸς δὲ σὲ mehr zu sagen, Theaitetos, wohl aber zu dir ist ἤδη τὸ μετὰ τοῦτο, ὡς ἔοικε, γίγνοιτο ἂν danach nun, wie es scheint, die Rede gerichtet. ὁ λόγος. Ἂν δ᾽ ἄρα τι τῷ μήκει πονῶν Wenn du aber überlastet bist von der Länge der ἄχϑῃ, μὴ ἐμὲ αἰτιᾶσϑαι τούτων, ἀλλὰ Mühen, dann gibt nicht mir die Schuld dafür, sonτούσδε τοὺς σοὺς ἑταίρους. dern diesen deinen Gefährten. Θεαίτητος· Ἀλλ᾽ οἶμαι μὲν δὴ νῦν οὕτως Theaitetos: Ich glaube zwar, dass ich nicht jetzt οὐκ ἀπερεῖν· ἂν δ᾽ ἄρα τι τοιοῦτον γίγνη- schon auf diese Weise ermüde. Wenn mir so etwas
�� 52 Soph. ���d�–���a�. 53 Vgl. soph. ���b�–�. 54 Vgl. soph. ���b�–� bzw. Abschnitt �.�.
�� � Einleitung
ται, καὶ τόνδε παραληψόμεϑα Σωκράτη, τὸν Σωκράτους μὲν ὁμώνυμον, ἐμὸν δὲ ἡλικιώτην καὶ συγγυμναστήν, ᾧ συνδιαπονεῖν μετ᾽ ἐμοῦ τὰ πολλὰ οὐκ ἄηϑες.55
aber geschehen sollte, dann wollen wir auch diesen Sokrates hier hinzunehmen, der dem anderen Sokrates namensgleich ist, mir hingegen gleichaltrig und ein Sportfreund, dem viele Mühen mit mir zu durchstehen nicht ungewohnt ist.
Die Rolle des Gesprächspartners wird Sokrates der Jüngere erst im POLITIKOS übernehmen.56 Der Prolog des SOPHISTES endet mit der zentralen Frage des Dialogs, mit der Was-ist-Frage (»τί ποτ᾽ ἔστι«) nach der Form des Sophisten. Ξένος· Εὖ λέγεις, καὶ ταῦτα μὲν ἰδίᾳ βουλεύσῃ προϊόντος τοῦ λόγου· κοινῇ δὲ μετ᾽ ἐμοῦ σοι συσκεπτέον ἀρχομένῳ πρῶτον, ὡς ἐμοὶ φαίνεται, νῦν ἀπὸ τοῦ σοφιστοῦ, ζητοῦντι καὶ ἐμφανίζοντι λόγῳ τί ποτ᾽ ἔστι. […]57
Fremder: Das hast Du gut gesagt und dies mögest du dir auch selbst raten, wenn unser Gespräch vorangeschritten ist. Gemeinsam aber mit mir musst du, wie mir scheint, die Untersuchung durchführen, indem du gleich nach dem Sophisten vorausgehst, ihn suchst und durch eine Erklärung klar machst, was er denn ist. […]
Der Fremde wendet bereits hier eine Metapher an, die er später noch ausführlicher entwickeln wird.58 Die Untersuchung wird dabei als eine Jagd auf den Sophisten betrachtet. Ihn zu fangen, bedeutet, seine Form zu definieren. Nachdem dieses Ziel erreicht wird, folgt der zweite Teil des Gesprächs, der Inhalt des POLITIKOS ist und in dem die Form des Politikers definiert wird. Ein drittes Gespräch über den Philosophen wird nicht geführt. Die Interpretation wird zeigen, dass philosophische Künste bereits im SOPHISTES bestimmt werden.59 Sokrates wird vom eleatischen Fremden beim Zuhören viel über Themen lernen, mit denen er sich aus philosophischem und zugleich persönlichem Interesse schon seit langem beschäftigt hat und über die er am Vortag ausführlich gesprochen hat. Er wird Definitionen kennenlernen, die den Unterschied zwischen wahrer und falscher Meinung bestimmen, und er wird eine ausgefeilte Variante seiner dihairetischen Methode vorgeführt bekommen, mit der sich der λόγος einer Form bestimmen lässt – seine Definition. Schließlich wird ihm methodisch exakt dargelegt, was der Unterschied zwischen Philosophen und So�� 55 Soph. ���a�–b�. 56 Vgl. polit. ���c�–���b�. 57 Soph. ���b�–c�. 58 Vgl. Abschnitt �.�.�. 59 Vgl. Abschnitt �.�.
Einleitung � 17
phisten ist und wie es zu der Verwechslung gekommen ist, die ihm selbst zum Verhängnis geworden ist. Dabei handelt es sich nun um die zentralen Themen, während der Fremde an etlichen Stellen sokratische Thesen aufgreift. Auf diese Weise stellt Platon im SOPHISTES eine Vielzahl von intertextuellen Bezügen zu seinen früheren Dialogen her. Die Interpretation wird zeigen, wie damit Thesen der früheren Dialoge zu einem umfassenden System zusammengestellt werden. Das Schweigen des Sokrates kann dabei so aufgefasst werden, dass er keine Einwände hat. Dramatisch gesehen spielen der SOPHISTES und der POLITIKOS kurz vor seinem Tod. Es folgen nur noch der KRITON und der PHAIDON, in denen Sokrates noch bis zu seiner Hinrichtung philosophische Gespräche im Gefängnis führt. Wahrscheinlich hat Platon die beiden späten Dialoge auf diese Weise dramatisch kurz vor seinem Tod datiert, um ihm damit eine letzte Ehre zu erweisen. Seine eigenen philosophischen Leistungen stellt er damit in die Tradition seines Lehrers Sokrates, den er keine Einwände äußern lässt. Dass er diesen nicht mehr selbst das Gespräch führen lässt, könnte zwei Gründe haben. Erstens darf die Fiktionalität der platonischen Dialoge nicht überschätzt werden. Platon war sicherlich daran gelegen, ein einigermaßen realistisches Bild von Sokrates nachzuzeichnen, zu dem das technische Vorgehen seiner eigenen Spätphilosophie vermutlich nicht passt. Zweitens wäre es auch aus dramatischen Gründen nicht plausibel, wenn Sokrates die Rolle hätte, die Platon dem eleatischen Fremden zugeschrieben hat. In gewisser Weise handelt es sich beim SOPHISTES nämlich um eine zweite Apologie des Sokrates, insofern dessen philosophische Gesprächskunst von der Sophistik differenziert wird und insofern gezeigt wird, dass es sich bei ihr – im Gegensatz zu letzterer und im Gegensatz zur Anklage – um eine Form der Pädagogik handelt,60 mit der die Jugend nicht verdorben, sondern erzogen wird. Es handelt sich dabei also um eine alternative und streng systematisch betrachtete Darstellung der Verteidigung, die Sokrates genau einen Tag zu spät kennenlernt.
�� 60 Vgl. soph. ���b�–�, wo die Sophistik als eine Scheinpädagogik (δοξοπαιδευτική) bezeichnet wird, und ���b�–�, wo die sokratische Elenktik der Pädagogik (παιδευτική) untergeordnet wird. Diese Zusammenhänge werden ausführlich in Kapitel � dargestellt.
2 Dihairetik In diesem Kapitel geht es um eines von zwei Grundprädikaten von Platons Ideenlehre, die Teil-Ganzes-Relation. Damit verbunden ist eine Auseinandersetzung mit sogenannten Dihairesen, die auch einen großen Teil des SOPHISTES einnehmen. Es handelt sich dabei um Klassifikationen von platonischen Formen, die mit einer bestimmten Methode, im Folgenden Dihairetik genannt, erstellt werden. Der Zusammenhang zwischen der Teil-Ganzes-Relation und den Dihairesen besteht darin, dass das Verhältnis zwischen einer Art und ihrer Gattung von Platon als die mereologische Teil-Ganzes-Relation aufgefasst wird. In einem ersten Schritt (Abschnitt �.�) wird gezeigt, dass die metaphysische Annahme, es gebe Teile von Formen, die selbst wiederum Formen sind, keine Neuerung der Ideenlehre aus Platons späten Dialogen ist, sondern genauso alt ist wie die Ideenlehre selbst.1 Diese hat in den frühen Dialogen vor allem eine dialektische Funktion für die Beantwortung der sokratischen Was-ist-Fragen (τί ἐστιν). Formen werden nämlich als Definitionsgegenstände eingeführt, das heißt als die Bedeutungen von denjenigen allgemeinen Prädikatausdrücken x, deren Bedeutung Sokrates durch eine Definition erfahren will, wenn er fragt, was x ist. Als Definitionsgegenstände, so die These, können Formen dabei aber gerade aufgrund der Annahme dienen, dass sie Teile haben. Mit der Dihairetik entwickelt Sokrates die Definitionstheorie zu einer Klassifikationstheorie weiter, die bereits im GORGIAS angewendet2 und im PHAIDROS explizit und ausführlich thematisiert wird.3 In einem zweiten Schritt (Abschnitt �.�) wird die Dihairetik im SOPHISTES und POLITIKOS untersucht. Dabei werden deutliche Unterschiede zu der Klassifi-
�� 1 Vgl. dagegen Stenzel (����/�����: ��): »die Teilbarkeit des bisher als ἀμέριστον angesetzten εἶδος ergibt sich unmittelbar aus dem [dihairetischen] Verfahren […]«. Diese Vokabel tritt zuerst in der Traum-Theorie des THEAITETOS auf (vgl. Tht. ���c�, d�, ferner ἀμερής in e�). Im PARMENIDES wird das Attribut ἀμερής dem parmenideischen Einen zugeschrieben (vgl. Parm. ���a�), worauf sich auch der SOPHISTES zurück bezieht (vgl. soph. ���a�). Es könnten allenfalls die Verwendungen in der Kosmologie des TIMAIOS herangezogen werden (vgl. Tim. ��a�, ��a�, ferner ἀμερής in ��a�), der aber zu den späten Dialogen zählt. Jedenfalls gehört die Annahme, Formen seien ἀμέριστα, nicht zum Kern der Ideenlehre, was häufig angenommen wird. 2 Vgl. Gorg. ���e�–���a� bzw. ���b�–���a�. 3 Vgl. vor allem Phaidr. ���e�–���c�.
�� � Dihairetik
kationsmethode im PHAIDROS aufgezeigt,4 weshalb im Folgenden von der sokratischen Dihairetik einerseits und der eleatischen Dihairetik andererseits gesprochen wird.5 Der Unterschied besteht darin, dass der eleatischen Dihairetik im Gegensatz zur sokratischen Dihairetik ein restriktives Regelwerk zugrunde liegt. Mit dieser Weiterentwicklung der Definitions- bzw. Klassifikationsmethode ist, so wiederum die These, eine Revision der Ideenmetaphysik verbunden. Denn die metaphysische Annahme, die den sokratischen Dialogen zugrunde liegt, dass alles das, was sich definieren lässt, eine Form ist,6 wird im SOPHISTES und POLITIKOS eingeschränkt. Dort wird vorausgesetzt, dass alles das, was sich unter Befolgung der restriktiven Regeln dihairetisch definieren lässt, eine Form ist.
2.1 Sokratische Dihairetik 2.1.1 Die τί ἐστιν-Frage und Teile von Formen in den frühen Dialogen Der EUTHYPHRON zählt zu den frühen Dialogen, in denen zum ersten Mal die Rede von Ideen ist. Dabei wird die Ideenlehre zwar nicht, wie später im PHAIDON oder in der POLITEIA, explizit thematisiert, tritt aber in ihrer Anwendung im Kontext eines Gesprächs über Frömmigkeit auf. Die These über die Teile von Formen und ihr Zusammenhang mit der sokratischen Dialektik lassen sich beispielhaft anhand dieses Textes darstellen, was aber auch mit Parallelstellen aus anderen Dialogen möglich wäre.7
�� 4 Dagegen z. B. Skemp (����: ��): »The Phaedrus account of Division as a method is merely amplified and exemplified in the Sophist, Politicus and Philebus. […]« 5 Beide Ausdrücke sollen dabei neutral hinsichtlich der historischen Frage aufgefasst werden, wer der Erfinder der jeweiligen Technik war. 6 Vgl. Strobel (����: ���): »In die Nähe einer Idee-Definition kommt allenfalls die Charakterisierung der Idee als »(auto/to) ho estin« (»(es selbst/das,) was es ist«), z. B. Phd. ��d�, ��d� f., ��d�, ��d�; Rep. VI ���b�, VII ���a�); denn mit der Zuschreibung dieser formelhaften Wendungen (vgl. zu ihrer Interpretation Kahn ����, ���–���) wird ausgedrückt, dass die Ideen die Gegenstände sind, auf die in definitorischen Fragen der Form »Was ist (ti estin) x?« und in den entsprechenden Antworten Bezug genommen wird, und Platon dürfte darin, ein Definitionsgegenstand zu sein, eine zugleich notwendige und hinreichende Bedingung dafür gesehen haben, eine Idee zu sein.« 7 Während es im EUTHYPHRON um die Frömmigkeit als einen Teil der Tugend geht, geht es im LACHES ganz ähnlich um die Tapferkeit als einen Teil der Tugend, vgl. Lach. ���b�–e�, ���e�– ���e��. Solche Teile von Tugenden werden in den platonischen Dialogen häufig erwähnt bzw. thematisiert. Vgl. symp. ���c�, Men. ��a�–�, Prot. ���b�–���b�, ���a�–d�, rep. VI ���d�, VII ���a�, leg. I ���a�. In Hipp. mai. ���b�–� wird die Schönheit als derjenige Teil des Angeneh-
Sokratische Dihairetik � 21
Der dramatische Kontext besteht zunächst darin, dass Euthyphron, die Titelfigur des Dialogs, davon berichtet, dass er seinen eigenen Vater wegen Totschlags verklagen wolle. Dafür werde er zwar für unfromm (ἀνόσιον) gehalten, in der Tat – so behauptet er weiter – sei dies aber fromm (ὅσιον). Das Problem bestehe darin, dass die Leute nicht wüssten, was fromm und was unfromm ist.8 Dieses Gespräch führt Sokrates dazu, die τί ἐστιν-Frage nach dem Frommen und dem Unfrommen zu stellen,9 deren Diskussion den gesamten folgenden Dialog bis zum Ende einnimmt, die Frage danach, was es ist.10 Er will wissen, was die Idee (ἰδέα) des Frommen und des Unfrommen ist.11 Der erste Versuch des Euthyphron, diese Frage zu beantworten, besteht in der These, es sei fromm, seinen Vater wegen Totschlags zu verklagen.12 Damit hat er aber nur seine bereits vorher schon behauptete These wiederholt, so dass für die Untersuchung nichts
�� men definiert, »der durch das Gesicht oder das Gehör entsteht«. In Prot. ���b�–� wird die Kriegskunst (πολεμική) als ein Teil der Politik (πολιτική) bezeichnet. 8 Vgl. Euthyphr. �e�–�e�. 9 Vgl. Euthyphr. �c�–d�: »Νῦν οὖν πρὸς Διὸς λέγε μοι ὃ νυνδὴ σαφῶς εἰδέναι διισχυρίζου, ποῖόν τι τὸ εὐσεβὲς φῂς εἶναι καὶ τὸ ἀσεβὲς καὶ περὶ φόνου καὶ περὶ τῶν ἄλλων;« (»Nun also beim Zeus, sage mir, was du gerade so klar zu wissen behauptetest: Von was für etwas sagst du, dass es das Gottesfürchtige sei und das Gottlose, sowohl in Bezug auf den Totschlag als auch in Bezug auf anderes?«). 10 Vgl. Lach. ���d�–�: »Τοῦτο τοίνυν πρῶτον ἐπιχειρήσωμεν, ὦ Λάχης, εἰπεῖν, ἀνδρεία τί ποτ᾽ ἐστίν […]« (»Dies wollen wir also als erstes versuchen zu sagen, mein Laches, was die Tapferkeit ist […]«), Charm. ���a�–b�: »Ἵνα τοίνυν τοπάσωμεν εἴτε σοι ἔνεστιν εἴτε μή, εἰπέ, ἦν δ᾽ ἐγώ, τί φῂς εἶναι σωφροσύνην κατὰ τὴν σὴν δόξαν.« (»Um nun abschätzen zu können, ob sie dir inne ist oder nicht, sprach ich, sage mir, was du behauptest, dass die Besonnenheit deiner Meinung nach ist.«), Men. ��d�–�: »[…] ὦ πρὸς ϑεῶν, Μένων, τί φῂς ἀρετὴν εἶναι;« (»[…] bei den Göttern, mein Menon, was sagst du, dass die Tugend ist?«) Hipp. mai. ���d�: »›Εἰπὲ δή, ὦ ξένε,‹ φήσει, ›τί ἐστι τοῦτο τὸ καλόν;‹« (»›Sprich also, mein Fremdling,‹ wird er sagen, ›was ist dieses Schöne?‹«) Gorg. ���c�–� in Bezug auf die Rhetorik des Gorgias: »Βούλομαι γὰρ πυϑέσϑαι παρ᾽ αὐτοῦ τίς ἡ δύναμις τῆς τέχνης τοῦ ἀνδρός, καὶ τί ἐστιν ὃ ἐπαγγέλλεταί τε καὶ διδάσκει […]« (»Ich will nämlich von ihm erfahren, was das Vermögen der Kunst dieses Mannes ist und was es ist, was er von sich verspricht und was er lehrt. […]«) 11 Vgl. Euthyphr. �d�–�: »[Σωκράτης· …] Ἢ οὐ ταὐτόν ἐστιν ἐν πάσῃ πράξει τὸ ὅσιον αὐτὸ αὑτῷ, καὶ τὸ ἀνόσιον αὖ τοῦ μὲν ὁσίου παντὸς ἐναντίον, αὐτὸ δὲ αὑτῷ ὅμοιον καὶ ἔχον μίαν τινὰ ἰδέαν κατὰ τὴν ἀνοσιότητα πᾶν ὅτιπερ ἂν μέλλῃ ἀνόσιον εἶναι; Εὐϑύφρων· Πάντως δήπου, ὦ Σώκρατες. Σωκράτης· Λέγε δή, τί φῂς εἶναι τὸ ὅσιον καὶ τί τὸ ἀνόσιον;« (»[Sokrates: …] Oder ist nicht das Fromme sich selbst dasselbe in jeder Handlung, und das Unfromme wiederum zwar jedem Frommen entgegengesetzt, selbst aber sich selbst ähnlich und hat alles, was unfromm sein will, in Bezug auf seine Unfrömmigkeit irgendeine einzige Idee an sich? Euthyphron: Ganz gewiss, mein Sokrates. Sokrates: Sage also: Was behauptest du, was das Fromme und das Unfromme ist?«) 12 Vgl. Euthyphr. �d�–�a�.
22 � Dihairetik
gewonnen ist. Die Frage, was eine bestimmte Idee ist, erfordert eine Definition als Antwort, die sich auf alle speziellen Fälle, und damit auch auf den des Euthyphron anwenden lässt.13 Für eben diesen Zweck führt Sokrates die Annahme ein, es gebe neben den vielen einzelnen Dingen, die eine bestimmte Ähnlichkeit aufweisen – in diesem Fall die Ähnlichkeit, fromm zu sein – auch entsprechende einmalige14 Formen (εἴδη) oder Ideen (ἰδέαι), aufgrund derer15 die einzelnen Dinge die Eigenschaft haben. Die Passage macht zunächst deutlich, dass Platon die Formen als Definitionsgegenstände einführt.16 Im Folgenden wird gezeigt, dass die Annahme von Formen dabei zugleich mit der ihrer Teile verbunden ist.17 Erst dadurch – das ist
�� 13 Vgl. Euthyphr. �c�–e�: »[Σωκράτης· …] Νυνὶ δὲ ὅπερ ἄρτι σε ἠρόμην πειρῶ σαφέστερον εἰπεῖν. Οὐ γάρ με, ὦ ἑταῖρε, τὸ πρότερον ἱκανῶς ἐδίδαξας ἐρωτήσαντα τὸ ὅσιον ὅτι ποτ᾽ εἴη, ἀλλά μοι εἶπες ὅτι τοῦτο τυγχάνει ὅσιον ὂν ὃ σὺ νῦν ποιεῖς, φόνου ἐπεξιὼν τῷ πατρί. Εὐϑύφρων· Καὶ ἀληϑῆ γε ἔλεγον, ὦ Σώκρατες. Σωκράτης· Ἴσως. Ἀλλὰ γάρ, ὦ Εὐϑύφρων, καὶ ἄλλα πολλὰ φῂς εἶναι ὅσια. Εὐϑύφρων· Καὶ γὰρ ἔστιν. Σωκράτης· Μέμνησαι οὖν ὅτι οὐ τοῦτό σοι διεκελευόμην, ἕν τι ἢ δύο με διδάξαι τῶν πολλῶν ὁσίων, ἀλλ᾽ ἐκεῖνο αὐτὸ τὸ εἶδος ᾧ πάντα τὰ ὅσια ὅσιά ἐστιν; Ἔφησϑα γάρ που μιᾷ ἰδέᾳ τά τε ἀνόσια ἀνόσια εἶναι καὶ τὰ ὅσια ὅσια· ἢ οὐ μνημονεύεις; Εὐϑύφρων· Ἔγωγε. Σωκράτης· Ταύτην τοίνυν με αὐτὴν δίδαξον τὴν ἰδέαν τίς ποτέ ἐστιν, ἵνα εἰς ἐκείνην ἀποβλέπων καὶ χρώμενος αὐτῇ παραδείγματι, ὃ μὲν ἂν τοιοῦτον ᾖ ὧν ἂν ἢ σὺ ἢ ἄλλος τις πράττῃ φῶ ὅσιον εἶναι, ὃ δ᾽ ἂν μὴ τοιοῦτον, μὴ φῶ.« (»[Sokrates: …] Nun versuche aber das, wonach ich dich gerade fragte, klarer zu sagen. Du hast mich nämlich, mein Freund, nicht hinreichend belehrt, als ich fragte, was wohl das Fromme sei, sondern du sagtest mir, dass dies gerade fromm sei, was du nun tust, wenn du deinen Vater wegen Totschlags verklagst. Euthyphron: Und wahrhaft habe ich das wohl gesagt, mein Sokrates. Sokrates: Vielleicht. Aber sicherlich, mein Euthyphron, sagst du auch, dass es vieles andere Fromme gibt. Euthyphron: Das gibt es wohl auch. Sokrates: Du erinnerst dich gewiss daran, dass ich dir nicht dies auftrug, mich über ein oder zwei von vielem Frommen zu belehren, sondern über jene Form selbst, durch die alles Fromme fromm ist? Denn du gabst ja wohl zu, dass durch eine Idee das Unfromme unfromm sei und das Fromme fromm. Oder erinnerst du dich nicht? Euthyphron: Ich schon. Sokrates: Belehre mich also darüber, was diese Idee selbst wohl ist, damit ich, indem ich auf sie blicke und sie als Beispiel verwende, das, was so beschaffen ist von deinen Handlungen oder von denen anderer, als fromm bezeichnen kann, das aber, was nicht so beschaffen ist, als nicht fromm.«) 14 Das Einzigartigkeitsprinzip geht aus verschiedenen Formulierungen hervor: »μίαν τινὰ ἰδέαν« (�d�), »μιᾷ ἰδέᾳ« (�d��–e�), »ταὐτόν ἐστιν ἐν πάσῃ πράξει […]« (�d�), »οὐ […] ἕν τι ἢ δύο« (�d�–��). 15 Vgl. den Dativus causae in Euthyphr. �d��–��, durch den die Form des Frommen als Ursache dafür angegeben wird, dass alles das, was fromm ist, fromm ist. 16 Vgl. Bordt (����/�����): »Das e. [eidos] bzw. die idea des Frommen ist in diesem Dialog [im EUTHYPHRON] das, was es heißt, fromm zu sein, d. h. der Gegenstand, der durch die Definitionsformel des Frommen (die etwas sprachliches ist) bezeichnet wird (Euthpr. �e�–e�).« 17 Vgl. Euthyphr. ��e�–��d�.
Sokratische Dihairetik � 23
die zentrale These dieses Abschnitts – werden sie überhaupt zu Definitionsgegenständen. Nach einem weiteren gescheiterten Versuch von Euthyphon, die τί ἐστινFrage zu beantworten,18 bringt Sokrates selbst einen Ansatz ein, der aus zwei Schritten besteht. Im ersten Schritt behauptet Sokrates, dass die Form des Frommen ein Teil der Form des Gerechten ist. Er erörtert das in Frage stehende Verhältnis zwischen beiden Formen zunächst anhand des Beispiels von Furcht (δέος) und Achtung (αἰδώς). Dabei argumentiert er gegen die Behauptung des Dichters Stasinos,19 »wo Furcht ist, da auch Achtung«, und für die These, »wo Achtung ist, dort auch die Furcht«. Die These des Stasinos wird anhand eines Gegenbeispiels widerlegt.20 Es gibt demnach Fälle, in denen sich jemand fürchtet, aber keine Achtung hat. Streng genommen sind zwar sowohl ›Furcht‹ als auch ›Achtung‹ Ausdrücke für zweistellige Prädikate, insofern jemand etwas fürchtet bzw. jemand Achtung vor etwas hat. Weil es in den frühen Dialogen dafür noch keine metaphysische Erklärung gibt, soll dies zunächst außer Acht gelassen werden, so dass beide Prädikate als einstellig betrachtet werden. Die Probleme, die sich daraus ergeben, und die Lösung dieser Probleme, die im SOPHISTES eingeführt wird, werden in Kapitel � vorgestellt. Zunächst genügt es, diese Fälle im Sinn der Ideenlehre so zu interpretieren, dass jemand an der Furcht teilhat, nicht aber an der Achtung. Danach stellt Sokrates die These »wo Achtung ist, dort auch die Furcht« auf.21 Im Sinn der Ideenlehre lässt sich diese Behauptung entsprechend so inter-
�� 18 Vgl. Euthyphr. �e�–��d�. 19 In Euthyphr. ��a�–b� zitiert er Verse aus den KYPRIA, einer Dichtung aus dem epischen Zyklus, die Platons Leser seinerzeit bekannt gewesen sein müsste. 20 Vgl. Euthyphr. ��b�–�: »Σωκράτης· Οὐ δοκεῖ μοι εἶναι »ἵνα δέος ἔνϑα καὶ αἰδώς«· Πολλοὶ γάρ μοι δοκοῦσι καὶ νόσους καὶ πενίας καὶ ἄλλα πολλὰ τοιαῦτα δεδιότες δεδιέναι μέν, αἰδεῖσϑαι δὲ μηδὲν ταῦτα ἃ δεδίασιν· οὐ καὶ σοὶ δοκεῖ; Εὐϑύφρων· Πάνυ γε.« (»Sokrates: Es scheint mir nicht so zu sein, dass ›wo Furcht ist, da auch Achtung‹ sei. Es scheint mir nämlich, dass viele, die Krankheiten, Armut und vieles andere dergleichen fürchten, sich zwar fürchten, aber dies nicht achten, was sie fürchten. Scheint es dir nicht auch so zu sein? Euthyphron: Ganz gewiss.«) 21 Vgl. Euthyphr. ��b�–c�: »Σωκράτης· Ἀλλ᾽ ›ἵνα γε αἰδὼς ἔνϑα καὶ δέος‹ εἶναι· Ἐπεὶ ἔστιν ὅστις αἰδούμενός τι πρᾶγμα καὶ αἰσχυνόμενος οὐ πεφόβηταί τε καὶ δέδοικεν ἅμα δόξαν πονηρίας; Εὐϑύφρων· Δέδοικε μὲν οὖν.« (»Sokrates: Aber es scheint mir so zu sein, dass ›wo Achtung ist, dort auch die Furcht‹ sei. Denn gibt es wohl jemanden, der eine Sache achtet und Scham ihr gegenüber hat, aber keine Angst vor ihr hat und sich zugleich fürchtet vor dem Übel? Euthyphron: Ganz gewiss fürchtet er sich auch.«)
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pretieren, dass es keine Fälle gebe, in denen jemand an der Achtung teilhat, nicht aber an der Furcht. Die Begründung dafür ist eine metaphysische These: »Ein Teil ist nämlich die Achtung von der Furcht«.22 Der Zusammenhang, der zwischen Furcht und Achtung angenommen wird, ist auf inhaltlicher Ebene von bestimmten ethischen Voraussetzungen abhängig und soll inhaltlich an dieser Stelle nicht weiter interessieren. Auf metaphysischer Ebene wird der Zusammenhang anhand des unstrittigen Beispiels der Zahl und des Ungeraden deutlicher, das Sokrates im Folgenden nennt.23 Die These, dass die Form des Ungeraden ein Teil der Form der Zahl ist, wird analog zum Beispiel von Furcht und Achtung so interpretiert, dass »nicht wo die Zahl ist, dort auch das Ungerade, sondern wo das Ungerade, dort auch die Zahl ist«, dass ›x ist ungerade‹ also ›x ist Zahl‹ impliziert, während ›x ist Zahl‹ nicht ›x ist ungerade‹ impliziert. Im Sinn der Ideenlehre lässt sich dies wiederum so formulieren, dass alles das, was an der Form des Ungeraden teilhat, auch an der Form der Zahl teilhat, während nicht alles das, was an der Form der Zahl teilhat, auch an der Form des Ungeraden teilhat. Nun ist davon auszugehen, dass es sich dabei um begrifflich notwendige Zusammenhänge handelt und nicht um kontingente. Das wird am Beispiel der Zahl deutlich und zeigt sich auch daran, dass sich die Aussage über die TeilGanzes-Relation eben auf Formen bezieht und nicht auf das, was an ihnen teilhat. Im Rahmen der Definition einer Form A wird also eine Form B genannt, so dass jedes x, das die Eigenschaft A hat, notwendigerweise auch die Eigenschaft B hat. Dies lässt sich mit der Redeweise von Gottlob Frege so ausdrücken, dass B ein Merkmal von A ist.24 Der Kontext der Definitionen – und das wird sich später
�� 22 Vgl. Euthyphr. ��c�–�: »Σωκράτης· Οὐκ ἄρ᾽ ὀρϑῶς ἔχει λέγειν· ›ἵνα γὰρ δέος ἔνϑα καὶ αἰδώς‹, ἀλλ᾽ ›ἵνα μὲν αἰδὼς ἔνϑα καὶ δέος, οὐ μέντοι ἵνα γε δέος πανταχοῦ αἰδώς‹· ἐπὶ πλέον γὰρ οἶμαι δέος αἰδοῦς. Μόριον γὰρ αἰδὼς δέους […]« (»Sokrates: Nicht also ist es richtig zu sagen, ›wo nämlich Furcht ist, da ist auch Achtung‹, sondern ›wo zwar Achtung ist, da ist auch Furcht, hingegen ist nicht, wo Furcht ist, überall auch Achtung.‹ Denn größer ist, glaube ich nämlich, die Furcht als die Achtung. Ein Teilchen ist nämlich die Achtung von der Furcht […]«) 23 Vgl. Euthyphr. ��c�–�: »[…] ὥσπερ ἀριϑμοῦ περιττόν, ὥστε οὐχ ἵναπερ ἀριϑμὸς ἔνϑα καὶ περιττόν, ἵνα δὲ περιττὸν ἔνϑα καὶ ἀριϑμός. Ἕπῃ γάρ που νῦν γε; Εὐϑύφρων· Πάνυ γε. (»[…] so wie das Ungerade von der Zahl, da ja nicht wo die Zahl ist, dort auch das Ungerade, sondern wo das Ungerade, dort auch die Zahl ist. Nun folgst du mir doch wohl gewiss? Euthyphron: Ganz gewiss.«) 24 Vgl. Frege (����/����: ��) in den Grundlagen der Arithmetik, § ��: »Unter Eigenschaften, die von einem Begriffe ausgesagt werden, verstehe ich natürlich nicht die Merkmale, die den Begriff zusammensetzen. Diese sind Eigenschaften der Dinge, die unter den Begriff fallen, nicht des Begriffes.« Vgl. ders. (����/����): ��� f. Vgl. auch von Kutschera (����: ���): »Ein
Sokratische Dihairetik � 25
durch die Dihairesen bekräftigen – macht zudem deutlich, dass es Sokrates auf eine besondere Merkmalsrelation ankommt, nämlich auf die Relation ›... ist Gattung von ...‹. Für diese Relation gilt: Was unter eine bestimmte Art fällt, fällt notwendigerweise auch unter die Gattung dieser Art. Das bedeutet also, dass Platon die Relation ›A ist Gattung von B‹ als ›B ist Teil von A‹ interpretiert. Seine Annahme, es gebe Formen, ist begleitet von der Annahme, dass es in diesem Sinn Teile von Formen gibt. Sokrates bringt also den Vorschlag in die Diskussion ein, dass die Form des Frommen eine Art der Form der Gerechtigkeit ist bzw. dass die Form des Frommen die Form der Gerechtigkeit als Gattung hat.25 Weil eine Gattung mehrere Arten hat, ist damit noch keine Definition erreicht. Sokrates stellt deswegen die Frage, »welcher Teil des Gerechten das Fromme ist«.26 Am Beispiel der geraden Zahl, das er wieder aufgreift, um die Frage zu erörtern, lautet die entsprechende Antwort, dass der gesuchte Teil diejenige Zahl ist, »die nicht schief steht, sondern gleichbeinig ist.«27 Dabei ist »schief« (»σκαληνὸς«) und »gleichbeinig« (»ἰσοσκελής«) vermutlich so gemeint, dass eine bestimmte Zahl von stapelbaren Dingen – naheliegenderweise von Münzen – auf zwei Stapel verteilt wird, die bildlich als Beine aufgefasst werden. Eine ungerade Zahl würde dabei immer ungleichgroße Stapel ergeben,
�� Merkmal von F ist […] ein (einstelliger) Begriff G �. Stufe, für den der Satz ∀x(Fx⊃Gx) analytisch gilt«. [Hervorhebung im Original, Zeichen für den Allquantor angepasst.] 25 Vgl. Euthyphr. ��c��–d�: »Σωκράτης· Τὸ τοιοῦτον τοίνυν καὶ ἐκεῖ λέγων ἠρώτων· ἆρα ἵνα δίκαιον ἔνϑα καὶ ὅσιον; Ἢ ἵνα μὲν ὅσιον ἔνϑα καὶ δίκαιον, ἵνα δὲ δίκαιον οὐ πανταχοῦ ὅσιον· μόριον γὰρ τοῦ δικαίου τὸ ὅσιον; Οὕτω φῶμεν ἢ ἄλλως σοι δοκεῖ; Εὐϑύφρων· Οὔκ, ἀλλ᾽ οὕτω. Φαίνῃ γάρ μοι ὀρϑῶς λέγειν.« (»Sokrates: Indem ich dies auch vorhin sagte, fragte ich dort: Ist, wo das Gerechte ist, dort auch das Fromme? Oder ist dort, wo das Fromme ist, zwar auch das Gerechte, wo aber das Gerechte, nicht überall das Fromme, weil ein Teilchen des Gerechten nämlich das Fromme ist? Wollen wir es so sagen, oder scheint es dir anders zu sein? Euthyphron: Nein, sondern so. Du scheinst mir nämlich richtig zu sprechen.«) 26 Vgl. Euthyphr. ��d�–�: »Σωκράτης· Ὅρα δὴ τὸ μετὰ τοῦτο. Εἰ γὰρ μέρος τὸ ὅσιον τοῦ δικαίου, δεῖ δὴ ἡμᾶς, ὡς ἔοικεν, ἐξευρεῖν τὸ ποῖον μέρος ἂν εἴη τοῦ δικαίου τὸ ὅσιον. […]« (»Sokrates: Sieh also auch das Folgende. Wenn nämlich das Fromme ein Teil des Gerechten ist, dann müssen wir, wie es scheint, herausfinden, welcher Teil des Gerechten das Fromme ist. […]« 27 Vgl. Euthyphr. ��d�–��: »[…] Εἰ μὲν οὖν σύ με ἠρώτας τι τῶν νυνδή, οἷον ποῖον μέρος ἐστὶν ἀριϑμοῦ τὸ ἄρτιον καὶ τίς ὢν τυγχάνει οὗτος ὁ ἀριϑμός, εἶπον ἂν ὅτι ὃς ἂν μὴ σκαληνὸς ᾖ ἀλλ᾽ ἰσοσκελής· Ἢ οὐ δοκεῖ σοι; Εὐϑύφρων· Ἔμοιγε.« (»[…] Wenn du mich nun fragen würdest, welcher wie beschaffene Teil der Zahl das Gerade ist, und welche diese Zahl eigentlich ist, dann würde ich sagen, dass es die ist, die nicht schief steht, sondern gleichbeinig ist. Oder scheint es dir nicht so? Euthyphron: Mir schon.«)
�� � Dihairetik
während eine gerade Zahl gleichgroße Stapel ergeben kann.28 Als »das Gerade« wird also diejenige »Zahl« bezeichnet, die ohne Rest durch zwei teilbar ist. Daran wird deutlich, dass eine Definition für Sokrates, ähnlich wie später für Aristoteles, aus zwei Elementen besteht: Genus und Differentia specifica. Anhand des Beispiels der geraden Zahl erhält man folgendes Modell für eine Definition: Definiens Definiens Gerade Zahl = derjenige Teil der Zahl, der gleichbeinig ist Definiendum
Genus Differentia specifica
Abb. 1: Definition der geraden Zahl
Nebenbei29 erfolgt noch eine entsprechende Definition der ungeraden Zahl. Ungerade Zahl = derjenige Teil der Zahl, der gleichbeinig ist Definiendum
Genus Differentia specifica
Abb. 2: Definition der ungeraden Zahl
Eine Formulierung der entsprechenden Definitionsregel findet sich interessanterweise in den pseudo-platonischen Horoi: »Ὅρος· Λόγος ἐκ διαφορᾶς καὶ γένους συγκείμενος.«30 Damit ist fast dasselbe gefordert, wie mit der scholasti-
�� 28 Vgl. Tht. ���e�–���a�. 29 Es wird sich später zeigen, dass damit im Grunde schon die dihairetische Methode angedeutet ist. 30 Vgl. Plat. def. ���d��: »Abgrenzung: Ein Satz, der aus einem Unterschied und einer Gattung besteht.« Vgl. dazu Frede, D. (����: ��): »Dass gleichwohl nicht Platon oder gar dessen Lehrer Sokrates, sondern Aristoteles als Begründer wissenschaftlichen Vorgehens gilt, liegt zu einem guten Teil daran, dass die auf genus proximum und differentia specifica reduzierte Form der D. [Definition] als Teil der aristotelischen Tradition kanonisiert wurde. Überdies hat Aristoteles das Definieren mit solcher Persistenz auf allen Gebieten seiner Philosophie angewandt, dass man dieses Vorgehen als selbstverständliches Erbe des ›Vaters aller Wissenschaften‹ ansah.«
Sokratische Dihairetik � ��
schen Definitionsregel, von der üblicherweise angenommen wird, dass sie auf Aristoteles zurückgeht: »Definitio fit per genus proximum et differentiam specificam«. Der Unterschied zwischen der scholastischen und der platonischen Regel besteht lediglich darin, dass letztere anstelle eines Genus proximum nur ein Genus fordert. Es wird sich später aber zeigen, dass mit den eleatischen Dihairesen eine Theorie des Genus proximum eingeführt wird, die zu der entsprechend restriktiveren Regel führt. Das erste Element der Definitionen aus dem EUTHYPHRON, die Angabe eines Genus oder einer Gattung, deren Art das Definiendum ist, wird metaphysisch jedenfalls als die Angabe einer Form aufgefasst, deren Teil das Definiendum ist. Das zweite Element, die Angabe einer Differentia specifica oder einer artspezifischen Differenz, wird in den frühen und mittleren Dialogen noch nicht metaphysisch analysiert. Während klar ist, dass sowohl das Definiendum als auch das Genus beides Formen sind, bleibt offen, was eine Differentia specifica genau ist. Es wird später dafür argumentiert, dass in den eleatischen Dihairesen auch die Differentia specifica als eine Form aufgefasst wird. An keiner Stelle der vorliegenden Arbeit soll aber mit der Verwendung dieser Fachausdrücke angedeutet sein, dass Platon dieselbe Definitionstheorie wie Aristoteles vertritt oder sogar dieselben metaphysischen Annahmen, die dabei vorausgesetzt werden.
2.1.2
Teile des Wahnsinns, Metaphysik, Dialektik und Rhetorik im PHAIDROS
Im PHAIDROS wird die Theorie über die Teile von Formen nicht nur praktisch angewendet, sondern selbst auch abstrakt thematisiert. Diese zweifache Herangehensweise spiegelt sich in der Komposition des Dialogs in zwei großen Teilen wider. Es werden zwei Fragestellungen behandelt: Im ersten Teil des Dialogs (Phaidr. ���a�–���b�) wird die Frage diskutiert, ob man sich eher mit Menschen abgeben soll, die in einen verliebt sind, oder mit solchen, die nicht in einen verliebt sind. Im zweiten Teil (Phaidr. ���b�–���c�) geht es – mit Blick auf die Reden, die im ersten Teil gehalten wurden – um die Frage, was eine gute Rede ist und was sie von einer schlechten unterscheidet. Die zweite Frage beantwortet Sokrates mit der These, dass in einer guten Rede – wenn nötig – die dihairetische Methode angewendet wird, wodurch er gleichzeitig die Dialektik von der Rhetorik abgrenzt. Um den Nutzen der Methode aufzuzeigen, argumentiert er zunächst dafür, dass es zwei verschiedene
28 � Dihairetik
Arten von Wörtern gebe,31 nämlich einerseits Wörter, »über die wir übereinstimmen«, und andererseits Wörter, über die wir nicht übereinstimmen.32 Es gebe nämlich Wörter wie »Eisen« oder »Silber«, bei denen der Zuhörer weiß, was der Redner meint, andererseits welche wie »gut« oder »gerecht«, bei denen das nicht der Fall ist.33 Dass Sokrates gerade diese philosophisch strittigen Begriffe nennt, zeigt, dass es ihm dabei nicht nur um ein Kommunikationsproblem mit dem Zuhörer der Rede geht, sondern auch darum, dass der Redner selbst Klarheit darüber erlangen muss, was die Bedeutung eines solchen Ausdrucks ist, also die Antwort auf die entsprechende τί ἐστιν-Frage wissen und so Einsicht über das Wesen (οὐσία) bzw. die Form haben muss, die er mit einem solchen Ausdruck benennt.34 Was oben als zwei ›Arten‹ von Wörtern bezeichnet wurde, ist im griechischen Text zunächst ontologisch neutral formuliert. In Phaidr. ���a� wird »ἔνια τῶν τοιούτων […] δ᾽ ἔνια« (»einige von diesen (einerseits) […] und einige (andererseits)«) verwendet, in ���b� »ἐν μὲν […] τοῖς […], ἐν δὲ τοῖς […]« (»in diesen zwar […] in jenen aber«). Dabei wird also lediglich von verschiedenen Wörtern gesprochen, die sich nach den oben genannten Kriterien klassifizieren lassen. Sokrates wechselt dann aber in den Fachjargon der Ideenlehre und spricht von den beiden Formen (εἴδη)35 von Wörtern. Aufgabe des Redners ist es demnach, die beiden Formen von Wörtern voneinander unterscheiden zu können. Für
�� 31 Vgl. Phaidr. ���a�–c�. 32 Phaidr. ���b�: »Ἐν μὲν ἄρα τοῖς συμφωνοῦμεν, ἐν δὲ τοῖς οὔ.« (»In diesen stimmen wir also überein, in jenen aber nicht.«) 33 Vgl. Phaidr. ���a�–��: »Σωκράτης· Ὅταν τις ὄνομα εἴπῃ σιδήρου ἢ ἀργύρου, ἆρ᾽ οὐ τὸ αὐτὸ πάντες διενοήϑημεν; Φαῖδρος· Καὶ μάλα. Σωκράτης· Τί δ᾽ ὅταν δικαίου ἢ ἀγαϑοῦ; Οὐκ ἄλλος ἄλλῃ φέρεται, καὶ ἀμφισβητοῦμεν ἀλλήλοις τε καὶ ἡμῖν αὐτοῖς; Φαῖδρος· Πάνυ μὲν οὖν.« (»Sokrates: Wenn jemand das Wort »Eisen« oder »Silber« spricht, denken wir dann nicht alle an dasselbe? Phaidros: Aber gewiss doch. Sokrates: Wenn aber »gut« oder »gerecht«, was dann? Wird dann nicht einer in eine andere Richtung geführt als ein anderer, und wir stehen getrennt von den anderen als auch von uns selbst da? Phaidros: Ganz und gar gewiss.«) 34 Vgl. Phaidr. ���c�–�: »Τοὺς δὲ πολλοὺς λέληϑεν ὅτι οὐκ ἴσασι τὴν οὐσίαν ἑκάστου. Ὡς οὖν εἰδότες οὐ διομολογοῦνται ἐν ἀρχῇ τῆς σκέψεως, προελϑόντες δὲ τὸ εἰκὸς ἀποδιδόασιν· οὔτε γὰρ ἑαυτοῖς οὔτε ἀλλήλοις ὁμολογοῦσιν.« (»Die meisten sind nun im Dunkeln darüber, dass sie das Wesen der Dinge nicht kennen. Als ob sie es also kennen würden, verständigen sie sich im Anfang der Untersuchung nicht darüber, und wenn sie voranschreiten, zahlen sie dann angemessen zurück; sie stimmen nämlich weder sich selbst noch einander zu.«) 35 Vgl. Phaidr. ���b�. In ���c� steht »εἶδος« für die Gattung.
Sokratische Dihairetik � ��
›unterscheiden‹ steht im griechischen Text ›διαιρεῖν‹ (›zerteilen‹), also derjenige Ausdruck, von dem sich der Name der Methode ableitet: ›Dihairese‹.36 Genau das, was Sokrates von einer guten Rede fordert, nämlich, wenn nötig, mit einer Dihairese zu beginnen, wendet er konsequenterweise selbst bereits in seiner Rede an, in der er diese Forderung stellt. Der Redner soll dabei die Stempelabdrücke, d. h. den Charakter (χαρακτήρ)37 der Arten angeben. Dies hat Sokrates mithilfe der Beispiele und Erklärungen umgesetzt. Damit hat er die artspezifischen Differenzen beider Arten angegeben. Sokrates definiert Formen hier also genauso wie im EUTHYPHRON. Auch in der Dihairese fasst er dabei Arten von Gattungen als Teile von Formen auf, die sich durch bestimmte artspezifische Differenzen voneinander unterscheiden. Ein Unterschied zu den Definitionen im EUTHYPHRON besteht darin, dass in einer Dihairese jeweils mehrere Teile einer Gattung – im vorliegenden Fall zwei – angegeben werden. Aber auch im EUTHYPHRON muss die Annahme zugrunde gelegen haben, dass es mehrere Teile einer Form gibt, wenn es einen Teil gibt, weil sonst die Frage unsinnig wäre, welcher Teil das Definiendum von der Gattung ist. Der Unterschied besteht also darin, dass eine Dihairese eine Klassifikation ist, in der mehrere Arten voneinander unterschieden werden, während in den früheren Definitionen lediglich diejenige Art bestimmt wird, die das Definiendum ist. Solche Dihairesen lassen sich in einem porphyrischen Baum wie folgt darstellen. [Wort]
… in dem wir übereinstimmen
… in dem wir nicht übereinstimmen
Abb. 3: Dihairese des Wortes (I)
In den in der vorliegenden Arbeit dargestellten porphyrischen Bäumen werden die Ausdrücke für Definienda in eckigen Klammern geschrieben und die für art-
�� 36 Vgl. Phaidr. ���b�–�: »Σωκράτης· Οὐκοῦν τὸν μέλλοντα τέχνην ῥητορικὴν μετιέναι πρῶτον μὲν δεῖ ταῦτα ὁδῷ διῃρῆσϑαι, καὶ εἰληφέναι τινὰ χαρακτῆρα ἑκατέρου τοῦ εἴδους, ἐν ᾧ τε ἀνάγκη τὸ πλῆϑος πλανᾶσϑαι καὶ ἐν ᾧ μή.« (»Wer also der Redekunst nachgehen will, der muss als erstes dies methodisch unterscheiden, und den Charakter von beiden Formen erfassen: in der sich die Menge notwendig verirrt und in der nicht.«) Zur Verwendung von »ὁδῷ«, das hier als »methodisch« übersetzt wurde, vgl. Abschnitt �.�.�. 37 Vgl. Phaidr. ���b�.
30 � Dihairetik
spezifische Differenzen ohne Klammer, um die Unterscheidung zwischen den Bestandteilen einer Definition zu verdeutlichen. Wenn der Redner den Unterschied zwischen beiden Arten von Wörtern erkennt, so folgert Sokrates, kann er für jeden konkreten Fall, in dem ihm ein Wort vorliegt, entscheiden, zu welcher der beiden Gattungen es gehört.38 Wenn es zur Art von Wörtern gehört, über die wir nicht übereinstimmen, muss eine Dihairese durchgeführt werden. Wenn der in Frage stehende Ausdruck dann dihairetisch bestimmt wird, z.B ›Frömmigkeit‹, bedeutet das in Hinblick auf die oben behandelte Stelle im EUTHYPHRON, dass wiederum für jeden einzelnen Fall entschieden werden kann, ob er eine Instanz der von dem Ausdruck bezeichneten Form ist.39 Sokrates formuliert damit – ähnlich wie heute die analytische Philosophie – den Anspruch, vor der Beantwortung einer philosophischen Frage die Bedeutung der darin vorkommenden Ausdrücke zu klären.40
�� 38 Vgl. Phaidr. ���c�–�: »Σωκράτης· Ἔπειτά γε οἶμαι πρὸς ἑκάστῳ γιγνόμενον μὴ λανϑάνειν ἀλλ᾽ ὀξέως αἰσϑάνεσϑαι περὶ οὗ ἂν μέλλῃ ἐρεῖν ποτέρου ὂν τυγχάνει τοῦ γένους. Φαῖδρος· Τί μήν;« (»Sokrates: Danach, glaube ich, wird er in jedem einzelnen Fall nicht im Dunkeln bleiben, sondern genau erkennen, zu welcher Form es gehört, worüber er reden will. Phaidros: Wie auch anders!«) 39 Vgl. Euthyphr. �c�–e� bzw. Abschnitt �.�.�. 40 Vgl. Phaidr. ���b�–c�: »Περὶ παντός, ὦ παῖ, μία ἀρχὴ τοῖς μέλλουσι καλῶς βουλεύσεσϑαι· εἰδέναι δεῖ περὶ οὗ ἂν ᾖ ἡ βουλή, ἢ παντὸς ἁμαρτάνειν ἀνάγκη.« (»In allem, mein Kind, gibt es nur einen Anfang für die, die gut beraten wollen: Sie müssen wissen, worauf sich dieses Wollen bezieht, oder sie werden das Ganze notwendig verfehlen.«) Dabei handelt es sich um eine in Platons Werk häufig vertretene These. Vgl. Men. ��b�–c�: »Σωκράτης· […] ὃ δὲ μὴ οἶδα τί ἐστιν, πῶς ἂν ὁποῖόν γέ τι εἰδείην; Ἢ δοκεῖ σοι οἷόν τε εἶναι, ὅστις Μένωνα μὴ γιγνώσκει τὸ παράπαν ὅστις ἐστίν, τοῦτον εἰδέναι εἴτε καλὸς εἴτε πλούσιος εἴτε καὶ γενναῖός ἐστιν, εἴτε καὶ τἀναντία τούτων; Δοκεῖ σοι οἷόν τ᾽ εἶναι; Μένων· Οὐκ ἔμοιγε.« (Sokrates: […] Wovon ich aber nicht weiß, was es ist, wie sollte ich davon wissen, wie es beschaffen ist? Oder scheint dir so etwas möglich zu sein, dass jemand, der gar nicht weiß, wer Menon überhaupt ist, dennoch dies weiß, ob er schön oder reich oder von edler Abstammung ist oder auch das Gegenteil davon? Scheint dir so etwas möglich zu sein? Menon: Mir jedenfalls nicht.«) In symp. ���a�–� sagt das zunächst Agathon: »Εἷς δὲ τρόπος ὀρϑὸς παντὸς ἐπαίνου περὶ παντός, λόγῳ διελϑεῖν οἷος οἵων αἴτιος ὢν τυγχάνει περὶ οὗ ἂν ὁ λόγος ᾖ. Οὕτω δὴ τὸν Ἔρωτα καὶ ἡμᾶς δίκαιον ἐπαινέσαι πρῶτον αὐτὸν οἷός ἐστιν, ἔπειτα τὰς δόσεις.« (»Die einzige richtige Weise eines jeden Lobes über alles ist aber, in einer Rede durchzugehen, ein wie Beschaffener der Urheber von wie Beschaffenem ist, wovon die Rede gerade handelt. Auf diese Weise tun auch wir recht, zuerst den Eros darin zu loben, wer er ist, und danach seine Gaben.«) Dem stimmt Sokrates in symp. ���d�–e� zu: »Δεῖ δή, ὦ Ἀγάϑων, ὥσπερ σὺ διηγήσω, διελϑεῖν αὐτὸν πρῶτον, τίς ἐστιν ὁ Ἔρως καὶ ποῖός τις, ἔπειτα τὰ ἔργα αὐτοῦ.« (»Es ist also nötig, mein Agathon, wie es auch du ausgeführt hast, zuerst ihn selbst durchzugehen, wer der Eros ist und was für einer, und danach seine Werke.«)
Sokratische Dihairetik � ��
Sokrates hält das Wort ›Liebe‹ für eines, über das wir nicht übereinstimmen.41 Im Gegensatz zur Rede des Lysias, die Phaidros im ersten Teil des Dialogs vorgetragen hatte,42 begannen beide Reden des Sokrates entsprechend mit einer Dihairese, wodurch die Bedeutung dieses Ausdrucks geklärt werden sollte.43 Denn in der zugrunde liegenden Frage kommt, wenn man sie leicht umformuliert, der Ausdruck ›Liebe‹ vor.44 Am Anfang der ersten Rede entwickelt Sokrates eine Dihairese, die sich durch den folgenden porphyrischen Baum darstellen lässt: [Trieb]
[Begierde nach dem Angenehmen]
[Schlemmerei]
[Trunksucht]
etc. …
[Meinung, die nach dem Besseren strebt]
[Begierde nach Schönem]
…
Leib [Liebe]
Abb. 4: Dihairese der Liebe (I)
Sokrates ordnet die Form der Liebe zunächst der Form der Begierde unter.45 Weil es aber Arten der Begierde gibt, die verschieden von der Liebe sind, ist diese Bestimmung noch zu ungenau.46 Es fehlt also die Angabe einer artspezifischen Differenz. Sokrates geht im Folgenden wieder zwei Schritte zurück und unterscheidet zunächst zwei Arten der Form des Triebs. Es gebe einerseits eine »eingeborene Begierde nach dem Angenehmen« und andererseits eine »erworbene
�� 41 Vgl. Phaidr. ���c�–�. 42 Vgl. Phaidr. ���e�–���c�. In Phaidr. ���d�–���e� wird der Anfang dieser Rede kritisiert. 43 In Phaidr. ���d�–� hält Sokrates nochmals fest, dass er selbst »die Liebe beim Beginnen der Rede bestimmt« (���d�–�: »[…] ὡρισάμην ἔρωτα ἀρχόμενος τοῦ λόγου.«) hat. 44 Eine solche Umformulierung führt Sokrates in Phaidr. ���c�–d� durch. 45 Vgl. Phaidr. ���d�: »Ὅτι μὲν οὖν δὴ ἐπιϑυμία τις ὁ ἔρως, ἅπαντι δῆλον· […]« (»Dass nun die Liebe eine Begierde ist, ist zwar jedem klar, […]«) 46 Vgl. Phaidr. ���d�–�: »[…] ὅτι δ᾽ αὖ καὶ μὴ ἐρῶντες ἐπιϑυμοῦσι τῶν καλῶν, ἴσμεν. Τῷ δὴ τὸν ἐρῶντά τε καὶ μὴ κρινοῦμεν;« (»[…] dass aber wiederum auch Nicht-Liebende das Schöne begehren, wissen wir. Durch was wollen wir also den Liebenden und den Nicht-Liebenden unterscheiden?«)
32 � Dihairetik
Gesinnung, die nach dem Besten strebt«.47 Die Begierde48 lässt sich ferner gemäß dem Gegenstand der Begierde in Arten aufteilen: Die Begierde zum Essen wird Schlemmerei genannt,49 die zum Trinken Trunksucht,50 usw.51 Von der Begierde nach Schönheit wird schließlich wiederum eine Art angegeben, nämlich die Begierde nach schönen Leibern, die Liebe genannt wird.52 Damit ist das Definiendum erreicht und die Prozedur abgeschlossen.
�� 47 Vgl. Phaidr. ���d�–��: »Δεῖ αὖ νοῆσαι ὅτι ἡμῶν ἐν ἑκάστῳ δύο τινέ ἐστον ἰδέα ἄρχοντε καὶ ἄγοντε, οἷν ἑπόμεϑα ᾗ ἂν ἄγητον, ἡ μὲν ἔμφυτος οὖσα ἐπιϑυμία ἡδονῶν, ἄλλη δὲ ἐπίκτητος δόξα, ἐφιεμένη τοῦ ἀρίστου.« (»– Es ist wiederum nötig zu verstehen, dass in jedem von uns zwei bestimmte herrschende und führende Ideen sind, denen wir folgen, wohin sie auch führen, eine Begierde nach Angenehmen, die uns eingepflanzt ist, und eine Meinung, die hinzuerworben ist und nach dem Besseren strebt.«) 48 Die Darstellung ist hier etwas vereinfacht. Streng genommen werden keine Formen der Begierde unterschieden, sondern Formen des Übermaßes der Begierde. Vgl. Phaidr. ���d��– ���a�: »Τούτω δὲ ἐν ἡμῖν τοτὲ μὲν ὁμονοεῖτον, ἔστι δὲ ὅτε στασιάζετον· καὶ τοτὲ μὲν ἡ ἑτέρα, ἄλλοτε δὲ ἡ ἑτέρα κρατεῖ. Δόξης μὲν οὖν ἐπὶ τὸ ἄριστον λόγῳ ἀγούσης καὶ κρατούσης τῷ κράτει ›σωφροσύνη‹ ὄνομα· ἐπιϑυμίας δὲ ἀλόγως ἑλκούσης ἐπὶ ἡδονὰς καὶ ἀρξάσης ἐν ἡμῖν τῇ ἀρχῇ ›ὕβρις‹ ἐπωνομάσϑη. Ὕβρις δὲ δὴ πολυώνυμον, πολυμελὲς γὰρ καὶ πολυμερές· […]« (»Diese beiden stimmen in uns zuweilen überein, sind bald aber im Streit miteinander, und dann ist die eine, dann wieder die andere stärker. Wenn die Meinung nun durch die Vernunft zum Besseren führt und stärker ist, dann hat diese Stärke den Namen ›Besonnenheit‹. Wenn aber die Begierde unvernünftig zur Lust zieht und in uns herrscht, dann wird diese Herrschaft ›Frevel‹ genannt. Der Frevel ist aber vielnamig, denn er ist vielteilig und vielartig […]«) 49 Vgl. Phaidr. ���a�–b�: »[…] Περὶ μὲν γὰρ ἐδωδὴν κρατοῦσα τοῦ λόγου τε τοῦ ἀρίστου καὶ τῶν ἄλλων ἐπιϑυμιῶν ἐπιϑυμία ›γαστριμαργία‹ τε καὶ τὸν ἔχοντα ταὐτὸν τοῦτο κεκλημένον παρέξεται· […]« (»[…] Wenn die auf Speisen gerichtete Begierde stärker als die Vernunft und die anderen Begierden ist, wird sie ›Gefräßigkeit‹ genannt und wird es auch demjenigen, der sie hat, übertragen, genauso genannt zu werden. […]«) 50 Vgl. Phaidr. ���b�–�: »[…] Περὶ δ᾽ αὖ μέϑας τυραννεύσασα, τὸν κεκτημένον ταύτῃ ἄγουσα, δῆλον οὗ τεύξεται προσρήματος. […]« (»[…] Wenn aber diejenige, die sich auf den Trunk bezieht, tyrannisiert und den, der sie erworben hat, führt, dann ist klar, welche Anrede sie erhält. […]«) 51 Vgl. Phaidr. ���b�–�: »Καὶ τἆλλα δὴ τὰ τούτων ἀδελφὰ καὶ ἀδελφῶν ἐπιϑυμιῶν ὀνόματα τῆς ἀεὶ δυναστευούσης ᾗ προσήκει καλεῖσϑαι πρόδηλον.« (»Und auch die anderen verwandten Namen der verwandten Begierden: immer wenn eine die Machthaberin ist, ist es ganz klar, wie benannt zu werden, es ihr zukommt.«) 52 Vgl. Phaidr. ���b�–c�: »Ἧς δ᾽ ἕνεκα πάντα τὰ πρόσϑεν εἴρηται, σχεδὸν μὲν ἤδη φανερόν, λεχϑὲν δὲ ἢ μὴ λεχϑὲν πάντως σαφέστερον· Ἡ γὰρ ἄνευ λόγου δόξης ἐπὶ τὸ ὀρϑὸν ὁρμώσης κρατήσασα ἐπιϑυμία πρὸς ἡδονὴν ἀχϑεῖσα κάλλους, καὶ ὑπὸ αὖ τῶν ἑαυτῆς συγγενῶν ἐπιϑυμιῶν ἐπὶ σωμάτων κάλλος ἐρρωμένως ῥωσϑεῖσα νικήσασα ἀγωγῇ, ἀπ᾽ αὐτῆς τῆς ῥώμης ἐπωνυμίαν λαβοῦσα, ›ἔρως‹ ἐκλήϑη.« (»Weshalb das Vorausgehende alles erzählt wurde, ist wohl schon fast deutlich, wird aber viel deutlicher, wenn es gesagt wird, als wenn es nicht gesagt wird: Wenn Begierde nämlich, die ohne Vernunft und stärker als die nach dem Besseren stre-
Sokratische Dihairetik � ��
In der anschließenden ersten Rede vertritt Sokrates die These, dass der Umgang mit Nicht-Verliebten dem Umgang mit Verliebten vorzuziehen sei. In seiner zweiten Rede vertritt er hingegen die These, dass der Umgang mit Verliebten dem Umgang mit Nicht-Verliebten vorzuziehen sei. Hintergrund ist dabei, dass er am Anfang der Rede eine andere Dihairese der Liebe entwickelt, so dass er jeweils verschiedene Fragen behandelt. Die zweite Dihairese lässt sich durch den folgenden porphyrischen Baum darstellen: [Wahnsinn]
entstanden aus menschlicher Krankheit
[inspirierender Wahnsinn] Appolons Veränderung der gewohnten Gesetze
Entstanden aus göttlicher Veränderung der gewohnten Gesetze
[einweihender Wahnsinn] Dionysos’ Veränderung der gewohnten Gesetze
[poetischer Wahnsinn] Veränderung der gewohnten Gesetze durch die Musen
[Liebe] Aphrodites und Eros’ Veränderung der gewohnten Gesetze
Abb. 5: Dihairese der Liebe (II)
Die Liebe wird hier als eine Form des Wahnsinns definiert.53 Dabei wird zunächst die Form des Wahnsinns in zwei Arten unterteilt, in die Art des Wahnsinns, der aus menschlichen Krankheiten entsteht, und in die Art des Wahnsinns, der aus einer göttlichen Veränderung von gewohnten Gesetzen entsteht.54
�� bende Meinung ist, zur Lust nach Schönem geführt wurde und wiederum von den ihr verwandten Begierden zur Schönheit von Leibern, wenn sie sich kräftig gestärkt und in der Führung gesiegt hat, erhält sie von diesem Leibe einen Beinamen und wird ›Liebe‹ genannt.«) Dass Sokrates hier eine etymologische Erklärung im Sinn des KRATYLOS für die Bezeichnung (»ῥώμης« – »ἔρως« bzw. Schleiermacher (����/�����): »Leibe« – »Liebe«) vorbringt, ist für die dihairetische Methode irrelevant. 53 Vgl. Phaidr. ���a�–���a�. Die Zusammenfassung in Phaidr. ���a�–b� stellt das dihairetische Vorgehen deutlicher dar. Vgl. hier Phaidr. ���a�–�: »Σωκράτης· […] Μανίαν γάρ τινα ἐφήσαμεν εἶναι τὸν ἔρωτα. Ἦ γάρ; Φαῖδρος· Ναί. […]« (»Sokrates: […] Irgendein Wahnsinn, sagten wir ja, sei die Liebe. Nicht wahr?« Phaidros: Ja. […]) 54 Vgl. Phaidr. ���a�–b�: »[…] Σωκράτης· Μανίας δέ γε εἴδη δύο, τὴν μὲν ὑπὸ νοσημάτων ἀνϑρωπίνων, τὴν δὲ ὑπὸ ϑείας ἐξαλλαγῆς τῶν εἰωϑότων νομίμων γιγνομένην. Φαῖδρος· Πάνυ γε. […]« (»[…] Sokrates: Es gebe aber zwei Formen des Wahnsinns, eine, die aus menschlichen
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Letztere Art wird wiederum in vier Arten unterteilt, je nachdem, welcher Gott die Veränderung bewirkt.55 Appolon bewirke den inspirierenden Wahnsinn,56 an dem die Wahrsager teilhaben, Dionysos den der Einweihungen,57 die Musen den poetischen Wahnsinn58 und Aphrodite bzw. Eros schließlich denjenigen Wahnsinn, der ›Liebe‹ genannt wird.59 Durch die zweifache Bestimmung von ›Liebe‹ wird die dihairetische Methode im PHAIDROS also als Methode der Disambiguierung eines mehrdeutigen Ausdrucks verwendet. Beiden Diahresen liegen anthropologische bzw. religiöse Annahmen zugrunde, die an dieser Stelle nicht weiter interessieren sollen. Für die vorliegende Untersuchung sind hingegen die metaphysischen Voraussetzungen relevant, die auch den Definitionen im EUTHYPHRON zugrunde liegen. Die beiden Dihairesen der Liebe zeigen, dass ein Unterschied zu den früheren Definitionen nicht nur darin besteht, dass in einer Dihairese jeweils mehrere Arten einer Gattung bestimmt werden (die im porphyrischen Baum nebeneinander stehen). Ein Unterschied besteht auch darin, dass in den Dihairesen mehrschrittige Definitionen angegeben werden, so dass nicht nur Arten einer Gattung bestimmt werden (die im porphyrischen Baum unter der Gattung stehen), sondern wiederum auch Arten der so bestimmten Arten. Dass es sich dabei um eine mehrfache Anwendung der Definitionsmethode aus dem EUTHYPHRON handelt, zeigt die Darstellung der porphyrischen Bäume deutlich. Betrachtet man diese in umgekehrter Reihenfolge von unten nach oben, zeigt sich, dass das Definiendum wie im EUTHYPHRON als ein durch eine artspezifische Differenz bestimmter Teil eines Ganzes aufgefasst wird, nämlich als Teil derjenigen Form, die im porphyrischen Baum unmittelbar über ihr genannt ist. Anders als im EUTHYPHRON wird aber auch diese Gattung des Definiendums selbst wiederum als ein durch eine artspezifische Differenz bestimmter
�� Krankheiten, die andere, die aber aus göttlicher Veränderung von gewohnten Gesetzen entsteht. Phaidros: Ganz gewiss. […]«) 55 Vgl. Phaidr. ���b�–�: »[…] Σωκράτης· Τῆς δὲ ϑείας τεττάρων ϑεῶν τέτταρα μέρη διελόμενοι, […]« (»[…] Sokrates: Den göttlichen teilten wir aber in vier Teile von vier Göttern, […]«) 56 Vgl. Phaidr. ���b�: »[…] μαντικὴν μὲν ἐπίπνοιαν Ἀπόλλωνος ϑέντες, […]« (»[…] indem wir den inspirierenden Wahnsinn als den des Apollons setzten, […]«) 57 Vgl. Phaidr. ���b�–�: »Διονύσου δὲ τελεστικήν, […]« (»als den des Dionysos den einweihenden, […]«) 58 Vgl. Phaidr. ���b�: »[…] Μουσῶν δ᾽ αὖ ποιητικήν, […]« (»[…] als den der Musen wiederum den poetischen, […]«) 59 Vgl. Phaidr. ���b�–�: »[…] τετάρτην δὲ Ἀφροδίτης καὶ Ἔρωτος, ἐρωτικὴν μανίαν […]« (»den vierten aber als den der Aphrodite und des Eros, den Wahnsinn der Liebe […]«)
Sokratische Dihairetik � 35
Teil eines Ganzen aufgefasst, nämlich als Teil derjenigen Form, die im porphyrischen Baum wiederum unmittelbar über ihr genannt ist. Wie im EUTHYPHRON wird das Definiendum also durch ein Genus und eine Differentia specifica bestimmt. Es wird aber nicht bloß ein Genus angegeben, sondern selbst wiederum auf dieselbe Weise definiert. Dieser Erweiterung der Definitionsmethode müssen nicht unbedingt geänderte metaphysische Annahmen zugrunde liegen, weil im EUTHYPHRON nicht geleugnet wird, dass Teile von Formen auch selbst wiederum Teile von Formen haben können, bzw. umgekehrt, dass Formen, die Teile haben, auch selbst wiederum Teile von Formen sein können. Im PHAIDROS wird dies aber durch die dihairetische Methode explizit gemacht. Gleichzeitig wird dadurch ein metaphysisches Problem aufgeworfen, das sich im EUTHYPHRON noch nicht gestellt hatte, das Problem der natürlichen Glieder. Das Problem ergibt sich aus der theoretischen Darstellung der dihairetischen Methode durch Sokrates. Er ordnet sie in ���d�–���c� der Dialektik zu und behauptet, dass sie zwei Komponenten enthalte. Die vorausgehende Dihairese der Liebe sei erstens ein Beispiel dafür, das »an vielen Orten Zerstreute in eine einzige Idee zusammen zu treiben«.60 Das bedeutet, für eine Menge von Dingen mit einer Eigenschaft F zu erkennen, dass sie jeweils die Eigenschaft F instantiieren. Für diese Komponente des Vorgehens wird selbst keine Methode angegeben. Zweitens wird aber auf die Methode eingegangen, die entsprechenden Formen der F-heit zu definieren.61 Der Dialektiker müsse die Formen κατ᾽ εἴδη zer-
�� 60 Vgl. Phaidr. ���d�–�: »Σωκράτης· Εἰς μίαν τε ἰδέαν συνορῶντα ἄγειν τὰ πολλαχῇ διεσπαρμένα, ἵνα ἕκαστον ὁριζόμενος δῆλον ποιῇ περὶ οὗ ἂν ἀεὶ διδάσκειν ἐϑέλῃ· ὥσπερ τὰ νυνδὴ περὶ Ἔρωτος — ὃ ἔστιν ὁρισϑέν — εἴτ᾽ εὖ εἴτε κακῶς ἐλέχϑη, τὸ γοῦν σαφὲς καὶ τὸ αὐτὸ αὑτῷ ὁμολογούμενον διὰ ταῦτα ἔσχεν εἰπεῖν ὁ λόγος.« (»Sokrates: Das an vielen Orten Zerstreute in eine einzige Idee zusammen zu treiben, indem er es zusammen erblickt, damit er durch Abgrenzung ein jedes sichtbar machen kann, worüber er auch immer unterrichten will; gerade so, wie das Vorige, was über den Eros – nachdem abgegrenzt wurde, was er ist – sei es gut oder schlecht gesagt wurde, weshalb meine Rede jedenfalls das Klare und das mit sich selbst Übereinstimmen hatte.«) 61 Vgl. Phaidr. ���e�–���b�: »Σωκράτης· Τὸ πάλιν κατ᾽ εἴδη δύνασϑαι διατέμνειν κατ᾽ ἄρϑρα ᾗ πέφυκεν, καὶ μὴ ἐπιχειρεῖν καταγνύναι μέρος μηδέν, κακοῦ μαγείρου τρόπῳ χρώμενον· ἀλλ᾽ ὥσπερ ἄρτι τὼ λόγω τὸ μὲν ἄφρον τῆς διανοίας ἕν τι κοινῇ εἶδος ἐλαβέτην, ὥσπερ δὲ σώματος ἐξ ἑνὸς διπλᾶ καὶ ὁμώνυμα πέφυκε, σκαιά, τὰ δὲ δεξιὰ κληϑέντα, οὕτω καὶ τὸ τῆς παρανοίας ὡς ἐν ἡμῖν πεφυκὸς εἶδος ἡγησαμένω τὼ λόγω, ὁ μὲν τὸ ἐπ᾽ ἀριστερὰ τεμνόμενος μέρος, πάλιν τοῦτο τέμνων οὐκ ἐπανῆκεν πρὶν ἐν αὐτοῖς ἐφευρὼν ὀνομαζόμενον σκαιόν τινα ἔρωτα ἐλοιδόρησεν μάλ᾽ ἐν δίκῃ, ὁ δ᾽ εἰς τὰ ἐν δεξιᾷ τῆς μανίας ἀγαγὼν ἡμᾶς, ὁμώνυμον μὲν ἐκείνῳ, ϑεῖον δ᾽ αὖ τινα ἔρωτα ἐφευρὼν καὶ προτεινάμενος ἐπῄνεσεν ὡς μεγίστων αἴτιον ἡμῖν ἀγαϑῶν. Φαῖ-
36 � Dihairetik
schneiden, das heiße κατ᾽ ἄρϑρα ᾗ πέφυκεν. Diese Stelle ist – für sich genommen – nicht eindeutig zu übersetzen.62 Denn κατά kann entweder »die Gemäßheit u. Rücksicht«63 angeben, nach der geteilt wird, so dass ἄρϑρον als Gelenk aufgefasst werden kann. Κατ᾽ εἴδη zu schneiden, hieße demnach, an den Gelenken, wie sie gewachsen – also natürlich entstanden – sind (φύσις), zu schneiden. Aber κατά kann auch distributiv aufgefasst werden, so dass in Formen geteilt wird, dass also das, was nach dem Schneiden vorliegt, Formen sind. Dabei ist ἄρϑρον als Glied aufzufassen, so dass in Glieder, wie sie natürlich entstanden sind, geschnitten wird. Inhaltlich gesehen ist kaum ein Unterschied auszumachen. Im Sinn der Gemäßheit könnte man die Forderung allenfalls so auffassen, dass natürliche Formen als artspezifische Differenzen angegeben werden müssen. Weil der Status der artspezifischen Differenzen im PHAIDROS aber unklar ist, liegt diese Lesart nicht sonderlich nahe. Entscheidend ist zunächst jedoch, dass es nach beiden Übersetzungen darum geht, dass die mehrfachen Schnitte, durch die eine Form in einer Dihairese mehrfach unterteilt wird, nicht irgendwo, sondern an bestimmten Stellen gezogen werden sollen, die von Natur aus, also nicht aufgrund von Konvention, existieren. Diese realistische Position wird noch verstärkt durch die Metapher des Metzgers, die Sokrates verwendet. Ein Dialektiker müsse die Formen an den Gelenken der Natur so zerschneiden, wie ein Metzger ein Tier zerlegt. Letzterer trennt z. B. die Keule nicht einfach deswegen als solche ab, weil sie eine konventionelle Verkaufseinheit ist. Die Gelenke des Tiers sind natürlich entstanden und damit gibt es auch sachliche Gründe für den Schnitt.64
�� δρος· Ἀληϑέστατα λέγεις.« (»Sokrates: Ebenso auch wieder in Formen zerschneiden zu können, in Glieder, wie sie gewachsen sind, und nicht zu versuchen, irgendeinen Teil zu zerbrechen, indem er sich die Sitte eines schlechten Kochs aneignet; sondern so wie beiderlei Reden vorhin die Tollheit des Verstandes in eine Form zusammengefasst haben, und so wie aus einen Körper Zweifaches und Gleichnamiges herauswächst, obwohl das eine als Linkes und das andere als Rechtes bezeichnet wird, so gingen beiderlei Reden auch davon aus, dass die Form des Wahnsinns als eine in uns gewachsen ist, während die eine den links abgeschnittenen Teil, ihn wiederum zerschneidend, nicht eher losließ, ehe sie darin eine gewisse, wie man sagen könnte, linke Liebe auffand und sehr zu recht schmähte; die andere aber, die uns nach rechts zum Wahnsinn führte, und nachdem sie ein jener zwar gleichnamige, aber göttliche Liebe darin auffand und vorzeigte, sie diese als Ursache unserer großen Güter lobte. Phaidros: Du sprichst ganz wahr.«) 62 Erst im POLITIKOS ist eine klare Entscheidung möglich. Vgl. unten, Abschnitt �.�.�. 63 Gemoll/Vretska/Kronasser (����/�����): κατά. 64 Der Metzger hat vor allem zwei Gründe für den Schnitt an den natürlichen Gelenken. Der erste Grund besteht in der Fleischqualität, die unter einem Schnitt inmitten eines natürlichen Gliedes leiden würde, weil das Fleisch an Saft verlöre. Der zweite Grund besteht in dem Ar-
Sokratische Dihairetik � 37
Sofern er dabei jedenfalls an den natürlichen Gelenken schneidet, bedeutet das gleichzeitig, dass er in natürliche Glieder schneidet. Dieses Trennen κατ᾽ εἴδη spricht Sokrates hier nicht zum ersten Mal an.65 In der POLITEIA verwendet er denselben Ausdruck, ähnlich wie hier, um den Unterschied zwischen der sophistischen ἀντιλογικὴ τέχνη (Widerspruchskunst)66 und dem διαλέγεσϑαι (dem Betreiben der Dialektik), dem er das Trennen κατ᾽ εἴδη zuordnet, deutlich zu machen.67 Im KRATYLOS unterteilt (διελέσϑαι) Sokrates die Buchstaben κατ᾽ εἴδη und führt damit eine Dihairese durch,68 ähnlich wie auch im PHAIDROS. Das Problem besteht nun darin, dass Sokrates nichts dazu sagt, was denn die Gelenke oder Glieder der Natur sind und wie sie gefunden werden. Zwar
�� beitsaufwand, der sich mit der Verwendung einer Knochensäge drastisch erhöhen würde. Es ist lohnenswert, sich dies als Analogie für die Durchführung der Dihairesen im Hinterkopf zu behalten. 65 Vgl. dazu Sayre (����: ���–���). 66 Rep. VIII ���a�. Vgl. dazu soph. ���b�–�� bzw. Abschnitt �.�. 67 Vgl. rep. V ���a�–�: »[…] καὶ οἴεσϑαι οὐκ ἐρίζειν ἀλλὰ διαλέγεσϑαι, διὰ τὸ μὴ δύνασϑαι κατ᾽ εἴδη διαιρούμενοι τὸ λεγόμενον ἐπισκοπεῖν, ἀλλὰ κατ᾽ αὐτὸ τὸ ὄνομα διώκειν τοῦ λεχϑέντος τὴν ἐναντίωσιν, ἔριδι, οὐ διαλέκτῳ πρὸς ἀλλήλους χρώμενοι.« (»[…] und sie glauben nicht, dass sie Eristik, sondern dass sie Dialektik betreiben, weil sie nicht imstande sind das Gesagte zu betrachten, indem sie gemäß der Formen unterscheiden, sondern gemäß dem Wort selbst den Gegensatz des Gesagten verfolgen und sich so im Streit, nicht im Gespräch miteinander befinden.«) Damit weist er auf einen Argumentationsfehler in seinem eigenen Gespräch hin, der genau den Problemen entspricht, auf die er im PHAIDROS hinweist. Es wurde nämlich eine These vertreten, die den Ausdruck ›verschieden‹ enthält, ohne dass dabei geklärt wurde, welche Form des Verschiedenen damit gemeint ist. Vgl. rep. V ���b�–�: »Τὸ μὴ τὴν αὐτὴν φύσιν ὅτι οὐ τῶν αὐτῶν δεῖ ἐπιτηδευμάτων τυγχάνειν πάνυ ἀνδρείως τε καὶ ἐριστικῶς κατὰ τὸ ὄνομα διώκομεν, ἐπεσκεψάμεϑα δὲ οὐδ᾽ ὁπῃοῦν τί εἶδος τὸ τῆς ἑτέρας τε καὶ τῆς αὐτῆς φύσεως καὶ πρὸς τί τεῖνον ὡριζόμεϑα τότε, ὅτε τὰ ἐπιτηδεύματα ἄλλῃ φύσει ἄλλα, τῇ δὲ αὐτῇ τὰ αὐτὰ ἀπεδίδομεν.« (»Dass eine nicht-selbe Natur nicht dieselben Geschäfte erhalten soll, das verfolgen wir ganz tapfer und auch eristisch gemäß dem Wort, aber wir haben auf keine Weise untersucht, welche Form des Verschiedenen und des Selben einer Natur und auf was bezogen wir es damals festlegten, als wir einer verschiedenen Natur verschiedene Geschäfte, einer selben aber dieselben zugeteilt haben.«) 68 Vgl. Krat. ���c�–�: »Ἆρ᾽ οὖν καὶ ἡμᾶς οὕτω δεῖ πρῶτον μὲν τὰ φωνήεντα διελέσϑαι, ἔπειτα τῶν ἑτέρων κατὰ εἴδη τά τε ἄφωνα καὶ ἄφϑογγα – οὑτωσὶ γάρ που λέγουσιν οἱ δεινοὶ περὶ τούτων – καὶ τὰ αὖ φωνήεντα μὲν οὔ, οὐ μέντοι γε ἄφϑογγα; Καὶ αὐτῶν τῶν φωνηέντων ὅσα διάφορα εἴδη ἔχει ἀλλήλων;« (»Sollen wir nun so auch als erstes die stimmhaften unterteilen, dann gemäß der Formen der Übrigen die stimmlosen und tonlosen – so nennen sie nämlich diejenigen, die sich damit auskennen – und wiederum auch die, die zwar keine Stimme haben, nicht jedoch tonlos sind? Und von den stimmhaften selbst die sich ebenso voneinander unterscheidenen Arten?«)
�� � Dihairetik
macht die Metapher des Metzgers die realistische Auffassung von den Teilen der Formen sehr deutlich. Es wird aber nicht klar, wie eine Dihairese κατ᾽ εἴδη durchgeführt werden kann.
2.2 Eleatische Dihairetik In diesem Abschnitt wird die These vertreten, dass die in den sokratischen Dialogen offen gebliebene Frage, wie Formen κατ᾽ εἴδη geteilt werden können, durch die eleatische Dihairetik beantwortet wird. Dadurch wird nicht nur die Definitionsmethode verbessert, sondern zugleich eine metaphysische Theorie entwickelt, die sich als eine Antwort auf die Frage verstehen lässt, wovon es Ideen gibt.69 Die eleatische Dihairetik setzt zunächst dieselben Grundannahmen der Ideenlehre voraus, die oben der Ideenlehre im Allgemeinen und damit auch der sokratischen Dihairetik unterstellt wurden. Sie setzt nämlich erstens die Existenz bestimmter einmaliger Formen voraus, so dass alles, was an einer Form der Fheit teilhat, F ist bzw. die Eigenschaft F hat. Sie setzt zweitens voraus, dass eine Form genau dann Art einer Gattung ist, wenn sie Teil von ihr ist.70 Während dabei in der sokratischen Dihairetik offen geblieben ist, ob für jeden natürlichsprachlichen Prädikatausdruck eine solche Form existiert, gehen aus der eleatischen Dihairetik bestimmte Einschränkungen hervor, die im Folgenden aufgezeigt werden. Die dihairetische Methode wird im SOPHISTES anhand des Übungsbeispiels des Angelfischers vom eleatischen Fremden eingeführt, was er wie folgt begründet: […] Ὥσα δ᾽ αὖ τῶν μεγάλων δεῖ διαπο- […] Was aber wiederum im Großen schön durchνεῖσϑαι καλῶς, περὶ τῶν τοιούτων δέδοκ- gearbeitet werden muss, darüber wird von allen ται πᾶσιν καὶ πάλαι τὸ πρότερον ἐν σμι- schon seit jeher geglaubt, dass man sich darum zu-
�� 69 Vgl. Parm. ���a�–d��. 70 Vgl. Jowett (����/�����: IV, ���), Shorey (����/����: ��, Fußnote ��� und ��, Fußnote ���) und Dodds (����: ���), die auf die Ähnlichkeit zwischen dem Vorgehen in Gorg. ���e�–���a� bzw. ���b�–���a� und den Dihairesen der späten Dialoge hinweisen. Dagegen Moravcsik (����c: ���): »To be sure, some of the vocabulary of the later passages is already present in the Gorgias. (δύο εἴδη ϑῶμεν, ���E� [= ���e�]; μόρια, ���B� [= ���b�]; μόριον, ���A� [= ���a�]). But there is no conscious recognition of the implications of this terminology for the Theory of Forms.« Ebenso Moravcsik (����b): ���. Dass Formen Teile haben, implizieren diese Stellen aber nicht nur, sondern behaupten es gerade.
Sokratische Dihairetik � ��
κροῖς καὶ ῥᾴοσιν αὐτὰ δεῖν μελετᾶν, πρὶν ἐν αὐτοῖς τοῖς μεγίστοις. Νῦν οὖν, ὦ Θεαίτητε, ἔγωγε καὶ νῷν οὕτω συμβουλεύω, χαλεπὸν καὶ δυσϑήρευτον ἡγησαμένοις εἶναι τὸ τοῦ σοφιστοῦ γένος πρότερον ἐν ἄλλῳ ῥᾴονι τὴν μέϑοδον αὐτοῦ προμελετᾶν, εἰ μὴ σύ ποϑεν εὐπετεστέραν ἔχεις εἰπεῖν ἄλλην ὁδόν. Θεαίτητος· Ἀλλ᾽ οὐκ ἔχω. Ξένος· Βούλει δῆτα περί τινος τῶν φαύλων μετιόντες πειραϑῶμεν παράδειγμα αὐτὸ ϑέσϑαι τοῦ μείζονος; Θεαίτητος· Ναί.71
erst im Kleinen und Leichten kümmern soll, bevor man sich an das Größte selbst macht. Folglich auch jetzt, mein Theaitetos, rate ich jedenfalls uns beiden, da wir die Gattung des Sophisten für mühsam und schwer zu erjagen halten, an etwas anderem Leichterem die Methode davon einzuüben, wenn du nicht einen anderen Weg von irgendwoher nennen kannst, der bequemer ist. Theaitetos: Das kann ich nicht. Fremder: Willst du also, dass wir, indem wir durch etwas Schlichtes durchgehen, ein Beispiel für das Größere selbst aufstellen? Theaitetos: Ja.
Die Definition der Form des Angelfischers eignet sich gut als Übungsbeispiel für die Definition der Form des Sophisten, weil sich dabei keine inhaltlichen Probleme ergeben. Ξένος· Τί δῆτα προταξαίμεϑ᾽ ἂν εὔγνωστον μὲν καὶ σμικρόν, λόγον δὲ μηδενὸς ἐλάττονα ἔχον τῶν μειζόνων; Οἷον ἀσπαλιευτής· ἆρ᾽ οὐ πᾶσί τε γνώριμον καὶ σπουδῆς οὐ πάνυ τι πολλῆς τινος ἐπάξιον; Θεαίτητος· Οὕτως. Ξένος· Μέϑοδον μὴν αὐτὸν ἐλπίζω καὶ λόγον οὐκ ἀνεπιτήδειον ἡμῖν ἔχειν πρὸς ὃ βουλόμεϑα. Θεαίτητος· Καλῶς ἂν ἔχοι.72
Fremder: Was also sollen wir wohl hervorbringen, was gut zu erkennen und auch klein ist, was aber keine kürzere Erklärung hat, als das Größere? Ist so nicht der Angelfischer? Ist der nicht allen bekannt und durchaus keiner großen Mühe wert? Theaitetos: So ist es. Fremder: Ich hoffe aber, dass auch die Methode selbst eine Erklärung hat, die nicht unangemessen für das ist, was wir wollen. Theaitetos: Das wäre schön, wenn sie eine hätte.
Dem Vorgehen des Fremden entsprechend soll die Methode auch hier anhand dieses Beispiels rekonstruiert werden. Es wird sich als nützlich erweisen, zudem einige Passagen aus dem POLITIKOS zu untersuchen. Dort werden einige methodische Fehler und ihre Korrekturen vorgeführt, woraus sich Regeln der Methode ableiten lassen. Diese Regeln werden sich dabei als restriktiver herausstellen, als man zunächst annehmen könnte.73 Während sie in den sokratischen Dialogen nicht befolgt werden, bilden sie den methodischen Rahmen für das Haupt-
�� 71 Soph. ���c�–e�. 72 Soph. ���e�–���a�. 73 Vgl. Ryle (����: ���): »[…] there is room for almost any amount of arbitrariness in the selection from the ladders of sorts en route for the definition of a given concept.«
�� � Dihairetik
anliegen des SOPHISTES und des POLITIKOS, die Definition des Sophisten und des Politikers.74 Genau darin besteht der wesentliche Unterschied zwischen den sokratischen und den eleatischen Dihairesen. In einem ersten Schritt (Abschnitt �.�.�) wird das Grundmodell der Methode, d. h. die einzelnen Schritte der Prozedur, dargestellt. Danach (Abschnitt �.�.�) werden zusätzliche Regeln angegeben, die im Verlauf der Prozedur eingehalten werden müssen. Damit lassen sich im Folgenden die ersten Überlegungen für die Rekonstruktion der platonischen Ideenlehre als eine formale Mereologie formulieren (Abschnitt �.�.�). Im Anschluss daran werden noch einige technische Kniffe der dihairetischen Methode erörtert (Abschnitt �.�.�), woraus sich Schlussfolgerungen über den metaphysischen Status von artspezifischen Differenzen und der Semantik von Definitionsausdrücken ziehen lassen (Abschnitt �.�.�). Zuletzt wird noch die Metaphorik behandelt, die im SOPHISTES und POLITIKOS für die Darstellung von Dihairesen verwendet wird (Abschnitt �.�.�).
2.2.1 Das Grundmodell der Methode Die dihairetische Untersuchung beginnt im SOPHISTES, nachdem man sich darauf geeinigt hat, dass der Fremde durch Ausfragen75 des Theaitetos76 mit ihm gemeinsam die Was-Ist-Frage77 in Bezug auf den Sophisten beantworten soll. Der Ansatz entspricht damit dem eines typischen sokratischen Dialogs. Es geht, wie in dem vorausgehenden Abschnitt beschrieben, darum, dass vor der Beantwortung einer philosophischen Frage die Bedeutung der darin vorkommenden Ausdrücke geklärt werden muss. Weil also gefragt wurde, ob die Formen des Sophisten, des Politikers und des Philosophen dieselben oder verschieden voneinander sind, müssen zunächst die entsprechenden Was-Ist-Fragen beantwortet werden, wobei man mit der Frage nach dem Sophisten beginnt. […] Νῦν γὰρ δὴ σύ τε κἀγὼ τούτου πέρι […] Denn jetzt haben wir gemeinschaftlich, du und τοὔνομα μόνον ἔχομεν κοινῇ, τὸ δὲ ἔργον ich, nur seinen Namen, sein Werk aber, aufgrund
�� 74 Auch diesbezüglich hält Ryle (����: ��� f.) Dihairesen für philosophisch wertlos: »The sophist consists queerly of a stretch of highly abstract and sophisticated philosopical reasoning sandwiched between some division-operations which presuppose no philosophical sophistication whatsoever.« Vgl. dazu die Kritik von Ackrill (����/����). Die Anwendung der Methode auf die Form des Sophisten wird in Kapitel � untersucht. 75 Vgl. soph. ���c�–d�. 76 Vgl. soph. ���d�–���b�. 77 Vgl. soph. ���c�: »τί ποτ᾽ ἔστι«.
Sokratische Dihairetik � ��
ἐφ᾽ ᾧ καλοῦμεν ἑκάτερος τάχ᾽ ἂν ἰδίᾳ παρ᾽ ἡμῖν αὐτοῖς ἔχοιμεν· Δεῖ δὲ ἀεὶ παντὸς πέρι τὸ πρᾶγμα αὐτὸ μᾶλλον διὰ λόγων ἢ τοὔνομα μόνον συνωμολογῆσϑαι χωρὶς λόγου. Τὸ δὲ φῦλον ὃ νῦν ἐπινοοῦμεν ζητεῖν οὐ πάντων ῥᾷστον συλλαβεῖν τί ποτ᾽ ἔστιν, ὁ σοφιστής· […]78
dessen wir ihn so nennen, haben wir vielleicht wohl, jeder für sich allein, bei uns selbst. Es ist aber immer und über alles nötig, über die Sache selbst am besten durch eine Erklärung anstatt durch ein Wort ohne Erklärung gemeinsam übereinzustimmen. Das ganze Volk aber, das wir jetzt im Sinn haben zu suchen, ist nicht am leichtesten von allen zu fassen, was es wohl ist, der Sophist. […]
Danach einigt man sich darauf, dass zur Übung die Form des Angelfischers dihairetisch bestimmt werden soll.79 Dann setzt das Verfahren ein, das im Folgenden untersucht wird.
2.2.1.1 Die oberste Gattung Die dihairetische Methode beginnt, indem das Definiendum einer sehr allgemeinen Gattung – oder in Bezug auf porphyrische Bäume: einer obersten Gattung – untergeordnet wird, deren Art bzw. Teil sie ist. Ξένος· Φέρε δή, τῇδε ἀρχώμεϑα αὐτοῦ. Καί μοι λέγε· πότερον ὡς τεχνίτην αὐτὸν ἤ τινα ἄτεχνον, ἄλλην δὲ δύναμιν ἔχοντα ϑήσομεν; Θεαίτητος· Ἥκιστά γε ἄτεχνον.80
Fremder: Wohlan denn, lass uns mit ihm [dem Angelfischer] beginnen. Sage mir, wollen wir ihn entweder als einen Künstler oder als irgendeinen Kunstlosen, der aber irgendein anderes Vermögen hat, setzen? Theaitetos: Keineswegs doch als einen Kunstlosen.
Von der obersten Gattung der Kunst geht nicht nur diese Dihairese des Angelfischers aus, sondern später auch die Dihairese des Politikers. Deswegen bezieht sich der Fremde in polit. ���b�–� zurück auf die vorliegende Stelle. Im POLITIKOS wird aber statt τεχνίτης (Künstler) der Ausdruck ἐπιστήμων (Wissender) verwendet. Das geht mit zahlreichen Stellen in beiden Dialogen einher,81 woraus folgt, dass τέχνη (Kunst) und ἐπιστήμη (Wissen) synonym verwendet werden. Eine bestimmte Kunst zu besitzen bedeutet also, ein bestimmtes Wissen zu haben.
�� 78 Soph. ���c�–�. 79 Vgl. soph. ���c�–d�. 80 Soph. ���a�–�. 81 Vgl. z. B. soph. ���c�–��.
42 � Dihairetik
Im SOPHISTES wird der Ausgangspunkt der Dihairesen nicht kommentiert und es folgt unmittelbar der erste Einteilungsschritt. Auch im POLITIKOS wird zunächst keine Begründung für die Wahl gegeben, aber nach dem ersten Einteilungsschritt82 nachgereicht.83 Als Beispiel wird dort zunächst darauf hingewiesen, dass es zwei verschiedene Verwendungen des Ausdrucks ›Arzt‹ gibt: Einerseits könne er als Bezeichnung für ein bestimmtes Amt verwendet werden. In diesem Sinne dürfe sich ein Privatmann nicht Arzt nennen. Andererseits könne er als Bezeichnung für eine bestimmte Kunst (»τοὔνομα τῆς τέχνης«) verwendet werden. In diesem Sinn dürfe sich der Privatmann sogar viel eher als Arzt bezeichnen, als die öffentlich angestellten Ärzte dazu berechtigt sind, wenn er imstande ist, diese in medizinischen Fragen beraten zu können. Ebenso verhalte es sich mit dem Ausdruck ›Politiker‹. Auch hier lässt sich nämlich ein Unterschied zwischen dem Tragen eines Amtes und einer Kunst machen. Mit der Wahl der obersten Gattung legt man entsprechend den Gegenstand der Untersuchung fest. Man interessiert sich also nicht für die empirische Frage nach den Bedingungen dafür, dass jemand eine bestimmte Macht als Politiker hat, sondern nach seiner Kunst, die er haben muss, um seine Funktion als Politiker (gut) ausführen zu können. Das bedeutet nicht, dass die andere Frage mithilfe der dihairetischen Methode nicht zu beantworten wäre, aber das philosophische Interesse besteht in diesem Fall eben nicht in dieser Frage. Das bedeutet für die Dihairese des Angelfischers also, dass mit der Wahl der obersten Gattung die Fragestellung der Untersuchung festgelegt ist: Es geht nicht um den Angelschein, sondern um die Frage, was für eine Kunst ein guter Angelfischer ausübt bzw. welche Art von Wissen er dafür braucht. Man könnte die Frage stellen, wie allgemein die oberste Gattung sein muss, die man als Ausgangspunkt wählt. Platon sagt dazu nichts Explizites. Aber die Dihairesen, die vom eleatischen Fremden durchgeführt werden, dürften deutlich machen, dass die Form der Kunst in Hinsicht auf die sehr speziellen Arten, die definiert werden sollen, sehr allgemein ist.84 Das wird im Folgenden auch �� 82 Vgl. polit. ���b�–e�. 83 Vgl. polit. ���e�–���c�. 84 Genau betrachtet wird sogar eine noch allgemeinere Gattung angegeben, nämlich in soph. ���b� die δύναμις (Vermögen), vgl. ���e�–�. Das geschieht allerdings nur nebenbei, denn es folgt – anders als sonst nach der Angabe einer obersten Gattung – kein Einteilungsschritt, insofern nicht angegeben wird, welche Arten es von dieser Gattung neben der Kunst noch gibt. Diese Frage beantworten zu wollen, würde auch sehr abstrakte ontologische Überlegungen voraussetzen, die den geforderten Definitionen sicherlich nicht mehr nützlich wären.
Sokratische Dihairetik � ��
daran deutlich, wie viele Einteilungsschritte nötig sind, bis die Form des Angelfischers erreicht ist. Bei einer möglichst allgemeinen Gattung zu beginnen, hat zwei Vorteile. Erstens erhält man durch den Beginn bei einer möglichst allgemeinen Gattung eine möglichst informative Definition. Definiert man nämlich eine Form x� durch die Angabe einer Gattung x� und einer artspezifischen Differenz, dann kann weiter nach einer Definition der Gattung x� gefragt werden. Sie lässt sich selbst durch eine weitere Gattung x� und eine artspezifische Differenz definieren, die Gattung x� wiederum durch eine weitere Gattung x� und eine artspezifische Differenz, etc. Wie sich im Folgenden zeigen wird, geht die Dihairetik dabei in umgekehrter Reihenfolge vor, so dass ausgegangen von x� als oberste Gattung zunächst eine Definition von x� gegeben wird und dann die von x�. Geht man also von x� anstelle von x� als oberster Gattung aus, erhält man zugleich eine Definition von x�, etc. Zweitens wird durch die Wahl einer möglichst allgemeinen Gattung als Ausgangspunkt der Dihairese die Fehlerquelle minimiert, dass für die Definition einer Form x� eine Form x� als Gattung angegeben wird, die in der Tat nicht ihre Gattung ist. Wie sich im Folgenden nämlich zeigen wird, werden dadurch möglichst viele Kriterien dafür genannt, dass x� wirklich eine Gattung von x� ist, und gleichzeitig möglichst viele Alternativen aufgezeigt.
2.2.1.2 Dihairese 2.2.1.2.1 Die Bestimmung der Arten Nachdem eine oberste Gattung festgelegt wurde, folgt der Schritt der eigentlichen Dihairese,85 der Zerteilung dieser Form. Ξένος· Ἀλλὰ μὴν τῶν γε τεχνῶν πασῶν Fremder: Aber von allen Künsten gibt es wohl ungeσχεδὸν εἴδη δύο. fähr zwei Formen. Θεαίτητος· Πῶς;86 Theaitetos: Wie?
�� 85 Der Ausdruck ›Dihairese‹ wird in der Fachliteratur uneinheinheitlich verwendet: erstens für denjenigen Schritt im Definitionsverfahren, um den es in dem vorliegenden Abschnitt geht, nämlich die Zergliederung einer Gattung, zweitens für eine Durchführung des gesamten Verfahrens und drittens für ein Ergebnis dieses Verfahrens, das durch einen porphyrischen Baum dargestellt werden kann. Entsprechend wird der Ausdruck auch im Folgenden verwendet, jedoch so, dass im Kontext jeweils deutlich wird, was gemeint ist. 86 Soph. ���a�–�.
�� � Dihairetik
Die Erwähnung von »zwei Formen« (»εἴδη δύο«) wird zur Kennzeichnung einer Dihairese häufig, wie auch hier, als eine Art von Überschrift vorangestellt.87 Zugleich wird mit einem anschließenen Genitiv, hier: »von allen Künsten« (»τεχνῶν«), eine Gattung angegeben, so dass für die Definitionen der beiden Arten noch jeweils eine artspezifische Differenz angegeben werden muss. Für die Bestimmung dieser gibt es keine strengen methodischen Regelungen und von Fall zu Fall muss der Kontext entscheiden, wie viel Aufwand betrieben werden muss, damit der Gesprächspartner weiß, was gemeint ist.88 Im vorliegenden (typischen) Fall werden beide Arten nacheinander bestimmt. Dabei wird jeweils zunächst eine sogenannte Synagôgê angegeben, eine Sammlung von Formen, die wiederum Arten der zu bestimmenden Art sind. Danach wird die artspezifische Differenz der zu bestimmenden Art angegeben. Von der ersten Art der Kunst werden folgende Arten genannt: Ξένος· Γεωργία μὲν καὶ ὅση περὶ τὸ ϑνητὸν πᾶν σῶμα ϑεραπεία, τό τε αὖ περὶ τὸ σύνϑετον καὶ πλαστόν, ὃ δὴ »σκεῦος« ὠνομάκαμεν, ἥ τε μιμητική, σύμπαντα ταῦτα δικαιότατ᾽ ἂν ἑνὶ προσαγορεύοιτ᾽ ἂν ὀνόματι. Θεαίτητος· Πῶς καὶ τίνι;89
Fremder: Die Landwirtschaft und jede Behandlung irgendeines sterblichen Körpers und wiederum, was sich auf das Zusammengebaute und Geformte bezieht, das wir »Gerät« nennen, und auch die nachahmende Kunst, dies alles kann wohl mit Recht durch einen einzigen Namen zusammengefasst werden. Theaitetos: Wie und durch welchen?
Den aufgezählten Formen ist es gemein, dass sie Arten von Künsten sind, die etwas hervorbringen, sie sind also Arten der hervorbringenden Kunst. Häufig genügt eine solche Aufzählung von Arten der zu bestimmenden Art, um dem Gesprächspartner deutlich zu machen, welche Art gemeint ist. Das wird hier aber noch nicht sonderlich klar, zumal auch fraglich ist, was die »Behandlung irgendeines sterblichen Körpers« hervorbringen sollte. Weil Theaitetos also nachfragt, gibt der Fremde im Folgenden die artspezifische Differenz der zu bestimmenden Art an.
�� 87 Vgl. soph. ���a�, d�, ���b��, ���b�–�, ���c�, ���c��–��, ���c�, d��, ���b�, ���d�, ���d�–�, e�, ���a��, polit. ���c�, ���c�. Vgl. ebenso auch Gorg. ���e�, Phaidr. ���a�, Tht. ���a�. Dieselbe Verwendung findet sich schließlich auch in leg. I ���c�, was dafür spricht, dass Platon auch dort noch in demselben Sinn Formen und ihre Teile annimmt. 88 Mehr dazu in Abschnitt �.�.�.�.�. 89 Soph. ���a��–b�.
Sokratische Dihairetik � ��
Ξένος· Πᾶν ὅπερ ἂν μὴ πρότερόν τις ὂν ὕστερον εἰς οὐσίαν ἄγῃ, τὸν μὲν ἄγοντα ποιεῖν, τὸ δὲ ἀγόμενον ποιεῖσϑαί πού φαμεν. Θεαίτητος· Ὀρϑῶς. Ξένος· Τὰ δέ γε νυνδὴ διήλϑομεν ἅπαντα εἶχεν εἰς τοῦτο τὴν αὑτῶν δύναμιν. Θεαίτητος· Εἶχε γὰρ οὖν.90
Fremder: Wenn wer auch immer etwas, was vorher nicht war, zum Sein bringt, dann wird wohl gesagt, dass der Bringende es erschaffe, das Gebrachte aber erschaffen werde. Theaitetos: Richtig. Fremder: Was wir gerade eben durchgegangen sind, das alles zusammen hatte darin seine Fähigkeit. Theaitetos: Das hatte sie ganz gewiss.
In diesem Fall wird als artspezifische Differenz der zu definierenden Art das Hervorbringen genannt. Was damit gemeint ist, wird hier sogar selbst wiederum durch die Definition als das Zum-Sein-Bringen von etwas, was vorher nicht existiert hat, geklärt. Aber auch dies ist kein fester Bestandteil der dihairetischen Prozedur. Zum Standardfall der Bestimmung einer Art gehört aber, wie auch hier, die Benennung dieser Art. Ξένος· »Ποιητικὴν« τοίνυν αὐτὰ συγκεφαλαιωσάμενοι προσείπωμεν. Θεαίτητος· Ἔστω.91
Fremder: Die »erschaffende Kunst« wollen wir dies also zusammenfassend nennen! Theaitetos: So sei es.
Damit ist die Bestimmung der ersten Art abgeschlossen. Es wurde die »erschaffende Kunst«92 als diejenige Kunst definiert, durch die »etwas, was vorher nicht war, zum Sein« gebracht wird.93 Nach einem ähnlichen Schema erfolgt die Definition der zweiten Art: Ξένος· Τὸ δὴ μαϑηματικὸν αὖ μετὰ τοῦτο εἶδος ὅλον καὶ τὸ τῆς γνωρίσεως τό τε χρηματιστικὸν καὶ ἀγωνιστικὸν καὶ ϑηρευτικόν, ἐπειδὴ δημιουργεῖ μὲν οὐδὲν τούτων, τὰ δὲ ὄντα καὶ γεγονότα τὰ μὲν χειροῦται λόγοις καὶ πράξεσι, τὰ δὲ τοῖς χειρουμένοις οὐκ ἐπιτρέπει, μάλιστ᾽ ἄν που διὰ ταῦτα συνάπαντα τὰ μέρη τέχνη
Fremder: Danach wiederum die ganze Form des Lernens und des Erkennens, des Geschäfts, des Kämpfens und des Jagens, da ja keine von ihnen etwas verfertigt, sondern einige sich Seiendes und Gewordenes gewaltsam durch Wort und Tat aneignen, andere denjenigen nicht nachgeben, die es sich aneignen wollen, dürfte eine Kunst wohl am besten durch alle diese Teile hindurch hervor-
�� 90 Soph. ���b�–��. 91 Soph. ���b��–c�. 92 In ���b�� ist »Ποιητικὴν« durch »τέχνην« zu ergänzen, dessen Ausfall im Griechischen üblich ist. 93 Diese Definition der poetische (ποιητικὴ) bzw. »erschaffende Kunst« ist bereits auch symp. ���b�–c� bekannt.
�� � Dihairetik
τις »κτητικὴ« λεχϑεῖσα ἂν διαπρέψειεν. Θεαίτητος· Ναί· πρέποι γὰρ ἄν.94
scheinen, wenn sie eine »Erwerbskunst« genannt würde. Theaitetos: Ja, das wäre ganz hervorragend.
Als artspezifische Differenz der zweiten hier angegebenen Art der Kunst wird der Erwerb genannt. Dies wird wie bei der ersten Art zunächst durch eine Synagôgê deutlich gemacht. Allen aufgezählten Formen ist es gemein, dass sie Formen von Künsten sind, durch die etwas erworben wird. Es folgt zwar keine Definition wie im ersten Fall, aber durch die Benennung als »Erwerbskunst« dürfte hinreichend klar gemacht sein, was gemeint ist, zumal der Ausdruck ›Erwerb‹ wahrscheinlich zu der Art von Wörtern zu zählen ist, »über die wir übereinstimmen«.95 Mit dieser Bestimmung ihrer zwei Arten ist die Gattung der Kunst dihairetisch geteilt. Dass die Arten dabei durch die Angabe ihrer Gattung und ihrer artspezifischen Differenz bestimmt werden, äußert sich in der Regel auch dadurch, dass sie durch einen zusammengesetzten Ideennamen benannt werden, so auch im vorliegenden Beispiel durch κτητικὴ τέχνη (Erwerbskunst).96 Ein solcher Definitionsausdruck besteht zum einen aus einem Attribut (κτητικὴ), das für eine artspezifische Differenz angegeben wird, und zum anderen aus einem Nomen, das durch das Attribut näher bestimmt wird. Bei dem Nomen handelt es sich dabei entweder um den Gattungsnamen selbst (τέχνη) oder um Ausdrücke wie εἶδος (Form) oder μέρος (Teil), denen sich wiederum der Gattungsname als Genitivobjekt anschließt. Die Bedeutung ist jeweils dieselbe: Es werden zusammengesetzte Ideennamen für das Definiendum angegeben, die Teilausdrücke für das Genus einerseits und die Differentia specifica andererseits beinhalten.
2.2.1.2.2 Methoden der Dihairese Für die Definition der Arten genügt es in der Dihairese nicht immer, Ausdrücke für die artspezifischen Differenzen anzugeben. Manchmal ist nicht ohne Weiteres klar, was mit einem solchen Ausdruck gemeint ist und manchmal ist nicht klar, in welcher Hinsicht dadurch die Gattung spezifiziert werden soll.
�� 94 Soph. ���c�–�. 95 Vgl. Phaidr. ���b� bzw. Abschnitt �.�.�. 96 Ohne den im Griechischen nicht unüblichen Ausfall von ›τέχνη‹ vgl. soph. ���a�–�, ���c�, ���a�–�.
Sokratische Dihairetik � ��
In solchen Fällen gibt es kein einheitliches Vorgehen für die Definition der Arten. Der Fremde gibt teilweise Erklärungen an, ohne dabei eine besondere Methode zu verfolgen, und teilweise, indem er eine Methode verfolgt, die er für den jeweiligen Fall angemessen hält. In polit. ���d�–���e� trägt er beispielsweise einen langen Mythos vor, um die dihairetische Unterscheidung zwischen einem göttlichen Hüten und einer menschlichen Fürsorge einzuführen.97 Im SOPHISTES werden zwei Methoden zur Bestimmung der Arten häufig angewendet, die Synagôgê und das Beispiel.
a) Die Synagôgê Der Ausdruck ›Synagôgê‹ stammt von dem in Phaidr. ���b� verwendeten συναγωγή (Zusammentreiben) ab, was sich dort auf die oben bereits erwähnte Stelle in ���d�–� über das an vielen Orten Zerstreute in eine einzige Idee zusammen Treiben bezieht. In der vorliegenden Arbeit wird er für die im Folgenden besprochene dihairetische Technik verwendet, wie sie vor allem im SOPHISTES und POLITIKOS verwendet wird. Es handelt sich dabei um eine Sammlung von Arten einer wiederum zu bestimmenden Art. In der Dihairese der Kunst wurde die Methode oben angewendet, indem die hervorbringende Art der Kunst in ���a��–b� durch die Angabe einiger ihrer Arten bestimmt wurde. Dass dies wiederum Arten der zu bestimmenden Art sind, bedeutet, dass Teile von ihr aufgezählt werden. Das ist keine Definition im strengen Sinn, ist in vielen Fällen aber hinreichend dafür, dass der Gesprächspartner weiß, was gemeint ist. Die Angabe der Synagôgê ist nicht zu verwechseln mit einer Angabe von Partikularia, die unter die gesuchte Form fallen. Diese haben die Form als Eigenschaft, nicht als Gattung.98 Im Dialog THEAITETOS unterscheidet sich dadurch die Antwort von Theaitetos auf Sokrates’ τί ἐστιν-Frage99 von den Antworten, die üblicherweise zunächst von den Gesprächspartnern des Sokrates gegeben werden. Er zählt nämlich Arten des Definiendums ›Wissen‹ auf100 und nicht Leute, �� 97 Vgl. polit. ���e�–���d�. 98 Zu dieser Unterscheidung (durch Platon) siehe Abschnitt �.�. 99 Vgl. Tht. ���e�–���a�: »Τοῦτ᾽ αὐτὸ τοίνυν ἐστὶν ὃ ἀπορῶ καὶ οὐ δύναμαι λαβεῖν ἱκανῶς παρ᾽ ἐμαυτῷ, ἐπιστήμη ὅτι ποτὲ τυγχάνει ὄν.« (»Dies ist es nun, worin ich in der Sackgasse stecke und was ich alleine nicht hinreichend erfassen kann: was die Erkenntnis denn eigentlich ist.«) 100 Vgl. Tht. ���c�–d�: »Δοκεῖ τοίνυν μοι καὶ ἃ παρὰ Θεοδώρου ἄν τις μάϑοι ἐπιστῆμαι εἶναι, γεωμετρία τε καὶ ἃς νυνδὴ σὺ διῆλϑες, καὶ αὖ σκυτοτομική τε καὶ αἱ τῶν ἄλλων δημιουργῶν τέχναι, πᾶσαί τε καὶ ἑκάστη τούτων, οὐκ ἄλλο τι ἢ ἐπιστήμη εἶναι.« (»Es scheint mir nun, dass das, was einer von Theodoros lernen kann, Erkenntnisse sind, nämlich Geometrie und die
48 � Dihairetik
die Wissen haben.101 Zwar moniert Sokrates auch diese Antwort,102 als erster Schritt ist sie aber wesentlich besser als die üblichen Antworten.103 Das Problem besteht darin, dass Partikularia ganz unterschiedliche Eigenschaften und damit auch ganz unterschiedliche Gemeinsamkeiten haben, so dass man nicht wüsste, welche gemeint sind (z. B. die Größe, die Haarfarbe oder eben das Wissen der aufgezählten Leute). In gewisser Weise ist eine Synagôgê eine verkürzte Dihairese, insofern unsortiert Arten einer Form aufgezählt werden, die geordnet auch durch entsprechende Dihairesen aufgezeigt werden könnten.104 Bisweilen gibt es aber auch eine strukturierte Synagôgê. Dabei werden nicht nur Arten der zu bestimmenden Art aufgelistet, sondern zugleich so geordnet, dass eine dihairetische Struktur von den Teilen der zu bestimmenden Art deutlich wird. Im Fall der Erwerbskunst werden die zunächst in ���c�–� unsortiert genannten Arten durch die τὰ δὲ … τὰ δὲ-Konstruktion (einige … andere) in ���c�–� in zwei Arten der zu bestimmenden Erwerbskunst unterschieden.105 Auch dieses Vorgehen kann manchmal hilfreich sein, um dem Gesprächspartner noch deutlicher zu machen, auf welche Art er sich bezieht. Im SOPHISTES und POLITIKOS wird häufig auch eine Synagôgê der artspezifischen Differenz verwendet. Dabei werden nicht Arten einer zu bestimmenden Art aufgezählt, sondern Arten der Differentia specifica der zu bestimmenden Art. Indem dadurch der Ausdruck für die artspezifische Differenz geklärt wird, wird dem Gesprächspartner wiederum auch deutlich gemacht, um welches Defi-
�� anderen Künste, die du vorhin nanntest, und wiederum auch, dass die Schuhmachkunst und die der anderen Handwerker alle und auch jede einzelne von ihnen nichts anderes als Erkenntnis sind.«) 101 Deswegen ist die Analyse des Problems von Kranz (����: �) der Sache nicht angemessen: »Mit modernem logischen Vokabular ließe sich sagen, Sokrates fragt nicht nach der Extension, sondern der Intension eines Begriffs.« Das gilt für die üblichen Antworten, aber nicht für die des Theaitetos. 102 Vgl. Tht. ���d�–���c�. 103 Hintergrund dafür, dass Theaitetos hier eine bessere Antwort als andere Gesprächspartner des Sokrates gibt, ist sicherlich die Tatsache, dass er sich selbst bereits mit Definitionen auseinandergesetzt hat, wobei er sich selbst sogar die Methode der (sokratischen) Dihairetik ausgedacht hat. Vgl. Tht. ���c�–���b�. 104 Dies wird beispielsweise durch die Dihairese der hervorbringenden Kunst in ���c�–� deutlich. Die Form »des Geschäfts« wird später in soph. ���c�–�� dihairetisch bestimmt, die Form »des Kämpfens« in ���d��–e� und die Form »des Jagens« in ���e�–���a�. 105 Die Unterscheidung entspricht hier allerdings nicht der in soph. ���d�–� durchgeführten Dihairese der Erwerbskunst.
Sokratische Dihairetik � ��
niendum es sich handelt. In Abschnitt �.�.�.� wird diese Technik ausführlicher behandelt. In der englischsprachigen Literatur wird die Dihairetik häufig als die Methode der collection and division bezeichnet. Damit bezieht man sich einerseits auf die beiden Komponenten der oben bereits untersuchten theoretischen Erörterung im PHAIDROS, ���d�–� und ���d�–���b�. Andererseits wird dabei unter collection die Methode der Synagôgê und unter division der Schritt der eigentlichen Dihairese verstanden. Dagegen wird im PHAIDROS die Methode der Synagôgê aber nicht verwendet, so dass es dort entsprechend der obigen Interpretation darum gehen wird, eine Form zu entdecken, an der jedes Element einer Menge von Partikularia teilhat. Ferner ist die Synagôgê keine Methode, die notwendig in jeder Dihairese vorkommt und verwendet werden muss. Deswegen ist die Rede von der collection and division irreführend.
b) Das Beispiel Die Verwendung eines Beispiels ist eine Methode etwas zu erklären, die auch von Sokrates schon verwendet wurde.106 Im POLITIKOS erklärt sie der eleatische Fremde ausführlich.107 Er definiert dort, »dass ein Beispiel dann entsteht, wenn etwas, das in einem getrennten anderen dasselbe ist, richtig vorgestellt und mit einem jeden von beiden in Verbindung gebracht wird, so dass beide zusammen eine einzige richtige Vorstellung hervorbringen.«108 Das, was in einem bestimmten Kontext (Ausgangskontext) erklärt werden soll, wird dabei »in einem getrennten anderen« Kontext (Beispielkontext), in dem es »dasselbe ist«, aufgezeigt, weil es in diesem Kontext leichter zu verstehen ist.109 Im Rahmen von Dihairesen werden manchmal Beispiele verwendet, indem die Zerteilung einer Gattung (Ausgangskontext) anhand der Zerteilung einer
�� 106 Vgl. die in Abschnitt �.�.� genannten Beispiele zur Bestimmung der Teil-Ganzes-Relation zwischen Formen, Euthyphr. ��c�–�, c��–d�. Vgl. ebenso Tht. ���c�–�, ���c�–���e�, ���b�–d�, ���d�–���b��. 107 Vgl. polit. ���a�–���a�. 108 Vgl. polit. ���c�–�: »[…] ὅτι παραδείγματός γ᾽ ἐστὶ τότε γένεσις, ὁπόταν ὂν ταὐτὸν ἐν ἑτέρῳ διεσπασμένῳ δοξαζόμενον ὀρϑῶς καὶ συναχϑὲν περὶ ἑκάτερον ὡς συνάμφω μίαν ἀληϑῆ δόξαν ἀποτελῇ«. 109 Vgl. polit. ���e�–���c�, wo die Verwendung eines Beispiels am Beispiel des Lesenlernens erklärt wird. Vgl. ebenso soph. ���c�–���a�, wo die dihairetische Methode anhand des einfachen Beispiels des Angelfischers erklärt wird, bzw. polit. ���a�–���a�, wo eine Dihairese der Webkunst als ein einfaches Beispiel für ein schwieriges Problem durchgeführt wird.
�� � Dihairetik
anderen Gattung (Beispielkontext) erklärt wird, in der die artspezifischen Differenzen jeweils dieselben sind.
2.2.1.3 Klassifizierung Wenn eine der im Schritt der Dihairese bestimmten Arten identisch mit dem Definiendum ist, hat die Prozedur ihr Ziel erreicht und es kommt zum Abschluss.110 Andernfalls folgt, wie hier, die Klassifizierung: Ξένος· Κτητικῆς δὴ καὶ ποιητικῆς συμπασῶν οὐσῶν τῶν τεχνῶν ἐν ποτέρᾳ τὴν ἀσπαλιευτικήν, ὦ Θεαίτητε, τιϑῶμεν; Θεαίτητος· Ἐν κτητικῇ που δῆλον.111
Fremder: Wenn nun gänzlich alle Künste zur erwerbenden oder zur erschaffenden gehören, in welche von beiden wollen wir, mein Theaitetos, den Angelfischer setzen? Theaitetos: In die erwerbende doch gewiss.
Dabei muss die Frage beantwortet werden, welche der durch die Dihairese erzeugten Arten eine Gattung des Definiendums ist. Das wird hier mit »ἐν« (»in«) im mereologischen Jargon formuliert. Mit der Klassifizierung ist ein Durchlauf der Prozedur abgeschlossen, die im Folgenden wiederholt werden muss.
2.2.1.4 Iteration Ab dem zweiten Durchlauf der Prozedur muss die Frage nach der obersten Gattung nicht mehr gestellt werden. Stattdessen wird die im vorausgehenden Schritt der Klassifizierung gewählte Art als Gattung gesetzt, so dass mit dem Schritt der Dihairese fortgesetzt werden kann. Ansonsten ist der Ablauf derselbe wie im ersten Durchlauf. Ξένος· Κτητικῆς δὲ ἆρ᾽ οὐ δύο εἴδη; Τὸ μὲν ἑκόντων πρὸς ἑκόντας μεταβλητικὸν ὂν διά τε δωρεῶν καὶ μισϑώσεων καὶ ἀγοράσεων, τὸ δὲ λοιπόν, ἢ κατ᾽ ἔργα ἢ κατὰ λόγους χειρούμενον σύμπαν, χειρωτικὸν ἂν εἴη; Θεαίτητος· Φαίνεται γοῦν ἐκ τῶν εἰρημένων.112
�� 110 Siehe unten, Abschnitt �.�.�.�. 111 Soph. ���d�–�.
Fremder: Gibt es nicht aber zwei Formen der Erwerbskunst? Einerseits die von Freiwilligen für Freiwillige, die durch Geschenke, Vermietung und Kauf tauschhandelnd ist; andererseits die Übrige im Ganzen, die durch Worte oder Taten gewalttätige, wäre das wohl die erobernde? Theaitetos: So scheint es jedenfalls aufgrund des Gesagten.
Sokratische Dihairetik � ��
Die Gattung der Erwerbskunst wird hinsichtlich des Willens des ›Geschäftspartners‹ in zwei Arten unterteilt. Er kann entweder ein Geschäftspartner im eigentlichen Sinn sein, also das Geschäft freiwillig eingehen, oder unfreiwillig sein, also mit Gewalt gezwungen werden.113 Die erste artspezifische Differenz bestimmt die Kunst des Tauschhandels, die zweite die Eroberungskunst. Wie im ersten Schritt werden zusammengesetzte Definitionsausdrücke genannt, die jeweils aus einem Teilausdruck für die Gattung und einem für die artspezifische Differenz bestehen. Beide Definitionsausdrücke werden in diesem Fall durch die τὸ μὲν-τὸ δὲ-Konstruktion (einerseits-andererseits) verkürzt wiedergegeben. Zu ergänzen ist jeweils das κτητικῆς εἶδος aus der einleitenden Frage ���d�, so dass diejenige Erwerbskunst einerseits und diejenige Erwerbskunst andererseits gemeint sind. Die erste Form wird durch das Attribut »ἑκόντων πρὸς ἑκόντας« spezifiziert, also als diejenige Erwerbskunst bezeichnet, die »von Freiwilligen für Freiwillige« ist. Die zweite Form wird durch das Attribut »χειρούμενον« spezifiziert, also als die »gewalttätige« Erwerbskunst bezeichnet. Insofern der so zusammengesetzte Definitionsausdruck selbst ein Ideenname ist, können Definitionen als Identitätsaussagen aufgefasst werden. Eroberungskunst
=
Erwerbskunst
durch Gewalt
Abb. 6: Definition der Eroberungskunst (I)
Der zusammengesetzte Definitionsausdruck, der aus den Teilausdrücken für das Genus proximum und die Differentia specifica besteht, ist also synonym zu dem Ausdruck für das Definiendum und es dürfen entsprechende Substitutionen vorgenommen werden. Weil die Gattung der Erwerbskunst im vorausgehenden Schritt der Dihairese selbst durch einen zweistelligen Definitionsausdruck (κτητικὴ τέχνη) benannt wurde, lässt sich dieser Definitionsausdruck entsprechend für die Gattung substituieren, so dass man einen dreistelligen Definitionsausdruck für die Eroberungskunst erhält: Eroberungskunst
=
Kunst
des Erwerbens
Abb. 7: Definition der Eroberungskunst (II)
�� 112 Soph. ���d�–�. 113 Zur hier verwendeten Synagôgê vgl. Abschnitt �.�.�.�.
durch Gewalt
�� � Dihairetik
In jedem dihairetischen Schritt erhält man auf diese Weise ein Glied mehr im Definitionsausdruck. Der Schritt der Klassifizierung erfolgt nicht immer explizit. Weil der Fisch klarerweise nicht freiwillig gefangen wird, wird der Angelfischer unter die Eroberungskunst gesetzt, so dass ausgehend von dieser Gattung der nächste dihairetische Schritt folgt. Ξένος· Τί δέ; Τὴν χειρωτικὴν ἆρ᾽ οὐ διχῇ τμητέον; Θεαίτητος· Πῇ; Ξένος· Τὸ μὲν ἀναφανδὸν ὅλον ἀγωνιστικὸν ϑέντας, τὸ δὲ κρυφαῖον αὐτῆς πᾶν ϑηρευτικόν. Θεαίτητος· Ναί.114
Fremder: Wie aber weiter? Ist nicht auch die erobernde entzwei zu schneiden? Theaitetos: Wie denn? Fremder: Indem wir das ganze Offensichtliche als die kämpfende setzen, alles Heimliche von ihr aber als die jagende. Theaitetos: Ja.
Die Gattung der erobernden Erwerbskunst und die artspezfische Differenz des Offensichtlichen bildet die Art der kämpfenden Form (ἀγωνιστικὸν, zu ergänzen ist εἴδος aus ���d�), d. h. der Kampfkunst. Dieselbe Gattung und die artspezifische Differenz des Heimlichen bildet hingegen die Art der Jagd. Weil der Angelfischer den Fisch nicht herausfordert, gehört die Angelfischerei klarerweise zur Jagd. Ξένος· Τὴν δέ γε μὴν ϑηρευτικὴν ἄλογον τὸ μὴ οὐ τέμνειν διχῇ. Θεαίτητος· Λέγε ὅπῃ. Ξένος· Τὸ μὲν ἀψύχου γένους διελομένους, τὸ δ᾽ ἐμψύχου. Θεαίτητος· Τί μήν; Εἴπερ ἔστον γε ἄμφω. Ξένος· Πῶς δὲ οὐκ ἔστον; Καὶ δεῖ γε ἡμᾶς τὸ μὲν τῶν ἀψύχων, ἀνώνυμον ὂν πλὴν κατ᾽ ἔνια τῆς κολυμβητικῆς ἄττα μέρη καὶ τοιαῦτ᾽ ἄλλα βραχέα, χαίρειν ἐᾶσαι, τὸ δέ, τῶν ἐμψύχων ζῴων οὖσαν ϑήραν, προσειπεῖν ζῳοϑηρικήν. Θεαίτητος· Ἔστω.115
�� 114 Soph. ���d��–e�. 115 Soph. ���e�–���a�.
Fremder: Wäre es nun aber unvernünftig, die jagende entzwei zu schneiden? Theaitetos: Sag, auf welche Weise. Fremder: Indem wir einerseits die der beseelten Gattung abtrennen, die der unbeseelten andererseits. Theaitetos: Wieso nicht? Denn es gibt ja beide. Fremder: Wie sollte es sie auch nicht geben! Und es ist notwendig, dass wir die des Unbeseelten, die keinen Namen hat, außer einigen bestimmten Teilen der Tauchkunst und anderen solchen kleineren, in Frieden lassen, dass wir die aber, die eine Jagd gegen beseelte Lebewesen ist, »Tierjagd« nennen. Theaitetos: So sei es.
Sokratische Dihairetik � ��
Die Gattung der Jagd wird hier hinsichtlich dessen differenziert, was gejagt wird, nämlich einerseits Beseeltes und andererseits Unbeseeltes. Während erstere Art als »Tierjagd« benannt wird, erhält letztere keinen Namen, was im SOPHISTES und POLITIKOS nur selten vorkommt.116 Für ein Fehlen der Benennung gibt es zwei Gründe: Erstens gibt es im Griechischen offenbar kein geeignetes Wort und zweitens wird im Folgenden auch kein Name für die Art benötigt, weil die Dihairese bei der anderen Art, in diesem Fall bei der Tierjagd, fortgeführt wird.117 Ξένος· Ζῳοϑηρικῆς δὲ ἆρ᾽ οὐ διπλοῦν εἶδος ἂν λέγοιτο ἐν δίκῃ, τὸ μὲν πεζοῦ γένους, πολλοῖς εἴδεσι καὶ ὀνόμασι διῃρημένον, πεζοϑηρικόν, τὸ δ᾽ ἕτερον νευστικοῦ ζῴου πᾶν ἐνυγροϑηρικόν; Θεαίτητος· Πάνυ γε.118
Fremder: Könnte von der Tierjagd nicht mit Recht eine zweifache Form genannt werden, einerseits die der zu Fuß gehenden Gattung, die geteilt ist in viele Formen und Namen, die Fußgängerjagd, und jede andere eines schwimmenden Lebewesens, die Jagd im Flüssigen. Theaitetos: Ganz gewiss.
Die Gattung der Tierjagd wird hinsichtlich der Fortbewegungsarten der gejagten Tiere in die Fußgängerjagd einerseits und die Jagd im Flüssigen andererseits differenziert. Eine Synagôgê der ersten Art wird lediglich durch die Bemerkung angedeutet, dass sie »geteilt ist in viele Formen«, die jeweils einen »Namen« haben. Weil in diesem Fall bereits klar genug ist, welche Art gemeint ist, spart der Fremde sich offensichtlich die Mühe, konkrete Teile aufzuzählen. Ebenso klar ist auch, dass der Angelfischer eine Jagd im Flüssigen betreibt. Zum Flüssigen wird dabei auch die Luft gezählt,119 was durch die folgende Unterscheidung deutlich wird.
�� 116 Vgl. soph. ���b��–c�, ���d�, ���a��–b�, polit. ���e�–�. 117 Vgl. Moravcsik (����c: ��� f.): »Not all parts are worthy of being named; the ones that are can be regarded as the natrual kinds to which the Form to be defined belongs.« Vgl. ebenso ders. (����b: ���): »The fact that Plato thinks of some parts or kinds as worth naming and of others as not, indicates that the problem at hand is that of natural kinds.« Auch diejenigen Teile von Formen, die in einer Dihairese angegeben werden und von denen das Definiendum nicht Teil ist, müssen aber natürliche Arten sein, wenn korrekt vorgegangen wird, wenn nämlich κατ᾽ εἴδη, in Formen geteilt wird. Vgl. dazu unten, Abschnitt �.�.�. 118 Soph. ���a�–��. 119 Ausführlich dazu Lukas (����: ��� ff.): »ὑγρός heisst ja auch fliessend in dem Sinn von schwer festzuhaltend im Gegensatze zu dem Festtehenden, dem Starren« (���). Daran wird deutlich, dass die Durchführung einer Dihairese immer auch mit inhaltlichen Entscheidungen verbunden ist und nicht rein mechanisch vonstatten gehen kann. Vgl. Abschnitt �.�.�.�.
�� � Dihairetik
Ξένος· Νευστικοῦ μὴν τὸ μὲν πτηνὸν φῦλον ὁρῶμεν, τὸ δὲ ἔνυδρον; Θεαίτητος· Πῶς δ᾽ οὔ; Ξένος· Καὶ τοῦ πτηνοῦ μὴν γένους πᾶσα ἡμῖν ἡ ϑήρα λέγεταί πού τις ὀρνιϑευτική. Θεαίτητος· Λέγεται γὰρ οὖν. Ξένος· Τοῦ δὲ ἐνύδρου σχεδὸν τὸ σύνολον ἁλιευτική. Θεαίτητος· Ναί.120
Fremder: Sehen wir von dem Schwimmenden aber einerseits das geflügelte Volk, und andererseits das im Wasser? Theaitetos: Wie sollten wir nicht! Fremder: Und die ganze Jagd auf das geflügelte Geschlecht wird von uns doch wohl wahrscheinlich »Vogeljagd« genannt. Theaitetos: So wird sie ganz gewiss genannt. Fremder: Die auf das im Wasser fast insgesamt »Fischerei«. Theaitetos: Ja.
Als artspezifische Differenz wird einerseits das »geflügelte Volk« angegeben, also die Art von Tieren, die in der Luft fliegen, und andererseits die Tiere, die im Wasser schwimmen. Die erste Art wird »Vogeljagd« genannt, die zweite ist die »Fischerei«, der klarerweise der Angelfischer unterzuordnen ist. Ξένος· Τί δέ; Ταύτην αὖ τὴν ϑήραν ἆρ᾽ οὐκ ἂν κατὰ μέγιστα μέρη δύο διέλοιμεν; Θεαίτητος· Κατὰ ποῖα; Ξένος· Καϑ᾽ ἃ τὸ μὲν ἕρκεσιν αὐτόϑεν ποιεῖται τὴν ϑήραν, τὸ δὲ πληγῇ. Θεαίτητος· Πῶς λέγεις, καὶ πῇ διαιρούμενος ἑκάτερον;121
Fremder: Was nun? Wollen wir nicht auch diese Jagd in zwei möglichst große Teile zerlegen? Theaitetos: In welche? Fremder: In diese beiden: der eine macht die Jagd nur durch Hüllen, der andere durch Verwundung. Theaitetos: Wie meinst du das, und durch was sind sie jeweils abgetrennt?
Während die letzten drei dihairetischen Schritte das spezifiziert haben, was gejagt wird, wird im Folgenden die Methode der Jagd spezifiziert. Die Angabe der artspezifischen Differenzen ist in diesem Fall noch nicht hinreichend klar, so dass Theaitetos zurückfragen muss. Ξένος· Τὸ μέν, ὅτι πᾶν ὅσον ἂν ἕνεκα κωλύσεως εἴργῃ τι περιέχον, »ἕρκος« εἰκὸς ὀνομάζειν. Θεαίτητος· Πάνυ μὲν οὖν. Ξένος· Κύρτους δὴ καὶ δίκτυα καὶ βρόχους καὶ πόρκους καὶ τὰ τοιαῦτα μῶν ἄλλο τι πλὴν ἕρκη χρὴ προσαγορεύειν; Θεαίτητος· Οὐδέν. Ξένος· Τοῦτο μὲν ἄρα ἑρκοϑηρικὸν τῆς
�� 120 Soph. ���b�–�. 121 Soph. ���b�–��.
Fremder: Das eine ist, weil es alles des Aufhaltens wegen umhüllt, was es einschließt, angemessen eine »Hülle« zu nennen. Theaitetos: Ganz gewiss. Fremder: Reusen also, Schlingen, Hamen, Grundnetze und dergleichen, soll das wohl etwas anderes als »Hüllen« genannt werden? Theaitetos: Nichts anderes. Fremder: Diesen Teil des Fangens werden wir also
Sokratische Dihairetik � ��
ἄγρας τὸ μέρος φήσομεν ἤ τι τοιοῦτον. Θεαίτητος· Ναί.122
den umhüllenden nennen oder dergleichen. Theaitetos: Ja.
Die erste artspezifische Differenz wird hier als die »Hülle« bezeichnet. Darüber hinaus wird ihre Funktion (»des Aufhaltens wegen«) abstrakt genannt und es werden Beispiele genannt (»Reusen also, Schlingen, Hamen, Grundnetze und dergleichen«), wodurch eine Synagôgê angedeutet ist.123 Die Gattung selbst wird zum Schluss entsprechend ihrer artspezifischen Differenz als die umhüllende Fischerei bezeichnet. Die Bestimmung der zweiten Art erfolgt ähnlich: Ξένος· Τὸ δὲ ἀγκίστροις καὶ τριόδουσι πληγῇ γιγνόμενον ἕτερον μὲν ἐκείνου, πληκτικὴν δέ τινα ϑήραν ἡμᾶς προσειπεῖν ἑνὶ λόγῳ νῦν χρεών· ἢ τί τις ἄν, ὦ Θεαίτητε, εἴποι κάλλιον; Θεαίτητος· Ἀμελῶμεν τοῦ ὀνόματος· ἀρκεῖ γὰρ καὶ τοῦτο.124
Fremder: Den von ihm verschiedenen aber, der mit Haken und Dreizacken durch Verwundung entsteht, den wollen wir mit einem Wort eine Wundjagd nennen; oder könnte ihn wohl, mein Theaitetos, einer besser benennen? Theaitetos: Lass uns keine Sorge für den Namen tragen. Es genügt nämlich auch dieser.
Mit »Haken und Dreizack« sind Beispiele von Mitteln angegeben, durch die eine Verwundung erfolgen kann. Die Verwundung selbst ist artspezifische Differenz der »Wundjagd«. Weil die Angelfischerei bekanntlich »mit Haken« (»ἀγκίστροις«) angelt, die hier schon angesprochen wurden, folgt keine explizite Klassifizierung mehr Der Fremde fährt unmittelbar mit einer Dihairese der Wundfischerei fort: Ξένος· Τῆς τοίνυν πληκτικῆς τὸ μὲν νυκτερινὸν οἶμαι πρὸς πυρὸς φῶς γιγνόμενον ὑπ᾽ αὐτῶν τῶν περὶ τὴν ϑήραν πυρευτικὴν ῥηϑῆναι συμβέβηκεν. Θεαίτητος· Πάνυ γε. Ξένος· Τὸ δέ γε μεϑημερινόν, ὡς ἐχόντων ἐν ἄκροις ἄγκιστρα καὶ τῶν τριοδόντων, πᾶν ἀγκιστρευτικόν. Θεαίτητος· Λέγεται γὰρ οὖν.125
Fremder: Es trifft sich, dass das Nächtliche der Wundjagd, das beim Licht des Feuers geschieht, von denen, die es betreiben, glaube ich, »Feuerfang« genannt wird. Theaitetos: Ganz gewiss. Fremder: Das am Tag aber, da auch in den Spitzen, die die Dreizacke haben, Haken sind, gänzlich die »Hakenfischerei«. Theaitetos: So wird es ganz gewiss genannt.
�� 122 Soph. ���c�–�. 123 Dabei handelt es sich um einen Spezialfall einer Synagôgê, der später noch behandelt wird, vgl. Abschnitt �.�.�. 124 Soph. ���c��–d�. 125 Soph. ���d�–e�.
�� � Dihairetik
Die Unterscheidung, die hier getroffen wird, betrifft die Tageszeit, in der die Kunst ausgeführt wird. Die Benennung ist dabei nicht sonderlich geglückt, weil auch nachts mit Haken geangelt werden kann. Vielleicht beruft sich der Fremde gerade deswegen darauf, dass die Namen der Angeltechniken von den Anglern selbst (»ὑπ᾽ αὐτῶν τῶν περὶ«) so verwendet wird und eben nicht von einem Dialektiker.126 Auch hier findet wegen der Offensichtlichkeit der Zuordnung keine explizite Klassifizierung statt und es folgt eine Dihairese der Hakenfischerei. Ξένος· Τοῦ τοίνυν ἀγκιστρευτικοῦ τῆς πληκτικῆς τὸ μὲν ἄνωϑεν εἰς τὸ κάτω γιγνόμενον διὰ τὸ τοῖς τριόδουσιν οὕτω μάλιστα χρῆσϑαι »τριοδοντία« τις οἶμαι κέκληται. Θεαίτητος· Φασὶ γοῦν τινές. Ξένος· Τὸ δέ γε λοιπόν ἐστιν ἓν ἔτι μόνον ὡς εἰπεῖν εἶδος. Θεαίτητος· Τὸ ποῖον; Ξένος· Τὸ τῆς ἐναντίας ταύτῃ πληγῆς, ἀγκίστρῳ τε γιγνόμενον καὶ τῶν ἰχϑύων οὐχ ᾗ τις ἂν τύχῃ τοῦ σώματος, ὥσπερ τοῖς τριόδουσιν, ἀλλὰ περὶ τὴν κεφαλὴν καὶ τὸ στόμα τοῦ ϑηρευϑέντος ἑκάστοτε, καὶ κάτωϑεν εἰς τοὐναντίον ἄνω ῥάβδοις καὶ καλάμοις ἀνασπώμενον· οὗ τί φήσομεν, ὦ Θεαίτητε, δεῖν τοὔνομα λέγεσϑαι; Θεαίτητος· Δοκῶ μέν, ὅπερ ἄρτι προυϑέμεϑα δεῖν ἐξευρεῖν, τοῦτ᾽ αὐτὸ νῦν ἀποτετελέσϑαι.127
Fremder: Was nun von dem Hakenfischenden der Wundjagd von oben nach unten geschieht, wird wegen der vorwiegenden Verwendung der Dreizacke auf diese Weise ein »Dreizackfang« genannt. Theaitetos: So nennen sie jedenfalls manche. Fremder: Das Übrige ist nun sozusagen nur noch eine Form. Theaitetos: Welche denn? Fremder: Deren Verwundung in die entgegengesetzte Richtung zu dieser ist, die mit dem Haken geschieht und die nicht die Körper der Fische so trifft wie mit dem Dreizack, sondern immer am Kopf und Schlund des Gejagten und es von unten nach oben mit Ruten und Rohren emporzieht. Mit welchem Namen, mein Theaitetos, müssen wir ihn benennen? Theaitetos: Ich glaube wahrlich, dass wir jetzt genau das vollendet haben, was wir uns vorhin vorgenommen hatten aufzufinden.
Das Kriterium der Unterscheidung ist die Richtung, in der eine Verwundung zugefügt wird. Auch hier ist die Benennung der ersten Art als »Dreizackfang« nicht sonderlich geglückt, weil sie lediglich die »wegen der vorwiegenden Verwendung der Dreizacke« so genannt wird. Auch der Fang mit einem Speer würde per definitionem unter diese Art fallen, weil er eine Verletzung von oben nach unten zuführt. Aber auch diesmal wird betont, dass die Benennung übernommen wurde. Sie spielt ohnehin keine sonderliche Rolle, weil die Dihairese bei der zweiten Art fortgeführt wird. �� 126 In Krat. ���b�–d� wird die Aufgabe der Namenschöpfung der Dialektik zugewiesen. Vgl. auch soph. ���d�–e� bzw. Abschnitt �.�.�. 127 Soph. ���e�–���a�.
Sokratische Dihairetik � ��
Die zweite Art zeichnet sich dadurch aus, dass die Verletzung von unten nach oben geschieht. Dies ist beim Angelfischen der Fall, so dass das Definiendum erreicht ist. Es kommt deshalb zum Abschluss der Prozedur.
2.2.1.5 Abschluss Die Prozedur muss nicht weiter iteriert werden, wenn einer der im Schritt der Dihairese definierten Arten das Definiendum ist. Im vorliegenden Beispiel ist dies die Form des Angelfischers. Durch einen porphyrischen Baum lässt sich die Untersuchung zusammenfassend darstellen. Die folgende Darstellung ist ausführlicher als üblich, indem ggf. auch die Synagôgê (Syn.) bzw. die Synagôgê der artspezifischen Differenz (Syn. d.s.) angegeben wird.
�� � Dihairetik
polit. 258b2–4, soph. 219a4–6, 221c8–d5: [Kunst/Erkenntnis] Polit. 258e4–5, 258d8–e3, soph. 219a10– c1, 265b8–11: Hervorbringend, Syn.: Tischlerei, Handwerk, Ackerbau, Körperpflege, Fahrzeugbau, Nachahmungskunst Soph. 219d5–7, 223c7–9: [Tauschhandel], Von Freiwilligen für Freiwillige, Syn. d.s.: durch Geschenke, durch Kauf, durch Mieten Soph. 219d12, 227b4–6, 225a2: [Kampfkunst] Offensichtlich, Syn.: Feldherrenkunst, Kammerjägerei
Soph. 219c2–9: erwerbend, Syn.: Lernen, Geldverdienen, Kämpfen, Jagen Soph. 219d5–9, 223c6–8: [Eroberungskunst], gewalttätig, Syn. d.s.: durch Worte, durch Taten
Soph, 219d12–e1: [Jagd], heimlich, Syn.: Feldherrenkunst, Kammerjägerei
Soph. 219e3–220a6: auf Lebloses, Syn.: Tauchkunst
Soph. 219e6–7, 220a3–5: [Tierjagd], auf Beseeltes
Soph. 220a7–11, 221e3–5: [Fußgängerjagd] auf Tiere, die zu Fuß gehen
Soph. 220b1–6: [Vogeljagd], auf das geflügelte Geschlecht
Soph. 220a7–11, 222a5–8: [Jagd in Flüssigem], auf schwimmende Tiere, Syn. d.s.: Tiere, die sich in Meeren, Strömen und Seen befinden Soph. 220b7–8: [Fischerei], auf das im Wasser schwimmende Geschlecht
Soph. 220b9–c9: [Netzfang], durch ein Gehege, Syn. d.s.: Reuse, Schlinge, Hame, Grundnetz
Soph. 220b9-14, c10-d4: [Wundfischerei], durch Verwundung, Syn. d.s.: durch Haken, durch Dreizack
Soph. 220d5–8: [Fackelfang], beim Schein des Feuers betrieben
Soph. 220e2–5: [Harpunenfischerei] durch Zubringung der Verwundung von oben nach unten
Abb. 8: Dihairese des Angelfischers
Soph. 220d9–e1: [Hakenfischerei], bei Tage betrieben, Syn.: Harpunenfischerei Soph. 220e6–221a5: [Angelfischerei], durch Zubringung der Verwundung von unten nach oben
Sokratische Dihairetik � ��
In der Regel wird die Prozedur durch eine Zusammenfassung128 abgeschlossen. Ξένος· Νῦν ἄρα τῆς ἀσπαλιευτικῆς πέρι σύ τε κἀγὼ συνωμολογήκαμεν οὐ μόνον τοὔνομα, ἀλλὰ καὶ τὸν λόγον περὶ αὐτὸ τοὖργον εἰλήφαμεν ἱκανῶς. Συμπάσης γὰρ τέχνης τὸ μὲν ἥμισυ μέρος κτητικὸν ἦν, κτητικοῦ δὲ χειρωτικόν, χειρωτικοῦ δὲ ϑηρευτικόν, τοῦ δὲ ϑηρευτικοῦ ζῳοϑηρικόν, ζῳοϑηρικοῦ δὲ ἐνυγροϑηρικόν, ἐνυγροϑηρικοῦ δὲ τὸ κάτωϑεν τμῆμα ὅλον ἁλιευτικόν, ἁλιευτικῆς δὲ πληκτικόν, πληκτικῆς δὲ ἀγκιστρευτικόν· τούτου δὲ τὸ περὶ τὴν κάτωϑεν ἄνω πληγὴν ἀνασπωμένην, ἀπ᾽ αὐτῆς τῆς πράξεως ἀφομοιωϑὲν τοὔνομα, ἡ νῦν ἀσπαλιευτικὴ ζητηϑεῖσα ἐπίκλην γέγονεν. Θεαίτητος· Παντάπασι μὲν οὖν τοῦτό γε ἱκανῶς δεδήλωται.129
Fremder: Nun also sind wir, du und ich, nicht nur über den Namen des Angelfischers übereingekommen, sondern auch die Erklärung über sein Werk selbst haben wir hinreichend erfasst. Von der ganzen Kunst war nämlich der halbe Teil der erwerbende, des erwerbenden aber der erobernde, des erobernden der jagende, des jagenden der tierjagende, des tierjagenden der im Flüssigen, des im Flüssigen der ganze Abschnitt von unten nach oben die Fischerei, der Fischerei aber der verwundende, des verwundenden der hakenfischende. Von diesem hat der in Bezug auf die von unten nach oben emporziehende Verwundung den der Handlung selbst nachgebildeten Namen, die nun die mit Beinamen gesuchte Angelfischerei geworden ist. Theaitetos: Auf alle Weise ist dies ganz gewiss hinreichend aufgedeckt worden.
Ausgehend von der obersten Gattung werden alle Arten aufgezählt, die in den einzelnen Klassifizierungen ausgewählt wurden. Der daraus entstehende Satz, durch den die dihairetische Untersuchung abgeschlossen wird, ist die in ���a� gefragte Erklärung des Angelfischers. Im griechischen Text wird er schlicht λόγος genannt. Obwohl dabei nicht immer konsequent zwischen den Ausdrücken für die Arten und den Ausdrücken für die jeweiligen artspezifischen Differenzen unterschieden wird, dürfte klar sein, dass dieser λόγος als Fortsetzung der in den Abbildungen � und � dargestellten Identitätsaussagen zu verstehen ist. Als Schema für das Grundmodell der dihairetischen Methode zur Erstellung solcher Definitionsaussagen kann nun die folgende Abbildung festgehalten werden:
�� 128 Teilweise wird eine solche Zusammenfassung in der Literatur als ›Synagôgê‹ bezeichnet. Vgl. Westermann (����/�����): »Das Definiens ergibt sich durch die Zusammenführung (synagôgê) aller Unterscheidungsmerkmale, die sich bei den einzelnen Teilungsschritten als auf die Sache zutreffend erwiesen haben.« In der vorliegenden Arbeit steht dieser Ausdruck jedoch immer für die oben beschriebene Technik des Aufzählens von Arten einer Gattung. 129 Soph. ���a�–c�.
�� � Dihairetik
Oberste Gattung
Dihairese
Definition der 1. Art
• • • •
Definition der 2. Art
Ggf. Definition der Differentia specifica Ggf. Synagôgê (der Differentia specififa) Ggf. Beispiel In der Regel Benennung
•
…
Ggf. Definition …
•
…
Klassifikation
Iteration
Abschluss • Ggf. Zusammenfassung
Abb. 9: Grundmodell der dihairetischen Methode
2.2.2 Natürliche Glieder Sokrates hatte im PHAIDROS gefordert, dass die Formen »κατ᾽ εἴδη«, an ihren natürlichen Gelenken oder in natürliche Glieder, zerteilt werden müssen.130 Dieselbe Forderung stellt der eleatische Fremde im POLITIKOS.131 Dabei wird deutlich, dass – entgegen der Wendung »carving the nature at its joints«132 – distributiv zu übersetzen ist: »in Formen«. Zwar ist jede Art einer Gattung, so die Behauptung, ein Teil dieser Gattung, nicht aber jeder Teil auch eine Art.133 Zum
�� 130 Vgl. Phaidr. ���e�–���b� bzw. Abschnitt �.�.�. 131 Vgl. polit. ���e�–���e�. 132 So beispielsweise der Titel von Campbell/OʼRourke/Slater (����). Diese Wendung ist unter Metaphysikern weit verbreitet für das Auffinden natürlicher Arten, wobei Einigkeit darüber besteht, dass sie auf Platon zurückzuführen ist. 133 Vgl. polit. ���b�–��: »[…] Ξένος· Εἶδός τε καὶ μέρος ἕτερον ἀλλήλων εἶναι. Νεώτερος Σωκράτης· Τί μήν; Ξένος· Ὡς εἶδος μὲν ὅταν ᾖ του, καὶ μέρος αὐτὸ ἀναγκαῖον εἶναι τοῦ πράγματος ὅτουπερ ἂν εἶδος λέγηται· μέρος δὲ εἶδος οὐδεμία ἀνάγκη.« (»[…] Fremder: Dass Form und Teil verschieden voneinander sind. Sokrates der Jüngere: Wie das? Fremder: Dass nämlich, wenn es eine Form von etwas gibt, dies notwendigerweise auch ein Teil von der Sache ist, von der es eine Form genannt wird; dass ein Teil aber keineswegs notwendig eine Form ist.«)
Sokratische Dihairetik � 61
prozedural korrekten Vorgehen gehöre es aber, jeweils Teile anzugeben, die zugleich Arten sind.134 Geht man also davon aus, dass die Wendung im PHAIDROS und POLITIKOS dieselbe Bedeutung hat, muss »κατ᾽ ἄρϑρα« als »in natürliche Glieder« übersetzt werden, weil es um die Frage geht, was nach dem Schneiden vorliegen soll – und das können nicht die Gelenke sein, an denen geschnitten wird. Mit der Forderung dihairetisch nur in natürliche Glieder zu zerteilen, ist eine starke ontologische These vorausgesetzt, die als Antwort auf die im PARMENIDES gestellten Frage verstanden werden kann, von was es alles Formen gibt.135 Denn der Fremde muss annehmen, dass nicht alles das, was sich definieren lässt, eine Form ist. Während die Frage, was die natürlichen Glieder einer Form sind, in den sokratischen Dialogen nicht beantwortet wurde, soll gezeigt werden, dass Platon eine Theorie darüber mit der eleatischen Dihairetik der späten Dialoge vorbringt. Es soll also gezeigt werden, dass die eleatische Dihairetik nicht bloß als Weiterentwicklung einer Definitionsmethode aufzufassen ist, sondern auch als eine metaphysische Theorie über natürliche Arten. Es stellen sich die Fragen, erstens, was die natürlichen Arten sind, und zweitens, wie sie gefunden werden können. Im Folgenden soll gezeigt werden, dass beide Fragen nicht unabhängig voneinander zu beantworten sind. Zwar weist der Fremde im POLITIKOS darauf hin, dass er selbst den Unterschied zwischen Art und Teil nicht in Form einer Definition (διωρισμένον) angeben könne.136 Es wird jedoch für die These argumentiert, dass beide Fragen durch das
�� 134 Vgl. polit. ���e�–���a�: »Κάλλιον δέ που καὶ μᾶλλον κατ᾽ εἴδη καὶ δίχα διαιροῖτ᾽ ἄν, εἰ τὸν μὲν ἀριϑμὸν ἀρτίῳ καὶ περιττῷ τις τέμνοι, τὸ δὲ αὖ τῶν ἀνϑρώπων γένος ἄρρενι καὶ ϑήλει, Λυδοὺς δὲ ἢ Φρύγας ἤ τινας ἑτέρους πρὸς ἅπαντας τάττων ἀποσχίζοι τότε, ἡνίκα ἀποροῖ γένος ἅμα καὶ μέρος εὑρίσκειν ἑκάτερον τῶν σχισϑέντων.« (»Besser aber und mehr in Formen und entzwei hätte er wohl getrennt, wenn er die Zahl in eine gerade und eine ungerade zerschnitten hätte, die Gattung der Menschen wiederum in ein männliches und ein weibliches, aber Lydier oder Phrygier oder irgendwelche anderen hätte er dann abgetrennt, indem er sie gänzlich allen entgegengestellt hätte, wenn er keinen Weg sieht, eine Gattung zugleich mit jedem Teil des Zerschnittenen zu finden.«) Deswegen wirft der Fremde Theaitetos einen prozeduralen Fehler vor, weil er einen Teil abgetrennt hatte, der nicht zugleich auch eine Art war. Vgl. polit. ���b�– �, ���b�–c� ���c�–d�. 135 Vgl. Parm. ���a�–d��. 136 Vgl. polit. ���a�–b�: »Νεώτερος Σωκράτης· […] ἀλλὰ γὰρ τοῦτο αὐτό, ὦ ξένε, πῶς ἄν τις γένος καὶ μέρος ἐναργέστερον γνοίη, ὡς οὐ ταὐτόν ἐστον ἀλλ᾽ ἕτερον ἀλλήλοιν; Ξένος· Ὦ βέλτιστε ἀνδρῶν, οὐ φαῦλον προστάττεις, Σώκρατες. Ἡμεῖς μὲν καὶ νῦν μακροτέραν τοῦ δέοντος ἀπὸ τοῦ προτεϑέντος λόγου πεπλανήμεϑα, σὺ δὲ ἔτι πλέον ἡμᾶς κελεύεις πλανηϑῆναι. Νῦν μὲν οὖν, ὥσπερ εἰκός, ἐπανίωμεν πάλιν· ταῦτα δὲ εἰς αὖϑις κατὰ σχολὴν καϑάπερ ἰχνεύοντες
�� � Dihairetik
Vorgehen des eleatischen Fremden implizit beantwortet werden. Anders als Sokrates hält er nämlich bestimmte Regeln darüber ein, wie die einzelnen Schnitte durchgeführt werden dürfen. An den natürlichen Gelenken schneidet man mit genau denjenigen Schnitten, so die These, die man durchführt, wenn man sich an diese Regeln hält. Weil sich an der bisherigen Untersuchung der eleatischen Dihairetik gezeigt hatte, dass die Teilung einer Gattung durch Definition ihrer Teile geschieht, bedeutet das entsprechend, dass genau diejenigen Teile einer Gattung ihre natürlichen Arten sind, die durch Anwendung der dihairetischen Regeln aufgezeigt werden können. Im Folgenden werden drei Regeln abgeleitet: Erstens die Regel der Trennung (Abschnitt �.�.�.�), zweitens die Regel der Kleinschrittigkeit (Abschnitt �.�.�.�) und drittens die Regel der Vollständigkeit (Abschnitt �.�.�.�).137 Von weiteren Regeln wird gezeigt, dass sie bereits in diesen drei Regeln enthalten sind (Abschnitte �.�.�.�–�.�.�.�). Zuletzt folgen noch einige Bemerkung über die Anwendung und Missachtung der Regeln im SOPHISTES und POLITIKOS. (Abschnitt �.�.�.�).
2.2.2.1 Die Regel der Trennung Der Begriff des Zerteilens bzw. des Zerschneidens (διαιρεῖν), wie er im PHAIDROS durch das Beispiel des Metzgers verdeutlicht wurde,138 beinhaltet bereits die Regel der Trennung, die vielleicht gerade deshalb nicht explizit thematisiert wird: Teile die Gattung x in mindestens zwei Teile y1 … yn, so dass es kein z gibt, das Teil von mehr als einem Element aus {y1 … yn} ist. Mit dieser Regel werden zwei Forderungen zusammengefasst, die sowohl in den sokratischen als auch in den eleatischen Dihairesen eingehalten werden: Ers-
�� μέτιμεν. Οὐ μὴν ἀλλὰ τοῦτό γε αὖ παντάπασιν φύλαξαι, μή ποτε παρ᾽ ἐμοῦ δόξῃς αὐτὸ ἐναργῶς διωρισμένον ἀκηκοέναι.« (»Sokrates der Jüngere: Aber wie kann denn jemand, mein Fremdling, genau das ganz deutlich verstehen, dass Gattung und Teil nicht dasselbe sind, sondern etwas voneinander verschiedenes? Fremder: Du bester aller Männer, nichts Einfaches ordnest du an, Sokrates. Wir sind zwar jetzt schon weiter weg als recht von unserer vorgesetzten Rede herumgeirrt, du aber verlangst von uns, noch weiter weg zu irren. Lass uns jetzt also, wie es sich gehört, wieder zurückkehren. Dieser Sache wollen wir wiederum mit Muße nachgehen, wenn wir sie verfolgen. Nur davor hüte dich allerdings, dass du wohl meinst, dies von mir als etwas genau Bestimmtes gehört zu haben.«) 137 Vgl. Crivelli (����: ��) »To divide a kind is to identify either two or a larger finite number of kinds that are (�) immediately subordinate to the kind that is being divided, (�) pairwise disjoint, and (�) exhausitve of the kind that is being divided.« 138 Vgl. Phaidr. ���e�–���b� bzw. Abschnitt �.�.�.
Sokratische Dihairetik � ��
tens wird gefordert, dass eine Form in mindestens zwei Teile zerschnitten werden muss, so dass in jedem dihairetischen Schritt also mindestens zwei Arten definiert werden müssen. Es muss also zer- und nicht nur abgeschnitten werden. Zweitens ist für diese Arten gefordert, dass keine Form Teil von mehr als einer dieser Arten sein darf.139 Es muss also, sozusagen, ganz durchgeschnitten werden, so dass beide Formen nicht mehr zusammenhängen. Wegen dieser Regel können die Fragen nach der Klassifizierung als entweder-oder-Fragen formuliert werden, so dass die Prozedur immer bei genau einer Art fortgeführt werden kann, wie es das Grundmodell der Methode verlangt.
2.2.2.2 Die Regel der wenigen Arten und die Regel der Kleinschrittigkeit Anders als in den sokratischen Dihairesen werden in den eleatischen Dihairesen in der Regel zwei Arten einer Gattung bestimmt. Diesbezüglich formuliert der Fremde im POLITIKOS die Regel, dass eine Dihairese nach Möglichkeit in zwei Teile erfolgen sollte oder, wenn nicht möglich, in eine möglichst kleine Anzahl von Teilen größer als zwei.140 Zwar begründet der Fremde nicht explizit, wann eine Dihairese mit zwei Teilen möglich ist und wann nicht und wieso die Regel der wenigen Arten erforderlich ist. Anhand seines Vorgehens lässt sich jedoch eine andere Regel ableiten, die Regel der Kleinschrittigkeit, aus der wiederum die Regel der wenigen Arten hervorgeht. Die Regel der Kleinschrittigkeit lässt sich am besten anhand der Anwendung einer Synagôgê erklären. Dabei werden Arten einer Gattung gesammelt, die – �� 139 Vgl. Crivelli (����: ��): »These two kinds are […] exhaustive of the kind […] (since nothing falls under both) […]« Dabei ist nicht klar, wieso er »falls under« schreibt und nicht »is subordinate to«. Gemeint sein darf jedenfalls nicht, dass es nichts geben dürfe, was mehr als eine der voneinander getrennten Arten als Eigenschaft hat. Denn jemand kann sowohl Angler als auch Jäger sein, also sowohl an der Form der Jagd-im-Flüssigen als auch an der Form der Landjagd teilhaben. 140 Der Fremde verwendet dabei dieselbe Metaphorik, die Sokrates auch in Phaidr. ���e�– ���b� verwendet hatte. Vgl. polit. ���b��–c�: »Ξένος· Οἶσϑ᾽ οὖν ὅτι χαλεπὸν αὐτὰς τεμεῖν δίχα; Τὸ δ᾽ αἴτιον, ὡς οἶμαι, προϊοῦσιν οὐχ ἧττον ἔσται καταφανές. Νεώτερος Σωκράτης· Οὐκοῦν χρὴ δρᾶν οὕτως. Ξένος· Κατὰ μέλη τοίνυν αὐτὰς οἷον ἱερεῖον διαιρώμεϑα, ἐπειδὴ δίχα ἀδυνατοῦμεν. Δεῖ γὰρ εἰς τὸν ἐγγύτατα ὅτι μάλιστα τέμνειν ἀριϑμὸν ἀεί.« (»Fremder: Weißt du denn, dass es schwierig ist, sie entzwei zu schneiden? Der Grund wird, wie ich glaube, uns nicht weniger klar sein, wenn wir fortschreiten. Sokrates der Jüngere: Also wollen wir es so machen. Fremder: Glied für Glied wollen wir sie also wie ein Opfertier zerteilen, da wir es entzwei ja nicht können. Es ist nämlich nötig, immer in die nächstgrößere Zahl zu zerschneiden.«) Vgl. dazu auch Phileb. ��d�–�.
�� � Dihairetik
eben weil sie Arten der Gattung sind – dafür in Frage kommen, in dem jeweiligen dihairetischen Schritt durch Definition abgetrennt zu werden. Die Regel der Kleinschrittigkeit verlangt nun den Versuch, die in der Synagôgê gesammelten Arten nach gemeinsamen Gattungen zu gruppieren, die selbst wiederum Arten der zuvor genannten Gattung sind. Man könnte im ersten dihairetischen Schritt beispielsweise auf die Idee kommen, die Landwirtschaft, die Körperpflege, die Ingenieurswissenschaft und die Nachahmungskunst, die dort genannt werden,141 als Teile der Kunst anzugeben. Das ist aber deswegen nicht zulässig, weil diese Formen »durch einen einzigen Namen zusammengefasst werden« können (»ἑνὶ προσαγορεύοιτ᾽ ἂν ὀνόματι«),142 nämlich durch den Namen »erschaffende Kunst«.143 Natürlich geht es dabei nicht wirklich darum, dass man eine gemeinsame Bezeichnung für diese Formen finden kann, sondern darum, dass die Bedeutung dieses Namens eine gemeinsame Gattung dieser Formen ist, die wiederum eine Art der für die Definition angegebenen Gattung ist. Die Forderung danach, die Einteilungen in möglichst wenige Teile vorzunehmen, entspricht somit einer Forderung nach Kleinschrittigkeit des Klassifikationsverfahrens. Sie bedeutet nämlich, dass möglichst viele Unterscheidungen in jeweils möglichst wenige Arten durchgeführt werden müssen. Anstelle den porphyrischen Baum also breit werden zu lassen, ist gefordert, ihn hoch wachsen zu lassen. y
z1
y
x1
x2
x3
x4
Abb. 10: Breiter porphyrischer Baum
x1
z2
x2
x3
x4
Abb. 11: Hoher porphyrischer Baum
Dadurch, dass im zweiten Fall die Formen x� und x� durch x� und die Formen x� und x� durch x� zusammengefasst sind, erhält man im ersten dihairetischen Schritt also nur zwei anstelle von vier Arten, muss dann aber, um Arten x� bis x� zu bestimmen einen zweiten Schritt durchführen.
�� 141 Vgl. soph. ���a��–b�. 142 Vgl. soph. ���b�. 143 Vgl. soph. ���b��.
Sokratische Dihairetik � 65
Die Regel der Kleinschrittigkeit lautet entsprechend: Teile die Gattung x in die Teile y1 … yn, so dass es keinen Teil z von x gibt, von dem ein Element aus {y1 … yn} ein Teil ist. Das heißt mit anderen Worten, dass die Arten, die in einer Dihairese angegeben werden, möglichst allgemein sein müssen oder möglichst groß, wie es an zwei Stellen heißt.144 Wiederum mit anderen Worten bedeutet dies, dass in einer Dihairese nicht beliebige Arten einer Gattung angegeben werden dürfen, sondern nur Arten einer Gattung, deren nächstgrößere Gattung (Genus proximum) diese Gattung ist.145 Während in den sokratischen Dialogen also die Angabe eines Genus und einer Differentia specifica für eine Definition gefordert ist, wird in der eleatischen Dihairetik, wie in der scholastischen Definitionsregel, für jeden einzelnen Schritt ein Genus proximum und eine Differentia specifica gefordert. Als Definitionsmethode hat die Regel der Kleinschrittigkeit zur Folge, dass die so erzeugten Definitionen möglichst viele Informationen beinhalten, was durch den Vergleich des breiten und des hohen porphyrischen Baums deutlich wird.146 Dass die Regel der Kleinschrittigkeit vorausgesetzt wird, zeigt sich nicht nur an der Formulierung der Regel der wenigen Arten, sondern auch direkt daran, dass ein Verstoß gegen sie vom Fremden angemahnt wird. Der Kontext besteht zunächst darin, dass in polit. ���a��–b� die Politik unter eine bestimmte Form der Kunst zu befehlen gesetzt wurde, damit etwas entsteht. Die Dihairese fährt mit der Bestimmung dessen fort, was dabei entsteht.
�� 144 Vgl. soph. ���b�–�, ���b�. 145 Vgl. Crivelli (����: ��): »[…] These two kinds are […] immediately subordinate to the kind art (for they are both subordinate to it and neither is subordinate to some kind that is subordinate to it) […]« 146 Vgl. Strobach (����: ���): »Kurz gesagt: Eine kunstgerechte Dihairesis hat so wenige vertikale, aber gerade deshalb so viele horizontale Unterteilungen wie möglich. Das macht sie maximal informativ, hat aber vielleicht auch noch tiefer liegende mathematischmetaphysische Gründe (Gaiser ����, ��� ff.).«
�� � Dihairetik
…
unbeseelt (ἄψυχα)
beseelt (ἔμψυχα)
einzel-züchtend (ἰδιοτρόφη)
Herden-züchtend (ἀγελαιοτροφική)
…
…
Abb. 12: Dihairese des Politikers (Auszug)
Durch diese und die nachfolgenden Schritte soll die Befehlskunst durch ihren Zweck spezifiziert werden, dass Menschen entstehen. – Von der inhaltlichen Plausibilität sei an dieser Stelle wieder abgesehen. Als einen ersten Fehler zeigt der Fremde dabei die Unterscheidung zwischen dem Züchten von einerseits einzeln und andererseits in Herden Lebendem als einen Verstoß gegen die Regel der Kleinschrittigkeit auf. Mit dieser Unterscheidung sei nämlich die artspezifische Differenz bereits vorweggenommen, dass es sich dabei um Befehlskünste handelt, die ein Entstehen von zahmen Lebewesen als Zweck haben.147 Der Fremde behauptet dies in der Annahme, dass nur zahme bzw. zähmbare Lebewesen sich züchten lassen.148 Hintergrund dieser Annahme ist, dass der Unterschied zwischen der Aufzucht (τροφή) und Fürsorge (ἐπιμέλεια) in diesem Stadium des Gesprächs noch nicht geklärt ist.149
�� 147 Vgl. polit. ���e�–���a�: »Ξένος· Τῆς γνωστικῆς ὅσον ἐπιτακτικὸν ἡμῖν μέρος ἦν που τοῦ ζῳοτροφικοῦ γένους, ἀγελαίων μὴν ζῴων. Ἦ γάρ; Νεώτερος Σωκράτης· Ναί. Ξένος· Διῄρητο τοίνυν ἤδη καὶ τότε σύμπαν τὸ ζῷον τῷ τιϑασῷ καὶ ἀγρίῳ.« (»Fremder: Das Befehlende von der Einsicht war uns doch wohl ein Teil der lebewesenzüchtende Gattung, die sich auf Herdenlebewesen bezieht. Nicht wahr? Sokrates der Jüngere: Ja. Fremder: Es war also das gesamte Lebendige bereits in Zahmes und Wildes eingeteilt.«) 148 Vgl. polit. ���a�–�: »Τὰ μὲν γὰρ ἔχοντα τιϑασεύεσϑαι φύσιν ›ἥμερα‹ προσείρηται, τὰ δὲ μὴ ἔχοντα ›ἄγρια‹. Νεώτερος Σωκράτης· Καλῶς. Ξένος· Ἣν δέ γε ϑηρεύομεν ἐπιστήμην, ἐν τοῖς ἡμέροις ἦν τε καὶ ἔστιν, ἐπὶ τοῖς ἀγελαίοις μὴν ζητητέα ϑρέμμασιν. Νεώτερος Σωκράτης· Ναί.« (»Die es nämlich in ihrer Natur haben, sich zähmen zu lassen, nennen wir ›Zahme‹, die es aber nicht haben, ›Wilde‹. Sokrates der Jüngere: Schön. Fremder: Aber die Erkenntnis, die wir jagen, bezog und bezieht sich doch auf Zahme und muss unter den Zöglingen in der Herde gesucht werden. Sokrates der Jüngere: Ja.«) 149 Vgl. vor allem polit. ���d�–� und zur Unterscheidung den folgenden Abschnitt �.�.�.�.
Sokratische Dihairetik � ��
Insofern jedenfalls die in diesem Schritt abgetrennte Fürsorge für Herdentiere eine Art der Fürsorge für zahme Lebewesen ist, und insofern des Weiteren die Fürsorge für zahme Lebewesen eine Art der im unmittelbar vorausgehenden Schritt bestimmten Gattung ist, liegt eine Verletzung der Regel der Kleinschrittigkeit vor. Der folgende porphyrische Baum stellt die entsprechende Korrektur dar: …
unbeseelt (ἄψυχα)
beseelt (ἔμψυχα)
wild (ἄγρια)
gezähmt (τιϑασά)
Einzelaufzucht (ἰδιοτρόφη)
Herden-aufziehend (ἀγελαιοτροφική)
…
…
Abb. 13: Dihairese des Politikers (Auszug), 1. Korrektur
An dieser Stelle hat der Fehler für die Definition lediglich zur Folge, dass sie – wie oben beschrieben – weniger informativ als in der korrigierten Version ist. Der Fremde mahnt dennoch ausführlich zum methodisch einwandfreien Vorgehen.150 Dass dies nicht nur mit metaphysischen Gründen zusammenhängt, sondern auch mit Gründen, die die Dihairetik als Definitionsmethode betreffen,
�� 150 Vgl. polit. ���a�–b�: »Ξένος· μὴ τοίνυν διαιρώμεϑα ὥσπερ τότε πρὸς ἅπαντα ἀποβλέψαντες, μηδὲ σπεύσαντες, ἵνα δὴ ταχὺ γενώμεϑα πρὸς τῇ πολιτικῇ. Πεποίηκε γὰρ ἡμᾶς καὶ νῦν παϑεῖν τὸ κατὰ τὴν παροιμίαν πάϑος. Νεώτερος Σωκράτης· Ποῖον; Ξένος· Οὐχ ἡσύχους εὖ διαιροῦντας ἠνυκέναι βραδύτερον. Νεώτερος Σωκράτης· Καὶ καλῶς γε, ὦ ξένε, πεποίηκε.« (»Fremder: Lass uns in diesem Schritt nun also nicht so teilen wie gerade, als wir bereits auf die vollständige Dihairese im Ganzen geschaut haben, so dass wir also nicht eilen, um nur rasch zur Politik zu gelangen. Denn nun haben wir uns das Unglück selbst zuzuschreiben, dass es uns ganz im Sinne des Sprichwortes erging. Sokrates der Jüngere: Welches meinst du denn? Fremder: Dass diejenigen, die nicht müßig sind, und also nicht gut unterscheiden, langsamer ans Ziel gelangen. Sokrates der Jüngere: Da ist es uns ganz recht geschehen, Fremder.«)
�� � Dihairetik
wird im folgenden Abschnitt dargestellt. Dort zeigt sich nämlich, dass aus einem Verstoß gegen die Regel der Kleinschrittigkeit immer auch ein Verstoß gegen die dort behandelte Regel der Vollständigkeit resultiert, der wiederum zu einer fehlerhaften Definition führen kann. Es geht also nicht nur um den Informationsgehalt von Definitionen, sondern auch um ein Vermeiden von Fehlerquellen. Metaphysisch gesehen ähnelt die Forderung nach Kleinschrittigkeit der ideentheoretischen Grundannahme in der starken Variante, dass es für eine Menge von Dingen mit einer Eigenschaft F eine Form der F-heit gibt, so dass alles, was F ist, F aufgrund der Teilhabe an F ist. Allgemeiner formuliert kann dies so ausgedrückt werden, dass eine Menge mit einer bestimmten Gemeinsamkeit diese Gemeinsamkeit wegen einer Form der F-heit hat. Daraus folgt wiederum, dass alle Formen mit einer gemeinsamen Gattung F diese Gattung wegen der Form der F-heit haben, nämlich deswegen, weil sie Teil der F-heit sind. Sofern es also eine gemeinsame Gattung von Formen gibt, muss auch angenommen werden, dass es eine entsprechende Form für dieses Gattung gibt.
2.2.2.3 Die Regel der Vollständigkeit Die Ähnlichkeit zwischen dihairetischen Definitionen einerseits und den einfachen Definitionen andererseits, wie sie oben anhand der Beispiele aus dem EUTHYPHRON dargestellt wurden, wirft die Frage auf, wieso in den einzelnen dihairetischen Schritten jeweils nicht nur eine Art definiert wird, die Gattung des Definiendums ist, sondern auch eine Art, die keine Gattung des Definiendums ist. Diese Frage drängt sich vor allem angesichts der Zusammenfassungen auf, in denen nur noch die Teile aufgezählt werden, die Gattung des Definiendums sind, während alle anderen der vorher definierten Teile ignoriert werden. Das erscheint plausibel, weil dies für die Definition genügt. Obwohl die Definitionen im Abschluss der Dihairese nach dem vereinfachten Schema gegeben werden, machen sich die Gesprächspartner in der Prozedur offensichtlich die doppelte Mühe, indem sie jeweils mindestens zwei Arten einer Gattung definieren. Für eine methodologische Begründung dieses Vorgehens ist es hilfreich, zunächst einige sprachliche Details aus der Dihairese des Angelfischers zu betrachten.
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Im ersten dihairetischen Schritt wird behauptet, dass es »von allen Künsten«151 zwei Formen gibt, die im Folgenden definiert werden. Dieser Sachverhalt wird in der Frage nach der Klassifizierung wieder aufgegriffen: »Wenn nun gänzlich alle Künste zur erwerbenden oder zur erschaffenden gehören, […]«.152 Im zweiten dihairetischen Schritt wird die zweite Art, während sie definiert wird, als »τὸ δὲ λοιπόν [εἶδος]«153 bezeichnet, also als diejenige Form, die nach der Definition der ersten Form noch übrig geblieben ist, als der Rest. Im dritten und vierten Schritt wird durch »διχῇ τμητέον«154 bzw. »τέμνειν διχῇ«155 (»entzwei zu schneiden«) deutlich, dass die beiden jeweils bestimmten Arten nicht von ihrer Gattung abgeschnitten werden, sondern dass die Gattung so durchgeschnitten wird, dass außer den jeweils bestimmten Arten von der Gattung nichts übrig bleibt. Daraus lässt sich die Regel der Vollständigkeit ableiten: Teile die Gattung x in die Teile y1 … yn, so dass es außer y1 … yn keinen Teil z von x gibt, der nicht Teil eines Elements aus {y1 … yn} ist. Die Notwendigkeit dieser Regel wird im POLITIKOS daran deutlich gemacht, dass Fehler, die aus ihrer Missachtung resultieren, korrigiert werden müssen.156
�� 151 Soph. ���a�: »τῶν γε τεχνῶν πασῶν«. 152 Soph. ���d�–�, vgl. Lukas (����: ��� f.): »Dass die beiden Arten den ganzen Umfang des Einteilungsganzen ausmachen, sagt der Verf. selbst: Κτητικῆς δὴ καὶ ποιητικῆς ξυμπασῶν οὐσῶν τῶν τεχνῶν ἐν ποτέρᾳ τὴν ἀσπαλιευτικήν, ὦ Θεαίτητε, τιϑῶμεν; p. ���CD. Aus diesen Worten folgt auch das, dass die Einordnung des Definiendums in eine der Arten nur dann vollzogen werden soll, wenn alle Arten genannt sind […]« 153 Soph. ���d�, die Ergänzung aus d�. 154 Soph. ���d��. 155 Soph. ���e�–�. 156 Diese Beobachtungen sprechen gegen die weniger restriktive Interpretation von Ackrill (����/����: ���): »It is not difficult to understand why Plato should advise the enquirer to try for two or very few cuts at each stage: a slashdap division into a lot of species will very probably cause important similarities and groupings to escape notive. The advice is, however, subordinate to the basic requirement that division must correspond to the natural or real structure of the subject-matter. That Plato’s practice is not in general dichotomous has been sufficiently indicated above. That it is dichotomous in large parts of the Sophist and Politicus is not surprising. For he is not here seeking to bring to light the structure of a whole genus, but to achieve a definition of a particular species. For this purpose the important thing is at each stage to hit on the relevant subgenus of the superior genus; the irrelevant subgenus can be thrown away – and it doesn’t matter if there are some other (irrelevant) subgenera we have not mentioned.«
70 � Dihairetik
So zeigt die im vorausgehenden Abschnitt dargestellte fehlerhafte Dihairese des Politikers exemplarisch, dass aus einem Verstoß gegen die Regel der Kleinschrittigkeit ein Verstoß gegen die Regel der Vollständigkeit resultiert. Weil in diesem Fall die Form mit der artspezifischen Differenz des Zahmen übersprungen wurde, wurde gleichzeitig auch das entsprechende Gegenstück mit der artspezifischen Differenz des Wilden nicht berücksichtigt. Diese Form ist Teil der Gattung, nicht aber Teil einer der beiden in dem fehlerhaften Schritt angegebenen Teile. Für die Dihairetik als Definitionsmethode war dieser Fehler nicht sonderlich problematisch, weil er sich lediglich im geringeren Informationsgehalt der gesamten Definition bemerkbar gemacht hätte. Im weiteren Verlauf des Dialogs zeigt sich aber auch an der korrigierten Dihairese noch ein Fehler desselben Typs, der gravierendere Auswirkungen hat.157 Aus dem großen Exkurs über den Mythos der beiden Weltumlaufperioden158 wird nämlich eine weitere Korrektur der Dihairese abgeleitet.159 Das Problem besteht darin, dass die Politik als eine Aufzucht begriffen wurde, so dass darunter zwar Pferdezüchter und Hirten fallen, nicht aber die Politiker.160 Deswegen wird die Dihairese wie folgt korrigiert.
�� 157 Vgl. polit. ���c�–���d�. 158 Vgl. polit. ���d�–���e�. 159 Vgl. polit. ���e�–���a�. 160 Vgl. polit. ���c�–e�: »Ξένος· Τῇδε δὴ πάλιν ἐπανέλϑωμεν. Ἣν γὰρ ἔφαμεν αὐτεπιτακτικὴν μὲν εἶναι τέχνην ἐπὶ ζῴοις, οὐ μὴν ἰδίᾳ γε ἀλλὰ κοινῇ τὴν ἐπιμέλειαν ἔχουσαν, καὶ προσείπομεν δὴ τότε εὐϑὺς ›ἀγελαιοτροφικήν‹ – μέμνησαι γάρ; Νεώτερος Σωκράτης· Ναί. Ξένος· Ταύτῃ τοίνυν πῃ διημαρτάνομεν. Τὸν γὰρ πολιτικὸν οὐδαμοῦ συνελάβομεν οὐδ᾽ ὠνομάσαμεν, ἀλλ᾽ ἡμᾶς ἔλαϑεν κατὰ τὴν ὀνομασίαν ἐκφυγών. Νεώτερος Σωκράτης· Πῶς; Ξένος· Τοῦ τὰς ἀγέλας ἑκάστας τρέφειν τοῖς μὲν ἄλλοις που πᾶσι μέτεστι νομεῦσι, τῷ πολιτικῷ δὲ οὐ μετὸν ἐπηνέγκαμεν τοὔνομα, δέον τῶν κοινῶν ἐπενεγκεῖν τι σύμπασιν. Νεώτερος Σωκράτης· Ἀληϑῆ λέγεις, εἴπερ ἐτύγχανέ γε ὄν.« (»Fremder: Lass uns also folgendermaßen zurückgehen: Von der wir sagten, sie sei eine selbstbefehlende Kunst über Lebewesen, die nicht jedoch einzeln, sondern gemeinschaftlich ihre Fürsorge hat, und die wir dort auch gleich ›herdenzüchtend‹ nannten – du erinnerst dich doch? Sokrates der Jüngere: Ja. Fremder: Darin haben wir also irgendeinen Fehler gemacht. Den Politiker haben wir nämlich noch keineswegs eingefasst und benannt, sondern ungemerkt ist er uns der Benennung entwischt. Sokrates der Jüngere: Wie das? Fremder: Das Aufziehen seiner jeweiligen Herde kommt zwar allen anderen Hirten irgendwie zu, obwohl es dem Politiker aber nicht zukommt, haben wir diesen Namen zu ihm gebracht, als wir den einer Gemeinsamkeit von allen bringen mussten. Sokrates der Jüngere: Du sprichst ganz wahr, wenn sich so etwas ergeben hat.«)
Sokratische Dihairetik � ��
…
unbeseelt (ἄψυχα)
beseelt (ἔμψυχα)
wild (ἄγρια)
gezähmt (τιϑασά)
Aufzucht (τροφή)
Einzelaufzucht (ἰδιοτρόφη)
Herden-aufziehend (ἀγελαιοτροφική)
Fürsorge (ἐπιμέλεια)
einzel-fürsorgend (ἰδιοκομικὴ)
Herden-fürsorgend (ἀγελαιοκομικὴ)
…
…
Abb. 14: Dihairese des Politikers (Auszug), 2. Korrektur
Diese Darstellung zeigt, dass es sich wie bei dem ersten Fehler um einen Verstoß gegen die Regel der Kleinschrittigkeit handelt, aus dem ein Verstoß gegen die Regel der Vollständigkeit resultiert, insofern auch die Unterscheidung zwischen der Aufzucht und der Fürsorge übersprungen wurde. Anders als beim ersten Fehler führt dies aber nicht bloß zu einer weniger informativen Definition, sondern zu einer falschen. Oben hatte man nicht gesehen, dass neben dem Zahmen auch Wildes als Gegenstand der zu definierenden Politik in Frage kommen könnte. Das war insofern unproblematisch, als das Wilde nicht der Gegenstand der Politik ist. Darüber hinaus hat man nun aber auch nicht gesehen, dass es eine Alternative zur Aufzucht gibt. Das ist insofern problematisch, als gerade diese Alternative, die Fürsorge, eine Gattung der Politik ist, nicht aber die Aufzucht.
2.2.2.4 Die Regel der gleichen Hinsicht Die Angabe der artspezifischen Differenzen, die in einem dihairetischen Schritt zur Definition der Arten gefordert ist, kann jeweils als eine Antwort auf eine bestimmte Frage aufgefasst werden. Beispielsweise wird die artspezifische Dif-
72 � Dihairetik
ferenz des Wundfangs, nämlich die Verwundung, im Dativus instrumenti angegeben,161 der im griechischen Text für das Mittel steht, durch das der Fischfang erfolgt. Für den Netzfang als zweite Art wird dort die Hülle als artspezifische Differenz, ebenfalls im Dativus instrumenti,162 angegeben. Damit wird in beiden Fällen dieselbe Frage beantwortet: Mit welchem Mittel erfolgt der Fischfang? In anderen Schritten geht es beispielsweise um den Ort,163 die Zeit164 oder die Richtung165 des Fischfangs. Zwar geht es in anderen Schritten um andere Fragen, jedoch werden in jedem einzelnen Schritt alle Arten hinsichtlich derselben Frage wie die jeweils alternativen Arten spezifiziert. Das kann jedoch nur als eine grobe Faustregel gelten, insofern zu berücksichtigen ist, dass es von der natürlichen Sprache abhängt, ob für einen dihairetischen Schritt eine entsprechende Frage (gemeint sind natürlich keine entweder-oder Fragen, in denen die artspezifischen Differenzen schon genannt sind) formuliert werden kann. Gerade bei den allgemeinsten Unterscheidungen ist nicht immer eine konkrete Frage auszumachen. Klar scheint jedoch zu sein, dass sich die jeweils voneinander getrennten Arten in einer bestimmten Hinsicht auf derselben Ebene befinden. Es wäre demnach methodisch inkorrekt, wenn man z. B. im zweiten Schritt die Art der Jagd auf Lebloses von der Jagd mit dem Haken abtrennen würde. Im ersten Fall ginge es nämlich um eine bestimmte Frage danach, was gejagt wird, während es im zweiten Fall um eine bestimmte Frage danach ginge, wie gejagt wird. Interessanterweise ist es nicht nötig, eine gesonderte Regel dafür zu fordern, dass sich die Arten auf derselben Ebene befinden. Spezifiziert man die Arten in einem dihairetischen Schritt nämlich nicht in Hinsicht auf dieselbe Frage, werden gleichzeitig auch die drei bereits festgehaltenen Regeln verletzt, die Regel der Trennung, die Regel der Kleinschrittigkeit und die Regel der Vollständigkeit. Umgekehrt folgt aus dem Einhalten der drei Regeln, dass sich die in einem dihairetischen Schritt definierten Arten inhaltlich auf derselben Ebene befinden. �� 161 Soph. ���b��: »πληγῇ« (»durch Verwundung«). 162 Soph. ���b��: »ἕρκεσιν« (»durch Hüllen«). 163 Vgl. soph. ���b�–�. Oberflächlich betrachtet geht es hier um die Unterscheidung zwischen ›geflügelt‹ und ›im Wasser‹, was die Regel gerade zu verletzen scheint. Weil es aber um eine Spezifizierung des Schwimmens geht, muss es um die Frage gehen, wo ›geschwommen‹ wird. Die Antwort müsste für die erste Art genau genommen zwar ›in der Luft‹ lauten, aber das meint der Fremde offensichtlich, wenn er von dem »geflügelten Geschlecht« spricht. 164 Vgl. soph. ���d�–e�. 165 Vgl. soph. ���e�–���a�.
Sokratische Dihairetik � ��
2.2.2.5 Die Regel disjunktiver und negativer Arten In polit. ���a�–���b� kritisiert der Fremde die Unterteilung der Herdenzucht in die des Menschen einerseits und die des Tiers andererseits.166 Sein Gesprächspartner, der jüngere Sokrates, habe damit einen kleineren von einem größeren Teil abgetrennt, anstelle in der Mitte zu schneiden.167 Dieser Fehler wird anhand von drei weiteren Beispielen verdeutlicht. Es sei ebenfalls falsch, erstens168 den Griechen von dem Barbaren – d. h. den Menschen, der Griechisch spricht, von allen anderen (ἀπὸ πάντων)169 – abzutrennen, zweitens170 eine Zahl von von allen anderen (ἀπὸ πάντων)171 zu unterscheiden172 und drittens den Kranich allen anderen (τοῖς ἄλλοις)173 Tieren entgegenzustellen. Die Beispiele machen deutlich, worin der Fremde das Problem sieht. Demnach besteht es darin, dass die jeweils zweite Art nicht positiv bestimmt wurde. Sofern also eine Gattung x einerseits durch die artspezifische Differenz y spezifiziert wurde, wurde sie andererseits als derjenige Teil von x spezifiziert, der nicht y als artspezifische Differenz hat.
�� 166 Vgl. polit. ���a�–�: »Νεώτερος Σωκράτης· […] Καί μοι δοκεῖ τῶν μὲν ἀνϑρώπων ἑτέρα τις εἶναι, τῶν δ᾽ αὖ ϑηρίων ἄλλη τροφή. Ξένος· Παντάπασί γε προϑυμότατα καὶ ἀνδρειότατα διῄρησαι· μὴ μέντοι τοῦτό γε εἰς αὖϑις κατὰ δύναμιν πάσχωμεν.« (»Sokrates der Jüngere: […] und mir scheint eine Aufzucht die der Menschen zu sein, eine andere aber die von Tieren. Fremder: Durchaus mutig und männlich hast du geteilt. Aber das wollen wir nach Möglichkeit nicht wieder erleben.«) 167 Vgl. polit. ���a�–c�: »Νεώτερος Σωκράτης· Τὸ ποῖον; Ξένος· Μὴ σμικρὸν μόριον ἓν πρὸς μεγάλα καὶ πολλὰ ἀφαιρῶμεν, μηδὲ εἴδους χωρίς· ἀλλὰ τὸ μέρος ἅμα εἶδος ἐχέτω. Κάλλιστον μὲν γὰρ ἀπὸ τῶν ἄλλων εὐϑὺς διαχωρίζειν τὸ ζητούμενον, ἂν ὀρϑῶς ἔχῃ, καϑάπερ ὀλίγον σὺ πρότερον οἰηϑεὶς ἔχειν τὴν διαίρεσιν ἐπέσπευσας τὸν λόγον, ἰδὼν ἐπ᾽ ἀνϑρώπους πορευόμενον· ἀλλὰ γάρ, ὦ φίλε, λεπτουργεῖν οὐκ ἀσφαλές, διὰ μέσων δὲ ἀσφαλέστερον ἰέναι τέμνοντας, καὶ μᾶλλον ἰδέαις ἄν τις προστυγχάνοι. Τοῦτο δὲ διαφέρει τὸ πᾶν πρὸς τὰς ζητήσεις.« (»Sokrates der Jüngere: Was denn? Fremder: Wir wollen nicht ein kleines Teilchen von einem großen oder von vielen abtrennen, und nicht ohne eine Form. Sondern der Teil soll zugleich eine Form an sich haben. Am schönsten ist es zwar sicherlich von allem anderen sofort das Gesuchte abzutrennen, wenn es sich so richtig verhält, und ganz so wie du kurz vorher, in dem Glauben, dass sich die Einteilung so verhalte, die Rede beschleunigt hast, weil du gesehen hast, dass sie zum Menschen hin ging. Aber, mein Freund, Feinarbeit ist nicht sicher, durch die Mitten hindurch zu schneiden aber sicherer, und so trifft man auch eher auf Ideen. Und dies macht doch bei der Untersuchung gerade den ganzen Unterschied.«) 168 Vgl. polit. ���c�–d�, ���e�–���a�. 169 Vgl. polit. ���d�. 170 Vgl. polit. ���d�–e�. 171 Vgl. polit. ���d�. 172 Vgl. polit. ���d�–e�. 173 Vgl. polit. ���d�.
�� � Dihairetik
Betrachtet man das erste Beispiel in Bezug auf die Regel der gleichen Hinsicht, bedeutet das, dass die Sprache als Kriterium vorausgesetzt wurde. Man hat dabei einerseits das Griechische als artspezifische Differenz angegeben und andererseits eine Disjunktion aller anderen Sprachen. Sofern für die Definition einer Art die Angabe einer größeren Gattung und genau einer artspezifischen Differenz gefordert ist, bedeutet das, dass die Angabe von negativen Eigenschaften (die Eigenschaft, nicht Griechisch zu sprechen) oder disjunktiven Eigenschaften (die Eigenschaft Lydisch oder Phrygisch oder … zu sprechen) als artspezifische Differenz nicht erlaubt ist. Sofern für die Definition einer Art die Angabe genau einer Form als artspezifische Differenz gefordert ist, muss diesbezüglich keine gesonderte Regel gefordert werden, wenn vorausgesetzt ist, dass es keine negativen und disjunktiven Formen gibt. Dass es keine disjunktiven Formen gibt, könnte mit der These gemeint sein, dass Ideen einförmig (μονοειδής) sind.174
2.2.2.6 Anwendung und Missachtung der Regeln im SOPHISTES und POLITIKOS In den Dialogen SOPHISTES und POLITIKOS wird eine große Dihairese der Kunst erstellt. In mehreren Anläufen werden dabei verschiedene Zweige des porphyrischen Baums durchgearbeitet, so dass man unter anderem auf die Definition des Angelfischers, die Definitionen von sieben Formen des Sophisten, die Definition des Webers und schließlich auf die des Politikers stößt. Insgesamt werden dabei (abhängig von einigen interpretatorischen Entscheidungen, die vor allem im POLITIKOS zu treffen sind) ��� Formen definiert. In Bezug auf die Anwendung der oben herausgearbeiteten Methodologie lassen sich zwei mehr oder weniger klare Einschnitte aufzeigen. Der erste Einschnitt erfolgt im Übergang zwischen dem SOPHISTES und dem POLITIKOS. Bereits die erste Einteilung der Kunst in eine hervorbringende einerseits und eine nur einsehende andererseits verletzt im POLITIKOS die Regeln. Es ist nämlich mindestens die Regel der Vollständigkeit verletzt, insofern im SOPHISTES auf der Ebene der hervorbringenden Kunst noch die Art der erwerbenden Kunst abgetrennt wurde. Die Unterscheidung im POLITIKOS kann auch nicht als bloße Ergänzung bzw. Korrektur gegenüber der Dihairese im SOPHISTES betrachtet werden, weil explizit behauptet wird, dass nach einem anderen Schnitt
�� 174 Vgl. Phaid. ��d�, ��b�, ��e�, symp. ���b�, e�.
Sokratische Dihairetik � 75
geteilt wird.175 Damit liegt ein Fall vor, der mit der ganzen sonstigen Rede vom Zerteilen natürlicher Arten konfligiert. Mindestens unklar ist zudem, ob damit nicht auch die Regel der Trennung verletzt ist. Denn alle Arten der Kunst scheinen insofern nur eine Einsicht zu bewirken, als ›Kunst‹ und ›Erkenntnis‹ synonym verwendet werden. Als sehr problematisch wird für gewöhnlich der Teil der Dihairese des Politikers angesehen, in dem die Fürsorge des Politikers auf eine Fürsorge für Menschen eingeschränkt werden soll. Dabei werden durch eine Aneinanderreihung von Kriterien �� Formen definiert, so dass extensional betrachtet zwar die Menge der Lebewesen auf die Menge der Menschen eingeschränkt wird. Intensional betrachtet ist dieses Vorgehen aber problematisch, weil dabei überhaupt kein essentielles Kriterium für die Form des Menschen genannt zu sein scheint. Dagegen scheint die Dihairese des Webers in polit. ���c�–���a� sowohl methodologisch als auch inhaltlich wieder einwandfrei zu sein. Der zweite und wesentlich deutlichere Einschnitt lässt sich aber nach diesem Beispiel ziehen. Von dort an werden (je nach interpretatorischen Feinheiten) �� Formen definiert, so dass wieder sokratische Dihairesen vorzuliegen scheinen, die den Regeln der eleatischen Dihairetik widersprechen. Die Frage, ob und wenn ja wieso Platon die Gesprächspartner im POLITIKOS und besonders im zweiten Teil dieses Dialogs von der strengen Methodik hat abrücken lassen, ist schwer zu beantworten und gewiss auch von inhaltlichen Fragen der politischen Philosophie abhängig. In der vorliegenden Arbeit über Teile und Teilhabe in Platons SOPHISTES wird nicht der Versuch unternommen, sie zu beantworten. Es sei dennoch darauf hingewiesen, dass nicht voreilig der Schluss gezogen werden sollte, Platon kritisiere die Dihairetik und zweifle ihren philosophischen Nutzen an. Abgesehen von den genannten problematischen Definitionen werden ��� Formen der Kunst definiert, die mehr oder weniger unproblematisch sind, und das sind genau die Fälle, in denen die oben herausgearbeiteten Regeln eingehalten werden. Zwar wird auch von den Dihairesen im SOPHISTES häufig behauptet, dass sie fehlerhaft seien, vor allem deshalb, weil es scheinbar sieben verschiedene Definitionen derselben Form, der Sophistik, gibt. In Kapitel � soll dagegen gezeigt werden, dass die Definitionen unproblematisch und zudem sachlich nützlich sind. Sofern die Regeln also im SOPHISTES angewendet werden, sind sie als Interpretation der dihairetischen Methode im SOPHISTES plausibel und das würde sich
�� 175 Vgl. polit. ���b�–c�.
�� � Dihairetik
auch dann nicht ändern, wenn es im POLITIKOS eine Kritik an dieser Methode gäbe. Wenn es im POLITIKOS nun eine solche Kritik geben sollte, dann müsste der erste Schritt in der Rekonstruktion dieser Kritik aber darin bestehen, die Methode selbst zu rekonstruieren, und das scheinen die Vertreter der These, Platon kritisiere die Dihairetik, bislang vernachlässigt zu haben. Die These, Platon kritisiere im POLITIKOS die Dihairetik, dürfte aber nicht so leicht zu zeigen sein, wie das ihre Vertreter häufig annehmen. Sofern er ihre Probleme nämlich anhand von Beispielen aufzeigen wollte, müsste er dabei Beispiele vorbringen, in denen die Regeln eingehalten sind und in denen trotzdem Probleme auftreten. Aber das ist gerade nicht der Fall. Platon würde also im SOPHISTES die Stärken der strengen Methodologie aufzeigen, die er im POLITIKOS dadurch kritisieren wollte, dass er sie nicht anwendet. Das wäre absurd.
2.2.2.7 Dihairetik als Erkenntnismethode In den vorausgehenden Abschnitten ist für die These argumentiert worden, dass genau diejenigen Teile einer Gattung ihre natürlichen Arten sind, die durch Anwendung der dihairetischen Regeln aufgezeigt werden können. Dagegen könnte eingewendet werden, dass die Regeln zu schwach sind, um eindeutig aufzuzeigen, wie eine Gattung in ihre natürlichen Arten zu zerteilen ist. Denn, so könnte vorgebracht werden, es können mehrere verschiedene Teilungen diese formalen Kriterien erfüllen. Gegen diesen Einwand ist zu erwidern, dass die formalen Kriterien nicht zugleich von verschiedenen Teilungen erfüllt werden können. Wenn man eine Teilung als regelgerecht anerkannt hat, legt man sich damit auf eine zugrunde gelegte Metaphysik fest. Und wenn man sich auf diese Metaphysik festgelegt hat, muss man jede andere Teilung als Regelverstoß zurückweisen. Angenommen, man akzeptiert den Schnitt von x in y und z, dann kann man nicht zugleich den Schnitt von x in y′ und z′ mit y′ ≠ y akzeptieren. Wenn man sich mit dem Schnitt von x in y′ und z′ nämlich darauf festlegt, dass y′ ein Teil von x ist, und man hat sich darauf festgelegt, dass y ein Teil von x ist, dann muss man sich auch auf ein Verhältnis von y′ zu y festlegen. Man könnte nicht annehmen, dass y′ ein Teil von y ist, weil der Schnitt von x in y′ und z′ als ein Verstoß gegen die Regel der Kleinschrittigkeit zurückgewiesen werden müsste. Man könnte aber auch nicht annehmen, dass y ein Teil von y′ ist, weil der Schnitt von x in y und z als ein Verstoß gegen die Regel der Kleinschrittigkeit zurückgewiesen werden müsste. Man könnte schließlich auch nicht annehmen, dass y′ weder ein Teil von y ist, noch y ein Teil von y′, weil der Schnitt von x in y und z als ein Verstoß gegen die Regel der Vollständigkeit zu-
Sokratische Dihairetik � 77
rückgewiesen werden müsste. Man kann also nicht zugleich annehmen, dass der Schnitt von x in y und z regelgerecht ist und dass der Schnitt von x in y′ und z′ mit y′ ≠ y regelgerecht ist. Man kann also nur einen Schnitt einer Form als regelgerecht akzeptieren. Nun folgt aus diesem Beweis nicht, dass die dihairetischen Regeln stark genug sind, um eindeutig aufzuzeigen, wie eine Gattung in ihre natürlichen Arten zu zerteilen ist. Der Beweis zeigt aber, dass die Regeln dennoch sehr leistungsfähig sind. Denn sie gewährleisten die Festlegung auf eine konkrete Metaphysik und führen zugleich ein entsprechendes Begriffsschema ein. In Abschnitt �.�.� wurde gezeigt, dass Sokrates vor der Beantworung einer philosophischen Frage die Klärung der in ihr vorkommenden Ausdrücke fordert. Die dihairetischen Regeln sind also ein adäquates Werkzeug, um diesem Anspruch gerecht zu werden. Dass verschiedene Teilungen die formalen Kriterien erfüllen können, bedeutet außerdem nicht, dass die Durchführung einer Dihairese reine Willkür wäre.176 Sie muss natürlich von fachlichen Überlegungen begleitet sein. So wird in soph. ���b�–e� mit Bezug auf eine philosophische Debatte die Entscheidung getroffen, dass die Nachahmungskunst in eine göttliche und eine menschliche zu teilen sei, und nicht in eine natürliche und eine menschliche.177 Die Dihairetik kann sicherlich nicht in dem Sinn als eine Erkenntnismethode gelten, dass durch ihre bloße Anwendung Wissen über einen zuvor unbekannten Gegenstand erlangt werden könnte. Sie kann aber in dem Sinn als eine Erkenntnismethode bezeichnet werden, dass mit ihrer Hilfe eine wahre Meinung zu dem werden kann, was Platon als Erkenntnis oder Wissen (ἐπιστήμη) bezeichnet, nämlich wahre Meinung mit λόγος.178 Während Sokrates im THEAITETOS noch nicht erklären konnte, was dabei unter ›λόγος‹ zu verstehen ist, verwendet der Fremde den Ausdruck im SOPHISTES, wie oben gezeigt,179 für eine dihairetische Definition. 180 Dieses Verständnis von ›Wissen‹ spiegelt sich in Platons Schriftkritik wie in seiner Kritik an den Sophisten wider. Er ist skeptisch gegenüber den verbreiteten Lehrsätzen, weil er ihren Sinn für unklar hält, sofern sie keine Definitionen der in ihnen verwendeten Ausdrücke mit sich bringen. Wenn sich Platon mit
�� 176 Intensiv hat dies Ryle (����) den platonischen Dihairesen vorgeworfen. 177 Vgl. die Interpretation dieser Passage in Abschnitt �.�.�. 178 Vgl. Tht. ���c�–���d�. 179 Vgl. Abschnitt �.�.�.�. 180 Vgl. auch Abschnitt �.�.�.
�� � Dihairetik
Positionen der Philosophiegeschichte auseinandersetzt, geht es im deshalb immer darum, überhaupt erst ihren Sinn zu verstehen.
2.2.3 Intensionale Mereologie Ausgehend von der bisherigen Rekonstruktion der eleatischen Dihairetik lassen sich bereits einige Rückschlüsse auf die zugrunde liegende Metaphysik der Formen bzw. insbesondere auf die Theorie über die Teile von Formen ziehen. Es wurde oben vorausgesetzt, dass sowohl das, was in einer Dihairese geteilt wird, platonische Formen sind, als auch, dass die Teile der platonischen Formen selbst wiederum platonische Formen sind. Das ist aus verschiedenen Gründen naheliegend und angemessen. Dass das Definiendum eine Form ist, liegt zunächst bereits aus historischen Gründen nahe, weil die Bestimmung dessen, welcher Teil wovon eine bestimmte Form ist, wie sich gezeigt hatte, auch in den früheren Dialogen als Definition dieser Form verstanden wurde. Deswegen ist es auch kaum verwunderlich, wenn zuerst in soph. ���a� von »zwei Formen« (»εἴδη δύο«) die Rede ist, in die die Kunst geteilt werden soll. Weil eine dieser beiden Formen im nächsten Schritt selbst wieder geteilt wird, folgt daraus, dass sowohl das, was geteilt wird, als auch das, in was geteilt wird, Formen sind.181 Es ist also auch davon auszugehen, dass die oberste Gattung, in diesem Fall die Kunst, eine Form ist. Die Rede von den εἴδη zieht sich durch die gesamten Dihairesen hindurch und im POLITIKOS wird, wie oben gezeigt wurde, explizit verlangt, dass nur in solche Teile geteilt werden soll, die zugleich Formen sind. Insofern es sich dabei um einen festen und zentralen Fachterminus der Ideenlehre handelt, ist davon auszugehen, dass im Rahmen der Dihairesen unter einer Form dasselbe verstanden wird wie auch sonst immer.182 Dass platonische Formen als Intensionen und nicht als Extensionen aufzufassen sind, geht aus etlichen Stellen hervor, in denen sie thematisiert werden. Hervorzuheben ist Moravcsiks Hinweis darauf, dass Formen auch dann als
�� 181 Vgl. Crivelli (����: ��): »The method of division enables one to find a definition by ›dividing‹ kinds into kinds.« 182 Deswegen sind Interpretationen wie z. B. die von Philip (����: ���, Fußnote �) gänzlich unangemessen: »It is obvious that the method of diaeresis is concerned with classes and classification. I have therefore translated both genos and eidos (Plato uses these terms without distinction) as ›kind‹ or ›class‹ an, when it can hardly be avoided, also as genus and species. The term ›idea‹ in its rare occurrences in these dialogues does not appear to imply ›idea‹ or ›form‹ in the sense of the Theory of Ideas. […] In all cases the term seems to refer to the common aspect of a class.«
Sokratische Dihairetik � 79
verschieden betrachtet werden, wenn sie extensionsgleich sind.183 Das ist nur möglich, wenn es sich bei ihnen um Intensionen handelt. Wenn in den Dihairesen nicht explizit von den εἴδη die Rede ist, werden in der Regel – wie üblich in der Rede über Formen – singuläre Ausdrücke verwendet. Zwar werden in manchen Stellen plurale Ausdrücke für das verwendet, was zerschnitten wird,184 aber das spricht nicht gegen die Annahme, dass in einer Dihairese Intensionen getrennt werden. Durch das Zerschneiden einer Form werden gleichzeitig auch alle ihre Teile voneinander getrennt und genau das ist in diesen Stellen gemeint. Diese Formulierungen stehen im Zusammenhang mit der Regel der Vollständigkeit, die sich am besten mit Bezug auf die Teile ausdrücken lässt: Es ist gefordert, dass alle Teile (Plural) der Gattung wiederum Teil einer der definierten Arten sind. Es gibt also auch deswegen keinen Grund zur Annahme, dass das, was oder in was geteilt wird, Klassen sind, weder von Partikularia185 noch von Formen.186
�� 183 Vgl. Moravcsik (����c: ���): »[…] there is an objection that renders all extensional models untenable. It shows that a clean model, attempting to explicate the divisions in terms of settheoretical notions, cannot succeed. For the criteria of identity for sets are extensional: two sets are identical if they have the same members. In Platonic terms, two sets are identical if they contain the same participants. But it is one of the cardinal doctrines of Plato that two Forms can be distinct even though exactly the same class of entities partakes of both. This comes out in the middle period dialogues, such as the Republic, where a theory is proposed according to which the full participation in any one of the cardinal exellences requires participation in all. Still, the key four excellence-Forms, wisdom, courage, self-control, and justice, are distinct. The same doctrine is carried into the later dialogues such as the Sophist. The μέγιστα γένη such as ›being‹, ›sameness,‹ and ›difference‹ have necessarily everything partake of them. Thus they have the same class of participants. Yet according to Plato these are distinct Form. […]« Ähnlich ders. (����b): ��� f. 184 Vgl. ders. (����b: ��� f.): »There are a number of passages in which what is said to be divided is a plurality of Forms (i.e. arts). Such passages are: Sophist ���a�–�, ���d�–�, and ���d�, as well as Politicus ���e�–�. The language of these passages support the hypothesis that what we divide is a class rather than a single intensional entity. Similar evidence is provided by the few passages on collection. Each collection that is part of the main line of a division always takes place on the same level, i.e. it is always arts that are collected. […]« Ähnlich ders. (����c: ��� f.). 185 Vgl. das superclean model von Cohen (����: ���): »[…] to define ›sophistry‹ is to enumerate all those Forms F such that: (�) the extension of ›sophist‹ is included in the extension of F, and (�) the extension of F is included in the extension of the original dividend Form, in this case, the Form technē.« Vgl. auch die Alternative, die Moravcsik (����c: ���) zu seinem clean model vorstellt: »[…] he considers the class of all artists, and subdivides it according to a series of first-order predicates,
80 � Dihairetik
Moravcsik schlägt deswegen einen Ansatz für ein Modell der intensionalen Mereologie vor, dessen Grundannahme darin besteht, dass in einer Dihairese Intensionen in Intensionen geteilt werden.187 Im Detail ist dieser sonst plausible Ansatz deswegen problematisch, weil er dabei von zwei verschiedenen TeilGanzes-Relationen ausgeht,188 was weder als Interpretation überzeugend, noch sachlich richtig ist. Während Moravcsik dem Definiendum diejenigen Formen, deren Teil es ist, als Gattung und als Eigenschaft zuschreibt, schreibt er allen anderen Formen diejenigen Formen, deren Teil sie sind, nur als Gattung zu.189 Ersteres setzt voraus, dass die Form des Angelfischers die Eigenschaft hat, eine Kunst zu sein. Das ist aber falsch, weil Formen keine Künste sind. Der Grund für diese merkwürdige Verkomplizierung des Modells besteht in der Überlegung, dass ein Sophist nicht an der Form der Kunst teilhaben könne, weil er selbst
�� ending with a class-subsumption relation in which the sub-class in question is collected under the notion we set out to investigate, e.g. sophist.« 186 Vgl. das clean model in Moravcsik (����b: ���–���) und (����c: ���–���). Dieses Modell ist nicht nur aus den genannten Gründen als Interpretation nicht haltbar, sondern auch sachlich. »The clean model, as presented above, involves starting out with a class of Form, e.g. The class of arts; it then considers second-order predicates for the final definition, i.e. predicates that characterize notions that themselves can be predicated of classes of particulars.« (����c: ���) Moravcsik geht also davon aus, dass es eine Eigenschaft der Form des Sophisten ist, eine Kunst zu sein. Das ist aber nicht richtig, weil Formen keine Künste sind. Moravcsik geht ferner davon aus, dass Formen die artspezifischen Differenzen, durch die sie definiert sind, als Eigenschaften haben. »We start by considering the class of all arts. We notice that some members of this class partake of acquisitiveness, thus forming the sub-class of acquisitive arts. We make our ›cut‹ and now consider the class of acquisitive arts.« (����c: ���) Auch das ist nicht richtig, weil Formen nicht erwerben. 187 Vgl. Moravcsik (����b: ���–���) und (����c: ���–���). 188 Vgl. ders. (����b: ���): »A Form may have […] two kinds of parts. (i) x is a part′ of A = x has A as a property, and both x and A are Forms; furthermore, A does not have x as one of its properties. […] (ii) x is a part′′ of A and an ›eidos‹ of A = A is a Form and x is a kind of A.« 189 Vgl. ebd.: »A division consists of taking a generic Form and dividing or cutting it into a series of parts′′, and at the end of such a process we reach some particular part′. This part′ of the generic Form is also a part′ of the various parts′′ of the generic Form; […]« In ders. (����c: ���) wird die erste Teil-Ganzes-Relation durch die Methexis ersetzt, während die Interpretation sonst dieselbe bleibt: »Only in some cases do the parts of a whole also partake of it. These are the cases in which we deal with the Form to be defined and the generic Form and the intermediates in relation to it. The Form to be defined does partake of those wholes (Forms) that will be included in its definition.«
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keine Kunst ist, während aber die Sophistik eine Kunst ist, an der ein Sophist wiederum teilhat.190 Cohen weist zurecht darauf hin, dass diese Überlegung nicht zu Ende gedacht ist. Wenn ein Sophist demnach an der Sophistik teilhaben würde, müsste er entsprechend eine Sophistik sein. In short, I see no reason why we cannot treat all the predicates alike, presumably as firstorder predicates. If Mr. X can partake of Sophistry and be thereby nothing more than a sophist, then he can partake of Art without being thereby anything more exalted than an artist.191
Diese Bemerkung ist der Tatsache angemessen, dass Platon die Ideen auch sonst kategorial flexibel verwendet und in den Dihairesen des SOPHISTES und POLITIKOS uneinheitlich teils von Künsten und teils von Künstlern spricht. Sie ist auch wegen des Vorschlags interessant, alle Formen als Prädikate desselben Typs aufzufassen, womit ein grundlegender Unterschied zwischen der Mengenlehre und der Mereologie, der Logik von Teil und Ganzem, angesprochen ist. Im Gegensatz zur Mengenlehre ist die Mereologie eine nicht-hierarchische Theorie.192 Das bedeutet für Formen, dass Teile von Formen selbst Formen sind, während Elemente aus Klassen von Formen selbst keine Klassen von Formen, sondern Formen sind. Geht man (wie Moravcsik im clean model) davon aus, dass die Bedeutung von ›Kunst‹ eine Menge von Formen ist, kann man die Tatsache, dass a ein Künstler ist, nicht mehr ohne Weiteres im Sinn der Ideenlehre dadurch beantworten, dass er an der Form der Kunst teilhat, weil die Kunst demnach selbst keine Form wäre. Im Rahmen eines mereologischen Ansatzes könnten hingegen sowohl die Sätze ›a ist ein Angelfischer‹ als auch ›a ist ein Künster‹ ideentheoretisch als Aussagen über die Teilhabe an den entsprechenden Formen interpretiert werden.
�� 190 Vgl. ders. (����b: ���): »[…] the predicates under consideration in the divisions are [are (sic.)] not predicates of particulars but predicates of Forms. Mr. X might be a sophist; but what the divisions account for are not his properties but the properties of the art of which he partakes. The namings surveyed name not the properties of artists, but properties of the art of sophistry. E.g. Sophistry is an acquisitive art – but Mr. X is clearly not. He partakes of an art that is acquisitive.« Vgl. ders. (����c: ��� f.). 191 Cohen (����): ���. 192 Das deutet der Titel der einflussreichen Arbeit von Henry S. Leonard und Nelson Goodman (����) an: »The Calculus of Individuals and Its Use«.
82 � Dihairetik
Cohen schägt einen in dieser Hinsicht verbesserten Ansatz eines mereologischen Modells vor,193 den er selbst aber zugunsten eines extensionalen Ansatzes verwirft.194 Er hat drei Einwände. Erstens behauptet er, dass sich das Modell der intensionalen Mereologie kaum mehr als durch die Notation von dem extensionalen Modell unterscheiden würde.195 Das ist aber nicht richtig. Wie oben nur angedeutet, unterscheiden sich Mereologie und Mengenlehre grundlegend in ihrer Semantik. Cohen argumentiert mit der These, dass sich das mereologische Modell mit der Mengenlehre und dem Notwendigkeitsoperator darstellen ließe, was er selbst auch skizziert.196 Daraus folgt aber nicht, dass sich beide Modelle semantisch nicht unterscheiden würden. Cohens Formeln müssen so verstanden werden, dass sie metasprachliche Forderungen für ein mereologisches Modell formulieren. Das Modell selbst beinhaltet keine Mengen und bedarf auch keines Modaloperators. – Und das ist ein wesentlicher Unterschied zu einem extensionalen Modell. Zweitens wendet Cohen ein, dass sein Modell der intensionalen Mereologie die Frage nicht hinreichend beantworten könne, welche Teile von Formen selbst Formen sind.197 Diesen Einwand hält er insofern für irrelevant, als die alternativen Modelle dies auch nicht könnten.198 Die vorliegende Untersuchung betrifft dieser Einwand insofern nicht, als oben ein neuer Vorschlag formuliert wurde, wie diese Frage beantwortet werden kann.
�� 193 Vgl. Cohen (����): ���–���. 194 Vgl. ebd.: ���–���. 195 Vgl. ebd.: ���: »The basic notion of the New I.M. Model can be expressed in terms of settheory and modal logic. Or, at least, a model isomorphic to the New I.M. Model can be produced using only the notions of class inclusion and necessity. Thus, the New I.M. Model may be very close to the superclean model, little more than notationally different. (But in my heart I favor the superclean model anyway, so Iʼm not sure this is a disadvantage.)« 196 Vgl. ebd.: ���: (�) Let ›A‹, ›B‹, etc., be predicate variables. (�) A is the intension of A, etc. (�) E(A) is the extension of A. (�) The arrow will represent entailment between intensions; A → B iff □(x)(Ax⊃Bx) (�) A is a part of B =df A → B & –(B → A) […] 197 Vgl. ebd.: »The model gives us no help with the question of which intensions are Forms, but assumes we have some independent way of determining this.« 198 Vgl. ebd.: ���: »But the fact that the New I.M. Model doesnʼt tell us which intensions are Forms leaves it no worse off than any of its rivals, for analogous problems will crop up with them.«
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Drittens kritisiert Cohen, dass ein intensional mereologischer Ansatz dem intuitiven Verständis der Teil-Ganzes-Relation nicht gerecht werde. Während Mensch Teil von Lebewesen sein müsste, würde man meinen, dass Lebewesen Teil von Mensch ist, weil ›Lebewesen‹ Teil des Definitionsausdrucks von ›Mensch‹ ist.199 Dieser Einwand ist offensichtlich sehr schwach. Platon geht es eben nicht um Teile von Definitionsausdrücken, sondern um Teile von Formen. Der Text ist diesbezüglich auch kaum misszuverstehen. Der Einwand kann sich also allenfalls gegen Platons Theorie richten, nicht aber gegen eine Interpretation dieser Theorie. Nun hat sich gezeigt, dass Platon die Relation zwischen einer Art und einer Gattung als das Verhältnis von Teil und Ganzem zueinander interpretiert. Neben dieser historischen Tatsache stellt sich die Frage, ob dies auch aus systematischer Perspektive gesehen plausibel ist. Zum jetzigen Stand der Untersuchung kann bereits gesagt werden, dass dies insofern plausibel ist, als Platons Relation zwischen Teilen von Formen und ganzen Formen drei Prinzipien erfüllt, die für eine Teil-Ganzes-Relation gelten müssen und die daher eine Mereologie fordern muss: Transitivität, Asymmetrie und das sogenannte schwache Supplementationsprinzip. Daran zeigt sich, dass das Verhältnis von Teilen einer Form zur ganzen Form von Platon ganz ähnlich wie die herkömmlichen TeilGanzes-Relation interpretiert wird, d. h. ähnlich wie die Relation zwischen Teilen materieller Dinge und einem Ganzen. Die erste grundlegende und offensichtliche Eigenschaft der Teil-GanzesRelation ist die Transitivität. Das bedeutet, dass für alle Formen x, y, z gilt: Wenn x ein Teil von y ist und wenn y ferner ein Teil von z ist, dann ist auch x ein Teil von z. Diese Eigenschaft wird auch in der eleatischen Dihairetik vorausgesetzt. Dass im Schritt der Klassifizierung nämlich, erstens, das Definiendum einer Art untergeordnet wird, setzt außer in den beiden letzten Durchläufen der Prozedur die Transitivität der Teil-Ganzes-Relation voraus. Wenn im ersten Schritt (���a�–�) beispielsweise der Angelfischer als ein Künstler gesetzt wird, bedeutet dies, dass die Form des Angelfischers als ein Teil der Form des Künstlers gesetzt wurde, während im Folgenden gezeigt wird, dass sie Teil einer Form
�� 199 Vgl. ebd.: »My final worry about the New I.M. Model, indeed about all intensional models, is that they do not mesh very nicely with an intuitive understanding of the part of relation. One would have thought that while the class of men is a part of the class of animals, the intension Animal is part of the intension Man, and not the other way around. For ›animal‹ is part of the definition of ›man‹, while ›man‹ is not part of the definition of ›animal‹. If we want a model which makes good literal sense of the part of relation, we may have to go back to a model which gives us classes to divide and is hence at least partly extensional.«
84 � Dihairetik
ist, die Teil einer Form ist … die Teil der Kunst ist. Zweitens setzt die Regel der Vollständigkeit Transitivität voraus. Die Behauptung in ���a�, es gebe zwei Arten von allen Künsten, setzt nämlich voraus, dass eben alle Arten der Kunst (außer den beiden in diesem Schritt angegebenen Arten), wie auch die Form des Angelfischers, Teil von einer der beiden Arten sind, also auch diejenigen Arten, die erst durch mehrschrittige Dihairesen aufgezeigt werden können. Drittens muss auch in einer Synagôgê vorausgesetzt werden, dass die Teil-GanzesRelation transitiv ist. So werden in ���c�–� Arten der erwerbenden Kunst (κτητικὴ) gesammelt, die sich erst durch mehrschrittige Dihairesen bestimmen lassen: Die Formen der Kampfkunst (»ἀγωνιστικὸν«)200 und der Jagd (»ϑηρευτικόν«)201 werden später (���d��–���a�) definiert, indem sie der erwerbenden Kunst und davon dem erobernden Teil (χειρωτικὸν) untergeordnet werden. Um das Prinzip formal zu notieren, seien zunächst einige Zeichen eingeführt, so dass im Laufe der weiteren Arbeit eine formale Sprache daraus entwickelt werden kann. Ein Grundprädikat der Mereologie platonischer Formen ist die Teil-GanzesRelation, für die im Folgenden das üblicherweise auch in der klassischen extensionalen Mereologie202 verwendete Zeichen ›