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Schriften zum Prozessrecht Band 266
Tatfragen in der strafrechtlichen Revision Eine Untersuchung der rechtshistorischen und rechtspraktischen Entwicklung des Rechtsschutzes in Strafsachen samt Reformvorschlag
Von George Andoor
Duncker & Humblot · Berlin
GEORGE ANDOOR
Tatfragen in der strafrechtlichen Revision
Schriften zum Prozessrecht Band 266
Tatfragen in der strafrechtlichen Revision Eine Untersuchung der rechtshistorischen und rechtspraktischen Entwicklung des Rechtsschutzes in Strafsachen samt Reformvorschlag
Von George Andoor
Duncker & Humblot · Berlin
Gedruckt mit Unterstützung des Förderungsfonds Wissenschaft der VG WORT. Die Juristische Fakultät der Universität Würzburg hat diese Arbeit im Jahr 2019 als Dissertation angenommen. Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
Alle Rechte vorbehalten
© 2020 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Druck: CPI buchbücher.de GmbH, Birkach Printed in Germany ISSN 0582-0219 ISBN 978-3-428-15791-4 (Print) ISBN 978-3-428-55791-2 (E-Book) Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706
Internet: http://www.duncker-humblot.de
Vorwort Die vorliegende Arbeit wurde im Wintersemester 2019 von der Juristischen Fakultät der Julius-Maximilians-Universität Würzburg als Dissertation angenommen. Für die Drucklegung wurde das Manuskript überarbeitet; die Literatur und Statistiken befinden sich auf dem Stand von Juli 2018. Die Dissertation entstand während meiner Zeit als Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Internationales Strafrecht, Strafprozessrecht, Wirtschafts- und Steuerstrafrecht der Julius-Maximilians-Universität Würzburg. So gebührt auch mein ganz besonderer Dank dem Lehrstuhlinhaber, meinem geschätzten Doktorvater und Lehrer, Herrn Professor Dr. Frank Peter Schuster, Mag. iur. Professor Schuster stand mir nicht nur während der gesamten Entstehungszeit dieser Arbeit mit kritischem Rat, wertvollen Hinweisen und einem offenen Ohr für die neuen Ansätze, die ich zu verfolgen gedachte, zur Seite. Er gewährte mir auch den Freiraum, den ich als Doktorand und Mitarbeiter benötigte, um dieses umfangreiche Promotionsvorhaben zu verfolgen. Ohne seine Unterstützung, sowohl in fachlicher als auch in persönlicher Hinsicht, hätte diese Arbeit niemals in dieser Weise fertiggestellt werden können. Mein besonderer Dank gilt auch Herrn Professor Dr. Jan Zopfs von der Johannes-Gutenberg-Universität Mainz, der mich nicht nur nach meinem Vorbereitungsdienst als Wissenschaftlicher Mitarbeiter an seinem Lehrstuhl aufnahm, sondern die vorliegende Arbeit auch mit besonderer Akribie und kritischem Blick zweitbegutachtet hat. Schließlich gilt mein Dank aber auch denjenigen Personen, die mich während meiner – größtenteils anregenden, zum Teil aber auch herausfordernden – Jahre als Wissenschaftlicher Mitarbeiter begleitet haben, stets für einen fachlichen Austausch zur Verfügung standen und zuweilen auch den entscheidenden Anstoß gaben, den einen oder anderen Gedanken weiterzuverfolgen oder zu verwerfen. Namentlich will ich mich vor allem bei Frau Dr. iur. Barbara Krüll, Herrn Thomas Heßland, M. A., und meinem Bruder, Herrn Chris Andoor, bedanken, welche die gesamte Arbeit – abschnittsweise sogar mehrfach – gelesen, mich auf kleinere Mängel aufmerksam gemacht und mir weitere Denkanstöße gegeben haben. Ebenso will ich mich beim Herrn RiAG Jens Lorenz, Herrn Ass. jur. Christoph Hellmann, B. Sc., und Frau RiAG Lisa Weydt bedanken, die erhebliche Teile der Arbeit gelesen und mir stets für einen kritischen Diskurs zur Verfügung standen. Nicht zuletzt gilt mein besonderer Dank aber auch dem Förderungsfonds Wissenschaft der VG WORT GmbH für die finanzielle Unterstützung bei der Veröffentlichung dieses Vorhabens. Mainz, im September 2019
George Andoor
Inhaltsverzeichnis Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 23
1. Kapitel Die Revision in Strafsachen
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A. Das System der strafrechtlichen Rechtsbehelfe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 32 I. Die Strafgerichtsbarkeit als Teil der ordentlichen Gerichtsbarkeit . . . . . . . . . . . . . 32 II. Rechtsbehelfe gegen richterliche Entscheidungen im Strafverfahren . . . . . . . . . . . 34 1. Die Rechtsmittel gegen verfahrensabschließende Urteile im Strafverfahren . . . 34 2. Sonstige Rechtsbehelfe im Strafverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 36 3. Die Ausgestaltung der Rechtsmittel in sonstigen Verfahrensordnungen . . . . . . 38 B. Die Ausgestaltung der Revision in Strafsachen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 42 I. Verletzung des Gesetzes als Anknüpfungspunkt der Revision . . . . . . . . . . . . . . . . 42 II. Formen revisionsgerichtlicher Entscheidungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 43 1. Verwerfung durch Beschluss wegen Unzulässigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 44 2. Verwerfung durch Beschluss wegen offensichtlicher Unbegründetheit . . . . . . . 45 3. Aufhebung durch Beschluss bei einstimmig erachteter Begründetheit . . . . . . . 47 4. Entscheidung durch Urteil . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 48 III. Folgen der Aufhebung eines Urteils im Revisionsverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . 48 C. Die Notwendigkeit eines umfassenden Rechtsschutzes in Strafsachen . . . . . . . . . . . . 50 I. Zwecke der Revision . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 50 1. Die einheitliche Rechtsfortbildung und Wahrung der Rechtseinheit als eigentlicher Revisionszweck . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 50 2. Richtige Rechtsanwendung im Einzelfall als Revisionszweck . . . . . . . . . . . . . 53 a) Die besondere Bedeutung der Einzelfallkomponente bei der Revision in Strafsachen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 53 b) Richtige Rechtsanwendung im Einzelfall statt Einzelfallgerechtigkeit im Rahmen der strafrechtlichen Revision . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 55 c) Einzelfallgerechtigkeit und Entscheidungen zulasten des Angeklagten . . . . 59 II. Das Rechtsschutzbedürfnis in Strafsachen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 61 1. Das Grundgesetz und der Rechtsschutz gegen den Richter . . . . . . . . . . . . . . . . 61
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Inhaltsverzeichnis 2. Zur zwingenden Notwendigkeit eines Instanzenzuges in Strafsachen von Verfassungs wegen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 63 a) Differenzierte Betrachtung der Ausübung der richterlichen Gewalt mit Blick auf Art. 19 Abs. 4 GG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 63 aa) Der Verwaltungsrichter als rechtsschützender Richter . . . . . . . . . . . . . . 64 bb) Der Zivilrichter als rechtsvermittelnder Richter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 64 cc) Der Strafrichter als originär rechtseinschränkender Richter . . . . . . . . . . 65 b) Gefahr eines Rechtsschutzes ad infinitum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 68 3. Die völkerrechtliche Pflicht zur Gewährleistung eines Instanzenzuges in Strafsachen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 69
D. Zusammenfassende Analyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 71
2. Kapitel Eine historische Betrachtung der Entwicklung der Revision
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A. Ein Abriss der historischen Entwicklung der strafrechtlichen Rechtsmittel . . . . . . . . . 75 I. Rechtsmittel im älteren deutschen Recht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 76 II. Die Entwicklung von Rechtsmittelgerichten im Spätmittelalter . . . . . . . . . . . . . . . 79 III. Das Verbot der Appellation in Strafsachen in der frühen Neuzeit . . . . . . . . . . . . . 82 1. Verbot der Appellation zu den Reichsgerichten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 82 2. Verbot der Appellation zu den obersten Landesgerichten und alternative landesrechtliche Rechtsbehelfe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 85 IV. Wiederentdeckung der Appellation im Zeitalter des liberalen Rechtsstaates . . . . . 88 1. Politische Verhältnisse in den deutschen Gebieten nach 1806 . . . . . . . . . . . . . . 88 2. Entwicklung der Rechtsmittel im frühen 19. Jahrhundert . . . . . . . . . . . . . . . . . 90 a) Außerordentliche Rechtsbehelfe in den Partikularrechtsordnungen . . . . . . . 91 b) Rezeption der Rechtsbehelfe des französischen Strafprozessrechts . . . . . . . 92 aa) Historische Rechtsbehelfe im französischen Strafprozessrecht . . . . . . . 93 bb) Die Folgen der Rezeption des französischen Strafprozessrechts . . . . . . 94 V. Reform der Rechtsmittel im 19. Jahrhundert am Beispiel Preußens . . . . . . . . . . . 97 1. Die strafrechtliche Appellation im Preußen zur Mitte des 19. Jahrhunderts . . . 97 2. Die Nichtigkeitsbeschwerde im preußischen Strafverfahren des 19. Jahrhunderts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 100 a) Entwicklung der Nichtigkeitsbeschwerde im preußischen Zivilverfahren als ein Rechtsmittel zur Herstellung der Rechtseinheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 101 b) Einführung der Revision im preußischen Strafverfahren durch das Gesetz vom 17. Juli 1846 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 102 c) Die strafrechtliche Nichtigkeitsbeschwerde gem. der Verordnung vom 3. Januar 1849 und dem Gesetz vom 3. Mai 1852 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 103
Inhaltsverzeichnis
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d) Einführung der Nichtigkeitsbeschwerde in die 1866 von Preußen annektierten Gebiete durch die Verordnung vom 25. Juni 1867 . . . . . . . . . . . . . . . 104 VI. Die Rechtsmittel nach der Strafprozessordnung vom 1. Februar 1877 . . . . . . . . . 106 B. Die Beschränkung der Revision auf Rechtsfragen als eine Folge der Einführung der freien Beweiswürdigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 109 I. Die Beweiskognition vor der Einführung der freien Beweiswürdigung . . . . . . . . . 109 1. Beweiserbringung durch formale Beweismittel im Akkusationsprozess . . . . . . 109 2. Entwicklung des Inquisitionsprozesses und die Einführung gesetzlicher Beweisregeln . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 111 a) Die Verdrängung des Akkusationsprozesses durch das Inquisitionsverfahren 111 b) Exkurs: Die Durchführung des Inquisitionsverfahrens . . . . . . . . . . . . . . . . . 114 aa) Die richterliche Untersuchung (inquisitio) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 115 bb) Die Verteidigung (defension) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 120 cc) Das Erkenntnisverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 121 dd) Die weitere Verteidigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 124 ee) Eine zusammenfassende Betrachtung des Inquisitionsverfahrens . . . . . 125 c) Die Beweiskognition im Inquisitionsverfahren auf Grundlage der gesetzlichen Beweistheorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 126 aa) Formulierung bindender Beweisanforderungen durch gesetzliche Beweisregeln . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 126 bb) Die vorläufige Lossprechung von der Instanz und außerordentliche Strafe bei fehlenden vollen Beweisen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 127 cc) Faktische richterliche Beweiswürdigung im Inquisitionsverfahren trotz gesetzlicher Beweisregeln . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 130 II. Die Entdeckung der freien Beweiswürdigung als Element des Schwurgerichtsverfahrens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 133 1. Die freie Beweiswürdigung und die Entwicklung der Schwurgerichtsbarkeit in Frankreich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 133 a) Die französische Lehre von der intime conviction . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 134 b) Die englische Schwurgerichtsbarkeit und das principle of jury independence 136 c) Die freie Beweiswürdigung durch Geschworene in Frankreich und Deutschland . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 137 2. Die Rezeption des französischen Schwurgerichtsverfahrens und der freien Beweiswürdigung in den deutschen Gebieten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 138 a) Das Schwurgerichtsverfahren in den ehemals französisch besetzten Rheinprovinzen Preußens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 138 b) Die Einführung des Schwurgerichtsverfahrens in den übrigen Partikularstaaten des Deutschen Bundes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 141 c) Exkurs: Das Schicksal der Schwurgerichte in den deutschen Gebieten . . . . 142 aa) Schwurgerichte im Deutschen Reich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 142 bb) Schwurgerichte in Bayern unter alliierter Besetzung . . . . . . . . . . . . . . . 145 cc) Schwurgerichte in Österreich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 147
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Inhaltsverzeichnis 3. Die deutsche Lehre vom Totaleindruck ohne Reflexion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 150 a) Die Lehre vom Totaleindruck ohne Reflexion und die berufsrichterliche Beweiswürdigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 150 b) Kritische Betrachtung der Lehre vom Totaleindruck ohne Reflexion . . . . . . 154 III. Die Entwicklung der freien Beweiswürdigung zu einem allgemeinen Verfahrensgrundsatz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 156 1. Rationalisierung der freien Beweiswürdigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 157 2. Der Einfluss der Reform des Inquisitionsverfahrens auf die Beweistheorie . . . 160 a) Das reformierte akkusatorisch-inquisitorische Verfahren in Strafsachen . . . 160 b) Auswirkungen der Reform des Strafverfahrens auf die gesetzliche Beweistheorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 164 3. Die Einführung der freien Beweiswürdigung als allgemeines Verfahrensprinzip im deutschen Strafverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 167 IV. Der Ausschluss einer Nachprüfung der freien Beweiswürdigung durch eine höhere Instanz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 171 1. Die Überprüfbarkeit des Wahrspruchs der Geschworenen . . . . . . . . . . . . . . . . . 171 2. Die Überprüfbarkeit der Feststellungen berufsrichterlicher Urteile . . . . . . . . . . 172 3. Die Überprüfbarkeit tatrichterlicher Sachverhaltsfeststellungen nach der Reichsstrafprozessordnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 177 a) Die Urteilsbegründungspflicht des Tatrichters nach dem Entwurf der Strafprozessordnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 177 b) Erweiterung der tatrichterlichen Urteilsbegründungspflicht durch die Reichsjustizkommission . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 180 c) Analyse der Gründe für das Absehen von einer Beweisbegründungspflicht des Tatrichters . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 181 d) Das Absehen von einem vollumfassenden Rechtsmittel zur Wahrung der Integrität tatrichterlicher Feststellungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 182
C. Gründe für die Existenz der Berufung gegen amtsgerichtliche Urteile . . . . . . . . . . . . 186 I. Die Besetzungsstärke der Strafkammer als unzureichende Begründung für die fehlende Berufung in nicht amtsgerichtlichen Strafsachen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 187 II. Die Erfahrung der Richter an den Landgerichten als unzureichende Begründung für die fehlende Berufung in nicht amtsgerichtlichen Strafsachen . . . . . . . . . . . . . 190 III. Einführung der Berufung in Amtsgerichtssachen als eine Kompensation für die fehlende gerichtliche Voruntersuchung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 191 1. Genereller Ausschluss der Berufung im Entwurf der Strafprozessordnung . . . . 193 a) Keine Vereinbarkeit der Berufung mit den Prinzipien der Mündlichkeit und Unmittelbarkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 194 b) Möglicher Beweiswertverlust bis zur Durchführung der Berufungshauptverhandlung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 195 c) Praktische Einwände gegen die Durchführung einer Berufungsverhandlung 196 2. Die gerichtliche Voruntersuchung als Teil des Vorverfahrens . . . . . . . . . . . . . . 197 a) Die Ausgestaltung der gerichtlichen Voruntersuchung . . . . . . . . . . . . . . . . . 197
Inhaltsverzeichnis
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b) Der Zweck der gerichtlichen Voruntersuchung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 199 c) Der Ausschluss der gerichtlichen Voruntersuchung in amtsgerichtlichen Strafsachen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 201 3. Berufung anstelle der gerichtlichen Voruntersuchung in Amtsgerichtssachen
202
4. Die provisorische Natur des strafrechtlichen Rechtsmittelrechts . . . . . . . . . . . . 205 IV. Beibehaltung der Berufung trotz Nivellierung des Strafverfahrens vor Amts- und Landgerichten im 20. Jahrhundert . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 208 D. Zusammenfassende Analyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 211
3. Kapitel Die höchstrichterliche Erweiterung der Revision auf Tatfragen
214
A. Die gesetzlichen Anforderungen an die Urteilsgründe des Tatrichters . . . . . . . . . . . . . 216 I. Die tatrichterlichen Sachverhaltsfeststellungen als Grundlage des Urteils . . . . . . 216 II. Die gesetzlichen Anforderungen an die Urteilsgründe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 218 1. Pflicht zur Angabe der Haupttatsachen gem. § 267 Abs. 1 Satz 1 StPO . . . . . . 218 2. Pflicht zur Angabe der Indiztatsachen gem. § 267 Abs. 1 Satz 2 StPO . . . . . . . 220 3. Sonstige Begründungsanforderungen gem. § 267 Abs. 1 Satz 3 bis Abs. 6 StPO 222 4. Keine Pflicht zur Begründung der freien Beweiswürdigung in § 261 StPO . . . 223 III. Urteilsbegründungspflichten in sonstigen Verfahrensordnungen . . . . . . . . . . . . . . 224 1. Die Anforderungen an die Urteilsgründe nach der Zivilprozessordnung i. d. F. vom 30. Januar 1877 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 224 2. Die Anforderungen an die Urteilsgründe nach der Militärstrafgerichtsordnung vom 1. Dezember 1898 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 228 3. Die Anforderungen an die Urteilsgründe in gegenwärtigen Verfahrensordnungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 231 IV. Konsequenzen der fehlenden Beweisbegründungspflicht für die Revision . . . . . . 232 V. Die Abgrenzung von Tat- und Rechtsfragen als Wesenselement revisionsgerichtlicher Zuständigkeiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 234 1. Entwicklung der Abgrenzung von Tat- und Rechtsfragen . . . . . . . . . . . . . . . . . 235 2. Zweifel an der Abgrenzbarkeit von Tat- und Rechtsfragen . . . . . . . . . . . . . . . . 237 B. Die Erweiterung der Revision auf Teile der Tatfrage durch die höchstrichterliche Rechtsprechung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 240 I. Verletzung von Denkgesetzen oder Erfahrungssätzen durch den Tatrichter als Revisionsgrund . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 241 1. Entwicklung der Rechtsprechung zur Revisibilität von Verstößen gegen Denkgesetze und allgemeine Erfahrungssätze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 241 2. Rechtlicher Anknüpfungspunkt für die Revisibilität von Denkgesetzen und allgemeinen Erfahrungssätzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 247 II. Widersprüchliche, unklare oder lückenhafte Feststellungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . 250
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Inhaltsverzeichnis III. Fehlerhafte, unwahrscheinliche oder nicht mit hinreichenden Gründen versehene Feststellungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 254 1. Erweiterung der Revision auf materielle Mängel der Tatsachenfeststellungen in der Weimarer Republik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 256 2. Erweiterung der Revision im „Dritten Reich“ als Folge einer Entformalisierung des Rechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 259 a) Abkehr vom Rechtspositivismus zugunsten einer „gerechten“ Rechtspflege 260 b) Entformalisierung des Verfahrensrechts zugunsten der „Einzelfallgerechtigkeit“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 265 c) Erweiterung der Kompetenzen des Reichsgerichts durch außerordentliche Rechtsbehelfe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 267 3. Fortsetzung der Entformalisierungstendenzen in der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 273 4. Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 279 IV. Entwicklung spezifischer Anforderungen an die tatrichterliche Überzeugung . . . 280 V. Zusammenfassende Analyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 285
C. Kritik an der höchstrichterlichen Erweiterung der Revision . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 288 I. Die fehlende Vereinbarkeit der erweiterten Revision mit dem Grundsatz vom Vorrang des Gesetzes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 289 1. Bindung der rechtsprechenden Gewalt an Gesetz und Recht . . . . . . . . . . . . . . . 289 2. Grenzen der richterlichen Rechtsfortbildung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 292 a) Der Begriff der richterlichen Rechtsfortbildung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 293 b) Gefahren einer richterlichen Rechtsfortbildung contra legem . . . . . . . . . . . . 294 c) Die verfassungsrechtlichen Grenzen der richterlichen Rechtsfortbildung . . . 299 3. Die erweiterte Revision in Anbetracht der verfassungsgerichtlichen Anforderungen an die Rechtsfortbildung durch Gerichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 303 a) Die Vereinbarkeit der höchstrichterlichen Erweiterung der Urteilsbegründungspflichten mit §§ 261, 267 StPO . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 303 b) Die Vereinbarkeit der Nachprüfung tatrichterlicher Sachverhalts- und Beweiswürdigungsdarstellungen mit § 337 StPO . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 305 c) Die Vereinbarkeit der erweiterten Revision im Rahmen der Sachrüge mit § 344 Abs. 2 StPO . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 306 II. Schwächung der verfahrensrechtlichen Position des Angeklagten durch die Erweiterung der Revision . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 311 1. Höchstrichterliche Anforderungen an die Darstellung eines freisprechenden Urteils . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 313 2. Gesetzwidrigkeit der Anforderungen des Bundesgerichtshofs an ein freisprechendes Urteil . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 315 3. Verletzung des Anspruchs auf den gesetzlichen Richter durch die Erweiterung der Revision zulasten des Angeklagten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 318
Inhaltsverzeichnis
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III. Arbiträre Handhabung der Darstellungskontrolle in der revisionsgerichtlichen Praxis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 320 1. Widersprüche in der höchstrichterlichen Rechtsprechung zur Darstellungskontrolle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 321 2. Ergebnisorientierung und Entformalisierung der Rechtsprechung durch Revisionsgerichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 325 D. Zusammenfassende Analyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 327
4. Kapitel Gesetzgeberische Versuche der Erweiterung des Rechtsschutzes in Strafsachen
332
A. Ansätze im Kaiserreich zur Ergänzung der Strafkammersachen um eine Berufung . . 333 I. Reformbestrebungen bis zur Vorlage des Regierungsentwurfs 1885 . . . . . . . . . . . 333 1. Anträge aus der Mitte des Reichstages . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 333 2. Regierungsentwurf vom 9. Mai 1885 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 337 II. Reformbestrebungen bis zur Vorlage des Regierungsentwurfs 1895 . . . . . . . . . . . 339 1. Anträge aus der Mitte des Reichtages . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 339 2. Regierungsentwurf vom 6. Dezember 1894 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 345 a) Inhalt des Regierungsentwurfs 1894 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 345 b) Behandlung des Entwurfs im Reichstag . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 347 III. Die vollumfassende Einführung der Berufung in Militärstrafsachen . . . . . . . . . . . 352 1. Einführung der Militärstrafgerichtsordnung vom 1. Dezember 1898 . . . . . . . . 353 2. Die Rechtsmittel im Militärstrafverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 355 3. Durchsicht und Nachprüfung rechtskräftiger tatrichterlicher Urteile . . . . . . . . . 357 4. Gründe für die umfassende Einführung der Berufung in Militärstrafsachen . . . 359 IV. Reformbestrebungen bis zur Vorlage des Regierungsentwurfs 1909 . . . . . . . . . . . 363 1. Anträge aus der Mitte des Reichstages . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 363 2. Regierungsentwurf vom 26. März 1909 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 369 a) Die Berufung gegen Urteile der Strafkammern nach dem Entwurf 1909 . . . 369 b) Die Behandlung des Entwurfs 1909 im Reichstag . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 372 V. Strafverfahrensgesetzgebung während des Ersten Weltkrieges . . . . . . . . . . . . . . . 374 B. Rechtsmitteldebatten in der Weimarer Republik und im „Dritten Reich“ . . . . . . . . . . 375 I. Reformversuche und Reformen des strafrechtlichen Rechtsmittelrechts in der Weimarer Republik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 375 1. Regierungsentwurf vom 29. Dezember 1919 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 376 2. Regierungsentwurf vom 29. Mai 1923 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 378 3. Antrag Schiffer vom 14. November 1923 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 381 4. Verordnung über Gerichtsverfassung und Strafrechtspflege vom 4. Januar 1924 382
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Inhaltsverzeichnis 5. Weitere Entwicklungen in der Weimarer Republik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 385 II. Reformversuche und Reformen der strafrechtlichen Rechtsmittel im „Dritten Reich“ am Beispiel des Entwurfs 1939 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 386 1. Die Gerichtsverfassung nach dem Entwurf 1939 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 387 2. Ordentliche Rechtsmittel nach dem Entwurf 1939 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 388 a) Berufung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 388 b) Urteilsrüge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 388 3. Neue außerordentliche Rechtsbehelfe nach dem Entwurf 1939 . . . . . . . . . . . . . 391
C. Versuche einer Rechtsmittelreform in der Bundesrepublik Deutschland . . . . . . . . . . . 393 I. Reformerwägungen beim Erlass des Vereinheitlichungsgesetzes vom 12. September 1950 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 393 II. Reformerwägungen beim Erlass des Strafprozessänderungsgesetzes vom 19. Dezember 1964 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 394 III. Amtliche Entwürfe zur Rechtsmittelreform in Strafsachen . . . . . . . . . . . . . . . . . . 396 1. Referenten-Entwurf eines Gesetzes zur Neugliederung der ordentlichen Gerichtsbarkeit (Erstes Justizreformgesetz) von Dezember 1971 . . . . . . . . . . . . . . 396 2. Diskussionsentwurf für ein Gesetz über die Rechtsmittel in Strafsachen (DERechtsmittelgesetz) vom Dezember 1975 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 399 a) Die Urteilsrüge nach dem Diskussionsentwurf 1975 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 400 b) Die Gerichtsverfassung und das gerichtliche Verfahren nach dem Entwurf 1975 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 403 aa) Das vereinfachte Verfahren vor dem Strafrichter zur Entlastung der Rechtsmittelgerichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 403 bb) Die sachlichen Zuständigkeiten der Strafgerichte nach dem Entwurf 1975 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 405 c) Das Scheitern des Diskussionsentwurfs 1975 auf dem 52. Deutschen Juristentag . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 406 IV. Jüngere Ansätze einer Rechtsmittelreform . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 410 D. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 412
5. Kapitel Die Erweiterung der Revision um eine Tatsachenrüge de lege ferenda
416
A. Die österreichische Nichtigkeitsbeschwerde als Vorbild für eine erweiterte Revision 417 I. Der Aufbau der österreichischen Strafgerichtsbarkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 419 II. Die Berufung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 419 III. Die Nichtigkeitsbeschwerde . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 420
Inhaltsverzeichnis
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B. Zur Ausgestaltung einer möglichen Tatsachenrüge im bundesdeutschen Revisionsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 422 I. Anforderungen an den Leistungsumfang einer reformierten Revision in Strafsachen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 423 II. Erweiterung der strafrechtlichen Revision um eine Tatsachenrüge . . . . . . . . . . . . 426 1. Schaffung einer materiellen Tatsachenrüge zur Anfechtung inhaltlicher Mängel der Feststellungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 426 a) Zur Ausgestaltung einer materiellen Tatsachenrüge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 426 b) Ausweitung der tatrichterlichen Urteilsbegründungspflicht auf subjektive Beweisgründe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 428 2. Schaffung einer formellen Tatsachenrüge zur Anfechtung formeller Mängel der Feststellungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 430 a) Zur Ausgestaltung einer formellen Tatsachenrüge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 430 aa) Normierung der höchstrichterlich entwickelten Fallgruppen der erweiterten Revision . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 430 bb) Einführung einer Rüge der Aktenwidrigkeit sowie der Protokollwidrigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 431 cc) Normierung des Revisionsgrundes der überspannten Anforderungen an die tatrichterliche Überzeugung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 434 dd) Konkreter Gesetzesvorschlag zur Umsetzung einer formellen Tatsachenrüge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 435 b) Erweiterung der tatrichterlichen Urteilsbegründungspflichten mit Blick auf die formelle Tatsachenrüge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 437 III. Erfordernisse an die Revisionsanträge bei Einführung einer Tatsachenrüge . . . . . 438 1. Generelle Anforderungen an die Begründung einer Tatsachenrüge . . . . . . . . . . 438 2. Konkrete Anforderungen an die Begründung einer Tatsachenrüge . . . . . . . . . . 439 a) Pflicht zur umfassenden Ausführung der Tatsachenrüge . . . . . . . . . . . . . . . . 439 b) Anbringung von Beweisanträgen im Rahmen der Revisionsanträge . . . . . . . 440 c) Konkreter Gesetzesvorschlag zur Umsetzung der erweiterten Begründungspflichten bei einer Tatsachenrüge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 441 IV. Möglichkeit einer selbstständigen Beweisaufnahme durch das Revisionsgericht 442 1. Zur Notwendigkeit einer Beweisaufnahme in der Revisionshauptverhandlung 442 2. Allgemeine Erwägungen zur Ausgestaltung einer revisionsgerichtlichen Beweisaufnahme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 444 a) Abgrenzung zur Einführung einer revisionsgerichtlichen Beweisaufnahme in den bisherigen Reformvorschlägen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 444 b) Zur praktischen Durchführbarkeit einer Beweisaufnahme in der Revisionsinstanz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 445 3. Die normtechnische Umsetzung einer revisionsgerichtlichen Beweisaufnahme 447 4. Einschränkung des Unmittelbarkeitsprinzips in der Revisionshauptverhandlung 448 V. Umfang der Urteilsprüfung im Rahmen der Tatsachenrüge . . . . . . . . . . . . . . . . . . 450 1. Die übermäßige Beschränkung der Urteilsprüfung bei der Verfahrensrüge . . . . 450
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Inhaltsverzeichnis 2. Konsequenzen für den Umfang der Prüfung einer Tatsachenrüge durch das Revisionsgericht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 452 3. Folgen einer begründeten Tatsachenrüge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 455
C. Weitere Reformen im Zusammenhang mit der Einführung einer Tatsachenrüge . . . . . 456 I. Anpassung der Revisionshauptverhandlung an die Tatsachenrüge . . . . . . . . . . . . . 456 1. Die Vorbereitung der Revisionshauptverhandlung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 456 2. Die Ausgestaltung der Revisionshauptverhandlung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 458 II. Reform der revisionsgerichtlichen Entscheidungsmöglichkeiten . . . . . . . . . . . . . . 459 1. Änderungen der Entscheidungsmöglichkeiten durch Beschluss ohne Hauptverhandlung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 459 2. Erweiterung der eigenen Sachentscheidungsbefugnisse des Revisionsgerichts 461 3. Anpassung der Revisionserstreckung auf Mitverurteile . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 464 4. Bindung des Tatgerichts an die Ergebnisse der Beweisaufnahme gemäß § 350a StPO-E . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 465 III. Sonstige Änderungsvorschläge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 466 1. Einführung einer notwendigen Verteidigung für Zwecke der Revisionsbegründung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 466 2. Abschaffung der Möglichkeit der Revisionsbegründung zu Protokoll der Geschäftsstelle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 469 3. Protokollberichtigung und Verfahren bei Rügeverkümmerung . . . . . . . . . . . . . 470 4. Beweisanträge des Beschwerdegegners bei einer Tatsachenrüge . . . . . . . . . . . . 472 D. Zusammenfassende Darstellung der Reformvorschläge zur Einführung einer Tatsachenrüge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 473 Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 492 Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 502 Stichwortverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 527
Abkürzungsverzeichnis 1. StrRG 1. StVRG a. A. a. a. O. ABl. (Kontrollrat) Abs. a. D. a. E. a. F. AGVwGO RLP AGVwGO SL ähnl. Allg. Gerichtsord. I. Th. Allg. R.-G. u. RegBl. Anm. d. Verf. ArbGG ArchCrimR AsylG Aufl. BauGB BayAGFGO BayAGVwGO BayArbGDAV BayBauKG BayDG BayGVBl. BayHKaG BayPrG BBG Bd. BDG BeamtStG
Erstes Gesetz zur Reform des Strafrechts vom 25. Juni 1969 (BGBl. I 1969/52, 645) Erstes Gesetz zur Reform des Strafverfahrensrechts vom 9. Dezember 1974 (BGBl I 1974/132, 3393) andere Ansicht am angegebenen Ort (derselbe Autor, dasselbe Werk, jedoch eine andere Seite) Amtsblatt des Kontrollrates in Deutschland Absatz außer Dienst am Ende alte Fassung Landesgesetz zur Ausführung der Verwaltungsgerichtsordnung Rheinland-Pfalz Saarländisches Ausführungsgesetz zur Verwaltungsgerichtsordnung ähnlich Allgemeine Gerichtsordnung für die Preußischen Staaten –Erster Theil. Prozeßordnung Allgemeines Reichs-Gesetz- und Regierungsblatt für das Kaiserthum Oesterreich Anmerkung des Verfassers Arbeitsgerichtsgesetz Archiv des Criminalrechts Asylgesetz Auflage Baugesetzbuch Bayerisches Gesetz zur Ausführung der Finanzgerichtsordnung Bayerisches Gesetz zur Ausführung der Verwaltungsgerichtsordnung Bayerische Verordnung zur Übertragung der Dienstaufsicht auf die Gerichte für Arbeitssachen Bayerisches Baukammerngesetz Bayerisches Disziplinargesetz Bayerisches Gesetz- und Verordnungsblatt Bayerisches Heilberufe-Kammergesetz Bayerisches Pressegesetz Bundesbeamtengesetz Band Bundesdisziplinargesetz Beamtenstatusgesetz
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Abkürzungsverzeichnis
BerRehaG BFHE BGBl. BGBl. (Nordd. Bund) BGG BGH BGHSt BNotO BPersVG BRAO Buchst. B-VG BVerfGE BVerfGG BVerwGE bzw. Can./Cann. Cap. Carolina C.C.M. chStPO DDP DE-Rechtsmittelgesetz DFP DGZ d. h. DJ DJZ DRiG DRiZ DV DVBl. 1
Gesetz über den Ausgleich beruflicher Benachteiligungen für Opfer politischer Verfolgung im Beitrittsgebiet (Berufliches Rehabilitierungsgesetz) Entscheidungen des Bundesfinanzhofs Bundesgesetzblatt1 Bundesgesetzblatt des Norddeutschen Bundes Schweizerisches Bundesgerichtsgesetz Bundesgerichtshof Entscheidungen des Bundesgerichtshofs in Strafsachen Bundesnotarordnung Bundespersonalvertretungsgesetz Bundesrechtsanwaltsordnung Buchstabe Bundes-Verfassungsgesetz (Gesetz, das die zentralen Bestimmungen der österreichischen Bundesverfassung enthält) Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts Bundesverfassungsgerichtsgesetz Entscheidungen des Bundesverwaltungsgerichts beziehungsweise Canon/Canones (Einzelne/r Rechtssatz bzw. -sätze des Codex Iuris Canonici) Capitel Constitutio Criminalis Carolina, die peinliche Gerichtsordnung Kaiser Karls V. Corpus Constitutionum Marchicarum, eine Zusammenstellung preußischer Gesetze und Verordnungen von 1298 bis 1750 Schweizerische Strafprozessordnung Deutsche Demokratische Partei Diskussionsentwurf für ein Gesetz über die Rechtsmittel in Strafsachen (vgl. Literaturverzeichnis) Deutsche Freisinnige Partei Deutsche Gerichts-Zeitung das heißt Deutsche Justiz – Rechtspflege und Rechtspolitik, amtliches Blatt der deutschen Rechtspflege Deutsche Juristen-Zeitung Deutsches Richtergesetz Deutsche Richterzeitung Deutsche Verwaltung (Zeitschrift) Deutsches Verwaltungsblatt
Zur Vereinfachung der Recherche in der Online-Ausgabe des BGBl. (http:// www1.bgbl.de/) wendet diese Schrift eine leicht modifizierten Zitierweise an. Die der Abkürzung anschließende römische Zahl gibt ab 1951 den Teil des BGBl. an; Ausgaben vor 1951 werden auf der o.g. Homepage unter Teil I wiedergegeben. Ab 1951 finden sich unter Teil I vor allem Bundesgesetze und -verordnungen; unter Teil II völkerrechtliche Verträge und Übereinkünfte. Dem folgt der Jahrgang und getrennt durch einen Schrägstrich die Nummer der Ausgabe, welche die Fundstelle enthält. Durch ein Komma getrennt folgt die erste Seite der Veröffentlichung (bspw.: BGBl. I 2013/51, 3300).
Abkürzungsverzeichnis Ebd. EGBGB EGGVG EGStPO Einl. EmmingerVO EMRK EnWG ESG f./ff. FG FGO FMStFG FS FVp GA gem. GG ggf. GOG GS GSSt G. u. V.
GVBl. (Kgr. SA) GVG GWB Hervorh. d. Verf. HessSchG h. M. HmbHG HPresseG HRRS Hs. i. d. F. i. e. S. i. H. v. insb.
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ebenda (derselbe Autor, dasselbe Werk, dieselbe Seite) Einführungsgesetz zum Bürgerlichen Gesetzbuch Einführungsgesetz zum Gerichtsverfassungsgesetz Einführungsgesetz zur Strafprozeßordnung Einleitung Verordnung über Gerichtsverfassung und Strafrechtspflege vom 4. Januar 1924 (RGBl. I 1924, 15) Europäische Menschenrechtskonvention Gesetz über die Elektrizitäts- und Gasversorgung (Energiewirtschaftsgesetz – EnWG) Gesetz über die Sicherstellung der Versorgung mit Erzeugnissen der Ernährungs- und Landwirtschaft sowie der Forst- und Holzwirtschaft (Ernährungssicherstellungsgesetz) folgende Festgabe Finanzgerichtsordnung Gesetz zur Errichtung eines Finanzmarktstabilisierungsfonds (Finanzmarktstabilisierungsfondsgesetz) Festschrift Freisinnige Volkspartei Goldtammer’s Archiv für Strafrecht gemäß Grundgesetz gegebenenfalls Gerichtsorganisationsgesetz (Österreich) Gedächtnisschrift Großer Senat für Strafsachen Seiner kaiserlich-königlichen Majestät Ferdinand des Ersten politische Gesetze und Verordnungen für sämmtliche Provinzen des Oesterreichischen Kaiserstaates, mit Ausnahme von Ungarn und Siebenbürgen Gesetz- und Verordnungsblatt für das Königreich Sachsen Gerichtsverfassungsgesetz Gesetz gegen Wettbewerbsbeschränkungen Hervorhebung durch Verfasser Hessisches Schulgesetz herrschende Meinung Hamburgisches Hochschulgesetz Hessisches Pressegesetz Onlinezeitschrift für Höchstrichterliche Rechtsprechung zum Strafrecht Halbsatz in der Fassung im engeren Sinne in Höhe von insbesondere
20 InVorG IPBPR i. R. d. i. S. d. i. V. m. i. w. S. JA JBl. JGG Jh. JR JURA JW JZ Kap. KDVG KG LAG lat. lieStPO MarkenG MStGO m. w. N. NArchCrimR n. Chr. NJ NJW NLP Nr. NS NStZ NStZ-RR NVwZ öBGBl. o. g. österr. öStPO OWiG PAO PatG PreußCrimO 1805 PrGS RegBl. (Kgr. Wü.)
Abkürzungsverzeichnis Gesetz über den Vorrang für Investitionen bei Rückübertragungsansprüchen nach dem Vermögensgesetz (Investitionsvorranggesetz) Internationaler Paktes über bürgerliche und politische Rechte im Rahmen des/r im Sinne des/r in Verbindung mit im weiteren Sinne Juristische Arbeitsblätter Juristische Blätter Jugendgerichtsgesetz Jahrhundert Juristische Rundschau Juristische Ausbildung Juristische Wochenschrift Juristenzeitung Kapitel Gesetz über die Verweigerung des Kriegsdienstes mit der Waffe aus Gewissensgründen (Kriegsdienstverweigerungsgesetz) Kammergericht Gesetz über den Lastenausgleich (Lastenausgleichsgesetz) lateinisch Strafprozessordnung des Fürstentums Liechtenstein Markengesetz Militärstrafgerichtsordnung vom 1. Dezember 1898 mit weiteren Nachweisen Neues Archiv des Criminalrechts nach Christus Neue Justiz – Zeitschrift für Rechtsentwicklung und Rechtsprechung in den Neuen Ländern Neue Juristische Wochenschrift Nationalliberale Partei Nummer nationalsozialistisch Neue Zeitschrift für Strafrecht NStZ-Rechtsprechungsreport Neue Zeitschrift für Verwaltungsrecht Bundesgesetzblatt für die Republik Österreich oben genannte/r/s/n/m österreichisch Strafprozessordnung der Republik Österreich Gesetz über Ordnungswidrigkeiten Patentanwaltsordnung Patentgesetz preußische Criminal-Ordnung vom 11. Dezember 1805 (abgedruckt im Criminalrecht für die preußischen Staaten von 1806) Gesetzsammlung für die Königlich-Preußischen Staaten Regierungsblatt für das Königreich Württemberg
Abkürzungsverzeichnis RegBl. (WB) resp. RettungsG RGBl. RGBl. (FN) RGVG RiStBV RKGO Rn. RStGB RStPO RuP RW RZPO S. s. a. SA SaatG SG SGB SGG sic! SJZ sog. Sp. StandAG StBerG StBOG StGB StPÄG StPO StPO-E StraFo StV StVollzG SVG TKG u. a. UAbs.
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Regierungsblatt der Regierung Württemberg-Baden respektive Gesetz zur Rettung von Unternehmen zur Stabilisierung des Finanzmarktes (Rettungsübernahmegesetz) Reichsgesetzblatt Reichs-Gesetz-Blatt der Frankfurter Nationalversammlung (1848/49) GVG i. d. F. vom 27. Januar 1877, RGBl. 1877, 41 Richtlinien für das Strafverfahren und das Bußgeldverfahren Reichskammergerichtsordnung Randnummer StGB i. d. F. von 15. Mai 1871, RGBl. 1871, 127 StPO i. d. F. vom 1. Februar 1877, RGBl. 1877, 253 Recht und Politik (Zeitschrift) Rechtswissenschaft – Zeitschrift für rechtswissenschaftliche Forschung ZPO i. d. F. vom 30. Januar 1877, RGBl. 1877, 83 Seite bzw. bei Normen Satz siehe auch Sturmabteilung (Organisation der NSDAP) Saatgutverkehrsgesetz Gesetz über die Rechtsstellung der Soldaten (Soldatengesetz) Sozialgesetzbuch Sozialgerichtsgesetz lat. sı¯c: „so“, „wirklich so“; zur Kenntlichmachung der Übernahme eines Zitates in ungewöhnlicher Schreibweise oder ungewöhnlichen Sprachstil Süddeutsche Juristen-Zeitung sogenannte/r/s Spalte Gesetz zur Suche und Auswahl eines Standortes für ein Endlager für Wärme entwickelnde radioaktive Abfälle (Standortauswahlgesetz) Steuerberatungsgesetz Schweizerisches Strafbehördenorganisationsgesetz Strafgesetzbuch Gesetz zur Änderung der Strafprozessordnung und des Gerichtsverfassungsgesetzes vom 19. Dezember 1964 (BGBl. I 1964/63, 1067) Strafprozessordnung Eigener Entwurf zur Strafprozessordnung Strafverteidiger Forum (Zeitschrift) Strafverteidiger (Zeitschrift) Bundesstrafvollzugsgesetz Soldatenversorgungsgesetz Telekommunikationsgesetz unter anderem Unterabsatz
22 UKHL Var. v. Chr. VerkSiG VermG Vgl. VRS VSt VtrRKonv VwGO VwRehaG
VZOG WiPrO WiSiG wistra WPflG WpÜG WRV Z. ZDG Zeitschr. f. deut. Strafverfahren Ziff. ZIS zit. n. ZPO ZRP ZStW
Abkürzungsverzeichnis Sammlung der Entscheidungen des United Kingdom’s House of Lords (ehemaliger oberster Gerichtshof des Vereinigten Königreichs Großbritannien und Nordirland) Variante vor Christus Gesetz zur Sicherstellung des Verkehrs (Verkehrssicherstellungsgesetz) Gesetz zur Regelung offener Vermögensfragen (Vermögensgesetz) vergleiche Verkehrsrechts-Sammlung Die Vereinigten Strafsenate des Reichsgerichts Wiener Übereinkommen über das Recht der Verträge Verwaltungsgerichtsordnung Gesetz über die Aufhebung rechtsstaatswidriger Verwaltungsentscheidungen im Beitrittsgebiet und die daran anknüpfenden Folgeansprüche (Verwaltungsrechtliches Rehabilitierungsgesetz) Gesetz über die Feststellung der Zuordnung von ehemals volkseigenem Vermögen (Vermögenszuordnungsgesetz) Wirtschaftsprüferordnung Gesetz über die Sicherstellung von Leistungen auf dem Gebiet der gewerblichen Wirtschaft sowie des Geld- und Kapitalverkehrs (Wirtschaftssicherstellungsgesetz) Zeitschrift für Wirtschafts- und Steuerstrafrecht Wehrpflichtgesetz Wertpapiererwerbs- und Übernahmegesetz Weimarer Reichsverfassung, die Verfassung des Deutschen Reichs vom 11. August 1919, RGBl. 1919, 1383 Ziffer (wird in österreichischen Gesetzen statt der in Deutschland gewöhnlichen Nr. verwendet) Gesetz über den Zivildienst der Kriegsdienstverweigerer (Zivildienstgesetz) Zeitschrift für deutsches Strafverfahren Ziffer Zeitschrift für Internationale Strafrechtsdogmatik zitiert nach Zivilprozessordnung Zeitschrift für Rechtspolitik Zeitschrift für die gesamte Strafrechtswissenschaft
Einleitung Die meisten deutschen Verfahrensordnungen kennen zwei unterschiedliche Rechtsmittel gegen gerichtliche Urteile – die Berufung und die Revision. Beide Rechtsmittel wurden bereits 1877 im Deutschen Reich im Zuge der Vereinheitlichung des Straf- und des Zivilverfahrens durch die sog. Reichsjustizgesetze eingeführt und nach 1950 auch von den jüngeren Gerichtsordnungen in der Bundesrepublik Deutschland übernommen. Dabei führt die Berufung in aller Regel zu einer Wiederholung des erstinstanzlichen Verfahrens vor einem höheren Gericht, während sich die Revision auf die Nachprüfung der Rechtsanwendung des Tatgerichts durch eine übergeordnete Instanz beschränkt. Eine grundlegende Veränderung hat seither lediglich die Berufung in zivil- und arbeitsgerichtlichen Sachen erfahren, die seit der umfassenden Reform des Zivilprozesses im Jahr 2001 keine Wiederholung des Verfahrens mehr zum Gegenstand hat, sondern sich im Wesentlichen auf eine inhaltliche Nachprüfung des erstinstanzlichen Verfahrens auf tatsächliche und rechtliche Mängel beschränkt.1 Damit stellt sich die heutige Berufung in Zivilsachen bei näherer Betrachtung als ein neuartiges Rechtsmittel dar, das größere Ähnlichkeiten zu der partikularrechtlichen Appellation aufweist als zu der Berufung in den übrigen Verfahrensordnungen, die eher der römischrechtlichen Appellation nachempfunden ist.2 Dabei sind die meisten deutschen Verfahrensordnungen so ausgestaltet, dass die erstinstanzlichen Urteile mit einer Berufung angefochten werden können.3 Damit 1
Gesetz zur Reform des Zivilprozesses vom 27. Juli 2001, BGBl. I 2001/40, 1887. So schon in Bezug auf die Ähnlichkeiten der ursprünglichen Berufung zu der römischrechtlichen Appellation die Begründung zur ZPO, in: Hahn (Hrsg.), Materialien zur ZPO, Bd. II/1, S. 139. 3 So können in Zivilsachen grundsätzlich alle erstinstanzlichen Urteile mit der Berufung zu den Land- oder Oberlandesgerichten angefochten werden, § 511 Abs. 1 ZPO, §§ 72, 119 Abs. 1 Nr. 2 GVG. Auch in den Verwaltungssachen ist gegen die Urteile der Verwaltungsgerichte die Berufung zu den Oberverwaltungsgerichten zulässig, § 124 VwGO. In Arbeitssachen können erstinstanzliche Urteile der Arbeitsgerichte ebenfalls mit der Berufung zu den Landesarbeitsgerichten angefochten werden, § 64 ArbGG. Gleiches gilt für die Sozialsachen, in denen gegen die erstinstanzlichen Urteile der Sozialgerichte grundsätzlich die Berufung zu einem Landessozialgericht zulässig ist, § 143 SGG. Ein Blick auf die Berufsgerichts- und Disziplinarordnungen des Bundes, auf die Patentgerichtsordnung sowie die Vorschriften für das Verfahren vor den Kammern und Senaten für Baulandsachen belegt, dass auch die eher speziellen Gerichtsverfahrensvorschriften gegen erstinstanzliche Urteile grundsätzlich eine Berufung zulassen, vgl. §§ 112e, 143, 145 BRAO, §§ 105,111d BNotO §§ 94d, 125, 127 PAO, §§ 127,129 StBerG, §§ 105, 107 WiPrO sowie §§ 64, 69 BDG, § 115 WDO, § 110 PatG sowie § 229 Abs. 1 BauGB. Sofern bereits die Berufung ausnahmsweise zu einem obersten Gerichtshof des Bundes führt (so im truppendienstgerichtlichen Verfahren, bei Verfahren, die vor 2
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Einleitung
unterliegen die tatsächlichen Feststellungen nahezu aller erstinstanzlichen Gerichte der Kontrolle durch eine höhere Instanz. Eine gewichtige Ausnahme zu diesem Grundsatz stellt die Strafprozessordnung dar, die eine Berufung lediglich gegen Urteile der Amtsgerichte vorsieht. Damit können im Strafverfahren erstinstanzliche Urteile der Land- oder der Oberlandesgerichte ausschließlich mit der Revision angefochten werden. Diese Ausgestaltung des Rechtsmittelsystems in Strafsachen hat zur Folge, dass dem Angeklagten gegen Entscheidungen der Amtsgerichte, die in aller Regel nur einfache Delikte zum Gegenstand haben, mit dem Einspruch, der Berufung und der Revision bis zu drei Rechtsbehelfe zur Verfügung stehen können, während er bei Urteilen der Land- und Oberlandesgerichte allein auf das beschränkte Rechtsmittel der Revision angewiesen ist. So fällt der strafrechtliche Rechtsschutz also gerade dort, wo der Angeklagte mit besonders schweren Rechtsfolgen konfrontiert ist, erheblich niedriger aus, als dort, wo er sich mit einer nur vergleichsweise milden Strafe konfrontiert sieht. Diese schon beim ersten Blick missliche Ausgestaltung des Rechtsmittelsystems in Strafsachen war bereits dem historischen Gesetzgeber bekannt und, wie noch näher auszuführen sein wird, in den vergangenen 140 Jahren wiederholt Gegenstand gesetzgeberischer Reformerwägungen. So wurden im Deutschen Reich seit 1883 allein im Reichstag über 20 (!) Gesetzesentwürfe erfolglos beraten, die auch in landgerichtlichen Strafsachen einen umfassenderen Rechtsschutz gewährleisten sollten.4 Auch in der Bundesrepublik war 1975 im Auftrag der Konferenz der Justizminister und -senatoren ein umfassender Diskussionsentwurf erarbeitet worden, der ebenfalls grundlegende Reformen des Rechtsmittelsystems in den Strafsachen vorgesehen hatte, ohne dass sie in der Folgezeit weiterverfolgt wurden. Dabei heißt es bemerkenswerterweise bereits in der Begründung, die dem Regierungsentwurf vom 9. Mai 1885 beigegeben war: „Die Strafprozeßordnung vom 1. Februar 1877 hat schon bald nach ihrem Inkrafttreten vielfach eine ungünstige Kritik erfahren, ja nicht wenige ihrer Vorschriften sind sowohl in den Kreisen der Fachmänner wie in denen von Laien lebhaft angefochten worden. Insbesondere ist es als ein gesetzgeberischer Mißgriff getadelt, daß gegen die Urtheile der Strafkammern die Berufung nicht zugelassen sei.“5
Auch in der Begründung des Regierungsentwurfs vom 26. März 1909 heißt es: „Unter den Reichs-Justizgesetzen des Jahres 1877 hat von Anfang an die Strafprozeßordnung am wenigsten befriedigt. […] Die lebhafte Kritik, die schon nach Inkrafttreten der den Nichtigkeitssenaten des Patentgerichts beginnen, und im gerichtlichen Verfahren in verwaltungsrechtlichen Anwalts-, Notar- und Patentanwaltssachen), ist lediglich die Revision gegen das Berufungsurteil ausgeschlossen. Ähnliches gilt für die Berufs- und Disziplinarordnungen der Länder, die oftmals eine Berufung zu einem höheren Landesgericht, aber keine Revision kennen, vgl. nur Art. 90 Abs. 1 BayHKaG bzw. § 62 BayDG. 4 Hierzu ausführlich S. 332 ff. 5 Verhandlungen des Reichstags, 6. Legislaturperiode, I. Session 1884/85, 7. Band, Aktenstück Nr. 399, S. 2001.
Einleitung
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Strafprozeßordnung einsetzte, betraf in erster Linie das System der Rechtsmittel, insbesondere das Fehlen einer Berufung gegen die Urteile der Strafkammern. […] Die Überzeugung von der Notwendigkeit der Berufung ist in vielen Volkskreisen niemals verschwunden […].“6
Und selbst in einem Beschluss der Konferenz der Justizminister und -senatoren aus dem Jahr 1972 heißt es zu dem Rechtsschutz in Strafsachen: „Das derzeitige Rechtsmittelsystem in Strafsachen ist unbefriedigend, da für Fälle leichter und mittlerer Kriminalität zwei Tatsacheninstanzen zur Verfügung stehen, während im Bereich der Schwerkriminalität eine Überprüfung der tatsächlichen Feststellungen nicht stattfindet. Es wird die Aufgabe einer Neugestaltung des Rechtsmittels in Strafsachen sein, ein im Interesse der Durchschaubarkeit der Rechtspflege möglichst einheitliches Rechtsmittel zu entwickeln. Dieses Rechtsmittel soll die Mängel der bisherigen Rechtsmittel „Berufung“ und „Revision“ vermeiden und durch eine sachbezogene Überprüfung des Urteils in rechtlicher und tatsächlicher Hinsicht einen optimalen Rechtsschutz bieten.“7
Obwohl also seit jeher Einigkeit darin zu bestehen scheint, dass das Rechtsmittelsystem in Strafsachen einer Neugestaltung bedarf, haben die Rechtsmittelvorschriften der Strafprozessordnung in den letzten 140 Jahren kaum nennenswerte Änderungen erfahren. Das strafrechtliche Rechtsmittelverfahren beruht damit im Grunde noch heute auf denselben Vorschriften, die bereits 1879 in Kraft getreten sind. Dies darf jedoch nicht zu dem Trugschluss verleiten, dass sich die strafrechtliche Revision in den letzten 140 Jahren nicht verändert hätte. Wie noch ausführlich darzulegen sein wird, hat die Revision, wie sie heute von dem Bundesgerichtshof und den Oberlandesgerichten gehandhabt wird, mit den Vorstellungen des historischen Gesetzgebers allenfalls noch den Namen gemein. Die Revisionsgerichte haben das Rechtsmittel der Revision in den letzten Jahrzehnten nämlich auch ohne ein Zutun des Gesetzgebers in einer Art und Weise weiterentwickelt, dass sein Prüfungsumfang nicht mehr bloß auf Rechtsfragen beschränkt ist. So heißt es bereits in einer Entscheidung des III. Strafsenats des Reichsgerichts aus dem Jahre 1889, dass die Feststellungen des Tatrichters jedenfalls „weder der Logik noch Naturgesetz“ widersprechen dürfen.8 Der Bundesgerichtshof urteilte in Bezug auf die tatrichterlichen Sachverhaltsfeststellungen sogar: „Die zur richterlichen Überzeugung erforderliche persönliche Gewißheit des Richters setzt objektive Grundlagen voraus. Diese müssen aus rationalen Gründen den Schluß erlauben, daß das festgestellte Geschehen mit hoher Wahrscheinlichkeit mit der Wirklichkeit übereinstimmt. Das ist der Nachprüfung durch das Revisionsgericht zugänglich. Deshalb müssen die Urteilsgründe erkennen lassen, daß die Beweiswürdigung auf einer tragfähigen, 6 Verhandlungen des Reichstags, 12. Legislaturperiode, I. Session 1907/09, Anlageband 254, Aktenstück Nr. 1310 A mit eigener Paginierung. 7 Zit. n. der Allgemeinen Begründung zum Diskussionsentwurf 1975, S. 25 f. 8 RGSt 19, 55, 62.
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Einleitung verstandesmäßig einsehbaren Tatsachengrundlage beruht und die vom Gericht gezogene Schlußfolgerung nicht etwa nur eine Annahme ist oder sich als bloße Vermutung erweist, die letztlich nicht mehr als einen Verdacht zu begründen vermag.“9
In der einschlägigen Kommentarliteratur heißt es zu dieser höchstrichterlichen Erweiterung der Revision: „Die Intensivierung dieser Prüfungsmethode in der neueren Rechtsprechung geht sehr weit; es erscheint kaum überspitzt zu formulieren, dass die Revisionsgerichte die schriftlichen Gründe des angefochtenen Urteils heute z. T. auch anhand rein kriminalistischer oder kriminologischer Maßstäbe prüfen und mit tatsächlichen Erwägungen kontrollieren, die – bezogen auf die Urteilsurkunde – genau den Überlegungen eines Tatrichters gleichen.“10
Diese in der Literatur häufig als Darstellungskontrolle bezeichnete höchstrichterliche Erweiterung der Revision wurde bereits 1974 von Fezer umfassend beschrieben, der vier Fallgruppen identifizierte, anhand derer der Bundesgerichtshof seinen Prüfungsumfang auch auf die Feststellungen des Tatrichters ausgeweitet hatte: (1.) Denk- und Erfahrungsverstöße, (2.) Unklarheiten, Widersprüche etc., (3.) lückenhafte Beweiswürdigung sowie (4.) unvollständige Feststellungen.11 Im Rahmen dieser erweiterten Revision prüfen die Revisionsgerichte bereits auf eine Sachrüge hin, ob die tatrichterlichen Sachverhaltsfeststellungen im Einklang mit den Denkgesetzen und den allgemeinen Erfahrungssätzen stehen, ob sie vollständig, klar und widerspruchsfrei sind und sogar ob die tatrichterliche Beweiswürdigung überzeugend ist.12 Damit hat die höchstrichterliche Rechtsprechung eine Erweiterung der Revision auf bedeutsame Teile der Tatfrage vorgenommen, ohne dass die Strafprozessordnung hierfür eine rechtliche Grundlage darböte, wobei Fezer mit Blick auf eine künftige Reform der Revision 1974 noch festhielt: „Die Auswertung bloßer Revisionsentscheidungen hat jedenfalls schon gezeigt, daß die heutige Revision, was die Beschäftigung mit den tatrichterlichen Urteilsgründen anbelangt, an ihrer äußersten Grenze angekommen ist: Die Richtigkeit der tatsächlichen Feststellungen wird auf der Basis der Urteilsdarstellung bereits überprüft – insofern scheint also eine Erweiterung nicht möglich zu sein. Die Revision […] gesetzlich erweitern, würde also – einschließlich einer Erweiterung des § 267 Abs. 1 StPO – kaum mehr darstellen als einen Versuch, die heutige Revisionspraxis zu legitimieren, wobei solche Versuche notwendigerweise unzulänglich bleiben müssen, weil sie die fein ausgebildeten Revisionsmethoden von heute nicht zu umschreiben vermögen.“13
Wie weit diese höchstrichterliche Erweiterung der Revision heute reicht, lässt eine Aussage von Herdegen, dem ehemaligen Vorsitzenden des 2. Strafsenats des 9
BGH StV 2002, 235. Franke, in: Löwe/Rosenberg, vor § 333 Rn. 4. 11 Fezer, Die erweiterte Revision, S. 13 ff. 12 Ausführlich hierzu S. 240 ff. 13 Fezer, Die erweiterte Revision, S. 55. 10
Einleitung
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Bundesgerichtshofs, erahnen – in einem Beitrag aus dem Jahre 1992 räumt dieser nämlich ohne große Umschweife ein: „Die Frage, in welchem Umfang der Bundesgerichtshof tatrichterliche Feststellungen als revisibel ansieht, aufgrund einer Sachrüge auf Rechtsfehler überprüft, ist leicht zu beantworten: er unterstellt sie in vollem Umfange seiner Kontrolle“.14 Welche Erwägungen einer so umfassenden Erweiterung der Revision zugrunde lagen, sind wiederum den Ausführungen von Jähnke, der bis 2002 Vorsitzender des 2. Strafsenats und Vizepräsident des Bundesgerichtshofs war, entnehmen: „Ein Urteil, welches auf der Feststellung beruhte, daß Wasser bergauf fließt, könnte keinen Bestand haben; der rechtliche Weg zu diesem Ergebnis ist dabei völlig gleichgültig“.15 Bereits an dieser Stelle wird deutlich, dass der Bundesgerichtshof, vor allem getrieben durch den Wunsch nach Verwirklichung einer materiell verstandenen Gerechtigkeit, die Revision offenbar zu einem Rechtsmittel umgebaut hat, das auch ohne eine entsprechende Rechtsgrundlage eine nahezu umfassende Nachprüfung der schriftlichen Urteilsgründe des Tatrichters erlaubt. Zumindest oberflächlich betrachtet, scheint die Rechtsprechung damit etwas vollbracht zu haben, was dem Gesetzgeber trotz mehrerer Anläufe bis heute nicht gelingen wollte. Ob diese revisionsgerichtliche Praxis dabei auch den verfassungsrechtlichen Anforderungen an eine gesetzesgebundene Rechtsprechung und dem Gewaltenteilungsprinzip genügt, wird allerdings noch zu untersuchen sein.16 Offensichtlich problematisch an dieser höchstrichterlichen Erweiterung der Revision ist jedenfalls, dass die Revisionsgerichte bislang davon abgesehen haben, offenzulegen, unter welchen Voraussetzungen sie dazu tendieren, schon im Rahmen einer Sachrüge auch Teile der Tatfrage in ihre Prüfung einzubeziehen. Eben dies macht dem Rechtsmittelführer die Abgrenzung zwischen einer vermeintlich zulässigen Darstellungsrüge und einer weiterhin unzulässigen Rüge der tatrichterlichen Sachverhaltsfeststellungen (man könnte sie Tatsachenrüge nennen) praktisch unmöglich. So kann es sein, dass ein Revisionsgericht in dem einen Fall das tatrichterliche Urteil bereits auf die Sachrüge hin aufhebt, weil ihm die Beweiswürdigung des Tatrichters nicht plausibel erscheint, während es in einem gleichgelagerten anderen Fall die Revision mit dem schlichten Hinweis verwirft, die Beweiswürdigung als Domäne des Tatrichters unterliege nicht seiner Nachprüfung, obwohl der Rechtsmittelführer ausdrücklich rügt, dass die tatrichterliche Beweiswürdigung nicht plausibel ist.17 Insofern wird auch im Rahmen der vorliegenden Schrift zu untersuchen sein, ob die höchstrichterliche Darstellungskontrolle sich darauf beschränkt, die Handlungsmöglichkeiten der Revisionsgerichte bloß dort zu erweitern, wo die Revisionsgerichte selbst eine solche Erweiterung für opportun halten, oder ob sie auch tatsächlich zu einer Verbesserung der subjektiven Rechte des 14 15 16 17
Herdegen, StV 1992, 527, 527; ähnlich schon Otto, NJW 1978, 1, 6. Jähnke, in: FS Hanack, S. 358. Hierzu ausführlich S. 288 ff. Ausführlich hierzu S. 320 ff.
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Einleitung
Angeklagten beigetragen hat, welche geeignet ist, die fehlende Berufungsinstanz bei den schwersten Strafsachen zu kompensieren.18 Gegen eine Kompensation der fehlenden Berufung durch die erweiterte Revision scheint allerdings zu sprechen, dass die Erfolgschancen der Revision generell vergleichsweise gering sind. So waren im Jahr 2017 von 3.204 erledigten Revisionssachen des Bundesgerichtshofs lediglich 206 im vollen Umfang erfolgreich.19 Ihre „Erfolgsquote“ lag damit bei vergleichsweise geringen 6,43 %. Einen Großteil (71,54 %) der Revisionen verwarf der Bundesgerichtshof dabei bereits im Beschlusswege als offensichtlich unbegründet.20 Zugleich belegt eine Untersuchung von Barton aus dem Jahre 2008, dass die überwiegende Anzahl an erfolgreichen Revisionen von der Staatsanwaltschaft stammte. So beruhte jede fünfte erfolgreiche Revision im Jahr 200521 auf einem Rechtsmittel der Staatsanwaltschaft, obwohl nicht einmal jede 25. Revision von ihr eingelegt worden war. Anders formuliert: die „Erfolgsquote“ der staatsanwaltlichen Revisionen lag im Jahr 2005 bei 54,62 % (65 von 119), während die Erfolgsquote der anwaltlichen Revisionen bei vergleichsweise geringen 7,86 % (240 von 3.054) lag, wobei selbst nur teilweise erfolgreiche Revisionen Berücksichtigung fanden.22 Zumindest statistisch betrachtet, ist es für den Angeklagten also erheblich schwerer als für die Staatsanwaltschaft, mit einer Revision durchzudringen. So bestätigt auch Barton in einem jüngeren Beitrag, dass die Angeklagtenrevisionen – statistisch und wie ihm aus einschlägigen Kreisen bekannt sei – faktisch leerliefen.23 Insofern hat es zunächst zumindest den Anschein, als handelte es sich bei der Revision um ein Rechtsmittel, das eher den Interessen der Staatsanwaltschaft dient als dem Rechtsschutz des Angeklagten. Hier mag man zwar zutreffenderweise einwenden, dass die Staatsanwaltschaft von Gesetzes wegen auch zugunsten des Angeklagten die Revision einlegen kann, doch dürfte dies erfahrungsgemäß eher die Ausnahme als die Regel darstellen. Gerade die vergleichsweise geringe Anzahl der Revisionen gegen Berufungsurteile der Landgerichte deutet dabei darauf hin, dass die Existenz einer zweiten Tatsacheninstanz auch in land- und oberlandesgerichtlichen Sachen viel eher ein geeignetes Mittel darstellen könnte, eine höhere Rechtszufriedenheit der Verfahrensbeteiligten herbeizuführen. Während nämlich im Jahr 2016 geschätzt ca. 23 % der erstinstanzlichen Urteile der Landgerichte mit der Revision angefochten wur18
Vgl. insofern ausführlich S. 311 ff. Bundesgerichtshof, Jahresstatistik Strafsenate 2017, Online-Quelle, S. 3 ff. (Hauptübersicht, Sp. 28) sowie S. 6. 20 Bundesgerichtshof, Jahresstatistik Strafsenate 2017, Online-Quelle, S. 3 ff. (Hauptübersicht, Sp. 30). 21 Aktuellere Zahlen sind nach der dem Verfasser erteilten Auskunft des Bundesgerichtshofs und des Generalbundesanwaltes nicht verfügbar, vgl. hier zu auch S. 59 Fn. 185. 22 Ausführlich zu diesen Zahlen S. 59 ff. 23 Barton, in: GS Weßlau, S. 47. 19
Einleitung
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den,24 dürften lediglich ca. 12 % der Berufungsurteile der Landgerichte einer Revision unterlegen haben.25 Aufgrund dieser Beobachtungen stellten sich dem Verfasser folgende Fragen, die im Laufe des vorliegenden Werkes zu beantworten sein werden: - Genügt die beschränkte Überprüfbarkeit eines strafgerichtlichen Urteils, welche die Revision zu gewährleisten lediglich in der Lage ist, den Anforderungen an ein modernes Rechtsmittel im heutigen Grundrechtsstaat?26 - Welche Motive waren es, die den historischen Gesetzgeber dazu bewegten, ausgerechnet gegen Urteile, die schwere Strafsachen zum Gegenstand hatten, mit der Revision ein lediglich beschränktes Rechtsmittel zuzulassen?27 - Warum hat der historische Gesetzgeber, ungeachtet der Beschränkung des Rechtsmittels gegen Urteile der Landgerichte, gegen die in aller Regel weniger schwerwiegenden Urteile der Amtsgerichte mit der Berufung ein vollumfassendes Rechtsmittel zugelassen?28 - Wie konnte trotz der gesetzlich eindeutigen Beschränkung der Revision auf die Rechtsfragen eine Erweiterung der Revision auf die Tatfragen durch die höchstrichterliche Rechtsprechung stattfinden?29 - Vermag die Erweiterung der Revision durch die höchstrichterliche Rechtsprechung einen hinreichenden Ausgleich für die fehlende Berufung gegen Urteile der Land- und Oberlandesgerichte zu gewährleisten?30 - Warum hat sich der Gesetzgeber bislang nicht dazu in der Lage gesehen, den Rechtsschutz gegen Urteile der Land- und Oberlandesgerichte auszuweiten, wenn sich schon die höchstrichterliche Rechtsprechung offenbar dazu gezwungen sah, die Revision praeter legem auf Teile der Tatfragen zu erweitern?31 24 Hierbei handelt es sich um eine Schätzung, die auf der Erwägung beruht, dass im Jahre 2016 etwa 12.934 erstinstanzlichen Entscheidungen der Landgerichte 2.937 Revisionen beim Bundesgerichtshof gegenüberstanden – vgl. insofern Statistisches Bundesamt, Fachserie 10, Reihe 2.3 (2016), Online-Quelle, S. 62 sowie. Bundesgerichtshof, Jahresstatistik Strafsenate 2016, Online-Quelle, S. 3 ff. (Hauptübersicht, Sp. 34 – 37). 25 Diese Schätzung beruht darauf, dass im Jahr 2016 von den Landgerichten 40.042 Berufungen in Erwachsenenssachen erledigt wurden (Jugendsachen waren vorliegend mit Blick auf § 55 Abs. 2 JGG nicht einzubeziehen), wobei die Oberlandesgerichte in demselben Jahr über 4.966 Revisionen gegen Urteile der kleinen und großen Strafkammern (insofern einschließlich eventueller Revisionen gegen erstinstanzliche Urteile der Landgerichte, mit denen lediglich eine Verletzung des Landesrechts gerügt wurden) entschieden haben, Statistisches Bundesamt, Fachserie 10, Reihe 2.3 (2016), Online-Quelle, S. 54, 122. 26 Vgl. hierzu 1. Kapitel, Abschnitt C. 27 Vgl. hierzu 2. Kapitel, Abschnitt B. 28 Vgl. hierzu 2. Kapitel, Abschnitt C. 29 Vgl. hierzu 3. Kapitel, Abschnitt B. 30 Vgl. hierzu 3. Kapitel, Abschnitt C. 31 Vgl. hierzu das 4. Kapitel.
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Einleitung
- Wie könnte eine gesetzliche Erweiterung der Revision ausgestaltet sein, die eine umfassende Nachprüfung der Urteile der Land- und Oberlandesgerichte in erster Instanz gestattet?32 Zur Beantwortung dieser Fragen ist die vorliegende Untersuchung in fünf Kapitel aufgeteilt. Ihr erstes Kapitel dient dabei vor allem als eine allgemeine Einführung in das strafrechtliche Revisionsrecht und zeigt zunächst auf, welche Stellung das beschränkte Rechtsmittel der Revision im System der strafrechtlichen Rechtsbehelfe einnimmt und vor allem, ob sie als alleiniges Rechtsmittel der grundgesetzlichen Rechtsweggarantie genügt, wie sie in Art. 19 Abs. 4 GG vorausgesetzt wird. Sein erster Abschnitt (A.) befasst sich dabei vorwiegend mit dem grundlegenden Aufbau des heutigen Strafverfahrens, bevor es sich in seinem zweiten Abschnitt (B.) der gesetzlichen Ausgestaltung der Revision widmet. Hierbei werden insbesondere die formalen Anforderungen an die Einlegung der Revision, ihr gesetzlicher Umfang sowie die Möglichkeiten des Revisionsgerichts, über das Rechtsmittel zu entscheiden, in der gebotenen Kürze rekapituliert. In seinem dritten Abschnitt (C.) befasst sich das Kapitel mit den Zwecken der Revision und legt die verfassungsrechtliche Notwendigkeit eines umfassenden Rechtsmittels gegen tatrichterliche Urteile in Strafsachen dar. Eine Zusammenfassung (D.) seiner Ergebnisse schließt dieses einführende Kapitel ab. Das zweite Kapitel wiederum befasst sich mit der Frage, warum der historische Gesetzgeber die Revision als ein beschränktes Rechtsmittel ausgestaltet hat, obwohl ihm aus den partikularen Rechtsordnungen – etwa mit der Appellation oder der Berufung – vollumfassende Rechtsmittel durchaus bekannt waren. Somit geht es in diesem Kapitel vor allem um die historische Entwicklung des geltenden Rechtsmittelrechts. Dabei widmet sich sein erster Abschnitt (A.) einer allgemeinen Darstellung der Entwicklung der strafrechtlichen Rechtsmittel in den deutschen Gebieten, bevor es in seinem zweiten Abschnitt (B.) der komplexen Frage nachgeht, warum der Gesetzgeber die Revision als ein beschränktes Rechtsmittel ausgestaltet hat. Die sich insofern aufdrängende Frage, warum die Strafprozessordnung dennoch ausgerechnet für die einfachen Strafsachen mit der Berufung ein vollumfassendes Rechtsmittel vorgesehen hat, wird im dritten Abschnitt (C.) beantwortet, bevor auch dieses Kapitel mit einer zusammenfassenden Analyse (D.) seiner Ergebnisse schließt. Das dritte Kapitel dieser Untersuchung befasst sich mit der höchstrichterlichen Erweiterung der Revision. In seinem ersten Abschnitt (A.) zeigt es auf, welche Anforderungen das Gesetz an die Begründung der tatrichterlichen Urteile stellte und welche Teile des tatrichterlichen Urteils de lege scripta der Revision unterliegen, um anschließend in seinem zweiten Abschnitt (B.) anhand ausgewählter Beispiele aus der Rechtsprechung des Reichsgerichts und des Bundesgerichtshofs aufzuzeigen, wie weit die höchstrichterliche Erweiterung der Revision nunmehr reicht. Sein dritter Abschnitt (C.) setzt sich mit potentieller Kritik an dieser scheinbar positiven Ent32
Vgl. hierzu das 5. Kapitel.
Einleitung
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wicklung auseinander, wobei auch den Abschluss dieses Kapitels eine zusammenfassende Analyse (D.) seiner Ergebnisse bildet. Das vierte Kapitel dieser Untersuchung wiederum befasst sich mit den bisherigen Versuchen des Gesetzgebers, den Rechtsschutz in den landgerichtlichen Strafsachen zu stärken. Dabei werden die entsprechenden Teile der betreffenden Gesetzesentwürfe und die von ihnen verfolgten Ansätze dargelegt sowie die Gründe für ihr Scheitern aufgezeigt. Der erste Abschnitt (A.) befasst sich dabei mit Entwürfen, die bereits während des Kaiserreichs im Reichstag verhandelt wurden. Sein zweiter Abschnitt (B.) beschreibt die Fortsetzung dieser Bemühungen in der Weimarer Republik sowie die Versuche des NS-Gesetzgebers die Revision auch auf die Tatfragen auszuweiten, statt bloß wie bis dahin die landgerichtlichen Strafsachen um eine Berufung zu ergänzen. Der dritte Abschnitt (C.) dieses Kapitels wiederum widmet sich den vergleichsweise jüngeren Entwürfen in der Bonner Republik, die ebenfalls eine Erweiterung des Rechtsschutzes in den land- und oberlandesgerichtlichen Strafsachen bezweckten. Am Ende dieses Kapitels steht erneut eine Zusammenfassung seiner Ergebnisse (D.). In einem fünften Kapitel schließlich stellt der Verfasser einen eigenen Reformvorschlag zur Stärkung des Rechtsschutzes in land- und oberlandesgerichtlichen Strafsachen vor. In dem ersten Abschnitt (A.) des Kapitels befasst er sich dabei mit der österreichischen Nichtigkeitsbeschwerde, die in Ansätzen als Vorbild für den hier vorgestellten Reformvorschlag dient. Im zweiten Abschnitt (B.) werden die konkreten Änderungsvorschläge dargestellt, die für eine gesetzliche Erweiterung der Revision notwendig wären. Der dritte Abschnitt (C.) des Kapitels befasst sich wiederum mit Änderungen der Strafprozessordnung, die durch eine Reform des Rechtsmittelrechts notwendig würden. Der letzte Abschnitt (D.) des fünften Kapitels endlich stellt die Änderungsvorschläge des Verfassers im Rahmen einer synoptischen Darstellung den geltenden Vorschriften der Strafprozessordnung gegenüber, um so eine knappe Übersicht über die im Rahmen der vorliegenden Arbeit vorgeschlagenen Änderungen zu ermöglichen. Abgeschlossen wird die gesamte Untersuchung mit einem Fazit, das ihre Ergebnisse deutlich verdichtet zusammenträgt und bewertet, ohne dabei den Anspruch zu erheben, diese auch vollständig zusammentragen zu wollen.
1. Kapitel
Die Revision in Strafsachen A. Das System der strafrechtlichen Rechtsbehelfe I. Die Strafgerichtsbarkeit als Teil der ordentlichen Gerichtsbarkeit Ausgeübt wird die Strafgerichtsbarkeit, die der sog. ordentlichen Gerichtsbarkeit33 zuzuordnen ist, bekanntermaßen durch Amtsgerichte, Landgerichte und 33 Während der Begriff „ordentliche Gerichtbarkeit“ heute lediglich noch ein Synonym für die Straf- und die Zivilgerichtsbarkeit darstellt, wurde er historisch als eine Bezeichnung für unabhängige Spruchkörper verwendet, die – anders als sonstige Behörden – der dritten Gewalt in einem modernen Sinne zuzurechnen waren. So existierten noch im Deutschen Reich neben den ordentlichen Gerichten zahlreiche gerichtsähnliche Spruchkörper, die der Verwaltung und nicht der Rechtsprechung i. e. S. zugeordnet waren. Diese waren im Grunde Behörden zur internen Prüfung der Verwaltungstätigkeit, deren als Administrativjustiz bezeichnete Spruchtätigkeit eine Fortführung der feudalen Kammerjustiz auf dem Gebiet der staatlichen Verwaltung darstellte, vgl. Kohl, Das Reichsverwaltungsgericht, S. 9 ff. Erst 1863 wurde auf Landesebene im Großherzogtum Baden eine echte Verwaltungsgerichtsbarkeit eingeführt – Preußen (1872), Großherzogtum Hessen (1875), Württemberg (1876) und Bayern (1879) folgten in Kürze, vgl. Kohl, Das Reichsverwaltungsgericht, S. 25 ff. Eine echte Verwaltungsgerichtsbarkeit auf Reichsebene wurde sogar erst durch den Erlaß des Führers und des Reichskanzlers über die Errichtung des Reichsverwaltungsgerichts vom 3. April 1941 errichtet, RGBl. I 1941, 201. Bis dahin existierten auf Reichsebene lediglich Spruchstellen wie das durch das Patentgesetz (RGBl. 1877, 501) eingeführte Patentamt, das durch das Unfallversicherungsgesetz (RGBl. 1884, 69) eingeführte Reichsversicherungsamt, das auf das Reichsversorgungsverfahrensgesetz (RGBl. 1922, 59) beruhende Reichsversorgungsgericht oder das aufgrund der Entschädigungsordnung (RGBl. 1921, 1046) errichtete Reichsentschädigungsamt (später Reichswirtschaftsgericht). Selbst der 1918 durch das Gesetz über den Reichsfinanzhof (RGBl. 1918, 959) errichtete Reichsfinanzhof war kein ordentliches Gericht. Zahlreiche weitere Beispiele für solche außerordentliche Verwaltungsgerichte des Reiches finden sich bei Kohl, Das Reichsverwaltungsgericht, S. 45 ff. Tatsächlich herrschten im Vereinigten Königreich Großbritannien und Nordirland sogar bis vor Kurzem – nämlich bis zum Inkrafttreten des Tribunals, Courts and Enforcement Act 2007 – vergleichbare Zustände, sodass dort bis dahin für zahlreiche Rechtsfragen sog. Tribunale als non-departmental public bodies zuständig waren. Ähnliche Formen einer Administrativjustiz, freilich unter Einräumung des Rechtsweges zu den „ordentlichen“ Verwaltungsgerichten, haben in jüngerer Zeit auch in der Bundesrepublik Deutschland Einzug erhalten. So etwa in Rheinland-Pfalz oder im Saarland, wo sog. Rechtsausschüsse eingesetzt wurden, die in einem öffentlichen, gerichtsähnlichen Verfahren über Widersprüche nach der VwGO entscheiden, vgl. §§ 6 ff. AGVwGO RLP, §§ 7 ff. AGVwGO SL. Bemerkenswert sind insofern auch die auch mit studentischen Vertretern besetzten Wi-
A. Das System der strafrechtlichen Rechtsbehelfe
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Oberlandesgerichte als Gerichte der Länder und den Bundesgerichtshof als dem obersten Gerichtshof des Bundes für die ordentliche Gerichtsbarkeit. Diese viergliedrige Ausgestaltung unterscheidet die ordentliche Gerichtsbarkeit deutlich von den übrigen Gerichtsbarkeiten in der Bundesrepublik Deutschland, die – von der Ausnahme der zweigliedrig ausgestalteten Finanzgerichtsbarkeit abgesehen – allesamt dreigliedrig aufgebaut sind. Eine weitere Besonderheit der ordentlichen Gerichtsbarkeit ist die in Strafsachen zulässige Revision von den Landgerichten zu den Oberlandesgerichten, die einen landesinternen Revisionszug zur Folge hat. Im Übrigen ist die Revision nämlich als ein Rechtmittel zur Sicherstellung der einheitlichen Anwendung und Auslegung des Bundesrechts ausschließlich zu einem obersten Gerichtshof des Bundes vorgesehen. Hierzu heißt es in der Begründung des Entwurfs des Gerichtsverfassungsgesetzes von 1877: „Daß der Entwurf die Revision gegen die Urtheile der S c h ö f f e n g e r i c h t e [34] ohne Unterscheidung an das Oberlandesgericht gehen läßt, beruht auf der Nothwendigkeit, eine Ueberbürdung des Reichsgerichts zu verhüten. Wollte man das Reichsgericht auch zur Entscheidung über die Revisionen gegen Urtheile der Schöffengerichte für zuständig erklären, so würde dasselbe die Geschäftslast nicht bewältigen können, oder es würden bei demselben so viele Senate gebildet werden müssen, daß sich die Einheit der Rechtsprechung praktisch nicht mehr durchführen ließe.“35
Zur Sicherstellung der Rechtseinheit in amtsgerichtlichen Strafsachen bestimmt das Gerichtsverfassungsgesetz allerdings nunmehr, dass ein Oberlandesgericht, das in einer Rechtsfrage von der Entscheidung eines anderen Oberlandesgerichts oder des Bundesgerichtshofs abweichen will, die Sache dem Bundesgerichtshof vorlegen muss (sog. Divergenzvorlage).36 Hierdurch stellte der Gesetzgeber sicher, dass das Strafrecht des Bundes37 auch in den Fällen, in denen eine Rechtsfrage in letzter Instanz von einem Oberlandesgericht zu entscheiden war, im gesamten Staatsgebiet derspruchsausschüsse für Prüfungsangelegenheiten an den Hamburger Hochschulen, vgl. § 66 HmbHG. 34 Die Schöffengerichte waren ursprünglich die einzigen strafrechtlichen Spruchkörper am Amtsgericht; der Einzelrichter wurde in Strafsachen erst durch die Emminger-Verordnung von 1924 eingeführt, vgl. §§ 7 ff. der Verordnung über Gerichtsverfassung und Strafrechtspflege vom 4. Januar 1924, RGBl. I 1924, 15. 35 Begründung zum GVG, in: Hahn (Hrsg.), Materialien zum GVG, Bd. I/1, S. 40. 36 § 121 Abs. 2 a. E. GVG; Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, GVG § 121 Rn. 5. Tatsächlich jedoch kommen die Oberlandesgerichte nur selten dieser Verpflichtung nach. So gab es in den Jahren 2012, 2013, 2015 etwa nur eine, in dem Jahr 2014 zwei, in dem Jahr 2016 drei und 2017 vier Divergenzvorlagen an den Bundesgerichtshof, vgl. jeweils die Jahresstatistik der Strafsenate des Bundesgerichtshofs, Online-Quelle, S. 3 ff. (Hauptübersicht, Sp. 34). 37 Materielles Strafrecht der Länder ist zwar selten, doch da der Bund für das Strafrecht lediglich eine konkurrierende Gesetzgebungskompetenz innehat, können durchaus Bereiche existieren, in denen Länder eigene Strafvorschriften erlassen können. Vgl. etwa Art. 11 Abs. 3 und Art. 13 BayPrG, § 14 HPresseG oder § 182 HessSchG. Sofern nur landesrechtliche Vorschriften betroffen sind, ist allerdings eine Divergenzvorlage schon von Gesetzes wegen ausgeschlossen, vgl. § 121 Abs. 2 Nr. 1 GVG, welcher ausdrücklich nicht auf § 121 Abs. 1 Nr. 1 Buchst. c) GVG verweist.
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1. Kap.: Die Revision in Strafsachen
einheitlich angewandt und ausgelegt wird.38 Auch die Divergenzvorlage stellt dabei eine Besonderheit des Strafverfahrens dar, da in den übrigen Gerichtsbarkeiten ausschließlich die obersten Gerichtshöfe des Bundes für die Revision zuständig sind, sodass eine divergierende Rechtsprechung unterschiedlicher Revisionsgerichte nicht in Betracht kommt.39
II. Rechtsbehelfe gegen richterliche Entscheidungen im Strafverfahren Wie nahezu alle gerichtlichen Entscheidungen können auch Entscheidungen der Strafgerichte mit Rechtsbehelfen angefochten werden. Vorliegend von Interesse sind dabei vor allem die Rechtsmittel der Berufung und der Revision. Rechtsmittel stellen dabei eine besondere Gruppe der Rechtsbehelfe gegen gerichtliche Entscheidungen dar, die in den jeweiligen Gerichtsordnungen als solche gekennzeichnet sind. Zwar heißt es oftmals, dass die Rechtsmittel sich dadurch auszeichnen, dass sie einen Suspensiv- und einen Devolutiveffekt auslösen, doch schon ein Blick auf die Beschwerde belegt, dass diese Definition wenig zielführend ist. Diese hat weder einen Suspensiveffekt, noch tritt ihr Devolutiveffekt bedingungslos ein. 1. Die Rechtsmittel gegen verfahrensabschließende Urteile im Strafverfahren Wie nahezu alle anderen Gerichtsordnungen kennt auch die Strafprozessordnung mit der Berufung und der Revision zwei unterschiedliche Rechtsmittel gegen verfahrensabschließende Urteile. Bekanntermaßen ist die Berufung in Strafsachen dabei ausschließlich gegen Urteile der Amtsgerichte zulässig.40 Gegen Urteile der Landgerichte und Oberlandesgerichte in erster Instanz ist ausschließlich die Revision statthaft. Die Berufung in Strafsachen ist dabei insofern bemerkenswert, als sie weder einer weitergehenden Begründung durch den Rechtsmittelführer noch einer besonderen Zulassung durch den iudex a quo oder iudex ad quem bedarf.41 Lediglich in den Fällen, in denen in erster Instanz eine außergewöhnlich niedrige Rechtsfolge verhängt wurde, ist eine besondere Annahme der Berufung durch den iudex ad quem vorgesehen.42 Nichtsdestoweniger werden schätzungsweise lediglich etwa 7 % der Urteile des Strafrichters und ca. 19 % der Urteile des Schöffengerichts mit der 38
Franke, in: Löwe/Rosenberg, GVG § 121 Rn. 25. Zu berücksichtigen ist hierbei jedoch, dass die Strafgerichte nicht für Strafsachen, sondern auch für Ordnungswidrigkeitssachen und Strafvollzugssachen zuständig sein können, sodass auch hier eine Divergenzvorlage in Betracht kommt. 40 § 312 StPO. 41 Vgl. § 317 StPO. 42 Vgl. zu den Voraussetzungen der Annahmeberufung § 313 Abs. 2 Satz 1 StPO. 39
A. Das System der strafrechtlichen Rechtsbehelfe
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Berufung angefochten.43 So wurde etwa im Jahr 2016 in der Summe lediglich gegen ca. 8 % der amtsgerichtlichen Urteile die Berufung eingelegt. Bei der Berufung in Strafsachen handelt es sich um ein reformatorisches Rechtsmittel, sodass sie in aller Regel zu einer vollständigen Wiederholung des erstinstanzlichen Verfahrens vor einer kleinen Strafkammer eines Landgerichts führt (quasi eine zweite „erstinstanzliche“ Verhandlung).44 Die häufig anzutreffende Formulierung, dass die kleinen Strafkammern im Rahmen der Berufungsverhandlung eine „Überprüfung“ des erstinstanzlichen Urteils vornähmen, ist insofern jedenfalls ungenau,45 da seit der Aufhebung des § 328 Abs. 2 StPO durch das Strafverfahrensänderungsgesetz vom 27. Januar 198746 eine Überprüfung des erstinstanzlichen Urteils im Rahmen der Berufung gerade nicht mehr stattfindet. Diese Ausgestaltung der Berufung ist dabei keinesfalls bedenkenfrei. Sie hat nämlich zur Folge, dass der Bestand eines berufungsfähigen Urteils nicht ausschließlich von der Qualität der Rechtsprechung, sondern auch von prozesstaktischen Erwägungen der Verfahrensbeteiligten (etwa die Verzögerung der Strafvollstreckung) abhängig ist.47 Dies begründet die durchaus realistische Gefahr, dass der erstinstanzliche Tatrichter in seinem Verantwortungsgefühl geschwächt wird und sich nicht mehr im vollen Maße mit seinem Urteil identifiziert („Soll sich doch die Berufungsinstanz damit ausführlich auseinandersetzen!“). Bemerkenswert ist dabei, dass sich die Verfasser des Entwurfs der Strafprozessordnung der Gefahr eines Rechtsmittels ohne Begründungszwang durchaus bewusst waren. So heißt es in den Motiven zur Strafprozessordnung, wenn auch bezogen auf die Revision:
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Hierbei handelt es sich um eine Schätzung, die darauf beruht, dass im Jahr 2016 insgesamt 443.698 Verfahren von dem Strafrichter (ohne den Jugendrichter) und 37.696 Verfahren von den (erweiterten) Schöffengerichten (ohne das Jugendschöffengericht) entschieden wurden, wobei im selben Jahr 32.251 Berufungen gegen die Urteile des Strafrichters und 7.200 Berufungen gegen die Urteile des Schöffengerichts eingelegt wurden (unberücksichtigt blieben hierbei allerdings 591 Berufungen, die von der Wirtschaftsstrafkammer verhandelt und entschieden wurden), Statistisches Bundesamt, Fachserie 10, Reihe 2.3 (2016), Online-Quelle, S. 16, 54. 44 Vgl. §§ 323 Abs. 3; 328 Abs. 1 StPO; Beulke, Strafprozessrecht, Rn. 548; Kühne, Strafprozessrecht, Rn. 1049; Roxin/Schünemann, Strafverfahrensrecht, § 54 Rn. 1. 45 So aber etwa Beulke, Strafprozessrecht, Rn. 548; aber auch Schroeder/Verrel, Strafprozessrecht, Rn. 298, der von einer Prüfung und Roxin/Schünemann, Strafverfahrensrecht, § 54 Rn. 1, der insofern von einer Nachprüfung des vorinstanzlichen Urteils spricht. 46 Art. 1 Nr. 25 a) Strafverfahrensänderungsgesetz (StVÄG 1987) vom 27. Januar 1987, BGBl. I 1987/9, 475. § 328 Abs. 2 a. F. lautete: „Leidet das Urteil an einem Mangel, der die Revision wegen Verletzung einer Rechtsnorm über das Verfahren begründen würde, so kann das Berufungsgericht unter Aufhebung des Urteils die Sache, wenn die Umstände des Falles es fordern, zur Entscheidung an das Gericht des ersten Rechtszuges zurückverweisen. Die Zurückverweisung ist auch zulässig, wenn das Gericht abtrennbare Teile einer Tat, die Gegenstand der öffentlichen Klage sind, über die aber im angefochtenen Urteil nach seinen Gründen nicht entschieden worden ist, in das Verfahren einbezieht (§ 154a).“ 47 Vgl. hierzu Kühne, Strafprozessrecht, Rn. 1060 m. w. N.
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1. Kap.: Die Revision in Strafsachen „Ein Rechtsmittel, dessen Einlegung für sich allein den höheren Richter zu einer Prüfung der Sache nöthigte, würde sich in der That als ein bloßer Widerspruch gegen ein richterliches Urtheil darstellen und deshalb in den Organismus des Prozesses nicht passen. Die Gewährung eines derartigen Rechtsmittels würde aber auch zweifelsohne dahin führen, daß von demselben ein sehr leichtfertiger Gebrauch gemacht und die Revisionsgerichte mit frivolen Revisionen überschüttet werden würden.“48
Bei der nachträglichen Einführung der Berufung in Strafsachen, die in dem Entwurf der Strafprozessordnung noch nicht vorgesehen war, scheint der Gesetzgeber diese zutreffenden Erwägungen allerdings übersehen zu haben. Anders als die Berufung ist die Revision gegen jedes strafgerichtliche Urteil zulässig, das nicht selbst ein Revisionsurteil ist. Dabei wurden im Jahr 2016 geschätzt ca. 23 % der erstinstanzlichen Urteile der Landgerichte mit der Revision angefochten, wohingegen von den Berufungsurteilen der Landgerichte nur ca. 12 % der Revision unterlegen haben dürften.49 Die Bedeutung der theoretisch möglichen Sprungrevision von den Amtsgerichten zu den Oberlandesgerichten ist dagegen verschwindend gering; so etwa wurden 2016 von den amtsgerichtlichen Urteilen gegen Erwachsene lediglich etwa 0,1 % mit der Sprungrevision angefochten.50 Auch wenn der rechtlichen Ausgestaltung der Revision ein eigener Abschnitt des vorliegenden Kapitels gewidmet ist,51 sei bereits an dieser Stelle kurz daran erinnert, dass mit der Revision ausschließlich eine Gesetzesverletzung durch die Vorinstanz gerügt werden kann. Insbesondere die tatrichterlichen Sachverhaltsfeststellungen sind de lege lata nicht der Revision zugänglich. Anders als das Berufungsgericht kann das Revisionsgericht somit nur über einen Teil des vorinstanzlichen Verfahrensgegenstandes verfügen. Dabei trifft das Revisionsgericht grundsätzlich keine eigene Sachentscheidung, sondern hebt allenfalls das angefochtene Urteil auf und weist die Sache zur erneuten Verhandlung an die Vorinstanz zurück. Demnach handelt es sich bei der Revision in weiten Teilen also um ein bloß kassatorisches Rechtsmittel. 2. Sonstige Rechtsbehelfe im Strafverfahren Die Konzentration auf die Berufung und die Revision dürfen jedoch nicht zu der Annahme verleiten, dass die Rechtsmittel – einschließlich der Beschwerde – die einzigen Rechtsbehelfe sind, die gegen strafgerichtliche Entscheidungen zulässig sind. So finden sich in der Strafprozessordnung auch weitere förmliche Rechtsbehelfe wie etwa der Einspruch gegen Strafbefehle gem. § 410 Abs. 1 Satz 1 StPO, der 48
Motive zur StPO, in: Hahn (Hrsg.), Materialien zur StPO, Bd. III/1, S. 253. Vgl. zu den Grundlagen dieser Schätzung S. 29 Fn. 24 f. 50 Diese Schätzung beruht darauf, dass von den amtsgerichtlichen Spruchkörpern im Jahr 2016 in Erwachsenensachen 481.394 Verfahren erledigt wurden, während im selben Jahr an den Oberlandesgerichten lediglich 675 Revisionen gegen amtsgerichtliche Entscheidungen verhandelt wurden, Statistisches Bundesamt, Fachserie 10, Reihe 2.3 (2016), Online-Quelle, S. 15, 122. 51 Vgl. S. 42 ff. 49
A. Das System der strafrechtlichen Rechtsbehelfe
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Antrag auf die Entscheidung des Gerichts gem. § 238 Abs. 2 StPO, der Antrag auf die Entscheidung des Rechtsmittelgerichts gem. §§ 319 Abs. 2, 346 Abs. 2 StPO oder das Nachverfahren gem. § 439 StPO. Neben diesen förmlichen Rechtsbehelfen existiert auch im Strafrecht als eine Ausprägung des in Art. 17 GG normierten Petitionsrechts eine Reihe formloser Rechtsbehelfe, die an keine Frist- und Formvorschriften gebunden sind, wie etwa die Gegenvorstellung, die Sachaufsichtsbeschwerde oder die Dienstaufsichtsbeschwerde. Allerdings haben die formlosen Rechtsbehelfe im gerichtlichen Verfahren kaum eine nennenswerte Bedeutung, da Richter bei der Ausübung der richterlichen Gewalt unabhängig und nur dem Gesetz unterworfen sind.52 Demnach ist für eine Sach- oder Dienstaufsichtsbeschwerde regelmäßig schon kein Adressat gegeben.53 Auch für eine Gegenvorstellung bleibt im Rahmen des gerichtlichen Verfahrens wenig Raum, da Gerichte außerhalb des förmlichen Beschwerdeverfahrens nur in seltenen Fällen befugt sind, ihre eigenen Entscheidungen zu revidieren.54 Bedeutsamer im Strafverfahren sind dagegen die sog. außerordentlichen Rechtsbehelfe, die unter bestimmten, regelmäßig gravierenden Umständen eine erneute Befassung mit der Sache unter Durchbrechung der Rechtskraft zulassen.55 Neben der Wiedereinsetzung in den vorigen Stand, der Wiederaufnahme des Verfahrens und der Anhörungsrüge gem. § 356a StPO zählen auch die Verfassungsbeschwerde zu den Verfassungsgerichten und die sog. Menschenrechtsbeschwerde zum Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte zu dieser Gruppe der Rechtsbehelfe.56 Die wenig beachtete Individualbeschwerde zum UN-Menschenrechtsausschuss (amtlich: Mitteilung an den Ausschuss für Menschenrechte) nach Art. 1 des ersten Fakultativprotokolls zum Internationalen Pakt über bürgerliche und politische Rechte (IPBPR) stellt ebenfalls einen außerordentlichen Rechtsbehelf dar, von dem in der Praxis jedoch kaum Gebrauch gemacht wird.57 So war die Bundesrepublik Deutschland soweit ersichtlich bislang in lediglich drei Fällen Beteiligter eines zulässigen Verfahrens nach Art. 1 des Fakultativprotokolls.58 Ihre geringe praktische Relevanz dürfte vor allem auf einen Vorbehalt der Bundesrepublik Deutschland zu dem Fakultativprotokoll zurückzuführen sein. So ist die Individualbeschwerde zwar nach Art. 5 Abs. 2 Buchst. a) des Fakultativprotokolls lediglich für den Zeitraum ausgeschlossen, in dem die Sache „bereits in einem anderen internationalen Un52
Art. 97 Abs. 1 GG, § 1 GVG. Vgl. § 26 DRiG. 54 Jesse, in: Löwe/Rosenberg, vor § 296 Rn. 82 f. 55 Kindhäuser, Strafprozessrecht, § 28 Rn. 11. 56 Zu den Rechtsbehelfen im Strafverfahren Jesse, in: Löwe/Rosenberg, vor § 296 Rn. 2. 57 Vgl. Gesetz zum Fakultativprotokoll vom 19. Dezember 1966 zum Internationalen Pakt über bürgerliche und politische Rechte vom 21. Dezember 1992, BGBl. II 1992/47, 1246. 58 Communication No. 1138/2002, Arenz et al. v. Germany; Communication No. 1214/ 2003 Vlad v. Germany; Communication No. 1403/2005 Gilberg v. Germany. 53
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1. Kap.: Die Revision in Strafsachen
tersuchungs- oder Streitregelungsverfahren geprüft wird [Hervorh. d. Verf.]“, sodass sie nach dem Vertragstext erneut angebracht werden könnte, wenn die anderweitige Rechtshängigkeit vor einem internationalen Spruchkörper endet. Doch nach dem Vorbehalt der Bundesrepublik ist eine Individualrechtsbeschwerde gegen Urteile deutscher Gerichte nur zulässig, wenn die Beschwerdepunkte nicht „bereits in einem anderen internationalen Untersuchungs- oder Streitregelungsverfahren geprüft wurden [Hervorh. d. Verf.]“.59 Damit steht die Individualbeschwerde hierzulande in einem Alternativverhältnis zu der Menschenrechtsbeschwerde zum Europäischen Gerichtshof,60 von der in aller Regel vorrangig Gebrauch gemacht wird. 3. Die Ausgestaltung der Rechtsmittel in sonstigen Verfahrensordnungen Grundsätzlich kennen auch die übrigen deutschen Gerichtsordnungen, von der kuriosen Ausnahme der Rechtsbeschwerde gegen Urteile im Ordnungswidrigkeitenverfahren abgesehen,61 gegen verfahrensabschließende Urteile lediglich die Rechtsmittel der Berufung und der Revision. Die unbeschränkt eingelegte Berufung führt dabei, je nach Ausgestaltung des Berufungsverfahrens, zu einer vollständigen Wiederholung62 des erstinstanzlichen Verfahrens oder zu einer Nachprüfung63 des erstinstanzlichen Urteils durch das Berufungsgericht. Die Revision stellt dagegen in allen Verfahrensordnungen ein auf die Rechtsfragen beschränktes Rechtsmittel dar, das jedoch – anders als im Strafverfahren – in aller Regel nur statthaft ist, wenn es durch den iudex a quo oder den iudex ad quem zugelassen wurde.64 Bemerkenswert ist dabei, dass in nahezu allen Verfahrensordnungen gegen erstinstanzliche Urteile eine Berufung zulässig ist.65 Die Revision stellt in diesen Fällen lediglich das zweite Rechtsmittel dar oder ist allenfalls anstelle bzw. statt der Berufung einzulegen.66 Ausnahmen von diesem Grundsatz bilden einzelne Verfahren, in denen die Berufung ausgeschlossen ist oder überhaupt keine Rechtsmittel vorgesehen sind. So können etwa erstinstanzliche Urteile der obersten Gerichtshöfe 59
BGBl. II 1994/9, 311. Vgl. Schäfer, Die Individualbeschwerde nach dem Fakultativprotokoll zum Zivilpakt, S. 90 f. 61 § 79 OWiG. 62 So im verwaltungs- und sozialgerichtlichen Verfahren (§ 128 VwGO, § 157 SGG). 63 Lediglich eine Nachprüfung des vorinstanzlichen Urteils findet etwa i. R. d. Berufung im zivil- und arbeitsgerichtlichen Verfahren statt, vgl. §§ 513, 529 ZPO, § 64 Abs. 6 ArbGG. 64 Vgl. etwa § 543 Abs. 1 ZPO, § 132 Abs. 2 VwGO, § 115 Abs. 2 FGO, § 160 Abs. 2 SGG. 65 Vgl. schon S. 23 Fn. 3. 66 Die Revision kann entweder als Sprungrevision anstelle der Berufung (vgl. etwa § 335 StPO, § 566 ZPO, § 134 VwGO, § 76 ArbGG, § 161 SGG) oder als echtes Wahlrechtsmittel statt der Berufung (nur im Jugendstrafrecht, vgl. § 55 Abs. 2 JGG) eingelegt werden – in beiden Fällen verzichtet der Beschwerdeführer jedoch freiwillig auf die Berufung und den damit verbundenen umfassenden Rechtsschutz. 60
A. Das System der strafrechtlichen Rechtsbehelfe
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des Bundes generell nicht mit Rechtsmitteln angefochten werden.67 Auch gegen Urteile der Verwaltungsgerichte, die eine Klage nach dem Asylgesetz als offensichtlich unzulässig oder offensichtlich unbegründet abweisen, sind keine Rechtsmittel vorgesehen.68 Besondere Regeln gelten oftmals auch für erstinstanzliche Urteile der oberen Landesgerichte.69 In diversen verwaltungsgerichtlichen Sachen hat der Gesetzgeber zudem die Berufung ausgeschlossen, wenn es ihm auf eine rasche Erledigung des Rechtsstreits ankam.70 Anders als in den Strafsachen zeichnen sich diese Ausnahmen jedoch dadurch aus, dass sie in aller Regel nur besondere Verfahren und damit thematisch beschränkte Gebiete der Verwaltungsgerichtsbarkeit betreffen, in der eine Berufung sonst stets zulässig ist. Lediglich die Finanzgerichtsbarkeit kommt als einzige deutsche Fachgerichtsbarkeit völlig ohne Berufung aus. Die Entscheidung, in den Finanzsachen keine Berufungsinstanz vorzusehen, war dabei von Anfang an umstritten. So wiesen bereits 1965 sowohl der Rechts- als auch der Finanzausschuss des Bundestages im Rahmen des Gesetzgebungsverfahrens zur Finanzgerichtsordnung darauf hin, dass auch in finanzgerichtlichen Sachen die Feststellung der Tatsachen nicht selten erhebliche Schwierigkeiten bereiten würde, weshalb auch hier eine Berufungsinstanz wünschenswert sei.71 Doch ungeachtet dessen setzten sich die Länder im Bundesrat mit ihrer Auffassung durch, dass eine Berufungsinstanz die Verfahren in den Finanzsachen unnötig verlängern würde und gegenüber dem zweistufigen Gerichtsaufbau keine Vorteile brächte.72 Die wahren Motive für diese Auffassung dürften in fiska-
67 § 112a Abs. 3 BRAO, § 111 Abs. 3 BNotO, § 62 Abs. 1 DRiG, § 94a Abs. 3 PAO, § 5 Abs. 7 RettungsG enthalten erst- und letztinstanzliche Kompetenzen des Bundesgerichtshofs. Erst- und letztinstanzliche Kompetenzen des Bundesverwaltungsgerichts finden sich hingegen etwa in § 50 Abs. 1 VwGO, § 86 Nr. 14 BPersVG, § 13 Abs. 2 PatG, § 16 Satz 1 FMStFG, § 17 Abs. 4 Satz 5 StandAG oder § 5 Abs. 1 VerkPBG. Solche des Bundessozialgerichts wiederum enthalten § 39 Abs. 2 SGG, § 88 Abs. 7 Satz 2 Nr. 2 SVG und § 160 Abs. 6 Satz 5 SGB III. Auch § 158 Nr. 5 SGB IX begründet erst- und letztinstanzliche Zuständigkeiten des Bundessozialgerichts bzw. des Bundesarbeitsgerichts. 68 § 78 Abs. 1 Satz 1 AsylG. 69 Vgl. etwa §§ 120, 120b, 135 Abs. 1 GVG, §§ 47, 132 Abs. 2 VwGO oder §§ 29 Abs. 2 bis 4 SGG. 70 Vgl. § 27 Abs. 1 Satz 2 BerRehaG, § 20 Abs. 2 Satz 1 ESG, § 23 Abs. 2 Satz 1 InVorG, § 10 Abs. 2 Satz 1 KDVG, § 339 Abs. 1 Satz 1 LAG, § 58 SaatG, § 84 Satz 1 SG, § 137 Abs. 3 Satz 1 TKG, § 22 Abs. 1 Satz 1 VerkSiG, § 37 Abs. 2 Satz 1 VermG, § 16 Abs. 1 Satz 2 VwRehaG, § 6 Abs. 1 Satz 2 VZOG, § 34 Satz 1 WPflG, § 12 Satz 1 WiSiG oder § 75 Satz 1 ZDG. 71 Vgl. S. 2 f. des Berichts des Rechtsausschusses, der als „zu Drucksache IV/3523“ veröffentlicht wurde. Für den ursprünglichen Regierungsentwurf vgl. BT-Drs. 4/1446. Dieser hatte die Notwendigkeit einer Berufungsinstanz damit abgelehnt, dass das Finanzverwaltungsverfahren ein gründlicheres als das allgemeine sei und bereits genug Instrumente zur Feststellung einer unstreitigen Tatsachenlage vorsehe, BT-Drs. 4/1446, S. 36 f. 72 Vgl. BT-Drs. 4/3739, S. 2, BT-Drs. 4/3755.
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1. Kap.: Die Revision in Strafsachen
lischen Erwägungen der Länder zu erblicken sein, die Kosten für eine weitere Tatsacheninstanz in Form von Oberfinanzgerichten73 einzusparen.74 Ebenso ist gegen erstinstanzliche Urteile der Amts- und Oberlandesgerichte in Ordnungswidrigkeitensachen eine Berufung nicht vorgesehen. Erklären lässt sich diese Einschränkung jedoch mit einem Blick auf den eigentlichen Zweck des Ordnungswidrigkeitenverfahrens. Anders als das Strafverfahren dient es nämlich der Ahndung von kleineren Gesetzesverletzungen, bei denen eine ahndende staatliche Reaktion zwar noch als notwendig, eine (Kriminal-)Strafe und das damit verbundene sozialethische Unwerturteil jedoch als nicht erforderlich angesehen werden.75 Deshalb erfolgt die Ahndung der Ordnungswidrigkeiten vorrangig durch Verwaltungsbehörden;76 Gerichte werden lediglich dann mit Ordnungswidrigkeitensachen befasst, wenn der Betroffene gegen die sanktionierende Entscheidung der Verwaltungsbehörde, die in aller Regel in der Festsetzung einer Geldbuße besteht, vorgeht.77 Über diesen Einspruch des Betroffenen entscheidet dann in aller Regel ein Einzelrichter am Amtsgericht.78 Lediglich für bestimmte Sachgebiete sieht das Gesetz die Entscheidung über den Einspruch durch einen besonderen Senat der Oberlandesgerichte vor.79 Die Entscheidung kann hierbei grundsätzlich ohne eine mündliche Verhandlung durch Beschluss oder nach durchgeführter Hauptverhandlung durch Urteil ergehen.80 Ungeachtet dessen, ob die Entscheidung durch Urteil oder Be73 Ungeachtet der Tatsache, dass heute keine Oberfinanzgerichte existieren, stellen die Finanzgerichte, obwohl sie ausschließlich als Gerichte erster Instanz fungieren, obere Landesgerichte dar, § 2 FGO. Sie befinden sich damit gerichtshierarchisch auf derselben Ebene wie die Oberlandesgerichte, Oberverwaltungsgerichte, Landesarbeitsgerichte oder Landessozialgerichte, auch wenn die letzteren vorwiegend Rechtsmittelaufgaben wahrnehmen. Dabei ist die Stellung eines Landesgerichts als oberes Landesgericht grundsätzlich an ihrer Senatsverfassung zu erkennen, während die unteren Landesgerichte zumeist in Kammern verfasst sind. Eine kuriose Ausnahme bilden hier lediglich die Landesarbeitsgerichte, die eine Kammerverfassung aufweisen, obwohl sie aufgrund ihres Aufgabenspektrums und der besoldungsrechtlichen Eingruppierung ihrer Richter (Vorsitzende in Besoldungsgruppe R 3, Beisitzer in Besoldungsgruppe R 2) eindeutig als obere Landesgerichte zu identifizieren sind. 74 So auch Stelkens/Panzer, in: Schoch/Schneider/Bier, VwGO, § 2 Rn. 1. Es überrascht zunächst, dass ausgerechnet die Länder sich gegen die von dem Rechtsausschuss vorgeschlagene Errichtung von Oberfinanzgerichten wehrten (BT-Drs. 4/3523, S. 2). Schließlich verzichteten sie damit auf eine eigene, landesgerichtliche Rechtsmittelinstanz und nahmen so einen Verlust eigener Befugnisse in Kauf. Dennoch war es der Bundesrat, der den Vermittlungsausschuss anrief (BT-Drs. 4/3739), der sich gegen die Errichtung einer Berufungsinstanz in Finanzsachen aussprach, BT-Drs. 4/3755. 75 Ausführlich zur Abgrenzung von Straftaten und Ordnungswidrigkeiten, Mitsch, KKOWiG, Einleitung, Rn. 50 ff. 76 § 35 Abs. 2 OWiG. 77 § 67 Abs. 1 OWiG. 78 § 68 Abs. 1 OWiG. 79 So etwa bei Ordnungswidrigkeitenverfahren nach dem EnWG, GWB und WpÜG; hier entscheiden die Senate der Oberlandesgerichte in einer Besetzung von drei Richtern über den Einspruch, § 98 EnWG, § 83 GWB, § 62 WpÜG. 80 § 72 Abs. 1 OWiG bzw. § 260 Abs. 1 StPO i. V. m. § 46 Abs. 1 OWiG.
A. Das System der strafrechtlichen Rechtsbehelfe
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schluss ergangen ist, kann sie mit der Rechtsbeschwerde81 zu den Oberlandesgerichten bzw. zum Bundesgerichtshof angefochten werden.82 Damit ist es in Ordnungswidrigkeitenverfahren ausnahmsweise möglich, auch verfahrensabschließende Urteile mit einer Beschwerde anzufechten.83 Das Fehlen einer Berufung in den Ordnungswidrigkeitensachen dürfte dabei vor allem auf die faktische Ausgestaltung des Ordnungswidrigkeitenverfahrens als ein „Verwaltungsstrafverfahren“ zurückzuführen sein. Damit stellt die behördliche Entscheidung eine „quasi-erstinstanzliche Entscheidung“ in der Sache dar, sodass schon das Einspruchsverfahren im Grunde dem Berufungsverfahren entspricht. Eine Berufung gegen die gerichtliche Einspruchsentscheidung stellte sich demnach als eine dritte Tatsacheninstanz dar, die verzichtbar ist. Schließlich wollte der Gesetzgeber, trotz der Einführung des Ordnungswidrigkeitenverfahrens, bei einfachen Gesetzesübertretungen weiterhin an einem verfahrensökonomischen und zügigen Verfahren festhalten, wie es auch zuvor aufgrund sog. polizeilicher Strafverfügungen84 möglich gewesen war.85 Hätte der Gesetzgeber auch in den Ordnungswidrigkeitensachen eine Berufung gegen die Einspruchsentscheidung zugelassen, wäre das Ordnungswidrigkeitenverfahren im Wesentlichen dem Strafbefehlsverfahren gleichgestellt worden, sodass gerade die verfahrensökonomischen Vorteile des Ordnungswidrigkeitenverfahrens zunichte gemacht worden wären. Für die fehlende Berufung in land- und oberlandesgerichtlichen Strafsachen jedoch lassen sich ähnlich einfache Erklärungen nicht finden, sodass der generelle Ausschluss der Berufung in jenen Strafsachen eine erklärungsbedürftige Ausnahme im deutschen Gerichtsverfahren darstellt. Gerade auch, weil die Strafprozessordnung die Berufung ausgerechnet in den schweren Strafsachen ausschließt, stellt dieser Ausschluss eine ungewöhnliche und durchaus kuriose Beschränkung des Rechtsschutzes dar. 81 Bei der Rechtsbeschwerde wiederum handelt es sich um einen Rechtsbehelf, der ähnlich wie die Revision auf Rechtsfragen beschränkt ist, § 337 StPO i. V. m. § 79 Abs. 3 Satz 1 OWiG. 82 § 79 OWiG; lediglich in den Verfahren nach § 98 EnWG und § 83 GWB entscheidet der Kartellsenat des Bundesgerichtshofs über die Rechtsbeschwerde, §§ 99, 107 Abs. 1 Nr. 2 EnWG; §§ 84, 94 Abs. 1 Nr. 2 GWB. Im Verfahren nach § 62 WpÜG entscheidet ebenfalls ein Senat des Bundesgerichtshofs. 83 Bei der (Rechts-)Beschwerde handelt es sich im Übrigen um einen Rechtsbehelf gegen Beschlüsse oder das Verfahren nicht abschließende Urteile (vgl. §§ 135 Abs. 3, 387 Abs. 3 ZPO) eines Gerichts. Die gesetzgeberische Entscheidung, in Ordnungswidrigkeitensachen auch gegen verfahrensabschließende Urteile die Beschwerde zuzulassen, ist aller Voraussicht nach auf sein Bestreben zurückzuführen, im gerichtlichen Ordnungswidrigkeitenverfahren einen einheitlichen Rechtsbehelf zu schaffen, der nicht dazwischen unterscheidet, ob das Gericht durch Beschluss oder durch Urteil entschieden hat. Alternativ hätte er wohl, einzig um der Terminologie willen, zusätzliche Vorschriften über eine Revision gegen die Urteile der Amtsgerichte in Ordnungswidrigkeitensachen in das OWiG aufnehmen müssen. 84 Vgl. §§ 453 ff. RStPO. 85 Vgl. zur Entwicklung des Ordnungswidrigkeitenrechts, Mitsch, KK-OWiG, Einleitung, Rn. 4 ff.
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1. Kap.: Die Revision in Strafsachen
B. Die Ausgestaltung der Revision in Strafsachen I. Verletzung des Gesetzes als Anknüpfungspunkt der Revision Wie bereits erwähnt, handelt es sich bei der Revision um ein sachlich beschränktes Rechtsmittel, mit dem lediglich die Gesetzesverletzung in der Vorinstanz gerügt werden kann.86 Nach diesem gesetzlichen Leitbild sind die vorinstanzlichen Sachverhaltsfeststellungen und die tatrichterliche Beweiswürdigung von der Revision ausgenommen.87 Demnach soll es dem Revisionsgericht auch nicht gestattet sein, die tatrichterliche Beweisaufnahme zu wiederholen oder zu ergänzen – es gilt insofern ein Verbot der Rekonstruktion der Beweisaufnahme.88 Maßgeblich für die revisionsgerichtliche Prüfung ist demnach allein eine revisionsrelevante Gesetzesverletzung, die nach dem Wortlaut des § 337 StPO vorliegt, „wenn eine Rechtsnorm nicht oder nicht richtig angewendet worden ist“ und das tatgerichtliche Urteil darauf beruht.89 Dabei ist der Begriff „Rechtsnorm“ nicht bloß ein Synonym zu dem Begriff des Gesetzes.90 Darauf deutet nicht nur § 337 Abs. 2 StPO, sondern auch § 7 EGStPO hin, die jeweils bestimmen, dass Gesetze im Sinne der Strafprozessordnung jede Rechtsnorm ist – wären die Begriffe Rechtsnorm und Gesetz gleichbedeutend, wären die Normaussagen von § 337 Abs. 2 StPO und § 7 EGStPO letztendlich tautologischer Natur und ohne jeden Mehrwert. Daraus folgt, dass unter dem Begriff der Rechtsnorm mehr zu begreifen ist als nur die formellen und materiellen Gesetze des Bundes und der Länder. So können auch das Gewohnheitsrecht, die allgemeinen Regeln des Völkerrechts (Art. 25 GG), aber auch zwischenstaatliche Verträge, die innerstaatliches Recht geworden sind, Rechtsnormen sein.91 Selbst ausländische Rechtsnormen können Rechtsnormen im Sinne des § 337 StPO sein, sofern es bei der Beurteilung von Vorfragen nach dem ausländischen Recht auf diese ankommt.92 Urteile höherer Gerichte,93 Verwaltungsakte, polizeiliche Verfügungen, Verwaltungsvorschriften (wie etwa die RiStBV) oder Verwaltungsanordnungen stellen allerdings keine Rechtsnormen dar.94
86
§ 337 Abs. 1 StPO; Kühne, Strafprozessrecht, Rn. 1071. Ähnl. Kühne, Strafprozessrecht, Rn. 1071. 88 Beulke, Strafprozessrecht, Rn. 563 89 § 337 Abs. 1 StPO. 90 Ähnl. etwa auch Kindhäuser, Strafprozessrecht, § 31 Rn. 13. 91 Beulke, Strafprozessrecht, Rn. 563. 92 Ausländische Rechtsnormen können etwa im Rahmen von § 7 StGB relevant werden, wenn zu klären ist, ob die Tat am Tatort mit Strafe bedroht ist oder der Tatort keiner Strafgewalt unterliegt. Ausführlich zu der gesamten Fragestellung Schuster, Das Verhältnis von Strafnormen und Bezugsnormen, S. 348 ff. 93 Lediglich bestimmte Urteile des Bundesverfassungsgerichts erwachsen in Gesetzeskraft, vgl. § 31 Abs. 2 BVerfGG. 94 Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, § 337 Rn. 3; Kühne, Strafprozessrecht, Rn. 1071. 87
B. Die Ausgestaltung der Revision in Strafsachen
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Bekanntermaßen überprüft das Revisionsgericht dabei schon von Amts wegen, ob Verfahrenshindernisse vorliegen, die eine Einstellung des Verfahrens rechtfertigen. Sofern eine Sachrüge erhoben ist, wird das tatrichterliche Urteil darüber hinaus auf sachlich-rechtliche Mängel und, soweit eine Verfahrensrüge erhoben und hinreichend begründet ist, auf verfahrensrechtliche Mängel untersucht. Anzumerken bleibt jedoch, dass die praktische Bedeutung der Verfahrensrüge in den letzten Jahrzehnten aufgrund der immer höheren formalen Voraussetzungen, welche die Revisionsgerichte an diese stellen, deutlich geschrumpft ist.95 Die „Erfolgschancen“ einer Verfahrensrüge liegen tatsächlich unter einem Prozent.96 Zugleich haben die Revisionsgerichte jedoch die Sachrüge weit über ihren eigentlichen Anwendungsbereich hinaus erweitert. Wie bereits im Rahmen der Einleitung angedeutet, beschränken sich Revisionsgerichte bei einer Sachrüge nämlich nicht mehr darauf, lediglich nachzuprüfen, ob dem Urteil eine Verletzung materiell-rechtlicher Vorschriften zugrunde liegt. Vielmehr prüfen sie in diesem Zusammenhang auch, ob die tatrichterliche Darstellung der Urteilsgründe eine vollumfassende und den Urteilsspruch tragende Darstellung der Beweiswürdigung enthält.97 Auf diese sog. Darstellungskontrolle bzw. Darstellungsrüge wird vor allem im Rahmen des dritten Kapitels der vorliegenden Schrift näher einzugehen sein.98 Jedenfalls hat es aufgrund dieser Entwicklungen den Eindruck, dass Revisionsgerichte kaum noch bereit sind, Urteile wegen „bloßer“ Verfahrensmängel aufzuheben, wenn sie diese in der Sache als richtig empfinden.99
II. Formen revisionsgerichtlicher Entscheidungen Die gerichtliche Entscheidung im Revisionsverfahren ergeht entweder gem. § 349 Abs. 5 StPO nach Durchführung einer Hauptverhandlung durch Urteil oder gem. § 349 Abs. 1, 2 oder 4 StPO ohne die Durchführung einer Hauptverhandlung durch Beschluss.100 Obwohl das Gesetz der Entscheidung im Wege des Urteils grund95 Vgl. zu dem Bedeutungsverlust der Verfahrensrüge in der Revisionsrechtsprechung des Bundesgerichtshofs Fezer, in: FS Frisch, S. 1314 f., 1319 f.; Fezer, in: FS Hanack, S. 331, 334; Rieß, in: FS Hanack, S. 408 ff.; Barton, StV 2004, 332, 339. 96 Fezer, in: FS Hanack, S. 350 m. w. N. 97 Hierbei überprüft das Revisionsgericht, ob die tatrichterlichen Sachverhaltsfeststellungen widersprüchlich, unklar oder lückenhaft sind, ob das tatgerichtliche Urteil auf einem Verstoß gegen Denkgesetze und gesicherte Erfahrungssätze beruht, ob die tatrichterlichen Feststellungen auf einem Zirkelschluss beruhen sowie ob die Gesamtwürdigung des Sachverhalts durch den Tatrichter überzeugend ist, vgl. Beulke, Strafprozessrecht, Rn. 567 mit ausführlichen Nachweisen aus der Rechtsprechung. 98 Vgl. S. 240 ff. 99 So etwa auch Fezer, in: FS Frisch, S. 1319 f. 100 Zu den Tücken der nachfolgend aufgeworfenen Zahlen und ausführlicher zu der zahlenmäßigen Verteilung der Erledigungsformen am Bundesgerichtshof für das Jahr 2005, Barton, in: FS Kühne, S. 139 ff.
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1. Kap.: Die Revision in Strafsachen
sätzlich Vorrang einräumt, entschieden die Strafsenate des Bundesgerichtshofs im Jahr 2017 lediglich in ca. 6,05 % (194 von 3.204) der an sie herangetragenen Revisionen durch Urteil.101 In ca. 89,67 % der Fälle (2.873) erfolgte die Entscheidung durch Beschluss und in ca. 4,31 % der Sachen (138) auf sonstige Weise.102 Die Zahlen an den Oberlandesgerichten sind vergleichbar. Von den 5.844 Revisionen, die 2016 an den 24 Oberlandesgerichten in der Bundesrepublik verhandelt wurden, wurden die Verfahren in lediglich ca. 3,4 % der Fälle (201) durch Urteil abgeschlossen.103 In ca. 89,8 % der Fälle (5.248) erging die Entscheidung auch an den Oberlandesgerichten im Beschlusswege.104 Die nachfolgende Darstellung der einzelnen Entscheidungsinstrumente, die den Revisionsgerichten zur Verfügung stehen, und ihre statistische Verteilung in der Rechtspraxis verschafft insoweit einen etwas detaillierteren Überblick über das Schicksal der Revision in Strafsachen. 1. Verwerfung durch Beschluss wegen Unzulässigkeit Sofern der iudex a quo eine Revision für zulässig erachtet und sie an das Revisionsgericht weiterleitet, ist es an diesem, als iudex ad quem erneut zu prüfen, ob die Vorschriften über die Einlegung der Revision und die Anbringung der Revisionsanträge eingehalten wurden. Ist dies nicht der Fall, hat das Revisionsgericht die Revision gem. § 349 Abs. 1 StPO durch Beschluss als unzulässig zu verwerfen.105 Als Vorschriften über die Einlegung der Revision werden dabei diejenigen Vorschriften bezeichnet, die sich mit der Einlegung des Rechtsmittels selbst befassen; so etwa die Vorschriften über die Form und Frist der Einlegung der Revision, über die Rechtsmittelbefugnis, über die Beschwer oder über den Rechtsmittelverzicht.106 Dagegen werden Vorschriften, welche die Revisionsanträge – also die Erklärung inwieweit das vorinstanzliche Urteil angegriffen wird – und ihre Begründung betreffen, als Vorschriften über die Anbringung der Revisionsanträge bezeichnet. Hierzu zählen etwa die Bestimmungen über die Frist und Form von Revisionsanträgen einschließlich der Bestimmungen über die Begründung der Revisionsanträge. Diese gelten dann als nicht beachtet, wenn die Rüge vermeintlicher Widersprüche oder Denkfehler in den Urteilsgründen auf einer fehlerhaften Wiedergabe der Urteilsgründe beruht oder die Beweiswürdigung lediglich in tatsächlicher, nicht aber in rechtlicher Hinsicht beanstandet wird.107 101 Bundesgerichtshof, Jahresstatistik Strafsenate 2017, Online-Quelle, S. 3 ff. (Hauptübersicht, Sp. 27). 102 Bundesgerichtshof, Jahresstatistik Strafsenate 2017, Online-Quelle, S. 3 ff. (Hauptübersicht, Sp. 28 bis 33). 103 Statistisches Bundesamt, Fachserie 10, Reihe 2.3 (2016), Online-Quelle, S. 126. 104 Statistisches Bundesamt, Fachserie 10, Reihe 2.3 (2016), Online-Quelle, S. 126. 105 § 349 Abs. 1 StPO. 106 Franke, in: Löwe/Rosenberg, § 349 Rn. 2. 107 Franke, in: Löwe/Rosenberg, § 349 Rn. 3.
B. Die Ausgestaltung der Revision in Strafsachen
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Im Jahr 2017 wurden beim Bundesgerichtshof etwa 0,72 % der Verfahren (23 von 3.204) gem. § 349 Abs. 1 StPO verworfen.108 An den Oberlandesgerichten wurden 2016 sogar ca. 2,24 % (134) der Revisionsentscheidungen in Bezug auf 5.975 Beschuldigte auf diesem Wege erledigt.109
2. Verwerfung durch Beschluss wegen offensichtlicher Unbegründetheit Auch eine zulässige Revision kann gem. § 349 Abs. 2 StPO durch Beschluss verworfen werden, wenn das Revisionsgericht die Revision einstimmig für offensichtlich unbegründet hält und ein entsprechender, mit Begründung versehener Antrag der Staatsanwaltschaft vorliegt (sog. Beschlussverwerfung bzw. „ou“-Beschluss). Ca. 71,54 % (2.292 von 3.204) der Revisionen im Jahr 2017 verwarf der Bundesgerichtshof auf diesem Wege.110 Bei weiteren 13,89 % (445 von 3.204) der Revisionen machte er von der Möglichkeit Gebrauch, das Urteil zumindest teilweise als offensichtlich unbegründet zu verwerfen und im Übrigen im Wege eines Beschlusses gem. § 349 Abs. 4 StPO aufzuheben.111 Auch die Oberlandesgerichte machten 2016 bei 72,02 % (4.303 von 5.975) der Beschuldigten, die von einer Revision betroffen waren, von dieser Möglichkeit Gebrauch.112 Die Beschlussverwerfung wegen offensichtlicher Unbegründetheit wurde bereits 1922 durch das sog. Lex Lobe113 aus verfahrensökonomischen Gründen in die Strafprozessordnung eingefügt.114 Nach ursprünglicher Auffassung galt die Revision dabei als offensichtlich unbegründet, wenn für jeden Sachkundigen sofort erkennbar war, welche Rechtsfragen vorliegen, wie sie zu beantworten sind und dass die Revisionsrügen das Rechtsmittel nicht zu begründen vermochten.115 Die jüngere 108 Bundesgerichtshof, Jahresstatistik Strafsenate 2017, Online-Quelle, S. 3 ff. (Hauptübersicht, Sp. 31). 109 Statistisches Bundesamt, Fachserie 10, Reihe 2.3 (2016), Online-Quelle, S. 130. An dieser Stelle sei angemerkt, dass die prozentualen Angaben zwischen den Erledigungen am Bundesgerichtshof und den Erledigungen an den Oberlandesgerichten nur bedingt vergleichbar sind. Während die Zahlen am Bundesgerichtshof sich auf die Art der Entscheidungen beziehen, beziehen sich die Zahlen an den Oberlandesgerichten auf die Art der Erledigungen in Bezug auf die einzelnen Beschuldigten, deren Revisionen in einzelnen Fällen auch gemeinsam verhandelt worden sein können. Dennoch zeigen sie eine gewisse Tendenz, die hier wiedergegeben werden soll. 110 Bundesgerichtshof, Jahresstatistik Strafsenate 2017, Online-Quelle, S. 3 ff. (Hauptübersicht, Sp. 30). 111 Bundesgerichtshof, Jahresstatistik Strafsenate 2017, Online-Quelle, S. 3 ff. (Hauptübersicht, Sp. 29). 112 Statistisches Bundesamt, Fachserie 10, Reihe 2.3 (2016), Online-Quelle, S. 130. 113 Gesetz zur weiteren Entlastung der Gerichte vom 8. Juli 1922, RGBl. I 1922, 569. 114 Kühne, Strafprozessrecht, Rn. 1088; Barton, in: FS Kühne, S. 139. 115 BVerfG NStZ 2002 487, 489; BGHSt 38, 184; Franke, in: Löwe/Rosenberg, § 349 Rn. 8 m. w. N.; Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, § 349 Rn. 10.
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1. Kap.: Die Revision in Strafsachen
Rechtsprechung scheint sich jedoch vollständig von dem Merkmal der Offensichtlichkeit verabschiedet zu haben. So kommt eine Beschlussverwerfung nunmehr bereits dann in Betracht, wenn (a) das Revisionsgericht einstimmig der Auffassung ist, die von der Revision aufgeworfenen Rechtsfragen zweifelsfrei beantworten zu können, und (b) es von einer Revisionshauptverhandlung keine neuen Erkenntnisse erwartet, die dieses Ergebnis in Zweifel ziehen könnten.116 Als offensichtlich gilt demnach also nicht mehr das, was sich dem Sachkundigen nach kurzer, summarischer Prüfung aufdrängt, sondern das, was sich als das einstimmige Ergebnis der Beratungen des Senats darstellt; dies selbst dann, wenn der Senat erst nach einer sehr zeitaufwendigen und intensiven Prüfung zu seinem einstimmigen Ergebnis gelangt ist.117 So spricht der Bundesgerichtshof in seinen Beschlüssen schon seit 1966 auch nicht mehr stets von offensichtlich unbegründet, sondern belässt es bei Beschlüssen nach § 349 Abs. 2 StPO oftmals bei dem Hinweis, dass die Revision schlicht unbegründet ist.118 Die Verpflichtung der Staatsanwaltschaft, ihren mit Gründen versehenen Antrag auf Beschlussverwerfung auch dem Revisionsführer mitzuteilen, stellt hierbei sicher, dass Letzterer durch die Beschlussverwerfung nicht überrascht wird.119 Auch kann der Revisionsführer, binnen zwei Wochen nach der Mitteilung des Antrags der Staatsanwaltschaft, eine schriftliche Gegenerklärung bei dem Revisionsgericht einreichen, in der er seine Auffassung zu dem Antrag mitteilt.120 Der gerichtliche Verwerfungsbeschluss selbst enthält jedoch in aller Regel nur dann eine Begründung für die Verwerfung, wenn ihm eine andere Rechtsauffassung zugrunde liegt als die von der Staatsanwaltschaft mitgeteilte. Eine Praxis, die auch von dem Bundesverfassungsgericht für unbedenklich gehalten wird, da dem Angeklagten durch die Revisionsschrift und durch die Möglichkeit, auf den Verwerfungsantrag der Staatsanwaltschaft mit einer Gegenerklärung zu reagieren, hinreichendes rechtliches Gehör gewährt werde.121 Weiter heißt es in der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts, dass bei einem Verwerfungsbeschluss ohne Angabe von Gründen davon auszugehen sein wird, dass das Revisionsgericht sich die Gründe der Staatsanwaltschaft zu eigen gemacht hat. Wo dies nicht der Fall sei, entspreche es bereits der allgemeinen Übung, dass das Revisionsgericht seine abweichende Rechtsauffassung in dem Beschluss mitteilt. Allerdings verkennt das Bundesverfassungsgericht hierbei, dass dem Re116 So Barton, in: FS Kühne, S. 139 mit Verweisen auf BGH NStZ 2001, 334; BGH StV 2003, 3. 117 Ziegler, in: 25 Jahre AG Strafrecht DAV, S. 937. 118 Vgl. schon BGH, Beschluss vom 19. Juli 1966 – 1 StR 298/66, aber auch BGH, Beschluss vom 08. August 1967 – 1 StR 347/67; Beschluss vom 21. Juni 1996 – 3 StR 88/96; Beschluss vom 18. Dezember 1998 – 2 StR 193/98; Beschluss vom 23. November 2000 – 4 StR 234/00; Beschluss vom 05. März 2013 – 5 StR 59/13, ähnl. auch Norouzi, StV 2015, 773, 776. 119 § 349 Abs. 3 StPO; Franke, in: Löwe/Rosenberg, § 349 Rn. 18. 120 § 349 Abs. 3 StPO. 121 BVerfG wistra 2014, 434.
B. Die Ausgestaltung der Revision in Strafsachen
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visionsführer ausgerechnet in dem Fall, in dem ihm erst durch den Verwerfungsbeschluss weitere Gründe für die Verwerfung mitgeteilt werden, kein rechtliches Gehör in Bezug auf diese Gründe gewährt wird. Weitere rechtsstaatliche Bedenken an der Praxis der Beschlussverwerfung rühren von dem Prinzip der Waffengleichheit her, bei dem es sich um eine Ausprägung des Fair-trial-Grundsatzes handelt.122 Da ein Beschluss gem. § 349 Abs. 2 StPO einen Antrag der Revisionsstaatsanwaltschaft voraussetzt, hat sie es in der Hand, einen „ou“-Beschluss bei den eigenen Revisionen zu verhindern, sodass sie letztlich eine mündliche Verhandlung und eine Entscheidung im Urteilswege erzwingen kann. Über vergleichbare Einflussmöglichkeiten auf das Revisionsverfahren verfügt der Angeklagte gerade nicht.123 So überrascht es auch nicht, dass in der gesamten Geschichte des Bundesgerichtshofs nur einen Fall gegeben haben soll, in dem der Generalbundesanwalt bei einer staatsanwaltlichen Revision eine Verwerfung gem. § 349 Abs. 2 StPO beantragt hat.124 Die übliche Revisionspraxis geht vielmehr dahin, dass der Generalbundesanwalt selbst dort darauf verzichtet, einen Verwerfungsantrag zu stellen, wo er die staatsanwaltliche Revision für offensichtlich unbegründet erachtet – diese Verfahrensweise soll auf ständiger Übung und Absprachen des Generalbundesanwaltes mit den Generalstaatsanwälten beruhen, die aus Gründen des Ansehens Wert darauf legen, dass ihre Revisionen nicht als offensichtlich unbegründet verworfen werden.125 Allerdings wird zuweilen berichtet, dass der Generalbundesanwalt bei offensichtlich unbegründeten Revisionen der Staatsanwaltschaft eine Rücknahme des Rechtsmittels anregt, wobei dieser Anregung in aller Regel wohl auch Folge geleistet wird. 3. Aufhebung durch Beschluss bei einstimmig erachteter Begründetheit Gemäß § 349 Abs. 4 StPO kann das Revisionsgericht das vorinstanzliche Urteil auch dann durch Beschluss aufheben, wenn es eine Revision zugunsten des Angeklagten einstimmig für begründet erachtet.126 Obwohl der Wortlaut des § 349 Abs. 4 StPO insofern eine „zugunsten des Angeklagten eingelegte Revision“ voraussetzt, kann eine Aufhebung durch Beschluss ebenso erfolgen, wenn lediglich eine Revision
122
Vgl. ausführlich zur Waffengleichheit im Revisionsverfahren Ziegler, in: 25 Jahre AG Strafrecht DAV, S. 930 ff. 123 Vgl. Ziegler, in: 25 Jahre AG Strafrecht DAV, S. 935. Es ist sogar umstritten, ob § 349 Abs. 2 StPO bei Revisionen der Staatsanwaltschaft überhaupt zur Anwendung gebracht werden darf, wobei die h. M. zutreffend davon ausgeht, vgl. Franke, in: Löwe/Rosenberg, § 349 Rn. 14. 124 Barton, StV 2004, 332, 338; gemeint ist wohl der Beschluss des Bundesgerichtshofs vom 23. Januar 1992 – 1 StR 669/91; darauf deutet jedenfalls BVerfGE 112, 185, 194 hin. 125 So dargelegt in der Stellungnahme des Generalbundesanwalts in BVerfGE 112, 185, 201; vgl. auch Barton, StV 2004, 332, 338. 126 § 349 Abs. 4 StPO.
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1. Kap.: Die Revision in Strafsachen
zuungunsten des Angeklagten eingelegt ist.127 Dies ergibt sich nicht zuletzt aus § 301 StPO, der bestimmt, dass jedes von der Staatsanwaltschaft oder der Nebenklage eingelegte Rechtsmittel die Wirkung hat, dass die angefochtene Entscheidung auch zugunsten des Beschuldigten abgeändert oder aufgehoben werden kann.128 Der Bundesgerichtshof machte 2017 von dieser Möglichkeit in nahezu 3,28 % (105 von 3.204) der bei ihm eingelegten Revisionen Gebrauch; bei weiteren 13,89 % (445 von 3.204) Revisionen hob er das Urteil jedenfalls teilweise durch ein Beschluss gem. § 349 Abs. 4 StPO auf und verwarf den anderen Teil gem. § 349 Abs. 2 StPO als offensichtlich unbegründet.129 Die Oberlandesgerichte wiederum machten 2016 immerhin bei 15,46 % (924 von 5.975) der Beschuldigten von der Möglichkeit des § 349 Abs. 4 StPO Gebrauch.130 4. Entscheidung durch Urteil Sofern das Revisionsgericht das Verfahren nicht im Beschlusswege abschließt, entscheidet es über die Revision nach durchgeführter Hauptverhandlung durch Urteil.131 Obwohl diese Form der Entscheidung nach dem Gesetzeswortlaut den Regelfall darstellt, ergingen im Jahr 2017 lediglich ca. 6,05 % (194 von 3.204) der Revisionsentscheidungen des Bundesgerichtshofs durch Urteil.132 Die Oberlandesgerichte schlossen im Jahr 2016 sogar nur etwa 3,44 % (201 von 5.844) der Revisionsverfahren auf diesem Wege ab.133
III. Folgen der Aufhebung eines Urteils im Revisionsverfahren Da die tatsächlichen Erörterungen des vorinstanzlichen Urteils nach den Vorstellungen des historischen Gesetzgebers vollständig von der Tätigkeit des Revisi-
127 BGH bei Kusch, NStZ 1997, 376, 379; Franke, in: Löwe/Rosenberg, § 349 Rn. 32 m. w. N. 128 Zwar gilt § 301 StPO unmittelbar lediglich für jedes von der Staatsanwaltschaft eingelegte Rechtmittel, doch findet § 301 StPO gem. § 390 Abs. 1 Satz 3 StPO auch auf das Rechtsmittel des Privatklägers sowie gem. § 401 Abs. 3 Satz 1 StPO auf das Rechtsmittel des Nebenklägers Anwendung. A. A. jedoch Momsen, KMR, § 349 Rn. 26 sowie Meyer-Goßner/ Schmitt, StPO, § 349 Rn. 28, jeweils m. w. N. 129 Bundesgerichtshof, Jahresstatistik Strafsenate 2017, Online-Quelle, S. 3 ff. (Hauptübersicht, Sp. 28 und 29). 130 Statistisches Bundesamt, Fachserie 10, Reihe 2.3 (2016), Online-Quelle, S. 130. 131 §§ 349 Abs. 5, 350, 351, 353 StPO. 132 Bundesgerichtshof, Jahresstatistik Strafsenate 2017, Online-Quelle, S. 3 ff. (Hauptübersicht, Sp. 27). 133 Statistisches Bundesamt, Fachserie 10, Reihe 2.3 (2016), Online-Quelle, S. 126.
B. Die Ausgestaltung der Revision in Strafsachen
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onsrichters ausgeschlossen bleiben sollten,134 hat das Revisionsgericht, soweit eine Revision begründet ist, das angefochtene Urteil in aller Regel aufzuheben und zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an die Vorinstanz zurückzuverweisen.135 Sofern das Urteil hierbei nur teilweise aufgehoben wird, etwa weil nur einzelne seiner Teile angefochten waren oder die Revision nur teilweise Erfolg hatte, erwachsen die nicht aufgehobenen Teile des Urteils unmittelbar in Rechtskraft.136 Das Gericht, an das die Sache zurückverwiesen wird, ist bei der erneuten Verhandlung an die rechtliche Beurteilung der Sache, die das Revisionsgericht bei der Aufhebung des vorinstanzlichen Urteils zugrunde gelegt hat, gebunden.137 Doch nicht nur das neue Tatgericht, auch das Revisionsgericht selbst ist an seine eigene Entscheidung gebunden, sodass es im Falle einer erneuten Revisionsverhandlung in derselben Sache grundsätzlich nicht von seiner ursprünglichen Rechtsauffassung abweichen darf.138 Die dem erstinstanzlichen Urteil zugrunde liegenden tatrichterlichen Sachverhaltsfeststellungen werden dabei allerdings nur dann mitaufgehoben, wenn auch sie von der Gesetzesverletzung, wegen der das Urteil aufgehoben wird, betroffen sind.139 Zwar erwachsen die nicht aufgehobenen Feststellungen der Vorinstanz nicht in Rechtskraft, da sie als tatsächliche Feststellungen schon begrifflich keiner Rechtskraft zugänglich sind, dennoch lösen Feststellungen, die von dem Revisionsgericht aufrechterhalten werden, eine innerprozessuale Bindungswirkung aus. Diese hat zur Folge, dass das Gericht, an das die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung verwiesen wird, an die nicht aufgehobenen Feststellungen des ursprünglichen Tatgerichts gebunden ist – eine erneute Beweisaufnahme und Beweiswürdigung in Bezug auf diese Feststellungen ist ihm folglich nicht mehr gestattet.140 Ausnahmsweise sieht das Gesetz auch eine eigene Sachentscheidung durch das Revisionsgericht vor, wenn (a) eine Sachrüge erhoben ist, (b) eine der Voraussetzungen des § 354 Abs. 1 bis 1b StPO vorliegt141 und (c) die Sachverhaltsfeststellungen der Vorinstanz unverändert stehen bleiben können.142 Sofern das Revisionsgericht eine eigene Sachentscheidung trifft, obwohl diese Voraussetzungen nicht vorliegen, wird in aller Regel von einem Eingriff des Revisionsgerichts in die Domäne des Tatrichters und damit einer Verletzung des Anspruchs auf den gesetzlichen Richter gem. Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG auszugehen sein.143 Dabei befasst sich § 354 134
Motive zur StPO, in: Hahn (Hrsg.), Materialien zur StPO, Bd. III/1, S. 258 f. § 353 Abs. 1 StPO; § 354 Abs. 2 StPO. 136 Franke, in: Löwe/Rosenberg, § 344 Rn. 66. 137 § 358 Abs. 1 StPO. 138 Franke, in: Löwe/Rosenberg, § 358 Rn. 15. 139 § 353 Abs. 2 StPO. 140 Vgl. zu der innerprozessualen Bindungswirkung aufrechterhaltener Feststellungen Franke, in: Löwe/Rosenberg, § 353 Rn. 33 f. 141 Vgl. hierzu Franke, in: Löwe/Rosenberg, § 354 Rn. 18 ff. 142 Franke, in: Löwe/Rosenberg, § 354 Rn. 1. 143 Ähnl. Kühne, Strafprozessrecht, Rn. 1095 mit Verweis auf NStZ 2004, 273. 135
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1. Kap.: Die Revision in Strafsachen
Abs. 1 bis 1b StPO im Wesentlichen mit Fällen, in denen sich eine Zurückweisung der Sache an die Vorinstanz als reine Förmelei herausstellen würde.
C. Die Notwendigkeit eines umfassenden Rechtsschutzes in Strafsachen I. Zwecke der Revision Sofern die Frage nach dem Zweck der Revision noch gestellt wird, besteht weitestgehende Einigkeit darüber, dass mit der Revision nicht nur ein einziger Zweck verfolgt werden soll.144 Sie soll vor allem der Rechtsfortbildung, der Wahrung der Rechtseinheit und der Herbeiführung einer gerechten Entscheidung im Einzelfall dienen.145 Lebhaft umstritten ist allerdings die Frage, ob die einzelnen Zwecke der Revision gleichwertig nebeneinander stehen oder der Herbeiführung einer im Einzelfall gerechten Entscheidung eine größere Bedeutung zukommt als den übrigen Revisionszwecken.146 1. Die einheitliche Rechtsfortbildung und Wahrung der Rechtseinheit als eigentlicher Revisionszweck Im Vordringen befindet sich die Auffassung, dass die Revision – insoweit durchaus entsprechend der tatsächlichen Revisionspraxis – vor allem der Einzelfallgerechtigkeit diene.147 Tatsächlich jedoch handelt es sich bei der Revision, wie noch auf den folgenden Seiten ausführlicher darzulegen sein wird, in erster Linie um ein Rechtsmittel zur einheitlichen Rechtsfortbildung und der Wahrung der Rechtseinheit. So führt jede zulässige Revision gegen die erstinstanzlichen Urteile der 115 Landgerichte148 und der zehn Staatsschutz-OLG149 zu einer Überprüfung der 144
Franke, in: Löwe/Rosenberg, vor § 333 Rn. 7 m. w. N. Beulke, Strafprozessrecht, Rn. 559; Franke, in: Löwe/Rosenberg, vor § 333 Rn. 7 m. w. N.; Kühne, Strafprozessrecht, Rn. 1104 f.; Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, Vor § 333 Rn. 4; Schroeder/Verrel, Strafprozessrecht, Rn. 313; Volk/Engländer, Grundkurs StPO, § 36 Rn. 2 ff. 146 Vgl. Franke, in: Löwe/Rosenberg, vor § 333 Rn. 7 m. w. N.; Nack, in: FS Rieß, S. 362; Schroeder/Verrel, Strafprozessrecht, Rn. 313. 147 Franke, in: Löwe/Rosenberg, vor § 333 Rn. 7 m. w. N. 148 Für die Zahlen vgl. BMJV, Gerichte des Bundes und der Länder, Online-Quelle. 149 Zwar gibt es in der Bundesrepublik 24 Oberlandesgerichte, doch nur zehn verfügen über eigene Staatsschutz-Senate: Hanseatisches OLG (zuständig für Hamburg, Bremen, Mecklenburg-Vorpommern und Schleswig-Holstein), Kammergericht (zuständig für Berlin, Brandenburg und Sachsen-Anhalt), OLG Koblenz (zuständig für Rheinland-Pfalz und das Saarland), 145
C. Die Notwendigkeit eines umfassenden Rechtsschutzes in Strafsachen
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ihnen zugrunde liegenden Rechtsanwendung durch den Bundesgerichtshof als einheitlichen obersten Gerichtshof des Bundes für die ordentliche Gerichtsbarkeit. Auch wenn den Urteilen des Bundesgerichtshofs hierbei eine dem angelsächsischen principle of stare decisis150 vergleichbare normative Bindungswirkung fehlt,151 muss ein Tatrichter, der eine gefestigte Rechtsansicht des Bundesgerichtshofs außer Acht lässt, grundsätzlich damit rechnen, dass sein Urteil im Rahmen der Revision aufgehoben wird. Die hierdurch entstehende Disziplinierungswirkung der Revision führt regelmäßig de facto zu einer über den Einzelfall hinausgehenden Selbstbindung der Tatgerichte an die höchstrichterliche Rechtsprechung, sodass den Urteilen des Bundesgerichtshofs eine faktische, gesetzesgleiche Bindungswirkung zukommt.152 Und auch wenn bei den erstinstanzlichen Urteilen eines der 638 Amtsgerichte im Bundesgebiet nicht der Bundesgerichtshof, sondern „bloß“ eines der 24 Oberlandesgerichte für die Revision zuständig ist, stellt auch hier das dem Strafverfahrensrecht eigene Instrument der Divergenzvorlage153 zum Bundesgerichtshof sicher, dass das Bundesrecht einheitlich fortgebildet und ausgelegt wird. Zuweilen wird zwar auch die bereits angesprochene Kontroll- und Disziplinierungswirkung der Revision als ein selbstständiger Revisionszweck begriffen,154 allerdings wird insoweit verkannt, dass die Kontrolle und die Disziplinierung der nachgeordneten Instanzen eine Folge ist, die durch ein jedes Rechtsmittel ausgelöst wird. Daher geht es wohl zu weit, darin einen spezifischen Zweck der Revision zu erblicken. Schließlich deutet schon die gesetzliche Beschränkung der Revision auf bloße Rechtsfragen darauf hin, dass es dem Gesetzgeber nicht darauf ankam, mit der Revision ein effizientes Kontrollinstrument zu schaffen. In einem solchen Fall wäre es nämlich deutlich zweckdienlicher gewesen, die Revision als ein vollumfassendes Rechtsmittel auszugestalten, mit dem auch tatsächliche Mängel zum Verfahrensgegenstand gemacht werden könnten. Die Behauptung, dass die Revision eine Kontrolle und Disziplinierung der Tatgerichte bezwecke, ist demnach genauso richtig oder falsch wie die Behauptung, dass die Revision dem Zweck diene, eine weitere Instanz mit der Sache zu befassen. Unzweifelhaft sind zwar sowohl die Kontrolle und Disziplinierung der Tatgerichte, wie eben auch die Befassung einer weiteren Instanz mit der Sache, logische Folgen der Revision, doch ein Zweck der Revision ist darin richtigerweise wohl nicht zu erkennen. OLG Celle, OLG Dresden, OLG Düsseldorf, OLG Frankfurt, OLG München, OLG Stuttgart und Thüringer OLG. 150 Das principle of stare decisis beschreibt eine – vor allem in common law Staaten bekannte – Praxis, nach der die Entscheidung eines Gerichts gleich- und niederrangige Gerichte bindet. Hierdurch wird nicht nur faktisch, sondern wohl auch juristisch eine zweite Form der materiellen Gesetze geschaffen. 151 Aus Art. 97 Abs. 1 GG, § 25 DRiG, § 1 GVG folgt unzweifelhaft, dass auch die unteren Gerichte unabhängig und nur dem Gesetz unterworfen sind. 152 Kühne, GA 2013, 39, S. 39 f.; 41. 153 Vgl. S. 33 f. 154 So etwa aktuell Knauer, NStZ 2016, 1, 9 ff.
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1. Kap.: Die Revision in Strafsachen
Die Ansicht, dass die Revision in erster Linie der einheitlichen Fortbildung und der Wahrung der Einheit des Rechts dient, findet dagegen in § 132 Abs. 4 GVG eine mittelbare gesetzliche Stütze.155 Dort heißt es nämlich, dass ein erkennender Senat „eine Frage von grundsätzlicher Bedeutung dem Großen Senat[156] zur Entscheidung vorlegen [kann], wenn das nach seiner Auffassung zur Fortbildung des Rechts oder zur Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung erforderlich ist“. Eine solche Vorlage an den Großen Senat kommt vor allem dann in Betracht, wenn ohne die Klärung der Frage von grundsätzlicher Bedeutung davon auszugehen ist, dass sie voraussichtlich auch in Zukunft auftauchen wird und die ergehende Entscheidung deshalb für die Rechtsanwendung von erheblicher präjudizieller Bedeutung ist.157 Daraus folgt, dass in den Fällen, in denen eine Frage von grundsätzlicher Bedeutung nicht vorliegt, der erkennende Senat selbst für die Fortbildung des Rechts und der Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung berufen ist.158 Eine These, die durch die Revisionsvorschriften der Zivilprozessordnung und der Finanzgerichtsordnung gestützt wird, welche eine Revision zu dem jeweiligen Gerichtshof auch zulassen, wenn „die Fortbildung des Rechts oder die Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung eine Entscheidung des Revisionsgerichts erfordert“159. Auch im Übrigen offenbart ein Blick in die sonstigen Gerichtsverfahrensordnungen, dass der Gesetzgeber der Revision nicht vorrangig den Zweck der Einzelfallgerechtigkeit zuordnet.160 So bestimmen nahezu alle anderen Verfahrensordnungen, dass eine Revision nur zuzulassen ist, wenn die Rechtssache grundsätzliche Bedeutung hat oder die Entscheidung durch das Revisionsgericht zur Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung erforderlich ist.161 Dass auch für die strafrechtliche Revision nichts anderes gelten kann, wird durch die Vorschrift des § 121 Abs. 1 Buchst. c) GVG bestätigt, wonach die Revision gegen erstinstanzliche Urteile der Landgerichte durch die Oberlandesgerichte und nicht 155
Hannich, KK-StPO, vor § 333 Rn. 3. Der Große Senat für Strafsachen, der Große Senat für Zivilsachen bzw. die Vereinigten Großen Senate entscheiden, wenn ein Senat des Bundesgerichtshofs von der Entscheidung eines anderen Senats oder eines der vorgenannten „großen Spruchkörper“ abweichen will. Die konkreten Zuständigkeiten dieser „großen Spruchkörper“ können § 132 Abs. 2 bis 4 GVG, ihre Besetzungen § 132 Abs. 5 GVG entnommen werden. 157 Franke, in: Löwe/Rosenberg, GVG § 132 Rn. 34. 158 Vgl. BVerfGE 54, 100, 112; ähnl., wenn auch mit einer anderen Argumentation: Langer, in: FS Meyer-Goßner, S. 516. Vgl. auch Jachmann, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 95 Rn. 13. 159 § 543 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 ZPO; ähnl. auch § 115 Abs. 2 Nr. 2 FGO. 160 Ähnl. Jachmann, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 95 Rn. 15. 161 § 543 Abs. 2 ZPO, § 132 Abs. 2 VwGO, § 115 Abs. 2 FGO, § 72 Abs. 2 ArbGG, § 160 Abs. 2 SGG. Das Ordnungswidrigkeitenrecht enthält für die Rechtsbeschwerde etwas differenzierte Regelungen in den §§ 79, 80 OWiG. So ist die Rechtsbeschwerde gegen alle Entscheidungen, die etwas schwerer wiegen, gem. § 79 Abs. 1 Satz 1 OWiG generell zulässig; in den übrigen Fällen gem. § 80 Abs. 1 OWiG grundsätzlich zulässig, wenn die Nachprüfung des Urteils zur Fortbildung des Rechts oder zur Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung geboten ist – allerdings enthält Absatz 2 des § 80 OWiG Gegenausnahmen zu dieser Vorschrift, die auch in diesen Fällen Bagatellsachen ausscheiden. 156
C. Die Notwendigkeit eines umfassenden Rechtsschutzes in Strafsachen
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durch den Bundesgerichtshof zu verhandeln ist, wenn bloß eine Verletzung des Landesrechts gerügt wird – eine Vorschrift, die völlig überflüssig wäre, wenn es bei der Revision primär um die Herbeiführung einer im Einzelfall gerechten Entscheidung ginge. 2. Richtige Rechtsanwendung im Einzelfall als Revisionszweck a) Die besondere Bedeutung der Einzelfallkomponente bei der Revision in Strafsachen Allerdings sind einheitliche Rechtsfortbildung und Wahrung der Rechtseinheit keinesfalls als Revisionszwecke zu begreifen, die von dem Einzelfall isoliert existieren, da auch die Revision in Strafsachen stets eines einzelfallbezogenen Moments bedarf.162 Diese über die öffentlichen Interessen der einheitlichen Rechtsfortbildung und der Wahrung der Rechtseinheit hinausgehende Komponente kommt etwa darin zum Ausdruck, dass die Revisionsbefugnis nicht nur der Staatsanwaltschaft, sondern auch dem Beschuldigten zusteht – bei einem Rechtsmittel, das ausschließlich öffentlichen Interessen zu dienen bestimmt ist, wäre Letztere überflüssig. Ähnliches gilt für die Einschränkung, dass nicht jede Gesetzesverletzung, sondern nur eine solche, auf der das Urteil auch beruht, eine Revision zu begründen vermag. Auch wären Instrumente wie die rechtskrafthemmende Wirkung der Revision, das Verbot des reformatio in peius und die Möglichkeit der Teilanfechtung unnötig, wenn die Revision ausschließlich öffentlichen Interessen diente. Ebenso wäre kaum zu erklären, warum der Angeklagte gem. § 476 Abs. 1 Satz 1 StPO verpflichtet ist, die Kosten einer erfolglosen Revision zu tragen, sofern sie ausschließlich öffentlichen Zwecken zu Gute kommen soll. Nicht zuletzt weist auch die Ausgestaltung der Revision als ein Rechtsmittel zur Verhandlung einer konkreten Strafsache mit Wirkung inter partes statt zur Beantwortung einer abstrakten Rechtsfrage mit Wirkung inter omnes darauf hin, dass mit der Revision nicht ausschließlich öffentliche Zwecke verfolgt werden. Dem könnte zwar entgegenzuhalten sein, dass die Wahrung öffentlicher Interessen im Revisionsverfahren nicht durch den Angeklagten, sondern durch die Staatsanwaltschaft herbeigeführt werde, die auch im Revisionsverfahren die öffentlichen Interessen vertritt.163 Dieser Einwand würde jedoch verkennen, dass die Staatsanwaltschaft – anders als etwa der Vertreter des öffentlichen Interesses bei den Verwaltungsgerichten164 – nicht dazu berufen ist, öffentliche Interessen im Allge162 Ähnliches folgt auch aus dem Plenarbeschluss des Bundesverfassungsgerichts in BVerfGE 54, 277, 290, auch wenn dieser eine zivilrechtliche Revision zum Gegenstand hatte. Vgl. aber auch BVerfGE 49, 148 (Leitsatz) sowie Temming, Heidelberger Kommentar, vor § 333, S. 5. 163 § 296 Abs. 2 StPO; ähnl. Rieß, in: FS Hanack, S. 400. 164 Vgl. §§ 35 ff. VwGO. Gem. § 1 Abs. 1 der Dienstanweisung für den Vertreter des Bundesinteresses beim Bundesverwaltungsgericht hat der „Vertreter des Bundesinteresses […]
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1. Kap.: Die Revision in Strafsachen
meinen zu vertreten. So hat auch eine staatsanwaltliche Revision, die sich ausschließlich auf die Begründung stützt, dass die Rechtsfortbildung oder die Wahrung der Rechtseinheit einer revisionsgerichtlichen Entscheidung bedürfe, schon de lege lata keine Aussicht auf Erfolg. Denn selbst die staatsanwaltliche Revision setzt voraus, dass das tatrichterliche Urteil auf der Gesetzesverletzung beruht; ein der englischen Reference on a Point of Law165 oder der österreichischen Nichtigkeitsbeschwerde zur Wahrung des Gesetzes166 vergleichbares Verfahren, das ausschließlich der Klärung von Rechtsfragen dient, kennt das deutsche Strafverfahrensrecht gerade nicht. Demnach werden die öffentlichen Zwecke im Rahmen der bundesdeutschen Revision nicht in einem abstrakten „Rechtsüberprüfungsverfahren“, sondern vielmehr in einem konkreten – wenn auch beschränkten – Rechtsin den Verfahren vor dem Bundesverwaltungsgericht das öffentliche Interesse zu wahren und dadurch zur Verwirklichung des Rechts beizutragen [Hervorh. d. Verf.]“. Ausführlich zur Vertretung der öffentlichen Interessen durch den Vertreter des Bundesinteresses beim Bundesverwaltungsgericht, Steinbeiß-Winkelmann, in: Schoch/Schneider/Bier, VwGO, § 35 Rn. 5. Neben dem Bund können zwar auch die Länder Vertreter des öffentlichen Interesses bei den Oberverwaltungsgerichten und den Verwaltungsgerichten einrichten, § 36 VwGO, doch machen von dieser Möglichkeit derzeit nur noch Bayern, Rheinland-Pfalz und Thüringen Gebrauch, Steinbeiß-Winkelmann, in: Schoch/Schneider/Bier, VwGO, § 36 Rn. 1. 165 Bei der Attorney General’s Reference on a Point of Law handelt es sich um ein Rechtsinstrument des englischen Strafverfahrens, das ausschließlich der Rechtsfortbildung dient. Sofern ein Angeklagter durch eine Jury freigesprochen worden ist, erlaubt dieses Instrument dem Attorney General (zur häufig fehlerhaften Übersetzung des Amtes des Attorney General als Generalstaatsanwalt vgl. Andoor, Laien in der Strafrechtsprechung, S. 73 Fn. 362, in Ansätzen auch S. 60 Fn. 188 der vorliegenden Schrift) einen umstrittenen rechtlichen Aspekt des Falles dem Court of Appeal zur Entscheidung vorzulegen, Section 36 (1) Criminal Justice Act 1972 (eine kurze Darstellung der englischen Gerichte und ihrer Zuständigkeiten bereits bei Andoor, Laien in der Strafrechtsprechung, S. 65 ff.). Der Court of Appeal kann die Sache ggf. zudem dem Supreme Court of the United Kingdom (ehemals das Appellate Committee of the House of Lords) zur Entscheidung vorlegen, Section 36 (3) Criminal Justice Act 1972. Die gerichtliche Entscheidung hat dabei keine Auswirkungen auf die konkrete Strafsache, auf deren Grundlage die Vorlage erfolgte, Section 36 (7) Criminal Justice Act 1972. 166 Die Nichtigkeitsbeschwerde zur Wahrung des Gesetzes ist in § 23 öStPO geregelt und gestattet dem Generalprokuratur (vergleichbar mit dem Generalbundesanwalt) von Amts wegen oder im Auftrag des Bundesministers für Justiz gegen Urteile der Strafgerichte, die auf einer Verletzung oder unrichtigen Anwendung des Gesetzes beruhen, sowie gegen jeden gesetzwidrigen Beschluss oder Vorgang eines Strafgerichts auch nach Rechtskraft der Entscheidung sowie dann, wenn die berechtigten Personen in der gesetzlichen Frist von einem Rechtsmittel oder Rechtsbehelf keinen Gebrauch gemacht haben, eine Nichtigkeitsbeschwerde (das österreichische Äquivalent zur Revision) zu erheben. Erachtet der Oberste Gerichtshof die zur Wahrung des Gesetzes erhobene Beschwerde für begründet, so hat er zu erkennen, dass in der fraglichen Strafsache durch den angefochtenen Beschluss oder Vorgang, durch das angewandte Verfahren oder durch das erlassene Urteil das Gesetz verletzt worden ist, § 292 Satz 5 öStPO. Gemäß § 292 Satz 6 öStPO ist dieser Ausspruch ist in der Regel ohne Wirkung auf den Angeklagten. Ist jedoch der Angeklagte durch ein solches nichtiges Urteil zu einer Strafe verurteilt worden, so steht es dem Obersten Gerichtshofe frei, nach seinem Ermessen entweder den Angeklagten freizusprechen oder einen milderen Strafsatz anzuwenden oder nach Umständen eine Erneuerung des gegen diesen gepflogenen Verfahrens anzuordnen, § 292 Satz 7 öStPO.
C. Die Notwendigkeit eines umfassenden Rechtsschutzes in Strafsachen
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schutzverfahren verfolgt, dessen einzelfallbezogene Komponenten die Verwirklichung öffentlicher Zwecke in gewisser Hinsicht beschränken. Dabei sind diese einzelfallbezogenen Komponenten bei der strafrechtlichen Revision sogar stärker ausgeprägt als bei den Revisionen der übrigen Gerichtsbarkeiten. Wie bereits dargelegt, ist die Revision in den übrigen Verfahrensordnungen etwa in aller Regel nur statthaft, wenn sie von dem iudex a quo ausdrücklich zugelassen wurde oder wenn der iudex ad quem sie auf eine Zulassungsbeschwerde hin zulässt.167 Zugelassen wird die Revision dabei nur dann, wenn die Rechtssache grundsätzliche Bedeutung hat oder die Fortbildung des Rechts oder die Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung eine Entscheidung des Revisionsgerichts erfordert.168 Folglich kann eine als Zulassungsrechtsmittel ausgestaltete Revision, anders als im Strafverfahren, nicht auf die bloße Behauptung gestützt werden, dass das Urteil auf einer Verletzung des Gesetzes beruhe. Insoweit deutet schon das Erfordernis der grundsätzlichen Bedeutung der Rechtsfrage auf den geringen Stellenwert der Einzelfallgerechtigkeit im Revisionsrecht jener Verfahrensordnungen hin. Daraus, dass der Strafprozessordnung derartige Einschränkungen nicht zu entnehmen sind, kann also durchaus gefolgert werden, dass der Gesetzgeber der Einzelfallgerechtigkeit im Strafverfahren eine höhere Bedeutung beimessen wollte. b) Richtige Rechtsanwendung im Einzelfall statt Einzelfallgerechtigkeit im Rahmen der strafrechtlichen Revision Doch ungeachtet dessen wurde auch die strafrechtliche Revision nicht eingeführt, um die Herbeiführung einer gerechten Entscheidung im Einzelfall sicherzustellen.169 Schließlich bedingt bereits die normative Beschränkung der Revision auf Rechtsfragen, dass sie die Einzelfallgerechtigkeit nur dort zu gewährleisten in der Lage ist, wo die Verletzung eines Gesetzes im Sinne des § 337 StPO gerügt wird. Dabei ist die Einzelfallgerechtigkeit nicht nur eine Frage der richtigen Gesetzesanwendung, sondern überwiegend auch eine Frage der richtigen Sachverhaltsfeststellung.170 167
Vgl. § 543 ZPO, § 132 VwGO, § 115 FGO, § 160 SGG, § 72 ArbGG. Anders als die ZPO und die FGO (§ 543 Abs. 2 ZPO, § 115 Abs. 2 FGO) sprechen die VwGO und das SGG (§ 132 Abs. 2 VwGO, § 160 Abs. 2 SGG) jedoch nicht von einer Fortbildung des Rechts oder der Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung, sondern von dem Abweichen des tatrichterlichen Urteils von einer Entscheidung des jeweiligen obersten Gerichtshofs des Bundes, des Gemeinsamen Senats der obersten Gerichtshöfe des Bundes oder des Bundesverfassungsgerichts und dem Beruhen der Entscheidung auf dieser Abweichung. Materiell ist dennoch ganz offensichtlich die Rechtsfortbildung und Wahrung der Rechtseinheit gemeint. Das ArbGG (§ 72 Abs. 2 ArbGG) enthält dabei eine Regelung, die sogar die Divergenz in der Rechtsprechung der Landesarbeitsgerichte, einschließlich der Innendivergenz, vermeiden soll. 169 So aber etwa wörtlich oder aus dem Kontext folgend Beulke, Strafprozessrecht, Rn. 559; Kühne, Strafprozessrecht, Rn. 1104; Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, vor § 333 Rn. 4. Die Auffassung des Verfassers bestätigend aber Knauer, NStZ 2016, 1, 7. 170 So, wenn auch in einem anderen Kontext, Peters, in: FS Schäfer, S. 146. 168
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1. Kap.: Die Revision in Strafsachen
Doch ausgerechnet dort, wo tatsächliche Mängel des vorinstanzlichen Verfahrens zu besorgen sind, ist sie nach ihrer gesetzlichen Konzeption nicht in der Lage, diesen abzuhelfen. Damit bleiben die gesetzlich vorgesehenen Möglichkeiten der Revision, im Einzelfall eine gerechte Entscheidung herbeizuführen, fragmentarischer Art.171 Auf die praeter legem erfolgte höchstrichterliche Erweiterung der Revision um eine Darstellungskontrolle, die vor allem die materielle Gerechtigkeit im Blick hat, wird im dritten Kapitel noch ausführlich einzugehen sein. Jedenfalls bei enger Orientierung an dem Wortlaut der Strafprozessordnung muss jedoch festgehalten werden, dass die Revision nicht generell dazu geeignet ist, eine im Einzelfall gerechte Entscheidung herbeizuführen. Ihr einzelfallbezogener Zweck erschöpft sich damit vielmehr in der Sicherstellung der richtigen Rechtsanwendung im Einzelfall, in dem sie Kassation einzelner Urteile sicherstellt, die (materiell) rechtsfehlerhaft ergangen sind.172 Diese Auffassung des Verfassers wird durch den ausdrücklichen Willen des historischen Gesetzgebers gestützt, der das Rechtsmittel der Revision vor allem zu dem Zweck eingeführt wissen wollte, die einheitliche Rechtsanwendung und Rechtsfortbildung in dem noch jungen Deutschen Reich sicherzustellen. So heißt es zur Notwendigkeit einer Revisionsinstanz in der Begründung des Entwurfs der Zivilprozessordnung, welcher dem Entwurf der Strafprozessordnung in Bezug auf das Rechtsmittelrecht als Vorbild gedient hatte173 : „Den Anforderungen, welche die Prozeßparteien an den Staat stellen können, dürfte völlig genügt sein, wenn der Staat den Prozeßparteien die Möglichkeit gewährt, ihren Rechtsstreit in einem wohlgeordneten Verfahren zweimal zu verhandeln und die Entscheidung zweier wohlbesetzter Gerichte zu erwirken […]. Dennoch kann ein Staat, dessen Gebiet ein zu umfangreiches ist, als daß die Einsetzung eines einzigen Oberlandesgerichts [als Berufungsgericht – Anm. d. Verf.] zuläßig wäre, für geboten oder doch für wünschenswerth erachten, im Interesse der freilich nie vollständig zu erreichenden, aber doch thunlichst zu erstrebenden Einheit des Rechts und der Rechtsprechung eine dritte Instanz vor e i n e m 174 obersten Gerichtshofe zu gestatten [Hervorh. d. Verf.]. […] Diese Erwägung war für die Vorschrift des Entwurfs maßgebend, nach welcher gegen die Endurtheile der Oberlandesgerichte das Rechtsmittel der Revision zugelassen ist.“175
Dass dieser Wille des historischen Gesetzgebers keinesfalls auf die zivilrechtliche Revision beschränkt war, ergibt sich aus der Begründung des Entwurfs des Ge171
Ähnl. Roxin/Schünemann, Strafverfahrensrecht, § 55 Rn. 9; Nack, in: FS Rieß, S. 363. So schon Schroeder/Verrel, Strafprozessrecht, Rn. 313. 173 Die Vorbildfunktion der revisionsrechtlichen Vorschriften der Zivilprozessordnung für die der Strafprozessordnung ist vor allem auf S. 250 der Motive zur StPO, in: Hahn (Hrsg.), Materialien zur StPO, Bd. III/1, zu ersehen. 174 Aus dem Kontext der Darstellung folgt, dass mit dem Ausdruck „dritte Instanz vor einem obersten Gerichtshofe“ kein Gericht zwischen dem Berufungsgericht und dem obersten Gerichtshof gemeint ist, sondern vielmehr „ein Verfahren dritter Instanz vor einem obersten Gerichtshofe“. 175 Begründung zur ZPO, in: Hahn (Hrsg.), Materialien zur ZPO, Bd. II/1, S. 141. 172
C. Die Notwendigkeit eines umfassenden Rechtsschutzes in Strafsachen
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richtsverfassungsgesetzes, in der es zu den Aufgaben des noch neu zu errichtenden Reichsgerichts heißt: „Es liegt auf der Hand, daß die Einheit des R e i c h s r e c h t s nicht durch neben einander bestehende höchste Landesgerichte, sondern nur durch ein in höchster Instanz allein rechtssprechendes Reichsgericht aufrecht erhalten werden kann. […] Daß der Entwurf die Revision gegen die Urteile der S c h ö f f e n g e r i c h t e ohne Unterscheidung an das Oberlandesgericht gehen läßt, beruht auf der Nothwendigkeit, eine Ueberbürdung des Reichsgerichts zu verhüten. […] Wollte man das Reichsgericht auch zur Entscheidung über die Revisionen gegen Urtheile der Schöffengerichte für zuständig erklären, […] würden bei demselben so viele Senate gebildet werden müssen, daß sich die Einheit des Rechts praktisch nicht mehr durchführen ließe. [Kursiv-Hervorh. d. Verf.]“176
In der Begründung zu den Vorschriften, die sich mit der Innendivergenz beim Reichsgericht befassen, heißt es sogar deutlicher: „Da die Errichtung eines einzigen höchsten Gerichtshofes wesentlich auf dem Erforderniß beruht, die Einheit der Rechtsprechung zu sichern [Hervorh. d. Verf.], so muß der Gesetzgeber auch zu verhüten suchen, daß in Folge der aus geschäftlichen Rücksichten nothwendigen Bildung mehrerer Senate eines solchen Gerichtshofes Ungleichheiten in der Auffassung von Rechtssätzen entstehen.“177
Doch nicht nur die Verfasser der Entwürfe, sondern auch die im Bundesrat vertretenen Regierungen der Partikularstaaten sahen in der Revision in erster Linie ein Rechtsmittel, das der Herstellung der Rechtseinheit im Reichsgebiet zu dienen bestimmt war. Als die Reichsjustizkommission des Reichstages nämlich während den Beratungen der Justizgesetze vorgeschlagen hatte, in Sachen, die in erster Instanz an den Amtsgerichten verhandelt wurden, keine Revision zuzulassen, widersprach der Vertreter des Reichskanzleramtes Hanauer mit den Worten, dass die verbündeten Regierungen die Revision „[…] nicht fallen lassen [können], da dieselbe nach dem System der Strafprozeßordnung als generelles Rechtsmittel zur Wahrung der Rechtssicherheit und der Rechtseinheit dienen solle [Hervorh. d. Verf.]. […] Die Berufung garantire noch nicht dieselbe Rechtssicherheit, wie die Revision, und es erscheine unannehmbar, die Frage der richtigen Gesetzesanwendung bei dem Landgerichte abschließen zu lassen.“178
Aus der Entstehungsgeschichte der Revision folgt also recht eindeutig, dass sie vor allem dem Zweck gewidmet ist, die Rechtseinheit und die Rechtsfortbildung im Gesamtstaat sicherzustellen.179 Auch die Versuche der Nationalsozialisten, die von ihnen als wenig volkstümlich empfundene Revision um eine Komponente der Einzelfallgerechtigkeit zu ergänzen,180 bestätigen, dass die Einzelfallgerechtigkeit 176 177 178 179 180
Begründung zum GVG, in: Hahn (Hrsg.), Materialien zum GVG, Bd. I/1, S. 40. Begründung zum GVG, in: Hahn (Hrsg.), Materialien zum GVG, Bd. I/1, S. 138. Protokolle der Kommission, in: Hahn (Hrsg.), Materialien zur StPO, Bd. III/2, S. 1205. Ähnl. auch BVerfGE (Plenum) 54, 277, 285. Vgl. hierzu S. 388 ff., aber auch S. 265 ff.
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1. Kap.: Die Revision in Strafsachen
keinen der Revision eigentümlicher Zweck dargestellt haben kann – andernfalls wären gerade diese Reformversuche redundant gewesen. Gleiches folgt auch aus den Erwägungen des Parlamentarischen Rates – so heißt es in dem Bericht des Hauptausschusses des Parlamentarischen Rates während der zweiten Lesung des Grundgesetzes im Plenum wörtlich: „Die Gerichtsbarkeit ist grundsätzlich Ländersache. Nur auf der obersten Stufe werden zur Wahrung der Einheitlichkeit der Rechtsprechung obere Bundesgerichte geschaffen [Hervorh. d. Verf.]“.181 Auch der Verfassungsgesetzgeber ging also noch davon aus, dass die Revision der Rechtsvereinheitlichung dienen sollte. Tatsächlich wurden bis 1975 keine Zweifel daran gehegt, dass die Revision nicht der Herbeiführung einer auch im Einzelfall gerechten Entscheidung diente. So heißt es noch in der Begründung des Diskussionsentwurfs für ein Gesetz über die Rechtsmittel in Strafsachen (DE-Rechtsmittelgesetz) von 1975: „Schon nach dem geltenden Recht ist die Zuständigkeit zur Entscheidung über die Revision zwischen dem Bundesgerichtshof und den Oberlandesgerichten aufgeteilt, da der Bundesgerichtshof als einheitliches und nicht beliebig zu vergrößerndes Zentralgericht für das gesamte Rechtsgebiet nicht in der Lage ist, alle Revisionen zu bewältigen. […] Vorrangige Aufgabe des Bundesgerichtshofes ist es, die Rechtseinheit zu wahren und das Recht fortzubilden [Hervorh. d. Verf.].“182
Verfehlt wäre es deshalb, in der Rechtsvereinheitlichung mit Blick auf die heutige Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs bloß einen Nebenzweck der Revision zu erblicken. Tatsächlich scheint die Auffassung, dass die strafrechtliche Revision in erster Linie der Einzelfallgerechtigkeit diene – so jedenfalls der Eindruck des Verfassers –, vor allem auf einer Forderung des 52. Deutschen Juristentages aus dem Jahre 1978 zu beruhen. Dort war nämlich beschlossen worden, dass die Revision, soweit sie das einzige Rechtsmittel gegen strafgerichtliche Urteile darstellt, sich verstärkt am Revisionszweck der Einzelfallgerechtigkeit orientieren solle.183 Zuvor hatte sich der 52. Deutsche Juristentag bemerkenswerterweise gegen eine gesetzliche Erweiterung des Rechtsschutzes in den nicht berufungsfähigen Strafsachen ausgesprochen. Zusammenfassend gilt insofern festzuhalten, dass die Herstellung der Einzelfallgerechtigkeit – jedenfalls nach dem Wortlaut des Gesetzes – einen bloßen, wenn sicher auch intendierten Nebeneffekt der Revision darstellt, während ihr eigentlicher Zweck in der Rechtsvereinheitlichung liegt. Etwas anderes mag zwar vereinzelt für die faktische Anwendung des Revisionsrechts durch die höchstrichterliche Rechtsprechung gelten, doch wer schon deshalb den gesetzgeberischen Zweck der Revision anders begreifen will, verwechselt den Willen des Gesetzgebers mit der ge181
Der Parlamentarische Rat 1948 – 1949, Bd. IX (Plenum), S. 442. So die Allgemeine Begründung zum Diskussionsentwurf 1975, S. 41. Vgl. aber auch etwa Begründung zu den Entwürfen eines Gesetzes zur Änderung des Gerichtsverfassungsgesetzes und eines Gesetzes über den Rechtsgang in Strafsachen, S. 6, abgedruckt in Materialien zur Strafrechtsreform, Bd. 14. 183 Vgl. Rieß, ZRP 1979, 193, 195 mit weiterführenden Nachweisen. 182
C. Die Notwendigkeit eines umfassenden Rechtsschutzes in Strafsachen
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lebten Revisionspraxis.184 Denn selbst in Anbetracht der Darstellungskontrolle vermag die Revision, die grundsätzlich weiterhin auf Rechtsfragen beschränkt ist, tatsächlich und rechtlich nur die richtige Rechtsanwendung im Einzelfall, nicht aber die Einzelfallgerechtigkeit schlechthin zu gewährleisten. c) Einzelfallgerechtigkeit und Entscheidungen zulasten des Angeklagten Ohnehin darf die abstrakte Diskussion um die Bedeutung der Einzelfallgerechtigkeit im Revisionsverfahren nicht zu der Annahme verleiten, dass damit zugleich auch die Gerechtigkeit im Sinne eines umfassenden Rechtsschutzes für den Angeklagten gemeint wäre. So führen Revisionsgerichte bei relativer Betrachtung deutlich häufiger Entscheidungen zulasten des Angeklagten herbei als zu seinen Gunsten. Nach einer Untersuchung von Barton etwa befassten sich die Senate des Bundesgerichtshofs im Jahr 2005 mit 3.173 Revisionen, wobei insgesamt 305 (ca. 9,61 %) dieser Revisionen erfolgreich waren.185 Dabei handelte es sich bei 3.054 von den insgesamt 3.173 Revisionen (ca. 96,25 %) um anwaltliche Revisionen, während nur 119 (ca. 3,75 %) von ihnen von der Staatsanwaltschaft eingelegt worden waren. Dennoch stammten 21,31 % der erfolgreichen Revisionen (65 von 305) von der Staatsanwaltschaft. Drastischer formuliert: die „Erfolgsquote“ der staatsanwaltlichen Revisionen lag bei 54,62 %186 (65 von 119), während die Erfolgsquote der anwaltlichen Revisionen bei vergleichsweise geringen 7,86 % (240 von 3.054) lag. Daraus folgt, dass in der Revisionsinstanz bei relativer Betrachtung häufiger – auf eine Revision der Staatsanwaltschaft hin – eine Entscheidung zulasten des Angeklagten gefällt wurde, als dass auf eine anwaltliche Revision hin eine Entscheidung zu seinen Gunsten getroffen worden wäre. Sicher könnten diese Zahlen mit der schlichten Behauptung verworfen werden, dass die Mehrzahl der Angeklagten mit der Revision lediglich pauschal die Verletzung des materiellen Rechts rügte, um die Strafvollstreckung aufzuschieben,
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Ausführlich hierzu S. 214 ff. Barton, in: FS Fezer, S. 348 f.; wie vom Bundesgerichtshof am 11. September 2015 mitgeteilt, beruhen die von Barton genutzten Zahlen, auf die im Folgenden Bezug genommen wird, auf einer einmaligen internen Sondererhebung für das Jahr 2005, sodass es nicht möglich ist, für die vorliegende Darstellung aktuellere Zahlen heranzuziehen. Die Pressestelle des Generalbundesanwalts beim Bundesgerichtshof teilte jedoch auf Anfrage mit, dass im Jahr 2014 3.077 Revisionsverfahren (nicht Revisionen!) vor dem Bundesgerichtshof anhängig waren, die insgesamt 4.069 Revisionen umfassten. Dabei stammten 269 (6,61 %) Revisionen von der Staatsanwaltschaft und 3.795 (93,27 %) von Angeklagten oder Beschuldigten im Sicherungsverfahren. Doch auch der Generalbundesanwalt war nicht in der Lage, Auskunft über die erfolgreichen Revisionen im Jahr 2014 zu geben, sodass auch im Folgenden von einer Anfrage abgesehen wurde. 186 Barton selbst scheint an dieser Stelle die Zahlen vertauscht zu haben; er spricht insoweit nämlich von 45,6 Prozent. 185
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1. Kap.: Die Revision in Strafsachen
während die Staatsanwaltschaft nur bei evident fehlerhaften Urteilen von ihrer Revisionskompetenz Gebrauch mache. Allerdings griffe eine solche Beobachtung zum einen insofern zu kurz, als ein nicht unbeachtlicher Teil dieser Angeklagten sich ohnehin in Untersuchungshaft befinden wird, die in aller Regel auch trotz der Einlegung der Revision fortgesetzt würde. Ein echter Vorteil wäre somit in diesen Fällen durch die Revision nicht gewonnen. Zum anderen müsste man bei einer solchen Argumentation zumindest unterstellen dürfen, dass jedenfalls die „ernsthaft“ eingelegten anwaltlichen Revisionen eine ähnliche „Erfolgsquote“ aufweisen müssten wie die staatsanwaltlichen Revisionen. Wie bereits dargelegt, sind jedoch 55 % der staatsanwaltlichen, aber bloß 7,86 % der anwaltlichen Revisionen erfolgreich. Unterstellte man der ernsthaften anwaltlichen Revision nun ebenfalls eine „Erfolgsquote“ von 55 %, folgte daraus rechnerisch, dass überhaupt nur 14,29 % der anwaltlichen Revisionen denselben Qualitätsstandards genügten wie die staatsanwaltlichen Revisionen. Umgekehrt müssten damit also ca. 86 % der anwaltlichen Revisionen offensichtlich unbrauchbar sein. Zwar verwarf der Bundesgerichtshof 2005 nun tatsächlich 87,44 % der bei ihm eingelegten Revisionen entweder gem. § 349 Abs. 2 StPO oder gem. § 349 Abs. 4 i. V. m. Abs. 2 StPO als offensichtlich unbegründet.187 Dennoch bleibt schwer vorstellbar, dass mindestens 8 von 10 anwaltlichen Revisionen unbrauchbar sein sollen. Diese „Zahlenspiele“ erwecken zumindest den Anschein, dass es sich bei der strafrechtlichen Revision vorrangig um ein Rechtsmittel der Staatsanwaltschaft handelt, das – auch wenn die Staatsanwaltschaft sie theoretisch ebenfalls zugunsten des Angeklagten einlegen kann – vor allem zulasten der Angeklagten zur Anwendung kommen dürfte. Dabei ist es keinesfalls zwingend, dass eine Rechtsordnung überhaupt Rechtsmittel zulasten des Angeklagten vorsieht. Schließlich ist es nicht die Aufgabe der Strafgerichtsbarkeit, um jeden Preis sicherzustellen, dass der Angeklagte seiner gerechten Strafe zugeführt wird. Ein derartiges Verständnis von gerichtlicher Tätigkeit würde nämlich auch verkennen, dass die Aufgabe des Strafens gerade auch deshalb Richtern anvertraut ist, damit diese dem Angeklagten einen bestmöglichen (und im Grunde antizipierten) Rechtsschutz angedeihen lassen. So belegt schon ein flüchtiger Blick in das Rechtssystem vieler Common-law-Staaten, dass eine Korrektur von Urteilen, die zugunsten des Angeklagten ergangen sind, keinen allgemeinen Rechtsgrundsatz darstellen muss. In England und Wales etwa können die Urteile der magistrates’ courts (gerichtshierarchisch vergleichbar mit Amtsgerichten) von der Anklage gar nicht und solche des Crown Courts (vergleichbar mit Landgerichten) nur unter äußerst engen Bedingungen188 angefochten werden.189 187
Statistisches Bundesamt, Fachserie 10, Reihe 2.3 (2005), Online-Quelle, S. 150. So kann zum einen gem. Section 36 Criminal Justice Act 1988 die Strafzumessung des Crown Courts angefochten werden, wenn es über die Maßen milde (unduly lenient) ist – dieses Recht steht jedoch ausschließlich dem Attorney General zu, dessen Stellung als non-cabinet minister sich wohl am treffendsten als die eines Staatsministers für Justizfragen übersetzen lässt, (vgl. auch Andoor, Laien in der Strafrechtsprechung, S. 73 Fn. 362). Zum anderen kann 188
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Denn die sog. Rule of Double Jeopardy – die zwar als Doppelbestrafungsverbot übersetzt werden kann, aber wesentlich weiter reicht als das deutsche Ne-bis-inidem-Prinzip – verbietet nach dem englischen Strafverfahrensverständnis jedes neue Verfahren, und damit auch ein Rechtsmittelverfahren, zum Nachteil des Beschuldigten aufgrund desselben Lebenssachverhaltes.190 Dies ist auch nur konsequent, da der Staat, dessen Strafanspruch an einer fehlerhaften gerichtlichen Entscheidung zugunsten des Angeklagten scheitert, keinen Anspruch auf Rechtsschutz hat – die Rechtsmittelbefugnis der Staatsanwaltschaft in der Bundesrepublik Deutschland dient damit letztlich allein der Verwirklichung der materiellen Gerechtigkeit. Ob dies aber eine Aufgabe der Revisionsgerichte darstellen muss, darf nach dem bisher Dargelegten durchaus bezweifelt werden.
II. Das Rechtsschutzbedürfnis in Strafsachen Wenn aber die Revision als beschränktes Rechtsmittel schon nicht in der Lage ist, die Herbeiführung einer gerechten Entscheidung im Einzelfall sicherzustellen, fragt sich, ob sie überhaupt geeignet ist, dem Angeklagten dort einen hinreichenden Rechtsschutz angedeihen zu lassen, wo sie das einzig verfügbare Rechtsmittel gegen eine erstinstanzliche Entscheidung darstellt. Schließlich hat diese Beschränkung der Revision bei erstinstanzlichen Urteilen der Land- und Oberlandesgerichte zur Folge, dass diese nur in rechtlicher Hinsicht nachprüfbar sind, während ihre tatsächlichen Feststellungen von Rechts wegen unanfechtbar bleiben. 1. Das Grundgesetz und der Rechtsschutz gegen den Richter Dabei gehört es zu den Selbstverständlichkeiten eines modernen Rechtsstaates, dass der von einer hoheitlichen Entscheidung betroffene Bürger sich jederzeit an ein die Anklagebehörde verfahrenseinstellende Entscheidungen des Richters am Crown Court – aber nie (!) die der Geschworenen – anfechten, Section 58 Criminal Justice Act 2003. Zudem ist seit 2005 eine Wiederaufnahme des Verfahrens möglich, wenn neue und überzeugende Beweise (new and compelling evidence) für die Schuld des ursprünglich freigesprochenen Angeklagten vorgelegt werden, wobei dieses Instrument auf schwere Verbrechen (serious offences) beschränkt ist, Section 75 Criminal Justice Act 2003. 189 Section 108(1) Magistrates’ Courts Act 1980; Sections 1(1), 9(1), 33(1) Criminal Appeal Act 1968; vgl. auch Alud, Criminal Courts Review, chap. 12 note 47. 190 Ausführlich zum Konzept der double jeopardy im englischen Recht vgl. The Law Commission No. 267 (ed.), Double Jeopardy and Prosecution Appeals. Um auch in diesen Fällen eine einheitliche Rechtsauslegung in dem Staatsgebiet sicherzustellen, sieht das Recht von England und Wales etwa die Attorney General’s Reference on a Point of Law (vgl. hierzu S. 54 Fn. 165) vor; in Kanada dagegen ist es der Anklage ausdrücklich gestattet, auch ein freisprechendes Urteil hinsichtlich der Rechtsfrage (a question of law) anzufechten, Section 675(1)(a) Criminal Code.
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Gericht wenden kann, das unabhängig von fremder Einflussnahme die Rechtmäßigkeit des öffentlichen Handelns prüft, während dessen Tätigkeit ausschließlich durch Gesetze präzisiert und begrenzt wird.191 Allein hierdurch kann eine unabhängige Kontrolle der öffentlichen Gewalt sichergestellt werden, die dem Bürger eine wehrhafte Position verschafft, welche er der öffentlichen Gewaltausübung und der Konzentrierung des Gewaltmonopols beim Staat entgegenhalten kann.192 Ihren positiv- und verfassungsrechtlichen Ausdruck findet diese Selbstverständlichkeit in der Rechtsweggarantie des Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG, in dem es wörtlich heißt: „Wird jemand durch die öffentliche Gewalt in seinen Rechten verletzt, so steht ihm der Rechtsweg offen“. Allerdings gewährt Art. 19 Abs. 4 GG nach der wohl herrschenden Meinung keinen Rechtsschutz gegen richterliche Entscheidungen, weshalb in gerichtlichen Verfahren von Verfassungs wegen kein Instanzenzug vorausgesetzt würde.193 Insofern wäre es auch nicht zu beanstanden, dass in land- und oberlandesgerichtlichen Strafsachen mit der Revision lediglich ein beschränktes Rechtsmittel zur Verfügung steht. Wenn das Grundgesetz gegen richterliche Entscheidungen nämlich überhaupt keinen zwingenden Rechtsweg voraussetzt, gewährt bereits die mit der Revision gegebene Möglichkeit der beschränkten Anfechtbarkeit der land- und oberlandesgerichtlichen Urteile dem Angeklagten einen überobligatorischen Rechtsschutz.194 Begründet wird die Annahme, dass das Grundgesetz keinen Instanzenzug voraussetze, damit, dass die richterliche Gewalt keine „öffentliche Gewalt“ im Sinne des Art. 19 Abs. 4 GG darstelle – die Vorschrift wolle nämlich keinen Rechtsschutz gegen den Richter, sondern ausschließlich einen Rechtsschutz durch den Richter sicherstellen.195 Auch das Bundesverfassungsgericht führte hierzu aus, dass der Verfassungsgesetzgeber mit Art. 19 Abs. 4 GG lediglich das Ziel verfolgt habe, dem Bürger – aufgrund historischer Erfahrungen – einen Schutz vor dem Risiko der Missachtung seiner Rechte durch das Handeln der ihm übergeordneten und gegebenenfalls mit den Mitteln des Zwangs arbeitenden Exekutive zu gewährleisten. Deshalb seien die Handlungen der Legislative und der Judikative generell aus dem Schutzbereich des Art. 19 Abs. 4 GG auszunehmen.196 Überraschend ist insofern 191
Vgl. Schmidt-Aßmann, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 19 Abs. 4 Rn. 1. Ähnl. Schmidt-Aßmann, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 19 Abs. 4 Rn. 1, 16. 193 So auch BVerfGE 118, 212, 239 f.; BVerfG HRRS 2014 Nr. 673 Rn. 16. 194 Ähnl. Foth, DRiZ 1997, 201, 205. 195 So Dürig, wiedergegeben nach Schmidt-Aßmann, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 19 Abs. 4 Rn. 96. Dieser Topos hat zudem allgemeinen Eingang in die Rechtsprechung und Literatur gefunden. BVerfGE 28, 21, 36; 54, 277, 291; 107, 395, 402; Degenhart, in: Isensee et al. (Hrsg.), HStR V, § 114 Rn. 28; Jesse, in: Löwe/Rosenberg, vor § 296 Rn. 10; Hofmann, in: SchmidtBleibtreu, GG, Art. 19 Rn. 45. Vgl. auch die Entscheidung in BVerfGE 118, 212, 239 f., die bestätigt, dass aus Art. 19 Abs. 4 GG auch in Strafsachen kein Anspruch auf einen Instanzenzug und damit auf eine Überprüfung gerichtlicher Tatsachenentscheidungen folgt. 196 BVerfGE 116, 135, 149; widersprechend und m. w. N., Voßkuhle, NJW 2003, 2193, 2196. 192
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freilich, dass das Bundesverfassungsgericht das Justizunrecht im „Dritten Reich“ völlig außen vorlässt. Darüber hinaus argumentieren die Vertreter dieser Ansicht, dass eine solche „Bereichsausnahme“ für die richterliche Gewalt auch deshalb zwingend sei, da andernfalls jede Rechtsmittelentscheidung durch eine weitere Rechtsmittelinstanz überprüft werden müsse – hierdurch würde eine Rechtsmittelkette ad infinitum in Gang gesetzt, die aber der Herstellung des Rechtsfriedens durch eine endgültige, rechtskräftige Entscheidung entgegenstünde.197 In jüngerer Zeit jedoch erfährt diese Auffassung im zunehmenden Maße Kritik.198 So will ein durchaus beachtlicher Anteil der verfassungsrechtlichen Kommentarliteratur auch die richterliche Gewalt in den Schutzbereich des Art. 19 Abs. 4 GG einbeziehen.199 Auch das Bundesverfassungsgericht will die richterlicher Gewalt, jedenfalls dann, wenn der Richter außerhalb seiner spruchrichterlichen Tätigkeit, aufgrund eines ausdrücklich normierten Richtervorbehalts tätig wird, als öffentliche Gewalt im Sinne des Art. 19 Abs. 4 GG begreifen.200 2. Zur zwingenden Notwendigkeit eines Instanzenzuges in Strafsachen von Verfassungs wegen a) Differenzierte Betrachtung der Ausübung der richterlichen Gewalt mit Blick auf Art. 19 Abs. 4 GG Richtigerweise besteht gerade bei Urteilen der Strafgerichte ein zwingender und verfassungsrechtlich verbürgter Anspruch auf ihre (umfassende) Nachprüfung durch zumindest eine höhere Instanz. Die Auffassung, dass Art. 19 Abs. 4 GG lediglich einen Rechtsschutz durch den Richter, nicht aber gegen den Richter gewähre, beruht insoweit auf einem überholten Verständnis von der dritten Gewalt, das von einer ausschließlich rechtsschützenden Funktion der Gerichte ausgeht. Übersehen wird dabei nämlich, dass Gerichte keinesfalls ausschließlich rechtsschützend tätig werden, sondern je nach Verfahren auch bloß rechtsvermittelnd oder gar rechtseinschränkend tätig werden können.201 Insofern bedarf die Entscheidung, ob auch gegen richterliche Entscheidungen ein Rechtsweg zu gewährleisten ist, einer differen197
So etwa heute noch Hofmann, in: Schmidt-Bleibtreu, GG, Art. 19 Rn. 45; Drews, Die Revisibilität fehlerhafter Feststellungen, S. 116. 198 Vgl. etwa Voßkuhle, NJW 1995, 1377 ff. sowie Voßkuhle, NJW 2003, 2193 ff. für das zivilgerichtliche Verfahren – freilich muss das, was für das Zivilverfahren gilt, erst recht für das eingriffsintensivere Strafverfahren gelten. Vgl. hierzu auch Rosenau, in: FS Widmaier, S. 539. 199 So Schmidt-Aßmann, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 19 Abs. 4 Rn. 96 mit zahlreichen Verweisen auf die aktuelle Kommentarliteratur. 200 So BVerfGE (Plenum) 107, 395, 406 mit Verweisen auf BVerfGE 96, 27, 39 ff.; BVerfGE 104, 220, 231 ff. 201 Eine ähnliche Unterscheidung nahm Haas, wenn auch in einem völlig anderen Kontext, schon 1957 vor, wobei er von der Schiedsfunktion, der Kontrollfunktion und der Exekutivfunktion der dritten Gewalt sprach, Haas, DVBl. 1957, 368, 371 f.
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zierten Betrachtung, die zwischen Akten des rechtsschützenden, rechtsvermittelnden und rechtseinschränkenden Richters unterscheidet. aa) Der Verwaltungsrichter als rechtsschützender Richter Verwaltungsgerichte in einem weiteren Sinne, also auch Finanzgerichte und Sozialgerichte, werden in erster Linie rechtsschützend tätig. Sie werden nämlich in den meisten Fällen durch einen Bürger angerufen, der sich durch eine Maßnahme der Verwaltung in seinen Rechten verletzt fühlt und deshalb (gerichtlichen) Rechtsschutz begehrt. Dieser Rechtsschutz wird ihm durch die Durchführung eines ordentlichen Verfahrens vor einem unabhängigen staatlichen Gericht gewährt. In diesem Rahmen wirken gerichtliche Entscheidungen, ungeachtet dessen, ob sie letztendlich zugunsten oder zuungunsten des Bürgers ergehen, rechtsschützend. Gegen diese rechtsschützende Tätigkeit der Gerichte garantiert Art. 19 Abs. 4 GG schon deshalb keinen weiteren Rechtsweg, da ein solcher bereits nach dem Wortlaut der Vorschrift lediglich demjenigen offensteht, der „durch die öffentliche Gewalt in seinen Rechten verletzt“ wurde. Insofern steht es dem Gesetzgeber tatsächlich frei, den Rechtsschutz gegen die Akte des rechtsschützenden Richters frei zu gestalten, sodass etwa auch die fehlende Berufung in Finanzgerichtssachen nach hiesiger Auffassung keinen verfassungsrechtlichen Bedenken begegnet. Etwas anderes gilt lediglich für den Fall, dass das erstinstanzlich angerufene Gericht den Rechtsschutz aus bloß sachfremden Erwägungen verweigert. Der Anspruch auf die gerichtliche Sicherstellung des rechtlichen Gehörs folgt in einem solchen Fall bereits aus dem allgemeinen Justizgewährleistungsanspruch, der seine Grundlagen im Rechtsstaatsprinzip und Art. 103 Abs. 1 GG findet.202 bb) Der Zivilrichter als rechtsvermittelnder Richter Richter an Zivilgerichten, einschließlich den Arbeitsgerichten, werden dagegen grundsätzlich rechtsvermittelnd tätig. So liegt einem zivilgerichtlichen Verfahren in der Regel ein privatrechtlicher Streit zugrunde, bei dem von einer Partei das Bestehen eines Rechtsverhältnisses behauptet wird, aus dem sie bestimmte, in der Regel für sich günstige Rechtsfolgen ableiten will, die von der Gegenpartei bestritten werden. Dabei steht es den Parteien grundsätzlich frei, sich auch vor dem Gericht über das Bestehen dieses Rechtsverhältnisses, seiner Reichweite und etwaiger Rechtsfolgen zu einigen. Lediglich dort, wo eine selbstständige Einigung durch die Parteien – außergerichtlich oder gerichtlich – nicht gelingt, sind die Zivilgerichte dazu aufgerufen, zu entscheiden, ob die behaupteten, durch Rechtsgeschäft oder Gesetz begründeten Rechtsverhältnisse tatsächlich vorliegen und welche Rechtsfolgen daran anknüpfen. Die Zivilgerichte werden dabei nicht im engeren Sinne rechtsschützend tätig, da insofern keine Rechtsverletzung durch die öffentliche Gewalt zu 202
Vgl. BVerfGE (Plenum) 107, 395, 401.
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besorgen ist – zu entscheiden ist ausschließlich über einen Rechtsstreit zwischen privaten Parteien, soweit dieser einer gerichtlichen Entscheidung angetragen wird. Damit agiert der Zivilrichter in einem von den Parteien vorgegebenen Rahmen rechtsvermittelnd, ohne selbst im engeren Sinne rechtseingreifend tätig zu werden. Dabei wird streitige Entscheidung des Gerichts in aller Regel (zumindest teilweise) zulasten einer Partei ausfallen und insoweit zu einem Rechtsverlust der Partei führen. Allerdings stellt der Rechtsverlust der unterliegenden Partei bloß eine – wenn freilich auch zwingende – Folge der vermittelnden Tätigkeit des Zivilrichters dar, die nicht auf einen finalen Eingriff gerichtet ist. So ist auch im Verfassungsrecht seit jeher anerkannt, dass die zivilgerichtliche Tätigkeit keinen unmittelbaren Eingriff in die Grundrechte der Parteien darstellt („Lehre von der mittelbaren Drittwirkung von Grundrechten“). Nach den Grundsätzen, die bereits zuvor für den rechtsschützenden Richter entwickelt worden sind, kommt also auch hier die Rechtsweggarantie des Art. 19 Abs. 4 GG nicht zum Tragen.203 Denn auch durch die Tätigkeit der Zivilgerichte wird niemand „durch die öffentliche Gewalt in seinen Rechten verletzt“. cc) Der Strafrichter als originär rechtseinschränkender Richter Doch ausgerechnet für die Strafgerichte kann das oben Dargelegte nicht gelten. Während Verwaltungsgerichte und Zivilgerichte in aller Regel im Interesse zumindest eines Verfahrensbeteiligten rechtsschützend bzw. rechtsvermittelnd tätig werden, ist es die Aufgabe der Strafgerichte, das staatliche Gewaltmonopol durch inquisitorische Verfolgung und Aburteilung strafbarer Handlungen aufrecht zu erhalten.204 Anders als die Verwaltungs- und Zivilgerichte greifen sie dabei nicht bloß mittelbar – durch die Bestätigung der Rechtmäßigkeit der Maßnahmen der Exekutive oder durch die Anerkennung privatrechtlicher Ansprüche Dritter – in die Rechte des Bürgers ein. Vielmehr erfolgt der strafgerichtliche Eingriff in die Rechte des betroffenen Bürgers unmittelbar durch den Rechtsfolgenausspruch, der allein und ausschließlich in den Verantwortungsbereich des Gerichts fällt.205 Zwar setzt eine strafgerichtliche Entscheidung zwingend die Erhebung einer Anklage, in der Regel durch die Staatsanwaltschaft, voraus. Doch erfolgt der end203 Schon der primäre Rechtsweg zu den Zivilgerichten ist nicht auf Art. 19 Abs. 4 GG zu stützen, da die potentielle Rechtsverletzung hier durch andere Privatpersonen und nicht durch die öffentliche Gewalt erfolgt ist. Allerdings folgt aus dem staatlichen Gewaltmonopol und dem Selbsthilfeverbot für die Bürger, dass dem Bürger ein allgemeiner Justizgewährleistungsanspruch zusteht, der ihm auch in privatrechtlichen Streitigkeiten den Rechtsweg zu den Gerichten eröffnet, Remmert, JURA 2014, 906, 906. 204 Vgl. Beulke, Strafprozessrecht, Rn. 3; Hopfauf, in: Schmidt-Bleibtreu, GG, vor Art. 92 Rn. 18, 20. 205 So weist auch Globke, in: Brunhöber et al. (Hrsg.), Strafrecht und Verfassung, S. 58, zu Recht darauf hin, dass das „auferlegte Übel“ im Strafrecht, übersetzt in die verfassungsrechtliche Terminologie, nichts anderes bedeute als ein Eingriff in ein Grundrecht des betroffenen Individuums.
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1. Kap.: Die Revision in Strafsachen
gültige Eingriff in die (Grund-)Rechte des Angeklagten nicht durch den Ankläger. Anders als etwa im Verwaltungsverfahren, in dem ein Verwaltungsakt auch (bzw. gerade) ohne eine Entscheidung des Gerichts seine rechtseinschränkende Wirkung entfaltet, bedarf es im Strafverfahren unbedingt einer Entscheidung des Gerichts, damit eine Rechtseinschränkung im Wege der Strafe herbeigeführt wird. Anders als der Verwaltungsrichter beschränkt sich der Strafrichter nämlich gerade nicht auf die bloße Überprüfung des exekutiven Aktes. Daran vermag auch die Tatsache nichts zu ändern, dass das Gesetz ihm, sobald die Anklage erhoben ist, unter Umständen insoweit nur ein beschränktes Ermessen überlässt – auch ermessensgebundene Eingriffe stellen Eingriffe dar; andernfalls stellte sich ernstlich die Frage, wer bei einer gebundenen Verwaltungsentscheidung den Rechtseingriff herbeiführt. Ungeachtet dessen kommt dem Strafverfahren durchaus – aufgrund seiner gerichtlichen Ausgestaltung – eine (antizipierend) rechtsschützende Wirkung zu, die ihr auch hier nicht abgesprochen werden soll; sie beschränkt sich allerdings darauf, dass der Ausspruch der Strafe einer gerichtlichen Entscheidung und damit der Judikative vorbehalten ist. Auch wenn dem Strafverfahren insoweit ein formell rechtsschützender Moment innewohnt, stellt es sich materiell als ein gerichtliches Eingriffsverfahren dar, bei dem es der Richter selbst ist, der unmittelbar (grund-)rechtseinschränkend tätig wird.206 Die Rechtsprechung durch die Strafgerichte stellt sich damit im Kern als eine exekutive Aufgabe dar, in deren Rahmen die staatlichen Strafnormen durch Gerichte – und nicht Behörden – vollzogen werden. Anders als etwa das behördliche Ordnungswidrigkeitenverfahren ist sie dabei allein wegen ihrer Eingriffsintensität den Gerichten anvertraut. Damit weist die spruchrichterliche Tätigkeit der Strafgerichte eine unverkennbare Nähe zur Eingriffsverwaltung auf, sodass ausgerechnet hier eine teleologische Reduktion des Begriffes der „öffentlichen Gewalt“, welche die Strafgerichte aus dem Anwendungsbereich des Art. 19 Abs. 4 GG ausnehmen würde, verfehlt wäre. Dies hätte nämlich zur Folge, dass dem Bürger gerade dort der Rechtsschutz verwehrt würde, wo der Staat mit dem Strafrecht zu seinem „schärfsten Schwert“ greift. Daher muss jedenfalls dort, wo Gerichte bei einer materiellen Betrachtung Aufgaben der Eingriffsverwaltung wahrnehmen, sichergestellt werden, dass gegen ihre Entscheidungen der Rechtsweg offensteht. Dies gilt nicht nur für Strafgerichte, sondern auch für Verwaltungsgerichte und Zivilgerichte, sofern diese etwa bei gerichtlichen Disziplinarverfahren oder der Wahrnehmung von Aufgaben der freiwilligen Gerichtsbarkeit unmittelbar rechtseinschränkend tätig werden. Bemerkenswerterweise aber will das Bundesverfassungsgericht gerade nur diejenigen Tätigkeiten der dritten Gewalt der öffentlichen Gewalt im Sinne des Art. 19 Abs. 4 GG zuordnen, die außerhalb ihrer spruchrichterlichen Tätigkeit liegen und 206 Ähnl. schon Eschelbach, in: FS Widmaier, S. 136 f.; Roxin/Schünemann, Strafverfahrensrecht, § 55 Rn. 12.
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von ihr aufgrund eines ausdrücklich normierten Richtervorbehalts wahrgenommen werden.207 Denn die Gerichte würden zwar auch in diesen Fällen in voller richterlicher Unabhängigkeit handeln, aber nicht in ihrer typischen Funktion als Instanzen der unbeteiligten Streitentscheidung.208 Vielmehr nähmen sie in diesen Fällen auf einen Antrag der Exekutive eigenständige Eingriffe vor, die sich funktional als eine Ausübung der vollziehenden Gewalt darstellten, jedoch im Interesse eines besonderen rechtsstaatlichen Schutzes nicht der Exekutive oder jedenfalls nicht ihr allein überlassen würden.209 Doch ausgerechnet diese Argumentation lässt sich, wie schon oben dargelegt, ohne Weiteres auf die spruchrichterliche Tätigkeit der Strafgerichte übertragen. Schließlich nimmt der Strafrichter aufgrund der staatsanwaltlichen Anklage (Antrag der Exekutive) eigenständige Eingriffe (Rechtsfolgenausspruch) vor, die im Interesse eines besonderen rechtsstaatlichen Schutzes (anders als etwa die Eingriffe im Rahmen eines Ordnungswidrigkeitenverfahrens) nicht der Exekutive überlassen sind. Entgegen der Ansicht des Bundesverfassungsgerichts verhält es sich sogar so, dass ausgerechnet der Strafrichter, der aufgrund eines Richtervorbehalts angerufen wird, keine selbstständigen Eingriffe vornimmt,210 sondern – in dem er das exekutive Handeln der Strafverfolgungsbehörden überwacht und seine Zustimmung dazu erteilt – (präventiv) rechtsschützend tätig wird. Aus alledem folgt, dass von Verfassungs wegen sehr wohl ein subjektiv-rechtlicher Anspruch auf einen Rechtsweg gegen strafgerichtliche Urteile gegeben ist.211 Allein die Tatsache, dass der Vollzug der materiellen Strafgesetze exklusiv den Gerichten anvertraut ist, vermag das grundlegende Bedürfnis des Bürgers, einen als ungerecht empfundenen Eingriff in seine Rechte durch eine höhere Instanz überprüfen zu lassen, nicht auszuschließen. So heißt es selbst in den Motiven zur Strafprozessordnung: „Mit Recht freilich wird es als eine Forderung der Gerechtigkeit bezeichnet, daß ein richterliches Urtheil durch ein Rechtsmittel anfechtbar sein müsse, weil selbst in dem denkbar besten Verfahren und auch bei dem besten Willen aller zur Mitwirkung in demselben berufenen Personen die Möglichkeit eines Irrthums nicht ausgeschlossen werden könne.“212
207
231 ff. 208
BVerfGE (Plenum) 107, 395, 406 mit Verweis auf BVerfGE 96, 27, 39 ff.; 104, 220,
BVerfGE (Plenum) 107, 395, 406. BVerfGE (Plenum) 107, 395, 406 mit Verweis auf BVerfGE 103, 142, 151. 210 Eine Ausnahme stellt hierbei sicherlich die Tätigkeit des Ermittlungsrichters als Notstaatsanwalt gem. § 165 StPO dar. 211 Die Notwendigkeit einer differenzierten Betrachtung der richterlichen Gewalt wird nunmehr auch von Schmidt-Aßmann, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 19 Abs. 4 Rn. 98 ff. befürwortet; dieser nimmt die Differenzierung jedoch nach völlig anderen Kriterien vor, sodass er zu dem Schluss gelangt, dass Art. 19 Abs. 4 GG gerade gegen den Strafrichter keinen Schutz gewährt. 212 Motive zur StPO, in: Hahn (Hrsg.), Materialien zur StPO, Bd. III/1, S. 242. 209
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1. Kap.: Die Revision in Strafsachen
Angesichts der Tatsache, dass die Motive bereits im 19. Jh. entstanden sind, überrascht es, wenn heute mit einer gewissen Vehemenz immer wieder behauptet wird, es bestehe kein verfassungsrechtlicher Anspruch auf die Gewährleistung eines Instanzenzuges.213 b) Gefahr eines Rechtsschutzes ad infinitum Bei konsequenter Anwendung der hier vertretenen Ansicht ist die Sorge, dass durch die Anerkennung der rechtseinschränkenden richterlichen Tätigkeit als öffentliche Gewalt in Sinne des Art. 19 Abs. 4 GG die Gefahr einer unendlichen Rechtsmittelkette geschaffen würde, unbegründet. Während nämlich das erstinstanzliche Tatgericht noch rechteinschränkend tätig wird, wird das Rechtsmittelgericht – jedenfalls bei einem Rechtsmittel des Beschuldigten – auch in Strafsachen bloß rechtsschützend tätig, sodass ein weiterer Rechtsschutz gegen seine Entscheidungen nach dem bisher Dargelegten gerade nicht mehr notwendig ist.214 Dies gilt freilich dann nicht, wenn der Beschuldigte erstmalig aufgrund einer gegen den erstinstanzlichen Freispruch gerichteten Berufung der Staatsanwaltschaft verurteilt wird. Darin offenbart sich aber gerade die Systemwidrigkeit eines Rechtsmittels der Staatsanwaltschaft gegen freisprechende Urteile.215 So sind es nicht nur Rechtsordnungen, die dem common law zuzuordnen sind, die keine Rechtsmittel des Staates zulasten des Angeklagten zulassen, auch in den deutschen Gebieten wurden im 19. Jh. wiederholt Überlegungen angestellt, das Recht der Berufung unbeschränkt ausschließlich dem Angeklagten angedeihen zu lassen.216 Soweit das geltende deutsche Recht die Staatsanwaltschaft insoweit jedoch wie eine Partei behandelt, muss auch hier – ähnlich wie bei einer Berufung der Gegenseite im Verwaltungsverfahren – konsequenterweise davon ausgegangen werden, dass Rechtsschutz bereits durch die Durchführung eines ordentlichen Verfahrens vor einem höheren Gericht gewährt wird; insoweit muss also hingenommen werden, dass Entscheidungen von Rechtsmittelgerichten, ungeachtet dessen, ob sie letztendlich zugunsten oder zuungunsten des Bürgers ergehen, rechtsschützend wirken. Doch auch im Übrigen stellt sich die Sorge, dass durch Anerkennung eines verfassungsrechtlichen Anspruchs auf den Rechtsweg gegen – rechtseinschränkende – gerichtliche Urteile eine unendliche Rechtsmittelkette in Gang gesetzt würde, als unbegründet dar. Die insoweit ausgelöste Rechtsmittelkette lässt sich nämlich aufgrund verfassungsrechtlicher Erwägungen stets beschränken. Schließlich liegt dieser Sorge in erster Linie ein Konflikt zwischen dem Grundrecht auf effektiven Rechtsschutz (Rechtsweggarantie) und dem Verfassungsgut Funktionsfähigkeit der Strafrechtspflege (Reichweite der Rechtsmittelkette) zugrunde. Dieser lässt sich – wie 213 214 215 216
Vgl. statt vieler Jachmann, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 95 Rn. 103. Vgl. S. 64 ff. Vgl. hierzu bereits S. 60. Vgl. S. 342.
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auch sonst bei Konflikten zwischen widerstrebenden Verfassungsgütern – im Wege der Herstellung der praktischen Konkordanz so auflösen, dass alle betroffenen Verfassungsgüter zur optimalen Wirksamkeit gelangen.217 Die umfassende Gewährleistung des Grundrechts auf effektiven Rechtsschutz gem. Art. 19 Abs. 4 GG setzte in Strafsachen nach hier vertretender Auffassung nämlich von Verfassungs wegen lediglich voraus, dass jemand, der durch die rechtsprechende Gewalt in seinen Rechten verletzt ist, sich zumindest an eine höhere rechtsschützende Instanz wenden kann. Würde jedoch gegen strafrichterliche Entscheidungen eine unendliche Rechtsmittelkette in Gang gesetzt werden, hätte dies zur Folge, dass die Funktionsfähigkeit der Strafrechtspflege völlig ausgehöhlt würde. Das verfassungsrechtliche Gebot zur Herstellung der praktischen Konkordanz erfordert insofern zwingend die Einrichtung einer letzten Instanz, deren Entscheidungen endgültig sind und in Rechtskraft erwachsen können. Auch insoweit bedarf es also keiner verfassungsrechtlich fragwürdigen teleologischen Reduktion des Begriffes „öffentliche Gewalt“ in Art. 19 Abs. 4 GG, um der vermeintlichen Gefahr eines Rechtsschutzes ad infinitum zu begegnen. 3. Die völkerrechtliche Pflicht zur Gewährleistung eines Instanzenzuges in Strafsachen Die Pflicht des Bundesgesetzgebers in Strafsachen einen Rechtsweg zu gewährleisten, folgt jedoch nicht nur aus Art. 19 Abs. 4 GG, sondern auch unmittelbar aus dem Völkerrecht. So etwa bestimmt Art. 14 Abs. 5 des Internationalen Paktes über bürgerliche und politische Rechte (IPBPR), der durch das Gesetz vom 15. November 1973 in Bundesrecht transformiert wurde,218 dass jeder, der wegen einer strafbaren Handlung verurteilt worden ist, das Recht hat, „das Urteil entsprechend dem Gesetz durch ein höheres Gericht“219 nachprüfen zu lassen. Dabei 217 So auch Lücke, Begründungszwang und Verfassung, S. 58. Ausführlich zur praktischen Konkordanz Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts, Rn. 72, 317 f. 218 Gesetz zu dem Internationalen Pakt vom 19. Dezember 1966 über bürgerliche und politische Rechte, BGBl. II 1973/60, 1533. 219 Die amtliche deutsche Fassung des Art. 14 Abs. 5 IPBPR enthält nach Ansicht des Verfassers einen allerdings einen Mangel bei der Interpretation. Diese lautet nämlich vollständig: „Jeder, der wegen einer strafbaren Handlung verurteilt worden ist, hat das Recht, das Urteil entsprechend dem Gesetz durch ein höheres Gericht nachprüfen zu lassen [Hervorh. d. Verf.]“. Die rechtsverbindliche englische Fassung des Textes lautet hingegen: „Everyone convicted of a crime shall have the right to his conviction and sentence being reviewed by a higher tribunal according to law“. Die Phrase „according to law“ bezieht sich im englischen Original dabei wohl eher nicht auf das Prädikat (sonst müsste es richtigerweise „reviewed according to law“ heißen), sondern vielmehr auf das Objekt (also „higher tribunal according to law“). So heißt es auch in einer Entscheidung des UN-Menschenrechtsausschusses: „The Committee considers that the expression ,according to law‘ in article 14 (5) of the Covenant is not intended to leave the very existence of the right of review to the discretion of the States parties, since the rights are those recognized by the Covenant, and not merely those recognized by domestic law. Rather, what is to be determined ,according to law‘ is the modalities by which
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1. Kap.: Die Revision in Strafsachen
setzt Art. 14 Abs. 5 IPBPR voraus, dass im Grundsatz eine echte substantielle Überprüfung der erstinstanzlichen Verurteilung durch das Rechtsmittelgericht stattfindet.220 Selbst wenn die Revision in ihrer derzeitigen Ausgestaltung diesem Anspruch grundsätzlich genügen sollte,221 folgt aus dieser völkerrechtlichen Regelung jedenfalls eine Verpflichtung des Bundesgesetzgebers, in Strafsachen überhaupt einen Instanzenzug zu gewährleisten. Es darf aber durchaus angezweifelt werden, ob ein Rechtsmittel, das nach dem Wortlaut des Gesetzes bloß in der Lage ist, einen Teil des tatrichterlichen Urteils nachzuprüfen, den Anforderungen des Art. 14 Abs. 5 IPBPR genügt.222 Schließlich heißt es auch in einer Entscheidung des UN-Menschenrechtsausschusses aus dem Jahr 1996: „As to whether the author has been the victim of a violation of article 14, paragraph 5, of the Covenant because his conviction and sentence were reviewed only by the Supreme Court on the basis of a procedure which his counsel […] characterizes as an incomplete judicial review, the Committee […] points out that, regardless of the name of the remedy in question, it must meet the requirements for which the Covenant provides. […] The Committee concludes that […] the review having been limited to the formal or legal aspects of the conviction, means that the guarantees provided for in article 14, paragraph 5, of the Covenant have not been met.“223
Insofern durchaus spannend wäre die Frage, ob die Revision in erstinstanzlichen land- und oberlandesgerichtlichen Strafsachen, in denen sie das einzige Rechtsmittel darstellt, einer Überprüfung durch den UN-Menschenrechtsauschuss standhalten würde. Eine Verpflichtung der Bundesrepublik Deutschland zur Errichtung eines Instanzenzuges in Strafsachen folgt im Übrigen auch aus Art. 2 des 7. Protokolls zur Europäischen Menschenrechtskonvention. Dieser bestimmt in seinem Absatz 1, dass derjenige, der von einem Gericht wegen einer Straftat verurteilt worden ist, das Recht hat, das Urteil von einem übergeordneten Gericht nachprüfen zu lassen. Zwar wurde das 7. Zusatzprotokoll von der Bundesrepublik Deutschland bislang nicht ratifiziert the review by a higher tribunal is to be carried out“, Consuelo Salgar de Montejo v. Colombia, Communication No. 64/1979, U.N. Doc. CCPR/C/OP/1 at 127 (1985), Para. 10.4. Insofern müsste die Übersetzung wohl richtigerweise lauten: „Jeder, der wegen einer strafbaren Handlung verurteilt worden ist, hat das Recht, das Urteil durch ein höheres, gesetzliches Gericht nachprüfen zu lassen“. Andernfalls könnten die Vertragsparteien durch die gesetzliche Ausgestaltung des Rechtsmittelverfahrens jenes Menschenrecht völlig „leerlaufen“ lassen. Wenn Art. 14 Abs. 5 IPBPR aber die Garantie zu entnehmen ist, dass das Verfahren durch ein höheres Gericht nachprüfbar sein muss, stellt sich die Frage, ob die Revision als beschränktes Rechtsmittel auch in den Fällen den Anforderungen des Paktes genügt, wo sie das einzige Rechtsmittel gegen strafgerichtliche Urteile darstellt; Zweifel hieran äußernd auch Jähnke, in: FS Hanack, S. 363. 220 Esser, in: Löwe/Rosenberg, EMRK Art. 6/IPBPR Art. 14 Rn. 994. 221 So etwa Esser, in: Löwe/Rosenberg, EMRK Art. 6/IPBPR Art. 14 Rn. 994. 222 Jähnke, in: FS Hanack, S. 363; Hofmann/Boldt, IPBPR, Art. 14 Rn. 12. 223 Cesario Gómez Vázquez (Represented by José Luis Mazón Costa) v. Spain, Communication No. 701/1996, U.N. Doc. CCPR/C/69/D/701/1996 (2000), Para. 11.1.
D. Zusammenfassende Analyse
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und folglich auch nicht in das nationale Recht transformiert, allerdings wurde es am 19. März 1985 sehr wohl von der Bundesrepublik Deutschland unterzeichnet.224 Bereits diese Unterzeichnung löst nach den Angaben des Vertragsbüros des Europarates die Verpflichtung des unterzeichnenden Staates aus, dem Sinn und Zweck des Vertrags nicht zuwiderzuhandeln, solange er nicht ausdrücklich erklärt hat, doch nicht Vertragspartei werden zu wollen.225 Hierbei nimmt das Vertragsbüro auf den gleichlautenden Grundsatz in Art. 18 des Wiener Übereinkommens über das Recht der Verträge (VtrRKonv) Bezug. Zwar ist dieses Wiener Übereinkommen erst am 20. August 1987,226 und damit nach der Unterzeichnung des 7. Zusatzprotokolls am 19. März 1985, in Kraft getreten. Da die VtrRKonv jedoch lediglich bereits das zu dem Zeitpunkt geltende verbindliche Völkergewohnheitsrecht kodifizierte, können seine Bestimmungen dennoch auch für die Auslegung von völkerrechtlichen Verträgen (wie dem 7. Zusatzprotokoll) herangezogen werden, die vor seinem Inkrafttreten geschlossen worden sind.227
D. Zusammenfassende Analyse Zusammenfassend kann also festgehalten werden, dass die Revision im Jahr 1877 von dem Gesetzgeber vorrangig zu dem Zweck eingeführt worden ist, um die einheitliche Anwendung und Auslegung des Reichsrechts sicherzustellen. Angesichts der Entstehungsgeschichte des deutschen Straf- und Strafprozessrechts ist es wenig überraschend, dass der Gesetzgeber ein solches letztinstanzliches Rechtsmittel vorgesehen hat.228 Schließlich sah sich das junge Deutsche Reich in den 1870erJahren mit der Aufgabe konfrontiert, aus einer Vielzahl von partikularen Gesetzen, Rechtsgrundsätzen und Rechtsauffassungen ein gemeinsames Recht zu formen.229 Dieses gemeinsame Recht wäre jedoch nur wenig wert gewesen, wenn seine Vorschriften durch die Gerichte in den einzelnen Partikularstaaten unterschiedlich ausgelegt und angewandt worden wären. So stellte der Gesetzgeber mit der Errichtung des Reichsgerichts und der Einführung der Revision zu eben diesem Gericht sicher, dass das Reichsrecht stets einheitlich angewandt und ausgelegt werden konnte. So heißt es auch in der Begründung des Entwurfs des Gerichtsverfassungsgesetzes unmissverständlich, dass „die Errichtung eines einzigen höchsten
224 Vgl. http://www.coe.int/de/web/conventions/full-list/-/conventions/treaty/117/signatures (Stand: 20. Juli 2018). 225 Vgl. http://www.coe.int/de/web/conventions/glossary (Stand: 20. Juli 2018). 226 BGBl. II 1987/30, 757. 227 So auch BFHE 144, 483. 228 Vgl. hierzu auch S. 106 ff. 229 Peters, in: FS Schäfer, S. 145.
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1. Kap.: Die Revision in Strafsachen
Gerichtshofes wesentlich auf dem Erforderniß beruht, die Einheit der Rechtsprechung zu sichern“.230 Die konkrete Ausgestaltung der strafrechtlichen Revision zeigt jedoch, dass sie nicht ausschließlich den öffentlichen Interessen gewidmet ist, sondern auch individualrechtsschützende Aspekte enthält.231 Dennoch ist der häufig anzutreffenden Äußerung, wonach die Revision vorrangig dem Zweck diene, eine im Einzelfall gerechte Entscheidung herbeizuführen, nicht uneingeschränkt zuzustimmen. Schon der gesetzliche Ausschluss der Tatfrage – und damit eines wesentlichen Aspekts des tatrichterlichen Urteils – von der Revision deutet darauf hin, dass der Gesetzgeber bei der Einführung der Revision nicht primär die Einzelfallgerechtigkeit im Blick hatte. Bestätigt wird diese Annahme durch die bereits oben ausgeführten Erwägungen des historischen Gesetzgebers, der vor allem die einheitliche Anwendung des noch jungen Straf- und Strafverfahrensrechts im ebenfalls jungen Deutschen Reich im Blick hatte.232 Letztlich hatte diese Ausgestaltung der Revision zur Folge, dass der Rechtsschutz in Strafsachen bloß ein lückenhafter ist, sofern neben der Revision kein weiteres Rechtsmittel statthaft ist. In diesen Fällen bleiben die erstinstanzlichen Feststellungen faktisch und rechtlich unanfechtbar, was mit Blick auf rechtsstaatliche Notwendigkeit eines umfassenden Rechtsschutzes zweifelhaft erscheint.233 Zwar entspricht es der herrschenden Meinung, dass von Verfassungs wegen kein Anspruch auf einen Instanzenzug gegeben ist, da Art. 19 Abs. 4 GG lediglich ein Rechtsschutz durch den Richter, aber nicht gegen den Richter garantiere. Doch verkennt diese Auffassung nach hier vertretener Ansicht, dass der Strafrichter im Kern eine exekutive Aufgabe – nämlich den Vollzug der materiellen Strafgesetze – wahrnimmt, die lediglich wegen ihrer Eingriffsintensität den Gerichten anvertraut ist.234 Dem Bürger einen vollumfassenden Rechtsschutz ausgerechnet dort zu verwehren, wo der Staat mit dem Strafrecht zu seinem „schärfsten Schwert“ greift, erscheint insofern höchst fragwürdig. Deshalb ist jedenfalls gegen die Akte des Strafrichters, der vorrangig rechtseinschränkende Aufgaben wahrnimmt, zwingend Rechtsschutz zu gewäh-
230
Begründung zum GVG, in: Hahn (Hrsg.), Materialien zum GVG, Bd. I/1, S. 138. Vgl. S. 53 ff. 232 Vgl. S. 56 ff. 233 In anderen Verfahrensordnung ist die besagte Unanfechtbarkeit der tatsächlichen Feststellungen sogar ausdrücklich im Gesetz angeordnet. So heißt es in § 559 Abs. 2 ZPO: „Hat das Berufungsgericht festgestellt, dass eine tatsächliche Behauptung wahr oder nicht wahr sei, so ist diese Feststellung für das Revisionsgericht bindend, es sei denn, dass in Bezug auf die Feststellung ein zulässiger und begründeter Revisionsangriff erhoben ist“. Auch in § 137 Abs. 2 VwGO, dessen Wortlaut im Wesentlichen dem des § 118 Abs. 2 FGO und des § 163 SGG entspricht, heißt es wiederum: „Das Bundesverwaltungsgericht ist an die in dem angefochtenen Urteil getroffenen tatsächlichen Feststellungen gebunden, außer wenn in Bezug auf diese Feststellungen zulässige und begründete Revisionsgründe vorgebracht sind“. 234 Vgl. S. 65 ff. 231
D. Zusammenfassende Analyse
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ren.235 Die von der herrschenden Meinung befürchtete Gefahr eines Rechtsschutzes ad infinitum existiert dabei nicht, da schon die Notwendigkeit der Herstellung der praktischen Konkordanz zwischen dem Grundrecht auf effektiven Rechtsschutz (Rechtsweggarantie) und dem Verfassungsgut der Funktionsfähigkeit der Strafrechtspflege einen solchen verhindert.236 Eine völlig andere, im Laufe der vorliegenden Arbeit näher zu beleuchtende Frage ist jedoch, ob die zwischenzeitlich erfolgte höchstrichterliche Erweiterung der Revision, insbesondere die von ihr entwickelte Darstellungskontrolle, einen ausreichenden Ausgleich für die fehlende umfassende Nachprüfbarkeit der land- und oberlandesgerichtlichen Strafsachen darstellt.
235 236
Vgl. S. 63 ff. Vgl. S. 68 f.
2. Kapitel
Eine historische Betrachtung der Entwicklung der Revision Aus dem bisher Dargelegten müsste sich bei einer unbefangenen Betrachtung des Rechtsmittelrechts in Strafsachen zwangsläufig die Frage stellen, warum die Strafprozessordnung ausgerechnet gegen erstinstanzliche Urteile der Land- und Oberlandesgerichte keine Berufung und mit der Revision lediglich ein beschränktes Rechtsmittel vorsieht. Schließlich hatte sogar die Reichszivilprozessordnung, die am selben Tag in Kraft trat wie die Strafprozessordnung, gegen alle erstinstanzlichen Urteile eine Berufung vorgesehen.237 Auch in den Motiven zu der Strafprozessordnung heißt es noch, „[…] daß ein richterliches Urtheil durch ein Rechtsmittel anfechtbar sein müsse, weil selbst in dem denkbar besten Verfahren und auch bei dem besten Willen aller zur Mitwirkung in demselben berufenen Personen die Möglichkeit eines Irrthums nicht ausgeschlossen werden könne.“238
Insofern fällt es schwer zu glauben, dass die Verfasser des Entwurfs der Strafprozessordnung verkannt haben könnten, dass die Möglichkeit eines solchen Irrtums nicht bloß auf die Rechtsfragen beschränkt ist, sondern häufiger sogar noch bei Tatfragen auftauchen dürfte, die ausgerechnet auf der subjektiven Überzeugung des Tatrichters beruhen. Bei näherer Betrachtung zeigt sich, dass diese Frage ohne eine umfassende Erörterung der historischen Grundlagen des geltenden Rechtsmittelrechts kaum hinreichend beantwortet werden kann. Schließlich hat das Rechtsmittelrecht im Strafverfahren seit seinem Inkrafttreten mit der Reichsstrafprozessordnung am 1. Oktober 1879 bis heute keine wesentlichen Veränderungen erfahren. Gerade die Ausgestaltung der Revision als ein (auf Rechtsfragen) beschränktes Rechtsmittel geht nahezu vollständig auf den Gesetzgeber von 1877 zurück. Daher sollen im Rahmen des vorliegenden Kapitels die historischen Entwicklungen nachvollzogen werden, die zu der Ausgestaltung des heutigen Rechtsmittelrechts in Strafsachen geführt haben. Dabei ist es unvermeidlich, neben der Entwicklung der Revision im Speziellen auch die Entwicklung der Rechtsmittel in den deutschen Gebieten im Allgemeinen zu betrachten. Deshalb beginnt dieses Kapitel 237 Vgl. § 472 RZPO: „Die Berufung findet gegen die in erster Instanz erlassenen Endurtheile statt“. So können in Zivilsachen auch Urteile der Landgerichte schon seit jeher mit der Berufung zu den Oberlandesgerichten angefochten werden, § 123 Nr. 1 RGVG bzw. heute § 119 Abs. 1 Nr. 2 GVG. 238 Motive zur StPO, in: Hahn (Hrsg.), Materialien zur StPO, Bd. III/1, S. 242.
A. Ein Abriss der historischen Entwicklung der strafrechtlichen Rechtsmittel
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mit einem allgemeinen Abriss der historischen Entwicklung der Rechtsmittel in Strafsachen (A.), bevor es aufzeigt, wie vor allem die Rezeption der freien Beweiswürdigung aus dem französischen Strafverfahren die Ausgestaltung der Revision als ein beschränktes Rechtsmittel bedingt hat (B.). In einem dritten Abschnitt schließlich wird erörtert, warum der historische Gesetzgeber die Berufung als vollumfassendes Rechtsmittel ausschließlich in den amtsgerichtlichen Strafsachen zugelassen hat (C.).
A. Ein Abriss der historischen Entwicklung der strafrechtlichen Rechtsmittel Schwinge stellte bereits 1960 fest, dass die geschichtliche Entwicklung der Revision im deutschen Schrifttum noch keine umfassende Darstellung erfahren hatte.239 An diesem unbefriedigenden Zustand hat sich bis zum heutigen Tage – soweit ersichtlich – wenig geändert.240 Auch die vorliegende Schrift ist aufgrund ihrer Aufgabenstellung und ihres begrenzten Umfangs nicht in der Lage, eine in jeder Hinsicht vollumfassende Darstellung der historischen Entwicklung der Revision oder gar der strafrechtlichen Rechtsmittel schlechthin anzubieten. Nichtsdestoweniger gilt zu bedenken, dass die heutige Ausgestaltung der Revision, die von der vorliegenden Schrift zum Teil in Frage gestellt wird, das Ergebnis unterschiedlichster historischer Entwicklungen des Strafverfahrensrechts in den deutschen Gebieten darstellt, sodass sich hier eine völlige Außerachtlassung dieser Entwicklungen verbietet. Der vorliegende Abschnitt (A.) versteht sich damit – auch wenn er aus methodischen Gründen nicht als ein solcher bezeichnet wird – vorrangig als ein historischer Exkurs, der keinen Anspruch auf Vollständigkeit erhebt, sondern vor allem einen Überblick über die historischen Rahmenbedingungen geben will, in denen sich das deutsche Rechtsmittelrecht entwickelt hat. Dementsprechend handelt es sich hierbei um eine deutlich vereinfachte Wiedergabe der Entwicklungen in den deutschen Gebieten, die ihrer wahren Komplexität und Heterogenität nur im geringen Maße gerecht wird.
239
Schwinge, Grundlagen des Revisionsrechts, S. 6. Auch neuere Darstellungen befassen sich in der Regel mit speziellen Zeiträumen (so etwa Braum, Geschichte der Revision) oder speziellen Fragen (so etwa Szidzek, Verbot der Appellation in Strafsachen) oder gar mit speziellen Fragen spezieller Zeiträume (so etwa Behr, Rechtsmittel der Partikulargesetzgebung). 240
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2. Kap.: Eine historische Betrachtung der Entwicklung der Revision
I. Rechtsmittel im älteren deutschen Recht Im Recht der germanischen Zeit (100 v. Chr. bis ca. 500 n. Chr.) wurde ein Angriff auf Rechtsgüter durch private Blutrache oder Fehde vergolten.241 Ein öffentliches Strafverfahren stellte dabei die Ausnahme dar.242 Sofern ein solches durchgeführt wurde, wurde das Urteil unmittelbar von dem versammelten Volk, dem sog. Thing, gefällt, wobei das Zusammentreten des Things eine „Anklage“ durch den Geschädigten voraussetzte.243 Diesen altertümlichen Volksgerichten saß in der Regel der König oder ein sonst angesehenes Mitglied der Gemeinde als Richter vor. Dieser wirkte jedoch nicht an dem Urteilsfindungsprozess im engeren Sinne mit, sondern war in erster Linie ein Versammlungsleiter, der die Verhandlung lediglich leitete. Die Urteilsfindung hingegen war eine Aufgabe, die von der gesamten Gerichtsversammlung (dem sog. Umstand) in ihrer Funktion als Urteiler wahrzunehmen war; eine Aufgabe, die später auf ausgewählte Individuen der Gemeinschaft übertragen wurde, um eine übermäßige Belastung der Gemeindemitglieder zu vermeiden.244 Dennoch bedurften die Urteile der Zustimmung der gesamten Gerichtsgemeinde (das sog. Vollbort), damit sie „rechtskräftig“ wurden.245 Rechtsmittel gegen die Urteile dieser Volksgerichte waren dabei schon denklogisch ausgeschlossen, da sie unter Beteiligung eines obersten Vertreters der Gemeinde und der Beteiligung der gesamten Volksgemeinschaft gefällt wurden, sodass eine über diesen Gerichten stehende Instanz überhaupt nicht existierte.246 Zumal zu jener Zeit die Ansicht vorherrschte, dass die Strafe unmittelbar nach der Verkündung des Urteils zu vollstrecken war, sodass ohnehin kein Raum für die Durchführung eines Rechtsmittelverfahrens gegeben war.247 In der nachfolgenden fränkischen Zeit (ca. 500 bis 888) wurde die Aufgabe der Urteilsfindung auf besonders rechtserfahrene Bürger (sog. Rachinburgen) und später auf sog. Schöffen (Scabini) übertragen, deren Urteile keines Vollbortes bedurften.248 241 Köbler, Rechtsgeschichte, S. 70; ausführlicher zum germanischen Rechtsverfahren, Conrad, Rechtsgeschichte I, S. 44 f. 242 Köbler, Rechtsgeschichte, S. 70. 243 Köbler, Rechtsgeschichte, S. 70; vgl. auch Andoor, Laien in der Strafrechtsprechung, S. 23. 244 Ausführlicher zu dem Gerichtsgang in der germanischen Zeit Köbler, Rechtsgeschichte, S. 70, aber auch Andoor, Laien in der Strafrechtsprechung, S. 23 m. w. N. Die Aufgabentrennung zwischen dem Richter, der die Gerichtsversammlung lediglich leitete, und dem Urteiler, der letztendlich für die Urteilsfindung verantwortlich war, kann als typisch für das germanische Recht betrachtet werden und kehrte in abgewandelter Form in der Rechtsprechungsgeschichte in den deutschen Gebieten häufig wieder, vgl. auch Gerland, Der deutsche Strafprozess, S. 15. 245 Conrad, Rechtsgeschichte I, S. 141; Gerland, Der deutsche Strafprozess, S. 14 f. 246 Vgl. schon Mittermaier, Das deutsche Strafverfahren II, S. 608 f.; Köbler, Rechtsgeschichte, S. 70; etwas allgemeiner Zachariä, Handbuch des deutschen Strafprozesses II, S. 574. 247 Mittermaier, Das deutsche Strafverfahren II, S. 609. 248 Vgl. etwa; Roth/Gmür, Rechtsgeschichte, Rn. 59, 61.
A. Ein Abriss der historischen Entwicklung der strafrechtlichen Rechtsmittel
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Für den Fall, dass der Angeklagte die ihm vorgeworfene Tat nicht einräumte, bediente man sich im anschließenden Beweisverfahren sog. irrationaler Beweismittel. Hierbei konnte der Beweis etwa dadurch erbracht werden, dass der Beklagte alleine oder mit sog. Eideshelfern seine Unschuld beschwor oder sich bei schweren Vorwürfen einem Gottesurteil (Ordal) unterwarf.249 Auch gegen diese Urteile waren keine Rechtsmittel vorgesehen, da im Falle eines falschen Schwures angenommen wurde, dass dieser übernatürliche bzw. göttliche Konsequenzen nach sich ziehen würde – Gottesurteile galten als unfehlbar, da ihnen magische bzw. göttliche Wirkung beigesprochen wurde.250 Eine gewisse Ähnlichkeit zu Rechtsmitteln kam in der fränkischen Zeit allenfalls der sog. Urteilsschelte zu. So konnte ein Urteilsvorschlag, der von einem Rachinburgen während einer Gerichtsversammlung vorgebracht wurde, von jeder Partei, jedem anderen Rachinburgen oder auch einem jeden aus dem Umstand gescholten werden.251 Diese Urteilsschelte war mit einem Gegenvorschlag zu verbinden und warf demjenigen, der den ursprünglichen Urteilsvorschlag eingebracht hatte, Rechtsbeugung oder Rechtsverweigerung vor.252 Die Urteilsschelte enthielt also den Vorwurf, dass der Gescholtene ein schweres Verbrechen begangen hatte, wobei über diesen Vorwurf durch einen Zweikampf zwischen dem Schelter und dem Gescholtenen zu entscheiden war.253 Obwohl die Urteilsschelte damit dem Zweck diente, eine gerichtliche Entscheidung mit dem Ziel anzufechten, eine andere Entscheidung in der Sache herbeizuführen, unterschied sie sich also wesentlich von den Rechtsmitteln im heutigen Sinne.254 Anders als ein Rechtsmittel konnte die Urteilsschelte nämlich von jeder dem Verfahren beiwohnenden Person angebracht werden und richtete sich unmittelbar gegen einen Urteiler und nicht gegen das von ihm vorgeschlagene Urteil. Auch einen Devolutiveffekt, wie er den heutigen Rechtsmitteln eigen ist, kannte die Urteilsschelte zunächst nicht.255 Erst in der Herrschaftszeit der Karolinger entwickelte sich aus dem offenbar sehr weit gefassten allgemeinen Privileg der Untertanen, den König um Schutz anzurufen, das speziellere Privileg, sich auch in Angelegenheiten des Rechts schutzsuchend an den König zu wenden, sodass Rechtsbrüche nicht mehr als lediglich „private“ Angelegenheiten des Stammes betrachtet wurden.256 Diese Praxis führte mit der Zeit zur 249 Ausführlicher, insbesondere mit Beispielen für verschiedene Ordalien, Kries, Deutsches Strafprozessrecht, S. 15. 250 Vgl. Zachariä, Handbuch des deutschen Strafprozesses II, S. 574. 251 Gerland, Der deutsche Strafprozess, S. 17. 252 Walther, Rechtsmittel im Strafverfahren I, S. 17 f.; Schmidt, Geschichte der Strafrechtspflege, S. 42. 253 Schmidt, Geschichte der Strafrechtspflege, S. 42. 254 Walther, Rechtsmittel im Strafverfahren I, S. 9; Gerland, Der deutsche Strafprozess, S. 17. 255 Weitere Unterschiede bei Walther, Rechtsmittel im Strafverfahren I, S. 10. 256 Schmidt, Geschichte der Strafrechtspflege, S. 42; Gerland, Der deutsche Strafprozess, S. 17.
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2. Kap.: Eine historische Betrachtung der Entwicklung der Revision
Entwicklung einer eigenen (Rechtsmittel-)Gerichtsbarkeit des Königs, die über den Volksgerichten der Stämme angesiedelt war.257 Einem solchen Königsgericht saß entweder der König selbst oder sein Vertreter (der Pfalzgraf) als Richter vor,258 während die Großen des Reiches, also die Führungsschicht, die Aufgabe der Urteiler wahrnahmen.259 Dabei konnte das Königsgericht zunächst noch über jeden Fall entscheiden, der ihm vorgelegt wurde, soweit nicht schon eine endgültige Entscheidung eines anderen Gerichts vorlag.260 Während es ursprünglich noch am königlichen Hofe abgehalten wurde, wurde diese Gerichtsbarkeit des Königs später durch Sendboten, die mit königlicher Vollmacht ausgestattet waren (missi dominici), im ganzen Reich wahrgenommen.261 Dabei war das Königsgericht in der Ausgestaltung des Verfahrens freier als die Volksgerichte, da es nicht strikt an die örtlichen Gesetze gebunden war, sodass vor dem Königsgericht auch rationale Beweismittel wie etwa der Zeugen- oder Urkundenbeweis statthaft waren.262 Die Entwicklung dieser königlichen Gerichtsbarkeit hatte zur Folge, dass der Urteilsschelte nunmehr ein devolutiver Effekt zukam.263 Dennoch handelte es sich bei der Urteilsschelte nicht um einen Rechtsbehelf, der mit der späteren Appellation oder Berufung vergleichbar war, sondern vorrangig um eine Beschwerde an den Herrscher wegen fehlerhafter Rechtsanwendung bzw. Rechtsverweigerung im laufenden gerichtlichen Verfahren, die damit eher mit der heutigen Beschwerde vergleichbar ist.264 Im Laufe der Zeit entwickelte sich aus diesem allgemeinen Reklamationsrecht zum Königsgericht für privilegierte Personen im Reich die Möglichkeit, die Sache durch eine sog. Ausheischung auch ohne eine Urteilsschelte an das Königsgericht zu bringen und so die mit der Urteilsschelte verbundene Gefahr eines Zweikampfes zu vermeiden.265 Daraus schließlich entwickelte sich die Praxis, das Königsgericht auch dann anzurufen, wenn das Urteil des Volksgerichts bereits ergangen war, woraus sich allmählich ein „quasi-ordentlicher“ Rechtszug an das Königsgericht herausbildete, mit dem auch endgültige Entscheidungen der Volksgerichte angefochten werden konnten.266
257
Schmidt, Geschichte der Strafrechtspflege, S. 42. Roth/Gmür, Rechtsgeschichte, Rn. 40, 72. 259 Schmidt, Geschichte der Strafrechtspflege, S. 43. 260 Roth/Gmür, Rechtsgeschichte, Rn. 72. 261 Schmidt, Geschichte der Strafrechtspflege, S. 43 f. 262 Roth/Gmür, Rechtsgeschichte, Rn. 72. 263 Roth/Gmür, Rechtsgeschichte, Rn. 72; ähnl. können auch die Ausführungen von Walther, Rechtsmittel im Strafverfahren I, S. 18 f., 21 f. interpretiert werden. 264 Walther, Rechtsmittel im Strafverfahren I, S. 23 f. 265 Schmidt, Geschichte der Strafrechtspflege, S. 42 f. 266 Schmidt, Geschichte der Strafrechtspflege, S. 42 f.; Conrad, Rechtsgeschichte I, S. 200; ausführlich zur Entwicklung der Königsgerichte, Schmidt, Geschichte der Strafrechtspflege, S. 43 ff. 258
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II. Die Entwicklung von Rechtsmittelgerichten im Spätmittelalter Zu Beginn des Hochmittelalters (888 bis ca. 1200) zerfiel das fränkische Reich nach der Absetzung Karl des Dicken in mehrere Teile, wobei aus seinem Ostteil im Jahr 962 mit der Krönung von Otto I. zum Kaiser das Heilige Römische Reich hervorging, das ab dem 15. Jh. den Zusatz „Deutscher Nation“ trug.267 Dabei war der zum Kaiser gekrönte König der Deutschen auch zugleich der oberste Richter im römisch-deutschen Reich und saß in dieser Funktion dem königlichen Hofgericht vor.268 Dieses entwickelte sich mit der Zeit zu einem echten Berufungsgericht, das nicht nur bei Rechtsverweigerung durch die ordentlichen Gerichte angerufen werden konnte, sondern auch Appellationen gegen die Urteile der ordentlichen Gerichte verhandelte.269 Die Appellation (von lat. appellare, um Schutz, Hilfe anrufen) bezeichnete hierbei einen Rechtsbehelf, mit dem eine höhere Instanz um Schutz ersucht wurde. Im endgültig feudalen Spätmittelalter (1273 bis ca. 1500) kam es jedoch zu einer verstärkten Verlagerung der staatlichen Macht von dem Reich auf die Vasallen des Kaisers, die ihre Rechte und Privilegien zu staatsgewaltsähnlichen Herrschaftsrechten steigerten.270 Diese sog. Landesherrschaft stellte – anders als die Lehnsherrschaft – eine Herrschaft über einzelne Gebiete im Reich und nicht bloß Personenverbände dar.271 In Folge dieser Territorialisierung der Machtansprüche der Landesherren wurden einzelne Gebiete des Reiches verstaatlicht, wobei die Herrscher dieser Territorien einen Teil der Staatsgewalt im Reich für sich beanspruchten, wodurch sich die Landesherrschaft im 14. Jh. zur Landeshoheit weiterentwickelte, die von der Staatsgewalt des Kaisers unabhängig war.272 Allerdings hatten sich im Hochmittelalter als eine Folge des Lehnwesens neben den Volksgerichten auch sog. Lehnsgerichte entwickelt, die mit dem Lehnsherrn als Richter und seinen Vasallen als Urteiler besetzt waren.273 Sie waren zunächst lediglich für die Streitigkeiten unter den Vasallen des Lehnsherrn sowie zwischen dem Lehnsherrn und seinen Vasallen zuständig.274 Mit der Entwicklung der Landeshoheit jedoch beanspruchten die 267
Roth/Gmür, Rechtsgeschichte, Rn. 88. Conrad, Rechtsgeschichte I, S. 500. 269 Walther, Rechtsmittel im Strafverfahren I, S. 25 ff.; Conrad, Rechtsgeschichte I, S. 500. 270 Conrad, Rechtsgeschichte II, 283; Ignor, Geschichte des Strafprozesses, S. 59; ausführlich zu dem Ausbau der landesherrlichen Macht zwischen 1648 und 1806, Kotulla, Deutsche Verfassungsgeschichte, Rn. 928 ff. 271 Ignor, Geschichte des Strafprozesses, S. 59; Kroeschell, Deutsche Rechtsgeschichte I, S. 304 m. w. N. 272 Roth/Gmür, Rechtsgeschichte, Rn. 155 f. 273 Roth/Gmür, Rechtsgeschichte, Rn. 100. Während der Vorsitzende das Gericht lediglich leitete, war es die Aufgabe der sog. Urteiler, ein gerechtes Urteil zu finden, vgl. schon Andoor, Laien in der Strafrechtsprechung, S. 23. 274 Roth/Gmür, Rechtsgeschichte, Rn. 100. 268
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2. Kap.: Eine historische Betrachtung der Entwicklung der Revision
mächtigen Regionalfürsten – die zugleich Lehnsnehmer und Vasallen des Kaisers waren – neben der eigenen Lehnsgerichtsbarkeit auch die ordentliche Gerichtsbarkeit in ihren Hoheitsgebieten für sich.275 Diesen landesherrlichen Gerichten wurde im späten Mittelalter auch die Kompetenz übertragen, schwere Straftaten zu ahnden, sodass auch die sog. Blut- und Hochgerichtsbarkeit als Teil der Landfriedensgerichtsbarkeit nunmehr von den Territorialgewalten wahrgenommen wurden.276 Von diesem gravierenden Machtzuwachs der Regionalfürsten blieb der Instanzenzug von den ordentlichen Gerichten zu dem königlichen Hofgericht allerdings noch unberührt. Die Instanzenzüge im deutsch-römischen Reich entwickelten sich im 14. Jh. sogar zu echten Rechtsmittelzügen weiter, nachdem mit der späten Rezeption des Rechts aus der Zeit des römischen Kaiserreiches (27 v. Chr. bis ca. 284 n. Chr.)277 auch das römische Rechtsmittel der Appellation (auch Provocation oder Berufung278) Einzug in die deutschen Rechtsordnungen erhalten hatte.279 Die Verbreitung des römischen Rechts im Heiligen Römischen Reich verdrängte die germanisch-fränkische Urteilsschelte zunehmend zugunsten der römisch-kanonischen Appellation, die – anders als die auf Fragen der richtigen Rechtsanwendung durch den Urteiler beschränkte Urteilsschelte – eine vollumfassende Kontrolle des vorinstanzlichen Urteils erlaubte.280 Die Möglichkeit der Appellation zu den königlichen Gerichten hatte zur Folge, dass die Gerichte der Landesherrschaften und der Städte, trotz der angewachsenen Macht ihrer Gerichtsherren, weiterhin der Reichsgerichtsbarkeit unterworfen blieben.281 Daher strebten immer mehr Landesherren und Städte nach kaiserlichen Privilegien, die eine Appellation bzw. Evokation zu dem königlichen Hofgericht ausschlossen (sog. privilegium de non appellando et non evocando282), sodass die Appellation mit der Zeit zunehmend an Bedeutung einbüßte.283 Um diesem Be275 Gestützt wird diese Vermutung etwa auch durch Weber, Handbuch des Lehensrechts, S. 749 f., vgl. aber auch Walther, Rechtsmittel im Strafverfahren I, S. 33. 276 Ignor, Geschichte des Strafprozesses, S. 58 f.; Sellert/Rüping, Quellenbuch I, S. 93 Fn. 21; Walther, Rechtsmittel im Strafverfahren I, S. 33. 277 Zur Entwicklung des römischen Strafrechts vgl. Gerland, Der deutsche Strafprozess, S. 12 ff. 278 Walther, Rechtsmittel im Strafverfahren I, S. 32; Zachariä, Handbuch des deutschen Strafprozesses II, S. 580. 279 Walther, Rechtsmittel im Strafverfahren I, S. 23, 32; Zachariä, Handbuch des deutschen Strafprozesses II, S. 574; zur Rezeption des römischen Rechts Conrad, Rechtsgeschichte II, S. 339 ff. 280 Walther, Rechtsmittel im Strafverfahren I, S. 29, 32. 281 Vgl. Szidzek, Verbot der Appellation in Strafsachen, S. 134 ff., 138, der darlegt, dass eine Appellation in peinlichen Sachen in dem Alten Reich lange Zeit zulässig war und, anders als es im § 95 des Augsburger Reichsabschiedes von 1530 heißt, keinesfalls „dem alten hergebrachten Gebrauch im Heiligen Römischen Reich zuwider“ lief. 282 Ausführlich zu diesen Privilegien, Szidzek, Verbot der Appellation in Strafsachen, S. 75. 283 Conrad, Rechtsgeschichte I, S. 500; Köbler, Rechtsgeschichte, S. 115.
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deutungsverlust des Reichshofgerichts zu begegnen, wurde zu Beginn des 15. Jh. ein königliches Kammergericht errichtet, das – nach dem endgültigen Verschwinden des Reichshofgerichts im Jahre 1456 – auch die Aufgaben des Hofgerichts wahrnahm.284 Allerdings befasste sich das Kammergericht, obwohl seine Zuständigkeit in keiner Weise beschränkt war, in erster Linie mit Angelegenheiten, die das Reich, den König oder die königliche Kammer285 betrafen.286 Demnach handelte es sich bei dem Kammergericht vor allem um ein historisches Verwaltungsgericht und nicht primär um ein Appellationsgericht für Strafsachen. Doch auch die Tätigkeit des königlichen Kammergerichts verlief keinesfalls reibungslos. So war das Gericht etwa zwischen 1470 und 1475 an den Erzbischof von Mainz verpachtet oder ruhte zuweilen gänzlich.287 Deshalb wurde im Zuge der Reichsreformen nach dem Regierungsantritt Maximilians I., die im Rahmen des Reichstages zu Worms beschlossen worden waren, 1495 ein neugestaltetes Reichskammergericht mit ständigem Sitz in Frankfurt am Main errichtet.288 Hierbei handelte es sich um eine selbstständige Reichsinstitution, die von der Person des römisch-deutschen Königs, dem königlichen Hof und der königlichen Kammer unabhängig war.289 Auch war das Reichskammergericht im Gegensatz zum königlichen Kammergericht kein ausschließlich königliches Gericht, sondern ein gemeinsames Gericht des Königs und der Reichsstände290.291 Während der König oder einer seiner Vertreter den bisherigen Reichsgerichten als Richter vorsaß und die Aufgaben des Urteilers von den Großen des Reiches wahrgenommen wurden, hatte der König im Falle des Reichskammergerichts lediglich das Recht, den Richter zu bestimmen.292 Die Urteiler an dem Reichskammergericht konnten von ihm dagegen nur gemeinsam mit den Reichsständen ernannt werden.293 Da die Kammerrichter und die Beisitzer nach der Kammergerichtsordnung verpflichtet waren, auch „nach des Reiches gemeinen Rechten“ zu urteilen, wozu vor allem auch das römische Recht zählte, wurde mit der Errichtung des Kammergerichts die Rezeption des römischen Rechts – und damit auch seine Rechtsmittel – mit Gesetzeskraft anerkannt und bestätigt.294 284
Conrad, Rechtsgeschichte I, S. 501. Bei der Kammer handelte es sich um eine Behörde zur Verwaltung der Reichsfinanzen, insbesondere der Einnahmen und Steuern, vgl. Köbler, Juristisches Wörterbuch, [Kammer]. 286 Conrad, Rechtsgeschichte I, S. 501. 287 Conrad, Rechtsgeschichte I, S. 501. 288 Conrad, Rechtsgeschichte II, S. 501. 289 Conrad, Rechtsgeschichte II, S. 501. Bündig zu den Reformbestrebungen um 1500, Roth/Gmür, Rechtsgeschichte, Rn. 234 ff. 290 Die Reichsstände im Heiligen Römischen Reich waren diejenigen Personen und Verbände, die Sitz und Stimme im Reichstag hatten. 291 Conrad, Rechtsgeschichte II, S. 161; Köbler, Rechtsgeschichte, S. 158. 292 Köbler, Rechtsgeschichte, S. 158. 293 Roth/Gmür, Rechtsgeschichte, Rn. 234, 248. 294 Conrad, Rechtsgeschichte II, S. 502. 285
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Doch nicht nur das Reich hatte im 15. Jh. seine Gerichtsbarkeit neugeordnet; auch die Landesherren hatten nach dem Vorbild des königlichen Kammergerichts295 eigene Hof- und Kammergerichte als oberste Gerichte in ihren jeweiligen Territorien errichtet, in denen sie persönlich oder durch ihre Stellvertreter zu Gericht saßen.296 Die Appellation von den unteren und mittleren Gerichten des Territoriums zu diesen Hof- und Kammergerichten diente dabei nicht allein dem Zweck, den Untertanen Rechtsschutz zu gewähren, sondern war zugleich ein Machtinstrument, das eine unmittelbare Kontrolle der unteren Gerichte durch den jeweiligen Landesherren sicherstellte.
III. Das Verbot der Appellation in Strafsachen in der frühen Neuzeit 1. Verbot der Appellation zu den Reichsgerichten Das Reichskammergericht stand bei seiner Gründung noch im Dienste des Landfriedens und der Appellation.297 Eine erstinstanzliche Zuständigkeit kam ihm lediglich für die Fälle zu, in denen reichsunmittelbare Personen beklagt wurden, ein anderer ordentlicher Gerichtsstand nicht gegeben war oder andere ordentliche Gerichte dem Rechtsuchenden das Recht verweigerten.298 Auch wenn das Reichskammergericht damit zunächst vor allem ein Appellationsgericht gewesen war, wehrten sich die Territorialherren in der Frühen Neuzeit (ca. 1500 bis 1806) vermehrt gegen eine Appellation an das Reichskammergericht in Strafsachen, da es ihre Gerichtshoheit in den peinlichen Sachen zu untergraben drohte.299 Dabei argumentierten sie vor allem mit dem summarischen Charakter des nunmehr vorrangig geltenden, ebenfalls aus dem römischen Recht rezipierten Inquisitionsverfahrens300 und legten dar, dass das Inquisitionsverfahren keine Appellation kenne.301 Gerade die Schwerfälligkeit des Akkusationsverfahrens, die durch das Inquisitionsverfahren zu vermeiden gesucht worden sei, würde durch die Appellation und der dadurch bedingten wiederholten Erörterung des Verfahrensgegenstandes weiterhin beibehalten.302 Des Weiteren wurde argumentiert, dass die Appellation 295
Gemeint ist der Vorgänger des 1495 gegründeten Reichskammergerichts. Köbler, Rechtsgeschichte, S. 115. 297 Ignor, Geschichte des Strafprozesses, S. 104. 298 § 16 RKGO. 299 Poppe, Kampf um die Berufung, S. 4. Vgl. Grundlegend zu dem Verbot der Appellation sowie dem Kampf um die Appellation in der frühen Neuzeit Szidzek, Verbot der Appellation in Strafsachen, aber auch Weitzel, Kampf um die Appellation. 300 Zur Entwicklung des Inquisitionsverfahrens in den deutschen Gebieten vgl. S. 111 ff. 301 Vgl. Walther, Rechtsmittel im Strafverfahren I, S. 33; Zachariä, Handbuch des deutschen Strafprozesses II, S. 577. 302 Schmidt, Geschichte der Strafrechtspflege, S. 204. 296
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insofern überflüssig sei, als die Urteile im Inquisitionsverfahren in aller Regel auf einem Geständnis beruhten, sodass die materielle Wahrheit bedingungslos ermittelt war.303 Folglich nahm das Reichskammergericht bis 1530 in Strafsachen Appellationen ohnehin nur dann entgegen, wenn sie sich gegen Urteile richteten, die in einem Akkusationsprozess ergangen waren.304 Allerdings blieben Mandatsprozesse (die dem Beklagten ein bestimmtes Verhalten auferlegen sollten),305 außerordentliche Verfahren (die einen vorläufigen Rechtsschutz des Klägers bezweckten) sowie Nichtigkeitsklagen wegen schwerer Rechtsverstöße der Landesherren am Reichskammergericht zunächst noch statthaft, auch wenn sie Strafsachen zum Gegenstand hatten.306 Doch in dem Reichsabschied zu Augsburg von 1530 erreichten die Landesherren endgültig, dass das Reich sich verpflichtete, von jeglicher Einmischung bei der Ausübung landesherrlicher Strafgewalt abzusehen; so bestimmte § 95 des Reichsabschiedes, dass in „Peinlichen Sachen keine Appellation angenommen […] werden soll“, da dies „dem alten hergebrachten Gebrauch im Heiligen Römischen Reich zuwider“ laufe.307 Hierdurch wurde die landesherrliche Strafverfolgung und -vollstreckung einer übergeordneten Kontrolle durch das Reich entzogen und die dezentralen Machtstrukturen im Reich weiter verfestigt.308 Diese Entwicklung ist insofern bemerkenswert, da auf demselben Reichstag die – zwei Jahre später, nämlich am 27. Juli 1532, in Regensburg verabschiedete – Constitutio Criminalis Carolina beschlossen worden war, an der seit 1500 auch das Reichskammergericht mitgewirkt hatte.309 So wurde auf dem Augsburger Reichsabschied paradoxerweise einerseits eine Kriminalverfassung für das gesamte Reich beschlossen, andererseits aber dem obersten Reichsgericht jegliche Rechtsprechungskompetenz auf dem Gebiet des Strafrechts abgesprochen.310 Dennoch nahm das Reichskammergericht 303 Schmidt, Geschichte der Strafrechtspflege, S. 204; weitere Ansichten dazu, was im 16. Jh. zu einem Appellationsverbot in den Strafsachen geführt haben könnte, werden bei Szidzek, Verbot der Appellation in Strafsachen, S. 2 ff. m. w. N. dargelegt. 304 Szidzek, Verbot der Appellation in Strafsachen, S. 62 f. 305 Zur Definition des Mandatsprozesses, Köbler, Zielwörterbuch europäischer Rechtsgeschichte, [Mandatsprozess]. 306 Ignor, Geschichte des Strafprozesses, S. 104. 307 „§ 95. Item: Als jetzt etliche Zeit her von Peinlichen Sachen Vielfältig an unser Kayserlich Kammer-Gericht appellirt, auch dieselbe Appellation angenommen, darauff Proceß erkannt, und rechtlich gehandelt worden, und solches dem alten hergebrachten Gebrauch im Heiligen Römischen Reich zuwider: So setzen und ordnen Wir, daß hierfürter [sic! – richtigerweise wohl „hinfürter“ = von da an, Grimm/Grimm, Deutsches Wörterbuch, [hinfürder]] in Peinlichen Sachen keine Appellation angenommen, sondern damit nach altem hergebrachten Gebrauch gehalten werden soll“; zit. n. Szidzek, Verbot der Appellation in Strafsachen, S. 29. Ausführlicher hierzu Szidzek, Verbot der Appellation in Strafsachen, S. 6, 142 f. 308 So Szidzek, Verbot der Appellation in Strafsachen, S. 145 nach einer umfassenden Analyse und Auswertung der bisher für diese Entwicklung vorgebrachten Argumente. 309 Szidzek, Verbot der Appellation in Strafsachen, S. 2. 310 Szidzek, Verbot der Appellation in Strafsachen, S. 2.
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auch in der Folgezeit sehr vereinzelt Appellationen in Strafsachen an, wobei diese in der Regel – wie etwa bei Delikten gegen die Ehre, in Landfriedenssachen und bei Körperverletzungsdelikten – eine enge Verknüpfung mit zivilrechtlichen Fragen aufwiesen.311 Die Errichtung des Reichskammergerichts hatte jedoch keinen Einfluss auf die Stellung des Kaisers als obersten Gerichtsherrn im römisch-deutschen Reich.312 Um seine Rechtsprechungsaufgaben auch unabhängig von dem örtlich und organisatorisch von seiner Person getrennten Reichskammergericht wahrnehmen zu können, hatte Maximilian I. schon 1497 einen Hofrat errichtet, der spätestens seit 1559 unter der Bezeichnung Reichshofrat neben dem Reichskammergericht auch Justizaufgaben wahrnahm.313 Der Reichshofrat trat damit als oberstes kaiserliches Gericht neben das Reichskammergericht als Gericht der Reichsstände und war diesem sogar übergeordnet.314 Auch war der Reichshofrat von dem Appellationsverbot im Augsburger Reichsabschied nicht unmittelbar betroffen, da die Reichshofratsordnung von 1559 zunächst noch keinen Verweis auf die Reichskammergerichtsordnung von 1555 enthalten hatte.315 Eine gewisse Bindung des Reichshofrates an die Reichskammergerichtsordnung folgte allerdings aus dem kaiserlichen Befehl, wonach die Hofräte unter anderem eine Abschrift der Reichskammergerichtsordnung an sich zu nehmen hatten:316 „Und damit sich unsere hofräthe kainer unwissenheit dieser unserer ordtnung zu entschuldigen haben, so ordtnen und wöllen wir, daß ain yeder aus unsern hofräthen ein abschrifft neme und bey sich behalten, auch sonsten ain abschrifft derselben sambt ainem exemplar der güldenen bull, unsers kay. Landtfriedens und anderer reichscammergerichtsund polliceyordtnugen, auch der concordaten germanica nationis auf des hofraths tafel liegen […]“.317
311 Szidzek, Verbot der Appellation in Strafsachen, S. 39 ff. Szidzek legt dabei dar, dass von insgesamt 11.000 Prozessen vor dem Reichskammergericht, die bis 1806 geführt worden waren, nur 147 Appellationen eine i. w. S. als strafrechtlich zu bezeichnende Sache zum Gegenstand hatten, wobei 24 dieser Urteile in dem kurzen Zeitraum zwischen 1495 und 1530 gefällt wurden. Vor allem ab dem 17. Jh. fanden kaum noch Appellationen an das Reichskammergericht statt, Szidzek, Verbot der Appellation in Strafsachen, S. 41. 312 Conrad, Rechtsgeschichte II, S. 158. 313 Conrad, Rechtsgeschichte II, S. 165; Kotulla, Deutsche Verfassungsgeschichte, Rn. 72; Ortlieb, in: Amend (Hrsg.), Gerichtslandschaft Altes Reich, S. 20. Auch wenn dem Reichshofrat formal der Kaiser als Richter vorsaß, waren die Aufgaben des Richters tatsächlich einem Reichshofratspräsidenten als Vertreter des Kaisers zugewiesen, während die Aufgaben der Urteiler von sog. Reichshofräten wahrgenommen wurden, Conrad, Rechtsgeschichte II, S. 165 f. 314 Conrad, Rechtsgeschichte II, S. 165; Köbler, Rechtsgeschichte, S. 158; Sofern die Zuständigkeit des Reichshofrates mit der des Reichskammergerichts konkurrierte, hatte das zuerst mit der Sache befasste Gericht den Vorrang. 315 Szidzek, Verbot der Appellation in Strafsachen, S. 69. 316 Szidzek, Verbot der Appellation in Strafsachen, S. 70. 317 Zit. n. Szidzek, Verbot der Appellation in Strafsachen, S. 70.
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Die Reichshofratsordnung von 1654 schließlich enthielt eine Regelung, die auch den Reichshofrat ausdrücklich auf die Verfahrensvorschriften der Reichskammergerichtsordnung verpflichtete, wodurch das Appellationsverbot von da an auch unmittelbar für den Reichshofrat galt.318 Demnach war spätestens ab der Mitte des 17. Jh. im Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation eine Appellation in Strafsachen zu den obersten Reichsgerichten nicht mehr zulässig. Damit konnten Vorschriften des Reiches, welche die peinliche Gerichtsbarkeit betrafen (wie etwa die Constitutio Criminalis Carolina), gegenüber der landesherrlichen Rechtsprechung – wenn überhaupt – nur fragmentarisch durchgesetzt werden. Die Strafgerichtsbarkeit war insofern in erster Linie eine Angelegenheit der Partikularstaaten des Reiches geworden. Dabei erblickt Szidzek eine bis heute reichende Parallele zu dem Appellationsverbot zu den Reichsgerichten im römisch-deutschen Reich darin, dass auch zum Bundesgerichtshof keine vollumfängliche Appellation im Sinne einer Berufung zulässig ist.319 2. Verbot der Appellation zu den obersten Landesgerichten und alternative landesrechtliche Rechtsbehelfe Innerhalb der einzelnen Territorialstaaten des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation bestimmte allerdings nicht das Reichsrecht, sondern das dort geltende Partikularrecht, ob eine Appellation zu einem obersten Gericht des Landes statthaft war oder nicht.320 Allerdings bestimmte die Mehrzahl der Landesgesetze, dass auch eine landesinterne Appellation in Strafsachen unzulässig war.321 Die Landesgesetzgeber waren nämlich mit der Zeit aufgrund des Verbotes der Appellation zum Reichskammergericht in Strafsachen zu der allgemeinen Überzeugung gelangt, dass eine Appellation in Strafsachen nicht nur zu den Reichsgerichten, sondern generell unzulässig wäre.322 Vor allem eine Fehlinterpretation der kaiserlichen Anordnung in § 95 des Augsburger Reichsabschieds dürfte zu dieser Annahme beigetragen haben. Die Worte „So setzen und ordnen Wir, daß hierfürter in Peinlichen Sachen keine Appellation angenommen, sondern damit nach altem hergebrachten Gebrauch gehalten werden soll“ wurden fälschlicherweise offenbar dahingehend ausgelegt, dass sie an alle Gerichte des Reiches gerichtet waren, obwohl sie tatsächlich – wie sich aus dem Kontext eindeutig ergibt323 – ausschließlich an das Reichskammergericht adressiert waren.324 318
Szidzek, Verbot der Appellation in Strafsachen, S. 69. Szidzek, Verbot der Appellation in Strafsachen, S. 6. 320 Walther, Rechtsmittel im Strafverfahren I, S. 35; Zachariä, Handbuch des deutschen Strafprozesses II, S. 576, ausführlicher zu den Rechtsmitteln in der Partikulargesetzgebung des 19. Jh., Behr, Rechtsmittel der Partikulargesetzgebung, S. 7 ff. 321 Zachariä, Handbuch des deutschen Strafprozesses II, S. 577; Kries, Deutsches Strafprozessrecht, S. 40; Schmidt, Geschichte der Strafrechtspflege, S. 204. 322 Zachariä, Handbuch des deutschen Strafprozesses II, S. 577. 323 Vgl. S. 83 Fn. 307. 319
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Bestätigt wurden sie in ihrer Annahme durch die irrtümliche Vorstellung, dass auch im römischen Recht eine Appellation zugunsten des Angeklagten325 unzulässig wäre. Sie beruhte auf der Vorstellung, dass Urteile im Inquisitionsverfahren in aller Regel auf einem Geständnis beruhten, sodass die materielle Wahrheit als zweifelsfrei festgestellt galt. Eine Nachprüfung des Urteils, so die Überlegung, konnte damit schon denklogisch keine „andere“ Wahrheit zutage fördern. Verkannt wurde hierbei jedoch, dass das römische Recht die Appellation lediglich für den Fall ausgeschlossen hatte, dass das Geständnis ordnungsgemäß und nicht etwa durch Folter oder ihre Androhung erzwungen worden war.326 Ein genereller Ausschluss der Appellation im Inquisitionsverfahren war dem römischen Recht demnach gerade nicht zu entnehmen. Sofern eine Appellation ausgeschlossen war, gestatteten die peinlichen Gerichtsordnungen der Partikularstaaten dem Verurteilten jedoch oftmals eine sog. weitere Verteidigung (ulterior defensio)327, die auf die Lehren Carpzovs aus dem Jahre 1635 zurückging.328 So hieß es etwa in der Kriminal-Ordnung für die Chur- und Neumark vom 8. Juli 1717 in Cap. X § 5: „Ob auch wohl Inquisitions-Sachen an sich summarisch sind, und schleunige Erkànntniß erfordern, auch aus dieser Ursachen kein Appellations-Proceß darinnen verstattet werden soll; Weil es aber dennoch in diesen Sachen auf eines Menschen Leib und Leben, Gut und Blut, auch ehrlichen Nahmen ankommt, so soll statt der Appellation, eine Ausführung weiterer Defension, einem jeden Inquisiten nachgelassen seyn.“329
324 Vgl. Szidzek, Verbot der Appellation in Strafsachen, S. 32, der insofern auf die Passage „am keyserlichen cammergericht keyn appellation angenommen, sonder [sic!] angeregtem Gebrauch nach gehalten werde“ aus der Reichskammergerichtsordnung von 1555 verweist. Die Verallgemeinerung des § 95 des Augsburger Abschiedes bestätigend, Conrad, Rechtsgeschichte II, S. 432. Dennoch weist Szidzek nach einer Untersuchung verschiedener territorialer Strafprozessordnungen darauf hin, dass die Annahme, dass erst der Augsburger Reichsabschied von 1530 auch zu einem Appellationsverbot in den Territorialstaaten geführt habe, nicht haltbar sei. Eine Appellation i. S. d. römischen Rechts sei in vielen Territorien schon aufgrund der mangelhaften juristischen Kenntnisse nicht korrekt rezipiert worden, vgl. Szidzek, Verbot der Appellation in Strafsachen, S. 86 ff., 103 ff. 325 Die Möglichkeit einer Appellation zulasten des Angeklagten war schon de facto überflüssig, da im Inquisitionsverfahren keine von dem Gericht unabhängige Anklageinstitution existierte, die auf eine Verschärfung des bereits verhängten Urteils hätte hinwirken können, ähnl. auch Grolman, Grundsätze der Criminalrechtswissenschaft, S. 781. 326 So Szidzek, Verbot der Appellation in Strafsachen, S. 112 f. 327 Für eine umfassende Darstellung des Inquisitionsverfahrens und auch der weiteren Verteidigung vgl. S. 114 ff. 328 Szidzek, Verbot der Appellation in Strafsachen, S. 126 f. 329 Criminal-Ordnung vor die Chur- und Neumarck vom 8ten Julii [sic!] 1717 in Mylius, C.C.M., Theil II, Abtheilung 3, Nr. XXXII (Sp. 104). Die Anlagen zu den Motiven der StPO, in: Hahn (Hrsg.), Materialien zur StPO, Bd. III/1, S. 309, verweisen zwar ebenfalls auf die Norm, geben die Fundstelle jedoch mit § 5 und insofern fehlerhaft wieder.
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Auch die preußische Kriminalordnung vom 11. Dezember 1805330 gestattete dem Verurteilten, das Urteil innerhalb von zehn Tagen nach seiner Veröffentlichung mit dem Rechtsmittel der weiteren Verteidigung anzufechten.331 Neben der weiteren Verteidigung existierten in den Partikularstaaten noch weitere rechtsmittelähnliche Rechtsbehelfe.332 So unterlagen die meisten wichtigeren Entscheidungen der Gerichte einem Prüfungs- und Bestätigungsvorbehalt des Landesherrn in seiner Eigenschaft als oberster Gerichtsherr.333 Dabei war der Landesherr nicht verpflichtet, sein Prüfungs- und Bestätigungsrecht persönlich auszuüben; diese Aufgabe konnte er vielmehr an oberste Landesbehörden oder einen höheren Richter delegieren. Aufgrund dieses Prüfungs- und Bestätigungsrechts konnte die gerichtlich ausgesprochene Strafe abgeändert oder fehlerhafte Urteile korrigiert werden. Insofern stellte das Prüfungs- und Bestätigungsrecht ein Instrument dar, mit dem der Landesherr seine Gerechtigkeitsvorstellungen verwirklichen und einer unerwünschten Rechtsentwicklung in seinem Herrschaftsgebiet vorbeugen konnte und damit Rechtsmitteln durchaus nahe kam.334
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Preußische Criminal-Ordnung vom 11. Dezember 1805 (abgedruckt in Criminalrecht für die preußischen Staaten von 1806), im Folgenden PreußCrimO 1805. 331 §§ 517 f. PreußCrimO 1805; ausführlich hierzu vgl. S. 124 f. 332 Vgl. insofern Schwinge, Grundlagen des Revisionsrechts, S. 7 f., 13, 23. 333 Vgl. etwa Cap. X § 9 der Criminal-Ordnung vor die Chur- und Neumarck vom 8ten Julii [sic!] 1717 in Mylius, C.C.M., Theil II, Abtheilung 3, Nr. XXXII (Sp. 104), bzw. §§ 508 ff. PreußCrimO 1805. Ähnliche Rechte sind bis heute auch modernen (Militär-)Strafverfahrensordnungen bekannt. So gewährt etwa § 860 Abs. (c) UAbs. (1) des Uniform Code of Military Justice (das U. S.-amerikanische Militärstrafrecht) dem Befehlshaber, der das Strafverfahren gegen einen Untergebenen einleitet (der sog. convening authority), das Recht, die Urteile der Militärstrafgerichte abzuändern, was als Ausfluss des sog. „Führungsvorrechts“ des Befehlshabers (command prerogative) aufgefasst wird. § 860 Abs. (b) UAbs. (1) des Uniform Code of Military Justice gestattet dabei dem Verurteilten, sich mit einem Antrag auf Prüfung der Tatsachen und des Urteils an den Befehlshaber zu wenden. Eine ähnliche Regelung im britischen Militärrecht räumte dem sog. confirming officer das Prüfungs- und Bestätigungsrecht ein, wobei ihm übergeordnete reviewing authorities, die ebenfalls der Exekutive angehörten, seine Entscheidung überprüfen und die Entscheidungen der britischen Militärtribunale aufheben konnten. Diese Praxis wurde vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte jedoch für konventionswidrig befunden, da sie die Unabhängigkeit der Justiz i. S. d. Art. 6 Abs. 1 EMRK nicht mehr gewährleiste, Findlay v. The United Kingdom, Urteil vom 25. Februar 1997, Reports 1997-I, Rn. 73 ff. Nach einer darauffolgenden Reform des Militärstrafverfahrensrechts im Vereinigten Königreich kam eine ähnliche Kompetenz nur noch einer reformierten reviewing authority zu; doch auch die neue Praxis wurde von dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in Morris v. The United Kingdom, Nr. 38784/97, Urteil vom 26. Februar 2002, Reports 2002-I, Rn. 73 ff., für unzulässig erklärt. Dennoch zeigen diese Beispiele, dass die alten Bräuche, die der Exekutive einen Vorrang gegenüber der Judikative einräumten, selbst in modernen Rechtsordnungen noch Geltung beanspruchen können. 334 Ähnl. ist es auch den Anlagen zu den Motiven der StPO, in: Hahn (Hrsg.), Materialien zur StPO, Bd. III/1, S. 304 f., zu entnehmen; ausführlich zu dem Prüfungs- und Bestätigungsrecht Mittermaier, Das deutsche Strafverfahren II, S. 600 ff.
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IV. Wiederentdeckung der Appellation im Zeitalter des liberalen Rechtsstaates Wesentliche Veränderungen des Strafverfahrens und der Rechtsmittel gingen mit dem Zusammenbruch des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation im frühen 19. Jh. und den darauffolgenden Reformen einher. Bevor jedoch im Einzelnen aufgezeigt wird, welche Entwicklungen das Rechtsmittelrecht in dieser Zeit erfahren hat, soll der Übersicht halber zunächst knapp zusammengefasst werden, welche politischen Verhältnisse diese Entwicklungen umgaben. 1. Politische Verhältnisse in den deutschen Gebieten nach 1806 Mit Niederlegung der Reichskrone und der Auflösung des römisch-deutschen Reiches am 6. August 1806 durch Kaiser Franz II. begann das Zeitalter des liberalen Rechtsstaates (1806 bis 1900), in dem maßgebliche staatsorganisatorische Veränderungen stattfanden. Unmittelbar nach dem Zerfall des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation bildete sich auf Napoleons Initiative hin zunächst der Rheinbund. Bei diesem handelte es sich um ein Militärbündnis zwischen 16 deutschen Fürsten mit Frankreich als Alliiertem; bis zum Ende des Jahres 1808 traten dem Rheinbund weitere 23 deutsche Fürsten bei.335 Reichsstände, die nicht dem Rheinbund angehörten – wie etwa die Staaten Preußen, Österreich, Kurhessen und Braunschweig – hatten dagegen mit dem Zerfall des Reiches volle Souveränität erlangt.336 Allerdings zerfiel der Rheinbund schon 1813 nach der Niederlage Napoleons in der Völkerschlacht bei Leipzig.337 Die linksrheinischen deutschen Gebiete, die seit 1794 französischer Besatzung unterlagen, wurden daraufhin von Bayern (Rheinbayern), Hessen (Rheinhessen) und Preußen (Rheinprovinz) in Besitz genommen. Schon kurz darauf wurde mit der Bundesakte vom 8. Juni 1815 der Deutsche Bund als Staatenbund gegründet, dem die meisten Staaten des ehemaligen Heiligen Römischen Reiches angehörten.338 1833 erfolgte zudem auf Betreiben Preußens die Gründung des Deutschen Zollvereins, der zu einem einheitlichen Wirtschaftsgebiet und Freihandelszone führte.339 Einen bedeutenden Versuch, aus dem Deutschen Bund einen Bundesstaat zu formen, unternahm die Deutsche Verfassungsgebende Nationalversammlung, die im Verlauf der Märzrevolution von 1848 in der Frankfurter Paulskirche zusammengekommen war. Sie beschloss am 28. März 1849 mit 335
Kotulla, Deutsche Verfassungsgeschichte, Rn. 1153 ff. Roth/Gmür, Rechtsgeschichte, Rn. 259. 337 Weber-Fas, Epochen deutscher Staatlichkeit, S. 67; Kotulla, Deutsche Verfassungsgeschichte, Rn. 1184. 338 Kotulla, Deutsche Verfassungsgeschichte, Rn. 1304, 1315 ff. 339 Kotulla, Deutsche Verfassungsgeschichte, Rn. 1612 ff. 336
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der Zustimmung von 28 von 39 Mitgliedsstaaten des Deutschen Bundes340 eine „Verfassung des Deutschen Reiches“, die als Paulskirchenverfassung in die Geschichte eingehen sollte.341 Obwohl auch Sachsen und Württemberg innerhalb weniger Wochen der Verfassung zustimmten, scheiterte ihre Durchsetzung zum einen am Widerstand der großdeutschen Staaten Österreich und Preußen, die sich von den revolutionären Verhältnissen im Inneren erholt hatten, und zum anderen an der Weigerung des preußischen Königs Friedrich Wilhelm IV. die ihm quasi „von Volkes Gnaden“ angebotene Kaiserkrone anzunehmen.342 So änderte sich zunächst nichts an der Natur des Deutschen Bundes als Staatenbund. Dennoch blieben die Verhältnisse im Deutschen Bund angespannt und führten letztendlich zu dem Deutschen Krieg zwischen dem Deutschen Bund, der von Österreich angeführt wurde, und Preußen und seinen Verbündeten.343 Das unterlegene Österreich erkannte im Prager Frieden vom 23. August 1866 die Auflösung des Deutschen Bundes an.344 Zugleich war bereits am 18. August 1866 auf Initiative Preußens ein Bund zwischen Preußen und 21 norddeutschen Staaten geschlossen worden, aus dem kurz darauf der Norddeutsche Bund hervorging.345 Aus diesem Staatenbund entwickelte sich für eine kurze Zeit ein neuer Deutscher Bund und 1871 das – nach dem römisch-deutschen Reich – zweite Deutsche Reich in Verwirklichung einer kleindeutschen Lösung ohne Österreich.346 Hierbei handelte es sich um einen aus 25 Einzelstaaten347 bestehenden Bundesstaat, bei dem Preußen eine besondere 340
Diese waren Anhalt-Bernburg, Anhalt-Dessau, Anhalt-Köthen, Baden, Braunschweig, Großherzogtum Hessen, Hohenzollern-Hechingen, Hohenzollern-Sigmaringen, Kurhessen, Lauenburg, Mecklenburg-Schwerin, Mecklenburg-Strelitz, Nassau, Oldenburg, Reuß ältere Linie, Reuß jüngere Linie, Sachsen-Weimar, Sachsen-Altenburg, Sachsen-Coburg-Gotha, SachsenMeiningen-Hildburghausen, Schleswig-Holstein, Schwarzburg-Rudolstadt, Schwarzburg-Sonderhausen und Waldeck sowie die vier freien Städte Bremen, Frankfurt, Hamburg und Lübeck. 341 Verfassung des Deutschen Reiches, RGBl. (FN) 1849, 101. Vgl. auch Kimminich, Verfassungsgeschichte, S. 52; Kries, Deutsches Strafprozessrecht. 342 Kimminich, Verfassungsgeschichte, S. 52; Köbler, Rechtsgeschichte, S. 176 ff.; Kotulla, Deutsche Verfassungsgeschichte, Rn. 1742 ff. Neben Preußen und Österreich hatten auch Bayern, Hannover, Hessen-Homburg, Liechtenstein, Lippe-Detmold, Luxemburg-Limburg, Schaumburg-Lippe der Paulskirchenverfassung nicht zugestimmt. Selbst nach den Vorstellungen der Autoren der Verfassung sollten diesen Staaten 113 oder 192 Stimmen im Staatenhaus, der ersten Kammer des Parlamentes, zustehen (vgl. § 87 der Paulkirchenverfassung), sodass davon auszugehen ist, dass eine mehrheitliche Zustimmung zu dem Verfassungsentwurf zu keinem Zeitpunkt vorlag. 343 Vgl. Kotulla, Deutsche Verfassungsgeschichte, Rn. 1877 ff. 344 Kotulla, Deutsche Verfassungsgeschichte, Rn. 1908. 345 Kotulla, Deutsche Verfassungsgeschichte, Rn. 1920 ff. 346 Kotulla, Deutsche Verfassungsgeschichte, Rn. 2010 ff., 2036. 347 Diese waren gem. Art. 1 der Reichsverfassung die Staaten Preußen mit Lauenburg, Bayern, Sachsen, Württemberg, Baden, Hessen, Mecklenburg-Schwerin, Sachsen-Weimar, Mecklenburg-Strelitz, Oldenburg, Braunschweig, Sachsen-Meiningen, Sachsen-Altenburg, Sachsen-Koburg-Gotha [sic!], Anhalt, Schwarzburg-Rudolstadt, Schwarzburg-Sondershausen, Waldeck, Reuß älterer Linie, Reuß jüngerer Linie, Schaumburg-Lippe, Lippe, Lübeck, Bremen und Hamburg.
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Vormachtstellung innehatte, da der preußische König schon von Verfassungs wegen auch Deutscher Kaiser war und das Recht besaß, den Reichskanzler zu bestimmen.348 Zu dem Staatsgebiet des Deutschen Reiches gehörte dabei neben den 25 Bundesstaaten auch das unmittelbar dem Reich angehörige Reichsland Elsass-Lothringen.349 2. Entwicklung der Rechtsmittel im frühen 19. Jahrhundert Die oben dargelegten politischen Ereignisse blieben nicht ohne Einfluss auf das deutsche Strafverfahrensrecht. Schon die Deutsche Bundesakte vom 8. Juni 1815 hatte die Mitgliedsstaaten des Deutschen Bundes nämlich dazu verpflichtet, ihre Gerichtsbarkeit dreigliedrig auszugestalten.350 Über einen gemeinsamen obersten Gerichtshof, ein gemeinsames Strafgesetzbuch oder eine gemeinsame Strafprozessordnung für den „beständigen Bund“ vermochten sich die einzelnen Bundesglieder jedoch nicht zu einigen.351 Erst der Reichstag des Norddeutschen Bundes hatte in einem Beschluss von 18. April 1868, dem sich auch der Bundesrat des Norddeutschen Bundes am 1. Juni 1868 angeschlossen hatte, den Kanzler des Bundes, Otto von Bismarck, aufgefordert, Entwürfe für ein gemeinsames Strafgesetzbuch sowie eine gemeinsame Strafprozessordnung anzufertigen.352 Bismarck, der zugleich auch preußischer Ministerpräsident war, delegierte diese Aufgabe mangels einer eigenen Justizverwaltung des Norddeutschen Bundes an das preußische Justizministerium.353 Bei dem nachfolgenden Entwurf eines Strafgesetzbuchs für den Norddeutschen Bund354 orientierten sich die Beamten des Ministeriums eng an dem Vorbild des preußischen Strafgesetzbuchs von 1851355.356 Mit der Gründung des Deutschen Reiches wurde das Norddeutsche Strafgesetzbuch – wie alle übrigen Bundesgesetze auch – durch § 2 Abs. 2 des Gesetzes betreffend die Verfassung des Deutschen Reichs vom 16. April 1871357 zum Reichsgesetz erklärt und erhielt die Bezeichnung „Strafgesetzbuch für das Deutsche Reich“.358 348
Art. 11 Abs. 1 Satz 1 und Art. 15 Abs. 1 der Verfassung des Deutschen Reichs i. d. F. 16. April 1871 (RGBl. 1871, 63). 349 Kotulla, Deutsche Verfassungsgeschichte, Rn. 2148 ff. 350 Art. 12 der Deutschen Bundesakte vom 8. Juni 1815. 351 Vgl. Kotulla, Deutsche Verfassungsgeschichte, Rn. 1364. 352 Kries, Deutsches Strafprozessrecht, S. 63; Gerland, Der deutsche Strafprozess, S. 25. 353 Kühne, in: Löwe/Rosenberg, Einl. F, Rn. 5. 354 Strafgesetzbuch für den Norddeutschen Bund vom 31. Mai 1870, BGBl. (Nordd. Bund) 1870, 197. 355 Strafgesetzbuch für die Preußischen Staaten vom 14. April 1851, PrGS 1851, 101. 356 Kühne, in: Löwe/Rosenberg, Einl. F, Rn. 6. 357 Gesetz betreffend die Verfassung des Deutschen Reichs vom 16. April 1871, BGBl. (Nordd. Bund) 1871, 63.
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Während der Erlass eines Reichsstrafgesetzbuchs damit nahezu ohne Komplikationen vonstattengegangen war, war die Formulierung einer gemeinsamen Strafprozessordnung für das Deutsche Reich, ein deutlich komplexerer Vorgang, der wesentlich länger dauerte und erst einige Jahre nach der Reichsgründung fertiggestellt wurde.359 Der Entwurf der Strafprozessordnung orientierte sich dabei an den Strafverfahrensgesetzen der Partikularstaaten des Deutschen Reiches und führte zu umfassenden Diskussionen zwischen den Partikularregierungen und dem Reichstag, aber auch unter den Abgeordneten des Reichstages.360 Dies ist wenig überraschend, als eine gemeinsame Strafverfahrensordnung auch bedeutete, dass einzelne Partikularstaaten ihre etablierten politischen Überzeugungen von dem „richtigen Strafverfahren“ – man denke etwa an die Fragen der Schwurgerichtsbarkeit, Schöffenverfassung, Instanzenzüge, Beweisverfahren etc. – aufgeben mussten und sich unter Umständen einer Verfahrensordnung zu beugen hatten, die sie bis dahin weder kannten noch guthießen. Für einzelne Staaten konnte eine neue Kriminalverfassung zudem bedeuten, dass sie neue Gerichte errichten oder bestehende Gerichte umbesetzen mussten, was mit erheblichen Kosten für den Landeshaushalt verbunden sein konnte. Schlussendlich gilt auch zu bedenken, dass das formelle Strafrecht – mehr noch als das materielle Strafrecht – ein Herrschaftsinstrument der Landesherren darstellte, sodass sie ein besonderes Interesse am Festhalten an bekannten Strukturen gehabt haben dürften. Die Annahme, dass es vor allem die widerstrebenden Interessen der Partikularstaaten gewesen sein dürften, die eine zügige Umsetzung eines gemeinsamen Strafverfahrens verlangsamten, wird gerade durch das vergleichsweise unkomplizierte Gesetzgebungsverfahren beim Erlass der Militärstrafgerichtsordnung von 1898 bestätigt – das Militärstrafverfahren nämlich berührte die Interessen der Bundesstaaten naturgemäß kaum, sodass es hier auch wenige Einmischungen seitens der Partikularstaaten gab.361 a) Außerordentliche Rechtsbehelfe in den Partikularrechtsordnungen Vor dem Inkrafttreten der Reichsstrafprozessordnung kannte das partikulare Recht noch eine Reihe von außerordentlichen Rechtsbehelfen gegen strafgerichtliche Urteile. Hierzu gehörte etwa die sog. Revision, die anders als die heutige Revision – der wörtlichen Bedeutung des Begriffes entsprechend – zu einer erneuten Durchsicht (re-vision) der Entscheidung durch den Landesherrn bzw. seine obersten Behörden führte, sofern der Verdacht einer Unregelmäßigkeit des Verfahrens gegeben war.362 In bedeutsamen Fällen, wie etwa wenn auf eine Todesstrafe oder eine andere schwere Strafe erkannt worden war, war die Revision unter Umständen auch von Amts wegen 358 Gesetz betreffend die Redaktion des Strafgesetzbuches für den Norddeutschen Bund als Strafgesetzbuch für das Deutsche Reich vom 15. Mai 1871, RGBl. 1871, 127. 359 Vgl. S. 106 f. 360 Vgl. insofern auch Kühne, in: Löwe/Rosenberg, Einl. F, Rn. 6. 361 Ausführlich zur Militärstrafgerichtsordnung vgl. S. 228 ff.; 345 ff. 362 Tittmann, Handbuch der Strafwissenschaft, S. 634.
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durchzuführen. Damit handelte es sich bei dieser Revision ganz offensichtlich um eine Weiterentwicklung des Prüfungs- und Bestätigungsrechts des Landesherrn. Als weitere außerordentliche Rechtsbehelfe an den Souverän sahen die Partikularrechte teilweise auch ein Ersuchen um Gnade oder eine Bitte um Milderung vor.363 Daneben erlebte im manchen Partikularstrafprozessordnungen auch das ordentliche Rechtsmittel der Appellation zu Beginn des 19. Jh. eine Renaissance, nachdem erkannt worden war, dass auch im Inquisitionsverfahren eine Möglichkeit gegeben sein muss, bei neuen Beweisen, unter Aufhebung des alten Urteils, eine erneute gerichtliche Untersuchung durchzuführen.364 Zudem wurde aus der Tatsache, dass in den Zivilsachen ursprünglich sogar eine Appellation zu dem Reichskammergericht zulässig gewesen war, gefolgert, dass auf eine solche in den Strafsachen erst recht nicht verzichtet werden konnte, da sie nicht bloß zivilrechtliche Ansprüche, sondern die Freiheit oder gar das Leben des Beschuldigten zum Gegenstand hatten.365 Infolgedessen führten viele deutsche Partikularstaaten (erneut) eine Appellation oder ein mit ihr vergleichbares Instrument in ihre Strafverfahren.366 b) Rezeption der Rechtsbehelfe des französischen Strafprozessrechts Eine umfassende Modernisierung erfuhren die deutschen Strafverfahrensordnungen durch die im frühen 19. Jh. erfolgte Rezeption des französischen Rechts,367 dessen Inquisitionsverfahren stark von dem englischen Recht geprägt war.368 Anders als in Kontinentaleuropa hatte sich in England jedoch ein Akkusationsverfahren nach germanischem Vorbild – einschließlich der Grundsätze der Mündlichkeit und Öffentlichkeit – erhalten, bei dem anstelle der Thinge Schwurgerichte getreten waren.369 Die englischen Einflüsse äußerten sich im französischen Verfahren darin, dass auch dieses nunmehr auf den Prinzipien der Anklage, Unmittelbarkeit, Mündlichkeit und Öffentlichkeit beruhte und für die Verhandlung und Entscheidung
363
Vgl. Tittmann, Handbuch der Strafwissenschaft, S. 636. Vgl. Grolman, Grundsätze der Criminalrechtswissenschaft, S. 782; Feuerbach, Lehrbuch des Peinlichen Rechts (2. Aufl.), § 615, sowie die Anlagen zu den Motiven der StPO, in: Hahn (Hrsg.), Materialien zur StPO, Bd. III/1, S. 304 m. w. N. 365 So Tittmann, Handbuch der Strafwissenschaft, S. 635; diese Entwicklung bestätigen auch die Anlagen zu den Motiven der StPO, Hahn (Hrsg.), Materialien zur StPO, Bd. III/1, S. 304 f., die weitere Nachweise hierfür aufführen, auch wenn sie fälschlicherweise auf S. 625 bei Tittmann verweisen; vgl. auch Poppe, Kampf um die Berufung, S. 4. 366 Vgl. Anlagen zu den Motiven der StPO, in: Hahn (Hrsg.), Materialien zur StPO, Bd. III/ 1, S. 305, 326 ff., wo eine erneute Abschaffung der Appellation in manchen Partikularstaaten diskutiert wird; daraus folgt denklogisch, dass die Appellation zuvor bereits eingeführt worden gewesen sein muss. 367 Zur Rezeption des französischen Rechts vgl. S. 138 ff. 368 Vgl. Schmidt, Geschichte der Strafrechtspflege, S. 325. 369 Ausführlicher zur Entwicklung der Schwurgerichte in England, Andoor, Laien in der Strafrechtsprechung, S. 31 ff. 364
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schwerer Strafsachen sogar Schwurgerichte vorsah.370 Die Rezeption des französischen Rechts hatte zur Folge, dass das deutsche Verfahren einem reformierten Strafprozess nach Vorbild des französischen Code d’Instruction Criminelle wich, wodurch – vor allem nach 1848 – die Rechtsmittel des französischen Verfahrens Einzug in die partikularen Rechtsordnungen erhielten.371 aa) Historische Rechtsbehelfe im französischen Strafprozessrecht Das französische Verfahren kannte dabei mit dem Einspruch (opposition) und der Appellation/Berufung (appel) zwei ordentliche und mit dem Kassationsrekurs (demande en cassation) und der Revision (demande en revision) zwei außerordentliche Rechtsmittel.372 Bei dem Einspruch handelte es sich um ein nicht devolutives Rechtsmittel, das mit der bundesdeutschen Beschwerde, zum Teil aber auch mit dem Einspruch gegen Strafbefehle oder im Ordnungswidrigkeitenverfahren, vergleichbar war.373 Die Berufung resp. die Appellation stellte dagegen ein devolutives Rechtsmittel gegen Urteile der Gerichte niederer (juges de paix bzw. tribunaux de simple police) und mittlerer Ordnung (tribunaux de police correctionnelle) dar, die gerichtshierarchisch mit den heutigen Amtsgerichten und Strafkammern in der Bundesrepublik Deutschland vergleichbar waren.374 Sie führte in zweiter Instanz zu einer erneuten Verhandlung der Sache vor einem Appellationsgerichtshof (Cour d’appel ),375 wobei allerdings das Unmittelbarkeits- und Mündlichkeitsprinzip nur bedingt galten.376 Dem französischen Appellationsrichter war es nämlich gestattet, aufgrund der Verfahrensakten von den Feststellungen des erstinstanzlichen Gerichts abzuweichen.377 370 Kries, Deutsches Strafprozessrecht, S. 55 ff.; Schroeder/Verrel, Strafprozessrecht, Rn. 397. 371 Kries, Deutsches Strafprozessrecht, S. 60 ff.; Zachariä, Handbuch des deutschen Strafprozesses II, S. 590; Schroeder/Verrel, Strafprozessrecht, Rn. 397. 372 Daniels, Das rheinische und französische Strafverfahren, S. 202 ff.; Zachariä, Handbuch des deutschen Strafprozesses II, S. 600. 373 Daniels, Das rheinische und französische Strafverfahren, S. 203 f. 374 Daniels, Das rheinische und französische Strafverfahren, S. 204, 211; zu den Bezeichnungen der französischen Tatgerichte vgl. Gerland, Der deutsche Strafprozess, S. 24. 375 Daniels, Das rheinische und französische Strafverfahren, S. 204, 211. 376 Das Mündlichkeitsprinzip besagt lediglich, dass alle Eingaben im Strafverfahren mündlich zu erfolgen haben Schroeder/Verrel, Strafprozessrecht, Rn. 198. Das Unmittelbarkeitsprinzip dagegen besagt, dass das Gericht von dem tatnächsten Beweismittel in unmittelbar eigener sinnlicher Wahrnehmung Kenntnis erlangen soll – so darf etwa eine Zeugenaussage grundsätzlich nicht durch die Verlesung eines Protokolls ersetzt werden (auch wenn dies strenggenommen dem Mündlichkeitsprinzip genügt) und alle Richter müssen während des gesamten Verfahrens anwesend sein, Beulke, Strafprozessrecht, Rn. 24; Walter, Freie Beweiswürdigung, S. 334. 377 Anlagen zu den Motiven der StPO, in: Hahn (Hrsg.), Materialien zur StPO, Bd. III/1, S. 306, 313.
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Das nach dem französischen Verständnis außerordentliche Rechtsmittel des Kassationsrekurses richtete sich vor allem gegen die unrichtige Anwendung der Gesetze und die Missachtung von Verfahrensvorschriften, die zwingend eine Nichtigkeit des Verfahrens auslösen sollten – allerdings setzte die Kassation voraus, dass gegen das Urteil keine ordentlichen Rechtsmittel mehr zur Verfügung standen.378 Im Falle einer erfolgreichen Kassation hob der Kassationshof (Cour de cassation) das Urteil auf und verwies die Sache an ein von ihm zu bestimmendes Gericht zurück, das allerdings der gleichen Ordnung angehören musste wie das vorinstanzliche Gericht.379 Während die Ähnlichkeiten des Kassationsrekurses zur heutigen bundesdeutschen Revision unübersehbar sind, handelte es sich bei der Revision im französischen Recht380 um einen an den Justizminister gerichteten Rechtsbehelf, mit dem die Aussetzung des Urteils und Klärung der Sache begehrt wurde; sie glich damit in vielerlei Hinsicht einer Wiederaufnahme des Verfahrens nach dem heutigen deutschen Recht. bb) Die Folgen der Rezeption des französischen Strafprozessrechts Die Rezeption des französischen Rechts hatte in den betroffenen deutschen Partikularrechtsordnungen allerdings zur Folge, dass sich die Auffassung durchsetze, dass eine Appellation, wie sie dem deutschen Recht bis dahin noch teilweise bekannt war, mit den neuentdeckten Prinzipien der Unmittelbarkeit und Mündlichkeit unvereinbar sei. Denn nachdem im deutschen Inquisitionsverfahren schon das erstinstanzliche Gericht sein Urteil aufgrund des Vortrages eines Berichterstatteters aus den schriftlichen Akten der vorangegangenen richterlichen Untersuchung (inquisitio) gefällt hatte,381 führte die Appellation – sofern sie im Inquisitionsverfahren
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Daniels, Das rheinische und französische Strafverfahren, S. 212. Daniels, Das rheinische und französische Strafverfahren, S. 217 f. 380 Die französische Revision setzte voraus, dass (1.) eine mittäterschaftliche Verurteilung an bestimmten unauflösbaren Widersprüchen litt; (2.) im Falle einer Verurteilung wegen eines Tötungsdeliktes neu aufgetauchte Urkunden den Verdacht nährten, dass das vermeintliche Opfer noch lebte oder (3.) die Verurteilung auf einer falschen Zeugenaussage beruhte. Im ersten und dritten Fall wies der Justizminister den Generalprokurator am Kassationshof (vergleichbar mit dem Generalbundesanwalt beim Bundesgerichtshof) an, die Sache dem Kassationshof vorzulegen; sofern die Revision begründet war, hob der Kassationshof die ursprüngliche Entscheidung auf und überwies die Sache zur erneuten Verhandlung an einen Assisenhof als Gericht erster Instanz. Im zweiten Fall hingegen wurden die neuaufgetauchten Schriftstücke auf den ausdrücklichen Befehl des Justizministers dem Kassationshof vorgelegt, der überprüfte, ob der Verdacht, dass das Opfer des vermeintlichen Tötungsdeliktes noch lebte, begründet war; sofern der Verdacht begründet war, überwies der Kassationshof die Sache zur weiteren Klärung an einen Appellationshof. Bestätigten die Untersuchungen des Appellationshofs den Verdacht, wurde die Sache erneut dem Kassationshof vorgelegt, der das Urteil aufhob und die Sache zur erneuten Verhandlung an ein Gericht erster Instanz überwies, vgl. ausführlich hier Daniels, Das rheinische und französische Strafverfahren, S. 221 ff. 381 Für eine umfassende Darstellung des Inquisitionsverfahrens vgl. S. 114 ff. 379
A. Ein Abriss der historischen Entwicklung der strafrechtlichen Rechtsmittel
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überhaupt noch zulässig und nicht schon durch die sog. weitere Verteidigung382 verdrängt worden war383 – lediglich zu einem neuen Vortrag aus denselben Untersuchungsakten durch ein Mitglied des höheren Gerichts vor diesem höheren Gericht.384 Der wiederholte Vortrag aus derselben Akte durch unterschiedliche Referenten vor unterschiedlichen Gerichten sollte eine umfassende Übersicht über den Akteninhalt gewährleisten und so sicherstellen, dass nichts übersehen wurde.385 Nur erforderlichenfalls ordnete das Appellationsgericht eine weitergehende Untersuchung an.386 Nachdem nunmehr aber aus dem französischen Recht ein mündliches Verfahren rezipiert worden war, erschien es widersprüchlich, daran ein solches, ausschließlich schriftliches Appellationsverfahren anzuschließen. Doch selbst eine Rezeption der französischen Appellationsvorschriften, die teilweise gerade das Unmittelbarkeits- und Mündlichkeitsprinzip berücksichtigten, wurde in vielen deutschen Partikularstaaten abgelehnt.387 Vor allem die Tatsache, dass sie dem Appellationsrichter erlaubten, auch ohne die Durchführung einer eigenen Beweisaufnahme, aufgrund der Verfahrensakten von den Feststellungen des erstinstanzlichen Richters abzuweichen und ein neues Urteil zu fällen, wurde als unvereinbar mit dem Unmittelbarkeits- und Mündlichkeitsprinzip angesehen.388 So schlugen die Gliedstaaten des Deutschen Bundes bei der Rezeption des französischen Rechtsmittelrechts unterschiedliche Wege ein.389 In manchen der Staaten wurde versucht, einen Kompromiss zwischen der althergebrachten schriftlichen Appellation und dem scheinbar mit ihr nicht kompatiblen Mündlichkeitsprinzip des rezipierten Verfahrens zu finden, während in anderen die französischen Appellationsvorschriften, ungeachtet der Kritik, dass diese dem Mündlichkeitsprinzip nicht genügten, unverändert in die eigenen Verfahrensordnungen übernommen wurden. Wiederum andere Gliedstaaten schafften die Appellation – sofern eine solche noch vorgesehen war – vollständig oder zumindest teilweise ab.390 So suchten Preußen und das Herzogtum Anhalt einen Kompromiss zwischen der althergebrachten schriftlichen Appellation und dem scheinbar mit ihr nicht kom382
Zu der weiteren Verteidigung vgl. S. 124 f. Zum Verbot der Appellation im Inquisitionsverfahren vgl. S. 82. 384 So zusammenfassend wiedergegeben im Bericht der Kommission, in: Hahn (Hrsg.), Materialien zur StPO, Bd. III/2, S. 1600 f. 385 Bericht der Kommission, in: Hahn (Hrsg.), Materialien zur StPO, Bd. III/2, S. 1601. 386 Zachariä, Handbuch des deutschen Strafprozesses II, S. 581. 387 Vgl. Anlagen zu den Motiven der StPO, in: Hahn (Hrsg.), Materialien zur StPO, Bd. III/ 1, S. 309 ff. Zur der Annahme der Unvereinbarkeit von Berufung mit dem Mündlichkeits- und Unmittelbarkeitsprinzip vgl. auch S. 194 f. 388 Anlagen zu den Motiven der StPO, in: Hahn (Hrsg.), Materialien zur StPO, Bd. III/1, S. 305, 313. 389 Anlagen zu den Motiven der StPO, in: Hahn (Hrsg.), Materialien zur StPO, Bd. III/1, S. 309. 390 Anlagen zu den Motiven der StPO, in: Hahn (Hrsg.), Materialien zur StPO, Bd. III/1, S. 309. 383
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patiblen Mündlichkeitsprinzip des rezipierten Verfahrens zu finden.391 Thüringen392, Hessen, Bayern, Bremen und Lübeck ließen ungeachtet der Kritik, dass diese dem Mündlichkeitsprinzip nicht genügte, eine unbeschränkte, wahlweise auch schriftliche Appellation nach dem Vorbild des französischen Rechts zu.393 In MecklenburgSchwerin, Mecklenburg-Strelitz, Schaumburg-Lippe und Lippe-Detmold, die weiterhin an dem schriftlichen Inquisitionsverfahren festhielten, spielte die Rezeption des mündlichen französischen Verfahrens zunächst ohnehin keine Rolle.394 So handelte es sich bei dem Rechtsmittel der Revision in beiden mecklenburgischen Staaten der Sache nach um eine weitere Verteidigung395,396 bei dem Rechtsmittel der Berufung in den beiden lippischen Staaten hingegen wohl um eine althergebrachte Appellation im spätmittelalterlichen Sinne.397 Die sonstigen deutschen Staaten schafften die Appellation in den zwei Jahrzehnten, die den Turbulenzen der Märzrevolution folgten, ganz oder teilweise ab. Vollständig abgeschafft wurde die Appellation etwa in Braunschweig (1849), Waldeck (1850), Württemberg (1868) und Oldenburg (1868), während Sachsen-Altenburg (1854), Baden (1864), das Königreich Sachsen (1868) und Hamburg (1869) die Appellation nur noch im beschränkten Maße zuließen.398
391 Vgl. Anlagen zu den Motiven der StPO, in: Hahn (Hrsg.), Materialien zur StPO, Bd. III/ 1, S. 312 Fn. 3, mit einem irrtümlichen Verweis auf § 103 des anhaltischen Gesetzes vom 10. September 1853; tatsächlich gemeint ist jedoch § 103 des Gesetzes über die Abänderung einiger Bestimmungen der Straf-Prozeßordnung vom 1. Oktober 1853 im 8. Band der Gesetzessammlung für das Herzogthum Anhalt-Dessau-Köthen, 1853/54, S. 2411 ff. 392 Hiermit dürften die thüringischen Staaten (Sachsen-Weimar, Sachsen-Meiningen, Sachsen-Altenburg, Sachsen-Coburg-Gotha, Schwarzburg-Rudolstadt, Schwarzburg-Sondershausen, Reuß älterer Linie, Reuß jüngerer Linie) und Anhalt gemeint sein, in denen die sog. thüringische Strafprozessordnung von 1850 gegolten hatte. 393 Anlagen zu den Motiven der StPO, in: Hahn (Hrsg.), Materialien zur StPO, Bd. III/1, S. 313. 394 Anlagen zu den Motiven der StPO, in: Hahn (Hrsg.), Materialien zur StPO, Bd. III/1, S. 313 Fn. 2. 395 Vgl. ausführlich zu der weiteren Verteidigung S. 124 f. 396 Vgl. die Gutachten aus den beiden mecklenburgischen Staaten in den Anlagen zu den Motiven der StPO, in: Hahn (Hrsg.), Materialien zur StPO, Bd. III/1, S. 357 ff., 360. 397 Vgl. die Gutachten aus den beiden lippischen Staaten in den Anlagen zu den Motiven der StPO, in: Hahn (Hrsg.), Materialien zur StPO, Bd. III/1, S. 368 f.; zur spätmittelalterlichen Appellation vgl. S. 80. 398 Anlagen zu den Motiven der StPO, in: Hahn (Hrsg.), Materialien zur StPO, Bd. III/1, S. 313 ff. Vgl. ebd. für eine detaillierte Darstellung der Beschränkungen der Appellation in Baden, Hamburg, Sachsen und Sachsen-Altenburg.
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V. Reform der Rechtsmittel im 19. Jahrhundert am Beispiel Preußens Vorliegend bietet sich eine Darstellung der Reform der Rechtsmittel im 19. Jh. am Beispiel Preußens vor allem deshalb an, da auch der Entwurf der Reichsstrafprozessordnung im preußischen Justizministerium ausgearbeitet worden ist und die Ähnlichkeiten zwischen dem preußischen Rechtsmittelrecht und dem Rechtsmittelrecht der Strafprozessordnung offensichtlich sind. Zudem gehörte Preußen zu den ersten deutschen Staaten, in denen die Rezeption des französischen Rechts eingesetzt hatte. Allerdings gilt zu bedenken, dass dies im Falle Preußens lediglich das rechtsrheinische Staatsgebiet betraf, da das französische Recht in seinen linksrheinischen Gebieten auch nach Beendigung der französischen Besetzung weiterhin in Kraft geblieben war. 1. Die strafrechtliche Appellation im Preußen zur Mitte des 19. Jahrhunderts Eingeführt wurde das neue Verfahren in den rechtsrheinischen Gebieten Preußens durch das Gesetz betreffend das Verfahren in den bei dem Kammergericht und dem Kriminalgericht zu Berlin zu führenden Untersuchungen vom 17. Juli 1846399, das ausschließlich in Berlin galt.400 Dieses im Zusammenhang mit dem sog. Polenprozess erlassene Gesetz setzte in Berlin das ausschließlich richterlich geführte Inquisitionsverfahren aus und führte ein durch die Anklage bedingtes reformiertes Strafverfahren ein, wobei es das Ermittlungsverfahren und die Befugnis zu Anklageerhebung in die Hände einer neugeschaffenen, weisungsabhängigen Staatsanwaltschaft legte. Anders als oftmals angenommen, diente jedoch weder das Gesetz vom 17. Juli 1846 noch die Einführung der Staatsanwaltschaft der Umsetzung der modernen Strömungen in der Strafrechtswissenschaft, sondern vor allem der effizienten Verfolgung von polnischen Nationalisten, die nach der Wiedererrichtung eines polnischen Staates strebten. Da eine richterliche Untersuchung im Rahmen des Inquisitionsverfahrens401 zu zeitaufwendig gewesen und jeder Einflussnahme durch die Justizverwaltung entzogen wäre, sollte durch die Einführung einer weisungsgebundenen Staatsanwalt399
PrGS 1846, 267. Vgl. Präambel des Gesetzes betreffend das Verfahren in den bei dem Kammergericht und dem Kriminalgericht zu Berlin zu führenden Untersuchungen vom 17. Juli 1846, PrGS 1846, 267. Zwar weisen Krieter, Historische Entwicklung der freien Beweiswürdigung, S. 25, und Hettinger, Fragerecht im reformierten Inquisitionsprozess, S. 98, auf ein Gesetz resp. eine Verordnung vom 7. April 1847 hin, wodurch das Verfahren nach dem Gesetz vom 17. Juli 1846 auch auf andere Kriminalgerichte in Preußen ausgedehnt worden sein soll, doch wurde am 7. April 1847 neben zwei Verordnungen, die u. a. in den Verfahren nach dem Gesetz vom 17. Juli 1846 die Öffentlichkeit anordneten, lediglich eine Kabinettsorder erlassen, welche die Publikation der besagten Verordnungen anordnete, vgl. PrGS 1847, S. X. 401 Zur richterlichen Untersuchung im Inquisitionsverfahren vgl. S. 115 ff. 400
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schaft sichergestellt werden, dass die Verfahren einer effizienten Steuerung durch das Justizministerium unterworfen werden konnten.402 Obwohl das Gesetz bei seinem Inkrafttreten als das Ergebnis langjähriger Reformbemühungen dargestellt worden war, die vor allem der Einführung des Mündlichkeitsprinzips dienten, hatte der König tatsächlich erst am 30. März 1846 angeordnet, ein entsprechendes Spezialgesetz auszuarbeiten, wobei er ausführte: „Uebrigens wünsche Ich, um den Schein eines Ausnahme-Verfahrens gegen die politischen Verbrecher in den ehemals polnischen Landestheilen zu vermeiden, dass die eigentliche Veranlassung dieser Anordnung nicht bekannt werde“.403 Die Einführung der Staatsanwaltschaft eröffnete der Justizverwaltung dabei nicht nur den unmittelbaren Zugriff auf einen wichtigen Teil des Strafverfahrens, sondern versetzte den Staat auch in die Lage, Rechtsmittel zulasten des Angeklagten einzulegen – eine Möglichkeit, über die er mangels eigener Beteiligtenstellung im klassischen Inquisitionsverfahren nicht verfügte.404 Das Gesetz vom 17. Juli 1846 setzte in Preußen also eine „Verstaatlichung“ des zuvor ausschließlich richterlichen Strafverfahrens in Gang, die im heutigen „reformierten Strafverfahren“ münden sollte. Die Appellation nach dem Gesetz vom 17. Juli 1846, bei der es sich um die Vorgängerin der heutigen Berufung handelte, gestattete dem Appellanten die Anfechtung jedes erstinstanzlichen Urteils.405 Grundsätzlich wurde das Appellationsverfahren dabei nach denselben Vorschriften durchgeführt, die auch für das Verfahren in erster Instanz galten.406 Eine erneute Beweisaufnahme fand in dem Appellationsverfahren in der Regel jedoch nur in Bezug auf die neu vorgebrachten Beweismittel statt – dies auch nur, wenn die neuen Tatsachen und Beweismittel dem Appellationsgericht geeignet erschienen, die Feststellungen des Gerichts erster Instanz als unrichtig darzustellen.407 Lediglich wenn das Appellationsgericht wegen wesentlicher Bedenken an den erstinstanzlichen Feststellungen eine erneute Aufnahme der bereits durch das Gericht erster Instanz aufgenommenen Beweismittel für notwendig hielt, war es befugt, diese Beweise selbst zu erheben.408 Mit der Verordnung über die Einführung des mündlichen und öffentlichen Verfahrens mit Geschworenen in Untersuchungssachen vom 3. Januar 1849409 wurde das neue Verfahren schließlich im gesamten preußischen Staatsgebiet eingeführt. Auch die Verordnung vom 3. Januar 1849 gestattete dem Appellanten, das erstin402
Ignor, Geschichte des Strafprozesses, S. 272; Vormbaum, Einführung in die moderne Strafrechtsgeschichte, S. 86, 92; Rautenberg, NJ 2003, 169, 171. 403 Zitiert nach Rautenberg, NJ 2003, 169, 171. 404 Vormbaum, Einführung in die moderne Strafrechtsgeschichte, S. 87. Vgl. hierzu auch Glaser, Der Rechtsschutz nach § 98 Abs. 2 Satz 2 StPO, S. 183 f. 405 § 72 des Gesetzes betreffend das Verfahren in den bei dem Kammergericht und dem Kriminalgericht zu Berlin zu führenden Untersuchungen vom 17. Juli 1846, PrGS 1846, 267. 406 § 86 Abs. 3 des Gesetzes vom 17. Juli 1846 (Fn. 405). 407 § 85 Satz 1 des Gesetzes vom 17. Juli 1846 (Fn. 405). 408 § 85 Satz 2 des Gesetzes vom 17. Juli 1846 (Fn. 405). 409 PrGS 1849, 14.
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stanzliche Urteil aufgrund neuer Tatsachen oder neuer Beweise anzufechten.410 Doch war das Appellationsgericht in seinen Befugnissen nunmehr etwas freier und traf seine Entscheidung im Rahmen eines erneuten mündlichen Verfahrens nach den Vorschriften für das erstinstanzliche Verfahren, bei dem gegebenenfalls auch eine erneute Beweisaufnahme stattfinden konnte.411 Die Appellation war dabei sowohl gegen die Urteile des Einzelrichters, der über Vergehen (unter anderem bei Strafnormen, die eine Freiheitsstrafe von bis zu sechs Wochen vorsahen) zu entscheiden hatte,412 als auch gegen die Urteile der sog. Gerichtsabteilungen, die für Verbrechen (unter anderem bei Strafnormen, die eine Freiheitsstrafe von sechs Wochen bis zur drei Jahren vorsahen) zuständig waren,413 zulässig. Lediglich die Urteile der mit der Verordnung neu eingeführten Schwurgerichte, die für schwere Verbrechen (unter anderem bei Strafnormen, die eine Freiheitsstrafe von über drei Jahren vorsahen) zuständig waren,414 blieben – aus naheliegenden Gründen415 – von der Appellation ausgenommen.416 Doch schon das Gesetz vom 3. Mai 1852, mit dem die Verordnung von 1849 ergänzt und teilweise reformiert wurde, schloss die Appellation gegen Urteile des Einzelrichters aus, sodass sie von da an nur noch gegen Entscheidungen der Gerichtsabteilungen zulässig war.417 Außerdem war das Appellationsgericht nunmehr verpflichtet, wie auch schon nach dem Gesetz vom 17. Juli 1846, sein Urteil grundsätzlich auf der Grundlage der erstinstanzlichen Feststellungen zu fällen.418 Lediglich wenn neue Tatsachen, neue Beweise bzw. eine gänzliche oder teilweise Wiederholung der Beweisaufnahme abweichende Feststellungen notwendig erscheinen ließen, war das Appellationsgericht berechtigt, von den Feststellungen des Gerichts erster Instanz abzuweichen.419 Eine Wiederholung der Beweisaufnahme war dem Appellationsgericht nur gestattet, wenn wesentliche und durch die bisherigen Verhandlungen nicht zu beseitigende Bedenken gegen die erstinstanzlichen
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§ 126 Satz 2 der Verordnung über die Einführung des mündlichen und öffentlichen Verfahrens mit Geschworenen in Untersuchungssachen vom 3. Januar 1849, PrGS 1849, 14. 411 § 136 der Verordnung vom 3. Januar 1849 (Fn. 410). 412 §§ 27 ff. der Verordnung vom 3. Januar 1849 (Fn. 410). Was zu jener Zeit als Vergehen angesehen wurde, kann § 27 der Verordnung entnommen werden. 413 §§ 38 ff. der Verordnung vom 3. Januar 1849 (Fn. 410). Was zu jener Zeit als Verbrechen angesehen wurde, kann § 38 der Verordnung entnommen werden. 414 §§ 60 ff. der Verordnung vom 3. Januar 1849 (Fn. 410). Was genau zu jener Zeit als schwere Verbrechen angesehen wurde, kann § 60 der Verordnung entnommen werden. 415 Vgl. hierzu S. 171 f. 416 § 126 Satz 1 der Verordnung vom 3. Januar 1849 (Fn. 410). 417 Art. 101 Abs. 1 des Gesetzes betreffend die Zusätze zu der Verordnung vom 3. Januar 1849, über die Einführung des mündlichen und öffentlichen Verfahrens mit Geschworenen in Untersuchungssachen vom 3. Mai 1852, PrGS 1852, 209. 418 Art. 101 Abs. 2 Halbsatz 1 des Gesetzes vom 3. Mai 1852 (Fn. 417). 419 Art. 101 Abs. 2 Halbsatz 2 des Gesetzes vom 3. Mai 1852 (Fn. 417).
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Tatsachenfeststellungen vorlagen oder die Wiederholung der Beweisaufnahme im Hinblick auf die neu vorgebrachten Tatsachen oder Beweise notwendig erschien.420 Am 25. Juni 1867 wurde in Preußen eine weitere, deutlich modernere Strafverfahrensordnung erlassen, die jedoch ausschließlich in den 1866 von Preußen annektierten Gebieten421 zur Anwendung kam.422 Im restlichen Preußen blieb bis zum Inkrafttreten der Reichsstrafprozessordnung das Gesetz vom 3. Mai 1852 maßgebend.423 Die Verordnung vom 25. Juni 1867 jedoch enthielt erstmalig ein Rechtsmittel mit der Bezeichnung Berufung, bei dem es sich im Wesentlichen um eine Appellation handelte und überraschenderweise erneut gegen alle erstinstanzlichen Urteile bis auf die Urteile der Schwurgerichte zulässig war.424 Das Berufungsgericht hatte jedoch grundsätzlich schriftlich zu verhandeln und seinem Urteil die Feststellungen des erstinstanzlichen Gerichts zugrunde zu legen, sodass das Verfahren im Wesentlichen der partikularrechtlichen Appellation aus dem Inquisitionsverfahren entsprach.425 Ein Beweisverfahren fand vor dem Berufungsgericht nur statt, wenn sich aufgrund neuer vorgebrachter Tatsachen oder Beweismittel erhebliche Zweifel an den erstinstanzlichen Feststellungen ergaben oder wesentliche Bedenken an den Feststellungen sich nicht im Wege einer schriftlichen Verhandlung beseitigen ließen.426 Damit stellte die Berufung in den annektierten Gebieten letztendlich eine beschränkte Appellation dar. 2. Die Nichtigkeitsbeschwerde im preußischen Strafverfahren des 19. Jahrhunderts Während die Appellation als Vorbild für die heutige Berufung gedient haben dürfte, war es wohl die Nichtigkeitsbeschwerde des preußischen Rechts, auf welche die Revision der Reichsstrafprozessordnung zurückging. Auch wenn die Motive zur Strafprozessordnung dieser Annahme ausdrücklich widersprechen,427 zeigt ein Blick
420
Art. 101 Abs. 3 des Gesetzes vom 3. Mai 1852 (Fn. 417). Diese waren das Königreich Hannover, Kurfürstentum Hessen, das Herzogtum Nassau und die freie Stadt Frankfurt (Gesetz vom 20. September 1866, PrGS 1866, 555); die Herzogtümer Holstein und Schleswig (Gesetz vom 24. Dezember 1866, PrGS 1866, 875) sowie Gebietsteile von Bayern und Großherzogtum Hessen (Gesetz vom 24. Dezember 1866, PrGS 1866, 876). 422 Eingeführt als Anlage zur Verordnung betreffend das Strafrecht und Strafverfahren in den durch das Gesetz vom 20. September 1866 und die beiden Gesetze vom 24. Dezember 1866 mit der Monarchie vereinigten Landestheilen, mit Ausnahme des vormaligen Oberamtsbezirks Meisenheim und der Enklave Kaulsdorf vom 25. Juni 1867, PrGS 1867, 921, 933. 423 Schwinge, Grundlagen des Revisionsrechts, S. 17. 424 § 364 Abs. 1 Nr. 1 der StPO für die annektierten Gebiete (Fn. 422). 425 Vgl. § 377 der StPO für die annektierten Gebiete (Fn. 422). 426 § 377 Abs. 2 der StPO für die annektierten Gebiete (Fn. 422). 427 Motive zur StPO, in: Hahn (Hrsg.), Materialien zur StPO, Bd. III/1, S. 249. 421
A. Ein Abriss der historischen Entwicklung der strafrechtlichen Rechtsmittel
101
auf die preußischen Vorschriften, dass die Verwandtschaft zwischen den beiden Rechtsinstituten kaum zu übersehen sind. a) Entwicklung der Nichtigkeitsbeschwerde im preußischen Zivilverfahren als ein Rechtsmittel zur Herstellung der Rechtseinheit Vor allem beeinflusst durch den französischen Kassationsrekurs wurde im preußischen Zivilprozess bereits 1826 die Einführung eines Rechtsmittels zu einem obersten Gerichthof erwogen, das ausschließlich die Sicherstellung der Rechtseinheit im Staatsgebiet und nicht die Berichtigung des Unrechts, das einer Partei im gerichtlichen Verfahren eventuell widerfahren war, zum Ziel hatte.428 Infolgedessen wurde das preußische Zivilverfahren mit der Verordnung über das Rechtsmittel der Revision und der Nichtigkeitsbeschwerde vom 14. Dezember 1833 um zwei neugestaltete Rechtsmittel, nämlich die Revision und die Nichtigkeitsbeschwerde, ergänzt.429 Dabei entsprach die Revision nach der Verordnung von 1833 in etwa der heutigen Berufung und gestattete dem Revisionsgericht die Nachprüfung der Tatund Rechtsfrage.430 Die Nichtigkeitsbeschwerde hingegen ersetzte die causae nullitatis nach der Allgemeinen Gerichtsordnung431 und stellte letztendlich einen außerordentlichen Rechtsbehelf dar, der erst zur Anwendung gebracht werden durfte, wenn keine ordentlichen Rechtsmitteln verfügbar waren.432 Sie setzte voraus, dass „[…] das angefochtene Urtheil einen Rechtsgrundsatz verletzt, er möge auf einer ausdrücklichen Vorschrift des Gesetzes beruhen, oder aus dem Sinne und Zusammenhange der Gesetze hervorgehen; oder wenn dasselbe einen solchen Grundsatz in Fällen, wofür er nicht bestimmt ist, in Anwendung bringt […] [oder] eine wesentliche Prozeßvorschrift verletzt.“433
Demnach war die Nichtigkeitsbeschwerde nur statthaft, wenn durch das angefochtene Urteil eine Verletzung des materiellen Rechts oder einer wesentlichen Prozessvorschrift zu besorgen war, wobei § 5 der Verordnung abschließend bestimmte, welche Prozessvorschriften als wesentlich galten. Damit wies sie bereits Ähnlichkeiten zur heutigen Revision auf. Dabei war die Nichtigkeitsbeschwerde nicht nur in den Zivilsachen, sondern auch in den Untersuchungssachen, die
428
Schwinge, Grundlagen des Revisionsrechts, S. 9 ff. PrGS 1833, 302 ff. 430 § 1 ff. der Verordnung über das Rechtsmittel der Revision und der Nichtigkeitsbeschwerde vom 14. Dezember 1833 i. V. m. Allg. Gerichtsord. I. Th., 15. Titel § 8. So aber auch Schwinge, Grundlagen des Revisionsrechts, S. 12. 431 Vgl. Allg. Gerichtsord. I. Th., 16. Titel, 1. Abschnitt, § 1 ff. 432 § 4 der Verordnung über das Rechtsmittel der Revision und der Nichtigkeitsbeschwerde vom 14. Dezember 1833, PrGS 1833, 302. 433 § 4 der Verordnung über das Rechtsmittel der Revision und der Nichtigkeitsbeschwerde vom 14. Dezember 1833, PrGS 1833, 302. 429
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2. Kap.: Eine historische Betrachtung der Entwicklung der Revision
Dienstvergehen von Beamten oder Steuervergehen zum Gegenstand hatten, zulässig.434 Gemäß § 26 der Verordnung vom 14. Dezember 1833 waren die Revision und die Nichtigkeitsbeschwerde bei dem obersten preußischen Gericht, dem Geheimen Ober-Tribunal, anzubringen. Obwohl die Nichtigkeitsbeschwerde – wie auch die preußische Revision – durch die Parteien des Verfahrens einzulegen war und nicht von Amts wegen berücksichtigt wurde, sollte sie nach dem ausdrücklichen Willen des preußischen Gesetzgebers nicht dem Zweck dienen, das Unrecht, das den Parteien möglicherweise widerfahren ist, zu beseitigen. Als außerordentlicher Rechtsbehelf diente sie vor allem dem Zweck, das Aufkommen eines unrichtigen Rechtsprinzips im preußischen Königreich zu verhindern435 – eine Tatsache, die durch den fehlenden Suspensiveffekt der Nichtigkeitsbeschwerde nochmals unterstrichen wurde.436 b) Einführung der Revision im preußischen Strafverfahren durch das Gesetz vom 17. Juli 1846 Die Bestrebungen ein mit der zivilrechtlichen Nichtigkeitsbeschwerde vergleichbares Rechtsmittel auch auf dem Gebiet des Strafverfahrens einzuführen, mündeten zunächst in dem bereits erwähnten, örtlich auf Berlin begrenzten Gesetz betreffend das Verfahren in den bei dem Kammergericht und dem Kriminalgericht zu Berlin zu führenden Untersuchungen vom 17. Juli 1846.437 Sofern in Strafsachen die Entscheidung in der Appellationsinstanz ganz oder teilweise von der Entscheidung in erster Instanz abwich, gestattete § 87 Abs. 2 des Gesetzes gegen die Entscheidung der Appellationsinstanz eine sog. Revision.438 Die Entscheidung des Appellationsgerichts, ob und inwieweit die Tatsachen für erwiesen zu erachten sind oder nicht, war von dieser Revision allerdings ausgenommen.439 Diese strafrechtliche Revision, die im Gegensatz zur zivilrechtlichen Nichtigkeitsbeschwerde ein ordentliches Rechtsmittel darstellte, war ebenfalls an dem Geheimen Ober-Tribunal anzubrin434 § 4 Halbsatz 1 der Verordnung über das Rechtsmittel der Revision und der Nichtigkeitsbeschwerde vom 14. Dezember 1833, PrGS 1833, 302. 435 So ein erläuterndes Rescript des preußischen Justizministers vom 28. Juli 1835 in der Jurist. Zeitung für die Kgl. Preuß. Staaten, Jg. 1835, S. 847, zit. nach Schwinge, Grundlagen des Revisionsrechts, S. 12. Dass die Nichtigkeitsbeschwerde kein ordentliches Rechtsmittel war, ergab sich unmittelbar aus dem Wortlaut der Verordnung, nach dem sie nur gegen Urteile statthaft war, „gegen welche die Gesetze kein ordentliches Rechtsmittel zulassen“, vgl. § 4 der Verordnung über das Rechtsmittel der Revision und der Nichtigkeitsbeschwerde vom 14. Dezember 1833, PrGS 1833, 302. 436 § 10 der Verordnung über das Rechtsmittel der Revision und der Nichtigkeitsbeschwerde vom 14. Dezember 1833, PrGS 1833, 302. 437 PrGS 1846, 267; vgl. auch Schwinge, Grundlagen des Revisionsrechts, S. 15. 438 Zu dem Rechtsmittel der Appellation nach dem preußischen Recht vgl. S. 97 ff. 439 § 91 des Gesetzes vom 17. Juli 1846 (S. 98 Fn. 405).
A. Ein Abriss der historischen Entwicklung der strafrechtlichen Rechtsmittel
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gen.440 Sofern das Geheime Ober-Tribunal die Revision, über die auf Grundlage eines Vortrages aus den schriftlichen Akten zu entscheiden war,441 für begründet erachtete, hatte es das Urteil der zweiten Instanz abzuändern, wobei die Änderungen lediglich Abweichungen des Appellationsurteils von dem erstinstanzlichen Urteil erfassen durfte.442 Damit stellte die Revision nach dem Gesetz vom 17. Juli 1846 ein Rechtsmittel dar, das sich deutlich von der heutigen Revision unterschied und letztendlich reformatorischer Natur war. Als weiteres Rechtsmittel neben der Appellation und der Revision sah das Gesetz vom 17. Juli 1846 noch die Restitution vor, die im Wesentlichen mit der Wiederaufnahme im bundesdeutschen Strafverfahren vergleichbar war.443 c) Die strafrechtliche Nichtigkeitsbeschwerde gem. der Verordnung vom 3. Januar 1849 und dem Gesetz vom 3. Mai 1852 Mit der Verordnung vom 3. Januar 1849,444 die durch das Gesetz vom 3. Mai 1852445 ergänzt und teilweise ersetzt wurde, wurden die strafrechtlichen Rechtsmittel weiter konkretisiert, aber auch teilweise eingeschränkt.446 Die Vorschriften fanden dabei im gesamten Königreich Preußen – mit Ausnahme des Gerichtsbezirkes des Appellationsgerichtshofs zu Köln, in dem das rheinisch-französische Recht weitergalt447 – Anwendung. Zudem wurde durch die Verordnung vom 3. Januar 1849 der Sprachgebrauch der Rechtsmittelvorschriften dem des Zivilverfahrens angeglichen, sodass die Bezeichnung für das Rechtsmittel gegen Appellationsentscheidungen und Entscheidungen der neugeschaffenen Schwurgerichte nicht mehr Revision, sondern Nichtigkeitsbeschwerde lautete.448 Diese Terminologie wurde auch von dem Gesetz vom 3. Mai 1852 beibehalten.449 Art. 107 des Gesetzes vom 3. Mai 1852, mit dem die strafrechtliche Nichtigkeitsbeschwerde in Preußen ihre endgültige Ausformung erhielt, lautete: „Die Nichtigkeitsbeschwerde findet Statt [sic!]:
440
§ 95 Abs. 1 des Gesetzes vom 17. Juli 1846 (S. 98 Fn. 405). § 95 Abs. 1 des Gesetzes vom 17. Juli 1846 (S. 98 Fn. 405). 442 § 96 des Gesetzes vom 17. Juli 1846 (S. 98 Fn. 405). 443 § 98 des Gesetzes vom 17. Juli 1846 (S. 98 Fn. 405). 444 Vgl. S. 99 Fn. 410. 445 Vgl. S. 99 Fn. 417. 446 Vgl. §§ 126 ff., 138 ff. der Verordnung vom 3. Januar 1849 (S. 99 Fn. 410) sowie Art. 101 ff., 106 ff. des Gesetzes vom 3. Mai 1852 (S. 99 Fn. 417). Insbesondere die Einschränkung der Appellation bestätigend: Anlagen zu den Motiven der StPO, in: Hahn (Hrsg.), Materialien zur StPO, Bd. III/1, S. 311. 447 Vgl. Präambel der Verordnung vom 3. Januar 1849 (S. 99 Fn. 410). 448 Vgl. §§ 138 ff. der Verordnung vom 3. Januar 1849 (S. 99 Fn. 410). 449 Vgl. Art. 106 ff. des Gesetzes vom 3. Mai 1852 (S. 99 Fn. 417). 441
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2. Kap.: Eine historische Betrachtung der Entwicklung der Revision
1) wegen Verletzung oder unrichtiger Anwendung eines Gesetzes oder eines Rechtsgrundsatzes; 2) wegen Verletzung oder unrichtiger Anwendung wesentlicher Vorschriften oder Grundsätze des Verfahrens“.
Dabei zählte Art. 108 des Gesetzes, wenn auch nun nicht mehr abschließend, die wesentlichen Verfahrensvorschriften auf, deren Verletzung eine Nichtigkeit des Verfahrens zur Folge haben konnten. Die Ähnlichkeiten dieser Vorschriften zu den §§ 337, 338, 344 Abs. 2 der heutigen Strafprozessordnung sind dabei unübersehbar. Anders als noch bei der Revision nach dem Gesetz vom 17. Juli 1846 sollte das Ober-Tribunal nach Art. 115 ff. des Gesetzes vom 3. Mai 1852 nur ausnahmsweise in der Sache selbst entscheiden: „Art. 115. Ist die Nichtigkeitsbeschwerde begründet, so vernichtet das Ober-Tribunal das angefochtene Urtheil. Art. 116. Liegt der Grund der Vernichtung nicht in Mängeln des Verfahrens, so erkennt der Gerichtshof in der Sache selbst, oder verweist, wenn es noch auf thatsächliche Ermittelungen [sic!] ankommt, die Sache zur anderweiten Verhandlung und Entscheidung an das Gericht der betreffenden Instanz. Art. 117. Wird das Urtheil wegen Mängel des Verfahrens vernichtet, so hat der Gerichtshof zugleich die gänzliche oder theilweise Vernichtung des Verfahrens auszusprechen und die Sache zur anderweiten Verhandlung und Entscheidung an das von ihm zu bezeichnende Gericht zu verweisen. Art. 118. Das Gericht, an welches die Sache verwiesen worden ist, muß sich der Verhandlung und Entscheidung unterziehen; es ist auch gehalten, die Rechtsgrundsätze, welche das Ober-Tribunal aufgestellt und der ausgesprochenen Vernichtung zum Grunde gelegt hat, als maaßgebend [sic!] anzuerkennen und der ferneren Verhandlung und Entscheidung gleichfalls zum Grunde zu legen, bei Strafe der Nichtigkeit.“
Diese mit den heutigen §§ 354, 355 StPO vergleichbaren Vorschriften gestalteten die Nichtigkeitsbeschwerde endgültig zu einem kassatorischen Rechtsmittel um. d) Einführung der Nichtigkeitsbeschwerde in die 1866 von Preußen annektierten Gebiete durch die Verordnung vom 25. Juni 1867 Die Verordnung vom 25. Juni 1867, die – wie bereits dargelegt450 – lediglich in großen Teilen der 1866 von Preußen annektierten Gebiete zur Anwendung kam, sah ebenfalls eine Nichtigkeitsbeschwerde vor, mit der Berufungsurteile und Urteile der Schwurgerichte angefochten werden konnten.451 Grundsätzlich handelte es sich auch bei dieser Nichtigkeitsbeschwerde um ein beschränktes Rechtsmittel, mit dem le-
450 451
Vgl. S. 100. § 364 Abs. 1 Nr. 2 der StPO für die annektierten Gebiete (S. 100 Fn. 422).
A. Ein Abriss der historischen Entwicklung der strafrechtlichen Rechtsmittel
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diglich bestimmte Aspekte der vorangegangenen Entscheidung überprüft werden konnten. So lautete § 389 der Verordnung vom 25. Juni 1867: „Die Nichtigkeitsbeschwerde ist nur dann begründet, wenn 1) die angefochtene Entscheidung auf der Verletzung oder unrichtigen Anwendung eines Gesetzes oder eines Rechtsgrundsatzes beruht, oder 2) das Verfahren, in welchem sie ergangen ist, an einer Nichtigkeit leidet.“
§ 390 Abs. 1 des Gesetzes enthielt dabei die Gründe, die zu einer Nichtigkeit des vorinstanzlichen Verfahrens führten, wobei diese „absoluten Nichtigkeitsgründe“ – anders als noch nach dem Gesetz vom 3. Mai 1952452 – erneut abschließend formuliert waren. Auch war es nunmehr möglich, die Nichtigkeitsbeschwerde zu präkludieren, falls der Beschwerdeführer durch sein Prozessverhalten im vorinstanzlichen Verfahren zum Ausdruck gebracht hatte, dass er die Rechtsverletzung als nicht nachteilhaft betrachtete.453 Die Nichtigkeitsbeschwerde gegen die in den annektierten Gebieten ergangenen Urteile war zudem nicht an dem Ober-Tribunal, sondern bei einem anderen obersten Gerichtshof, nämlich dem Ober-Appellationsgericht in Berlin, anzubringen.454 Doch auch das Ober-Appellationsgericht entschied nur ausnahmsweise in der Sache selbst; in der Regel verwies es die Sache zur anderweiten Verhandlung und Entscheidung an ein Gericht niederer Ordnung zurück: „§. 397. Ist die Nichtigkeitsbeschwerde begründet, so spricht der Gerichtshof die Vernichtung des angefochtenen Urtheils, und wenn der Grund derselben in Mängeln des Verfahrens beruht, zugleich die gänzliche oder theilweise Vernichtung des vorausgegangenen Verfahrens aus. §. 398. Liegt der Grund der Vernichtung nicht in den Mängeln des Verfahrens, sondern in der Entscheidung selbst, und kommt es in der Sache auf weitere thatsächliche Ermittelungen [sic!] nicht an, so erkennt der Gerichtshof in der Sache selbst. Bei einer zum Nachtheile des Angeklagten eintretenden Vernichtung ist dieselbe jedoch auf das vorausgegangene Verfahren auszudehnen, falls dasselbe an einer Nichtigkeit der im §. 390. unter Nr. 1. und 2. bezeichneten Art leidet, oder in der rechtzeitigen Gegenerklärung des Angeklagten aus einem anderen Nichtigkeitsgrunde mit Recht angefochten worden ist. §. 399. Findet ein Erkenntniß in der Sache selbst nicht statt, so verweist der Gerichtshof die Sache zur anderweiten Verhandlung und Entscheidung an das Gericht der betreffenden Instanz oder an das gleichstehende Gericht eines anderen Sprengels.
452
Vgl. S. 103 f. § 390 Abs. 2 Satz 1 der StPO für die annektierten Gebiete (S. 100 Fn. 422). 454 § 19 der StPO für die annektierten Gebiete (S. 100 Fn. 422) sowie § 1 der Verordnung betreffend die Errichtung eines obersten Gerichtshofes für die durch das Gesetz vom 20. September 1866. und die beiden Gesetze vom 24. Dezember 1866. der Preußischen Monarchie einverleibten Landestheile, mit Ausnahme des Gebietes der vormaligen freien Stadt Frankfurt, des vormaligen Oberamtsbezirks Meisenheim und der Enklave Kaulsdorf vom 27. Juni 1867, PrGS 1867, 1103. 453
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2. Kap.: Eine historische Betrachtung der Entwicklung der Revision
§. 400. Das Gericht, an welches die Zurückverweisung erfolgt, ist gehalten, die Rechtsgrundsätze, welche der höchste Gerichtshof aufgestellt und der ausgesprochenen Vernichtung zum Grunde gelegt hat, auch seinerseits als maaßgebend [sic!] anzuerkennen und der ferneren Verhandlung und Entscheidung gleichfalls zum Grunde zu legen. Hinsichtlich der Entscheidungen über die sachliche Zuständigkeit eines Gerichts behält es jedoch bei der Bestimmung des §. 49. sein Bewenden.“
Auch bei diesen Vorschriften dürften ihre Ähnlichkeiten zu den §§ 354, 355 der heutigen Strafprozessordnung offensichtlich sein.
VI. Die Rechtsmittel nach der Strafprozessordnung vom 1. Februar 1877 Auch die anderen Partikularstaaten des Deutschen Reiches kannten unterschiedliche Rechtsmittel gegen verfahrensabschließende Entscheidungen der Gerichte, die sich materiell jedoch nicht wesentlich von der Appellation oder der Nichtigkeitsbeschwerde in Preußen unterschieden.455 Erst durch die Einführung der Strafprozessordnung und des Gerichtsverfassungsgesetzes für das gesamte Deutsche Reich wurden diese partikularen Vorschriften durch einheitliche Rechtsmittelvorschriften ersetzt. Nachdem der Reichstag und der Bundesrat des Norddeutschen Bundes schon 1868 den Kanzler des Bundes aufgefordert hatten, Entwürfe für ein gemeinsames Strafgesetzbuch sowie eine gemeinsame Strafprozessordnung anzufertigen, war dieser allerdings erst im Januar 1873 in der Lage, dem Bundesrat einen ersten Entwurf der Reichsstrafprozessordnung zuzuleiten.456 Daraufhin überarbeitete eine von dem Bundesrat eingesetzte elfköpfige Kommission diesen Entwurf und legte am 2. Juli 1873 einen neuen Entwurf vor, der im Rahmen der anschließenden Beratungen im Plenum des Bundesrates erneut überarbeitet und etwa um eine Schwurgerichtsverfassung ergänzt wurde.457 Am 16. Juni 1874 schließlich beschloss der Bundesrat einen Entwurf der Strafprozessordnung, der dem Reichstag am 29. Oktober 1874 samt den Motiven zur Beschlussnahme vorgelegt wurde.458 Anders als die Strafverfahrensordnungen vieler Partikularstaaten hatte noch dieser Entwurf eine Appellation (Berufung) in Strafsachen ausdrücklich und ohne jede Ausnahme ausgeschlossen.459 Richterliche Entscheidungen sollten demnach 455
Fn. 1. 456
Vgl. Motive zur StPO, in: Hahn (Hrsg.), Materialien zur StPO, Bd. III/1, S. 249, insb.
Kries, Deutsches Strafprozessrecht, S. 63. Kries, Deutsches Strafprozessrecht, S. 63. 458 Zu einem zusammenfassenden Überblick des Entwurfsprozesses der StPO samt zahlreicher weiterer Nachweise vgl. Kühne, in: Löwe/Rosenberg, Einl. F, Rn. 8. Der Regierungsentwurf selbst ist in Hahn (Hrsg.), Materialien zur StPO, Bd. III/1, S. 4 ff., abgebildet. 459 Vgl. Motive zur StPO, in: Hahn (Hrsg.), Materialien zur StPO, Bd. III/1, S. 242. 457
A. Ein Abriss der historischen Entwicklung der strafrechtlichen Rechtsmittel
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lediglich mit der Beschwerde oder der Revision angefochten werden können, wobei die Revision das einzige Rechtsmittel gegen richterliche Urteile darstellen sollte.460 In § 300 des Entwurfs hieß es: „Die Revision kann nur darauf gestützt werden, daß das Urtheil auf einer Verletzung des Gesetzes beruhe. Das Gesetz ist verletzt, wenn eine Rechtsnorm nicht oder nicht richtig angewendet worden ist.“
Dabei sollte die Revision nach den Vorstellungen der Verfasser des Entwurfs ein anderes und besseres Rechtsmittel darstellen als es die Nichtigkeitsbeschwerde der Partikularrechtsordnungen gewesen war; so heißt es in den Motiven hierzu: „Für den Entwurf konnte es […] nicht zweifelhaft sein, daß er das Rechtsmittel der Nichtigkeitsbeschwerde nicht aufzunehmen habe, daß es vielmehr seine Aufgabe sei, dasselbe durch ein besseres zu ersetzen“.461 Wie schon ein summarischer Vergleich der Revisionsvorschriften des Entwurfs mit den entsprechenden Nichtigkeitsbeschwerde-Vorschriften des preußischen Gesetzes vom 3. Mai 1852 aufzeigt, handelte es sich bei der Revision jedoch mitnichten um ein völlig neues Rechtsmittel, wie es die Motive darzulegen suchten.462 Schon die Ähnlichkeiten zwischen dem oben wiedergegebenen § 300 Abs. 1 des Entwurfs der Strafprozessordnung und dem Art. 107 Nr. 1 des Gesetzes vom 3. Mai 1852463 sind nicht von der Hand zu weisen. Gleiches gilt für § 301 des Entwurfs, der absolute Revisionsgründe enthielt, bei deren Vorliegen eine Gesetzesverletzung unwiderlegbar vermutet wurde. Dieser war konzeptionell identisch mit Art. 108 des Gesetzes vom 3. Mai 1852,464 in dem auch schon der preußischen Strafgesetzgeber beispielhaft absolute Nichtigkeitsgründe aufgezählt hatte. Auch ein Vergleich der nachfolgend wiedergegebenen §§ 315 ff. des Entwurfs mit den Art. 115 ff. des Gesetzes vom 3. Mai 1852, die ebenfalls weiter oben im Wortlaut wiedergegeben sind,465 offenbaren offensichtliche Parallelen zwischen dem Revisions- und dem Nichtigkeitsbeschwerdeverfahren. Wie schon das preußische Ober-Tribunal sollte nämlich auch das Revisionsgericht nach dem Entwurf nur ausnahmsweise in der Sache selbst entscheiden: „§ 315. Insoweit die Revision für begründet erachtet wird, ist das angefochtene Urtheil aufzuheben.
460
§§ 290 Abs. 1, 299 Abs. 1 des Regierungsentwurfs (Fn. 458). Motive zur StPO, in: Hahn (Hrsg.), Materialien zur StPO, Bd. III/1, S. 249. 462 Ähnl. auch Löwe/Hellweg, StPO (11. Aufl.), zum vierten Abschnitt des dritten Buchs (S. 792). 463 Vgl. S. 103 f. 464 Vgl. S. 99 Fn. 417. 465 Die Art. 115 ff. des Gesetzes vom 3. Mai 1852 sind auf S. 104 der vorliegenden Arbeit wörtlich wiedergegeben. 461
108
2. Kap.: Eine historische Betrachtung der Entwicklung der Revision
Gleichzeitig sind die dem Urtheil zu Grunde liegenden Feststellungen aufzuheben, sofern sie durch die Gesetzesverletzung betroffen werden, wegen deren die Aufhebung des Urteils erfolgt. § 316. Erfolgt die Aufhebung des Urtheils nur wegen Gesetzesverletzung bei Anwendung des Gesetzes auf die dem Urtheil zu Grunde liegenden Feststellungen, so hat das Revisionsgericht in der Sache selbst zu entscheiden, sofern ohne weitere thatsächliche Erörterungen nur auf Freisprechung zu erkennen ist. In anderen Fällen ist die Sache zur anderweiten Verhandlung und Entscheidung an das Gericht zurück zu verweisen, welches in erster Instanz erkannt hat. Die Zurückverweisung kann an das Gericht niederer Ordnung erfolgen, wenn die noch in Frage kommende strafbare Handlung zu dessen Zuständigkeit gehört.“
Soweit das Rechtsmittel begründet war, sollte also auch das Revisionsgericht das angefochtene Urteil aufheben und die Sache an ein anderes Tatgericht zur erneuten Verhandlung zurückverweisen. Selbst die in § 319 des Entwurfs ausgesprochene Bindung des in derselben Sache neuverhandelnden Tatgerichts an die rechtliche Beurteilung des Revisionsgerichts findet sich schon in ähnlicher Weise in Art. 118 des Gesetzes vom 3. Mai 1852 wieder.466 Dieser Entwurf der Strafprozessordnung wurde vom Reichstag nach seiner ersten Lesung, die vom 24. bis zum 27. November 1874 gedauert hatte, einer Justizkommission aus 28 Mitgliedern (27 Juristen und einem Mediziner467) überwiesen.468 Diese von Legislaturperioden und Sessionen des Reichstages unabhängige Reichsjustizkommission überarbeitete den Regierungsentwurf in zwei Lesungen, die aus mehreren Sitzungen bestanden und bis Herbst 1876 andauerten.469 Da sich jedoch bereits dabei abzeichnete, dass die so überarbeitete Fassung des Entwurfs nicht die uneingeschränkte Zustimmung der verbündeten Regierungen im Bundesrat finden würde, wurde in zwei weiteren Lesungen im Reichstagsplenum ein Kompromissvorschlag erarbeitet, dem schließlich auch der Bundesrat zustimmte.470 Die endgültige Fassung der Strafprozessordnung wurde am 1. Februar 1877 verkündet und trat mit kleineren Änderungen mit den übrigen Reichsjustizgesetzen am 1. Oktober 1879 in Kraft. Seither haben die in der Strafprozessordnung enthaltenen Rechtsmittelvorschriften nur unwesentliche Veränderungen erfahren, sodass sich insbesondere die Vorschriften betreffend die Revision bis heute noch im Wesentlichen unverändert in Kraft befinden.471
466
Für eine genaue Fundstelle des Gesetzes vom 3. Mai 1852 vgl. S. 99 Fn. 417. Zur Zusammensetzung der Reichsjustizkommission vgl. Dochow, in: Holtzendorff (Hrsg.), Handbuch des deutschen Strafprozeßrechts, S. 119. 468 Kühne, in: Löwe/Rosenberg, Einl. F, Rn. 8. 469 Kries, Deutsches Strafprozessrecht, S. 64. 470 Kries, Deutsches Strafprozessrecht, S. 65; Kühne, in: Löwe/Rosenberg, Einl. F, Rn. 9 mit zahlreichen weiteren Nachweisen. 471 Rosenau, in: FS Widmaier, S. 524. 467
B. Die Beschränkung der Revision auf Rechtsfragen
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B. Die Beschränkung der Revision auf Rechtsfragen als eine Folge der Einführung der freien Beweiswürdigung Nachdem im vorangegangen Abschnitt rekapituliert wurde, wie sich die Rechtsmittel in den deutschen Gebieten allgemein entwickelt haben, soll es im Folgenden um die Frage gehen, was den Reichsgesetzgeber dazu motiviert hat, gegen erstinstanzliche Urteile der Landgerichte ausschließlich die auf die Rechtsfragen beschränkte Revision zuzulassen. Dabei wird sich zeigen, dass diese Beschränkung vor allem auf eine subjektivistisch geprägte Vorstellung des historischen Gesetzgebers von der freien Beweiswürdigung zurückzuführen ist – eben daher befassen sich die ersten drei Unterabschnitte des vorliegenden Abschnittes mit der Rezeption der freien Beweiswürdigung in das deutsche Strafverfahren. Gestützt auf diese Ausführungen wird anschließend dargelegt, wie der historische Gesetzgeber zu dem irrtümlichen Schluss gelangte, dass im Strafverfahren grundsätzlich kein Raum für ein auch die Tatfragen umfassendes Rechtsmittel gäbe.
I. Die Beweiskognition vor der Einführung der freien Beweiswürdigung Bis zur Einführung der freien Beweiswürdigung existierten über die Jahrhunderte verschiedene Methoden, die Schuld oder die Unschuld des Beschuldigten mutmaßlich festzustellen. Besonders beachtenswert in diesem Zusammenhang ist die Beweiskognition im Rahmen des klassischen Akkusationsverfahrens und des Inquisitionsverfahrens. Vor allem die immer wieder zu vernehmende Aussage, dass im Inquisitionsverfahren aufgrund der Bindung der Richter an die gesetzlichen Beweisregeln kein Raum für eine Beweiswürdigung vorhanden gewesen sei,472 wird hierbei näher zu untersuchen sein. 1. Beweiserbringung durch formale Beweismittel im Akkusationsprozess Bis in das Hohe Mittelalter herrschte in den deutschen Gebieten der öffentliche und mündliche Akkusationsprozess vor, in dem es der verletzten Partei oblag, Anklage gegen den vermeintlichen Übeltäter zu erheben. In diesem, dem heutigen Zivilverfahren nicht unähnlichen, Parteienprozess war es die Aufgabe des Anklägers, Beweise für die behauptete Tat beizubringen, während es dem Angeklagten oblag, diese durch Gegenbeweise zu erschüttern.473 Auch wenn hierbei gelegentlich Urkunden, Zeugenaussagen oder Geständnisse zur Anwendung kamen, kannte der 472 So etwa Frisch, in: FS Stürner, S. 851 f.; Küper, in: FS Peters, S. 25; Krieter, Historische Entwicklung der freien Beweiswürdigung, S. 3 f., 7, 11. 473 So auch Schmitt, Die richterliche Beweiswürdigung im Strafprozeß, S. 83 f.
110
2. Kap.: Eine historische Betrachtung der Entwicklung der Revision
klassische Akkusationsprozess in aller Regel keine rationalen Beweismittel. Die Beweise für und gegen die Tat wurden vielmehr durch sog. formale bzw. irrationale Beweismittel erbracht.474 So etwa konnte der Angeklagte seine Unschuld beweisen, indem er sich einem Zweikampf stellte, sich einem Gottesurteil unterzog oder einen Eid leistete.475 Der Beweis für die Tat des Angeklagten wurde aus dem Ausgang dieser Prüfungen gefolgert, sodass im Akkusationsprozess wenig Raum für eine Beweiswürdigung im engeren Sinne war.476 Im 13. Jh. jedoch setzte sich vor allem in der kirchlichen Lehre die Einsicht durch, dass es dem Menschen nicht zustehe, Gott auf die Probe zu stellen.477 So verbot Papst Innozenz III. dem Klerus 1215 im Rahmen des IV. Laterankonzils – der bis dahin größten und bedeutendsten Zusammenkunft der Westkirche im Mittelalter –, sich an den Ordalien (Gottesurteilen) zu beteiligen. Ohne die Mitwirkung der Geistlichen verloren die Gottesurteile in der Folge an Autorität,478 sodass zunächst an den kirchlichen Gerichten, dann aber im zunehmenden Maße auch an den weltlichen Gerichten auf rationale Beweise wie dem Geständnis des Angeklagten oder dem Zeugnis zweier glaubhafter Zeugen zurückgegriffen wurden.479
474 Ausführlicher Conrad, Rechtsgeschichte I, S. 506 f.; Schmidt, Geschichte der Strafrechtspflege, S. 39; Schmitt, Die richterliche Beweiswürdigung im Strafprozeß, S. 84. 475 Ein Eid musste in der Regel durch sog. Eideshelfer bestätigt werden. Diese Bestätigung bezog sich jedoch nicht auf den Wahrheitsgehalt des Eides. Denn die Beweiswirkung des Eides entstammte nicht seinem materiellen Wahrheitsgehalt, sondern vielmehr dem gesellschaftlichen Ansehen und der allgemeinen Glaubwürdigkeit des Eidleistenden. So bestätigten die Eideshelfer durch ihren Eid, dass es sich bei dem Beschuldigten um eine ehrbare Person handelte, für den sie bereit waren, einzustehen, Schmidt, Geschichte der Strafrechtspflege, S. 40; Gerland, Der deutsche Strafprozess, S. 16; ausführlich zum Reinigungseid, Kries, Deutsches Strafprozessrecht, S. 13 ff. Die Beweiswirkung der Zweikämpfe und Gottesurteile hingegen beruhte auf der göttlichen Bedeutung, die ihrem Ausgang zugesprochen wurde, siehe Schmidt, Geschichte der Strafrechtspflege, S. 39, 76; Gerland, Der deutsche Strafprozess, S. 16; vgl. auch Schmitt, Die richterliche Beweiswürdigung im Strafprozeß, S. 86 ff. 476 Schmitt, Die richterliche Beweiswürdigung im Strafprozeß, S. 89 ff. 477 Vgl. nur 5 Mose 6,16 in der Einheitsübersetzung der Bibel, wo es heißt: „Ihr sollt den Herrn, euren Gott, nicht auf die Probe stellen, wie ihr ihn bei Massa auf die Probe gestellt habt“ bzw. die luthersche Originalausgabe, in der es heißt: „Jr solt den HERRN ewrn Gott nicht versuchen / wie jr jn versuchtet zu Massa“; vgl. auch Andoor, Laien in der Strafrechtsprechung, S. 33 m. w. N. 478 Vgl. etwa Conrad, Rechtsgeschichte I, S. 507 f. Zwar bedeutete dieses Verbot keinesfalls, dass keine Ordalien mehr durchgeführt wurden, doch wurde hierdurch eine Entwicklung in Gang gesetzt, die mittelfristig zur Einschränkung der Gottesurteile führte, Conrad, Rechtsgeschichte I, S. 507 f. 479 Roth/Gmür, Rechtsgeschichte, Rn. 221 ff.
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2. Entwicklung des Inquisitionsprozesses und die Einführung gesetzlicher Beweisregeln a) Die Verdrängung des Akkusationsprozesses durch das Inquisitionsverfahren Nicht nur das Beweisrecht entwickelte sich aber im 13. Jh. weiter; auch der Akkusationsprozess wurde nach und nach durch einen neuen Verfahrenstyp abgelöst. Anders als das Akkusationsverfahren wurde dieses sog. Inquisitionsverfahren von Amts wegen durchgeführt, sodass die Verfolgung strafbarer Handlungen nicht mehr von dem Willen des Verletzten abhängig war. Maßgeblich für die Entwicklung dieses neuen Verfahrens dürfte ebenfalls die Unzufriedenheit des Papstes Innozenz III. mit dem Erscheinungsbild der Kirche während seines Pontifikats von 1198 bis 1216 gewesen sein. Dieses war geprägt von Ämterkäufen, Verschwendung, Korruption und dem schlechten Lebenswandel vieler Kleriker.480 Zwar bot das kirchliche Strafrecht – das auch heute noch in den Cann. 1311 – 1399 des Codex Iuris Canonici normiert ist481 – verschiedene Möglichkeiten, pflichtvergessene Kleriker zu sanktionieren, dennoch waren seine Instrumente nicht hinreichend geeignet, den Missständen in der Kirche zu begegnen.482 Denn auch bei dem kanonischen Strafprozess handelte es sich um ein Akkusationsverfahren, bei dem der Kläger die volle Beweislast für die von ihm vorgetragenen Anschuldigungen trug, womit gewisse Prozessrisiken verbunden waren.483 Gerade bei Verfehlungen von hohen Geistlichen, die in aller Regel auch mächtige weltliche Ämter bekleideten, fanden sich deshalb nur wenige, die bereit waren, diese rechtlichen, aber auch faktischen Risiken auf sich zu nehmen und Anklage zu erheben.484 Abhilfe schien das sog. Infamieverfahren zu versprechen, das den Kirchenoberen gestattete, auch ohne eine Anklageerhebung mit den Mitteln des Kirchenrechts einzuschreiten, wenn aufgrund vermeintlicher Vergehen eines Geistlichen ein Gerücht (infamia) über ihn bei Personen von gesellschaftlichem Ansehen entstanden war.485 Somit erlaubte das Infamieverfahren beim Vorliegen eines qualifizierten Anfangsverdachts die Einleitung eines Offizialverfahrens.486 Allerdings konnte sich der Beschuldigte auch im Rahmen des Infamieverfahrens durch einen sog. Reinigungseid von den Tatvorwürfen freisprechen, indem er seine eigene Integrität be480
Ignor, Geschichte des Strafprozesses, S. 48. Auch wenn die Kirche das kirchliche Strafrecht noch heute als Strafrecht i. e. S. begreift, handelt es sich dabei wohl eher um eine Form des Disziplinarrechts für Angehörige der römisch-katholischen Kirche. 482 Ignor, Geschichte des Strafprozesses, S. 48; vgl. auch Jerouschek, ZStW (104) 1992, 328, 334 f. m. w. N. 483 Ignor, Geschichte des Strafprozesses, S. 48; Gerland, Der deutsche Strafprozess, S. 17. 484 Ignor, Geschichte des Strafprozesses, S. 48; Jerouschek, ZStW (104) 1992, 328, 335. 485 Ignor, Geschichte des Strafprozesses, S. 48; Zopfs, in dubio pro reo, S. 122. 486 Vgl. Gerland, Der deutsche Strafprozess, S. 17 f. 481
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schwor und sein Ehrenwort gab, dass die gegen ihn erhobenen Tatvorwürfe unbegründet seien.487 Zwar riskierte der Beschuldigte für den Fall, dass er einen Meineid leistete, sein Seelenheil, doch naheliegenderweise waren viele Kleriker durchaus bereit, ihren seelischen Frieden zu riskieren, sofern ihr weltlicher Friede dadurch nicht gestört würde.488 Um diesem offensichtlichen Mangel des Reinigungseides abzuhelfen, bestimmte Innozenz III., dass ein Angeklagter erst dann zu dem Reinigungseid greifen durfte, wenn sich der Verdacht gegen ihn auch nach einer Erforschung der Verdachtsmomente (die sog. inquisitio) nicht bestätigte.489 Diese Bestimmung, die auf dem IV. Laterankonzil in das positive Kirchenrecht übernommen wurde, bildete die Keimzelle des sog. Inquisitionsverfahrens.490 Sie verfügte nämlich schon über die wesentlichen Grundsätze des Inquisitionsverfahrens – nämlich das Offizialprinzip, also die Einleitung des Verfahrens auf amtlicher Initiative (ex officio), und das Instruktionsprinzip, also die Pflicht des Gerichts, sich von Amts wegen über die urteilsrelevanten Tatsachen in Kenntnis zu setzen (zu instruieren).491 Das Inquisitionsverfahren stellte dabei ein ideales Machtinstrument zur Bekämpfung missliebiger Personen und Verfolgung politischer Gegner dar, da auf diesem Wege ein peinliches Verfahren auch losgelöst von einer Anklage des Opfers durchgeführt werden konnte.492 Insofern überrascht es wenig, dass alsbald auch die weltlichen Fürsten die Vorteile dieses neuen Verfahrenstypus für sich entdeckten und auch an ihren Gerichten das Inquisitionsverfahren einführten.493 Begünstigt wurde die weitere Verbreitung des Inquisitionsverfahrens im Heiligen Römischen Reich durch die Rezeption des römischen Rechts.494 So sahen bereits partikularrechtliche Druckwerke wie die Wormser Reformation von 1498 und die Constitutio Criminalis Bambergensis von 1507 ein Inquisitionsverfahren in Strafsachen vor.495 Doch vor allem die gemeinrechtliche peinliche Halsgerichtsordnung Kaiser Karls V. von 1532 (Constitutio Criminalis Carolina – im Weiteren Carolina), mit der die Strafrechtseinheit im Reich wiederhergestellt werden sollte, trug maß487
Ignor, Geschichte des Strafprozesses, S. 48; Jerouschek, ZStW (104) 1992, 328, 335. Jerouschek, ZStW (104) 1992, 328, 335. 489 Ignor, Geschichte des Strafprozesses, S. 48; Kries, Deutsches Strafprozessrecht, S. 24; Gerland, Der deutsche Strafprozess, S. 18. Ausführlicher zur konkreten Ausgestaltung des Infamieverfahrens und zu weiteren kirchlichen Verfahren mit zahlreichen Nachweisen, Jerouschek, ZStW (104) 1992, 328, 341 ff.; Zopfs, in dubio pro reo, S. 122. 490 Kries, Deutsches Strafprozessrecht, S. 24. 491 Schmidt, Geschichte der Strafrechtspflege, S. 86 f. 492 Ignor, Geschichte des Strafprozesses, S. 50, 52. 493 Vgl. ausführlich Jerouschek, ZStW (104) 1992, 328, 347; Kries, Deutsches Strafprozessrecht, S. 24 f.; Kroeschell, ZStW (95) 1983, 145, 149. 494 Jerouschek, ZStW (104) 1992, 328, 347; Kroeschell, ZStW (95) 1983, 145, 149; Zachariä, Handbuch des deutschen Strafprozesses I, S. 5; Gerland, Der deutsche Strafprozess, S. 18. 495 Schmitt, Die richterliche Beweiswürdigung im Strafprozeß, S. 124 ff. 488
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geblich dazu bei, dass das Akkusationsverfahren als das klassisch-germanische Verfahren von dem Inquisitionsverfahren abgelöst wurde.496 Dem ersten Anschein nach enthielt die Carolina dabei zwei verschiedene Formen des Strafverfahrens.497 Zum einen schien sie der gemeinrechtlichen Tradition entsprechend als Normalverfahren ein Akkusationsverfahren vorzusehen, während sich nur wenige Artikel von ihr der Möglichkeit eines Offizialverfahrens widmeten.498 Tatsächlich handelte es sich jedoch schon bei dem in der Carolina vorgesehenen Akkusationsverfahren um ein Inquisitionsverfahren, bei dem lediglich die Einleitung des Verfahrens von der Klageerhebung der verletzten Partei abhängig gemacht worden war.499 Sobald die Klage erhoben war, kam es nämlich auf die Person des Klägers nicht mehr an und das Verfahren wurde von Amts wegen und bei uneingeschränkter Geltung des Offizialprinzips und der Instruktionsmaxime fortgesetzt.500 Selbst dieses modifizierte Akkusationsverfahren erlangte allerdings zu keiner Zeit eine besondere praktische Bedeutung, da der Kläger, trotz des inquisitorischen Charakters des Verfahrens, verpflichtet blieb, den Beschuldigten schadlos zu halten, falls dem Gericht (!) dessen Überführung nicht gelang.501 Auch hatte der Kläger zur Sicherung dieser Pflicht dem Beschuldigten Sicherheit zu leisten.502 Wenn er die hierzu erforderlichen Mittel nicht aufbringen konnte, konnte es sogar geschehen, dass der Kläger deshalb in Sicherungshaft genommen wurde.503 Aufgrund dieser Widrigkeiten ist zu vermuten, dass potentielle Kläger sich darauf beschränkten, eine gegebenenfalls anonyme Anzeige zu erstatten, um hierdurch ein vollständiges Offizialverfahren in die Wege zu leiten, statt selbst formell Anklage zu erheben.504 So entwickelte sich das von Amts wegen durchgeführte Inquisitions496 Schmidt, Geschichte der Strafrechtspflege, S. 109; Gerland, Der deutsche Strafprozess, S. 19; ausführlich zum Beweisverfahren im deutschen Strafprozess nach der Carolina bis zur Abschaffung der Folter, Zopfs, in dubio pro reo, S. 127 ff. 497 Conrad, Rechtsgeschichte II, S. 413; Ignor, Geschichte des Strafprozesses, S. 43. 498 So befassten sich lediglich die Art. 6 bis 10 der Carolina mit einem Verfahren von Amts wegen („Annemen der angegeben uebelthetter / von der oberkeyt vnnd ampts wegen“), während sie im Übrigen ein Verfahren regelten, das durch einen Kläger eingeleitet wurde („Von annemen eyns angegeben uebelthetters so der klager recht begehrt“). Vgl. auch Schmidt, Geschichte der Strafrechtspflege, S. 86 f.; Schroeder, Die Carolina, S. 292. 499 Conrad, Rechtsgeschichte II, S. 413; Schmidt, Geschichte der Strafrechtspflege, S. 126; Gerland, Der deutsche Strafprozess, S. 20; insofern etwas missverständlich Ignor, Geschichte des Strafprozesses, S. 43. Hierbei handelt es sich um keine Besonderheit der Carolina; auch bei § 120 PreußCrimO 1805 wird ein Inquisitionsverfahren, das aufgrund einer Anzeige eröffnet wird, als akkusatorischer Prozess bezeichnet, obwohl es sich von dem von Amts wegen eingeleiteten Verfahren überhaupt nicht unterschied. 500 Schmidt, Geschichte der Strafrechtspflege, S. 126. 501 Conrad, Rechtsgeschichte II, S. 414; Schmidt, Geschichte der Strafrechtspflege, S. 126. 502 Dies gilt gem. § 379 StPO selbst heute, sofern Privatklage erhoben wird. 503 Art. 12 („Von verhefftung des anklágers biß er bürgschafft gethan hat“); vgl. auch Conrad, Rechtsgeschichte II, S. 414; Walter, Freie Beweiswürdigung, S. 57. 504 Sellert/Rüping, Quellenbuch I, S. 208.
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verfahren zum eigentlichen Normalverfahren nach der Carolina.505 Obwohl die Carolina entsprechend einer salvatorischen Klausel in ihrer Vorrede gegenüber den partikularen Strafverfahrensordnungen grundsätzlich – jedoch nicht in allen ihren Punkten506 – subsidiär sein sollte, hatte sie maßgeblichen Einfluss auf die künftige Entwicklung des partikularen Strafverfahrensrechts.507 Damit trat im frühen 16. Jh. in vielen Partikularstaaten des römisch-deutschen Reiches das schriftliche und geheime Inquisitionsverfahren entweder als eine alternative Prozessform neben das klassische Akkusationsverfahren oder verdrängte Letzteres sogar vollständig.508 b) Exkurs: Die Durchführung des Inquisitionsverfahrens Die Prinzipien und Grundsätze des Inquisitionsverfahrens, dessen Anfänge im frühen 13. Jh. verortet werden können, blieben bis zur Mitte des 19. Jh. für das deutsche Strafverfahren prägend. Selbst das heutige Strafverfahren beruht maßgeblich auf dem inquisitorischen Prinzip.509 Insofern lohnt sich ein Blick auf die Prinzipien und Grundsätze bei der Durchführung des Inquisitionsverfahrens, zumal gerade hier noch heute viele Missverständnisse vorzuherrschen scheinen. Die nachfolgende Darstellung orientiert sich dabei an zwei sehr unterschiedlichen Verfahrensordnungen aus zwei völlig unterschiedlichen Epochen: Zum einen an der Carolina, die von 1532 bis 1806 in Geltung war, und zum anderen und vor allem an der im Jahre 1806 veröffentlichten Kriminalordnung von 1805 (PreußCrimO 1805),510 die in Preußen bis zum Inkrafttreten der Verordnung über die Einführung des mündlichen und öffentlichen Verfahrens mit Geschworenen in Untersuchungs-
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Sellert/Rüping, Quellenbuch I, S. 207; Walter, Freie Beweiswürdigung, S. 57. Die Carolina konnte – anders als gelegentlich angenommen – nicht in allen Punkten durch Landesrecht abbedungen werden. Schon ihre Vorrede bestimmte nämlich, dass nur „rechtmäßige und billige Gebräuche“ der Landesherren unangetastet bleiben sollten, Kries, Deutsches Strafprozessrecht, S. 31. Zu einzelnen Regelungen der Carolina, die unbedingt bindendes Recht enthielten, vgl. Schmidt, Geschichte der Strafrechtspflege, S. 126. 507 Zwar enthielt die Carolina am Ende ihrer Vorrede eine salvatorische Klausel mit dem Wortlaut „Doch wollen wir durch dise gnedige erinnerung Chu˚ rfürsten Fürsten und Stenden / an jren alten wolherbrachten rechtmessigen vnnd billichen gebreuchen / nichts benommen haben“. Obwohl diese Klausel den Vorrang der partikularen Strafgesetze und der Strafverfahrensordnungen der Landesherrschaften und Reichsstände in vielen Punkten sichern sollte, drängte die Carolina in den Jahren nach ihrem Erlass vielerorts das geltende Partikularrecht zurück oder beeinflusste dieses zumindest in erheblicher Weise. Dies war vor allem der in der Rechtspraxis unverkennbaren materiellen Überlegenheit jenes Reichsgesetzes geschuldet, Conrad, Rechtsgeschichte II, S. 415. 508 Conrad, Rechtsgeschichte I, S. 590 ff.; Ignor, Geschichte des Strafprozesses, S. 17; Jerouschek, ZStW (104) 1992, 328, 359 f.; Gerland, Der deutsche Strafprozess, S. 21. 509 Vgl. S. 160 ff. 510 Preußische Criminal-Ordnung vom 11. Dezember 1805 (abgedruckt in Criminalrecht für die preußischen Staaten von 1806). 506
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sachen vom 3. Januar 1849 in Kraft blieb und damit die Durchführung des Strafverfahrens in großen Teilen des Deutschen Bundes bestimmte.511 Hierbei gilt freilich in Erinnerung zu behalten, dass die beiden Verfahrensordnungen einen Zeitraum abbilden, der mehrere Jahrhunderte und somit Entwicklungen verschiedenster Schwerpunkte umfasst – daher darf es nicht als Ziel dieses Exkurses missverstanden werden, die Durchführung des Inquisitionsverfahrens in den deutschen Gebieten in jenem Zeitraum schlechthin darzustellen. Diesem Zweck widmen sich bereits andere Schriften, auf die an dieser Stelle verwiesen sei.512 Zweck der vorliegenden Darstellung ist es lediglich, anhand einer idealtypisierten Darstellung der Prinzipien und Grundsätzen des Inquisitionsverfahrens aufzuzeigen, dass viele in der gemeinen Vorstellung vorherrschenden Auffassungen zu der Ausgestaltung des Inquisitionsverfahrens unzutreffend sind. Dies zum Teil bereits bei einer Betrachtung des Inquisitionsverfahrens nach der Carolina, aber erst recht bei einer Betrachtung der deutlich jüngeren preußischen Kriminalordnung von 1805, deren Grundsätze – wie noch zu zeigen sein wird – bis heute fortwirken. aa) Die richterliche Untersuchung (inquisitio) Die Einleitung des Strafverfahrens und Untersuchung des in Frage stehenden Sachverhalts oblag im Inquisitionsprozess einem richterlichen Beamten, dem sog. Inquirenten,513 der entweder Einzelrichter oder als beauftragter Richter Angehöriger eines richterlichen Spruchkörpers sein konnte.514 Ein vollständig besetztes Inquisitionsgericht nach der preußischen Criminal-Ordnung vom 11. Dezember 1805 etwa bestand aus einem Richter und einem vereidigten Protokollführer.515 Der Richter
511
Vgl. die Verordnung vom 3. Januar 1849 (S. 99 Fn. 410); im Bezirk des preußischen Kammergerichts (Berlin) wurde ein reformiertes Verfahrens allerdings schon 1846 durch das Gesetz betreffend das Verfahren in den bei dem Kammergericht und dem Kriminalgericht zu Berlin zu führenden Untersuchungen vom 17. Juli 1846, PrGS 1846, 267 eingeführt, wobei in der preußischen Rheinprovinz ohnehin seit Beginn des 19. Jh. ein reformiertes Strafverfahren nach dem französischen Code d’instruction criminelle Anwendung fand. Zur Rezeption des französischen Rechts im Rheinland vgl. S. 138 ff. 512 Ausführlich und zwischen den Verfahren vor und nach der Abschaffung der Folter differenzierend etwa Zopfs, in dubio pro reo, S. 127 ff. 513 Conrad, Rechtsgeschichte II, S. 431; Kries, Deutsches Strafprozessrecht, S. 49; vgl. aber auch § 37 PreußCrimO 1805. 514 Vgl. etwa § 37 PreußCrimO 1805; im letzteren Fall setzte sein Tätigwerden nach der PreußCrimO 1805 einen Auftrag durch das Gericht voraus, dem er angehörte. 515 § 34 PreußCrimO 1805; § 41 der Kriminalordnung bestimmte jedoch, dass in „Ermangelung eines vereideten Protokollführers […] zwei unbescholtene, des Lesens und Schreibens kundige Männer als Gerichtsbeisitzer bei den Verhandlungen zugezogen werden“ müssen. In dieser Vorschrift können schon erste Ansätze des deutschen Schöffenwesens erblickt werden. Auch die Bezeichnung dieser Gerichtsbeisitzer als Schöppen bei Ladenberg, Preußens gerichtliches Verfahren in Civil- und Kriminalsachen, S. 435 f., deutet auf diesen Entwicklungszusammenhang hin.
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konnte dabei einem Untergericht oder einem sog. Inquisitoriat angehören.516 Letztere waren Kommissionen des örtlich zuständigen Obergerichts, die – ähnlich der heutigen Staatsanwaltschaft – ausschließlich Kriminaluntersuchungen führten, nicht jedoch als erkennende Gerichte tätig wurden.517 Der Richter eines Untergerichts konnte lediglich dann die Untersuchung im vollen Umfang durchführen, wenn das Untergericht keiner Inquisitoriats-Einrichtung beigetreten war.518 Ansonsten wurde die Untersuchung grundsätzlich durch das Inquisitoriat des Obergerichts durchgeführt. Die gerichtliche Untersuchung wurde dabei – ähnlich wie im heutigen Ermittlungsverfahren, das weitestgehend mit der inquisitio identisch ist519 – aufgrund einer Anzeige oder sonstiger Kenntniserlangung des Gerichts von der Tat eingeleitet.520 Anders als im klassischen Akkusationsverfahren bedurfte es mithin keiner Anklageerhebung durch das Opfer der Straftat mehr. Dabei war die Untersuchungstätigkeit des Inquirenten noch im partikularen Recht des 13. Jh. in die Generalinquisition und in die Spezialinquisition unterteilt.521 Die Generalinquisition befasste sich dabei mit der Frage, ob überhaupt ein Verbrechen begangen worden war – also mit der Tat, ihrem Erfolg, ihrer Ausführung und ihren Umständen.522 Erst wenn im Rahmen der Generalinquisition der Nachweis der Tat gelungen war, sollte die Untersuchung im Wege der Spezialinquisition auch auf den mutmaßlichen Täter ausgedehnt werden.523 Die Unterscheidung zwischen der General- und der Spezialinquisition hat jedoch schon in der Carolina keine ausdrückliche Erwähnung mehr erfahren.524 Auch in den 516 517
Fn. 4. 518
Vgl. §§ 15, 18, 19 PreußCrimO 1805. Ladenberg, Preußens gerichtliches Verfahren in Civil- und Kriminalsachen, S. 433
§ 15 PreußCrimO 1805. So auch Schünemann, StraFo 2015, 177, 184. 520 Vgl. §§ 106 ff. PreußCrimO 1805; sie lautete wörtlich: „Der Richter muß die Veranlassung zur Untersuchung, sie entstehe durch eigene Wahrnehmung bei Ausübung seines Amtes, durch öffentliches Gerücht, oder durch geschehene Anzeige, sogleich zu Protokoll verzeichnen“. Damit wies die Vorschrift eine gewisse Ähnlichkeit zu dem – an den Staatsanwalt adressierten – § 160 Abs. 1 StPO auf, wie auch das Amt des Inquirenten und die gerichtliche Untersuchung einige Ähnlichkeiten zu dem Amt des Staatsanwaltes resp. dem Ermittlungsverfahren aufwiesen. 521 So Ignor, Geschichte des Strafprozesses, S. 94. Vor allem das kanonische Recht kannte seit jeher die Unterscheidung zwischen Vor- und Hauptverfahren; diese dürfte den partikularen Rechtsordnungen als Vorbild für die Unterscheidung zwischen General- und Spezialinquisition gedient haben, vgl. Burret, Inquisitionsprozess im Laienspiegel des Ulrich Tengler, S. 108 f.; Schmidt, Geschichte der Strafrechtspflege, S. 195 ff. 522 Kries, Deutsches Strafprozessrecht, S. 49; Burret, Inquisitionsprozess im Laienspiegel des Ulrich Tengler, S. 101; Gerland, Der deutsche Strafprozess, S. 22. 523 Schmidt, Geschichte der Strafrechtspflege, S. 205; Ignor, Geschichte des Strafprozesses, S. 94; Gerland, Der deutsche Strafprozess, S. 22. 524 Die Carolina setzt erst an der Stelle an, an der die Obrigkeit sich des Beschuldigten angenommen hat, sodass ihr keine ausführlichen Regeln zur Ermittlung der Tat selbst zu entnehmen sind. Art. 6 der Carolina etwa erschöpft sich in der Anweisung an den Richter, erst 519
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Mitgliedsstaaten des Deutschen Bundes wurde – jedenfalls formell – nicht mehr zwischen der General- und der Spezialinquisition unterschieden.525 Materiell war diese Unterscheidung jedoch selbst der preußischen Kriminalordnung von 1805 noch zu entnehmen.526 Das gemeine Bild des Inquisitionsverfahrens heute ist allerdings maßgeblich durch die Spezialinquisition, also die Untersuchung gegen den Täter selbst, geprägt, die sich im Laufe der Zeit zu dem wesentlichen Bestandteil des Inquisitionsverfahrens entwickelt hatte.527 Bei der richterlichen Untersuchung handelte es sich dabei – wie auch beim heutigen Ermittlungsverfahren – um kein öffentliches, somit also um ein „geheimes“ Verfahren. Ziel dieser inquisitio war es, von dem nun gegebenenfalls verhafteten Beschuldigten (den sog. Inquisiten) ein Geständnis über seine Tat zu erwirken,528 wobei – wie im heutigen Strafverfahren – die Ermittlung der materiellen Wahrheit im Vordergrund stand.529 Als ein probates Mittel zur Erwirkung eines Geständnisses galt dabei lange Zeit die Folter, wobei ihre Anwendung schon in der Carolina an bestimmte Voraussetzungen, insbesondere dem Vorliegen bestimmter Verdachtsgrade, dann zur Folter zu schreiten, wenn er sich von dem Vorliegen einer Straftat überzeugt hat: „vi. Item so jemandt eyner uebelthat durch gemeynen leumut / berüchtiget oder andere glaubwirdige anzeygung verdacht vnd argkwonig / vnnd derhalb durch die oberkeyt vonn ampts halben angenommen würde / der soll doch mit peinlicher frage / nit angegriffen werden / es sei dañ zu˚ uor redlich / vnd derhalb gnu˚ gsame anzeygung vnnd vermu˚ tung von wegen derselben missenthat auff jnen glaub wirdig gemacht. Darzu˚ soll auch eyn jeder richter / iñ disen grossen sachen vor der peinlichen frag / souil müglich vnd nach gestalt vnd gelegenheyt eynet jeden sachen / beschehen kan / sich erkundigen / vnd fleissig nachfragens haben / ob die missethat darumb der angenommen berüchtiget vnnd verdacht / auch beschehen sei oder nit / vie hernach / iñ diser vnser ordnung ferner erfunden wirdet“. Vgl. auch Schmidt, Geschichte der Strafrechtspflege, S. 195. 525 Zum Verzicht auf die Trennung zwischen General- und Spezialinquisition im Laufe des 18. Jh. vgl. Zachariä, Gebrechen und Reform des Deutschen Strafverfahrens, S. 128 f.; Schmidt, Geschichte der Strafrechtspflege, S. 205. 526 So enthielt die PreußCrimO 1805 in ihrem zweiten Titel einen Abschnitt über die Feststellung des Tatbestandes (§§ 133 bis 201) und einen hiervon getrennten Abschnitt über die Eröffnung der Untersuchung gegen den Angeklagten (§§ 202 bis 259), sodass die Unterscheidung zwischen einer Art „Vor-Inquisition“ und einer „Haupt-Inquisition“ weiterhin erkennbar war. Der materielle Sicherungszweck, der durch die Unterscheidung zwischen einer General- und einer Spezialinquisition verfolgt wurde, nämlich, dass erst dann zur Vernehmung und ggf. Verhaftung des Beschuldigten geschritten wird, wenn das corpus delicti definitiv festgestellt ist, wurde jedoch im Laufe des 18. Jh. vollständig beseitigt, vgl. insofern Schmidt, Geschichte der Strafrechtspflege, S. 206. So besagte etwa § 3 PreußCrimO 1805: „Eine jede Untersuchung setzt die Gewißheit oder Wahrscheinlichkeit eines begangenen Verbrechens voraus [Hervorh. d. Verf.]“. Auch in § 206 PreußCrimO 1805 heißt es: „Die Verhaftung eines Verdächtigen setzt aber allemal voraus, daß die Existenz eines Verbrechens wahrscheinlich sey, wenn auch der Thatbestand noch nicht vollständig festgestellt worden [Hervorh. d. Verf.]“. 527 Vgl. Burret, Inquisitionsprozess im Laienspiegel des Ulrich Tengler, S. 107; ausführlich zu den Begriffen der General- und Spezialinquisition vgl. auch Conrad, Rechtsgeschichte II, S. 430 f. 528 Kries, Deutsches Strafprozessrecht, S. 49 f. 529 Vgl. auch § 66 PreußCrimO 1805, der diesen Zweck ausdrücklich normiert hatte.
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geknüpft war.530 In Preußen schließlich wurde die Folter am 3. Juni 1740 durch Friedrich II., kurz nach seinem Regierungsantritt, aufgrund eines zunächst geheim gehaltenen Befehls ausgesetzt.531 Lediglich bei Tätlichkeiten gegen den Monarchen selbst (crimen laesae maiestatis), bei Landesverrat und bei Tötungsdelikten mit einer Vielzahl an Opfern oder einer Mehrzahl unbekannter Beteiligter wurde zunächst noch an ihr festgehalten,532 bevor sie im Laufe des ausklingenden 18. Jh. und des frühen 19. Jh. – auch in anderen Partikularstaaten – ausnahmslos abgeschafft wurde.533 Allerdings konnte der Inquirent ungeachtet dieses Verbotes bei der ihm vorgesetzten Behörde die Anwendung sog. Lügen- und Ungehorsamsstrafen beantragen. Diese gestatteten dem Inquirenten, trotz des Folterverbotes, körperliche Gewalt und Zwang als Ordnungsmittel anzuwenden, sofern der Beschuldigte seiner weiterhin bestehenden Mitwirkungspflicht an der Aufklärung der ihm vorgeworfenen Tat nicht nachkam, sodass die Lügen- und Ungehorsamsstrafen bis zu ihrer endgültigen Abschaffung die Folter im gewissen Maße ersetzten.534 Die Inquisition in ihrer Gesamtheit umfasste dabei – neben der Ermittlung des Tatbestandes – die Vernehmung des Angeschuldigten und möglicher Zeugen sowie die Konfrontation des Angeschuldigten mit etwaigen Zeugen und Mittätern.535 Dabei war die gesamte Untersuchung, der Natur des Inquisitionsverfahrens als schriftliches Verfahren entsprechend, umfassend zu protokollieren und ihre Ergebnisse in Un-
530 Vgl. Art. 22 der Carolina: „D a ß a u f f a n z e y g u n g e y n e r m i ß t h a t / alleyn peinlich frag / vnd nit ander peinlich straff solt erkent w e r d e n . x x i j . I ITem [sic!] es ist auch zu˚ mercken / daß niemant auff eynicherley anzeygung / argkwons warzeichen / oder verdacht / entlich zu˚ peinlicher straff soll verurtheylt werden / sonder alleyn peinlich mag man darauff fragen / so die anzeygung (als hernach funden wirdet) gnu˚ gsam ist / dann soll jemant entlich zu˚ peinlicher straff verurtheylt werden / das mu˚ ß auß eygen bekennen / oder beweisung (wie an andern enden iñ diser ordnung klerlich funden wirdt) beschehen / vnd nit auff vermu˚ tung oder anzeygung“; ausführlich und differenzierter hierzu Zopfs, in dubio pro reo, S. 130 ff. 531 Kries, Deutsches Strafprozessrecht, S. 45. 532 Kries, Deutsches Strafprozessrecht, S. 45; Zopfs, in: Altenhain et al. (Hrsg.), Folter seit ihrer Abschaffung, S. 26. 533 Vgl. Kries, Deutsches Strafprozessrecht, S. 47. So lautete § 288 der PreußCrimO 1805: „Kein Inquirent darf sich unterfangen, irgend einen zur Criminal-Untersuchung gezogenen Angeschuldigten, durch Drohungen, thätliche Behandlung, Stoßen, Schlagen, oder Zufügung irgend eines körperlichen Leidens zum Bekenntniß der Wahrheit zu nöthigen“. 534 So etwa wies § 292 PreußCrimO 1805 den Inquirenten an, bei der vorgesetzten Behörde „Maaßregeln gegen Verbrecher, welche Lügen oder verstockt sind“ zu beantragen, damit „der halsstarrige und verschlagene Verbrecher durch freche Lügen und Erdichtungen, oder durch verstocktes Leugnen oder gänzliches Schweigen, sich nicht der verdienten Strafe entziehen möge“. Vgl. auch Kries, Deutsches Strafprozessrecht, S. 47; Schmidt, Geschichte der Strafrechtspflege, S. 271; Koch, in: Altenhain et al. (Hrsg.), Folter seit ihrer Abschaffung, S. 18 m. w. N.; Schmitt, Die richterliche Beweiswürdigung im Strafprozeß, S. 144; Zopfs, in dubio pro reo, S. 189 f. 535 Vgl. insofern § 39 PreußCrimO 1805.
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tersuchungsakten zusammenzustellen.536 Gerade die jüngeren Inquisitionsordnungen enthielten dabei umfassende Regelungen zur Vernehmung des Angeschuldigten, zur Erhebung von Beweisen sowie zu den Wirkungen der zulässigen Beweise.537 Beachtenswert ist, dass die PreußCrimO von 1805 den Inquirenten sogar verpflichtete, bei seinen Untersuchungen nicht nur die belastenden, sondern auch die entlastenden Umstände zu ermitteln. So lautete § 364 PreußCrimO 1805 wörtlich: „Der Beweis des Verbrechens liegt daher dem Richter ob; er muß aber sein Augenmerk sowohl auf die Schuld, als auf die Unschuld des Verdächtigen richten, und mit gleicher Aufmerksamkeit beide Punkte ins Licht zu stellen suchen“. Damit entspricht die Vorschrift im Wesentlichen dem heutigen § 160 Abs. 2 StPO. War der Inquirent im Rahmen der Untersuchung zu der Ansicht gelangt, dass der Angeschuldigte die ihm vorgeworfene Tat nicht begangen hatte, hatte schon das Untersuchungsgericht auf die völlige Freisprechung des Angeschuldigten zu erkennen.538 Allerdings erwuchs dieser Freispruch nach der PreußCrimO 1805 nur dann in Rechtskraft, wenn er sich auf den „vollen Beweis der Unschuld“ stützte; war der Freispruch dagegen lediglich aufgrund von Mängeln an Beweisen ergangen, blieb eine Wiederholung der Untersuchung – ähnlich wie bei einer Verfahrenseinstellung durch die Staatsanwaltschaft – weiterhin zulässig.539 Glaubte der Inquirent hingegen ausreichendes Material für eine Verurteilung gesammelt zu haben oder war er zu dem Schluss gelangt, dass eine weitergehende Aufklärung der Sache nicht zu erreichen war, wurden die Verfahrensakten „geschlossen“, sodass sie dem erkennenden Gericht vorgelegt werden konnten.540 Die preußische Kriminalordnung schrieb an dieser Stelle – nicht unähnlich der Regelung des § 163a Abs. 1 Satz 1 StPO – vor, dass zur „Beendigung einer jeden Criminal-Untersuchung […] ein Schlußverhör abgehalten werden [muss], in welchem der Richter dem Angeschuldigten die wesentlichen Verhandlungen noch einmal vorlieset, und ihn darüber vernimmt, was er noch bei der Sache zu erinnern habe“.541 Je nach Schwere der zu 536 Vgl. insofern erneut § 39 PreußCrimO 1805: „Damit das Verfahren des Richters vollständig übersehen und geprüft werden könne, muß über alles, was zum Zwecke der Untersuchung verhandelt wird, jederzeit und ohne Ausnahme ein Protokoll aufgenommen werden“; weiter bestimmte § 73 der Kriminalordnung, dass über „jede Untersuchung […] ordentlich geheftete Akten anzulegen [sind], welche mit einem von dem Aktuarius oder Protokollführer anzufertigenden Verzeichnisse der darin enthaltenen Verhandlungen, mit Bemerkung ihres wesentlichen Inhalts, zum Beispiel: Vernehmung des Angeschuldigten, Zeugenverhör, Konfrontazion der Mitverbrecher, oder der Zeugen mit dem Angeschuldigten, artikulirtes Verhör, Unterredungsprotokoll mit dem Verteidiger &c., versehen seyn müssen.“ 537 So etwa der zweite Titel der PreußCrimO 1805 im vierten Abschnitt („Von der Vernehmung des Angeschuldigten. §. 260. bis 299.“), im fünften Abschnitt („Vom Verfahren des Richters bei Aufnehmung des Beweises. §. 300. bis 360.“) sowie im sechsten Abschnitt („Von den Wirkungen der Beweise und Vermuthungen in peinlichen Sachen. §. 361. bis 414.“). 538 So auch § 413 PreußCrimO 1805. 539 § 414 PreußCrimO 1805. 540 Kries, Deutsches Strafprozessrecht, S. 50. 541 § 418 PreußCrimO 1805.
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erwartenden Strafe, stellten sich dabei unterschiedlich (form-)strenge Anforderungen an die Ausgestaltung des Schlussverhörs durch den Inquirenten.542 Insgesamt handelte es sich bei der richterlichen Untersuchung damit um ein dem staatsanwaltlichen Ermittlungsverfahren nicht unähnliches Institut. bb) Die Verteidigung (defension) Auch im Inquisitionsverfahren hatte der Beschuldigte grundsätzlich das Recht, sich zu verteidigen. So sah schon die Carolina in den Art. 88 ff. die Möglichkeit vor, dass dem Angeklagten hierfür ein sog. „fürsprech“ bestellt wurde, der seine Begehren auf dem endlichen Rechtstag vortrug.543 Die Bedeutung dieser frühen Form der Strafverteidigung durfte jedoch angesichts der rein zeremoniellen Bedeutung des endlichen Rechtstages gering gewesen sein.544 Etwas besser war die Stellung des Verteidigers freilich in den moderneren Inquisitionsordnungen,545 wobei die PreußCrimO von 1805 sogar eine rudimentäre Form der Pflichtverteidigung kannte.546 So etwa konnte der Verteidiger (Defensor547) nach der PreußCrimO bei dem Inquirenten weitere richterliche Untersuchungen beantragen, wenn er diese nach einer Unterredung mit dem Angeschuldigten für notwendig hielt.548 Hielt er dagegen die Ergebnisse der Inquisition für spruchreif oder wurde dem Antrag des Verteidigers auf weitere Ermittlungen nicht stattgegeben, hatte er entweder eine schriftliche 542 Sofern eine höhere Strafe als drei Jahre Strafarbeit in Betracht kam, hatte das Schlussverhör durch Fragen zu erheblichen Aspekten der Sache zu erfolgen, wobei sowohl die Fragen als auch die Antworten zu protokollieren waren, § 419 PreußCrimO 1805. Kam eine Strafarbeit von mehr als zehn Jahren oder die Todesstrafe in Betracht, war das Schlussverhör zudem im Wege eines artikulierten Verhörs zu führen, bei dem die Fragen schon vor dem Verhör durch den Inquirenten schriftlich auszuformulieren und den Untersuchungsakten beizugeben waren. Stellte er während des Verhörs weitere, nicht den Akten beigegebene Fragen, mussten diese Fragen ebenfalls in das Protokoll aufgenommen werden, § 423 Abs. 1 PreußCrimO 1805. Die durch die Fragen erfolgende Zergliederung der ausermittelten Tatsachen sollte dem Angeschuldigten die relevanten Tatsachen vor Augen führen und ihn bei einem Geständnis so vor Übereilung bewahren; zugleich aber sollte der Angeschuldigte, der die Tat hartnäckig leugnete, durch geschickte Fragenstellung zu einem Geständnis bewegt werden, § 423 PreußCrimO 1805. 543 Ausführlich zum endlichen Rechtstag S. 121. 544 Vgl. Gerland, Der deutsche Strafprozess, S. 20. 545 Vgl. §§ 433, 452 PreußCrimO 1805. 546 Bei Verbrechen, die eine höhere Strafe als zehn Jahre Strafarbeit erwarten ließen und der Angeschuldigte nicht zugleich durch Geständnis und Beweis überführt war, war es ihm nur möglich, auf den bestellten Verteidiger zu verzichten, wenn er die entsprechende Erklärung gegenüber dem Inquirenten im Beisein einer dem Inquirenten nicht untergeordneten Person abgab, die das hierüber aufgenommene Protokoll mitzuunterzeichnen hatte, § 436 PreußCrimO 1805. Auch konnten Eltern, Kinder, Ehegatten und Geschwister eine Verteidigung beantragen, selbst wenn der Angeklagte darauf verzichtet hatte, § 435 PreußCrimO 1805. 547 Der Begriff Defensor findet etwa in § 460 PreußCrimO 1805 Verwendung. 548 Vgl. §§ 446, 447 sowie § 453 PreußCrimO 1805; siehe auch Kries, Deutsches Strafprozessrecht, S. 50 f.
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Verteidigungsschrift (Defensio) zu den Akten zu reichen oder seine Verteidigungsgründe mündlich zu Protokoll zu geben.549 Die Defensio enthielt dabei Ausführungen darüber, was nach Aktenlage zum Vorteil des Angeschuldigten zu berücksichtigen war und welches Gesetz nach der Ansicht des Verteidigers in der vorliegenden Sache zur Anwendung zu bringen war; gegebenenfalls enthielt sie auch Ausführungen zu Strafausschließungs- und Strafmilderungsgründen.550 Die nunmehr vollständigen Verfahrensakten wurden anschließend durch den Inquirenten dem erkennenden Gericht zur Entscheidung vorgelegt.551 cc) Das Erkenntnisverfahren Die Inquisition endete ursprünglich mit einem öffentlichen und feierlichen endlichen Rechtstag, der auf der Tradition der germanischen und fränkischen Thinge gründete.552 Im Rahmen dieses hochformalisierten Ereignisses wurde die Klageformel öffentlich verlesen, woraufhin der Angeklagte sein gegebenenfalls erfoltertes Geständnis freiwillig zu wiederholen (ratifizieren) hatte.553 Widerrief der Angeklagte hierbei sein ursprüngliches Geständnis, war es für eine Verurteilung ausreichend, dass Schöffen, die der peinlichen Befragung beigewohnt hatten, bestätigten, dass der Angeklagte zuvor ein Geständnis abgelegt hatte.554 Im Anschluss daran wurde das bereits zuvor gefällte Urteil öffentlich verkündet und gegebenenfalls vollstreckt.555 Dabei war der Carolina noch kein Unterschied zwischen dem Untersuchungsverfahren und dem Erkenntnisverfahren zu entnehmen. Erst moderne Inquisitionsverfahrensordnungen führten eine Unterscheidung zwischen Untersuchungsverfahren und Erkenntnisverfahren ein. Während im Rahmen des Untersuchungsverfahrens dem Inquirenten die Aufgabe oblag, zu ermitteln, 549 Vgl. § 455 PreußCrimO 1805. Sofern der Angeschuldigte keinen Verteidiger gewählt hatte und ihm keiner von Amts wegen bestellt worden war, konnte er in geeigneten Fällen seine Verteidigungsschrift auch selbst anfertigen, § 444 PreußCrimO 1805. Eine Defensio war jedoch zwingend einzureichen, wenn eine höhere Strafarbeit als zehn Jahre oder die Todesstrafe in Betracht kam, § 458 PreußCrimO 1805. 550 Vgl. § 465 PreußCrimO 1805. 551 Vgl. §§ 469 f. PreußCrimO 1805. 552 Vgl. Art. 78 ff. Carolina; dazu, dass der endliche Rechtstag lediglich beibehalten wurde, da er beim Volk ein gewisses Ansehen genoss und Brauch war, Schmidt, Geschichte der Strafrechtspflege, S. 130. 553 Ignor, Geschichte des Strafprozesses, S. 67; Schmidt, Geschichte der Strafrechtspflege, S. 100. 554 Vgl. Art. 91 Carolina („Von verneynnung der missethatt die vormals bekent worden ist“); hierbei handelte es sich jedoch um einen Brauch, der in den Gesetzen, welche der Carolina vordatierten, ausdrücklich verboten war, vgl. ausführlich Schmidt, Geschichte der Strafrechtspflege, S. 100 f. 555 Art. 92 ff. Carolina, vgl. auch Schmidt, Geschichte der Strafrechtspflege, S. 100; Sellert/ Rüping, Quellenbuch I, S. 209; zu einer knappen Darstellung der Formalien des endlichen Rechtstags vgl. Ignor, Geschichte des Strafprozesses, S. 61.
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ob eine strafbare Handlung begangen worden war, und gegebenenfalls die relevanten Beweise zu erheben, wurden etwaige Beweise erst im Rahmen des Erkenntnisverfahrens bewertet. Das hierfür zuständige erkennende Gericht stellte auf Grundlage der Untersuchungsakten des Inquirenten den relevanten Sachverhalt fest und subsumierte diesen unter den Tatbestand einer Strafnorm. Anders als heute standen dem erkennenden Gericht also die Beweismittel nicht unmittelbar zur Verfügung. Bei dem Erkenntnisverfahren handelte es sich mithin um ein schriftliches Verfahren nach Aktenlage. Doch auch wenn es sich bei dem erkennenden Gericht oftmals um ein sog. Kriminalkollegium handelte, dem auch der Inquirent angehörte, war es dem Inquirenten in der Regel verboten, an der Urteilsfällung durch das erkennende Gericht mitzuwirken.556 Die Urteilsfindung erfolgte, indem am erkennenden Gericht ein oder zwei Referenten bestellt wurden, die den Inhalt der Untersuchungsakten dem Kollegium vortrugen; das Kollegium fällte anschließend aufgrund dieses Vortrages in geheimer Beratung ein Urteil.557 Hierbei konnte es sich um ein Interlokut (Zwischenurteil) handeln, mit dem weitere Ermittlungen angeordnet wurden, oder um ein Endurteil, das auf Freispruch oder Verurteilung zu einer bestimmten Strafe lauten konnte.558 Nach der preußischen Kriminalordnung von 1805 etwa war in den Sachen, die vor einem Obergericht zu verhandeln waren, von dem Vorsitzenden des Gerichts (dem sog. „Dirigenten“) ein „Dezernent“ zu ernennen,559 von dem die Akten des Inquirenten daraufhin geprüft wurden, ob dieser wesentliche Förmlichkeiten des Verfahrens eingehalten und alle wichtigen Umstände beachtet hatte.560 Stellte der Dezernent dabei entsprechende Mängel fest, war es an dem Kollegialgericht, diesen Mängeln abzuhelfen.561 Stellte er dagegen fest, dass an der inquisitio nichts zu bemängeln war, verfügte er die Vorlegung der Akten zum Spruch des Kollegiums.562 Insofern entsprach das Verfahren vor dem Dezernenten nach der PreußCrimO 1805 in etwa dem Eröffnungsverfahren nach der heutigen Strafprozessordnung. Sobald die Akten dem Kollegium zum Spruch vorgelegt worden waren, wurde von dem Dirigenten ein „Referent“ und in schwierigen Sachen oder bei einer Straferwartung von mehr als zehn Jahren Freiheitsstrafe ein weiterer „Correferent [sic!]“ bestimmt.563 Wie schon der Dezernent war auch der Referent verpflichtet, die Akten unverzüglich auf Mängel zu untersuchen und diese gegebenenfalls bei dem 556
Kries, Deutsches Strafprozessrecht, S. 49. Vgl. Kries, Deutsches Strafprozessrecht, S. 50, sowie Hahn (Hrsg.), Materialien zur StPO, Bd. III/2, S. 1601. 558 Conrad, Rechtsgeschichte II, S. 431. 559 § 472 PreußCrimO 1805. 560 § 474 PreußCrimO 1805. 561 §§ 474, 475 PreußCrimO 1805; die abhelfende Maßnahme konnte nach dem Wortlaut des Gesetzes auch darin bestehen, die Sache mit weiteren Anweisungen an den Inquirenten zurückzuverweisen. 562 § 477 PreußCrimO 1805. 563 §§ 479 f., 482 PreußCrimO 1805. 557
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Kollegialgericht zu rügen, das daraufhin die zur Abhilfe notwendigen Maßnahmen zu veranlassen hatte.564 Anschließend trug der Referent die Sache dem versammelten Kollegialgericht nach Ermessen des Dirigenten mündlich oder durch eine „schriftliche Relation“ vor, wobei gerade in komplexen Sachen und bei einer Straferwartung von mehr als drei Jahren Zuchthaus- oder Festungsstrafe eine schriftliche Relation obligatorisch vorgeschrieben war.565 Mit dieser Relation sollten die „Mitglieder des Collegii in den Stand gesetzt werden, über die Strafbarkeit oder Unschuld des Angeschuldigten vollständig und aus eigener Ueberzeugung zu urtheilen“.566 Sie war dabei grundsätzlich in Form einer Erkenntnis (also des endgültigen Urteils des Kollegialgerichts) abzufassen.567 Dabei hatte der Referent die Tatsachen, die sein Urteil stützten, anhand der Untersuchungsakten festzustellen, gegebenenfalls unter den gesetzlichen Tatbestand eines Verbrechens zu subsumieren und mit einem Antrag hinsichtlich des Urteils des Kollegialgerichts zu verbinden, wobei neben den Untersuchungsergebnissen des Inquirenten auch die Defensio des Angeschuldigten zu berücksichtigen war.568 War zudem ein Correferent bestellt worden, hatte dieser die tatsächlichen Feststellungen des Referenten zu ergänzen oder zu berichtigen und ein eigenes Votum zu dem Antrag des Referenten samt Begründung abzugeben.569 Nach dem Vortrag des Referenten – und gegebenenfalls des Co-Referenten – konnte sich jedes Mitglied des Kollegialgerichts mündlich zu der Sache äußern und seine womöglich abweichende Meinung vortragen; anschließend stimmte das Kollegium über sein Urteil ab.570 Der Dirigent bzw. das Mitglied des Gerichts, das die Stimmen einsammelte, hatte dabei darauf zu achten, „daß jeder seine Stimme mit hinlänglicher Kenntniß der Sache aus eigener freier Ueberzeugung [Hervorh. d. Verf.]“ abgab.571 Dies sollte jedoch nicht als eine Form der freien Beweiswürdigung im heutigen Sinne missverstanden werden. Da der Wert eines Beweismittels im Inquisitionsverfahren grundsätzlich unmittelbar durch das Gesetz bestimmt wurde, war dieses einer richterlichen Würdigung nur im begrenzten Maße zugänglich.572 Die „eigene freie Überzeugung“ bezog sich vielmehr nur auf die Überzeugung von dem Vorliegen der gesetzlichen Beweistatbestände.573
564
§ 484 PreußCrimO 1805. § 480 PreußCrimO 1805; zum Zuchthaus und zur Festungshaft vgl. S. 143 Fn. 680. 566 § 496 PreußCrimO 1805. Detaillierte Vorgaben zur Abfassung der Relation enthielten dabei die §§ 497 ff. PreußCrimO 1805. 567 Die formellen Anforderungen an ein Erkenntnis waren – systematisch sicher etwas misslungen – in den §§ 488 ff. PreußCrimO 1805 verortet. 568 §§ 491 ff., 494 PreußCrimO 1805. 569 § 501 PreußCrimO 1805. 570 § 502 PreußCrimO 1805. 571 § 505 PreußCrimO 1805. 572 Vgl. etwa §§ 370, 386 PreußCrimO 1805, welche die Voraussetzungen eines vollen Beweises definieren; ausführlich zu den Beweisregeln im Inquisitionsverfahren vgl. S. 126 ff. 573 Zu den Beweisregeln im Inquisitionsverfahren vgl. S. 126 f. 565
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Nach der Abstimmung passte der Referent die von ihm entworfene Erkenntnis (Relation) an die Entscheidungen des Kollegialgerichts an und fertigte sie aus.574 In manchen Fällen war das Urteil anschließend einer übergeordneten Behörde zur Bestätigung vorzulegen, bevor es veröffentlicht wurde.575 Eine Bestätigung des Urteils war nach der PreußCrimO 1805 vor allem dann einzuholen, wenn auf eine härtere Strafe als körperliche Züchtigung und dreijährige Einsperrung oder auf Landesverweisung erkannt worden war.576 Handelte es sich bei dem erkennenden Gericht um ein Untergericht, hatte es sein Urteil dem Obergericht als Bestätigungsinstanz auch dann vorzulegen, wenn es auf eine höhere Strafe als eine leichte körperliche Züchtigung, eine Geldbuße von 50 Talern577 oder vier Wochen Gefängnis erkannt hatte.578 Das gegebenenfalls bestätigte Urteil wurde anschließend durch den Inquirenten dem Angeschuldigten unverzüglich bekanntgemacht.579 dd) Die weitere Verteidigung Die Anfechtung des erkennenden Urteils war im Inquisitionsverfahren je nach Epoche und Region unterschiedlich geregelt. So sah etwa die Carolina keine Rechtsmittel gegen das Urteil des erkennenden Gerichts vor, während in der PreußCrimO 1805 die sog. weitere Verteidigung gegen das erkennende Urteil zulässig war. Die weitere Verteidigung gestattete dem Verurteilten, das Urteil innerhalb von zehn Tagen nach seiner Veröffentlichung anzufechten.580 In einem solchen Fall war der Beschuldigte daraufhin zu vernehmen, ob er neue Umstände oder Beweismittel vorzubringen wünschte, die bis dahin keinen Eingang in die Verfahrensakten gefunden hatten.581 Verlangte der Beschuldigte im Rahmen der weiteren Verteidigung eine völlig neue Untersuchung, war einem entsprechenden Antrag zwingend stattzugeben, wenn zu erwarten war, dass hierdurch neue Erkenntnisse zu gewinnen waren.582 Die neue Untersuchung war einem anderen Inquirenten zu übertragen, als dem, der die Untersuchung in erster Instanz geführt hatte, sofern in erster Instanz auf 574
§ 507 PreußCrimO 1805. Vgl. §§ 508 ff. PreußCrimO 1805; zum Bestätigungsrecht vgl. auch S. 87, dort insbesondere Fn. 333. 576 § 512 PreußCrimO 1805. 577 Zum Vergleich: Die Kaufkraft von 50 Talern im Jahr 1810 etwa entspräche im Jahre 2018 einer Kaufkraft von 2.000 Euro, vgl. Bundesbank, Kaufkraftäquivalente historischer Beträge in deutschen Währungen, Online-Quelle. 578 Ein solch hoher Strafbann stand einem preußischen Untergericht ohnehin nur dann zu, wenn dieses keiner Inquisitoriats-Einrichtung eines Obergerichts beigetreten war, vgl. § 19 PreußCrimO 1805. Die Vorlagepflicht dieser „unabhängigen“ Untergerichte stellte mithin sicher, dass auch sie i. S. d. zuständigen Obergerichts entschieden; insofern kann diese Vorlagepflicht als ein Instrument zur Rechtsvereinheitlichung betrachtet werden. 579 § 515 PreußCrimO 1805. 580 §§ 517 f. PreußCrimO 1805. 581 § 520 Abs. 1 PreußCrimO 1805. 582 § 520 Abs. 2 PreußCrimO 1805. 575
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eine höhere Strafe als zehnjährige Strafarbeit erkannt worden war.583 Auch im Rahmen der zweitinstanzlichen Untersuchung war eine ordentliche Verteidigung nach den Vorschriften des erstinstanzlichen Verfahrens durchzuführen.584 Anschließend wurden die Akten der neuen Untersuchung dem Appellations-Gericht vorgelegt, das gegebenenfalls weitere Untersuchungen anordnen konnte, wenn die Untersuchungsakten Mängel enthielten, die der Abfassung eines Erkenntnisses entgegenstanden.585 Das Erkenntnisverfahren vor dem Appellations-Gericht fand nach denselben Vorschriften statt, die auch bei dem erstinstanzlichen Erkenntnisverfahren zur Anwendung kamen, wobei die Prüfung des Appellations-Gerichts sich jedoch darauf beschränkte, ob Gründe vorhanden waren, die für eine Freisprechung oder eine Herabsetzung der in erster Instanz erkannten Strafe sprachen.586 Gegen das Urteil des Appellations-Gerichts sah die PreußCrimO 1805 keine weiteren Rechtsmittel vor.587 ee) Eine zusammenfassende Betrachtung des Inquisitionsverfahrens Es zeigt sich also, dass das heute vorherrschende Bild des Inquisitionsverfahrens offenbar maßgeblich durch die kirchliche Inquisition und die Verfahren des Mittelalters geprägt ist,588 während das staatliche Inquisitionsverfahren, das gerade zum Ende der Frühen Neuzeit (ca. 1500 bis 1806) eine beachtliche Entwicklung durchlebt hatte, oftmals ausgeblendet wird. Gerade das Beispiel der preußischen Kriminalordnung von 1805 zeigt auf eindrucksvolle Weise, dass das Inquisitionsverfahren – jedenfalls nach dem Wortlaut des Gesetzes – kein völliges Unrechtsverfahren darstellte. Im Gegensatz zu der zum Teil dämonisierenden Rolle, die dem „Inquisitor“ in der Alltagskultur zugeschrieben wird, entsprach die Rolle des Inquirenten im frühen 19. Jh. im Wesentlichen der Rolle des Staatsanwalts im modernen Strafverfahren. Ebenso bestand im modernen Inquisitionsverfahren, anders als oftmals angenommen und behauptet,589 grundsätzlich keine Personalunion zwischen Ermittler, Ankläger und Urteiler.590 Nach der preußischen Kriminalordnung etwa konnte es lediglich dann zu einer solchen Personalunion kommen, wenn ein Untergericht keiner Inquisitoriats-Einrichtung angehörte und nur aus einem Richter bestand. In allen an583
§ 521 Satz 1 PreußCrimO 1805. § 524 PreußCrimO 1805. 585 §§ 525 f. PreußCrimO 1805. 586 §§ 527 f. PreußCrimO 1805. 587 Vgl. § 531 PreußCrimO 1805. 588 Vgl. etwa Schaffstein, ZStW (101) 1989, 493, 493, wo es heißt: „Zu den Schattenseiten, die das Bild des gemeinrechtichen Inquisitionsprozesses in der Sicht heutiger Rechtshistoriker so düster gefärbt haben, gehört neben dem grausamen Strafensystem, den Hexenprozessen, der Folter, der Richterwillkür und manch anderen auch das Institut der Verdachtsstrafe“. 589 Vgl. nur Vormbaum, Einführung in die moderne Strafrechtsgeschichte, S. 87. 590 Vgl. hierzu auch Zachariä, Gebrechen und Reform des Deutschen Strafverfahrens, S. 157. 584
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deren Fällen schloss bereits das Gesetz den Inquirenten von dem Erkenntnisverfahren aus. Erst die dem heutigen Strafverfahren zugrundeliegenden Reformen führten zu einer Personenidentität zwischen dem Richter, der im Rahmen der Hauptverhandlung die gerichtliche Untersuchung durchführt, und dem erkennenden Gericht, der eben aus diesem Richter besteht.591 c) Die Beweiskognition im Inquisitionsverfahren auf Grundlage der gesetzlichen Beweistheorie Während sich das Akkusationsverfahren in der germanischen und fränkischen Zeit noch mit einer formalen Wahrheit als Grundlage des Urteils begnügte und zur Ermittlung dieser formalen Wahrheit auf göttliche Intervention oder sonst irrationale Aspekte vertraute,592 war es das Ziel des Inquisitionsverfahrens, den in der Vergangenheit liegenden Sachverhalt historisch korrekt nachzuzeichnen, sodass das Urteil auf Grundlage der materiellen Wahrheit ergehen konnte.593 Diese Rationalisierung des Strafverfahrens hatte zur Folge, dass die irrationalen Beweismittel der vergangenen Epochen, wie etwa der Zweikampf, die Gottesurteile oder der Reinigungseid, endgültig aufgegeben wurden.594 Für eine richterliche Beweiswürdigung bestand allerdings auch im Inquisitionsverfahren scheinbar kein Raum. Der Richter im Inquisitionsverfahren wurde bei seiner Beweiskognition nämlich durch gesetzliche Beweisregeln, die zu einer gesetzlichen Beweistheorie zusammengefasst worden waren, geleitet. Diese schrieben dem Richter ausdrücklich vor, unter welchen Voraussetzungen er einen Beweis als erbracht anzusehen hatte.595 Die Beweisregeln sollten die Angeklagten vor richterlicher Willkür bei der Verhängung peinlicher Strafen schützen und zugleich die richterliche Unabhängigkeit sichern, indem eine Einmischung durch die Landesherren in die richterliche Tätigkeit unterbunden wurde.596 aa) Formulierung bindender Beweisanforderungen durch gesetzliche Beweisregeln Derartige Beweisregeln waren bereits der Carolina zu entnehmen. So bestimmte etwa Art. 22 der Carolina, dass niemand aufgrund bloßer Indizien („anzeygung / argkwons warzeichen / oder verdacht“) zu einer Strafe verurteilt werden durfte. Diese konnten zwar unter bestimmten Umständen die Anwendung der Folter zur 591 592 593
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Ähnl. auch Koch, ZIS 2009, 542, 548. Vgl. S. 109 f. Vgl. Schmidt, Geschichte der Strafrechtspflege, S. 326; aber auch § 66 PreußCrimO
Schmitt, Die richterliche Beweiswürdigung im Strafprozeß, S. 105 f. Frisch, in: FS Stürner, S. 851. 596 Küper, in: FS Peters, S. 27; Schaffstein, ZStW (101) 1989, 493, 494; Schwinge, Kampf um die Schwurgerichte, S. 74, 80 ff.; Frisch, in: FS Stürner, S. 854. 595
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Erzielung eines Geständnisses rechtfertigten („alleyn peinlich mag man darauff fragen“), doch die Verurteilung des Täters setzte nach der Carolina grundsätzlich voraus, dass der Angeklagte seine Tat selbst eingestand („auß eygen bekennen“).597 War kein Geständnis zu erzielen, erlaubte die Carolina hilfsweise eine Verurteilung auf der Grundlage qualifizierter Zeugenaussagen,598 die von Zeugen stammten, die ohne schlechten Leumund waren und nicht aus einem rechtmäßigen Grund zurückweisbar sein durften („vnbeleumdet / vnd sunst mit keyner rechtmessigem vrsach zu˚ uerwerffen sein“).599 Zudem bedurfte es mindestens zweier oder dreier solcher glaubhaften und guten Zeugen, deren Aussagen zudem auf ihren eigenen Wahrnehmungen beruhen mussten („missethat zu˚ m wenigsten mit zweyen oder dreien glaubhafftigen gu˚ ten zeugen / die von eynem waren wissen sagen / bewiesen wirdt“).600 Bei dem Geständnis des Angeklagten und dem sog. Zwei-Zeugen-Beweis handelte es sich um klassische volle Beweise, die selbst in moderneren Inquisitionsverfahrensordnungen noch anzutreffen waren. So ordnete etwa auch § 370 PreußCrimO 1805 an, dass einem „gerichtlich, ernstlich und ausdrücklich, auf rechtmäßige Fragen des Richters, oder von freien Stücken“ abgelegten Beweis, der „die Hauptumstände der That enthält, auch mit anderen erwiesenen Umständen nicht in Widerspruch stehet“, die „volle Beweiseskraft“ zukomme. Des Weiteren bestimmte § 386 PreußCrimO 1805, dass zwei „vereidete über alle Einwendung erhabene Zeugen […] einen vollen Beweis für eine jede Thatsache [geben], die der Gegenstand ihrer einstimmigen, durch eigene Sinnen-Erkenntniß begründeten Aussage ist“. bb) Die vorläufige Lossprechung von der Instanz und außerordentliche Strafe bei fehlenden vollen Beweisen Die Bindungs- und Schutzwirkung dieser gesetzlichen Beweisregeln sollte allerdings nicht überschätzt werden. Selbst wenn im Rahmen der gerichtlichen Untersuchung ein voller Beweis nicht zu erbringen war, bedeutete dies keinesfalls, dass der Beschuldigte auch freizusprechen war. In vielen Verfahrensordnungen hatten sich nämlich mit der vorläufigen Lossprechung von der Instanz und der außerordentlichen Strafe Institute entwickelt, die sich gerade dieser Konstellation annahmen. Auch wenn diese Institute im vorliegenden Rahmen keiner in ihrer Entwicklung
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Zum Wortlaut des Art. 22 der Carolina vgl. S. 118 Fn. 530. Art. 66, 67 der Carolina. 599 Art. 66 der Carolina, im vollständigen Wortlaut: „V o n g n u˚ g s a m e n z e u g e n . lxvj. Gnu˚ gsame zeugen seindt die / die vnbeleumdet / vnd sunst mit keyner rechtmessigem vrsach zu˚ uerwerffen sein“. 600 Art. 67 der Carolina lautete wörtlich: „V o n g n u˚ g s a m e n g e z e u g k n u ß . lxvij. ITem so eyn missethat zu˚ m wenigsten mit zweyen oder dreien glaubhafftigen gu˚ ten zeugen / die von eynem waren wissen sagen / bewiesen wirdt / darauff soll / nach gestalt der verhandlung mit peinlichem rechten volnfarn vnd geurtheylt werden“. 598
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differenzierten Untersuchung zugeführt werden sollen,601 kann grundsätzlich festgehalten werden, dass sie immer dann Anwendung fanden, wenn kein voller Beweis für die Schuld des Angeklagten zu erbringen war. Die vorläufige Lossprechung von der Instanz (absolutio ab instantia) fand vor allem dann statt, wenn schon der eigentliche Hergang der Sache im Rahmen der richterlichen Untersuchung nicht aufgeklärt werden konnte, der Angeklagte aber auch nicht in der Lage war, den gegen ihn erhobenen Verdacht vollständig auszuräumen.602 Die Lossprechung von der Instanz (auch Los- oder Entbindung von der Instanz) entfaltete dabei, anders als ein Urteil, keine Rechtskraft und gestattete dem Inquirenten, die Untersuchung jederzeit wieder neu zu eröffnen, sofern erhebliche Umstände oder Beweismittel bekannt wurden, die in der vorangegangenen Untersuchung nicht zutage getreten waren.603 Dieses – der Praxis kirchlicher Gerichte entlehnte604 – Institut erlaubte es dem Staat, einen Beschuldigten vorläufig freizusprechen, wenn er der Tat zwar dringend verdächtig war, seine Schuld jedoch nicht zweifelsfrei nachgewiesen werden konnte. Hierdurch blieb es möglich, das Verfahren erneut aufzunehmen, wenn neue Beweise in der Sache aufkamen. Die Notwendigkeit dieses Institutes wurde damit begründet, dass das Inquisitionsverfahren stets nach der materiellen Wahrheit strebe, weshalb es nicht statthaft sei, denjenigen, der wahrscheinlich schuldig war und lediglich aus Mangel an ausreichenden Beweisen nicht verurteilt werden konnte, mit einem offensichtlich Unschuldigen gleichzusetzen.605 Sofern man die Untersuchung durch den Inquirenten als ein gerichtliches Verfahren begreift, erscheint diese Möglichkeit eines bedingten Freispruchs aus heutiger Perspektive rechtsstaatlich durchaus bedenklich. Nach Ansicht des Verfassers handelte es sich bei der gerichtlichen Untersuchung, auch wenn sie formell betrachtet Teil des gerichtlichen Verfahrens war, materiell um ein Vorverfahren zu dem schriftlichen Erkenntnisverfahren.606 Damit entsprach die richterliche Untersuchung in vielerlei Hinsicht dem heutigen staatsanwaltschaftlichen Ermittlungsverfahren. Unter dieser Prämisse erscheinen die rechtsstaatlichen Bedenken an der vorläufigen Lossprechung von der Instanz allerdings nicht mehr so gravierend. Schließlich tritt auch bei einer staatsanwaltschaftlichen Einstellung des Verfahrens kein rechtskraftmäßiger Verbrauch der Strafklage ein, sodass das eingestellte Verfahren grundsätzlich jederzeit erneut aufgenommen werden kann. Bei der außerordentlichen Strafe (poena extraordinaria) hingegen handelte es sich um eine Strafe, deren Verhängung und Höhe im Ermessen des Richters stand und 601 Vgl. etwa zum Verständnis Carpzovs zur außerordentlichen Strafe Zopfs, in dubio pro reo, S. 150 ff.; zur vorläufigen Lossprechung von der Instanz, ebd., S. 157 ff. sowie 229 ff. 602 Vgl. etwa § 409 PreußCrimO 1805. 603 Mittermaier, Die Lehre vom Beweise, S. 477 f.; vgl. auch § 411 PreußCrimO 1805. 604 Mittermaier, Die Lehre vom Beweise, S. 469. 605 Vgl. Mittermaier, Die Lehre vom Beweise, S. 470 m. w. N. 606 Vgl. insbesondere S. 125.
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im Gegensatz zu einer ordentlichen Strafe (poena ordinaria) nicht durch das Gesetz bestimmt wurde.607 Einen besonderen Unterfall dieser außerordentlichen Strafen bildete dabei die sog. Verdachtsstrafe.608 Trotz ihrer missverständlichen Bezeichnung diente die Verdachtsstrafe nicht der Ahndung des bloßen Verdachts einer Straftat.609 Sie erlaubte dem Richter vielmehr, den Angeklagten auch dann zu bestrafen, wenn ein voller Beweis für seine Tat nicht zu erbringen war, aber gleichwohl bei einer Gesamtwürdigung aller Umstände erhebliche Indizien für seine Täterschaft sprachen.610 So hieß es etwa in § 391 der PreußCrimO 1805: „Auf eine gelindere, als die gesetzliche, oder auf eine außerordentliche Strafe, soll erkannt werden, wenn gegen den Angeschuldigten erhebliche Beweise vorhanden, diese aber nicht so vollständig sind, daß er der That für völlig überführt geachtet werden könnte.“
Die Verdachtsstrafe hatte jedoch grundsätzlich milder auszufallen als die ordentliche Strafe für das abzuurteilende Delikt.611 Obwohl es sich bei dieser Form der außerordentlichen Strafe um ein tradiertes Instrument der partikularen Strafrechtspflege handelte, stand ihre Anwendung im eindeutigen Widerspruch zu dem Grundgedanken der Carolina, die für eine Verurteilung des Beschuldigten unbedingt ein Geständnis oder einen sonstigen vollen Beweis vorausgesetzt hatte.612 Nichtsdestoweniger dürfte die Verhängung der Verdachtsstrafe eher die Regel als die Ausnahme dargestellt haben.613 Schließlich hatte ein Angeklagter nach der Abschaffung der Folter zum Ende des 18. Jh. kaum noch einen Anreiz, seine Tat zu gestehen,614 sodass den Gerichten ausschließlich noch der Zwei-Zeugen-Beweis 607 Klein, Grundsätze des peinlichen Rechts, § 79; Koch, in: Altenhain et al. (Hrsg.), Folter seit ihrer Abschaffung, S. 17. Ausführlich zur Entstehung der außerordentlichen Strafe, Mittermaier, Die Lehre vom Beweise, S. 489 ff. Den hierdurch entstehenden Widerspruch, in den sich ein Gesetzgeber verwickelt, der den Richter einerseits durch gesetzliche Beweisregeln zu binden sucht, ihm aber zugleich mit der außerordentlichen Strafe ein Instrument an die Hand gibt, das ihn weitestgehend von eben den Beweisregeln entbindet, beschreibt Mittermaier sehr eindringlich a. a. O. auf S. 495 f. 608 Vgl. Schaffstein, ZStW (101) 1989, 493, 496 ff. Ausführlich zu der Verdachtsstrafe Balogh, Die Verdachtsstrafe, S. 5 ff. 609 Schaffstein, ZStW (101) 1989, 493, S. 500 (Fn. 17); Jerouschek, GA 1992, 493, 501. 610 Ignor, Geschichte des Strafprozesses, S. 106 f.; Koch, in: Altenhain et al. (Hrsg.), Folter seit ihrer Abschaffung, S. 17. 611 Ignor, Geschichte des Strafprozesses, S. 106; Koch, in: Altenhain et al. (Hrsg.), Folter seit ihrer Abschaffung, S. 17 m. w. N.; auch wenn die außerordentliche Strafe milder ausfiel als eine ordentliche Strafe, konnte sie gleichwohl eine gravierende Strafe darstellen; so etwa trat anstelle der Todesstrafe die lebenslange Zwangsarbeit, die nicht minder grausam war (Beispiel nach Koch, in: Altenhain et al. (Hrsg.), Folter seit ihrer Abschaffung, S. 17); siehe auch Schmitt, Die richterliche Beweiswürdigung im Strafprozeß, S. 141 f. 612 Art. 22 Carolina, für eine wörtliche Wiedergabe vgl. S. 118 Fn. 530. 613 Ähnl. schon Savigny, GA 1858, 469, 488. 614 Ähnl. Peters, Das preußische Strafverfahren, S. 77 f.; vgl. zu den Folgen der Abschaffung der Folter für das Strafverfahren auch Savigny, GA 1858, 469, 488; Glaser, Lehre vom Beweis, S. 6; Schwinge, Kampf um die Schwurgerichte, S. 75.
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blieb, wenn sie auf eine ordentliche Strafe erkennen wollten. Allerdings entspricht es der allgemeinen Lebenserfahrung, dass eine Tat nur selten durch zwei zuverlässige Zeugen beobachtet wird. Wollten die Gerichte nun einen Angeklagten, den sie für offensichtlich schuldig hielten, nicht freisprechen, blieb ihnen nur noch die Verdachtsstrafe als außerordentliche Strafe. Auch wenn sie gerade zu Beginn des 19. Jh. stark kritisiert wurde, gilt zu bedenken, dass Indizien, die für die Verhängung einer Verdachtsstrafe erforderlich waren, nach heutigen Maßstäben wohl völlig ausreichend gewesen wären, um die Überzeugung des Gerichts von der Schuld des Angeklagten zu stützen.615 cc) Faktische richterliche Beweiswürdigung im Inquisitionsverfahren trotz gesetzlicher Beweisregeln Die Existenz der Verdachtsstrafe, die sich auf besonders starke Indizien für die Tat des Angeklagten stützte, belegt jedoch, dass die allgemeine Annahme, dass im Inquisitionsverfahren kein Raum für eine freie Beweiswürdigung vorhanden gewesen sei, nicht im vollen Maße zutreffend ist.616 Denn bei der richterlichen Feststellung, ob die vorliegenden Indizien stark genug waren, eine Verdachtsstrafe zu stützen, handelte es sich letztlich sehr wohl um eine Würdigung der vorhandenen (Indizien-) Beweise, bei welcher der Richter gerade nicht mehr an gesetzliche Beweisregeln gebunden war. So ordnete etwa § 407 der PreußCrimO 1805 an: „Bei Bestimmung einer außerordentlichen Strafe muß der Richter nicht allein auf die Größe des Verbrechens und der darauf bestimmten ordentlichen Strafe, sondern zugleich auf das Gewicht der gegen den Angeschuldigten vorhandenen Beweise, je nachdem sie der vollständigen Ueberführung sich mehr oder weniger nähern, ganz besonders aber auf den Charakter und die bisherige Lebensart des Angeschuldigten, sorgfältig Rücksicht nehmen.“
Die Anwendung der Verdachtsstrafe setzte also voraus, dass der Richter die ihm vorliegenden (Indizien-)Beweise im Wesentlichen frei würdigte und sein Urteil auf seine persönliche Überzeugung von der wahrscheinlichen Schuld des Angeklagten stützte. Doch nicht nur bei den außerordentlichen Strafen war im Inquisitionsverfahren Raum für gesetzesunabhängige richterliche Wertungen gegeben.617 Selbst in den Fällen, in denen die klassischen Beweisregeln (Geständnis und Zwei-Zeugen-Beweis) voll zum Tragen kamen, erschöpfte sich die richterliche Tätigkeit nicht in einer 615 Besonders scharfe Kritik an der Verdachtsstrafe wird etwa in dem Bericht der ImmediatJustiz-Kommission, S. 37 f., geübt. Andere Rechtsordnungen zur Zeit der preußischen Kriminalordnung von 1805 waren ohnehin dazu übergegangen, verschiedene unvollkommene Beweise (Indizienbeweise) zu einem vollständigen Beweis zusammenzufassen, um auf diese Weise neue Beweisregeln aufzustellen, vgl. Mittermaier, Die Lehre vom Beweise, S. 492 f. 616 So aber Frisch, in: FS Stürner, S. 851 f.; Küper, in: FS Peters, S. 25; Krieter, Historische Entwicklung der freien Beweiswürdigung, S. 3 f., 7, 11; anders Jerouschek, GA 1992, 493, 499 ff. 617 Ähnl. auch Savigny, GA 1858, 469, 488.
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rein technischen Subsumtion der Beweismittel unter die gesetzlichen Beweisvorschriften. Schließlich bestimmte schon die Carolina, dass die Zeugen nicht vom schlechten Leumund und auch sonst nicht aus einem rechtmäßigen Grund ablehnbar sein durften; ebenso mussten ihre Aussagen glaubhaft und gut gewesen sein.618 Die Beurteilung, ob ein Zeuge „unbeleumdet“, „glaubhaft“ und „gut“ war, setzte dabei denklogisch eine richterliche Würdigung ihrer Aussagen voraus, die letztendlich über die Anwendbarkeit der konkreten Beweisregel im Einzelfall und folglich auch über die Verurteilung des Angeklagten entscheiden konnte.619 Auch die PreußCrimO 1805 bestimmte, dass es sich bei den Zeugen um „über alle Einwendungen erhabene“ Personen handeln musste,620 was dem Richter einen beachtlichen Beurteilungsspielraum eröffnete. An anderer Stelle bestimmte die PreußCrimO 1805, dass das Geständnis eines Beschuldigten „ernstlich und ausdrücklich“ abgelegt worden sein musste und „mit anderen erwiesenen Umständen nicht in Widerspruch“ stehen durfte, wodurch ebenfalls Wertungsspielräume für das erkennende Gericht eröffnet wurden.621 Insofern kann zusammenfassend festgehalten werden, dass gesetzliche Beweisregeln letztendlich nur regelten, welche Beweismittel mindestens vorzuliegen hatten, damit eine ordentliche Strafe ausgesprochen werden konnte. Ob gegebenenfalls aufgrund der vorhandenen Indizien eine außerordentliche Strafe ausgesprochen werden konnte, entschied der Richter ohne jede Bindung an gesetzliche Beweisregeln. Selbst die Entscheidung, ob die aufgefundenen Beweismittel den gesetzlichen Anforderungen genügten, um eine ordentliche Strafe zu rechtfertigen, oblag der richterlichen Würdigung, die – wenn überhaupt – nur unwesentlich durch Gesetze eingeschränkt wurde. Die Annahme, dass der Richter im Inquisitionsverfahren aufgrund der gesetzlichen Beweistheorie bis in das 19. Jh. verpflichtet gewesen sei, den Angeklagten zu verurteilen, sofern nur zwei Personen übereinstimmend dasselbe aussagten, oder ihn freizusprechen, weil dieser lange genug der Folter widerstand und kein Geständnis ablegte, beruht demnach auf einem allzu technischen Verständnis des jüngeren Inquisitionsverfahrens und ist im Ergebnis unzutreffend. Zwar gab es Versuche, auch den richterlichen Spielraum bei der Anwendung der außerordentlichen Strafen durch gesetzliche Beweisregeln einzuschränken. Diese mündeten jedoch in aller Regel in beispielhaften, nicht abschließenden Aufzählungen von Indizien, welche die Verhängung einer außerordentlichen Strafe rechtfertigten, sodass dem Richter weiterhin große Ermessensspielräume verblieben. So etwa versuchte der preußische Gesetzgeber in den §§ 398 ff. PreußCrimO 1805 die Voraussetzungen bestimmter Indizien zu formulieren, die er als nahe Anzeigen be-
618 619 620 621
Vgl. schon S. 126 f. Ähnl. auch Savigny, GA 1858, 469, 488. § 386 PreußCrimO 1805. § 370 PreußCrimO 1805.
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zeichnete,622 räumte jedoch zugleich ein, dass es sich dabei lediglich um Beispiele handelte und es „der Beurtheilung des Richters überlassen [bleibt], ob in den einzelnen Fällen Thatsachen vorkommen, die eine gleiche Beweiskraft mit sich führen“.623 Zutreffend stellte Savigny insofern fest: „Für ihn [gemeint ist der Indizienbeweis – Anm. d. Verf.] können wenig oder gar keine Regeln aufgestellt werden. Es ist nicht möglich, alle die mannichfachen Umstände und deren denkbaren Verknüpfungen, durch welche die Schuld oder Unschuld eines Angeklagten zu Tage gebracht werden kann, erschöpfend anzugeben. Das Bestreben, dies zu thun, wäre, wie F e u e r b a c h sagt, nicht vernünftiger als der Plan, den Ocean der Natur in einem Eimer zu fassen.“624
Bei Feuerbach heißt es hierzu: „Heißt es in dem Gesetz: dieser Umstand, verbunden mit jenem und diesem, soll dem Richter Ueberzeugung geben, so ist unter tausend Umständen und unter Millionen möglicher Verknüpfungen immer nur eine Einzige angegeben“.625 So blieb die Anwendung der außerordentlichen Strafen in allen Rechtsordnungen eine Frage des richterlichen Ermessens, die eine von gesetzlichen Regeln ungebundene richterliche Würdigung der (Indizien-)Beweise gestattete.626 Dass die außerordentliche Strafe dabei mehr Raum für eine etwaige richterliche Willkür beließ, wurde hingenommen, da die außerordentliche Strafe milder auszufallen hatte als die der bewiesenen Tat entsprechende ordentliche Strafe. So war gewährleistet, dass der Angeklagte ohne das Vorliegen eines vollen Beweises jedenfalls nicht zum Tode verurteilt werden konnte, worin bereits eine hinreichende Sicherung gegen den Missbrauch der außerordentlichen Strafe erblickt worden zu sein scheint.627 Durch diese gesetzgeberisch oder gewohnheitsrechtlich antizipierte 622 So etwa sollte eine nahe Anzeige vorliegen, wenn (a) lediglich ein vollkommener Zeuge aufzufinden war, (b) der Angeklagte sein Verbrechen außergerichtlich gestanden hatte, (c) ein geständiger Verbrecher unter bestimmten Voraussetzungen den Angeklagten als Teilnehmer bezeichnete oder (d) der Angeklagte die nunmehr angeklagte Tat kurz zuvor angedroht hatte, § 398 PreußCrimO 1805. Hierzu gehörten gem. § 400 PreußCrimO 1805 auch, dass der Verdächtige eines Tötungsdeliktes mit blutigen Kleidern oder rötlichen Werkzeugen auf verdächtige Art angetroffen wurde, dass der Verdächtige im Besitz von Gegenständen des Getöteten war, dass erwiesen war, dass der Verdächtige einer Vergiftungstötung das entsprechende Gift gekauft hatte und sich mit dem Getöteten in einem Konflikt befand, oder dass er bei einer Brandstiftung mit brennbaren Materialien am Tatort gesehen worden war. 623 § 401 PreußCrimO 1805; allerdings bezog sich § 401 lediglich auf die „Indizregeln“, die in § 400 normiert waren (vgl. Fn. 622) und Beispiele für erwiesene Tatsachen bildeten, die entweder eine bestimmte Bedingung oder Ursache eines Verbrechens darstellten oder das Verbrechen als Ursache oder Bedingung voraussetzten (§ 399 PreußCrimO 1805). Die nahen Anzeigen gem. § 398 PreußCrimO 1805 (vgl. erneut Fn. 622) hingegen waren abschließend formuliert. 624 Savigny, GA 1858, 469, 487. 625 Feuerbach, Betrachtungen über das Geschwornen-Gericht, S. 126 f. 626 Vgl. Savigny, GA 1858, 469, 487. 627 So etwa bestimmte § 408 PreußCrimO 1805 ausdrücklich: „Die außerordentliche Strafe kann nie bis zur Todesstrafe, auch wenn die Strafgesetze in einem oder dem anderen Falle nichts Abweichendes verordnen, nicht bis zur lebenswierigen Gefangenschaft ausgedehnt werden,
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Strafzumessung war sichergestellt, dass bei der Verhängung einer Verdachtsstrafe dem geringeren Wert der Indizienbeweise Rechnung getragen wurde.628
II. Die Entdeckung der freien Beweiswürdigung als Element des Schwurgerichtsverfahrens Obwohl den Richtern im Inquisitionsverfahren bei der Anwendung der außerordentlichen Strafen große Spielräume zuerkannt worden waren, war man nicht bereit, sie auch bei der Anwendung der ordentlichen Strafen von den gesetzlichen Beweisregeln zu entbinden und auf eine echte freie Beweiswürdigung im heutigen Sinne zu verweisen. Denn gerade dort, wo eine ordentliche Strafe – insbesondere die Todesstrafe – in Betracht kam, galten die gesetzlichen Beweisregeln weiterhin als wichtige Schutzinstrumente gegen richterliche Willkür, auf die nicht zu verzichten waren.629 Erst im ausklingenden 18. Jh. und im 19. Jh. zeichnete sich eine Entwicklung ab, die als endgültige Abkehr von den gesetzlichen Beweisregeln hin zu einer freien Beweiswürdigung zu deuten ist.630 1. Die freie Beweiswürdigung und die Entwicklung der Schwurgerichtsbarkeit in Frankreich Da ein Geständnis seit der Aufhebung der Folter nur noch in wenigen Fällen als Grundlage für ein richterliches Urteil zur Verfügung stand, war man sich vor allem in der Rechtspraxis der Notwendigkeit bewusst geworden, Angeklagte auch ohne das Vorliegen der Voraussetzungen der gesetzlichen Beweisregeln zu einer ordentlichen Strafe verurteilen zu können. Das völlige Freistellen der Richterschaft von den gesetzlichen Beweisregeln wurde dabei jedoch als ein gefährlicher und daher ungangbarer Weg empfunden.631 So wurde zunächst in der Rechtswissenschaft die Idee geboren, die Voraussetzungen eines hinreichenden Beweises nicht durch gesetzliche Beweisregeln zu normieren, sondern jedenfalls in den schweren Fällen durch Geschworene feststellen zu lassen, wie dies schon seit Jahrhunderten im englischen
sondern nur in Geldbuße oder zeitiger Strafarbeit bestehen. Es soll auch dabei niemals auf körperliche Züchtigung erkannt werden, wenn die Gesetze nicht ausdrücklich eine Ausnahme gestatten“. 628 Eine solche antizipierte Strafzumessung ist für sich betrachtet nichts Ungewöhnliches. So betreibt auch der heutige Gesetzgeber etwa bei der Beihilfe (§ 27 Abs. 2 StGB) oder der versuchten Anstiftung (§ 30 Abs. 1 Satz 2 StGB) eine antizipierte Beweiswürdigung, bei der er der geringeren Schuld des Beteiligten Rechnung trägt. 629 Schwinge, Kampf um die Schwurgerichte, S. 74, 80 ff.; Frisch, in: FS Stürner, S. 854. 630 Hierzu ausführlich Schmitt, Die richterliche Beweiswürdigung im Strafprozeß, S. 145 ff. 631 Schwinge, Kampf um die Schwurgerichte, S. 79 mit zahlreichen Nachweisen; Schmitt, Die richterliche Beweiswürdigung im Strafprozeß, S. 156.
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Strafverfahren der Fall gewesen war.632 Aufgrund ihrer personellen Unabhängigkeit von den Landesherren und sicherlich auch wegen des Schutzes vor individueller Einflussnahme, den die Geschworenen aufgrund der anonymen Beratungen der Geschworenenbank genossen, traute man ihnen eine höhere Unbefangenheit und Unparteilichkeit zu als den beamteten Berufsrichtern, die im Dienste der Landesherren standen.633 Insofern erschien es wesentlich unbedenklicher, Geschworenen eine von den gesetzlichen Beweisregeln losgelöste, freie Beweiswürdigung anzuvertrauen als der Berufsrichterschaft.634 a) Die französische Lehre von der intime conviction Vor allem durch den Wunsch nach mehr Volkssouveränität und einer Gewaltenteilung innerhalb der Justiz motiviert, erfolgte zunächst im revolutionären Frankreich von 1791 die Rezeption des englischen Schwurgerichtsverfahrens, das in England als ein Bollwerk gegen politische Ungerechtigkeiten angesehen wurde und als ein Palladium bürgerlicher Freiheiten galt.635 Dabei muss es widersinnig erschienen sein, die Geschworenen, die das demokratische Element in der Rechtsprechung repräsentieren sollten, durch gesetzliche Beweisregeln mittelbar dem Staatswillen unterzuordnen. So verlangte das französische Strafverfahrensrecht von ihnen lediglich die Beantwortung der Frage, ob sie zu einer inneren Überzeugung hinsichtlich der Schuld des Angeklagten gelangt sind („avez-vous une intime conviction?“636), ohne ihnen auch die Pflicht aufzuerlegen, ihre Antwort begründen zu müssen; damit war jene Antwort schon faktisch keiner weiteren Kontrolle zugänglich.637 Dieser Ansatz entsprach der zu jener Zeit herrschenden Ansicht in der französischen Rechtswissenschaft, wonach es als unmöglich galt, die Suche nach der inneren Überzeugung (conviction intime) – anders als etwa die Suche nach einer vernünftigen Überzeugung (conviction raisonnée) – starren Regeln zu unterwer-
632
Zur Entwicklung der Schwurgerichtsbarkeit im englischen Strafverfahren vgl. Andoor, Laien in der Strafrechtsprechung, S. 31 ff. 633 Ähnl. Küper, in: FS Peters, S. 26. 634 Schwinge, Kampf um die Schwurgerichte, S. 83; Frisch, in: FS Stürner, S. 854. 635 Krieter, Historische Entwicklung der freien Beweiswürdigung, S. 10; vgl. auch Andoor, Laien in der Strafrechtsprechung, S. 79. Bündig zu der vom englischen Strafprozess beeinflussten Entwicklung der Schwurgerichtsbarkeit in Frankreich, Küper, in: FS Peters, S. 25 ff.; zur Entwicklung der Schwurgerichtsbarkeit in England, Andoor, Laien in der Strafrechtsprechung, S. 31 ff. 636 Eine Frage, die sich bis heute in der französischen Strafprozessordnung wiederfindet, vgl. Art. 353 Code de procédure pénale, und wörtlich übersetzt „Seid ihr innig überzeugt?“ lautet; auch deutsche Geschworene hatten während der französischen Besatzung des Rheinlands und bis zur Einführung des reformierten französischen Verfahren in den Rheinlanden diese Frage zu beantworten, vgl. hierzu auch S. 139 f. 637 Frisch, in: FS Stürner, S. 855; Küper, in: FS Peters, S. 27 ff.; Walter, Freie Beweiswürdigung, S. 68 f.
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fen.638 Die intime conviction als das Ergebnis eines einfachen, ausschließlich auf den gesunden Menschenverstand gestützten Denkvorganges sollte sich bei den Geschworenen vielmehr als ein instinktiv-intuitives Wahrheitsgefühl einstellen.639 Diese Idee, die der intime conviction zugrunde liegt, findet sich dabei schon bei Beccaria wieder; in Kapitel XIV seiner 1764 erschienenen Schrift dei delitti de delle pene (Über Verbrechen und Strafen) heißt es: „Deshalb halte ich jenes Gesetz für das beste, das dem Hauptrichter durch Los und nicht durch Wahl bestimmte Beisitzer zur Seite stellt; denn in diesem Falle urteilt die Unwissenheit aus dem Gefühl heraus sicherer als die Wissenschaft nach Lehrmeinungen. […] [Um] das Urteil zu fällen, [ist] nichts weiter mehr erforderlich als ein einfacher und gewöhnlicher gesunder Verstand, der seltener danebentrifft als das Wissen eines Richters, der daran gewöhnt ist, Schuldige finden zu wollen, und der alles unter ein durch seine Studien gewonnenes künstliches System bringt. Glücklich die Nation, bei der die Gesetze keine Wissenschaft waren!“640
Bei näherer Betrachtung stellt die Entscheidung des französischen Gesetzgebers, die Geschworenen ausschließlich auf ihre innere Überzeugung zu verweisen, eine Folge der unreflektierten Rezeption des englischen Schwurgerichtsverfahrens und eine vor allem dem Zeitgeist entsprungene Idee dar. Eine zwingend systematischrationale Notwendigkeit hierfür, die sich etwa aus der Natur des Schwurgerichtsverfahrens ergäbe, ist nämlich nicht ersichtlich. Tatsächlich hätte es sogar nahegelegen, die gesetzliche Beweistheorie, wenn sicherlich auch in modifizierter Form, auch auf Geschworene anzuwenden, da ausgerechnet diese – etwa aufgrund ihrer fehlenden Routine – einer gesteigerten Gefahr der Manipulation durch die Presseberichterstattung, aber auch die Verfahrensparteien ausgesetzt waren.641 Sofern diesbezüglich auf das Vorbild der englischen jury verwiesen wird, bleibt festzuhalten, dass die Koinzidenz der Schwurgerichtsbarkeit und der freien Beweiswürdigung in England keinesfalls einer dogmatisch notwendigen Koexistenz beider Prinzipien, sondern lediglich den besonderen historischen Begebenheiten, die zur Entwicklung der englischen Schwurgerichtsbarkeit geführt hatten und nachfolgend dargelegt sind, geschuldet war.642 638
Walter, Freie Beweiswürdigung, S. 68 f. Küper, in: FS Peters, S. 28. 640 Beccaria, Über Verbrechen und Strafen, S. 88. 641 Ähnlich Feuerbach, Betrachtungen über die Öffentlichkeit II, S. 457 ff., und Mittermaier, Die Lehre vom Beweise, S. 112 f., auch wenn sie von einer (Selbst-)Bindung der englischen Geschworenen an vermeintliche, durch das common law formulierte Beweisregeln ausgehen, dabei jedoch Beweiserhebungs- und Beweisverwertungsregeln mit Beweiswürdigungsregeln zu verwechseln scheinen. 642 Zwar widerspricht Küper, in: FS Peters, S. 29, wie schon Feuerbach und Mittermaier (Fn. 641) vor ihm, der Auffassung der zeitgenössischen französischen Juristen, dass der Gedanke der intime conviction dem englischen Strafprozessrecht bereits bekannt war, und spricht insofern sogar von einem historischen Missverständnis. Doch hat es den Eindruck, dass Küper die Begrifflichkeiten der einzelnen Rechtsordnungen hierbei leicht überspannt. So führt er aus, dass das Fehlen kodifizierter Beweisregeln nicht zu einer „intuitive[n] Entscheidungsfreiheit“ 639
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b) Die englische Schwurgerichtsbarkeit und das principle of jury independence Auch in England hatte nämlich das Verbot des Papstes Innozenz III. aus dem Jahre 1215, wonach es dem Klerus untersagt war, sich an den Gottesurteilen zu beteiligen, zur Folge, dass die Ordalien keine göttliche Legitimation mehr für sich beanspruchen konnten und so an Bedeutung verloren.643 Während in den deutschen Rechtsordnungen daraufhin die Rezeption des kanonischen Inquisitionsverfahrens einsetzte, in dem statt auf Gottesbeweise auf gesetzlich normierte, rationale Beweismittel zurückgegriffen wurden,644 hielt das gemeine englische Recht weiterhin an dem althergebrachten Akkusationsverfahren fest. Anstelle der obsolet gewordenen Gottesurteile trat dort jedoch der Spruch von zwölf gesetzestreuen Männern, die schwören (daher „Geschworene“) mussten, die Frage nach der Schuld des Angeklagten wahrheitsgemäß zu beantworten.645 Wie schon die Gottesurteile zuvor stellte auch der Wahrspruch dieser Geschworenen nichts weniger dar als einen formalen Beweis für die Schuld oder Unschuld des Angeklagten. Insofern handelte es sich bei der ursprünglichen englischen jury weniger um einen Teil des gerichtlichen Spruchkörpers als vielmehr ein zeugenähnliches Beweismittel.646 Ähnlich stellte das Feuerbach noch 1825 für die Geschworenen im Allgemeinen fest: „Der Verein der Geschwornen ist ein B e w e i s m i t t e l , ihr Wahrspruch der f o r m e l l e , j u r i d i s c h e B e w e i s selbst, welcher die Ueberweisung (conviction) des Angeklagten, folglich die U e b e r z e u g u n g des Richters begründet. […] Wie, nach unserer deutschen Strafgesetzgebung, die Uebereinstimmung der geführten Beweise mit der englischen Geschworenen führe und in England sehr wohl ein „law of evidence“ als Teil des „judge made law“ existiere. Dieses stelle letztlich Beweisregeln dar, die für Richter und Geschworene zwar nicht unbedingt verbindlich, doch Kraft ihrer inneren Autorität als bindend anerkannt seien. Hierbei scheint Küper jedoch zu verkennen, dass das law of evidence mehrheitlich Beweiserhebungs- und Beweisverwertungsverbote beschreibt und nicht die Beweiswürdigung durch die Geschworenen zum Gegenstand hat. Dies ist bereits den differenzierten Darstellungen von Feuerbach, Betrachtungen über die Öffentlichkeit II, S. 457 ff., und Mittermaier, Die Lehre vom Beweise, S. 111, zu entnehmen, wenn auch beide fälschlicherweise zu dem Schluss gelangen, dass die jury in ihrer Entscheidung nicht frei gewesen sei. Tatsächlich jedoch gilt das Recht der englischen jury, eine in jeder Hinsicht freie Beweiswürdigung vorzunehmen, seit der Entscheidung des Court of Common Pleas in dem sog. Bushell’s Case aus dem Jahr 1670, als einer der Grundpfeiler der englischen Schwurgerichtsbarkeit (ausführlich zu dem bemerkenswerten Bushell’s Case, Andoor, Laien in der Strafrechtsprechung, S. 37 ff.). Auch wenn die englische Rechtsordnung nicht von einer inneren Überzeugung (intime conviction) der Geschworenen spricht, stellt der Wahrspruch der englischen Geschworenen mithin sehr wohl einen Ausdruck ihrer zutiefst inneren Überzeugung dar, die bei einer Verurteilung lediglich über jeden individuellen vernünftigen Zweifel erhaben sein muss (beyond reasonable doubt), Woolmington v DPP [1935] UKHL 1, 7. 643 Ausführlicher hierzu vgl. S. 110. 644 Vgl. S. 111 ff. 645 Vgl. hierzu ausführlich Andoor, Laien in der Strafrechtsprechung, S. 31 ff. m. w. N. 646 Andoor, Laien in der Strafrechtsprechung, S. 31 ff. m. w. N.; ähnl. auch schon Schwinge, Kampf um die Schwurgerichte, S. 101 f.
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den gesetzlich feststehenden Beweisregeln, die juridische Gewißheit begründet; so wird diese, bei Geschwornengerichten, in der übereinstimmenden Ueberzeugung der einzelnen Geschwornen gefunden.“647
Da bei rationaler Betrachtung nur der Beweiswert eines Zeugenbeweises durch Gesetz geregelt werden konnte, nicht jedoch sein Beweisinhalt, lag es fern, die „Beweistätigkeit“ dieser altertümlichen jury durch eine gesetzliche Beweistheorie zu beschränken. Im Laufe der nachfolgenden Jahrhunderte emanzipierte sich die englische jury allerdings von ihrer Funktion als schlichtes Beweismittel und entwickelte sich zu einem integralen Bestandteil der englischen Schwurgerichtsbarkeit, wobei die nunmehr tradierte Vorstellung, dass die Rechtsfindung bei schweren Straftaten durch völlig unabhängige und in ihrer Beweiswürdigung in jeder Hinsicht freie Geschworene zu erfolgen hatte, von dieser Entwicklung unbeeinflusst blieb.648 Das Recht der englischen Geschworenen, die ihnen vorgelegten Beweise frei zu würdigen, gilt heute als historisch dermaßen gesichert und selbstverständlich, dass selbst seine ausdrückliche Bezeichnung als principle of jury independence in der englischen Rechtsliteratur – anders als in Frankreich (intime conviction) und Deutschland (freie Beweiswürdigung) – kaum noch Verwendung findet. c) Die freie Beweiswürdigung durch Geschworene in Frankreich und Deutschland Während die freie Beweiswürdigung durch Geschworene in England demnach bereits zum Ende des 18. Jh. auf eine über 500-jährige Tradition zurückblicken konnte und die jury eine geradezu sakrale Stellung in der englischen Strafrechtspflege genoss, verhielt sich die Situation in Frankreich und wenig später auch in den deutschen Partikularstaaten völlig anders. Sowohl in Frankreich als auch in den deutschen Staaten stellten die Schwurgerichte nämlich keine historisch gewachsenen Institute dar, sondern durch Gesetze, Verordnungen und Dekrete geschaffene Einrichtungen, die ad hoc mit Aufgaben und Kompetenzen ausgestattet worden waren. Zwar gab es in der deutschen Rechtswissenschaft des 19. Jh. immer wieder Versuche, die Ursprünge der deutschen Schwurgerichte auf die altdeutschen Schöffengerichte oder sogar auf die germanischen Volksgerichte zurückzuführen, tatsächlich hatte sich das kontinentaleuropäische Strafverfahren jedoch bereits mit der Etablierung des Inquisitionsprozesses ihrer plebiszitären Elemente entledigt.649 Die Wiedereinführung der Laienbeteiligung im Strafverfahren erfolgte in Frankreich erst durch die Rezeption des englischen Strafverfahrens; in den deutschen Gebieten wiederum wurde das reformierte französische Verfahren samt seinen 647
Feuerbach, Betrachtungen über die Öffentlichkeit II, S. 407. Vgl. auch Andoor, Laien in der Strafrechtsprechung, S. 35 ff., 43. 649 Zu verschiedenen Versuchen in der deutschen Rechtswissenschaft, den Ursprung der Jury auf nationale Entwicklungen zurückzuführen, Schwinge, Kampf um die Schwurgerichte, S. 92 ff. 648
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Schwurgerichten übernommen. Da weder die französische noch die deutsche Rechtsordnung einer der englischen principle of jury independence vergleichbaren Tradition verpflichtet war, wäre es hierbei durchaus möglich gewesen, die Geschworenen der neugeschaffenen Schwurgerichte durch gesetzlich formulierte Beweisregeln zu leiten.650 Allerdings wurde die Unabhängigkeit der englischen jury, die ihr erlaubte, ihr vorgelegte Beweise frei von jeder Beweisregel zu würdigen, in Frankreich – aber auch später in Deutschland – als ein natürlicher und zwingender Bestandteil der Schwurgerichtsbarkeit begriffen und mitrezipiert, sodass die freie Beweiswürdigung vor allem über die Schwurgerichtsbarkeit Einzug in die kontinental-europäische Rechtspraxis erhielt. 2. Die Rezeption des französischen Schwurgerichtsverfahrens und der freien Beweiswürdigung in den deutschen Gebieten a) Das Schwurgerichtsverfahren in den ehemals französisch besetzten Rheinprovinzen Preußens Die Rezeption der Schwurgerichtsbarkeit in den deutschen Partikularstaaten war in erster Linie eine Folge des schwindenden Vertrauens des deutschen Volkes in das schriftliche und geheime Inquisitionsverfahren, dessen Durchführung beamteten und folglich von den Landesherren sachlich und persönlich abhängigen Richtern oblag.651 Dieses Misstrauen war vor allem der dreifachen Eigenschaft der Richter als Wächter des Gesetzes, Beamter und Angehöriger der begüterten Gesellschaftsschicht geschuldet.652 So hatten in Frankreich die Widerstände gegen die beamteten Richter in den Revolutionsjahren und unter Napoleon Bonaparte zu gravierenden Veränderungen des Strafverfahrens geführt, die nicht nur die Einrichtung einer Schwurgerichtsverfassung im Jahre 1791, sondern auch die Einführung eines öffentlichen und mündlichen Anklageverfahrens zur Folge hatten.653 Nachdem 1794 im Rahmen des Ersten Koalitionskrieges (1792 bis 1797) die linksrheinischen Gebiete des sich im Verfall befindenden Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation von Frankreich besetzt und 1797 mit dem Frieden von Campo Formio endgültig annektiert worden waren, wurde 1798 in diesen Gebieten mit der Einführung des französischen Verwaltungssystems auch das französische Schwurgerichtsverfahren in Kraft gesetzt.654 650
Ähnl. auch Kries, Deutsches Strafprozessrecht, S. 54. Ausführlicher und m. w. N. Andoor, Laien in der Strafrechtsprechung, S. 26; vgl. auch Kern, Geschichte des Gerichtsverfassungsrechts, S. 59; Küper, in: FS Peters, S. 26; Schmidt, Geschichte der Strafrechtspflege, S. 332 f., 339. 652 Schwinge, Kampf um die Schwurgerichte, S. 26; ausführlicher zum Misstrauen gegenüber den Richtern vgl. Bericht der Immediat-Justiz-Kommission, S. 70 ff. 653 Schmidt, Geschichte der Strafrechtspflege, S. 325 f. 654 Vgl. Kern, Geschichte des Gerichtsverfassungsrechts, S. 65; Schmidt, Geschichte der Strafrechtspflege, S. 327; Bericht der Immediat-Justiz-Kommission, S. 45. 651
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Die meisten „Criminalsachen“ im französisch besetzten Rheinland wurden seither vor sog. Assisenhöfen verhandelt, die aus fünf Richtern und zwölf Geschworenen bestanden.655 Die Geschworenen sollten dabei über die Schuld oder Nichtschuld des Angeklagten entscheiden, während die anschließende Rechtsanwendung, insbesondere die Strafzumessung und der Strafausspruch, weiterhin beamteten Richtern oblagen.656 Geleitet wurde die öffentliche Sitzung des Assisenhofs durch einen Assisenpräsidenten, der als Vorsitzender des Gerichts auch die Aufgaben der Sitzungspolizei wahrnahm.657 Dieser fasste am Ende der mündlichen Hauptverhandlung die Sache summarisch zusammen, machte die Geschworenen auf die bedeutsamsten Beweise für und gegen den Angeklagten aufmerksam und erinnerte sie an ihre Pflichten.658 Nach dieser Zusammenfassung und Belehrung wurden die Geschworenen befragt, ob sie den Angeklagten unter den in der summarischen Darstellung dargelegten Umständen für schuldig erachteten; waren im Laufe des Hauptverfahrens weitere, in der Anklage nicht erwähnte erschwerende Umstände entdeckt worden, wurde an die Geschworenen zudem die zusätzliche Frage gestellt, ob der Angeklagte das Verbrechen auch unter diesen erschwerenden Umständen begangen hatte.659 Hatte der Angeklagte zudem Tatsachen geltend gemacht, die den Tatbestand eines anerkannten gesetzlichen Entschuldigungsgrundes erfüllten, hatten die Geschworenen auch zu entscheiden, ob diese Tatsachen wahr waren.660 War der Angeklagte schließlich unter 16 Jahre alt, mussten die Geschworenen auch die Frage beantworten, ob dieser mit der erforderlichen Einsichtsfähigkeit („Unterscheidungskraft“) gehandelt hatte.661 Die Geschworenen berieten über ihr Urteil außerhalb der öffentlichen Verhandlung und im Geheimen, wobei sie durch eine Instruktion geleitet wurden, die an die Wand des Beratungszimmers geschlagen war, vor Beginn der Beratungen durch ihren Vorsteher laut vorgelesen wurde und im Wesentlichen den Inhalt der Lehre von der intime conviction zusammenfasste: „Das Gesetz fordert von den Geschwornen keine Rechenschaft über die Mittel, wodurch sie sich überzeugt haben, es schreibt ihnen auch nicht die Regeln vor, nach welchen sie vorzüglich einen Beweis für vollständig und genügend zu halten haben. Es gebietet ihnen blos, in der Stille, mit aller Sammlung des Gemüths, – sich selbst zu erforschen, und ihr Gewissen aufrichtig zu fragen, welchen Eindruck die wider den Angeklagten vorgebrachten Beweise, und dessen Vertheidigungsmittel auf ihren Geist gemacht haben, das Gesetz sagt ihnen nicht: j e d e T h a t s a c h e , d i e d u r c h s o u n d s o v i e l e Z e u g e n b e s t ä t i g t i s t , s o l l t i h r f ü r w a h r h a l t e n ; es sagt ihnen eben so wenig: i h r sollt jeden Beweis als unzureichend verwerfen, der nicht in 655 656 657 658 659 660 661
So zusammenfassend dargestellt im Bericht der Immediat-Justiz-Kommission, S. 46 f. Bericht der Immediat-Justiz-Kommission, S. 47. Bericht der Immediat-Justiz-Kommission, S. 49. Bericht der Immediat-Justiz-Kommission, S. 50. Bericht der Immediat-Justiz-Kommission, S. 50. Bericht der Immediat-Justiz-Kommission, S. 50 f. Bericht der Immediat-Justiz-Kommission, S. 51.
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diesem oder jenem Protokoll, in diesen oder jenen Urkunden liegt, auf so und so viele Zeugen oder so und so viel Anzeigen b e r u h t ; das Gesetz macht an sie nur diese einzige Frage, welche den Inbegriff aller ihrer Pflichten enthält: ’Seid Ihr innig überzeugt? [Hervorh. d. Verf.] Was die Geschwornen vorzüglich nicht vergessen dürfen, ist, daß ihre ganze Berathschlagung sich auf die Anklage beschränkt. Nur auf die Thatsachen, welche ihr zum Grunde liegen, und damit im Zusammenhange stehen, haben sie ausschließlich ihr Augenmerk zu richten, und sie fehlen gegen ihre erste Pflicht, wenn sie an die Bestimmungen der Strafgesetze denken, um die Folgen, welche die von ihnen abzugebende Erklärung für den Angeklagten haben kann, zu erwägen. Ihre Sendung hat nicht gerichtliche Verfolgung, noch die Bestrafung der Verbrechen zum Gegenstande; sie sind blos berufen, zu entscheiden, ob der Angeklagte des ihm angeschuldeten Verbrechens schuldig sei oder nicht?“662
Hatte die Jury den Angeklagten daraufhin mit einfacher Mehrheit für schuldig befunden, war es an den fünf beamteten Richtern des Assisenhofs, über das konkret anzuwendende Recht – insbesondere die zu verhängende Strafe – zu entscheiden.663 Gelangten die beamteten Richter dabei einstimmig zu dem Ergebnis, dass die Geschworenen sich in ihrem Urteil geirrt hatten, waren sie befugt, das Urteil auszusetzen und die Sache an eine neue Jury zu verweisen, die auf der nächsten Sitzung des Assisenhofs zusammentrat; das Urteil dieser zweiten Jury war in jedem Fall ein endgültiges.664 Im Übrigen war gegen das Urteil des Assisenhofs lediglich das devolutive Rechtsmittel der Cassation zum Cassationshof zulässig, der ausschließlich darüber zu entscheiden hatte, ob das Urteil mit bestimmten Nichtigkeitsgründen behaftet war.665 Als jedoch die Königreiche Preußen und Bayern sowie das Großherzogtum Hessen nach den napoleonischen Kriegen ihre Territorien entsprechend der Vereinbarungen im Wiener Kongress auf die ehemaligen linksrheinischen Gebiete des Heiligen Römischen Reiches ausweiteten, stellte sich vor allem in Preußen die Frage, wie mit den Schwurgerichten in den neuen Rheinprovinzen zu verfahren ist.666 Eine vom preußischen König eingesetzte Immediat-Justiz-Kommission empfahl in ihrem 1819 veröffentlichten Bericht, die Schwurgerichte – aber auch die von der französischen Besatzungsmacht eingeführte Staatsanwaltschaft, das Mündlichkeitsprinzip und das Öffentlichkeitsprinzip – im Rheinland beizubehalten, da sie dort nicht nur sehr beliebt seien, sondern im Volk auch ein größeres Vertrauen genössen als die beamteten Richter preußischer Gerichte.667 Die Kommission ging sogar so weit, zu 662 Bei der hier wiedergegebenen Fassung der Instruktion handelt es sich um eine Übersetzung des Art. 342 des Code d’instruction criminelle von 1808, zit. n. Bericht der ImmediatJustiz-Kommission, S. 51. 663 So zusammenfassend dargestellt im Bericht der Immediat-Justiz-Kommission, S. 51 f. 664 Bericht der Immediat-Justiz-Kommission, S. 52. 665 Bericht der Immediat-Justiz-Kommission, S. 52. Zu dem Rechtsmittel der Kassation im französischen Strafprozess vgl. S. 93 f. 666 Kern, Geschichte des Gerichtsverfassungsrechts, S. 65. 667 Vgl. Bericht der Immediat-Justiz-Kommission, S. 5; ausführlich zu den Gründen, a. a. O., S. 59 ff. Zusammenfassend etwa Schwinge, Kampf um die Schwurgerichte, S. 24 ff.;
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empfehlen, auch die beamteten Richter von den gesetzlichen Beweisregeln zu entbinden und die freie Beweiswürdigung als ein allgemeines Prinzip des Strafverfahrens einzuführen.668 Zwar vermochte sie sich mit dieser Empfehlung nicht durchzusetzen, da eine solche Erweiterung der Entscheidungsspielräume der beamteten Richter weiterhin als zu gefährlich angesehen wurde,669 doch ihrer Empfehlung, das französische Verfahren und mithin auch die Schwurgerichte in den Rheinprovinzen beizubehalten, kam der Gesetzgeber nach. Maßgeblich hierfür waren neben den Gründen, welche die Kommission in ihrem Gutachten zusammengetragen hatte, auch die Tatsache, dass ohnehin eine große Reform des preußischen Strafverfahrens angedacht war, weshalb man der Bevölkerung in den linksrheinischen Gebieten keine dreimalige Änderung ihres Strafverfahrens innerhalb kürzester Zeit zumuten wollte.670 b) Die Einführung des Schwurgerichtsverfahrens in den übrigen Partikularstaaten des Deutschen Bundes Es dauerte nicht lang, bis man auch in den übrigen deutschen Gebieten der Vorteile der Schwurgerichtsbarkeit gewahr wurde. Bald galten die Schwurgerichte als Einrichtungen, die gegenüber der Kabinettsjustiz in den rechtsrheinischen Gebieten zu bevorzugen waren.671 So begann auch im übrigen Deutschen Bund ein „Kampf um die Schwurgerichte“ nach dem englisch-französischen Vorbild.672 Dabei konnten die Befürworter der Schwurgerichtsbarkeit im Deutschen Bund vor allem im Rahmen der Märzrevolution einen Erfolg verbuchen. So bestimmte Art. 143 Abs. 3 der Verfassung des Deutschen Reiches vom 28. März 1849 (die sog. Paulskirchenverfassung), dass Pressedelikte, die von Amts wegen verfolgt wurden, durch Schwurgerichte abzuurteilen sind. Weitergehend bestimmte Art. 179 Abs. 2 der Schmidt, Geschichte der Strafrechtspflege, S. 335. Zudem stellte die Kommission fest, dass die Schwurgerichte die Rechtskenntnisse im Volk förderten, das Rechtsgefühl und das Vertrauen in den Staat stärkten sowie positiv auf das Gemeingefühl einwirkten, Bericht der Immediat-JustizKommission, S. 101 ff.; zusammenfassend Kern, Geschichte des Gerichtsverfassungsrechts, S. 65. Diese Argumente werden bis heute wiederholt für die Beibehaltung der Laienbeteiligung im Strafverfahren ins Feld geführt, kritisch dazu Andoor, Laien in der Strafrechtsprechung, S. 64, 98 f. 668 Bericht der Immediat-Justiz-Kommission, S. 6: „Die Immediat-Justiz-Kommission zieht es nun ebenfalls einstimmig vor, die f a k t i s c h e F r a g e : ob bewiesen sei? lediglich von der subjektiven Ueberzeugung der Urtheiler abhängig zu machen, ohne sie durch Beweisregeln einzuschränken“. 669 Schwinge, Kampf um die Schwurgerichte, S. 79; vgl. auch zu den vermeintlichen Gefahren einer freien Beweiswürdigung durch beamtete Richter, S. 126 f. 670 Vgl. Schwinge, Kampf um die Schwurgerichte, S. 32. 671 Abegg, ArchCrimR (Neue Folge) 1847, 103, 110 f.; Schmidt, Geschichte der Strafrechtspflege, S. 332 f.; Andoor, Laien in der Strafrechtsprechung, S. 26. 672 Kern, Geschichte des Gerichtsverfassungsrechts, S. 58, 69 f.; Andoor, Laien in der Strafrechtsprechung, S. 26 f. m. w. N. Zum Begriff und einer eingehenden Darstellung dieses „Kampfes um die Schwurgerichte“ vgl. Schwinge, Kampf um die Schwurgerichte, S. 19 ff.
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Paulskirchenverfassung, dass „Schwurgerichte […] jedenfalls in schwereren Strafsachen und bei allen politischen Vergehen urtheilen“ sollen.673 Auch wenn die Paulskirchenverfassung de facto nie in Kraft trat,674 führte das Königreich Preußen als einer der ersten Partikularstaaten durch die Verordnung über die Einführung des mündlichen und öffentlichen Verfahrens mit Geschworenen in Untersuchungssachen vom 3. Januar 1849 auch in seinen rechtsrheinischen Gebieten die Schwurgerichte ein.675 Ab diesem Zeitpunkt setzte sich die Schwurgerichtsbarkeit – und mit ihr notwendigerweise neben dem Unmittelbarkeits- und Mündlichkeitsprinzip auch das Prinzip der freien Beweiswürdigung – in nahezu allen deutschen Partikularrechtsordnungen durch.676 Wie sich die freie Beweiswürdigung, die jedenfalls in der Rechtswissenschaft noch als ein exklusives Privileg der Geschworenen betrachtet wurde, zu einem allgemeinen Verfahrensprinzip des deutschen Strafverfahrens entwickeln konnte, deren Ergebnisse – wie heute noch – von einer revisionsgerichtlichen Kontrolle abgeschnitten waren, wird noch an anderer Stelle zu klären sein.677 c) Exkurs: Das Schicksal der Schwurgerichte in den deutschen Gebieten aa) Schwurgerichte im Deutschen Reich Die Schwurgerichte, die sich nach 1849 in nahezu allen Partikularstaaten des Deutschen Bundes als Gerichte für schwere Strafsachen durchgesetzt hatten,678 wurden durch das Gerichtsverfassungsgesetz und die Strafprozessordnung von 1877, die mit weiteren sog. Reichsjustizgesetzen am 1. Oktober 1879 in Kraft traten, in allen 25 Bundesstaaten des 1871 gegründeten föderalen Deutschen Reiches einge673 Die Wendungen, die letztendlich zur Kodifizierung der Schwurgerichte in der Paulskirchenverfassung führten, können an dieser Stelle – obgleich diese sehr bemerkenswert waren – nicht wiedergegeben werden, vgl. für eine konzise Darstellung dieser Prozesse etwa Kern, Geschichte des Gerichtsverfassungsrechts, S. 65, 69 f., 75 674 Ob die Paulskirchenverfassung de jure in Kraft getreten ist, wird unterschiedlich beurteilt, vgl. hierzu m. w. N. Kempny, Staatsfinanzierung, S. 22 sowie S. 88. 675 Vgl. §§ 62 ff. der Verordnung vom 3. Januar 1849 (S. 99 Fn. 410); ausdrücklich ihrer Einleitungsformel galt die Verordnung jedoch nicht in den preußischen Rheinprovinzen, in denen die Schwurgerichte aufgrund der Weitergeltung des französischen Verfahrens ohnehin schon existierten („für den ganzen Umfang Unserer Monarchie mit Ausschluß des Bezirks des Appellationsgerichtshofes zu Cöln“). 676 Schwinge, Kampf um die Schwurgerichte, S. 155; Kern, Geschichte des Gerichtsverfassungsrechts, S. 59, 71; den Zeitpunkt der Einführung der Schwurgerichte in den einzelnen Bundesstaaten samt die entsprechenden Gesetze darstellend, Schmidt, Geschichte der Strafrechtspflege, S. 336 f. 677 Vgl. insofern S. 156 ff., 171 ff. 678 Lediglich in Bremen, Hamburg, Lippe-Detmold, Lübeck, Mecklenburg-Schwerin, Mecklenburg-Strelitz, Sachsen, Sachsen-Altenburg und Schaumburg-Lippe existierten zunächst noch keine Schwurgerichtsverfassungen, vgl. Schmidt, Geschichte der Strafrechtspflege, S. 337.
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führt.679 Ihre sachliche Zuständigkeit erstreckte sich dabei auf alle Verbrechen, sofern diese nicht zur Zuständigkeit der Strafkammern oder des Reichsgerichts gehörten.680
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§§ 79 ff. RGVG; §§ 276 ff. RStPO. § 80 RGVG. Verbrechen, die zur Zuständigkeit der Strafkammern gehörten, waren in § 73 Nr. 2 bis 7 RGVG aufgezählt; eine Zuständigkeit des Reichsgerichts bestand lediglich für Hoch- und Landesverratssachen, sofern diese Verbrechen gegen den Kaiser oder das Reich gerichtet waren, § 136 Abs. 1 Nr. 1 RGVG. Für Vergehen und Übertretungen war das Schwurgericht generell nicht zuständig. Verbrechen waren nach der damaligen Rechtslage Handlungen, die mit dem Tod, mit Zuchthaus oder mit Festungshaft von mehr als fünf Jahren bedroht waren, § 1 Abs. 1 RStGB. Vergehen hingegen waren Handlungen, die mit Festungshaft bis zu fünf Jahren, mit Gefängnis oder mit Geldstrafe von mehr als 50 Talern (zum Vergleich: ihre Kaufkraft 1871 entspräche im Jahr 2018 etwa 1.125 Euro, vgl. Bundesbank, Kaufkraftäquivalente historischer Beträge in deutschen Währungen, Online-Quelle) bedroht waren, § 1 Abs. 2, RStGB. Bei Handlungen, die mit Haft oder mit Geldstrafe bis zu 50 Talern bedroht waren, handelte es sich wiederum um bloße Übertretungen, § 1 Abs. 3 RStGB. Wie die Begriffe Zuchthaus, Festungshaft, Gefängnis und Haft bereits belegen, kannte das deutsche Strafrecht zunächst noch keine einheitliche Freiheitsstrafe. Eine solche wurde im deutschen Strafrecht erst durch das 1. StrRG am 1. April 1970 eingeführt. Bei der Zuchthausstrafe handelte es sich um eine Freiheitsstrafe von einem Jahr bis zu 15 Jahren oder lebenslänglicher Dauer, § 14 RStGB. Hierbei bestand für die Verurteilten ein Arbeitszwang, § 15 RStGB. Die Zuchthausstrafe wurde verhängt, wenn die Straftat einer „ehrlosen Gesinnung“ entsprungen war, § 20 RStGB. Die Zuchthaustrafe hatte von Rechtswegen die dauernde Unfähigkeit zum Dienst im Deutschen Heer und der Kaiserlichen Marine sowie zur Bekleidung öffentlicher Ämter zur Folge, wobei öffentliche Ämter auch die Advokatur, die Anwaltschaft, das Notariat sowie den Geschworenen- und Schöffendienst erfassten, § 31 RStGB. Bei der Festungshaft hingegen handelte es sich um eine Freiheitsstrafe von einem Tag bis zu 15 Jahren oder lebenslänglicher Dauer, § 17 RStGB. Sie galt im Vergleich zur Zuchthausstrafe als eine ehrenvolle Strafe. Daraus erklärt sich auch die Tatsache, dass erst eine Handlung, die mit einer Festungshaft von mehr als fünf Jahren bedroht war, als Verbrechen qualifiziert wurde, während eine Handlung, die mit einer beliebigen Zuchthausstrafe bedroht war, stets ein Verbrechen darstellte. Die Festungshäftlinge kannten anders als Zuchthaushäftlinge keinen Arbeitszwang, erhielten häufig Besuch, zusätzliche Nahrungsmittel und konnten sich sogar Prostituierte in die Festung bestellen, vgl. Hirsch, ZRP 2012, 205, 205 (Fn. 4). Ein berüchtigter Festungshäftling in der deutschen Geschichte war Adolf Hitler, der nach dem misslungenen „Hitlerputsch“, mit dem das Deutsche Reich unter der Weimarer Verfassung gestürzt werden sollte, von einem bayrischen Volksgericht zu fünf Jahren Festungshaft verurteilt worden war, schon nach neun Monaten vorzeitig entlassen wurde. Die Gefängnisstrafe wiederum hatte mindestens einen Tag und höchstens fünf Jahre zu betragen, § 16 RStGB. Ebenso wenig wie die Festungshaft, war die Gefängnisstrafe eine Ehrenstrafe, Frank, Das Strafgesetzbuch für das Deutsche Reich, § 16 I. Gegenüber der Zuchthausstrafe zeichnete sich die Milde der Gefängnisstrafe dadurch aus, dass es keinen Zwang zur Arbeit gab, sondern die Heranziehung zur Arbeit im Ermessen der Gefängnisverwaltung stand. Auch konnten Gefängnishäftlinge nicht ohne ihre Zustimmung zu Arbeiten außerhalb der Anstalt herangezogen werden, § 16 Abs. 2 und 3 RStGB. Zuletzt kannte das RStGB noch die Haft als die von der Idee her leichteste, in der Praxis aber strenger als die Festungshaft ausgestaltete, Freiheitsstrafe, die ebenfalls keinen Arbeitszwang kannte und auch nicht zwingend in Gefangenenanstalten vollstreckt werden musste, Frank, Das Strafgesetzbuch für das Deutsche Reich, § 18. 680
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Somit waren die deutschen Schwurgerichte vor allem für schwere Verbrechen wie Mord, Totschlag oder Körperverletzung mit Todesfolge zuständig.681 Die Schwurgerichtsverfassung im Deutschen Reich unterschied sich dabei nur unwesentlich von der französischen, die auch im Rheinland zur Anwendung gekommen war. So bestanden die periodisch an den Landgerichten zusammentretenden Schwurgerichte im Deutschen Reich aus einem Gerichtshof, dem drei Berufsrichter angehörten, sowie einer Geschworenenbank, die mit zwölf Geschworenen besetzt war.682 Nach der Ausgestaltung des Schwurgerichtsverfahrens im Deutschen Reich hatte der Vorsitzende des Gerichts lediglich die Aufgabe, die Verhandlung zu leiten und die Beweisaufnahme durchzuführen.683 Die Würdigung der erhobenen Beweise oblag allein den Geschworenen,684 wobei sie bei der Beurteilung der ihnen präsentierten Beweise, wie auch ihre französischen Vorbilder, an keine bestimmten Regeln gebunden waren. Anders als in Frankreich – und auch in England – wurden sie dabei jedoch durch Fragen geleitet, die durch den Vorsitzenden formuliert wurden und von den Geschworenen mit „Ja“ oder „Nein“ zu beantworten waren; dabei lautete die Hauptfrage: „Ist der Angeklagte schuldig?“.685 Diese von den Geschworenen zu beantwortende Schuldfrage umfasste die Tatbestandsmäßigkeit, die Rechtswidrigkeit, die Schuld, die Strafaufhebungs- und Strafausschließungsgründe sowie Privilegierungen und Qualifikationen – nicht zu der Schuldfrage gehörte allerdings die Strafzumessung, die als Straffrage allein von dem Gerichtshof zu beantworten war.686 Neben der Hauptfrage waren zudem sog. Hilfsfragen („Hülfsfragen“) und Nebenfragen zulässig. Eine Hilfsfrage war zu stellen, sofern aufgrund von Umständen, die erst in der Hauptverhandlung zutage getreten waren, eine von dem Eröffnungsbeschluss abweichende Beurteilung der Tat, die dem Angeklagten zur Last gelegt wurde, in Betracht kam.687 Die Nebenfragen richteten sich hingegen
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Kern, Geschichte des Gerichtsverfassungsrechts, S. 114. §§ 79, 81 RGVG. 683 §§ 276 i. V. m. 237 Abs. 1 RStPO. 684 So bestimmte § 300 Abs. 1 RStPO, dass der Vorsitzende zum Abschluss der Hauptverhandlung „die Geschworenen über die rechtlichen Gesichtspunkte, welche sie bei Lösung der ihnen gestellten Aufgabe in Betracht zu ziehen haben“ belehrt, „ohne in eine Würdigung der Beweise einzugehen“. Schon daraus folgt, dass es die Aufgabe der Geschworenen war, die ihnen vorliegenden Beweise zu würdigen – also zu erörtern, welches Gewicht den vorgebrachten Beweismitteln beizumessen ist. 685 Vgl. §§ 290 Abs. 1, 293 S. 1, 305 Abs. 1 RStPO. 686 Vgl. §§ 295 ff. RStPO; allerdings wurde diese Aufgabenteilung von der RStPO nicht bis zur letzten Konsequenz durchgehalten. So kannte das RStGB zwar keine Regelbeispiele oder unbenannte besonders schwere bzw. minder schwere Fälle, doch enthielt es die Möglichkeit, mildernde Umstände zu berücksichtigen. Obwohl es sich bei der Frage, ob mildernde Umstände vorliegen, streng genommen um eine Straffrage handelt, war es gem. § 297 RStPO an den Geschworenen, auch diese Frage zu beantworten. 687 § 294 Abs. 1 RStPO. 682
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darauf, ob besondere rechtliche Umstände vorlagen, welche die Strafbarkeit des Angeklagten verminderten, erhöhten oder wieder aufhoben.688 Eine Besonderheit der deutschen Schwurgerichtsverfassung betraf dabei die für eine Verurteilung bzw. einen Freispruch erforderliche Mehrheit. Die deutschen Bestimmungen zur Abstimmung unterschieden sich nämlich wesentlich von den englischen, die ursprünglich sowohl für eine Verurteilung als auch für einen Freispruch Einstimmigkeit verlangten, und den französischen, die für beide Entscheidungsvarianten eine einfache Mehrheit voraussetzten.689 So bestimmte § 262 Abs. 1 RStPO – der mit dem heutigen § 263 Abs. 1 StPO nahezu identisch war und gem. § 276 RStPO auch in Schwurgerichtssachen Anwendung fand –, dass zu „einer jeden dem Angeklagten nachtheiligen Entscheidung, welche die Schuldfrage betrifft, […] eine Mehrheit von zwei Drittheilen der Stimmen erforderlich“ ist. Damit bedurfte eine Verurteilung durch das Schwurgericht der Stimmen von acht der zwölf Geschworenen, was im Umkehrschluss bedeutete, dass der Angeklagte auch dann freizusprechen war, wenn selbst sieben von zwölf Geschworenen die Hauptfrage „Ist der Angeklagte schuldig?“ mit Ja beantworteten. Da das Gesetz jedoch für einen Freispruch keine irgendwie geartete Mehrheit voraussetzte, konnte bemerkenswerterweise bereits eine Minderheit von fünf Geschworenen einen Freispruch erwirken.690 Die Schwurgerichte in ihrer ursprünglichen Form wurden im Deutschen Reich mit Wirkung zum 1. April 1924 – und mithin nur 44 Jahre nach ihrer flächendeckenden Einführung – durch die sog. Emminger-Verordnung suspendiert und durch große Schöffengerichte ersetzt, die mit drei Berufsrichtern und sechs Schöffen besetzt waren – allerdings wurde dabei die Bezeichnung jener Spruchkörper als „Schwurgerichte“ ebenso beibehalten, wie – zunächst noch – die Bezeichnung ihres Laienelements als „Geschworene“.691 bb) Schwurgerichte in Bayern unter alliierter Besetzung Im Nachkriegsdeutschland erlebte die echte Schwurgerichtsbarkeit lediglich im US-amerikanisch besetzten Bayern eine kurze Renaissance. So ermächtigte § 79 des bayerischen Strafgerichtsverfassungsgesetzes von 1946 die Oberste Justizverwaltung in Bayern, bei den Landgerichten für die Verhandlung und Entscheidung von Strafsachen im Verordnungswege Schwurgerichte einzurichten.692 Vergleichbare 688
§ 295 RStPO; vgl. auch Fn. 686. Selbst heute bedarf eine englische jury aus zwölf Geschworenen sowohl für eine Verurteilung als auch einen Freispruch eine Mehrheit von zehn Stimmen, ausführlicher Andoor, Laien in der Strafrechtsprechung, S. 76 f. 690 Vgl. Löwe/Hellweg, StPO (11. Aufl.), zu § 307, Note 3. 691 Vgl. §§ 12, 40 Abs. 4 der Verordnung über Gerichtsverfassung und Strafrechtspflege vom 4. Januar 1924, RGBl. I 1924, 15; ausführlicher zu diesen Entwicklungen m. w. N. Andoor, Laien in der Strafrechtsprechung, S. 28. 692 Strafgerichtsverfassungsgesetz 1946, BayGVBl. 1946, 100. 689
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Regelungen existierten zwar auch in anderen Ländern des alliiert regierten Deutschlands, doch führten diese, soweit ersichtlich, lediglich große Schöffengerichte nach dem Vorbild der Emminger-Verordnung mit der Bezeichnung „Schwurgerichte“ ein.693 Der bayerische Justizminister Josef Müller jedoch machte am 14. Juli 1948694 von der oben genannten Ermächtigungsgrundlage Gebrauch und bestimmte, dass ab dem 1. April 1949 bestimmte schwere Strafsachen – so etwa Mord, Totschlag oder Kindestötung695 – vor Schwurgerichten zu verhandeln waren,696 die aus drei Richtern und zwölf Geschworenen bestanden.697 Eine Besonderheit dieses bayerischen Sonderwegs gegenüber der Schwurgerichtsverfassung im Deutschen Reich stellte dabei die Regelung dar, wonach die Berufsrichter nicht alleine, sondern – wie unter bestimmten Voraussetzung auch heute noch in Österreich698 – gemeinsam mit den Geschworenen über die Straffrage zu entscheiden hatten.699 Allerdings war auch diese Renaissance der Schwurgerichte in Bayern von nur sehr kurzer Dauer. Die am 23. Mai 1949 gegründete Bundesrepublik Deutschland machte nämlich zeitnah von ihrer konkurrierenden Gesetzgebungszuständigkeit auf dem Gebiet der Gerichtsverfassung und des gerichtlichen Verfahrens Gebrauch700 und entschied sich dazu, das Strafverfahren im Geltungsbereich des Grundgesetzes701 693 Vgl. etwa § 3 des Gesetzes Nr. 246 über die Bildung von Schwurgerichten vom 3. März 1949 des Landes Württemberg-Baden, RegBl. (WB) 1949, 43 oder Art. 2 Abs. 2 des Landesgesetzes zur Wiedereinführung der Schöffen und Geschworenen in der Strafrechtspflege und zur Änderung der Strafprozeßordnung vom 2. September 1949 des Landes RheinlandPfalz, Ges. u. VO.Bl 1949, 374. 694 Vgl. Verordnung über die Wiedereinführung der Schwurgerichte vom 14. Juli 1948, BayGVBl. 1948, 243. 695 Für weitere Beispiele vgl. § 2 der Verordnung über die Wiedereinführung der Schwurgerichte vom 14. Juli 1948, BayGVBl. 1948, 243. 696 § 80 Abs. 1 der Verordnung über die Wiedereinführung der Schwurgerichte vom 14. Juli 1948, BayGVBl. 1948, 243. 697 § 4 Abs. 1 der Verordnung über die Wiedereinführung der Schwurgerichte vom 14. Juli 1948, BayGVBl. 1948, 243. 698 Gemäß § 324 Abs. 1 öStPO kann der Schwurgerichtshof, wenn er einstimmig der Ansicht ist, dass seine Anwesenheit während der Beratung der Geschworenen zur besseren Aufklärung schwieriger Tat- oder Rechtsfragen zweckmäßig ist, beschließen, dass er der Beratung ganz oder teilweise beizuwohnt. 699 § 4 Abs. 2 der Verordnung über die Wiedereinführung der Schwurgerichte vom 14. Juli 1948, BayGVBl. 1948, 243. 700 Art. 74 Abs. 1 Nr. 1 GG. 701 Nach dem damaligen Verständnis war der Geltungsbereich des Grundgesetzes nicht mit „Bundesrepublik Deutschland“ deckungsgleich. Nicht nur die Tatsache, dass das Grundgesetz in der ehemals sowjetisch besetzten Zone nicht galt (vgl. die Präambel und Art. 23 i. d. F. von 1949, BGBl. 1949/1, 1), stand einem solchen Verständnis entgegen, sondern auch die Tatsache, dass über die östlich der Oder-Neiße-Grenze gelegenen Gebiete noch nicht abschließend entschieden war. Erst der Zwei-plus-Vier-Vertrag und der deutsch-polnische Grenzvertrag von 1990 regelten endgültig, dass diese Gebiete, die bis zu dem Stichtag 31. Dezember 1937 zum Deutschen Reich gehört hatten, keinen Teil eines vereinten, völkerrechtlich souveränen
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durch das Vereinheitlichungsgesetz vom 12. September 1950 in großen Teilen bundeseinheitlich zu regeln.702 Durch das Inkrafttreten des Gesetzes am 1. Oktober 1950 wurden die bayerischen Schwurgerichte nach einer Existenz von nur 17 Monaten wieder aufgehoben,703 wobei die Revisionen gegen die Urteile der bayerischen Schwurgerichten auch nach der Errichtung des Bundesgerichtshofs vor dem Bayerischen Obersten Landesgericht zu verhandeln waren.704 cc) Schwurgerichte in Österreich Als zur Mitte des 19. Jh. wesentliche Reformen des deutschen Strafverfahrens vorgenommen wurden, war Österreich mit seinen ehemals zum römisch-deutschen Reich gehörenden Teilen noch Teil des Deutschen Bundes. Wie die meisten der übrigen Partikularstaaten des Deutschen Bundes hatte somit auch Österreich (außer in Ungarn und Siebenbürgen) schon 1848 die ersten Schwurgerichte eingeführt, die jedoch ausschließlich für Pressesachen zuständig waren.705 1850 schließlich wurden in den nicht-ungarischen Teilen des Kaisertums Österreich sog. Geschwornengerichte [sic!] errichtet, die auch für allgemeine Strafsachen zuständig waren.706 Allerdings wurden diese schon am 11. Januar 1852 als eine Folge der Rückkehr Österreichs zu einem Neoabsolutismus und der damit verbundenen Aufhebung der meisten Errungenschaften der Märzrevolution zunächst per kaiserlicher Verordnung außer Kraft gesetzt und schon 1853 durch Gesetz wieder abgeschafft.707 Hierdurch deutschen Staates bilden würden, auch wenn schon der Warschauer Vertrag von 1970 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und Polen Ähnliches mit einer gewissen präjudizierenden Wirkung festgelegt hatte, Blumenwitz, in: Wiedenfeld et al. (Hrsg.), Handbuch zur deutschen Einheit, S. 586 ff. 702 Das Gesetz zur Wiederherstellung der Rechtseinheit auf dem Gebiete der Gerichtsverfassung, der bürgerlichen Rechtspflege, des Strafverfahrens und des Kostenrechts vom 12. September 1950, BGBl. 1950/40, 455. 703 Art. 8 Abs. 2 Nr. 43 und 78 des Vereinheitlichungsgesetzes, BGBl. 1950/40, 455, 505 ff. 704 Art. 8 Abs. 2 Nr. 112 des Vereinheitlichungsgesetzes, BGBl. 1950/40, 455, 511. 705 Vgl. § 2 Abs. 3 Satz 2 der Provisorischen Verordnung über das Verfahren in Preßsachen vom 18. Mai 1848, G. u. V. 1851, 198. 706 Vgl. Art. VII des kaiserlichen Patents vom 17. Jänner 1850, wodurch eine neue provisorische Strafproceß-Ordnung mit der Bestimmung kundgemacht wird, daß der Tag, an welchem sie in Wirksamkeit zu treten hat, erst nachträglich bekannt gegeben wird, Allg. R.-G. u. RegBl. Nr. 25/1850, 287 sowie §§ 17 ff. der darin enthaltenen Strafprozessordnung (S. 292 ff.), aber auch Mittermaier, in: Heidelberger Jahrbücher der Literatur, S. 6; Hettinger, Fragerecht im reformierten Inquisitionsprozess, S. 98. 707 Vgl. die kaiserliche Verordnung vom 11. Jänner 1852, giltig für jene Kronländer, in welchen derzeit noch die provisorische Strafprozeß-Ordnung vom 17. Jänner 1850 in Wirksamkeit steht, über das Verfahren vor den Landesgerichten, welches provisorisch bis zur Einführung eines neuen Gesetzes über das Strafverfahren überhaupt, an die Stelle des Verfahrens vor den Schwurgerichten zu treten hat, Allg. R.-G. u. RegBl. Nr. 5/1852, 33 sowie die Strafprozessordnung i. d. F. des Kaiserlichen Patents vom 29. Juli 1853, womit für den ganzen Umfang des Reiches, mit Ausnahme der Militärgränze, eine neue Strafproceß-Ordnung erlassen, und bestimmt wird, daß der Tag, an welchem dieselbe in den einzelnen Kronländern in
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sollte unter anderem die Einheit der Strafrechtspflege im gesamten Kaisertum Österreich, also auch mit den ungarischen Teilen Österreichs, wiederhergestellt werden.708 Erneut eingeführt wurden die Schwurgerichte in Österreich erst 1869 mit dem Wechsel der Staatsform zum Konstitutionalismus, wobei sie zunächst noch erneut ausschließlich für Pressedelikte zuständig waren.709 Eine allgemeine Schwurgerichtsbarkeit wurde erst durch die Strafprozessordnung von 1873 für die im Reichsrathe vertretenen Königreiche und Länder – so die amtliche Bezeichnung des nördlichen und westlichen Teiles der österreichisch-ungarischen Doppelmonarchie bis 1918 – wieder eingeführt, wobei das Gesetz lediglich im „österreichischen“ Teil der Doppelmonarchie (dem sog. Cisleithanien) zur Anwendung kam, die neben Deutsch-Österreich auch die slawischen Kronländer beinhaltete.710 Unter dem austrofaschistischen Regime von 1933/34 bis 1938 wurden die Geschwornengerichte allerdings erneut abgeschafft und durch sog. „Schwurgerichte“ ersetzt, die aus drei Berufsrichtern und drei Schöffen bestanden.711 Allerdings wurde in Österreich schon nach dem Zweiten Weltkrieg die „echte“ Schwurgerichtsbarkeit mit Wirkung zum 1. Januar 1951 wieder eingeführt.712
Wirksamkeit zu treten hat, nachträglich festgesetzt werden wird, RGBl. für das Kaiserthum Oesterreich Nr. 151/1853, 833, 837 ff. 708 Mittermaier, in: Heidelberger Jahrbücher der Literatur, S. 7, 13; Hettinger, Fragerecht im reformierten Inquisitionsprozess, S. 98; Sadoghi, Thesen zur Geschworenengerichtsbarkeit, S. 61 ff. 709 Vgl. insbesondere §§ 1, 16 des Gesetzes vom 9. März 1869, betreffend die Einführung von Schwurgerichten für die durch den Inhalt einer Druckschrift verübten Verbrechen und Vergehen, RGBl. für das Kaiserthum Oesterreich Nr. 32/1869, 121. Durch diesen Schritt sollte, noch bevor eine neue Strafprozessordnung erlassen wurde, die neue verfassungsrechtliche Garantie der Schwurgerichte umgesetzt werden, Sadoghi, Thesen zur Geschworenengerichtsbarkeit, S. 65. 710 Vgl. §§ 297 ff. der Strafprozessordnung nach dem Gesetz vom 23. Mai 1873, betreffend die Einführung einer Strafproceß-Ordnung, RGBl. der im Reichsrathe vertretenen Königreiche und Länder Nr. 119/1873, 397, 400 ff.; vgl. in diesem Zusammenhang jedoch auch das Gesetz betreffend die Zeitweise Einstellung der Geschwornengerichte vom 23. Mai 1873, RGBl. der im Reichsrathe vertretenen Königreiche und Länder Nr. 120/1873, 502. Da jenes Gesetz im zweiten Teil der aus zwei unabhängigen Staaten bestehenden österreichisch-ungarischen Doppelmonarchie, nämlich in den Ländern der Heiligen Ungarischen Stephanskrone (dem sog. Transleithanien) nicht galt, bedarf die Aussage Sadoghis, dass das Gesetz „diesmal in allen Ländern der österreichischen Monarchie“ verwirklicht war, der Präzisierung (vgl. Sadoghi, Thesen zur Geschworenengerichtsbarkeit, S. 66). 711 Art. IV Z. 4 des Bundesgesetzes vom 19. Juni 1934 über die Wiedereinführung der Todesstrafe im ordentlichen Verfahren und die Umgestaltung der Geschwornengerichte (Strafrechtsänderungsgesetz 1934), öBGBl. 77/1934, 163; vgl. auch Sadoghi, Thesen zur Geschworenengerichtsbarkeit, S. 82 ff. 712 Vgl. das Bundesgesetz vom 22. November 1950 über die Wiedereinführung der Geschwornengerichte (Geschwornengerichtsgesetz), öBGBl. Nr. 240/1951, 1033; zum Inkrafttreten vgl. Art XI des Gesetzes.
B. Die Beschränkung der Revision auf Rechtsfragen
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Seither sind die Geschworenengerichte fester – wenn auch nicht unumstrittener713 – Bestandteil der österreichischen Gerichtsverfassung.714 So bestimmt bereits die Verfassung der österreichischen Republik, dass das Volk an der Rechtsprechung zu beteiligen ist.715 Sofern ein Verbrechen mit schweren Strafen bedroht ist oder es sich um ein politisches Vergehen oder Verbrechen handelt, bestimmt Art. 91 Abs. 2 des Bundes-Verfassungsgesetzes sogar ausdrücklich, dass die Entscheidung über die Schuld des Angeklagten Geschworenen obliegt.716 Im Übrigen weist die einfachgesetzliche Ausgestaltung der Schwurgerichtsverfassung der Republik Österreich so viele Ähnlichkeiten zu den Schwurgerichtsverfassungen im Deutschen Bund und des Deutschen Reichs auf, dass sie durchaus als ein Stück lebendige deutsche Rechtsgeschichte betrachtet werden kann. So werden Geschworenengerichte in Österreich an den Landesgerichten – deren hierarchische Stellung mit denen der bundesdeutschen Landgerichte vergleichbar ist – gebildet; sie beinhalten einen Schwurgerichtshof aus drei rechtsgelehrten Richtern und eine Geschworenenbank aus acht (!) Geschworenen.717 Die Leitung der Verhandlung und die Beweiserhebung obliegen dem Vorsitzenden des Gerichts.718 Die Beweiswürdigung dagegen ist – wie schon im Deutschen Reich – eine Aufgabe der Geschworenen, die zu diesem Zweck nach Abschluss des Beweisverfahrens von dem Vorsitzenden formulierte Fragen vorgelegt bekommen.719 Diese Fragen sind von den Geschworenen im Rahmen eines Wahrspruchs mit „Ja“ oder „Nein“ zu beantworten,720 wobei die Hauptfrage darauf gerichtet ist, ob der Angeklagte schuldig ist, die ihm durch die Anklage vorgeworfene strafbare Handlung begangen zu haben.721 Daneben können den Geschworenen – ähnlich wie schon im Deutschen Reich – auch Zusatz- und Eventualfragen gestellt werden. Die Zusatzfragen sind auf das Vorliegen von Strafausschließungs- und Strafaufhebungsgründe bzw. auf das Vorliegen von Erschwerungs- und Milderungsumstände gerichtet.722 Die Eventualfragen hingegen haben Begehungsalternativen, etwa Versuch statt Vollendung oder mittelbare Tä-
713 Während die Strafverteidiger, denen die Schwurgerichte mehr Erfolgserlebnisse vermitteln, diese wohl mehrheitlich gutheißen, lehnt die Richterschaft das zeit- und arbeitsaufwendige Verfahren, das auch wegen der fehlenden Begründung für den Wahrspruch der Geschworenen bei ihnen keine allzu große Beliebtheit genießt, wohl eher ab, so mit zahlreichen Nachweisen, Moos, JBl. 2010, 73 ff. 714 Vgl. §§ 32 Abs. 1 Satz 1; 301 ff. öStPO. 715 Art. 91 Abs. 1 B-VG. 716 Umgesetzt wurde diese Verfassungsvorgabe durch § 31 Abs. 2 öStPO, der die sachliche Zuständigkeit der Geschworenengerichte bestimmt. 717 § 32 Abs. 1 Satz 1 öStPO. 718 § 302 Abs. 1 i. V. m. § 232 Abs. 1 öStPO. 719 Ausführlich § 310 öStPO. 720 §§ 317 Abs. 1, 330 Abs. 2, 331 Abs. 2, 340 öStPO. 721 § 312 Abs. 1 öStPO. 722 §§ 313, 316 öStPO.
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2. Kap.: Eine historische Betrachtung der Entwicklung der Revision
terschaft statt unmittelbarer Täterschaft, zum Gegenstand.723 Zur Bejahung einer Frage ist lediglich die absolute Mehrheit der Stimmen der Geschworenenbank, also die Stimmen von fünf der acht Geschworenen, erforderlich.724 Bemerkenswerterweise jedoch unterscheidet sich das österreichische Schwurgerichtsverfahren vor allem aufgrund zweier Besonderheiten maßgeblich von dem Schwurgerichtsverfahren im Deutschen Reich, aber auch dem Schwurgerichtsverfahren, das gegenwärtig in angelsächsischen Staaten zur Anwendung kommt. So können zum einen die Berufsrichter des österreichischen Schwurgerichts den Beratungen der Geschworenen beiwohnen, sofern sie einstimmig beschließen, dass ihre Anwesenheit geeignet ist, zur besseren Aufklärung schwieriger Tat- oder Rechtsfragen beizutragen – allerdings kann die Geschworenenbank mit einer Mehrheitsentscheidung die Teilnahme des Schwurgerichtshofs an ihren Beratungen ablehnen.725 Zum anderen aber entscheidet der Schwurgerichtshof gemeinsam mit den Geschworenen über die Straffrage, während Geschworene anderer Rechtsordnungen in aller Regel lediglich über die Schuldfrage entscheiden, die Entscheidung über die Straffrage dagegen allein den rechtsgelehrten Richtern überlassen ist.726 Im Übrigen sei noch bemerkt, dass die praktische Bedeutung der Geschworenengerichte in Österreich nicht überschätzt werden sollte. Von 53.104 neu angefallenen Strafsachen im Jahr 2016 (22.939 auf die Landesgerichte, 30.165 auf die Bezirksgerichte) entfielen lediglich 203 und damit nur ca. 0,38 % der Strafsachen in die Zuständigkeit der Geschworenengerichte.727 3. Die deutsche Lehre vom Totaleindruck ohne Reflexion a) Die Lehre vom Totaleindruck ohne Reflexion und die berufsrichterliche Beweiswürdigung Wie bereits angedeutet, vermochte nicht allein die Einführung der Schwurgerichtsbarkeit in den deutschen Partikularstaaten zur Mitte des 19. Jh. hin, das Prinzip der freien Beweiswürdigung als ein allgemeines Verfahrensprinzip in der Rechtspraxis zu etablieren. Die Bindung der beamteten Richter an die gesetzlichen Beweisregeln galt in den deutschen Gebieten auch weiterhin als eine unentbehrliche Garantie gegen richterliche Willkür.728 Während etwa in Frankreich auch die ausschließlich mit Berufsrichtern besetzten Polizeigerichte (tribunal de police) und 723
§ 314 öStPO. § 331 Abs. 1 Satz 1 öStPO. 725 § 324 öStPO. Beachtenswert ist jedoch, dass der Schwurgerichtshof nur an den Beratungen der Geschworenen teilnimmt; sobald die Geschworenen zur Abstimmung schreiten, ist es auch den Mitgliedern des Schwurgerichtshofs nicht gestattet, dieser beizuwohnen, § 329 öStPO. 726 § 338 öStPO. 727 Statistisches Jahrbuch Österreichs 2018, S. 466 f. 728 Küper, Die Richteridee der Strafprozessordnung, S. 218; Frisch, in: FS Stürner, S. 854. 724
B. Die Beschränkung der Revision auf Rechtsfragen
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Zuchtpolizeigerichte (tribunal correctionnel) bei ihrer Beweiskognition bereits völlig frei waren,729 galt die freie Beweiswürdigung in der deutschen Rechtswissenschaft und Rechtspraxis zunächst noch als derart untrennbar mit der Schwurgerichtsbarkeit verbunden, dass sie vorerst ein exklusives Privileg der Geschworenen verblieb.730 Allein hier wurden die gesetzlichen Beweisregeln nicht nur als entbehrlich, sondern sogar als mit dem Schwurgerichtsprinzip schlechthin unvereinbar wahrgenommen.731 Der Widerwille in der deutschen Rechtswissenschaft das Prinzip der freien Beweiswürdigung auch auf die beamteten Richter auszuweiten, beruhte dabei nicht nur auf der Sorge vor richterlicher Willkür, sondern auch auf ihrem Verständnis von der französischen Theorie von der intime conviction,732 die hierzulande als die Lehre vom Totaleindruck ohne Reflexion rezipiert wurde, sodass beiden Theorien dieselbe irrationale Überzeugungslehre zugrunde lag. Die Vertreter beider Lehren gingen davon aus, dass die Entscheidungsfindung durch Geschworene sich auf einem völlig anderen Wege vollzog als die Entscheidungsfindung durch Berufsrichter.733 Während sich die (berufs-)richterliche Entscheidungsfindung demnach als das Ergebnis einer analytisch-reflektiven Tätigkeit darstellen sollte, sollten die Geschworenen – so die 729
Savigny, GA 1858, 469, 482; vgl. aber auch Küper, Die Richteridee der Strafprozessordnung, S. 132. 730 Küper, in: FS Peters, S. 29; Schwinge, Kampf um die Schwurgerichte, S. 76. Zwar weist Küper, Die Richteridee der Strafprozessordnung, S. 132 f., darauf hin, dass der sächsische Jurist Justi schon 1760 auf eine freie Beweiswürdigung in den deutschen Rechtsordnungen Bezug nimmt, sodass der Eindruck entsteht, dass sich der Gedanke der freien Beweiswürdigung in den deutschen Gebieten auch ohne eine Rezeption fremder Rechte im 19. Jh. entwickelt hatte. Doch tatsächlich beziehen sich die Aussagen von Justi, der Küper nach Hall, Corpus Delicti, zitiert, auf die Feststellung des corpus delicti. So schreibt Justi: „Das Corpus delicti ist nichts anders, als die vollkommene Ueberzeugung des Richters, daß eine Missethat wahrhaftig geschehen sey“, Justi, in: Historische und Juristische Schriften, S. 354. Eben diese Aussage scheint Hall als eine Forderung nach freier Beweiswürdigung missinterpretiert zu haben. Tatsächlich geht es Justi hier jedoch nicht um die Frage nach der Schuld des Angeklagten, die ursprünglich erst i. R. d. Spezialinquisition zu ermitteln war, sondern um die Frage nach dem Vorliegen einer strafbaren Handlung überhaupt, die ursprünglich bereits i. R. d. Generalinquisition ermittelt wurde. Sofern Justi von der „Ueberzeugung des Richters“ spricht, meint er insofern nicht den erkennenden Richter, dessen Bindung an gesetzliche Beweisregeln Justi nicht anzweifelt, sondern den Inquirenten, dessen Aufgabe es war, festzustellen, ob überhaupt eine deliktische Handlung begangen worden war. Justi kritisiert hierbei ausgerechnet, dass keine gesetzlichen Regeln zur Bestimmung des corpus delicti vorhanden waren: „[…] Mängel unsrer peinlichen Rechtsgelehrsamkeit […] werden […] nirgends so häufig angetroffen, als in den gewöhnlichen Lehren und Meinungen von dem sog. Corpore delicti. Weil die Gewißheit einer begangenen Missethat nothwendig vorhanden seyn muß, ehe man zu Bestraffung derselben schreiten kann; und weil die Gesetze in den meisten Verbrechen nicht bestimmt hatten, worinnen diese Gewißheit bestehen sollte [Hervorh. d. Verf.]“, Justi, in: Historische und Juristische Schriften, S. 353 f. 731 Küper, in: FS Peters, S. 27. 732 Vgl. ausführlich und mit zahlreichen Nachweisen Küper, in: FS Peters, S. 29 ff.; zur intime conviction vgl. S. 134 f. 733 Schwinge, Kampf um die Schwurgerichte, S. 88.
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2. Kap.: Eine historische Betrachtung der Entwicklung der Revision
Vorstellung – im Wege einer rein anschaulichen Tätigkeit zu ihrer Überzeugung gelangen.734 So heißt es bei Zentner 1830 noch: „Der gemeine, gesunde Menschenverstand findet die Wahrheit nicht, wie der wissenschaftlich gebildete Verstand, durch Zergliederung und Vereinzelung der Begriffe; sie offenbart sich ihm durch den unmittelbaren Eindruck der äußeren Gegenstände, der Verhandlungen auf sein Gefühl, dessen Reinheit und Richtigkeit ihm in der Evidenz stärkere Gewißheit gewährt, als dem wissenschaftlich Gebildeten die Prüfung jedes einzelnen Moments an den abstrakten Regeln der Schule und der Theorie. Der einfache natürliche Verstand, verbunden mit dem unverbildeten Gefühl, faßt das Ganze richtiger in der Totalanschauung auf, als in einzelnen, zersplitterten, ihm besonders vorgehaltenen Punkten, weil er die Handlungen leichter und besser versteht, als die abgezogenen Begriffe“.735
Das Ergebnis der freien Beweiswürdigung stellte sich demnach als das Ergebnis eines höchst subjektiven Wertungsprozesses dar, der stets einen irrationalen Moment in sich trug und daher per se keiner Begründung, geschweige denn einer objektiven Nachprüfung durch eine höhere Instanz zugänglich war.736 Dieser irrationale Moment realisierte sich vor allem in der Vorstellung, dass die Geschworenen ihre Entscheidung aufgrund eines Totaleindruckes von der zu entscheidenden Materie trafen, der keinerlei Reflexion voraussetzte und sich als ein unwillkürlicher und plötzlich vorhandener Akt der inneren Überzeugung einstellen sollte.737 In ihrer extremen Ausprägung wurde von den Vertretern der Lehre vom Totaleindruck ohne Reflexion sogar angenommen, dass der Wahrspruch der Geschworenen nicht primär auf ihrer äußeren Überzeugung von dem Tatablauf beruhte, sondern darauf, dass sie sich nachträglich in die seelische Lage des Täters zur Tatzeit versetzten, wodurch sie in der Lage wären, das Verbrechen intuitiv nachzuerleben und so zu seiner Wirklichkeit durchzudringen (!).738 Damit sollten die Geschworenen das objektive Gewissen des Angeklagten widerspiegeln, weshalb angenommen wurde, dass ihr Wahrspruch kein Urteil im engeren Sinne darstelle, sondern anstelle eines freiwilligen Geständnisses des Angeklagten trete und dieses ersetze. Erst hierdurch könne überhaupt die Mitwirkung eines ungeständigen Angeklagten an einem Strafverfahren, in dem sich die Wirkung der Strafe als Negation der Negation in einem hegel’schen Sinne verwirkliche, ermöglicht werden.739 734
Schwinge, Kampf um die Schwurgerichte, S. 88. Zentner, Das Geschwornengericht, S. 439. 736 Küper, Die Richteridee der Strafprozessordnung, S. 217; Küper, in: FS Peters, S. 31. 737 Schwinge, Kampf um die Schwurgerichte, S. 86. 738 So dargestellt bei Küper, in: FS Peters, S. 30 m. w. N.; vgl. aber auch Schwinge, Kampf um die Schwurgerichte, S. 106 ff. 739 Gans, Revision der preußischen Gesetzgebung, S. 73 ff.; Gans legt dabei weiter dar, dass es möglich sei, das Geständnis des Angeklagten durch den Wahrspruch der Geschworenen zu ersetzen, weil es sich bei den Geschworenen um keine Richter handele, die dem Angeklagten vorgesetzt würden, sondern um solche, die er letztendlich durch sein Rekusationsrecht – also das Recht einzelne Geschworene abzulehnen, vgl. §§ 282 ff. RStPO – selbst auswähle, Gans, Revision der preußischen Gesetzgebung, S. 73 ff. 735
B. Die Beschränkung der Revision auf Rechtsfragen
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Bei einer derartig subjektiv-irrationalen Vorstellung von der freien Beweiswürdigung war eine Übertragung dieses Prinzips auf den rechtsgelehrten Richter freilich undenkbar.740 Denn nach der Vorstellung der zunächst noch herrschenden Lehre war das natürliche, ganzheitlich-synthetische Erfassen des Prozessgegenstandes, das einen Kernbestandteil der freien Beweiswürdigung darstellen sollte, etwas, was dem analytisch-zergliedernden Verstand des Berufsrichters unmöglich zugänglich sein konnte.741 So heißt es bei Zentner weiter: „Die hauptsächlichste und sicherste Erkenntnißquelle ist die durch den Totaleindruck hervorgebrachte unmittelbare Empfindung. Diese wird gewiß bei dem natürlichen, unverdorbenen, durch das gefärbte Glas der Schulwissenschaft noch nicht irregeleiteten Sinn des schlichten Mannes reiner und wahrhafter seyn, als bei dem Gelehrten, bei welchem so häufig s t u d i e r t e Gefühle an die Stelle der n a t ü r l i c h e n getreten sind.“742
Selbst wenn es den beamteten Richtern möglich sein sollte, auch im Wege einer Totalanschauung zu einer Entscheidung zu gelangen, wurde befürchtet, dass der Berufsrichter hierdurch vollständig in die Rolle eines Geschworenen verrückt würde.743 Hierdurch – so die Befürchtung – würde auch der Berufsrichter in die Lage versetzt, nur aufgrund eines unreflektiert-gefühlsmäßigen Totaleindruckes zu entscheiden, sodass auch sein Urteil lediglich das Ergebnis eines rein subjektiven Wertungsprozesses darstellen würde. Infolgedessen, so die Annahme, wären auch die berufsrichterlichen Urteile als Ergebnisse subjektiver Wertungsprozesse keiner Begründung mehr zugänglich, sodass auch hier – wie schon bei den Urteilen der Schwurgerichte – die Überprüfung der Entscheidung durch eine höhere Instanz ausgeschlossen wäre.744 Gerade eine solche Unüberprüfbarkeit der berufsrichterlichen Entscheidungen wurde allerdings mit Blick auf die Sorge, dass Richter als Staatsbedienstete willkürlich entscheiden könnten, als unannehmbar angesehen. So hatte sich Feuerbach bereits 1825 kritisch zu dem schon damals gelegentlich aufkommenden Vorschlag in der Rechtswissenschaft geäußert, auch Berufsrichtern die Möglichkeit zu eröffnen, im Wege der freien Beweiswürdigung zu entscheiden.745 Dieser sah in den Geschworenen des Schwurgerichts in erster Linie ein Substitut für die gesetzlichen Beweisregeln, sodass es ihm inkonsistent erschien, ein Gericht ohne Geschworene auch von den Beweisregeln freizustellen, da hierdurch ein jedes Element, welches die Berufsrichter in ihrer Machtausübung einzuschrän740
Küper, Die Richteridee der Strafprozessordnung, S. 217. So schon bei Oppen, Geschworne und Richter, S. 44 f.; aber auch Küper, in: FS Peters, S. 30 f. m. w. N. 742 Zentner, Das Geschwornengericht, S. 366. 743 So etwa Gans, Revision der preußischen Gesetzgebung, S. 69; s. a. Glaser, Lehre vom Beweis, S. 17 f.; Schwinge, Kampf um die Schwurgerichte, S. 84 f.; Schmidt, Geschichte der Strafrechtspflege, S. 334; Küper, Die Richteridee der Strafprozessordnung, S. 217. 744 So die Ansichten der zeitgenössischen Rechtsgelehrten zusammenfassend Savigny, GA 1858, 469, 484; vgl. aber auch Schwinge, Kampf um die Schwurgerichte, S. 79 f.; ähnl. auch Schmidt, Geschichte der Strafrechtspflege, S. 334 m. w. N. und Küper, in: FS Peters, S. 36. 745 Feuerbach, Betrachtungen über die Öffentlichkeit II, S. 414 ff. 741
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ken gedacht war (also sowohl die Beweisregeln als auch die Geschworenen), aufgehoben würde.746 So stellte Feuerbach bündig fest: „Es gibt keine andre [sic!] Wahl, als: e n t w e d e r k e i n e a l l g e m e i n e g e setzlich vorgeschriebene Beweisnormen, alsdann aber zum wenigsten ein Geschwornengericht, oder kein Geschwornengericht, alsdann aber eine allgemeine gesetzlich vorgeschriebene Beweislehre, nach welcher der zugleich über die Schuld erkennende Richter seinen Schuldausspruch zu r e c h t f e r t i g e n h a t . “747
Demnach schloss das Verständnis von der freien Beweiswürdigung als eine Methode der Entscheidungsfindung im Wege eines irrational-subjektiven Totaleindruckes ohne Reflexion aus, dass sie auch an Spruchkörpern zur Anwendung gebracht wurde, die ohne Geschworene zu Gericht saßen. Damit bestand zu Beginn des 19. Jh. noch eine weitestgehende Einigkeit darüber, dass Berufsrichter bei der Beweiswürdigung in Strafsachen durch Beweisregeln eingeschränkt bleiben mussten.748 b) Kritische Betrachtung der Lehre vom Totaleindruck ohne Reflexion Unverkennbar liegt der Lehre vom Totaleindruck ohne Reflexion eine Überhöhung der subjektiven Elemente der freien Beweiswürdigung zugrunde. Auch wenn diese irrationale Überzeugungslehre aus heutiger Perspektive stellenweise skurril erscheint, ist sie aus einer zeitgenössischen Perspektive durchaus nachvollziehbar. In dem Inquisitionsverfahren, das zu Beginn des 19. Jh. in den deutschen Gebieten vorherrschte, war nämlich in aller Regel noch eine Trennung zwischen dem untersuchenden Richter und dem erkennenden Richter gegeben. Während die Kriminaluntersuchung und die damit verbundene Beweiserhebung dem Inquirenten als dem untersuchenden Richter oblagen, erfolgten die Beweiswürdigung und die abschließende Entscheidung in der Sache durch ein erkennendes Gericht, dem der Inquirent in aller Regel nicht angehörte.749 Das englisch-französische Schwurgerichtsverfahren, das bereits zu Beginn des 19. Jh. in den Blickpunkt der deutschen Rechtswissenschaft gerückt war, kannte dagegen keine derartige Trennung zwischen dem untersuchenden und dem erkennenden Gericht. Auch wenn die untersuchenden Aufgaben am Schwurgericht grundsätzlich durch den Vorsitzenden des Gerichts wahrgenommen wurden, während die erkennenden Aufgaben den Geschworenen des Gerichts anvertraut waren, war es doch dasselbe Gericht, das sich für die Beweiserhebung und die Beweis746 747 748 749
Feuerbach, Betrachtungen über die Öffentlichkeit II, S. 419. Feuerbach, Betrachtungen über die Öffentlichkeit II, S. 418 f. Schwinge, Kampf um die Schwurgerichte, S. 79 mit zahlreichen Nachweisen. Vgl. insofern S. 121 ff.
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würdigung verantwortlich zeichnete. Insofern konnten die Geschworenen, die bei ihrer Tätigkeit durch keine gesetzliche Beweistheorie eingeschränkt waren, ihrer Entscheidung einen unmittelbaren Beweiseindruck zugrunde legen, der den erkennenden Richtern im Inquisitionsverfahren ausgerechnet verwehrt war. Während also dem Schwurgericht die Beweismittel nicht bloß in Form schriftlicher Akten mittelbar zur Verfügung standen, da es selbst in der Lage war, die erforderlichen Beweismittel in einem mündlichen Verfahren unmittelbar zu erheben und zu würdigen, war eine derart unmittelbare Beweiserfahrung den erkennenden Gerichten in den deutschen Partikularstaaten noch fremd. Insofern musste die Vorstellung, dass ein erkennendes Gericht die Beweismittel derart unmittelbar erfahren konnte, der deutschen Rechtswissenschaft als geradezu revolutionär erschienen sein. Daher ist es nur wenig überraschend, dass Teile der deutschen Rechtsliteratur ausgerechnet die von dieser unmittelbaren Beweiserfahrung betroffene subjektive Seite der Geschworenentätigkeit, nämlich die freie Beweiswürdigung, auf eine Art und Weise überhöhte, die heute kurios wirken muss. Aus dieser Perspektive wird auch nachvollziehbar, warum in der deutschen Rechtswissenschaft noch lange Zeit eine vehemente Skepsis gegenüber einer freien Beweiswürdigung durch Berufsrichter vorherrschte. Schließlich war und ist die freie Beweiswürdigung eng mit dem Unmittelbarkeitsprinzip verbunden – so bestimmt § 261 StPO noch heute, dass das Gericht über das Ergebnis der Beweisaufnahme nach seiner freien, aus dem Inbegriff der Verhandlung geschöpften Überzeugung zu entscheiden hat. Sofern die Rechtswissenschaft im frühen 19. Jh. jedoch bei der Frage, ob auch Berufsrichtern eine freie Beweiswürdigung zuzubilligen ist, von den damals bestehenden Gerichtsstrukturen ausging, liegt es nur nahe, dass sie sich gegen eine freie Beweiswürdigung durch das erkennende Gericht aussprechen musste. Ausgerechnet die Unmittelbarkeit war nämlich in dem Inquisitionsverfahren des 19. Jh. nicht gewährleistet, da die Beweise ausschließlich durch den Inquirenten erhoben wurden und das erkennende Gericht lediglich aufgrund der schriftlichen Akten über diese Beweise urteilte. Der Gedanke, dass das erkennende Gericht auf Grundlage einer freien Beweiswürdigung entscheiden sollte, obwohl ihm die Beweismittel nicht unmittelbar zur Verfügung standen, muss insofern geradezu widersinnig erschienen sein. Auch wenn die These des Verfassers, dass die Einführung der freien Beweiswürdigung ursprünglich noch unter Beibehaltung der bestehenden Verfahrensstrukturen erwogen worden war, bisher nicht umfassend belegt ist, zeigen schon die Ausführungen von Zentner, der 1830 über die Bedeutung eines mündlichen Verfahrens im Schwurgerichtsverfahren referierte, dass die Mündlichkeit und mithin die Unmittelbarkeit des erkennenden Verfahrens in jener Zeit keinesfalls als selbstverständlich wahrgenommen worden waren.750 So ging selbst die sächsische Strafverfahrensordnung von 1838 weiterhin von einem schriftlichen Verfahren aus, obwohl sie ihren Richtern bereits die freie Beweiswürdigung zugebilligt hatte. Dies 750
Vgl. Zentner, Das Geschwornengericht, S. 332 ff.
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stützt die These des Verfassers, dass in der damals vorherrschenden Vorstellung das erkennende Verfahren trotz der Einführung der freien Beweiswürdigung zunächst noch als ein schriftliches Verfahren aufgefasst wurde.751 Auch wenn diese These die radikale Subjektivierung des Geschworenenurteils durch Gans und später Köstlin nicht zu rechtfertigen vermag,752 erklärt sie doch, warum die zeitgenössischen Literaten in der Beweiswürdigung durch Geschworene keine analytisch-reflektive, sondern eine rein anschauliche Tätigkeit erblickten. Denn während im Inquisitionsverfahren die Berufsrichter an den erkennenden Gerichten schriftlich festgehaltene Beweisergebnisse anhand gesetzlicher Beweisregeln würdigten und so zu einem Ergebnis über die Schuld des Angeklagten zu gelangen suchten – also analytisch-reflektiv arbeiteten –, würdigten die Geschworenen die Erlebnisse, die sie unmittelbar im Gericht machten, bloß nach ihrem persönlichen Beweisempfinden. Freilich musste dies, im Vergleich zu dem hoch systematisierten Vorgehen der Berufsrichter, wie eine rein anschauliche Tätigkeit wirken.
III. Die Entwicklung der freien Beweiswürdigung zu einem allgemeinen Verfahrensgrundsatz Trotz der ablehnenden Haltung in der Rechtswissenschaft bot die freie Beweiswürdigung für die Rechtspraxis jedoch unabweisliche Vorteile. Vor allem die Beweisführung, die seit der Abschaffung der Folter auf enorme praktische Schwierigkeiten gestoßen war,753 hätte durch die Zulassung von Indizienbeweisen und der Anerkennung der freien Beweiswürdigung erheblich vereinfacht werden können, ohne zugleich die Strafrechtsprechung auf Geschworene zu übertragen und somit aus hoheitlicher Hand geben zu müssen. So setzte sich die freie Beweiswürdigung in den meisten deutschen Partikularstaaten im Rahmen der Märzrevolution als ein allgemeiner Verfahrensgrundsatz durch, der nicht auf die Schwurgerichte beschränkt war. Diese plötzliche Wende der herrschenden Ansicht in der deutschen Rechtswissenschaft und Rechtspraxis, die noch bis in die 30er-Jahre des 19. Jh. davon ausgegangen waren, dass die freie Beweiswürdigung ein exklusives Privileg der Geschworenen darstellen müsse, beruhte dabei im Wesentlichen auf zwei Entwicklungen. Zum einen war die Idee der freien Beweiswürdigung innerhalb kürzester Zeit von ihren irrational-subjektiven Elementen befreit worden, sodass die freie Beweiswürdigung und eine rationale Entscheidungsfindung auch in der Rechtswissenschaft nicht mehr als unvereinbare Gegensätze angesehen wurden. Zum anderen hatte die Rezeption des französischen Strafverfahrens in den deutschen Partikular-
751
Vgl. hierzu ausführlich S. 168 f. Vgl. zu Gans schon S. 152 Fn. 739, insgesamt aber Gans, Revision der preußischen Gesetzgebung; Köstlin, Der Wendepunkt des deutschen Strafverfahrens; zusammenfassend Küper, Die Richteridee der Strafprozessordnung, S. 214 ff. 753 Vgl. S. 118, 129 f. 752
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staaten zu Reformen ihrer Strafverfahrensordnungen geführt, welche die Garantien der gesetzlichen Beweisregeln überflüssig erscheinen ließen. 1. Rationalisierung der freien Beweiswürdigung Während die richterliche Beweiswürdigung bedingt durch die Reform des Strafverfahrens einerseits um eine deutlich subjektive Komponente erweitert worden war,754 setzte andererseits etwa zur gleichen Zeit auch eine Rationalisierung der Idee der freien Beweiswürdigung durch die Geschworenen ein.755 Die Gründe, die für eine Rationalisierung der radikal-subjektiven französischen intime-conviction-Lehre bzw. ihrer deutschen Entsprechung, der Lehre vom Totaleindruck ohne Reflexion, sprachen, waren von unterschiedlichen Autoren bereits vor der Einführung der Schwurgerichte in den deutschen Partikularstaaten zusammengetragen worden. Sie führten im Wesentlichen aus, dass der Wahrspruch der Geschworenen nicht bloß das Ergebnis eines unreflektierten Totaleindruckes oder eines plötzlichen, unbegründbaren Aktes des gesunden Menschenverstandes darstelle, sondern durchaus das Resultat einer begründeten Überzeugung war, die auf einer reflektiven und deduktiven Geistesoperation beruhte. Eingesetzt hatte diese Rationalisierungsbewegung mit Jarkes Abhandlung „Bemerkungen über die Lehre vom unvollständigen Beweise“756, die bereits 1825 veröffentlicht worden war.757 Jarke, einer der ersten und wichtigsten Gegner der irrationalen Überzeugungslehre,758 legte in seiner Schrift dar, dass die Wahrheit auch bei den Geschworenen nicht lediglich als eine bloß innere und gefühlsmäßige Überzeugung einsetzte, sondern eines rationalen Unterbaus bedurfte. So führte er aus, dass allein die Tatsache, dass der Urteilende von etwas überzeugt ist, noch nicht zur Folge haben könne, dass seine Überzeugung der Wahrheit entspräche. Sonst sei überall, wo eine Überzeugung vorhanden ist, stets auch die Wahrheit zu finden. Es folge jedoch gerade aus der Definition der Wahrheit, dass dort, wo die persönliche Überzeugung nicht mit der tatsächlichen Realität übereinstimme, lediglich ein Irrtum, nicht aber die Wahrheit vorliegen könne.759 Die Überzeugung nämlich sei lediglich das Vorliegen eines Grades des Fürwahrhaltens, das frei von jedem Gefühl der Falschheit sei, bei dem das Bewusstsein um mögliche Gegengründe fehle. Dies könne jedoch nicht verhindern, dass eine Person vollkommen gutgläubig von der Richtigkeit einer Entscheidung ausgeht, die Entscheidung dennoch objektiv falsch 754
Ausführlicher vgl. S. 160 ff. Küper, Die Richteridee der Strafprozessordnung, S. 221. Zu dem irrationalen Charakter der Idee der freien Beweiswürdigung durch Geschworene in der deutschen Rechtswissenschaft, vgl. S. 150 ff. 756 Jarke, NArchCrimR (8. Bd) 1825, 97 ff. 757 So Küper, Die Richteridee der Strafprozessordnung, S. 222. 758 So Walter, Freie Beweiswürdigung, S. 72. 759 Jarke, NArchCrimR (8. Bd) 1825, 97, 99. 755
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ist. Die einzige Garantie für die Richtigkeit einer Entscheidung sei deshalb nicht in ihrer Überzeugung, sondern in den Gründen für die Entscheidung zu suchen.760 Bei dem Prüfen und Abwägen dieser Gründe, zu dem auch die Geschworenen verpflichtet seien, handele es sich jedoch um eine reflektive Tätigkeit und mithin um eine Tätigkeit des Verstandes.761 Insofern beständen zwischen dem deutschen Richter und den Geschworenen keine Unterschiede, soweit sie sich eine Überzeugung bilden und für die Richtigkeit ihrer Entscheidung einstehen.762 Denn auch die Geschworenen müssten sich der Gründe ihrer Entscheidung bewusst werden, diese einzeln prüfen und dabei sicherstellen, dass diese Gründe in ihrer Gesamtheit ihr Urteil stützen. Dies stelle aber gerade eine reflektive Tätigkeit dar, sodass auch die Geschworenen ihre Gewissheit dafür, dass ihr Urteil richtig ist, letztendlich durch Reflexion und nicht durch bloße Intuition gewännen.763 Dieser neuen rationalen Überzeugungslehre schlossen sich in der Folgezeit immer mehr renommierte Rechtswissenschaftler an. So etwa hieß es nur neun Jahre später bei Mittermaier, dass es sich bei der Wahrheit um eine Übereinstimmung zwischen der Vorstellung von einer Sache und dem wirklichen Wesen der Sache handeln müsse.764 Deshalb sei es sehr wohl möglich, so Mittermaier, Gründe für die Überzeugung anzugeben, dass etwas der Wahrheit entspreche.765 Demnach beruhe die Wahrheit stets auf gewissen Gründen, die einen bestimmten Eindruck auf den Urteilenden mache. Dieser Eindruck korrespondiere dabei mit gewissen Seelenzuständen, unter denen insbesondere der Zustand des Fürwahrhaltens vorkomme. Hierbei hielten wir etwas für wahr, ohne uns der Gründe für diese Überzeugung bewusst zu sein oder ohne dass wir hinreichende Gründe dafür hätten.766 Ein solches unbegründetes Fürwahrhalten, das oft durch eine Stimmung des Augenblicks oder die Überredung anderer entstehe und sich deshalb sehr leicht als falsch darstellen könne, genüge jedoch schon im Alltag nicht, um die Handlungen einer sorgfältig prüfenden Person zu leiten. Noch weniger aber könne ein solches unbegründetes Fürwahrhalten genügen, wenn ein Richter seine Entscheidung von der Strafwürdigkeit eines Angeklagten davon abhängig machen wollte. Deshalb sei der Zustand des Fürwahrhaltens nicht ausreichend, um eine gerichtliche Entscheidung zu rechtfertigen. Vielmehr sei hierfür ein Zustand zu fordern, der auf zureichenden Gründen beruht, derer sich der Urteilende selbst bewusst ist. Einen solchen Zustand, in dem das Fürwahrhalten auf völlig befriedigenden Gründen beruhe, derer wir uns bewusst sind, so Mittermaier, würden wir Überzeugung nennen.767 Der Zustand der 760 761 762 763 764 765 766 767
Jarke, NArchCrimR (8. Bd) 1825, 97, 100. Jarke, NArchCrimR (8. Bd) 1825, 97, 101. Jarke, NArchCrimR (8. Bd) 1825, 97, 102. Jarke, NArchCrimR (8. Bd) 1825, 97, 103. Mittermaier, Die Lehre vom Beweise, S. 63 f. Mittermaier, Die Lehre vom Beweise, S. 66. Mittermaier, Die Lehre vom Beweise, S. 69. Mittermaier, Die Lehre vom Beweise, S. 70.
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Überzeugung, bei dem jemand aufgrund sorgfältiger Abwägung von Gründen dafür und dagegen eine gewisse Tatsache für wahr halte, wiederum heiße Gewissheit. Diese Gewissheit fordere notwendigerweise einen Inbegriff von Gründen, die von der Vernunft und von der Erfahrung anerkannt seien.768 Bereits diese Beispiele belegen, dass die Überzeugung nunmehr als die Folge einer rationalen Gedankenoperation begriffen wurde, bei der Denkgesetze und allgemeine Erfahrungsätze zu beachten sind. So geriet die Vorstellung, dass der Wahrspruch der Geschworenen auf einer völlig anderen Gedankenoperation beruhe als das Urteil der Berufsrichter, immer mehr ins Wanken.769 Bei Mittermaier heißt es hierzu in erhellender Klarheit: „[D]ie Unklarheit, mit welcher der französische Gesetzgeber das englische Institut ziemlich übereilt aus dem fremden Lande nach Frankreich verpflanzte, [veranlasste oft] die irrige Meinung […], dass die Geistesoperation, welche Geschworne bei der Berathung über die Wahrheit der Anklage anwenden sollte, eine ganz andere sei, als sie bei dem rechtsgelehrten Richter vorkömmt […].“770
Vor allem die noch heute häufig vertretene These, dass der natürliche Menschenverstand des Laien besser geeignet sei, über die Tatfrage zu entscheiden, als der geschulte Verstand des Richters,771 veranlasste wiederum Zachariä 1846 zu der folgenden, offenbar resignierenden, Feststellung: „Die Frage, ob der Angeklagte schuldig oder nicht schuldig sey, soll als eine bloße Thatfrage von Nichtjuristen eben so gut und selbst besser beurtheilt werden können als von rechtsgelehrten Richtern. Denn dazu gehöre nur natürlicher Verstand und gewöhnliche Lebenserfahrung, die sich in besserer Extraction bei dem aus dem Volke genommenen Geschworenen als bei den juristischen Richtern finde! – Dies ist die gewöhnliche und bis zum Überdruß wiederholte Behauptung, von der die blinden Verteidiger des Geschworenengerichts und der ihnen nachbetende große Haufen ausgeht; die aber schon oft widerlegt worden ist, daß es nicht der Mühe lohnt, eine neue Widerlegung hier zu versuchen.“772
Feuerbach hatte dabei sogar schon 1825 auf die Fehlbarkeit der Geschworenen hingewiesen: „Denn können die gesetzlichen Beweisregeln irren, weil ihre Urheber Menschen sind, so auch die Geschwornen, weil sie ebenfalls nicht mehr sind: eine gesetzliche Beweislehre kann zuweilen auf gegebene Voraussetzungen angewendet, aus der Unwahrheit Wahrheit, aus der Wahrheit Unwahrheit machen; und eben so hängt es von der Zusammensetzung des Geschwornengerichts, von den Kenntnissen, der Bildung, dem Character derselben ab, ob
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Mittermaier, Die Lehre vom Beweise, S. 72. Küper, in: FS Peters, S. 36. 770 Mittermaier, Die Lehre vom Beweise, S. 110. 771 Vgl. hierzu Andoor, Laien in der Strafrechtsprechung, S. 63 f. m. w. N. 772 Zachariä, Gebrechen und Reform des Deutschen Strafverfahrens, S. 307; Küper zitiert diese Passage leider unvollständig und insofern auch leicht missverständlich, vgl. Küper, in: FS Peters, S. 28. 769
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sie Schuld und Unschuld da finden wo sie wirklich vorhanden sind, oder ob sie in der Unschuld die Schuld, in der Schuld die Unschuld erkennen.“773
Geleitet von diesen Erkenntnissen trat nach und nach die Annahme, dass die freie Beweiswürdigung durch Geschworene einem ganzheitlichen und unreflektiert-gefühlsmäßigen Totaleindruck entspreche, in den Hintergrund und machte der Erkenntnis den Weg frei, dass auch die Wahrheitsfindung durch Geschworene das Ergebnis einer rationalen und reflektiven Tätigkeit darstelle. Die Tatsache, dass Geschworene – anders als noch die Berufsrichter – auch durch keine negative Beweistheorie774 gebunden waren und ihren Wahrspruch nicht zu begründen brauchten, wurde dabei auf ihre mangelnden Rechtskenntnisse zurückgeführt, die eine Subsumtion der Beweisergebnisse unter Beweisregeln und eine Entscheidungsbegründung erschwert hätten.775 Demzufolge war die irrationale Überzeugungslehre durch ein rationales Verständnis von der freien Beweiswürdigung ersetzt worden, die sich nunmehr als eine reflektive und durchaus einer Begründung zugängliche Tätigkeit darstellte.776 2. Der Einfluss der Reform des Inquisitionsverfahrens auf die Beweistheorie Doch nicht nur das Verständnis von der freien Beweiswürdigung hatte sich in den ersten Jahrzehnten des 19. Jh. verändert, auch das Inquisitionsverfahren selbst war in jener Zeit von größeren Reformen betroffen. Denn mit der Einführung der Schwurgerichte (und der freien Beweiswürdigung) wurde das klassische Inquisitionsverfahren vielerorts durch ein reformiertes Strafverfahren verdrängt, das entscheidende Unterschiede zum Ersteren aufwies. a) Das reformierte akkusatorisch-inquisitorische Verfahren in Strafsachen Die Reformbefürworter in den rechtsrheinischen Gebieten verlangten zu Beginn des 19. Jh. nämlich nicht nur die Einführung einer Schwurgerichtsbarkeit, sondern auch die Einführung einer Staatsanwaltschaft sowie des Mündlichkeits- und Öffentlichkeitsprinzips im Strafverfahren.777 Wie auch die Schwurgerichtsbarkeit hatten diese Institute ihr Vorbild in dem reformierten französischen Strafverfahren, welches in den Rheinprovinzen weiter in Kraft geblieben war, auch nachdem sie
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Feuerbach, Betrachtungen über die Öffentlichkeit II, S. 408. Ausführlich zu den negativen Beweistheorien vgl. S. 164 ff. 775 Küper, in: FS Peters, S. 36. 776 Vgl. Walter, Freie Beweiswürdigung, S. 70. 777 Kries, Deutsches Strafprozessrecht, S. 55; Schmidt, Geschichte der Strafrechtspflege, S. 327. 774
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1815 unter preußische Verwaltung gestellt worden waren.778 In den rechtsrheinischen Gebieten sollten allerdings drei weitere Jahrzehnte vergehen, bevor auch dort das reformierte Strafverfahren erstmalig zur Anwendung gelang.779 Wie schon dargestellt,780 führte nämlich erst das Gesetz betreffend das Verfahren in den bei dem Kammergericht und dem Kriminalgericht zu Berlin zu führenden Untersuchungen vom 17. Juli 1846781 in Berlin das Akkusations- und Mündlichkeitsprinzip sowie die Staatsanwaltschaft als eine von dem Gericht unabhängige Behörde ein.782 Allerdings sei erneut daran erinnert, dass dies nur scheinbar dem Ziel diente, auch in den rechtsrheinischen Gebieten Preußens ein moderneres Strafverfahren probeweise einzuführen.783 Durch die Verordnung über die Einführung des mündlichen und öffentlichen Verfahrens mit Geschworenen in Untersuchungssachen vom 3. Januar 1849784 wurde dieses reformierte Verfahren schließlich in ganz Preußen – mit Ausnahme der Rheinprovinzen, in denen das französische Verfahren ohnehin schon seit 1798 in Kraft war – eingeführt. Dabei ging die Verordnung weiter als das Gesetz vom 17. Juli 1846 und bestimmte nicht nur, dass Strafverfahren öffentlich durchzuführen waren,785 sondern sah für die Verhandlung und Entscheidung der schweren Strafsachen eine Schwurgerichtsverfassung vor.786 Dieses reformierte Strafverfahren setzte sich im Laufe des 19. Jh. schließlich auch in vielen anderen deutschen Partikularrechtsordnungen durch.787 Dies bedeutete jedoch nicht, dass das klassische Inquisitionsverfahren in den deutschen Gebieten durch das reformierte Strafverfahren vollständig verdrängt oder gar ersetzt worden wäre.788 In seinem Kern blieb das reformierte Strafverfahren 778
Vgl. Ignor, Geschichte des Strafprozesses, S. 215. Ignor, Geschichte des Strafprozesses, S. 216; freilich gab es dennoch Einzelfälle, in denen ein ähnliches Verfahren schon früher in Kraft gesetzt worden war – so etwa war im Königreich Westphalen schon 1811 ein mündliches und öffentliches Verfahren vorgesehen, Abegg, ArchCrimR (Neue Folge) 1847, 103, 121. 780 Vgl. S. 97 ff. 781 PrGS 1846, 267. 782 So enthalten §§ 2 bis 4 des Gesetzes vom 17. Juli 1846 (S. 98 Fn. 405) Regelungen betreffend der Bildung und der Kompetenzen der Staatsanwaltschaft; § 5 normierte das Akkusationsprinzip und § 15 das Mündlichkeitsprinzip – insgesamt mutete dieses Strafgerichtsgesetz sehr modern und rechtsstaatlich an. 783 Vgl. S. 98. 784 PrGS 1849, 14. 785 §§ 14, 15 der Verordnung vom 3. Januar 1849 (S. 99 Fn. 410). 786 §§ 62 ff. der Verordnung vom 3. Januar 1849 (S. 99 Fn. 410). 787 Kern, Geschichte des Gerichtsverfassungsrechts, S. 75; Ignor, Geschichte des Strafprozesses, S. 216. Ausführlicher zu der Situation in Frankreich und den Anfängen der Reformen in Deutschland, Kries, Deutsches Strafprozessrecht, S. 58, 60, sowie Schmidt, Geschichte der Strafrechtspflege, S. 325 ff., 329 ff. Zur Realisierung der Reformforderungen in den Prozessordnungen verschiedener deutscher Partikularstaaten, Ignor, Geschichte des Strafprozesses, S. 231 ff. 788 Anders etwa Roth/Gmür, Rechtsgeschichte, Rn. 373; Rieß, in: Beiträge zur Entwicklung der deutschen Strafprozessordnung, S. 25. 779
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nämlich weiterhin ein Inquisitionsverfahren, das lediglich um die Prinzipien der Anklage, Mündlichkeit und Öffentlichkeit erweitert worden war.789 Dies gilt selbst für das heutige Strafverfahren, das in großen Teilen dem Verfahren nach der Strafprozessordnung für das gesamte Deutsche Reich von 1877 entspricht, dem ebenfalls die Prinzipien des reformierten Strafverfahrens zugrunde lagen. Auf den Umstand, dass die Reichsstrafprozessordnung dem Grunde nach weiterhin auf einem Inquisitionsverfahren aufbauen würde, hatten bereits die Motive zur Strafprozessordnung hingewiesen: „[Es] ist zunächst zu betonen, daß sich das Hauptverfahren in der Anklage f o r m bewegt, aber nicht von einem A n k l a g e p r i n z i p beherrscht wird. Wollte man letzteres annehmen, so würde dies die Bedeutung haben, daß das erkennende Gericht nur die vom Ankläger und dem Angeklagten vorgeführten Beweise zu prüfen habe, um auf Grund derselben über die Anträge des Anklägers und des Angeklagten in ähnlicher Weise zu entscheiden, wie der Civilrichter in bürgerlichen Rechtsstreitigkeiten über die Anträge der Parteien entscheidet. […] [I]nsoweit vereinigt des [sic!] Gericht auch gegenwärtig in gewissem Maße die Pflichten des Richters, des Anklägers und des Vertheidigers in seiner Thätigkeit, wie dies im gemeinrechtlichen Inquisitionsprozesse der Fall war. Der Unterschied aber besteht darin, daß das heutige Verfahren für die Anklage wie für die Vertheidigung eigene Organe und Befugnisse geschaffen hat […] sowie, daß in der Regel für die inquisitorische Thätigkeit des erkennenden Gerichts nur ein geringer Raum bleibt, weil Anklage und Vertheidigung meist schon vollständig mit den erforderlichen Beweisen ausgerüstet in die Hauptverhandlung eintreten oder im Laufe derselben für die Ergänzung des Beweises durch Stellung der geeigneten Anträge selbst thätig werden. Im Prinzip ist demnach die Stellung des Richters im heutigen Verfahren dieselbe wie früher geblieben […]“.790
Zusammenfassend kann insofern festgehalten werden, dass selbst das heutige Strafverfahren, obwohl es in den Jahren, die der Märzrevolution folgten, Gegenstand umfangreicher Reformen war, seine Natur als reformiertes Inquisitionsverfahren beibehalten hat. Zwar ist die gerichtliche Tätigkeit im Strafverfahren durch die Anklageerhebung der Staatsanwaltschaft bedingt (Akkusationsprinzip), doch allein diese Voraussetzung hatte nicht zur Folge, dass das Inquisitionsverfahren durch ein reines Akkusationsverfahren ersetzt wurde.791 Die Grundpfeiler des Inquisitions789 Ignor, Geschichte des Strafprozesses, S. 19; Vormbaum, Einführung in die moderne Strafrechtsgeschichte, S. 91, Walter, Freie Beweiswürdigung, S. 75. 790 Motive zur StPO, in: Hahn (Hrsg.), Materialien zur StPO, Bd. III/1, S. 152 f. 791 Die Unterschiede zwischen dem klassischen Akkusationsprozess und dem reformierten Strafprozess sind nämlich größer als es den Anschein hat. Zwar haben beide Verfahrenstypen das Erfordernis der Anklageerhebung gemein, doch während die Anklageerhebung und die Ermittlung der Entscheidungsgrundlagen im Akkusationsverfahren dem Verletzten resp. den Parteien des Verfahrens oblagen, sind sie im reformierten Strafprozess – wie auch im Inquisitionsverfahren – eine staatliche Aufgabe. Massive Unterschiede bestehen auch in den Aufgaben, die dem Richter im Akkusationsverfahren und dem Inquisitionsverfahren zugewiesen sind. Während der Richter im Akkusationsverfahren letztendlich – ähnlich wie der Zivilrichter – das durch die Parteien geführte Verfahren leitet, ist der Richter im reformierten Strafprozess – erneut wie im Inquisitionsverfahren – dazu berufen, die Ermittlung der materiellen
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verfahrens, nämlich das Offizialprinzip und das Instruktionsprinzip (Amtsermittlungsgrundsatz), bilden nämlich auch heute noch unbestrittenermaßen zwei fundamentale Bestandteile des Strafverfahrens. Insofern stellte bereits (Eb.) Schmidt 1965 in aller Kürze fest: „Wo diese beiden Elemente sich vereinen, steht der Inquisitionsprozess vor uns“.792 Ohnehin gilt zu bedenken, dass die Begriffe Inquisitionsprozess und Akkusationsprozess keinesfalls, wie oftmals angenommen, Antonyme bilden oder sich gar gegenseitig ausschließen müssen.793 Konstitutives Merkmal des Akkusationsprozesses ist allein die Notwendigkeit einer Anklage als Anknüpfungspunkt für die nachfolgende gerichtliche Tätigkeit, ohne dass hierdurch eine abschließende Aussage über den sonstigen Charakter des Verfahrens getroffen ist. Der Bezeichnung „Akkusationsprozess“ ist daher weder zu entnehmen, von wem die Anklage zu erheben ist, noch welche Rolle dem Richter im eröffneten Verfahren zukommt. Richtigerweise betrifft die Charakterisierung eines Verfahrenstypus als Akkusationsprozess lediglich die Art und Weise der Verfahrenseinleitung, während die Charakterisierung eines Verfahrenstypus als Inquisitionsprozess die Art und Weise der Verfahrensdurchführung bezeichnet. Somit kann auch ein Akkusationsprozess – Wahrheit selbstständig voranzutreiben (vgl. für die heutige Rechtslage auch § 244 Abs. 2 StPO). Die Instruktionsmaxime, aber auch die gerichtliche Fürsorgepflicht verlangen, dass der Richter sich im Inquisitionsverfahren bei seiner Entscheidung – anders als in einem reinen Akkusationsverfahren – nicht ausschließlich auf die Vorträge der Verteidigung und der Anklage verlassen darf. Bei diesen gravierenden Unterschieden darf die an das ältere Verfahren germanischer und fränkischer Zeit angelehnte, eher romantisierende Bezeichnung des heutigen Strafverfahrens als Anklageverfahren nicht dazu verleiten, über seinen wahren, inquisitorischen Charakter hinwegzusehen. 792 Schmidt, Geschichte der Strafrechtspflege, S. 87. 793 Anders etwa Beulke, Strafprozessrecht, Rn. 18. Einen zumindest teilweisen Gegensatz zum Inquisitionsprozess ist allenfalls im sog. adversatorischen Strafprozess zu finden. Hier unterliegt das Strafverfahren nicht dem Amtsermittlungsgrundsatz, sondern – ähnl. wie im Zivilverfahren – der Dispositions- und Verhandlungsmaxime. Das adversatorisch verhandelnde Gericht ist auch im Strafverfahren an die Beurteilung der Tat durch den Ankläger, die auch im Wege einer Verständigung mit dem Angeklagten zustande gekommen sein kann, gebunden – denn allein die Parteien und nicht das Gericht sind in diesem Verfahren die Herrinnen über den Verhandlungsgegenstand (Dispositionsmaxime), vgl. Braun, Einführung in die Rechtswissenschaft, S. 194 f. Im adversatorischen Strafprozess haben die Parteien die entscheidungserheblichen Tatsachen selbstständig vorzutragen; eine über diese Vorträge hinausgehende Aufklärung des Sachverhalts durch das Gericht findet nicht statt (Verhandlungsprinzip), vgl. erneut Braun, Einführung in die Rechtswissenschaft, S. 194 f. Ein echter Gegensatz zum Inquisitionsprozess ist jedoch auch hier nicht gefunden, da auch in adversatorischen Strafprozessordnungen in aller Regel das Offizialprinzip gilt, sodass es dem Staat obliegt, das Strafverfahren von Amts wegen einzuleiten und durchzuführen. Ein echter Gegensatz zum Inquisitionsprozess ist heute wohl nur noch in dem seltenen adversatorischen Privatklageprozess zu finden, der in vielerlei Hinsicht dem klassischen Akkusationsprozess gleicht. Hier wird die Anklage durch eine Privatperson erhoben und es ist an den Parteien, die entscheidungserheblichen Tatsachen beizubringen. Zu finden ist der adversatorische Privatklageprozess etwa i. R. d. private prosecutions in England und Wales, vgl. Section 6(2) Prosecution of Offences Act 1985.
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wie etwa das Beispiel des Akkusationsprozesses nach der Carolina zeigt794 – ohne weiteres im Ergebnis ein Inquisitionsverfahren darstellen. Insofern wäre das reformierte Strafverfahren, das noch heute in dem deutschen Rechtskreis Anwendung findet, richtigerweise als ein akkusatorisch-inquisitorisches Verfahren zu bezeichnen, das grundsätzlich durch eine Offizialanklage bedingt ist. b) Auswirkungen der Reform des Strafverfahrens auf die gesetzliche Beweistheorie Obwohl es sich bei dem neuen Strafverfahren in den deutschen Gebieten insofern „lediglich“ um ein reformiertes Inquisitionsverfahren handelte, führten auch diese Reformen dazu, dass sich die freie Beweiswürdigung als ein allgemeiner Verfahrensgrundsatz des Strafprozesses etablieren konnte. Die damit einhergehende Einführung des Mündlichkeits- und Öffentlichkeitsprinzips sowie der Staatsanwaltschaft wurden nämlich als Garantien gegen die richterliche Willkür begriffen, welche eine starre Bindung der Berufsrichter an gesetzliche Beweisregeln obsolet erscheinen ließen.795 Zumal ein voller Beweis – ungeachtet der Existenz der Lügen- und Ungehorsamsstrafen – ohne die Folter kaum noch zu erbringen war,796 sodass die Gerichte oftmals auf eine außerordentliche Strafe zu erkennen hatten, die – jedenfalls dort, wo die gesetzliche Indizienlehre diese Fälle nicht abschließend regelte – ohne gesetzliche Beweisregeln auskam.797 Damit hatten die gesetzlichen Beweisregeln de facto bereits zur Mitte des 19. Jh. erheblich an Bedeutung eingebüßt. Zugleich waren Teile der Rechtswissenschaft zu der Einsicht gelangt, dass selbst die von der gesetzlichen Beweistheorie vorausgesetzten vollen Beweise nicht zwingend den Schluss auf die Schuld des Angeklagten zuließen, sondern lediglich auf eine höhere Wahrscheinlichkeit hinwiesen, mit der er die Tat begangen hatte.798 Die gesetzlichen Beweisregeln stellten insofern, wie auch die unvollkommenen Beweise, lediglich Indizien dar, deren endgültiger Beweiswert allein durch das freie Ermessen des Richters festzustellen war.799 So setzte sich die Ansicht durch, dass zur Verurteilung des Angeklagten neben dem Vorliegen der Voraussetzungen der positivrechtlich formulierten, gesetzlichen Beweisregeln auch die innere Überzeugung des Richters von der Schuld des Angeklagten erforderlich war. Diese innere Über794
Vgl. S. 113. Küper, in: FS Peters, S. 41; Walter, Freie Beweiswürdigung, S. 74. 796 Zu den Lügen- und Ungehorsamsstrafen vgl. S. 118. 797 Vgl. S. 127 ff. 798 Vgl. Schmitt, Die richterliche Beweiswürdigung im Strafprozeß, S. 150 ff. 799 So Schwinge, Kampf um die Schwurgerichte, S. 80 Fn. 4, mit Verweis auf Mittermaier, Das deutsche Strafverfahren I, S. 598 ff., sowie Mittermaier, Das deutsche Strafverfahren II, S. 414 ff.; der dem Verfasser vorliegenden vierten Auflage der besagten Schriften von Mittermaier ist diese Aussage jedenfalls nur mittelbar zu entnehmen; dennoch wird durchaus deutlich, dass Mittermaier einer absoluten Geltung von irgendwie gearteten Beweisregeln ablehnend gegenüberstand. 795
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zeugung sollte jedoch – anders als ursprünglich bei den Geschworenen – nicht bloß ein ungreifbares Gefühl im Sinne der intime conviction oder des Totaleindruckes darstellen, sondern ein Produkt des Dafürhaltens des Richters sein, das auf Erfahrungssätzen, rationalem Denken und logischen Schlussfolgerungen beruhte.800 Nach diesem Verständnis stellten die gesetzlichen Beweisregeln nur noch kodifizierte Regeln der Vernunft dar, die im rein berufsrichterlichen Verfahren als Ersatz für die Garantien des Schwurgerichts dienten.801 Hierzu heißt es bei Mittermaier: „Diese Beweisinstruction des Gesetzes ist nicht ein Product gesetzgeberischer Willkühr, sondern erscheint nur als eine Sanctionirung allgemeiner Vernunftwahrheiten, über die Auffindung der Gewissheit, und der aus einer langen Erfahrung abstrahirten Regeln, verbunden mit gesetzlichen Normen, die nur den Zweck haben, in Fällen, wo die Trüglichkeit gewisser Beweise leicht irre führen könnte, im Interesse der Unschuld, Schranken zu setzen.“802
Die Beweisregeln galten insofern nicht mehr als Misstrauensbekundungen gegenüber den Berufsrichtern, sondern als eine Form der gesetzgeberisch-antizipierten Beweiswürdigung, die dem Richter dabei behilflich sein sollte, sein Urteil nicht bloß auf den „oft kleinen Kreis der Erfahrungen seines kurzen Lebens“ zu stützen, sondern auf eine „lange Beobachtung von Thatsachen, eine Fülle von Erfahrungen“, die der Gesetzgeber „aus den Erfahrungen und Beobachtungen von Jahrhunderten“ schöpfte und in einem „aus der Vernunft und Erfahrung abstrahirten Maassstab für die Würdigung der Beweise“ niedergelegt hat.803 Beweisregeln stellten demnach eine Kodifikation der idealtypisierten richterlichen Beweiswürdigung dar, die von jedem erfahrenen und gewissenhaften Richter ohnehin beachtet würden.804 Während Feuerbach also noch 1825 die Ansicht vertrat, entweder keine Beweisregeln, dann aber ein Schwurgericht, oder kein Schwurgericht, dann aber Beweisregeln,805 führte Mittermaier nur zehn Jahre später die freie Beweiswürdigung durch die Geschworenen und die gesetzlichen Beweisregeln auf eine gemeinsame Grundlage zurück:806
800 Ausführlicher und mit zahlreichen historischen Nachweisen, insbesondere auf Jarke, NArchCrimR (8. Bd.) 1825, 97 ff., Küper, in: FS Peters, S. 36 ff. 801 Als Garantien, welche die Schwurgerichtsbarkeit zum Schutz des Angeklagten boten, galten etwa die umfangreichen Ablehnungsrechte des Beschuldigten bei der Zusammenstellung der Geschworenenbank oder die Tatsache, dass eine Verurteilung mindestens durch die Stimmen von acht Personen gestützt werden musste. 802 Mittermaier, Die Lehre vom Beweise, S. 87. 803 Mittermaier, Die Lehre vom Beweise, S. 87 f. 804 Mittermaier, Die Lehre vom Beweise, S. 90 ff.; Küper, in: FS Peters, S. 38. 805 Feuerbach, Betrachtungen über die Öffentlichkeit II, S. 418 f.; wörtliche Wiedergabe auf S. 154. 806 Diese Ausführungen dürfen jedoch nicht darüber hinweg täuschen, dass sowohl Feuerbach als auch Mittermaier keine absoluten Befürworter der Schwurgerichtsbarkeit waren. Während sich Feuerbach seit jeher mit Leidenschaft gegen die Schwurgerichte nach dem französischen Vorbild aussprach (vgl. Schmidt, Geschichte der Strafrechtspflege, S. 333 f.), war Mittermaier bis zur Germanistenversammlung in Lübeck noch ein Gegner der Schwurge-
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„[G]iebt man selbst zu, dass in jedem Menschen eine eingeborene Kraft wohnt, die Wahrheit zu entdecken, so ist auch eben so wenig zu läugnen, dass auch diese Kraft, wie jede andere menschliche, vervollkommnet, und geübt werden kann, dass auf diese Art eine Sicherheit der Anwendung entsteht, und dass längere Beobachtung Regeln für die Anwendung ableiten und die Wissenschaft diese Regeln in einen Zusammenhang bringen und auf Grundsätze zurückführen kann. […] und wird unser Vertrauen nicht wachsen, wenn ein Mensch, der seine Kraft geübt und ausgebildet hat, seine Ueberzeugung ausspricht? – Die Beweistheorie des Gesetzes ist aber nichts anderes, als das Produkt der Regeln, die über die Ausbildung der Kraft, die Wahrheit zu entdecken, nach langer Erfahrung aufgestellt wurden.“807
Eben mit einem solchen Verständnis der gesetzlichen Beweistheorie ließ sich eine Verpflichtung des Richters, auch entgegen seiner persönlichen Überzeugung eine Verurteilung auszusprechen, bloß weil die Voraussetzungen einer gesetzlichen Beweisregel erfüllt waren, schwerlich in Einklang bringen.808 Dieses neue Verständnis von der gesetzlichen Beweistheorie führte zu der Auffassung, dass die gesetzlichen Beweisregeln nur noch eine negative Wirkung entfalten sollten.809 Die Verurteilung des Angeklagten zu einer ordentlichen Strafe sollte demnach zwar weiterhin nur dann möglich sein, wenn die Voraussetzungen einer gesetzlichen Beweisregel vorlagen, doch wurde darüber hinaus verlangt, dass der Richter auch persönlich von der Schuld des Angeklagten überzeugt war, bevor er die Verurteilung aussprach.810 Die „positive“ Beweistheorie, die beim Vorliegen ihrer Voraussetzungen zwingend eine Verurteilung des Angeklagten anordnete, wurde so zu einer negativen Beweistheorie umgedeutet,811 die den Richter nicht mehr dazu zwang, einen Beschuldigten auch entgegen seiner persönlichen Überzeugung zu verurteilen.812 Damit kam der gesetzlichen Beweistheorie nur noch eine den Angeklagten schützende Wirkung zu, die jedoch nicht überschätzt werden sollte, da in vielen partikularen Rechtsordnungen die außerordentliche Strafe, die sich auf Indizien stütze, weiterhin zulässig blieb.813 Nichtsdestoweniger bedeutete die Einführung der negativen Beweistheorie de facto eine Anerkennung der freien Beweiswürdigung, welche nunmehr auch bei den ordentlichen Strafen Anwendung fand und nur noch durch Mindestanforderungen an die Beweismittel, die für eine Verurteilung notwendig waren, beschränkt wurde.814 richtsbarkeit (vgl. Schmidt, Geschichte der Strafrechtspflege, S. 335 f.; Schwinge, Kampf um die Schwurgerichte, S. 147 f.). 807 Mittermaier, Die Lehre vom Beweise, S. 88. 808 Küper, in: FS Peters, S. 38. 809 Vgl. auch Schmitt, Die richterliche Beweiswürdigung im Strafprozeß, S. 152 ff. 810 Küper, Die Richteridee der Strafprozessordnung, S. 230 f. 811 Kries, Deutsches Strafprozessrecht, S. 60 f.; Küper, in: FS Peters, S. 38; Walter, Freie Beweiswürdigung, S. 66 m. w. N. 812 Kries, Deutsches Strafprozessrecht, S. 60 f.; Schwinge, Kampf um die Schwurgerichte, S. 75 f.; Frisch, in: FS Stürner, S. 852; Küper, in: FS Peters, S. 38; Walter, Freie Beweiswürdigung, S. 65 ff. 813 Savigny, GA 1858, 469, 490 f. 814 Ähnl. Savigny, GA 1858, 469, 487; vgl. auch Mittermaier, Die Lehre vom Beweise, S. 84; Küper, Die Richteridee der Strafprozessordnung, S. 231.
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Damit hatte das freie richterliche Ermessen, das bei den außerordentlichen Strafen ohnehin schon seit jeher gestattet war, auch bei der ordentlichen Strafen Einzug erhalten.815 So heißt es in Savignys Denkschrift von 1846: „Nach allem diesen geht also der Vorschlag dahin, das richterliche Ermessen bei der Beurtheilung der Kraft der ihm vorgeführten, z u l ä s s i g e n B e w e i s m i t t e l nicht durch spezielle bindende, gesetzliche B e w e i s r e g e l n zu beschränken; e r d a r f seiner Entscheidung kein gesetzlich unzulässiges Beweismittel zum Grunde legen; allein die Kraft dieser gesetzlich anerkannten Beweismittel, das Maaß der Ueberzeugung, welches das eine oder andere Beweismittel gewähren soll, w i r d d e m R i c h t e r i n d e m G e s e t z e n i c h t v o r g e s c h r i e b e n .“816
Damit verkam die „positive“ gesetzliche Beweistheorie zu einem rein wissenschaftlichen Konstrukt ohne praktische Bedeutung.817 Hierdurch rückte die Entscheidungsfindung durch Geschworene und Berufsrichter enger zusammen und löste die als zwingend empfundenen Verknüpfungen zwischen der Schwurgerichtsbarkeit und der freien Beweiswürdigung sowie den Berufsrichtern und den Beweisregeln auf. Die bis dahin als gravierend geltenden Unterschiede zwischen den Entscheidungsfindungsprozessen durch Geschworene und Berufsrichter waren damit kaum noch von echter Relevanz.818 Der Schritt von dieser negativen Beweistheorie hin zu der endgültigen Anerkennung der freien Beweiswürdigung als ein allgemeiner Verfahrensgrundsatz des deutschen Strafverfahrens war damit nur noch ein kleiner.819 3. Die Einführung der freien Beweiswürdigung als allgemeines Verfahrensprinzip im deutschen Strafverfahren So fand man sich zur Mitte des 19. Jh. in einer Verfahrensumgebung wieder, in der sowohl Entscheidungen durch Geschworene als auch solche durch (Berufs-)Richter als das Ergebnis einer rationalen und reflektiven Tätigkeit erkannt worden waren. Zugleich waren durch die von den französischen Einflüssen geprägten Reformen des deutschen Strafverfahrens weitere Garantien gegen richterliche Willkür geschaffen worden.820 Die negative Beweistheorie, die sich in dieser Verfahrensumgebung durchgesetzt hatte, formulierte die gesetzlichen Beweisregeln zu bloß notwendigen 815
Vgl. S. 130 ff. Savigny, GA 1858, 469, 491. 817 Vgl. Savigny, GA 1858, 469, 487. 818 Küper, Die Richteridee der Strafprozessordnung, S. 233; zur Unvereinbarkeit der subjektiven freien Beweiswürdigung und der objektiven Beweistheorie, Gans, Revision der preußischen Gesetzgebung, S. 68 f. 819 Frisch, in: FS Stürner, S. 855; Küper, in: FS Peters, S. 39, letzterer allerdings mit einem Verweis auf Gerau, Zeitschr. f. deut. Strafverfahren (Neue Folge, Band I) 1844, 371, 375, dem diese Ansicht allerdings nicht zu entnehmen ist. 820 Ähnl. auch Küper, Die Richteridee der Strafprozessordnung, S. 221. 816
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Bedingungen für eine Verurteilung um. So zwangen sie den erkennenden Richter nicht mehr dazu, einen Beschuldigten auch entgegen seiner Überzeugung zu verurteilen, wenn ihre Voraussetzungen vorlagen. Unter diesen äußeren Umständen dauerte es nicht lange, bis die ersten partikularen Rechtsordnungen auch den Berufsrichtern eine freie Beweiswürdigung gestatteten.821 Dabei wird die allgemeine Einführung der freien Beweiswürdigung in den rechtsrheinischen Gebieten des Deutschen Bundes fälschlicherweise in aller Regel dem preußischen Gesetzgeber zugeschrieben.822 Richtig ist, dass den beamteten Richtern im Bezirk des Kammergerichts in Berlin in der Tat bereits 1846 durch das Gesetz betreffend das Verfahren in den bei dem Kammergericht und dem Kriminalgericht zu Berlin zu führenden Untersuchungen vom 17. Juli 1846 gestattet worden war, im Wege der freien Beweiswürdigung zu entscheiden.823 Damit wurde die freie Beweiswürdigung in Berlin zeitlich sogar vor der Schwurgerichtsbarkeit eingeführt, die in den rechtsrheinischen Gebieten Preußens erst über zwei Jahre später durch die Verordnung vom 3. Januar 1849 eingerichtet wurde.824 Verkannt wird hierbei jedoch, dass die freie Beweiswürdigung in Sachsen schon seit 1838 gesetzlich etabliert war; so hatte Art. X des sächsischen Gesetzes vom 30. März 1838825 nicht nur die außerordentlichen Strafen beseitigt, sondern enthielt zugleich auch eine deutliche Abkehr von den gesetzlichen Beweisregeln. Demnach sollte „[…] in allen Fällen, wo aus den nach den Acten sich ergebenden Thatsachen der erkennende Richter die volle Ueberzeugung entnimmt, daß das in Frage befangene Verbrechen wirklich verübt, und von dem Angeschuldigten begangen worden sei, auch bei ermangelndem Geständnisse desselben die ordentliche Strafe eintreten [Hervorh. d. Verf.].“
Damit entschieden die erkennenden Gerichte in Sachsen zwar weiterhin in einem schriftlichen Verfahren („aus den nach den Acten sich ergebenden Thatsachen“), dennoch bestimmte Art. X des Gesetzes vom 30. März 1838 ausdrücklich, dass auch die Verurteilung des Angeklagten zu einer ordentlichen Strafe sich nicht mehr nach einer gesetzlichen Beweistheorie zu richten hatte, sondern ausschließlich nach der subjektiven Überzeugung des erkennenden Richters. Auch wenn Kries (dies schon 1892) und Küper der Annahme widersprechen, dass in der Vorschrift eine gesetzliche
821
Ahnl. Schmitt, Die richterliche Beweiswürdigung im Strafprozeß, S. 156 f. Vgl. nur Küper, in: FS Peters, S. 25. 823 Vgl. § 19 Abs. 2 Satz 2 des Gesetzes vom 17. Juli 1846 (S. 98 Fn. 405): „Der erkennende Richter hat fortan nach genauer Prüfung aller Beweise, für die Anklage und die Vertheidigung, nach seiner freien, aus dem Inbegriff der vor ihm erfolgten Verhandlungen geschöpften Ueberzeugung zu entscheiden: ob der Angeklagte s c h u l d i g , oder n i c h t s c h u l d i g , oder ob derselbe v o n d e r A n k l a g e z u e n t b i n d e n sei [Hervorh. d. Verf.].“ 824 Vgl. §§ 62 ff. der Verordnung vom 3. Januar 1849 (S. 99 Fn. 410). 825 Gesetz, einige Abänderungen in dem Verfahren in Untersuchungssachen betreffend, vom 30sten März 1838, GVBl. (Kgr. SA) 1838, 197. 822
B. Die Beschränkung der Revision auf Rechtsfragen
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Anordnung der freien Beweiswürdigung zu erblicken ist,826 heißt es in der zeitgenössischen Kommentierung der Vorschrift für sächsische Juristen aus dem Jahre 1838 hierzu unmissverständlich: „Die Abschaffung der nach der früheren Gesetzgebung statt findenden außerordentlichen Strafen wurde schon durch das im Criminalgesetzbuch angenommene System der relativen Strafen bedingt. Es ist mithin bei vorhandener Ueberzeugung des Richters von den zu der Verurtheilung nöthigen Thatsachen jedesmal die dem vorliegenden Verbrechen angedrohte, nach den Bestimmungen des Art. 42 zu bemessende Strafe zu erkennen. Hierbei sind gar keine Bestimmungen gegeben worden, unter welchen Voraussetzungen der Richter volle Ueberzeugung von der Schuld des Angeklagten fassen kann [Hervorh. d. Verf.], da die Schwierigkeit solcher Bestimmungen nicht zu verkennen ist […].“827
Selbst Savigny, der preußische Minister für Gesetzesrevision, legte in seiner Denkschrift „Die Prinzipien in Beziehung auf eine neue Strafprozessordnung“ von 1846 dar, dass dem sächsischen Recht schon vor 1846 eine freie Beweiswürdigung bekannt war.828 Dabei beruht das preußische Gesetz von 1846 im Wesentlichen auf eben jener Denkschrift von Savigny. Jedenfalls setzte sich die freie Beweiswürdigung, aber auch das reformierte Strafverfahren und die Schwurgerichtsbarkeit, vor allem nach der Märzrevolution 1848 als ein allgemeiner und nicht auf die Schwurgerichtsbarkeit beschränkter Verfahrensgrundsatz durch.829 Wenige Jahrzehnte später galt die freie Beweiswür826
Kries, Deutsches Strafprozessrecht, S. 61, Fn. 3; Küper, Die Richteridee der Strafprozessordnung, S. 219 Fn. 320. 827 Gross, Criminalgesetzbuch für das Königreich Sachsen, S. 54 (zu Art. X des besagten Gesetzes). 828 Savigny, GA 1858, 469, 483; so aber auch Glaser, Lehre vom Beweis, S. 16; Krieter, Historische Entwicklung der freien Beweiswürdigung, S. 13, und Jerouschek, GA 1992, 493, 497. Zwar hatte das preußische Ministerium für Gesetzesrevision schon 1828, und damit tatsächlich vor Sachsen, einen Entwurf für eine Strafprozessordnung vorgelegt, nach dem auch die Berufsrichter an keine gesetzlichen Beweisregeln gebunden sein sollten, doch wurde dieser Entwurf von dem zuständigen Minister zur erneuten Überarbeitung zurückverwiesen, da er nicht seinen Vorstellungen entsprach, Krieter, Historische Entwicklung der freien Beweiswürdigung, S. 20 ff. Der 1841 im zweiten Versuch vorgelegte, überarbeitete Entwurf des Gesetzes sah zwar erneut gesetzliche Beweisregeln vor, gestattete dem Richter jedoch immerhin bereits aufgrund von Indizien auf eine ordentliche Strafe zu erkennen. Insofern wäre nach diesem Entwurf zumindest in den Fällen, in denen die ordentliche Strafe auf Indizien beruhte, eine freie Beweiswürdigung gestattet gewesen. Doch auch aus diesem Entwurf wurde keine Gesetz. Einen weiteren Verweis auf die Einführung der freien Beweiswürdigung vor 1846 enthält Krieter, a. a. O., S. 23 f., der auf die in § 28 des Gesetzes betreffend das gerichtliche und Disziplinar-Strafverfahren gegen Beamte vom 29. März 1844 (PrGS 1844, 77) enthaltene Möglichkeit der freien Beweiswürdigung im Dienststrafverfahren gegen Beamte hinweist. Allerdings scheint er hierbei zu verkennen, dass § 28 sich allein auf das behördliche und nicht das gerichtliche Dienststrafverfahren bezog. 829 Küper, in: FS Peters, S. 32, 42; detailliert Glaser, Lehre vom Beweis, S. 23. Mecklenburg-Schwerin, Mecklenburg-Strelitz, Schaumburg-Lippe und Lippe-Detmold etwa hatten weiterhin an dem schriftlichen Inquisitionsverfahren festgehalten, Anlagen zu den Motiven der StPO, in: Hahn (Hrsg.), Materialien zur StPO, Bd. III/1, S. 313 Fn. 2. Bremen, Hamburg,
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2. Kap.: Eine historische Betrachtung der Entwicklung der Revision
digung in Strafsachen als derart selbstverständlich, dass in den Motiven zur Strafprozessordnung hierzu lediglich heißt: „Der Grundsatz der freien Beweiswürdigung bedarf gegenwärtig nicht mehr der Rechtfertigung; er liegt allen in neuerer Zeit ergangenen deutschen Strafprozeßordnungen zu Grunde“.830 Auch von der Reichsjustizkommission und dem Reichstag wurde § 220 des Entwurfs der Strafprozessordnung, welcher die freie Beweiswürdigung normierte, ohne weitere Debatten angenommen und als § 260 der neuen Strafprozessordnung für das gesamte Deutsche Reich verabschiedet.831 Auch heute noch normiert § 261 StPO die freie Beweiswürdigung durch das erkennende Gericht in Strafsachen im Kern nahezu wortgleich mit der Fassung des preußischen Gesetzes vom 17. Juli 1846.832
Lübeck, Sachsen, und Sachsen-Altenburg hatten, obwohl sie ein reformiertes Verfahren eingeführt hatten, zunächst noch keine Schwurgerichtsverfassungen, erlassen, vgl. Schmidt, Geschichte der Strafrechtspflege, S. 337; vgl. auch Kries, Deutsches Strafprozessrecht, S. 62. Es ist davon auszugehen, dass jedenfalls die beiden Mecklenburgischen Staaten und die beiden Lippe auch keine freie Beweiswürdigung kannten. 830 Motive zur StPO, in: Hahn (Hrsg.), Materialien zur StPO, Bd. III/1, S. 197. 831 Vgl. Protokolle der Kommission, in: Hahn (Hrsg.), Materialien zur StPO, Bd. III/1, S. 872 (1. Lesung); Bd. III/2, S. 1372 (2. Lesung) sowie Beratungen im Plenum des Reichstags, in: Hahn (Hrsg.), Materialien zur StPO, Bd. III/2, S. 1903 (2. Beratung) sowie S. 2110 (3. Beratung); In der 1. Beratung wurde im Grunde lediglich die Überweisung der Entwürfe an die Reichsjustizkommission beschlossen. 832 So lautete § 19 Abs. 2 Satz 2 des lediglich in Berlin geltenden Gesetzes vom 17. Juli 1846 (S. 98 Fn. 405): „Der erkennende Richter hat fortan nach genauer Prüfung aller Beweise, für die Anklage und die Vertheidigung, nach seiner freien, aus dem Inbegriff der vor ihm erfolgten Verhandlungen geschöpften Ueberzeugung zu entscheiden: ob der Angeklagte s c h u l d i g , oder n i c h t s c h u l d i g , oder ob derselbe v o n d e r A n k l a g e z u e n t b i n d e n sei“. § 22 Abs. 2 Satz 2 der Verordnung vom 3. Januar 1849 (S. 99 Fn. 410), die schon für ganz Preußen galt, bestimmte im nahezu identischen Wortlaut: „Der erkennende Richter hat fortan unter genauer Prüfung aller Beweise für die Anklage und die Vertheidigung nach seiner freien, aus dem Inbegriffe der vor ihm erfolgten Verhandlungen geschöpften Ueberzeugung zu entscheiden, ob der Angeklagte s c h u l d i g , oder n i c h t s c h u l d i g sei“. Anders als das Gesetz für Berlin, sah die Verordnung für ganz Berlin auch keine Möglichkeit mehr vor, den Angeklagten ab instantia loszusprechen (vgl. S. 128). § 220 des Entwurfs der StPO schließlich übernahm im Kern die Formulierung der preußischen Gesetze: „Ueber das Ergebniß der Beweisaufnahme entscheidet das Gericht nach seiner freien, aus dem Inbegriffe der Hauptverhandlung geschöpften Ueberzeugung“. Dieser Entwurf wurde nahezu wortgleich als § 260 RStPO übernommen: „Ueber das Ergebniß der Beweisaufnahme entscheidet das Gericht nach seiner freien, aus dem Inbegriffe der Verhandlung geschöpften Ueberzeugung“. Bis heute hat sich die Vorschrift, die nunmehr unter § 261 StPO zu finden ist, kaum verändert: „Über das Ergebnis der Beweisaufnahme entscheidet das Gericht nach seiner freien, aus dem Inbegriff der Verhandlung geschöpften Überzeugung“.
B. Die Beschränkung der Revision auf Rechtsfragen
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IV. Der Ausschluss einer Nachprüfung der freien Beweiswürdigung durch eine höhere Instanz Mit der Einführung der freien Beweiswürdigung als ein Verfahrensprinzip, das über die Schwurgerichte hinausreicht, stellte sich aber auch zugleich die Frage, inwieweit die auf diesem Wege festgestellten Tatsachen durch eine höhere Instanz nachgeprüft werden konnten. Eben die mit dieser Frage zusammenhängenden Erwägungen waren es schließlich, die zu der Beschränkung des Rechtsmittels der Revision auf Rechtsfragen führen sollten, sodass sie hier einer näheren Betrachtung bedürfen. 1. Die Überprüfbarkeit des Wahrspruchs der Geschworenen In Bezug auf die Urteile der Schwurgerichte herrschte seit jeher Einigkeit darüber, dass der Wahrspruch der Geschworenen, der im Grunde das Ergebnis einer freien Beweiswürdigung war, keiner überinstanzlichen Kontrolle zugänglich sein sollte. Da von den Geschworenen aufgrund ihrer mangelnden Rechtskenntnisse keine umfassende Begründung für ihre Entscheidung verlangt wurde,833 hatten sie die an sie gerichtete Schuldfrage ohnehin lediglich mit „Ja“ oder „Nein“ zu beantworten.834 Damit war es für Außenstehende schon de facto unmöglich, nachzuvollziehen, ob ihr Wahrspruch auf einer Verletzung von Denkgesetzen oder allgemeinen Erfahrungssätzen beruhte oder aufgrund von Vorurteilen oder Irrtümern gefällt worden war. Eine Überprüfung dieses Wahrspruchs durch eine höhere Instanz wäre demnach nur denkbar gewesen, wenn das Rechtsmittelgericht den tatsächlichen Sachverhalt selbst durch eine eigene Rekonstruktion der ursprünglichen Hauptverhandlung erneut festgestellt hätte, um durch einen Vergleich des Wahrspruchs mit dem rekonstruierten Sachverhalt nachzuvollziehen, ob der Wahrspruch fehlerbehaftet war. Eine hiermit verbundene neue Beweiserhebung und Beweiswürdigung durch ein berufsrichterlich besetztes Rechtsmittelgericht hätte jedoch dem grundlegenden Gedanken der Schwurgerichtsbarkeit widersprochen, die Rechtsprechung in den schweren Strafsachen in die Hände des Volkes zu legen. Einzig denkbar blieb bei Zweifeln an der Richtigkeit des Wahrspruchs die Möglichkeit einer Neuverhandlung vor einem anderen Schwurgericht und damit im Grunde ein Rechtsbehelf ähnlich der heutigen Berufung. Diesen Weg gingen etwa die preußische Verordnung vom 3. Januar 1849835, das preußische Gesetz vom 3. Mai 1852836 und die spätere Reichsstrafprozessordnung, ohne den Verfahrensbeteiligten 833 834 835 836
Küper, in: FS Peters, S. 36. Vgl. nur S. 144; vgl. auch Kries, Deutsches Strafprozessrecht, S. 649. S. 99 Fn. 410. S. 99 Fn. 417.
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2. Kap.: Eine historische Betrachtung der Entwicklung der Revision
jedoch einen zusätzlichen Rechtsbehelf an die Hände zu geben.837 So gestatteten diese Verfahrensordnungen den Berufsrichtern des Schwurgerichts die Sache von Amts wegen einem Schwurgericht in der nächsten Sitzungsperiode zur erneuten Verhandlung zuzuweisen, wenn sie einstimmig der Ansicht waren, dass die Geschworenen sich in der Hauptsache zum Nachteil (!) des Angeklagten geirrt hatten. Hierbei wurden diejenigen Geschworenen von der neuen Verhandlung ausgeschlossen, die bereits an dem vorherigen Spruch mitgewirkt hatten. Die Entscheidung der neuen Geschworenenbank erging allerdings endgültig, sodass sie dem Urteil des Schwurgerichts in jedem Fall zugrunde zu legen war. Demnach hielt der Gesetzgeber den Wahrspruch der Geschworenen zwar nicht für unantastbar,838 dennoch war eine darüber hinausgehende Nachprüfung des im Wesentlichen die Tatfragen betreffenden Wahrspruchs der Geschworenen durch eine höhere Instanz nicht vorgesehen. Demnach konnte ein Rechtsmittel gegen schwurgerichtliche Urteile allenfalls Rechtsfragen zum Gegenstand haben.839 Und tatsächlich konnten die Urteile der preußischen Schwurgerichte und der Schwurgerichte im Deutschen Reich lediglich mit der Nichtigkeitsbeschwerde resp. der Revision angefochten werden.840 2. Die Überprüfbarkeit der Feststellungen berufsrichterlicher Urteile Solange die ausschließlich mit Berufsrichtern besetzten (Kollegial-)Gerichte an gesetzliche Beweisregeln gebunden waren, waren die erkennenden Richter verpflichtet, in den Urteilsgründen darzulegen, ob die Beweise den Anforderungen der Beweisregeln genügten.841 Damit beruhten die Feststellungen dieser Gerichte letztendlich auf einer Rechtsanwendung, nämlich der Anwendung der gesetzlichen Beweisregeln, sodass auch die Feststellungen dieser Gerichte grundsätzlich ohne 837 Art. 99 des Gesetzes vom 3. Mai 1852 (S. 99 Fn. 417) i.V.m. § 116 der Verordnung vom 3. Januar 1849 (S. 99 Fn. 410); § 317 RStPO. 838 So auch Rieß, GA 1978, 257, 267. 839 Selbst einem auf Rechtsfragen beschränkten Rechtsmittel in schwurgerichtlichen Sachen waren dabei Grenzen gesetzt. Denn die Geschworenen waren auch nicht verpflichtet, darzulegen, in welchen Tatsachen sie die gesetzlichen Merkmale der in Frage stehenden Straftat gefunden hatten. Demzufolge war es unmöglich, den Geschworenen nachzuweisen, dass ihnen bei der Subsumtion der von ihnen als wahr erachteten Tatsachen unter das materielle Recht ein Fehler unterlaufen war. Eine Sachrüge aufgrund der Verletzung materiellen Rechts kam in schwurgerichtlichen Verfahren demnach kaum in Betracht. Dem Rechtsmittelgericht blieb mithin in aller Regel nur die Möglichkeit, aufgrund einer Verfahrensrüge zu überprüfen, ob es zu einer Verletzung formellen Rechts gekommen war, Löwe/Hellweg, StPO (11. Aufl.), zu § 376, Note 4 a; Rieß, in: FS Widmaier, S. 495. 840 Art. 106 des Gesetzes vom 3. Mai 1852 (S. 99 Fn. 417); § 136 Abs. 1 Nr. 2 RGVG. Ausführlich zur preußischen Nichtigkeitsbeschwerde nach dem Gesetz vom 3. Mai 1852 vgl. S. 103 f. 841 Vgl. etwa §§ 488 ff., insbesondere § 494 PreußCrimO 1805.
B. Die Beschränkung der Revision auf Rechtsfragen
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Weiteres nachprüfbar waren. Mit der Entwicklung der freien Beweiswürdigung zu einem allgemeinen Verfahrensgrundsatz stellte sich allerdings die Frage, ob auch die im Wege der freien Beweiswürdigung festgestellten Tatsachen zu begründen waren oder ob diese, wie auch der Wahrspruch der Geschworenen, aufgrund ihrer subjektiven Natur keiner Begründung zugänglich waren.842 Ohne eine Begründung wären auch diese Feststellungen freilich nicht durch eine höhere Instanz auf ihre Richtigkeit hin überprüfbar. Doch grundsätzlich war man, insbesondere bedingt durch die Rationalisierung der freien Beweiswürdigung und die Abkehr von der Lehre vom Totaleindruck,843 zu dem Schluss gelangt, dass die Berufsrichter ungeachtet der freien Beweiswürdigung verpflichtet waren, ihre Entscheidungen zu begründen, sodass diese durch eine höhere Instanz jedenfalls auf ihre Schlüssigkeit hin hätten überprüft werden können. Warum das erkennende Gericht in einer solchen Weise verpflichtet sein sollte, in seinen Urteilsgründen auch die sog. Beweisgründe, also diejenigen Gründe, die es bei seiner freien Beweiswürdigung geleitet haben, anzugeben, hatte Jarke dabei bereits 1825 an einem sehr griffigen Beispiel verdeutlicht: „Wenn der Historiker eine Behauptung über ein Factum aufstellt, so wird er sich nicht blos darauf beschränken, auf seine Ehre und sein Gewissen zu versichern, ein Factum sey so oder so; sondern er wird G r ü n d e angeben, auf denen seine Behauptung beruht, und erst alsdann kann man sagen, daß er den historischen Beweis für das von ihm behauptete Factum liefere. – Dieses Angeben der Gründe ist er dem Publikum schuldig, damit jeder diese Gründe prüfen, und sich auch eine Ueberzeugung über die Richtigkeit seiner Ueberzeugung bilden könne.“844
Auch Savigny hatte in seiner Denkschrift, die dem preußischen Gesetz von 1846 zugrunde lag, in erhellender Klarheit dargelegt, warum es unbedingt auf die Begründungspflicht der im Wege der freien Beweiswürdigung gefundenen Erkenntnisse ankommt: „Das charakteristische Merkmal, wodurch sich die Geschworenengerichte von den ständigen Gerichten unterscheiden, besteht darin, daß die Geschworenen sich ohne Weiteres bei der einfachen Thatsache ihrer Ueberzeugung als solcher beruhigen dürfen, während die ständigen Richter ihr Urtheil nach Gründen und Regeln bilden müssen. […] Daraus, daß die Beweisregeln nicht ein- für allemal gesetzlich festgestellt werden, folgt noch nicht, daß die Richter überhaupt von der Verpflichtung entbunden werden, nach Gründen und Regeln zu urtheilen und hiervon Rechenschaft zu geben […]; sie werden daher nach wie vor ihr Urtheil nach Beweisgründen bilden, von letzteren in der Ausfertigung des Erkenntnisses Rechenschaft geben und die Prüfung derselben durch den Appellationsrichter erwarten müssen. Der Unterschied zwischen Richtern mit und ohne Beweistheorie besteht lediglich und allein darin, daß in letzterem Falle dem Richter selbst die Auffindung und Anwendung der Beweisregeln, welche die allgemeinen Denkgesetze, Erfahrung und Menschenkenntniß 842 843 844
Vgl. nur Gans, Revision der preußischen Gesetzgebung, S. 95. Vgl. S. 157 ff. Jarke, NArchCrimR (8. Bd) 1825, 97, 103 f.
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2. Kap.: Eine historische Betrachtung der Entwicklung der Revision
an die Hand geben, überlassen wird, während in ersterem Falle gewisse Beweisregeln schon durch das Gesetz selbst ein- für allemal als unabänderliche Formeln festgestellt und dadurch das Urtheil des Richters gefesselt und derselbe gehindert wird, jeden Fall nach seinen Eigenthümlichkeiten zu beurtheilen.“845
So stellte Savigny in Bezug auf seine Forderung nach der freien Beweiswürdigung fest: „Wenn […] in der nachfolgenden Erörterung das Aufgeben der positiven Beweistheorie befürwortet wird, so wird hierbei keineswegs davon ausgegangen, daß den Richtern gleich Geschworenen die Entscheidung über Schuld und Nichtschuld ohne eine äußere Rechenschaft und ohne Verantwortlichkeit nach blos individueller Ueberzeugung überlassen werden soll, im Gegentheil wird dabei die Motivierung des Erkenntnisses durch Entscheidungsgründe und die Prüfung durch den Appellationsrichter als wesentlich und unerläßlich recht eigentlich vorausgesetzt.“846
Demnach sollte die Angabe von (subjektiven) Beweisgründen nicht nur die Transparenz des richterlichen Urteils erhöhen, sondern auch die Grundlage für eine vollständige Überprüfbarkeit der tatrichterlichen Sachverhaltsfeststellungen bilden. Schließlich enthalten die Tatsachenfeststellungen im engeren Sinne lediglich eine Wiedergabe der objektiven Entscheidungsgrundlagen des Gerichts – diese ermöglichen dem übergeordneten Gericht lediglich, durch einen Vergleich der subsumtionsrelevanten Tatsachen mit den angewandten Strafnormen nachzuprüfen, ob das Urteil in materiell-rechtlicher Hinsicht fehlerfrei war. Erst durch die Angabe der subjektiven Beweisgründe, die zu der Feststellung jener objektiven Tatsachen führten (also der Beweiswürdigung im weiteren Sinne), wird das Rechtsmittelgericht in die Lage versetzt, auch nachzuprüfen, ob die festgestellten Tatsachen aufgrund einer sachlich-logisch einwandfreien Gedankenoperation festgestellt wurden. So untertrieb Gans keinesfalls, als er schon 1832 feststellte: „Wenn also vorgeschlagen wird, die Ueberzeugung des Richters als den vollgültigen Beweis hinzustellen, so wäre es vollends eine kaum begreifliche Monstruosität [sic!] mit der unmotivierten Ueberzeugung sich begnügen zu wollen“.847 So herrschte nach der Einführung der freien Beweiswürdigung als ein allgemeines Verfahrensprinzip zunächst noch die Meinung vor, dass es zwar bei den Schwurgerichten noch hingenommen werden konnte, dass die Geschworenen keine subjektiven Beweisgründe angaben, da in der Zusammensetzung der Geschworenenbank aus zwölf Geschworenen eine hinreichende Garantie gegen staatliche Willkür und damit ein Substitut für die gesetzlichen Beweisregeln gesehen wurde.848 Zugleich aber wurde angenommen, dass etwas anderes gelten musste, wenn staatliche Richter dazu berufen waren, Urteile aufgrund einer freien Beweiswürdigung zu fällen. Schließlich ist eine unbegründete vollstreckbare Entscheidung des Staates, bei 845 846 847 848
Savigny, GA 1858, 469, 484. Savigny, GA 1858, 469, 485. Gans, Revision der preußischen Gesetzgebung, S. 95. Vgl. S. 153 f.
B. Die Beschränkung der Revision auf Rechtsfragen
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dem er an keinerlei (Beweis-)Regeln gebunden ist, nicht weit von einer bloß willkürlichen Entscheidung zur Durchsetzung der Staatsräson entfernt. Demnach konnte ausgerechnet bei den nicht-schwurgerichtlichen Spruchkörpern allein eine umfassende Urteilsbegründungspflicht den Nachweis führen, dass die Entscheidung willkürfrei ergangen war. Folglich sollte die Urteilsbegründungspflicht bei den nichtschwurgerichtlichen Spruchkörpern, ähnlich wie auch die Beteiligung der Geschworenen am Schwurgericht, einen Ersatz für die gesetzlichen Beweisregeln darstellen, die durch die Einführung der freien Beweiswürdigung obsolet geworden waren. Geleitet von diesen Erkenntnissen ordnete etwa der preußische Gesetzgeber in dem Gesetz vom 17. Juli 1846849 ausdrücklich die Pflicht des erkennenden Richters an, auch die Gründe, die ihn bei seiner Beweiswürdigung geleitet hatten, darzulegen. § 19 Abs. 2 des Gesetzes lautete demnach: „Dagegen treten die bisherigen positiven Regeln über die Wirkungen der Beweise außer Anwendung. Der erkennende Richter hat fortan nach genauer Prüfung aller Beweise, für die Anklage und Vertheidigung, nach seiner freien, aus dem Inbegriff der vor ihm erfolgten Verhandlungen geschöpften Ueberzeugung zu entscheiden: ob der Angeklagte S c h u l d i g , oder n i c h t S c h u l d i g , oder ob derselbe v o n d e r A n k l a g e z u e n t b i n d e n sei. Er ist aber verpflichtet, die Gründe, welche ihn dabei geleitet haben, in dem Urtheil anzugeben [Hervorh. d. Verf.].“
Die Vorschrift wurde nahezu wortgleich von § 22 Abs. 2 der Verordnung vom 3. Januar 1849850 für ganz Preußen, mit Ausnahme der Rheinprovinz, übernommen und auch durch das spätere Gesetz vom 3. Mai 1852851 nicht mehr geändert. Demnach blieb § 22 Abs. 2 der Verordnung bis zum Inkrafttreten der Reichsstrafprozessordnung am 1. Oktober 1879 für die Urteilsgründe nicht-schwurgerichtlicher Spruchkörper in großen Teilen Preußens maßgebend. Zugleich hatte der preußische Gesetzgeber dafür Sorge getragen, dass die Urteile aller preußischen Gerichte, die ohne die Beteiligung von Geschworenen ergangen waren, grundsätzlich im Wege der Appellation überprüft werden konnten.852 Lediglich in der preußischen Strafprozessordnung von 1867, die ausschließlich für einen Großteil der 1866 von Preußen annektierten Gebiete erlassen worden war, war eine entsprechende Pflicht des Ta-
849
S. 98 Fn. 405. S. 99 Fn. 410. 851 S. 99 Fn. 417. 852 Eine Einschränkung erfuhr die Appellationsfähigkeit aller berufsrichterlichen Urteile, die durch die Verordnung vom 3. Januar 1849 (S. 99 Fn. 410) eingeführt worden war, durch das Gesetz vom 3. Mai 1852 (S. 99 Fn. 417). Danach waren die Urteile des Einzelrichters, der in erster Linie für Vergehen zuständig war, von der Appellation ausgeschlossen. Die Strafprozessordnung von 1867 für die annektierten Gebiete (S. 100 Fn. 422) allerdings gestattete sehr wohl eine Berufung gegen alle nicht-schwurgerichtlichen Urteile erster Instanz. Ausführlich zur Appellationsfähigkeit der Urteile preußischer Strafgerichte vgl. S. 97 ff. 850
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2. Kap.: Eine historische Betrachtung der Entwicklung der Revision
trichters nicht enthalten,853 wenngleich auch sie die Berufungsfähigkeit aller nichtschwurgerichtlichen Urteile vorsah.854 Doch nicht nur die preußischen Strafverfahrensvorschriften, sondern auch die reformierten Strafverfahrensordnungen der meisten übrigen Partikularstaaten des Deutschen Bundes gingen grundsätzlich davon aus, dass der erkennende Richter trotz der Einführung der freien Beweiswürdigung verpflichtet bleiben sollte, in den Urteilsgründen darzulegen, auf welchen Erwägungen seine tatsächlichen Feststellungen beruhten.855 Anders als in Preußen wurde hierbei jedoch zuweilen verkannt, dass nur eine Appellationsinstanz in der Lage war, sicherzustellen, dass eine mangelhafte Beweisbegründung in dem tatrichterlichen Urteil auch gerügt werden konnte. Denn sofern der Tatrichter durch eine Beweisbegründungspflicht dazu angehalten werden soll, eine „wohldurchdachte Entscheidung“ zu fällen,856 muss zugleich auch sichergestellt sein, dass eine Entscheidung, die diesen Erfordernissen nicht genügte, durch eine höhere Instanz nachgebessert oder aufgehoben werden konnte – sprich, die Möglichkeit einer vollumfassenden Appellation gegeben war. Eine umfassende Nachprüfungskompetenz des Rechtsmittelgerichts stellt sich demnach als eine rechtlich notwendige Ergänzung einer umfassenden Begründungspflicht des Tatrichters dar.857 Mithin war die Entscheidung mancher Partikularstaaten, die Appellation auf ihren Staatsgebieten auszusetzen,858 aber gleichzeitig an der Beweisbegründungspflicht des Tatrichters festzuhalten, wenig konsequent. Sie beruhte aller Wahrscheinlichkeit nach auf einer Gesetzgebungspraxis in diesen Staaten, die in Bezug auf die freie Beweiswürdigung weiterhin von einer irrationalen Überzeugungslehre geleitet wurde, obwohl diese in der Rechtslehre längst überwunden worden war.859 Eben eine solche „Rückbesinnung“ auf die irrationale Überzeugungslehre dürfte im Weiteren zur Folge gehabt haben, dass in den betroffenen Rechtsordnungen die Institute der freien Beweiswürdigung und der Appellation als inkompatibel betrachtet wurden.860
853 Vgl. § 7 der Strafprozessordnung für die annektierten Gebiete (S. 100 Fn. 422): „Bei der Prüfung der vorgebrachten Beweise sind die Gerichte an positive Regeln über die Wirkungen derselben nicht gebunden; sie haben über das Ergebniß der Beweisführung nach ihrer freien, aus dem Inbegriffe der vor ihnen stattgehabten Verhandlungen geschöpften Ueberzeugung zu entscheiden“. 854 Vgl. S. 97 ff. 855 Vgl. hierzu Motive zur StPO, in: Hahn (Hrsg.), Materialien zur StPO, Bd. III/1, S. 209 f. 856 So Savigny, GA 1858, 469, 489. 857 Jähnke, in: FS Hanack, S. 364; Maul, in: FS Pfeiffer, S. 420. 858 Vgl. S. 96. 859 Vgl. S. 157 ff. 860 Vgl. S. 95 f.; die Tabelle, die in den Anlagen zu den Motiven der StPO, in: Hahn (Hrsg.), Materialien zur StPO, Bd. III/1, S. 324 f., abgebildet ist, gibt zudem an, in welchen Partikularstaaten zum Zeitpunkt des Entwurfs der Reichsstrafprozessordnung überhaupt keine Berufung resp. Appellation vorgesehen war.
B. Die Beschränkung der Revision auf Rechtsfragen
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Denkbar ist freilich auch, dass der Appellation schon zuvor insgesamt nur eine rudimentäre Bedeutung zugekommen war.
3. Die Überprüfbarkeit tatrichterlicher Sachverhaltsfeststellungen nach der Reichsstrafprozessordnung a) Die Urteilsbegründungspflicht des Tatrichters nach dem Entwurf der Strafprozessordnung Mit dem Inkrafttreten der Strafprozessordnung für das gesamte Deutsche Reich am 1. Oktober 1879 wurden die partikularen Strafverfahrensvorschriften allerdings weitestgehend außer Kraft gesetzt.861 Obwohl die Reichsstrafprozessordnung dabei auf einem aus dem preußischen Justizministerium stammenden Entwurf beruhte und teilweise unübersehbare Parallelen zu der preußischen Strafverfahrensordnung aufwies,862 hatte sich erstaunlicherweise bereits in den entsprechenden Entwürfen die Ansicht durchgesetzt, dass neben den Schwurgerichten auch die übrigen erstinstanzlichen Spruchkörper nicht verpflichtet werden könnten, Gründe für ihre Tatsachenfeststellungen (also die subjektiven Beweisgründe bzw. die Beweiswürdigung) anzugeben. Während also noch § 22 Abs. 2 Satz 3 der preußischen Verordnung vom 3. Januar 1849863 ausdrücklich bestimmte, dass der Richter ungeachtet der freien Beweiswürdigung „verpflichtet [ist], die Gründe, welche ihn dabei geleitet haben, in dem Urtheile anzugeben“, enthielt der Entwurf der Strafprozessordnung für das Deutsche Reich keine vergleichbare Vorschrift. Dabei sollte es auch bei der endgültigen Fassung der Reichsstrafprozessordnung bleiben. Die Frage, „inwieweit die Urtheile die Gründe, auf denen sie beruhen, angeben müssen“, wird dabei in den Motiven zur Strafprozessordnung durchaus umfassend diskutiert.864 Die letztendliche Entscheidung, von den erkennenden Gerichten keine Begründung ihrer Beweiswürdigung zu verlangen, – die im ausdrücklichen Widerspruch zu den Regelungen vieler deutscher Partikularstaaten stand865 – wurde dort letztlich mit einem Wandel der Natur der Beweisgründe gerechtfertigt: Im klassischen Inquisitionsverfahren nämlich galt eine Tatsache nur dann als bewiesen, wenn sie den Anforderungen einer gesetzlichen Beweisnorm genügte. 861
§ 6 EGStPO i. d. F. vom 1. Februar 1877, RGBl. 1877, 346. Für eine konzise Darstellung der Entwurfsgeschichte der StPO vgl. S. 106, 108. Für ein Beispiel für die Parallelen zwischen der preußischen Strafverfahrensordnung und der RStPO vgl. die Vorschriften betreffend der Nichtigkeitsbeschwerde, dargestellt auf S. 103 ff. – aber auch die Vorschriften betreffend der freien Beweiswürdigung in Preußen und im Deutschen Reich, S. 170 Fn. 832. 863 Verordnung vom 3. Januar 1849 (S. 99 Fn. 410). 864 Motive zur StPO, in: Hahn (Hrsg.), Materialien zur StPO, Bd. III/1, S. 210. 865 Lediglich die Strafprozessordnungen von Braunschweig, Lübeck, Bremen, Hamburg und Württemberg verlangten keine Angabe von Beweisgründen, Glaser, Lehre vom Beweis, S. 31. 862
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Insofern setzte der Beweis einer Tatsache voraus, dass eine erforderliche Mehrheit der Richter die Voraussetzungen der einschlägigen gesetzlichen Beweisregeln als erfüllt ansah. Demnach stellten die Beweisgründe – also die Gründe dafür, warum eine Tatsache als bewiesen angesehen wurde – keine Frage des subjektiven Dafürhaltens des Tatrichters dar, sondern vielmehr eine Frage der Rechtsanwendung, die unmittelbar anhand einer konkreten Rechtsnorm zu beantworten war.866 Anders als heute stellte die Frage, ob eine Tatsache als bewiesen galt oder nicht, unter Geltung der gesetzlichen Beweisregeln demnach keine Tatfrage dar, sondern eine originäre Rechtsfrage, deren Beantwortung der Richter nachvollziehbar darzulegen hatte. Durch die Einführung der freien Beweiswürdigung wurde jedoch die rechtliche Natur dieser Beweisgründe beseitigt, da sie den Richter von den normativen Grenzen der Beweisregeln freistellte und ihn ausschließlich auf seine Überzeugung verwies. Eine Tatsache galt nunmehr also bereits dann als bewiesen, wenn der Richter von ihrer Richtigkeit überzeugt war – eine Übereinstimmung seiner Überzeugung mit irgendwie gearteten gesetzlichen Beweisregeln wurde gerade nicht mehr vorausgesetzt. Mithin waren die Gründe, die der richterlichen Tatsachenfeststellung zugrunde lagen, von da an rein tatsächlicher und nicht mehr rechtlicher Natur. Die Frage, ob eine Tatsache als bewiesen anzusehen war, wurde somit zu einer – von der Rechtsfrage zu unterscheidenden – Tatfrage. Die Beantwortung der Tatfrage sollte jedoch nach den Motiven aufgrund der nachfolgenden Erwägungen keiner Begründung durch den Richter bedürfen. Während nämlich ursprünglich noch dasjenige als materiell wahr galt, was den Voraussetzungen der gesetzlichen Beweisregeln entsprach,867 richtete sich die materielle Wahrheit nunmehr nach der persönlichen Überzeugung des Richters. Da die materielle Wahrheit ungeachtet dessen der tatsächlichen Wahrheit entsprechen sollte, von der es aber denklogisch nur eine geben kann, wurde gefolgert, dass die Antwort auf die Tatfrage – also die Frage, welches tatsächliche Geschehen als bewiesen galt – auch bei Kollegialgerichten, unabhängig davon, wie viele Richter man befragte, stets dieselbe sein musste. Ein Richter, der zu einer abweichenden Überzeugung gelangte, musste sich damit zwingend irren. Diese Prämisse galt nach den Motiven allerdings nicht auch für die Gründe, die der konkreten Beantwortung der Tatfrage zugrunde lagen. Da Tatsachenfeststellungen nicht mehr bloß das Ergebnis schlichter Rechtsanwendung, sondern das Ergebnis einer höchstpersönlichen Überzeugung des Richters darstellten, so die Motive, sei es „völlig zulässig und kommt auch häufig genug vor“, dass alle zur Entscheidung berufenen Richter von der „Wahrheit einer Thatsache“ überzeugt sind und folglich die Tatfrage identisch beantworten, aber zugleich „in den Gründen, aus 866
Vgl. Motive zur StPO, in: Hahn (Hrsg.), Materialien zur StPO, Bd. III/1, S. 210. Freilich lag schon hierin ein unlösbarer Widerspruch, da die materielle Wahrheit der tatsächlichen Wahrheit entsprechen sollte. Folglich konnte etwas nur materiell wahr sein – nicht jedoch als materiell wahr gelten, da die tatsächliche Wahrheit keiner gesetzlichen Fiktion zugänglich sein kann. 867
B. Die Beschränkung der Revision auf Rechtsfragen
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denen sie zu dieser Ueberzeugung gelangt sind, von einander abweichen“.868 Wenn aber die Gründe der einzelnen Richter eines Kollegialgerichts, die einer Feststellung zugrunde liegen, voneinander abweichen konnten, so die Motive weiter, sei die Forderung, dass die Gerichte neben den Feststellungen auch die unterschiedlichen Gründe für die Überzeugung ihrer Mitglieder im Urteil angeben sollen, „nicht selten geradezu unerfüllbar“.869 Zudem verwiesen die Motive darauf, dass in den Partikularstaaten, in denen auch die Beweisgründe in die Urteilsniederschrift aufzunehmen sind, „[…] zwischen der Urtheilsfällung und der Abfassung der Urtheilsgründe regelmäßig mehrere Tage in der Mitte liegen, weil diese Abfassung der Gründe, sobald sie sich auch auf die B e w e i s g r ü n d e erstreckt, eine zeitraubende und zu große Arbeit ist, als daß sie schon bei der Berathung des Urtheils oder alsbald nach der Sitzung unternommen und beendet werden könnte“.870
Aufgrund dieses zusätzlichen Zeitaufwandes von mehreren Tagen (!) könne sich der Verfasser des schriftlichen Urteils oftmals kaum noch an die Beweisgründe anderer Richter des Kollegialgerichts erinnern. Des Öfteren könne er sich nicht einmal an die Gründe erinnern, die seiner eigenen Entscheidung zugrunde lagen, sodass er diesbezüglich regelmäßig das Sitzungsprotokoll konsultieren müsse, das den wesentlichen Inhalt der Zeugenaussagen enthalte. Deshalb stellten Beweisgründe, sofern sie nach dem bisherigen Partikularrecht anzugeben waren, „genau genommen nur e i n R e f e r a t über den Inhalt der Zeugenaussagen oder die sonstigen Beweisergebnisse“ dar, wobei nur selten dargelegt werde, in „welcher Art die Ueberzeugung der Richter auf Grund dieser Beweisergebnisse entstanden sei“.871 Darüber hinaus gaben die Motive zu bedenken, „daß es in der That häufig unmöglich ist, durch eine schriftliche Darstellung zu veranschaulichen, wie diejenige Geistesoperation sich vollzogen hat, aus welcher schließlich die Ueberzeugung hervorging“.872 So heißt es in den Motiven zu dem Ausschluss einer Beweisbegründungspflicht des Tatrichters weiter: „Auf diesen Erwägungen beruht die Vorschrift im Abs. 1 des § 225, deren Inhalt sich dahin zusammenfassen lässt, daß das Urtheil die o b j e k t i v e n thatsächlichen Entscheidungsgründe, nicht aber s u b j e k t i v e n Beweisgründe enthalten müsse“.873 Der Ausdruck objektive Entscheidungsgründe beschrieb hierbei die der Rechtsanwendung zugrunde liegenden Gründe, ergo die dem Urteil zugrunde liegenden Tatsachenfeststellungen; mit dem Begriff subjektive Beweisgründe hingegen bezeichneten die Motive die Gründe, auf die der Richter 868 869 870 871 872 873
Motive zur StPO, in: Hahn (Hrsg.), Materialien zur StPO, Bd. III/1, S. 210. Motive zur StPO, in: Hahn (Hrsg.), Materialien zur StPO, Bd. III/1, S. 210. Motive zur StPO, in: Hahn (Hrsg.), Materialien zur StPO, Bd. III/1, S. 210 f. Motive zur StPO, in: Hahn (Hrsg.), Materialien zur StPO, Bd. III/1, S. 211. Motive zur StPO, in: Hahn (Hrsg.), Materialien zur StPO, Bd. III/1, S. 211. Motive zur StPO, in: Hahn (Hrsg.), Materialien zur StPO, Bd. III/1, S. 211.
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2. Kap.: Eine historische Betrachtung der Entwicklung der Revision
seine Überzeugung von der Richtigkeit der von ihm festgestellten Tatsachen stützte, also vor allem eine Darstellung der tatrichterlichen Beweiswürdigung.874 So lautete § 225 Abs. 1 des Entwurfs, auf dem schlussendlich der § 266 Abs. 1 RStPO (und der heutige § 267 Abs. 1 StPO) beruhte: „Wird der Angeklagte verurtheilt, so müssen die Urtheilsgründe die für erwiesen erachteten Thatsachen angeben, in welchen die gesetzlichen Merkmale der strafbaren Handlung gefunden werden“. Verlangt war also nur, dass der Tatrichter in seinen Urteilsgründen den Sachverhalt wiedergab, der sich nach seiner Überzeugung zugetragen hatte und deshalb der Subsumtion zugrunde zu legen war. Warum oder gar aufgrund welcher Beweismittel er diese Tatsachen für erwiesen erachtete, hätte er demnach in den Urteilsgründen gerade nicht angeben müssen.875 Auch die Absätze 2 bis 4 des § 225 sahen keine Beweisbegründungspflicht des Tatrichters vor.876 b) Erweiterung der tatrichterlichen Urteilsbegründungspflicht durch die Reichsjustizkommission Die in den Motiven dargelegten Erwägungen fanden auch in der Justizkommission des Reichstages weitestgehende Zustimmung. Lediglich für den Fall, dass der Richter nicht unmittelbar von einer Tatsache überzeugt war (etwa weil er der Aussage des Zeugen, dass er gesehen habe, wie A das Opfer B getötet hat, Glauben geschenkt hat), sondern diese Tatsache bloß aus Indiztatsachen gefolgert hatte (etwa weil er aus einer Gesamtbetrachtung verschiedener Beweismittel folgert, dass A den B getötet haben muss, auch wenn keines dieser Beweismittel diesen Tathergang unmittelbar beweist), verlangte die Reichsjustizkommission, dass der Richter verpflichtet werden sollte, in den Urteilsgründen auch diese Indiztatsachen anzugeben.877 Nur so könne ein anderes Gericht, das dieselbe Sache im Rahmen einer Berufung oder einer Wiederaufnahme des Verfahrens in tatsächlicher Hinsicht erneut verhandelt, erkennen, ob der erstinstanzliche Richter eine Tatsache unmittelbar für erwiesen erachtet oder lediglich aufgrund von Indizien eine mittelbare Überzeugung von der Tatsache erlangt hat.878 Zudem sollte die Pflicht zur Angabe von Indiztat874 Dies folgt unmissverständlich aus den Erwägungen in den Motiven zur StPO, in: Hahn (Hrsg.), Materialien zur StPO, Bd. III/1, S. 210 f. 875 So auch Kühne, Strafprozessrecht, Rn. 1000, in Bezug auf § 267 Abs. 1 StPO. 876 Abs. 2 des § 225 entsprach im Wesentlichen dem heutigen § 267 Abs. 2 StPO. § 225 Abs. 3 wiederum enthielt eine Vorschrift ähnlich dem heutigen § 267 Abs. 3 Satz 1 sowie Satz 2 Halbsatz 1 StPO. Abs. 4 des § 225 schließlich entsprach dem heutigen § 267 Abs. 5 Satz 1 StPO; zu einer ausführlicheren Analyse der entsprechenden Vorschriften der StPO vgl. S. 218 ff. 877 Bericht der Kommission, in: Hahn (Hrsg.), Materialien zur StPO, Bd. III/2, S. 1588 f. Zu einer ausführlichen Erläuterung des Abs. 1 Satz 2 des § 267 StPO vgl. S. 220 ff. Vgl. aber auch § 225 Abs. 1 Satz 2 in den Fassungen des Entwurfs der StPO nach der ersten und der zweiten Lesung der Reichsjustizkommission, in: Hahn (Hrsg.), Materialien zur StPO, Bd. III/2, S. 2262 f.; § 266 Abs. 1 Satz 2 RStPO; § 267 Abs. 1 Satz 2 StPO. 878 Bericht der Kommission, in: Hahn (Hrsg.), Materialien zur StPO, Bd. III/2, S. 1588.
B. Die Beschränkung der Revision auf Rechtsfragen
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sachen verhindern, dass die Gerichte, statt in schwierigen Fällen den subsumtionsrelevanten Lebenssachverhalt umfassend festzustellen, sich darauf beschränken, in den Urteilsgründen bloß die gesetzlichen Voraussetzungen des Tatbestandes zu wiederholen.879 Die auf diesen Erwägungen zurückgehende, endgültige und mit dem heutigen § 267 Abs. 1 Satz 1 und 2 StPO übereinstimmende Fassung der Vorschrift im § 266 Abs. 1 RStPO lautete damit: „Wird der Angeklagte verurtheilt, so müssen die Urtheilsgründe die für erwiesen erachteten Thatsachen angeben, in welchen die gesetzlichen Merkmale der strafbaren Handlung gefunden werden. Insoweit der Beweis aus anderen Thatsachen gefolgert wird, sollen auch diese Thatsachen angegeben werden.“880
Demnach war der Tatrichter zwar verpflichtet, in den Urteilsgründen neben den von ihm als erwiesen erachteten (Haupt-)Tatsachen auch die Indiztatsachen anzugeben, aus denen er die Haupttatsachen gefolgert hatte, doch war er – anders als etwa nach § 22 Abs. 2 der preußischen Verordnung vom 3. Januar 1849881 – gerade nicht mehr verpflichtet, in den Urteilsgründen auch darzulegen, warum er den von ihm festgestellten Sachverhalt für erwiesen erachtet hat. Ohne diese Angabe von Beweisgründen waren die tatrichterlichen Sachverhaltsfeststellungen freilich auch einer höherinstanzlichen Nachprüfung nicht mehr ohne Weiteres zugänglich. c) Analyse der Gründe für das Absehen von einer Beweisbegründungspflicht des Tatrichters Die von den Motiven angeführten Gründe gegen eine Angabe von subjektiven Beweisgründen sind bei genauerer Betrachtung jedoch wenig überzeugend. Schon das Argument, die Angabe von Beweisgründen verzögere die Urteilsniederschrift um mehrere Tage, weshalb es dem Urteilsverfasser unmöglich sei, sich hinreichend an diese zu erinnern, erscheint wenig plausibel. Es ist wohl vielmehr davon auszugehen, dass ein Urteilsverfasser, der sich des Umfangs seiner Aufgabe bewusst ist, darum bemüht sein wird, sich dieser Gründe fortwährend zu vergegenwärtigen und sie letztlich, wenn auch mit einigen Tagen Abstand, schriftlich niederzulegen. Eine damit einhergehende mögliche Verzögerung der Urteilsniederschrift stellt angesichts der hierdurch erreichbaren Selbstkontrolle des Gerichts und der höheren Transparenz der gerichtlichen Entscheidungsfindung wohl nur ein geringes und hinnehmbares Übel dar. Gerade die in den Motiven zum Ausdruck gebrachte Sorge, dass die Urteilsniederschrift sich dadurch um mehrere Tage (!) verzögern könnte, wirkt aus heutiger Perspektive kurios, da mittlerweile zwischen der Urteilsverkündung und der 879 Vgl. Protokolle der Kommission, in: Hahn (Hrsg.), Materialien zur StPO, Bd. III/1, S. 876. 880 § 266 der Strafprozeßordnung vom 1. Februar 1877, RGBl. 1877, 253. 881 Verordnung vom 3. Januar 1849 (S. 99 Fn. 410).
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2. Kap.: Eine historische Betrachtung der Entwicklung der Revision
Urteilsniederschrift schon von Rechts wegen mindestens fünf Wochen (35 Tage!) liegen dürfen.882 Inkonsequent wirkt auch die Entscheidung der Reichsjustizkommission, von dem Richter in den Urteilsgründen lediglich die Angabe von Indiztatsachen zu fordern. Zwar ist die Erwägung, dass das Gericht hierdurch dazu angehalten würde, seinen eigenen Beweiswürdigungsprozess nachzuprüfen, durchaus zutreffend, doch beschränkt sich die hierdurch ausgelöste Selbstkontrolle des Gerichts darauf, dass es sich vergegenwärtigt, dass es eine Tatsache nur aufgrund von Indizien für erwiesen erachtet hat. Wäre der Richter jedoch auch dazu verpflichtet worden, in den Urteilsgründen auszuführen, welche subjektiven Gründe seiner Überzeugung zugrunde liegen, wäre das Gericht gezwungen gewesen, seine Beweiswürdigung auch für Außenstehende plausibel darzulegen. Eine solche Beweisbegründungspflicht hätte das Gericht also dazu anhalten können, sich selbst zu vergegenwärtigen, ob seine Überzeugung auf rationalen und objektiv nachvollziehbaren Gründen beruht oder bloß das Ergebnis eines diffusen und irrationalen Totaleindruckes darstellt. Sofern die Motive hiergegen anführen, dass es unmöglich sei, die Gründe für die persönliche Überzeugung eines jeden Richters in dem Urteil wiederzugeben,883 ist dem entgegenzuhalten, dass das Gericht auch verpflichtet ist, in dem Urteil die Indiztatsachen wiederzugeben, obwohl nicht ausgeschlossen werden kann, dass die einzelnen Richter eines Kollegialgerichts aufgrund unterschiedlicher Indizien zu ihrer Überzeugung von einer Haupttatsache gelangt sein konnten. Ohnehin geht es bei der Beweisbegründungspflicht nicht darum, alle in dem Spruchkörper vorhandenen Gründe für die Richtigkeit einer Tatsache in dem Urteil aufzuzählen, sondern die tragenden Beweisgründe für eine tatrichterliche Sachverhaltsfeststellung nachvollziehbar darzulegen – das dies durchaus möglich ist, zeigen die Urteile der heutigen Strafgerichte, die entsprechend der höchstrichterlichen Anforderungen in ihren Urteilsgründen sehr wohl auch ihre Beweiswürdigung darlegen (müssen). d) Das Absehen von einem vollumfassenden Rechtsmittel zur Wahrung der Integrität tatrichterlicher Feststellungen Da das tatrichterliche Urteil nach den Vorstellungen des historischen Gesetzgebers also lediglich die für erwiesen erachteten subsumtionsrelevanten (Haupt-)Tatsachen und gegebenenfalls die Indiztatsachen, aus denen diese Haupttatsachen gefolgert wurden, wiedergeben musste, waren die Möglichkeiten einer überinstanzlichen Kontrolle dieser Urteile bereits faktisch erheblich eingeschränkt. Eine Überprüfung der Tatsachenfeststellungen durch eine höhere Instanz setzt nämlich voraus, 882
Vgl. nur § 275 Abs. 1 Satz 2 Halbsatz 2 StPO. Zwar ist der Richter gem. § 275 Abs. 1 Satz 1 StPO verpflichtet, das Urteil „unverzüglich“ zu den Akten zu bringen, doch kann die Ausschöpfung der im § 275 niedergelegten Fristen nicht mit der Revision gerügt werden, BGHSt 29, 43, sodass die gesetzgeberische Anordnung der Unverzüglichkeit nur deklaratorischer Natur ist. 883 Vgl. Motive zur StPO, in: Hahn (Hrsg.), Materialien zur StPO, Bd. III/1, S. 210.
B. Die Beschränkung der Revision auf Rechtsfragen
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dass dem Urteil auch die Gründe zu entnehmen sind, die den Richter bei seiner freien Beweiswürdigung geleitet haben. So führte bereits Mittermaier, wenn auch in einem anderen Kontext, 1834 aus: „Entscheidungsgründe, welche die Richter für ihr Urtheil zu geben haben, und Appellationsbefugniss [sic!] an ein höheres Tribunal sind zwei unzertrennliche Merkmale der Urtheilsfällung durch rechtsgelehrte Richter“.884 Die bloße Angabe der für erwiesen erachteten Tatsachen erlaubt einem höheren Gericht lediglich – sofern es nicht in eine Rekonstruktion der Hauptverhandlung eintreten sollte –, das Urteil dahingehend zu überprüfen, ob das materielle Recht auf die im tatrichterlichen Urteil festgestellten Tatsachen fehlerfrei angewandt worden ist. Die Überprüfung, ob denn die Tatsachenfeststellung selbst frei von Fehlern war, setzt dagegen zwingend voraus, dass das Urteil auch die Gründe angibt, auf die sich die tatrichterliche Überzeugung stützt. Demnach war nach der Konzeption, die der Entwurf der Strafprozessordnung für die Urteilsbegründung vorsah – und auch tatsächlich geltendes Recht wurde –, eine vollumfassende Überprüfung der tatrichterlichen Urteile durch ein höheres Gericht praktisch ausgeschlossen. So heißt es zu einer vollumfassenden Appellation in den Motiven zur Strafprozessordnung auch, dass ein solches Rechtsmittel „[…] mit dem Prinzip einer auf mündlicher Verhandlung beruhenden Urtheilsfällung, und zwar einer solchen, die nicht auf dem Grunde positiver Beweisregeln, sondern auf einer freien Beweiswürdigung beruht, […] grundsätzlich unvereinbar ist, und daß darum nur derjenige Gesetzgeber die volle Konsequenz der Mündlichkeit zieht, der die Appellation beseitigt.“885
Die Regelungen in manchen partikularen Strafverfahrensgesetzen, einschließlich der preußischen Strafverfahrensordnung,886 die trotz der Einführung der freien Beweiswürdigung und des Mündlichkeitsprinzips an einer Appellation festgehalten hatten, wurden von den Motiven als ein Versuch begriffen, „zwischen dem richtigen Grundsatze und der Herrschaft einer althergebrachten, nicht mehr zutreffenden Tradition zu paktieren, und sich mit beiden abzufinden“.887 So wiesen sie darauf hin, dass gegen die Urteile der Schwurgerichte eine Berufung seit jeher als unzulässig erachtet worden war, weil man sie dort „für unvereinbar mit einem Urtheil erkannte, welches auf dem mittels freier Beweiswürdigung gefundenen Wahrspruch der Geschworenen beruht“.888 Dass auch für die im Wege freier Beweiswürdigung getroffenen Feststellungen der sonstigen Gerichte nichts anderes gelten könne, bringen die Verfasser des Entwurfs vor allem in der Anlage zu den Motiven deutlich zum Ausdruck:
884 885 886
S. 95. 887 888
Mittermaier, Die Lehre vom Beweise, S. 93. Motive zur StPO, in: Hahn (Hrsg.), Materialien zur StPO, Bd. III/1, S. 242. Zum zeitgenössischen Stand der Appellation in den deutschen Partikularstaaten vgl. Motive zur StPO, in: Hahn (Hrsg.), Materialien zur StPO, Bd. III/1, S. 242. Motive zur StPO, in: Hahn (Hrsg.), Materialien zur StPO, Bd. III/1, S. 242.
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2. Kap.: Eine historische Betrachtung der Entwicklung der Revision
„[I]n einem Strafprozesse, in welchem die Anwendung des Strafgesetzes nicht mehr auf Grund schriftlicher Akten und nach bestimmten Beweisregeln erfolgen, sondern auf Grund einer mündlichen Verhandlung und der daraus geschöpften, durch keine gesetzliche Beweislehre eingeschränkten Ueberzeugung erfolgen sollte, schien für die Appellation im Sinne des alten Prozesses eigentlich kein Raum mehr vorhanden zu sein, und man hätte meinen sollen, daß mit dem zur Herrschaft gelangenden mündlichen Strafprozesse die Herrschaft der Appellation gleichzeitig hätte ihr Ende finden müssen. Man war jedoch so sehr daran gewöhnt, die Appellation als eine nicht zu entbehrende Sicherheitsmaßregel für den Angeschuldigten zu betrachten, daß man nicht den Muth hatte, die volle Konsequenz des neuen Prinzips zu ziehen und mit ihm die Appellation geradezu aufzugeben. Nur insoweit, als man Geschworene in dem neuen Verfahren mitwirken ließ, war man über den Wegfall einer ordentlichen zweiten Instanz einverstanden.“889
Deshalb sah noch der Entwurf der Strafprozessordnung gegen erstinstanzliche Urteile der Strafgerichte lediglich eine auf die Überprüfung der Rechtsanwendung beschränkte Appellation (eine „Rechtsberufung“) vor, die um der einheitlichen Terminologie mit der Zivilprozessordnung willen als Revision bezeichnet wurde.890 Bei diesem an den französischen Kassationsrekurs891 angelehnten Rechtsbehelf handelte es sich jedoch tatsächlich bloß um eine revisio in iure892, eigentlich also eine Rechtsrevision, die statt einer vollumfassenden revision (also Durchsicht) der Sache lediglich eine Nachprüfung der Rechtsanwendung durch die Vorinstanz gestattete.893 Die insofern irreführende Bezeichnung „Revision“ wurde zu jener Zeit ausweislich der Begründung zur Zivilprozessordnung allein deshalb gewählt, weil man nicht in der Lage gewesen war, einen besseren Ausdruck zu finden.894 In besonderer Deutlichkeit stellten die Motive dabei klar, dass sowohl die tatrichterlichen Sachverhaltsfeststellungen als auch die Beweiswürdigung, auf der die Feststellungen beruhen, von einer Nachprüfung durch die Revisionsinstanz ausgenommen sein sollten: 889 Anlagen zu den Motiven der StPO, in: Hahn (Hrsg.), Materialien zur StPO, Bd. III/1, S. 305. 890 Motive zur StPO, in: Hahn (Hrsg.), Materialien zur StPO, Bd. III/1, S. 250. 891 Ausführlich zum Kassationsrekurs vgl. S. 92 ff. 892 Zu dem Begriff der revisio in iure vgl. Begründung zur ZPO, in: Hahn (Hrsg.), Materialien zur ZPO, Bd. II/1, S. 141 f.; zu den Anleihen der strafrechtlichen Revision bei ihrem zivilrechtlichen Pendant, Motive zur StPO, in: Hahn (Hrsg.), Materialien zur StPO, Bd. III/1, S. 250. 893 Vgl. hierzu schon die Motive zur StPO, in: Hahn (Hrsg.), Materialien zur StPO, Bd. III/1, S. 249 f. 894 So ist der Begründung zur ZPO, in: Hahn (Hrsg.), Materialien zur ZPO, Bd. II/1, S. 142, zu entnehmen, dass für das beschränkte letztinstanzliche Rechtsmittel die Bezeichnung „Revision“ gewählt wurde, „[…] weil man einen besseren Ausdruck nicht zu finden vermochte. Den in den neueren deutschen Gesetzgebung üblich gewordenen, wenngleich der Sache nicht entsprechenden Ausdruck ,Nichtigkeitsbeschwerde‘ wollte man meiden, weil er zu sehr an den Kassationsrekurs des französischen Rechts erinnert, mit diesem aber der Sache und den Formen nach vollständig gebrochen werden sollte“. Eine bessere und naheliegendere Bezeichnung wäre insofern wohl die Bezeichnung „Rechtsbeschwerde“ gewesen.
B. Die Beschränkung der Revision auf Rechtsfragen
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„Aus demjenigen, was oben über die Nothwendigkeit der Beseitigung der Appellation gesagt worden ist, ergiebt sich, daß die rein thatsächliche Würdigung des Straffalls, also namentlich die Würdigung der erbrachten Beweise, von der Thätigkeit des höheren Richters ausgeschlossen bleiben muß. Diese Würdigung ist dem Richter erster Instanz ausschließlich überlassen, und das von diesem festgestellte thatsächliche Ergebniß ist für die höhere Instanz maßgebend, insoweit dasselbe nicht etwa im Wege eines gesetzwidrigen Verfahrens gewonnen worden ist. Die Aufgabe des höheren Richters besteht nur in der r e c h t l i c h e n Beurtheilung der Sache“.895
An anderer Stelle der Motive heißt sogar noch deutlicher: „[…] [A]lle thatsächlichen Erörterungen sind von der Thätigkeit des Revisionsrichters ausgeschlossen. Derselbe ist ebensowenig zu einer Aenderung der thatsächlichen Feststellungen befugt, wie zur Vornahme einer neuen Feststellung. Auch eine bloße Ergänzung der ersteren steht ihm nicht zu, und zwar selbst dann nicht, wenn der dem Urtheil innewohnende Mangel in der bloßen Omission einer zweifellos erscheinenden Thatsache besteht [Hervorh. d Verf.].“896
Ganz offensichtlich knüpften die Verfasser des Entwurfs damit an eine Vorstellung der freien Beweiswürdigung an, die vor der Märzrevolution vorgeherrscht hatte und die freie Beweiswürdigung als einen radikal-subjektiv ablaufenden Prozess begriff, der weder einer objektiven Begründung noch einer Nachprüfung zugänglich war.897 Die nach 1848 erfolgten Entwicklungen in der Rechtswissenschaft und Rechtspraxis, welche die freie Beweiswürdigung – trotz des subjektiven Momentes, den sie in sich trägt – als einen Prozess rationaler Überzeugungsbildung erkannt hatten, der sogar zwingend einer Appellation zugänglich sein sollte,898 blendeten die Motive dabei vollständig aus. Dieser radikale Schnitt mit den Entwicklungen der deutschen Rechtswissenschaft und der partikularrechtlichen Rechtspraxis in den vorangegangenen Jahrzehnten verlangte offensichtlich einiges an Begründungsaufwand ab. So befassen sich nicht nur zwei Seiten in den Motiven mit den Gründen für die „Beseitigung der Berufungsinstanz“,899 sondern auch eine 82 Seiten umfassende Anlage, die den Motiven beigegeben war („Die Berufungsinstanz im Strafverfahren“900).
895
Motive zur StPO, in: Hahn (Hrsg.), Materialien zur StPO, Bd. III/1, S. 249 f. Motive zur StPO, in: Hahn (Hrsg.), Materialien zur StPO, Bd. III/1, S. 258 f. 897 Vgl. S. 134 f., 150 ff.; ähnl. auch Schmitt, Die richterliche Beweiswürdigung im Strafprozeß, S. 506. 898 Vgl. S. 157 ff. 899 Motive zur StPO, in: Hahn (Hrsg.), Materialien zur StPO, Bd. III/1, S. 242 ff. 900 Vgl. Anlagen zu den Motiven der StPO, in: Hahn (Hrsg.), Materialien zur StPO, Bd. III/ 1, S. 303 ff. Wesentliche Erwägungen aus der Anlage sind in sehr gedrängter Fassung auf den S. 193 ff. der vorliegenden Schrift wiedergegeben. 896
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2. Kap.: Eine historische Betrachtung der Entwicklung der Revision
C. Gründe für die Existenz der Berufung gegen amtsgerichtliche Urteile Angesichts der vorgenannten gesetzgeberischen Erwägungen, die einer vermeintlich zwingenden Ausgestaltung der Revision als ein beschränktes Rechtsmittel zugrunde liegen, erscheint es bemerkenswert, dass der historische Gesetzgeber ausgerechnet gegen Urteile der Amtsgerichte mit der Berufung ein auch die Tatfragen umfassendes Rechtsmittel zugelassen hat. Zumal gerade diese gesetzgeberische Entscheidung zu einer wenig systematischen Ausgestaltung des Rechtsmittelrechts in Strafsachen geführt hat. So wurde dem Angeklagten damit ausschließlich in den leichten Strafsachen, in denen er in der Regel allenfalls eine Gefängnisstrafe901 von drei Monaten oder eine Geldstrafe von höchstens 600 Mark902 zu erwarten hatte, ein vollumfassendes Rechtsmittel zur Verfügung gestellt, während er in den mittelschweren und schweren Strafsachen, die deutlich schwerere Strafen nach sich ziehen konnten, auf die Revision verwiesen wurde, die angesichts ihrer Beschränkung auf die Rechtsfragen wohl treffender als „Rechtsbeschwerde“ bezeichnet worden wäre.903 Über eine ähnliche Ausgestaltung des Rechtsmittelrechts in einem preußischen Entwurf hatte sich der preußische Obertribunalrat904 von Tippelskirch bereits im Jahr 1865 irritiert gezeigt. So führte er aus, dass nicht nachzuvollziehen sei, „[…] weshalb es zur Abstellung von Formwidrigkeiten und Rechtsirrthümern bei Vergehen und Uebertretungen z w e i Rechtsmittel (Appellation und Nichtigkeitsbeschwerde), bei den ungleich wichtigeren Verbrechen […] aber nur e i n e s (die Nichtigkeitsbeschwerde) geben […] soll!“.905
Bei näherer Betrachtung stellt sich die Kritik von von Tippelkirch zwar als unbegründet dar, da der besagte preußische Entwurf, der letztlich in dem Gesetz vom 25. Juni 1867 mündete, die berufungsähnliche Appellation lediglich gegen Entscheidungen der Schwurgerichte ausschloss, im Übrigen aber gegen alle Urteile sowohl eine Appellation als auch gegen die Appellationsentscheidung eine mit der Revision vergleichbare Nichtigkeitsbeschwerde zugelassen hatte.906 Ungeachtet 901 Zu einer ausführlichen Erklärung der freiheitsentziehenden Maßnahmen, die dem RStGB noch zugrunde lagen, vgl. S. 143 Fn. 680. 902 Zum Vergleich: Die Kaufkraft von 600 Mark im Jahr 1877 entsprach 2018 etwa einer Kaufkraft 4.020 Euro, vgl. hierzu Bundesbank, Kaufkraftäquivalente historischer Beträge in deutschen Währungen, Online-Quelle. 903 Vgl. hierzu auch S. 184 Fn. 894. 904 Obertribunalrat war die Amtsbezeichnung der Richter am Preußischen Obertribunal, dem obersten preußischen Gerichtshof. 905 Tippelskirch, DGZ (7) 1865, 75, 76. 906 Vgl. hierzu § 364 Abs. 1 Nr. 1 der Strafprozessordnung nach der Verordnung betreffend das Strafrecht und Strafverfahren in den durch das Gesetz vom 20. September 1866 und die beiden Gesetze vom 24. Dezember 1866 mit der Monarchie vereinigten Landestheilen, mit
C. Gründe für die Existenz der Berufung
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dessen ist von Tippelskirchs grundsätzliche Kritik, dass es nicht ohne Weiteres einleuchtend ist, warum ausgerechnet in den vergleichsweise geringfügigen Strafsachen zwei Rechtsmittel, davon das erste mit der Möglichkeit einer vollumfassenden Neuverhandlung, gegeben sind, während in den schwerwiegenden Sachen lediglich ein beschränktes Rechtsmittel zur Verfügung steht, durchaus nachvollziehbar.
I. Die Besetzungsstärke der Strafkammer als unzureichende Begründung für die fehlende Berufung in nicht amtsgerichtlichen Strafsachen Eine häufig zu vernehmende Begründung für die Existenz der Berufung in amtsgerichtlichen Strafsachen lautet, dass Landgerichte und Oberlandesgerichte in erster Instanz regelmäßig stärker besetzt seien als die amtsgerichtlichen Spruchkörper, was eine sorgfältigere Sachverhaltsaufklärung und Urteilsfindung ermögliche; deshalb sei bei Urteilen dieser Gerichte eine zweite Tatsacheninstanz überflüssig.907 Doch von der Quantität der Entscheidungsträger auf die Qualität einer Entscheidung schließen zu wollen, ist bei näherer Betrachtung wenig zielführend. Diese Form der Argumentation läuft stets auf die Feststellung hinaus, dass sich die Wahrscheinlichkeit für eine Fehlentscheidung durch die Einbindung von weiteren Personen in den Entscheidungsfindungsprozess senken lasse. Wenn dem aber tatsächlich so wäre, stellt sich die Frage, ob es nicht sinnvoller wäre, die Amtsgerichte von vornherein mit ausreichend Richtern zu besetzen, um eine kostspielige Neuverhandlung in der Berufungsinstanz zu vermeiden – schließlich sind etwa dreiviertel der am Landgericht durchgeführten Strafverfahren Berufungsverfahren.908 Doch schon die im Volksmund üblichen Aussprüche „viele Köche verderben den Brei“ bzw. „zwei Juristen – drei Meinungen“ deuten aber an, warum die Annahme, dass mehr Entscheidungsträger stets zu einer besseren Entscheidung gelängen, nicht zwingend zutreffend sein muss. So weisen Erkenntnisse aus der Gruppenpsychologie darauf hin, dass eine größere Besetzung des Spruchkörpers nicht unbedingt eine bessere Entscheidung bedingen muss. Bei einer solchen Argumentation werden gruppendynamische Prozesse innerhalb des Spruchkörpers, die einen maßgeblichen Einfluss auf die Entschei-
Ausnahme des vormaligen Oberamtsbezirks Meisenheim und der Enklave Kaulsdorf vom 25. Juni 1867, PrGS 1867, 921, 933. 907 In dem Sinne etwa Brunner, KMR, vor § 312 Rn. 4; Kindhäuser, Strafprozessrecht, § 30 Rn. 3; Roxin/Schünemann, Strafverfahrensrecht, § 54 Rn. 4 – wenn auch nicht zustimmend Schroeder/Verrel, Strafprozessrecht, Rn. 302. 908 Die 115 Landgerichte in der Bundesrepublik erledigten etwa im Jahr 2016 insgesamt 58.223 Strafverfahren; 45.289 (ca. 77,79 %) davon waren Berufungsverfahren, Statistisches Bundesamt, Fachserie 10, Reihe 2.3 (2016), Online-Quelle, S. 54.
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dungsfindung haben können, nämlich vollständig ausgeblendet.909 So etwa gilt bei Entscheidungsprozessen innerhalb einer kohäsiven Gruppe das psychologische Phänomen vom „Gruppendenken“ (groupthink) zu berücksichtigen. Demzufolge fallen Entscheidungen in einer Gruppe oftmals extremer aus als Entscheidungen, die ein Individuum allein getroffen hätte. Insbesondere das Phänomen der Gruppenpolarisierung kann hierbei dazu führen, dass unterschiedliche Ansichten der Gruppenmitglieder, welche die gleiche Zielrichtung aufweisen, sich in einer Art und Weise gegenseitig verstärken und summieren, wie es bei einem einzelnen Individuum nicht der Fall gewesen wäre.910 Des Weiteren besteht bei Gruppenentscheidungen die nicht von der Hand zu weisende Gefahr, dass einzelne Individuen der Gruppe ihre berechtigten Zweifel der Gruppenharmonie unterordnen und nicht mehr hinreichend zur Geltung bringen.911 Dieser Drang, einen unerwünschten Input, der dem Gruppenkonsens widerspricht, auszufiltern, ist dabei sogar noch stärker ausgeprägt, wenn der Gruppenkonsens mit dem Standpunkt des Anführers der Gruppe übereinstimmt.912 Gerade die in den Strafkammern vorherrschende faktische Hierarchie (Vorsitzender, Beisitzer, Schöffen) kann hierbei zur Folge haben, dass sich unerfahrene Beisitzer und Schöffen eines Spruchkörpers trotz begründeter Zweifel (auch unbewusst) der Meinung eines erfahrenen und führungsstarken Vorsitzenden beugen, um die Gruppenharmonie nicht zu gefährden. Dabei soll die Gefahr einer Fehlentscheidung aufgrund des „Gruppendenkens“ sogar höher ausfallen, wenn die Mitglieder der Gruppe (a) sich als stark zusammengehörig wahrnehmen, (b) dieselbe Berufsausbildung haben, (c) meinen, aus dem „Bauch heraus“ zu wissen, welche Entscheidung richtig ist, (d) von einer Person geleitet werden, die lieber eine „klare Aussage“ macht, statt Dinge zu zerreden, und (e) die Entscheidung unter starkem Zeitdruck zu treffen haben.913 Die letztgenannten Prämissen dürften erstaunlich genau auf viele richterliche Spruchkörper zutreffen. Die Annahme, dass personalstärkere Spruchkörper an Landund Oberlandesgerichten bei der Feststellung des subsumtionsrelevanten Sachverhalts weniger Fehler machen würden als die schwächer besetzten Spruchkörper an den Amtsgerichten, ist mithin keinesfalls zwingend. Tatsächlich können (!) solche 909
Vgl. hierzu nur Gerrig/Zimbardo/Graf, Psychologie, S. 678; Auer-Rizzi, Entscheidungsprozesse in Gruppen, S. 184 ff.; Nerdinger, Grundlagen des Verhaltens in Organisationen, S. 180 ff. Insbesondere zu Entscheidungsprozessen in Gruppen und ihrer Fehleranfälligkeit aber auch zu dem Phänomen des groupthink, Vogelgesang/Mojzisch/Schulz-Hardt, in: Bierhoff et al. (Hrsg.), Handbuch der Sozialpsychologie, S. 646 ff. mit zahlreichen weiteren Nachweisen. 910 Gerrig/Zimbardo/Graf, Psychologie, S. 678. 911 Gerrig/Zimbardo/Graf, Psychologie, S. 678; Auer-Rizzi, Entscheidungsprozesse in Gruppen, S. 185. 912 Gerrig/Zimbardo/Graf, Psychologie, S. 678. 913 So fast wörtlich Vogelgesang/Mojzisch/Schulz-Hardt, in: Bierhoff et al. (Hrsg.), Handbuch der Sozialpsychologie, S. 649.
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Spruchkörper nicht nur trotz, sondern gerade aufgrund der höheren Anzahl der Richter, Fehler bei der Feststellung des subsumtionsrelevanten Sachverhalts machen, die gravierende Folgen für den Angeklagten haben können. Doch nicht nur gruppenpsychologisch, auch de lege lata ist das „Besetzungsargument“ wenig konsequent. Es ist zwar grundsätzlich zutreffend, dass an einer großen Strafkammer mehr Richter an der Entscheidungsfindung beteiligt sind als an den Spruchkörpern des Amtsgerichts. Doch ist diese Aussage keinesfalls verallgemeinerungsfähig.914 Denn außer in den Fällen des § 76 Abs. 2 Satz 3 und Abs. 3 GVG beschließt die große Strafkammer in aller Regel gem. § 76 Abs. 2 Satz 4 GVG, dass sie in der Besetzung von zwei Richtern und zwei Schöffen verhandelt. Nun aber stimmt die Besetzung einer solchen „reduzierten Strafkammer“ genau mit der Besetzung des erweiterten Schöffengerichts am Amtsgericht überein.915 Stellte die Besetzungsstärke des Spruchkörpers also tatsächlich einen wesentlichen Grund für die Berufungsfähigkeit seiner Urteile dar, wäre daher nicht einzusehen, warum Urteile des erweiterten Schöffengerichts mit der Berufung anfechtbar sind, obwohl diese in der gleichen Besetzung entscheiden wie die Strafkammer in reduzierter Besetzung. Bezöge man das „Besetzungsargument“ zudem lediglich auf die Anzahl der an der Entscheidung beteiligten Berufsrichter – was aufgrund der fehlenden fachlichen Qualifikation der Schöffen nicht völlig abwegig wäre916 –, gilt zu bedenken, dass auch Entscheidungen der Landgerichte, wie schon die der amtsgerichtlichen Spruchkörper, auf einer berufsrichterlichen Stimme beruhen können. So etwa kann bei einer reduzierten Strafkammer ein Berufsrichter gemeinsam mit den Schöffen die für eine Verurteilung erforderliche Zweidrittelmehrheit herstellen.917 Selbst wenn eine große Strafkammer in ihrer vollen Besetzung von drei Berufsrichtern und zwei Schöffen entscheidet oder als Schwurgericht zuständig ist, kann ein Berufsrichter
914
Insofern etwas missverständlich Kindhäuser, Strafprozessrecht, § 30 Rn. 3, der darlegt, „dass die oberen Gerichte […] in erster Instanz regelmäßig stärker besetzt sind [Hervorh. d. Verf.]“. 915 § 29 Abs. 2 GVG; die praktische Bedeutung des erweiterten Schöffengerichts ist zwar gering, doch durchaus existent. Während im Jahr 2002 von 38.888 schöffengerichtlichen Verfahren 1.958, also ca. 5 % bzw. jedes 20. Verfahren, vor einem erweiterten Schöffengericht geführt wurden, waren es im Jahr 2016 nur noch 365 von 37.696 schöffengerichtliche Verfahren, also ca. 1 % bzw. jedes 100. Verfahren, die vor einem erweiterten Schöffengericht geführt wurden, vgl. Statistisches Bundesamt, Fachserie 10, Reihe 2.3 (2016), Online-Quelle, S. 14 f. Die meisten dieser Verfahren wurden dabei entgegen der Kommentarlitertur (vgl. nur Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, GVG § 29 Rn. 2) im Bezirk des Kammergerichts (266 von 365 bzw. ca. 73 %) und nicht des OLG Hamm (nur 27 von 365 bzw. ca. 7 %) geführt, vgl. Statistisches Bundesamt, Fachserie 10, Reihe 2.3 (2016), Online-Quelle, S. 17 f. 916 Kritisch zur Beteiligung der Schöffen im Strafverfahren, Andoor, Laien in der Strafrechtsprechung, S. 89 ff. 917 § 263 Abs. 1 StPO.
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2. Kap.: Eine historische Betrachtung der Entwicklung der Revision
gemeinsam mit den Schöffen stets Entscheidungen zum Vorteil des Angeklagten herbeiführen, da hierfür lediglich eine absolute Mehrheit notwendig ist.918 Es zeigt sich also, dass die Besetzungsstärke der Spruchkörper als Argument für und gegen die Berufung nicht unbedingt durchgreifend ist. Und nicht zuletzt die Versuche der höchstrichterlichen Rechtsprechung, die Revision ebenso auf Teile der tatrichterlichen Feststellungen zu erweitern, belegen, dass auch für die Nachprüfung der tatrichterlichen Feststellungen der Strafkammern sehr wohl ein Bedarf besteht, obwohl hier mehr Richter an der Entscheidungsfindung beteiligt sind.919
II. Die Erfahrung der Richter an den Landgerichten als unzureichende Begründung für die fehlende Berufung in nicht amtsgerichtlichen Strafsachen Soweit zuweilen auf die besondere Erfahrung der Richter am Landgericht als Rechtfertigung für die fehlende Berufung in Landgerichtssachen verwiesen wird, vermag auch dieses Argument nicht vollends zu überzeugen. So gilt zu bedenken, dass lediglich der Vorsitzende Richter am Landgericht zwingend über eine besondere Berufserfahrung verfügen muss, während die besoldungsrechtlich mit R 1 eingruppierten beisitzenden Richter einer Strafkammer sogar Berufsanfänger sein können. Letztendlich ist es bloß eine Frage der Justizorganisation, ob ein Rechtsassessor zunächst bei einem Amtsgericht, einem Landgericht oder der Staatsanwaltschaft Verwendung findet – wie schon ausgeführt, wirkt dabei an den Strafkammern neben dem Vorsitzenden und den Schöffen in aller Regel sogar bloß ein einziger Beisitzer mit. Dabei muss selbst der Vorsitzende einer Strafkammer entgegen weitläufiger Vermutung nicht zwingend über besondere Erfahrungen in der Strafgerichtsbarkeit verfügen. Denn ob einem Richter bei seiner Beförderung zum Vorsitzenden Richter am Landgericht der Vorsitz über eine Zivil- oder eine Strafkammer angeboten wird, hängt nicht selten von der Stellensituation im Oberlandesgerichtsbezirk und sonstigen fachfremden Erwägungen ab. Insofern ist es keinesfalls ausgeschlossen, dass der Vorsitzende Richter einer Strafkammer vor seiner Beförderung vorwiegend mit Zivilsachen befasst war und somit nicht unbedingt über ein Mehr an Erfahrungen in der Strafgerichtsbarkeit verfügt. Doch selbst wenn man unterstellte, dass die Vorsitzenden Richter am Landgericht per se über mehr Erfahrung verfügen, gilt zu bedenken, dass er ohne Weiteres von den übrigen Mitgliedern des Gerichts überstimmt werden kann. Damit gilt das „Erfahrungsargument“ allenfalls bei oberlandesgerichtlichen Spruchkörpern, an denen bereits die beisitzenden Richter der Besoldungsgruppe R 2 angehören und damit generell ein Beförderungsamt innehaben. 918 919
§ 196 Abs. 1 GVG. Ausführlich zu der Erweiterung der Revision auf die Tatfragen vgl. S. 214 ff.
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III. Einführung der Berufung in Amtsgerichtssachen als eine Kompensation für die fehlende gerichtliche Voruntersuchung Eine überzeugendere Erklärung dafür, warum ausgerechnet nur die Urteile der amtsgerichtlichen Spruchkörper mit der Berufung angefochten werden können, liefert dagegen die Entstehungsgeschichte des Gerichtsverfassungsgesetzes und der Strafprozessordnung. So verpflichtete das Gerichtsverfassungsgesetz von 1877920 (RGVG) die 25 Bundesstaaten des Deutschen Reiches, Amtsgerichte als Untergerichte einzurichten und an diesen für die Verhandlung und Entscheidung von Strafsachen Schöffengerichte zu bilden, die wie auch heute mit einem Berufsrichter und zwei Schöffen zu besetzen waren.921 Den Strafrichter als selbstständigen Spruchkörper am Amtsgericht kannte das ursprüngliche Gerichtsverfassungsgesetz dagegen noch nicht.922 Nur in sehr wenigen Ausnahmefällen konnte der Amtsrichter am Schöffengericht ohne die Beteiligung der Schöffen verhandeln.923 Neben den Amtsgerichten waren zudem als weitere Untergerichte bzw. Mittelgerichte Landgerichte einzurichten, bei denen die Strafsachen vor Strafkammern zu verhandeln waren, die – anders als heute – ausschließlich mit Berufsrichtern, in erster Instanz nämlich mit fünf und in der Berufungsinstanz mit drei, besetzt waren.924 Daneben waren an den Landgerichten für die Verhandlung und Entscheidung von schwersten Strafsachen „echte“ Schwurgerichte zu bilden, die eben aus drei Berufsrichtern (Gerichtshof) und zwölf Geschworenen (Geschworenenbank) bestanden.925 Zuletzt waren die Bundesstaaten nach dem Reichsgerichtsverfassungsgesetz verpflichtet, ein oder mehrere Oberlandesgerichte als Obergerichte zu errichten, die in Strafsachen vorrangig als Revisionsgerichte tätig werden sollten.926 Das Reich wiederum hatte als oberstes Gericht für die ordentliche Gerichtsbarkeit lediglich ein Reichsgericht zu errichten, dessen Strafsenate ursprünglich in einer
920
Vgl. RGBl. 1877, 41 ff. §§ 25, 26 RGVG. 922 Der Amtsrichter als Einzelrichter für Strafsachen wurde erst durch die EmmingerVerordnung von 1924 eingeführt, vgl. §§ 7 ff. der Verordnung über Gerichtsverfassung und Strafrechtspflege vom 4. Januar 1924, RGBl. I 1924, 15. Seine Umbenennung in Strafrichter erfolgte sogar erst durch das Erste Gesetz zur Reform des Strafverfahrensrechts (1. StVRG) vom 9. Dezember 1974, BGBl. I 1974/132, 3393. 923 So konnte der Amtsrichter in Strafsachen nur dann ohne Schöffen verhandeln, wenn die Staatsanwaltschaft dem zustimmte, der Beschuldigte nur wegen einer Übertretung (zur Einteilung der Delikte nach dem RStGB vgl. S. 143 Fn. 680) zu verfolgen war und die ihm zur Last gelegte Tat gestanden hatte, § 211 Abs. 2 Satz 1 RStPO. Außerdem bestimmte § 3 Abs. 3 EGStPO, dass Landesgesetze in Forst- und Feldrügesachen anordnen konnten, dass Amtsgerichte in einem besonderen Verfahren ohne Zuziehung von Schöffen entschieden. 924 § 77 Satz 2 RGVG. 925 § 81 RGVG. 926 Vgl. § 123 Nr. 2 und 3 RGVG. 921
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2. Kap.: Eine historische Betrachtung der Entwicklung der Revision
Besetzung von sieben Richtern entschieden.927 Eine besondere Zuständigkeit in Strafsachen kam dabei dem vereinigten zweiten und dritten Strafsenat des Reichsgerichts zu, der in einer Besetzung von 14 (!) Richtern als Gericht erster und letzter Instanz in Hoch- und Landesverratssachen verhandelte, sofern diese gegen den Kaiser oder das Reich gerichtet waren.928 Von eher geringer praktischer Relevanz war die in dem Einführungsgesetz zum Gerichtsverfassungsgesetz vorgesehene Möglichkeit, daneben auch oberste Landesgerichte zu errichten.929 Eben unter diesen gerichtsverfassungsrechtlichen Voraussetzungen, auf die noch zurückzukommen sein werden, bestimmte die Strafprozessordnung von 1877, dass nur Urteile der Schöffengerichte mit dem Rechtsmittel der Berufung angefochten werden können, während gegen erstinstanzliche Urteile der Strafkammern und Schwurgerichte ausschließlich die Revision statthaft war.930
927
§§ 136 Abs. 1 Nr. 2, 140 RGVG. §§ 136 Abs. 1 Nr. 1, 138 Abs. 2, 140 RGVG. 929 So gestattete § 8 EGGVG auch den Bundesstaaten eigene oberste Gerichte zu errichten, sofern in dem Staat mehrere Oberlandesgerichte errichtet worden waren – zum Zeitpunkt seines Inkrafttretens betraf die Vorschrift danach ausschließlich Preußen und Bayern, Böttcher, in: Löwe/Rosenberg, EGGVG § 9 Rn. 1. Das oberste Landesgericht sollte dabei vor allem einem Auseinanderfallen der Landesrechte in den einzelnen Oberlandesgerichtsbezirken in Ländern mit mehreren Oberlandesgerichten entgegen wirken, Begründung zum GVG, in: Hahn (Hrsg.), Materialien zum GVG, Bd. I/1, S. 42. Das Bedürfnis, ein oberstes Landesgericht zur Rechtsvereinheitlichung innerhalb eines Bundesstaates einzurichten, bestand dabei insbesondere im Bereich des bürgerlichen Rechts, das bis zum Inkrafttreten des Bürgerlichen Gesetzbuchs am 1. Januar 1900 (Art. I EGBGB i. d. F. vom 18. August 1896, RGBl. 1896, 604) in den einzelnen Bundesstaaten unterschiedlich geregelt war. So bestimmte § 8 EGGVG, dass das oberste Landesgericht ausschließlich für Revisionen und Beschwerden in bürgerlichen Rechtsstreitigkeiten zuständig sein konnte, vgl. § 8 Abs. 1 EGGVG i. d. F. vom 27. Januar 1877, RGBl. 1877, 77. Erst seit 1898 erlaubt § 9 EGGVG auch eine Konzentration der in die Zuständigkeit der Oberlandesgerichte fallenden Revisionen bei einem obersten Landesgericht, vgl. § 9 EGGVG i. d. F. von Art. III des Gesetzes betreffend Aenderungen des Gerichtsverfassungsgesetzes und der Strafprozeßordnung vom 17. Mai 1898, RGBl. 1898, 252. Tatsächlich jedoch hatte bis heute ausschließlich der Freistaat Bayern von der Möglichkeit Gebrauch gemacht, ein oberstes Landesgericht einzurichten. Das bereits mit dem Inkrafttreten des Gerichtsverfassungsgesetzes 1879 errichtete Bayerische Oberste Landesgericht wurde zunächst zwar im Zuge der Verreichlichung der Justiz 1935 aufgelöst, aber bereits 1948 wiedererrichtet, Böttcher, in: Löwe/Rosenberg, EGGVG § 9 Rn. 2. Zum 1. Juli 2006 wurde es jedoch, vor allem aus fiskalischen Erwägungen heraus, erneut aufgelöst, vgl. das Gesetz zur Auflösung des Bayerischen Obersten Landesgerichts und der Staatsanwaltschaft bei diesem Gericht vom 25. Oktober 2004, BayGVBl. 2004, 400 sowie Pabst, MüKo-ZPO III, EGGVG § 8 Rn. 14. Schließlich wurde das Gericht mit dem Gesetz zur Errichtung des Bayerischen Obersten Landesgerichts vom 12. Juli 2018, BayGVBl. 2018, 545, zum 15. September 2018 wieder eingerichtet. 930 §§ 354, 374 RStPO. 928
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1. Genereller Ausschluss der Berufung im Entwurf der Strafprozessordnung Dabei gilt zunächst erneut zu vergegenwärtigen, dass noch der Entwurf der Strafprozessordnung das Rechtsmittel der Berufung überhaupt nicht vorgesehen hatte – nach den ursprünglichen Vorstellungen für ein gesamtdeutsches Strafverfahren sollte die Revision demnach das einzige im Strafverfahren verfügbare Rechtsmittel darstellen.931 Diese Entscheidung der Verfasser des Entwurfs beruhte im Wesentlichen auf vier Erwägungen: (1.) So wurde zum einen angenommen, dass ein vollumfassendes Rechtsmittel wie die Berufung mit der Natur der freien Beweiswürdigung nicht in Einklang zu bringen sei, da sie – so die Vorstellung – eine Nachprüfung der im Wege der freien Beweiswürdigung festgestellten Tatsachen zur Folge haben müsste. (2.) Zum anderen aber wurde befürchtet, dass eine Berufungsverhandlung den Anforderungen an ein mündliches und unmittelbares Verfahren nicht genügen könnte. So etwa räumte auch der Vorsitzende der Reichsjustizkommission Miquèl Jahre später, nämlich Januar 1888, im Reichstag ein, dass die Prinzipien der Unmittelbarkeit und Mündlichkeit in den 70er-Jahren des 19. Jh. völlig überbewertet worden waren: „Meine Herren, ich will bei dieser Gelegenheit, ohne meinen verehrten alten Kollegen aus der Justizkommission zu nahe zu treten, doch ein Geständnis machen. Damals herrschte in der Kommission nicht bloß, sondern vielleicht in der ganzen Juristenwelt, auch in Regierungskreisen, eine Art Hyperorthodoxie der Unmittelbarkeit und Mündlichkeit. Was nicht dem Prinzip entsprach, wenn es die Praxis des Lebens und der wirklichen Verhältnisse auch unbedingt entsprach, wurde verworfen.“932
So wurde angenommen, dass eine Berufungsinstanz das unmittelbare und mündliche Verfahren in erster Instanz in Abrede stellen würde. (3.) Darüber hinaus wurde davon ausgegangen, dass die zur Verfügung stehenden Beweismittel, wenn eine Berufung zulässig wäre, bis zur Durchführung der zweiten Tatsachenverhandlung durch Zeitablauf an Beweiskraft verlieren könnten. (4.) Zuletzt wurden auch rein praktische Gründe gegen die Einführung eines vollumfänglichen Rechtsmittels vorgebracht. Nachdem die hier erstgenannte Erwägung des Reichsgesetzgebers bereits an anderer Stelle der vorliegenden Schrift ausführlich dargelegt wurde,933 sollen im Folgenden lediglich noch ergänzend aufgezeigt werden, welche Aspekte die drei letztgenannten Erwägungen kennzeichneten.
931 Vgl. Motive zur StPO, in: Hahn (Hrsg.), Materialien zur StPO, Bd. III/1, S. 242; ausführlicher zur Abschaffung der Berufung in Strafsachen vgl. S. 185 ff. 932 Verhandlungen des Reichstags, 7. Legislaturperiode, II. Session 1887/88, 1. Band, S. 375. 933 Ausführlich zur Überprüfbarkeit der im Wege der freien Beweiswürdigung festgestellten Tatsachen vgl. S. 171 ff.
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a) Keine Vereinbarkeit der Berufung mit den Prinzipien der Mündlichkeit und Unmittelbarkeit Die Vorstellung, dass eine Berufung in Strafsachen nicht mit den Prinzipien der Mündlichkeit und Unmittelbarkeit zu vereinbaren sei, beruhte, wie bereits dargelegt,934 auf der Erwägung, dass es sich bei der Berufung (Appellation) ursprünglich noch um ein schriftliches Verfahren handelte. Im Inquisitionsverfahren fällte nämlich bereits das erstinstanzliche Gericht sein Urteil aufgrund des Vortrages eines Berichterstatters aus den schriftlichen Akten der vorangegangenen richterlichen Untersuchung (inquisitio).935 Die Appellation, sofern sie im Inquisitionsverfahren überhaupt zulässig war,936 führte dabei lediglich zu einem neuen Vortrag vor einem höheren Gericht aus denselben Untersuchungsakten durch eines seiner Mitglieder.937 Der wiederholte Vortrag aus derselben Akte durch unterschiedliche Referenten vor unterschiedlichen Gerichten sollte eine umfassende Übersicht über den Akteninhalt gewährleisten und so sicherstellen, dass nichts übersehen wurde.938 Im reformierten Strafprozess, der sich zur Mitte des 19. Jh. in den partikularen Rechtsordnungen Deutschlands durchgesetzt hatte, sollte der Eindruck des erkennenden Gerichts jedoch nicht mehr durch den subjektiven Auswahlprozess des Berichterstatters vorgeprägt sein. Vielmehr sollte durch die Unmittelbarkeit der Beweisaufnahme und die mündliche Durchführung der Hauptverhandlung sichergestellt werden, dass alle Richter des erkennenden Gerichts an der Beweisaufnahme beteiligt waren und volle Kenntnis von dem vorliegenden Beweismaterial erhielten.939 Die Möglichkeit, das auf diesem Wege gefundene Urteil im Rahmen eines Rechtsmittels ähnlich der Appellation aufgrund schriftlicher Verfahrensakten nachzuprüfen, wurde deshalb als mit dem Mündlichkeitsprinzip unvereinbar verworfen. Es wurde nämlich angenommen, dass es dem Berufungsgericht auf diesem Wege nicht möglich sein würde, einen besseren Eindruck über die Beweismittel zu gewinnen als dem erstinstanzlichen Gericht, das der Beweisaufnahme unmittelbar beigewohnt hatte.940 Auch eine teilweise Wiederholung der Beweisaufnahme vor dem Berufungsgericht, die geeignet gewesen wäre, ihm einen unmittelbaren Eindruck über die zweifelhaften Beweismittel zu verschaffen, wurde abgelehnt, da die Entscheidung darüber, welche Beweise neu zu erheben sind, ebenfalls aufgrund der schriftlichen 934
Vgl. S. 94 ff. Für eine umfassende Darstellung des Inquisitionsverfahrens vgl. S. 114 ff. 936 Zum Verbot der Appellation im Inquisitionsverfahren vgl. S. 82 f. 937 So zusammenfassend wiedergegeben im Bericht der Kommission, in: Hahn (Hrsg.), Materialien zur StPO, Bd. III/2, S. 1600 f. 938 Bericht der Kommission, in: Hahn (Hrsg.), Materialien zur StPO, Bd. III/2, S. 1601. 939 Bericht der Kommission, in: Hahn (Hrsg.), Materialien zur StPO, Bd. III/2, S. 1601. 940 Vgl. Motive zur StPO, in: Hahn (Hrsg.), Materialien zur StPO, Bd. III/1, S. 243; Anlagen zu den Motiven der StPO, in: Hahn (Hrsg.), Materialien zur StPO, Bd. III/1, S. 315. 935
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Akten hätte getroffen werden müssen.941 Selbst die Möglichkeit, vor dem Berufungsgericht eine vollständig neue Beweisaufnahme durchzuführen, wie sie sich letztlich in amtsgerichtlichen Strafsachen durchsetzte, sollte nach der ursprünglichen Auffassung den Anforderungen an die Mündlichkeit und Unmittelbarkeit nicht genügen, da hierdurch nicht dasselbe Ergebnis zu erzielen sei wie im erstinstanzlichen Verfahren.942 Weiter wurde – durchaus zutreffend – darauf hingewiesen, dass der Appellationsrichter bei einer vollständig neuen Beweisaufnahme die Richtigkeit der erstinstanzlichen Entscheidung nicht überprüfen, sondern vielmehr das Material für eine neue, andere Entscheidung zusammentrage.943 Aus diesen Erwägungen folgerte der Reichsgesetzgeber, dass es nicht möglich wäre, ein auf der freien Beweiswürdigung beruhendes Urteil, das auf dem unmittelbaren Eindruck von den Beweismitteln in einer mündlich durchgeführten Hauptverhandlung beruhte, im Rahmen einer Berufungsverhandlung vollumfassend nachzuprüfen, was freilich nur bedingt zutreffend ist. b) Möglicher Beweiswertverlust bis zur Durchführung der Berufungshauptverhandlung Eine wie auch immer geartete Wiederholung der Beweisaufnahme in einer zweiten (Berufungs-)Instanz wurde aber auch deshalb abgelehnt, da befürchtet wurde, dass sich einzelne Zeugen bis zu der Verhandlung in zweiter Instanz nicht mehr an ihre Wahrnehmungen erinnern könnten.944 Die Sorge war, dass die „Frische und Vollständigkeit“ der Zeugenaussage durch den Zeitablauf zwischen der Wahrnehmung des relevanten Ereignisses und der Berufungshauptverhandlung wesentlich beeinträchtigt werden könnte.945 Eine besondere Gefahr wurde darin gesehen, dass weniger gebildete Zeugen ihre Aussagen nach dem erstinstanzlichen Verfahren, auch unbewusst, an die Aussagen geistig überlegener Mitzeugen anpassen oder mit dem Gehörten aus der erstinstanzlichen Verhandlung vermischen könnten.946 Schließlich wurde auch darauf hingewiesen, dass der Angeklagte bis zur Anberaumung der Berufungshauptverhandlung auf Zeugen einwirken könnte, um ihre Aussagen in der
941
Motive zur StPO, in: Hahn (Hrsg.), Materialien zur StPO, Bd. III/1, S. 243; Anlagen zu den Motiven der StPO, in: Hahn (Hrsg.), Materialien zur StPO, Bd. III/1, S. 315. 942 Anlagen zu den Motiven der StPO, in: Hahn (Hrsg.), Materialien zur StPO, Bd. III/1, S. 315 f.; in den Motiven selbst wird dies aber als ein durchaus gangbarer Weg dargestellt, Motive zur StPO, in: Hahn (Hrsg.), Materialien zur StPO, Bd. III/1, S. 243. 943 Bericht der Kommission, in: Hahn (Hrsg.), Materialien zur StPO, Bd. III/2, S. 1600. 944 Anlagen zu den Motiven der StPO, in: Hahn (Hrsg.), Materialien zur StPO, Bd. III/1, S. 315. 945 Bericht der Kommission, in: Hahn (Hrsg.), Materialien zur StPO, Bd. III/2, S. 1600. 946 Anlagen zu den Motiven der StPO, in: Hahn (Hrsg.), Materialien zur StPO, Bd. III/1, S. 315; Bericht der Kommission, in: Hahn (Hrsg.), Materialien zur StPO, Bd. III/2, S. 1600.
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Berufungsinstanz zu beeinflussen.947 Selbst bei Sachbeweisen war die Sorge groß, dass diese im Laufe der Zeit vollständig verloren gehen könnten.948 c) Praktische Einwände gegen die Durchführung einer Berufungsverhandlung Neben den oben dargelegten, vorwiegend rechtspraktischen Einwänden gegen eine Berufung wurden sowohl durch die Verfasser des Entwurfs der Strafprozessordnung als auch durch die Justizkommission des Reichstages, die sich im parlamentarischen Verfahren mit dem Entwurf befasste, auch rein praktische Einwände gegen die Einführung einer Berufung in Strafsachen vorgebracht. So etwa wurde darauf hingewiesen, dass eine Berufung mit einem hohen Kostenaufwand verbunden sei und in manchen Appellationsgerichts-Bezirken den Zeugen und Sachverständigen, aber auch dem Angeklagten, weite Reisen und ein unvertretbares Versäumnis ihrer privaten Geschäfte zumuten würde.949 Ein Umstand, den bereits von Tippelskirch 1865 im Zusammenhang mit dem Entwurf einer Strafprozeßordnung für den Preußischen Staat hervorgehoben hatte: „Bekanntlich giebt es in den östlichen Provinzen der Preußischen Monarchie Appellationsgerichte, deren entlegenste Ortschaften 20 – 30 Meilen von ihrem Sitz entfernt sind. Auf solche Entfernungen Zeugen zu laden, deren Kosten zu tragen hinterher der Angeklagte nicht vermögend ist oder auch nicht einmal verpflichtet werden kann, würde sich zwar hin und wieder in großen und wichtigen Untersuchungen, nicht aber auch in der unendlich großen Zahl unbedeutender Sachen rechtfertigen lassen in denen der Staat in Gefahr käme, vielleicht um einer geringen Geldbuße willen 50 – 100 Thaler Zeugengebühren aufzuwenden; der Störung, des Zeitverlustes und der sonstigen Widerwärtigkeiten zu schweigen, die den Zeugen selbst bei vollständigem Ersatze der Reisekosten, aus so weiten Reisen nothwendig erwachsen würden.“950
Auch Tittmann, der bereits 1824 Gedanken über eine weitere Tatsacheninstanz angestellt hatte, wies auf die praktischen Schwierigkeiten hin, die mit der Durchführung eines appellationsgleichen Rechtsmittels verbunden wären; bei ihm heißt es: „Ob dergleichen Instanzen in Strafsachen überhaupt Statt haben können, da es Schwierigkeiten machen würde, die Verbrecher an den Ort der höheren Instanz zu schicken, ist eine noch unerörterte Frage“.951 Schließlich gilt auch zu berücksichtigen, dass die im Bundesrat vertretenen Länder – deren politische Bedeutung die des Reichstages weit überragte – auch aus fiskalischen Gründen der Einführung einer Berufungsinstanz kritisch gegenüber947 Anlagen zu den Motiven der StPO, in: Hahn (Hrsg.), Materialien zur StPO, Bd. III/1, S. 315. 948 Anlagen zu den Motiven der StPO, in: Hahn (Hrsg.), Materialien zur StPO, Bd. III/1, S. 316. 949 Anlagen zu den Motiven der StPO, in: Hahn (Hrsg.), Materialien zur StPO, Bd. III/1, S. 316; Bericht der Kommission, in: Hahn (Hrsg.), Materialien zur StPO, Bd. III/2, S. 1601. 950 Tippelskirch, DGZ (7) 1865, 79, 79. 951 Tittmann, Handbuch der Strafwissenschaft, S. 636 Fn. y.
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standen. Eine weitere Tatsacheninstanz gegen Urteile der Strafkammern hätte für die Länder nämlich zur Folge gehabt, dass sie aller Voraussicht nach – wie auch in den Zivilsachen – an den Oberlandesgerichten Berufungssenate hätten errichten müssen, deren Besetzung und Verfahren mit zusätzlichen Kosten für den Landeshaushalt verbunden gewesen wären. Eine Tatsache, derer sich der Reichsgesetzgeber durchaus bewusst war. So heißt es in der Begründung zum Entwurf der Zivilprozessordnung – der sich für eine Berufung gegen alle erstinstanzlichen Urteile entschieden hatte – kritisch zum Absehen von einer Berufungsinstanz: „Derartige Vorschriften sind vom Standpunkte einer, höheren Ansprüchen entsprechenden Rechtspflege nur als rein willkürliche zu bezeichnen, weil sie jeder inneren Rechtfertigung entbehren […] Es sind äußere Gründe, die finanziellen Interessen des Staats, welche zu solchen Vorschriften geführt haben. Diesen wird auch Rechnung getragen werden können, aber durch Vorschriften, denen jede Willkür fremd ist.“952
Ungeachtet dessen führten diese Erwägungen dazu, dass jedenfalls die Verfasser des Entwurfs der Strafprozessordnung noch vollständig von einer Berufungsinstanz in Strafsachen abgesehen hatten. 2. Die gerichtliche Voruntersuchung als Teil des Vorverfahrens a) Die Ausgestaltung der gerichtlichen Voruntersuchung Ungeachtet der oben dargelegten Erwägungen der Verfasser des Entwurfs sah die endgültige Fassung der Strafprozessordnung, und dies bekanntermaßen bis heute, gegen Urteile der amtsgerichtlichen Spruchkörper eine Berufung vor. Um diese Entscheidung des historischen Gesetzgebers nachzuvollziehen, bedarf es eines Blickes auf das strafprozessuale Instrument der gerichtlichen Voruntersuchung, das durch das 1. StVRG953 erst zum 1. Januar 1975 beseitigt wurde. Bei der in den §§ 176 bis 195 RStPO geregelten gerichtlichen Voruntersuchung handelte es sich dem Grunde nach um ein richterlich durchgeführtes Ermittlungsverfahren. In denjenigen Strafsachen, die erstinstanzlich am Reichsgericht oder an einem Schwurgericht anzuklagen waren, war sie obligatorisch durchzuführen,954 während sie in Strafkammersachen lediglich dann stattzufinden hatte, wenn die Staatsanwaltschaft oder der Beschuldigte dies ausdrücklich beantragt hatte.955 Generell ausgeschlossen war die gerichtliche Voruntersuchung allerdings in den schöffengerichtlichen Sachen956 – eben hiermit dürfte die Einführung der Berufung gegen Urteile der amtsgerichtlichen 952
Begründung zur ZPO, in: Hahn (Hrsg.), Materialien zur ZPO, Bd. II/1, S. 141. Erstes Gesetz zur Reform des Strafverfahrensrechts (1. StVRG) vom 9. Dezember 1974, BGBl. I 1974/132, 3393. 954 § 176 Abs. 1 RStPO. 955 § 176 Abs. 2 RStPO. 956 § 176 Abs. 3 RStPO. 953
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2. Kap.: Eine historische Betrachtung der Entwicklung der Revision
Spruchkörper vor allem zusammengehangen haben, sodass darauf noch zurückzukommen sein wird. Die Durchführung der gerichtlichen Voruntersuchung oblag einem Untersuchungsrichter,957 der nach der Eröffnung der gerichtlichen Untersuchung anstelle der Staatsanwaltschaft trat und die von ihm als notwendig erachteten weiteren Ermittlungen selbstständig durchführte.958 Anders als der heutige Ermittlungsrichter, der lediglich im Rahmen der Voruntersuchung auf einen entsprechenden Antrag der Staatsanwaltschaft hin prüft, ob strafprozessuale Zwangsmaßnahmen, die einem Richtervorbehalt unterliegen, vorgenommen werden dürfen,959 konnte der Untersuchungsrichter in Rahmen der gerichtlichen Voruntersuchung die von ihm für erforderlich erachteten Zwangsmaßnahmen selbst vornehmen. Er vereinigte damit die Kompetenzen der Staatsanwaltschaft und des Ermittlungsrichters in einer Person, sodass seine Tätigkeit in vielen Punkten mit der des Inquirenten im Inquisitionsverfahren vergleichbar war. Verbunden mit der richterlichen Unabhängigkeit, die der Untersuchungsrichter genoss,960 sollte die gerichtliche Voruntersuchung ein effizientes Mittel der Beweisermittlung und -sicherung darstellen.961 Damit war die gerichtliche Voruntersuchung, obwohl es sich bei ihr um ein richterliches Verfahren handelte, ein Teil des Vorverfahrens. Auch wenn der Begriff „Vorverfahren“ heute als ein Synonym für das staatsanwaltliche Ermittlungsverfahren verwendet wird, bestand das Vorverfahren bis 1975 demnach aus dem staatsanwaltlichen Ermittlungsverfahren und der gerichtlichen Voruntersuchung;962 wenn ausschließlich das staatsanwaltliche Ermittlungsverfahren gemeint war, wurde dagegen der Begriff Vorbereitungsverfahren verwendet. So ist der zweite Abschnitt des zweiten Buchs der Strafprozessordnung noch heute mit dem amtlichen Titel „Vorbereitung der öffentlichen Klage“ überschrieben. Die gerichtliche Vor-Untersuchung war jedoch nicht nur Teil des Vorverfahrens, sondern zugleich auch ein Teil der sog. gerichtlichen Untersuchung (lat. Inquisitio (!)963), die neben der gerichtli957
§ 182 RStPO; § 60 RGVG. Bei dem Untersuchungsrichter handelte es sich grundsätzlich um einen Richter des Landgerichts; die Durchführung der gerichtlichen Voruntersuchung konnte jedoch auf Antrag der Staatsanwaltschaft im Beschlusswege auf einen Richter des Amtsgerichts übertragen werden, § 183 Satz 1 RStPO. 958 Löwe/Hellweg, StPO (11. Aufl.), zu § 182, Note 2; Henkel, Strafverfahrensrecht, S. 304. 959 Vgl. etwa Volk/Engländer, Grundkurs StPO, § 8 Rn. 2. 960 Kleinknecht, StPO, vor § 178, Ziff. 1). 961 Dies ergibt sich mittelbar schon aus § 188 Abs. 2 RStPO; vgl. aber auch Kleinknecht, StPO, vor § 178 Ziff. 2). 962 Löwe/Hellweg, StPO (11. Aufl.) Note 2 zum 2.–6. Abschn. d. 2. Buches. 963 Kleinknecht, StPO, vor § 178 Ziff. 1); Löwe/Hellweg, StPO (11. Aufl.) Note 2 zum 2.–6. Abschn. d. 2. Buches. Schon an dieser Stelle wird deutlich, dass das reformierte Strafverfahren des 19. Jh. keinesfalls eine Abkehr von dem frühneuzeitlichen Inquisitionsverfahren darstellte, sondern lediglich eine – wenn auch radikale – Weiterentwicklung des Inquisitionsverfahrens. So entsprach die gerichtliche Voruntersuchung durchaus der historischen Generalinquisition, während das gerichtliche Hauptverfahren der historischen Spezialinquisition entsprach. Lediglich die Einleitung dieser Inquisition war nunmehr von der Anklageerhebung
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chen Voruntersuchung auch das Hauptverfahren umfasste.964 Auch dieser Begriff findet sich noch heute in § 151 StPO wieder, in dem es heißt, dass „[d]ie Eröffnung einer gerichtlichen Untersuchung […] durch die Erhebung einer Klage bedingt“ ist. Ebenso heißt es in § 155 Abs. 1 StPO noch heute, dass „[d]ie Untersuchung und Entscheidung […] sich nur auf die in der Klage bezeichnete Tat und auf die durch die Klage beschuldigten Personen“ erstreckt, womit er die aus dem Inquisitionsverfahren bekannte Trennung zwischen General- und Spezialinquisition aufgreift.965 Sobald also durch die Staatsanwaltschaft die Anklage erhoben war und eine gerichtliche Voruntersuchung stattfand, glich das deutsche Strafverfahren bis 1975 im Grunde einem Inquisitionsverfahren, in dem das erkennende Gericht jedoch aufgrund einer mündlichen und von dem Unmittelbarkeitsprinzip beherrschten Hauptverhandlung über die Sache zu entscheiden hatte. b) Der Zweck der gerichtlichen Voruntersuchung Allerdings war der Strafprozessordnung nicht zu entnehmen, worin der Zweck dieser Zweiteilung des Ermittlungsverfahrens in ein staatsanwaltliches und richterliches Vorverfahren bestand. Etwas Klarheit verschaffen insofern die Motive zur Strafprozessordnung, in denen es zu der Aufgabenteilung zwischen der Staatsanwaltschaft und dem Untersuchungsrichter im Vorverfahren heißt: „Zwar scheint [die gerichtliche Voruntersuchung] der Anklageform des heutigen Verfahrens nichts so sehr zu entsprechen, als daß man es lediglich dem Ankläger überläßt, die Belastungsbeweise zu sammeln und die Anklage vorzubereiten. Auch bietet ein Ermittlungsverfahren […] dem Staatsanwalt die Möglichkeit, sich jede irgend wünschenswerthe Auskunft nicht allein mit Hülfe der Polizei- und anderen Sicherheitsbeamten, sondern auch mit Hülfe der Gerichte zu verschaffen. Dessenungeachtet kann die gerichtliche Voruntersuchung nicht gänzlich entbehrt werden. Wo mit Rücksicht auf die Schwierigkeit und Weitläufigkeit der Sache die Staatsanwaltschaft genöthigt sein würde, das Gericht wiederholt mit Anträgen auf Beweiserhebungen anzugehen, da ist es in Interesse der Einheit des Untersuchungsplanes und der Beschleuigung [sic!] des Verfahrens geboten, von vorn herein von einem außergerichtlichen Ermittlungsverfahren abzugehen und dem Gericht die Führung der Voruntersuchung zu überlassen.“966
Ähnlich äußerte sich auch die Justizkommission des Reichstages (Reichsjustizkommission)967 zu dem Zweck der gerichtlichen Voruntersuchung: „Die [gerichtliche] Voruntersuchung ist dazu bestimmt, die gegen den A n g e s c h u l d i g t e n wegen einer b e s t i m m t e n That erhobene Beschuldigung so weit zu erörtern, durch eine, von dem Gericht unabhängige Behörde abhängig. Zur Ausgestaltung des klassischen Inquisitionsverfahrens vgl. S. 114 ff. 964 Löwe/Hellweg, StPO (11. Aufl.) Note 2 zum 2.–6. Abschn. d. 2. Buches. 965 Vgl. schon Fn. 963. 966 Motive zur StPO, in: Hahn (Hrsg.), Materialien zur StPO, Bd. III/1, S. 158. 967 Für einen konzisen Überblick zu der Geschichte der Reichsjustizgesetzgebung vgl. S. 106 ff.
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um eine Entscheidung des Gerichts darüber zu begründen, ob das Hauptverfahren zu eröffnen oder der Angeschuldigte außer Verfolgung zu setzen sei. Sie dient daher genau genommen demselben Zwecke, wie die [staatsanwaltlichen] Vorerörterungen, jedoch mit dem Unterschiede, daß in der Voruntersuchung bereits die Anschuldigung wegen einer b e s t i m m t e n That gegen eine b e s t i m m t e Person als Thäter oder Theilnehmer gerichtet ist und daß nunmehr die Erörterungen lediglich in die Hände des R i c h t e r s , welchem die Entschließung über den Umfang und die Richtung derselben gebührt, gelegt sind, während dem Staatsanwalte nur das Recht zusteht, einzelne Handlungen des Richters zu beantragen und hierdurch auf den Gang und die Richtung der Untersuchung einzuwirken.“968
Damit entsprachen die staatsanwaltschaftlichen Vorerörterungen im Grunde der Generalinquisition, während die gerichtliche Voruntersuchung der Spezialinquisition glich. Indem der Gesetzgeber die endgültigen Ermittlungen gegen den Angeklagten in die Hände des Untersuchungsrichters legte, brachte er ein gewisses Misstrauen gegenüber der – damals noch vergleichsweise jungen – Institution der Staatsanwaltschaft zum Ausdruck. Auch in den Motiven zur Strafprozessordnung heißt es hierzu: „Wo ferner aus denselben Rücksichten ein sorgfältigeres Eingehen auf die Vertheidigung des Beschuldigten schon im Vorverfahren geboten erscheint, namentlich dann, wenn derselbe mit einem Vertheidiger noch nicht versehen ist, da verdient gleichfalls die gerichtliche Voruntersuchung vor dem außergerichtlichen Ermittlungsverfahren den Vorzug, da mindestens von dem Beschuldigten nicht erwartet werden kann [Hervorh. d. Verf.], dass er überall zu der Staatsanwaltschaft das Vertrauen hege, dieselbe werde seine Rechte in völlig genügender Weise warnehmen [sic!].“969
Gerade das Wort „mindestens“ bringt dabei zum Ausdruck, dass dieses Misstrauen eben nicht nur bei dem Beschuldigten als nachvollziehbar angesehen wurde. Ähnliche Vorbehalte hegte auch die Reichsjustizkommission gegenüber der Staatsanwaltschaft. So befürchtete sie, dass „[…] dem Angeklagten vielleicht in den [staatsanwaltlichen] Vorerörterungen nicht allenthaben Gelegenheit geboten war, die auf seine Vertheidigung bezüglichen Erhebungen zu beantragen und dadurch die Wahrung seiner berechtigten Interessen für die Hauptverhandlung in Fällen, in welchen letztere selbst einen genügenden Raum zu seiner erschöpfenden Vertheidigung nicht mehr bietet, zu sichern“.970
Die gerichtliche Voruntersuchung diente damit, ähnlich wie auch das Eröffnungsverfahren, als ein Instrument zur Kontrolle der Staatsanwaltschaft. Vor allem in komplexeren Strafsachen sollte sie zudem sicherstellen, dass die Untersuchung der 968 Bericht der Kommission, in: Hahn (Hrsg.), Materialien zur StPO, Bd. III/2, S. 1566 f. Der historische Gesetzgeber scheint insofern an der Unterscheidung zwischen der Generalinquisition und der Spezialinquisition anzuknüpfen und die Generalinquisition der Staatsanwaltschaft zu überlassen, während er die Spezialinquisition weiter bei den Gerichten verortet sieht, vgl. hierzu auch S. 116 ff. 969 Motive zur StPO, in: Hahn (Hrsg.), Materialien zur StPO, Bd. III/1, S. 158. 970 Bericht der Kommission, in: Hahn (Hrsg.), Materialien zur StPO, Bd. III/2, S. 1568 f.
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strafbaren Handlung einheitlich und beschleunigt vonstattenging. Darüber hinaus ermöglichte die gerichtliche Voruntersuchung, Beweise, deren Verlust für die Hauptverhandlung besorgt wurde oder deren Erhebung bereits zur Vorbereitung der Verteidigung des Angeschuldigten erforderlich schien, schon vor der Eröffnung der Hauptverhandlung richterlich zu sichern. Zusammenfassend kann also festgehalten werden, dass auch der Untersuchungsrichter die Aufgabe hatte, zu ermitteln, ob ein zur Eröffnung des Hauptverfahrens hinreichender Tatverdacht gegeben war, wobei er zu diesem Zweck allerdings über weitergehende Ermittlungsbefugnisse verfügte als noch die Staatsanwaltschaft zu jener Zeit. c) Der Ausschluss der gerichtlichen Voruntersuchung in amtsgerichtlichen Strafsachen In schöffengerichtlichen Sachen allerdings hatte bereits § 149 Abs. 2 des Entwurfs der Strafprozessordnung eine gerichtliche Voruntersuchung ausgeschlossen. Hierbei wurden die Verfasser des Entwurfs von der Erwägung geleitet, dass das Beweisverfahren vor den Amtsgerichten keine besonderen Schwierigkeiten bereiten würde. Deshalb wurde befürchtet, dass in diesen Sachen eine gerichtliche Voruntersuchung eine Verlagerung der Beweisaufnahme aus der öffentlichen und mündlichen Hauptverhandlung in die geheime und schriftliche Voruntersuchung zur Folge haben könnte.971 Der Ausschluss der gerichtlichen Voruntersuchung in den schöffengerichtlichen Strafsachen sollte daher verhindern, dass die Hauptverhandlung in jenen einfachen Strafsachen zu einer bloßen Schlussverhandlung verkommt, in der im Grunde lediglich aufgrund des Aktenmaterials der gerichtlichen Voruntersuchung und damit letztendlich schriftlich verhandelt würde.972 Auch die Justizkommission des Reichstages war mit dem Ausschluss der gerichtlichen Voruntersuchung in schöffengerichtlichen Sachen grundsätzlich einverstanden und bemerkte in ihrem Bericht: „Die Kommission befindet nun zunächst insoweit in Übereinstimmung mit dem Entwurfe, als sie die Voruntersuchung […] in den zur Zuständigkeit der Schöffengerichte gehörigen Strafsachen […] für unzulässig erachtet“.973 So erfuhr der § 149 Abs. 2 des Entwurfs auch in den Lesungen der Reichsjustizkommission lediglich redaktionelle Änderungen und wurde schließlich auch im Plenum des Reichstages ohne weitere Änderungen angenommen.974 Schlussendlich trat die Vorschrift als § 176 Abs. 3 RStPO in Kraft und bestimmte: „In den zur Zuständigkeit der Schöffengerichte gehörigen Sachen ist, außer dem Falle der Verbindung in Folge eines Zusammenhanges (§ 5), die Voruntersuchung unzulässig“. 971
Vgl. Motive zur StPO, in: Hahn (Hrsg.), Materialien zur StPO, Bd. III/1, S. 158. Vgl. Motive zur StPO, in: Hahn (Hrsg.), Materialien zur StPO, Bd. III/1, S. 158. 973 Bericht der Kommission, in: Hahn (Hrsg.), Materialien zur StPO, Bd. III/2, S. 1567. 974 Beratungen im Plenum des Reichstags, in: Hahn (Hrsg.), Materialien zur StPO, Bd. III/2, S. 1882 (2. Beratung) sowie S. 2104 (3. Beratung); in der 1. Beratung hatte der Reichstag im Grunde nur die Überweisung der Entwürfe an die Reichsjustizkommission beschlossen. 972
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2. Kap.: Eine historische Betrachtung der Entwicklung der Revision
3. Berufung anstelle der gerichtlichen Voruntersuchung in Amtsgerichtssachen Da der Entwurf der Strafprozessordnung in Strafsachen generell keine Berufung vorgesehen hatte, war es ein Anliegen der Reichsjustizkommission, diejenigen Garantien, welche die Befürworter einer Berufung von derselben erhofften, durch eine besonders sorgfältige Ausgestaltung der gerichtlichen Voruntersuchung zu gewährleisten.975 So war es die Kommission, die durchsetzte, dass die gerichtliche Voruntersuchung nicht nur in den Reichsgerichtssachen976,977 sondern auch in den Schwurgerichtssachen obligatorisch durchzuführen war.978 Zudem wirkte die Kommission darauf hin, dass die gerichtliche Voruntersuchung in den Strafkammersachen nicht nur durch die Staatsanwalt,979 sondern auch durch den Angeklagten beantragt werden konnte, da dieser mangels einer Berufung über keine Möglichkeit verfüge, etwaige Mängel und Lücken des Verfahrens in einer höheren Tatsacheninstanz vorzutragen.980 Die gerichtliche Voruntersuchung sollte in diesen Fällen insofern eine besonders gründliche Ermittlung der tatsächlichen Grundlagen des Urteils gewährleisten. Letztendlich ging es der Reichsjustizkommission also darum, sicherzustellen, dass die der Rechtsanwendung zugrunde liegenden Sachverhaltsfeststellungen in schweren Strafsachen nicht bloß aufgrund einer Tatsachenverhandlung endgültig und für das Revisionsgericht bindend getroffen werden konnten.981 Sie begriff die gerichtliche Untersuchung damit offenbar als ein Substitut für die Berufung, die von dem Entwurf beseitigt worden war und dem Angeklagten eine der Hauptverhandlung nachgeschaltete richterliche Instanz zur Verfügung gestellt hatte. Mit Ausweitung der gerichtlichen Voruntersuchung glaubte die Kommission dem Angeklagten in diesen Sachen zumindest eine dem Hauptverfahren vorgeschaltete richterliche „Instanz“ zu gewähren, sodass in schweren Strafsachen auch ohne eine Berufung weiterhin zwei richterliche „Instanzen“ (der Untersuchungsrichter und das erkennende Gericht) mit der Tatfrage befasst werden konnten. Ungeachtet dessen beschloss die Reichsjustizkommission in der ersten Lesung des Entwurfs mit 14 gegen 13 Stimmen982, gegen alle erstinstanzlichen Urteile in
975
Bericht der Kommission, in: Hahn (Hrsg.), Materialien zur StPO, Bd. III/2, S. 1599. Gem. § 136 Abs. 1 Nr. 1 RGVG war das Reichsgericht „für die Untersuchung und Entscheidung in erster und letzter Instanz in den Fällen des Hochverraths und des Landesverraths, insofern diese Verbrechen gegen den Kaiser oder das Reich gerichtet sind“, zuständig. 977 So noch § 149 Abs. 1 und 3 des Entwurfs der StPO. 978 Bericht der Kommission, in: Hahn (Hrsg.), Materialien zur StPO, Bd. III/2, S. 1567 f. 979 So noch § 149 Abs. 3 des Entwurfs der StPO. 980 Bericht der Kommission, in: Hahn (Hrsg.), Materialien zur StPO, Bd. III/2, S. 1569. 981 Vgl. Bericht der Kommission, in: Hahn (Hrsg.), Materialien zur StPO, Bd. III/2, S. 1599. 982 Abgeordneter Lasker nahm an jener Sitzung der Reichsjustizkommission am 13. September 1875 nicht teil. 976
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Strafsachen eine Berufung zuzulassen.983 Lediglich die Urteile der Schwurgerichte und des Reichsgerichts sollten hiervon ausgenommen sein.984 Allerdings vermochte sie sich mit diesem Beschluss nicht im vollen Umfang durchsetzen; die im Bundesrat vertretenen Regierungen der Bundesstaaten (die sog. verbündeten Regierungen) sahen die Interessen des Angeklagten im erstinstanzlichen Verfahren bereits durch die Besetzung der Strafkammern mit fünf Berufsrichtern (die Zivilkammern waren mit bloß drei Richtern zu besetzen), durch Möglichkeit der Wiederaufnahme des Verfahrens und nicht zuletzt durch die von der Kommission erweiterte gerichtliche Voruntersuchung als hinreichend gewahrt an.985 Lediglich für die schöffengerichtlichen Sachen, in denen eine gerichtliche Voruntersuchung nicht zulässig sein sollte, erklärte sich der Bundesrat mit der Einführung einer Berufung einverstanden.986 Infolgedessen beschloss die Reichsjustizkommission in ihrer zweiten Lesung mit 17 gegen 11 Stimmen keine Berufung gegen erstinstanzliche Urteile der Strafkammern zuzulassen; die Entscheidung hingegen, ob gegen Urteile der Schöffengerichte eine Berufung zuzulassen war, stellte sie zunächst zurück.987 Beim Wiederaufgreifen der Debatte um die Einführung einer Berufung gegen amtsgerichtliche Urteile kam die Kommission schließlich zu dem Schluss, dass jene Garantien, die einen Ausschluss der Berufung in den Strafkammersachen noch zu
983
1002.
Protokolle der Kommission, in: Hahn (Hrsg.), Materialien zur StPO, Bd. III/1, S. 985,
984 Die Frage, ob auch vom Schwurgericht eine Berufung zuzulassen ist, wurde generell nie gestellt, Kries, Deutsches Strafprozessrecht, S. 649; vgl. auch Bericht der Kommission, in: Hahn (Hrsg.), Materialien zur StPO, Bd. III/2, S. 1599. Dies hängt sicherlich auch damit zusammen, dass man sich die Berufung ursprünglich als eine Appellation in Tatfragen vorstellte – also, als eine Überprüfung der tatsächlichen Feststellungen des erstinstanzlichen Gerichts. Eine solche Nachprüfung der Feststellungen war in schwurgerichtlichen Sachen, in denen die Geschworenen die Schuldfrage im Grunde nur mit „Ja“ oder mit „Nein“ beantworteten, schon praktisch unmöglich. Allerdings hätte man die Berufungsfrage durchaus erneut aufgreifen können, als man sich für die Ausgestaltung der Berufung als erneute Tatsachenverhandlung entschied. Eine solche Diskussion fand jedoch nie statt, was sicherlich auch mit der sakrosankten Stellung des Wahrspruchs der Geschworenen zusammenhing. Bemerkenswert ist allerdings, dass der historische Gesetzgeber sich dennoch dazu entschlossen hatte – anders als nach dem dem Reichstag vorgelegten Entwurf –, dem Gerichtshof die Möglichkeit einzuräumen, eine neue Verhandlung vor einem anderen Schwurgericht zu erzwingen, sofern er einstimmig der Ansicht war, dass die Geschworenen sich in der Hauptsache zum Nachteil des Angeklagten geirrt hatten ( § 317 RStPO), was die Bedeutung des Wahrspruchs freilich nicht minder berührt, als eine Neuverhandlung aufgrund einer Berufung. Vgl. ausführlich zur Überprüfbarkeit des Wahrspruchs und zur Inappellabilität der schwurgerichtlichen Entscheidungen S. 171 f. 985 So mitgeteilt vom Direktor im Reichkanzleramt von Amsberg in seiner Funktion als einer der Vertreter der Bundesrates, des Reichskanzleramtes und der verbündeten Regierungen, die den Lesungen der Kommission beiwohnten, Protokolle der Kommission, in: Hahn (Hrsg.), Materialien zur StPO, Bd. III/2, S. 1178 f., 1188. 986 Protokolle der Kommission, in: Hahn (Hrsg.), Materialien zur StPO, Bd. III/2, S. 1179. 987 Protokolle der Kommission, in: Hahn (Hrsg.), Materialien zur StPO, Bd. III/2, S. 1203.
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2. Kap.: Eine historische Betrachtung der Entwicklung der Revision
rechtfertigen mochten,988 in den schöffengerichtlichen Sachen nicht gegeben waren.989 Dieser Mangel wog umso schwerer, als es sich bei dem Verfahren vor den Schöffengerichten bis 1924 bloß um ein summarisches Verfahren handelte.990 So war im schöffengerichtlichen Verfahren nicht nur die gerichtliche Voruntersuchung ausgeschlossen, auch war es dem Angeklagten hier nicht möglich, vor der Hauptverhandlung einzelne Beweiserhebungen zu beantragen oder Einwendungen gegen die Eröffnung des Hauptverfahrens vorzubringen.991 Zugleich konnte die Staatsanwaltschaft vor dem Schöffengericht auf die Erhebung einer schriftlichen Anklage und die Durchführung eines Eröffnungsverfahrens verzichten, wenn sich der Beschuldigte entweder gestellt hatte, er in Folge einer vorläufigen Festnahme dem Gericht vorgeführt worden war oder er nur wegen einer Übertretung992 verfolgt wurde.993 Vor allem aber konnte das Schöffengericht den Umfang der Beweisaufnahme selbst bestimmen, ohne dabei an Beweisanträge, Verzichte oder frühere Beschlüsse gebunden zu sein.994 Doch nicht nur diese summarische Ausgestaltung des Verfahrens wurde von der Reichsjustizkommission als unbefriedigend empfunden, sondern auch die Tatsache, dass die Schöffengerichte lediglich mit einem Richter und zwei Laien besetzt sein sollten.995 Während eine Verurteilung durch die Strafkammer noch voraussetzte, dass mindestens vier der fünf rechtsgelehrten Richter des Spruchkörpers einer Verurteilung zustimmten, setzte eine Verurteilung durch das Schöffengericht lediglich die Stimmen von zwei Mitgliedern des Gerichts voraus, wobei keines von ihnen ein rechtsgelehrter Richter zu sein brauchte.996 In dem Bericht der Kommission heißt es hierzu völlig unverblümt, dass eine „Mehrheit von zwei Stimmen bei einer Besetzung des Gerichts mit drei Votanten, zumal e i n rechtsgelehrter Richter und z w e i Laien das Gericht bilden, kaum als genügende Grundlage für eine endgültige Entscheidung angesehen werden“ kann.997 Angesichts dieser Mängel des schöffengerichtlichen Verfahrens kam die Reichsjustizkommission darin überein, dass weitere Garantien für das Verfahren vor den Amtsgerichten eingeführt werden mussten, um auch hier ein Schutzniveau zu 988 Zu den Garantien im Strafkammerverfahren vgl. auch Kries, Deutsches Strafprozessrecht, S. 648. 989 Vgl. hierzu Protokolle der Kommission, in: Hahn (Hrsg.), Materialien zur StPO, Bd. III/ 1, S. 736 ff., sowie Bericht der Kommission, in: Hahn (Hrsg.), Materialien zur StPO, Bd. III/2, S. 1604. 990 Vgl. nur Bericht der Kommission, in: Hahn (Hrsg.), Materialien zur StPO, Bd. III/2, S. 1604. 991 § 199 Abs. 4 RStPO. 992 Zur Einteilung der Delikte und Freiheitsstrafen nach dem RStGB vgl. S. 143 Fn. 680 993 § 211 Abs. 1 RStPO. 994 § 244 Abs. 2 RStPO. 995 Bericht der Kommission, in: Hahn (Hrsg.), Materialien zur StPO, Bd. III/2, S. 1604. 996 Vgl. § 262 Abs. 1 RStPO. 997 Bericht der Kommission, in: Hahn (Hrsg.), Materialien zur StPO, Bd. III/2, S. 1604.
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gewährleisten, das in Landgerichtssachen vor allem durch die Ausweitung der gerichtlichen Voruntersuchung erreicht zu worden geglaubt wurde.998 Die Lösung konnte dabei nicht darin bestehen, auch in den amtsgerichtlichen Strafsachen eine gerichtliche Voruntersuchung einzuführen, da weiterhin befürchtet wurde, dass das Beweisverfahren in schöffengerichtlichen Sachen hierdurch vollständig in das Vorverfahren verlagert werden könnte.999 Eine endgültige Lösung erblickte schließlich auch die Reichsjustizkommission darin, ausschließlich gegen Urteile der Schöffengerichte eine Berufung zuzulassen.1000 Dabei war man sich der Gründe, die zuvor gegen eine Berufungsinstanz im reformierten Strafverfahren vorgebracht worden waren, durchaus bewusst.1001 Allerdings wurden in der Besetzung der Schöffengerichte mit bloß einem Berufsrichter, aber vor allem auch in dem summarischen Verfahren vor den Schöffengerichten hinreichende Gründe für eine Berufung erblickt, welche die Nachteile einer fehlenden gerichtlichen Voruntersuchung ausgleichen sollte.1002 Der Vorschlag fand schließlich sowohl in der Kommission1003 als auch im Plenum des Reichstages1004 die erforderlichen Mehrheiten. Damit sah die Reichstrafprozessordnung also ausschließlich gegen Urteile der Amtsgerichte eine Berufung vor. 4. Die provisorische Natur des strafrechtlichen Rechtsmittelrechts Der mit der Einführung der Berufung ausschließlich gegen Urteile der Schöffengerichte verbundene Widerspruch war dem historischen Gesetzgeber dabei durchaus bewusst. So etwa merkte Abgeordneter Becker in der zweiten Lesung der Kommission an: „Das ganze Gebäude werde, bei allein gegen die Schöffengerichte zugelassener Berufung, allerdings nicht schön, aber noch unschöner würde es, wenn
998
Bericht der Kommission, in: Hahn (Hrsg.), Materialien zur StPO, Bd. III/2, S. 1604. Bericht der Kommission, in: Hahn (Hrsg.), Materialien zur StPO, Bd. III/2, S. 1567. Vgl. auch S. 201 f. der vorliegenden Schrift. Darauf, dass die Mehrheit der Kommission sich gegen die Einführung einer gerichtlichen Voruntersuchung in einfachen Sachen sträubte, verwies auch Abgeordneter Becker im Plenum des Reichstags, vgl. Hahn (Hrsg.), Materialien zur StPO, Bd. III/2, S. 1969. 1000 Protokolle der Kommission, in: Hahn (Hrsg.), Materialien zur StPO, Bd. III/2, S. 1204 ff. 1001 Bericht der Kommission, in: Hahn (Hrsg.), Materialien zur StPO, Bd. III/2, S. 1604; für eine Zusammenstellung dieser Gründe vgl. Bericht der Kommission, in: Hahn (Hrsg.), Materialien zur StPO, Bd. III/2, S. 1599 ff. Eine konzise Zusammenfassung jener Gründe findet sich auf den S. 193 ff. der vorliegenden Schrift. 1002 Bericht der Kommission, in: Hahn (Hrsg.), Materialien zur StPO, Bd. III/2, S. 1604. Ähnl. konstatiert es auch Poppe, Kampf um die Berufung, S. 10. 1003 Protokolle der Kommission, in: Hahn (Hrsg.), Materialien zur StPO, Bd. III/2, S. 1206. 1004 Beratungen im Plenum des Reichstags, in: Hahn (Hrsg.), Materialien zur StPO, Bd. III/ 2, S. 1993 (2. Beratung) sowie S. 2116 (3. Beratung). 999
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3 Instanzen für die vor die Schöffen gewiesenen Fälle eingeführt würden“.1005 Auch Abgeordneter Gneist wandte ein, dass man etwas der Strafjustiz im Ganzen Nachteiliges schaffe, wenn man die Garantien für die kleinen Straffälle häufe, dagegen aber solche für große Straffälle mindere.1006 Daraufhin wandte der Geheime Oberregierungsrat Hanauer, der als Vertreter der verbündeten Regierungen an der Sitzung der Kommission teilnahm, jedoch ein, dass die verbündeten Regierungen im Bundesrat sich sehr wohl dessen bewusst seien, dass so kein symmetrisches Gebäude geschaffen werden könne. Allerdings bezweifelte er auch, dass es der Kommission gelingen würde, ein symmetrisches Gebäude zu errichten, wenn man den Aufbau des Rechtsmittelsystems und der Gerichtsverfassung ganz ihr überließe. Deshalb, so Hanauer, sei das von den verbündeten Regierungen angenommene System, das lediglich gegen die Urteile der Schöffengerichte eine Berufung vorsehe, aber nicht gegen solche der Strafkammern, das praktisch empfehlenswertere.1007 Abgeordneter von Schwarze warf zwar daraufhin ein, „daß das System der Prozeßordnung, wie es sich in Folge der Beschlüsse nunmehr gestalte, vor der Wissenschaft nicht bestehen könne, auch in der Praxis auf Widerspruch stoße, Schwierigkeiten und Kontroversen hervorrufen werde“.1008 Allerdings wies auch er drauf hin, dass die aktuelle Lage die Folgende sei: „[M]an müsse entweder auf die Schaffung einer deutschen Strafprozeßordnung g e g e n w ä r t i g verzichten, wo viele Fragen noch im Fluß […] und vieler Fragen auch sich die Politik bemächtigt habe; oder aber bedenken, daß man ein Gesetz für einen Bundesstaat mache, und daher […] die verschiedenen Systeme und die a u f G r u n d d e r s e l b e n in den einzelnen Ländern gemachten Erfahrungen […] mitverwerthe, hierdurch aber selbst die Einheit des Gesetzes gefährde. Man müsse deshalb Kompromisse eingehen; man müsse das Gesetz jetzt zu Stande bringen und dadurch eine g e m e i n s a m e Grundlage schaffen, auf welcher sodann die Erfahrungen die man machen werde, sich gleichartiger und einheitlicher gestalten würden, so daß hieraus erst die Basis für ein g e m e i n s a m e s und d e f i n i t i v e s Gesetz gewonnen werden würde. Das jetzt zu schaffende Gesetz werde daher als ein provisorisches sich darstellen [Hervorh. d. Verf.].“1009
Auch im Reichstagsplenum setzten sich die Diskussionen um die fehlende Systematik des Rechtsmittelrechts in Strafsachen fort. So fasste der Vorsitzende der Reichsjustizkommission Miquèl während der zweiten Beratung des Plenums den Streit um eine konsistente Gestaltung der Strafprozessordnung folgendermaßen zusammen:
1005
Protokolle der Kommission, in: Hahn (Hrsg.), Materialien zur StPO, Bd. III/2, S. 1204. Protokolle der Kommission, in: Hahn (Hrsg.), Materialien zur StPO, Bd. III/2, S. 1204; die Forderung nach der Einstimmigkeit der schöffengerichtlichen Urteile konnte sich jedoch im weiteren Verlauf der Lesungen und Beratungen nicht durchsetzen. 1007 Protokolle der Kommission, in: Hahn (Hrsg.), Materialien zur StPO, Bd. III/2, S. 1205. 1008 Protokolle der Kommission, in: Hahn (Hrsg.), Materialien zur StPO, Bd. III/2, S. 1205. 1009 Protokolle der Kommission, in: Hahn (Hrsg.), Materialien zur StPO, Bd. III/2, S. 1205. 1006
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„Ich frage, ob das in der jetzigen Lage noch möglich ist, um vor Weihnachten die Justizgesetze zum Abschluss zu bringen? Ich halte es für kaum denkbar, es würden wieder alle die Streitigkeiten über die Frage beginnen, ob die Garantien, die wir hier votirt haben, lediglich mit Rücksicht auf die Berufung gegeben sind. Der Eine wird sagen: Diese Garantien will ich für alle Fälle, sie stehen gar nicht mit der Berufung im Zusammenhang; der Andere wird erwidern: wir können die Garantien jetzt fallen lassen, weil wir die Berufung gewonnen haben, und die Regierungen werden ihrerseits die Garantien sämmtlich bekämpfen, weil sie sich nur durch den Umstand bewegen ließen, die Garantien zuzulassen, weil die Berufung fehlte. […] Ich […] komme aber schließlich doch zu der Entscheidung, die Berufung vorläufig fahren zu lassen, vorzugsweise indem ich mir vorhalte, daß ein Aufschub selbst von einigen Jahren eine größere Einmüthigheit nicht bringen wird. Die selben Erfahrungen pro et contra werden bestehen, dieselben verschiedenen Zustände in den einzelnen Ländern werden vorhanden sein. Wir müssen die Frage durchschauen, wie sie einmal liegt, und da schlage ich nach der Richtung hin, die am meisten das Zustandekommen der Justizgesetze fördert.“1010
Miquèl erblickte, wie schon von Schwarze, in der Strafprozessordnung – welche die verschiedenen Systeme der unterschiedlichen deutschen Länder zu vereinen suchte und der es deshalb an einer eigenen Systematik mangelte – ein Provisorium, mit dem lediglich erste gesamtdeutsche strafprozessuale Erfahrungen gemacht werden sollten. So stellte auch er klar: „Es sind Uebergangszustände, die wir heute schaffen; eine Revision [der Strafprozessordnung] auf Grund e i n h e i t l i c h e r Praxis kann in dieser Richtung nicht ausbleiben. Aber wer in der Justizkommission gesessen hat, weiß, daß eine gründliche und s y s t e m a t i s c h e Reform unseres Rechtswesens, unserer Gerichte und des Verfahrens vor denselben nur möglich ist auf Grund einer einheitlichen deutschen Praxis. Sehr richtig ist gesagt: im großen und ganzen vertritt jeder das, was er kennt. […] Haben wir eine einheitlich deutsche Praxis, dann wäre ich sicher, daß die Reform, welche sich als nothwendig auf Grund gemeinschaftlicher Erfahrung herausstellen wird, nicht lange ausbleiben kann; dann wird auch erst die Frage der Berufung zum definitiven Austrag kommen. [Hervorh. d. Verf.]“1011
Auch Abgeordneter von Schwarze, der nunmehr als Berichterstatter der Kommission vor das Plenum trat, hob unmissverständlich hervor: „Wir wissen sehr wohl, daß unsere Arbeit, die wir Ihnen vorlegen, durchaus weder ein Muster- noch ein Meisterwerk ist; wir wissen wohl, daß in dem großen Deutschen Reiche, wo wir auf Grund bereits vorhandener Gerichtseinrichtungen, gegenüber bereits gegebener Erfahrungen etwas Allgemeines schaffen wollen und sollen, wir kaum in der Lage gewesen sind, etwas Befriedigendes herzustellen, weil wir überall auf vorhandene Verhältnisse Rücksicht nehmen mußten.“1012 1010 Beratungen im Plenum des Reichstags, in: Hahn (Hrsg.), Materialien zur StPO, Bd. III/ 2, S. 1977. 1011 Beratungen im Plenum des Reichstags, in: Hahn (Hrsg.), Materialien zur StPO, Bd. III/ 2, S. 1977. 1012 Beratungen im Plenum des Reichstags, in: Hahn (Hrsg.), Materialien zur StPO, Bd. III/ 2, S. 1983.
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2. Kap.: Eine historische Betrachtung der Entwicklung der Revision
So einigte man sich letztlich auf Kompromisse, um das Zustandekommen einer gesamtdeutschen Strafverfahrensordnung nicht zu gefährden. Die Kompromisse mündeten in einer Strafprozessordnung, welche selbst als ein Provisorium betrachtet wurde. Anhand dieses provisorischen Gesetzes sollten zunächst gesamtdeutsche Erfahrungen mit einem einheitlichen Strafverfahren gesammelt werden, um basierend auf diesen Erfahrungen eine definitive Strafprozessordnung für das Deutsche Reich zu erlassen, in der auch das Rechtsmittelrecht endgültig geregelt werden sollte. Dieser provisorisch-kompromisshafte Charakter der Strafprozessordnung war es auch, der den II. Deutschen Reichstag leitete, als auch er am 21. Dezember 1876, nur fünf Tage vor dem Ende der Legislaturperiode, endgültig beschloss, dass eine Berufung ausschließlich gegen die Urteile der Schöffengerichte stattfinden sollte.1013 Aus diesem zunächst als provisorisch gedachten Zustand ist nunmehr eine Dauerlösung geworden, sodass bis heute ausschließlich gegen Urteile der amtsgerichtlichen Spruchkörper die Berufung zulässig ist.
IV. Beibehaltung der Berufung trotz Nivellierung des Strafverfahrens vor Amts- und Landgerichten im 20. Jahrhundert Dabei können die dürftigen Gründe, die 1877 für eine Berufung gegen Urteile der Amtsgerichte vorgebracht wurden, heute erst recht nicht mehr überzeugen. So hat das Verfahren vor den Amtsgerichten schon längst seinen summarischen Charakter verloren. Auch in amtsgerichtlichen Strafsachen muss der Vorsitzende heute gem. § 201 StPO, anders als noch nach § 199 Abs. 4 RStPO, dem Angeschuldigten die Anklageschrift mitteilen und ihn auffordern, zu erklären, ob er die Vornahme einzelner Beweiserhebungen vor der Entscheidung über die Eröffnung des Hauptverfahrens beantragen oder Einwendungen gegen die Eröffnung des Hauptverfahrens vorbringen will. Auch ist der heutigen Strafprozessordnung eine mit § 211 Abs. 1 RStPO vergleichbare Vorschrift unbekannt, die noch vorsah, dass vor dem Schöffengericht ohne schriftlich erhobene Anklage und ohne eine Entscheidung über die Eröffnung des Hauptverfahrens zur Hauptverhandlung geschritten werden kann, wenn der Beschuldigte entweder sich freiwillig gestellt hatte oder in Folge einer vorläufigen Festnahme dem Gericht vorgeführt oder bloß wegen einer Übertretung verfolgt wurde. Heute bedarf es vielmehr in allen ordentlichen amtsgerichtlichen Strafsachen einer schriftlichen Anklageerhebung und der Durchführung eines Eröffnungsverfahrens. Auch für die Ablehnung von Beweisanträgen vor den Amtsgerichten gelten heute dieselben Grundsätze wie vor den Landgerichten. Eine mit dem § 244 Abs. 2 RStPO vergleichbare Vorschrift, die noch bestimmte, dass in den Verhandlungen vor den Schöffengerichten allein das Gericht den Umfang der Be1013 Beratungen im Plenum des Reichstags, in: Hahn (Hrsg.), Materialien zur StPO, Bd. III/ 2, S. 2116.
C. Gründe für die Existenz der Berufung
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weisaufnahme bestimmt, ist der Strafprozessordnung in der geltenden Fassung unbekannt. Damit unterscheidet sich das Verfahren vor den Amtsgerichten bei rechtlicher Betrachtung heute kaum noch von dem Verfahren vor den Landgerichten. Der gelegentliche Verweis auf die summarische Ausgestaltung des amtsgerichtlichen Strafverfahrens als eine Rechtfertigung für die Berufung in Amtsgerichtssachen stellt insofern eine bloße Fortschreibung der Argumentation des historischen Gesetzgebers dar, der jedoch die Reformen außer Acht lässt, die das amtsgerichtliche Verfahren zwischenzeitlich erfahren hat. Selbst die von dem Bundesministerium der Justiz und für Verbraucherschutz eingesetzte Expertenkommission zur Reform des Strafprozessrechts scheint diesen Umstand in ihrem im Oktober 2015 veröffentlichten Bericht zu verkennen, wenn sie darauf verweist, „dass das strafrichterliche Verfahren beim Amtsgericht zu möglichst raschen Entscheidungen führen soll“.1014 Ebenso knüpft auch das Argument, wonach die „schwächere“ Besetzung der Amtsgerichte eine Berufung notwendig mache, an Erwägungen des historischen Gesetzgebers an. Dieser nahm jedoch nicht pauschal auf die geringere Anzahl an Richterpersonen, sondern vor allem auf die Besetzung der Schöffengerichte mit einem Richter und zwei Laien Bezug. Konsequenterweise führte er deshalb gegen amtsgerichtliche Urteile eine ausschließlich mit rechtsgelehrten Richtern besetzte Berufungsinstanz ein – die in der Berufungsinstanz damals noch mit drei Berufsrichtern besetzten Strafkammern sollten nämlich sicherstellen, dass ein schöffengerichtliches Urteil nötigenfalls durch eine rein berufsrichterliche Instanz korrigiert werden konnte. Heute jedoch vermag dieses Argument kaum noch zu überzeugen, da die Besetzung der kleinen Strafkammer der des Schöffengerichts entspricht, sodass dieser vermeintliche Vorteil des Berufungsverfahrens allenfalls noch in Strafrichtersachen gegeben ist. Dass jedoch die bloße Anzahl der Richter in der ersten Instanz nicht die Notwendigkeit der Berufung bedingen kann, wurde bereits an anderer Stelle dargelegt, sodass insoweit auf diese Ausführungen verwiesen wird.1015 Vor allem aber ist die gerichtliche Voruntersuchung, die von dem historischen Gesetzgeber noch als ein wesentlicher Aspekt für die Notwendigkeit der Berufung gegen die Urteile der Schöffengerichte herangezogen worden war, zwischenzeitlich durch das 1. StVRG von 19741016 abgeschafft worden. Ein Schritt, der damit begründet wurde, dass Zeugen, Sachverständige und Beschuldigte bis dahin nicht verpflichtet waren, vor der Staatsanwaltschaft zu erscheinen, sodass eine gerichtliche Voruntersuchung oftmals schon beantragt werden musste, damit eine Vernehmung der entsprechenden Personen im Vorverfahren vorgenommen werden konnte.1017 Gerade bei schwierigen Vernehmungen habe dies zur Folge gehabt, dass diese nicht 1014
Bericht der Expertenkommission 2015, S. 152 f. Vgl. S. 187 ff. 1016 Erstes Gesetz zur Reform des Strafverfahrensrechts (1. StVRG) vom 9. Dezember 1974, BGBl. I 1974/132, 3393. 1017 So BT-Drs. 7/551, S. 38. 1015
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2. Kap.: Eine historische Betrachtung der Entwicklung der Revision
durch den ermittelnden Staatsanwalt, sondern durch einen mit der Sache kaum vertrauten Untersuchungsrichter oder Ermittlungsrichter durchgeführt werden musste.1018 Dieser Rechtszustand, bei dem sich die Richter oftmals für eine einzige Vernehmung in teilweise umfangreiche Ermittlungsakten einzuarbeiten hätten, sei immer mehr als unbefriedigend und unökonomisch empfunden worden.1019 Inwieweit diese Argumentation angesichts der häufigen staatsanwaltlichen Taktik, Zeugen in beweiskritischen Fällen ungeachtet der eigenen Vernehmungskompetenz durch einen Ermittlungsrichter vernehmen zu lassen, überzeugen kann, sei dahingestellt. Tatsächlich muss die Abschaffung der gerichtlichen Voruntersuchung aus der Perspektive des Rechtsschutzes wohl sogar als ein Rückschritt angesehen werden, wenn man bedenkt, dass die gerichtliche Voruntersuchung vor allem dem Zweck diente, schwerwiegende Rechtseingriffe im Ermittlungsverfahren nicht der Staatsanwaltschaft zu überlassen. Dennoch heißt es hierzu in der Begründung zum 1. StVRG lapidar, dass es für den Schutz der Rechte des Beschuldigten ausreichend sei, wenn eingriffsintensive Ermittlungsmaßnahmen einer richterlichen Kontrolle unterlägen, was bereits durch den Ermittlungsrichter sichergestellt werde.1020 Soweit es in der Begründung zu dem 1. StVRG weiter heißt, die „Staatsanwaltschaft wird als ein zur Objektivität und Gerechtigkeit verpflichtetes Organ der Strafrechtspflege von den ihr eingeräumten Befugnissen nur unter der gebotenen Wahrung der Rechte des Betroffenen Gebrauch machen“1021, kommt darin zwar das freilich vielzitierte Bild der Staatsanwaltschaft als die „objektivste Behörde der Welt“ zum Ausdruck.1022 Allerdings geht dieser Ausspruch auf eine Fehlrezeption einer Äußerung von von Liszt aus dem Jahr 1901 zurück. Die in einer Rede vor dem Berliner Anwaltsverein getätigte Aussage lautete nämlich im Kontext: „[D]ie Parteistellung der Staatsanwaltschaft ist allerdings durch unsere Prozeßordnung besonders verdunkelt worden. Durch die Aufstellung des Legalitätsprinzips, durch die dem Staatsanwalt auferlegte Verpflichtung, in gleicher Weise Entlastungs- wie Belastungsmomente zu prüfen, durch das ihm eingeräumte Recht, Rechtsmittel zu Gunsten des Beschuldigten einzulegen, u. s. w. könnte ein bloßer Civiljurist zu der Annahme verleitet werden, als wäre die Staatsanwaltschaft nicht Partei, sondern die objektivste Behörde der Welt [Hervorh. d. Verf.]. Ein Blick in das Gesetz aber reicht aus, um diese Entgleisung als solche zu erkennen.“1023
Und tatsächlich macht man möglicherweise „den Bock zum Gärtner“, wenn man den Schutz der Rechte des Angeklagten in die Hände der Anklagebehörde legt. 1018
BT-Drs. 7/551, S. 38. BT-Drs. 7/551, S. 38. 1020 BT-Drs. 7/551, S. 38. 1021 BT-Drs. 7/551, S. 68. 1022 Wenn auch oftmals ironisierend, für eine ernstliche Verwendung: vgl. etwa Hamm, NJW 1999, 3097, 3097; Haller/Conzen, Das Strafverfahren, Rn. 123; Rautenberg, NJ 2003, 169, 170; Safferling, Internationales Strafrecht, § 7 Rn. 32. 1023 Liszt, DJZ 1901, 179, 180. 1019
D. Zusammenfassende Analyse
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Jedenfalls hat die Abschaffung der gerichtlichen Voruntersuchung, und die damit erfolgte Aufteilung der Befugnisse des Untersuchungsrichters auf die Staatsanwaltschaft und den Ermittlungsrichter,1024 zur Folge, dass auch in den landgerichtlichen Strafsachen für die Untersuchung der Tatfragen nur noch eine richterliche „Instanz“ zur Verfügung steht. In den amtsgerichtlichen Strafsachen allerdings stehen nach wie vor zwei richterliche Instanzen zur Verfügung, die mit der Tatfrage befasst werden können, obwohl alle (!) Gründe, die ursprünglich für eine Berufung in diesen Sachen ins Feld geführt worden waren, heute nicht mehr einschlägig sind. Der Instanzenzug in Strafsachen stellt sich damit letztendlich als ein Relikt vergangener Tage dar, der systematisch kaum zu erklären und wenig konsistent ist.
D. Zusammenfassende Analyse Zusammenfassend kann also festgehalten werden, dass die Vorstellung, wonach in Strafsachen kein vollumfassendes Rechtsmittel gewährt werden sollte, sich bereits früh entwickelt hatte. So hatten sich Landesherren bereits im 15. Jh. oftmals das Privileg gesichert, wonach eine Appellation von ihren Gerichten zu dem königlichen Hofgericht ausschlossen war.1025 Der Reichsabschied zu Augsburg von 1530 bestimmte sogar generell, dass das 1495 errichtete Reichskammergericht in peinlichen Sachen keine Appellationen mehr annehmen durfte. Diese Regelung wurde von vielen partikularen Gesetzgebern als ein allgemeiner Grundsatz des Strafverfahrens begriffen, sodass alsbald selbst eine landesinterne Appellation in Strafsachen nicht mehr gestattet war.1026 Begünstigt wurde diese Entwicklung zudem durch die Vorstellung, dass eine wiederholte Verhandlung derselben Sache mit dem summarischen Charakter des nunmehr geltenden Inquisitionsverfahrens unvereinbar und mit Blick auf das Geständnis als Grundlage des Urteils auch überflüssig war.1027 Im Zeitalter des liberalen Rechtsstaates (1806 bis 1900) wurde die Appellation in der deutschen Rechtswissenschaft jedoch erneut aus dem französischen Recht rezipiert.1028 Allerdings bereitete es den deutschen Partikularstaaten größte Schwierigkeiten, die Appellation in Strafsachen, deren Notwendigkeit durchaus erkannt worden war, stets mit der ebenfalls aus dem französischen Recht gemeinsam mit der Schwurgerichtsbarkeit rezipierten freien Beweiswürdigung in Einklang zu bringen.1029 Obwohl in Frankreich nahezu alle erstinstanzlichen Urteile mit der Appellation angefochten werden konnten,1030 wurde eine vollumfassende Appellation, die 1024 1025 1026 1027 1028 1029 1030
BT-Drs. 7/551, S. 39, 40. Vgl. S. 80 f. Vgl. S. 85 f. Zum Verbot der Appellation in der frühen Neuzeit vgl. S. 82 ff. Vgl. S. 88 ff. Vgl. S. 92 ff., 134 f., 138 ff., 160 ff. Vgl. S. 93 f.
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2. Kap.: Eine historische Betrachtung der Entwicklung der Revision
auch eine Nachprüfung der im Wege der freien Beweiswürdigung getroffenen tatrichterlichen Sachverhaltsfeststellungen ermöglichte, in den deutschen Gebieten als eine unzulässige Einschränkung der freien Beweiswürdigung empfunden. Somit hielten letztendlich lediglich Preußen, das Herzogtum Anhalt, die thüringischen Staaten, Hessen, Bayern, Bremen und Lübeck bis zur Einführung der Reichsstrafprozessordnung an der einen oder anderen Form der Appellation fest.1031 Die Vorstellung, dass die im Wege der freien Beweiswürdigung gefundenen Ergebnisse der mündlichen Hauptverhandlung keiner Appellation zugänglich sein sollten, beruhte dabei auf den sog. irrationalen Überzeugungslehren,1032 von denen sich die Rechtswissenschaft eigentlich bereits zur Mitte des 19. Jh. hin verabschiedet hatte.1033 Dort war man nämlich zu dem Schluss gelangt, dass Entscheidungen berufsrichterlicher Kollegien, die auf der freien Beweiswürdigung beruhten – anders als der Wahrspruch der Geschworenen –, nachprüfbar und begründet sein mussten.1034 Hierdurch sollte, ähnlich wie schon zuvor durch gesetzliche Beweisregeln oder durch die Beteiligung der Geschworenen, sichergestellt werden, dass richterliche Urteile frei von Willkür blieben.1035 Doch anders als etwa der preußische Gesetzgeber, der sich maßgeblich von diesen Erwägungen leiten ließ,1036 hatten viele andere partikulare Rechtsordnungen weniger stringente Lösungsansätze entwickelt, um den vermeintlichen Konflikt zwischen der freien Beweiswürdigung und der Appellation zu lösen. Selbst dort, wo sie von ihren Tatrichtern eine umfassende Urteilsbegründung verlangten, sahen sie nämlich oftmals kein vollumfassendes Rechtsmittel gegen die erstinstanzlichen Urteile vor, sodass in diesen Fällen die aufgrund der Urteilsbegründung erkennbaren Mängel faktisch nicht gerügt werden konnten.1037 Bemerkenswerterweise ließ sich auch der Reichsgesetzgeber bei dem Entwurf einer gemeinsamen Strafprozessordnung für das Deutsche Reich von der Vorstellung leiten, dass gegen tatrichterliche Urteile, die auf einer freien Beweiswürdigung beruhten, kein vollumfassendes Rechtsmittel zulässig sei. Dabei verzichtete er sogar darauf, von dem Tatrichter überhaupt Gründe für seine Beweiswürdigung zu verlangen, da er davon ausging, dass es nicht möglich sei, Feststellungen, die auf einer freien Beweiswürdigung beruhten, mit Gründen zu versehen. Es sollte vielmehr ausreichen, dass der Tatrichter in seinem Urteil die objektiven Entscheidungsgründe (also die Feststellungen selbst, ohne eine Darlegung der Beweiswürdigung) und eventuelle Indizien angab, die zu dieser Feststellung geführt hatten.1038 1031
Zur Abschaffung der Appellation in den Partikularstaaten vgl. S. 95. Zu der französischen Lehre von der intime conviction vgl. S. 134 f.; zu der deutschen Lehre vom Totaleindruck ohne Reflexion, S. 150 ff. 1033 Vgl. S. 157 ff. 1034 Vgl. S. 172 ff. 1035 Vgl. S. 153 f. 1036 Vgl. S. 175 f. 1037 Vgl. S. 176 f. 1038 Vgl. S. 177 ff. 1032
D. Zusammenfassende Analyse
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So war der Reichsgesetzgeber letztendlich zu einem Verständnis von der freien Beweiswürdigung zurückgekehrt, das bereits zur Mitte des 19. Jh. als überwunden galt. Damit sah der Entwurf der Strafprozessordnung gegen strafrechtliche Urteile zunächst sogar generell nur eine auf Rechtsfragen beschränkte Revision (revisio in iure) vor, die vor allem der Rechtsvereinheitlichung im Deutschen Reich zu dienen bestimmt war.1039 Die Tatsache, dass die endgültige Fassung der Strafprozessordnung von 1877 gegen amtsgerichtliche Urteile eine Berufung vorsah, stellt sich demnach als eine systemwidrige Entscheidung dar.1040 Zumal der historische Gesetzgeber mit der konkreten Ausgestaltung der Berufung weit über sein Ziel hinausgeschossen war, sahen doch selbst die partikularen Rechtsordnungen soweit ersichtlich kein Rechtsmittel vor, das zu einer vollständigen Neuverhandlung der Sache vor einem höheren Gericht geführt hätte. Begründet wurde die Einführung der Berufung dabei vor allem mit der Tatsache, dass vor den Schöffengerichten lediglich ein summarisches Verfahren stattfand, bei dem selbst die zu jener Zeit als Berufungssubstitut angesehene gerichtliche Voruntersuchung nicht zulässig war.1041 Damit sollte die Berufung in amtsgerichtlichen Strafsachen dieselben Garantien gewährleisten, die in den Strafkammersachen durch die stärkere Besetzung der Strafkammer, das umfangreichere Verfahren und eben die gerichtliche Voruntersuchung als gegeben angesehen wurden. Zusammenfassend kann also festgehalten werden, dass das derzeitige Rechtsmittelsystem in Strafsachen – trotz aller Versuche der Rechtswissenschaft dieses zu legitimieren – auf einem System der Systemlosigkeit beruht, das keiner dogmatischen Erläuterung zugänglich ist.1042 Darauf deuten auch die zahlreichen Versuche hin, die in den Jahren seit dem Inkrafttreten der Strafprozessordnung unternommen wurden, auch in den Strafkammersachen eine Berufung einzuführen, und im vierten Kapitel der vorliegenden Schrift beschrieben werden. Die Entwicklung der Revision als einzig zulässiges Rechtsmittel gegen erstinstanzliche Urteile der Land- und Oberlandesgerichte, und die damit einhergehende Beschränkung des einzigen Rechtsmittel in diesen Sachen auf Rechtsfragen, beruht demnach also vor allem auf Irrtümern und Kompromissen des historischen Gesetzgebers, die sich insgesamt einer systematischen Erklärung entziehen.
1039 1040 1041 1042
Vgl. hierzu schon S. 55 ff. Zu den Überlegungen, die gegen eine Berufung sprachen, vgl. S. 193 ff. Vgl. S. 202 ff. Vgl. schon Kern, Geschichte des Gerichtsverfassungsrechts, S. 108.
3. Kapitel
Die höchstrichterliche Erweiterung der Revision auf Tatfragen Obwohl der eindeutige Wille des historischen Gesetzgebers dahinging, dass allein der Tatrichter für die Sachverhaltsfeststellungen verantwortlich sein sollte, sind Feststellungen der Tatgerichte in der heutigen Revisionspraxis keinesfalls von jeglicher überinstanzlichen Nachprüfung frei. Bekanntermaßen können nämlich auch Mängel der Feststellungen und der Beweiswürdigung zu einer Aufhebung des tatrichterlichen Urteils führen, wenn diese widersprüchlich, unklar oder lückenhaft sind bzw. gegen Denkgesetze oder gesicherte Erfahrungssätze verstoßen – selbiges gilt für Feststellungen, die der allgemeinen Lebenserfahrung widersprechen oder nicht hinreichend begründet sind.1043 Diese ausschließlich richterrechtlich erfolgte Erweiterung der Revision auf bestimmte Aspekte der Tatfragen ermöglicht den Revisionsgerichten, Urteile bereits im Rahmen der allgemeinen Sachrüge aufzuheben, sofern sie die tatrichterlichen Sachverhaltsfeststellungen als offensichtlich mangelhaft einstufen. Ausführlich beschrieben wurde diese – in aller Regel unter den Stichwörtern Darstellungskontrolle oder Darstellungsrüge diskutierte1044 – Erweiterung der Revision erstmalig von Fezer,1045 der bereits 1974 im Rahmen einer umfassenden Auswertung der Urteile des Bundesgerichtshofs aus dem Jahre 1970 darlegte, dass bestimmte tatsächliche Mängel eine Aufhebung von Urteilen zur Folge haben konnten. Er fasste diese Mängel dabei zu vier Fallgruppen zusammen: (1.) Denk- und Erfahrungsverstöße, (2.) Unklarheit, Widersprüche etc., (3.) lückenhafte Beweiswürdigung und (4.) unvollständige Feststellungen.1046 Die Ausführungen von Fezer gelten noch heute als bahnbrechend, da zuweilen angenommen wird, dass der Gesetzgeber gerade aufgrund dieser Erkenntnisse seine Bemühungen um eine Reform des Rechtsmittelrechts in Strafsachen ad acta gelegt hat.1047 1043
Diese Tatsache gilt mittlerweile als derart selbstverständlich, dass sie selbst in der Ausbildungslitertaur für Rechtsreferendare umfassende Erläuterungen erfahren haben, vgl. etwa Russack, Die Revision in der strafrechtlichen Assessorklausur, Rn. 522 ff. 1044 Vgl. Franke, in: Löwe/Rosenberg, vor § 333 Rn. 4 f.; Franke, in: Löwe/Rosenberg, § 337 Rn. 94 ff. 1045 Fezer, Die erweiterte Revision; vgl. aber auch Rieß, NStZ 1982, 49 ff.; Barton, in: FS Fezer, S. 333 ff. 1046 Fezer, Die erweiterte Revision, S. 13 ff. 1047 So Barton, in: FS Fezer, S. 333, und Rieß, in: FS Fezer, S. 455; vgl. auch Rieß, in: FS Hanack, S. 402. Diese Annahme dürfte allerdings nicht ganz zutreffend sein, da es in der
3. Kap.: Die höchstrichterliche Erweiterung der Revision auf Tatfragen
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Dass die Bedeutung dieser erweiterten Revision auch in der Folgezeit kaum abgenommen hat, belegt eine 2008 veröffentlichte Untersuchung von Barton, wonach im Jahre 2005 immerhin 56 von 305 (18,4 %) erfolgreichen Revisionen am Bundesgerichtshof eine erweiterte Revision zugrunde lag.1048 Damit war die sog. Darstellungsrüge in jenem Jahr statistisch sogar bedeutsamer als die gesetzlich geregelte Verfahrensrüge, auf die in demselben Zeitraum lediglich 38 der 305 (12,5 %) erfolgreichen Revisionen entfielen.1049 Barton weist insoweit auch darauf hin, dass die von Fezer 1974 formulierten Fallgruppen sich auch noch in der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs aus dem Jahre 2005 wiederfinden.1050 Ungeachtet dessen soll es vorliegend nicht darum gehen, diese Fallgruppen erneut empirisch herzuleiten oder weitere Fallgruppen der erweiterten Revision ausfindig zu machen. Gerade mit Blick auf die vergleichsweise jüngeren Befunde von Barton besteht hierfür wohl auch kein Bedürfnis. Insoweit kann vollumfassend auf die Schrift von Fezer aus dem Jahre 19741051, auf die Habilitationsschrift desselben aus 19751052 sowie auf die Beiträge von Barton in der Festschrift für Fezer aus dem Jahr 20081053 und in der Gedächtnisschrift für Weßlau aus 20161054 verwiesen werden. Im vorliegenden Kapitel soll vielmehr anhand von Beispielen aus der Rechtsprechung des Reichsgerichts und des Bundesgerichtshofes nachvollzogen werden, wie eine solche Ausweitung der Revision auf die Tatfragen überhaupt möglich war, obwohl der historische Gesetzgeber sich insoweit eindeutig positioniert hatte. Hierbei will sich der Verfasser auf eine exemplarische Darstellung der Rechtsprechung beschränken, ohne die teils widersprüchliche und zu einem großen Teil kasuistische Rechtsprechung zu der sog. erweiterten Revision nur ansatzweise vollständig zusammentragen zu wollen. Auch insoweit sei auf die zahlreichen Beiträge verwiesen, die sich bereits im unterschiedlichen Maße an Ähnlichem versucht haben.1055 Begründung zum Diskussionsentwurf 1975 noch heißt, dass die zeitgenössische Revision mit der Revision des Jahres 1877 nur noch den Namen gemeinsam habe, da sie von den Revisionsgerichten kontinuierlich in Richtung auf eine stärkere Überprüfung der tatsächlichen Grundlagen des Urteils fortgebildet worden sei (Allgemeine Begründung zu dem Diskussionsentwurf 1975, S. 29). Dennoch sah der Entwurf umfassende Reformen des Rechtsmittelrechts vor (vgl. hierzu ausführlich S. 399 ff.), sodass allein die Erkenntnis um die höchstrichterliche Erweiterung der Revision den Gesetzgeber ganz offensichtlich nicht davon abgehalten hat, seine Reformvorhaben vollständig aufzugeben. 1048 Barton, in: FS Fezer, S. 340. 1049 Barton, in: GS Weßlau, S. 41 f. 1050 Barton, in: FS Fezer, S. 340. 1051 Fezer, Die erweiterte Revision. 1052 Fezer, Möglichkeiten einer Reform, S. 94 ff. 1053 Barton, in: FS Fezer, S. 333 ff. 1054 Barton, in: GS Weßlau, S. 35 ff. 1055 Vgl. hierzu etwa Fezer, Möglichkeiten einer Reform, S. 94 ff.; Peters, in: FS Schäfer, S. 137 ff.; wenn auch nicht vollständig, mit Hinweis auf zahlreiche Feststellungsmängel und Fundstellen für ihre revisionsgerichtliche Überprüfung: Maul, in: FS Pfeiffer, S. 410 ff. Vgl.
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3. Kap.: Die höchstrichterliche Erweiterung der Revision auf Tatfragen
Da eine revisionsgerichtliche Darstellungskontrolle jedoch bereits denklogisch an tatrichterliche Darstellungspflichten anknüpft, wird im vorliegenden Kapitel zunächst herausgearbeitet, welche geringen Anforderungen das Gesetz an die Urteilsgründe des Tatrichters stellt (A.), bevor aufgezeigt wird, in welchen Schritten die Revision auch auf die Tatfragen ausgeweitet wurde (B.). Anschließend wird erörtert, ob dieser Entwicklung der Rechtsprechung im Einzelnen bedingungslos zuzustimmen ist (C.).
A. Die gesetzlichen Anforderungen an die Urteilsgründe des Tatrichters I. Die tatrichterlichen Sachverhaltsfeststellungen als Grundlage des Urteils Die tatrichterlichen Sachverhaltsfeststellungen können im Grunde als das Destillat der gerichtlichen Untersuchung beschrieben werden, auf die in einem weiteren Schritt das materielle Recht anzuwenden ist, damit ein Schuld- und Rechtsfolgenausspruch ausgeworfen werden kann. Zu diesem Zweck hat der Tatrichter die von ihm im Rahmen der Beweisaufnahme erhobenen Beweise zu bewerten. Er muss also etwa entscheiden, ob den einzelnen Zeugen zu glauben ist, welche Bedeutung dem Gutachten eines Sachverständigen beizumessen ist oder wie einzelne Indizien zu verknüpfen sind.1056 Bei dieser Beweiswürdigung ist der Tatrichter grundsätzlich frei und an keine besonderen Beweisregeln gebunden.1057 Die von ihm zu würdigenden Beweistatsachen erlauben dem Tatrichter dabei entweder als sog. Haupttatsachen unmittelbar oder als sog. Indiztatsachen mittelbar einen Schluss auf das rechtlich zu bewertende historische Ereignis.1058 Das Ergebnis der endgültigen Überzeugung des Tatrichters stellen schließlich die tatrichterlichen Sachverhaltsfeststellungen dar, die damit eine prozedurale Wahrheit wiedergeben, welche jedenfalls für die Zwecke des Strafverfahrens als materiell wahr behandelt wird.1059 aber auch Franke, in: Löwe/Rosenberg, § 337 Rn. 104 ff.; Frisch, in: FS Eser, S. 257 ff.; Herdegen, in: FS Hanack, S. 321 f.; Jähnke, in: FS Hanack, S. 355 ff.; Nack, StV 2002, 510 ff.; Niemöller, StV 1984, 431 ff.; Rosenau, in: FS Widmaier, S. 521 ff. 1056 Kindhäuser, Strafprozessrecht, § 23 Rn. 1 f. 1057 § 261 StPO. 1058 Kindhäuser, Strafprozessrecht, § 20 Rn. 5 ff.; Kühne, Strafprozessrecht, Rn. 752 ff. 1059 Oft wird in diesem Zusammenhang ohne jede Differenzierung von der materiellen Wahrheit gesprochen (vgl. nur Eisenberg, Beweisrecht der StPO, Rn. 432). Meyer-Goßner dagegen etwa spricht stattdessen zutreffender von der forensischen Wahrheit (vgl. MeyerGoßner/Schmitt, StPO, § 261 Rn. 1). Auch wenn es sich bei der strafprozessualen Wahrheit nicht um eine bloß formelle Wahrheit in dem Sinne handeln kann, das jenes als wahr behandelt wird, was von dem Angeklagten und dem Ankläger unstreitig gestellt worden ist, erscheint auch dem Verfasser der Begriff der materiellen Wahrheit zu weitgehend. Hierdurch wird der fälschliche Eindruck erweckt, die im Strafverfahren ermittelte Wahrheit entspreche dem tat-
A. Die gesetzlichen Anforderungen an die Urteilsgründe des Tatrichters
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Allerdings müssen diese Tatsachenfeststellungen, anders als oftmals angenommen, keinesfalls auch zwingend die Überzeugung der Mehrheit des gerichtlichen Spruchkörpers wiedergeben. Denn die Abstimmung über die Schuldfrage und die Rechtsfolgen der Tat erfolgt in Rahmen der Urteilsberatung in den Strafsachen lediglich in Form einer Totalabstimmung, sodass eine Abstimmung über einzelne Beweismittel gerade nicht stattfindet.1060 Deshalb ist nicht auszuschließen, dass die erforderliche Mehrheit der Richter eines Kollegialgerichts sich bei einer Verurteilung zwar in der Schuld- und der Rechtsfolgenfrage einig sind, ihre Vorstellungen von dem tatsächlichen Lebenssachverhalt, der diesem Tenor zugrunde zu legen ist, dennoch erheblich voneinander abweichen. Nicht zuletzt deshalb erscheint es verfehlt, in diesem Zusammenhang von einer materiellen Wahrheit zu sprechen.1061 Die tatrichterlichen Sachverhaltsfeststellungen stellen damit letztendlich ein Kunstprodukt dar, das dem bereits verkündeten Urteil erst nachträglich beigefügt und in der Regel von dem zum Berichterstatter ernannten Richter des Spruchkörpers abgefasst wird. Auf die Abfassung der Urteilsgründe samt Feststellungen, die neben dem Hauptverhandlungsprotokoll grundsätzlich alleiniger Gegenstand der Revision ist, können dabei weder der Angeklagte noch die Staatsanwaltschaft Einfluss nehmen.1062 Selbst die ehrenamtlichen Richter wirken an der Abfassung des Urteils – das von ihnen nicht einmal unterschrieben wird1063 – nicht mit, da sie lediglich innerhalb der Hauptverhandlung dazu berufen sind, richterliche Aufgaben wahrzunehmen.1064 Damit können allenfalls die sonstigen Berufsrichter des Spruchkörpers Veränderungen an dem Urteilsentwurf des Berichterstatters herbeiführen. Die Feststellungen sächlichen historischen Geschehen. Tatsächlich jedoch wird bei der Rekonstruktion der objektiven materiellen Wahrheit, bedingt durch die Reduktion der Komplexität von Tatgeschehnissen, eine neue und eigene Wahrheit geschaffen (ähnl. schon Kühne, in: Löwe/Rosenberg, Einl. B, Rn. 22, der insofern von einer „eigene[n] prozedurale Realität“ spricht). Insofern kann die im Strafverfahren ermittelte Wahrheit niemals die Wiedergabe des tatsächlichen historischen Geschehensablaufes sein (ausführlich Pastor, in: FS Volk, S. 549). Deshalb erscheint es nur konsequent, statt des Begriffes der materiellen Wahrheit, der den Eindruck einer über die formelle hinausgehenden tatsächlichen Wahrheit erweckt, den Begriff der prozeduralen Wahrheit zu verwenden. So stellte schon Mittermaier 1834 fest: „Wollte er [gemeint ist der Gesetzgeber – Anm. d. Verf.] mehr verlangen, so würde er etwas Unmögliches fordern, da in Gegenständen, zu welchen historische Wahrheit gehört, nie absolute Wahrheit erreicht werden kann“, Mittermaier, Die Lehre vom Beweise, S. 74. Der durchaus ähnliche Begriff der prozessualen Wahrheit hingegen erinnert zu sehr an die formelle Wahrheit, während der Begriff der forensischen Wahrheit zu verkennen scheint, dass auch die formelle Wahrheit in aller Regel in einem „forum“ gewonnen wird. Freilich ist jede dieser Bezeichnungen bloßes Spiel mit Begrifflichkeiten, wobei dennoch nicht verkannt werden sollte, dass die im Strafverfahren festgestellte Wahrheit nur in den seltensten Fällen mit der materiellen – also der inhaltlich zutreffenden – Wahrheit übereinstimmen wird. 1060 Stuckenberg, in: Löwe/Rosenberg, § 263 Rn. 11. 1061 Vgl. schon Fn. 1059. 1062 Eschelbach, in: FS Widmaier, S. 129, 145. 1063 § 275 Abs. 2 StPO. 1064 §§ 30 Abs. 2, 76 Abs. 1 Satz 2 GVG.
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3. Kap.: Die höchstrichterliche Erweiterung der Revision auf Tatfragen
im Urteil unterliegen somit einem „Feststellungsermessen“ der Berufsrichter, ohne dass die Strafprozessordnung eine Möglichkeit vorsähe, nachprüfen zu lassen, ob das schriftliche Urteil tatsächlich mit den Erkenntnissen aus der Hauptverhandlung übereinstimmt bzw. dem Mehrheitskonsens des Spruchkörpers entspricht.1065 So überrascht es auch nicht, wenn es gelegentlich heißt, dass die Verfahrensbeteiligten sich über den letztendlichen Inhalt des schriftlichen Urteils wundern und das Gefühl haben, während der Hauptverhandlung „im falschen Film“ gewesen zu sein – sprich, nicht das erlebt zu haben, was das Gericht scheinbar erlebt, seiner Überzeugung zugrunde gelegt und als Feststellungen zur Sache abgefasst hat.1066
II. Die gesetzlichen Anforderungen an die Urteilsgründe Die Anforderungen an die Gründe eines Urteils, zu denen auch die Feststellungen zählen, hat der Gesetzgeber in § 267 StPO niedergelegt. Die bereits 1877 als § 266 RStPO eingeführte Vorschrift hat zwar seither einige Ergänzungen erfahren, blieb in seinem Kern jedoch im Wesentlichen unverändert. In ihrer heutigen Fassung haben die Absätze 1 bis 4 und Absatz 6 der Vorschrift verurteilende Urteile und Absatz 5 freisprechende Urteile zum Gegenstand. Der heutige § 267 Abs. 1 StPO stimmt dabei nahezu wörtlich mit dem ursprünglichen § 266 Abs. 1 RStPO überein: „1Wird der Angeklagte verurteilt, so müssen die Urteilsgründe die für erwiesen erachteten Tatsachen angeben, in denen die gesetzlichen Merkmale der Straftat gefunden werden. 2 Soweit der Beweis aus anderen Tatsachen gefolgert wird, sollen auch diese Tatsachen angegeben werden. 3Auf Abbildungen, die sich bei den Akten befinden, kann hierbei wegen der Einzelheiten verwiesen werden.“
Lediglich Satz 3 der Vorschrift, auf den es im Folgenden nicht ankommt, war der Reichsstrafprozessordnung noch unbekannt. 1. Pflicht zur Angabe der Haupttatsachen gem. § 267 Abs. 1 Satz 1 StPO § 267 Abs. 1 Satz 1 StPO bestimmt dabei, wie schon § 266 Abs. 1 Satz 1 RStPO, dass in den Urteilsgründen ausschließlich die von dem Tatrichter für erwiesen erachteten Tatsachen anzugeben sind, in denen die gesetzlichen Merkmale der Straftat gefunden werden. Danach ist der Tatrichter zunächst nur verpflichtet, anzugeben, welche subsumtionsrelevanten Tatsachen von ihm als erwiesen erachtet worden sind. Dahingegen enthält § 267 Abs. 1 Satz 1 StPO keine Pflicht des Tatrichters, auch seine Beweiswürdigung im Rahmen der Urteilsgründe anzugeben, also darzulegen, aus welchen Gründen er die von ihm festgestellten Tatsachen für erwiesen erachtet 1065 Vergleiche hierzu insgesamt sehr instruktiv und m. w. N. Eschelbach, in: FS Widmaier, S. 127 ff. 1066 Vgl. nur Döllen/Momsen, Freispruch (5) 2014, 3 ff.; Nack, in: FS Rieß, S. 368.
A. Die gesetzlichen Anforderungen an die Urteilsgründe des Tatrichters
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hat (sog. Beweisgründe) oder welche Beweismittel er seiner Überzeugung zugrunde gelegt hat.1067 Beispielhaft sei angenommen, ein Zeuge sagt vor einem Schwurgericht glaubhaft aus, dass er gesehen habe, wie der Angeklagte A das Opfer O mit drei gezielten Stichen getötet hat, um dem O anschließend seine wertvolle Uhr zu entwenden. Gelangt das Gericht aufgrund dieser Aussage zu der Überzeugung, dass A den O getötet hat, um seine wertvolle Uhr wegzunehmen, erachtet es eine Tatsache für erwiesen, in der unmittelbar die gesetzlichen Merkmale eines Mordes gefunden werden können (vorsätzliche Tötung aus Habgier). In diesem einfach gelagerten Fall wäre der Tatrichter also nach dem Wortlaut des § 267 Abs. 1 Satz 1 StPO lediglich verpflichtet, in den Urteilsgründen anzugeben, dass A den O getötet hat, um ihm eine wertvolle Uhr wegzunehmen. Er müsste nach dem Gesetzeswortlaut weder darlegen, warum er dem Zeugen geglaubt hat (Beweisgründe), noch müsste er anzugeben, dass er durch die Aussage eines Zeugen zu dieser Feststellung gelangt ist (Beweismittel). Diese konservative Auslegung von § 267 Abs. 1 Satz 1 StPO entspricht, wie schon zuvor ausgeführt, dem ausdrücklichen Willen des historischen Gesetzgebers, der sich insoweit von dem (fehlerhaften) Gedanken leiten ließ, dass die freie Beweiswürdigung als ein rein subjektiver Vorgang keiner Begründung zugänglich sein würde.1068 Bestätigt wird diese Auslegung der Vorschrift auch durch die Begründung eines letztlich nicht umgesetzten Gesetzesentwurfs vom 9. Mai 1885, mit dem gerade eine Beweisbegründungspflicht des Tatrichters normiert werden sollte. Dort heißt es nämlich: „Nach der bisher geltenden Bestimmung des §. 266 Absatz 1 der Strafprozeßordnung ist der erkennende Richter nicht verpflichtet, in den Urtheilsgründen die Beweismittel darzulegen, aus welchen er seine Überzeugung geschöpft hat; es genügt vielmehr, wenn er die für erwiesen erachteten Thatsachen angiebt, in welchen die gesetzlichen Merkmale der strafbaren Handlung gefunden werden. Bei der jetzigen Lage der Gesetzgebung genügt es demnach, wenn der Richter behulfs Feststellung einer erheblichen Thatsache die Erklärung abgiebt, er habe die Ueberzeugung von der Richtigkeit derselben gewonnen [Hervorh. d. Verf.].“1069
Bezüglich des § 266 Abs. 1 Satz 1 RStPO schlug der Entwurf deshalb die folgende Änderung vor: § 266 Abs. 1 RStPO Entwurf 1885 Wird der Angeklagte verurtheilt, so müssen Wird der Angeklagte verurtheilt, so müssen die Urtheilsgründe die für erwiesen erachteten die Urtheilsgründe die für erwiesen erachteten Thatsachen angeben, in welchen die gesetzli- Thatsachen angeben, in welchen die gesetzli1067 Kühne, Strafprozessrecht, Rn. 1000; nach Koppmann, Militärstrafgerichtsordnung, § 326, Note 7, sollen auch diese Aspekte zu den Beweisgründen zu zählen sein, wobei allerdings zu bedenken gilt, dass die entsprechenden Vorschriften der Militärstrafgerichtsordnung nicht mit jenen der Strafprozessordnung übereinstimmten, vgl. insofern auch S. 229 f. 1068 Vgl. S. 177 ff. 1069 Begründung zum Entwurf 1885, in: Verhandlungen des Reichstags, 6. Legislaturperiode, I. Session 1884/85, 7. Band, Aktenstück Nr. 399, S. 2009.
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3. Kap.: Die höchstrichterliche Erweiterung der Revision auf Tatfragen
chen Merkmale der strafbaren Handlung gefunden werden. Insoweit der Beweis aus anderen Thatsachen gefolgert wird, sollen auch diese Thatsachen angegeben werden.
chen Merkmale der strafbaren Handlung gefunden werden, und die Gründe angeben, aus welchen diese Thatsachen für erweisen erachtet worden sind.
Begründet wurde der Änderungsvorschlag damit, dass der – bis heute unverändert gebliebene – Wortlaut des § 266 Abs. 1 RStPO „nicht die nöthige Garantie [gewähre], daß alle für und wider den Angeklagten sprechenden Gründe gewissenhaft erwogen werden“.1070 Erst durch die Änderung der Vorschrift könne sichergestellt werden, dass der Tatrichter „sich nicht mehr mit einem unklaren Vertrauen auf das Vorhandensein der eigenen Ueberzeugung begnügen, sondern […] die letztere durch bestimmte Gründe rechtfertigen und darthun [muss], auf welchem Wege er zu der Ueberzeugung gelangt ist“.1071 Da dieser Entwurf jedoch nicht mehr Gesetz wurde, blieb es bei dem ursprünglichen Inhalt des § 266 Abs. 1 RStPO, der – bis heute – gerade keine Pflicht des Tatrichters vorsieht, seine Urteilsgründe um Beweisgründe zu ergänzen. 2. Pflicht zur Angabe der Indiztatsachen gem. § 267 Abs. 1 Satz 2 StPO Zwar wird gelegentlich in den etwas kryptisch anmutenden Satz 2 des § 267 Abs. 1 StPO eine Urteilsbegründungspflicht des Tatrichters hineingelesen, doch bei genauer Betrachtung enthält auch dieser keine Beweisbegründungspflichten des Tatrichters.1072 Die Vorschrift, die letztlich auf einen Vorschlag der Reichsjustizkommission zurückgeht,1073 bestimmt lediglich, dass der Tatrichter, soweit er den Beweis aus anderen Tatsachen als den Haupttatsachen folgert, auch diese anderen Tatsachen in den Urteilsgründen angeben soll. Demnach richtet sich die Vorschrift an den Tatrichter, der die Haupttatsachen – also die Tatsachen, welche die gesetzlichen Merkmale der Straftat enthalten – zwar nicht unmittelbar feststellen konnte, aber in der Lage war, sie aus anderen Tatsachen, nämlich den sog. Indiztatsachen, zu folgern. Beispielsweise sei angenommen, dass in dem obigen Beispiel die Tat des A von keinem Zeugen unmittelbar beobachtet wurde. Allerdings sagt der Zeuge X vor Gericht glaubhaft aus, dass er gesehen habe, wie A mit einem blutverschmierten Messer aus der Wohnung des O herauskam (Indiz 1). Zudem bestätigt der Sachverständige Y, dass ein Messer, das von der Polizei bei A sichergestellt worden ist, mit dem Tatwerkzeug übereinstimme (Indiz 2). Weiterhin sagt die Frau des O aus, dass bei der Leiche ihres Ehemannes seine Uhr nicht mehr aufzufinden sei und diese 1070
Begründung zum Entwurf 1885, in: Verhandlungen des Reichstags, 6. Legislaturperiode, I. Session 1884/85, 7. Band, Aktenstück Nr. 399, S. 2009. 1071 Begründung zum Entwurf 1885, in: Verhandlungen des Reichstags, 6. Legislaturperiode, I. Session 1884/85, 7. Band, Aktenstück Nr. 399, S. 2009. 1072 Vgl. Maul, in: FS Pfeiffer, S. 420. 1073 Vgl. S. 180 f.
A. Die gesetzlichen Anforderungen an die Urteilsgründe des Tatrichters
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einen „Straßenwert“ von 5.000 Euro habe (Indiz 3). Daneben weisen die dem Gericht von der Staatsanwaltschaft vorgelegten Bankauszüge des A einen außerordentlichen Eingang i. H. v. 4.200 E auf, den A nicht schlüssig zu erklären vermag (Indiz 4). Schließlich kann Zeuge Z dem Gericht glaubhaft versichern, dass A regelmäßig am örtlichen Schwarzmarkt verkehrt (Indiz 5). Durch eine isolierte Würdigung der einzelnen Beweismittel kann das Gericht dabei allenfalls den folgenden Sachverhalt unmittelbar feststellen: A wurde mit einem blutverschmierten Messer in der Nähe des Tatortes gesehen, das später bei ihm sichergestellt werden konnte. Zugleich wird die äußerst wertvolle Uhr des O vermisst, wobei das Konto des A einen unerklärlichen außerordentlichen Eingang aufweist, der annähernd mit dem Straßenwert der vermissten Uhr übereinstimmt. Der Angeklagte A ist zudem dafür bekannt, regelmäßig am örtlichen Schwarzmarkt zu verkehren. Für sich betrachtet enthält aber keines dieser Beweistatsachen die gesetzlichen Merkmale des Mordes. Folglich ist es unmöglich, diese Feststellungen unmittelbar unter den Tatbestand der §§ 212 Abs. 1, 211 StGB zu subsumieren. Möglich ist es jedoch, aus ihnen mit einer sehr hohen, an Sicherheit grenzenden Wahrscheinlichkeit zu folgern, dass A den O mit einem Messer getötet hat, um seine Uhr zu entwenden und zu verkaufen. Diese Folgerung wiederum lässt sich ohne Weiteres unter den Tatbestand der §§ 212 Abs. 1, 211 StGB subsumieren. In dem Fall, in dem das Gericht bloß aufgrund dieser Indiztatsachen zu der Überzeugung gelangt, dass A den O getötet hat, um ihm eine wertvolle Uhr wegzunehmen, soll es sich gem. § 267 Abs. 1 Satz 2 StPO nicht damit begnügen können, in den Urteilsgründen lediglich diese Haupttatsache (A hat den O getötet, um ihm eine wertvolle Uhr wegzunehmen) anzugeben. Vielmehr soll es in einem solchen Fall auch angeben, aus welchen Indiztatsachen es die Haupttatsache gefolgert hat. Eine etwas zugänglichere Formulierung des § 267 Abs. 1 Satz 1 und 2 StPO hätte damit etwa lauten können: „Wird der Angeklagte verurteilt, so müssen die Urteilsgründe die für erwiesen erachteten Tatsachen angeben, in denen die gesetzlichen Merkmale der in Frage stehenden Straftat gefunden wurden (Haupttatsachen). Soweit der Beweis für die Tat aus anderen Tatsachen gefolgert wird, welche die gesetzlichen Merkmale der Straftat nicht enthalten (Indiztatsachen), sollen in den Urteilsgründen auch diese angegeben werden. […]“
Letztlich enthält § 267 Abs. 1 Satz 2 StPO damit lediglich eine Ausnahme zu dem Grundsatz in Satz 1 der Vorschrift, wonach der Tatrichter in seinen Urteilsgründen bloß die Haupttatsachen (die tatsächlichen Feststellungen) anzugeben hat. Sofern der Tatrichter die Haupttatsachen lediglich aus Indiztatsachen folgert, soll er nämlich auch diese Indiztatsachen mitteilen müssen.1074 Darüber hinausgehende Urteilsbegründungspflichten des Tatrichters, insbesondere eine Pflicht, seine Feststellungen zu begründen, also die ihnen zugrunde liegende Beweiswürdigung offenzulegen, enthält aber auch § 267 Abs. 1 Satz 2 StPO nicht. 1074
Ähnl. auch Wagner, ZStW (106) 1994, 259, 268.
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3. Kap.: Die höchstrichterliche Erweiterung der Revision auf Tatfragen
3. Sonstige Begründungsanforderungen gem. § 267 Abs. 1 Satz 3 bis Abs. 6 StPO Weitere Begründungspflichten des Tatrichters enthalten nunmehr der Absatz 1 Satz 3 sowie die Absätze 2 bis 6 des § 267 StPO, ohne jedoch auch etwaige Beweisbegründungspflichten zu statuieren. So bestimmt § 267 Abs. 2 StPO, dass die Urteilsgründe darlegen müssen, warum vom Strafgesetz besonders vorgesehene Umstände, welche die Strafbarkeit ausschließen, vermindern oder erhöhen, für festgestellt oder nicht festgestellt erachtet worden sind, sofern sie in der Hauptverhandlung behauptet worden waren.1075 § 267 Abs. 3 StPO wiederum normiert umfangreiche Begründungspflichten für die Strafzumessung, wobei § 267 Abs. 3 Satz 1 StPO eine umfassende Begründungsgeneralklausel für die tatrichterliche Strafzumessung enthält, sodass die Regelungen in § 267 Abs. 3 Satz 2 bis 4 letztendlich nur deklaratorischer Natur sind.1076 Gemäß § 267 Abs. 3 Satz 5 und Abs. 4 Satz 2 StPO ist in den Urteilsgründen zudem anzugeben, ob dem Urteil eine Verständigung gem. § 257c StPO vorausgegangen ist. § 267 Abs. 6 StPO schließlich enthält die Pflicht des Gerichts, die Anordnung einer Maßregel der Besserung und Sicherung bzw. ihre Nichtanordnung trotz eines entsprechenden Antrags besonders zu begründen. Daneben enthält § 267 StPO auch Erleichterungen von den Urteilsbegründungspflichten, welche die Vorschrift grundsätzlich vorsieht. So darf etwa gem. § 267 Abs. 1 Satz 3 StPO wegen Einzelheiten der Urteilsgründe auf Abbildungen in den Verfahrensakten verwiesen werden. Gemäß § 267 Abs. 4 StPO braucht der Tatrichter lediglich eine abgekürzte Urteilsbegründung abzufassen, wenn gegen das Urteil keine Rechtsmittel mehr eingelegt werden können.1077 Auch bei einem Freispruch müssen die Urteilsgründe gem. § 267 Abs. 5 Satz 1 StPO lediglich angeben, 1075
Unter § 267 Abs. 2 StPO fallen vor allem Rechtfertigungsgründe, Schuldausschließungsgründe, Strafausschließungsgründe, Strafaufhebungsgründe sowie tatbestandsmäßig voll umschriebene Strafmilderungs- und Straferhöhungsgründe. Tatbestandsmäßig voll umschrieben sind neben Qualifikationen, Privilegierungen, § 41 StGB (Geldstrafe neben Freiheitsstrafe) und § 60 StGB (Absehen von Strafe) auch diejenigen Normen des StGB, die auf eine Milderung gem. § 49 StGB verweisen, vgl. Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, § 267 Rn. 15; Stuckenberg, in: Löwe/Rosenberg, § 267 Rn. 69. 1076 Ähnl. auch Rieß, in: Beiträge zur Entwicklung der deutschen Strafprozessordnung, S. 216, der jedoch auch davon ausgeht, dass die Absätze 2 und 6 deshalb überflüssig sind. Dem jedoch ist nicht zuzustimmen, da Absatz 2 nicht ausschließlich Strafzumessungsfragen, sondern auch strafmodifizierende Umstände auf Tatbestandsebene, namentlich Qualifikationen und Privilegierungen, umfasst. Absatz 6 wiederum befasst sich mit den Maßregeln der Besserung und Sicherung, die nicht an der Schuld der Tat anknüpfen und mithin ein aliud zur Strafe darstellen und folglich auch nicht Gegenstand der Strafzumessung i. e. S. sind. 1077 Grundsätzlich muss die Urteilsbegründung zwar auch in diesen Fällen die Tatsachenfeststellungen und das angewandte Strafgesetz enthalten, doch sofern das Urteil auf Geldstrafe, Verwarnung mit Strafvorbehalt, Fahrverbot oder Fahrerlaubnisentziehung lautet, ist es zulässig, diesbezüglich auf den Anklagesatz, den Strafbefehl oder den Antrag auf Strafbefehl zu verweisen. Anzugeben ist jedoch auch hier, ob i. R. d. Verhandlung eine Verständigung gem. § 257c StPO stattgefunden hat.
A. Die gesetzlichen Anforderungen an die Urteilsgründe des Tatrichters
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ob der Angeklagte aus tatsächlichen oder rechtlichen Gründen freigesprochen wurde – erfolgt der Freispruch dabei aus rechtlichen Gründen, bestimmt die Vorschrift mit Blick auf eine Sachrüge zulasten des Angeklagten, dass auch anzugeben ist, aus welchen Gründen das Tatgericht die Strafbarkeit verneint hat. Allerdings kann sich der Tatrichter gem. § 267 Abs. 5 Satz 2 StPO darauf beschränken, lediglich anzugeben, ob eine Straftat aus tatsächlichen oder rechtlichen Gründen nicht festgestellt werden konnte, sofern gegen das Urteil keine Rechtsmittel mehr eingelegt werden können. Im Übrigen bestimmt der Tatrichter gem. § 267 Abs. 4 Satz 3 StPO den weiteren Inhalt der Urteilsgründe unter Berücksichtigung der Umstände des Einzelfalls nach seinem Ermessen. Während die „Umstände des Einzelfalls“ somit etwa eine weitergehendere Befassung des Tatrichters mit sich aufdrängenden Strafzumessungskriterien notwendig machen können, als sie durch § 267 Abs. 3 StPO vorgeschrieben ist,1078 kann eine umfassende tatrichterliche Pflicht zur Begründung seiner objektiven Feststellungen auch nicht auf diesen unbestimmten Rechtsbegriff gestützt werden. Dem stünde nicht nur der bereits dargelegte Wille des historischen Gesetzgebers entgegen, sondern auch der Wortlaut des § 261 StPO, der im Gegensatz zu § 46 StGB bei der Strafzumessung, den Tatrichter bei der Würdigung der Beweise ausschließlich auf seine freie Überzeugung verweist. 4. Keine Pflicht zur Begründung der freien Beweiswürdigung in § 261 StPO Schließlich ist entgegen anderslautender Beteuerungen auch § 261 StPO keine über § 267 StPO hinausgehenden Urteilsbegründungspflichten des Tatrichters zu entnehmen. Insbesondere enthält die Vorschrift keine Pflicht des Tatrichters, seine persönliche, aufgrund der freien Beweiswürdigung erlangte Überzeugung von der Schuld des Angeklagten zu begründen. Dies überrascht zunächst insofern, als selbst die inhaltlich gleichgelagerten Vorschriften in § 19 Abs. 2 des preußischen Gesetzes vom 17. Juli 1846 sowie § 22 Abs. 2 der preußischen Verordnung vom 3. Januar 1849, auf welche § 261 StPO unverkennbar zurückgeht,1079 bestimmten, dass der Tatrichter verpflichtet ist, in dem Urteil auch die Gründe anzugeben, die ihn bei seiner (freien) Beweiswürdigung geleitet haben.1080 Doch ist das Fehlen einer solchen Beweisbegründungspflicht in § 261 StPO kein bloßes Redaktionsversehen; es beruht – wie schon ausführlicher dargelegt – vielmehr auf einer bewussten Entscheidung des Reichsgesetzgebers für eine subjektivistische Beweiswürdigungslehre.1081 Schließlich hat sich der historische Gesetzgeber in 1078 Zu dem Umfang der Strafbegründungspflichten des Tatrichters vgl. Fischer, StGB, § 46 Rn. 148a ff. 1079 Vgl. schon S. 170 Fn. 832. 1080 Vgl. S. 175 für eine wörtliche Wiedergabe des § 19 des Gesetzes vom 17. Juli 1846. 1081 Vgl. S. 177 ff.
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3. Kap.: Die höchstrichterliche Erweiterung der Revision auf Tatfragen
bewusster Kenntnis und sogar ausdrücklicher Bezugnahme auf die besagten preußischen Vorschriften dafür entschieden, von dem Tatrichter keine Begründung für seine Beweiswürdigung zu verlangen.1082 Bei der Einführung des § 260 RStPO (dem späteren § 261 StPO) ging es dem Gesetzgeber also gerade darum, an die tatrichterlichen Urteilsbegründungspflichten geringere Anforderungen zu stellen als die in den preußischen Vorschriften enthaltenen. Wenig überzeugend sind daher auch die Versuche von Herdegen oder Rieß, die über den Wortlaut des § 267 StPO hinausreichenden höchstrichterlichen Anforderungen an die tatrichterlichen Urteilsgründe auf eben diese preußischen Vorschriften oder die Denkschrift von Savigny,1083 die diesen Vorschriften als Grundlage gedient hatte, zurückzuführen.1084 Wie jedenfalls aufgrund des historischen Teils der vorliegenden Schrift deutlich geworden sein sollte, liegt der Strafprozessordnung ein subjektivistisches Verständnis von tatrichterlicher Überzeugungsbildung zugrunde, weshalb (richterrechtliche) Versuche, eine Rationalisierung dieser Beweiswürdigung durch entsprechende Begründungspflichten des Tatrichters zu erreichen, bei einer historisch-teleologischen Betrachtung unmöglich auf die Strafprozessordnung selbst gestützt werden können.
III. Urteilsbegründungspflichten in sonstigen Verfahrensordnungen Eine unmittelbare Gegenüberstellung der §§ 261, 267 StPO mit vergleichbaren Vorschriften anderer deutscher Verfahrensordnungen offenbart allerdings, dass die Anforderungen der Strafprozessordnung an die Abfassung der Urteilsgründe im Vergleich außergewöhnlich niedrig ausfallen. Sowohl andere im 19. Jh. erlassene Gerichtsverfahrensordnungen als auch sämtliche (!) gegenwärtige Gerichtsverfahrensordnungen stellen nämlich deutlich höhere Anforderungen an die Begründung der tatgerichtlichen Urteile. 1. Die Anforderungen an die Urteilsgründe nach der Zivilprozessordnung i. d. F. vom 30. Januar 1877 So etwa sah bereits die mit der Strafprozessordnung zeitgleich in Kraft getretene Reichszivilprozessordnung vor,1085 dass in den Urteilsgründen darzulegen ist, welche 1082
Vgl. hierzu auch die Motive zur StPO, in: Hahn (Hrsg.), Materialien zur StPO, Bd. III/1, S. 209 f. 1083 Vgl. hierzu S. 173 ff. 1084 Herdegen, NStZ 1987, 193, 194 f.; Herdegen, in: FS Hanack, S. 329; Herdegen, in: FS Eisenberg, S. 542; Herdegen, in: Michalke (Hrsg.), Geschichte des Deutsche Strafverteidiger e.V., S. 70 f.; Rieß, GA 1978, 257, 262 f. 1085 Die StPO i. d. F. vom 1. Februar 1877 wurde am 26. Februar 1877 bekannt gegeben, während die ZPO i. d. F. vom 30. Januar 1877 am 19. Februar 1877 bekannt gegeben wurde. Beide Gesetze traten gem. § 1 des Einführungsgesetzes zur Strafprozeßordnung vom 1. Februar
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Gründe das Tatgericht bei seiner Überzeugungsbildung geleitet haben. In § 259 Abs. 1 der Reichszivilprozessordnung1086 (RZPO) hieß es noch wörtlich: „Das Gericht hat unter Berücksichtigung des gesammten Inhalts der Verhandlungen und des Ergebnisses einer etwaigen Beweisaufnahme nach freier Ueberzeugung zu entscheiden, ob eine thatsächliche Behauptung für wahr oder für nicht wahr zu erachten sei. In dem Urtheile sind die Gründe anzugeben, welche für die richterliche Ueberzeugung leitend gewesen sind [Hervorh. d. Verf.].“
Ausgerechnet hierbei stellt sich die Frage, warum der historische Gesetzgeber von den Zivilgerichten in dieser Deutlichkeit eine Begründung für ihre Beweiswürdigung forderte, obwohl er bei den Strafgerichten zeitgleich mit einer umfassenden Begründung zu dem Schluss gekommen war, dass von diesen keine Beweisgründe zu verlangen waren.1087 Ein Blick in die Gesetzgebungsmaterialien offenbart dabei, dass man sich dieser Divergenz durchaus bewusst war. Deshalb hatte Abgeordneter Herz bereits während der ersten Lesung des Entwurfs zu § 259 RZPO in der Reichsjustizkommission beantragt, es der Strafprozessordnung gleichzutun und auf eine Beweisbegründung zu verzichten, da die Angabe von Beweisgründen im Zivilurteil nicht minderschwerer zu verwirklichen sei.1088 Allerdings sprachen sich die Abgeordneten von Schwarze und Reichensperger in der Reichsjustizkommission dagegen aus, wobei von Schwarze ausführte, dass eine Abschaffung der Beweisbegründungspflicht zu einer „Verflachung des Beweises“ führen könne.1089 Zudem würde das Urteil an Autorität einbüßen, wenn dieses keine Gründe für die richterliche Überzeugung enthielte.1090 Ebenso wies er mit Blick auf die in den Zivilsachen generell zulässige Berufung darauf hin, dass auch die Berufungsentscheidung der Sache nach zu einer weiteren erstinstanzlichen Entscheidung verkommen würde, wenn dem Berufungsrichter die Beweisgründe des ersten Richters nicht zur Verfügung stünden.1091 Im Ergebnis folgte die Kommission den Erwägungen von von Schwarze und Reichensperger, ohne dass dieses Thema im weiteren Gesetzgebungsverfahren noch
1877 (RGBl. 1877, 346) bzw. gem. § 1 des Gesetzes betreffend die Einführung der Civilprozeßordnung vom 30. Januar 1877 (RGBl. 1877, 244), jeweils i. V. m. § 1 des Einführungsgesetz zum Gerichtsverfassungsgesetze vom 27. Januar 1877 (RGBl. 1877, 77), am 1. Oktober 1879 in Kraft. 1086 Civilprozeßordnung vom 30. Januar 1877, RGBl. 1877, 83. 1087 Vgl. S. 177 ff. 1088 Protokolle der Kommission zur ZPO, in: Hahn (Hrsg.), Materialien zur ZPO, Bd. II/1, S. 595. 1089 Protokolle der Kommission zur ZPO, in: Hahn (Hrsg.), Materialien zur ZPO, Bd. II/1, S. 596. 1090 Protokolle der Kommission zur ZPO, in: Hahn (Hrsg.), Materialien zur ZPO, Bd. II/1, S. 596. 1091 Protokolle der Kommission zur ZPO, in: Hahn (Hrsg.), Materialien zur ZPO, Bd. II/1, S. 596.
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3. Kap.: Die höchstrichterliche Erweiterung der Revision auf Tatfragen
einmal aufgegriffen wurde.1092 Freilich jedoch sind die in der Kommission vorgebrachten Argumente für eine umfassende Urteilsbegründungspflicht des Zivilrichters wenig überzeugend, da sie im gleichen Maße auch für das Strafverfahren hätten vorgebracht werden können. Weitere Argumente für die unterschiedliche Behandlung der Urteilsbegründungspflichten im Straf- und Zivilverfahren sind weder den Materialien zur Reichszivilprozessordnung noch jenen zur Strafprozessordnung zu entnehmen. Eine nähere Befassung mit den Materialien lässt jedoch ein grundlegendes Missverständnis im Gesetzgebungsverfahren erahnen, ohne dass auch dieses ihnen unmittelbar zu entnehmen wäre. So heißt es in der Begründung des Entwurfs zur Zivilprozessordnung zunächst noch zutreffend, dass im Zivilverfahren – anders als im Strafverfahren – schon nach dem Entwurf generell eine Berufung zulässig sein würde;1093 weiter wird ausgeführt: „Die Berufung stimmt dem Grundcharakter nach mit der römischrechtlichen Appellation überein. Das Berufungsrecht ist nicht, wie die gemeinrechtliche Befugniß der Appellation, ein Recht auf Kritik des Verfahrens erster Instanz oder auf Nachprüfung und Berichtigung des unterrichterlichen Urtheils vom Gesichtspunkte der Frage aus, ob gerecht geurtheilt, d. h. das dem Unterrichter vorgelegte Material richtig gewürdigt sei, vielmehr das Recht auf Gewährung eines neuen Judizium, auf Erneuerung und Wiederholung des Rechtsstreits vor einem anderen Richter [Hervorh. d. Verf.].“1094
Obwohl er an dieser Stelle noch zutreffend feststellt, dass die Berufung der Reichsjustizgesetze ein der römischrechtlichen Appellation nachempfundenes Rechtsmittel darstellt, das – anders als die partikularrechtliche Appellation – gerade nicht dazu bestimmt ist, das vorinstanzliche Urteil in einem engeren Sinne nachzuprüfen, scheint der historische Gesetzgeber ausgerechnet diesen Umstand bei den abstrakten Debatten über die Berufung regelmäßig übersehen zu haben. Bei näherer Betrachtung zeigt sich, dass vielen Erwägungen des Reichsgesetzgebers eine Vorstellung von der Berufung zugrunde lag, die sie mit der partikularrechtlichen Appellation gleichsetzte, also als ein Rechtsmittel begriff, das gerade der Nachprüfung des vorinstanzlichen Urteils diente. Auch die Beweisbegründungspflicht des Tatgerichts in den Zivilsachen sollte, so hat es jedenfalls den Anschein, eine inhaltliche Nachprüfung des Urteils in der Berufungsinstanz ermöglichen, wie sie im Rahmen der partikularrechtlichen Appellation regelmäßig möglich gewesen sein dürfte. Eben darauf deuten auch die bereits wiedergegebenen Äußerungen des Abgeordneten von Schwarze hin, wonach die zivilprozessuale Berufungsverhandlung, ohne eine Angabe der subjektiven Beweisgründe durch den ersten Richter, zu
1092
S. 968. 1093 1094
Protokolle der Kommission zur ZPO, in: Hahn (Hrsg.), Materialien zur ZPO, Bd. II/2, Vgl. insofern § 472 RZPO. Begründung zur ZPO, in: Hahn (Hrsg.), Materialien zur ZPO, Bd. II/1, S. 139.
A. Die gesetzlichen Anforderungen an die Urteilsgründe des Tatrichters
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einer erneuten erstinstanzlichen Verhandlung verkommen würde.1095 Von Schwarze übersieht hierbei ganz offensichtlich, dass die Berufung, wie sie in dem Entwurf vorgesehen war und später auch Gesetz geworden ist, ungeachtet der Angabe der subjektiven Beweisgründe eine „erneute erstinstanzliche Verhandlung“ darstellte.1096 Auf ein solches Missverständnis deuten auch die gesetzgeberischen Erwägungen hin, die zur Normierung des § 266 Abs. 1 Satz 2 RStPO (heute § 267 Abs. 1 Satz 2 StPO) geführt haben. Die Notwendigkeit der darin vorgesehenen Verpflichtung des Tatrichters, in den Urteilsgründen anzugeben, ob und auf welchen Indizien seine Feststellungen beruhten, begründete die Reichsjustizkommission nämlich auch hier damit, dass es für den Berufungs- und Wiederaufnahmerichter unbedingt erforderlich sei, sich aus den Entscheidungsgründen darüber Gewissheit zu verschaffen, welche Tatsachen der erste Richter für (unmittelbar) bewiesen erachtet hat.1097 Auch hierbei wurde offenbar übersehen, dass dem Berufungsrichter bei der konkreten Ausgestaltung der Berufung durch den Reichsjustizgesetzgeber vergleichsweise gleichgültig sein konnte, welche Tatsachen der erste Richter für bewiesen erachtet hat, da er ohnehin eine vollständige weitere Tatsachenverhandlung durchzuführen hatte. Deshalb ist zu vermuten, dass die Reichszivilprozessordnung, anders als die gleichzeitig mit ihr in Kraft getretene Reichsstrafprozessordnung, wohl auch deshalb eine Beweisbegründungspflicht des Tatgerichts vorsah, weil der Gesetzgeber irrtümlicherweise davon ausgegangen war, dass der Berufungsrichter (den zunächst nur der Entwurf der Zivilprozessordnung kannte) auf die Beweisgründe des ersten Richters angewiesen sein würde, um eine Entscheidung zu treffen. Dass der historische Gesetzgeber jedoch auch in den Strafsachen davon absah, zumindest von dem Schöffengericht eine Beweisbegründung zu fordern, obwohl gegen ihre Urteile im weiteren Verlauf des Gesetzgebungsverfahrens sehr wohl eine Berufung zugelassen worden war, mag einerseits auf einen „gesetzgeberischen Doppel-Irrtum“ hinweisen, wonach er diese vermeintliche Notwendigkeit bei der Einführung einer Berufung gegen schöffengerichtliche Urteile schlicht übersehen hat. Nicht auszuschließen ist andererseits auch, dass gerade mit Blick auf die Mitwirkung der Laienrichter am Schöffengericht bewusst von einer Begründungspflicht abgesehen wurde, um dem Berufungsgericht keine umfassende Nachprüfungskompetenz über die Laien zuzusprechen, welche ihm freilich dennoch aufgrund der Ausgestaltung der Berufung als eine „zweite erstinstanzliche Verhandlung“ zukam.
1095 Protokolle der Kommission zur ZPO, in: Hahn (Hrsg.), Materialien zur ZPO, Bd. II/1, S. 595 f. 1096 So hieß es etwa auch in § 487 RZPO schlicht nur: „Vor dem Berufungsgerichte wird der Rechtsstreit in den durch die Anträge bestimmten Grenzen von neuem verhandelt“. 1097 Vgl. Bericht der Kommission, in: Hahn (Hrsg.), Materialien zur StPO, Bd. III/2, S. 1588.
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3. Kap.: Die höchstrichterliche Erweiterung der Revision auf Tatfragen
2. Die Anforderungen an die Urteilsgründe nach der Militärstrafgerichtsordnung vom 1. Dezember 1898 Bestätigt wird die These des Verfassers, wonach die Beweisbegründungspflicht in der Zivilprozessordnung vor allem mit Blick auf die generelle Berufungsfähigkeit der erstinstanzlichen Urteile normiert wurde, auch durch vergleichbare Bestimmungen der Militärstrafgerichtsordnung vom 1. Dezember 1898 (MStGO).1098 Dabei handelte es sich um eine Strafverfahrensordnung, die das Verfahren in den sog. Militärstrafsachen und die Verfassung der Strafgerichte des Militärs regelte. Im Gegensatz zu der Bundesrepublik Deutschland unterhielt nämlich das Deutsche Reich ursprünglich noch zeitweise eine eigenständige Militärstrafgerichtsbarkeit, die für Militärpersonen einen besonderen Rechtsweg in Strafsachen vorsah. Ihre Einrichtung beruhte auf der Erwägung, dass nur eine unantastbare Autorität der militärischen Führer die Aufrechterhaltung der militärischen Disziplin gewährleiste, weshalb ihre Kommandogewalt frei von fremden (bürgerlichen) Einwirkungen bleiben müsse.1099 Deshalb sei auch bei der Begehung von Straftaten durch Militärpersonen kein Raum für ein Tätigwerden bürgerlicher Ermittlungsbehörden oder Strafgerichte.1100 Bei der gesellschaftstragenden Rolle, die den Streitkräften im Deutschen Reich zugeschrieben wurde, kann die Bedeutung eines selbstständigen Militärstrafrechts kaum überschätzt werden. So war auch das materielle Militärstrafrecht bereits 1872 durch das Militär-Strafgesetzbuch1101 reichsweit einheitlich geregelt worden. Im Deutschen Heer – das aus den Heeren von Preußen, Bayern, Sachsen und Württemberg bestand1102 – und in der kaiserlichen Marine kam damit schon unmittelbar nach der Reichsgründung ein einheitliches materielles Strafrecht zur Anwendung. Allerdings konnten die Beschuldigten jedoch – mangels eines gemeinsamen Verfahrensrechts für die Militärstrafsachen – zunächst noch je nach ihrer Truppenzugehörigkeit unterschiedlichen Militärstrafverfahrensordnungen unterfallen.1103 Erst 1098 Militärstrafgerichtsordnung vom 1. Dezember 1898, RGBl. 1898, 1189. Nach ihrem Wortlaut galt die MStGO zwar lediglich für das Deutsche Heer und die Kaiserliche Marine; doch gem. § 1 der Verordnung betreffend das strafgerichtliche Verfahren gegen Militärpersonen der Kaiserlichen Schutztruppen vom 18. Juli 1900, RGBl. 1900, 831, fand sie auch auf die Angehörigen der Kaiserlichen Schutztruppen in den deutschen Kolonien und mithin auf das gesamte militärische Personal des Reiches Anwendung. 1099 Koppmann, Militärstrafgerichtsordnung, Vorbemerkungen zum ersten Titel des ersten Teils, S. 2. 1100 Koppmann, Militärstrafgerichtsordnung, Vorbemerkungen zum ersten Titel des ersten Teils, S. 2. 1101 Militär-Strafgesetzbuch für das Deutsche Reich vom 20. Juni 1872, RGBl. 1872, 174. 1102 Vgl. unten Fn. 1103. 1103 Dies hing vor allem damit zusammen, dass lediglich die Kaiserliche Marine und später die Kaiserlichen Schutztruppen in den deutschen Kolonien in Afrika unmittelbar dem Reich unterstellt waren. Im Deutsche Heer, das aus dem Heer Preußens (in dem die Heere der Staaten des Norddeutschen Bundes integriert worden waren) sowie den Heeren von Bayern, Sachsen und Württemberg bestand, galten dagegen die Militärstrafgerichtsordnungen der einzelnen
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mit der besagten Militärstrafgerichtsordnung vom 1. Dezember 1898 wurde auch das Militärstrafverfahrensrecht im Deutschen Reich nahezu1104 einheitlich geregelt. Auch wenn insoweit ein Sonderstrafverfahren für Militärpersonen begründet wurde, das auch Elemente eines Disziplinarverfahrens umfasste, handelte es sich bei dem Verfahren nach der Militärstrafgerichtsordnung zweifelsohne um ein echtes Strafverfahren, das auf denselben prozessualen Grundsätzen aufgebaut war wie sein bürgerliches Pendant. Insbesondere die Grundsätze der Offizialanklage1105, der Mündlichkeit1106, der Unmittelbarkeit1107, der Öffentlichkeit1108 und der freien Beweiswürdigung1109 fanden auch im Militärstrafverfahren weitestgehend uneingeschränkte Anwendung.1110 Doch gerade anders als die bereits 1879 in Kraft getretene bürgerliche Strafprozessordnung ließ die Militärstrafgerichtsordnung – wie auch die Zivilprozessordnung – gegen alle erstinstanzlichen Urteile der Militärstrafgerichte eine Berufung zu.1111 Und tatsächlich verlangte der Gesetzgeber auch von dem Militärstrafrichter – wie nämlich schon von dem Zivilrichter –, dass er seine Urteile umfassend begründete. Anders als noch § 266 Abs. 1 RStPO, der von dem bürgerlichen Tatrichter lediglich verlangte, in den Urteilsgründen die Haupttatsachen und gegebenenfalls die Indiztatsachen anzugeben,1112 verpflichtete § 326 Abs. 1 MStGO den militärischen
Königreiche weiter. Allerdings galt die preußische Militärstrafgerichtsordnung gem. Art. 61 der Verfassung des Deutschen Reichs nicht nur für das preußische Heer, sondern als Reichsgesetz auch für die Kaiserliche Marine und die Kaiserlichen Schutztruppen. Ebenso beruhten auch die Militärstrafgerichtsordnungen von Sachsen und Württemberg im Wesentlichen auf der preußischen Militärstrafgerichtsordnung, sodass bei genauer Betrachtung nur das Königreich Bayern über ein stark abweichendes Militärstrafverfahrensrecht verfügte, vgl. ausführlich Materialien zur Militärstrafgerichtsordnung, S. 42. 1104 Lediglich für Bayern, das sich auch auf dem Gebiet des Reichskriegswesens bestimmte Reservatrechte vorbehalten hatte (vgl. die Schlussbestimmung zum IX. Abschnitt nach Art. 68 der Verfassung des Deutschen Reichs), traten Teile der Militärstrafgerichtsordnung erst später und in abgewandelter Form in Kraft, vgl. § 33 des Einführungsgesetzes zur Militärstrafgerichtsordnung vom 1. Dezember 1898, RGBl. 1898, 1289. So etwa wurde die Gerichtsbarkeit des Reichsmilitärgerichts erst nach der Errichtung eines speziellen bayerischen Senats, dessen Mitglieder nicht von dem Deutschen Kaiser, sondern von dem Bayerischen König zu ernennen waren, auch auf die bayerischen Kontingente des Deutsches Heeres ausgeweitet, vgl. § 1 des Gesetzes betreffend die Einrichtung eines besonderen Senats für das bayerische Heer bei dem Reichsmilitärgericht in Berlin vom 9. März 1899, RGBl. 1899, 135. 1105 § 261 MStGO. 1106 Vgl. §§ 304, 315 MStGO. 1107 §§ 315, 317 MStGO. 1108 § 282 MStGO. 1109 § 315 MStGO. 1110 Ähnlich auch Koppmann, Militärstrafgerichtsordnung, im Vorwort, aber auch in der Einleitung S. VIII. 1111 § 378 MStGO, ausführlich vgl. S. 355 ff. 1112 Vgl. S. 218 ff.
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Tatrichter, in seinen Urteilsgründen anzugeben, warum er die von ihm festgestellten Haupttatsachen für erwiesen erachtet hatte: § 266 Abs. 1 RStPO Wird der Angeklagte verurtheilt, so müssen die Urtheilsgründe die für erwiesen erachteten Thatsachen angeben, in welchen die gesetzlichen Merkmale der strafbaren Handlung gefunden werden. Insoweit der Beweis aus anderen Thatsachen gefolgert wird, sollen auch diese Thatsachen angegeben werden.
§ 326 Abs. 1 MStGO Wird der Angeklagte verurtheilt, so müssen die Urtheilsgründe die für erwiesen erachteten Thatsachen angeben, in welchen die gesetzlichen Merkmale der strafbaren Handlung gefunden werden, und die nähere Darlegung enthalten, weshalb diese Thatsachen für erwiesen erachtet worden sind.
Damit durften sich die Militärstrafgerichte im Gegensatz zu den bürgerlichen Strafgerichten nicht damit begnügen, in ihren Urteilen lediglich die objektiven Entscheidungsgründe (die Tatsachenfeststellungen) darzulegen, sondern mussten darüber hinaus auch die subjektiven Beweisgründe (also die Beweiswürdigung) angeben. Nachdem der Gesetzgeber zuvor noch umfassend dargelegt hatte, warum es nicht möglich sein sollte, von einem (bürgerlichen) Strafgericht die Angabe von subjektiven Beweisgründen zu verlangen,1113 stellt sich hier die Frage, warum er nur 19 Jahre später ausgerechnet von den Militärstrafgerichten gerade solche verlangte. Bemerkenswerterweise ist selbst der Begründung zu dem Entwurf der Militärstrafgerichtsordnung nicht zu entnehmen, warum die Urteilsbegründungspflicht in Militärstrafsachen weiter reichen sollte als in den bürgerlichen Strafsachen. Unzutreffenderweise heißt es in der Begründung des Entwurfs zu § 326 MStGO sogar, dass die Vorschrift dem § 266 der bürgerlichen Strafprozessordnung entspreche und lediglich „im dritten Absatz eine mit Rücksicht auf das materielle Militärstrafrecht nothwendige Ergänzung“ vorsehe.1114 Zu der deutlich grundlegenderen Abweichung im ersten Absatz der Vorschrift schweigt sich die Begründung jedoch aus. Da ein wesentlicher Unterschied des Militärstrafverfahrens zu dem bürgerlichen Strafverfahren jedoch darin bestand, dass das Erstere gegen alle erstinstanzlichen Urteile eine Berufung zuließ,1115 bleibt auch hier zu vermuten, dass die umfassende Urteilsbegründungspflicht auf demselbn mutmaßlichen gesetzgeberischen Irrtum 1113
Vgl. S. 177 ff. Materialien zur Militärstrafgerichtsordnung, S. 97. Der besagte § 311 Abs. 3 des Entwurfs und auch der endgültige § 326 Abs. 3 MStGO lautete dabei: „Die Gründe des Strafurtheils müssen ferner das zur Anwendung gebrachte Strafgesetz bezeichnen und sollen die Umstände anführen, welche für die Zumessung der Strafe bestimmend gewesen sind. Macht das Strafgesetz die Anwendung einer geringeren Strafe von dem Vorhandensein mildernder Umstände oder eines minder schweren Falles abhängig, so müssen die Urtheilsgründe die hierüber getroffene Entscheidung und die dafür maßgebend gewesenen Erwägungen ergeben, sofern das Vorhandensein mildernder Umstände oder eines minder schweren Falles angenommen oder einem in der Verhandlung gestellten Antrag entgegen verneint wird [Hervorh. d. Verf.]“. Die hervorgehobenen Teile wichen dabei in der Tat von § 266 Abs. 3 RStPO ab. 1115 Zur Berufung im Militärstrafverfahren, § 378 Abs. 1 MStGO; vgl. auch S. 355 ff. 1114
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beruhte wie im Zivilverfahren – nämlich, dass die Berufungsgerichte für eine „Nachprüfung“ des erstinstanzlichen Urteils darauf angewiesen sein würden.1116
3. Die Anforderungen an die Urteilsgründe in gegenwärtigen Verfahrensordnungen Bemerkenswerterweise verlangen auch alle jüngeren Verfahrensordnungen des Bundes – mit Ausnahme der Strafprozessordnung – von dem Tatrichter in den Urteilsgründen eine Begründung für die Feststellungen im Urteil. So heißt es etwa in § 286 Abs. 1 ZPO, der gem. § 46 Abs. 2 Satz 2 ArbGG auch im arbeitsgerichtlichen Verfahren Anwendung findet: „Das Gericht hat unter Berücksichtigung des gesamten Inhalts der Verhandlungen und des Ergebnisses einer etwaigen Beweisaufnahme nach freier Überzeugung zu entscheiden, ob eine tatsächliche Behauptung für wahr oder für nicht wahr zu erachten sei. In dem Urteil sind die Gründe anzugeben, die für die richterliche Überzeugung leitend gewesen sind [Hervorh. d. Verf.].“
Die Wendung „In dem Urteil sind die Gründe anzugeben, die für die richterliche Überzeugung leitend gewesen sind“ findet sich wortgleich auch in § 108 Abs. 1 Satz 2 VwGO, § 96 Abs. 1 Satz 3 FGO und § 128 Abs. 1 Satz 2 SGG wieder. Auch § 93 Abs. 1 Satz 2 PatG und § 78 Abs. 1 Satz 2 MarkenG verpflichten das Bundespatentgericht mit denselben Worten, in den Urteilsgründen darzulegen, welche Erwägungen für seine Beweiswürdigung maßgeblich gewesen sind. Da viele speziellere Gerichtsverfahrensordnungen hinsichtlich des gerichtlichen Verfahrens in aller Regel auf die Verwaltungsgerichtsordnung verweisen, finden auch dort die in § 108 Abs. 1 VwGO normierte Urteilsbegründungspflicht Anwendung.1117 Damit stellt das völlige Fehlen einer Beweisbegründungspflicht eine kuriose Ausnahme dar, die de lege scripta ausschließlich im Strafverfahren und in den wenigen speziellen Gerichtsverfahren existiert, die ergänzend statt auf die Verwaltungsgerichtsordnung auf die Strafprozessordnung verweisen.1118 Ob eine speziellere Ver1116
Vgl. schon S. 226 ff. Vgl. etwa § 3 BDG für gerichtliche Disziplinarverfahren gegen Bundesbeamte; § 112c Abs. 1 BRAO für das gerichtliche Verfahren in verwaltungsrechtlichen Anwaltssachen; § 94b Abs. 1 PAO für das gerichtliche Verfahren in verwaltungsrechtlichen Patentanwaltssachen sowie § 111b Abs. 1 Satz 1 BNotO für Disziplinarverfahren gegen Notare. 1118 Vgl. etwa § 46 Abs. 1 OWiG für das gerichtliche Verfahren in Ordnungswidrigkeitensachen; § 120 Abs. 1 Satz 2 StVollzG für die Entscheidungen der Strafvollstreckungskammern; § 91 WDO für das gerichtliche Disziplinarverfahren gegen Soldaten; § 116 Abs. 1 BRAO für das anwaltsgerichtliche Verfahren wegen Pflichtverletzungen, § 98 Abs. 1 PAO für das patentanwaltsgerichtliche Verfahren wegen Pflichtverletzung; § 153 StBerG für das berufsgerichtliche Verfahren gegen Steuerberater; § 127 WiPrO für das berufsgerichtliche Verfahren gegen Wirtschaftsprüfer sowie etwa Art. 89 Abs. 4 Satz 2 BayHKaG für das berufsgerichtliche Verfahren gegen Angehörige der bayerischen Heilberufekammern oder Art. 30 Satz 1 BayBauKG i. V. m. Art. 89 Abs. 4 Satz 2 BayHKaG für das berufsgerichtliche Verfahren gegen Angehörige der bayerischen Baukammern. 1117
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3. Kap.: Die höchstrichterliche Erweiterung der Revision auf Tatfragen
fahrensordnung dabei auf die Verwaltungsgerichtsordnung oder die Strafprozessordnung verweist, scheint dabei bemerkenswerterweise keiner besonderen Systematik zu folgen. So etwa gilt im Disziplinarverfahren gegen Beamte und Notare die Verwaltungsgerichtsordnung, während im Disziplinarverfahren gegen Soldaten und im Verfahren gegen Anwälte wegen Pflichtverletzungen die Strafprozessordnung Anwendung findet.
IV. Konsequenzen der fehlenden Beweisbegründungspflicht für die Revision Eine gewichtige Konsequenz der fehlenden subjektiven Beweisgründe im Urteil ist, dass dem Rechtsmittelgericht so die Erwägungen für die objektiven Entscheidungsgründe in aller Regel verborgen bleiben wird1119 – wie bereits im Rahmen des zweiten Kapitels ausgeführt, setzt die Nachprüfbarkeit gerichtlicher Feststellungen nämlich grundsätzlich voraus, dass die Urteilsgründe sich auch zu den Erwägungen verhalten, die der richterlichen Überzeugung zugrunde liegen. So überrascht es auch nicht, dass die höchstrichterliche Rechtsprechung mit der Erweiterung der Revision um eine Darstellungskontrolle zugleich auch eine Erweiterung der Urteilsbegründungspflichten des Tatrichters bewirkt hat. Ganz offensichtlich haben sich die Revisionsgerichte insoweit entschlossen, deutlich über die Anforderungen des Gesetzgebers in § 267 StPO hinauszugehen. Gelegentlich wird in der Literatur zwar angeführt, dass der Wortlaut des § 267 StPO für die Urteilsbegründungspflicht des Tatrichters nicht maßgeblich sei, da er bloß auf ein Versehen zurückgehe, das dem Gesetzgeber im Rahmen der EmmingerReformen bei der Abschaffung der echten Schwurgerichte unterlaufen sei.1120 Dieser Auffassung liegt allerdings die irrtümliche (!) Annahme zugrunde, dass der historische Gesetzgeber durch den Verzicht auf eine Beweisbegründungspflicht in der Strafprozessordnung einen Widerspruch zwischen den Begründungserfordernissen der Urteile der Schwurgerichte einerseits sowie der Schöffengerichte und Strafkammern andererseits habe vermeiden wollen. Richtig dabei ist, dass tatsächlich allgemeiner Konsens dahingehend herrschte, dass von den Geschworenen keine Begründung für ihren Wahrspruch zu verlangen war.1121 Wenn daraus aber gefolgert wird, dass der historische Gesetzgeber davon abgesehen habe, auch von den Schöffengerichten und Strafkammern eine Beweisbegründung zu verlangen, weil ansonsten ausgerechnet an die Urteile der Schwurgerichte geringere Begründungsanforderungen gestellt worden wären, obwohl gerade sie für die schwersten 1119
Vgl. S. 182 ff. So etwa Nack, StV 2002, 510, 511 f.; Peters, in: FS Schäfer, S. 147; Rieß, in: FS Hanack, S. 404, 410 f.; Rieß, in: Beiträge zur Entwicklung der deutschen Strafprozessordnung, S. 33; Jähnke, in: FS Hanack, S. 357. 1121 Zu der Frage, warum von den Schwurgerichten keine Beweisgründe zu fordern war, vgl. schon S. 160. 1120
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Strafsachen zuständig waren,1122 vermag dies kaum zu überzeugen. Allein darauf beruht aber die Erwägung, dass der Gesetzgeber bei der Abschaffung der echten Schwurgerichte durch die Emminger-Verordnung von 19241123 übersehen habe, die Urteilsbegründungspflichten für die übrigen Gerichte an die veränderten Gegebenheiten anzupassen.1124 Diese Auffassung verkennt zudem, dass die Reichsstrafprozessordnung in den §§ 276 ff. ohnehin besondere Vorschriften für das Verfahren vor Schwurgerichten vorgesehen hatte, die sich erheblich von den allgemeinen Vorschriften für das Verfahren in erster Instanz unterschieden. Gerade in Bezug auf die Urteilsgründe bestimmte § 316 RStPO, dass im schwurgerichtlichen Verfahren – anstelle der Urteilsgründe gem. § 266 RStPO – lediglich der Wahrspruch der Geschworenen wiederzugeben war.1125 Die Anforderungen der Reichsstrafprozessordnung an die Urteilsgründe der Schwurgerichte waren also seit jeher deutlich (!) niedriger als an die der übrigen Strafgerichte. Zudem hätte der historische Gesetzgeber auch schon vor der Abschaffung der Schwurgerichte in den §§ 260, 266 RStPO eine Beweisbegründungspflicht für die übrigen Strafgerichte anordnen können, ohne zugleich den Schwurgerichten dieselbe Verpflichtung aufzuerlegen. Tatsächlich jedoch hat der historische Gesetzgeber in bewusster Kenntnis um die partikularen Strafverfahrensordnungen, die auch ungeachtet einer Schwurgerichtsverfassung von ihren Tatrichtern die Angabe subjektiver Beweisgründe forderten, in der Reichsstrafprozessordnung ausdrücklich davon abgesehen, es diesen Rechtsordnungen gleichzutun, da er davon überzeugt war, dass die freie Beweiswürdigung keiner Begründung zugänglich sei.1126 Soweit nun etwa Herdegen ausführt, dass die in § 261 StPO normierte freie Beweiswürdigung den Tatrichter nicht von seiner Pflicht entbände, seine persönliche Überzeugung zu begründen, mag das zwar die heutige Rechtspraxis beschreiben, doch von dem tatsächlichen Willen des historischen Gesetzgebers könnte diese
1122
So etwa Rosenau, in: FS Widmaier, S. 524; ähnlich auch Rieß, in: FS Hanack, S. 404, 410 f.; Rieß, in: Beiträge zur Entwicklung der deutschen Strafprozessordnung, S. 33, Jähnke, in: FS Hanack, S. 357. 1123 Verordnung über Gerichtsverfassung und Strafrechtspflege vom 4. Januar 1924, RGBl. I 1924, 15. 1124 So ähnlich etwa Nack, StV 2002, 510, 511; Rieß, in: Beiträge zur Entwicklung der deutschen Strafprozessordnung, S. 33 oder Jähnke, in: FS Hanack, S. 357. So jedenfalls andeutungsweise auch Luther, NJ 1994, 294, 296 (Fn. 20). Etwas vorsichtiger und differenzierter Rieß, GA 1978, 257, 267. 1125 Hierbei war der Urteilsniederschrift lediglich die Urschrift des Wahrspruchs beizufügen, Löwe/Hellweg, StPO (11. Aufl.), zu § 316. 1126 Vgl. Motive zur StPO, in: Hahn (Hrsg.), Materialien zur StPO, Bd. III/1, S. 209 f.; Protokolle der Kommission, in: Hahn (Hrsg.), Materialien zur StPO, Bd. III/1, S. 876 f.; Beratungen im Plenum des Reichtags, in: Hahn (Hrsg.), Materialien zur StPO, Bd. III/2, S. 1906 (2. Beratung), 2109 (3. Beratung); ausführlich hierzu auch S. 177 ff.
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3. Kap.: Die höchstrichterliche Erweiterung der Revision auf Tatfragen
Ausführung kaum entfernter sein.1127 Schließlich folgt aus dem Motiven zur Strafprozessordnung unmissverständlich, dass der Gesetzgeber von dem Tatrichter gerade keine Begründung für seine Feststellungen erwartete.1128 Nicht zuletzt folgt dieser gesetzgeberische Wille auch aus einem Umkehrschluss zu dem zeitgleich erlassenen § 259 Abs. 1 der RZPO, der – wie auch der zwei Jahrzehnte später erlassene § 326 Abs. 1 MStGO – ausdrücklich eine tatrichterliche Beweisbegründungspflicht normierte.1129 Auch wurde im Rahmen der vorliegenden Schrift bereits an anderer Stelle ausführlich dargestellt, dass der historische Gesetzgeber die Tatfrage unter allen Umständen von einer revisionsgerichtlichen Nachprüfung ausgeschlossen wissen wollte.1130 Aus alledem folgt, dass die Strafprozessordnung weder nach ihrem Wortlaut noch nach ihrer eigentlichen Intention eine Begründung der tatsächlichen Feststellungen des Urteils voraussetzt; damit ist also gerade der klassische III. Abschnitt strafgerichtlicher Urteile (Beweiswürdigung) von Gesetzes wegen keinesfalls zwingend.
V. Die Abgrenzung von Tat- und Rechtsfragen als Wesenselement revisionsgerichtlicher Zuständigkeiten Die beschränkten Begründungspflichten in Bezug auf die Tatfragen und ihre dadurch bedingte Unüberprüfbarkeit im Rahmen der Revision hatten zur Folge, dass die Beantwortung der Tatfrage de lege scripta dem Tatrichter als eine exklusive Aufgabe übertragen worden war, über die er „nach seiner freien, aus dem Inbegriff der Verhandlung geschöpften Überzeugung“ entscheiden sollte, ohne dass die Revisionsgerichte darauf Zugriff hätten. Damit hat der historische Gesetzgeber im Grunde eine prozessuale Arbeits- und Verantwortungsteilung zwischen den Tat- und den Revisionsgerichten normiert,1131 bei der ausschließlich den Tatgerichten eine vollumfassende Entscheidungskompetenz zukommt. Die Konsequenzen der daraus folgenden prozessualen Trennung von Tat- und Rechtsfragen wurden durch Friedrich Stein bereits 1893 in einer sehr prägnanten Weise beschrieben: „Mag der untere Richter von dem tollen Satz ausgegangen sein, dass ein Zeuge nach drei Jahren noch den genauen Wortlaut einer zweistündigen politischen Rede im Kopfe haben könne, mag er geleugnet haben, dass der Besitz der erweislich gestohlenen Sache ein Indiz für den Diebstahl sei, mag er die Glaubwürdigkeit des Zeugnisses einer Schwiegermutter nach den bekannten Anschauungen der „Fliegenden Blätter“ [eine humoristisch-satirische, illustrierte Wochenschrift der damaligen Zeit – Anm. d. Verf.] bemessen oder den Causalzusammenhang zwischen einer Ohrfeige und dem acht Tage später eingetretenen
1127 1128 1129 1130 1131
Herdegen, StV 1992, 527, 529. Vgl. S. 177 ff. Vgl. S. 224 ff. Vgl. hierzu schon S. 184 f. Ähnl. auch Gericke, KK-StPO, § 337 Rn. 3.
A. Die gesetzlichen Anforderungen an die Urteilsgründe des Tatrichters
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Herzschlage angenommen haben: in allen diesen Beziehungen ist er von rechtlichen Schranken und damit von jeder Nachprüfung in der Revisionsinstanz frei.“1132
Nach den Vorstellungen des historischen Gesetzgebers sollte die Nachprüfbarkeit eines Mangels im Strafverfahren also in erster Linie von der Frage abhängen, ob dieser Mangel der Tat- oder der Rechtsfrage zuzuordnen ist.1133 1. Entwicklung der Abgrenzung von Tat- und Rechtsfragen Wie die Ausgestaltung der Revision überhaupt hing auch die prozessuale Trennung des tatrichterlichen Verfahrensstoffes in Tat- und Rechtsfragen letztlich eng mit der bereits beschriebenen Einführung der freien Beweiswürdigung als ein allgemeines Prinzip in das deutsche Strafverfahren zusammen.1134 Gerade das klassische Inquisitionsverfahren kannte mit seinen gesetzlichen Beweisregeln nämlich noch keine Unterscheidung zwischen Tat- und Rechtsfragen.1135 Schließlich galt ein Beweis im Inquisitionsverfahren erst dann als erbracht, wenn sich die Ergebnisse der Beweisaufnahme unter gesetzliche Beweisvorschriften subsumieren ließen. Die Beweisfrage – die heute den Kern der Tatfrage bildet – stellte im Inquisitionsverfahren damit noch eine reine Rechtsfrage dar.1136 Selbst die Einführung der Schwurgerichte führte zunächst nur scheinbar zu einer Trennung von Tat- und Rechtsfragen.1137 So herrschte in vielen Partikularstaaten des Deutschen Bundes – wie gelegentlich auch noch heute – die Überzeugung vor, dass die Geschworenen lediglich über die „Tatfrage“ zu entscheiden hätten, während die „Rechtsfrage“ ausschließlich den Berufsrichtern des Schwurgerichts zugewiesen wäre.1138 Tatsächlich jedoch beruhte diese Theorie von der Trennung von Tat- und Rechtsfragen auf einer irrtümlichen Auslegung der jeweiligen Begriffe, die schon damals zu komplexen Schwierigkeiten bei der Abgrenzung der Aufgaben der Geschworenen und der Berufsrichter am Schwurgericht geführt hatte.1139 Demnach sollte die Tatfrage nämlich deckungsgleich sein mit der Frage, ob der Angeklagte überhaupt eine strafbare Tat begangen hatte,1140 während die Rechtsfrage vor allem die Frage nach den Rechtsfolgen der Tat bezeichnen sollte.1141 Richtigerweise wurde 1132
Stein, Das private Wissen des Richters, S. 110 f. Ähnl. auch Hamm, Die Revision in Strafsachen, Rn. 1271. 1134 Zur Einführung der freien Beweiswürdigung als ein allgemeines Verfahrensprinzip vgl. S. 156 ff. 1135 Ausführlich zum Inquisitionsverfahren vgl. S. 114 ff. 1136 Vgl. hierzu auch S. 177 f. 1137 Ausführlich zu den deutschen Schwurgerichten vgl. 142 ff. 1138 Planck, Systematische Darstellung, S. 391; Meyer, That- und Rechtsfrage, S. 109 ff. 1139 Vgl. hierzu Meyer, That- und Rechtsfrage, S. 112 f. 1140 Feuerbach, Betrachtungen über das Geschwornen-Gericht, S. 168; Planck, Systematische Darstellung, S. 391. 1141 Vgl. Planck, Systematische Darstellung, S. 392 f. 1133
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3. Kap.: Die höchstrichterliche Erweiterung der Revision auf Tatfragen
hiermit jedoch nicht die Trennung zwischen der Tat- und der Rechtsfrage, sondern vielmehr die zwischen der Schuld- und der Straffrage beschrieben, wobei allerdings verkannt wurde, dass sowohl die Schuld- als auch die Straffrage jeweils Elemente der Tat- und der Rechtsfrage enthielten.1142 Sofern also etwa Feuerbach in seinen „Betrachtungen über das Geschwornen-Gericht“ zwischen der Tat- und der Rechtsfragen zu unterscheiden sucht,1143 nimmt er tatsächlich nur eine Unterscheidung zwischen der Schuld- und der Straffrage vor.1144 So wurde die Theorie, dass in Schwurgerichtssachen die Tatfragen von den Geschworenen und die Rechtsfragen von dem Gerichtshof zu beantworten war, bereits zur Mitte des 19. Jh. aufgegeben. An ihrer Stelle trat die auch heute noch vorgenommene Unterscheidung zwischen der Schuld- und der Straffrage, wobei die Schuldfrage in ihrer Gänze – also samt ihren rechtlichen Anteilen – als den Geschworenen und die Straffrage als den Berufsrichtern zugewiesen angesehen wurde.1145 Auch die Motive zur Strafprozessordnung gehen zutreffenderweise davon aus, dass die Geschworenen im Deutschen Reich über die gesamte Schuldfrage und nicht bloß über eine wie auch immer definierte Tatfrage zu entscheiden haben würden.1146 Der Trennung von Tat- und Rechtsfragen kam demnach im Rahmen der Schwurgerichtsbarkeit keine praktische Bedeutung zu, auch wenn die theoretischen Versuche, eine solche zu beschreiben, zahlreich waren.1147 Bemerkenswerterweise ist noch heute bezogen auf das Deutsche Reich oder auf den anglo-amerikanischen Rechtskreis immer wieder zu vernehmen, dass die Beantwortung der Tatfrage den Geschworenen obliege, was auch für den anglo-amerikanischen Rechtskreis nicht zutreffend ist. Relevant wurde die Trennung zwischen Tat- und Rechtsfragen in der deutschen Rechtspraxis damit erst dann, als im reformierten Strafverfahren auch den nichtschwurgerichtlichen Spruchkörpern die Kompetenz zuerkannt wurde, im Wege der freien Beweiswürdigung zu entscheiden.1148 Da viele partikularen Gesetzgeber – wie später auch der Reichsgesetzgeber1149 – sich zugleich dazu entschlossen hatten, den im Wege der freien Beweiswürdigung festgestellten Sachverhalt von jeglicher 1142
So bereits 1860 erkannt von Meyer, That- und Rechtsfrage, S. 111 f., 174. Feuerbach, Betrachtungen über das Geschwornen-Gericht, S. 167 ff., 177. 1144 So auch schon Mannheim, Beiträge zur Lehre von der Revision, S. 37. Auch Schwinge, Kampf um die Schwurgerichte, S. 12 ff., 116 ff., benutzt Tatfrage ganz eindeutig als ein Synonym für die Schuldfrage. 1145 So dargelegt m. w. N. in den Anlagen zu den Motiven der StPO, in: Hahn (Hrsg.), Materialien zur StPO, Bd. III/1, S. 463. 1146 Motive zur StPO, in: Hahn (Hrsg.), Materialien zur StPO, Bd. III/1, S. 224. 1147 So etwa bei Feuerbach, Betrachtungen über das Geschwornen-Gericht, S. 167 ff.; Planck, Systematische Darstellung, S. 390 ff. Eine knappe Zusammenfassung weiterer Versuche bei Meyer, That- und Rechtsfrage, S. 112 f. 1148 Zur Entwicklung des Inquisitionsverfahrens zum akkusatorisch-inquisitorischen Verfahren, vgl. S. 160 ff. 1149 Vgl. § 376 RStPO bzw. § 337 StPO. 1143
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obergerichtlicher Nachprüfung auszunehmen,1150 oblag die Entscheidung, welcher Lebenssachverhalt der materiellen Rechtsanwendung zugrunde zu legen war (Tatfrage), in diesen Rechtsordnungen allein den Tatgerichten. Der obergerichtlichen Nachprüfung zugänglich war somit allein die Frage, ob das tatrichterliche Verfahren zur Ermittlung des subsumtionsrelevanten Sachverhalts und die Anwendung des materiellen Rechts auf diesen Sachverhalt durch das Tatgericht gesetzesmäßig waren (Rechtsfrage). Diese aus der Verantwortungsteilung zwischen den Tat- und den Revisionsgerichten folgende Aufteilung des Verfahrensstoffes in Tat- und Rechtsfragen stellt dabei keinesfalls eine Besonderheit des Strafverfahrens dar. Schon in § 524 Satz 1 RZPO hieß es ausdrücklich: „Für die Entscheidung des Revisionsgerichts sind die in dem angefochtenen Urtheile gerichtlich festgestellten Thatsachen maßgebend“. Auch die heutige Zivilprozessordnung bestimmt in ihrem § 559 Abs. 2: „Hat das Berufungsgericht festgestellt, dass eine tatsächliche Behauptung wahr oder nicht wahr sei, so ist diese Feststellung für das Revisionsgericht bindend, es sei denn, dass in Bezug auf die Feststellung ein zulässiger und begründeter Revisionsangriff erhoben ist“.
Ebenso finden sich in den übrigen nachkonstitutionellen Gerichtsordnungen ähnliche Vorschriften, wonach das Revisionsgericht an die durch die Tatgerichte festgestellten Tatsachen gebunden ist. So etwa findet § 559 Abs. 2 ZPO über § 72 Abs. 5 ArbGG auch im arbeitsgerichtlichen Verfahren Anwendung. Für die Verwaltungs-, Finanz- und Sozialgerichtsbarkeit bestimmen § 137 Abs. 2 VwGO, § 118 Abs. 2 FGO und § 163 SGG nahezu wortgleich: „Das Bundesverwaltungsgericht [Der Bundesfinanzhof/Das Bundessozialgericht] ist an die in dem angefochtenen Urteil getroffenen tatsächlichen Feststellungen gebunden, außer wenn [in der FGO: es sei denn, dass] in bezug [sic!] auf diese Feststellungen zulässige und begründete Revisionsgründe vorgebracht sind“.
Insofern kann zunächst festgehalten werden, dass die aus der Bindung der Revisionsgerichte an die tatgerichtlichen Feststellungen folgende Trennung von Tatund Rechtsfragen einen allgemeinen Grundsatz des bundesdeutschen Gerichtsverfahrensrechts darstellt. 2. Zweifel an der Abgrenzbarkeit von Tat- und Rechtsfragen Insofern überraschend sind die in der Strafrechtswissenschaft immer wieder vorgebrachten Zweifel an einer Trennbarkeit von Tat- und Rechtsfragen.1151 Dabei ist 1150
Vgl. S. 85 ff.; 194 ff. Zu den Zweifeln an der Trennbarkeit von Tat- und Rechtsfragen im Strafverfahren vgl. nur Hamm, Die Revision in Strafsachen, Rn. 1277 ff.; Henkel, Strafverfahrensrecht, S. 374 f.; Mannheim, Beiträge zur Lehre von der Revision, S. 33 ff.; Neumann, GA 1988, 387 ff.; Roxin/ Schünemann, Strafverfahrensrecht, § 55 Rn. 17 ff.; Rüßmann, in: Koch (Hrsg.), Juristische Methodenlehre, S. 242 ff.; Schünemann, JA 1982, 71, 74; Schünemann, in: FS Kaufmann, S. 299 ff.; Schwinge, Grundlagen des Revisionsrechts, S. 50 ff. 1151
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3. Kap.: Die höchstrichterliche Erweiterung der Revision auf Tatfragen
zu vermuten, dass diese Zweifel vor allem auf die Versuche in der Rechtswissenschaft zurückzuführen sind, eine bereits höchstrichterlich erfolgte Erweiterung der Revision mit dem Wortlaut des § 337 StPO in Einklang zu bringen.1152 Die rechtswissenschaftliche Literatur scheint sich in diesem Bemühen auf eine extensive Auslegung der Revisionsvorschriften verlagert zu haben, die letztendlich alles unter dem Begriff „Rechtsfrage“ zu subsumieren sucht, was heute de facto der revisionsgerichtlichen Nachprüfung unterliegt. Hierbei kann sich der Verfasser des Eindruckes nicht verwehren, dass dieser Diskurs maßgeblich auch durch meinungsbildende Beiträge von Revisionsrichtern geprägt wurde, die auf diesem Wege zu versuchen scheinen, eine extensive Praxis in der Rechtsprechung nachträglich wissenschaftlich zu legitimieren.1153 Doch nicht nur Revisionsrichter, auch renommierte Strafverteidiger haben sich bereits daran versucht, die höchstrichterliche Erweiterung der Revision auf Tatfragen zu rechtfertigen, indem sie bestimmte Teile der Beweiswürdigung der Rechts- und nicht der Tatfrage zuordnen.1154 Aufgrund dieser veränderten Zuordnung, so wird argumentiert, sei ein revisionsgerichtlicher Zugriff auf diese Aspekte der tatrichterlichen Beweiswürdigung bereits im Rahmen der Sachrüge rechtlich zulässig und nicht zu beanstanden. Hierbei ist es zwar durchaus nachvollziehbar, dass gerade Strafverteidiger sich dort eine Überprüfbarkeit von Feststellungen herbeisehnen, wo diese – wie etwa in den landgerichtlichen Strafsachen – keiner Berufung unterliegen, doch gerade die Versuche, ausgerechnet die tatrichterliche Beweiswürdigung der Rechtsfrage zuzuordnen, können dabei am wenigsten überzeugen. Schließlich verfolgte der historische Gesetzgeber mit der Beschränkung der Revision auf die Rechtsfragen sogar vorrangig das Ziel, die Beweiswürdigung von einer höherinstanzlichen Kontrolle auszunehmen.1155 Nach anderer Ansicht sollen die Grenzen der revisionsgerichtlichen Prüfungskompetenz nicht mehr anhand des Gegensatzpaares „Tatfrage – Rechtsfrage“ zu bestimmen sein, sondern vielmehr danach, was das Revisionsgericht mit den ihm zur Verfügung stehenden beschränkten Mitteln zu „leisten“ im Stande sei.1156 Nach 1152 Vgl. hierzu S. 240 ff., aber auch Jähnke, in: FS Hanack, S. 359; Kühne, Strafprozessrecht, Rn. 1077. 1153 Vgl. nur Niemöller, StV 1984, 431 ff.; Maul, in: FS Pfeiffer, S. 409 ff.; Herdegen, StV 1992, 527 ff.; zum Teil auch kritisch Schäfer, in: 18. Strafverteidigertag, S. 103 ff.; MeyerGoßner, DRiZ 1997, 471 ff.; Herdegen, in: FS Hanack, S. 311 ff.; Nack, StV 2002, 510 ff.; Herdegen, in: FS Eisenberg, S. 527 ff.; Herdegen, in: 25 Jahre AG Strafrecht DAV, S. 553 ff. 1154 So etwa Hamm, Die Revision in Strafsachen, Rn. 1280 ff., der zumindest einen Teil der Beweiswürdigung als Rechtsfrage begreifen will; vgl. ebd. für weitere Nachweise. Ein ähnlicher Ansatz findet sich bereits 1925 bei Mannheim, Beiträge zur Lehre von der Revision, S. 33 ff. 1155 Vgl. hierzu ausführlich S. 183 f. 1156 Vgl. hierzu Franke, in: Löwe/Rosenberg, vor § 333 Rn. 5, mit zahlreichen Nachweisen. Ein ähnlicher Ansatz wurde bereits 1938 von Peters verfolgt, Peters, ZStW (57) 1938, 53, 69 ff. sowie 84, der jedoch die Beweiswürdigung ausdrücklich als nicht revisibel einordnet, a. a. O, S. 80. Vgl. auch Hamm, Die Revision in Strafsachen, Rn. 10 ff.; Peters, in: FS Schäfer, S. 139; Schünemann, JA 1982, 71, 74; Fezer, Möglichkeiten einer Reform, S. 84.
A. Die gesetzlichen Anforderungen an die Urteilsgründe des Tatrichters
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dieser sog. Leistungsmethode soll die revisionsgerichtliche Prüfung sich auf all das erstrecken können, was das Revisionsgericht ohne eine eigene Beweisaufnahme oder eine Rekonstruktion der tatrichterlichen Hauptverhandlung nachzuprüfen im Stande ist.1157 Während der historische Gesetzgeber also der Rechtsfrage noch die Funktion zugeschrieben hatte, die Reichweite der Revision zu bestimmen, soll der Rechtsfrage nach der Leistungsmethode nur noch die Funktion zukommen, die Reichweite der Revision zu beschreiben, wohingegen ihre Grenzen ausschließlich noch durch die Leistungsfähigkeit des Revisionsgerichts bestimmt werden soll.1158 Die Rechtsfrage beschreibt im Rahmen der Leistungsmethode also nicht mehr den Teil des tatgerichtlichen Verfahrensstoffes, der revisibel ist; vielmehr gilt all dasjenige als Rechtfrage, was aufgrund der Leistungsmethode für revisibel erachtet wird.1159 Ungeachtet dieser Diskussionen geht der Verfasser im Folgenden von einer grundsätzlichen Trennbarkeit der Tat- und Rechtsfrage aus, wie sie bereits durch den historischen Gesetzgeber der Strafprozessordnung zugrunde gelegt wurde. Der gesetzgeberischen Prämisse entsprechend werden dabei ausschließlich Fragen der Rechtsanwendung als Rechtsfragen begriffen, während Fragen der Beweiswürdigung und Sachverhaltsdarstellung generell der Tatfrage zugeordnet werden. Damit stellen Tatfragen im Folgenden der Rechtsanwendung vorgelagerte Fragen dar, die den tatsächlichen historischen Vorgang zum Gegenstand haben, während Rechtsfragen sich mit der Durchführung des gerichtlichen Verfahrens und der Subsumtion der festgestellten Haupttatsachen unter die Normen des materiellen Rechts befassen. Die hauptsächliche Tatfrage lautet demnach vereinfacht formuliert: „Was ist hier tatsächlich geschehen?“, wohingegen die hauptsächliche Rechtsfrage lautet: „Wurden bei der Ermittlung des tatsächlich Geschehenen die maßgeblichen gesetzlichen Vorschriften eingehalten und wie ist das Geschehene rechtlich zu würdigen?“. In Anlehnung an die – zugegebenermaßen wenig wissenschaftlichen – Worte des U. S.-Supreme Court Richters Stewart kann insofern im Übrigen zusammenfassend festgehalten werden, dass es im Einzelfall zwar schwierig sein mag, rechtlich-theoretisch zu beschreiben, welcher Teil des Verfahrensstoffes der Tatfrage und welcher der Rechtsfrage zuzuordnen ist, „aber man es weiß, wenn man es sieht“.1160 1157 Diese Entwicklungen in der Wissenschaft wird auch von Frisch, in: FS Eser, S. 262 f., bestätigt. Soweit ersichtlich wurde die Leistungsmethode dabei erstmalig 1938 von Peters, ZStW (57) 1938, 53, 70 f., beschrieben. Dass diese Methode, die sich deutlich von dem Gesetzeswortlaut löst, ausgerechnet 1938 erstmalig beschrieben wurde, ist bei näherer Betrachtung nicht weiter überraschend, vgl. hierzu ausführlich S. 259 ff. Vgl. im Übrigen auch Rieß, in: FS Hanack, S. 399. 1158 So in besonderer Deutlichkeit auch Rieß, GA 1978, 257, 270. 1159 Schmid, ZStW (85) 1973, 360, 366. 1160 In Jacobellis v. Ohio, 378 U. S. 184 (1964) befasste sich der Supreme Court of the United States mit der Frage, ob auch die Verbreitung pornografischer Inhalte von der Meinungsfreiheit im Sinne des ersten Zusatzartikels der U. S.-amerikanischen Verfassung geschützt wird. Hierzu äußerte sich Justice Potter Stewart auf S. 197 des Urteils: „I have reached the conclusion […] that, under the First and Fourteenth Amendments, criminal laws in this area
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3. Kap.: Die höchstrichterliche Erweiterung der Revision auf Tatfragen
B. Die Erweiterung der Revision auf Teile der Tatfrage durch die höchstrichterliche Rechtsprechung Obwohl der historische Gesetzgeber nach dem bisher Dargelegten eine absolute Beschränkung der Revision auf die Rechtsfragen beabsichtigt hatte, fand in der Rechtsprechung eine schrittweise und geradezu schleichende Erweiterung der Revision auf die Tatfragen statt, die heute selbst vor der tatrichterlichen Beweiswürdigung nicht mehr haltmacht. So wurde bereits in der Einleitung zu dieser Schrift darauf hingewiesen, dass die Feststellungen und die Beweiswürdigung des Tatrichters heute jedenfalls einer Plausibilitätskontrolle im Rahmen der Revision zugänglich sind, die der Strafprozessordnung in dieser Form unbekannt ist. Die von den Revisionsgerichten mit dieser Erweiterung der Revision verfolgte Zweck brachte Rissing-van Saan, ehemalige Vorsitzende des 2. Strafsenats am Bundesgerichtshof, im Jahr 2010 besonders prägnant auf den Punkt: „Dieser häufig mit dem Schlagwort der „erweiterten Revision“ umschriebene Wandel des Revisionsrechts […] entspringt […] letztlich dem Bestreben, die Revision nicht nur als Instrument zur Wahrung einer einheitlichen Rechtsanwendung und zur Rechtsfortbildung zu verstehen, sondern sie im Dienste der Einzelfallgerechtigkeit praktisch brauchbarer zu machen. Denn würde der Zweck der Revision auf die Herstellung von Rechtseinheit und gelegentlich den Zweck der Rechtsfortbildung reduziert, d. h. als reine Rechtsbeschwerde verstanden, würde außer Acht gelassen, dass sie auch ein Rechtsmittel ist.“1161
Damit beschreibt Rissing-van Saan eine strafrechtliche Revision, die sich nicht nur in jeglicher Hinsicht von den Vorstellungen des historischen Gesetzgebers entfernt hätte, der in ihr gerade eine Rechtsbeschwerde erblickte, sondern sich auch sich grundlegend von der Revision in den übrigen Gerichtsordnungen des Bundes unterscheiden würde. Eine Überbetonung des Rechtsmittelcharakters der Revision hätte nämlich zur Folge, dass sie sich kaum noch von einer kassatorischen (!) Berufung, wie sie etwa im heutigen Zivilverfahren vorgesehen ist, unterscheiden würde. Und tatsächlich führt Rissing-van Saan zur Bedeutung der Revision als Rechtsmittel aus: „Der die Beschwerde führende Angeklagte oder Nebenkläger, der sich des Rechtsmittels der Revision bedient, will eine Änderung des als falsch oder ungerecht empfundenen Urteils oder wenigstens eine neue Tatsachenverhandlung erreichen. Ihm kommt es darauf an, prüfen zu lassen, ob gerade seine Sache nicht nur rechtlich richtig, sondern auch gerecht entschieden wurde, ob die erhobenen Beweise richtig gewürdigt worden sind und ob eine angemessene Strafe verhängt wurde.“
are constitutionally limited to hard core pornography. I shall not today attempt further to define the kinds of material I understand to be embraced within that shorthand description, and perhaps I could never succeed in intelligibly doing so. But I know it when I see it, and the motion picture involved in this case is not that [Hervoh. d. Verf.]“. 1161 Rissing-van Saan, StraFo 2010, 359, 360
B. Die Erweiterung der Revision auf Teile der Tatfrage
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Damit wird letztendlich eine Revision beschrieben, in der vor allem auch Aufgaben der Berufung – genauer, die der alten Appellation – wahrgenommen werden sollen; eine Funktion, die ihr von dem Gesetzgeber niemals zugedacht wurde. Im vorliegenden Abschnitt soll aufgezeigt werden, welche Entwicklungen auch ohne ein gesetzgeberisches Zutun zu einem derartigen Verständnis von der Revision geführt haben, die sich mit der tatsächlichen Revisionsrechtsprechung durchaus deckt.
I. Verletzung von Denkgesetzen oder Erfahrungssätzen durch den Tatrichter als Revisionsgrund Die Erweiterung der Revision auf Tatfragen durch die höchstrichterliche Rechtsprechung setzte zunächst an den Denkgesetzen und Erfahrungssätzen an. Denkgesetze stellen dabei zwingende Regeln der allgemeinen Logik dar,1162 während Erfahrungssätze allgemeingültige Regeln meinen, die aufgrund der allgemeinen Lebenserfahrung oder wissenschaftlicher Erkenntnisse gewonnen wurden, keine Ausnahmen kennen und mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit gelten.1163 Eine Verletzung solcher Denkgesetze oder allgemeiner Erfahrungssätze durch Tatrichter führt heute bekanntermaßen ungeachtet der Beschränkung der Revision auf Rechtsfragen in aller Regel zu einer revisionsgerichtlichen Aufhebung des Urteils.1164 1. Entwicklung der Rechtsprechung zur Revisibilität von Verstößen gegen Denkgesetze und allgemeine Erfahrungssätze Dabei ging das Reichsgericht noch 1883 davon aus, dass Verstöße gegen Denkgesetze und allgemeine Erfahrungssätze nicht der revisionsgerichtlichen Prüfung unterliegen, da sie offensichtlich keine Gesetze im Sinne des § 376 RStPO darstellten. Im konkreten Fall hatte das Landgericht Tilsit bei einer Verurteilung wegen schwerer Urkundenfälschung unterlassen, darzulegen, ob es die Existenz eines „Liebestrankes“ für möglich hielt oder nicht, was für die weitere rechtliche Bewertung des Falles von Bedeutung war. In dem Revisionsurteil des II. Strafsenats vom 1. Juni 1883 heißt es hierzu, dass dieses Schweigen nur zwei Deutungen zulasse: „Entweder der erste Richter ist davon ausgegangen, es gebe ein Medikament, durch dessen Gebrauch seitens einer Person in ihr eine Zuneigung zu einer anderen Person hervorgerufen
1162
Fezer, Möglichkeiten einer Reform, S. 97; Franke, in: Löwe/Rosenberg, § 337 Rn. 139 ff. 1163 So Franke, in: Löwe/Rosenberg, § 337 Rn. 144 mit zahlreichen weiteren Nachweisen; Fezer, Möglichkeiten einer Reform, S. 115. 1164 Frisch, in: FS Eser, S. 264.
242
3. Kap.: Die höchstrichterliche Erweiterung der Revision auf Tatfragen
werde, oder es hat angenommen, es sei unerheblich, ob ein solches Mittel existiere oder nicht.“1165
Aus der heutigen Warte befremdlich erscheint jedoch die Konsequenz, die das Reichsgericht aus der möglichen Deutung, dass das Tatgericht von der Existenz eines „Liebestrankes“ ausging, gezogen hat – es heißt in dem Urteil nämlich weiter: „Im ersten Falle würde die Revision zu verwerfen sein, da unter dieser Voraussetzung die Begründung der Feststellung nirgends einen Rechtsirrtum erkennen lassen würde, die Richtigkeit oder Unrichtigkeit dieser thatsächlichen Voraussetzung aber hier nicht nachgeprüft werden könnte.“1166
Selbst für den Fall also, dass der Tatrichter das Urteil aufgrund der nahezu irrsinnigen Annahme gefällt hätte, dass tatsächlich ein „Liebestrank“ existieren würde, hätte sich das Reichsgericht demnach aufgrund des – in dem Punkt bis heute unveränderten – Wortlautes der Strafprozessordnung nicht in der Lage gesehen, eine solche Feststellung zu rügen, obwohl es selbst von „der notorischen Nichtexistenz eines derartigen Mittels“1167 ausgegangen war. Diese restriktive, in jeder Hinsicht nur auf Rechtsfragen beschränkte Revisionsrechtsprechung wurde von dem Reichsgericht jedoch schon sehr bald aufgegeben. Bereits in einer Entscheidung des III. Strafsenats aus dem Jahre 1889 heißt es nämlich, dass die Feststellungen des Tatrichters „weder der Logik noch Naturgesetz“ widersprechen dürfen.1168 Auch stellte das Urteil klar, dass sich der Strafrichter „zur Zeit unlösbaren Problemen gegenüber unbedingt auf den Boden der herrschenden wissenschaftlichen Anschauungen zu stellen und innerhalb der gegebenen Grenzen des Naturerkennens zu verbleiben“ hat.1169 Damit sprach sich das Reichsgericht spätestens zehn Jahre nach dem Inkrafttreten der Strafprozessordnung für eine, nach jedenfalls dem Gesetzeswortlaut nicht vorgesehene, Bindung des Tatrichters an Denkgesetze und allgemeine Erfahrungssätze aus. Zwar schien sich der IV. Strafsenat des Reichsgerichts schon 1896 von dieser Auffassung wieder zu verabschieden, in dem es in seinem Urteil vom 20. Oktober 1896 ausführte: „Ob die Ansicht der Vorinstanz vom Standpunkte der heutigen Naturwissenschaft das Richtige trifft, darüber kann nach den bestehenden Gesetzen (§ 376 St.P.O.1170) das Reichsgericht eine autoritative Entscheidung nicht treffen“.1171 Allerdings stellte das Reichsgericht 1899 unmissverständlich und wie es scheint auch endgültig klar, dass es keine tatrichterlichen Feststellungen hinnehmen würde, die Denkgesetzen oder allgemeinen Erfahrungssätzen widersprachen. Konfrontiert 1165 1166 1167 1168 1169 1170 1171
RGSt 8, 351, 352. RGSt 8, 351, 353. RGSt 8, 351, 353. RGSt 19, 55, 62. RGSt 19, 55, 59. Die Vorschrift entsprach dem heutigen § 337 StPO. RGSt 29, 111, 114.
B. Die Erweiterung der Revision auf Teile der Tatfrage
243
mit der Frage, ob es sich bei Elektrizität um eine Sache im Sinne des Strafrechts handelt, führte der I. Strafsenat des Reichsgerichts nämlich aus, dass die Beschränkung des Revisionsrichters auf Rechtsfragen nicht weitergehe „[…] als das dem Instanzrichter in § 260 St.P.O. gewährte Recht, nach seiner freien aus dem Inbegriffe der Verhandlung geschöpften Überzeugung ü b e r d a s E r g e b n i s d e r B e w e i s a u f n a h m e zu entscheiden. Der Wortlaut dieser Vollmacht beschränkt die freie Beweiswürdigung auf den konkreten Fall. Allgemeine Erfahrungssätze hat der Richter […] nicht f e s t z u s t e l l e n , sondern nur a n z u w e n d e n auf die festgestellten konkreten Einzeltatsachen: nur letztere sind der Nachprüfung durch das Revisionsgericht entzogen.“1172
An anderer Stelle des Urteils heißt es hierzu weiter, dass es nicht in der Hand des Tatrichters liegen könne, „[…] eine für die Anwendung oder Nichtanwendung des Strafgesetzes maßgebende naturwissenschaftliche Frage unter dem Gesichtspunkte einer thatsächlichen Feststellung zu entscheiden, sodaß etwa […] an verschiedenen Orten im Deutschen Reiche dort eine Verurteilung, hier eine Freisprechung bezüglich der „Entwendung“ von Elektrizität unanfechtbar erfolgen würde.“1173
Statt sich also bei der Revision entsprechend § 376 RStPO (§ 337 StPO) auf die Rechtsfragen zu beschränken, nahm das Reichsgericht spätestens ab 1899 für sich in Anspruch, im Rahmen der Revision auch nachprüfen zu dürfen, ob die tatsächlichen Feststellungen mit allgemein gültigen Naturgesetzen und Grundbegriffen in Einklang standen, weil die freie Beweiswürdigung dem Tatrichter nicht die Befugnis einräume, über allgemeingültige Fragen nach seinem Gutdünken zu entscheiden. Im konkreten Fall erblickte das Reichsgericht eine Verletzung der Denkgesetze oder Erfahrungssätze darin, dass der Tatrichter die rechtliche Natur der Elektrizität verkannt hatte, obwohl selbst der Naturwissenschaft jener Zeit keine gesicherten Erkenntnisse darüber vorlagen, worum es sich bei Elektrizität im naturwissenschaftlichen Sinne handelte. Freilich, und dies soll nicht unerwähnt bleiben, hätte sich das Reichsgericht diese rechtlichen Verrenkungen an dieser Stelle allerdings ersparen können, wenn es – wie es dies auch in Ansätzen tat – von einer zutreffenden Abgrenzung zwischen Tat- und Rechtsfragen im hier dargelegten Sinne ausgegangen wäre.1174 Schließlich stand im vorliegenden Fall für den Tatrichter aufgrund seiner Beweisaufnahme und -würdigung bereits fest, dass sich der Angeklagte die Elektrizität von einer öffentlichen Stromleitung abgezweigt hatte, ohne die dafür erforderliche Gebühr entrichtet zu haben. Damit war die Tatfrage vorliegend abschließend beantwortet. Und nur dieser Sachverhalt blieb für das Reichsgericht bindend. Die Frage, ob der Rechtsbegriff „Sache“ in § 242 StGB so ausgelegt werden konnte, dass auch die Elektrizität 1172 1173 1174
RGSt 32, 165, 168. RGSt 32, 165, 178. Zur Abgrenzung von Tat- und Rechtsfragen im Allgemeinen vgl. S. 234 ff.
244
3. Kap.: Die höchstrichterliche Erweiterung der Revision auf Tatfragen
darunter zu subsumieren gewesen wäre, war dagegen eine reine Rechtsfrage. Dies stellt auch das Reichsgericht ausdrücklich fest: „Die Frage, welche Merkmale etwas haben müsse, um dem Begriffe der Sache im Sinne von § 242 (oder § 246) S.t.G.B.’s zu entsprechen, ist Rechtsfrage, und in ihrem Bereich fällt auch die Anwendung allgemein gültiger Naturgesetze und Grundbegriffe, sofern diese mit der Auslegung des Gesetzes zusammenhängt. Thatfrage ist nur, ob jene Merkmale im gegebenen Falle vorhanden sind, und h i e r n a c h der konkrete Thatbestand unter das Gesetz zu subsumieren ist.“1175
Diese Frage wäre also auch nach allgemeinen Grundsätzen der revisionsgerichtlichen Prüfung zugänglich gewesen, sodass die von dem Reichsgericht vorgenommene Erweiterung der Revision auf Denkgesetze und allgemeine Erfahrungssätze an dieser Stelle im Grunde überflüssig war. Dies ändert dennoch nichts an der Tatsache, dass in dem Urteil der eindeutige Wille des Reichsgerichts zum Ausdruck gelangt, nicht bloß reine Rechtsfragen, sondern auch Verstöße gegen allgemeine Erfahrungssätze seiner Prüfung zu unterstellen. Auch zahlreiche Folgeentscheidungen des Reichsgerichts belegen, dass sich diese Auffassung als ständige Rechtsprechung durchsetzen konnte. So heißt es etwa in einem weiteren Urteil des I. Strafsenats von 1907, dass auch die Erwägungen des Tatrichters, die sich „auf tatsächlichem Gebiete“ bewegen, einer revisionsgerichtlichen Prüfung unterliegen, wenn sie „einen irrigen Rechtsstandpunkt, einen Verstoß gegen Auslegungsregeln oder die Denkgesetze“ erkennen lassen.1176 1927 hob der Senat sogar noch deutlicher hervor, dass er eine Feststellung als bedenklich erachtet, wenn sie „entweder einen Rechtsirrtum, oder einen Verstoß gegen allgemeine Erfahrungssätze, Denkgesetze oder Auslegungsregeln erkennen lässt“.1177 So führte das Urteil des I. Strafsenats vom 11. Januar 1927 zur revisionsgerichtlichen Nachprüfbarkeit von Tatsachenfeststellungen aus: „Die Berücksichtigung allgemeiner Erfahrungssätze, Denkgesetze und Auslegungsregeln fällt nicht in das Gebiet der durch § 261 StPO. dem Tatrichter vorbehaltenen Beweiswürdigung und der hierauf gestützten Feststellung von Tatsachen, da jene Sätze eines Beweises nicht bedürftig sind; sie gehört vielmehr zur „richtigen“ Anwendung der Rechtsnormen auf die festgestellten Tatsachen, die das Revisionsgericht nach § 337 StPO. nachzuprüfen hat.“1178
In einem Urteil vom 27. Juni 1930 ordnete das Reichsgericht Verstöße gegen Denkgesetze und Erfahrungssätze sogar ausdrücklich als Rechtsirrtum ein, dessen revisionsgerichtliche Nachprüfbarkeit somit unmittelbar aus § 337 StPO folgen konnte. Konfrontiert mit der Frage, ob das Versinken einer Fahne in einem Fluss den Tatbestand der Sachbeschädigung erfüllt, urteilte der I. Strafsenat nämlich: 1175 1176 1177 1178
RGSt 32, 165, 178. RGSt 41, 78, 79. RGSt 61, 151, 154. RGSt 61, 151, 154.
B. Die Erweiterung der Revision auf Teile der Tatfrage
245
„Sollte die Strafkammer […] feststellen wollen, daß sich die Fahne in ihrer äußeren Erscheinung und Form durch langes Liegen im Wasser überhaupt nicht verändern könne, so würde eine solche Feststellung der Erfahrung des täglichen Lebens widersprechen und deshalb für das Revisionsgericht nicht bindend sein. Da hiernach die Entscheidung der Strafkammer von einem Rechtsirrtum beeinflußt sein kann [Hervorh. d. Verf.], muß der Sachverhalt nach seiner äußeren und inneren Seite ihrer nochmaligen Würdigung unterstellt werden.“1179
Der Senat war hier also nicht willens, die fernliegende Feststellung des Tatgerichts, dass eine Fahne durch langes Liegen im Wasser sich nicht verändert habe, hinzunehmen. Bemerkenswert ist an dieser Stelle, dass es sich hierbei – anders als bei Frage, ob Elektrizität sich unter dem Rechtsbegriff „Sache“ subsumieren lässt – unumstößlich um eine Tatfrage handelte. Indem das Reichsgericht dem Tatrichter hier dennoch einen Rechtsirrtum unterstellt, ebnete es auch den Weg zur revisionsgerichtlichen Kontrolle von Feststellungen, die den Erfahrungen des täglichen Lebens widersprechen. Auch der Bundesgerichtshof schloss sich unmittelbar nach seiner Errichtung dieser Rechtsprechung an. So heißt es bereits in einem Urteil des 2. Strafsenats vom 14. Oktober 1952: „Es ist nun zwar ausschließlich Sache des Tatrichters, den Wert und die Bedeutung einzelner Beweistatsachen zu beurteilen und gegeneinander abzuwägen. Erklärt er jedoch Tatsachen, die sich anscheinend widersprechen, für zwanglos miteinander vereinbar, ohne hierfür irgendeine Begründung zu geben, so ist die Beweiswürdigung unklar [Hervorh. d. Verf.]. Das Revisionsgericht kann in seinem solchen Falle nicht nachprüfen, ob sie rechtlich einwandfrei ist oder gegen Denkgesetze oder Erfahrungssätze verstößt.“1180
Damit forderte der Bundesgerichtshof von den Tatgerichten jedenfalls dann eine ausführlichere Darlegung ihrer Beweiswürdigung, wenn sie in ihren Feststellungen widersprüchliche Tatsachen für zwanglos miteinander vereinbar erklärten, obwohl die Strafprozessordnung von dem Tatrichter weiterhin keine Begründung für seine Feststellungen verlangte. Zur Erklärung dieser Erweiterung der Revision führte der Bundesgerichtshof aus, dass das Revisionsgericht andernfalls nicht nachprüfen könne, ob die Feststellungen rechtlich mangelhaft sind oder gegen Denkgesetze oder Erfahrungssätze verstoßen – freilich ohne zu thematisieren, dass die Strafprozessordnung gerade von einer generellen Unüberprüfbarkeit der tatrichterlichen Sachverhaltsfeststellungen ausging.1181 Weiter noch ging der 3. Strafsenat des Bundesgerichtshofs in einer Entscheidung vom 18. März 1954: „Der Grundsatz der freien Beweiswürdigung, wie ihn § 261 StPO (ebenso wie § 286 ZPO) aufstellt, bedeutet nicht, daß der Richter nunmehr von jeder Bindung losgelöst ist. Er ist 1179 1180 1181
RGSt 64, 250, 251. BGHSt 3, 213, 215. Vgl. S. 177 ff.; 218 ff.
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3. Kap.: Die höchstrichterliche Erweiterung der Revision auf Tatfragen
unter die Gesetze des Denkens und der Erfahrung gestellt und hat diese Gesetze bei der Feststellung von Tatsachen zu beachten. Diese Gesetze sind Normen des ungeschriebenen Rechts. Ihre Nichtbeachtung ist Verletzung des Gesetzes im Sinne des § 337 StPO und kann die Revision begründen [Hervorh. d. Verf.]“.1182
Damit hat sich der 3. Strafsenat der bereits aus der Rechtsprechung des Reichsgerichts bekannten Ansicht angeschlossen, wonach Verstöße gegen Denkgesetze und Erfahrungssätze als Gesetzesverletzung im Sinne des § 337 StPO zu bewerten sind. Auch der 2. Strafsenat führte insofern in einer Entscheidung vom 9. Februar 1957 etwas differenzierter aus: „der Tatrichter ist den Gesetzen des Denkens und der Erfahrung unterstellt; wo eine Tatsache aufgrund wissenschaftlicher Erkenntnis feststeht, ist für eine richterliche Feststellung und Überzeugungsbildung naturgemäß kein Raum mehr“.1183 Freilich vermag auch dies noch nicht hinreichend zu erklären, woraus die revisionsgerichtliche Kompetenz zur Nachprüfung entsprechender Mängel stammt. Auch wenn Verstöße gegen Denkgesetze und Erfahrungssätze in der heutigen Revisionsrechtsprechung nur noch eine untergeordnete Rolle spielen,1184 entspricht es weiterhin der ständigen Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs, dass solche Verstöße zu einer Aufhebung des tatrichterlichen Urteils führen. So etwa heißt auch in einem jüngeren Beschluss des 1. Strafsenats vom 16. Februar 2016: „Die Beweiswürdigung ist Sache des Tatrichters, der sich unter dem umfassenden Eindruck der Hauptverhandlung ein Urteil über die Schuld oder Unschuld des Angeklagten zu bilden hat (§ 261 StPO). […] Das Revisionsgericht ist auf die Prüfung beschränkt, ob die Beweiswürdigung des Tatrichters mit Rechtsfehlern behaftet ist, weil sie Lücken oder Widersprüche aufweist, mit den Denkgesetzen oder gesichertem Erfahrungswissen nicht übereinstimmt oder sich soweit von einer Tatsachengrundlage entfernt, dass sich die gezogenen Schlussfolgerungen letztlich als reine Vermutung erweisen [Hervorh. d. Verf.].“1185
Wie sich zeigt, stellt es heute eine Selbstverständlichkeit dar, dass Feststellungen, die gegen Denkgesetze oder Erfahrungssätze verstoßen, im Wege der Revision aufgehoben werden können.1186 Dies ungeachtet dessen, dass die sehr weitgehende Ansicht, wonach Denkgesetze und Erfahrungssätze Rechtsnormen im Sinne des § 337 StPO seien, sich nicht hat endgültig durchsetzen können.1187 Freilich sucht man auch heute vergebens nach einer entsprechenden Rechtsgrundlage für eine derartig weitgehende Revisionskompetenz.
1182
BGHSt 6, 70, 72. BGHSt 10, 208, 211. 1184 So Fezer, Die erweiterte Revision, S. 13 ff.; Fezer, Möglichkeiten einer Reform, S. 113; Barton, in: FS Fezer, S. 340. 1185 BGH NStZ-RR 2016, 222, 222; für weitere aktuelle Beispiele vgl. BGH NStZ 2015, 342, 343; 2015, 157 f.; 2014, 475, 475; BGH HRRS 2014 Nr. 393 Rn. 16. 1186 Rosenau, in: FS Widmaier, S. 526. 1187 Frisch, in: FS Eser, S. 278; vgl. auch Rosenau, in: FS Widmaier, S. 526. 1183
B. Die Erweiterung der Revision auf Teile der Tatfrage
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2. Rechtlicher Anknüpfungspunkt für die Revisibilität von Denkgesetzen und allgemeinen Erfahrungssätzen Die höchstrichterliche Rechtsprechung ist bislang eine Antwort auf die Frage schuldig geblieben, warum Verstöße gegen Denkgesetze und allgemeine Erfahrungssätze der revisionsgerichtlichen Prüfung zugänglich sein sollen. Schließlich ist die Revision nach dem Wortlaut der Strafprozessordnung – wie bereits mehrfach hervorgehoben – bis heute auf eine Verletzung des Gesetzes beschränkt, während Denkgesetze und allgemeine Erfahrungssätze keine Gesetze im Sinne des § 337 Abs. 2 StPO bzw. § 7 EGStPO darstellen. So hat es den Anschein, dass die Revisionsrechtsprechung insoweit eher einen pragmatischen Ansatz verfolgt, den – wie schon in der Einleitung ausgeführt – bereits Jähnke, bis 2002 Vorsitzender des 2. Strafsenats und Vizepräsident des Bundesgerichtshofs, beeindruckend deutlich auf den Punkt brachte: „Ein Urteil, welches auf der Feststellung beruhte, daß Wasser bergauf fließt, könnte keinen Bestand haben; der rechtliche Weg zu diesem Ergebnis ist dabei völlig gleichgültig“.1188 Problematisch an dieser allzu ergebnisorientierten Herangehensweise ist jedoch, dass sie jedenfalls mit Blick auf die grundgesetzliche Gesetzesbindung der Rechtsprechung als bedenklich – wenn nicht sogar als verfassungswidrig – angesehen werden müsste. Allerdings gilt zu berücksichtigen, dass Feststellungen, die Verstöße gegen Denkgesetze oder allgemeine Erfahrungssätze enthalten, bei näherer Betrachtung durchaus auf einer Verletzung des formellen (!) Rechts beruhen können.1189 Schließlich dient das gesamte Strafverfahrensrecht in erster Linie dem Zweck, in einem justizförmigen Verfahren eine prozedurale Wahrheit zu ermitteln, die der materiellen Wahrheit so nah wie möglich kommt.1190 Ein tatrichterlich festgestellter Sachverhalt, der im Widerspruch zu den Regeln der Logik, der allgemeinen Lebenserfahrung oder den wissenschaftlichen Erkenntnissen steht und daher offensichtlich nicht der materiellen Wahrheit entsprechen kann, deutet jedoch darauf hin, dass der Tatrichter zumindest seiner aus § 244 Abs. 2 StPO folgenden Aufklärungspflicht nicht im hinreichenden Maße nachgekommen ist.1191 Weiter gilt zu bedenken, dass eine Beweiswürdigung unter Missachtung der Denkgesetze und allgemeinen Erfahrungssätze sich auch nicht mehr im Rahmen der in § 261 StPO niedergelegten Grenzen der freien Beweiswürdigung bewegt. So setzt die Feststellung einer Beweistatsache in aller Regel zwar erst einen wertenden Vorgang des Tatrichters – nämlich die Beweiswürdigung – voraus, bei welcher der Tatrichter völlig frei ist. Ausnahmsweise ist aber auch denkbar, dass eine Beweis1188
Jähnke, in: FS Hanack, S. 358. So auch Stuckenberg, GA 2016, 689, 698 f.; anders Frisch, in: FS Eser, S. 279, der darlegt, dass Denkfehler generell keine Rechtsverletzung begründe. 1190 Zu dem hier verwendeten Begriff der prozeduralen Wahrheit vgl. S. 216 Fn. 1059. 1191 So auch Geerds, in: FS Peters, S. 273 f.; wenn auch nicht in dieser Ausführlichkeit Kühne, Strafprozessrecht, Rn. 1080. 1189
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3. Kap.: Die höchstrichterliche Erweiterung der Revision auf Tatfragen
tatsache auch ohne einen solchen wertenden Vorgang unmittelbar feststeht. Wenn ein Tatrichter in einem solchen Fall ungeachtet dessen eine vermeintliche Beweiswürdigung – eigentlich eine eigene Würdigung feststehender Tatsachen – vornimmt, würde er damit die Grenzen der zulässigen Beweiswürdigung gem. § 261 StPO überschreiten. Am anschaulichsten lässt sich dieser abstrakte Umstand der Würdigung bereits feststehender Beweistatsachen an einem Beispiel nachvollziehen: Angenommen die Staatsanwaltschaft ist der Auffassung, dass sich der Angeklagte A wegen Urkundenunterdrückung hinreichend verdächtig gemacht hat, weil er eine Urkunde aus handelsüblichem Papier, die dem Opfer O gehörte, in einen brennenden Kamin geworfen hat (Tatsachenbehauptung). In der Hauptverhandlung sagt nun der Zeuge Z (Beweismittel) aus, dass er gesehen habe, wie A die Urkunde in einen Kamin geworfen hat. Sofern das Gericht nun davon überzeugt ist, dass die Urkunde aus handelsüblichem Papier bestand und A sie in einen brennenden Kamin geworfen hat – dies bedarf freilich einer Würdigung der Aussage des Z –, bleibt für eine weitergehende Würdigung, ob die Urkunde denn nun auch wirklich beschädigt worden ist, denklogisch kein Raum mehr. Dass handelsübliches Papier in einem brennenden Kamin vergleichsweise leicht beschädigt wird, ist schließlich eine Tatsache, die als objektiv feststehende Begebenheit der Wirklichkeit, keiner weiteren Würdigung mehr zugänglich ist.1192 Generell kann also festgehalten werden, dass dem Tatrichter ausschließlich eine Beweismittelwürdigung gestattet ist, die ihm ermöglicht, aus den ihm zur Verfügung stehenden Beweismitteln die subsumtionsrelevanten Beweistatsachen zu gewinnen – eine Beweistatsachenwürdigung kommt dagegen schon deshalb nicht in Betracht, da Tatsachen als objektiv feststehende Gegebenheiten der Wirklichkeit bereits denklogisch einer irgendwie gearteten Bewertung nicht zugänglich sind.1193 Eben daraus folgt, dass Denkgesetze und allgemeine Erfahrungssätze generell keiner Beweiswürdigung zugänglich sind. Setzt ein Tatrichter dennoch an ihrer Stelle seine abweichende persönliche Überzeugung, maßt er sich eine subjektive Bewertung objektiv feststehender Gegebenheiten der Wirklichkeit an, womit er die Grenzen der freien Beweiswürdigung, wie sie in § 261 StPO niedergelegt sind, überschreitet.1194 Damit sind objektiv feststehende Tatsachen allenfalls einer Gesamtwürdigung zugänglich, die erlaubt, aus einzelnen Beweistatsachen einen subsumtionsrelevanten Gesamtsachverhalt zu folgern. Doch selbst bei einer solchen Gesamtwürdigung kann ihr Weg objektiv vorgezeichnet sein. So etwa kann der Tatrichter zwar im Wege der Beweisaufnahme und Beweiswürdigung feststellen, dass der Angeklagte A eine halbe Stunde vor dem Tatzeitpunkt (Beweistatsache 1) an einem ca. 300 km von dem Tatort Würzburg entfernten Restaurant in Passau (Beweistatsache 2) eindeutig identifiziert worden ist (Beweistatsache 3). Allerdings räumt § 261 StPO dem Tatrichter auch bei der Gesamtbewertung dieser Beweistatsachen zur Ermittlung der 1192 1193 1194
Ähnl. Albrecht, NStZ 1983, 486, 489. Ähnl. Walter, Freie Beweiswürdigung, S. 321 f. Ähnl. wohl auch Kühne, Strafprozessrecht, Rn. 1080.
B. Die Erweiterung der Revision auf Teile der Tatfrage
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Frage, ob A auch Täter des ihm vorgeworfenen Deliktes ist, keinen Freiraum ein. Denn es ist einer Person faktisch nicht möglich, diese Distanz von 300 km innerhalb von 30 Minuten zu überwinden – die Feststellung, dass A die Tat unter diesen Voraussetzungen unmöglich selbst begangenen haben kann, ist damit erneut eine objektiv feststehende Gegebenheit der Wirklichkeit, die keiner weiteren Würdigung zugänglich ist. Jede andere Gesamtwürdigung würde die Regeln der zwingenden Logik verletzen und damit einen Verstoß gegen Denkgesetze darstellen.1195 Ein Tatrichter, der seine abweichende persönliche Überzeugung anstelle dieser Tatsache setzte, würde damit auch hier die Grenzen zulässiger Beweiswürdigung überschreiten. Zusammenfassend kann insofern festgehalten werden, dass Feststellungen, die offensichtlich nicht der materiellen Wahrheit entsprechen können, weil sie im Widerspruch zu Denkgesetzen oder allgemeinen Erfahrungssätzen stehen, entweder eine Verletzung der im § 244 Abs. 2 StPO normierten Amtsaufklärungspflicht oder eine Überschreitung der in § 261 StPO niedergelegten Grenzen der freien Beweiswürdigung darstellen. Daraus folgt allerdings, dass diese Mängel strenggenommen im Wege einer Verfahrensrüge in Form der Aufklärungsrüge1196 geltend gemacht werden müssten, da sowohl § 244 StPO als auch § 261 StPO verfahrensrechtliche Vorschriften darstellen. Bemerkenswert ist insofern, dass die höchstrichterliche Rechtsprechung in Strafsachen Verstöße gegen Denkgesetze und allgemeine Erfahrungssätze schon sehr früh ohne jede Erklärung als einen sachlich-rechtlichen Mangel eingeordnet hat.1197 Dagegen geht etwa das Bundesverwaltungsgericht in 1195 Selbstverständlich könnte man hier auch argumentieren, dass die Feststellung, dass jemand in 30 Minuten 300 Kilometer überwunden habe, den allgemeinen Erfahrungssätzen widerspricht. Eine trennscharfe Abgrenzung von Verstoßen gegen Denkgesetze und allgemeine Erfahrungssätze ist oft kaum möglich, aber auch nicht nötig, da nach dem oben Dargestellten, die Ergebnisse beider Verstöße identisch sind. In beiden Fällen gelangt der Tatrichter zu einer Beweistatsache, indem er entweder eine Tatsache würdigt, obwohl sie als Tatsache keiner Würdigung zugänglich ist, oder er würdigt die Beweismittel in einer Art und Weise, die zur Feststellung einer Beweistatsache führt, die bei näherer Betrachtung nicht dem Beweis zugänglich ist. In beiden Fällen überschreitet er die Grenzen zulässiger Beweiswürdigung. 1196 Ausführlich zur Aufklärungsrüge vgl. Becker, in: Löwe/Rosenberg, § 244 Rn. 361 ff. 1197 Dies kommt bereits in den Urteilen des Bundesgerichtshofs aus den 50er-Jahren zum Ausdruck. So heißt es etwa in seinem Urteil vom 18. Oktober 1951 – 3 StR 736/51: „Der in diesem Zusammenhang vom Beschwerdeführer geäusserten Meinung, das Landgericht habe die Grenzen der freien Beweiswürdigung überschritten, könnte nur dann gefolgt werden, wenn die Beurteilung der Zeugenaussagen Widersprüche oder sonstige Verstösse gegen die Denkgesetze oder die Lebenserfahrung, also gegen das sachliche Recht enthalten würde“. Auch in BGH, Urteil vom 31. Oktober 1951 – 3 StR 117/51 heißt es: „Die Verfahrensrüge bezeichnet als verletzt die §§ 244 Abs 2, 261, 264 StPO. Was jedoch die Revision hierzu vorbringt, ist entweder ein unzulässiger Angriff auf die tatsächlichen Feststellungen des angefochtenen Urteils oder in Wirklichkeit eine Rüge der Verletzung sachlichen Rechts (Verstoß gegen die Denkgesetze; Anwendung des § 222 StGB statt des § 230 StGB)“. In BGH, Urteil vom 12. Januar 1954 – 5 StR 668/53 (= BGHSt 5, 278, aber ohne die entsprechende Passage) wiederum heißt es: „Eine widerspruchsvolle und mit den Denkgesetzen unvereinbare Beweiswürdigung wäre kein Verstoß gegen § 261 StPO, sondern ein sachlichrechtlicher Mangel des Urteils“. Auch in
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3. Kap.: Die höchstrichterliche Erweiterung der Revision auf Tatfragen
ständiger Rechtsprechung davon aus, dass die Verletzung von Denkgesetzen und allgemeinen Erfahrungssätzen bei der Würdigung von Indiztatsachen einen – in Verwaltungssachen generell mit der Revision anfechtbaren – Verfahrensmangel zur Folge hat. So heißt es etwa in einem Beschluss des Bundesverwaltungsgerichts vom 14. Oktober 2004: „Ist dem Tatsachengericht im Rahmen eines Indizienbeweises ein Verstoß gegen Denkgesetze unterlaufen, so stellt dies nach der angeführten Rechtsprechung eine nach § 108 Abs. 1 Satz 1 VwGO zu beachtende Verletzung des Grundsatzes der freien Beweiswürdigung und damit einen Verfahrensfehler dar, wenn sich der Fehler auf die tatsächliche Würdigung beschränkt und die rechtliche Subsumtion nicht berührt.“1198
Daraus folgt für die strafrechtliche Revision, dass in der revisionsgerichtlichen Prüfung, ob die tatrichterlichen Feststellungen gegen Denkgesetze und allgemeine Erfahrungssätze verstoßen, zwar noch keine materielle Erweiterung der Revision zu erblicken ist, da ihr insoweit tatsächlich eine Gesetzesverletzung zugrunde liegt. Allerdings liegt in der revisionsgerichtlichen Berücksichtigung dieser Mängel im Rahmen der allgemeinen Sachrüge eine formelle Erweiterung der Revision, in deren Rahmen sich die Revisionsgerichte der grundsätzlich engen formellen Grenzen der Verfahrensrüge entledigt haben.1199 Welche Konsequenzen aus dieser partiellen Gesetzeswidrigkeit der Revision von Denkgesetzen und allgemeinen Erfahrungssätzen zu ziehen sind, wird im Folgenden noch zu diskutieren sein.1200
II. Widersprüchliche, unklare oder lückenhafte Feststellungen Als ein weiteres Beispiel für die erweiterte Revision wird in der Regel die revisionsgerichtliche Prüfung widersprüchlicher, unklarer oder lückenhafter Feststellungen genannt. Sofern ein Urteil jedoch überhaupt keine Entscheidungsgründe und damit auch keine Feststellungen enthält, wäre insofern grundsätzlich auch von einem absoluten Revisionsgrund im Sinne des § 338 Nr. 7 StPO auszugehen, der jedoch im Rahmen der Verfahrensrüge geltend zu machen wäre, sodass es in diesen Fällen einer erweiterten Revision eigentlich nicht bedürfte. Dabei erscheint der BGH, Urteil vom 04. Oktober 1957 – 2 StR 330/57 (= BGHSt 11, 15, aber erneut ohne die entsprechende Passage) heißt es: „Die sachliche Nachprüfung läßt keinen Rechtsfehler zum Nachteil des Angeklagten erkennen. Die Beweiswürdigung des Gerichts, auf Grund der es die Überzeugung erlangt hat, daß der Angeklagte seine Frau vorsätzlich töten wollte, ist rechtlich einwandfrei. Sie enthält keine Widersprüche und Verstöße gegen Denkgesetze. Das Urteil gibt auch die Tatsachen an, auf die das Schwurgericht seine Überzeugung stützt“. 1198 So wörtlich BVerwG, Beschluss vom 14. Oktober 2004 – 6 B 6/04. Vgl. aber auch BVerwG NJW 1990, 1681, 1681 f.; NVwZ 1997, 389, 389; Beschluss vom 23. Januar 2002 – 6 B 50/01; BVerwG, Beschluss vom 13. Juni 2006 – 3 B 179/05; Beschluss vom 07. August 2013 – 7 B 9/13. 1199 Zu einer ausführlichen Kritik an dieser formellen Erweiterung der Revision vgl. S. 306 ff. 1200 Vgl. S. 306 ff.
B. Die Erweiterung der Revision auf Teile der Tatfrage
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Anwendungsbereich des § 338 Nr. 7 StPO auf den ersten Blick recht umfassend, da von einem Fehlen der Entscheidungsgründe bereits dann ausgegangen werden kann, wenn diese auch nur aus Rechtsgründen keine Beachtung finden können.1201 Ebenso liegt in Bezug auf einzelne von mehreren prozessualen Taten ein absoluter Revisionsgrund im Sinne des § 338 Nr. 7 StPO vor, sofern der Tatrichter es unterlassen hat, Entscheidungsgründe für diese einzelnen Taten anzugeben.1202 Tatsächlich jedoch kommt dem absoluten Revisionsgrund in § 338 Nr. 7 StPO bloß noch bei Prozessurteilen eine eigenständige Bedeutung zu, da die höchstrichterliche Rechtsprechung im Übrigen das Fehlen von Entscheidungsgründen bereits auf eine allgemeine Sachrüge hin im Wege einer erweiterten Revision berücksichtigt.1203 In denjenigen Fällen dagegen, in denen die Entscheidungsgründe nicht vollständig fehlen, sondern lediglich den Anforderungen des § 267 StPO nicht genügen, sollte man meinen, dass ohnehin nur ein relativer Revisionsgrund in Betracht kommt, der aufgrund der Verletzung der Verfahrensvorschrift des § 267 StPO mit der Verfahrensrüge geltend zu machen ist.1204 Wie umfassend die Rechtsprechung dabei schon früh die Begründungspflichten aus § 267 StPO ausgelegt hat, folgt bereits aus einem Urteil des III. Strafsenats des Reichsgerichts aus dem Jahre 1881.1205 In dem zugrunde liegenden Fall hatte sich der Tatrichter bei der Verurteilung des Angeklagten wegen einer Anstiftung zur mehrfachen Steuerhinterziehung nämlich auf Feststellungen zu der Anstiftungstat beschränkt, ohne auch Feststellungen zu der bereits anderweitig abgeurteilten Haupttat der Anstiftung zu treffen. Bezüglich der Haupttat hatte sich das Tatgericht damit begnügt, auf das bereits rechtskräftige Urteil gegen den Haupttäter zu verweisen. Im Rahmen der Revision hob das Reichsgericht das Urteil allerdings auf und stellte insoweit klar, dass der bloße Verweis auf ein anderes Urteil den Anforderungen des § 266 RStPO (§ 267 StPO) nicht genügte. Eine vollständige Urteilsbegründung im Sinne des § 266 RStPO setze vielmehr voraus, „daß das U r t e i l s e l b s t die gesetzlichen Merkmale des Thatbestandes und die Thatsachen, in welchen dieselben gefunden werden, angiebt (St.P.O. §. 266). 1201
So Franke, in: Löwe/Rosenberg, § 338 Rn. 116 m. w. N. Franke, in: Löwe/Rosenberg, § 338 Rn. 116 mit zahlreichen weiteren Nachweisen. 1203 Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, § 338 Rn. 52, sowie Franke, in: Löwe/Rosenberg, § 338 Rn. 115 m. w. N. 1204 Ähnl. auch Maul, in: FS Pfeiffer, S. 410. Ausführlich zu den gesetzlichen Anforderungen an die Urteilsgründe vgl. S. 218 ff. Werden in den Urteilsgründen dagegen lediglich die Indiztatsachen gem. § 267 Abs. 1 Satz 2 StPO nicht angegeben, aus denen die Haupttatsachen gefolgert worden sind, sollte nach der ständigen Rechtsprechung, die in den meisten SollVorschriften lediglich unverbindliche Ordnungsvorschriften erblickt, eigentlich kein Revisionsgrund zu erblicken sein, vgl. zu den Soll- und Ordnungsvorschriften auch Meyer-Goßner/ Schmitt, StPO, § 337 Rn. 4; Franke, in: Löwe/Rosenberg, § 337 Rn. 15 ff. Wie jedoch noch darzulegen sein wird, orientiert sich die höchstrichterliche Rechtsprechung bei der Bestimmung der tatrichterlichen Urteilsbegründungspflichten schon lange nicht mehr an dem Wortlaut des § 267 StPO, sodass nunmehr auch die Indiztatsachen zwingend in den Urteilsgründen darzulegen sind. 1205 RGSt 4, 367. 1202
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3. Kap.: Die höchstrichterliche Erweiterung der Revision auf Tatfragen
Das Urteil muß i n s i c h s e l b s t seine Erklärung und vollständige Begründung finden […]“.1206 Damit hätte der Tatrichter im konkreten Fall also auch darlegen müssen, wie die vorsätzliche rechtswidrige Haupttat ausgestaltet war, die der Verurteilung wegen Anstiftung zugrunde lag. Bemerkenswerterweise hob der Senat zugleich auch hervor, dass die revisionsgerichtliche Prüfung, ob das tatrichterliche Urteil den Anforderungen des § 266 RStPO genügt, bereits aufgrund einer Sachrüge (!) erfolgen könne, wenn das Urteil Tatsachen missen lässt, die eine notwendige Grundlage für Rechtsanwendung darstellen und dem Revisionsgericht deshalb nicht möglich ist, nachzuprüfen, ob die Rechtsanwendung fehlerfrei war oder nicht.1207 Diese Ausführungen sind insofern überraschend, als es sich bei der Vorschrift des § 266 RStPO (§ 267 StPO) ganz offensichtlich um eine verfahrensrechtliche Vorschrift handelte.1208 Nach dem insoweit eindeutigen Wortlaut der Strafprozessordnung wäre ihre Verletzung daher nicht schon auf eine Sachrüge, sondern erst auf eine hinreichend begründete Verfahrensrüge hin zu berücksichtigen. Weder der Rechtsprechung des Reichsgerichts noch der des Bundesgerichtshofs ist dabei zu entnehmen, warum Entscheidungsgründe, die nicht den Anforderungen des § 267 StPO genügen, bereits auf eine Sachrüge hin zu beachten sind. Allerdings ist darin noch keine Erweiterung der Revision über den Wortlaut der Strafprozessordnung hinaus zu erblicken. Denn eine Verletzung des sachlichen Rechts kommt nicht bloß dann in Betracht, wenn der Tatrichter die rechtliche Bedeutung eines gesetzlichen Tatbestandsmerkmals verkannt und deshalb eine fehlerhafte Subsumtion vorgenommen hat. Auch dort, wo der Tatrichter alle Tatbestandsmerkmale einer Rechtsnorm zutreffend erfasst hat, kann ihm ein Subsumtionsmangel unterlaufen sein; nämlich dann, wenn er einen Sachverhalt, den er für vollständig hält, unter diese Tatbestandsmerkmale subsumiert hat, obwohl ihm nicht alle gesetzlichen Merkmale des in Frage stehenden Deliktes zu entnehmen sind. Der sachlich-rechtliche Mangel äußert sich hierbei also nicht darin, dass ein gesetzlicher Tatbestand fehlerhaft ausgelegt wurde, sondern in der Annahme, dass ein nur lückenhaft festgestellter Tatbestand alle gesetzlichen Merkmale der in Frage stehenden Strafnorm enthält. So leidet, ein Urteil ganz offensichtlich an einem sachlich-rechtlichen Mangel, wenn der Richter irrtümlich annimmt, dass eine von dem Eigentümer vermietete Sache für diesen fremd ist, und den besagten Eigentümer, weil er eben jene Sache dem Mieter weggenommen hat, wegen Diebstahls verurteilt. Nichts anderes kann jedoch auch für den Fall gelten, in dem der Tatrichter den Angeklagten wegen Diebstahls verurteilt, ohne dass den Feststellungen zu entnehmen wäre, ob es sich bei der weggenommenen Sache um eine fremde Sache handelt. Da eine rechtsfehlerfreie Subsumtion stets voraussetzt, dass die in der Lebenswirklichkeit festgestellte Tat1206 1207 1208
RGSt 4, 367, 370. RGSt 4, 367, 370. Vgl. nur Frisch, in: FS Eser, S. 277 f.
B. Die Erweiterung der Revision auf Teile der Tatfrage
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sache mit allen abstrakt umschriebenen Tatbestandsmerkmalen der in Frage stehenden Rechtsnorm übereinstimmt,1209 kann auch in einem solchen Fall nicht ausgeschlossen werden, dass dem Tatrichter ein Subsumtionsfehler unterlaufen ist. Hier bleibt nämlich offen, ob der Angeklagte eine fremde Sache weggenommen hat, sodass die Subsumtion zwangsläufig unvollständig ist – dasselbe gilt freilich auch, wenn der Sachverhalt zwar grundsätzlich entsprechende Feststellungen enthält, diese aber so unklar oder widersprüchlich sind, dass sie keinen Sinn mehr ergeben.1210 Während also einem „klassischen“ Subsumtionsmangel die fehlerhafte Auslegung einer materiellen Rechtsnorm zugrunde liegt, verhält es sich bei unvollständigen, unklaren oder widersprüchlichen Feststellungen genau umgekehrt. In diesen Fällen, die als umgekehrte Subsumtionsmängel bezeichnet werden können, liegt der Subsumtionsmangel darin, dass die Voraussetzungen der (auch durchaus zutreffend ausgelegten) materiellen Rechtsnorm bejaht wurden, obwohl dem festgestellten Sachverhalt die tatsächlichen Entsprechungen der rechtlichen Merkmale der in Frage stehenden Norm nicht zu entnehmen sind. Auch wenn insofern in erster Linie eine fehlerhafte (da widersprüchliche, unklare oder lückenhafte) tatrichterliche Sachverhaltsfeststellung beschrieben wird, folgt daraus, dass damit zugleich auch eine fehlerhafte Subsumtion einhergeht. Hierbei handelt es sich um einen sachlichrechtlichen Mangel, der auch nach der Vorstellung des historischen Gesetzgebers bereits im Rahmen der Sachrüge zu berücksichtigen ist. Eine revisionsgerichtliche Aufhebung von Urteilen aufgrund unvollständiger, unklarer oder widersprüchlicher Feststellungen stellt insofern – obwohl auch diese Gruppe der Feststellungsmängel unter dem Stichwort der Darstellungskontrolle diskutiert werden – keinen (!) Fall der erweiterten Revision dar. Daher ist es nur konsequent, dass auch der Bundesgerichtshof die entsprechende Rechtsprechung des Reichsgerichts fortsetzte. So stellte der 2. Strafsenat bereits in seinem Urteil vom 3. August 1966 fest: „Da der Senat aufgrund der teils unklaren, teils widersprüchlichen Feststellungen des Urteils nicht in der Lage ist, die Rechtsanwendung der Strafkammer auf ihre Richtigkeit zu prüfen, musste das Urteil auch auf die Sachrüge hin aufgehoben werden“.1211 Auch in einem Urteil des 3. Strafsenats vom 25. Februar 1994 heißt es: „Die Revisionen der Angeklagten führen zur Aufhebung des Urteils, weil die lückenhaften und teilweise widersprüchlichen Feststellungen die Verurteilungen nicht zu tragen vermögen“. Kritischer zu betrachten ist jedoch die jüngere Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs, die neben widersprüchlichen, unklaren oder lückenhaften Feststellungen auch eine vermeintlich widersprüchliche, unklare oder lückenhafte Beweiswürdigung des Tatrichters zum Anlass nimmt, das Urteil im Rahmen der Sachrüge aufzuheben. So heißt es nunmehr in ständiger Rechtsprechung: 1209
Ähnl. auch Puppe, Kleine Schule des juristischen Denkens, S. 79. Ähnl. Frisch, in: FS Eser, S. 285. 1211 BGH, Urteil vom 3. August 1966 – 2 StR 242/66. Das Urteil ist zwar auch in BGHSt 21, 118 abgedruckt, die zitierte Passage wird dort jedoch nicht wiedergegeben. 1210
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3. Kap.: Die höchstrichterliche Erweiterung der Revision auf Tatfragen
„Die revisionsgerichtliche Überprüfung ist darauf beschränkt, ob dem Tatgericht Rechtsfehler unterlaufen sind. Dies ist in sachlich-rechtlicher Hinsicht der Fall, wenn die Beweiswürdigung widersprüchlich, unklar oder lückenhaft ist, gegen Denk- oder gesicherte Erfahrungssätze verstößt oder wenn das Tatgericht zu hohe Anforderungen an die Überzeugungsbildung stellt [Hervorh. d. Verf.].“1212
Hierbei scheint es bloß noch vom Zufall abhängig zu sein, ob der Bundesgerichtshof (zulässigerweise) erst die tatrichterlichen Feststellungen als das Ergebnis der Beweiswürdigung oder (unzulässigerweise) schon die tatrichterliche Beweiswürdigung selbst als widersprüchlich, unklar oder lückenhaft rügt, obwohl letztere bei strenger Rechtsanwendung überhaupt nicht seiner Prüfung unterliegt. Eine solche Ausweitung der revisionsgerichtlichen Kontrolle auf die tatrichterliche Beweiswürdigung, die nach der Wertung des historischen Gesetzgebers noch als die „Magna Charta“ des Tatrichters galt und gerade nicht der revisionsgerichtlichen Prüfung unterliegen sollte,1213 stellt – anders als die Rüge der widersprüchlichen, unklaren oder lückenhaften Feststellungen – sehr wohl eine Erweiterung der Revision dar, die nicht mehr durch den Wortlaut der Strafprozessordnung gedeckt ist. Wie damit im Einzelnen umzugehen ist, wird ebenfalls noch im Folgenden zu diskutieren sein.1214
III. Fehlerhafte, unwahrscheinliche oder nicht mit hinreichenden Gründen versehene Feststellungen Aufgehoben werden nach geltender Rechtsprechung allerdings nicht nur Urteile, deren Feststellungen gegen Denkgesetze und allgemeine Erfahrungssätze verstoßen bzw. widersprüchlich, unklar oder lückenhaft sind, sondern auch solche, deren Feststellungen von dem Revisionsgericht als unwahrscheinlich oder fehlerhaft betrachtet werden. Hierbei handelt es sich tatsächlich um eine besonders weitgehende Erweiterung der Revision, da die revisionsgerichtliche Nachprüfung insoweit unmittelbar an die tatrichterliche Beweiswürdigung anknüpft – gerade die Beweiswürdigung sollte jedoch, wie bereits mehrfach erwähnt und schon dargestellt,1215 nach dem ausdrücklichen Willen des Gesetzgebers einer höherinstanzlichen Nachprüfung entzogen sein.1216 So hat der Gesetzgeber bewusst davon abgesehen, eine etwaige materielle Tatsachenrüge einzuführen, mit der inhaltliche Mängel der Feststellungen im Rahmen der Revision geltend gemacht werden könnten.1217 Wie 1212 So wörtlich der 3. Strafsenat in BGH, Urteil vom 2. Juli 2015 – 3 StR 157/15; ähnl. aber auch BGH, Urteil vom 28. Mai 2015 – 3 StR 65/15; BGH NStZ 2015, 419; BGH NStZRR 2015, 180, 180; BGH HRRS 2015 Nr. 444 Rn. 2; 2015 Nr. 569. 1213 Vgl. hierzu ausführlich Jerouschek, GA 1992, 493, 509 ff. 1214 Vgl. S. 306 ff. 1215 Vgl. S. 171 ff. 1216 Vgl. S. 184 f. 1217 Vgl. Motive zur StPO, in: Hahn (Hrsg.), Materialien zur StPO, Bd. III/1, S. 249 f.
B. Die Erweiterung der Revision auf Teile der Tatfrage
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schon im ersten Abschnitt dieses Kapitels ausführlich dargelegt, enthält die Strafprozessordnung ebenso keine Pflicht des Tatrichters, in den Urteilsgründen darzulegen, welche subjektiven Beweisgründe seinen Feststellungen zugrunde liegen.1218 Daher war es ebenfalls nur konsequent, dass der Gesetzgeber auch von der Einführung einer formelle Tatsachenrüge abgesehen hat, mit der hätte gerügt werden können, dass der Tatrichter nicht hinreichend oder überzeugend dargelegt hat, welche Erwägungen seiner Überzeugungsbildung zugrunde lagen. Auf diese gesetzlichen Grenzen der Revision wies der IV. Strafsenat des Reichsgerichts noch 1898 hin, als er sich in einer (echten) Schwurgerichtssache mit der Frage zu befassen hatte, wie zu verfahren ist, wenn in dem tatrichterlichen Urteil wesentliche Erörterungen zur Einsichtsfähigkeit des Angeklagten nicht enthalten waren, wie es das Gesetz noch für unter 18-Jährige verlangte, weil das Gericht verkannt hatte, dass der Angeklagte das 18. Lebensjahr noch nicht vollendet hatte. Mit Blick auf den strengen Wortlaut des § 376 RStPO (§ 337 StPO) wies das Reichsgericht darauf hin, dass nach der gesetzlichen Konzeption der Revision eine fehlerhafte Feststellung des Alters des Angeklagten durch das Tatgericht nicht hätte gerügt werden können, wenn diese Feststellung durch eine Strafkammer – und nicht wie im konkreten Fall durch ein Schwurgericht – erfolgt wäre. In dem Urteil heißt es hierzu wörtlich: „Die nach den §§ 56. 57 St.G.O.’s [sic!] erforderliche Feststellung, ob ein Angeklagter bei Begehung der strafbaren Handlung das 18. Lebensjahr vollendet hatte, liegt auf dem thatsächlichem Gebiete. Wenn sie aber in S t r a f k a m m e r s a c h e n von dem erkennenden Gerichte irrtümlich in bejahendem Sinne getroffen und infolgedessen nicht darüber entschieden worden ist, ob der Angeklagte die zur Erkenntnis der Strafbarkeit seiner That erforderliche Einsicht besessen habe, so kann aus diesem thatsächlichen Irrtume des erkennenden Richters nach § 376 St.P.O. kein Revisionsgrund, sondern nach § 399 Nr. 5 daselbst nur ein Anlaß zur Wiederaufnahme des Verfahrens entnommen werden.“1219
In der konkreten Sache hatte die Revision ausschließlich deshalb Erfolg, weil § 298 Abs. 1 RStPO für Schwurgerichtssachen ausdrücklich vorschrieb, dass den Geschworenen eine Nebenfrage1220 zu der Einsichtsfähigkeit des Angeklagten vorzulegen war, sofern er zur Tatzeit das 18. Lebensjahr noch nicht vollendet hatte. Da der Vorsitzende und die Beisitzer des Schwurgerichts irrtümlich davon ausgegangen waren, dass der Angeklagte das 18. Lebensjahr bereits vollendet hätte, wurde den Geschworenen die entsprechende Nebenfrage nicht vorgelegt, was wiederum in einer revisionsfähigen Verletzung der Verfahrensvorschrift des § 298 Abs. 1 RStPO mündete.
1218 1219 1220
Vgl. S. 177 ff.; 218 ff. RGSt 31, 232, 233. Vgl. S. 144 f.
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3. Kap.: Die höchstrichterliche Erweiterung der Revision auf Tatfragen
1. Erweiterung der Revision auf materielle Mängel der Tatsachenfeststellungen in der Weimarer Republik Ungeachtet des Grundsatzes, dass die Richtigkeit und die Begründung der tatrichterlichen Sachverhaltsfeststellungen nicht im Wege der Revision überprüft werden können, begannen die Revisionsgerichte jedoch spätestens in der Weimarer Republik damit, die Tatsachenfeststellungen auch auf ihre inhaltliche Richtigkeit hin zu überprüfen. Rieß führt diese Entwicklung auf die 1924 erfolgte Abschaffung der echten Schwurgerichte durch die Emminger-Reformen zurück – weil Feststellungen der nicht-schwurgerichtlichen Spruchkörper nicht die gleiche sakrosankte Stellung zugekommen seien, wie dem Wahrspruch der Geschworenen, hätten die tatrichterlichen Sachverhaltsfeststellungen mit der Abschaffung der Schwurgerichte insgesamt ihre unantastbare Natur eingebüßt, sodass die Revision sukzessive auch auf diese ausgeweitet worden sei.1221 Überzeugender dürfte jedoch die These sein, dass die weiterhin dem Kaiserreich treu ergebene Richterschaft der Weimarer Republik nicht willens war, den von ihnen zuweilen als „majestätslos“ empfundenen Gesetzen der Republik dieselbe Autorität zuzuerkennen wie den Gesetzen, die noch im Kaiserreich ergangen waren.1222 Dadurch dürften sie einen insgesamt flexibleren und weniger rechtspositivistischen Zugang zu Gesetzen entwickelt haben, die ihnen auch ein Abweichen von den strengen Revisionsvorschriften erlaubt haben könnte. Bezeichnend für diese Entwicklung ist etwa das Urteil des Kammergerichts vom 10. Dezember 1928, dem ein Fall zugrunde lag, in dem das Tatgericht die Angeklagte von dem Vorwurf einer Beleidigung freigesprochen hatte, weil es zu der Überzeugung gelangt war, dass ihre Äußerung „Sie ungeschliffener Mensch“, „in den Kreisen, denen die Parteien angehören“ nicht als Beleidigung aufgefasst würde.1223 Deshalb, so das Gericht, habe der Angeklagten in dem konkreten Fall das Bewusstsein einer rechtswidrigen Kränkung gefehlt, weshalb sie freizusprechen sei. Das Kammergericht als zuständiges Revisionsgericht war jedoch nicht bereit, die tatrichterliche Feststellung, wonach die Angeklagte ohne Vorsatz gehandelt hatte, hinzunehmen, und hob das Urteil unter anderem mit folgender Begründung auf: „Das LG. ist aus rechtsirrtümlichen Erwägungen zum Ergebnisse gelangt, daß das B e w u s s t s e i n der Beleidigung gefehlt habe. Die Anschauung, daß in den Kreisen der Parteien ein solcher Ausdruck nicht als Beleidigung empfunden werde, steht im offensichtlichen Widerspruch zu den Erfahrungen des täglichen Lebens. Diese Würdigung des Beweisgrundes des Vorderrichters ist dem RevG. hier nicht entzogen. [Hervorh. d. Verf.]“1224
1221
Rieß, GA 1978, 257, 267. Vgl. hierzu etwa Angermund, Deutsche Richterschaft 1919 – 1945, S. 31 ff.; Müller, Betrifft Justiz (65) 2001, 12, 14. 1223 Die Angeklagte war eine Kaufmannsehefrau und der mutmaßlich beleidigte Privatkläger ein Maschinenmeister, bei dem das Kaufmannspaar lebte. 1224 KG JW 1929, 885. 1222
B. Die Erweiterung der Revision auf Teile der Tatfrage
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Damit rügte das Kammergericht also nicht bloß die Missachtung allgemeiner Erfahrungssätze, die eine generelle Gültigkeit für sich in Anspruch nehmen können, sondern ein vermeintliches Außerachtlassen von Erfahrungen des täglichen Lebens durch den Tatrichter. Hierbei scheint das Kammergericht allerdings zu verkennen, dass bei den Erfahrungen des täglichen Lebens – anders als bei den allgemeinen Erfahrungssätzen – nicht ausgeschlossen werden kann, dass der Tatrichter gerade aufgrund seines unmittelbaren Eindruckes von der mündlichen Verhandlung, über den das Revisionsgericht nicht verfügt, zu einer Überzeugung gelangt sein kann, die von den (durchaus widerleglichen) Erfahrungen des täglichen Lebens abweicht. Zumal der Tatrichter nach dem Wortlaut der Strafprozessordnung auch nicht dazu verpflichtet ist, seine dahingehenden Erwägungen in den Urteilsgründen auszuführen. Zu dem Grundsatz, dass die tatrichterliche Beweiswürdigung einer revisionsgerichtlichen Kontrolle nicht zugänglich ist, stellte das Kammergericht dabei lediglich lapidar und ohne eine nähere Auseinandersetzung mit dem Willen des historischen Gesetzgebers unzutreffenderweise fest: „Der Rechtssatz, daß die Beweisführung nicht nachzuprüfen ist, findet seinen Grund darin, daß dem RevR. im allgemeinen nicht die Erkenntnisquellen zur Verfügung stehen, aus denen der Tatrichter seine Überzeugungen zu schöpfen vermag. D a r a u s e r g i b t s i c h a b e r gleichzeitig, daß der Rechtssatz nicht Platz greift, wenn die Erkenntnisquelle des Tatrichters in gleicher Weise dem RevG. offensteht, insbes. bei Erfahrungstatsachen.“1225
Die Fehlerhaftigkeit dieser Auffassung des Kammergerichts folgt schon aus den Motiven zur Strafprozessordnung. Anders als von dem Kammergericht angenommen, hat der historische Gesetzgeber die Revision nämlich nicht deshalb als ein beschränktes Rechtsmittel ausgestaltet, weil dem Revisionsgericht nicht die gleichen Erkenntnisquellen wie dem Tatrichter zur Verfügung standen. Vielmehr hat er davon abgesehen, dem Revisionsgericht die gleichen Erkenntnisquellen zur Verfügung zu stellen wie dem Tatrichter, damit die Revision ein beschränktes Rechtsmittel blieb.1226 Hierbei ließ er sich, wie bereits ausgeführt, vor allem von der (irrtümlichen) rechtspolitischen Überzeugung leiten, dass ein vollumfassendes Rechtsmittel mit den Prinzipien der Mündlichkeit und der freien Beweiswürdigung unvereinbar wäre.1227 Indem das Kammergericht dennoch auch diejenigen Tatfragen als der Revision zugänglich betrachtete, in denen dem Revisionsgericht dieselben Erkenntnisquellen zur Verfügung standen wie dem Tatrichter, bekannte es sich bereits 1928 im Wesentlichen zu der sog. Leistungsmethode, welche erst 1938 von Peters noch wissenschaftlich beschrieben werden sollte.1228 1225
KG JW 1929, 885. Vgl. S. 109 ff. 1227 Zur Unvereinbarkeit eines Rechtsmittels, das auch die Tatfragen erfasst, mit dem Mündlichkeitsprinzip und der freien Beweiswürdigung vgl. S. 94 ff.; 172 ff. 1228 Peters, ZStW (57) 1938, 53, 70 f.; Peters, in: FS Schäfer, S. 139; mit zahlreichen Nachweisen zur Leistungsmethode auch Franke, in: Löwe/Rosenberg, vor § 333 Rn. 5, dort 1226
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3. Kap.: Die höchstrichterliche Erweiterung der Revision auf Tatfragen
In der Folgezeit begann auch das Reichsgericht damit, Erfahrungen des täglichen Lebens mit allgemeinen Erfahrungssätzen und Denkgesetzen gleichzusetzen.1229 Demnach sollte sich die revisionsgerichtliche Nachprüfung von tatrichterlichen Sachverhaltsfeststellungen künftig nicht mehr darauf beschränken, ob diese im Einklang mit den allgemeinen Erfahrungssätzen standen, sondern sich auch darauf erstrecken, ob sie der allgemeinen Lebenserfahrung nicht widersprachen.1230 Wie schon das Kammergericht ließ dabei offenbar auch das Reichsgericht außer Acht, dass die allgemeine Lebenserfahrung bloß aufzeigte, dass zwei Gegebenheiten mit einer mehr oder weniger großen Wahrscheinlichkeit miteinander verknüpft waren, während nur allgemeine Erfahrungssätze unumstößliche und allgemeingültige Erfahrungswerte beschrieben, sodass tatrichterliche Sachverhaltsfeststellungen, die im Widerspruch zu der allgemeinen Lebenserfahrung standen, im Einzelfall durchaus der materiellen Wahrheit entsprechen konnten. Indem das Reichsgericht jedoch auch Verstöße gegen die allgemeine Lebenserfahrung als revisibel betrachtete, verschaffte es sich die Kompetenz, unwahrscheinliche oder scheinbar fehlerhafte Feststellungen zum Anlass zu nehmen, ein tatrichterliches Urteil aufzuheben. Ersichtlich wird diese Entwicklung etwa in einem Urteil des I. Strafsenats vom 9. April 1929, dem eine Entscheidung des Landgerichts Erfurt zugrunde lag. Das Landgericht hatte den Angeklagten wegen Beleidigung verurteilt, weil er sein Opfer in einem Aufsatz der Rechtsbeugung bezichtigt hatte. Dabei hatte der Angeklagte in der tatrichterlichen Verhandlung geltend gemacht, dass er mit seinem Aufsatz lediglich habe zum Ausdruck bringen wollen, dass das Opfer in seiner richterlichen Tätigkeit unbewusst voreingenommen gewesen sei, was in einer Reihe von Fällen seine Entscheidung beeinflusst habe – er habe also keinesfalls sagen wollen, dass sein vermeintliches Opfer wider besseres Wissen unrichtig entschieden habe. Die Strafkammer war jedoch nach einer umfassenden Würdigung der Ausführungen in dem Aufsatz des Angeklagten zu der Überzeugung gelangt, dass dieser „nach seiner gesamten Fassung und seinem Inhalt“ den Vorwurf der Rechtsbeugung enthalte. Das Reichsgericht jedoch war offensichtlich nicht willens, diese Feststellung hinzunehmen, und führte dazu aus: „Die hiermit vorgenommene Auslegung steht, soweit sie hier ,die Fassung und den Inhalt‘ des Aufsatzes zugrundegelegt, nicht mit den Denkgesetzen in Einklang. Es ist irrig, daß der vom Angeklagten aufgestellte Gegensatz n u r dahin verstanden werden könnte, dem Nebenkläger sei damit der Vorwurf der Rechtsbeugung, also einer bewußten und gewollten Entscheidung wider das Recht, gemacht. Denn der oben wiedergegebene Gegensatz kann zum mindesten auch in dem vom Angeklagten behaupteten Sinne verstanden werden.“1231
insb. Fn. 13; vgl. zu einer knappen Darstellung der Leistungsmethode auch S. 238 f. der vorliegenden Schrift. 1229 RGSt 63, 112; vgl. auch Jähnke, in: FS Hanack, S. 358. 1230 Peters, in: FS Schäfer, S. 143; zur Klassifizierung unterschiedlicher Erfahrungssätze vgl. Sander, in: Löwe/Rosenberg, § 261 Rn. 45 ff. 1231 RGSt 63, 112, 113.
B. Die Erweiterung der Revision auf Teile der Tatfrage
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Bemerkenswerterweise rügt das Reichsgericht hier – trotz anderslautender Wortwahl in seinem Urteil – gerade keinen Verstoß der Feststellungen gegen Denkgesetze; es hält vielmehr die Schlussfolgerung der Strafkammer, wonach die schriftlichen Äußerungen des Angeklagten als der Vorwurf einer Rechtsbeugung zu verstehen seien, aus tatsächlichen Gründen – nämlich weil man sie auch anders verstehen könne – für falsch. Auch im Folgenden befasste sich das Reichsgericht in seiner Entscheidung mit weiteren Feststellungen des tatrichterlichen Urteils, die es aufgrund einer eigenen Wertung (!) der in dem Urteil wiedergegebenen Beweismittel als fehlerhaft rügt.1232 Letztendlich hob das Reichsgericht das Urteil also nicht wegen Rechtsanwendungsfehler des Tatrichters auf, sondern weil es den Inhalt der tatrichterlichen Sachverhaltsfeststellungen nicht teilte bzw. für fehlerhaft hielt – dies obwohl ausgerechnet die Feststellungen als Ergebnisse der tatrichterlichen Beweiswürdigung von Gesetzes wegen von einer revisionsgerichtlichen Prüfung ausgenommen sein sollten. 2. Erweiterung der Revision im „Dritten Reich“ als Folge einer Entformalisierung des Rechts Im „Dritten Reich“ erfuhr die strafrechtliche Revision eine deutlich weitergehende Ausweitung auf die tatrichterlichen Feststellungen, damit diese den nationalsozialistischen Vorstellungen von einer „gerechten“ Strafrechtspflege entsprach. Unter „gerecht“ wurde dabei freilich nicht eine Strafrechtspflege verstanden, die im besonderen Maße rechtsstaatlichen Erwägungen oder dem Gedanken der Fairness verpflichtet war, sondern vielmehr eine solche, welche die Werte der nationalsozialistischen Grundideologie bestmöglich zur Geltung brachte. Besonders deutlich kam dieser Gerechtigkeitsgedanke, der sich vordergründig an dem vermeintlich „gesunden Volksempfinden“ orientierte, etwa in dem neugefassten § 2 StGB vom 28. Juni 19351233 zum Ausdruck, der lautete: „(1) Bestraft wird, wer eine Tat begeht, die das Gesetz für strafbar erklärt oder die nach dem Grundgedanken eines Strafgesetzes und nach gesundem Volksempfinden Bestrafung verdient. (2) Findet auf die Tat kein bestimmtes Strafgesetz unmittelbar Anwendung, so wird die Tat nach dem Gesetz bestraft, dessen Grundgedanke auf sie am besten zutrifft.“
Zugleich bestimmte er in dem neugeschaffenen § 267a StPO auch auf formeller Ebene: „Ergibt die Hauptverhandlung, daß der Angeklagte eine Tat begangen hat, die nach gesundem Volksempfinden Bestrafung verdient, die aber im Gesetz nicht für strafbar erklärt ist, so hat das Gericht zu prüfen, ob auf die Tat der Grundgedanke eines Strafgesetzes zutrifft
1232 1233
RGSt 63, 112, 114 f. Gesetz zur Änderung des Strafgesetzbuchs vom 28. Juni 1935, RGBl. I 1935, 839.
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3. Kap.: Die höchstrichterliche Erweiterung der Revision auf Tatfragen
und ob durch entsprechende Anwendung dieses Strafgesetzes der Gerechtigkeit zum Siege verholfen werden kann (§ 2 des Strafgesetzbuchs).“1234
Demnach sollten nach den Vorstellungen des nationalsozialistischen Strafgesetzgebers all jene Handlungen bestraft werden können, die nach dem gesunden Volksempfinden als strafwürdig anzusehen waren. Zur unbedingten Verwirklichung einer vermeintlich materiellen Gerechtigkeit wurde dabei bewusst auf diejenigen Komponenten des Strafrechts verzichtet, die der Rechtssicherheit zu dienen bestimmt waren, sodass durch den neuen § 2 StGB auch so grundlegende Prinzipien wie das Bestimmtheitsgebot oder das Rückwirkungsverbot außer Kraft gesetzt wurden. Den Maßstab für die materielle Gerechtigkeit bildeten dabei neben dem Willen des „Führers“ – in dessen Person sich der Wille des deutschen Volkes vermeintlich verkörperte – auch die von der NS-Ideologie geprägten Vorstellungen von Recht und Ordnung im „Dritten Reich“.1235 Um ein so verstandenes Gerechtigkeitspostulat zu verwirklichen, war es notwendig, dass der Staat in seinem Wirken nicht durch enge prozedurale Vorschriften beschränkt wurde.1236 Eine strikte Gesetzesbindung von Verwaltung und Justiz wurde im NS-Staat daher als ein lästiges Hindernis auf dem Weg zu der Verwirklichung dieser missverstandenen materiellen Gerechtigkeit empfunden.1237 Die Folge war eine Abkehr vom Rechtspositivismus und die Entformalisierung des Verfahrensrechts, mit der auch eine Erweiterung der Kompetenzen des Reichsgerichts einherging – wie noch im Folgenden dargelegt wird, hatten diese Entwicklungen eine umfassende Ausweitung der Revision auf die Tatfragen zur Folge. a) Abkehr vom Rechtspositivismus zugunsten einer „gerechten“ Rechtspflege Wie bereits angedeutet, war vor allem eine absolute Bindung der Verwaltung und Justiz an das positive Recht mit der nationalsozialistischen Vorstellung von volkstümlicher Gerechtigkeit kaum zu vereinbaren. Gerade eine strikte Orientierung an Rechtsstaatlichkeitsprinzipien, welche die staatlichen Gewalten an ein formelles Verfahren und an den Wortlaut der Gesetze band und letztlich auf eine prozedurale Gerechtigkeit beschränken konnte, galt im „Dritten Reich“ als unvereinbar mit dem angestrebten Ziel der materiellen Gerechtigkeit.1238 So war der Begriff „Rechtspositivismus“, mit dem eine absolute Geltung des positiv gesetzten Rechts beschrieben wurde, in der nationalsozialistischen Rechtslehre ähnlich negativ besetzt wie die 1234
Art. 1 Nr. 1 a) des Gesetzes zur Änderung von Vorschriften des Strafverfahrens und des Gerichtsverfassungsgesetzes vom 28. Juni 1935, RGBl. I 1935, 844. 1235 Vgl. Basta/Krawietz/Müller, Rechtsstaat, S. 216. 1236 Hilger, Rechtsstaatsbegriffe im Dritten Reich, S. 106. 1237 Vgl. ausführlich hier zu Hilger, Rechtsstaatsbegriffe im Dritten Reich, S. 106. 1238 Vgl. Basta/Krawietz/Müller, Rechtsstaat, S. 216; Hilger, Rechtsstaatsbegriffe im Dritten Reich, S. 106 f.
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Begriffe individualistisch, liberal, volksfremd oder formal.1239 Insofern ist auch Radbruch nicht zuzustimmen, wenn dieser die Willfährigkeit des deutschen Juristenstandes gegenüber den Unrechtsnormen im „Dritten Reich“ mit ihrem unbedingten Gesetzesgehorsam zu rechtfertigen sucht.1240 Tatsächlich wurden im „Dritten Reich“ lediglich solche Gesetze als absolut bindend angesehen, die im Nationalsozialismus selbst erlassen wurden und daher als Ausdruck des im „Führer“ lebendigen Gemeinwillens galten – im Übrigen sollte stets der Gerechtigkeit Vorrang vor dem geschriebenen Recht eingeräumt werden.1241 So herrschte im „Dritten Reich“ also eine allgemeine Abneigung gegenüber dem Rechtspositivismus; lediglich im Falle nationalsozialistischer Gesetze wurde von den Gerichten und der Verwaltung erwartet, dass diese ihnen absolute Folge leisteten.1242 Allerdings hatte selbst diese Bindung an die nationalsozialistischen Gesetze nicht zur Folge, dass der Rechtsanwender im „Dritten Reich“ denselben Einschränkungen unterlag, wie etwa durch den Grundsatz vom „Vorrang des Gesetzes“. Denn die meisten neuen Gesetze im „Dritten Reich“ waren nicht in einem ordentlichen Gesetzgebungsverfahren unter Beteiligung des Reichstages zustande gekommen, sondern aufgrund des Gesetzes zur Behebung der Not von Volk und Reich vom 24. März 1933 (dem sog. „Ermächtigungsgesetz“)1243 ausschließlich durch die Reichsregierung erlassen worden. Damit lag die Gesetzgebungsgewalt im „Dritten Reich“ de facto allein bei dem Kanzler des Deutschen Reiches, Adolf Hitler. Bei der „Reichsregierung“ im nationalsozialistischen Deutschen Reich handelte es sich nämlich um kein Kollegialorgan in Sinne des Art. 56 WRV, sondern um ein nach dem „Führerprinzip“ organisiertes Gremium, in dem die Minister bloße Befehlsempfänger des „Führers“ ohne eigene Ressortkompetenzen waren.1244 Dabei stellten sowohl das „Ermächtigungsgesetz“ als auch die darauf beruhenden „Regierungsgesetze“ Besonderheiten des nationalsozialistischen Deutschen Reiches dar. Zwar waren auch in der Weimarer Republik Gesetzgebungskompetenzen immer 1239
Rottleuthner, RuP 1983, 195, 196. So legte Radbruch, SJZ 1946, 105, dar, dass der Positivismus mit seiner Überzeugung „Gesetz ist Gesetz“ den deutschen Juristenstand gegen Gesetze willkürlichen und verbrecherischen Inhalts wehrlos gemacht habe. Diese These wurde erst kürzlich von Richter am Bundesverwaltungsgericht Deiseroth als die „Positivismus-Legende“ bezeichnet, da der Rechtspositivismus schon seit der Weimarer Republik in der deutschen Richterschaft keine Berücksichtigung mehr gefunden hatte und erst recht nicht der nationalsozialistischen Ideologie entsprach, Deiseroth, Betrifft Justiz (113) 2013, 5 ff.; im ähnlichen Sinne auch Maus, in: Dreier et al. (Hrsg.), Recht und Justiz im „Dritten Reich“, S. 81 ff.; Walther, in: Dreier et al. (Hrsg.), Recht und Justiz im „Dritten Reich“, S. 326 ff.; Dreier, in: FS Walter, S. 125 ff. 1241 Dreier, in: FS Walter, S. 125 f. sowie Angermund, Deutsche Richterschaft 1919 – 1945, S. 107 m. w. N. 1242 Mertens, Rechtsetzung im Nationalsozialismus, S. 83. 1243 RGBl. I 1933, 141. 1244 Ausführlich zu den Rechtssetzungsbefugnissen der Reichsregierung im „Dritten Reich“ Mertens, Rechtsetzung im Nationalsozialismus, S. 14 f. 1240
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3. Kap.: Die höchstrichterliche Erweiterung der Revision auf Tatfragen
wieder aufgrund von Ermächtigungsgesetzen auf die Exekutive übertragen worden, doch wurden die auf diesem Wege erlassenen materiellen Gesetze noch ausdrücklich als Verordnungen bezeichnet und unterlagen zahlreichen Einschränkungen.1245 So waren die Ermächtigungsgesetze in der Weimarer Republik thematisch beschränkt und zeitlich eng befristet; zudem waren die Verordnungen, die auf ihrer Grundlage erlassen wurden, in der Regel auf Verlangen des Reichstages aufzuheben.1246 Das Ermächtigungsgesetz von 1933 jedoch ging deutlich darüber hinaus. So gestatte es der Reichsregierung nicht bloß Verordnungen zu erlassen, sondern „echte“ Reichsgesetze zu beschließen, ohne dass eine Möglichkeit des Reichstages vorgesehen war, ihre Aufhebung zu verlangen.1247 Auch sollte das Ermächtigungsgesetz bereits in seiner ursprünglichen Fassung vier Jahre in Kraft bleiben.1248 Durch das Gesetz über den Neuaufbau des Reichs vom 30. Januar 19341249 wurde die Reichsregierung zudem in die Lage versetzt, durch Regierungsgesetze auch Verfassungsrecht zu setzen.1250 Schon unmittelbar nach der Verabschiedung des Ermächtigungsgesetzes von 1933 wurde die parlamentarische Gesetzgebung im Deutschen Reich nahezu vollständig durch die „Regierungsgesetzgebung“ verdrängt. Eine Unterscheidung zwischen den unterschiedlichen Rechtssetzungsakten war in der Verfassungswirklichkeit des „Dritten Reichs“ zwar ohnehin nur von untergeordneter Bedeutung, da letztendlich allen Akten des „Führers“ – ganz gleich, ob sie als Gesetze, Verordnungen, Satzungen oder Befehle ergingen – Gesetzeskraft zugesprochen wurde.1251 Dennoch ist es bemerkenswert, dass in der Zeit zwischen dem Erlass des Ermächtigungsgesetzes und dem Kriegsbeginn nur noch sieben (!) Gesetze durch den Reichstag beschlossen worden sind,1252 obwohl der Reichstag schon bald nach der 1245
Vgl. etwa § 1 des Gesetzes über eine vereinfachte Form der Gesetzgebung für die Zwecke der Übergangswirtschaft vom 17. April 1919, RGBl. 1919, 394. 1246 Vgl. nur das Ermächtigungsgesetz vom 13. Oktober 1923, RGBl. I 1923, 943. 1247 Art. 1 des Gesetzes zur Behebung der Not von Volk und Reich vom 24. März 1933, RGBl. I 1933, 141. 1248 Art. 5 Satz 2 des Gesetzes zur Behebung der Not von Volk und Reich vom 24. März 1933, RGBl. I 1933, 141. 1249 RGBl. I 1934, 75. 1250 Art. 4 des Gesetzes über den Neuaufbau des Reichs vom 30. Januar 1934. 1251 Koch, Rechtsbegriff und Widerstandsrecht, S. 141; Mertens, Rechtsetzung im Nationalsozialismus, S. 89. 1252 Hierbei handelte es sich um (1.) das Gesetz über den Neuaufbau des Reichs vom 30. Januar 1934, RGBl. I 1934, 75, mit dem die Länder als souveräne Körperschaften aufgehoben und die Reichregierung zum Verfassungsgesetzgeber ernannt wurde; (2.) Reichsflaggengesetz vom 15. September 1935, RGBl. I 1935, 1145; (3.) Reichsbürgergesetz vom 15. September 1935, RGBl. I 1935, 1146; (4.) Gesetz zum Schutze des Deutschen Blutes und der Deutschen Ehre vom 15. September 1935, RGBl. I 1935, 1146; (5.) Gesetz zur Verlängerung des Gesetzes zur Behebung der Not von Volk und Reich vom 30. Januar 1937, RGBl. I 1937, 105; (6.) Gesetz zur Verlängerung des Gesetzes zur Behebung der Not von Volk und Reich vom 30. Januar 1939, RGBl. I 1939, 95, und (7.) Gesetz über die Wiedervereinigung der freien Stadt Danzig mit dem Deutschen Reich vom 1. September 1939, RGBl. I 1939, 1543. Zwei
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„Machtergreifung“ zu einem Einparteienparlament umgestaltet worden war. Diesen sieben Parlamentsgesetzen, die vor allem aus propagandistischen Gründen als solche erlassen worden waren, standen 986 Gesetze gegenüber, die aufgrund des Ermächtigungsgesetzes durch die Regierung beschlossen worden waren.1253 Bezeichnend für diese „Regierungsgesetze“ war oftmals ein übermäßiger Gebrauch von Generalklauseln und unbestimmten Rechtsbegriffen.1254 Ungeachtet der umfassenden Bindungswirkung der nationalsozialistischen Gesetze ließen sie systemtreuen Rechtsanwendern damit große Freiräume bei ihrer Auslegung und Anwendung im Sinne der nationalsozialistischen Ideologie.1255 Die Auslegung dieser Gesetze hatte sich dabei vor allem an dem „gesunden Rechtsempfinden der Volksgemeinschaft“ zu orientieren, das als die Primärquelle des Rechts („Rechtsurquelle“) angesehen wurde.1256 Hierbei wurde allerdings angenommen, dass der Wille des Volkes mit dem Willen des „Führers“ übereinstimmte, sodass Adolf Hitler, in dessen Person sich der völkische Wille vermeintlich verkörperte, als „der Träger des Volkswillens“ galt.1257 Der alleinige Maßstab für die Auslegung der Rechtsnormen in der NS-Zeit war damit also der „Führerwille“, der den Gesetzen nur in den wenigsten Fällen unmittelbar zu entnehmen war. Damit war es die vornehmliche Aufgabe der Rechtsprechung, die nationalsozialistischen, aber auch die vornationalsozialistischen Normen, so auszulegen, dass sie dem Willen des „Führers“ entsprachen.1258 Dem positiven Recht kam dabei lediglich noch die Funktion einer „Rechtserkenntnisquelle“ zu, in der das völkische Rechtsempfinden Gestalt annahm.1259 So entwickelten die deutschen Juristen eine vergleichbar gleichgültige Haltung gegenüber dem geschriebenen Recht, die etwa an den Äußerungen von Brettle, dem Oberreichsanwalt beim Reichsgericht1260 von 1937 bis 1945, deutlich erkennbar dieser Gesetze (5. und 6.) verlängerten bloß die Geltung des Ermächtigungsgesetzes, während die Gesetze 3. und 4. die berüchtigten Nürnberger Rassengesetze darstellten. 1253 Deutscher Bundestag, Nationalsozialismus (1933 – 1945), Online-Quelle. 1254 Mertens, Rechtsetzung im Nationalsozialismus, S. 98. 1255 Dreier, in: FS Walter, S. 125 f. m. w. N.; Angermund, Deutsche Richterschaft 1919 – 1945, S. 106 f.; Mertens, Rechtsetzung im Nationalsozialismus, S. 95, 101; zur „Lenkung“ der Rechtsprechung im nationalsozialistischen Reich vgl. Rüping, in: Dreier et al. (Hrsg.), Recht und Justiz im „Dritten Reich“, S. 183 f. 1256 Mertens, Rechtsetzung im Nationalsozialismus, S. 83. 1257 Koch, Rechtsbegriff und Widerstandsrecht, S. 146 f.; Basta/Krawietz/Müller, Rechtsstaat, S. 216. 1258 Angermund, Deutsche Richterschaft 1919 – 1945, S. 106 f. 1259 Mertens, Rechtsetzung im Nationalsozialismus, S. 84. 1260 Bei dem Oberreichsanwalt handelte es sich um die oberste Staatsanwaltschaft im Deutschen Reich; seine Stellung entsprach insofern in etwa dem des Generalbundesanwaltes in der Bundesrepublik Deutschland, auch wenn der Generalbundesanwalt – anders als der Oberreichsanwalt in der zentral organisierten Justiz des „Dritten Reiches“ – den Landesstaatsanwaltschaften nicht vorgesetzt ist. Neben dem Oberreichsanwalt beim Reichsgericht gab es ab 1937 die hiervon unabhängige Behörde des Oberreichsanwalts beim Volksgerichtshof mit vergleichbaren Aufgaben, Gruchmann, Justiz im Dritten Reich, S. 970 f.
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wird. Obwohl diesem offensichtlich bewusst war, wo die gesetzlichen Grenzen der durch § 34 der Zuständigkeitsverordnung vom 21. Februar 19401261 eingeführten Nichtigkeitsbeschwerde – eines neuen Rechtsbehelfs in Strafsachen1262 – verliefen, führte er aus, dass diese Grenzen für die Oberreichsanwaltschaft und das Reichsgericht nicht in jedem Falle gelten müssten: „Immerhin kann man sich vorstellen, daß eines Tages ein besonderer Anlaß dazu drängen kann, über den Wortlaut des § 34 hinwegzukommen. […] Auch hier könnte sich der Rechtsgedanke [gemeint ist der Gerechtigkeitsgedanke – Anm. d. Verf.] im Falle eines dringenden Bedürfnisses so unabweisbar zeigen, daß er imstande wäre, alle Schranken zu durchbrechen, die sich anscheinend der Beseitigung einer fehlerhaften und dadurch unerträglich ungerecht gewordenen Entscheidung entgegenstellen.“1263
Eine ähnlich pragmatische Auffassung zum positiven Recht findet sich auch in der Rechtsprechung des Reichsgerichts. Wie an vorheriger Stelle angedeutet,1264 hatte die deutsche Richterschaft nämlich bereits in der Weimarer Republik eine stark antirepublikanische, antisemitische und den Parlamentsgesetzen gegenüber kritisch eingestellte Haltung entwickelt.1265 Besonders deutlich tritt sie etwa in einem Urteil des Reichsgerichts vom 14. März 1928 hervor. Der Entscheidung lag die Frage zugrunde, ob eine Presseberichterstattung schon dann den Tatbestand Geheimnisverrates gem. § 92 Abs. 1 Nr. 1 StGB a. F.1266 erfüllte, wenn in dem Bericht deutsche Verstöße gegen die Bestimmungen des Versailler Vertrages offenbart wurden. Hierzu heißt es in dem Urteil des V. Strafsenats des Reichsgerichts:
1261 Verordnung über die Zuständigkeit der Strafgerichte, die Sondergerichte und sonstige strafverfahrensrechtliche Vorschriften vom 21. Februar 1940, RGBl. I 1940, 405. 1262 Ausführlich zu der Nichtigkeitsbeschwerde im „Dritten Reich“ vgl. S. 391. Gem. §§ 34, 37 der Verordnung vom 21. Februar 1940, RGBl. I 1940, 405, konnte der Oberreichsanwalt (vgl. Fn. 1260) rechtskräftige (!) Urteile, Strafbefehle und Beschlüsse der Amtsgerichte, Strafkammern und Sondergerichte binnen eines Jahres nach dem Eintritt ihrer Rechtskraft mit der Nichtigkeitsbeschwerde anfechten, „wenn das Urteil wegen eines Fehlers bei der Anwendung des Rechts auf die festgestellten Tatsachen ungerecht ist [Hervorh. d. Verf.]“. Art. 7 § 2 Abs. 1 der Verordnung zur weiteren Vereinfachung der Strafrechtspflege vom 13. August 1942 (RGBl. I 1942, 508) erweiterte den Anwendungsbereich der Nichtigkeitsbeschwerde auch auf die Tatfragen. Dort hieß es nämlich: „Der Oberreichsanwalt beim Reichsgericht kann die Nichtigkeitsbeschwerde erheben, wenn die Entscheidung wegen eines Fehlers bei der Anwendung des Rechts ungerecht ist oder wenn erhebliche Bedenken gegen die Richtigkeit der in der Entscheidung festgestellten Tatsachen oder gegen den Strafausspruch bestehen; hierzu erhebt das Gericht erforderlichenfalls Beweise [Hervorh. d. Verf.]“. Damit wurde die Nichtigkeitsinstanz 1942 zu einer echten Tatsacheninstanz umgewandelt, so auch Pauli, Die Rechtsprechung in Strafsachen zwischen 1933 und 1945, S. 18. 1263 Brettle, DJ 1941, 561, 563. 1264 Vgl. S. 256 f. 1265 Vgl. nur Angermund, Deutsche Richterschaft 1919 – 1945, S. 31 ff.; Dreier, in: FS Walter, S. 120. 1266 Gesetz, betreffend die Redaktion des Strafgesetzbuchs für den Norddeutschen Bund als Strafgesetzbuch für das Deutsche Reich vom 15. Mai 1871, RGBl. 1871, 127.
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„Das Wohl des eigenen Staates wahrzunehmen ist für ihn [den Staatsbürger – Anm. d. Verf.] höchstes Gebot […]. Die uneingeschränkte Anerkennung des Gedankens, daß die Aufdeckung und Bekanntgabe gesetzwidriger Zustände dem Reichswohle niemals abträglich, nur förderlich sein könne, weil das Wohl des Staates in seiner Rechtsordnung festgelegt sei und sich in deren Durchführung verwirkliche, ist abzulehnen […].“1267
Damit hatte das Reichsgericht bereits 1928 implizit abgelehnt, anzuerkennen, dass das Wohl des Staates unbedingt in seiner Rechtsordnung festgelegt ist. Wenig überraschend setzte sich in der Rechtsprechung des Reichsgerichts im nationalsozialistischen Deutschen Reich endgültig die Auffassung durch, dass keine gerechten Entscheidungen erzielt werden könnten, wenn Gerichte bei der Auslegung von Gesetzen am Wortlaut des Gesetzes haften blieben. So heißt es in der Entscheidung des Großen Senats für Strafsachen vom 23. Februar 1938: „Der Aufgabe, die das dritte Reich der Rechtsprechung stellt, kann diese aber [trotz der grundsätzlichen Bindung an die Gesetze – Anm. d. Verf.] nur gerecht werden, wenn sie bei der Auslegung der Gesetze nicht an dem Wortlaute haftet, sondern in ihr innerstes Wesen eindringt und zu ihrem Teile dazu mitzuhelfen versucht, daß die Ziele des Gesetzgebers verwirklicht werden.“1268
Damit hatte sich das Reichsgericht es zur Aufgabe gemacht, die Auslegung der Gesetze in einer Art und Weise vorzunehmen, die dem Willen des nationalsozialistischen Gesetzgebers entsprach, selbst wenn der Wortlaut einer Vorschrift einer solchen Auslegung entgegenstand. b) Entformalisierung des Verfahrensrechts zugunsten der „Einzelfallgerechtigkeit“ Zeitgleich wurde im NS-Staat unter der Bezeichnung Auflockerung des Verfahrens eine Entformalisierung des Verfahrensrechts vorangetrieben, wodurch richterliche Entscheidungen von ihrer Formgebundenheit gelöst werden sollten, um sie „gerechter“ zu machen.1269 De facto hatte diese Auflockerung des formellen Rechts vor allem im Bereich des Strafverfahrens eine Abschaffung der als zu liberal empfundenen „Schutzvorschriften“ für den Beschuldigten zur Folge.1270 Doch auch die Revisionsvorschriften der Strafprozessordnung, die bis heute anstelle einer vollumfänglichen Berufung ein hoch formalisiertes Rechtsmittelverfahren vorsehen, wurden angesichts der nationalsozialistischen „Gerechtigkeitsideologie“ als wenig 1267
RGSt 62, 65, 67. RGSt (GSSt) 72, 91, 93. 1269 Vgl. Begründung zum Entwurf 1939, S. 4 f., in Schubert (Hrsg.), Quellen zur Reform des Straf- und Strafprozeßrechts III/1 (NS-Zeit), S. 372 ff.; so auch Hillgruber, JZ 2008, 745, 751. 1270 So Rüping, in: Dreier et al. (Hrsg.), Recht und Justiz im „Dritten Reich“, S. 182; Pauli, Die Rechtsprechung in Strafsachen zwischen 1933 und 1945, S. 43 ff., spricht insofern von einer Materialisierung und beschreibt damit einen Vorgang, in dem man sich von der strengen Wortlautbindung frei macht, wenn hierdurch das gewünschte Ergebnis eher hergestellt werden kann. 1268
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volkstümlich und „gerecht“ empfunden, da sie in den meisten Fällen nicht geeignet seien, Einzelfallgerechtigkeit zu gewährleisten.1271 Aus diesem Grund sollte die Revision nach dem nationalsozialistischen Entwurf einer Strafverfahrensordnung und einer Friedensrichter- und Schiedsmannsordnung vom 1. Mai 19391272 durch ein deutlich umfangreicheres Rechtsmittel mit der Bezeichnung Urteilsrüge ersetzt werden.1273 Hierzu heißt es in einer lesenswerten Passage der Begründung zu dem Entwurf: „Der Entwurf stellt in der Urteilsrüge für das Strafverfahren ein Rechtsmittel zur Verfügung, das dem im höchsten Rechtszuge entscheidenden Gericht die Möglichkeit gibt, im Rahmen der ihm eingeräumten Nachprüfung die richtige Entscheidung des Einzelfalls zu finden, ohne durch die gesetzlichen Grenzen seines Urteilsbereichs in die Lage gebracht zu werden, ein unrichtiges Urteil aufrechtzuerhalten. […] Die Gewährleistung eines gerechten Richterspruchs im Einzelfall ist als Ziel der Revision neben der Wahrung der Rechtseinheit nur in dem begrenzten Umfange berücksichtigt, den der Rahmen der reinen Rechtsprüfung zulässt. Eine derart eingeschränkte Zweckbestimmung dieses Rechtsmittels steht nicht mehr im Einklang mit den Grundsätzen des neuen Strafverfahrensrechts, das sich die Durchsetzung einer nicht nur formalen, sondern einer wirklichen sachlichen Gerechtigkeit zum Ziel setzt und auf eine lebensnahe, dem Mann aus dem Volk verständliche Gestaltung aller seiner Einrichtungen großen Wert legt. Der Entwurf versucht, die Revision von ihrer bisherigen Abstraktheit, Starrheit und unvolkstümlichen Begrenzung soweit wie möglich zu lösen, und setzt der künftigen Urteilsrüge das einheitliche Ziel, in der Durchsetzung der sachlichen Gerechtigkeit zugleich die Rechtseinheit zu sichern. […] Darüber hinaus wird dem Rügegericht um der sachlichen Gerechtigkeit willen zur Pflicht gemacht, zu prüfen, ob Anlaß besteht, in die tatsächlichen Feststellungen des angefochtenen Urteils einzugreifen (§ 331 Nr. 3). Bestehen gegen diese so schwere Bedenken, daß eine neue Entscheidung notwendig ist, so ist das Urteil aufzuheben. Diese Regelung, die das Urteilsrügegericht nicht auf reine Rechtsprüfung beschränkt, hat zur Folge, daß das Gericht künftig nicht mehr gezwungen ist, einen Richterspruch zu bestätigen, den es als sachlich ungerecht erkannt hat. [Hervorh. d. Verf.]“1274
Obwohl die Urteilsrüge niemals eingeführt wurde, blieben die in ihr zum Ausdruck kommenden Neigungen zur Entformalisierung – und der damit verbundene Abkehr von richterlicher Gesetzesbindung – nicht ohne Einfluss auf die Recht-
1271
Bemerkenswerterweise weist Rieß auch in Bezug auf die Erweiterung der Revision durch den Bundesgerichtshof wiederholt darauf hin, dass sie vor allem dem Zweck diente, Einzelfallgerechtigkeit auch über die Grenzen des geltenden Rechts hinaus zu gewährleisten, vgl. Rieß, in: FS Fezer, S. 459 sowie ders., in FS Hanack, S. 401. 1272 Abgedruckt in Schubert (Hrsg.), Quellen zur Reform des Straf- und Strafprozeßrechts III/1 (NS-Zeit), S. 297 ff. 1273 Ausführlich zu der Urteilsrüge vgl. S. 388 ff. 1274 Begründung zum Entwurf 1939, S. 155 f., in Schubert (Hrsg.), Quellen zur Reform des Straf- und Strafprozeßrechts III/1 (NS-Zeit), S. 372 ff.
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sprechung des Reichsgerichts.1275 Denn auch ohne eine Reform des Rechtsmittelverfahrens war das Reichsgericht dazu aufgerufen, den neuen Verhältnissen im Reich Rechnung zu tragen. Was die NS-Führung von dem Reichsgericht erwartete, hatte sie nämlich in Art. 2 des Gesetzes zur Änderung von Vorschriften des Strafverfahrens und des Gerichtsverfassungsgesetzes vom 28. Juni 19351276 niedergelegt – dort heißt es: „Das Reichsgericht als höchster deutscher Gerichtshof ist berufen, darauf hinzuwirken, daß bei der Auslegung des Gesetzes dem durch die Staatserneuerung eingetretenen Wandel der Lebens- und Rechtsanschauung Rechnung getragen wird“. Diesen Aspekt gilt es unbedingt im Blick zu behalten, wenn auch heute eine erweiterte revisionsgerichtliche Prüfung vergleichsweise unbedacht mit der Bindung des Revisionsgerichts an die materielle Wahrheit begründet wird. Es ist nämlich nicht auszuschließen, dass dieses Argumentationsmuster in der nationalsozialistischen Gerechtigkeitsideologie seinen Ursprung hat. c) Erweiterung der Kompetenzen des Reichsgerichts durch außerordentliche Rechtsbehelfe Doch nicht nur die Abkehr vom Rechtspositivismus sowie die Entformalisierung des Rechts im „Dritten Reich“ und das damit verbundene Ziel – auch der Revisionsgerichte – Urteile zu produzieren, die dem nationalsozialistischen Gerechtigkeitspostulat genügten, dürften zu einer Erweiterung der Revision auf die Tatfragen geführt haben. Auch der Wunsch vieler Richter des Reichsgerichts, den Bedeutungsverlust, den das Reichsgericht im nationalsozialistischen Deutschen Reich erfahren hatte, auszugleichen, dürfte seines dazu beigetragen haben. Bereits 1933 hatte das Reichsgericht nämlich durch die Errichtung der Sondergerichte, die zunächst nur für bestimmte politische Straftaten zuständig waren, einen Kompetenzverlust erfahren, da ihre Urteile nicht mit Rechtsmitteln angefochten werden konnten.1277 Indem der NS-Gesetzgeber die Zuständigkeiten der Sondergerichte in der Folgezeit auch auf weitere Sachgebiete ausweitete, schränkte er die Kompetenzen des Reichsgerichts weiter ein. Einen noch deutlicheren Kompetenzverlust erfuhr das Reichsgericht im Anschluss an den sog. Reichstagsbrandprozess. In dem Prozess hatte das Reichsgericht lediglich den vermeintlichen Haupttäter Marinus van der Lubbe als Gericht erster Instanz1278 zum Tode verurteilt, den deutschen Kommunisten Ernst Torgler und drei bulgarische Kommunisten Georgi Dimitrow, Blagoi Popow und Wassil Tanew jedoch aus Mangel an Beweisen frei1275 Vgl. hierzu nur Pauli, Die Rechtsprechung in Strafsachen zwischen 1933 und 1945, S. 241 ff.; zur insgesamt unrühmlichen Rolle des Reichsgerichts während des „Dritten Reiches“ vgl. Müller, Betrifft Justiz (65) 2001, 12 ff. 1276 RGBl. I 1935, 844. 1277 § 16 Abs. 1 der Verordnung der Reichsregierung über die Bildung von Sondergerichten vom 21. März 1933, RGBl. I 1933, 136. 1278 Vgl. § 136 Abs. 1 Nr. 1 RGVG.
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3. Kap.: Die höchstrichterliche Erweiterung der Revision auf Tatfragen
gesprochen.1279 Die NS-Führung war daraufhin zu der Auffassung gelangt, dass das Reichsgericht als eine „formaljuristische Revisionsinstanz“ zur Herstellung der materiellen Gerechtigkeit ungeeignet ist.1280 So wurden die Staatsschutz-Strafsachen, für die bis dahin das Reichsgericht in erster Instanz zuständig gewesen war, mit dem Gesetz vom 24. April 1934 dem neu errichteten Volksgerichtshof übertragen.1281 Damit war das Reichsgericht seiner wenigen tatrichterlichen Kompetenzen beraubt und gefühlt zu einer reinen Kassationsinstanz „degradiert“ worden. Erst 1939 wurde das Reichsgericht erneut mit tatrichterlichen Kompetenzen ausgestattet. Auch wenn die bereits zuvor erwähnte Urteilsrüge nicht umgesetzt werden konnte,1282 wurde zunächst durch Art. 2 des Gesetzes zur Änderung von Vorschriften des allgemeinen Strafverfahrens, des Wehrmachtstrafverfahrens und des Strafgesetzbuchs vom 16. September 19391283 mit dem außerordentlichen Einspruch ein außerordentlicher Rechtsbehelf eingeführt.1284 Dieser gestattete dem Oberreichsanwalt rechtskräftige (!) Urteile in Strafsachen binnen eines Jahres nach dem Eintritt der Rechtskraft bei einem sog. Besonderen Strafsenat des Reichsgerichts bzw., sofern das Urteil von dem Volksgerichtshof gefällt worden war, bei einem Besonderen Senat des Volksgerichtshofs anzufechten, „wenn er wegen schwerwiegender Bedenken gegen die Richtigkeit des Urteils eine neue Verhandlung und Entscheidung in der Sache für notwendig hält“.1285 Der jeweilige Besondere Senat hatte bei einem zulässigen außerordentlichen Einspruch in der Sache von neuem zu entscheiden, wobei die Vorschriften über das Hauptverfahren in erster Instanz entsprechend anzuwenden waren, sodass das Reichsgericht insoweit als ein Tatgericht tätig wurde.1286 Die praktische Bedeutung des außerordentlichen Einspruchs war allerdings gering.1287 Nach Brettle, dem Oberreichsanwalt beim Reichsgericht, kam der außerordentliche Einspruch bis Mitte 1941 nur drei Mal zur Anwendung.1288 Er diente dabei vorrangig als ein Mittel zur Ausübung des negativen
1279
RG, Urteil vom 23. Dezember 1933 – XII H 42/33. Vgl. Gruchmann, Justiz im Dritten Reich, S. 958; Lauf, Der Volksgerichtshof und sein Beobachter, S. 15 f. 1281 Art. III des Gesetzes zur Änderung von Vorschriften des Strafrechts und des Strafverfahrensrechts vom 24. April 1934, RGBl. I 1934, 341. 1282 Ausführlich zu dem Entwurf 1939 vgl. S. 386 ff. 1283 RGBl. I 1939, 1841. 1284 Vgl. zum außerordentlichen Einspruch auch S. 391 f. 1285 Art. 2 § 3 Abs. 1 und 3 des Gesetzes zur Änderung von Vorschriften des allgemeinen Strafverfahrens, des Wehrmachtstrafverfahrens und des Strafgesetzbuchs vom 16. September 1939, RGBl. I 1939, 1841. 1286 Art. 2 §§ 3 Abs. 2, 6 Abs. 1 des Gesetzes zur Änderung von Vorschriften des allgemeinen Strafverfahrens, des Wehrmachtstrafverfahrens und des Strafgesetzbuchs vom 16. September 1939, RGBl. I 1939, 1841. 1287 Vgl. hierzu Pauli, Die Rechtsprechung in Strafsachen zwischen 1933 und 1945, S. 17. 1288 Brettle, DJ 1941, 561, 561. 1280
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Bestätigungsrechts des „Führers“ in seiner Eigenschaft als Oberster Gerichtsherr1289 – demnach mussten die Urteile im „Dritten Reich“ zwar nicht durch den „Führer“ bestätigt werden, doch konnte er, indem er durch den Oberreichsanwalt sein Einspruchsrecht ausübte, Urteilen seine Bestätigung verwehren.1290 Massiv ausgeweitet wurden die Kompetenzen des Reichsgerichts allerdings mit der Nichtigkeitsbeschwerde1291, die mit der Verordnung über die Zuständigkeit der Strafgerichte, die Sondergerichte und sonstige strafverfahrensrechtliche Vorschriften vom 21. Februar 19401292 eingeführt worden war. Mit der Nichtigkeitsbeschwerde sollte einem weiteren Kompetenzverlust des Reichsgerichts vorgebeugt werden, da mit der Verordnung zugleich eine bewegliche Zuständigkeit der Sondergerichte eingeführt worden war, sodass künftig noch mehr Sachen einer Revision entzogen werden konnten. Diese bewegliche Zuständigkeit ermöglichte der Anklagebehörde nämlich, jede Tat vor einem Sondergericht anzuklagen, wenn dies nach ihrer Auffassung „mit Rücksicht auf die Schwere oder die Verwerflichkeit der Tat, wegen der in der Öffentlichkeit hervorgerufenen Erregung oder wegen ernster Gefährdung der öffentlichen Ordnung oder Sicherheit geboten“ war.1293 Insofern gestattete die Nichtigkeitsbeschwerde dem Oberreichsanwalt beim Reichsgericht die Urteile der Sondergerichte, aber auch solche der ordentlichen Strafgerichte, binnen eines Jahres nach Eintritt der Rechtskraft (!) beim Reichsgericht anzufechten, „wenn das Urteil wegen eines Fehlers bei der Anwendung des Rechts auf die festgestellten Tatsachen ungerecht ist [Hervorh. d. Verf.]“.1294 Bei der Nichtigkeitsbeschwerde handelte es sich damit zunächst noch um einen revisionsähnlichen Rechtsbehelf, der die tatrichterlichen Sachverhaltsfeststellungen unangetastet ließ. Allerdings ließ der Oberreichsanwalt beim Reichsgericht Brettle bereits 1941 keine Zweifel daran aufkommen, welchem Zweck die Nichtigkeitsbeschwerde diente: „Die Betrauung des Oberreichsanwalts und des Reichsgerichts mit ihrer Durchführung ist zugleich ein Beweis für das Vertrauen der politischen Führung, daß die Rechtspflege in der Lage ist, begangene Irrtümer selbst wiedergutzumachen und damit auch in bereits rechtskräftig erledigten Strafsachen von sich aus der wahren Gerechtigkeit zum Siege zu verhelfen. Es ist Aufgabe der mit der Durchführung betrauten Stellen, die Nichtigkeitsbeschwerde so zu handhaben, daß dieses Vertrauen der Führung und des Volkes in die Rechtspflege gerechtfertigt und gestärkt wird [Hervorh. d. Verf.].“1295 1289
Zum Bestätigungsrecht vgl. S. 87 Fn. 333. Werle, Verbrechensbekämpfung im Dritten Reich, S. 579 f. 1291 Ausführlich zu der Nichtigkeitsbeschwerde im „Dritten Reich“ vgl. S. 391 sowie S. 264 Fn. 1262. 1292 RGBl. I 1940, 405. 1293 § 14 der Verordnung über die Zuständigkeit der Strafgerichte, die Sondergerichte und sonstige strafverfahrensrechtliche Vorschriften vom 21. Februar 1940, RGBl. I 1940, 405. 1294 §§ 34, 35 der Verordnung über die Zuständigkeit der Strafgerichte, die Sondergerichte und sonstige strafverfahrensrechtliche Vorschriften vom 21. Februar 1940, RGBl. I 1940, 405. 1295 Brettle, DJ 1941, 561, 561. 1290
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3. Kap.: Die höchstrichterliche Erweiterung der Revision auf Tatfragen
Weiter heißt es bei Brettle: „Vorausgeschickt mag werden: Der Oberreichsanwalt und das Reichsgericht haben sich unter Hintansetzen mancher formaler Bedenken von dem Grundsatz leiten lassen, daß die Nichtigkeitsbeschwerde stets der Durchsetzung des Rechtsgedankens, der materiellen Gerechtigkeit, zu dienen habe“.1296
Und tatsächlich lässt die Nichtigkeitsrechtsprechung des Reichsgerichts darauf schließen, dass auch dieses darum bemüht war, dem wiedergesetzten Vertrauen der nationalsozialistischen Machthaber in seine Rechtsprechung gerecht zu werden, indem es die Nichtigkeitsbeschwerde im Sinne eines vermeintlichen „Volksgerechtigkeitsempfindens“ extensiv auslegte und über den Gesetzeswortlaut hinaus auch auf Teile der Tatfrage ausweitete.1297 So heißt es etwa in dem Nichtigkeitsurteil des I. Strafsenats vom 21. Januar 1941, dass die Ausführungen des Tatgerichts auf die naheliegende Möglichkeit hinwiesen, „[…] daß das Gericht irrtümlich Feststellungen unterlassen habe, aus denen hervorgehen würde, daß der Angeklagte bei seinen Diebesunternehmungen darauf ausgegangen sei, mindestens bei dem Wegbringen der großenteils umfangreichen gestohlenen Gegenstände zur Erleichterung seiner Taten die Verdunklung zu benutzen. Denn die Lebenserfahrung lehrt, daß ein Dieb, der immer die Nacht zum Stehlen benützt, sich und seine Beute auch noch vor dem Aufkommen des Tageslichtes von dem Tatorte zu entfernen und die Beute zu bergen pflegt. […] Das alles spricht für die nahe Möglichkeit, daß ein der tatsächlichen Feststellung zugänglicher Sachverhalt vorliegt, bei dem das Sondergericht von dem richtigen Rechtsstandpunkt aus in erheblich weiterem Umfang hätte dazu gelangen müssen, im Sinne der Anklage anzunehmen, der Angeklagte habe die Verdunkelung bei Fliegergefahr bewußt für seine Diebesunternehmungen ausgenützt und demgemäß die strengere Strafvorschrift des § 2 VolksschädlingsVO. anzuwenden. [Hervorh. d. Verf.]“1298
Bemerkenswert an diesem Urteil ist, dass der Senat nur scheinbar auf lückenhafte Feststellungen des vorinstanzlichen Gerichts verweist. Tatsächlich würdigt es hier 1296
Brettle, DJ 1941, 561, 561 f. Vgl. etwa RGSt 74, 261, 261; 74, 359, 363; 75, 114, 116 f. (teilweise im Wortlaut wiedergegeben auf S. 270); 76, 120. Vgl. auch weitere Fundstellennachweise bei Brettle, DJ 1941, 561, 569. Zwar ist in den Nichtigkeitsbeschwerdesachen, die bis August 1942 im RGSt veröffentlicht worden sind, nicht zu erkennen, dass in anderen als den hier genannten vier Fällen eine Ausweitung der Nichtigkeitsbeschwerde auf die Tatfragen erfolgt ist. Allerdings gilt hierbei auch zu bedenken, dass sich die Veröffentlichung höchstinstanzlicher Urteile in den „amtlichen“ Werken vorrangig nach ihrer über den Einzelfall hinausreichender Bedeutung bestimmt, sodass Urteile, denen eine Erweiterung der Nichtigkeitsbeschwerde auf Tatfragen zugrunde lagen und die damit vor allem der Einzelfallgerechtigkeit dienten, regelmäßig keinen Eingang in die besagte Entscheidungssammlung gefunden haben dürften. Eine wissenschaftlich fundierte Bestätigung der hier vertretenen These, dass die Nichtigkeitsbeschwerde möglicherweise schon vor 1942 von dem Reichsgericht instrumentalisiert worden ist, um neben Rechtsfragen auch die Tatfrage nachzuprüfen, bedarf allerdings einer Untersuchung aller (also auch der nicht veröffentlichten) Nichtigkeitsbeschwerdesachen zwischen 1939 und 1942 (leicht erkennbar am Registerzeichen „C“), die i. R. d. vorliegenden Schrift jedoch nicht leistbar ist. 1298 RGSt 75, 114, 116 f. 1297
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die Feststellungen des Sondergerichts eigenständig und kommt dabei zu dem Schluss, dass das Beweiswürdigungsergebnis des Tatgerichts nicht haltbar ist, und hebt das Urteil deshalb auf. Letztlich trifft das Reichsgericht damit aufgrund der Aktenlage selbstständig die Entscheidung, dass der Angeklagte für das Wegschaffen der Beute die Verdunklung ausgenutzt hat und damit ein Erschwerungsgrund im Sinne der Volksschädlingsverordnung1299 vorliegt. Dass diese Rechtsprechung durchaus im Sinne der nationalsozialistische Gesetzgeber war, belegt die später ergangene Verordnung zur weiteren Vereinfachung der Strafrechtspflege vom 13. August 1942.1300 Durch die Verordnung wurde die Nichtigkeitsbeschwerde nämlich auch de lege lata auf die Tatfragen ausgeweitet, wobei auch die Beschränkung, wonach die Nichtigkeitsbeschwerde nur binnen eines Jahres nach Rechtskraft des Urteils eingelegt werden konnte, fallen gelassen wurde. So lautete Art. 7 § 2 Abs. 1 der Verordnung von 1942: „Der Oberreichsanwalt beim Reichsgericht kann die Nichtigkeitsbeschwerde erheben, wenn die Entscheidung wegen eines Fehlers bei der Anwendung des Rechts ungerecht ist oder wenn erhebliche Bedenken gegen die Richtigkeit in der Entscheidung festgestellten Tatsachen oder gegen den Strafausspruch bestehen; hierzu erhebt das Gericht erforderlichenfalls Beweise [Hervorh. d. Verf.].“
Von diesen neuen Kompetenzen machte das Reichsgericht umfassenden Gebrauch; so enthalten die in der „amtlichen“ Entscheidungssammlung veröffentlichten Nichtigkeitsbeschwerdesachen nach August 1942 deutlich häufiger als zuvor auch einen Zugriff des Reichsgerichts auf die Tatfragen.1301 Durch die Erweiterung der Nichtigkeitsbeschwerde auf „erhebliche Bedenken gegen die Richtigkeit der in der Entscheidung festgestellten Tatsachen“ durch die Verordnung vom 13. August 1942 waren nunmehr aber auch die Tatgerichte de facto dazu angehalten, ihre Urteile so abzufassen, dass keine erheblichen Bedenken an der Richtigkeit ihrer Feststellungen aufkommen konnten – andernfalls drohte die Aufhebung der Urteile im Rahmen der Nichtigkeitsbeschwerde eben wegen dieser Bedenken. Auch ohne dass der Wortlaut des § 267 Abs. 1 StPO geändert wurde, wurde den Tatgerichten damit die faktische Pflicht auferlegt, in ihren Urteilsgründen auszuführen, warum sie die von ihnen festgestellten Tatsachen als erwiesen erachtet hatten und damit ihre Beweiswürdigung darzulegen.1302 Damit hatte die Verordnung von 1942 auf eine sehr unauffällige Weise eine umfassende Beweisbegründungs1299
Verordnung gegen Volksschädlinge vom 5. September 1939, RGBl. I 1939, 1679. Verordnung zur weiteren Vereinfachung der Strafrechtspflege vom 13. August 1942, RGBl. I 1942, 508. 1301 Vgl. RGSt 76, 230, 232; 76, 292, 294; 76, 321, 322; 76, 346, 347; 77, 113, 115 ff.; 77, 162, 164; 77, 238, 240; 77, 246, 247; 77, 250, 251 f.; 77, 254, 257; 77, 258, 261 f.; 77, 319, 322 f.; 77, 388, 390 f. Fragwürdig ist insofern der Verweis in Stuckenberg, in: Löwe/Rosenberg, § 267 Rn. 58 (Fn. 230), auf RGSt 77, 258, 261, wenn es um die Frage geht, wann die Wiedergabe der Feststellungen ungenügend ist, da es sich hierbei um eine Entscheidung unter den besonderen Voraussetzungen der Nichtigkeitsbeschwerde handelte. 1302 Vgl. etwa RGSt 77, 246, 247. 1300
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3. Kap.: Die höchstrichterliche Erweiterung der Revision auf Tatfragen
pflicht der Tatgerichte eingeführt, die dem Strafverfahrensrecht bis dahin noch unbekannt war. Die Pflicht der Tatgerichte, ihre Urteile nunmehr umfassend zu begründen, versetzte das Reichsgericht und die Oberlandesgerichte aber auch im Rahmen der Revision in die Lage, nachzuprüfen, ob Bedenken gegen die Richtigkeit der tatrichterlichen Sachverhaltsfeststellungen bestanden.1303 Insofern ist zu vermuten, dass insbesondere das Reichsgericht Mängel der tatrichterlichen Sachverhaltsfeststellungen nicht erst im Rahmen der Nichtigkeitsbeschwerde, sondern auch schon im Rahmen der Revision berücksichtigte. Dafür spricht die schon in der Weimarer Republik zu beobachtende Neigung in der Rechtsprechung, die revisionsgerichtliche Prüfung auf all dasjenige auszuweiten, was tatsächlich – und nicht bloß rechtlich – einer Prüfung durch das Revisionsgericht zugänglich war.1304 Dafür spricht aber auch der nationalsozialistische Anspruch an die Rechtsprechung, ihre Urteile so zu sprechen, dass sie dem „gesunden Volksempfinden“ entsprachen.1305 Ein Beispiel für die so erweiterte Revision im „Dritten Reich“ findet sich auch in dem Urteil des Reichsgerichts vom 31. Mai 1943. Der Entscheidung lag ein Urteil des Landgerichts Berlin zugrunde, in dem der Angeklagte K von dem Vorwurf der Bestechlichkeit und der Angeklagte B von dem Vorwurf der Bestechung freigesprochen worden waren. Der II. Strafsenat des Reichsgerichts führte hierzu allerdings aus:
1303
Vgl. nur RGSt 77, 75, 79 ff.; 77, 157, 161. Vgl. schon S. 256 ff. 1305 Eine Untersuchung der Einflüsse der nationalsozialistischen Ideologie auf die Erweiterung der Revision auf tatrichterliche Sachverhaltsfeststellungen steht soweit ersichtlich noch aus. Vergleichbar hiermit ist jedoch die Erweiterung der Revision auf die Strafzumessung, die ursprünglich ebenfalls als eine dem Revisionsrichter nicht zugängliche Domäne des Tatrichters angesehen wurde. Die Auswirkungen der Entformalisierung auf die Revisibilität der Strafzumessung wird von Pauli, Die Rechtsprechung in Strafsachen zwischen 1933 und 1945, S. 82 ff., untersucht. Dieser legt dar, dass das Reichsgericht spätestens mit dem Ausbruch des Zweiten Weltkrieges seine ursprüngliche, gesetzeskonforme Rechtsprechung, wonach es sich bei der Strafzumessung um eine der Revision nicht zugängliche Tatfrage handeln sollte, aufgegeben hat, um eine Strafzumessung im Sinne der NS-Ideologie sicherzustellen (a. a. O, S. 82). Die in der Einführung der außerordentlichen Rechtsbehelfe des außerordentlichen Einspruchs und der Nichtigkeitsbeschwerde zum Ausdruck kommende Vorstellung des nationalsozialistischen Gesetzgebers, dass eine „gerechte“ Entscheidung ggf. auch auf Kosten der Rechtssicherheit zu verwirklichen ist, wurde dabei von der Rechtsprechung offensichtlich übernommen (a. a. O, S. 83). So gingen auch die Revisionsgerichte im „Dritten Reich“ dazu über, das Revisionsverfahren daran auszurichten, ob das vorinstanzliche Urteil „gerecht“ war oder nicht. Bei dieser ergebnisorientierten Herangehensweise waren die durch die Verfahrensgesetze aufgestellten formalen Grenzen der Revision bzw. der Nichtigkeitsbeschwerde, welche die Strafzumessung von dem revisionsgerichtlichen Zugriff ausnahm, von nur nachrangiger Bedeutung (a. a. O., S. 83 ff.). Insofern liegt die Annahme nahe, dass eine ähnliche Ergebnisorientierung des Reichsgerichts auf dem Gebiet der tatrichterlichen Sachverhaltsfeststellungen zu der Erweiterung der Revision auf die Tatfragen geführt hat. Auch hier muss die endgültige Nachprüfung dieser These anderen vorbehalten bleiben. 1304
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„Soweit das LG. […] gegenüber den beiden Angeklagten den Nachweis der Merkmale der §§ 332, 333 StGB. verneint, leidet das Urteil an einem sachlichrechtlichen Mangel; das LG. hat nämlich die im Urteil festgestellten Tatsachen nicht erschöpfend gewürdigt und für die Entscheidung erhebliche Tatsachen bei seiner abschließenden Würdigung außer Betracht gelassen [Hervorh. d. Verf.]. Nach dieser Richtung läßt das Urteil namentlich eine erschöpfende Würdigung folgender Tatsachen vermissen, die möglicherweise zu einer anderen rechtlichen Beurteilung geführt hätte:“1306
Dem folgt eine Aufzählung zahlreicher Tatsachen, die der Tatrichter bei seiner abschließenden Beweiswürdigung vermeintlich außer Acht gelassen hat. Schließlich nimmt der Senat eine eigene Gesamtwürdigung der von der Strafkammer aufgeführten Beweistatsachen vor und gelangt so zu dem Schluss, dass auch das Tatgericht bei einer umfassenden Beweiswürdigung hätte erkennen müssen, dass der Angeklagte K sehr wohl Handlungen vorgenommen hat, die den Tatbestand der Bestechlichkeit erfüllten.1307 Letztlich rügt das Revisionsgericht damit keine Gesetzesverletzung durch das Tatgericht, sondern vielmehr eine mangelhafte Beweiswürdigung durch den Tatrichter – warum die Beweiswürdigung, die nach dem Willen des historischen Gesetzgebers und dem Wortlaut der Strafprozessordnung nicht der revisionsgerichtlichen Prüfung unterliegen sollte, hier auch noch als ein sachlichrechtlicher Mangel begriffen wurde, ist dem Urteil allerdings nicht zu entnehmen. 3. Fortsetzung der Entformalisierungstendenzen in der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs Obwohl nach dem oben Dargelegten zu vermuten ist, dass die Flexibilisierung der Revisionsrechtsprechung im „Dritten Reich“ auch eng mit der Verwirklichung der nationalsozialistischen Ideologie von einer „gerechten“ Rechtspflege zusammenhing, waren diese Entwicklungstendenzen keinesfalls auf jene Zeit beschränkt.1308 So war zwar die Strafprozessordnung in der Bundesrepublik Deutschland im Wesentlichen in die Fassung zurückversetzt worden, in der sie sich zum Ende der Weimarer Republik hin befunden hatte.1309 Doch war der Bundesgerichtshof ganz offensichtlich nicht willens die Beurteilungsspielräume und Eingriffsmöglichkeiten, die sich das Reichsgericht in den Vorjahren im Rahmen der Revision geschaffen hatte, ohne Weiteres aufzugeben.1310 Denn auch ohne die nationalsozialistischen Vorschriften, welche die Erweiterung der Revision auf die Tatfragen zum Teil erst ermöglicht 1306
RGSt 77, 75, 79. RGSt 77, 75, 79 f. 1308 So auch Pauli, Die Rechtsprechung in Strafsachen zwischen 1933 und 1945, S. 245. 1309 Kühne, in: Löwe/Rosenberg, Einl. F, Rn. 86 f. Dabei hatte bereits der Alliierte Kontrollrat in Art. I Satz 1 des Kontrollratsgesetzes Nr. 4 angeordnet, dass die „Umgestaltung der deutschen Gerichte […] grundsätzlich in Übereinstimmung mit dem Gerichtsverfassungsgesetz vom 27. Januar 1877 in der Fassung vom 22. März 1924 (RGBI. I S. 299) erfolgen“ soll, ABl. (Kontrollrat) 1945 Nr. 2, S. 26. 1310 Vgl. Pauli, Die Rechtsprechung in Strafsachen zwischen 1933 und 1945, S. 245. 1307
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3. Kap.: Die höchstrichterliche Erweiterung der Revision auf Tatfragen
hatten, war es den Revisionsgerichten nur recht, wenn sie in ihrer Tätigkeit nicht übermäßig durch prozessuale Vorschriften eingeschränkt wurden.1311 Eine Entwicklung, bei der freilich verkannt worden zu sein scheint, dass auch die Formstrenge des Verfahrens einen rechtsstaatlichen Eigenwert besitzt.1312 So heißt es bereits in einem Urteil des 2. Strafsenats vom 28. November 1950, dass das Tatgericht bei seinem Freispruch „das Wesen der freien, aus dem Inbegriff der Verhandlung zu schöpfenden richterlichen Überzeugung im Sinne des § 261 StPO“ verkannt habe.1313 Der Tatrichter hatte in dem konkreten Fall nämlich nicht auszuschließen vermocht, dass der Angeklagte ein falsches Geständnis abgelegt hatte, auch wenn auf ihn kein körperlicher oder seelischer Druck ausgeübt worden war. Deshalb sah sich das Gericht nicht in der Lage, mit „letzter Sicherheit“ die volle Überzeugung von der Schuld des Angeklagten zu gewinnen, da es auch einen anderen Tatablauf „theoretisch für möglich“ gehalten hatte. Hierzu heißt es in dem Revisionsurteil des Bundesgerichtshofs: „Die bloße ,theoretische‘ oder ,abstrakte‘ Möglichkeit, daß der Angekl. nicht der Täter war, kann seine Verurteilung nicht hindern. Da eine solche Möglichkeit bei der Unzulänglichkeit menschlicher Erkenntnis nie ganz auszuschließen ist, wäre jede richterliche Wahrheitsfindung unmöglich“,1314
Mit Verweis auf RGSt 61, 202, 206; 66, 163 ff., heißt es weiter in dem Urteil: „Diese Auffassung vom Wesen der freien richterlichen Überzeugung ist in der höchstrichterlichen Rechtsprechung stets vertreten worden“. Zutreffend ist hierbei freilich, dass eine Verurteilung nicht deshalb aufgehoben werden kann, weil der Tatrichter in dem Urteil die theoretische Möglichkeit, dass der Angeklagten nicht der Täter war, für gegeben hielt, für sich aber dennoch die Überzeugung erlangte, dass es auf diese Möglichkeit nicht ankommt. Mit Blick auf den eindeutigen Wortlaut des § 261 StPO, wonach es der Tatrichter ist, der „nach seiner freien, aus dem Inbegriff der Verhandlung geschöpften Überzeugung“ über das Ergebnis der Beweisaufnahme entscheidet, kann jedoch ein Freispruch – wie von dem 2. Strafsenat angenommen – nicht im Wege der Revision aufgehoben werden, wenn er auf den Zweifeln des Tatrichters beruht, bloß weil das Revisionsgericht die Zweifel des Tatrichters für unbegründet hält. Anders als der Bundesgerichtshof in dem Urteil darzulegen sucht, war selbst das Reichsgericht nicht so weit gegangen. In dem einschlägigen Urteil des Reichsgerichts heißt es nämlich: „Eine […] Feststellung liegt nur dann vor, wenn das Urteil erkennen läßt, daß der Tatrichter von der Schuld des Angeklagten v o l l ü b e r z e u g t ist. Besteht insoweit ein Zweifel, und sei es auch der leiseste, so fehlt es an der nach § 261 StPO. erforderlichen „Überzeugung“. Diese wird nicht durch das Bewußtsein ausgeschlossen, daß jedes auf menschlicher Erkenntnis beruhende Urteil, mag es auch noch so sicher erscheinen, allen Fehlern und 1311 1312 1313 1314
Pauli, Die Rechtsprechung in Strafsachen zwischen 1933 und 1945, S. 245. Fezer, in: FS Frisch, S. 1320; Barton, StV 2004, 332, 339. BGH NJW 1951, 122. BGH NJW 1951, 122.
B. Die Erweiterung der Revision auf Teile der Tatfrage
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Irrtümern unterworfen ist, die durch die Unzulänglichkeit dieser Erkenntnisart bedingt sind. […] Unter diesem selbstverständlichen Vorbehalt ergeht jedes Urteil“.1315
Das Reichsgericht war also noch davon ausgegangen, dass die subjektive Überzeugung des Tatrichters von der Schuld für eine Verurteilung zwingend erforderlich war – lediglich wenn der Tatrichter glaubte, für eine Verurteilung über die subjektive Überzeugung hinaus objektive Gewissheit besitzen zu müssen, sollte ein revisibeler Mangel des Urteils vorliegen. Allerdings schien auch der Bundesgerichtshof kurz darauf zu einer Rechtsprechung zurückzukehren, die sich enger an dem Wortlaut der §§ 261, 267 StPO orientierte und dem Tatrichter bei der Urteilsbegründung mehr Freiheiten beließ. So heißt es in dem Urteil des 4. Strafsenats vom 9. Februar 1951, dass ein Schweigen des Urteils zu dem Beweisgeschehen in der Hauptverhandlung keine Revision rechtfertige, da der Tatrichter nach § 267 Abs. 1 StPO nur verpflichtet sei, in den Urteilsgründen die für erwiesen erachteten Tatsachen anzugeben: „Die richterl. Überzeugung von der Schuld des Angekl. braucht nicht das Ergebnis zwingender Schlüsse aus den einzelnen Beweistatsachen zu sein. Auch Erwägungen, die denkgesetzlich oder nach der allgemeinen Lebenserfahrung nur möglich sind, vermögen die richterl. Überzeugung vom Tathergang zu stützen; denn es gibt keine Norm dafür, welche Überzeugung der Richter bei einem bestimmten objektiven Beweisergebnis haben müsse oder dürfe oder nicht haben dürfe. Nur auf die denkgesetzlich unmögliche Grundlage darf das Gericht seine Überzeugung nicht stützen. Weder § 267 StPO noch § 261 StPO zwingen das Gericht, sich in den Urteilsgründen mit sämtlichen als beweiserheblich in Betracht kommenden Umständen ausdrücklich auseinanderzusetzen. Nach § 267 Abs. 1 StPO müssen die Urteilsgründe nur die für erwiesen erachteten Tatsachen, also das Ergebnis der Beweiswürdigung enthalten. Aus dem Schweigen der Gründe zu einem Beweisgeschehen in der Hauptverhandlung kann daher noch nicht geschlossen werden, der Tatrichter habe diese ungewürdigt gelassen und somit seine Überzeugung nicht aus dem Gesamtinhalt der Hauptverhandlung geschöpft. [Hervorh. d. Verf.]“1316
Auch der 2. Strafsenat hob am 1. April 1952 hervor, dass es allein an dem Tatrichter ist zu entscheiden, welche Tatsachen er für erwiesen erachtet, selbst wenn diese Tatsachen weder durch die Einlassung des Angeklagten noch durch die Aussagen der Zeugen gestützt werden. So wies der Senat eine Revision, mit der gerügt wurde, dass zwei Feststellungen des Tatgerichts nicht mit dem Inhalt der Hauptverhandlung übereinstimmten, mit folgender Begründung zurück: „Beide Behauptungen sind tatsächlich, sie widersprechen dem festgestellten Sachverhalt und sind daher nicht zu beachten. […] Was ein Tatrichter als das ,Ergebnis der Beweisaufnahme‘ i.S. des § 261 StPO feststellt, ist in den Gründen des Urteils wiedergegeben. Nur diese enthalten die maßgebenden und das Revisionsgericht bindenden ,für erwiesen erachteten Tatsachen‘ (§ 267 Abs. 1 StPO) und nur diese darf das Revisionsgericht bei der 1315 1316
RGSt 66, 163, 164 f. BGH NJW 1951, 325.
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3. Kap.: Die höchstrichterliche Erweiterung der Revision auf Tatfragen
rechtlichen Prüfung zugrunde legen. Ist der Tatrichter auf Grund des Verhandlungsergebnisses von einer bestimmten Tatsache überzeugt, so darf er sie nicht nur feststellen, er m u ß sie sogar feststellen, dies selbst dann, wenn weder der Angeklagte noch ein Zeuge ,davon etwas gesagt hat‘ [Hervorh. d. Verf.]“.1317
Mit einer Entscheidung des 2. Strafsenats vom 9. Februar 1957 schien der Bundesgerichtshof schließlich endgültig zu einer subjektivistischen Beweiswürdigungstheorie zurückgekehrt zu sein, wie sie auch den Erwägungen des historischen Gesetzgebers und dem Wortlaut der Strafprozessordnung zugrunde lag und sich an der Vorstellung von einer intime conviction orientierte.1318 So heißt es in dem Urteil: „Freie Beweiswürdigung bedeutet, daß es für die Beantwortung der Schuldfrage allein darauf ankommt, ob der Tatrichter die Überzeugung von einem bestimmten Sachverhalt erlangt hat oder nicht; diese p e r s ö n l i c h e Gewißheit ist für die Verurteilung notwendig, aber auch genügend [Hervorh. d. Verf.]. […] Es ist also die für die Schuldfrage entscheidende, ihm allein übertragene Aufgabe des Tatrichters, ohne Bindung an gesetzliche Beweisregeln und nur seinem Gewissen verantwortlich zu prüfen, ob er die an sich möglichen Zweifel überwinden und sich von einem bestimmten Sachverhalt überzeugen kann oder nicht.“1319
Doch nur wenige Monate später rückte der Bundesgerichtshof von dieser subjektiven Beweiswürdigungstheorie, insbesondere von der Auffassung, dass der Tatrichter in den Urteilsgründen nur die von ihm für erwiesen erachteten Tatsachen angeben müsse, ab. In der Entscheidung des 4. Strafsenats vom 25. September 1957 heißt es: „Damit eine rechtliche Nachprüfung der Frage möglich ist, ob der Tatrichter von zutreffenden Maßstäben für seine Überzeugungsbildung ausgegangen ist, müssen die Umstände, welche seine Überzeugung von der Zweifelhaftigkeit eines Ursachenzusammenhangs beeinflußt haben, im Urteil dargelegt und erörtert werden [Hervorh. d. Verf.].“1320
Mit der Tatsache, dass diese Anforderung, auch wenn sie im Einklang mit dem Wortlaut der Zivilprozessordnung stand, weder im Wortlaut der Strafprozessordnung eine Entsprechung fand noch dem insoweit eindeutigen Willen des historischen Gesetzgebers entsprach, setzte sich der Senat jedoch nicht weiter auseinander. Erst in seinem Urteil vom 18. Dezember 1958 befasste sich der 4. Strafsenat ausdrücklich mit dem Wortlaut des § 267 Abs. 1 StPO. Dabei führte er zunächst aus, dass ein Tatgericht, das seine Überzeugung auf ein Sachverständigengutachten stützt, die wesentlichen Grundlagen und die Schlussfolgerungen des Gutachtens 1317
BGHSt 2, 248, 249. Ähnl. Herdegen, in: 25 Jahre AG Strafrecht DAV, S. 559; Herdegen, StV 1992, 527, 528; Meurer, in: FS Tröndle, S. 539 f. Zu dem subjektivistischen Ansatz des Reichsgesetzgebers vgl. S. 185 mit weiteren Verweisen. 1319 BGHSt 10, 208, 209. Das Urteil wendet sich dabei ausdrücklich gegen die Entscheidung des Reichsgerichts in RGSt 61, 202, 206, obwohl der Senat selbst in BGH NJW 1951, 122 noch dieser Entscheidung gefolgt war. 1320 BGHSt 11, 1, 5. 1318
B. Die Erweiterung der Revision auf Teile der Tatfrage
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zumindest soweit in dem Urteil darlegen müsse, als das Urteil dem Revisionsgericht ermöglicht, das Gutachten zu verstehen und seine gedankliche Schlüssigkeit zu beurteilen.1321 Dies ist insofern bemerkenswert, als die Beurteilung der gedanklichen Schlüssigkeit eines Sachverständigengutachtens im Ergebnis einen Vorgang der Beweiswürdigung darstellt, welcher ausgerechnet nicht der revisionsgerichtlichen Nachprüfung zugänglich ist. Ungeachtet dessen räumt der Senat ein, dass § 267 StPO keine revisibele Pflicht des Tatrichters entnommen werden kann, die von ihm verwerteten Beweisanzeichen darzulegen. Hierzu heißt es in dem Urteil: „Dem steht nicht entgegen, daß der Strafrichter verfahrensrechtlich nicht verpflichtet ist, die für seine Überzeugungsbildung verwerteten Beweisanzeichen im Urteil anzuführen, und daß eine Verletzung der Ordnungsvorschrift des § 267 Abs. 1 Satz 2 StPO die Revision nicht begründen kann. Denn wenn das Gericht jene Tatsachen – entsprechend dieser Bestimmung – im Urteil angibt, so ist auch dieser Teil der Urteilsgründe nach allgemeinen revisionsrechtlichen Verfahrensgrundsätzen daraufhin zu überprüfen [Hervorh. d. Verf.], ob die vom Tatrichter – sei es auch in Anlehnung an ein Sachverständigen Gutachten – gezogenen Schlussfolgerungen denkgesetzlich möglich sind und mit den Erfahrungen des täglichen Lebens sowie den Ergebnissen der Wissenschaft im Einklang stehen.“1322
Der Bundesgerichtshof ging also 1958 noch davon aus, dass der Tatrichter zwar nicht verpflichtet ist, in seinen Urteilsgründen darzulegen, worauf genau sich seine Überzeugung stützte, doch sofern er schriftlich ausführt, worauf er seine Überzeugung gestützt hat, so die Annahme des 4. Strafsenats, unterliegen auch diese Elemente der revisionsgerichtlichen Nachprüfung.1323 Doch alsbald forderte der Bundesgerichtshof von dem Tatrichter eine vollumfassende Wiedergabe seiner Beweiswürdigung in den Urteilsgründen. So heißt es etwa in der Entscheidung des 2. Strafsenats vom 13. Februar 1974, dass der Tatrichter „alle aus dem Urteil ersichtlichen Umstände, die Schlüsse zugunsten oder zuungunsten des Angeklagten ermöglichen, in den Gründen zu erörtern“ hat.1324 In der Entscheidung des 1. Strafsenats vom 18. August 1987 heißt es sogar noch weitreichender: „Zwar ist es allein Sache des Tatrichters, das Ergebnis der Beweisaufnahme zu würdigen, doch sind ihm bei der ihm nach § 261 StPO eingeräumten Freiheit in der Überzeugungsbildung Grenzen gesetzt. Insbesondere sind die Beweise erschöpfend zu würdigen. […] Da diese Würdigung im Urteil fehlt, muß der Senat davon ausgehen, daß sie nicht oder nicht ausreichend erfolgt ist [Hervorh. d. Verf.].“1325
Nach der höchstrichterlichen Rechtsprechung darf sich die tatrichterliche Darstellung der Urteilsgründe nunmehr also keinesfalls auf die bloße Angabe der objektiven Entscheidungsgründe beschränken, wie sie § 267 Abs. 1 StPO nur verlangt. 1321 1322 1323 1324 1325
BGHSt 12, 311, 314 f. BGHSt 12, 311, 315. So auch Wagner, ZStW (106) 1994, 259, 270 f. BGHSt 25, 285 (Leitsatz). BGH StV 1988, 138.
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3. Kap.: Die höchstrichterliche Erweiterung der Revision auf Tatfragen
Vielmehr verlangt die Rechtsprechung, dass den Urteilsgründen auch zu entnehmen sein muss, welche rationalen Gründe den Tatrichter bei seiner Beweiswürdigung geleitet haben.1326 Bereits die Frage, ob diese Gründe dabei objektiv-rationalen Anforderungen genügen, soll der revisionsgerichtlichen Prüfung unterliegen.1327 So heißt es in einer vergleichsweise jüngeren Entscheidung des Bundesgerichtshofs sogar besonders deutlich: „Die zur richterlichen Überzeugung erforderliche persönliche Gewißheit des Richters setzt objektive Grundlagen voraus. Diese müssen aus rationalen Gründen den Schluß erlauben, daß das festgestellte Geschehen mit hoher Wahrscheinlichkeit mit der Wirklichkeit übereinstimmt. Das ist der Nachprüfung durch das Revisionsgericht zugänglich. Deshalb müssen die Urteilsgründe erkennen lassen, daß die Beweiswürdigung auf einer tragfähigen, verstandesmäßig einsehbaren Tatsachengrundlage beruht und die vom Gericht gezogene Schlußfolgerung nicht etwa nur eine Annahme ist oder sich als bloße Vermutung erweist, die letztlich nicht mehr als einen Verdacht zu begründen vermag.“1328
Auch in einem Urteil des 5. Strafsenats vom 18. November 2008 heißt es: „Ein Rechtsfehler kann auch darin liegen, dass der Tatrichter einer Einlassung kritiklos gefolgt ist oder eine nach den Feststellungen nicht nahe liegende Schlussfolgerung gezogen hat, ohne konkrete Gründe anzuführen [Hervorh. d. Verf.], die diese stützen können. Denn es ist weder im Hinblick auf den Zweifelssatz noch sonst geboten, zugunsten eines Angekl. Sachverhalte zu unterstellen, für deren Vorliegen keine zureichenden Anhaltspunkte vorhanden sind.“1329
Geradezu paradox wirkt die Entscheidung des 3. Strafsenats vom 31. Januar 2012. Hier erkennt der Senat einerseits zwar ausdrücklich an, dass aus § 267 Abs. 1 StPO keine Pflicht des Tatrichters folgt, in den Urteilsgründen auch die Beweisgründe anzugeben, folgert andererseits jedoch ohne jede weitere Begründung aus „sachlichrechtlichen Gründen“, dass der Tatrichter dennoch verpflichtet ist, in den Urteilsgründen die Gründe für seine persönliche Überzeugung darzulegen: „Nach § 267 Abs. 1 StPO müssen die Urteilsgründe zwar lediglich die für erwiesen erachteten Tatsachen angeben, in denen die gesetzlichen Merkmale der Straftat gefunden werden, und ggf. die beweiserheblichen Indiztatsachen benennen; der Tatrichter hat indes aus sachlichrechtlichen Gründen auch die seiner Überzeugung zugrunde liegende Beweiswürdigung in den Urteilsgründen darzustellen, um dem Revisionsgericht die Nachprüfung der Entscheidung auf Rechtsfehler zu ermöglichen“.1330
1326 Ähnl. Herdegen, in: 25 Jahre AG Strafrecht DAV, S. 558; Maul, in: FS Pfeiffer, S. 412. Vgl. hierzu aus der aktuellen Rechtsprechung BGH StraFo 2012, 321 f.; 2012, 232; 2014, 160 f. BGH StV 2013, 7 f.; 2014, 127 ff.; BGH NStZ, 2012, 384 ff.; 2013, 420 ff.; 2013, 541 f.; 2014, 667; BGH NStZ-RR 2014, 155; 2014, 380; 2015, 52 f.; BGH HRRS 2014 Nr. 924 Rn. 5. 1327 Nack, StV 2002, 510, 512. 1328 BGH StV 2002, 235. 1329 BGH NStZ 2009, 401, 402. 1330 BGH HRRS 2012 Nr. 526 Rn. 5 = BGH StraFo 2012, 232.
B. Die Erweiterung der Revision auf Teile der Tatfrage
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Diese Entscheidung ist vor allem deshalb besonders pikant, weil der Senat offensichtlich erkennt, wo die gesetzlichen Grenzen der Beweisbegründungspflicht des Tatrichters liegen, sich aber dennoch – in Übereinstimmung mit der ständigen Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs – mit einer wenig aussagekräftigen Floskel („aus sachlichrechtlichen Gründen“) dazu durchringt, eine Pflicht des Tatrichters zur Begründung seiner Beweiswürdigung anzunehmen. Dabei versäumt er insbesondere auch darzulegen, warum das Revisionsgericht auf eine Darstellung der Beweiswürdigung angewiesen ist, um nachzuprüfen, ob dem Tatrichter ein sachlichrechtlicher Fehler unterlaufen ist, obwohl die Beweiswürdigung lediglich Einfluss auf tatrichterlichen Sachverhaltsfeststellungen hat. 4. Zwischenergebnis Zusammenfassend kann insofern festgehalten werden, dass die Erweiterung der Revision auf fehlerhafte, unwahrscheinliche oder nicht mit hinreichenden Gründen versehene Feststellungen im Wesentlichen in drei Schritten vonstattengegangen ist: 1. Als erstes begannen die Revisionsgerichte, von den Tatgerichten eine umfassende Beweisbegründung zu fordern, obwohl § 267 StPO ausdrücklich von einer solchen Beweisbegründungspflicht abgesehen hatte. 2. Welchen Anforderungen diese Beweisgründe genügen mussten, wurde dabei ebenfalls allein durch die revisionsgerichtliche Rechtsprechung bestimmt. 3. Sofern die Beweisgründe nicht angegeben wurden oder nicht den Anforderungen genügten, die von der Rechtsprechung aufgestellt worden waren, nahmen die Revisionsgerichte einen materiell-rechtlichen Fehler an, sodass dieser Mangel bereits auf eine allgemeine Sachrüge zu einer Aufhebung des Urteils führen konnte. Auf diesem Wege erfolgte letztendlich eine materielle Erweiterung der Revision, die den Revisionsgerichten nunmehr erlaubt, tatrichterliche Feststellungen fast beliebig als „rechtsfehlerhaft“ zu qualifizieren und aufzuheben.1331 Diese erweiterte Revision hat heute zur Folge, dass ein Tatrichter, der seine schriftlichen Urteilsgründe ausschließlich auf die Anforderungen des § 267 StPO ausrichtet, nahezu sicher sein kann, dass sein Urteil bereits auf die allgemeine Sachrüge hin aufgehoben werden wird.1332 Bis heute setzen sich dabei weder der Bundesgerichtshof noch die Oberlandesgerichte mit dem Widerspruch zwischen ihrer Rechtsprechung und dem unmissverständlichen Wortlaut des § 267 StPO, insbesondere § 267 Abs. 4 Satz 3 StPO, auseinander. So heißt es ohne jede weitere Erläuterung etwa in einem Urteil des Bundesgerichtshofs vom 9. April 2015, dass „die Strafkammer ihre Überzeugung vom Vorliegen bedingten Vorsatzes hinsichtlich 1331 1332
Vgl. Jerouschek, GA 1992, 493, 511. Rieß, in: Beiträge zur Entwicklung der deutschen Strafprozessordnung, S. 197.
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3. Kap.: Die höchstrichterliche Erweiterung der Revision auf Tatfragen
der alkoholbedingten Fahruntüchtigkeit nicht hinreichend begründet [Hervorh. d. Verf.]“1333 hat und das Urteil deshalb „der rechtlichen Nachprüfung nicht stand[hält]“.1334 Dass das Gesetz gerade diese Begründung nicht fordert, scheint im Laufe der Jahrzehnte so in Vergessenheit geraten zu sein, sodass auch in der Literatur niemand mehr an einer solchen Formulierung Anstoß nimmt. Letztendlich hat die höchstrichterliche Rechtsprechung damit die von der Strafprozessordnung ausdrücklich vorgesehene Beschränkung der Revision auf Rechtsfragen de facto stillschweigend aufgegeben, indem sie eine bei objektiver Betrachtung kaum nachvollziehbare Aufweichung des Begriffes „sachlich-rechtlich“ vorgenommen hat. Jedenfalls dort, wo die tatrichterliche Begründung der Sachverhaltsfeststellungen – also die von Gesetzes wegen nicht geforderte Darstellung der Beweiswürdigung – die Revisionsgerichte nicht überzeugt, scheinen sie die Tatfrage somit zumindest einer revisionsgerichtlichen Schlüssigkeitskontrolle zu unterwerfen, ohne diesen Schritt nur ansatzweise dogmatisch nachvollziehbar zu erläutern.1335 Faktisch erfolgt diese revisionsgerichtliche Plausibilitätsprüfung dabei von Amts wegen, da eine Sachrüge im Rahmen einer Revision in aller Regel erhoben sein wird.1336
IV. Entwicklung spezifischer Anforderungen an die tatrichterliche Überzeugung Wie bereits angedeutet, betraf die Erweiterung der Revision jedoch nicht nur die Feststellungen der Tatgerichte, sondern auch die tatrichterliche Beweiswürdigung selbst. Wie schon ausgeführt, dürfen nämlich nicht nur die Feststellungen, sondern auch die tatrichterliche Beweiswürdigung nicht widersprüchlich, unklar oder lückenhaft sein oder gegen Denkgesetze oder gesicherte Erfahrungssätze verstoßen.1337 Dass die Erweiterung der Revision nicht nur die tatrichterlichen Sachverhaltsfeststellungen oder ihre Darstellung zum Gegenstand hat, sondern sich längst auch auf die Beweiswürdigung erstreckt, obwohl gerade diese nach den Vorstellungen des historischen Gesetzgebers von der Revision ausgenommen sein sollte, wird auch durch prägnante Wendungen in der jüngeren Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs verdeutlicht. So heißt es seit 2005 in ständiger Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs: „Das Revisionsgericht ist demgegenüber auf die Prüfung beschränkt, ob die Beweiswürdigung des Tatrichters mit Rechtsfehlern behaftet ist [Hervorh. d. Verf.], etwa weil sie Lücken oder Widersprüche aufweist, mit den Denkgesetzen oder gesichertem Erfah1333 1334 1335 1336 1337
BGH NJW 2015, 1834, 1835. BGH NJW 2015, 1834, 1834. Krause, in: FS Peters, S. 326 f. Fezer, in: FS Hanack, S. 340. Ausführlich Maul, in: FS Pfeiffer, S. 413 ff.
B. Die Erweiterung der Revision auf Teile der Tatfrage
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rungswissen nicht in Einklang steht oder an die Überzeugung von der Schuld des Angeklagten überzogene Anforderungen stellt.“1338
Oftmals ist den Urteilen des Bundesgerichtshofs auch die folgende Wendung zu entnehmen: „Die Beweiswürdigung des Landgerichts hält rechtlicher Nachprüfung nicht stand“.1339 Beide Passagen deuten darauf hin, dass der Bundesgerichtshof es nunmehr als selbstverständlich betrachtet, die freie Beweiswürdigung zum Gegenstand der Revision zu machen, obwohl die Strafprozessordnung eine derartige Kompetenz den Revisionsgerichten ausdrücklich abgesprochen hatte. So erstaunt es durchaus, mit welcher Selbstverständlichkeit die einzelnen Strafsenate des Bundesgerichtshofs nunmehr ausführen, dass nicht nur tatrichterliche Sachverhaltsfeststellungen, sondern auch eine Beweiswürdigung, die den vorgenannten Anforderungen nicht entsprächen, zu einem sachlich-rechtlichen Mangel führten.1340 Schließlich geht die gesamte Trennung von Tat- und Rechtsfragen – wie schon an anderer Stelle dargelegt1341 – gerade auf die Bemühungen des Gesetzgebers zurück, ausgerechnet die Beweiswürdigung von einer revisionsgerichtlichen Kontrolle auszunehmen. Allerdings findet die freie Beweiswürdigung in der höchstrichterlichen Rechtsprechung nicht nur in ihrer Nachprüfung durch die Revisionsgerichte eine Einschränkung. Auch darüber hinaus hat die Rechtsprechung zwischenzeitlich sehr spezifische Anforderungen an die tatrichterliche Beweiswürdigung entwickelt, welche die freie Beweiswürdigung erheblich einschränken und dabei gesetzlichen Beweisregeln erstaunlich nahe kommen.1342Dies obwohl es auch in der Rechtsprechung des Bundesgerichtshof zu der Beweiswürdigung durch den Tatrichter immer wieder klarstellend heißt: „Unter welchen Voraussetzungen er zu welcher
1338 BGH NJW 2005, 2322, 2326; 2007, 3446, 3448; BGH NStZ 2009, 497, 498; BGH HRRS 2011 Nr. 132 Rn. 7; 2013 Nr. 121 Rn. 3; BGH, Urteil vom 20. Juni 2013 – 4 StR 159/13 –, juris Rn. 19; BGH HRRS 2015 Nr. 246 Rn. 20; BGH, Urteil vom 06. August 2015 – 3 StR 226/15 –, juris Rn. 5. 1339 BGH, Urteil vom 25. November 1982 – 4 StR 564/82 –, juris Rn. 4; BGH, Urteil vom 19. November 1992 – 4 StR 466/92 –, juris Rn. 7; BGH NStZ 1999, 153; BGH, Beschluss vom 26. November 1999 – 2 StR 461/99 –, juris Rn. 3; BGH, Beschluss vom 23. Mai 2000 – 5 StR 427/99 –, juris Rn. 5; BGH, Urteil vom 26. März 2003 – 2 StR 535/02 –, juris Rn. 5; BGH HRRS 2006 Nr. 787 Rn. 16; 2008 Nr. 741 Rn. 19; BGH NStZ-RR 2009, 349, 349; 2015, 286, 287. 1340 Vgl. jüngst nur aus der Rechtsprechung aller Senate: BGH, Urteil vom 13. Juli 2017 – 1 StR 536/16 –, juris Rn. 27; Urteil vom 16. August 2017 – 2 StR 335/15 –, juris Rn. 14; Urteil vom 27. Juli 2017 – 3 StR 172/17 –, juris Rn. 12; Urteil vom 17. August 2017 – 4 StR 127/17 –, juris Rn. 19; BGH, Urteil vom 21. März 2017 – 5 StR 511/16 –, juris Rn. 5. 1341 Vgl. S. 235 ff. 1342 Frisch, in: FS Eser, S. 266. Zu der Ähnlichkeit der Beweiswürdigungserfordernisse der Rechtsprechung zu den Beweisregeln Fezer, in: 18. Strafverteidigertag, S. 92; Hamm, in: FS Fezer, S. 409; Jähnke, in: FS Hanack, S. 356; Peters, in: FS Schäfer, S. 143; Schäfer, in: 18. Strafverteidigertag, S. 108 = Schäfer, StV 1994, 147, 150
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3. Kap.: Die höchstrichterliche Erweiterung der Revision auf Tatfragen
Schlussfolgerung und Überzeugung kommen muss, kann ihm nicht vorgeschrieben werden; an Beweisregeln ist er insofern nicht gebunden“.1343 So etwa ist es dem Tatrichter nach höchstrichterlicher Rechtsprechung nicht gestattet, seine Überzeugung von dem subsumtionsrelevanten Sachverhalt allein aus dem Geständnis des Angeklagten zu gewinnen. In dem Beschluss des 2. Strafsenats des Bundesgerichtshofs vom 5. November 2013 heißt es hierzu in aller Deutlichkeit: „Zwar unterfällt auch die Bewertung eines Geständnisses dem Grundsatz der freien richterlichen Beweiswürdigung gemäß § 261 StPO. Das Tatgericht muss aber, will es die Verurteilung des Angeklagten auf dessen Einlassung stützen, von deren Richtigkeit überzeugt sein. Es ist deshalb stets zu untersuchen, ob das Geständnis den Aufklärungsbedarf hinsichtlich der erforderlichen Feststellungen zur Tat erfüllt, ob es in sich stimmig ist und auch im Hinblick auf sonstige Erkenntnisse keinen Glaubhaftigkeitsbedenken unterliegt.“1344
Dieser Rechtsprechung liegt damit eine Quasi-Beweisregel zugrunde, wonach es dem Tatrichter nicht gestattet ist, einem Geständnis ohne Weiteres Glauben zu schenken. Ein tatrichterliches Urteil, das auf einem Geständnis beruht, wird von dem Bundesgerichtshof mithin nur dann akzeptiert werden, wenn die Urteilsgründe erkennen lassen, dass der Tatrichter sich eingehend mit ihm auseinandergesetzt hat, obwohl die Strafprozessordnung eine derartige Pflicht des Tatrichters gerade nicht enthält. Ebenso sollen Aussagen von polizeilichen Informanten (sog. Vertrauenspersonen) als Zeugen vom Hörensagen nur dann ein hinreichender Beweiswert zukommen, wenn ihr vermeintlicher Beweisinhalt durch andere Beweismittel bestätigt ist. Hierzu heißt es etwa in dem Beschluss des 3. Strafsenats vom 7. Juni 2000: „Nach der Rechtsprechung des BGH ist bei der Beurteilung der Aussage eines Zeugen vom Hörensagen besondere Vorsicht geboten. Handelt es sich bei den von dem VertrauenspersonFührer bezeugten Angaben um diejenigen eines anonymen Gewährsmanns, so darf darauf eine Feststellung regelmäßig nur dann gestützt werden, wenn diese Angaben durch andere wichtige Beweisanzeichen bestätigt worden sind.“1345
Diese Beweiswürdigungsregel gilt nach ständiger Rechtsprechung nicht nur für V-Personen, sondern grundsätzlich für alle Zeugen vom Hörensagen.1346 Daraus folgt eine weitere Quasi-Beweisregel, wonach der Tatrichter seine Überzeugung nicht 1343 So BGH NJW 2015, 1834, 1834; für weitere Beispiele aus der aktuellen Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs vgl. BGH NStZ 2015, 98, 100; 2011, 699; BGH HRRS 2007 Nr. 78 Rn. 2. 1344 BGH NStZ 2014, 170, 170; ähnl. auch BGH StV 2013, 703, 704; BGH NStZ-RR 2013, 309; 2012, 256, 256; NStZ 2014, 53, 53. 1345 BGH NStZ 2000, 607; ähnl. auch schon BGHSt 45, 321, 340; BGH, Beschluss vom 14. Februar 1997 – 2 StR 34/97; StV 1996, 583, 584; und danach BGH HRRS 2007 Nr. 882 Rn. 16; BGHSt 49, 112, 120. 1346 Vgl. BGHSt 17, 382, 385 f.; aber auch BGHSt 36, 159, 166; 33, 178, 181; BGH wistra 2013, 400.
B. Die Erweiterung der Revision auf Teile der Tatfrage
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ausschließlich auf Aussagen von Zeugen vom Hörensagen stützen darf, sondern verpflichtet ist, diese Aussagen durch andere Beweismittel zu verifizieren. Ähnliches folgt aus der höchstrichterlichen Rechtsprechung, die dem Tatrichter verbietet, bei einer Blutalkoholkonzentration von 1,1 % noch von der Fahrtüchtigkeit des Beschuldigten auszugehen. Hierzu führte der 4. Strafsenat schon in einem Beschluss vom 28. Juni 1990 aus: „Eine Gesamtwürdigung dieser biologisch-medizinischen und statistischen Erkenntnisse führt bei besonderer Berücksichtigung der Ergebnisse der Fahrversuche dazu, daß der Grundwert der alkoholbedingten absoluten Fahruntüchtigkeit bei 1,0 Promille anzusetzen ist. […] Es kann mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit ausgeschlossen werden, daß höher alkoholisierte Kraftfahrer selbst bei besonderer Fahrbefähigung oder Alkoholtoleranz auch in der Eliminationsphase zu einer den (alltäglichen) Anforderungen des heutigen Straßenverkehrs genügenden Beherrschung ihres Fahrzeuges noch in der Lage sind.“1347
Da die Fahruntüchtigkeit demnach nicht mehr von der Wirkung des Alkohols im Einzelfall abhängt, sondern beim Erreichen des jeweiligen Grenzwerts unwiderleglich vermutet wird, mündet auch diese – nunmehr ständige – Rechtsprechung in einer Quasi-Beweisregel, wonach der Tatrichter bei einer Blutalkoholkonzentration von 1,1 % von der absoluten Fahruntüchtigkeit auszugehen hat. Eine weitere Quasi-Beweisregel hat die höchstrichterliche Rechtsprechung etwa für diejenigen Konstellationen entwickelt, in denen die Tat des Angeklagten lediglich von einem Belastungszeugen bezeugt werden kann, der Angeklagte selbst aber die Tat abstreitet („Aussage-gegen-Aussage-Konstellationen“). Sofern ein Teil der Aussage des Belastungszeugen sich als unwahr rausstellt, ist es dem Tatrichter nunmehr verboten (!) die Aussage im Übrigen zu würdigen, sofern keine weiteren Beweisanzeichen vorhanden sind, die auf die übrigen Beweistatsachen hindeuten.1348 So beschloss der 4. Strafsenat am 19. November 2014: „In einer Konstellation, in der ,Aussage gegen Aussage‘ steht und außer der Aussage des einzigen Belastungszeugen keine weiteren belastenden Indizien vorliegen, muss sich der Tatrichter bewusst sein, dass die Aussage dieses Zeugen einer besonderen Glaubwürdigkeitsprüfung zu unterziehen ist. Die Urteilsgründe müssen erkennen lassen, dass das TatGer. alle Umstände, die die Entscheidung beeinflussen können, erkannt und in seine Überlegungen einbezogen hat. Allein auf Angaben des einzigen Belastungszeugen, dessen Aussage in einem wesentlichen Detail als bewusst falsch anzusehen ist, kann eine Verurteilung nicht gestützt werden [Hervorh. d. Verf.]. Dann muss der Tatrichter jedenfalls regelmäßig außerhalb der Zeugenaussage liegende gewichtige Gründe nennen, die es ihm ermöglichen, der Zeugenaussage im Übrigen dennoch zu glauben.“1349
1347
BGH NJW 1990, 2393, 2394. Hamm, in: FS Fezer, S. 409 f. 1349 NStZ-RR 2015, 86, 86; ähnl. auch BGH HRRS 2015 Nr. 681 Rn. 6; BGHSt 44, 256, 257; 44, 153, 159; BGH, Urteil vom 22. April 2015 – 2 StR 351/14. 1348
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3. Kap.: Die höchstrichterliche Erweiterung der Revision auf Tatfragen
Auch hier wird also die freie Beweiswürdigung durch den Tatrichter durch eine bindende Beweisregel ersetzt, wonach eine Verurteilung nicht allein auf den Angaben des einzigen Belastungszeugen gestützt werden darf. Bemerkenswerterweise weist der Bundesgerichtshof selbst auch ausdrücklich darauf hin, dass eine vom Einzelfall losgelöste Festlegung des Beweiswertes bestimmter Umstände einer Beweisregel nahekäme und deshalb mit dem Grundsatz der freien Beweiswürdigung nicht zu vereinbaren ist – so heißt es in dem Urteil des 3. Strafsenats vom 16. Mai 2013: „Gleichermaßen allein Sache des Tatrichters ist es, die Bedeutung und das Gewicht der einzelnen Indizien in der Gesamtwürdigung des Beweisergebnisses zu bewerten. […] Zwar hat der BGH die auf der Grundlage der dem Täter bekannten Umstände zu bestimmende objektive Gefährlichkeit der Tathandlung als wesentlichen Indikator sowohl für das Wissens- als auch für das Willenselement des bedingten Vorsatzes angesehen und bei äußerst gefährlichen Gewalthandlungen das Vorliegen beider Elemente als naheliegend bezeichnet. Dies bedeutet jedoch nicht, dass der Tatrichter der objektiven Gefährlichkeit der Tathandlung bei der Prüfung der subjektiven Tatseite von Rechts wegen immer die ausschlaggebende indizielle Bedeutung beizumessen hätte. Darin läge eine vom Einzelfall gelöste Festlegung des Beweiswerts und der Beweisrichtung eines im Zusammenhang mit derartigen Delikten immer wieder auftretenden Umstandes, die einer Beweisregel nahekäme und deshalb dem Grundsatz der freien richterlichen Beweiswürdigung widerspräche [Hervorh. d. Verf.].“1350
Nichtsdestoweniger belegen gerade die oben wiedergegebenen Beispiele aus der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs, dass der höchstrichterlichen Rechtsprechung durchaus Beweisregeln bekannt sind, die konkrete Anforderungen an die Beweiswürdigung in einzelnen Sachverhaltskonstellationen stellen.1351 Wie so oft prüfen die Revisionsgerichte dabei bereits aufgrund einer allgemeinen Sachrüge, ob die tatrichterliche Rechtsprechung diesen spezifischen Beweiswürdigungsanforderungen genügt.1352 Die Revisionsgerichte sind also nicht dabei stehen geblieben, von dem Tatrichter bloß eine umfassende Darstellung seiner Beweiswürdigung in den Urteilsgründen zu fordern. Vielmehr sind sie dazu übergegangen, in bestimmten Beweiskonstellationen von den Tatgerichten eine sehr spezifische Beweiswürdigung einzufordern. Demnach bleibt die häufige Bezeichnung der erweiterten Revision als Darstellungsrüge weit hinter dem revisionsgerichtlich zur Anwendung gebrachten Instrumentarium zurück. Tatsächlich haben sich die Revisionsgerichte die Möglichkeit geschaffen, mit einer Art Beweiswürdigungsrüge über die Darstellung der Tatsachenfeststellungen hinaus auch die tatrichterliche Beweiswürdigung auf Fehler nachzuprüfen, 1350 BGH NStZ-RR 2013, 242, 243; ähnl. auch schon BGH HRRS 2013 Nr. 428 Rn. 5; BGH NStZ-RR 2013, 89, 90; 2013, 75, 77. 1351 So auch Schäfer, in: 18. Strafverteidigertag, S. 108 = Schäfer, StV 1994, 147, 150; ähnl. Fezer, in: 18. Strafverteidigertag, S. 92; Hamm, in: FS Fezer, S. 409; Jähnke, in: FS Hanack, S. 356; Peters, in: FS Schäfer, S. 143. 1352 Frisch, in: FS Eser, S. 266.
B. Die Erweiterung der Revision auf Teile der Tatfrage
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worin wohl die weitestgehende materielle Erweiterung der Revision zu erblicken ist.1353
V. Zusammenfassende Analyse Es zeigt sich also, dass die höchstrichterliche Erweiterung der Revision einer differenzierten Betrachtung bedarf. So etwa stellt die bereits früh erfolgte Erweiterung der Revision auf Denkgesetze und allgemeinen Erfahrungssätze bei genauer Betrachtung schon keine materielle Ausweitung der Revision auf die Tatfragen dar. Ein solcher Mangel wird in aller Regel nämlich auch zugleich eine Verletzung der im § 244 Abs. 2 StPO normierten Amtsaufklärungspflicht oder eine Überschreitung der in § 261 StPO niedergelegten Grenzen der freien Beweiswürdigung darstellen. Ein Verstoß gegen Denkgesetze oder allgemeine Erfahrungssätze stellt sich demnach als eine Verletzung einer Rechtsnorm über das Verfahren dar, die zwar regelmäßig aus den tatrichterlichen Sachverhaltsfeststellungen folgen wird, aber wie jede Gesetzesverletzung eine Revision begründen kann. Allerdings liegt in diesen Fällen sehr wohl eine formelle Erweiterung der Revision vor, da Revisionsgerichte einen derartigen Mangel des Urteils bereits auf die allgemeine Sachrüge hin zur Kenntnis nehmen und sich insoweit von den formalen Grenzen einer Verfahrensrüge befreit haben.1354 Überhaupt keine Erweiterung der Revision liegt dagegen in der revisionsgerichtlichen Prüfung, ob die Feststellungen des Tatrichters widersprüchlich, unklar oder lückenhaft sind. Zwar sind auch hier die Feststellungen des Tatrichters der Anlass für revisionsgerichtliche Kritik, doch haben widersprüchliche, unklare oder lückenhafte Feststellungen stets auch zur Folge, dass das Urteil an einem sachlichrechtlichen Mangel leidet. Sieht der Tatrichter nämlich den gesetzlichen Tatbestand einer Strafnorm als erfüllt an, obwohl dem von ihm festgestellten Sachverhalt die gesetzlichen Merkmale des in Frage stehenden Deliktes nicht zu entnehmen sind, ist die tatrichterliche Subsumtion unvollständig und damit fehlerhaft. Dieser im Ergebnis umgekehrte Subsumtionsmangel ist nach der Konzeption der Strafprozessordnung richtigerweise bereits im Rahmen der Sachrüge zu berücksichtigen.1355 Hiervon zu unterscheiden ist jedoch der Fall, dass nicht die Feststellungen, sondern die Beweiswürdigung durch die Tatgerichte als widersprüchlich, unklar oder lückenhaft gerügt wird. Hier maßt sich das Revisionsgericht eine Prüfung der tatrichterlichen Beweiswürdigung an, obwohl ausgerechnet diese nach der Konzeption der Strafprozessordnung und dem Willen des historischen Gesetzgebers von der revisionsgerichtlichen Nachprüfung ausgenommen sein sollte – darin liegt damit sehr wohl eine materielle Erweiterung der Revision. 1353 1354 1355
Ähnl. Hamm, in: FS Fezer, S. 410 f. Vgl. ausführlich S. 247 ff. Vgl. S. 250 ff.
286
3. Kap.: Die höchstrichterliche Erweiterung der Revision auf Tatfragen
Eine materielle Erweiterung der Revision ist schließlich auch in den Fällen zu erblicken, in denen die Revisionsgerichte die tatrichterlichen Sachverhaltsfeststellungen rügen, weil diese nicht mit den Erfahrungen des täglichen Lebens in Einklang stünden oder die Schlussfolgerungen, die der Tatrichter aus seinen Feststellungen gezogen hat, nicht zwingend oder überzeugend seien.1356 Gerügt wird insoweit die Darstellung der Urteilsgründe, die nicht zur Überzeugung des Revisionsgerichts darlegen, warum die tatrichterliche Schlussfolgerung zutreffend ist. Insoweit besteht durchaus eine Ähnlichkeit zu den widersprüchlichen, unklaren oder lückenhaften Feststellungen, als in beiden Fällen die Urteilsgründe aus revisionsgerichtlicher Perspektive das Urteil nicht tragen. Eben diese Ähnlichkeit dürfte es auch gewesen sein, welche die Revisionsgerichte dazu angehalten haben, auch diese Mängel des tatrichterlichen Urteils bereits im Rahmen der Sachrüge zu berücksichtigten. Ein wesentlicher Unterschied besteht jedoch darin, dass Mängel bei der Beweiswürdigung – um nichts anderes handelt es sich bei den Schlussfolgerungen des Tatrichters – von Gesetzes wegen nicht der revisionsgerichtlichen Prüfung unterliegen; die Beweiswürdigung muss nach dem Wortlaut der Strafprozessordnung und dem Willen des historischen Gesetzgebers nicht einmal im Urteil ausgeführt werden. Eine Notwendigkeit, die Feststellungen im Rahmen der Beweiswürdigung auch zur Überzeugung des Revisionsgerichts zu begründen, folgt vielmehr ausschließlich aus der höchstrichterlichen Rechtsprechung – danach müssen die Urteilsgründe erkennen lassen, ob die Beweiswürdigung auf einer tragfähigen, verstandesmäßig einsehbaren Tatsachengrundlage beruht und die vom Tatrichter gezogenen Schlussfolgerungen mehr als nur bloße Vermutungen darstellen.1357 Damit haben die Revisionsgerichte dem Tatrichter das Vertrauen, das der Gesetzgeber in ihn gesetzt hatte, – in der Sache freilich zu Recht – wieder entzogen. Während der Gesetzgeber die Feststellung des subsumtionsrelevanten Sachverhalts vollständig dem tatrichterlichen Gutdünken überlassen hatte, haben sich die Revisionsgerichte Instrumente geschaffen, die tatrichterliche Beweiswürdigung zumindest einer Plausibilitätsprüfung zu unterziehen. So ist in der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs und der Oberlandesgerichte nunmehr von der intersubjektiven Vermittelbarkeit der tatrichterlichen Beweiswürdigung die Rede.1358 Die schriftlichen Urteilsgründe müssen demnach also so sorgfältig und strukturiert abgefasst sein, dass die tatgerichtliche Entscheidung nachvollziehbar wird und einer revisionsrechtlichen Überprüfung zugeführt werden kann.1359 Damit ist der Tatrichter nach höchstrichterlicher Rechtsprechung verpflichtet, sich in seinem Urteil mit allen naheliegenden Tatsachen und Umständen ausein1356
Ausführlich auch zur Entwicklung dieser Erweiterung vgl. S. 254 ff. BGH NStZ 2015, 476, 477; 2014, 477, 478; BGH StV 2014, 610, 610; BGH HRRS 2015 Nr. 444 Rn. 10; 2015 Nr. 441 Rn. 5; BGH, Beschluss vom 16. Juni 2015 – 2 StR 29/15. 1358 BGH NStZ 2016, 490, 492; 1988, 236, 237; OLG Stuttgart, Beschluss vom 10. August 2016 – 4 Ws 282/15 –, juris Rn. 8; Hanseatisches Oberlandesgericht Hamburg, Beschluss vom 24. Oktober 2014 – 1 Ws 110/14 –, juris Rn. 16. 1359 BGH NStZ-RR 2013, 78, 79; BGH HRRS 2015 Nr. 444 Rn. 2; 2014 Nr. 924 Rn. 5. 1357
B. Die Erweiterung der Revision auf Teile der Tatfrage
287
anderzusetzen, die Schlüsse zugunsten oder zuungunsten des Angeklagten zulassen.1360 Ob er dieser Pflicht nachgekommen ist, unterliegt der revisionsgerichtlichen Nachprüfung. Zwar wird in der Literatur immer wieder darauf hingewiesen, dass diese richterrechtliche Erweiterung der Revision keinen Eingriff in die Domäne des Tatrichters darstelle, da sie nicht die unmittelbare Überprüfung der tatrichterlichen Feststellungen oder der Beweiswürdigung bezwecke, sondern lediglich die Überprüfung ihrer schlüssigen Darstellung zum Gegenstand habe.1361 Allerdings verkennt diese Auffassung, dass Feststellungen und die Beweiswürdigung des Tatrichters dem Revisionsgericht ausschließlich durch ihre schriftliche Darstellung zugänglich werden, sodass aus revisionsgerichtlicher Perspektive kein Unterschied zwischen der Nachprüfung der Tatfragen und der Nachprüfung ihrer schriftlichen Darstellung existiert. Jede revisionsgerichtliche Kritik an den Feststellungen und der Beweiswürdigung ist daher, selbst wenn sie sich auf ihre Darstellung beschränkt, immer auch eine Kritik an ihrem Inhalt. Eine Unterscheidung zwischen Tatfragen, die einer revisionsgerichtlichen Nachprüfung nicht zugänglich sind, und der Darstellung von Tatsachen, die der revisionsgerichtlichen Nachprüfung zugänglich sind, stellt insofern ein bloß rhetorischer Kunstgriff ohne jede materielle Relevanz dar. Darüber hinaus hat gerade die jüngere Revisionsrechtsprechung eine reichhaltige Kasuistik entwickelt, welche die eigentlich freie tatrichterliche Beweiswürdigung sehr spezifischen, revisionsgerichtlich nachprüfbaren Anforderungen unterwirft.1362 So etwa bestehen nunmehr besondere Anforderungen an die Würdigung von Zeugenaussagen, wenn das Urteil ausschließlich auf den Bekundungen eines Belastungszeugen beruhen soll,1363 die einzelnen Zeugenaussagen sich widersprechen,1364 eine Aussage-gegen-Aussage-Konstellation vorliegt1365 oder wenn nach der Lebenserfahrung oder anderen Feststellungen im Urteil Zweifel an der Glaubwürdigkeit des Zeugen bestehen können.1366 Letztendlich haben sich die Revisionsgerichte durch die erweiterten Anforderungen an die tatrichterlichen Urteilsgründe und ihrer Nachprüfung im Rahmen der Revision Anknüpfungspunkte für die revisionsgerichtliche Aufhebung von Urteilen geschaffen, die dem gesetzlichen Programm der Strafprozessordnung unbekannt sind. Bedenklich erscheint hierbei, dass diese Erweiterung der Revision jedenfalls zum Teil im nationalsozialistischen Deutschen
1360
BGHSt 25, 285. Vgl. nur Fezer, Möglichkeiten einer Reform, S. 170 f.; Walter, Freie Beweiswürdigung, S. 319 f.; Kühne, Strafprozessrecht, Rn. 1076. 1362 Vgl. hierzu nur Kühne, Strafprozessrecht, Rn. 1001. 1363 BGH StV 2000, 599. 1364 RGSt 71, 25; BGH NJW 1961, 2069; BGH StV 1987, 516; 1995, 563; 2011, 6 f. 1365 BGH StV 1983, 445; 1996, 365; BGHSt 44, 153; BGH StV 1998, 250; 1998, 362; 2009, 347; BGH NStZ 2000, 496; BGH NStZ-RR 2002, 146; BGH NStZ 2007, 538; 2008, 254; 2009, 106; 2009, 107; 2010, 182 f.; BGH NStZ-RR 2010, 20. 1366 BGH StV 1984, 190 (Leitsatz); BGH NStZ 1990, 402; 1992, 2; 1992, 556; BGH StraFo 2003, 274. 1361
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3. Kap.: Die höchstrichterliche Erweiterung der Revision auf Tatfragen
Reich stattgefunden hat, wobei sie durch die nationalsozialistische Gerechtigkeitsideologie und NS-spezifische Rechtsbehelfe beeinflusst worden zu sein scheint.1367
C. Kritik an der höchstrichterlichen Erweiterung der Revision Auf den ersten Blick scheinen die Revisionsgerichte mit der erweiterten Revision einen in den Strafsachen dringend notwendigen Ausgleich für die fehlende Berufung in den land- und oberlandesgerichtlichen Strafsachen geschaffen zu haben. Obwohl der Gesetzgeber in diesen Sachen noch davon abgesehen hatte, ein Rechtsmittel zu schaffen, das in der Lage ist, Entscheidungen der Land- und Oberlandesgerichte auch auf der Tatsachenebene nachzuprüfen, hat die höchstrichterliche Rechtsprechung zum Teil genau dieses Ergebnis erzielt, indem sie die tatrichterlichen Urteilsbegründungspflichten und die revisionsgerichtliche Prüfung auf diese Aspekte ausgeweitet haben. Mit der erweiterten Revision wurde damit scheinbar gerade ein Ergebnis erzielt, das den verfassungsrechtlichen Bedürfnissen entspricht und auch rechtspolitisch wünschenswert wäre.1368 So wird die strafrechtliche Revision letztendlich – gerade dort, wo sie das einzige Rechtsmittel gegen erstinstanzliche Urteile darstellt – auch den Erwartungen des gemeinen Bürgers gerecht, der gerade von dem Bundesgerichtshof als Revisionsinstanz erwartet, dass dieser in der Lage ist, eine vollumfassende Korrektur des vorinstanzlichen Urteils vorzunehmen und ein „gerechtes“ Urteil herbeizuführen.1369 Zu klären bleibt dennoch, welche Konsequenzen daraus zu ziehen sind, dass diese erweiterte Revision keine Grundlage in der Strafprozessordnung findet. Insbesondere die Frage, ob eine so weitgehende schöpferische Rechtsfortbildung durch die Revisionsgerichte noch mit dem Gewaltenteilungsprinzip und dem Grundsatz der Gesetzesbindung der Rechtsprechung in Einklang gebracht werden kann, gilt es in diesem Kontext zu klären. Hierbei darf nicht außer Betracht gelassen werden, dass die erweiterte Revision nicht bloß eine Verbesserung der Rechtsposition des Angeklagten zur Folge hat – nicht selten kommt es nämlich vor, dass ein für den Angeklagten günstiges Urteil im Wege der erweiterten Revision aufgehoben und ihm so eine günstige Rechtsposition ohne eine gesetzliche Grundlage wieder genommen wird. Problematisch und klärungsbedürftig ist auch die Frage, wie damit umzugehen ist, dass die revisionsgerichtliche Rechtsprechung bislang davon abgesehen hat, die erweiterte Revision mit festen, verbindlichen und allgemein nachvollziehbaren Konturen zu versehen. So ist selbst einem erfahrenen Revisionsführer heute selten 1367
Vgl. S. 259 ff. Ähnl. auch Kühne, Strafprozessrecht, Rn. 1080; ausführlich zu der hier vertretenen Auffassung, dass es jedenfalls in den Strafsachen eines umfassenden Rechtsschutzes bedarf, vgl. schon S. 61 ff. 1369 Ähnl. auch Rieß, in: FS Hanack, S. 402. 1368
C. Kritik an der höchstrichterlichen Erweiterung der Revision
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möglich, abzusehen, ob er mit seiner Rüge der Urteilsdarstellung überhaupt formal durchdringen wird. Insgesamt stellt sich damit die Frage nach der Vorhersehbarkeit der erweiterten Revision und ihrer Vereinbarkeit mit Art. 3 Abs. 1 GG. Diese Fragen gilt es, im Rahmen des vorliegenden Abschnitts zu beantworten.
I. Die fehlende Vereinbarkeit der erweiterten Revision mit dem Grundsatz vom Vorrang des Gesetzes 1. Bindung der rechtsprechenden Gewalt an Gesetz und Recht Es wurde bereits hinreichend dargelegt, dass die heutige Revisionspraxis in Strafsachen zur Folge hat, dass die Revision, wie sie von den Oberlandesgerichten und dem Bundesgerichtshof gehandhabt wird, deutlich von dem Normenprogramm der Strafprozessordnung abweicht.1370 Diese Revisionspraxis praeter bzw. contra legem – auch diese Frage gilt es noch zu beantworten – betrifft vor allem die als Darstellungskontrolle bezeichnete Erweiterung der Revision auf die Tatfragen. Für die tägliche Arbeit der Strafverteidiger, Staatsanwälte, Tatrichter und auch Revisionsrichter mag es dabei zwar geradezu gleichgültig sein, ob die Regeln, welche die Revision betreffen, von dem Gesetzgeber oder dem Bundesgerichtshof stammen,1371 fraglich bleibt dennoch, ob diese veränderte Revisionspraxis noch mit der verfassungsrechtlich gebotenen Bindung der rechtsprechenden Gewalt an die parlamentarischen Gesetze in Einklang zu bringen ist. In Art. 20 Abs. 3 GG heißt es insoweit: „Die Gesetzgebung ist an die verfassungsmäßige Ordnung, die vollziehende Gewalt und die Rechtsprechung sind an Gesetz und Recht gebunden“. In Art. 97 Abs. 1 GG heißt es weiter: „Die Richter sind unabhängig und nur dem Gesetze unterworfen“. So normiert Art. 97 Abs. 1 GG neben der Gesetzesunterworfenheit der Richter, die ohnehin schon aus Art. 20 Abs. 3 GG folgt, vor allem ihre sachliche Unabhängigkeit, die sich primär in der Unzulässigkeit von Weisungen realisiert.1372 Als ein konstitutives Merkmal der rechtsprechenden Gewalt ist es eben diese sachliche Unabhängigkeit, die den Richter von dem Beamten oder den Soldaten unterscheidet, die grundsätzlich den Weisungen resp. Befehlen ihrer Dienstvorgesetzten unterliegen und ihnen Folge zu leisten haben.1373 Das Privileg der sachlichen Unabhängigkeit bedingt allerdings auch eine striktere Gesetzesbindung des Richters, als die in Art. 20 Abs. 3 GG vorgesehene. So heißt es in Art. 97 Abs. 1 nicht etwa „die Richter sind unabhängig und nur an die 1370
So auch Franke, in: Löwe/Rosenberg, vor § 333 Rn. 11. Rieß, in: FS Fezer, S. 458 f. 1372 Jarass/Pieroth, Grundgesetz, Art. 97 Rn. 3; Heusch, in: Schmidt-Bleibtreu, GG, Art. 97 Rn. 6. 1373 Heusch, in: Schmidt-Bleibtreu, GG, Art. 97 Rn. 6. Vgl. etwa § 62 BBG für Bundesbeamte bzw. § 35 BeamtStG für unmittelbare und mittelbare Landesbeamte. Für Soldaten vgl. § 11 SG für die Gehorsamspflicht. 1371
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3. Kap.: Die höchstrichterliche Erweiterung der Revision auf Tatfragen
Gesetze gebunden“, sondern wesentlich gehaltvoller „Die Richter sind unabhängig und nur den Gesetzen unterworfen“. Auch nimmt Art. 97 Abs. 1 GG anders als Art. 20 Abs. 3 GG nicht bloß die rechtsprechende Gewalt als abstraktes Gebilde („die Rechtsprechung“), sondern jeden einzelnen Richter („Die Richter“) in die Pflicht.1374 Darin gleicht er Art. 92 Halbsatz 1 GG, der ebenfalls nicht bloß an „die Rechtsprechung“ oder „die rechtsprechende Gewalt“ gerichtet ist, sondern „die Richter“ als natürliche Personen in die Pflicht nimmt. Der Bruch mit dem sonst oftmals nüchternen Sprachstil des Grundgesetzes hört im Falle der rechtsprechenden Gewalt dabei nicht bei der persönlichen Anrede der Richter auf; so sind die Formulierungen zur Beschreibung der richterlichen Kompetenzen und Pflichten im IX. Abschnitt generell besonders gehaltvoll geraten. Beispielhaft heißt es in Art. 92 Halbsatz 1 GG auch nicht bloß, dass die rechtsprechende Gewalt durch Richter ausgeübt wird, sondern dass sie den Richtern anvertraut ist. Diese Formulierungen als bloße redaktionelle Launen des Verfassungsgesetzgebers abzutun, würde ihrem wahren Kern nicht gerecht werden. Sie stellen vielmehr eine Konsequenz der besonderen Stellung der rechtsprechenden Gewalt innerhalb des staatlichen Gefüges der Bundesrepublik Deutschland dar. So folgt aus der richterlichen Unabhängigkeit nicht nur die Freistellung der Richter von Weisungen und Einflussnahmen der Exekutive, sie bedingt zugleich auch ihre weitestgehende Freistellung von der parlamentarischen Kontrolle als eines der Kernelemente der repräsentativen Demokratie.1375 Gerade weil Richter in ihrer rechtsprechenden Tätigkeit keinen Weisungen unterliegen, ist es keinem deutschen Parlament möglich, für konkrete Akte der Rechtsprechung einen Regierungschef oder, sofern ihre parlamentarische Verantwortlichkeit gesetzlich vorgesehen ist, einen zuständigen Fachminister – bei dem es sich nicht zwingend um den Justizminister handeln muss1376 – zur Verantwortung zu ziehen.1377 Für eine unmittelbare parlamentarische Kontrolle der rechtsprechenden Gewalt bleibt ebenfalls aufgrund des Gewaltentei1374
Ähnl. Heusch, in: Schmidt-Bleibtreu, GG, Art. 97 Rn. 35. Jachmann, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 95 Rn. 15. 1376 Gerichte und damit auch die Richter sind zwar meistens dem Geschäftsbereich des zuständigen Justizministeriums zugeordnet, doch ist dies keinesfalls zwingend. So etwa ist beim Bund das Bundesarbeitsgericht und das Bundessozialgericht dem Bundesministerium für Arbeit und Soziales (§ 40 Abs. 2 ArbGG, § 38 Abs. 3 SGG) und die Truppendienstgerichte dem Bundesministerium für Verteidigung (§ 69 Abs. 4 WDO) zugeordnet. Auf Landesebene sind etwa in Bayern die Verwaltungsgerichte der mittelbaren Dienstaufsicht des Staatsministeriums des Innern, für Sport und Integration (Art. 4 BayAGVwGO) und die Finanzgerichte der Dienstaufsicht des Staatsministeriums der Finanzen und für Heimat (Art. 3 BayAGFGO) unterstellt. Die Sozialgerichte und Arbeitsgerichte in Bayern dagegen unterliegen der allgemeinen Dienstaufsicht des Staatsministeriums für Familie, Arbeit und Soziales (§ 1 Abs. 1 der bayerischen Verordnung über die Führung der Dienstaufsicht über die Gerichte der Sozialgerichtsbarkeit und über die Festsetzung der Zahl und die Berufung, § 1 BayArbGDAV). 1377 Ähnl. auch Meyer, in: Scheider et al. (Hrsg.), Parlamentsrecht und Parlamentspraxis, S. 145 Rn. 72; allgemein und ausführlich zur parlamentarischen und politischen Kontrolle vgl. a. a. O, S. 143 ff. 1375
C. Kritik an der höchstrichterlichen Erweiterung der Revision
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lungsprinzips und der Unabhängigkeit der Richter dort kein Raum, wo Gerichte originäre Rechtsprechungsaufgaben wahrnehmen.1378 Daraus folgt ein demokratisches Legitimationsdefizit der rechtsprechenden Gewalt, die ihre Legitimation im Wesentlichen nur auf den Berufungsakt der Richter zurückführen kann (die sog. Anfangslegitimation); insbesondere ist die Legitimation der rechtsprechenden Gewalt aber einer Aktualisierung durch die – der demokratischen Legitimation entgegenlaufende – parlamentarische Kontrolle nicht mehr zugänglich.1379 Das daraus folgende demokratische Kontrolldefizit des Parlaments gegenüber der rechtsprechenden Gewalt kann in einer repräsentativen Demokratie jedoch nur dann hingenommen werden, wenn die Richter bei ihrer Tätigkeit streng an die Gesetze des Parlaments gebunden sind.1380 Nur so wäre sichergestellt, dass die Akte der Rechtsprechung sich als eine Umsetzung des parlamentarischen Willens und nicht bloß als ein Ausdruck richterlicher Willkür darstellen.1381 Besonders deutlich heißt es hierzu bei Hillgruber: „Sagt sich der Richter vom Gesetz los und schöpft er in Selbstermächtigung eigenmächtig Regeln und Prinzipien, nach denen er judiziert, so verliert er seinen demokratischen Halt. Setzt er sich über den im Gesetz niedergelegten und maßgeblichen, normativen Willen des demokratischen Gesetzgebers hinweg, indem er eine gesetzlich nicht vorgesehene Rechtsfolge ausspricht, dann übt der Richter genau genommen nicht mehr das von ihm bekleidete und mit der Gesetzesbindung untrennbar verbundene, richterliche Amt aus, sondern handelt ultra vires, fällt – im wahrsten Sinne des Wortes – ,aus seiner Rolle‘ und äußert lediglich seine unmaßgebliche rechtspolitische Meinung.“1382
Angesichts dieser essentiellen Bedeutung der richterlichen Gesetzesunterworfenheit, die aufgrund des Demokratiedefizits der Rechtsprechung von sogar größerer Wichtigkeit ist als die Gesetzesbindung der Verwaltung – die ohnehin meist der richterlichen Kontrolle unterliegt –,1383 ist es nur konsequent, dass das Grundgesetz davon spricht, dass Richter den Gesetzen unterworfen sind. Gleichzeitig jedoch ist die rechtsprechende Gewalt den Richtern, trotz ihrer Gesetzesunterworfenheit, auch im Wortsinne anvertraut. Das Vertrauen des (Verfassungs-)Gesetzgebers in „seine“ Richter kommt nämlich gerade in der fehlenden demokratischen Kontrolle der rechtsprechenden Gewalt zum Ausdruck. So findet eine Kontrolle der Rechtsprechung ausschließlich im Rahmen des Instanzenzuges 1378 So im Grundsatz auch Meyer, in: Scheider et al. (Hrsg.), Parlamentsrecht und Parlamentspraxis, S. 145 Rn. 72. Zu der Möglichkeit der parlamentarischen Richteranklage vgl. Art. 98 Abs. 2 GG. 1379 Vgl. Heusch, in: Schmidt-Bleibtreu, GG, Art. 97 Rn. 35. 1380 Ähnl. Hillgruber, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 97 Rn. 25; vgl. hierzu auch, wenn auch i. E. nicht zustimmend, Rennert, JZ 2015, 529, 530. 1381 Hillgruber, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 97 Rn. 27; vgl. auch Kissel, NJW 1982, 1777, 1779. 1382 Hillgruber, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 97 Rn. 30. 1383 Vgl. hierzu auch Rennert, JZ 2015, 529, 531.
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3. Kap.: Die höchstrichterliche Erweiterung der Revision auf Tatfragen
und somit nur justizintern statt. Selbst die für die demokratische Legitimation der rechtsprechenden Gewalt so essentielle Frage, ob sie ihrer Gesetzesunterworfenheit hinreichende Beachtung geschenkt hat, kann nur im Rahmen eines (erneut justizinternen) Rechtsmittelverfahrens nachgeprüft werden. Bei den obersten Gerichtshöfen des Bundes, die das Recht durch ihre Entscheidungen nicht im unwesentlichen Maße formen und fortbilden, kommt mangels einer übergeordneten Instanz selbst diese Form der justizinternen Nachprüfung nicht in Betracht, sodass insofern ausschließlich auf eine Selbstbescheidung des Revisionsrichters (judicial self-restraint) vertraut werden muss.1384 2. Grenzen der richterlichen Rechtsfortbildung Trotz aller Gesetzesunterworfenheit der Richter ist die Aufgabe und die Befugnis der Richter zur schöpferischen Rechtsfindung unter Geltung des Grundgesetzes nie wirklich bestritten worden,1385 sodass allein dieser Aspekt keinesfalls einer höchstrichterlichen Erweiterung der Revision entgegensteht. Aus der Gesetzesunterworfenheit der Richter soll nach allgemeiner Übereinkunft nämlich kein Verbot der richterlichen Rechtsfortbildung folgen.1386 So haben die obersten Gerichtshöfe des Bundes von Anfang an – mit Billigung des Bundesverfassungsgerichts – für sich in Anspruch genommen, das Recht nicht nur auszulegen und anzuwenden, sondern auch fortzubilden.1387 Die einzelnen Prozessordnungen weisen den Großen Senaten der obersten Gerichtshöfe des Bundes die Aufgabe der Rechtsfortbildung sogar ausdrücklich zu.1388 Fraglich ist demnach allein, wo mit Rücksicht auf die strikte Gesetzesbindung der Rechtsprechung die Grenzen dieser Rechtsfortbildung als ein schöpferischer Akt der Rechtsfindung liegen.1389
1384
Foth, Anm. zu BVerfG, Beschluss vom 8. Mai 1991 , NStZ 1991, 444, 447. So BVerfGE 34, 269, 287. Dass die mangelnden Zweifel an dieser Befugnis jedoch keinesfalls gerechtfertigt waren, legt Hillgruber, JZ 2008, 745 ff., dar. 1386 Jarass/Pieroth, Grundgesetz, Art. 20 Rn. 65 f. 1387 BVerfGE 34, 269, 288 m. w. N. 1388 § 132 Abs. 4 GVG, § 11 Abs. 4 VwGO, §§ 11 Abs. 4 FGO, § 45 Abs. 4 ArbGG, § 41 Abs. 4 SGG. Bemerkenswert ist freilich, dass die Vorlage an den Großen Senat zur Rechtsfortbildung im Gerichtsverfassungsgesetz durch Art. 3 des Gesetzes zur Änderung von Vorschriften des Strafverfahrens und des Gerichtsverfassungsgesetzes vom 28. Juni 1935 (RGBl. I 1935, 844) eingeführt wurde. Mit dem Gesetz wurde das Strafverfahrensrecht in vielen Punkten der NS-Ideologie angepasst. So etwa erlaubte es die Rechtsschöpfung durch analoge Anwendung von Strafvorschriften, die Wahlfeststellung zur Verhütung „ungerechter“ Freisprüche, massive Einschränkungen der Beweisantragsrechte der Verteidigung, Verfahren gegen Abwesende oder eine reformatio in peius im Rechtsmittelverfahren. Die Einführung der Grundsatzvorlage an den Großen Senat zur Rechtsfortbildung, insbesondere in ihrer heutigen gerichtsverfassungsrechtlichen Ausgestaltung, stellt jedoch kein NS-spezifisches Unrecht dar, vgl. Kempf/Schilling, NJW 2012, 1849, 1851. 1389 So auch BVerfGE 34, 269, 288. 1385
C. Kritik an der höchstrichterlichen Erweiterung der Revision
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Hierbei handelt es sich um eine grundlegende und viel diskutierte Frage,1390 mit der sich auch das Bundesverfassungsgericht wiederholt befasst hat, ohne sie jedoch bislang eindeutig oder abschließend beantwortet zu haben.1391 Auch im Rahmen der vorliegenden Schrift ist es weder möglich noch sinnvoll auf alle Facetten der richterlichen Rechtsfortbildung einzugehen, sodass sich die nachfolgenden Ausführungen vielmehr auf eine bündige Darstellung der verfassungsrechtlichen Grenzen richterlichen Rechtsfortbildung beschränken, die erlaubt, im Folgenden nachzuprüfen, ob es sich bei der höchstrichterlichen Erweiterung der Revision noch um eine Form der zulässigen Rechtsfortbildung handelt. a) Der Begriff der richterlichen Rechtsfortbildung Die richterliche Rechtsfortbildung ist grundsätzlich von der bloßen Rechtsauslegung zu unterscheiden.1392 Methodologisch betrachtet, beginnt die Rechtsfortbildung nämlich erst dort, wo die Rechtsauslegung endet.1393 Denn der Rechtsauslegung bedarf es stets, wenn der Richter zur Rechtsanwendung aufgefordert ist – nur so kann er bestimmen, welchen Inhalt der in Frage kommende gesetzliche Tatbestand hat und diesen gegebenenfalls auf den konkreten Sachverhalt anwenden.1394 Lediglich wenn der konkrete Lebenssachverhalt von keiner Rechtsnorm erfasst wird, kann es aufgrund des sog. Rechtsverweigerungsverbots notwendig werden, diese normative Lücke im Wege der Rechtsfortbildung auszufüllen.1395 Aufgrund des ihr innewohnenden schöpferischen Elements geht die Rechtsfortbildung dabei deutlich weiter als die bloße Rechtsauslegung, die sich vor allem am aktuellen Normbestand orientiert.1396 Dabei kommt eine Rechtsfortbildung nach verfassungsrechtlicher Rechtsprechung dann in Betracht, wenn das geltende Recht planwidrige Lücken aufweist.1397 Das Bundesverfassungsgericht betonte insoweit in der Vergangenheit noch, dass die Auslegung [sic!] einer Gesetzesnorm nicht auf Dauer bei dem ihr zu ihrer Entstehungszeit beigelegten Sinn stehen bleiben kann; vielmehr sei auch zu berücksichtigen, welche vernünftige Funktion der Norm im Kontext der aktuellen sozialen
1390 Vergleiche nur Wiedemann, NJW 2014, 2407 ff.; Kempf/Schilling, NJW 2012, 1849 ff.; Rüthers, NJW 2011, 1856 ff.; Rüthers, NJW 2005, 2759 ff.; Globke, GA 2010, 399 ff.; Möllers, JZ 2009, 668 ff.; Hillgruber, JZ 2008, 745 ff.; Hillgruber, JZ 1996, 118 ff. 1391 Vgl. nur BVerfGE 34, 269, 287 f., mit zahlreichen Nachweisen auf die vorherige verfassungsrechtliche Rechtsprechung. Zur Widersprüchlichkeit der verfassungsrechtlichen Rechtsprechung, Hillgruber, JZ 2008, 745, 746. 1392 Wiedemann, NJW 2014, 2407, 2407. 1393 So Jachmann, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 95 Rn. 14. 1394 Jachmann, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 95 Rn. 14. 1395 Jachmann, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 95 Rn. 13 f. m. w. N. 1396 Wiedemann, NJW 2014, 2407, 2407 f. 1397 BVerfGE 34, 269, 287 f.; 69, 315, 371; 98, 49, 59; 108, 150, 160.
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3. Kap.: Die höchstrichterliche Erweiterung der Revision auf Tatfragen
Verhältnisse und der gesellschaftlich-politischen Anschauungen zukomme.1398 Dies gelte vor allem dann, wenn sich in der Zeit zwischen der Entstehung des Gesetzes und seiner aktuellen Anwendung die Lebensverhältnisse und Rechtsanschauungen tiefgreifend verändert hätten.1399 In einem solchen Fall dürfe sich der Richter einem möglichen Konflikt zwischen dem geschriebenen Recht und den materiellen Gerechtigkeitsvorstellungen einer gewandelten Gesellschaft nicht mit dem Hinweis auf den unverändert gebliebenen Gesetzeswortlaut entziehen (Rechtsverweigerungsverbot); er sei vielmehr zu freierer Handhabung der Rechtsnormen aufgerufen, wenn er seine Aufgabe, Recht zu sprechen, nicht verfehlen wolle.1400 Demnach könne der ursprüngliche Wille des parlamentarischen Gesetzgebers umso mehr an Bedeutung verlieren, je älter das Gesetz sei und je weiter sich die gesellschaftlichen Vorstellungen der Gegenwart von den Vorstellungen zum Zeitpunkt der Gesetzgebung weiterentwickelt hätten.1401 Eben diese Grundsätze zur richterlichen Rechtsfortbildung könnten, vor allem mit Blick auf das Alter und den Entstehungskontext der strafprozessualen Revisionsvorschriften, eine Grundlage für die höchstrichterliche Erweiterung der Revision dargestellt haben, auch wenn der Bundesgerichtshof in diesem Zusammenhang soweit ersichtlich noch nie von einer Rechtsfortbildung gesprochen hat. Doch selbst in Anbetracht dieser von dem Bundesverfassungsgericht aufgestellten Grundsätze bleibt es eine schwierige Aufgabe, die Grenzen zwischen zulässiger Rechtsfortbildung und unzulässiger richterlicher Rechtsschöpfung, also einer Rechtsfortbildung contra legem, zu bestimmen.1402 So räumt auch das Bundesverfassungsgericht ein, dass es nicht möglich ist, die Grenzen der Rechtsfortbildung in einer Formel zu erfassen, die für alle Rechtsgebiete und für alle von ihnen geschaffenen oder beherrschten Lebensverhältnisse gleichermaßen gültig ist.1403 Darauf deutet auch die teilweise widersprüchliche Verfassungsgerichtsrechtsprechung, auf die noch einzugehen sein wird. b) Gefahren einer richterlichen Rechtsfortbildung contra legem Obwohl eine richterliche Rechtsfortbildung contra legem nach dem bisher Dargelegten grundsätzlich nicht gestattet ist, haben sich oberste Gerichtshöfe des Bundes nicht immer davon abhalten lassen, auf diesem Wege gesetzeskorrigierendes Richterrecht zu schaffen. Eine solche ersatzgesetzgeberische Tätigkeit der Gerichte ist dabei nicht nur verfassungsrechtlich, sondern auch gesetzgebungspolitisch nicht 1398
BVerfGE 34, 269, 288. BVerfGE 34, 269, 288 f.; 98, 49, 59 f. 1400 BVerfGE 34, 269, 289. 1401 Wiederholt werden diese Grundsätze in BVerfGE 96, 735, 394 und BVerfG NJW 2006, 3409, 3409. 1402 Vgl. nur Kempf/Schilling, NJW 2012, 1849, 1851. 1403 BVerfGE 34, 269, 287. 1399
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unproblematisch. Gerade in den Fällen, in denen bereits die Gerichte (vermeintlich) mangelhaften Parlamentsgesetzen im Wege einer gesetzeskorrigierenden Rechtsfortbildung abhelfen, wird dem Gesetzgeber jegliche Motivation genommen, diese Gesetze auch tatsächlich auszubessern. Infolgedessen können das positive Recht und das tatsächlich angewandte (Richter-)Recht so weit auseinander divergieren, dass die betreffende Rechtsmaterie selbst für professionelle Rechtsanwender aus den ihr zugrunde liegenden Normen nicht mehr begreiflich ist.1404 Ein insoweit bemerkenswertes Beispiel aus dem Bereich des Strafverfahrensrechts ist sicherlich die Rechtsprechung des Großen Senats für Strafsachen zu der rügeverkümmernden Protokollberichtigung in Strafsachen.1405 Vor allem Bezug nehmend auf die – sich im Wesentlichen lediglich auf die Revisionsliteratur stützende, im Übrigen aber unsubstantiierte – Behauptung eines veränderten anwaltlichen Berufsethos schaffte der Große Strafsenat eine Möglichkeit der jederzeitigen Protokollberichtigung, ohne dass die Strafprozessordnung eine Vorschrift enthielte, die eine solche nachträgliche Berichtigung des Hauptverhandlungsprotokolls rechtfertigte.1406 Wie selbstsicher die Gerichte bei einer solchen richterlichen Gesetzeskorrektur zuweilen vorgehen, wird durch die Entscheidungsgründe des Beschlusses belegt – sie offenbaren nämlich, dass die Gründe, die hier gegen eine Rechtsfortbildung sprachen, sich dem Großen Strafsenats aufgedrängt haben müssten, sodass der Eindruck entsteht, dass er sich insoweit dazu entschlossen hat, diese Aspekte schlicht zu ignorieren. So heißt es bereits in den Motiven zur Strafprozessordnung zu der Möglichkeit einer Protokollberichtigung: „Indem dieselbe1407 ausspricht, daß ,Mängel der Hauptverhandlung‘ nur durch das Sitzungsprotokoll bewiesen werden können, wird sowohl hinsichtlich der Thatsache, daß gewisse Förmlichkeiten beobachtet seien, als auch hinsichtlich der Thatsache, daß gewisse Förmlichkeiten nicht beobachtet oder verletzt seien, jeder andere Beweis für unstatthaft erklärt. […] Erfahrungsgemäß kann […] die amtseidliche Erklärung der Gerichtsmitglieder, welche in der Hauptverhandlung mitgewirkt haben, als ein geeignetes Mittel zur nachträglichen Feststellung des Hergangs in der Hauptverhandlung nicht anerkannt werden. Die Gerichtsmitglieder werden selten in der Lage sein, über Vorgänge, welche ihrer Auf1404
Vgl. Franke, in: Löwe/Rosenberg, vor § 333 Rn. 11. BGHSt (GSSt) 51, 298. 1406 Ähnl. Schünemann, StV 2010, 538, 540; in dieselbe Richtung auch die Stellungnahme des Obereichsanwalts in RGSt (VSt) 43, 1, 2. Vgl. auch RGSt (VSt) 43, 1, 8 f. 1407 Gemeint ist die Vorschrift des § 314 des Entwurfs, der wörtlich lautete: „Mängel der Hauptverhandlung erster Instanz, welche als Revisionsgründe geltend gemacht sind, können nicht anders als durch den Inhalt des Sitzungsprotokolls bewiesen werden. Gegen den die Förmlichkeiten betreffenden Inhalt des Protokolls ist nur der Nachweis der Fälschung zulässig“. Die Anpassung der Vorschrift an den heutigen Wortlaut erfolgte lediglich aus redaktionellen Gründen, vgl. Protokolle der Kommission, in: Hahn (Hrsg.), Materialien zur StPO, Bd. III/2, S. 1039, 1231, 1394, 1426, 1907, 2110. 1405
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merksamkeit in der Hauptverhandlung entgangen sind, nachträglich ein bestimmtes Zeugniß abzugeben; ihre Aussagen würden daher nur dazu dienen, unberechtigte Zweifel an der Zuverlässigkeit des Sitzungsprotokolls zu erwecken. [Hervorh. d. Verf.]“1408
Nach dem Willen des Gesetzgebers sollte es den Mitgliedern des Tatgerichts also schon nicht erlaubt sein, in der Revisionsverhandlung amtseidlich oder im Wege einer Zeugenaussage darzulegen, dass sich ein Ereignis in der Hauptverhandlung anders zugetragen hatte, als es aus dem Protokoll hervorgeht. Daraus folgt aber, dass es erst recht nicht seinem Willen entsprochen haben dürfte, dem Tatrichter zu gestatten, die absolute Beweiskraft des Sitzungsprotokolls durch seine schlichte Berichtigung außerhalb eines formellen Verfahrens vollständig zu umgehen.1409 Ungeachtet dessen kommt der Großen Strafsenat zu dem bemerkenswerten Schluss, dass den Gesetzesmaterialien zur Strafprozessordnung keine (!) eindeutigen Hinweise zur Frage der nachträglichen Protokollberichtigung zu entnehmen wären.1410 Im deutlichen Widerspruch zu dem Wortlaut der Motive heißt es in dem Beschluss des Großen Strafsenats sogar: „Den Gesetzesmaterialien zur Strafprozessordnung im Zusammenhang mit einer Protokollberichtigung entnimmt der Große Senat nicht, dass der Gesetzgeber selbst dann jeden Zweifel an der Richtigkeit des – ursprünglichen – Protokollinhalts für unberechtigt hielt, sollte eine Protokollberichtigung aufgrund sicherer Erinnerung der Urkundspersonen erfolgen.“1411
Dabei ging der historische Gesetzgeber ganz offensichtlich davon aus, dass die Mitglieder des Tatgerichts in aller Regel nicht in der Lage sein würden, sich sicher an die Ereignisse der Hauptverhandlung zu erinnern, und hat deshalb eine gesetzliche Beweisregel – nämlich die absolute Beweiskraft des Protokolls – eingeführt, wonach wesentliche Ereignisse in der Hauptverhandlung ausschließlich durch das Protokoll bewiesen werden können. Diese Entscheidung des historischen Gesetzgebers wurde sogar durch den nachkonstitutionellen Gesetzgeber bestätigt. Im Jahre 1974 hat er nämlich in § 164 ZPO die Möglichkeit einer Protokollberichtigung ausdrücklich normiert;1412 zugleich hat er in allen übrigen Verfahrensordnungen mit Ausnahme der Strafprozessordnung (!) einen Verweis auf diese Vorschrift eingefügt.1413 Der bewusste Ausschluss der Strafprozessordnung von dieser Reform muss als ein deutliches Indiz dafür betrachtet werden, dass der Gesetzgeber eine Protokollberichtigung von diesem Umfang im Bereich des Strafverfahrens nicht wünschte. Auch insoweit bemerkte der Große Strafsenat in seinem Beschluss zwar, dass der Ge1408
Motive zur StPO, in: Hahn (Hrsg.), Materialien zur StPO, Bd. III/1, S. 257 f. Ähnl. schon RGSt (VSt) 43, 1, 5 f. 1410 BGHSt (GSSt) 51, 298, 302. 1411 BGHSt (GSSt) 51, 298, 303. 1412 Art. 1, 3 Nr. 1, 4 Nr. 1, 5 Nr. 1 des Gesetzes zur Entlastung der Landgerichte und zur Vereinfachung des gerichtlichen Protokolls vom 20. Dezember 1974, BGBl. I 1974/141, 3651. 1413 Vgl. § 105 VwGO; § 94 FGO; § 122 SGG; § 77 Abs. 2 Satz 2 MarkenG; § 92 Abs. 2 Satz 2 PatG. 1409
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setzgeber 1974 die Vorschriften betreffend das Protokoll in den Strafsachen unangetastet ließ, nahm jedoch zu den möglichen Implikationen dieser gesetzgeberischen Omission keine Stellung.1414 Zu Recht erfuhr die Entscheidung des Großen Senats für Strafsachen in der Literatur vielfache Kritik.1415 Denn selbst wenn die von dem Großen Senat für Strafsachen aufgezeigten Missstände tatsächlich zutreffend gewesen sein sollten, ist angesichts der hier bereits aufgezeigten Grenzen der zulässigen Rechtsfortbildung davon auszugehen, dass es an dem parlamentarischen Gesetzgeber und nicht an dem Bundesgerichtshof gewesen wäre, insoweit Abhilfe zu schaffen.1416 Zumal aufgrund der klaren und abschließenden Regelung in der Strafprozessordnung keine planwidrige Regelungslücke in Bezug auf das strafgerichtliche Protokoll vorlag, der im Wege einer lückenfüllenden Rechtsfortbildung hätte abgeholfen werden müssen.1417 Diese Umstände wurden auch von dem Bundesverfassungsgericht verkannt, als es in der vorliegenden Sache mit einer Mehrheit von fünf gegen drei Stimmen einen Verfassungsverstoß durch den Großen Strafsenat verneinte.1418 Dabei zeigen Beispiele auch aus der jüngeren Geschichte der Strafrechtsprechung, dass gerade eine richterliche Zurückhaltung den Gesetzgeber dazu bewegen kann, das positive Recht durchaus zügig an die Bedürfnisse der Praxis anzupassen. Ein solches Beispiel bildet etwa der neue § 81 Abs. 2 Satz 2 StPO, der erst durch das Gesetz zur effektiveren und praxistauglicheren Ausgestaltung des Strafverfahrens vom 17. 08. 20171419 in die Strafprozessordnung eingefügt wurde. Die Vorschrift erlaubt eine Blutentnahme bei bestimmten Verkehrsdelikten nunmehr auch ohne eine entsprechende richterliche Anordnung. Notwendig wurde die gesetzgeberische Anpassung der Vorschrift erst aufgrund der relativ konsequenten Handhabung des Richtervorbehalts in § 81a StPO durch die Rechtsprechung, nachdem das Bundesverfassungsgericht die vorherige Praxis, bei Blutentnahmen generell von einer Gefahr im Verzug auszugehen, moniert hatte.1420 Ein weiteres Beispiel aus der jüngeren Gesetzgebungsgeschichte – wenn auch aus dem Bereich des materiellen Strafrechts – bildet § 1631d BGB, der durch das Gesetz über den Umfang der Personensorge bei einer Beschneidung des männlichen Kindes vom 20. Dezember
1414
BGHSt (GSSt) 51, 298, 303 f. Vgl. Beulke, Strafprozessrecht, Rn. 564; Hamm, Die Revision in Strafsachen, Rn. 295 ff.; Kühne, Strafprozessrecht, Rn. 976.1; Roxin/Schünemann, Strafverfahrensrecht, § 51 Rn. 10 ff.; Schünemann, StV 2010, 538, 538 f.; im Übrigen Stuckenberg, in: Löwe/Rosenberg, § 271 Rn. 63 m. w. N. 1416 So auch Stuckenberg, in: Löwe/Rosenberg, § 271 Rn. 63; Schünemann, StV 2010, 538, 544. 1417 So auch Roxin/Schünemann, Strafverfahrensrecht, § 51 Rn. 11. 1418 Im Sinne des Vefassers auch die abweichende Meinung der Richter Voßkuhle, Osterloh und Di Fabio in derselben Sache, BVerfGE 122, 248, 282 ff. 1419 BGBl. I 2017/58, 3202. 1420 BVerfG NJW 2007, 1345 f. 1415
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20121421 in das Bürgerliche Gesetzbuch eingefügt wurde. Auch diese Vorschrift wurde erst geschaffen, nachdem das Landgericht Köln in einem vielbeachteten Berufungsurteil vom 7. Mai 2012 entschieden hatte, dass auch die durch einen Arzt erfolgende, religiös motivierte Beschneidung eines nicht einwilligungsfähigen Kleinkindes auf Wunsch der Eltern nicht aufgrund ihrer „Sozialadäquanz“ aus dem Tatbestand der Körperverletzung gem. § 223 Abs. 1 StGB herausfalle.1422 Auch hier reagierte der Gesetzgeber innerhalb von wenigen Monaten und machte den Weg für eine Knabenbeschneidung frei. Ähnliche Beispiele finden sich auch in der Rechtsprechung des Reichsgerichts. Nachdem sich etwa das Reichsgericht in seinem Urteil vom 1. Mai 1899 geweigert hatte, Elektrizität als eine Sache im Sinne des Diebstahlsparagrafen anzuerkennen,1423 reagierte der Gesetzgeber innerhalb nur eines Jahres und führte mit dem Gesetz betreffend die Bestrafung der Entziehung elektrischer Arbeit vom 9. April 19001424 eine entsprechende Strafbarkeit ein (heute § 248c StGB). Dabei hätte das Reichsgericht ebenso den strafrechtlichen Sachbegriff, der keinesfalls stets mit dem zivilrechtlichen übereinstimmen muss,1425 auch auf die Elektrizität ausweiten können, freilich mit der nachteiligen Folge, dass dem Wortlaut des Strafgesetzbuchs der Unrechtsgehalt der Entziehung elektrischer Energie nicht ohne Weiteres ersichtlich gewesen wäre. In ähnlicher Weise hatte sich das Reichsgericht in seinem Urteil vom 18. Dezember 1933 geweigert, in der Benutzung eines Münzfernsprechers durch das Einwerfen einer geringwertigeren als der vorgeschriebenen Münze einen Betrug zu erblicken, weil es an der Täuschung einer Person ermangelte.1426 Auch hier reagierte der Gesetzgeber vergleichsweise zeitnah und führte mit dem Gesetz zur Änderung des Strafgesetzbuchs vom 28. Juni 19351427 § 265a StGB ein, der die Strafbarkeit des Automatenmissbrauchs und Erschleichen freien Eintritts (heute Erschleichen von Leistungen) normierte. Auch diese Entwicklung wäre wohl niemals eingetreten, 1421
BGBl. I 2012/61, 2749. LG Köln, Urteil vom 07. Mai 2012 – 151 Ns 169/11. 1423 RGSt 32, 165. 1424 RGBl. 1900, 228. 1425 Prominentestes Beispiel für eine abweichende Auslegung von identischen Rechtsbegriffen in Straf- und Zivilrecht ist sicherlich der Begriff des Tieres – nach der herrschenden Auffassung stellen Tiere nämlich auch ohne einen Rückgriff auf § 90a BGB Sachen i. S. d. Strafrechts dar, vgl. insofern nur Zopfs/Küper, Strafrecht BT, Rn. 432, mit zahlreichen weiteren Nachweisen. Für diese Ansicht streitet sehr überzeugend bereits die Tatsache, dass die besagte Vorschrift erst durch das Gesetz zur Verbesserung der Rechtsstellung des Tieres im bürgerlichen Recht vom 20. 8. 1990 in das BGB eingeführt worden ist, BGBl. I 1990/43, 1762. Der Diebstahl von Tieren etwa war jedoch freilich auch schon zuvor strafbar, ohne dass hierin ein Verstoß gegen das Analogieverbot erblickt wurde. Bestätigt wird die Auffassung, dass es sich bei Tieren auch ohne einen Rückgriff auf § 90a BGB um Sachen im Sinne des Strafrechts handelt, auch durch den Wortlaut des § 324a Abs. 1 Nr. 1 StGB, in dem es heißt: „Tiere, Pflanzen oder andere Sachen“. 1426 RGSt 68, 65. 1427 RGBl. I 1935, 839. 1422
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wenn das Reichsgericht den Täuschungsbegriff ähnlich weit ausgelegt hätte, wie der Bundesgerichtshof heute den Schadensbegriff im Strafgesetzbuch auszulegen neigt.1428 c) Die verfassungsrechtlichen Grenzen der richterlichen Rechtsfortbildung Insbesondere auch mit Blick auf diese Gefahr einer Auseinanderentwicklung des geschriebenen „Gesetzes-Rechts“ und des tatsächlich angewandten „Richterrechts“ stellt sich die Frage, wo die Grenzen einer zulässigen Rechtsfortbildung zu ziehen sind. Eine erste zusammenfassende Darstellung der bisherigen Verfassungsrechtsprechung zu dieser Frage enthält ausgerechnet die abweichende Meinung der Richter Voßkuhle, Osterloh und Di Fabio zu dem bereits oben zitierten Rügeverkümmerungsbeschluss des Bundesverfassungsgerichts vom 15. Januar 2009.1429 So beginnen die Dissidenten ihr abweichendes Votum mit dem unmissverständlichen Satz: „Der Senat verkennt die verfassungsrechtlichen Grenzen richterlicher Rechtsfindung“.1430 Im Folgenden fassen sie die ständige verfassungsgerichtliche Rechtsprechung bis zu jenem Zeitpunkt dahingehend zusammen, dass es den Fachgerichten aufgrund des Gewaltenteilungsgrundsatzes und des Demokratieprinzips nicht gestattet sei, sich aus der Rolle des Normanwenders in die Rolle einer normsetzenden Instanz zu begeben und sich so ihrer Bindung an Gesetz und Recht zu entziehen.1431 Daraus folge, dass eine richterliche Rechtsfortbildung, die den klaren Wortlaut des Gesetzes hintanstellt, ihren Widerhall im Gesetz nicht findet und von dem Gesetzgeber nicht ausdrücklich oder stillschweigend gebilligt wird, nicht zulässig ist, da sie in unstatthafter Weise in die Kompetenzen des demokratisch legitimierten Gesetzgebers eingreift.1432 Diese in dieser Deutlichkeit erstmalig in dem Minderheitenvotum zusammengetragenen Grenzen der richterlichen Rechtsfortbildung wurden alsbald durch den ersten Senat des Bundesverfassungsgerichts bestätigt,1433 der in seinem Beschluss vom 25. Januar 2011 zwar die Befugnis der Richter zur Rechtsfortentwicklung 1428 Vgl. zu dieser viel diskutierten Problematik nur Jahn, Anm. zu BVerfG, Beschluss vom 8. Dezember 2011 , JuS 2012, 266, 268. 1429 BVerfGE 122, 248, 282 ff. 1430 BVerfGE 122, 248, 282. 1431 BVerfGE 122, 248, 282 m. w. N.; so nunmehr auch BVerfGE 128, 193, 210; vgl. auch schon BVerfGE 96, 375, 394; 113, 88, 103 f.; 109, 190, 252 (Minderheitsvotum), sowie Jachmann, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 95 Rn. 16. 1432 BVerfGE 122, 248, 283; so nunmehr auch BVerfG, Nichtannahmebeschluss vom 19. Mai 2015 – 2 BvR 1170/14, Rn. 51; Nichtannahmebeschluss vom 16. Februar 2012 – 1 BvR 127/10, Rn. 23; BVerfG, Nichtannahmebeschluss vom 04. April 2011 – 1 BvR 1803/08, Rn. 15; BVerfG NJW-RR 2014, 105, 106; BVerfGE 132, 99, 128; 128, 193, 210; aber auch schon 118, 212, 243. 1433 So auch Rüthers, NJW 2011, 1856, 1857.
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grundsätzlich weiterhin anerkennt, aber dennoch – in ähnlicher Deutlichkeit wie die Dissidenten in dem Beschluss vom 15. Januar 2009 – ausführt, wo ihre Grenzen liegen: „Der Aufgabe und Befugnis zur ,schöpferischen Rechtsfindung und Rechtsfortbildung‘ sind mit Rücksicht auf den aus Gründen der Rechtsstaatlichkeit unverzichtbaren Grundsatz der Gesetzesbindung der Rechtsprechung jedoch Grenzen gesetzt. Der Richter darf sich nicht dem vom Gesetzgeber festgelegten Sinn und Zweck des Gesetzes entziehen. Er muss die gesetzgeberische Grundentscheidung respektieren und den Willen des Gesetzgebers unter gewandelten Bedingungen möglichst zuverlässig zur Geltung bringen. Er hat hierbei den anerkannten Methoden der Gesetzesauslegung zu folgen. Eine Interpretation, die als richterliche Rechtsfortbildung den klaren Wortlaut des Gesetzes hintanstellt, keinen Widerhall im Gesetz findet und vom Gesetzgeber nicht ausdrücklich oder – bei Vorliegen einer erkennbar planwidrigen Gesetzeslücke – stillschweigend gebilligt wird, greift unzulässig in die Kompetenzen des demokratisch legitimierten Gesetzgebers ein.“1434
Auch jüngeren Entscheidungen beider Senate des Bundesverfassungsgerichts ist dieser Passus wiederholt zu entnehmen.1435 Demnach stellen die durch Voßkuhle, Osterloh und Di Fabio in ihrem Minderheitenvotum zusammengetragenen Grundsätze zur Rechtsfortbildung nicht bloß eine zu vernachlässigende abweichende Meinung dar, wie manch einer überschnell annehmen könnte, sondern deuten den Wandel zu einer neuen ständigen Verfassungsrechtsprechung an, der sich nunmehr vollzogen zu haben scheint. Im Ergebnis folgt aus der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, dass es den Gerichten – jedenfalls künftig – nicht gestattet ist, im Wege der richterlichen Rechtsfortbildung das gesetzgeberische Ziel einer Norm in einem wesentlichen Punkt zu missachten, zu verfälschen oder eine eigene, also richterliche Regelungskonzeption an die Stelle der des Gesetzgebers treten zu lassen.1436 Mit anderen Worten: Es ist dem Richter verboten, seine eigenen materiellen Gerechtigkeitsvorstellungen im Wege einer vermeintlichen Rechtsfortbildung an die Stelle derjenigen des Gesetzgebers zu setzen1437 oder ein Konzept des Gesetzgebers durch ein eigenes Modell zu ersetzen, das er für sinnvoller oder effizienter hält.1438 Insbesondere ist es dem Richter nicht gestattet, sich dem von dem Gesetzgeber festgelegten Sinn und Zweck eines Gesetzes zu entziehen.1439 Selbst wenn der Gesetzgeber – wie etwa im Falle der Revisionsvorschriften – nach Erlass der Norm untätig geblieben ist, dürfen die Gerichte allein aus diesem Umstand nicht schließen, dass eine bestimmte oder 1434
BVerfGE 128, 193, 210. Vgl. nur BVerfG, Nichtannahmebeschluss vom 19. Mai 2015 – 2 BvR 1170/14, Rn. 51; so aber auch schon BVerfG NJW-RR 2014, 105, 106; BVerfG, Nichtannahmebeschluss vom 16. Februar 2012 – 1 BvR 127/10, Rn. 23; BVerfG, Nichtannahmebeschluss vom 04. April 2011 – 1 BvR 1803/08, Rn. 15; BVerfGE 128, 193, 210; 118, 212, 243. 1436 BVerfGE 122, 248, 283. 1437 BVerfGE 128, 193, 210. 1438 BVerfGE 128, 193, 211. 1439 BVerfGE 128, 193, 210. 1435
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gerade die aktuelle Normanwendungspraxis der Gerichte die Billigung des Gesetzgebers findet.1440 Könnten sich Richter nämlich in allen Fällen, in denen der Gesetzgeber nicht handelt, über eine eindeutige gesetzgeberische Entscheidung hinwegsetzen, hätte dies eine nachhaltige Beeinträchtigung des Demokratieprinzips und des verfassungsrechtlich vorgesehenen Funktionsgefüges im Staat zur Folge.1441 So widerspräche es bereits der Idee der Gewaltenteilung, wenn Gerichte den Gesetzgeber durch ihre Rechtsprechung in eine reaktive Rolle drängen könnten, die ihn zwingt, Richterrecht, das seinem Willen widerspricht, durch Parlamentsgesetze zu korrigieren.1442 Wie nämlich bereits aus dem rechtsstaatlichen Grundsatz vom Vorrang des Gesetzes folgt, sind es die Gerichte, die dazu verpflichtet sind, sich den klar erkennbaren Regelungskonzepten des Gesetzgebers zu beugen und jene Grenzen einzuhalten, die in den Normen des parlamentarischen Gesetzgebers zum Ausdruck kommen.1443 Auch in den Fällen, in denen sich ein anderes Regelungskonzept als zweckmäßiger oder sachgerechter darstellt als das gesetzgeberische Modell, bleibt somit allein der demokratisch legitimierte Gesetzgeber dazu befugt, eine entsprechende Rechtsänderung herbeizuführen.1444 Schließlich kann die Reform einer als regelungsbedürftig erkannten Materie durch den parlamentarischen Gesetzgeber gerade auch deshalb unterblieben sein, weil demokratische Prozesse einer entsprechenden Reform entgegenstanden. So kann etwa nicht ausgeschlossen werden, dass von einer Reform deshalb abgesehen wurde, weil sich bereits im vorparlamentarischen Prozess abgezeichnet hatte, dass sich im Bundestag oder Bundesrat die für eine Reform notwendige Mehrheit nicht finden lassen würde. Denkbar ist ebenso, dass der Gesetzgeber mit Blick auf eine potentielle Reaktion des Wahlvolkes von einem Reformvorhaben bewusst Abstand genommen hat. In beiden Konstellationen realisiert sich in einer ausbleibenden Reform der demokratische Prozess in seiner unmittelbarsten Form, was die rechtsprechende Gewalt nicht ignorieren und durch eine eigenwillige „Rechtsfortbildung“ umgehen darf. Daher bleibt der Richter auch unter gewandelten Bedingungen verpflichtet, eine gesetzgeberische Grundentscheidung zu respektieren und den Willen des Gesetzgebers möglichst zuverlässig zur Geltung zu bringen.1445 Dabei bleibt er an die anerkannten Methoden der Gesetzesauslegung gebunden,1446 sodass er auch bei einer Rechtsfortbildung grundsätzlich von dem Wortlaut der Vorschrift ausgehen und die Motive des historischen Gesetzgebers berücksichtigen muss. Insoweit räumt das Bundesverfassungsgericht in seinen jüngeren Entscheidungen dem subjektiven
1440 1441 1442 1443 1444 1445 1446
BVerfGE 122, 248, 284. BVerfGE 122, 248, 285. In eine ähnliche Richtung argumentiert aber etwa Hirsch, JZ 2007, 853, 857. Ähnl. auch BVerfGE 122, 248, 285. Vgl. BVerfGE 122, 248, 285. BVerfGE 96, 375, 394; 128, 193, 210 BVerfGE 84, 212, 226; 96, 375, 395; 128, 193, 210.
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Willen des Gesetzgebers einen wesentlich höheren Stellenwert ein,1447 als dies noch in seiner früheren Rechtsprechung der Fall war. Ursprünglich ging das Bundesverfassungsgericht nämlich noch davon aus, dass es auf den „objektivierten Willen des Gesetzes“1448 ankommen sollte.1449 Somit hat sich das Bundesverfassungsgericht nunmehr zumindest teilweise der sog. subjektiven Auslegungstheorie1450 zugewandt und der Methode der objektiven Gesetzesauslegung, die den Wortlaut und den Willen des parlamentarischen Gesetzgebers hintanstellt und eine ausnahmslose Bindung des Richters an das Gesetz negiert,1451 die Grundlage entzogen.1452 Demzufolge hat nunmehr jede Gesetzesauslegung grundsätzlich von dem erklärten Willen des Gesetzgebers, der in den Materialien des Gesetzes zum Ausdruck kommt, auszugehen und sich bei der übrigen Auslegung des Gesetzes an diesem zu orientieren.1453 Auf die frühere bundesverfassungsrechtliche Rechtsprechung, die eine rechtschöpferische Rechtsfortbildung noch mit der „praktischen Vernunft“ und den „fundierten allgemeinen Gerechtigkeitsvorstellungen der Gemeinschaft“ legitimiert hatte – und sich damit wie die Gerichte im „Dritten Reich“ in gefährliche Nähe zur Heranziehung des „gesunden Volksempfindens“ als Grundlage für die Anwendung und Fortbildung des Rechts begab –, kommt es damit erst recht nicht mehr an.1454 Zusammenfassend kann insofern festgehalten werden, dass die Rechtsfortbildung in dem Gewaltenteilungsprinzip (Art. 20 Abs. 2 Satz 2 GG) ihre absolute Grenze findet.1455 Sofern sich der Richter an die Stelle des Gesetzgebers setzt und sich von seiner Gesetzesunterworfenheit lossagt, liegt eine unzulässige richterliche Rechtsschöpfung bzw. eine Rechtsfortbildung contra legem vor, wovon insbesondere dann 1447 Besonders deutlich erkennbar ist dies im BVerfGE 132, 99, 128: „Eine Interpretation, die als richterliche Rechtsfortbildung den Wortlaut des Gesetzes hintanstellt und sich über den klar erkennbaren Willen des Gesetzgebers hinwegsetzt [Hervorh. d. Verf.], greift unzulässig in die Kompetenzen des demokratisch legitimierten Gesetzgebers ein“. 1448 Vgl. etwa BVerfGE 1, 299, 312; 10, 234, 244; 36, 342, 367; 62, 1, 45. 1449 So auch Rüthers, NJW 2011, 1856, 1857. 1450 Zu der zustimmungswürdigeren subjektiven Theorie, nach der es bei der Auslegung von Rechtsbegriffen darauf ankommen soll, was der Gesetzgeber dem Begriff für einen Sinn zugewiesen wissen wollte, vgl. Hillgruber, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 97 Rn. 57 ff. Die sog. objektive Theorie dagegen postuliert einen, von dem Willen des Gesetzgebers losgelösten, objektiven Willen des Gesetzes, der dem Richter im Wege der Auslegung zugänglich sei, vgl. ausführlich Hillgruber, ebd. Tatsächlich ist die objektive Theorie jedoch zutiefst undemokratisch, da sie dem Richter erlaubt, den Willen des demokratisch legitimierten parlamentarischen Gesetzgebers hintanzustellen und durch eine „objektive“ Auslegung des Gesetzes, unter Ausschaltung des parlamentarischen Willensbildungsprozesses, zu Ergebnissen zu gelangen, die den rechtspolitischen Bedürfnissen der Gegenwart entsprechen, vgl. Hillgruber, in: Maunz/ Dürig, GG, Art. 97 Rn. 59. 1451 Ähnl. etwa Hirsch, JZ 2007, 853, 854; Hirsch, Richterrecht, auf ZEIT ONLINE, Online-Quelle. 1452 Rüthers, NJW 2011, 1856, 1857. 1453 Vgl. BVerfGE 118, 212; BVerfGE 128, 193. So auch Rüthers, NJW 2011, 1856, 1857. 1454 Vgl. BVerfGE 9, 338, 349; 34, 269, 287. 1455 Ähnl. auch Jachmann, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 95 Rn. 16.
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auszugehen ist, wenn der Richter den klaren Wortlaut eines Gesetzes ignoriert und sich von den eigenen Gerechtigkeitserwägungen leiten lässt.1456 Demnach darf die richterliche Rechtsfortbildung den Wortlaut des Gesetzes nicht hintanstellen und sich über den klar erkennbaren Willen des Gesetzgebers hinwegsetzen.1457 Selbst wenn der Richter ein Gesetz in seinem Kern für überholt hält, kann er sich mithin nicht von seiner Gesetzesunterworfenheit dispensieren und das Gesetz nicht oder in einer anderen Form anwenden.1458 Lediglich gem. Art. 100 Abs. 1 GG kann der Richter, wo er ein formelles Gesetz für verfassungswidrig hält, vorläufig von seiner Anwendung absehen, wobei er freilich verpflichtet bleibt, eine abschließende und verbindliche Entscheidung des zuständigen Verfassungsgerichts einzuholen. Allein dieses hat die Kompetenz inne, (nachkonstitutionelle) Parlamentsgesetze für verfassungswidrig zu erklären und so die Fachgerichte endgültig von ihrer Anwendung zu dispensieren.1459 3. Die erweiterte Revision in Anbetracht der verfassungsgerichtlichen Anforderungen an die Rechtsfortbildung durch Gerichte Ob es sich bei der höchstrichterlichen Erweiterung der Revision nun um eine zulässige Form der Rechtsfortbildung handelt, hängt im Wesentlichen davon ab, ob die revisionsgerichtlich eingeführten Urteilsbegründungspflichten, die Darstellungskontrolle durch die Revisionsgerichte und die Verortung dieser sog. Darstellungsrüge innerhalb der Sachrüge noch den Anforderungen entspricht, die das Bundesverfassungsgericht für eine richterliche Rechtsfortbildung formuliert hat.1460 Konkret gilt es im Folgenden also zu untersuchen, ob die erweiterte Revision, wie sie derzeit in der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs und der Oberlandesgerichte zu finden ist, sich im Einklang mit dem Wortlaut der Strafprozessordnung und dem Willen des Gesetzgebers befindet. a) Die Vereinbarkeit der höchstrichterlichen Erweiterung der Urteilsbegründungspflichten mit §§ 261, 267 StPO Es wurde bereits umfassend dargelegt, dass § 267 StPO keine Pflicht des Tatrichters zu entnehmen ist, seine Feststellungen im Rahmen der Urteilsgründe zu begründen.1461 Auch § 261 StPO enthält, in deutlicher Abweichung zu vergleich-
1456 1457 1458 1459 1460 1461
BVerfGE 118, 212, 243; Jachmann, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 95 Rn. 16. BVerfGE 132, 99, 128. Rennert, NJW 1991, 12, 17. So auch Rennert, NJW 1991, 12, 17. S. 292 ff. Vgl. S. 177 ff., 218 ff.
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baren Vorschriften der übrigen Verfahrensordnungen,1462 keine Pflicht des Tatrichters, in dem Urteil darzulegen, welche Gründe für seine Überzeugung leitend gewesen waren.1463 Nimmt man also das Gesetz beim Wort, müsste im Rahmen der Revision die Rüge der mangelhaften Begründung der tatrichterlichen Beweiswürdigung generell ins Leere laufen.1464 Denkbar wäre damit allenfalls, dass die höchstrichterlich formulierten Urteilsbegründungspflichten und ihre revisionsgerichtliche Nachprüfung auf einer verfassungskonformen Auslegung der Revisionsvorschriften beruhen, was allerdings voraussetzte, dass bereits dem Grundgesetz eine umfassende Urteilsbegründungspflicht zu entnehmen ist.1465 Insofern könnte man durchaus argumentieren, dass erst durch die Angabe von umfassenden Entscheidungsgründen hinreichend sichergestellt ist, dass das Urteil in einem rechtsstaatlich einwandfreien Verfahren zustande gekommen ist, bei dem das Gericht seine verfassungsrechtliche Bindung an Gesetz und Recht hinreichend beachtet und sich von keinen willkürlichen Erwägungen leiten lassen hat.1466 Folgte man dieser Argumentation, würde eine umfassende Urteilsbegründungspflicht der Tatgerichte bereits aus dem Rechtsstaatsprinzip (Art. 20 Abs. 3 GG) und dem Gleichheitssatz (Art. 3 Abs. 1 GG) – nämlich als Mittel zur Durchsetzung des Willkürverbotes – folgen, sodass sie im Wege der verfassungskonformen Rechtsauslegung auch in §§ 261, 267 StPO hineinzulesen wäre.1467 Einen ähnlichen Ansatz verfolgt die Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts, welche die Urteilsgründe, die rational nicht nachvollziehbar, sachlich inhaltslos oder sonst wie völlig unzureichend sind und deshalb nicht erkennen lassen, welche Überlegungen der tatgerichtlichen Entscheidung zugrunde lagen, mit fehlenden Urteilsgründen gleichsetzt und einen absoluten Revisionsgrund im Sinne des § 138 Nr. 6 VwGO annimmt.1468 Allerdings gälte bei einer verfassungskonformen Auslegung der Revisionsvorschriften ebenfalls zu bedenken, dass Fachgerichte nicht befugt sind, parlamenta1462
Vgl. § 286 Abs. 1 Satz 2 ZPO, § 108 Abs. 1. Satz 2 VwGO, § 96 Abs. 1 Satz 2 FGO, § 46 Abs. 2 Satz 1 ArbGG i. V. m. § 286 Abs. 1 Satz 2 ZPO, § 128 Abs. 1 Satz 2 SGG, § 93 Abs. 1 Satz 2 PatG, § 78 Abs. 1 Satz 2 MarkenG. 1463 Vgl. auch S. 224 ff. 1464 Wagner, ZStW (106) 1994, 259, 269 f. 1465 So etwa Wagner, ZStW (106) 1994, 259, 284 f.; ausführlich zu der verfassungsrechtlichen Notwendigkeit der Begründung von Urteilen, vgl. Lücke, Begründungszwang und Verfassung, S. 1 ff., 22 ff., 58 ff., 125 ff. 1466 Ähnl. das Bundesverfassungsgericht in Bezug auf die zivilrechtliche Rechtsprechung in BVerfGE 55, 205, 206 und im Beschluss vom 26 Januar 2000 – 1 BvR 12/00 sowie in Bezug auf die verwaltungsrechtliche Rechtsprechung in BVerfGE 71, 122, 136. 1467 Ähnl. auch Dawin, in: Schoch/Schneider/Bier, VwGO, § 108 Rn. 118 bezogen auf die Verwaltungsgerichtsbarkeit; vgl. aber auch Stuckenberg, in: Löwe/Rosenberg, § 267 Rn. 5 sowie BVerfG, Beschluss vom 26. Januar 2000 – 1 BvR 12/00. Ausführlich zur verfassungsrechtlichen Notwendigkeit der Urteilsgründe in Strafsachen, Wagner, ZStW (106) 1994, 259, 285 f. m. w. N. aus der Verfassungsrechtsprechung. 1468 BVerwGE 117, 228, 230 f.
C. Kritik an der höchstrichterlichen Erweiterung der Revision
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rische Gesetze in einer Art und Weise auszulegen, die mit dem Wortlaut der Vorschrift und dem Willen des historischen Gesetzgebers nicht mehr übereinstimmt.1469 Wie aus Art. 100 Abs. 1 GG folgt, gilt dies selbst für den Fall, dass das Gesetz ansonsten verfassungswidrig wäre – hierzu heißt es in einem Beschluss des Bundesverfassungsgerichts vom 14. Juni 2007: „Verfassungskonforme Auslegung ist dort nicht statthaft, wo sie zu dem Gesetzeswortlaut und dem klar erkennbaren Willen des Gesetzgebers in Widerspruch treten würde. Den Gerichten ist es verwehrt, im Wege der Auslegung einem nach Wortlaut und Sinn eindeutigen Gesetz einen entgegengesetzten Sinn zu geben oder den normativen Gehalt einer Vorschrift grundlegend neu zu bestimmen. Eine solche Korrektur des Gesetzes würde nicht zuletzt Art. 100 I GG zuwiderlaufen, der die Autorität des parlamentarischen Gesetzgebers im Verhältnis zur Rechtsprechung wahren soll.“1470
Wie bereits umfassend dargelegt, ging der Wille des historischen Gesetzgebers jedoch gerade dahin, von dem Tatrichter keine Begründung für seine Feststellungen zu verlangen,1471 auch wenn der Wortlaut der §§ 261, 267 StPO durchaus einer solchen Auslegung zugänglich wäre. Ohnehin sind der höchstrichterlichen Rechtsprechung keinerlei Anhaltspunkte dafür zu entnehmen, dass ihre Forderung nach einer umfassenden Darlegung der tatrichterlichen Beweiswürdigung auf einer verfassungskonformen Auslegung der hier in Frage stehenden Vorschriften beruht. Dies pauschal anzunehmen, liefe auf eine vorauseilende Rechtfertigung einer höchstrichterlichen Praxis hinaus, die zwar im Ergebnis zu scheinbar zufriedenstellenden Lösungen führt, dogmatisch jedoch wenig fundiert wäre. b) Die Vereinbarkeit der Nachprüfung tatrichterlicher Sachverhalts- und Beweiswürdigungsdarstellungen mit § 337 StPO Gemäß § 337 StPO kann die Revision nur darauf gestützt werden, dass das tatrichterliche Urteil auf einer Verletzung des Gesetzes beruht, also eine Rechtsnorm nicht oder nicht richtig angewandt worden ist. Wie ebenfalls bereits ausführlich dargelegt wurde, unterliegt damit de lege lata allein die Gesetzesanwendung durch den Tatrichter, nicht jedoch die tatrichterlichen Sachverhaltsfeststellungen und die ihnen zugrunde liegende Beweiswürdigung der Revision.1472 Wie schon dargelegt, reicht die Revision, wie sie gegenwärtig von den Strafsenaten gehandhabt wird, dennoch weit über die gesetzlichen Grenzen des § 337 StPO hinaus.1473 Faktisch unterliegen heute die tatrichterlichen Sachverhaltsfeststellungen einer umfassenden 1469
Vgl. ausführlich hierzu bereits S. 293 ff. BVerfGE 118, 212, 234 mit zahlreichen Verweisen auf die ständige verfassungsrechtliche Rechtsprechung. 1471 Vgl. S. 177 ff. 1472 Vgl. S. 177 ff., 218 ff. 1473 Vgl. S. 254 ff., 280 ff. 1470
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3. Kap.: Die höchstrichterliche Erweiterung der Revision auf Tatfragen
revisionsgerichtlichen Nachprüfung;1474 inhaltliche Mängel dieser Feststellungen führen nunmehr ebenso zu einer Urteilsaufhebung wie Rechtsfehler bei ihrem Zustandekommen.1475 Die Revisionsgerichte befassen sich im Rahmen der Revision also auch mit Fragen der tatrichterlichen Beweiserhebung und Beweiswürdigung, indem sie diesbezügliche Mängel generell und ohne eine nähere Begründung als sachlich-rechtliche Mängel auffassen, obwohl sie ursprünglich noch als irrevisibel angesehen wurden.1476 Doch jedenfalls1477 dort, wo die Revisionsgerichte die Feststellungen des Tatrichters rügen, weil diese im Widerspruch zu der allgemeinen Lebenserfahrung – und nicht schon den allgemeinen Erfahrungssätzen – stünden, weil sie, so wie sie dargelegt sind, unwahrscheinlich oder weil die Zweifel des Tatrichters nicht nachvollziehbar seien,1478 muss von einer Rechtsfortbildung contra legem ausgegangen werden. Denn angesichts des eindeutigen Wortlautes des § 337 StPO, der die Revision unmissverständlich auf eine Gesetzesverletzung beschränkt, und des ebenso eindeutigen Willens des historischen Gesetzgebers, die tatsächlichen Feststellungen und die Beweiswürdigung von jeglicher revisionsgerichtlicher Prüfung auszunehmen, ist bei strenger Betrachtung kein Raum für eine derartige Rechtsfortbildung gegeben. c) Die Vereinbarkeit der erweiterten Revision im Rahmen der Sachrüge mit § 344 Abs. 2 StPO Auch die revisionsgerichtliche Praxis, die Darstellungskontrolle bereits im Rahmen der Sachrüge vorzunehmen, obwohl es sich bei den höchstrichterlich formulierten Anforderungen an die Darstellung tatrichterlicher Urteile bei genauer Betrachtung bloß um verfahrensrechtliche Anforderungen handelt, mündet letztlich in einer Rechtsfortbildung, die weder im Wortlaut der Strafprozessordnung noch in dem Willen des historischen Gesetzgebers eine Grundlage findet.1479 Letztlich befassen sich diese Anforderungen nämlich ausschließlich mit der Frage, wie die im Wege der Beweisaufnahme ermittelten Beweisergebnisse und ihre Würdigung in den Urteilsgründen darzulegen sind – sie stellen somit eindeutig verfahrensrechtliche 1474
Vgl. insofern zusammenfassend S. 285 ff. So besonders deutlich Schmid, ZStW (85) 1973, 360, 370. 1476 Vgl. hierzu auch S. 280 ff. 1477 Wie schon dargelegt, gilt etwas anderes für die Fälle, in denen im Rahmen der Sachrüge geprüft wird, ob die Feststellungen des Tatrichters widersprüchlich, unklar oder lückenhaft sind, vgl. S. 250 ff. Mit viel gutem Willen könnte auch noch in der Erweiterung der Revision auf Denkgesetze und allgemeine Erfahrungssätze eine zulässige Rechtsfortbildung erblickt werden, liegt hierin doch nur eine bloß formelle Erweiterung unter Ausschaltung der Voraussetzungen der Verfahrensrüge, vgl. S. 241 ff. 1478 Vgl. zu dieser Erweiterung der Revision auf inhaltlich fehlerhafte oder vermeintlich unwahrscheinliche Feststellungen S. 254 ff. 1479 So etwa auch Hamm, in: FS Rissing-van Saan, S. 200; Rieß, GA 1978, 257, 274. 1475
C. Kritik an der höchstrichterlichen Erweiterung der Revision
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Pflichten dar. Die Verletzung solcher verfahrensrechtlichen Pflichten unterliegt nach dem insoweit eindeutigen Wortlaut des § 344 Abs. 2 Satz 2 StPO jedoch nur dann der Revision, wenn der Revisionsführer sie im Rahmen einer Verfahrensrüge geltend macht und in seiner Revisionsbegründung die den Mangel enthaltenden Tatsachen angibt. Indem die Revisionsgerichte die Darstellungskontrolle jedoch schon auf eine allgemeine Sachrüge hin vornehmen, umgehen sie gerade die besonderen gesetzlichen Anforderungen an die Verfahrensrüge. Verzichtet hat der Gesetzgeber auf die Notwendigkeit einer besonderen Begründung der Revision jedoch lediglich bei der Sachrüge. Hier nämlich ging der Gesetzgeber offenbar davon aus, dass der Revisionsrichter bereits aus einer Gegenüberstellung der Urteilsformel und der Tatsachenfeststellungen folgern kann, ob dem Tatrichter ein materiell-rechtlicher Fehler unterlaufen ist.1480 Ein sachlichrechtlicher Mangel zeichnet sich nämlich dadurch aus, dass er bereits aus dem Urteil selbst erkennbar ist. Allerdings wäre es grob rechtsfehlerhaft – und dies wird häufig verkannt –, daraus im Umkehrschluss zu folgern, dass alle Mängel, die aus dem Urteil selbst erkennbar sind, auch sachlich-rechtliche Mängel wären und deshalb der Sachrüge unterlägen.1481 Dies stellte einen klassischen Fehlschluss dar, der den Regeln der Logik zuwiderliefe – denn ebenso wie sich aus der Tatsache, dass alle Hunde vier Beine haben, nicht folgern ließe, dass alle Tiere, die vier Beine haben, Hunde wären, kann nicht aus der Tatsache, dass sachlich-rechtliche Mängel stets aus dem Urteil erkennbar sind, gefolgert werden, dass alle Mängel, die aus dem Urteil erkennbar sind, sachlich-rechtliche Mängel wären. Nichtsdestoweniger scheint die höchstrichterliche Rechtsprechung alle Darstellungsmängel, die für sie bereits aus den Urteilsgründen erkennbar sind, als sachlichrechtliche Mängel zu qualifizieren. Bemerkenswert dabei ist gewiss, dass ein 1480
Vgl. Motive zur StPO, in: Hahn (Hrsg.), Materialien zur StPO, Bd. III/1, S. 253. Vgl. etwa Rieß, in: FS Hanack, S. 411; Peters, in: FS Schäfer, S. 151 f.; diese Tendenz in der Praxis bestätigend Jähnke, in: FS Meyer-Goßner, S. 560. Auch nicht wenige Richter, Staatsanwälte, Anwälte und Assessoren, mit denen sich der Verfasser ausführlich über das Thema der vorliegenden Schrift austauschte, gingen davon aus, dass mit der Sachrüge all jene Mängel angefochten werden könnten, die unmittelbar aus dem Urteil erkennbar sind. Diese Aussage mag zwar mit Blick auf die höchstrichterlichen Erweiterung der Revision de facto richtig sein, findet im geltenden Recht dennoch keinen Rückhalt. Diese verkürzte Wiedergabe ist dabei aller Voraussicht nach auf die eher weniger wissenschaftliche ausgerichtete Referendarsausbildungsliteratur zurückzuführen. So heißt es etwa in Brößler, Strafprozessuale Revision, Rn. 91: „Die Umsetzung […] [der Abgrenzung zwischen Sach- und Verfahrensrüge] bereitet aber gelegentlich Schwierigkeiten, wobei in den meisten Fällen folgende Faustregel weiterhilft: Kann das Revisionsgericht den Fehler nicht allein aus dem Urteil ersehen […] muss grundsätzlich eine Verfahrensrüge erhoben werden […]. Ist der Fehler dagegen allein aus dem Urteil ersichtlich, genügt regelmäßig die Sachrüge“. Sachlich richtig, dennoch etwas missverständlich heißt es auch in Weidemann/Scherf, Die Revision im Strafrecht, Rn. 564, zur Sachrüge: „In Abgrenzung zur Verfahrensrüge werden die Fehler des Tatgerichts beanstandet, die sich erst und ausschließlich im Urteil zeigen. Daher sind ausschließlich auch der Inhalt des Urteils und (selten) Abbildungen, auf die im Urteil nach § 267 Abs. 1 Satz 3 StPO verwiesen worden ist, die maßgeblichen Prüfungsgrundlagen.“ 1481
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3. Kap.: Die höchstrichterliche Erweiterung der Revision auf Tatfragen
Großteil der die Tatfragen betreffenden Darstellungsmängel für das Revisionsgericht nur deshalb schon aus dem Urteil erkennbar ist, weil gerade die Revisionsgerichte von dem Tatrichter Darstellungen in seinem Urteil fordern, die der Tatrichter von Gesetzes wegen – eben weil seine Feststellungen nicht nachprüfbar sein sollten – nicht darlegen müsste.1482 Jedenfalls ist die Annahme der Revisionsgerichte, dass materielle Mängel der Feststellungen und der Beweiswürdigung dazu führen müssten, dass das Urteil auch materiell-rechtlich fehlerhaft ist, nicht zutreffend. Schließlich ist es durchaus vorstellbar, dass auch inhaltlich fehlerhaft oder aufgrund einer mangelhaften Beweiswürdigung unzutreffend festgestellte Sachverhalte rechtlich zutreffend unter materiell-rechtliche Normen subsumiert werden. In einem solchen Fall wäre der materielle Mangel des Urteils, da insoweit ein Subsumtionsmangel fehlte, von Gesetzes wegen allenfalls im Rahmen einer Verfahrensrüge berücksichtigungsfähig, sofern die Feststellungen auf einer Verletzung der §§ 244 Abs. 2, 261 StPO beruhen.1483 Beispielhaft sei etwa angenommen, dass der Angeklagte Avor einem Amtsgericht wegen Unterschlagung angeklagt ist. Das Gericht gelangt nun zum Schluss der Hauptverhandlung zu der Überzeugung, dass A eine im Eigentum des B stehende Uhr von offener Straße aufgelesen und für sich behalten hat. Daher verurteilt es A wegen Unterschlagung gem. § 246 StGB. Dabei lässt es die Aussage des Zeugen Z, die den A umfassend entlastet, außer Acht, weil es den Zeugen Z nicht für glaubwürdig erachtet. Man nehme nun weiter an, dass aus den Entscheidungsgründen des Urteils folgt, dass der Strafrichter dem Zeugen Z bloß deshalb nicht geglaubt hat, weil es sich bei ihm, wie auch bei dem Angeklagten A, um einen Ausländer handelte. Der Tatrichter begründet seine Entscheidung nämlich damit, dass bei Ausländern eine generelle Neigung bestünde, die deutsche Justiz anzulügen, weil sie die Sorge hätten, dass sie im Falle einer Bestrafung die Bundesrepublik Deutschland verlassen müssten. Deshalb seien sie stets darauf bedacht, auch den geringsten Verdacht eines gesetzeswidrigen Verhaltens von sich zu weisen.1484 1482
Zu dem gesetzlich erforderlichen Inhalt der Urteilsgründe vgl. S. 218 ff. Vgl. S. 247 ff. 1484 Verfehlt wäre es, das hier gewählte fiktive Beispiel als völlig abwegig abzutun. Nicht viel anders als dieses Beispiel dürfte nämlich der Fall gelegen haben, der einer Revisionsentscheidung des Oberlandesgerichts Karlsruhe vom 21. September 1978 zugrunde lag (OLG Karlsruhe VRS 56, 359). So wird dort die folgende, bemerkenswert rassistische Passage aus dem vorangegangenen Urteil der Strafkammer wiedergegeben: „Es ist gerichtsbekannt, daß türkische Gastarbeiter auffallend häufig in Strafverfahren verwickelt werden. Die Erfahrung der Strafkammer lehrt, daß in derartigen ,Türkenprozessen‘ nicht nur der jeweils angekl. Türke, sondern auch türkische Zeugen in aller Regel selbst offenkundige Tatsachen, die überhaupt keines Beweises bedürfen, noch leugnen, in dem durch die Erfahrung der Strafkammer erkennbar gewordenen Bestreben, auch den geringsten Verdacht von sich abzuwenden, der die Gefahr der Strafverfolgung nach sich ziehen könnte. Dieses Bestreben ist gegründet auf die Furcht der türkischen Gastarbeiter, im Falle einer Bestrafung die Bundesrepublik Deutschland verlassen und in ihre Heimat in die armseligen Verhältnisse zurückkehren zu müssen, denen sie als Gastarbeiter zu entfliehen versucht haben“ (a. a. O., S. 360). Auch wenn der Senat zunächst hierzu nicht minderbedenklich ausführt, „Zwar sind die Beobachtungen der Strafkammer über 1483
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Dass die Beweiswürdigung des Tatgerichts fehlerbehaftet ist, bedarf hier wohl keiner weiteren Ausführung. Der Schluss, dass Ausländer generell lügen würden, wäre ebenso unzutreffend, wie die Annahme, dass es einen entsprechenden allgemeinen Erfahrungssatz gäbe. Die Beweiswürdigung des Gerichts weist damit inhaltliche – also materielle – Mängel auf. Davon streng zu trennen ist jedoch die Frage, ob diese materiellen Mängel des Urteils auch zu seiner Aufhebung im Rahmen einer (Sprung-)Revision führen können, sofern A sich ausschließlich mit einer Sachrüge gegen das Urteil wendet. So unbefriedigend die folgende Antwort nun auch erscheinen mag, müsste sie bei strikter Anwendung des § 344 Abs. 2 StPO „Nein“ lauten, da das Urteil ungeachtet der zweifelsohne fehlerhaften Beweiswürdigung an keinem materiell-rechtlichen Mangel leidet. Vorliegend lässt sich der gerichtlich festgestellte Sachverhalt, nämlich, dass A die Uhr des B auf der Straße gefunden und für sich behalten hat, ohne Weiteres unter die gesetzlichen Merkmale des § 246 StGB subsumieren. Dass die gravierenden Mängel der Beweiswürdigung hierbei keine Berücksichtigung finden können, entspricht, wie schon an anderer Stelle dargelegt,1485 dem ausdrücklichen Willen des historischen Gesetzgebers, der die tatrichterliche Beweiswürdigung von jeglicher Kontrolle ausgenommen wissen wollte. Wer mit diesem Ergebnis unzufrieden ist, muss konsequenterweise für eine schnellstmögliche Reform des Rechtsmittelrechts plädieren und darauf hoffen, dass zwischenzeitlich unbillige Ergebnisse im Wege des Gnadenrechts vermieden werden. Falsch wäre es allerdings, allein mit Blick auf ein gefälliges Ergebnis für eine schlicht gerichtliche Ausweitung der Revision einzutreten, obwohl der Gesetzgeber bei der Abfassung der Vorschriften der Strafprozessordnung seinen entgegenstehenden Willen deutlich zum Ausdruck gebracht hat. Es ist nicht an den Gerichten, unbefriedigende Gesetze entgegen ihrem Wortlaut und dem Willen des Gesetzgebers durch Rechtsfortbildung auszubessern. Dafür fehlt ihnen schlicht die notwendige demokratische Legitimation. Doch selbst Richter am Bundesgerichtshof scheinen die gesetzliche Beschränkung der Sachrüge auf materiell-rechtliche Mängel nicht weiter ernst zu nehmen. So beschreiben Meyer-Goßner und Cierniak einen Fall, in dem A und Z, die eine Tat mutmaßlich als Mittäter begangen hatten, von unterschiedlichen Großen Strafkammern eines Landgerichts abgeurteilt worden sind. Während die eine Strafkammer der als Zeugin vernommenen Nebenklägerin keinen Glauben schenkte und den Angeklagten A freisprach, verurteilte die andere Kammer den Angeklagten Z aufgrund der Aussage derselben Zeugin. Der Freispruch zugunsten des A wurde daraufhin von der Nebenklägerin und die Verurteilung des Z von der Verteidigung das Verhalten von Prozessbeteiligten fremder Mentalität nicht von der Hand zu weisen. Es bestehen daher keine Bedenken, bei der Würdigung von Aussagen, die nur durch eine fremde Mentalität erklärbar erscheinen, einen strengen Maßstab anzulegen“ (ebd.), führt er weiter aus: „Ein allgemeiner Erfahrungssatz des Inhalts, daß türkische Gastarbeiter nie die Wahrheit sagen, kann jedoch nicht festgestellt werden“ (ebd.). 1485 Vgl. S. 171 ff.
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3. Kap.: Die höchstrichterliche Erweiterung der Revision auf Tatfragen
jeweils mit bloß einer Sachrüge zum Bundesgerichtshof angefochten.1486 Auch wenn die Verfahren sich letztlich ohne eine Entscheidung durch den Bundesgerichtshof anderweitig erledigt haben, ist der Beitrag von Meyer-Goßner und Cierniak bemerkenswert, da er revisionsgerichtliche Denkprozesse aus erster Hand offenbart. So gehen beide Autoren zunächst zutreffend von der Prämisse aus, dass die Feststellungen und die Beweiswürdigung in beiden angefochtenen Urteilen – je für sich betrachtet – keine beachtlichen materiell-rechtlichen Fehler aufwiesen.1487 Überraschenderweise heißt es allerdings an späterer Stelle des Beitrags: „Die einander widersprechenden Beweisergebnisse sind aber gleichwohl revisibel: Sie erschüttern nämlich auch hier die tatsächlichen Annahmen der angefochtenen Urteile, die daher keine tragfähige Grundlage für eine materiell-rechtliche Überprüfung durch das Revisionsgericht bilden. Eine der beiden tatrichterlichen Würdigungen verfehlt das wirklich Geschehene. In diesem Sinn widerspricht das Beweisergebnis des einen Urteils inhaltlich demjenigen der anderen Entscheidung [Hervorh. d. Verf.].“1488
Im Ergebnis ist diese Auffassung freilich zutreffend; auf keinen Fall können beide Urteile materiell („wirklich“, „inhaltlich“) zutreffend gewesen sein. Doch der Schluss, dass das Urteil deshalb im Rahmen der Sachrüge aufgehoben werden könne, findet ungeachtet dessen in der Strafprozessordnung keine Grundlage. Denn wie auch schon Meyer-Goßner und Cierniak zutreffend feststellten, leidet das Urteil gerade nicht an materiell-rechtlichen Mängeln – doch allein solche erlauben eine Aufhebung des Urteils im Rahmen der Sachrüge. Dieses Ergebnis dennoch mit Blick auf die materielle Gerechtigkeit gutzuheißen, bleibt auch mit Blick auf ähnliche Ansätze im „Dritten Reich“ höchst fragwürdig.1489 Dies zeigt sich vor allem im Falle des A, der bereits durch das Tatgericht freigesprochen worden war. Nach der herrschenden Meinung soll dessen Freispruch nämlich zugunsten der materiellen Gerechtigkeit aufgehoben werden können, obwohl die Strafprozessordnung eine Aufhebung des sachlich-rechtlich mangelfreien Urteils im Rahmen der Sachrüge nicht vorsieht. Die revisionsgerichtliche Praxis, ungeachtet dessen auch Verstöße gegen Denkgesetze und allgemeine Erfahrungssätze sowie gegen (bloß) höchstrichterlich formulierte Urteilsbegründungspflichten bereits auf eine allgemeine Sachrüge hin zu prüfen, verkennt gerade diese gesetzlichen Grenzen der strafrechtlichen Revision.1490 Die von der Revisionsrechtsprechung insoweit offenbar vorgenommene Zuordnung aller Darstellungsmängel zum materiellen Recht kann dogmatisch nicht überzeugen1491 – zumal die Revisionsgerichte nicht einmal den Versuch unternehmen, sie
1486 1487 1488 1489 1490 1491
Wiedergegeben nach Meyer-Goßner/Cierniak, StV 2000, 696, 696. Meyer-Goßner/Cierniak, StV 2000, 696, 696. Meyer-Goßner/Cierniak, StV 2000, 696, 700. Zur Erweiterung der Revision im „Dritten Reich“ vgl. S. 259 ff. Hamm, in: FS Rissing-van Saan, S. 204. Fezer, in: FS Hanack, S. 334 f.; Frisch, in: FS Eser, S. 277.
C. Kritik an der höchstrichterlichen Erweiterung der Revision
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dogmatisch zu begründen.1492 Dabei spricht viel dafür, dass die unterschiedslose Durchführung einer Darstellungskontrolle im Rahmen der Sachrüge auf bloß pragmatischen Erwägungen beruht, die bei der geltenden Rechtslage wohl keiner rechtsdogmatischen Erklärung zugänglich wären.1493
II. Schwächung der verfahrensrechtlichen Position des Angeklagten durch die Erweiterung der Revision Bedenklich an der höchstrichterlich erfolgten Erweiterung der Revision ist zudem die bereits angedeutete Schwächung der verfahrensrechtlichen Position des Angeklagten. Es mag zunächst paradox anmuten, dass die Rechtsposition des Angeklagten überhaupt durch eine Erweiterung der Revision geschwächt werden kann, da in aller Regel zumindest implizit davon ausgegangen wird, dass die höchstrichterliche Erweiterung der Revision zu einem höheren Rechtsschutzstandard für den Angeklagten führte.1494 So weist etwa auch Maul darauf hin, dass die erweiterte Revision einen kleinen Beitrag zur sozialen Gerechtigkeit im Strafverfahren darstelle, da es jedem Angeklagten möglich sei, eine allgemeine Sachrüge, die keine besonderen Begründungsanforderungen aufweist, notfalls auch zu Protokoll der Geschäftsstelle einzulegen.1495 Auch Jähnke hält die Erweiterung der Revision unter rechtsstaatlichen Gesichtspunkten für begrüßenswert.1496 Ebenso vermerkt Rosenau, dass sich in der Erweiterung der Revision ein Bedürfnis nach effektivem Rechtsschutz wiederspiegelt.1497 Selbst das Bundesverfassungsgericht geht anscheinend davon aus, dass die Erweiterung der Revision vor allem eine Entwicklung zugunsten des Angeklagten darstellt. So heißt es in seinem Beschluss vom 15. Januar 2009 (Rügeverkümmerung):
1492
Frisch, in: FS Eser, S. 278; Jähnke, in: FS Hanack, S. 365. So bereits Rosenau, in: FS Widmaier, S. 525 ff.; vgl. aber auch Rieß, in: FS Hanack, S. 402 f.; Jähnke, in: FS Meyer-Goßner, S. 566.; Maul, in: FS Pfeiffer, S. 420 f.; Rieß, in: FS Hanack, S. 402 f. 1494 Vgl. statt vieler nur Herdegen, NStZ 1987, 193, 199 bzw. Meyer-Goßner, DRiZ 1997, 471, 471 f. Im Übrigen gestaltet sich die Angabe von Fundstellen für diesen tatsächlichen Befund schwierig, da diese Ansicht den Beiträgen vieler Literaten nicht ausdrücklich zu entnehmen ist, sondern ihnen nur implizit zugrunde liegt – vgl. insofern etwa Fezer, in: FS Hanack, S. 352 („Prüfungserweiterung […] notwendig […], um die dringend gebotene Einzelfallgerechtigkeit zu gewährleisten“); Frisch, in: FS Eser, S. 259 („[…] was den Angeklagten, wenn er schon die Tatsachenfeststellung kaum erfolgreich angreifen kann […]“); Maul, in: FS Pfeiffer, S. 409 („[…] ob der Angeklagte, die ihm vorgeworfene Tat begangen hat oder nicht. Bei dieser Ausgangslage müßte es selbstverständlich sein, daß ein Rechtsmittel gegen tatrichterliche Strafurteile […]“). 1495 Maul, in: FS Pfeiffer, S. 423. 1496 Jähnke, in: FS Hanack, S. 367. 1497 Rosenau, in: FS Widmaier, S. 531. 1493
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3. Kap.: Die höchstrichterliche Erweiterung der Revision auf Tatfragen
„Im Übrigen ergibt eine Gesamtbetrachtung der strafrechtlichen Revision, dass deren Koordinatensystem sich in den letzten Jahren und Jahrzehnten keineswegs einseitig zu Lasten des Beschuldigten verschoben hat. Zwar ist eine gewisse Tendenz in der Rechtsprechung der Revisionsgerichte erkennbar, den Einfluss von Verfahrensrügen zu begrenzen. Im Gegenzug hat die Rechtsprechung indes insbesondere durch die Ausweitung der sogenannten Darstellungsprüfung das revisionsrechtliche Prüfungsprogramm – im Wesentlichen zugunsten des Beschuldigten – erheblich ausgedehnt [Hervorh. d. Verf.].“1498
Diese Stimmen verkennen jedoch durchweg, dass die Darstellungskontrolle nicht bloß den Rechtsschutz zugunsten des Angeklagten erweitert, sondern eben auch zur Aufhebung von Urteilen führt, die für ihn günstig waren. So erfolgt die Darstellungskontrolle nicht selten auf eine Sachrüge der Staatsanwaltschaft hin, die deutlich häufiger zulasten des Angeklagten eingelegt wird als zu seinen Gunsten.1499 Damit erfolgt in diesen Fällen ausschließlich auf der Grundlage des Richterrechts eine Schwächung der verfahrensrechtlichen Position des Angeklagten, da die strikte Rechtsanwendung gerade zu keiner Aufhebung des Urteils geführt hätte. Am anschaulichsten lassen sich die mit dieser revisionsgerichtlichen Praxis verbundenen Schwierigkeiten an einem Beispiel nachvollziehen, da ihre abstrakte Darstellung – gerade auch wegen des selten präsenten Bewusstseins für die Nachteile der Darstellungskontrolle – eher müßig ist. Daher soll im Rahmen dieses Unterabschnittes vor allem anhand der nachfolgenden Ausgangssituation nachvollzogen werden, warum die Darstellungskontrolle eine Schwächung der verfahrensrechtlichen Position des Angeklagten zur Folge hat, obwohl sie augenscheinlich den Rechtsschutz in Strafsachen erweitert: Man stelle sich vor, dass der Angeklagte A durch ein Schwurgericht von dem Vorwurf des Totschlages freigesprochen wurde, weil das Gericht aus dem Inbegriff der Hauptverhandlung die Überzeugung geschöpft hat, dass A die ihm vorgeworfene Tat nicht begangen hat. Nach dem Wortlaut des § 267 Abs. 5 Satz 1 Var. 1 StPO müssen die Urteilsgründe des Schwurgerichts in einem solchen Fall lediglich ergeben, dass der Angeklagte für nicht überführt erachtet worden ist. Folglich setzt sich das Schwurgericht im vorliegenden Fall in seinen Urteilsgründen zwar differenziert mit den Vorwürfen und den dargebotenen Beweismitteln der Staatsanwaltschaft auseinander und legt im Einzelnen dar, dass es die von der Anklage behaupteten Tatsachen für nicht erwiesen erachtet hat, weil es davon ausgeht, dass A sich zum Zeitpunkt der Tat nicht in der Nähe des Tatorts aufgehalten hat und deshalb unmöglich als Täter des in Frage stehenden Tötungsdeliktes in Frage kommt. Von einer weiteren Begründung seiner Feststellungen sieht das Schwurgericht allerdings gem. § 267 Abs. 4 Satz 3 StPO „nach seinem Ermessen“ ab. Vor allem verzichtet es darauf, in den Urteilsgründen darzulegen, warum es die von der Anklage behaupteten Tatsachen für nicht erwiesen erachtet hat; insbesondere enthalten die Urteilsgründe keine Ausführungen dazu, wie das Gericht zu der Überzeugung gelangt ist, dass der Angeklagte sich nicht in der Nähe des Tatorts aufgehalten hat. Man stelle sich nun 1498 1499
BVerfGE 122, 248, 276. Hamm, StV 1987, 262, 267.
C. Kritik an der höchstrichterlichen Erweiterung der Revision
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weiter vor, dass die Staatsanwaltschaft, unzufrieden mit dem Freispruch, das Urteil wegen Verletzung des sachlichen Rechts angreift und entsprechend Nr. 156 Abs. 2 RiStBV zur Begründung ihrer Sachrüge darlegt, dass das Schwurgericht versäumt habe, in seinem Urteil darzulegen und zu erläutern, welche Gründe für seine Überzeugung leitend gewesen sind.1500 Weiter führt sie aus, dass aus den Urteilsgründen nicht gefolgert werden könne, ob die tatrichterliche Beweiswürdigung auf einer tragfähigen, verstandesmäßig einsichtigen Tatsachengrundlage beruhe.1501 Deshalb verlangt sie, das Urteil mit den Feststellungen aufzuheben und zur Neuverhandlung an ein anderes Schwurgericht zurückzuverweisen. 1. Höchstrichterliche Anforderungen an die Darstellung eines freisprechenden Urteils Nun gilt zu berücksichtigen, dass bei einem freisprechenden Urteil das Tatgericht gem. § 267 Abs. 5 Satz 1 StPO lediglich anzugeben hat, (a) ob der Angeklagte für nicht überführt oder (b) ob die für erwiesen angenommene Tat für nicht strafbar erachtet worden ist. Lediglich für den Fall, dass der Tatrichter die für erwiesen angenommene Tat für nicht strafbar erachtet hat, also bei der zweiten Variante, verlangt das Gesetz von ihm, darüber hinaus darzulegen, aus welchen Gründen er seine Überzeugung geschöpft hat („ob und aus welchen Gründen […]“). Erachtet er den Angeklagten hingegen schon der Tat für nicht überführt, müssen die Urteilsgründe gem. § 267 Abs. 5 Satz 1 Var. 1 StPO lediglich ergeben, dass „der Angeklagte für nicht überführt […] erachtet worden ist“. Folglich muss sich ein Urteil also lediglich bei einem Freispruch aus rechtlichen Gründen dazu äußern, warum die Voraussetzungen einer Strafbarkeit nicht vorgelegen haben; bei einem Freispruch aus tatsächlichen Gründen, muss es dagegen lediglich die Angabe enthalten, dass der Angeklagte für nicht überführt erachtet worden ist. Ungeachtet dessen hat bereits das Reichsgericht schon in den ersten Jahren nach seiner Errichtung klargestellt, dass die Bestimmung des § 267 Abs. 5 Satz 1 StPO (damals noch § 266 Abs. 4 RStPO) nicht dahingehend zu verstehen ist, dass das Tatgericht sich auf diese Feststellung beschränken darf. Vielmehr, so das Reichsgericht, folge aus dem Wort „ergeben“ in § 266 Abs. 4 RStPO, dass sich die Urteilsgründe auch bei einem Freispruch dazu äußern müssen, welche Tatsachen von dem Tatrichter für nicht erwiesen erachtet worden sind, damit das Revisionsgericht überhaupt nachvollziehen kann, ob dem Freispruch tatsächliche oder rechtliche Gründe zugrunde lagen. So heißt es in dem Urteil des II. Strafsenats des Reichsgerichts vom 28. Dezember 1880 wörtlich: „Nach diesem Gesetze müssen die Gründe des den Angeklagten freisprechenden Urteils e r g e b e n , das heißt also, durch ihre Ausführung klarstellen, ob der Angeklagte für nicht überführt, oder ob und eventuell aus welchen Gründen die für erwiesen angenommene That 1500 1501
So verlangt es etwa BGHSt 11, 1, 5. Dies wird etwa in BGH StV 2002, 235 vorausgesetzt.
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3. Kap.: Die höchstrichterliche Erweiterung der Revision auf Tatfragen
für nicht strafbar erachtet worden ist. Dem ersteren Erfordernisse wird nur dann genügt, wenn der Richter bezüglich aller derjenigen zur Ermittelung beziehentlich Feststellung des Thatbestandes der zur Anklage gestellten Strafthat wesentlichen Thatsachen, welche von der Anklage vorgebracht sind, nach erfolgter Prüfung des hierfür erbrachten Beweises sich ausdrücklich darüber ausspricht, welche dieser Thatsachen dargethan, welche nicht erweisen sind.“1502
Der III. Strafsenat des Reichsgerichts bestätigte dieses Urteil in seiner Entscheidung vom 3. Dezember 1881 im Wesentlichen und führte weiter aus: „Wie das Reichsgericht bereits wiederholt ausgesprochen hat, fordert der §. 266 Abs. 4 St.P.O. von den Gründen eines freisprechenden Urteils zum mindesten einerseits ein klares und bestimmtes Auseinanderhalten der thatsächlichen und der rechtlichen Gesichtspunkte, andererseits in thatsächlicher Beziehung eine deutliche Bezeichnung derjenigen Thatumstände, welche das erkennende Gericht als nicht erwiesen erachtet, und in rechtlicher Beziehung eine bestimmte Hervorhebung des Rechtsgrundes, welcher für die Entscheidung bestimmend gewesen ist.“1503
Allerdings ist dem Urteil des III. Strafsenats auch zu entnehmen, dass es bei einem Freispruch aus tatsächlichen Gründen ausreichend sein kann, lediglich festzustellen, dass der Angeklagte die Tathandlung nicht vorgenommen hat, wenn dadurch unzweideutig zum Ausdruck gebracht wird, dass der Angeklagte die ihm vorgeworfene Tat überhaupt nicht begangen hat. In diesem Fall würde die ganze Anschuldigung in sich zusammenfallen, weshalb das erkennende Gericht gesetzlich nicht verpflichtet sei, darzulegen, welche Erwägungen seiner Beweiswürdigung im Einzelnen zugrunde lagen, oder sich zu dem Vorhandensein der übrigen gesetzlichen Tatbestandsmerkmale zu äußern, auch wenn ihr Vorliegen von der Staatsanwaltschaft behauptet worden war.1504 Damit genügen die Urteilsgründe im oben genannten Beispiel den Anforderungen, die noch das Reichsgericht für ein freisprechendes Urteil aufgestellt hatte. Insbesondere ist in ihnen unmissverständlich dargelegt, dass A sich zum Zeitpunkt der Tat überhaupt nicht in der Nähe des Tatorts aufgehalten hat und deshalb unmöglich Täter des in Frage stehenden Tötungsdeliktes sein kann. Dementsprechend existiert keine Grundlage mehr für eine Verurteilung wegen Totschlags, sodass weitere Ausführungen des Tatrichters nach dem Reichsgericht völlig überflüssig wären. Somit müsste die Revision der Staatsanwaltschaft vorliegend leerlaufen. Allerdings hat der Bundesgerichtshof in jüngerer Zeit weitere Anforderungen an ein freisprechendes Urteil aufgestellt. Dieser verlangt von dem Tatrichter nämlich auch bei freisprechenden Urteilen ausnahmslos die Angabe von umfassenden Urteilsgründen, die deutlich über die Anforderungen des § 267 Abs. 5 StPO hinausgehen und auch die subjektiven Beweisgründe erfassen. So etwa heißt es in dem Urteil des 1. Strafsenats vom 11. Februar 2014: 1502 1503 1504
RGSt 3, 147, 148. RGSt 5, 225, 226 f. RGSt 5, 225, 226.
C. Kritik an der höchstrichterlichen Erweiterung der Revision
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„Spricht der Tatrichter den Angeklagten aus tatsächlichen Gründen frei, so muss er in den Urteilsgründen zunächst den Anklagevorwurf, hieran anschließend die insoweit getroffenen Feststellungen, dann die wesentlichen Beweisgründe und schließlich seine rechtlichen Erwägungen mitteilen. Der Tatrichter muss also zunächst diejenigen Tatsachen bezeichnen, die er für erwiesen hält, bevor er in der Beweiswürdigung darlegt, aus welchen Gründen er die zur Verurteilung notwendigen Feststellungen nicht treffen konnte [Hervorh. d. Verf.]. Nur hierdurch wird das Revisionsgericht in die Lage versetzt, nachprüfen zu können, ob der Freispruch auf rechtlich bedenkenfreien Erwägungen beruht.“1505
Obwohl dem Gesetz also weder eine so weitreichende Darstellungspflicht des Tatrichters noch eine entsprechende Nachprüfungskompetenz des Revisionsgerichts zu entnehmen ist, fordert der Bundesgerichtshof von dem Tatrichter eine umfassende Darlegung seiner Beweiswürdigung, damit es in der Lage ist, den Freispruch in der Gänze nachzuprüfen. Dass der Gesetzgeber gerade eine so weitgehende Nachprüfung des Freispruchs nicht wünschte, lässt der Bundesgerichtshof insoweit unberücksichtigt. Diesen erweiterten Anforderungen ist das Urteil des Schwurgerichts im obigen Beispiel freilich nicht gerecht geworden, sodass hier davon auszugehen ist, dass der Bundesgerichtshof das Urteil aufheben und zur Neuverhandlung zurückverweisen würde.1506 2. Gesetzwidrigkeit der Anforderungen des Bundesgerichtshofs an ein freisprechendes Urteil Sofern der Bundesgerichtshof im oben genannten Beispiel das Urteil des Schwurgerichts tatsächlich aufhebt, stellt sich also die Frage, ob der Angeklagte A, der von dem Tatgericht noch freigesprochen worden war, dieses für ihn ungünstige Revisionsurteil ohne Weiteres hinnehmen muss. Dafür könnte zunächst sprechen, dass der Freispruch noch nicht in Rechtskraft erwachsen war, sodass der Angeklagte auf diesen überhaupt nicht vertrauen durfte. Allerdings gilt zu bedenken, dass ein Angeklagter ungeachtet der Rechtskraft eines Instanzurteils sehr wohl darauf vertrauen kann, dass ein freisprechendes Urteil ausschließlich in einem Rechtsmittelverfahren aufgehoben würde, das den Vorschriften der Strafprozessordnung entsprechend durchgeführt wird. Daher hätte A im vorliegenden Beispiel zunächst durchaus darauf vertrauen dürfen, dass die verfahrensrechtskonform zustande gekommenen Feststellungen seines Freispruchs keiner weiteren Nachprüfung mehr unterliegen würden. Schließlich kann die Revision bereits nach dem Wortlaut des § 337 StPO nur darauf gestützt werden, dass das Urteil auf einer Verletzung des Gesetzes beruhe, weshalb diese Feststellungen dem Revisionsgericht gegenüber eine faktische, innerprozessuale Bindungswirkung entfalten. Allenfalls wenn das 1505 So BGH HRRS 2014 Nr. 472 Rn. 27; ähnl. aber auch BGH NJW 2013, 1106, 1106; BGH HRRS 2014 Nr. 597 Rn. 6; 2015 Nr. 37 Rn. 9. 1506 Vgl. insofern die ähnlich gelagerten Fälle in BGH NStZ 2014, 172; 2010, 529 f.; BGH HRRS 2014 Nr. 472 (= BGHSt 59, 177 ff.); 2012 Nr. 1075; 2010 Nr. 137; BGH NStZRR 1996, 1 f.; vgl. auch S. 240 ff.
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3. Kap.: Die höchstrichterliche Erweiterung der Revision auf Tatfragen
Schwurgericht bei der Hauptverhandlung verfahrensrechtliche Vorschriften außer Acht gelassen hätte, welche auch das Zustandekommen der Feststellungen betreffen, könnten sie gem. § 353 Abs. 2 StPO aufzuheben sein.1507 Da die Staatsanwaltschaft im konkreten Beispiel jedoch ausschließlich die Verletzung des sachlichen Rechts gerügt hat, käme eine Berücksichtigung etwaiger verfahrensrechtlicher Mängel in diesem Fall de lege lata ohnehin nicht im Betracht. Damit stünden die den Freispruch stützenden Feststellungen unwiderruflich fest. Darüber hinaus hätte der Angeklagte im vorliegenden Beispiel nach dem Wortlaut des Gesetzes trotz der erhobenen Sachrüge der Staatsanwaltschaft sogar darauf vertrauen dürfen, dass einer Aufhebung des Urteils aus sachlich-rechtlichen Gründen Grenzen gesetzt sind. Das Schwurgericht ist in dem Beispielsfall nämlich davon ausgegangen, dass A die ihm vorgeworfenen Tat tatsächlich nicht begangen hat. Wenn ein Freispruch jedoch deshalb erfolgt, weil das Gericht davon überzeugt ist, dass der Angeklagte der ihm vorgeworfenen Tat nicht überführt werden kann, kann sein Verhalten aus der Perspektive des Gerichts denklogisch unmöglich Teil eines Lebenssachverhaltes gewesen sein, der sich unter den Tatbestand einer materiellrechtlichen Strafnorm subsumieren ließe. Eben deshalb verlangte der Gesetzgeber von dem Tatrichter in § 267 Abs. 5 Satz 1 StPO in einem solchen Fall lediglich, anzugeben, ob der Angeklagte für nicht überführt erachtet worden ist.1508 Wenn jedoch anstatt eines umfassenden Sachverhalts lediglich angegeben werden muss, dass der Angeklagte für nicht überführt erachtet worden ist, kann ein solcher auch nicht mit der Sachrüge angefochten werden, da ein Subsumtionsmangel bereits denklogisch einen Sachverhalt voraussetzt, der unter eine Rechtsnorm zu subsumieren ist. Selbst das Reichsgericht, das in einem solchen Fall gestützt auf das Wort „ergeben“ im § 266 Abs. 4 RStPO (§ 267 Abs. 5 Satz 1 StPO) darüber hinaus verlangte, dass der Tatrichter zumindest angeben müsse, welche Tatsachen von ihm für nicht erwiesen erachtet worden sind,1509 nahm einen entsprechenden Darstellungsmangel konsequenterweise erst auf eine Verfahrensrüge hin zur Kenntnis, da § 266 RStPO, wie der heutige § 267 StPO, eine verfahrensrechtliche Vorschrift darstellte.1510 Die Praxis des Bundesgerichtshofs freisprechende Urteile ungeachtet dessen bereits auf eine Sachrüge hin wegen eines Darstellungsmangels aufzuheben, weil der Tatrichter in den Urteilsgründen nicht dargelegt hat, warum der Angeklagte für nicht überführt zu erachten ist,1511 findet im Gesetz dagegen keine Stütze. So verlangt § 267 Abs. 5 StPO von dem Tatrichter gerade nicht, in den Urteilsgründen auch die
1507
Vgl. hierzu auch S. 247 ff. Vgl. RGSt 5, 225, 226. 1509 Zu den reichsgerichtlichen Anforderungen an ein freisprechendes Urteil vgl. S. 313 f. 1510 RGSt 3, 147; 5, 225, 15, 217; 41, 19. 1511 Vgl. etwa BGH HRRS 2014 Nr. 472 Rn. 27; 2014 Nr. 597 Rn. 6 f.; 2012 Nr. 1075 Rn. 14; 2010 Nr. 137 Rn. 18; BGH NJW 2013, 1106, 1106. 1508
C. Kritik an der höchstrichterlichen Erweiterung der Revision
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subjektiven Beweisgründe, also der Gründe, die für seine Überzeugung leitend gewesen sind, anzugeben. In den Motiven zur Strafprozessordnung heißt es hierzu: „In Betreff der freisprechenden Urteile (Abs. 41512) bleibt noch Folgendes zu bemerken: Auch bei diesen wird fast immer die für das Nichtschuldig stimmende Zahl von Richtern über einen bestimmten Grund der Freisprechung einig sein […]. Denkbar ist es indeß auch, daß von den Richtern ein Theil den Angeklagten für nicht überführt, der andere Theil einen Strafausschließungsgrund für dargethan erachtet. […] In einem solchem [sic!] Fall nun würden die Urtheilsgründe sich freilich auf die Angabe beschränken müssen, daß das Gericht nicht von der S c h u l d des Angeklagten überzeugt sei.“1513
Dabei folgt bereits aus der einleitenden Wendung „in Betreff auf die freisprechenden Urteile bleibt noch Folgendes zu bemerken“, dass auch für die Begründung eines Freispruchs die allgemeinen Ausführungen der Motive zu den Urteilsgründen gelten, wonach – wie schon dargelegt1514 – eine Angabe von Beweisgründen gerade nicht erforderlich sein sollte. Noch bemerkenswerter aber ist der unmissverständliche Hinweis, dass die Urteilsgründe, sofern sich die Richter eines Kollegialgerichts bei einem Freispruch nicht einigen können, ob der Freispruch aus tatsächlichen oder rechtlichen Gründen ergehen soll, keine weiteren Angaben enthalten müssten, außer dass das Gericht nicht von der Schuld des Angeklagten überzeugt sei. Da ohne eine weitergehende Begründung jedoch eine revisionsgerichtliche Nachprüfung der Entscheidung nicht in Betracht kommt, ging der historische Gesetzgeber ganz offensichtlich davon aus, dass freisprechende Urteile bereits dann keiner revisionsgerichtlichen Nachprüfung unterliegen sollten, sofern auch nur ein Teil der Richter den Angeklagten aus tatsächlichen Gründen für nicht überführt erachtete. Dies stimmt auch mit dem in vielen Common-Law-Staaten zu findenden Grundsatz überein, dass ein Urteil zugunsten des Angeklagten keiner Aufhebung unterliegen soll.1515 Zusammenfassend kann insofern festgehalten werden, dass die revisionsgerichtliche Praxis, tatrichterliche Urteile bereits auf die Sachrüge hin einer Darstellungskontrolle zu unterziehen,1516 bei Freisprüchen, die darauf beruhen, dass der Angeklagte für nicht überführt erachtet worden ist, eine gesetzlich nicht vorgesehene Nachprüfbarkeit des Urteils durch eine höhere Instanz schafft. Somit hätte der Angeklagte im vorgenannten Beispiel darauf vertrauen können, dass die Feststellung des Schwurgerichts, dass er die Tat nicht begangen habe, nicht schon aufgrund einer Sachrüge der Staatsanwaltschaft aufgehoben würde, wenn das Revisionsverfahren sich innerhalb seiner gesetzlichen Grenzen bewegt hätte. Die höchstrichterlich vorgenommene Erweiterung der Revision hat damit zur Folge, dass dieses gesetzlich 1512 Gemeint ist der Absatz 4 des § 266 StPO, der mit dem heutigen § 267 Abs. 5 Satz 1 StPO übereinstimmt. 1513 Motive zur StPO, in: Hahn (Hrsg.), Materialien zur StPO, Bd. III/1, S. 211. 1514 Vgl. hierzu S. 177 ff. 1515 Ausführlich hierzu S. 60 f. 1516 Hierzu ausführlich bereits S. 306 ff.
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3. Kap.: Die höchstrichterliche Erweiterung der Revision auf Tatfragen
begründete Vertrauen des Angeklagten aufgrund einer contra legem vorgenommenen höchstrichterlichen Rechtsfortbildung keinen Schutz mehr genießt. 3. Verletzung des Anspruchs auf den gesetzlichen Richter durch die Erweiterung der Revision zulasten des Angeklagten Zu bedenken gilt hierbei auch, dass die Anwendung der erweiterten Revision zulasten des Angeklagten keinesfalls die Ausnahme darstellt. Vielmehr scheint eine Darstellungskontrolle deutlich häufiger auf ein Rechtsmittel der Staatsanwaltschaft hin zu erfolgen als bei anwaltlichen Rechtsmitteln. So etwa griff der Bundesgerichtshof nach Barton im Jahr 2005, in dem zuletzt entsprechende Zahlen erhoben wurden,1517 in lediglich 56 Fällen zu dem Mittel der erweiterten Revision.1518 Dabei lagen 17 dieser 56 Fälle eine Revision der Staatsanwaltschaft zugrunde, obwohl von den 3.173 Revisionen, die in dem Jahr eingelegt worden waren, lediglich 119 von der Staatsanwaltschaft stammten.1519 Anders formuliert, kam die erweiterte Revision bei 14,29 % (17 von 119) der staatsanwaltlichen Rechtsmittel zur Anwendung, während sie bei nur 1,28 % (39 von 3.054) der anwaltlichen Rechtsmitteln Verwendung fand. Zwar muss dabei berücksichtigt werden, dass nicht alle staatsanwaltlichen Revisionen zwingend zulasten des Angeklagten eingelegt worden sein müssen, doch müssen auch nicht alle anwaltlichen Revisionen ausschließlich zugunsten des Angeklagten eingelegt worden sein, da diese auch von der Nebenklage stammen können. Insofern erscheint es nicht fernliegend, davon auszugehen, dass die erweiterte Revision im Jahre 2005 relativ betrachtet zehnmal häufiger zulasten des Angeklagten zur Anwendung gekommen ist als zu seinen Gunsten. Die erweiterte Revision scheint damit – jedenfalls in Anbetracht der Zahlen für das Jahr 2005 – eher ein richterrechtlich geschaffenes Instrument zulasten des Angeklagten darzustellen, als dass sie seine Rechtsschutzmöglichkeiten erweiterte. Dies ist insofern problematisch, als die Revisionsgerichte, indem sie tatrichterliche Entscheidungen zugunsten des Angeklagten ohne eine gesetzliche Grundlage aufheben, Grundrechtseingriffe vornehmen, die verfassungsrechtlich nicht mehr gerechtfertigt werden können. Neben dem offensichtlichen Eingriff in das allgemeine Persönlichkeitsrecht durch die gesetzeswidrige Aufhebung eines Freispruches kommt hierbei vor allem eine Verletzung des grundrechtsgleichen Rechts auf den gesetzlichen Richter gem. Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG in Betracht.1520 Schließlich 1517
Auch wenn es an dieser Stelle wünschenswert gewesen wäre, aktuellere Zahlen zu präsentieren, wurde dem Verfasser auf Nachfrage sowohl von dem Generalbundesanwalt als auch dem Bundesgerichtshof mitgeteilt, dass die von Barton genutzten Zahlen auf einer einmaligen Sondererhebung für das Jahr 2005 beruhten, die für jüngere Jahrgänge nicht zur Verfügung stünden, sodass von diesem Vorhaben Abstand genommen werden musste. 1518 Vgl. Barton, in: FS Fezer, S. 348. 1519 Vgl. Barton, in: FS Fezer, S. 348. 1520 Auf diese Möglichkeit weist auch Sowada, Der gesetzliche Richter im Strafverfahren, S. 740 ff., hin, ohne jedoch abschließend hierzu Stellung zu nehmen.
C. Kritik an der höchstrichterlichen Erweiterung der Revision
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haben nach der gesetzgeberischen Grundentscheidung lediglich die Gerichte erster Instanz und die Berufungsgerichte eine volle Beurteilungskompetenz in Strafsachen (Tatsacheninstanzen), während den Revisionsgerichten lediglich die Kompetenz zusteht, die Rechtsanwendung durch die Tatsacheninstanzen und die Gesetzesmäßigkeit des tatrichterlichen Verfahrens im Rahmen der Revisionsanträge nachzuprüfen (Rechtsinstanz). Daraus folgt, dass der Revisionsrichter von Gesetzes wegen nicht dazu berufen ist, über die Richtigkeit oder Unrichtigkeit von Tatfragen zu entscheiden. Er kann allenfalls die Feststellungen des Tatrichters aufheben, wenn das Urteil selbst wegen einer Gesetzesverletzung aufzuheben ist und die Feststellungen durch diese Gesetzesverletzung betroffen sind. Der gesetzliche Richter für die Tatfragen ist demnach ausschließlich der Tatrichter. Wenn sich nun ein Revisionsgericht willkürlich Kompetenzen anmaßt, die darüber hinaus gehen und ihm von Gesetzes wegen nicht zustehen, und tatrichterliche Entscheidungen aufhebt, liegt darin folglich stets eine Entziehung des gesetzlichen Richters.1521 Dass durch einen revisionsgerichtlichen Übergriff in die Domäne des Tatrichters der Anspruch auf den gesetzlichen Richter verletzt werden kann, wird auch von dem Bundesverfassungsgericht für grundsätzlich möglich gehalten. So heißt es bereits in einem Beschluss des Bundesverfassungsgerichts vom 26. Februar 1954, auch wenn es in dem konkreten Fall eine Verletzung des gesetzlichen Richters durch die Revisionsinstanz verneint hat: „Ob jemand seinem gesetzlichen Richter dadurch entzogen werden kann, daß ein Revisionsoder Rechtsbeschwerdegericht (Rechtsinstanz) im Einzelfalle Befugnisse ausübt, die an sich der Tatsacheninstanz zukommen, kann zweifelhaft sein. Das Recht auf den gesetzlichen Richter schützte zunächst die Unabhängigkeit der Justiz vor sachfremden Eingriffen der Exekutive, einschließlich der Justizverwaltung. Später schützte es auch vor Eingriffen der Landesgesetzgebung (§ 16 GVG) und – seit der Aufnahme in Art. 105 WRV – in gewissem Umfange auch der Reichsgesetzgebung. Man könnte aus dieser geschichtlichen Entwicklung folgern, daß Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG niemals durch Akte der Rechtsprechung verletzt werden könne; doch erscheint die Möglichkeit nicht ausgeschlossen, daß ein Gericht seine Zuständigkeit offenbar willkürlich bejaht oder verneint und dadurch eine Verschiebung der gesetzlich vorgesehenen Zuständigkeit im Einzelfall zum Nachteil einer Prozeßpartei bewirkt.“1522
Auch jüngst wies das Bundesverfassungsgericht mit Blick eine Schuldspruchkorrektur durch das Revisionsgericht darauf hin, dass eine Praxis des Revisionsgerichts, welche in die Domäne des Tatrichters eingreift, den Anspruch des Angeklagten auf den gesetzlichen Richter verletze.1523 Insofern sei nochmal hervorgehoben, dass allein der Tatrichter gesetzlicher Richter für die Tatfragen ist. Dass Tat- und Rechtsfragen nicht stets eindeutig voneinander abzugrenzen sind, ist dabei nicht von Bedeutung, da jedenfalls dann, 1521 1522 1523
Maunz, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 101 Rn. 55. BVerfGE 3, 359, 363 f. Vgl. BVerfG, Stattgebender Kammerbeschluss vom 10. Oktober 2007 – 2 BvR 1977/05.
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3. Kap.: Die höchstrichterliche Erweiterung der Revision auf Tatfragen
wenn feststeht, dass eine Tatfrage vorliegt, diese dem revisionsgerichtlichen Zugriff entzogen ist.1524 Sofern sich der Revisionsrichter diese Kompetenzen dennoch anmaßt und einen Freispruch aufhebt, weil er anhand der Urteilsgründe nicht davon überzeugt ist, dass der Angeklagte die ihm vorgeworfene Tat nicht begangen hat, verletzt er den Anspruch des Angeklagten auf den gesetzlichen Richter gem. Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG.
III. Arbiträre Handhabung der Darstellungskontrolle in der revisionsgerichtlichen Praxis Zu kritisieren an der höchstrichterlichen Handhabung der Darstellungskontrolle ist nicht zuletzt auch ihre scheinbar arbiträre Anwendung in der Praxis der einzelnen Strafsenate des Bundesgerichtshofs. So erweckt die Anwendung der Darstellungskontrolle durch den Bundesgerichtshof – wie im Folgenden noch ausführlich dargelegt werden wird – nicht selten den Eindruck, dass die Entscheidung, ob im Rahmen der Revision auch eine Nachprüfung der tatrichterlichen Sachverhaltsfeststellungen und Beweiswürdigung erfolgen soll, keinen festen und nachvollziehbaren Regeln unterliegt. So legte bereits Fezer in seiner Schrift von 1974 dar, dass der Bundesgerichtshof bei der Darstellungsrüge mit dem Begriff der Rechtsverletzung ein „doppeltes Spiel“ treibt.1525 Danach sehe sich der Bundesgerichtshof zwar einerseits gezwungen, für seine Darstellungskritik – die im Grunde eine Kritik an den tatsächlichen Feststellungen ist – eine Gesetzesverletzung zu konstruieren, da die gesetzlichen Voraussetzungen der Revision einen unmittelbaren Zugriff auf die Tatsachen verbiete; andererseits jedoch halte der Bundesgerichtshof diese Konstruktion so unbestimmt, dass sich daraus kaum exakte Rügegründe ableiten ließen.1526 Diese von Fezer beschriebene Praxis gestattet den Revisionsgerichten, Rügen des Rechtsmittelführers, welche die Tatfragen betreffen, in dem einen Fall mit einem Hinweis auf die beschränkten Möglichkeiten der Revision zurückzuweisen, während sie in einem anderen, ähnlich gelagerten Fall eine umfassende Darstellungsprüfung vornehmen.1527 Im Rahmen des vorliegenden Unterabschnittes sollen diese Widersprüche und die Ergebnisorientierung in der Rechtsprechung der Revisionssenate aufgezeigt werden, die zugleich belegen, warum eine gesetzliche Erweiterung der Revision durchaus angezeigt sein kann.
1524 1525 1526 1527
Vgl. auch S. 232 ff. Fezer, Die erweiterte Revision, S. 51 f. Fezer, Die erweiterte Revision, S. 52. Fezer, Die erweiterte Revision, S. 52.
C. Kritik an der höchstrichterlichen Erweiterung der Revision
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1. Widersprüche in der höchstrichterlichen Rechtsprechung zur Darstellungskontrolle So wurde bereits hinreichend dargelegt, dass die höchstrichterliche Rechtsprechung Mittel und Wege gefunden hat, das tatrichterliche Urteil aufgrund einer Sachrüge nicht nur auf materiell-rechtliche Mängel, sondern auch auf Mängel der Feststellungen und der Beweiswürdigung – also materielle Mängel – hin zu untersuchen.1528 Im offensichtlichen Widerspruch zu dieser revisionsgerichtlichen Praxis steht allerdings die weiterhin ständige Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs, dass dem Revisionsgericht der Zugriff auf die Tatfragen generell versperrt sei.1529 So etwa urteilte der 1. Strafsenat des Bundesgerichtshofs am 21. September 2011: „Die Aufgabe, sich auf der Grundlage der vorhandenen Beweismittel eine Überzeugung vom tatsächlichen Geschehen zu verschaffen, obliegt grundsätzlich allein dem Tatrichter. Seine Beweiswürdigung hat das Revisionsgericht regelmäßig hinzunehmen [Hervorh. d. Verf.; hier gilt insbesondere zu beachten, dass in der juristischen Fachsprache mit ,regelmäßig‘ in aller Regel ,ausnahmslos‘ gemeint ist – Anm. d. Verf.]. Es ist ihm verwehrt, sie durch eine eigene zu ersetzen oder sie etwa nur deshalb zu beanstanden, weil aus seiner Sicht eine andere Bewertung der Beweise näher gelegen hätte.“1530
In dem Urteil des 4. Strafsenats vom 27. Januar 2011 heißt es sogar: „Die Aufgabe, sich auf der Grundlage der vorhandenen Beweismittel eine Überzeugung vom tatsächlichen Geschehen zu verschaffen, obliegt grundsätzlich allein dem Tatrichter [Hervorh. d. Verf.]. Seine Beweiswürdigung hat das Revisionsgericht regelmäßig hinzunehmen, es ist ihm verwehrt, sie durch eine eigene zu ersetzen. Nach der durch § 261 und § 337 StPO vorgegebenen Aufgabenverteilung zwischen Tat- und Revisionsgericht kommt es nicht darauf an, ob das Revisionsgericht angefallene Erkenntnisse anders gewürdigt oder Zweifel überwunden hätte. Daran ändert sich nicht einmal dann etwas, wenn vom Tatrichter getroffene Feststellungen ,lebensfremd‘ erscheinen mögen. Denn der vom Gesetz verwendete ,Begriff der Überzeugung[‘] schließt die Möglichkeit eines anderen, auch gegenteiligen Sachverhalts nicht aus; vielmehr gehört es gerade zu ihrem Wesen, dass sie sehr häufig dem objektiv möglichen Zweifel ausgesetzt bleibt. Denn im Bereich der vom Tatrichter zu würdigenden Tatsachen ist der menschlichen Erkenntnis bei ihrer Unvollkommenheit ein absolut sicheres Wissen über den Tathergang, demgegenüber andere Möglichkeiten seines Ablaufs unter allen Umständen ausscheiden müssten, verschlossen. Es ist 1528
Vgl. S. 240 ff. BGH HRRS 2011 Nr. 1169 Rn. 10; BGH HRRS 2009 Nr. 708 Rn. 9; 2009 Nr. 155 Rn. 4; 2008 Nr. 866 Rn. 14; 2007 Nr. 775 Rn. 9. 1530 So etwa BGH HRRS 2011 Nr. 1169 Rn. 10; dass der Satz, „Kann der Tatrichter vorhandene Zweifel nicht überwinden, so kann das Revisionsgericht eine solche Entscheidung nur im Hinblick auf Rechtsfehler überprüfen, insbesondere darauf, ob die Beweiswürdigung in sich widersprüchlich, unklar oder lückenhaft ist, die Beweismittel nicht ausschöpft, Verstöße gegen Denkgesetze oder Erfahrungssätze aufweist oder ob der Tatrichter überspannte Anforderungen an die für eine Verurteilung erforderliche Gewissheit gestellt hat“, zumindest teilweise im offensichtlichen Widerspruch zu der im Haupttext wiedergegebenen Aussage steht, thematisiert der Senat nicht weiter. Ähnlich wie im Haupttext auch BGH HRRS 2009 Nr. 708 Rn. 9; 2009 Nr. 155 Rn. 4; 2008 Nr. 866 Rn. 14; 2007 Nr. 775 Rn. 9. 1529
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3. Kap.: Die höchstrichterliche Erweiterung der Revision auf Tatfragen
also die für die Schuldfrage entscheidende, ihm allein übertragene Aufgabe des Tatrichters, ohne Bindung an gesetzliche Beweisregeln und nur seinem Gewissen verantwortlich zu prüfen, ob er die an sich möglichen Zweifel überwinden und sich von einem bestimmten Sachverhalt überzeugen kann oder nicht“1531.1532
Knapper und prägnanter formulierte es der 5. Strafsenat am 24. März 2015: „Die Beweiswürdigung ist dem TatGer. vorbehalten (§ 261 StPO). […] Der Beurteilung durch das RevGer. unterliegt nur, ob dem Tatgericht Rechtsfehler unterlaufen sind. Das ist dann der Fall, wenn die Beweiswürdigung widersprüchlich, unklar oder lückenhaft ist, wenn sie gegen Denkgesetze oder gesicherte Erfahrungssätze verstößt oder das Gericht überspannte Anforderungen an die Überzeugungsbildung gestellt hat. Dabei hat das RevGer. die tatrichterliche Überzeugungsbildung selbst dann hinzunehmen, wenn eine andere Beurteilung näher gelegen hätte oder überzeugender gewesen wäre [Hervorh. d. Verf.]“.1533
Dann allerdings heißt es in einer Entscheidung des 4. Strafsenats vom 7. Dezember 2011: „Grundsätzlich ist der Tatrichter bei seiner Beweiswürdigung frei (§ 261 StPO); von ihm gezogene Schlussfolgerungen müssen nur möglich, nicht aber zwingend sein. Getroffene Feststellungen sind erst dann rechtsfehlerhaft, wenn sie sich von einer festen Tatsachengrundlage [so] sehr entfernen, dass sie letztlich bloße Vermutungen sind und deshalb keine objektiv hohe Wahrscheinlichkeit mehr für ihre Richtigkeit besteht [Hervorh. d. Verf.].“1534
Während es also in dem einen Urteil heißt, das Revisionsgericht habe die tatrichterliche Überzeugungsbildung selbst dann hinzunehmen, wenn eine andere Beurteilung nähergelegen hätte oder überzeugender gewesen wäre, verlangt die andere Entscheidung eine objektiv hohe Wahrscheinlichkeit für die Überzeugung des Tatrichters – widersprüchlicher geht es kaum! Dabei bedarf es gelegentlich nicht mal der Betrachtung zweier Urteile, um zu erkennen, wie widersprüchlich der Bundesgerichtshof Rügen gegen die tatrichterliche Beweiswürdigung zuweilen behandelt. So etwa hatte das Tatgericht in der sog. Mannesmann-Entscheidung1535 angenommen, dass die Angeklagten davon ausgegangen waren, im Rahmen ihres unternehmerischen Handlungsspielraums dazu befugt zu sein, vertraglich nicht vereinbarten Prämien an bestimmte Angestellte zu bewilligen. Auf die Revision der Staatsanwaltschaft, die davon ausgegangen war, dass jene Prämien den Tatbestand der Untreue erfüllten, kritisierte der 3. Strafsenat des Bundesgerichtshofs die besagten Feststellungen der Strafkammer, weil sie vermeintlich nicht auf einer umfassenden Beweiswürdigung beruhten.1536 Auch die Annahme der Strafkammer, die Angeklagten hätten sich in einem unvermeidbaren Verbotsirrtum befunden, rügte der 1531
Zitat laut Nachweis entnommen aus BGHSt 10, 208, 209. BGH HRRS 2011 Nr. 375 Rn. 24. 1533 BGH NStZ-RR 2015, 178, 179; so auch schon BGH HRRS 2005 Nr. 275 Rn. 11. 1534 BGH HRRS 2012 Nr. 171 Rn. 6; so auch schon BGH NJW 1999, 1562, 1564. 1535 Auszugsweise wiedergegeben in BGHSt 50, 331 ff.; für eine vollständige Wiedergabe, vgl. BGH HRRS 2006 Nr. 100. 1536 BGH HRRS 2006 Nr. 100 Rn. 44. 1532
C. Kritik an der höchstrichterlichen Erweiterung der Revision
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Senat als rechtsfehlerhaft,1537 weil die diesbezüglichen Feststellungen widersprüchlich seien und auf einer lückenhaften Beweiswürdigung beruhten.1538 Dabei nahm der Senat sogar eine eigene (!) Beweisbewertung vor und stellte fest, dass es schlechterdings nicht vorstellbar sei, dass der in führenden Positionen der deutschen Wirtschaft tätige Angeklagte Ackermann und der mitangeklagte Gewerkschaftsführer Zwickel sich für berechtigt gehalten haben könnten, willkürlich in Millionenhöhe über das ihnen anvertraute Gesellschaftsvermögen verfügen zu dürfen.1539 Wieso der Senat sich für geeigneter hielt, diesen Schluss zu treffen, als das Tatgericht, dass über mehrere Verhandlungstage hinweg einen unmittelbaren Eindruck von den Angeklagten hatte, ließ er jedoch offen. Bemerkenswerter noch ist im vorliegenden Kontext aber, dass der Senat – der die Feststellungen zugunsten der Angeklagten in mehrfacher Hinsicht gerügt hatte – die Angriffe der Verteidigung gegen die Feststellungen des Tatgerichts ausgerechnet mit dem Hinweis zurückwies, dass die Verteidigung versuche, die den Senat bindenden Feststellungen des Landgerichts durch Angriffe gegen die Beweiswürdigung in Zweifel zu ziehen, und ihre Ausführungen sich dabei weitgehend in einer eigenen Beweiswürdigung erschöpften. Damit könne sie im Revisionsverfahren jedoch nicht gehört werden. Selbst wenn sie insoweit Rechtsfehler aufzeigen würde, könne dies nicht dazu führen, dass der Senat eigene Feststellungen trifft, welche die Freisprüche rechtfertigen könnten.1540 Dies obwohl der Senat selbst – unter Zurückweisung des anderslautenden tatrichterlichen Ergebnisses der Beweisaufnahme – zu der Feststellung gelangt war, es sei schlechterdings nicht vorstellbar, dass die in führenden Positionen der deutschen Wirtschaft tätigen Angeklagten sich für berechtigt gehalten haben könnten, in Millionenhöhe willkürlich über das ihnen anvertraute Gesellschaftsvermögen verfügen zu dürfen.1541 Es zeigt sich also, dass der Bundesgerichtshof selbst in ein und demselben Verfahren keine Bedenken hat, die tatsächlichen Feststellungen und die Beweiswürdigung der Vorinstanz einerseits auf eine Rüge der Staatsanwaltschaft als mangelhaft zu rügen und andererseits die Angriffe der Verteidigung gegen die tatrichterliche Beweiswürdigung mit einem schlichten Hinweis auf seine beschränkten Überprüfungskompetenzen zu verwerfen. Gerade dieses Beispiel zeigt in besonderer Deutlichkeit, dass der geltenden Revisionsrechtsprechung keine exakte Trennlinie zwischen irrevisibler tatrichterlicher Beweiswürdigung und revisibeler Rechtskontrolle zu entnehmen ist.1542 So räumte Herdegen, bis 1991 Vorsitzender Richter des 2. Strafsenats des Bundesgerichtshofs, noch 2014 ein, dass die Rechtsprechung des
1537 1538 1539 1540 1541 1542
BGH HRRS 2006 Nr. 100 Rn. 58. BGH HRRS 2006 Nr. 100 Rn. 59, 62. BGH HRRS 2006 Nr. 100 Rn. 62. BGH HRRS 2006 Nr. 100 Rn. 29. BGH HRRS 2006 Nr. 100 Rn. 62. So Barton, in: FS Fezer, S. 345.
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3. Kap.: Die höchstrichterliche Erweiterung der Revision auf Tatfragen
Bundesgerichtshofs zu der Darstellungskontrolle „auffällige und schwerwiegende Disparitäten“ aufweist.1543 Weiter heißt es bei Herdegen: „[Der Bundesgerichtshof] macht Aussagen, die sich nicht auf einen Nenner bringen lassen, verwendet in grundsätzlicher Grundsatzlosigkeit drei unterschiedliche Kriterien, greift das eine Mal mit einem fallbezogenen Argument in die Beweiswürdigung ein, ohne die Frage nach der rechtlichen Grundlage des Eingriffs aufzuwerfen[,] und verneint das andere Mal die Möglichkeit des Eingriffs in einer vom Fall abstrahierenden Begrenzung seiner Kompetenz.“1544
Obwohl die Revisionsurteile, in deren Rahmen eine Darstellungskontrolle vorgenommen wurden, den Eindruck erwecken, dass bestimmte tatrichterliche Versäumnisse stets eine revisionsgerichtliche Darstellungsrüge nach sich ziehen würden, liegt der höchstrichterlichen Darstellungskontrolle bis heute tatsächlich kein einheitliches Konzept zugrunde.1545 Bei einer Gesamtbetrachtung der revisionsgerichtlichen Rechtsprechung stellen sie sich als einzelfallorientierte Urteile ohne Leitsatzcharakter dar,1546 von denen die Revisionsgerichte in ständiger (!) Rechtsprechung weiterhin abweichen, sofern sie keinen Bedarf sehen, das Urteil aufzuheben. So bleibt für den Revisionsführer stets ungewiss, ob ein Revisionsangriff auf die tatrichterliche Urteilsdarstellung von dem Revisionsgericht als offensichtlich unbegründet verworfen werden wird oder zum Anlass genommen werden könnte, das vorinstanzliche Urteil wegen „sachlich-rechtlicher“ Mängel aufzuheben.1547 Verschärft wird diese Rechtsunsicherheit durch die dem Revisionsgericht in § 349 Abs. 2 StPO eingeräumte Möglichkeit, eine Revision auf einen entsprechenden Antrag der Staatsanwaltschaft hin durch einstimmigen Beschluss als offensichtlich unbegründet zu verwerfen. Hierdurch kann das Revisionsgericht jede Rüge, die sich gegen die mangelhafte Begründung von Tatsachenfeststellungen richtet, mit dem (impliziten) Verweis auf die beschränkte Reichweite der Revision im Beschlusswege verwerfen, ohne sich in einer ausführlichen Begründung mit den Diskrepanzen zu seiner sonstigen Rechtsprechung auseinanderzusetzen. Dies erschwert nicht nur die Entwicklung klarer und transparenter Rechtsprinzipen im Hinblick auf die Darstellungskontrolle, sondern weckt zuweilen auch den Anschein einer Willkürjustiz, den es aber bereits in einem rechtsstaatlichen Verfahren unbedingt zu vermeiden gälte.1548
1543
Herdegen, in: Michalke (Hrsg.), Geschichte des Deutsche Strafverteidiger e.V., S. 63. Herdegen, in: Michalke (Hrsg.), Geschichte des Deutsche Strafverteidiger e.V., S. 63. 1545 Schäfer, in: 18. Strafverteidigertag, S. 107. 1546 Ausführlich hierzu auch Hamm, StV 1987, 262, 264. 1547 Herdegen, StV 1992, 527, 527; Schünemann, JA 1982, 123, 126. 1548 Vgl. etwa die §§ 24 ff. StPO, die eine Ablehnung eines Richters bereits wegen der Besorgnis der Befangenheit gestattet, ohne dass eine Befangenheit tatsächlich vorliegen muss. 1544
C. Kritik an der höchstrichterlichen Erweiterung der Revision
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2. Ergebnisorientierung und Entformalisierung der Rechtsprechung durch Revisionsgerichte Nach alledem können die Revisionsgerichte in Strafsachen de facto völlig selbstständig, und – aufgrund ihrer Stellung als höchstinstanzliche Gerichte – ohne die Möglichkeit einer überinstanzlichen Nachprüfung, von Fall zu Fall entscheiden, ob sie sich bei einem Revisionsangriff gegen die tatrichterlichen Sachverhaltsfeststellungen auf den Gesetzeswortlaut besinnen und eine Überprüfung der Beweiswürdigung ablehnen wollen oder im Wege der erweiterten Revision die Mangelhaftigkeit der Tatsachenfeststellungen monieren und das Urteil aufheben.1549 Diese Tatsache wurde bereits 1992 von Foth, der noch bis 1995 Richter am Bundesgerichtshof war, bemerkt und kritisch kommentiert: „Die Revisionsgerichte – gewohnt, von niemandem (außer ab und zu dem Verfassungsgericht) kontrolliert zu werden – haben ohne großes Bedenken, ob das denn ihre Sache sei, ihre Prüfungskompetenz über die in der Strafprozessordnung gezogenen Grenzen ausgedehnt und damit eine Aufgabe übernommen, die sowohl sie als auch die Tatgerichte überfordert“.1550
Hierbei hat es den Eindruck, dass die Revisionsrichter, jedenfalls im Rahmen der Darstellungskontrolle, vom Ergebnis her denken – ein revisionsfähiger rechtlicher Mangel scheint nämlich erst dann in die tatsächlichen Feststellungen bzw. in die Beweiswürdigung des Tatrichters hineingelesen zu werden, wenn das Revisionsgericht das vorinstanzliche Urteil auch im Ergebnis als einen Missgriff empfindet.1551 Ist es dem Revisionsgericht dagegen möglich, die tatrichterliche Überzeugung anhand der schriftlichen Urteilsmaterialien selbst nachzuvollziehen, sinkt seine Bereitschaft, das Urteil wegen „bloßer“ Darstellungs- oder Verfahrensmängel aufzuheben.1552 Wie „flexibel“ die Revisionssenate des Bundesgerichtshofs dabei sind, brachte Fischer in einem jüngeren Beitrag zum Ausdruck; dort heißt es: „Unter den Strafrichtern des BGH gilt die Regel (oder jedenfalls die vielfach zitierte Sentenz): Es gibt kein Urteil, in dem sich nicht ein Rechtsfehler finden lässt“.1553 Aus der „freien Beweiswürdigung“ durch die Tatrichter wird somit also eine „Beweiswürdigung zur Überzeugung der Revisionsgerichte“. Der Bestand eines tatrichterlichen Urteils hängt somit vor allem von der außerrechtlichen Frage ab, ob das Urteil dem Revisionsgericht, das anhand der Aktenlage eine eigene Beweiswürdigung vornimmt, im Ergebnis als gerecht erscheint.1554 1549 Barton, in: FS Fezer, S. 340 ff.; Foth, Anm. zu BVerfG, Beschluss vom 8. Mai 1991, NStZ 1991, 444, 447. 1550 Foth, Anm. zu BVerfG, Beschluss vom 8. Mai 1991, NStZ 1991, 444, 447. 1551 Dies mit einer erschreckenden Leichtigkeit einräumend VRiBGH a. D. Sarstedt, in: FS Dreher, S. 687; vgl. auch Rosenau, in: FS Widmaier, S. 532; ähnl. auch Rieß, GA 1978, 257, 261; Fischer, in: FS Paeffgen, S. 738; Fezer, in: FS Hanack, S. 337. 1552 Ähnl. Fezer, in: FS Hanack, S. 336; vgl. auch Fezer, in: FS Frisch, S. 1319. 1553 Fischer, in: FS Paeffgen, S. 738. 1554 Ähnl. schon Schmitt, Die richterliche Beweiswürdigung im Strafprozeß, S. 404.
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3. Kap.: Die höchstrichterliche Erweiterung der Revision auf Tatfragen
Hierzu heißt es bei Jähnke, Vorsitzender des 2. Strafsenats und Vizepräsident des Bundesgerichtshofs bis 2002: „ein Urteil zu erlassen, von dessen Richtigkeit es nicht überzeugt ist [Hervorh. d. Verf.], wird niemand ernsthaft vom Revisionsgericht fordern“.1555 Gerade aber die Tatsache, dass die erweiterte Revision nicht schon dann zur Anwendung gelangt, wenn die tatrichterliche Urteilsdarstellung objektiv mangel- oder lückenhaft ist, sondern erst dann, wenn das Revisionsgericht – oder besser gesagt, der Berichterstatter des Revisionsgerichts – nach einer eigenen Beweisbewertung das Ergebnis der tatrichterlichen Beweiswürdigung im Einzelfall nicht teilt, beinhaltet einen Moment der Willkür.1556 Hierdurch wird einer staatlichen Institution ermöglicht, ohne jede Rechtsgrundlage zwischen zwei völlig unterschiedlichen Instrumenten (nämlich der Revision de lege lata oder der erweiterten Revision contra legem) zu wählen, ohne dass der Wahl eine Regelhaftigkeit zugrunde läge.1557 Freilich hängt diese willkürlich anmutende Anwendung der erweiterten Revision durch die Strafsenate des Bundesgerichtshofs eng mit der Tatsache zusammen, dass es sich bei der Revision zum Bundesgerichtshof um das alleinige Rechtsmittel gegen die land- und oberlandesgerichtlichen Urteile in Strafsachen handelt. So liegt es durchaus nahe, dass der Bundesgerichtshof durch diese ergebnisorientierte und entformalisierte Rechtsprechung versucht, dem Aspekt der Einzelfallgerechtigkeit – sowohl zugunsten als auch zulasten des Angeklagten – eine größere Bedeutung beizumessen als es noch der historische Gesetzgeber getan hatte.1558 Daher überrascht es auch wenig, dass selbst die Revision in Zivilsachen, die auf denselben historischen Wurzeln beruht wie ihr strafprozessuales Pendant – auch wenn sie stets grundsätzlich einer auch die Tatfragen umfassenden Berufung nachfolgt –, keine so umfassende Fortbildung durch den Bundesgerichtshof erfahren hat, während sich die strafrechtliche Revision heute weitestgehend von dem Normprogramm der Strafprozessordnung gelöst hat.1559 Dass mit diesem Fokus auf die Einzelfallgerechtigkeit zugleich ein Verlust der Formstrenge des strafrechtlichen (Revisions-)Verfahrens einhergeht,1560 nimmt die höchstrichterliche Rechtsprechung in Strafsachen dabei scheinbar billigend in Kauf. Allerdings darf die so hergestellte „Einzelfallgerechtigkeit“, angesichts der Tatsache, dass die erweiterte Revision verhältnismäßig häufiger zulasten des Angeklagten als zu seinen Gunsten zur Anwendung zu kommen scheint,1561 keinesfalls mit einer Gerechtigkeit im Sinne des subjektiven Rechtsschutzes verwechselt werden. Ge1555
Jähnke, in: FS Meyer-Goßner, S. 561. Vgl. hierzu Rosenau, in: FS Widmaier, S. 532 m. w. N., sowie Fischer, in: FG Paulus, S. 56; ähnl., bezogen auf die Verfahrensrügen, Fezer, in: FS Frisch, S. 1319. 1557 Noch vorsichtiger formuliert dies Barton, in: FS Fezer, S. 346 f. 1558 Ähnl. Hamm, StV 1987, 262, 265. 1559 Vgl. zur faktischen Erweiterung des Revisionsrechts auch Franke, in: Löwe/Rosenberg, vor § 333 Rn. 9. 1560 Fezer, in: FS Frisch, S. 1320. 1561 Zur häufigeren Anwendung der erweiterten Revision zulasten des Angeklagten vgl. S. 311 ff. 1556
D. Zusammenfassende Analyse
327
meint ist vielmehr nur eine Gerechtigkeit im Sinne der Staatsräson, die eine materiell verstandene „Richtigkeit“ des tatrichterlichen Urteils im Sinne allgemeiner, nicht näher bestimmbarer Gerechtigkeitserwägungen zum Gegenstand hat. Die Gefahren, die von einem derartigen formfreien Streben nach Gerechtigkeit ausgehen können, und die Auswüchse, die ähnliche „Gerechtigkeitserwägungen“ im totalitären System des „Dritten Reiches“ annahmen, wurden bereits an anderer Stelle1562 ausführlich diskutiert und sollten insoweit durchaus als Mahnung verstanden werden. Insofern gilt vorliegend lediglich noch darauf hinzuweisen, dass ungeachtet der Frage, welchen pragmatischen Erfordernissen eine solche Entformalisierung des Revisionsverfahrens dienen soll, stets auch berücksichtigt werden sollte, „dass im Rechtsstaat des Grundgesetzes das Recht die Praxis bestimmt und nicht die Praxis das Recht“.1563
D. Zusammenfassende Analyse Zusammenfassend gilt demnach festzuhalten, dass der historische Gesetzgeber zwar mit der Beschränkung der Revision auf die Rechtsfragen eine faktischen Bindungswirkung der tatrichterlichen Sachverhaltsfeststellungen für die Revisionsgerichte normiert hatte,1564 die höchstrichterliche Rechtsprechung jedoch seit jeher nicht willens war, offensichtlich fehlerhafte Feststellungen des Tatrichters einfach hinzunehmen. So können heute Feststellungen, die gegen Denkgesetze oder gesicherte Erfahrungssätze verstoßen, im Rahmen einer erweiterten Revision ebenso zur Aufhebung des tatrichterlichen Urteils führen, wie solche, die widersprüchlich, unklar oder lückenhaft sind. Selbst Feststellungen, die bloß der allgemeinen Lebenserfahrung zu widersprechen scheinen oder aus revisionsgerichtlicher Sicht nicht hinreichend begründet sind, unterliegen heute der revisionsgerichtlichen Prüfung. Dies obwohl die Vorschriften, die den Prüfungsumfang der Revision auf die Rechtsfragen beschränken, sich seit 1877 nicht geändert haben. Dabei findet allein eine Aufhebung des Urteils wegen unvollständiger, unklarer oder widersprüchlicher Feststellungen eine Grundlage im geltenden Recht.1565 Schon die durch das Reichsgericht eingeführte Praxis tatrichterliche Sachverhaltsfeststellungen auch dahingehend zu untersuchen, ob diese in Einklang mit den Denkgesetzen und den allgemeinen Erfahrungssätzen stehen, kann dagegen nicht ohne Weiteres mit dem Wortlaut der Strafprozessordnung in Einklang gebracht werden.1566 Indem der Bundesgerichtshof diese Verstöße nämlich bereits auf eine allgemeine Sachrüge 1562
Vgl. ausführlich S. 265 ff. So das Bundesverfassungsgericht im Jahr 2013 in Bezug auf die praktische Handhabung des Verständigungsgesetzes, BVerfGE 133, 168, 235. 1564 Vgl. insofern auch die Motive zur StPO, in: Hahn (Hrsg.), Materialien zur StPO, Bd. III/ 1, S. 249 f. 1565 Vgl. S. 250 ff. 1566 Vgl. S. 241 ff. 1563
328
3. Kap.: Die höchstrichterliche Erweiterung der Revision auf Tatfragen
hin zur Kenntnis nimmt, obwohl darin letztlich bloß eine Verletzung des Verfahrensrechts liegt,1567 entledigt er sich der formalen Grenzen einer Verfahrensrüge, ohne dass diese formelle Erweiterung der Revision im geltenden Recht eine Stütze fände. Nicht mit dem Wortlaut des Gesetzes zu vereinbaren ist auch die – bereits durch das Reichsgericht erfolgte – Ausweitung der Revision auf Erörterungs-, Erwägungs- oder Begründungsmängel in den Feststellungen.1568 So behalten sich die Revisionsgerichte heute vor, tatrichterliche Urteile auch schon dann aufzuheben, wenn ihre Feststellungen außerhalb der allgemeinen Lebenserfahrung liegen oder (vermeintlich) nicht mit hinreichenden Gründen versehen sind.1569 Hierbei handelt es sich um eine materielle Erweiterung der Revision auf Tatfragen, die inhaltlich Aspekte des Urteils umfasst, die weder nach dem Willen des historischen Gesetzgebers noch nach der Konzeption der Strafprozessordnung der Revision unterliegen sollten. Gerade dieser inhaltlichen Ausweitung der Revision auf Erörterungs-, Erwägungs- und Begründungsmängel liegen dabei richterliche Rechtsfortbildungen zugrunde, deren Verfassungsmäßigkeit zumindest bezweifelt werden muss.1570 So führten die Revisionsgerichte einerseits eine dem § 267 StPO unbekannte Beweisbegründungspflicht für Tatgerichte ein, die sie verpflichtet, in den Urteilsgründen auch ihre Beweiswürdigung darzulegen; andererseits prüfen sie die Einhaltung dieser neuen verfahrensrechtlichen Pflicht bereits im Rahmen einer Sachrüge nach, obwohl diese nach der Konzeption des Gesetzgebers ausschließlich sachlichrechtliche Mängel des Urteils erfassen sollten. Damit haben sich die Revisionsgerichte einen faktisch unbegrenzten Zugriff auf die Tatfragen verschafft, obwohl die Strafprozessordnung weder eine Pflicht der Tatgerichte vorsieht, die von ihnen getroffenen Feststellungen inhaltlich zu begründen, noch eine Tatsachenrüge kennt, mit der materielle Mängel der Feststellungen gerügt werden können.1571 Damit stellt selbst die tatrichterliche Beweiswürdigung, die nach der Vorstellung des historischen Gesetzgebers unantastbar sein sollte, heute keine ausschließliche Domäne des Tatrichters mehr dar, auf die das Revisionsgericht keinen Zugriff hätte. Sofern es dem Tatrichter nämlich nicht gelingt, das Revisionsgericht (!) von seinem Urteil zu überzeugen, muss er heute davon ausgehen, dass das Urteil im Rahmen der revisionsgerichtlichen Prüfung „durchgreifenden rechtlichen Bedenken“ begegnen wird und ungeachtet der gesetzlich angeordneten Überprüfungsresistenz der tatrichterlichen Sachverhaltsfeststellungen aufgehoben werden könnte.1572 Damit haben sich die Revisionsgerichte die Möglichkeit geschaffen, eine nahezu rügeunabhängige, aber zugleich bloß einzelfallbezogene Beurteilung der tatsächlichen 1567
Vgl. hierzu auch S. 306 ff. Frisch, in: FS Eser, S. 264 f. 1569 Vgl. S. 254 ff. 1570 Vgl. zur Vereinbarkeit der erweiterten Revision mit dem Grundgesetz insb. S. 289 ff. 1571 Vgl. S. 216 ff. 1572 Vgl. nur BGH NJW 2015, 2276, 2277; BGH NStZ-RR 2015, 172, 173; BGH HRRS 2015 Nr. 443; 2015 Nr. 481 Rn. 3; BGH, Beschluss vom 16. Juni 2015 – 2 StR 29/15. 1568
D. Zusammenfassende Analyse
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Urteilsgrundlagen vorzunehmen, die dabei bis zur Grenze der Willkürlichkeit hochflexibel zu sein scheint und keinen festen Regeln unterliegt.1573 Mithin überprüfen die Revisionsgerichte heute die Tatsachenfeststellungen und die Beweiswürdigung der Tatgerichte faktisch auf Klarheit, Folgerichtigkeit, Plausibilität und Nachvollziehbarkeit des Gedankengangs und des Ergebnisses, ohne die gesetzlichen Grenzen, die einer solchen Erweiterung der Revision entgegenstehen, überhaupt zu diskutieren.1574 Bedenklich an dieser, offensichtlich an materiellen Gerechtigkeitserwägungen orientierten Erweiterung der Revision ist zunächst, dass sie eng mit einer Entformalisierung der Rechtsanwendung zusammenzuhängen scheint, die ihren Anfang bereits in der Weimarer Republik und im „Dritten Reich“ genommen hat und von dem Bundesgerichtshof ohne Rücksicht darauf fortgesetzt worden zu sein scheint.1575 Diese Rechtsfortbildung muss im heutigen Verfassungsstaat allerdings kritisch betrachtet werden, da einer richterlichen Rechtsfortbildung mit Blick auf die Gesetzesbindung der rechtsprechenden Gewalt de constitutione lata enge Grenzen gesetzt sind.1576 Ungeachtet dessen scheinen die Strafsenate des Bundesgerichtshofs die gesetzgeberische Grundentscheidung, dass die Tatfrage generell nicht der Revision unterliegen solle, durch eine eigene, als vorzugswürdig empfundene Konzeption ersetzt zu haben, indem sie die Revision über ihre gesetzlichen Grenzen hinaus auch auf die Feststellungen und die Beweiswürdigung des Tatrichters ausgeweitet haben.1577 Insbesondere auch, weil diese sog. Darstellungskontrolle in der modernen Rechtswissenschaft ganz überwiegend als eine Konsequenz der Leistungstheorie gebilligt wird,1578 stellt sie ein herausragendes Beispiel richterlichen Gesetzesungehorsams dar, das jedenfalls aus verfassungsrechtlicher Perspektive eine zweifelhafte Errungenschaft bleibt.1579 Gerade auch, weil die Revisionsgerichte von Einzelfall zu Einzelfall selbst entscheiden, ob sie sich auf die gesetzlichen Grenzen der Revision beschränken wollen oder im Rahmen der von ihnen entwickelten Darstellungsrüge auch die Feststellungen und die Beweiswürdigung nachprüfen, be-
1573
Fezer, in: FS Hanack, S. 336, 340; Herdegen, StV 1992, 527, 527; Maul, in: FS Pfeiffer, S. 418; Peters, in: FS Schäfer, S. 140; Rieß, NStZ 1982, 49, 49; Schmid, ZStW (85) 1973, 360, 370; ähnl. auch Schmitt, Die richterliche Beweiswürdigung im Strafprozeß, S. 403. 1574 Frisch, in: FS Eser, S. 266. 1575 Vgl. S. 256 ff., 259 ff., 273 ff. 1576 Vgl. S. 289 ff. 1577 Ähnlich schon die abweichende Meinung der Richter Voßkuhle, Osterloh und Di Fabio in BVerfGE 122, 248, 294 in Bezug auf die Rügeverkümmerung durch Zulassung der nachträglichen Änderung des Hauptverhandlungsprotokolls durch den Großen Senat für Strafsachen. 1578 Vgl. etwa Schmid, ZStW (85) 1973, 360, 382; Rieß, GA 1978, 257, S. 257 ff., 277. 1579 Schünemann, JA 1982, 123, 126; Foth, DRiZ 1997, 201, 202.
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3. Kap.: Die höchstrichterliche Erweiterung der Revision auf Tatfragen
inhaltet die Darstellungskontrolle stets einen gewissen Willkürmoment, der in einem Grundrechtsstaat nicht ohne Weiteres hingenommen werden kann.1580 Zumal zu bedenken gilt, dass die erweiterte Revision keinesfalls eine ausschließliche Ausweitung des Rechtsschutzes für den Bürger im Blick hat; in ihrer praktischen Anwendung durch die Revisionsgerichte kann sie ebenso eine Schwächung der verfahrensrechtlichen Position des Angeklagten zur Folge haben, obwohl sie ausschließlich richterrechtlich legitimiert ist.1581 Denn erst die erweiterte Revision gestattet den Revisionsgerichten, auch Freisprüche der Vorinstanzen aus tatsächlichen Gründen aufzuheben – da der Tatrichter nach dem Wortlaut der Strafprozessordnung bei einem Freispruch aus tatsächlichen Gründen bloß verpflichtet ist, anzugeben, dass der Angeklagte für nicht überführt erachtet worden ist,1582 käme in diesem Fall ohne eine erweiterte Revision lediglich eine beschränkte Nachprüfung des Urteils in Frage: Selbst wenn man nämlich mit dem Reichsgericht annähme, dass bei einem Freispruch aus tatsächlichen Gründen auch angegeben werden muss, welche Tatsachen nicht festgestellt werden konnten, bliebe die Überzeugung des Tatrichters, dass der Angeklagte eine ihm vorgeworfene Tathandlung schon tatsächlich nicht vorgenommen hat, nach der gesetzlichen Konzeption des Revisionsrechts unanfechtbar.1583 Erst durch die Forderung an den Tatrichter, in seiner Urteilsschrift auch darzulegen, aus welchen Gründen er die zur Verurteilung notwendigen Feststellungen nicht hat treffen können oder warum er bei einem in-dubiopro-reo-Freispruch seine Zweifel nicht überwinden konnte, haben sich die Revisionsgerichte eine Überprüfungsgrundlage geschaffen, die von Gesetzes wegen nicht vorgesehen war. Damit hat sich die höchstrichterliche Rechtsprechung eine Möglichkeit verschafft, freisprechende Urteile im Rahmen der Revision aufzuheben, ohne dass eine entsprechende gesetzliche Grundlage dafür existierte.1584 Faktisch scheinen sich die Revisionsgerichte damit als umfassende Überprüfungsinstanzen zu begreifen, auch wenn dem Gesetzgeber insoweit ein anderes Modell der strafrechtlichen Revision vorschwebte. Bemerkenswerterweise werden derartige Auswüchse in der Rechtsprechung im wissenschaftlichen Schrifttum entweder überhaupt nicht thematisiert oder, sofern sie thematisiert werden, als ein notwendiges Übel hingenommen.1585 Dabei heißt es durchaus zutreffend bei Foth: „Zum Revisionsrichter gehört Selbstbescheidung. Er muß nicht alles besser wissen wollen, auch wenn ihm das – aus seiner Sicht – manchmal schwerfällt; er muß sich 1580
Jähnke, in: FS Hanack, S. 364; ausführlich S. 320 ff. Ausführlich S. 311 ff. 1582 § 267 Abs. 5 Satz 1 StPO. 1583 Ausführlich hierzu S. 316. 1584 Vgl. S. 320 ff. 1585 Vgl. etwa Fezer, in: FS Hanack, S. 333 f., 338; Frisch, in: FS Eser, S. 269; Jähnke, in: FS Hanack, S. 356; Niemöller, StV 1984, 431, 432; Rieß, in: FS Hanack, S. 398; Rieß, NStZ 1982, 49, 49; Rieß, GA 1978, 257, 264; Schäfer, in: 18. Strafverteidigertag, S. 120. Ein etwas anderer Ansatz findet sich aber etwa bei Rieß, in: Beiträge zur Entwicklung der deutschen Strafprozessordnung, S. 198. 1581
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auf seinen Bereich beschränken“.1586 Und tatsächlich dürfte eine derart umfassende Änderung des Revisionsrechts allein dem demokratisch legitimierten Gesetzgeber obliegen, auch wenn sie mit Blick auf die tatsächlichen Bedürfnisse der Strafrechtspflege dringend notwendig erscheinen mag. Für eine Rechtsfortbildung, die sich faktisch als richterrechtlich vorgenommene Rechtssetzung darstellt und weder im Wortlaut des Gesetzes noch in dem Willen des Gesetzgebers eine Grundlage findet, bleibt nämlich im Rahmen der in Art. 20 Abs. 2 Satz 2 GG formulierten Gewaltenteilung kein Raum.
1586
Foth, Anm. zu BVerfG, Beschluss vom 8. Mai 1991, NStZ 1991, 444, 447.
4. Kapitel
Gesetzgeberische Versuche der Erweiterung des Rechtsschutzes in Strafsachen Auch wenn die höchstrichterliche Rechtsprechung mit der Ergänzung der Revision um die Darstellungskontrolle eine Möglichkeit geschaffen hat, tatrichterliche Urteile, die an gravierenden Feststellungs- bzw. Darstellungsmängeln leiden, auch ohne ein entsprechendes gesetzliches Instrumentarium aufzuheben und zurückzuverweisen, kann diese erweiterte Revision angesichts ihrer (verfassungs-)rechtlichen Unzulänglichkeiten unmöglich eine abschließende Lösung für den beschränkten Rechtsschutz in land- und oberlandesgerichtlichen Strafsachen darstellen. Insoweit handelt es sich bei ihr allenfalls um einen provisorischen Notbehelf, mit dem grob unbillige Ergebnisse abgewendet werden können, bis eine endgültige gesetzliche Lösung für die Rechtsschutzlücken in den auch erstinstanzlichen land- und oberlandesgerichtlichen Strafsachen gefunden ist. Damit stellt sich zwangsläufig die Frage, wie eine gesetzliche Erweiterung der Revision ausgestaltet sein könnte, die auch in land- und oberlandesgerichtlichen Strafsachen einen vollumfassenden und effizienten Rechtsschutz gewährleistet. Dabei hatte der historische Gesetzgeber schon unmittelbar nach dem Inkrafttreten der Strafprozessordnung am 1. Oktober 1879 erkannt, dass das Rechtsmittelrecht des Strafverfahrens zwingender Reformen bedurfte. So dokumentieren die Verhandlungsmaterialien des Reichstages und des Bundestages zahlreiche Versuche, entsprechende Reformen durchzuführen. Gerade die Bemühungen des noch jungen Reichsgesetzgebers haben dabei in der Literatur allenfalls eine summarische Darstellung erfahren.1587 Daher sollen im Folgenden vor allem die Versuche dargestellt werden, die im Kaiserreich zur Verbesserung des Rechtsschutzes in Strafsachen unternommen worden sind.1588 Berücksichtigt werden sollen aber auch jene Reformerwägungen aus der Weimarer Republik und dem „Dritten Reich“ sowie aus der noch jungen Bundesrepublik Deutschland. Hierbei wird sich zeigen, dass dem Gesetzgeber bereits zahlreiche Instrumente zur Behebung der hier kritisierten Umständen bekannt waren. Vor allem aber wird dieses Kapitel – wie vielleicht kein 1587
So etwa bei Fezer, Reform der Rechtsmittel, S. 23 ff.; Kühne, in: Löwe/Rosenberg, Einl. F, Rn. 15 ff., oder Rieß, in: Beiträge zur Entwicklung der deutschen Strafprozessordnung, S. 3 ff. 1588 Außer Betracht blieben dabei die zahlreichen Vorschläge unterschiedlicher Berufsverbände und wissenschaftlicher Arbeitskreise. Hierzu ausführlich jedoch Fezer, Reform der Rechtsmittel, S. 55 ff.; vgl. aber auch Fezer, Möglichkeiten einer Reform, passim.
A. Ansätze im Kaiserreich zur Ergänzung der Strafkammersachen
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anderes Kapitel der vorliegenden Schrift – offenbaren, welche zufälligen und geradezu willkürlichen Prozesse es waren, die das heutige Rechtsmittelsystem der Strafprozessordnung geprägt haben; dies obwohl ihre beachtliche Reformbedürftigkeit schon wiederholt erkannt worden war.
A. Ansätze im Kaiserreich zur Ergänzung der Strafkammersachen um eine Berufung Der Kampf um die „Wiedereinführung“1589 der Berufung in den Strafkammersachen hatte im Kaiserreich bereits während den parlamentarischen Beratungen der Strafprozessordnung begonnen, die ursprünglich überhaupt keine Berufung kannte.1590 Dennoch hatte die Reichsjustizkommission nach der ersten Lesung des Entwurfs der Strafprozessordnung beschlossen, sowohl gegen die Urteile der Schöffengerichte als auch die der Strafkammern eine Berufung zuzulassen, auch wenn sie sich mit diesem Vorschlag nicht hat vollumfänglich durchsetzen können.1591 Eingeführt wurde die Berufung nämlich lediglich gegen Urteile der Schöffengerichte, bei denen es sich zu jener Zeit noch um die einzigen amtsgerichtlichen Spruchkörper in Strafsachen handelte. Die Forderung jedoch, auch gegen erstinstanzliche Urteile der Strafkammern eine Berufung zuzulassen, klang auch nach dem Inkrafttreten der Strafprozessordnung nicht ab, die gerade mit Blick auf das Rechtsmittelrecht und die Gerichtsverfassung bloß als eine Kompromisslösung gedacht war1592.
I. Reformbestrebungen bis zur Vorlage des Regierungsentwurfs 1885 1. Anträge aus der Mitte des Reichstages So wurde dem Reichstag am 11. Januar 1883 nur etwas mehr als drei Jahre nach dem Inkrafttreten der Reichsjustizgesetze von den Abgeordneten Munckel, Meibauer und Lenzmann (DFP) der Entwurf eines Gesetzes betreffend die Abänderung des Gerichtsverfassungsgesetzes und der Strafprozessordnung vorgelegt.1593 Nach dem Entwurf sollten nicht nur die Urteile der Schöffengerichte, sondern auch die in 1589 Die historische Wendung „Wiedereinführung“ bezog sich auf den irrtümlichen (vgl. S. 94 ff.) Gedanken, dass in den partikularen Verfahrensordnungen stets eine Appellation zulässig gewesen war. 1590 Vgl. S. 182 ff. 1591 Vgl. ausführlicher S. 202 f.; vertiefend Fezer, Reform der Rechtsmittel, S. 17 ff. 1592 Vgl. S. 205 ff. 1593 Verhandlungen des Reichstags, 5. Legislaturperiode, II. Session 1882/83, 5. Band, Aktenstück Nr. 117, S. 440 ff.
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4. Kap.: Gesetzgeberische Versuche der Erweiterung des Rechtsschutzes
erster Instanz ergangenen Urteile der Strafkammern mit der Berufung angefochten werden können.1594 Über diese Berufung sollten Strafsenate an den Oberlandesgerichten entscheiden, die jedoch mit sieben statt der üblichen fünf Richtern besetzt werden sollten.1595 Eine Revision zum Reichsgericht sollte damit, von der Ausnahme der Revision gegen die Urteile der Schwurgerichte abgesehen, nur noch gegen die Berufungsurteile der Oberlandesgerichte zulässig sein.1596 Da der Antrag in der laufenden Session des Reichstages nicht mehr abschließend beraten werden konnte, fiel er – wie viele der nachfolgenden Anträge – der sachlichen Diskontinuität zum Opfer. Anders als heute bezog sich diese Form der Diskontinuität im Reichstag nämlich nicht bloß auf seine Legislaturperioden, sondern auf seine Sessionen, die Teilabschnitte einer Legislaturperiode darstellten. Anträge und Gesetzesentwürfe, die nicht innerhalb einer laufenden Session abschließend verhandelt wurden, galten als gescheitert und mussten in der Regel in der nächsten Session erneut eingebracht und vollständig beraten werden, sofern weiterhin über sie beschlossen werden sollte. Deshalb brachten die Abgeordneten Munckel und Lenzmann (DFP) ihren Antrag am 11. März 1884, nunmehr jedoch in einer leicht modifizierten Fassung, erneut in den Reichstag ein.1597 Die Änderungen bezogen sich dabei vor allem darauf, dass die Staatanwaltschaft ihre Berufung lediglich auf neue Tatsachen und Beweismittel (sog. nova) stützen können sollte – das Berufungsgericht sollte insoweit darauf beschränkt sein, die Erheblichkeit dieser nova zu überprüfen, sofern die Berufung von der Staatsanwaltschaft stammte und sich gegen Urteile der Strafkammern richtete.1598 Eine Berufung zulasten des Angeklagten, die pauschal zu einer Neuverhandlung der Sache vor einem höheren Gericht führt, wäre in Strafkammersachen damit ausgeschlossen gewesen. Hierbei handelte es sich keinesfalls um einen neuen Ansatz, als auch schon im Inquisitionsverfahren die Appellation mangels einer Anklagebehörde ein exklusives Recht des Angeklagten gewesen war. Eben diese Unanfechtbarkeit von Strafurteilen aus staatlicher Sicht war ein nicht unwesentlicher Grund für die Einführung der Staatsanwaltschaft im reformierten Strafverfahren, wodurch auch der Justizverwaltung die Möglichkeit eröffnet werden sollte, unliebsame Urteile erster Instanz zu beseitigen.1599 Selbst heute ist es im anglo-amerikanischen
1594
§ 354 StPO i. d. F. des Antrags Munckel, Meibauer und Lenzmann vom 11. Januar 1883 (Fn. 1593). 1595 §§ 123 Nr. 3, 124 Abs. 2 GVG i. d. F. des Antrags Munckel, Meibauer und Lenzmann vom 11. Januar 1883 (Fn. 1593). 1596 § 374 StPO sowie § 136 GVG i. d. F. des Antrags Munckel, Meibauer und Lenzmann vom 11. Januar 1883 1883 (Fn. 1593). 1597 Verhandlungen des Reichstags, 5. Legislaturperiode, III. Session 1884, 3. Band, Aktenstück Nr. 27, S. 458 f. 1598 Vgl.§ 354 Abs. 2 und 3 sowie § 368 StPO i. d. F. des Antrags Munckel und Lenzmann vom 11. März 1884 (Fn. 1597). 1599 Vgl. hierzu ausführlicher S. 97 ff.
A. Ansätze im Kaiserreich zur Ergänzung der Strafkammersachen
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Rechtskreis keineswegs unüblich, dass eine Anfechtung von Strafurteilen zulasten des Angeklagten ausgeschlossen ist.1600 Letztendlich zielten Munckel und Lenzmann damit in Strafsachen auf einen Instanzenzug, der dem des Zivilverfahrens entsprach (Berufung von den Landgerichten zu den Oberlandesgerichten). Doch nur zwei Tage später, nämlich am 13. März 1884, legte auch Abgeordneter Reichensperger (Zentrum) einen Antrag vor, der zwar ebenfalls eine Berufung gegen erstinstanzliche Urteile der Strafkammern vorsah, dem Rechtsmittel jedoch keinen Devolutiveffekt mehr beimaß.1601 Nach seinem Entwurf eines Gesetzes betreffend die Abänderung des Gerichtsverfassungsgesetzes und der Strafprozeßordnung sollten nämlich alle erstinstanzlichen Urteile – also auch die der Strafkammern – mit einer Berufung zu sog. Berufungskammern an den Landgerichten angefochten werden können, die mit fünf Richtern zu besetzen gewesen wären.1602 Damit wäre auch für die Berufung gegen landgerichtliche Urteile ein Landgericht zuständig gewesen. Zugleich sah der Antrag eine Reduzierung der Besetzung der ordentlichen Strafkammern als erkennende Gerichte erster Instanz von damals noch fünf auf drei Berufsrichter vor.1603 Für die Verhandlung und Entscheidung der Revision gegen die Urteile der neuen Berufungskammern sollten weiterhin die Oberlandesgerichte zuständig sein, wenn die Sache in erster Instanz durch ein Schöffengericht entschieden worden war;1604 lediglich wenn die Sache in erster Instanz durch eine Strafkammer entschieden worden war, sollte das Reichsgericht als Revisionsinstanz zuständig sein.1605 Beide Anträge wurden erstmalig am 30. April 1884 im Plenum des Reichstages beraten und einer Kommission aus 14 Mitgliedern überwiesen.1606 Sie empfahl dem Reichstag jedoch, sich nicht weiter mit den Anträgen zu befassen, da seit dem Inkrafttreten der Reichsjustizgesetze erst wenig Zeit vergangen und deshalb ein abschließendes Urteil über die Notwendigkeit einer solch umfassenden Reform nicht möglich sei.1607 Ganz offensichtlich hatte sich die Kommission dabei über weite Strecken die Argumente des Staatssekretärs des Reichs-Justizamtes Schelling,
1600
Vgl. schon S. 60 f. Verhandlungen des Reichstags, 5. Legislaturperiode, III. Session 1884, 3. Band, Aktenstück Nr. 29, S. 460. 1602 §§ 59, 76, 77 Halbsatz2 GVG i. d. F. des Antrags Reichensperger vom 13. März 1884 (Fn. 1601). 1603 § 77 Halbsatz 1 GVG i. d. F. des Antrags Reichensperger vom 13. März 1884 (Fn. 1601). 1604 § 123 Nr. 2 GVG i. d. F. des Antrags Reichensperger vom 13. März 1884 (Fn. 1601). 1605 § 136 Nr. 2 GVG i. d. F. des Antrags Reichensperger vom 13. März 1884 (Fn. 1601). 1606 Verhandlungen des Reichstags, 5. Legislaturperiode, IV. Session 1884, 1. Band, S. 404. 1607 Mündlicher Bericht der XXII. Kommission, Verhandlungen des Reichstags, 5. Legislaturperiode, IV. Session 1884, 4. Band, Aktenstück Nr. 149, S. 1150. 1601
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4. Kap.: Gesetzgeberische Versuche der Erweiterung des Rechtsschutzes
dessen Amt mit dem eines Justizministers vergleichbar war, zu Eigen gemacht.1608 Auch der Reichstag schloss sich offenbar der Empfehlung der Kommission an, sodass beide Anträge in der Folge nicht mehr weiterberaten wurden.1609 So brachten sowohl Munckel (DFP) als auch Reichensperger (Zentrum) ihre jeweiligen Anträge am 20. November 1884 erneut in den Reichstag ein.1610 Während der ersten Beratung der Anträge im Plenum des Reichstages am 10. und 11. Dezember 1884 kritisierte Reichensperger die Arbeit der Kommission, die eine weitere Befassung mit den besagten Anträgen abgelehnt hatte, weil sie die Anträge nicht unter sachlichen, sondern bloß opportunistischen Erwägungen geprüft habe.1611 Nach umfassenden Debatten im Plenum des Reichstages wurden beide Anträge erneut einer Kommission aus 14 Mitgliedern, diesmal jedoch unter dem Vorsitz Reichenspergers, überwiesen.1612 Dabei hatte Reichsjustizstaatssekretär Schelling bemerkenswerterweise bereits während der ersten Beratung der Anträge im Plenum des Reichstages verlautbart, dass „[…] der Herr Reichskanzler […] den Eindruck empfangen [hat], als ob die Volksanschauung sich noch nicht an den Wegfall der Berufung gewöhnt habe. Alle die Mittel, welche die Strafprozessordnung in Bewegung gesetzt hat, um den Angeklagten zu veranlassen, seine Entlastungsbeweise rechtzeitig geltend zu machen und darzulegen, scheinen nicht verfangen zu haben; der Ernst der Lage wird zu häufig […] von dem Angeklagten erst dann erkannt, wenn ihn bereits die erste Instanz verurtheilt hat, – und dann kann das ihm offen stehende Rechtsmittel an das Reichsgericht ihm zwar Kosten verursachen, aber selten von Nutzen sein“.1613
Deshalb, so Schelling, sei der Reichskanzler im Begriff, mit den verbündeten Regierungen darüber in Beratung zu treten, ob auch die Bundesstaaten ein Bedürfnis für die Wiedereinführung der Appellation sähen; sofern dem so sein sollte, wolle er eine entsprechende Vorlage an den Bundesrat vorbereiten.1614
1608 Vgl. die Erklärung des Bevollmächtigten zum Bundesrath, Staatssekretär des ReichsJustizamts v. Schelling, in: Verhandlungen des Reichstags, 5. Legislaturperiode, IV. Session 1884, 4. Band, Aktenstück Nr. 149, S. 1150 f. 1609 Vgl. Verhandlungen des Reichstags, 5. Legislaturperiode, IV. Session 1884, 2. Band, S. 1174, unter [Gerichtsverfassung, bei 2.]. 1610 Verhandlungen des Reichstags, 6. Legislaturperiode, I. Session 1884/85, 5. Band, Aktenstück Nr. 13, S. 67 f. (Antrag Munckel) sowie Aktenstück Nr. 18, S. 79 f. (Antrag Reichensperger). 1611 Verhandlungen des Reichstags, 6. Legislaturperiode, I. Session 1884/85, 1. Band, S. 271. 1612 Verhandlungen des Reichstags, 6. Legislaturperiode, I. Session 1884/85, 1. Band, S. 295. 1613 Verhandlungen des Reichstags, 6. Legislaturperiode, I. Session 1884/85, 1. Band, S. 271. 1614 Verhandlungen des Reichstags, 6. Legislaturperiode, I. Session 1884/85, 1. Band, S. 271.
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In Erwartung dieser Regierungsvorlage zur Wiedereinführung der Berufung in den Strafkammersachen verzichtete auch die neueingesetzte Kommission darauf, die Anträge von Munckel und Reichensperger im Einzelnen zu beraten.1615 Stattdessen verabschiedete sie lediglich eine Resolution, in der festgehalten wurde, dass der Ausschluss der Berufung in den Strafkammersachen lediglich unter der Voraussetzung erfolgt sei, dass die durch eine zweite Tatsacheninstanz erstrebten Sicherheiten für eine gute Rechtspflege sich als überflüssig erweisen würden. Diese Erwartung, so die Kommission, hätte sich in den letzten fünf Jahren jedoch nicht verwirklicht, sodass immer häufiger die Wiederherstellung einer Berufung gefordert würde. Dennoch sei angesichts der Erklärung der Reichsregierung, einen entsprechenden Gesetzesentwurf vorzulegen, dieser abzuwarten, da ein Initiativentwurf des Reichstages mit Blick auf die Regierungsvorlage nicht die Zustimmung des Bundesrates finden würde.1616 Nachdem der Reichjustizstaatssekretär schließlich am 15. April 1885 dem Reichstag mitgeteilt hatte, dass der Bundesrat bereits mit Entwürfen befasst sei, welche den Rechtsschutz in erstinstanzlichen Strafsachen, insbesondere durch die Einführung der Berufung gegen Strafkammerurteile, stärken sollen,1617 ging der Reichstag endgültig zur Tagesordnung über, ohne über diese Anträge weiter zu beraten.1618 2. Regierungsentwurf vom 9. Mai 1885 Und tatsächlich legte die Reichsleitung dem Bundesrat mit den Stimmen Preußens einen Gesetzesentwurf vor, der gegen die erstinstanzlichen Urteile der Strafkammern eine Berufung vorsah. Allerdings wurde dieser Entwurf zur Überraschung Reichenspergers von dem Bundesrat mit einer kleinen Mehrheit abgelehnt.1619 Stattdessen wurde von den verbündeten Regierungen im Bundesrat der Entwurf eines Gesetzes betreffend Aenderungen und Ergänzungen des Gerichtsverfassungsgesetzes und der Strafprozeßordnung beschlossen, den der Reichskanzler von Bismarck am 9. Mai 1885 dem Reichstag vorlegte und der gerade keine Wiedereinführung der Berufung in Strafkammersachen mehr vorsah.1620 Die Begründung des Regierungsentwurfs erkennt dabei durchaus an, dass die fehlende Berufung gegen Urteile der Strafkammern sowohl von Fachleuten als auch 1615 Verhandlungen des Reichstags, 6. Legislaturperiode, I. Session 1884/85, 3. Band, S. 2071. 1616 Mündlicher Bericht der VIII. Kommission, in: Verhandlungen des Reichstags, 6. Legislaturperiode, I. Session 1884/85, 6. Band, Aktenstück Nr. 166, S. 686. 1617 Verhandlungen des Reichstags, 6. Legislaturperiode, I. Session 1884/85, 3. Band, S. 2074. 1618 Verhandlungen des Reichstags, 6. Legislaturperiode, I. Session 1884/85, 3. Band, S. 2075. 1619 Verhandlungen des Reichstags, 6. Legislaturperiode, II. Session 1885/86, 1. Band, S. 76. 1620 Verhandlungen des Reichstags, 6. Legislaturperiode, I. Session 1884/85, 7. Band, Aktenstück Nr. 399, S. 1996 ff.
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Laien als ein gesetzgeberischer Missgriff getadelt worden war.1621 Ebenso räumt die Begründung ein, dass es sich gezeigt habe, dass die Garantien, die mit Blick auf den Wegfall der Berufung eingeführt worden waren, sich nicht vollständig bewährt haben.1622 Auch habe sich die Hoffnung nicht bewahrheitet, dass die Tatrichter mangels einer Berufungsinstanz umso genauer und strenger agieren würden, um ihrer insofern höheren Verantwortung gerecht zu werden.1623 Doch ungeachtet dessen hätten sich die verbündeten Regierungen nicht davon überzeugen können, dass die Einführung einer Berufung gegen Urteile der Strafkammern das geeignete Mittel sei, diesen Übelständen abzuhelfen.1624 Vielmehr seien sie der Ansicht, dass die Eingewöhnung der Bevölkerung und der Gerichte an die neue Gesetzgebung von selbst dazu führen werde, einen Großteil der Beschwerden gegen die fehlende Berufung verstummen zu lassen.1625 Wenig überraschend verweigerte der Reichstag diesem Regierungsentwurf seine Zustimmung, erwartete er doch gerade die Wiedereinführung der Berufung. Dabei enthielt der Entwurf durchaus zahlreiche begrüßenswerte Vorschläge. So verpflichtete er etwa den Tatrichter in seinen Urteilen auch die Gründe für seine Beweiswürdigung darzulegen. Die entsprechende Neufassung des § 266 Abs. 1 RStPO wurde bereits an anderer Stelle der vorliegenden Schrift vorgestellt, sodass insoweit darauf verwiesen sei.1626 Ebenso sah der Entwurf eine Novelle zu den §§ 358, 360 Abs. 1 RStPO (die den heutigen §§ 317, 319 Abs. 1 StPO entsprachen) vor, wonach der Rechtsmittelführer auch bei der Einlegung einer Berufung verpflichtet gewesen wäre, sein Rechtsmittel zu begründen: § 358 RStPO Die Berufung kann binnen einer weiteren Woche nach Ablauf der Frist zur Einlegung des Rechtsmittels oder, wenn zu dieser Zeit das Urtheil noch nicht zugestellt war, nach dessen Zustellung bei dem Gericht erster Instanz zu Protokoll des Gerichtsschreibers oder in einer Beschwerdeschrift gerechtfertigt werden.
§ 358 StPO i. d. F. des Entwurfs 1885 Die Berufung muß spätestens binnen einer Woche nach Ablauf der Frist zur Einlegung des Rechtsmittels oder, wenn zu dieser Zeit das Urtheil noch nicht zugestellt war, nach dessen Zustellung bei dem Gericht erster Instanz zu Protokoll des Gerichtsschreibers oder in einer Beschwerdeschrift unter Aufstellung bestimmter Beschwerdepunkte gerechtfertigt werden.
1621 Begründung zum Entwurf 1885, in: Verhandlungen des Reichstags, 6. Legislaturperiode, I. Session 1884/85, 7. Band, Aktenstück Nr. 399, S. 2001. 1622 Begründung zum Entwurf 1885, in: Verhandlungen des Reichstags, 6. Legislaturperiode, I. Session 1884/85, 7. Band, Aktenstück Nr. 399, S. 2001. 1623 Begründung zum Entwurf 1885, in: Verhandlungen des Reichstags, 6. Legislaturperiode, I. Session 1884/85, 7. Band, Aktenstück Nr. 399, S. 2001. 1624 Ebd. 1625 Begründung zum Entwurf 1885, in: Verhandlungen des Reichstags, 6. Legislaturperiode, I. Session 1884/85, 7. Band, Aktenstück Nr. 399, S. 2001. 1626 Vgl. hierzu schon S. 219 f.
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Dieser Bestimmung ist genügt, wenn die Erklärung des Beschwerdeführers klar erkennen läßt, ob er die die Schuldfrage betreffende Entscheidung oder nur einen anderen Theil des Urtheils anfechte. § 360 Abs. 1 RStPO Ist die Berufung verspätet eingelegt, so hat das Gericht erster Instanz das Rechtsmittel als unzulässig zu verwerfen.
§ 360 Abs. 1 StPO i. d. F. des Entwurfs 1885 Ist die Berufung verspätet eingelegt oder eine Rechtfertigung derselben nicht rechtzeitig erfolgt, so hat das Gericht erster Instanz das Rechtsmittel als unzulässig zu verwerfen.
Hierdurch sollte ausweislich der Begründung des Entwurfs verhindert werden, dass von der Berufung ein allzu frivoler Gebrauch gemacht wurde. Die Begründung geht nämlich davon aus, dass der Verurteilte, der bereits durch die einfache Erklärung, dass er die Berufung einlege, mühelos eine neue Verhandlung herbeiführen kann, sich dieses Mittels vielfach lediglich zu dem Zwecke bedienen würde, die Vollstreckung des Urteils möglichst lange hinauszuschieben. Dieser Entwicklung sollte dadurch entgegengetreten werden, dass die Wirksamkeit des Rechtsmittels von der Aufstellung bestimmter Beschwerden abhängig gemacht wird.1627 Erstaunlicherweise hatte der Entwurf damit bereits 1885 auch heute noch offensichtliche Schwächen der Berufung in amtsgerichtlichen Strafsachen benannt, ohne dass die entsprechenden Vorschriften bis heute – also über 130 Jahren später – reformiert worden wären.
II. Reformbestrebungen bis zur Vorlage des Regierungsentwurfs 1895 1. Anträge aus der Mitte des Reichtages Nachdem die verbündeten Regierungen mit ihrem Entwurf von 1885 gescheitert waren, legte Reichensperger (Zentrum) dem Reichstag am 19. November 1885 einen weiteren Entwurf vor,1628 mit dem er hoffte, den Bundesrat zu „i m p o n i r e n “ – schließlich hatten sich der Reichskanzler, das Reichs-Justizamt und die preußische Staatsregierung bereits grundsätzlich zur Notwendigkeit der Berufung in Straf-
1627
Verhandlungen des Reichstags, 6. Legislaturperiode, I. Session 1884/85, 7. Band, Aktenstück Nr. 399, S. 2010. 1628 Entwurf eines Gesetzes betreffend Abänderungen und Ergänzungen des Gerichtsverfassungsgesetzes vom 27. Januar 1877, sowie der Strafprozeßordnung vom 1. Februar 1877, abgedruckt in: Verhandlungen des Reichstags, 6. Legislaturperiode, II. Session 1885/86, 4. Band, Aktenstück Nr. 11, S. 69 f.
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4. Kap.: Gesetzgeberische Versuche der Erweiterung des Rechtsschutzes
kammersachen bekannt.1629 Auch der neue Entwurf von Reichensperger sah vor, dass erstinstanzliche Urteile der Strafkammern, die nur noch mit drei Richtern zu besetzen waren, mit der Berufung zu speziellen, mit fünf Richtern besetzten Kammern des Landgerichts angefochten werden konnten, wobei diese nicht mehr als Berufungskammern, sondern Strafberufungskammern bezeichnet wurden.1630 Diese Strafberufungskammern sollten – anders als die Berufungskammern nach dem vorherigen Entwurf – für Berufungen gegen Urteile der Schöffengerichte nur noch dann zuständig sein, wenn sie nicht bloß Übertretungen oder Privatklagen zum Gegenstand hatten.1631 Für Berufungen gegen Urteile der Schöffengerichte, die sich mit Übertretungen oder Privatklagen befassten, sollten vielmehr weiterhin die „normalen“ Strafkammern zuständig bleiben. Die sachliche Zuständigkeit des Revisionsgerichts sollte sich danach richten, welches Gericht in der Berufungsinstanz mit der Sache befasst war. So wären Berufungsurteile der Strafberufungskammern mit der Revision zum Reichsgericht und Berufungsurteile der „normalen“ Strafkammern mit der Revision zu den Oberlandesgerichten anzufechten gewesen.1632 Der Entwurf wurde am 26. November 1885 nach seiner ausgiebigen ersten Lesung im Plenum des Reichstages wiederholt einer Kommission aus 14 Mitgliedern überwiesen, die sich dieses mal auch inhaltlich mit dem Entwurf befasste.1633 Und tatsächlich gelangte auch die Kommission, nachdem sie den Entwurf in acht Sitzungen zweimal beraten hatte, zu dem Schluss, dass der deutschen Strafprozessordnung vom 1. Februar 1877 kein einheitliches System der Rechtsmittel gegen Endurteile der Strafgerichte zugrunde liegt.1634 Als einen wesentlichen Mangel des Rechtsmittelrechts hob die Kommission hervor, dass „die auf einer unvollständigen Kenntniß des thatsächlichen Materials beruhenden Entscheidungen der Strafkammern sogar dann unabänderlich [sind], wenn das Gericht selbst nach der Urtheilsfällung seinen Irrthum erkennt“. Sie wies darauf hin, dass auch Richter des Reichsgerichts wiederholt ausgesprochen hatten, dass dem Reichsgericht selbst in den Fällen, in denen sie nach der Lage der Akten die Entscheidung über die Tatfrage für falsch erachteten, eine Aufhebung der Entscheidungen unmöglich gewesen sei, weil keine formelle oder materielle Rechtsverletzung habe ermittelt werden können. Dieser Umstand bestätigt freilich auch die von dem Verfasser bereits an anderer 1629
S. 76. 1630
Verhandlungen des Reichstags, 6. Legislaturperiode, II. Session 1885/86, 1. Band,
§§ 59, 76a Nr. 1, 77 GVG i. d. F. des Antrags Reichensperger vom 19. November 1885 (Fn. 1628). 1631 § 76a Nr. 2 GVG i. V. m. 76 GVG i. d. F. des Antrags Reichensperger vom 19. November 1885 (Fn. 1628). 1632 § 123 Nr. 2 RGVG, § 136 Nr. 2 GVG i. d. F. des Antrags Reichensperger vom 19. November 1885 (Fn. 1628). 1633 Verhandlungen des Reichstags, 6. Legislaturperiode, II. Session 1885/86, 1. Band, S. 95. 1634 Bericht der VIII. Kommission, in: Verhandlungen des Reichstags, 6. Legislaturperiode, II. Session 1885/86, 4. Band, Aktenstück Nr. 84, S. 471.
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Stelle ausführlich dargelegte Annahme,1635 dass das Reichsgericht noch zu Beginn seiner Rechtsprechungstätigkeit die Revisionsvorschriften eng im Sinne des Gesetzgebers ausgelegt und angewandt hatte. Aufgrund dieser Einsichten wurde der Entwurf Reichenspergers von der Kommission im Wesentlichen unverändert angenommen.1636 Lediglich in Bezug auf die sachliche Zuständigkeit der Revisionsgerichte hatte die Kommission beschlossen, dass diese weiterhin von der Eingangsinstanz abhängig bleiben sollte.1637 Ebenso empfahl sie – wie schon der Regierungsentwurf von 1885 –, dass die Tatgerichte verpflichtet werden sollten, in den Urteilsgründen eine umfassende Begründung für ihre Beweiswürdigung wiederzugeben. Bemerkenswert dabei ist die Begründung der Kommission, die unmissverständlich aufzeigt, wie Begründungsanforderungen an Urteile nach dem Willen des Gesetzgebers zu begreifen waren: „Die Strafprozeßordnung hat in §. 266 zwar vorgeschrieben, daß die Urtheile der Strafgerichte durch Gründe zu rechtfertigen sind, die Gründe haben aber im Falle der Verurtheilung nur die für erwiesen erachteten Thatsachen, welche die gesetzlichen Merkmale der Straftat bilden, und das Strafgesetz anzugeben sowie das Strafmaß zu rechtfertigen. Die Angabe der Beweismittel ist nicht verlangt, eine Würdigung ihrer Beweiskraft nicht gefordert. Nur sollen, wenn der Beweis nicht auf direktem Wege erbracht, sondern aus anderen Thatsachen abgeleitet wird, die Gründe jene Thatsachen angeben. Doch kann diese Angabe nicht durch Revision erzwungen werden. Ein Gericht genügt daher den gesetzlichen Vorschriften, wenn es behulfs Feststellung einer erheblichen Thatsache sich auf die Erklärung beschränkt, es habe die Ueberzeugung von der Richtigkeit derselben gewonnen. [Hervorh. d. Verf.]“.1638
Doch obwohl nunmehr nahezu alle Reichsinstitutionen sich über die Notwendigkeit einer Berufung in Strafkammersachen einig waren, hatte der Reichsjustizstaatssekretär bereits während der Kommissionsberatungen darauf hingewiesen, dass die Wahrscheinlichkeit als gering anzusehen ist, dass die verbündeten Regierungen im Bundesrat einer Reichstagsvorlage zustimmen würden, welche eine Wiedereinführung der Berufung in Strafkammersachen vorsah – dies erst recht, wenn Spruchkörper an den Landgerichten auch für die Verhandlung und Entscheidung dieser Berufung zuständig sein sollten.1639 Mit dieser Prognose sollte Staatssekretär von Schelling recht behalten – obwohl der Reichstag den Kommissionsentwurf sowohl in seiner zweiten als auch in der dritten Lesung, letztere am 15. März 1886, 1635
Vgl. S. 240 ff. Bericht der VIII. Kommission, in: Verhandlungen des Reichstags, 6. Legislaturperiode, II. Session 1885/86, 4. Band, Aktenstück Nr. 84, S. 494 ff. 1637 § 123 Nr. 3 GVG i. d. F. der Kommissionsbeschlüsse, Bericht der VIII. Kommission, in: Verhandlungen des Reichstags, 6. Legislaturperiode, II. Session 1885/86, 4. Band, Aktenstück Nr. 84, S. 497. 1638 Bericht der VIII. Kommission, in: Verhandlungen des Reichstags, 6. Legislaturperiode, II. Session 1885/86, 4. Band, Aktenstück Nr. 84, S. 486. 1639 Bericht der VIII. Kommission, in: Verhandlungen des Reichstags, 6. Legislaturperiode, II. Session 1885/86, 4. Band, Aktenstück Nr. 84, S. 479. 1636
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ohne weitere inhaltliche Änderungen angenommen hatte,1640 versagten die verbündeten Regierungen dem Reichstagsentwurf ihre Zustimmung.1641 Dennoch sollten keine zwei Jahre vergehen, bevor weitere Anträge zur Wiedereinführung der Berufung in den Reichstag eingebracht wurden. Der Entwurf des Abgeordneten Munckel (DFP) vom 24. November 18871642 entsprach dabei im Wesentlichen seinem früheren Antrag vom 20. November 1884.1643 Danach sollten erstinstanzliche Urteile der Strafkammern mit einer Berufung zu den Oberlandesgerichten angefochten werden können.1644 Auch sollte eine Berufung der Staatsanwaltschaft zuungunsten des Angeklagten lediglich dann zulässig sein, wenn sie sich auf nova stützte; hierbei sollte sich die Prüfung des Berufungsgerichts darauf beschränken, ob diese nova erheblich waren.1645 Allerdings sollten die Berufungssenate der Oberlandesgerichte nunmehr, in Abweichung zu seinem früheren Antrag, nicht mit sieben, sondern nur noch mit fünf Richtern besetzt sein.1646 Am nächsten Tag, nämlich dem 25. November 1887, reichte auch Abgeordneter Reichensperger (Zentrum) wiederholt einen eigenen Antrag beim Reichstag ein.1647 Hierbei ging er davon aus, dass die verbündeten Regierungen seinem, von dem Reichstag angenommenen Entwurf vom 19. November 1885 bloß deshalb nicht zugestimmt hatten, weil er noch eine Streichung des § 370 RStPO vorgesehen hatte.1648 Die mit den heutigen § 329 Abs. 1 Satz 1, Abs. 3 und Abs. 7 StPO übereinstimmende Vorschrift sah nämlich vor, dass eine Berufung des Angeklagten ohne Verhandlung zur Sache zu verwerfen ist, wenn bei Beginn der Hauptverhandlung weder der Angeklagte noch ein Vertreter desselben erschienen und das Ausbleiben nicht genügend entschuldigt war; sofern die Staatsanwaltschaft die Berufung eingelegt hatte, bestimmte die Vorschrift, dass auch ohne den Angeklagten über diese verhandelt oder die Vorführung oder Verhaftung des Angeklagten angeordnet werden konnte. Reichensperger hoffte daher, dass ein Entwurf, der eine Streichung des 1640
Vgl. Verhandlungen des Reichstags, 6. Legislaturperiode, II. Session 1885/86, 2. Band, S. 1443 sowie 3. Band, S. 1506. 1641 So wiedergegeben in dem Bericht der VIII. Kommission, Verhandlungen des Reichstags, 10. Legislaturperiode, II. Session 1900/03, 2. Anlageband, Aktenstück Nr. 220, S. 1369. 1642 Verhandlungen des Reichstags, 7. Legislaturperiode, II. Session 1887/88, 3. Band, Aktenstück Nr. 17, S. 141 f. 1643 Vgl. S. 336. 1644 § 123 Nr. 3 GVG i. d. F. des Antrags Munckel vom 24. November 1887 (Fn. 1642). 1645 §§ 354 Abs. 2, 368 Abs. 2 GVG i. d. F. des Antrags Munckel vom 24. November 1887 (Fn. 1642). 1646 § 124 Abs. 2 GVG i. d. F. des Antrags Munckel vom 24. November 1887 (Fn. 1642). 1647 Entwurf eines Gesetzes betreffend Abänderungen und Ergänzungen des Gerichtsverfassungsgesetzes vom 27. Januar 1877, sowie der Strafprozeßordnung vom 1. Februar 1877, abgedruckt in: Verhandlungen des Reichstags, 7. Legislaturperiode, II. Session 1887/88, 3. Band, Aktenstück Nr. 19, S. 143 ff. 1648 Verhandlungen des Reichstags, 7. Legislaturperiode, II. Session 1887/88, 1. Band, S. 370.
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§ 370 RStPO nicht mehr vorsah, auch im Bundesrat die erforderliche Zustimmung finden würde.1649 Im Übrigen entsprach der Entwurf jener Fassung seines vorherigen Entwurfs, wie er am 15. März 1886 von der VIII. Kommission angenommen worden war.1650 Doch weder der Antrag Munckel noch der Antrag Reichensperger wurden im Reichstag abschließend beraten, da beide Anträge im Termin zu ihrer zweiten Lesung – am 29. Februar 1888 – von den Antragsstellern zurückgenommen worden waren, die mit Blick auf die Geschäftslage des Reichstages nicht damit rechneten, dass noch in der Session des Reichstages zu einer dritten Lesung der Entwürfe kommen würde.1651 Allerdings brachte Reichensperger etwa zwei Jahre später, nämlich am 3. Dezember 1890, seinen Entwurf ein fünftes Mal in den Reichstag ein,1652 wobei er in der ersten Lesung des Entwurfs, die erst am 20. Januar 1892 – also über ein Jahr später – stattfand, schwere Vorwürfe gegen den Bundesrat erhob, weil dieser seines Erachtens den Anträgen zur Wiedereinführung der Berufung wiederholt die Zustimmung verweigert hatte, ohne die Gründe hierfür offenzulegen.1653 Hierbei hob Reichensperger hervor, dass selbst das gemeine Volk eine Wiedereinführung der Berufung begehre und unterstrich seine Behauptung mit einer Passage aus der kölnischen Zeitung, die er im Plenum wörtlich wiedergab: „Man darf getrost behaupten, daß die Beseitigung der Berufung, mag sie prinzipiell berechtigt sein, sich tatsächlich n i c h t b e w ä h r t hat, und das Verlangen nach Erhöhung des Rechtsschutzes gegen Verurtheilung durch E i n f ü h r u n g e i n e r z w e i t e n I n s t a n z ein sehr verbreitetes und auch ein berechtigtes ist. In frühen Jahren hat sich der Reichstag wiederholt dafür ausgesprochen; die Einführung scheiterte jedoch an dem Widerspruche des Bundesrathes“1654
Auch Abgeordneter Munckel von der DFP, der auf eine wiederholte Einbringung seines eigenen Antrags verzichtet hatte, brachte im Plenum des Reichstages besonders plastisch zum Ausdruck, welches Übel von einer fehlenden Berufung in Strafkammersachen auszugehen vermochte:
1649 Verhandlungen des Reichstags, 7. Legislaturperiode, II. Session 1887/88, 1. Band, S. 370 f. 1650 Bericht der VIII. Kommission, in: Verhandlungen des Reichstags, 6. Legislaturperiode, II. Session 1885/86, 4. Band, Aktenstück Nr. 84, S. 494 ff. 1651 Verhandlungen des Reichstags, 7. Legislaturperiode, II. Session 1887/88, 2. Band, S. 1173. 1652 Verhandlungen des Reichstags, 8. Legislaturperiode, I. Session 1890/92, 2. Anlagenband, Aktenstück Nr. 158, S. 992 ff. 1653 Verhandlungen des Reichstags, 8. Legislaturperiode, I. Session 1890/92, 6. Band, S. 3765. 1654 Zit. n. Verhandlungen des Reichstags, 8. Legislaturperiode, I. Session 1890/92, 6. Band, S. 3765.
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„Das Bestreben jedes Richters geht dahin – und das ist korrekt und zu billigen und vollkommen menschlich –, das Urtheil, das er gemacht hat, möglichst nicht angefochten zu sehen und gegen Anfechtung sicher zu stellen. Haben Sie eine Berufung, so muß das Urtheil so logisch gearbeitet sein, so klar in seinen Schlüssen, so sorgfältig in seinen thatsächlichen Erwägungen, daß der zweite Richter daran nichts auszusetzen finden kann. Haben Sie dagegen die Berufung nicht, haben Sie nur die Revision, die formellen Anfechtungspunkte und die Angriffe in jure, so muß das Urtheil in thatsächlicher Beziehung so schlecht gearbeitet werden wie nur irgend möglich – dann ist es mit der Revision nicht anzugreifen. Je schlechter thatsächlich das Urtheil begründet ist, desto unangreifbarer wird es für die Revision.“1655
Dennoch kam es in der Session des Reichstages zu keiner weiteren Lesung des Antrags Reichensperger, sodass auch dieser der Diskontinuität verfiel. Infolgedessen legte Reichensperger den Antrag am 23. November 1892 erneut – und damit zum sechsten Mal – dem Reichstag vor.1656 Somit blieb er bis zu seinem Tod am 31. Dezember 1892 ein Verfechter der instanzinternen Berufung in Strafkammersachen und der Reduzierung der Besetzung der Strafkammern von fünf auf drei Richter. Auch Munckel brachte zeitgleich einen Antrag zur Wiedereinführung der Berufung in den Strafkammersachen ein,1657 der im Hinblick auf die darin enthaltenen Novellen der Berufungsvorschriften, von wenigen kleinen – im Wesentlichen redaktionellen – Änderungen abgesehen, nahezu vollständig mit seinem Antrag vom 24. November 18871658 übereinstimmte und somit eine Berufung von den Strafkammern zu den Oberlandesgerichten vorsah. Anders als Reichensperger setzte sich Munckel damit weiterhin für eine Beibehaltung des Devolutiveffekts bei der Berufung und für das Festhalten an der Besetzung der Strafkammern mit fünf Berufsrichtern ein. Da die verbündeten Regierungen jedoch zwischenzeitlich erneut erklärt hatten, dass sie dem Reichstag zeitnah einen Gesetzesentwurf vorlegen würden, der eine Berufung in den Strafkammersachen vorsah, war man sich bereits bei der ersten Beratung der jüngsten Anträge von Reichensperger und Munckel im Plenum, die am 19. April 1893 stattfand, einig, dass lediglich der Antrag Reichensperger angenommen werden sollte. Hierdurch sollte dem nunmehr verstorbenen Abgeordneten Reichensperger der gebührende Respekt gezollt und ungeachtet der anstehenden Regierungsvorlage verdeutlicht werden, dass der Reichstag weiterhin hinter dem von ihm erstmals 1886 angenommenen Entwurf Reichenspergers stand.1659 Da der Reichstag jedoch, nachdem 1655 Verhandlungen des Reichstags, 8. Legislaturperiode, I. Session 1890/92, 6. Band, S. 3769. 1656 Verhandlungen des Reichstags, 8. Legislaturperiode, II. Session 1892/93, 1. Anlageband, Aktenstück Nr. 26, S. 114 ff. 1657 Verhandlungen des Reichstags, 8. Legislaturperiode, II. Session 1892/93, 1. Anlageband, Aktenstück Nr. 23, S. 110 f. 1658 Vgl. S. 342 f. 1659 Verhandlungen des Reichstags, 8. Legislaturperiode, II. Session 1892/93, 3. Band, S. 1910 ff.
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dieser sich geweigert hatte, der Erhöhung der Friedenspräsenzstärke des Heeres zuzustimmen,1660 am 6. Mai 1893 gem. Art. 24 der Reichsverfassung1661 durch den Kaiser und den Bundesrat aufgelöst worden war, konnte er selbst diesen symbolischen Akt nicht mehr vollbringen. 2. Regierungsentwurf vom 6. Dezember 1894 a) Inhalt des Regierungsentwurfs 1894 Am 6. Dezember 1894 legte Reichskanzler Fürst zu Hohenlohe-Schillingsfürst dem Reichstag, wie schon zuvor angekündigt, einen von dem Bundesrat beschlossenen Entwurf eines Gesetzes betreffend Änderungen und Ergänzungen des Gerichtsverfassungsgesetzes und der Strafprozessordnung vor.1662 Nach § 354 StPO, wie er in dem Entwurf vorgesehen war, sollte die Berufung „gegen die Urtheile der Schöffengerichte und gegen die Urtheile der Strafkammern in erster Instanz“ stattfinden. Hierzu heißt es in der Begründung des Entwurfs: „Für die Ausschließung der Berufung ist insbesondere die Annahme maßgebend gewesen, die Zulassung eines solchen Rechtsmittels sei unvereinbar mit der Durchführung des Grundsatzes der Mündlichkeit und Unmittelbarkeit des Verfahrens. Man glaubte eine bessere Gewähr für richtige Entscheidungen hinsichtlich der Thatfrage darin zu finden, daß man das Verfahren in erster Instanz mit einer Anzahl dem früheren Prozeßrecht unbekannter Garantien umgab. Die praktischen Erfahrungen im großen Theile des Reichs haben die Richtigkeit dieser Annahme nicht bestätigt. Wiederholt sind Klagen über die Mangelhaftigkeit der Rechtsprechung der Strafkammern hinsichtlich der Thatfrage lautgeworden. Mögen dieselben auch übertrieben sein, so erscheint doch eine bessere Gewähr gegen unrichtige Entscheidungen dieser Art wünschenswerth. Eine solche wird am sichersten dadurch erreicht, daß die Möglichkeit der Nachprüfung der Thatfrage in einer zweiten Instanz gegeben wird.“1663
Daher sah die Regierungsvorlage, ähnlich wie die von dem Abgeordneten Munckel vorgelegten Entwürfe, eine Berufung von den Strafkammern zu den Oberlandesgerichten vor, deren Senate mit fünf Berufsrichtern besetzt sein sollten.1664 Hierbei wurden die Verfasser des Entwurfs auch von der Erwägung geleitet, dass die tatsächliche Durchführung einer Berufung an den Oberlandesgerichten aufgrund der zwischenzeitlichen Verbesserung der infrastrukturellen Umstände sich 1660 Verhandlungen des Reichstags, 8. Legislaturperiode, II. Session 1892/93, 3. Band, S. 2215 ff. 1661 Gesetz betreffend die Verfassung des Deutschen Reichs vom 16. April 1871, BGBl. (Nordd. Bund) 1871, 63. 1662 Verhandlungen des Reichstags, 9. Legislaturperiode, III. Session 1894/95, 1. Anlageband, Aktenstück Nr. 15, S. 55 ff. 1663 Verhandlungen des Reichstags, 9. Legislaturperiode, III. Session 1894/95, 1. Anlageband, Aktenstück Nr. 15, S. 63. 1664 §§ 123 Nr. 2, 124 GVG i. d. F. des Entwurfs 1894 (Fn. 1662).
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einfacher gestalten würde, als dies noch 1877 der Fall gewesen wäre. Hierzu heißt es in der allgemeinen Begründung des Entwurfs: „Die Schwierigkeiten, welche mit einer weiteren Entfernung des Gerichts verbunden sind, dürfen in Anbetracht der jetzigen Verkehrsverhältnisse überhaupt nicht zu hoch angeschlagen werden. Weitaus die meisten Gegenden werden mit dem Sitze des Berufungssenats durch die Eisenbahn verbunden sein, und wenn der Wohnort einmal verlassen werden muß, macht es für die Betheiligten meist keinen erheblichen Unterschied, ob die Eisenbahnfahrt etwas länger dauert. […] Jedenfalls wird die Rücksicht auf die unter Umständen für Einzelne erwachsenden Unbequemlichkeiten vor der Fürsorge für eine zweckentsprechende Entscheidung über das Rechtsmittel zurücktreten müssen.“1665
Des Weiteren gestattete § 124 Abs. 2 GVG des Entwurfs – vergleichbar dem heutigen § 78 GVG – den Landesjustizverwaltungen, an Landgerichten, die von dem zuständigen Oberlandesgericht weit entfernt waren, sog. detachierte Strafsenate als Berufungsspruchkörper einzurichten, die mit Richtern des Oberlandesgerichts oder der Landgerichte, für deren Bezirke der Senat gebildet würde, besetzt werden konnten. Angefochten werden konnten die Berufungsurteile der Oberlandesgerichte und der detachierten Strafsenate mit der Revision zum Reichsgericht,1666 dessen Senate weiterhin mit sieben Richtern besetzt bleiben sollten.1667 Scheitern sollte dieser vielversprechende Entwurf an der Bestimmung, dass die Strafkammern an den Landgerichten mit Blick auf die nunmehr zulässige Berufung nur noch mit drei statt wie bisher mit fünf Richtern besetzt sein sollten.1668 Bis dahin verhandelten die Strafkammern nur dann mit drei Richtern, wenn sie als Berufungsgerichte über Übertretungen oder Privatklagen zu entscheiden hatten.1669 Zu der Notwendigkeit dieser Besetzungsreduzierung heißt es in dem Entwurf: „Wie bereits oben bemerkt, haben einzelne der zum Ersatze für die fehlende Berufung in dem Verfahren erster Instanz eingeführten Garantien insofern schädlich gewirkt, als sie zu der jetzt vielfach beklagten Verzögerung und Schwächung der Strafrechtspflege nicht unwesentlich beigetragen haben. […] Die Besetzung der erkennenden Strafkammern der Landgerichte mit fünf Richtern […] in Verbindung mit dem Ausschluß des Berichterstatters [aus dem Eröffnungsverfahren] aus der erkennenden Kammer […] hat einen überflüssigen Verbrauch an Richterkräften in der ersten Instanz zur Folge gehabt. Wenn dem Angeklagten durch die Berufung eine neue Instanz zur Würdigung der Thatfrage gewährt wird, erscheint es unbedenklich, die Zahl der Mitglieder der Strafkammer bei der Hauptverhandlung auf drei herabzusetzen“.1670 1665 Verhandlungen des Reichstags, 9. Legislaturperiode, III. Session 1894/95, 1. Anlageband, Aktenstück Nr. 15, S. 64. 1666 § 374 StPO sowie § 136 Abs. 1 Nr. 2 GVG, jeweils i. d. F. des Entwurfs 1894 (Fn. 1662). 1667 § 140 RGVG. 1668 Vgl. § 77 GVG i. d. F. des Entwurfs 1894 (Fn. 1662). 1669 § 77 RGVG. 1670 Verhandlungen des Reichstags, 9. Legislaturperiode, III. Session 1894/95, 1. Anlageband, Aktenstück Nr. 15, S. 66.
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Durch die Reduzierung des „Verbrauchs an Richterkräften“ sollte dabei vor allem die Kosten der Strafjustiz niedrig gehalten werden. Auch wenn diese Tatsache in der Begründung des Entwurfs keine ausdrückliche Erwähnung findet, folgt aus einer Gesamtschau der parlamentarischen Debatten zu der Besetzungsfrage sehr deutlich, dass die fiskalischen Interessen der Bundesstaaten eine nicht untergeordnete Rolle bei der Debatte um die Wiedereinführung der Berufung spielten.1671 So etwa wies der preußische Staats- und Justizminister in einer Sitzung des Reichstages mit Nachdruck darauf hin, dass die Einführung der Berufung in Strafkammersachen erhebliche Summen beanspruchen werde, weshalb etwa die preußische Finanzverwaltung bei der Wiedereinführung der Berufung auf eine Reduzierung der Besetzung der Strafkammern als Gerichte erster Instanz auf drei Richter bestehen müsse.1672 Dabei bestimmte der Entwurf 1894 sogar – wie schon der Regierungsentwurf 18851673 –, dass die Tatgerichte verpflichtet sein sollten, in ihren Urteilsgründen neben den objektiven Entscheidungsgründen auch die subjektiven Beweisgründe anzugeben,1674 und dass eine Berufung, die von dem Beschwerdeführer nicht rechtzeitig begründet wird, als unzulässig zu verwerfen ist.1675 Hierbei bediente er sich einer ähnlichen Begründung wie schon der Entwurf 1885.1676 b) Behandlung des Entwurfs im Reichstag Der Entwurf 1894 wurde ab dem 17. Januar 1895 im Plenum des 9. Reichstages beraten und am 19. Januar 1895 nach der ersten Lesung einer Kommission aus 28 Mitgliedern überwiesen.1677 Allerdings war die Kommission nicht mehr in der Lage, die Vorlage noch vor dem Schluss der III. Session des Reichstages zu Ende zu beraten, sodass sie zunächst unerledigt blieb.1678 Allerdings brachte die Reichsleitung den Entwurf am 13. Dezember 1895 mit geringfügigen Änderungen erneut in den
1671
Vgl. hierzu nur die Wiedergabe der finanziellen Bedenken der Vertreter der verbündeten Regierungen im Bericht der XI. Kommission, Verhandlungen des Reichstags, 9. Legislaturperiode, IV. Session 1895/97, 3. Anlageband, Aktenstück Nr. 294, S. 1574. 1672 Verhandlungen des Reichstags, 9. Legislaturperiode, IV. Session 1895/97, 5. Band, S. 3181. 1673 Vgl. S. 337 ff. 1674 § 266 Abs. 1 StPO i. d. F. des Entwurfs 1894 (Fn. 1662). 1675 §§ 358, 360 Abs. 1 StPO i. d. F. des Entwurfs 1894 (Fn. 1662). 1676 Vgl. S. 219 f., 338 f. 1677 Verhandlungen des Reichstags, 9. Legislaturperiode, III. Session 1894/95, 1. Band, S. 451. 1678 So vermerkt im Gesamtregister zu den stenographischen Berichten über die Verhandlungen des Reichstages und zu den Anlagen derselben für die 9. Legislaturperiode, III. Session. 1894/95, 3. Band, S. 2502, unter [Gerichtsverfassung]. Vgl. auch die Erläuterung hierzu in dem Bericht der XI. Kommission, in: Verhandlungen des Reichstags, 9. Legislaturperiode, IV. Session 1895/97, 3. Anlageband, Aktenstück Nr. 294, S. 1564.
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Reichstag ein.1679 Hierbei stimmten vor allem die Vorschriften betreffend der Wiedereinführung der Berufung weitestgehend mit denen des Vorentwurfs überein.1680 Auch dieser Entwurf (Entwurf 1895) wurde nach seiner ersten Lesung am 13. und 14. Januar 1896 einer Kommission aus nunmehr nur 21 Mitgliedern überwiesen,1681 die zum Zwecke der Verfahrensbeschleunigung beschloss, statt die Regierungsvorlage wie üblich zwei Mal zu beraten, die Beratungsergebnisse der 28er-Kommission aus der vorangegangenen Session en bloc als Ergebnisse ihrer ersten Lesung zu übernehmen.1682 Dabei hatte bereits die 28er-Kommission vorgeschlagen, die Besetzung der Strafkammern zwar grundsätzlich entsprechend dem Regierungsentwurf auf drei Richter zu reduzieren, sofern sie jedoch als Berufungsgerichte nicht bloß über Übertretungen oder Privatklagen entschieden, weiterhin an einer Besetzung mit fünf Richtern festzuhalten.1683 Dies war insofern nur konsequent, als bereits in der ersten Lesung des Entwurfs 1894 im Plenum des Reichstages deutlich geworden war, dass die von dem Entwurf vorgeschlagene generelle Reduzierung der Besetzung der Strafkammern von fünf auf drei Richtern nicht von allen Abgeordneten mitgetragen werden würde.1684 Vor allem aber in der Lesung des Entwurfs 1895 zeigte sich endgültig, dass sich die Frage der Wiedereinführung der Berufung in Strafkammersachen vor allem an der Frage nach der künftigen Besetzung der Strafkammern entschieden würde.1685 So diskutierte auch die 21er-Kommission unterschiedliche Vorschläge zur Lösung der Besetzungsfrage.1686 Doch die Vertreter der verbündeten Regierungen, die an den Kommissionssitzungen teilnahmen, machten bereits hier deutlich, dass der Bundesrat dem Entwurf seine Zustimmung nur dann erteilen würde, wenn die Besetzung der Strafkammern zumindest in erster Instanz auf drei Richter reduziert
1679 Verhandlungen des Reichstags, 9. Legislaturperiode, IV. Session 1895/97, 1. Anlageband, Aktenstück Nr. 73, S. 341 ff. 1680 Begründung zum Entwurf 1895, vgl. Verhandlungen des Reichstags, 9. Legislaturperiode, IV. Session 1895/97, 1. Anlageband, Aktenstück Nr. 73, S. 348 ff. 1681 Verhandlungen des Reichstags, 9. Legislaturperiode, IV. Session 1895/97, 1. Band, S. 332. 1682 Bericht der XI. Kommission, Verhandlungen des Reichstags, 9. Legislaturperiode, IV. Session 1895/97, 3. Anlageband, Aktenstück Nr. 294, S. 1564. 1683 Vgl. Bericht der XI. Kommission, Verhandlungen des Reichstags, 9. Legislaturperiode, IV. Session 1895/97, 3. Anlageband, Aktenstück Nr. 294, S. 1573. 1684 Vgl. nur Verhandlungen des Reichstags, 9. Legislaturperiode, III. Session 1894/ 95, 1. Band, S. 395 f. (Rintelen), S. 413 (Lenzmann) oder S. 445 (Buol-Berenberg). 1685 Vgl. nur Verhandlungen des Reichstags, 9. Legislaturperiode, IV. Session 1895/ 97, 1. Band, S. 300 f. (von Bucha), S. 323 (Stadthagen), S. 329 (Schönstedt, preußischer Staatsund Justizminister). 1686 Bericht der XI. Kommission, Verhandlungen des Reichstags, 9. Legislaturperiode, IV. Session 1895/97, 3. Anlageband, Aktenstück Nr. 294, S. 1573 f.
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würde.1687 Für eine Besetzung der Strafkammern mit fünf Richtern zeigten sie sich lediglich für den Fall offen, dass die Strafkammern als Berufungsspruchkörper gegen amtsgerichtliche Urteile tätig wurden.1688 Letztendlich schlug die 21er-Kommission eine Fassung des § 77 GVG vor, die bereits in der vorangegangenen Session von der 28er-Kommission in erster Lesung beschlossen worden war. Danach sollten die Strafkammern grundsätzlich mit drei Richtern besetzt sein – lediglich wenn sie als Berufungsgerichte über Vergehen verhandelten, die nicht im Wege der Privatklage verfolgt wurden, waren sie mit fünf Richtern zu besetzen.1689 Diese Fassung des § 77 GVG stieß jedoch in der zweiten Lesung des Entwurfs im Reichstag auf erheblichen Widerstand.1690 Stattdessen wurden im Reichstag Anträge eingebracht, die auch in den Strafkammersachen nach einer Schöffenbeteiligung oder die Beibehaltung der bisherigen Fassung des § 77 GVG verlangten, der eine Besetzung der Strafkammern mit fünf Berufsrichtern vorsah.1691 Mit Blick auf diese Anträge fühlte sich ein Vertreter des Bundesrates genötigt, die Abgeordneten des Reichstages darauf hinzuweisen, dass bereits die von der Kommission beschlossene Fassung des § 77 GVG, für die verbündeten Regierungen „[…] eine bedeutende Erschwerung der Organisation und eine höhere Aufwendung von Kosten mit sich bringt. Weiter zu gehen werden sich die verbündeten Regierungen nach meiner Kenntniß der Verhältnisse schwerlich entschließen und ich bitte sie daher dringend, im Interesse des Zustandekommens des Gesetzes[,] den hierauf gerichteten, jetzt zur Verhandlung stehenden Anträgen nicht ihre Zustimmung zu ertheilen.“1692
Auch der preußische Staats- und Justizminister Schönstedt ermahnte in seiner Funktion als Bevollmächtigter des Bundesrates den Reichstag, in der Besetzungsfrage nicht über die Kommissionsfassung hinauszugehen, da die verbündeten Regierungen in einem solchen Fall der gesamten Vorlage ihre Zustimmung entziehen würden.1693 Ungeachtet dessen nahm der Reichstag nach der zweiten Lesung einen
1687
Bericht der XI. Kommission, Verhandlungen des Reichstags, 9. Legislaturperiode, IV. Session 1895/97, 3. Anlageband, Aktenstück Nr. 294, S. 1574. 1688 Bericht der XI. Kommission, Verhandlungen des Reichstags, 9. Legislaturperiode, IV. Session 1895/97, 3. Anlageband, Aktenstück Nr. 294, S. 1574. 1689 Bericht der XI. Kommission, Verhandlungen des Reichstags, 9. Legislaturperiode, IV. Session 1895/97, 3. Anlageband, Aktenstück Nr. 294, S. 1575, 1615, 1617. 1690 Verhandlungen des Reichstags, 9. Legislaturperiode, IV. Session 1895/97, 5. Band, S. 3144 f., S. 3151 ff. 1691 Verhandlungen des Reichstags, 9. Legislaturperiode, IV. Session 1895/97, 3. Anlageband, Aktenstück Nr. 417, S. 1922 f.; 5. Anlageband, Aktenstück Nr. 546, S. 2313; Aktenstück Nr. 550, S. 2349. 1692 Verhandlungen des Reichstags, 9. Legislaturperiode, IV. Session 1895/97, 5. Band, S. 3157. 1693 Verhandlungen des Reichstags, 9. Legislaturperiode, IV. Session 1895/97, 5. Band, S. 3181.
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Antrag der Abgeordneten Munckel und Rickert1694 an, wonach an der bisherigen Fassung des § 77 RGVG festgehalten werden sollte. Demnach sollten die Strafkammern auch bei Einführung einer Berufung gegen ihre Urteile in einer Besetzung von fünf Berufsrichtern verhandeln, sofern sie nicht als Berufungsgerichte bloß über Übertretungen oder Privatklagesachen zu entscheiden hatten. Daraufhin schickte sich in der dritten Lesung des Entwurfs der Staatssekretär des Reichs-Justizamt Nieberding an, dem Reichstag ein weiteres Mal darzulegen, unter welchen zwingenden Voraussetzungen die verbündeten Regierungen der Wiedereinführung der Berufung in Strafkammersachen nur zustimmen würden: „Meine Herren, die Bedingung, unter der die Berufung im Prozeß nach Ansicht der verbündeten Regierungen allein Eingang gewinnen kann, ist die, daß neben einer Berufungsinstanz, die mit fünf Richtern besetzt ist, eine erste Instanz, mit nur drei Richtern besetzt, stehe. Die verbündeten Regierungen sind überzeugt, daß sie von dieser Forderung, wie immer der Gang der Verhandlung sich auch gestalten möge, nicht ablassen können.“1695
Nieberding erinnerte auch daran, dass die Entscheidung des historischen Gesetzgebers, die Strafkammern mit fünf Richtern zu besetzen, obwohl die Partikularrechte vorwiegend nur erstinstanzliche Gerichte mit drei Richtern kannten, darauf beruhte, einen Ausgleich – eine Garantie in der damaligen Terminologie – für die weggefallene Berufung in Strafkammersachen zu schaffen, der bei einer Einführung der Berufung nicht mehr erforderlich sei.1696 Weiter erinnerte er daran, dass der Reichstag während der gesamten 1880er-Jahre die Anträge von Reichensperger unterstützt hatte, die ebenfalls eine Reduzierung der Besetzung der Strafkammern in erster Instanz auf drei Richter vorgesehen hatten.1697 Hierbei bemerkte Nieberding zutreffend, dass die Besetzung der Strafkammern in erster Instanz mit drei Richtern schon seit zehn Jahren Gesetz sein würde, wenn die verbündeten Regierungen schon dem 1885 durch den Reichstag angenommenen Entwurf1698 zugestimmt hätten.1699 Völlig unmissverständlich stellte Nieberding insoweit klar: „Wenn das hohe Haus bei der Spezialberathung des Gerichtsverfassungsgesetzes gleichwohl an der Besetzung der Kammern mit fünf Richtern festhalten sollte, dann werde ich in
1694 Verhandlungen des Reichstags, 9. Legislaturperiode, IV. Session 1895/97, 3. Anlageband, Aktenstück Nr. 417, S. 1922 f.; 5. Anlageband, Aktenstück Nr. 546, S. 2313; Aktenstück Nr. 550, S. 2349. 1695 Verhandlungen des Reichstags, 9. Legislaturperiode, IV. Session 1895/97, 5. Band, S. 3916 f. 1696 Verhandlungen des Reichstags, 9. Legislaturperiode, IV. Session 1895/97, 5. Band, S. 3917. 1697 Verhandlungen des Reichstags, 9. Legislaturperiode, IV. Session 1895/97, 5. Band, S. 3917. 1698 Vgl. S. 339 ff. 1699 Verhandlungen des Reichstags, 9. Legislaturperiode, IV. Session 1895/97, 5. Band, S. 3917.
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der Lage sein, die Konsequenzen aus der Haltung der verbündeten Regierungen, die ich eben anzudeuten hatte, zu ziehen.“1700
Ungeachtet dieser mahnenden Worte, und obwohl auch aus der Mitte des Reichstages gefordert worden war, die in greifbare Nähe gerückte Wiedereinführung der Berufung in den Strafkammersachen nicht an der Besetzungsfrage scheitern zu lassen,1701 beschloss der Reichstag am 15. Dezember 1896, dass er an seinem Beschluss aus der zweiten Lesung festhalten würde, wonach es bei der grundsätzlichen Besetzung der Strafkammern mit fünf Richtern verbleiben sollte.1702 Daraufhin führte Justizstaatssekretär Nieberding – wie bereits zuvor angemahnt – aus, dass die Regierungsvorlage durch diesen Beschluss um eine Vorschrift ergänzt worden sei, die für die verbündeten Regierungen unter keinen Umständen annehmbar ist, weshalb der Bundesrat dem Entwurf seine Zustimmung nicht erteilen könne; so erklärte er im Namen des Bundesrates, „daß die verbündeten Regierungen auf eine weitere Berathung der Vorlage keinen Werth mehr zu legen haben“.1703 Da nunmehr feststand, dass der Entwurf keine Zustimmung mehr im Bundesrat erhalten würde, brach auch der Reichstag die weitere Beratung des Entwurfs ab. Da die dritte Lesung des Entwurfs im Reichstag formal noch nicht abgeschlossen war, versuchte Abgeordneter Adt (NLP) am 19. Mai 1897 mit Unterstützung zahlreicher Abgeordneter den vermittelnden Entwurf eines § 77a GVG in den Reichstag einzubringen.1704 Nach diesem Entwurf sollten die Strafkammern nicht mehr nur dann mit lediglich drei Richtern besetzt sein, wenn sie als Berufungsgerichte über Übertretungen oder Privatklagen entschieden,1705 sondern auch, wenn sie über Vergehen, Übertretungen oder Delikte verhandelten, die lediglich deshalb als Verbrechen anzusehen waren, weil der Täter sie im Rückfall begangen hatte.1706 Damit wäre eine Besetzung der Strafkammern mit fünf Richtern nur noch für die Fälle vorgesehen gewesen, in denen sie über originäre Verbrechen entschieden – da die meisten Verbrechen zu jener Zeit jedoch ohnehin vor (echten) Schwurgerichten zu 1700
Verhandlungen des Reichstags, 9. Legislaturperiode, IV. Session 1895/97, 5. Band, S. 3919. 1701 Vgl. nur etwa Abgeordneter von Buchka für seine politischen Freunde, in: Verhandlungen des Reichstags, 9. Legislaturperiode, IV. Session 1895/97, 5. Band, S. 3931. 1702 Verhandlungen des Reichstags, 9. Legislaturperiode, IV. Session 1895/97, 5. Band, S. 3935. 1703 Verhandlungen des Reichstags, 9. Legislaturperiode, IV. Session 1895/97, 5. Band, S. 3935. 1704 Verhandlungen des Reichstags, 9. Legislaturperiode, IV. Session 1895/97, 7. Anlagenband, Nr. 865, S. 4463. 1705 So schon § 77 Satz 2 Halbsatz 2 RGVG. 1706 Dies galt etwa für Diebstahl, der gem. § 242 RStGB mit Gefängnis zu bestrafen war und deshalb gem. § 1 Abs. 2 RStGB als Vergehen galt – § 244 RStGB bestimmte jedoch, dass derjenige, der im Inland bereits als Dieb bestraft worden war und erneut eine Diebstahl beging, mit bis zu zehn Jahren Zuchthaus bestraft werden konnte, sodass der Diebstahl in diesem Fall gem. § 1 Abs. 1 RStGB als Verbrechen anzusehen war. Zum Unterschied zwischen Gefängnis und Zuchthaus vgl. S. 143 Fn. 680.
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verhandeln waren, hätte der Antrag einen durchaus annehmbaren Kompromissvorschlag an den Bundesrat bzw. die verbündeten Regierungen dargestellt, der jedoch aufgrund der Geschäftslage des Reichstages nicht mehr in seinem Plenum beraten werden konnte.1707 Dieser bis dahin aussichtsreichste Versuch zur Wiedereinführung der Berufung in den Strafkammersachen scheiterte also letztlich an der lapidaren Frage, wie die Strafkammern in einem solchen Fall zu besetzen gewesen wären, obwohl alle (!) Reichsorgane über die Notwendigkeit einer Berufung in den Strafkammersachen einig gewesen waren.
III. Die vollumfassende Einführung der Berufung in Militärstrafsachen Auch nachdem die Regierungsvorlage vom 6. Dezember 1894 resp. vom 13. Dezember 1895 gescheitert war, war die Debatte um die Einführung einer Berufung in Strafkammersachen keinesfalls vorbei. Einen besonders starken Schub erhielt die Debatte durch die Einführung einer einheitlichen Militärstrafgerichtsordnung für das gesamte deutsche Militär. Während in der Bundesrepublik Deutschland auch Straftaten von Soldaten durch die ordentlichen Strafgerichte verhandelt und entschieden werden, unterhielt das Deutsche Reich – wie bereits an anderer Stelle ausführlich dargelegt1708 – bis zum Ersten Weltkrieg eine eigenständige Militärstrafgerichtsbarkeit, die im Falle von Militärpersonen als besonderer Gerichtsstand die bürgerliche Strafgerichtsbarkeit verdrängte. Nach dem Ersten Weltkrieg allerdings wurde sie entsprechend Art. 106 der Weimarer Verfassung1709 durch das Gesetz vom 17. August 19201710 aufgehoben und erlebte anschließend lediglich während der nationalsozialistischen Unrechtsherrschaft eine unrühmliche Wiederkehr.1711
1707 So dargelegt in dem Bericht der Kommission, Verhandlungen des Reichstags, 10. Legislaturperiode, II. Session 1900/03, 2. Anlageband, Aktenstück Nr. 220, S. 1369. 1708 Ausführlicher zu der Bedeutung der Militärgerichtsbarkeit im Deutschen Reich vgl. S. 228 f. 1709 Art. 106 der Verfassung des Deutschen Reichs vom 11. August 1919 lautete: „Die Militärgerichtsbarkeit ist aufzuheben, außer für Kriegszeiten und an Bord der Kriegsschiffe. Das Nähere regelt ein Reichsgesetz“. 1710 Gesetz betreffend Aufhebung der Militärgerichtsbarkeit vom 17. August 1920, RGBl. 1920, 1579 ff. 1711 Gesetz über die Wiedereinführung der Militärgerichtsbarkeit vom 12. Mai 1933, RGBl. I, 1933, 264; Bekanntmachung des Wortlautes der Militärstrafgerichtsordnung und des Einführungsgesetzes dazu vom 4. November 1933, RGBl. I 1933, 921 ff.; Ausführungsbestimmungen zur Militärstrafgerichtsordnung vom 21. November 1933, RGBl. I 1933, 989 ff.
A. Ansätze im Kaiserreich zur Ergänzung der Strafkammersachen
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1. Einführung der Militärstrafgerichtsordnung vom 1. Dezember 1898 Dabei war das materielle Militärstrafrecht im Deutschen Reich bereits 1872 durch ein Militär-Strafgesetzbuch1712 einheitlich geregelt worden. Das Strafverfahrensrecht jedoch unterschied sich weiterhin für die Heere von Preußen, Bayern, Sachsen und Württemberg, aus denen sich das Deutsche Heer zusammensetzte, und die kaiserlichen Marine.1713 Erst die Militärstrafgerichtsordnung vom 1. Dezember 1898 (MStGO) schaffte für das gesamte Militär im Deutschen Reich ein einheitliches Strafverfahrensrecht.1714 Die am 1. Oktober 1900 in Kraft getretene1715 Militärstrafgerichtsordnung galt grundsätzlich für das gesamte deutsche Militär – wenige, wenn auch wesentliche, Ausnahmen galten lediglich für das Bayerische Heer.1716 Nachdem die Reichsverwaltung durch den Reichstag bereits mehrfach dazu aufgefordert worden war, das Militärstrafverfahren im Deutschen Reich auf eine einheitliche Rechtsgrundlage zu stellen, teilte Reichskanzler Fürst zu HohenloheSchillingsfürst schließlich am 18. Mai 1896 mit, dass der Entwurf einer einheitlichen Militärstrafgerichtsordnung für die deutsche Armee bereits so weit fortgeschritten sei, dass er noch in jenem Herbst den gesetzgebenden Körperschaften des Reichs vorgelegt werden könne.1717 Tatsächlich wurde dem Reichstag erst am 30. November 1897 ein von dem Bundesrat beschlossener Entwurf einer Militärstrafgerichtsordnung präsentiert.1718 Bemerkenswerterweise dauerte es von der ersten Beratung des Entwurfs am 16. und 17. Dezember 18971719 bis zu seiner endgültigen Annahme im Reichstag mit lediglich kleinen Änderungen am 4. Mai. 1898 keine sechs Monate,1720 während die Beratung der bürgerlichen Strafprozessordnung Jahre (!) für sich in Anspruch genommen hatte. Beachtenswert an der Militärstrafgerichtsordnung ist im vorliegenden Kontext vor allem das darin niedergelegte Rechtsmittelrecht, welches sich in vielerlei Hinsicht von dem Rechtsmittelrecht der bürgerlichen Strafprozessordnung unterschied. Während in den bürgerlichen Strafsachen etwa noch um die Berufung in den 1712
Militär-Strafgesetzbuch für das Deutsche Reich vom 20. Juni 1872, RGBl. 1872, 174. Ausführlicher S. 228 Fn. 1103. 1714 RGBl. 1898, 1189. 1715 § 1 EGMStGO (RGBl. 1898, 1289) i. V. m. der kaiserlichen Verordnung, betreffend das Inkrafttreten der Militärstrafgerichtsordnung vom 28. Dezember 1899 (RGBl. 1900, 1). 1716 Vgl. S. 229 Fn. 1104. 1717 Verhandlungen des Reichstags, 9. Legislaturperiode, IV. Session 1895/97, 3. Band, S. 2331. 1718 Verhandlungen des Reichstags, 9. Legislaturperiode, V. Session 1895/97, 1. Anlageband, Aktenstück Nr. 6, S. 90 ff. 1719 Verhandlungen des Reichstags, 9. Legislaturperiode, V. Session 1895/97, 1. Band, S. 293, 318. 1720 Verhandlungen des Reichstags, 9. Legislaturperiode, V. Session 1895/97, 3. Band, S. 2184 f. 1713
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Strafkammersachen gerungen wurde, stellte der Reichsgesetzgeber mit der Militärstrafgerichtsordnung eindrucksvoll unter Beweis, dass er durchaus in der Lage war, ein Strafverfahren mit einem überzeugenden Rechtsmittelsystem zu entwickeln – nach der Militärstrafgerichtsordnung konnten dabei insbesondere alle erstinstanzlichen Urteile der Militärstrafgerichte mit der Berufung angefochten werden.1721 Ein Umstand, der bereits in der ersten Lesung des Entwurfs unter anderem von dem Abgeordneten Gröber ausdrücklich gelobt wurde: „Endlich komme ich zum letzten Punkt, zu den R e c h t s m i t t e l n . Ich freue mich, daß ich da ein entschiedenes Lob für den Entwurf aussprechen kann, weil er die B e r u f u n g einführt, die wir für das bürgerliche Strafverfahren leider noch nicht erlangt haben. Es ist hier ein Fortschritt sogar über das bürgerliche Recht hinaus“.1722
Hierdurch wurden diejenigen Kräfte im Reich, die schon seit jeher um eine Wiedereinführung der Berufung in den Strafkammersachen gekämpft hatten, weiterhin in ihrer Ansicht bestärkt, dass das Rechtsmittelrecht des bürgerlichen Strafverfahrens zwingend reformbedürftig war. Schließlich war durch die Einführung der Militärstrafgerichtsordnung der merkwürdige Zustand eingetreten, dass die einem absoluten Gewaltverhältnis unterliegenden Soldaten nunmehr über einen besseren Rechtsschutz gegen strafgerichtliche Urteile genossen, als „freie“ Bürger. Die nachfolgende Darstellung des Rechtsmittelrechts in Militärstrafsachen dient daher nicht bloß historischem Interesse, sondern zeigt auch auf, welche anderen Möglichkeiten zur Ausgestaltung des strafrechtlichen Instanzenzuges dem Gesetzgeber schon im Kaiserreich zur Verfügung gestanden hätten. Auch wenn die Hintergründe der Normierung der Militärstrafgerichtsordnung bereits an anderer Stelle dargelegt wurden,1723 sei hier kurz daran erinnert, dass es sich bei dem Militärstrafverfahren sehr wohl um ein echtes Strafverfahren handelte, das auf denselben prozessualen Prinzipien aufbaute, wie sein bürgerliches Pendant. Wie schon dargelegt, fanden auch im Militärstrafprozess die Grundsätze der Offizialanklage1724, Mündlichkeit1725, Unmittelbarkeit1726, Öffentlichkeit1727 und der freien Beweiswürdigung1728 weitestgehend uneingeschränkte Anwendung,1729 sodass das bürgerliche und militärische Strafverfahren durchaus vergleichbar waren. 1721
Ähnl. auch Gerland, Der deutsche Strafprozess, S. 27; Bündig zu dem System der Systemlosigkeit der Reichsstrafprozessordnung vgl. S. 213. 1722 Verhandlungen des Reichstags, 9. Legislaturperiode, V. Session 1895/97, 1. Band, S. 303. 1723 Vgl. S. 228 f. 1724 § 261 MStGO. 1725 Vgl. §§ 304, 315 MStGO. 1726 §§ 315, 317 MStGO. 1727 § 282 MStGO. 1728 § 315 MStGO. 1729 Ähnlich auch Koppmann, Militärstrafgerichtsordnung, im Vorwort, aber auch in der Einleitung S. VIII.
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2. Die Rechtsmittel im Militärstrafverfahren Die Militärstrafgerichtsbarkeit bestand aus Standgerichten, Kriegsgerichten und Oberkriegsgerichten sowie einem Reichsmilitärgericht mit Sitz in Berlin; ihr vierstufiger Aufbau entsprach also dem der bürgerlichen Strafgerichtsbarkeit. Den Standgerichten oblag dabei die sog. niedere Gerichtsbarkeit, die vor allem Delikte im Range von Übertretungen1730 sowie einfachen Vergehen zum Gegenstand hatte und auf Offiziere nicht anwendbar war.1731 Damit entsprachen Standgerichte weitestgehend den Amtsgerichten in bürgerlichen Strafsachen. Verfahren in schweren Strafsachen sowie gegen Offiziere wurden dagegen bereits in erster Instanz vor den Kriegsgerichten durchgeführt, die damit gerichtshierarchisch eine ähnliche Stellung einnahmen wie die bürgerlichen Landgerichte.1732 Die den Oberlandesgerichten entsprechenden Oberkriegsgerichte und das mit dem Reichsgericht vergleichbare Reichsmilitärgericht hingegen wurden ausschließlich als Rechtsmittelgerichte tätig. Anders als die bürgerlichen Strafgerichte traten die Militärstrafgerichte, von der Ausnahme des Reichsmilitärgerichts in Berlin abgesehen, das als ständiges Gericht konzipiert war, nur dann zusammen, wenn sie durch den jeweiligen Gerichtsherrn1733 für den einzelnen Fall einberufen wurden.1734 Auch wenn die Militärstrafgerichtsordnung in vielen Punkten durchaus der bürgerlichen Strafprozessordnung nachempfunden war, unterschied sich vor allem ihr Rechtsmittelsystem deutlich von dem der bürgerlichen Strafprozessordnung. So war eine Berufung nicht nur von den Standgerichten zu den Kriegsgerichten vorgesehen, wie sie der Berufung von den Amtsgerichten zu den Landgerichten entsprach1735 – vielmehr konnten auch erstinstanzliche Urteile der Kriegsgerichte mit einer Berufung zu den Oberkriegsgerichten angefochten werden.1736 Diese Möglichkeit entspräche in den bürgerlichen Strafsachen einer Berufung von den Landgerichten zu den Oberlandesgerichten, wie sie bis heute nicht existiert. Damit 1730 Zur Einteilung der Delikte in Verbrechen, Vergehen und Übertretungen nach dem RStGB vgl. S. 143 Fn. 680. 1731 § 14 MStGO; § 45 MStGO i. V. m. §§ 15, 16 MStGO; zur Einteilung der Delikte und Freiheitsstrafen nach dem RStGB vgl. S. 143 Fn. 680. 1732 § 62 Nr. 1 MStGO. 1733 Als Gerichtsherren wurden diejenigen militärischen Befehlshaber bezeichnet, welche die Gerichtsbarkeit über die zu ihrem Befehlsbereich gehörenden Personen ausübten, § 25 MStGO. Für das Heer waren dies ein kommandierender General, ein Divisionskommandeur, der Gouverneur von Berlin, ein Gouverneur oder Kommandant einer großen Festung sowie ein Gouverneur, Kommandant oder sonstige Befehlshaber eines in Kriegszustand (Belagerungszustand) erklärten Ortes oder Distrikts; für die Marine hingegen der kommandierende Admiral oder der Chef einer heimischen Marinestation, § 20 MStGO. Eine grobe Vergleichbarkeit besteht wohl mit den heutigen Einleitungsbehörden i. S. d. § 94 WDO, wenn auch ihre Zuständigkeit auf das militärische Disziplinarverfahren beschränkt ist und auch ihre Befugnisse weit hinter denen eines Gerichtsherrn zurückbleiben. 1734 § 18 Abs. 3 MStGO. 1735 § 378 Abs. 1 MStGO i. V. m. § 62 Nr. 2. MStGO. 1736 § 378 Abs. 1 MStGO i. V. m. § 65 Abs. 1 MStGO.
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4. Kap.: Gesetzgeberische Versuche der Erweiterung des Rechtsschutzes
Abbildung 1: Aufbau der Militärstrafgerichtsbarkeit
konnten in den Militärstrafsachen grundsätzlich alle tatrichterlichen Urteile mit einer Berufung angefochten werden. Eine Revision allerdings war in den Militärstrafsachen ausschließlich gegen die Berufungsurteile der Oberkriegsgerichte statthaft.1737 Berufungsurteile der Kriegsgerichte, die ja den Landgerichten glichen, waren dagegen generell nicht revisionsfähig. Zuständig für die Verhandlung und Entscheidung der Revision war das Reichsmilitärgericht. Somit war der Militärstrafgerichtsordnung eine mit der Revisionszuständigkeit der Oberlandesgerichte in bürgerlichen Strafsachen vergleichbare Zuständigkeit der Oberkriegsgerichte unbekannt. Vergleichbar mit dem Instanzenzug in den Militärstrafsachen wäre damit ein Instanzenzug im bürgerlichen Strafverfahren, der zwar gegen Urteile der Amtsgerichte weiterhin eine Berufung zu den Landgerichten zulässt, gegen das Berufungsurteil der Landgerichte aber keine weiteren Rechtsmittel mehr vorsähe. Dafür jedoch wäre gegen erstinstanzliche Urteile der Landgerichte die Berufung zu den 1737
§ 397 Abs. 1 MStGO i. V. m. § 71 MStGO.
A. Ansätze im Kaiserreich zur Ergänzung der Strafkammersachen
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Oberlandesgerichten zulässig. Die Revision hingegen wäre ausschließlich zum Bundesgerichtshof und nur gegen die Berufungsurteile der Oberlandesgerichte statthaft. Beachtenswert ist noch, dass die Militärstrafgerichtsordnung gegen Urteile, die auf dem (Schlacht-)Feld oder an Bord von Kriegsschiffen ergangen waren, generell keine Rechtsmittel vorsah.1738 Dem lag die Annahme zugrunde, dass die Verhältnisse auf dem Schlachtfeld oder an Bord von Kriegsschiffen eine im militärischen Interesse notwendige zügige Durchführung des Rechtsmittelverfahrens nicht erlauben würden.1739 Einen Ausgleich für die fehlenden Rechtsmittel stellten insoweit umfangreiche Bestätigungs- und Aufhebungsrechte höherer Befehlshaber dar, die bei der Ausübung dieser Kompetenzen in aller Regel einen Beamten oder Offizier mit der Befähigung zum Richteramt zu konsultieren hatten.1740 3. Durchsicht und Nachprüfung rechtskräftiger tatrichterlicher Urteile Innovativ im Vergleich zum bürgerlichen Strafverfahren war auch die im Militärstrafverfahren vorgesehene Möglichkeit, bereits rechtskräftige tatrichterliche Urteile – etwa weil gegen diese keine Rechtsmittel zulässig waren oder eingelegt worden sind – einer militärjustizverwaltungsinternen Nachprüfung zuzuführen, die keine Auswirkungen zum Nachteil des Angeklagten hatten. Diese sog. Durchsicht und Nachprüfung sollte sicherstellen, dass auch in den Fällen, in denen eine Strafsache nicht in letzter Instanz durch das Reichsmilitärgericht entschieden worden war, eine einheitliche und rechtsfehlerfreie Gesetzesanwendung und -auslegung garantiert werden konnte.1741 Zu diesem Zweck wurden alle rechtskräftigen erstinstanzlichen Urteile der Stand- und Kriegsgerichte sowie die Berufungsurteile der Oberkriegsgerichte, gegen die keine Rechtsmittel eingelegt worden waren, und die Berufungsurteile der Kriegsgerichte, gegen die keine Rechtsmittel zulässig waren, einer Durchsicht unterzogen und sofern nötig nachgeprüft. Die rechtskräftigen Urteile der Stand- und Kriegsgerichte unterlagen dabei einer vierteljährlichen Durchsicht, bei der geprüft wurde, ob beim Zustandekommen des Urteils die gesetzlichen Vorschriften über das Verfahren beachtet und die Anwendung der Rechtsnormen einheitlich und richtig erfolgt worden war.1742 Zuständig für die Durchsicht der Standgerichtsurteile war ein Kriegsgerichtsrat, also ein richter1738
§ 419 MStGO. Koppmann, Militärstrafgerichtsordnung, Vorbemerkungen zum dritten Titel des zweiten Teils, S. 702. 1740 §§ 420 ff.; Koppmann, Militärstrafgerichtsordnung, Vorbemerkungen zum dritten Titel des zweiten Teils, S. 702. Zum Bestätigungsrecht vgl. S. 87 f., dort insbesondere auch Fn. 333. 1741 Koppmann, Militärstrafgerichtsordnung, §§ 113, 114 Note 1. 1742 § 113 Abs. 1 MStGO. 1739
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4. Kap.: Gesetzgeberische Versuche der Erweiterung des Rechtsschutzes
licher Militärjustizbeamter1743 am Kriegsgericht mit der Befähigung zum Richteramt1744 – dessen dienstrechtliche Stellung war mit dem eines Richters am Landgericht (Besoldungsgruppe R 1) vergleichbar.1745 Die Urteile der Kriegsgerichte hingegen wurden durch einen Oberkriegsgerichtsrat, dessen Stellung wiederum mit dem eines Richters am Oberlandesgericht (Besoldungsgruppe R 2) vergleichbar war, durchgesehen.1746 Eine Zusammenstellung der hierbei festgestellten Mängel und Verstöße wurde anschließend dem jeweiligen kommandierenden General bzw. Admiral vorgelegt, bei dem die betreffenden Urteile samt Akten erneut durch einen Oberkriegsgerichtsrat nachgeprüft wurden.1747 Die rechtskräftigen Berufungsurteile der Oberkriegsgerichte hingegen wurden nur halbjährlich, allerdings unmittelbar durch das Reichsmilitärgericht durchgesehen und gegebenenfalls nachgeprüft.1748 Da auch die Ergebnisse der Durchsicht und Nachprüfung der stand- und kriegsgerichtlichen Urteile dem Reichsmilitärgericht halbjährlich vorzulegen waren,1749 war es dem Reichsmilitärgericht möglich, sich letztendlich mit allen strittigen Rechtsfragen des Militärstrafrechts zu befassen, selbst wenn sie nicht Gegenstand einer Revision gewesen waren. Sofern gravierende Mängel des Urteils erst im Rahmen der militärjustizverwaltungsinternen Durchsicht und Nachprüfung aufgedeckt wurden, konnte dem durch eine entsprechende Ausübung des Gnadenrechts Rechnung getragen werden.1750 Im Übrigen war es an der Militärjustizverwaltung, weitere Veranlassungen zu treffen, um für die Zukunft jene Mängel und Verstöße abzustellen, die bei der Durchsicht und Nachprüfung zutage getreten waren. Damit trug die verwaltungsinterne Prüfung im Rahmen der viertelbzw. halbjährlichen Durchsicht und Nachprüfung dazu bei, dass im Militärstrafverfahren – jedenfalls nach dem Wortlaut des Gesetzes – ein höherer Rechtsschutzstandard gewährleistet war als im bürgerlichen Strafverfahren, auch wenn es sich hierbei vorrangig um ein Mittel zur Sicherstellung der einheitlichen Rechtsanwendung und -auslegung gehandelt haben dürfte.
1743
Anders als die ordentlichen Richter an den bürgerlichen Strafgerichten im Kaiserreich unterstanden die Kriegsgerichtsräte und Oberkriegsgerichtsräte ihren jeweiligen Befehlshabern, die i. R. d. Militärgerichtsbarkeit die Funktion von Gerichtsherren übernahmen. Als Gerichtsherren hatten diese Befehlshaber auch die Gerichtsbarkeit über die zu ihrem Befehlsbereich gehörenden Personen, § 25 MStGO (vgl. S. 355 Fn. 1733). So hatten die Kriegsgerichtsräte und Oberkriegsgerichtsräte, soweit sie nicht als Richter bei den erkennenden Gerichten mitwirkten, den Weisungen des Gerichtsherrn Folge zu leisten, § 97 Abs. 1 MStGO. 1744 Gem. § 94 Abs. 1 MStGO mussten die Kriegsgerichtsräte und Oberkriegsgerichtsräte die Befähigung zum Richteramt i. S. d. Gerichtsverfassungsgesetzes vorweisen. 1745 § 113 Abs. 2 Satz 1 MStGO. 1746 § 113 Abs. 3 MStGO. 1747 § 113 Abs. 2 Satz 2, Abs. 3 MstGO. 1748 § 113 Abs. 4 MStGO. 1749 § 113 Abs. 4 MStGO. 1750 Auf diese Möglichkeit in den partikularen Militärstrafverfahren ausdrücklich hinweisend, Koppmann, Militärstrafgerichtsordnung, §§ 113, 114 Note 1.
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Begünstigt wurde die Entwicklung des Instruments der Durchsicht und Nachprüfung sicherlich auch durch die Besetzung der Militärstrafgerichte. Schließlich waren sie – anders als die bürgerlichen Strafgerichte – mehrheitlich, im Falle der Standgerichte sogar ausschließlich mit Offizieren statt rechtsgelehrten Richtern besetzt.1751 Demnach dürfte die Gefahr einer fehlerhaften Rechtsanwendung an den Militärstrafgerichten höher gewesen sein als an den bürgerlichen Strafgerichten,1752 sodass das unbedingte und teilweise irrationale Vertrauen des Gesetzgebers in die bürgerlichen Tatgerichte hier wohl nicht mehr zum Tragen kam. Freilich muss insofern aber auch bemerkt werden, dass ein derart komplexes und mehrstufiges Nachprüfungsverfahren für die ordentliche Strafgerichtsbarkeit schon allein aufgrund der Anzahl der zu bewältigenden Verfahren nicht praktikabel gewesen wäre. 4. Gründe für die umfassende Einführung der Berufung in Militärstrafsachen Bemerkenswert ist, dass die Einführung der Berufung gegen alle erstinstanzlichen Urteile der Militärstrafgerichte ohne eine größere Debatte in den gesetzgebenden Körperschaften des Deutschen Reiches auskam, obwohl der historische Gesetzgeber noch bei der Einführung der Reichsstrafprozessordnung davon überzeugt war, dass eine Berufung mit den Prinzipien des reformierten Strafverfahrens nicht in Einklang gebracht werden könnte.1753 Die Begründung zu dem Entwurf der Militärstrafgerichtsordnung verwies für die Notwendigkeit der Berufung gegen Urteile der Standgerichte dabei naheliegenderweise im Wesentlichen auf die Erwägungen, die der historische Gesetzgeber bereits für die Einführung einer Berufung gegen die Urteile der Amtsgerichte vorgebracht hatte.1754 Und tatsächlich fanden viele der Verfahrensvereinfachungen, die ursprünglich im schöffengerichtlichen Verfahren vorgesehen waren, heute sich allerdings nur noch zum Teil im beschleunigten Verfahren wiederfinden,1755 auch in den Verfahren vor den Standgerichten Anwendung. So handelte es sich auch bei dem standgerichtlichen Verfahren um ein eher summarisches Verfahren, in dem viele Garantien des kriegsgerichtlichen Verfahrens nicht gewährleistet waren. Anders als bei Verfahren vor den Kriegsgerichten erhielt der Beschuldigte in standgerichtlichen Sachen etwa keine Abschrift der Anklageverfügung und der Anklageschrift, wenn er nicht danach verlangte.1756 Ebenso 1751 Zur Besetzung der Standgerichte, Kriegsgerichte und Oberkriegsgerichte vgl. §§ 38 f., 49 ff., 66 f. MStGO sowie Abbildung 1 auf S. 356 der vorliegenden Schrift. Selbst das Reichsmilitärstrafgericht bestand grundsätzlich mehrheitlich aus Offizieren, § 84 Abs. 1 MStGO. 1752 Ähnl. auch Koppmann, Militärstrafgerichtsordnung, §§ 113, 114 Note 1. 1753 Vgl. S. 171 ff. 1754 Vgl. nur Materialien zur Militärstrafgerichtsordnung, S. 63. 1755 Zum beschleunigten Verfahren vgl. §§ 417 ff. StPO; zur summarischen Natur des früheren schöffengerichtlichen Verfahrens vgl. S. 204 f. 1756 § 254 Abs. 4 MStGO.
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konnte das Standgericht, ohne durch Anträge, Verzichte oder frühere Beschlüsse gebunden zu sein, den Umfang der Beweisaufnahme selbst bestimmen.1757 Auch hatte der Beschuldigte in dem standgerichtlichen Verfahren keinen Anspruch auf einen Verteidiger.1758 Zudem waren die Standgerichte, insofern auch anders als die Schöffengerichte, ausschließlich mit Laienrichtern besetzt, die den Offizierskorps des Deutschen Heeres resp. der kaiserlichen Marine zu entnehmen waren.1759 Insofern sollte mit der Berufung in den standgerichtlichen Sachen auch sichergestellt werden, dass rechtsgelehrte Richter mit der Sache befasst werden konnten.1760 Aus heutiger Perspektive bemerkenswerter ist jedoch vor allem die Möglichkeit der Berufung gegen die erstinstanzlichen Urteile der Kriegsgerichte, die insofern einer Berufung in Strafkammersachen entspräche. Da zu jenem Zeitpunkt auch in Bezug auf das bürgerliche Strafverfahren weitestgehende Einigkeit über die Notwendigkeit einer Berufung in den Strafkammersachen herrschte, fiel die Begründung für die Zulassung einer Berufung von den Kriegsgerichten zu den Oberkriegsgerichten erstaunlich knapp aus. Begründet wurde sie vor allem damit, dass auch nach der erstinstanzlichen Entscheidung neue tatsächliche oder rechtliche Gesichtspunkte zutage treten könnten, die bei der erstmaligen Behandlung der Sache nicht entsprechende Berücksichtigung gefunden haben könnten; dies lasse es notwendig erscheinen, eine Möglichkeit zur Anfechtung der Entscheidung des ersten Richters vorzusehen.1761 So sei es zur Wahrung der Interessen des Angeklagten – aber auch des Gerichtsherren1762 – notwendig, auch in den kriegsgerichtlichen Strafsachen die Möglichkeit der Anrufung einer höheren Instanz vorzusehen, welche die Sache vollumfassend (neu-)beurteilen kann.1763 Ebenso gewährleiste das Wissen des ersten Richters um die Existenz einer übergeordneten Berufungsinstanz eine höhere Qualität der Beweiserhebung, Protokollierung und Urteilsbegründung im erstinstanzlichen Verfahren.1764 Freilich sind dies allesamt Argumente, die ebenso für eine Berufung gegen erstinstanzliche Urteile der Strafkammern streiten. Warum die Einführung der Militärstrafgerichtsordnung dennoch nicht – wie im Falle der Einführung der Strafprozessordnung oder der Versuche zur Wiedereinführung der Berufung in den Strafkammersachen – durch Querelen zwischen den verbündeten Regierungen im Bundesrat und dem Reichstag verzögert worden ist, ist 1757
§ 256 Abs. 4 Halbsatz 2 MStGO. § 337 MStGO. 1759 Gem. § 38 MStGO waren die Standgerichte in aller Regel mit einem Stabsoffizier (heute würde dies der Besoldungsgruppe A 13 – Major – aufwärts entsprechen) als Vorsitzenden sowie einem Hauptmann (heute Besoldungsgruppe A 11) und einen Oberleutnant (heute Besoldungsgruppe A 10) als Beisitzer besetzt. 1760 In dem Sinne auch die Begründung zur MStGO in Materialien zur Militärstrafgerichtsordnung, S. 63. 1761 Materialien zur Militärstrafgerichtsordnung, S. 63. 1762 Zum Begriff des Gerichtsherrn vgl. S. 358 Fn. 1743. 1763 Materialien zur Militärstrafgerichtsordnung, S. 63. 1764 So die Begründung zur MStGO in Materialien zur Militärstrafgerichtsordnung, S. 63 f. 1758
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wohl vor allem auf fiskalische und weniger auf rechtliche Erwägungen zurückzuführen. Insoweit gilt nämlich zu bedenken, dass die konkrete Ausgestaltung der bürgerlichen Strafgerichtsbarkeit, anders als die der Militärstrafgerichtsbarkeit, nahezu ausschließlich die Haushalte der Bundesstaaten belastete. Denn die ordentlichen Gerichte waren, mit Ausnahme des Reichsgerichts und der Gerichte im Reichsland Elsass-Lothringen1765, Gerichte der Bundesstaaten, die aus dem jeweiligen Landeshaushalt zu unterhalten waren. Die Einrichtung von weiteren Tatsacheninstanzen oder eine größere Besetzung der einzelnen Spruchkörper dieser Gerichte wären somit, auch wenn diese Maßnahmen ausschließlich durch ein Reichsgesetz angeordnet werden konnten, aus dem Justizhaushalt der jeweiligen Bundesstaaten zu finanzieren gewesen. Besonders deutlich erkennbar werden die diesbezüglichen Sorgen der Bundesstaaten an den Worten des preußischen Staatsund Justizministers Schönstedt, der im Zusammenhang mit der Frage, ob die Strafkammern bei der Einführung einer Berufung mit drei oder fünf Richtern zu besetzen wären, den Reichstag auf Folgendes hinweisen zu müssen glaubte: „Der Herr Finanzminister hat seinerseits eine Berechnung angestellt, daß die Durchführung der Vorlage, wie sie von der Regierung geplant war, einen jährlichen Mehraufwand von 5 Millionen1766 in Preußen allein zur Folgen haben werde. Nun sind schon eine Reihe von Veränderungen in der Regierungsvorlage beschlossen, die theilweise die Unterlagen dieser Berechnung verschieben, und zwar zu Ungunsten der staatlichen Finanzen. […] Diese Gesichtspunkte können nicht außer Acht gelassen werden; und wenn auch der Reichstag nicht dafür die Mittel zu bewilligen hat, sondern die einzelnen Landtage, so kann sich der Reichstag nicht über das, was von den einzelnen Staaten in dieser Beziehung zu leisten sein wird, vollständig hinwegsetzen“.1767
Diese fiskalischen Erwägungen galten jedoch nicht für die Militärstrafgerichte, deren Einrichtung und gesetzliche Ausgestaltung kaum Auswirkungen auf die Landeshaushalte hatten. Die Militärstrafgerichte als Militärbehörden wurden nämlich in aller Regel aus dem Reichshaushalt unterhalten. Lediglich für die bayerischen, sächsischen und württembergischen Kontingente im Deutschen Heer galten gewisse Ausnahmen,1768 wobei selbst diese mittelbar aus dem Reichs-
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Als Verwaltungsgebiet des Deutschen Reiches unterstand das Reichsland unmittelbar dem Deutschen Kaiser. Obwohl auch die Gerichte im Reichsland nach 1877 entsprechend dem Gerichtsverfassungsgesetz die Bezeichnungen Amtsgerichte, Landgerichte und Oberlandesgericht führten, handelte es sich bei diesen rechtlich um mittlere bzw. obere Reichsgerichte. 1766 Zum Vergleich: die Kaufkraft von 5 Millionen Mark aus dem Jahr 1896 entsprach 2018 etwa einer Kaufkraft 35 Millionen Euro, vgl. hierzu Bundesbank, Kaufkraftäquivalente historischer Beträge in deutschen Währungen, Online-Quelle. 1767 Verhandlungen des Reichstags, 9. Legislaturperiode, IV. Session 1895/97, 5. Band, S. 3181. 1768 Zu der Sonderstellung der bayerischen, sächsischen und württembergischen Kontingente im Deutschen Heer vgl. S. 228 Fn. 1104.
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haushalt zu unterhalten waren.1769 Folglich überrascht es wenig, dass sowohl der Bundesrat als auch diejenigen Mitglieder des Reichstages, die sich als Vertreter einzelstaatlicher Interessen begriffen, den Vorschriften der Militärstrafgerichtsordnung weniger kritisch gegenüberstanden als den entsprechenden Vorschriften der bürgerlichen Strafprozessordnung, verursachten sie den Landeshaushalten eben doch keine zusätzlichen Kosten. Mit der Einführung der Militärstrafgerichtsordnung am 1. Dezember 1898 verfügte das Deutsche Reich also über zwei unterschiedliche Strafverfahrensordnungen, die in wesentlichen Punkten voneinander abwichen. Nicht nur hatte die Militärstrafgerichtsordnung, anders als die bürgerliche Strafprozessordnung, gegen alle erstinstanzlichen Urteile der Militärstrafgerichte die Berufung zugelassen,1770 auch ging die Militärstrafgerichtsordnung von einem deutlich engeren Begriff der freien Beweiswürdigung aus.1771 Insofern scheint die Militärstrafgerichtsordnung in manchen Punkten durchaus auch die Strafprozessordnung gewesen zu sein, die der Reichsgesetzgeber schon kurz nach 1879 auch für die bürgerlichen Strafsachen hätte erlassen wollen. Wie schon erwähnt, wurde die Militärstrafgerichtsbarkeit allerdings nach dem Ersten Weltkrieg entsprechend Art. 106 der Weimarer Verfassung1772 durch das Gesetz vom 17. August 19201773 aufgehoben und lediglich während der nationalsozialistischen Unrechtsherrschaft reinstalliert.1774 Die Bundesrepublik Deutschland kennt bis heute keine Militärstrafgerichtsbarkeit – lediglich für den Verteidigungsfall räumt das Grundgesetz dem Gesetzgeber die Möglichkeit ein, im Geschäftsbereich des Bundesjustizministeriums Wehrstrafgerichte für Angehörige der Streitkräfte, die in das Ausland entsandt oder an Bord von Kriegsschiffen eingeschifft sind, zu errichten, sofern sichergestellt ist, dass der Bundesgerichtshof auch in diesen Fällen der oberste Gerichtshof für Strafsachen verbleibt.1775
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Ausführlich zum Militäretat im Deutschen Reich, Cholet, Der Etat des Deutschen Reiches, S. 243 ff.; dazu, dass auch die Militärausgaben der Teilstaaten von dem Reich zu tragen waren, Cholet, Der Etat des Deutschen Reiches, S. 477. 1770 Vgl. § 378 MStGO; ausführlich hierzu vgl. S. 355 ff. 1771 Vgl. hierzu schon S. 229 ff. 1772 Art. 106 der Verfassung des Deutschen Reichs vom 11. August 1919 lautete: „Die Militärgerichtsbarkeit ist aufzuheben, außer für Kriegszeiten und an Bord der Kriegsschiffe. Das Nähere regelt ein Reichsgesetz“. 1773 Gesetz betreffend Aufhebung der Militärgerichtsbarkeit vom 17. August 1920, RGBl. 1920, 1579 ff. 1774 Gesetz über die Wiedereinführung der Militärgerichtsbarkeit vom 12. Mai 1933, RGBl. I, 1933, 264; Bekanntmachung des Wortlautes der Militärstrafgerichtsordnung und des Einführungsgesetzes dazu vom 4. November 1933, RGBl. I 1933, 921 ff.; Ausführungsbestimmungen zur Militärstrafgerichtsordnung vom 21. November 1933, RGBl. I 1933, 989 ff. 1775 Art. 96 Abs. 2 und 3 GG.
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IV. Reformbestrebungen bis zur Vorlage des Regierungsentwurfs 1909 1. Anträge aus der Mitte des Reichstages Mit Blick auf die Vorschriften, die für die Militärstrafgerichtsordnung vorgesehen waren, brachte Abgeordneter Rintelen (Zentrum) am 30. November 1897 – also zeitgleich mit dem Entwurf der Militärstrafgerichtsordnung – einen neuen Gesetzesentwurf zur Änderung des Gerichtsverfassungsgesetzes und der Strafprozessordnung in den Reichstag ein.1776 Hierbei handelte es sich im Wesentlichen um die Regierungsvorlage von 1895, welche die Ergebnisse der Kommissionsberatungen und der zweiten Lesung im Plenum des Reichstages berücksichtigte. Auch dieser Entwurf sah gegen erstinstanzliche Urteile der Strafkammern eine Berufung zu den Oberlandesgerichten vor;1777 zugleich erklärte er die Revision in Strafkammersachen ausschließlich gegen Berufungsurteile der Oberlandesgerichte für statthaft.1778 Ebenso sah der Entwurf eine umfassende Beweisbegründungspflicht der Tatgerichte vor, verzichtete jedoch – insoweit anders als der Regierungsentwurf 1895 – darauf, eine besondere Rechtsmittelbegründung durch den Berufungsführer zu verlangen.1779 Auch die weiterhin streitig gebliebene Besetzungsfrage löste der Entwurf in Abweichung zu der Regierungsvorlage im Sinne des bereits dargestellten Kompromissvorschlages des Abgeordneten Adt vom 19. Mai 1897.1780 Demnach sollten die Strafkammern bloß noch in den Fällen, in denen sie entweder als Berufungsgerichte über Vergehen, die nicht im Wege der Privatklage verfolgt wurden, oder als Gerichte erster Instanz über originäre Verbrechen verhandelten, weiterhin mit fünf Berufsrichtern besetzt sein;1781 im Übrigen sah der Entwurf eine Besetzung der Strafkammern mit drei statt fünf Berufsrichtern vor.1782 Neben Rintelen brachten am 10. Dezember 1897 auch die Abgeordneten Lenzmann und Munckel (die nunmehr der FVp angehörten) einen Gesetzesentwurf in den Reichstag ein,1783 der ebenfalls die Einführung einer Berufung gegen erstinstanzliche 1776 Entwurf eines Gesetzes betreffend Änderungen und Ergänzungen des Gerichtsverfassungsgesetzes und der Strafprozeßordnung, Verhandlungen des Reichstags, 9. Legislaturperiode, V. Session 1897/98, 1. Anlagenband, Aktenstück Nr. 33, S. 331 ff. 1777 § 354 StPO i. V. m. § 123 Nr. 2 GVG i. d. F. des Antrags Rintelen vom 30. November 1897 (Fn. 1776). 1778 § 136 Abs. 1 Nr. 2 GVG i. d. F. des Antrags Rintelen vom 30. November 1897 (Fn. 1776). 1779 Vgl. §§ 266 Abs. 1 StPO i. d. F. des Antrags Rintelen vom 30. November 1897 (Fn. 1776). 1780 Vgl. S. 351 f. 1781 § 77 Satz 2 GVG i. d. F. des Antrags Rintelen vom 30. November 1897 (Fn. 1776). 1782 § 77 Satz 1 GVG i. d. F. des Antrags Rintelen vom 30. November 1897 (Fn. 1776). 1783 Entwurf eines Gesetzes betreffend Aenderungen und Ergänzungen des Gerichtsverfassungsgesetzes und der Strafprozessordnung, Verhandlungen des Reichstags, 9. Legislaturperiode, V. Session 1897/98, 1. Anlagenband, Aktenstück Nr. 67, S. 787 ff.
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4. Kap.: Gesetzgeberische Versuche der Erweiterung des Rechtsschutzes
Urteile der Strafkammern zu den Oberlandesgerichten vorsah.1784 Auch dieser Entwurf verpflichtete den Tatrichter, darzulegen, welche Gründe für seine Überzeugung von der Schuld des Angeklagten leitend gewesen waren.1785 Über den Entwurf Rintelen hinaus bestimmte der Entwurf Munckel, dass eine Berufung zum Nachteil des Angeklagten lediglich auf neue Tatsachen, auf neue Beweismittel oder auf die Behauptung, dass das Urteil auf einer Verletzung des Gesetzes beruhe, gestützt werden kann.1786 Wie schon die früheren Entwürfe von Munckel verzichtete allerdings auch dieser Entwurf auf Änderungen in der Besetzung der bestehenden strafgerichtlichen Spruchkörper. Beide Entwürfe wurden erstmalig am 14. Januar 1898 im Plenum des Reichstages beraten. Hierbei hob Rintelen hervor, dass dem Reichstag nunmehr auch der Entwurf der Militärstrafgerichtsordnung vorlag, der gegen alle erstinstanzlichen Urteile der Militärstrafgerichte eine Berufung zulässt – deshalb, so Rintelen, sei es ein Ding reiner Unmöglichkeit, dass die bürgerliche Strafprozessordnung für die Strafkammersachen eine solche noch immer nicht vorsehe.1787 In der zweiten Lesung der Entwürfe am 25. Februar 1898 schlussfolgerte auch der Abgeordnete Graf von Bernstorff, dass durch die Vorlage der Militärstrafgesetznovelle zwischenzeitlich anerkannt worden sei, dass es zeitgemäß und richtig ist, auch in bürgerlichen Strafsachen die Berufung einzuführen.1788 Diese zweite Lesung des Entwurfs musste jedoch abgebrochen werden, nachdem festgestellt worden war, dass in der Sitzung lediglich 150 Abgeordnete anwesend waren, sodass die Beschlussfähigkeit des Reichstages nicht gegeben war.1789 Damit blieben beide Anträge unerledigt und konnten in der Session des Reichstages nicht mehr abgeschlossen werden.1790 Die Militärstrafgerichtsordnung jedoch war noch in derselben Session verabschiedet worden, weshalb der Reichstag die verbündeten Regierungen am 4. Mai 1898 in einer einstimmigen Resolution dazu aufforderte, ihm noch in der nächsten Session
1784
§ 354 StPO i. V. m. § 123 Nr. 2 GVG i. d. F. des Antrags Lenzmann und Munckel vom 10. Dezember 1897 (Fn. 1783). 1785 § 266 Abs. 1 StPO i. d. F. des Antrags Lenzmann und Munckel vom 10. Dezember 1897 (Fn. 1783). 1786 § 368 StPO i. d. F. des Antrags Lenzmann und Munckel vom 10. Dezember 1897 (Fn. 1783). 1787 Verhandlungen des Reichstags, 9. Legislaturperiode, V. Session 1897/98, 1. Band, S. 441. 1788 Verhandlungen des Reichstags, 9. Legislaturperiode, V. Session 1897/98, 2. Band, S. 1266. 1789 Verhandlungen des Reichstags, 9. Legislaturperiode, V. Session 1897/98, 2. Band, S. 1271. 1790 Vgl. auch das Gesamtregister zu den stenographischen Berichten über die Verhandlungen des Reichstages und zu den Anlagen derselben für die 9. Legislaturperiode, V. Session. 1897/98, 3. Band, S. 2266, unter [Gerichtsverfassung, bei 2. u. 3.].
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des Reichstages einen Änderungsentwurf vorzulegen, mit der auch die Strafkammersachen um eine Berufung ergänzt werden konnte.1791 Da die verbündeten Regierungen dieser Resolution jedoch auch nach der Verkündung der Militärstrafgerichtsordnung am 1. Dezember 1898 nicht nachgekommen waren, brachte Rintelen am 6. Dezember 1898 erneut einen Gesetzesentwurf in den Reichstag ein,1792 der weitestgehend mit seinem vorherigen Entwurf übereinstimmte.1793 Hierzu führte er mit Blick auf die Resolution des Reichstages aus: „In derselben hat der vorige Reichstag zum Ausdruck gebracht, daß, wenn für den Militärstrafprozeß die Berufung als nothwendiges Rechtsmittel gegeben worden, dieses Rechtsmittel, welches von den gesetzgebenden Faktoren auch für den bürgerlichen Strafprozeß als unentbehrlich anerkannt ist, für diesen n i c h t l ä n g e r e n t b e h r t w e r d e n d a r f . Es würde ein nicht erträglicher Zustand geschaffen werden, wenn diese Garantie der Rechtsprechung im Strafverfahren, falls der Straffall vor den M i l i t ä r strafgerichten verhandelt wird, g e g e b e n ist, falls er aber vor den b ü r g e r l i c h e n Strafgerichten verhandelt wird, nicht gegeben sein sollte.“1794
Auch in der ersten Lesung seines neuen Antrags im Plenum des Reichstages, die am 23. Januar 1899 erfolgte, hob Rintelen hervor, welch paradoxe Situation durch das Nebeneinander der Strafprozessordnung und der Militärstrafgerichtsordnung nunmehr entstanden war: „[D]ie Berufung in Strafsachen vor den Militärstrafgerichten [ist] angenommen […], und ich möchte sagen, einstimmig. Es würde jetzt ein Zustand entstehen, daß, wenn jemand von einem Militärstrafgericht verurtheilt, er Berufung hat, wenn er aber wegen desselben Vergehens vor ein Zivilgericht kommt, er keine Berufung hat. Das ist ein Zustand, der jetzt noch viel unhaltbarer ist als im Jahr 1894, wo die Regierung ihren Entwurf vorlegte.“1795
Seine Kritik richtete sich damit vor allem dagegen, dass Soldaten, die nach dem damaligen Verständnis noch einem „besonderen Gewaltverhältnis“ unterlagen, einen besseren und effizienteren Rechtsschutz in Strafsachen genossen als der gemeine Bürger. Allerdings war auch diesem Entwurf kein Erfolg vergönnt. So wurde er nach seiner ersten Lesung im Plenum erneut einer Reichstagskommission aus 21 Mit-
1791 Verhandlungen des Reichstags, 9. Legislaturperiode, V. Session 1897/98, 3. Band, S. 2182. 1792 Verhandlungen des Reichstags, 10. Legislaturperiode, I. Session 1898/1900, 1. Anlageband, Aktenstück Nr. 17, S. 55 ff. 1793 Vgl. insofern S. 363 f.; dies wird auch durch die Begründung des Entwurfs vom 6. Dezember 1898 bestätigt, vgl. Verhandlungen des Reichstags, 10. Legislaturperiode, I. Session 1898/1900, 1. Anlageband, Aktenstück Nr. 17, S. 87. 1794 Verhandlungen des Reichstags, 10. Legislaturperiode, I. Session 1898/1900, 1. Anlageband, Aktenstück Nr. 17, S. 87. 1795 Verhandlungen des Reichstags, 10. Legislaturperiode, I. Session 1898/1900, 1. Band, S. 362.
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gliedern überwiesen,1796 in der – wie kaum anders zu erwarten – erneut eine lebhafte Diskussion um die Besetzungsfrage der Strafkammern entbrannte, obwohl die Notwendigkeit der Berufung selbst kaum noch in Zweifel gezogen wurde.1797 Verkompliziert wurden die Debatten diesmal durch die vergleichsweise neue Forderung, auch an den Strafkammern Schöffen an der Rechtsprechung zu beteiligen.1798 Nachdem jedoch die Vertreter der verbündeten Regierungen eine Besetzung der Strafkammern mit fünf Richtern für den Fall der Einführung der Berufung weiterhin kategorisch ablehnten,1799 beschloss die Kommission, dass die Strafkammern generell nur noch mit drei (Berufs-)Richtern zu besetzen waren.1800 Damit hatte sie in der Besetzungsfrage die Position eingenommen, die bereits dem Regierungsentwurf 1895 zugrunde gelegen hatte und deren Umsetzung im Dezember 1896 – also etwas mehr als zwei Jahre zuvor – jedoch ausgerechnet am Widerstand des Reichstages gescheitert war. Allerdings blieb auch dieser Entwurf letztendlich unerledigt, da es innerhalb der laufenden Session nicht mehr zu einer Beratung dieses Kommissionsbeschlusses im Plenum des Reichstages kam.1801 Infolgedessen brachte Rintelen am 14. November 1900 erneut und damit zum dritten Mal einen Gesetzesentwurf zur Wiedereinführung der Berufung in den Reichstag ein, der weitestgehend mit seinen vorherigen Entwürfen übereinstimmte,1802 allerdings auch die Beschlüsse aus den Kommissionsberatungen zu dem Entwurf vom 6. Dezember 1898 berücksichtigte.1803 Der neue Entwurf sah damit wiederholt eine Berufung gegen die Urteile der Strafkammern vor, bestimmte jedoch auch zugleich, dass die Strafkammern stets in einer Besetzung von drei Richtern verhandeln sollten.1804 Daneben brachten auch die Abgeordneten Lenzmann und Munckel (FVp) am 16. November 1900 ihren Antrag vom 10. Dezember 18971805
1796
S. 366.
Verhandlungen des Reichstags, 10. Legislaturperiode, I. Session 1898/1900, 1. Band,
1797 Bericht der VI. Kommission, Verhandlungen des Reichstags, 10. Legislaturperiode, I. Session 1898/1900, 2. Anlagenband, Aktenstück Nr. 203, S. 1410. 1798 Bericht der VI. Kommission, Verhandlungen des Reichstags, 10. Legislaturperiode, I. Session 1898/1900, 2. Anlagenband, Aktenstück Nr. 203, S. 1397. 1799 Bericht der VI. Kommission, Verhandlungen des Reichstags, 10. Legislaturperiode, I. Session 1898/1900, 2. Anlagenband, Aktenstück Nr. 203, S. 1397. 1800 Bericht der VI. Kommission, Verhandlungen des Reichstags, 10. Legislaturperiode, I. Session 1898/1900, 2. Anlagenband, Aktenstück Nr. 203, S. 1397 f. 1801 So vermerkt auch im Gesamtregister zu den stenographischen Berichten über die Verhandlungen des Reichstages und zu den Anlagen derselben für die 10. Legislaturperiode, I. Session 1898/1900, 7. Band, S. 6263, unter [Strafprozessordnung, bei 2.]. 1802 Vgl. ausführlich S. 363 f. 1803 Verhandlungen des Reichstags, 10. Legislaturperiode, II. Session 1900/03, 1. Anlageband, Aktenstück Nr. 35, S. 303 ff. 1804 § 77 GVG i. d. F. des Antrags Rintelen vom 14. November 1900 (Fn. 1803). 1805 Vgl. S. 363 f.
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wiederholt in den Reichstag ein, wobei dem Entwurf weiterhin eine unveränderte Besetzung der strafgerichtlichen Spruchkörper zugrunde lag.1806 Erneut wurden beide Anträge nach ihrer ersten Beratung am 30. November 1900, nunmehr jedoch ohne jegliche weitere inhaltliche Erörterungen, einer Kommission aus 21 Mitgliedern überwiesen.1807 In der Kommission herrschte dabei die Überzeugung vor, dass die Einführung der Berufung gegen die Urteile der Strafkammern von größter Dringlichkeit war.1808 So wurde während den Kommissionsberatungen mehrfach wiederholt, dass gerade nach der generellen Einführung der Berufung in Militärstrafsachen, die Berufung in den bürgerlichen Strafsachen nicht auf die amtsgerichtlichen Sachen beschränkt bleiben dürfe.1809 Doch anders als die zuvor eingesetzte Kommission, kam diese Kommission zu dem Schluss, dass eine generelle Herabsetzung der Besetzung der Strafkammern von fünf auf drei Richtern einen nicht hinnehmbaren Verlust an Rechtsgarantien im erstinstanzlichen Verfahren zur Folge haben würde.1810 Als das Ergebnis von umfangreichen Debatten in zwei Lesungen präsentierte die Kommission demnach die nachfolgende Fassung des § 77 GVG: „Die Civilkammern und die Strafkammern entscheiden in der Besetzung von drei Mitgliedern mit Einschluß des Vorsitzenden. In der Besetzung mit fünf Mitgliedern einschließlich des Vorsitzenden entscheiden die Strafkammern in der Hauptverhandlung, wenn Verbrechen mit Ausnahme solcher strafbaren Handlungen, welche nur deshalb als Verbrechen sich darstellen, weil sie im Rückfall begangen sind[1811] , den Gegenstand der Untersuchung bilden, sowie in der Berufungsinstanz bei Vergehen mit Ausnahme der Fälle der Privatklage.“1812
Nach dieser Fassung des § 77 GVG waren die Strafkammern grundsätzlich mit drei Richtern zu besetzen; lediglich wenn sie als Gerichte erster Instanz über originäre Verbrechen oder als Berufungsgerichte über Vergehen (und nicht bloß Übertretungen), die nicht im Wege der Privatklage verfolgt wurden, verhandelten, sollte es bei der bisherigen Besetzung mit fünf Berufsrichtern verbleiben. Die Fassung des § 77 GVG entsprach damit inhaltlich – und in großen Teilen auch wörtlich – dem Antrag von Rintelen, den dieser am 30. November 1897 erstmalig dem
1806 Verhandlungen des Reichstags, 10. Legislaturperiode, II. Session 1900/03, 1. Anlageband, Aktenstück Nr. 30, S. 286 ff. 1807 Verhandlungen des Reichstags, 10. Legislaturperiode, II. Session 1900/03, 1. Band, S. 270 f. 1808 Bericht der VIII. Kommission, Verhandlungen des Reichstags, 10. Legislaturperiode, II. Session 1900/03, 2. Anlageband, Aktenstück Nr. 220, S. 1370. 1809 Bericht der VIII. Kommission, Verhandlungen des Reichstags, 10. Legislaturperiode, II. Session 1900/03, 2. Anlageband, Aktenstück Nr. 220, S. 1370. 1810 Bericht der VIII. Kommission, Verhandlungen des Reichstags, 10. Legislaturperiode, II. Session 1900/03, 2. Anlageband, Aktenstück Nr. 220, S. 1370. 1811 Vgl. S. 351 Fn. 1706. 1812 Bericht der VIII. Kommission, Verhandlungen des Reichstags, 10. Legislaturperiode, II. Session 1900/03, 2. Anlageband, Aktenstück Nr. 220, S. 1372.
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Reichstag vorgelegt hatte,1813 und damit dem Kompromissvorschlag des Abgeordneten Adt vom 19. Mai 1897.1814 Und eben diese Fassung des § 77 GVG war von der vorangegangenen Kommission in die Fassung umgewandelt worden, die dieser Kommission zur Beratung überwiesen wurde.1815 Diese Vorgänge drängen zu der Annahme, dass selbst der Reichstag den genauen Überblick über die Entwürfe, die im Einzelnen verhandelt wurden, zu diesem Zeitpunkt verloren hatte. Fast schon paradox wirkt insofern, dass es ausgerechnet Rintelen war, der bei der Beratung der Kommissionsfassung seines Entwurfs im Plenum darauf hinwies, dass im Reichstag derzeit wohl kein Interesse bestehe, ein derartig umfangreiches Gesetz durchzuberaten.1816 Er betonte zwar, dass es sich hierbei um keinen Hinweis auf ein mangelndes Interesse des Reichstages an der Einführung der Berufung handele; dieses sei im Gegenteil sogar allgemeiner geworden.1817 Allerdings sei es die ständige Praxis des Bundesrates, bei Anträgen aus der Mitte des Reichstages in dem Termin zur zweiten Lesung keine Erklärungen abzugeben. Daher hätten eine große Anzahl von Abgeordneten die Befürchtung geäußert, dass jede weitere Arbeit an dem Entwurf sich als vergeblich herausstellen könnte, sofern der Bundesrat die endgültige Reichstagsvorlage erneut ablehnte.1818 Deshalb wolle man abwarten, bis sich die verbündeten Regierungen der Sache mit einem eigenen Entwurf annähmen, wobei Rintelen davon ausging, dass alsbald damit zu rechnen sein würde.1819 So beantragte Rintelen, die zweite Beratung des Entwurfs abzubrechen und die verbündeten Regierungen in einer erneuten1820 Resolution darum zu ersuchen, dem Reichstag baldmöglichst einen eigenen Entwurf zur Wiedereinführung der Berufung vorzulegen.1821 Entsprechend dem Antrag ersuchte der Reichstag am 19. April 1902 die verbündeten Regierungen einstimmig, ihm „baldmöglichst […] einen Entwurf betreffend Aenderung des Gerichtsverfassungsgesetzes und der Strafprozeßordnung im Sinne der Wiedereinführung der Berufung vorzulegen“, und ging zur Tagesordnung über.1822 1813
Vgl. 363 f. Vgl. S. 351 f. 1815 Vgl. S. 367 f. 1816 Verhandlungen des Reichstags, 10. Legislaturperiode, II. Session 1900/03, S. 4932. 1817 Verhandlungen des Reichstags, 10. Legislaturperiode, II. Session 1900/03, S. 4932 f. 1818 Verhandlungen des Reichstags, 10. Legislaturperiode, II. Session 1900/03, S. 4933. 1819 Verhandlungen des Reichstags, 10. Legislaturperiode, II. Session 1900/03, S. 4933. 1820 Vgl. schon S. 364 f. zu einer vorangegangenen vergleichbaren Resolution. 1821 Verhandlungen des Reichstags, 10. Legislaturperiode, II. Session 1900/03, S. 4932 f. 1822 Verhandlungen des Reichstags, 10. Legislaturperiode, II. Session 1900/03, S. 4933 f. 1814
6. Band, 6. Band, 6. Band, 6. Band,
6. Band, 6. Band,
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2. Regierungsentwurf vom 26. März 1909 In den Jahren nach der Verabschiedung der Resolution wurde die Berufungsfrage im Reichstag nicht mehr ernstlich weiter debattiert. Tatsächlich vergingen nahezu weitere sieben Jahre, bis die verbündeten Regierungen der Resolution des Reichstages entsprachen. Erst am 26. März 1909 nämlich legte Reichskanzler von Bülow dem Reichstag die bereits vom Bundesrat beschlossenen Entwürfe eines Änderungsgesetzes für das Gerichtsverfassungsgesetz sowie einer vollständig neugefassten Strafprozessordnung samt eines Einführungsgesetzes zu beiden Gesetzen vor.1823 Die Entwürfe beruhten auf den Ergebnissen einer Kommission, die auf das Betreiben des Reichs-Justizamtes (das im Grunde dem späteren Reichsjustizministerium entsprach) bereits am 10. Februar 1903 zusammengetreten war und am 1. April 1905 ihre Beratungen abgeschlossen hatte.1824 a) Die Berufung gegen Urteile der Strafkammern nach dem Entwurf 1909 Gleich zu Beginn der Begründung1825 des Entwurfs heißt es, dass die Strafprozessordnung von 1877 unter den Reichsjustizgesetzen von Anfang an die am wenigsten befriedigende gewesen sei.1826 Die lebhafte Kritik an der Strafprozessordnung, die schon bald nach ihrem Inkrafttreten eingesetzt habe, habe in erster Linie das System der Rechtsmittel, insbesondere das Fehlen einer Berufung gegen die Urteile der Strafkammern, zum Gegenstand gehabt.1827 Weiter heißt es dort, dass die Überzeugung von der Notwendigkeit der Berufung zwischenzeitlich derart an Boden gewonnen habe, dass man die Zulassung der Berufung auch gegen die Urteile der mittleren Gerichte als eine fast allgemeine Forderung der öffentlichen Meinung bezeichnen könne, in deren Sinne auch der Reichstag und die verbündeten Regierungen bereits mehrfach Stellung genommen hätten.1828 So bemüht sich der Entwurf auch nicht, die Notwendigkeit einer Berufung in Strafkammersachen besonders umfangreich zu begründen; hierzu heißt es in den Motiven vielmehr nur knapp:
1823
Entwurf eines Gesetzes betreffend Änderungen des Gerichtsverfassungsgesetzes, einer Strafprozessordnung sowie eines zu beiden Gesetzen gehörenden Einführungsgesetzes vom 26. März 1909, Verhandlungen des Reichstags, 12. Legislaturperiode, I. Session 1907/09, Anlageband 254, Aktenstück Nr. 1310, nach S. 7844 mit eigener Paginierung. 1824 Vgl. zu den Beratungen der Kommission Reichs-Justizamt (Hrsg.), Protokolle der Kommission für die Reform des Strafprozesses. 1825 Verhandlungen des Reichstags, 12. Legislaturperiode, I. Session 1907/09, Anlageband 2 54, Aktenstück Nr. 1310 A mit eigener Paginierung. 1826 Begründung des Entwurfs vom 26. März 1909 (Fn. 1825), S. 5. 1827 Begründung des Entwurfs vom 26. März 1909 (Fn. 1825), S. 5. 1828 Begründung des Entwurfs vom 26. März 1909 (Fn. 1825), S. 5.
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„Der Vorschlag, auch gegen Urteile der Strafkammern das Rechtsmittel der Berufung zu gewähren, wird jetzt einer näheren Begründung nicht mehr bedürfen. Die oben dargelegte Geschichte der Reformversuche zeigt, daß über die Notwendigkeit der Wiedereinführung Berufung unter den gesetzgebenden Faktoren seit langen Jahren kein Streit mehr besteht; auch die Militärstrafgerichtsordnung vom 1. Dezember 1898 hat diesem Bedürfnis für das militärgerichtliche Strafverfahren bereits genügt. Der gegenwärtige Rechtszustand, wonach für die weniger bedeutenden Straftaten, die vor den Schöffengerichten zu verhandeln sind, eine Berufung zugelassen wird, bei einer Verurtheilung zu schwerer Strafe durch die Strafkammer dagegen jede Nachprüfung der Tatfrage im ordentlichen Verfahren ausgeschlossen bleibt, ist widerspruchsvoll und läßt sich nicht aufrecht erhalten.“1829
Und so bestimmte § 315 Abs. 1 StPO des Regierungsentwurfs 1909, dass „Urteile der Amtsgerichte und solche Urteile der Landgerichte, die in erster Instanz erlassen sind“, mit der Berufung angefochten werden können.1830 Ebenso enthielt der Entwurf 1909, wie schon die vorangegangenen Regierungsentwürfe,1831 eine Pflicht des Beschwerdeführers nicht nur die Revision, sondern auch die Berufung zu begründen. So lautete § 317 StPO in der Fassung des Entwurfs: „Der Beschwerdeführer hat zu erklären, inwieweit er das Urteil anficht und dessen Aufhebung beantragt (Berufungsanträge). Aus der Erklärung muß hervorgehen, ob die im Urteil festgestellten Tatsachen ganz oder zum Teil bestritten werden oder ob behauptet wird, daß die Tatsachen rechtlich anders zu beurteilen seien, oder ob nur die erkannte Strafe angefochten wird.“1832
Hierzu heißt es in der Begründung des Entwurfs, dass nur so verhindert werden könne, dass die Übelstände, die vorherrschten, weil die Berufung gegen die Urteile der Schöffengerichte keiner Begründung bedürfe, auch bei den umfangreicheren Landgerichtssachen einträten.1833 Bemerkenswert ist allerdings, dass der Entwurf 1909 die Entscheidung, ob die Tatgerichte ihre tatsächlichen Feststellungen begründen sollten, also der Tatrichter verpflichtet sein sollte, in den Urteilsgründen seine Beweiswürdigung darzulegen, in deutlicher Abweichung zu den bisherigen Regierungsentwürfen1834 und der Militärstrafgerichtsordnung1835, in das Ermessen der Tatgerichte stellte. So lautete § 259 Abs. 3 Satz 3 StPO des Entwurfs: „Seinem Ermessen bleibt überlassen, die Gründe anzugeben, weshalb es eine Tatsache für erwiesen oder nicht für erwiesen hält“. 1829
Begründung des Entwurfs vom 26. März 1909 (Fn. 1825), S. 15. Verhandlungen des Reichstags, 12. Legislaturperiode, I. Session 1907/09, Anlageband 254, Aktenstück Nr. 1310. 1831 Vgl. S. 337 ff., 345 ff. 1832 Verhandlungen des Reichstags, 12. Legislaturperiode, I. Session 1907/09, Anlageband 254, Aktenstück Nr. 1310. 1833 Begründung des Entwurfs vom 26. März 1909 (Fn. 1825), S. 179. 1834 Vgl. S. 219 f. 1835 Vgl. S. 230. 1830
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Auch sollten nach dem Entwurf 1909 für die Verhandlung und Entscheidung der Berufung gegen die erstinstanzlichen Urteile der Strafkammern nicht die Senate der Oberlandesgerichte, sondern besondere, mit fünf Richtern besetzte Berufungssenate an den Landgerichten (!) zuständig sein.1836 Die insofern von dem Regierungsentwurf 1894/1895 abweichende Entscheidung, den Devolutionseffekt bei der Berufung gegen Urteile der Strafkammern zu beseitigen, war der Befürchtung geschuldet, dass die Durchführung eines vollständig mündlichen Berufungsverfahrens an den Oberlandesgerichten aufgrund der Größe der Oberlandesgerichtssprengel nicht praktikabel sein würde.1837 So entsprach der Entwurf 1909 in diesem Punkt im Wesentlichen dem Vorschlag des Reichstagsabgeordneten Reichensperger, den dieser bereits vor einem Vierteljahrhundert gemacht hatte.1838 Durch die Bezeichnung der Berufungsspruchkörper als Senate und ihrer Besetzung mit fünf statt drei Richtern – von denen zwei auch den Oberlandesgerichten entnommen werden konnten1839 – brachte der Entwurf zum Ausdruck, dass diese Berufungssenate, auch wenn sie formal betrachtet Spruchkörper der Landgerichte sein würden, diese in ihrer Hierarchie überragten.1840 Bis heute weist die Bezeichnung eines Spruchkörpers als „Senat“ im deutschen Gerichtsverfassungsrecht – von der kuriosen Ausnahme der Kammern der Landesarbeitsgerichte abgesehen1841 – darauf hin, dass der Spruchkörper einem Obergericht oder einem obersten Gericht angehört. Eine Revision zum Reichsgericht sah der Entwurf zudem ausschließlich gegen die Urteile dieser Berufungssenate vor.1842 Die bislang konfliktträchtige Frage nach der Besetzung der Strafkammern, an der die Einführung einer Berufung immer wieder gescheitert war, löste der Entwurf 1909 dahingehend, dass die Strafkammern als Gerichte erster Instanz in der Hauptverhandlung mit drei (!) Schöffen und zwei Berufsrichtern, im Übrigen – also insbesondere außerhalb der Hauptverhandlung und als Berufungsgerichte – mit drei Berufsrichtern zu besetzen waren.1843 Das Übergewicht der Schöffen sollte dabei einen Ausgleich für die fachliche Dominanz der beiden Berufsrichter an dem Spruchkörper schaffen, sodass sichergestellt gewesen wäre, dass die Laien durch die Berufsrichter nicht in den Hintergrund gedrängt worden wären.1844
1836 1837 1838 1839 1840 1841 1842 1843 1844
§§ 991 ff. GVG i. d. F. des Entwurfs von 1909 (Fn. 1823). Begründung des Entwurfs vom 26. März 1909 (Fn. 1825), S. 16 f. Vgl. S. 335. § 992 Abs. 1 GVG i. d. F. des Entwurfs von 1909 (Fn. 1823). Begründung des Entwurfs vom 26. März 1909 (Fn. 1825), S. 17. Vgl. hierzu ausführlich S. 40 Fn. 73. § 136 Nr. 2 GVG i. d. F. des Entwurfs von 1909 (Fn. 1823). § 77 i. d. F. des Entwurfs von 1909 (Fn. 1823). Begründung des Entwurfs vom 26. März 1909 (Fn. 1825), S. 13.
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b) Die Behandlung des Entwurfs 1909 im Reichstag Allerdings war 12. Reichstag nicht in der Lage, den Regierungsentwurf noch in seiner ersten Session zu verhandeln, sodass auch er zunächst der Diskontinuität anheimfiel.1845 Infolgedessen wurde der Entwurf mit geringfügigen Änderungen am 23. November 1909 durch den Reichskanzler erneut in den Reichstag eingebracht.1846 Und tatsächlich löste der Entwurf schon bei seiner ersten Lesung, die am 13. Januar 1910 begann, große Begeisterung bei den Abgeordneten aus.1847 Am 15. Januar 1910 wurde er zur weiteren Beratung an eine Kommission aus 28 Mitgliedern überwiesen.1848 Bei den Lesungen in der Kommission erfuhren die hier in Frage stehenden Vorschriften des Entwurfs größtenteils nur redaktionelle Änderungen. Zwei wesentliche Änderungen betrafen allerdings die Besetzung der Berufungssenate sowie die Berufungsbegründungspflicht des Beschwerdeführers. So sollten die Berufungssenate nach dem Beschluss der Kommission außerhalb der Hauptverhandlung nur noch mit drei statt fünf Richtern besetzt sein.1849 Die von dem Regierungsentwurf noch als zwingend vorgesehene Berufungsbegründungspflicht des Beschwerdeführers wurde zudem in eine Soll-Vorschrift umgewandelt; ebenso sollte eine Berufung, die nicht begründet wurde, nicht mehr unzulässig sein, sondern die Fiktion auslösen, dass das Urteil nach seinem ganzen Inhalt als angefochten galt.1850 Deutlich weitergehende Änderungen wurden allerdings im Rahmen der zweiten Lesung des Entwurfs im Plenum des Reichstages diskutiert. So etwa sollte die Laienbeteiligung in Strafsachen nicht bloß auf Schöffengerichte, Schwurgerichte und – entsprechend der Regierungsvorlage – auf Strafkammern als Gerichte erster Instanz beschränkt bleiben. Vielmehr sollten auch alle Berufungsspruchkörper an den Landgerichten, also die Berufungs-Strafkammern und die neu zu errichtenden Berufungssenate, unter Beteiligung von Schöffen entscheiden. Bereits bei der Debatte der entsprechenden Anträge im Reichstag zeichnete sich jedoch ab, dass die 1845
So vermerkt auch im Gesamtregister des Sach- und Sprechregister zu den stenographischen Berichten über die Verhandlungen des Reichstages und den Anlagen für die 12. Legislaturperiode, I. Session 1907/09, Band 238, S. 9784, unter [Strafprozessordnung, bei 1. d)]. 1846 Verhandlungen des Reichstags, 12. Legislaturperiode, II. Session 1909/11, Anlageband 270, Aktenstück Nr. 7, S. 31 ff. 1847 Vgl. nur die mehrheitlichen „Bravo“-Rufe, nach dem der Reichsjustizsekretär Lisco den neuen Entwurf im Reichstag vorstellt, Verhandlungen des Reichstags, 12. Legislaturperiode, II. Session 1909/11, Band 258, S. 509. 1848 Verhandlungen des Reichstags, 12. Legislaturperiode, II. Session 1909/11, Band 258, S. 567. Der Bericht der 7. Kommission ist in den Anlagebändern 277 (S. 3108 ff.) und 278 (S. 3449 ff.), Aktenstück Nr. 638, wiedergegeben. 1849 Vgl. § 991 GVG i. d. F. nach der 2. Kommissionslesung (Fn. 1848), S. 3460 f. 1850 Vgl. § 318 StPO i. d. F. nach der 2. Kommissionslesung (Fn. 1848), S. 3624 f. Zu den Erwägungen, welche die Kommission diesbezüglich angestellt hat, vgl. Bericht der 7. Kommission (Fn. 1848), S. 3354 ff.
A. Ansätze im Kaiserreich zur Ergänzung der Strafkammersachen
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verbündeten Regierungen derart weitgehenden Vorschlägen nicht zustimmen würden.1851 So etwa richtete Reichsjustizsekretär Lisco, nach einer umfassenden Begründung seiner Bedenken gegen eine Ausweitung des Laienelementes, die folgende Bitte an die Abgeordneten des Reichstages: „bringen Sie keine Laienrichter in die Berufungsinstanz, und lehnen sie die darauf gerichteten Anträge ab. Die Aufnahme der Laienrichter in die Berufungsinstanz würde für die verbündeten Regierungen die ganze Vorlage unannehmbar machen“.1852 Ungeachtet dessen nahm der Reichstag am 10. Februar 1911 diejenigen Anträge an, die auch in der Berufungsinstanz eine Besetzung der Strafkammern mit zwei Richtern und drei Schöffen vorsahen.1853 Zu einer Befassung des Bundesrates mit der Vorlage kam es dennoch nicht – nach einer lebhaften Debatte um die Fassung des neuen § 1184 GVG, der sich mit der Beteiligung von Volksschullehrern am Schöffendienst befasste,1854 wurde die zweite Lesung des Entwurfs nämlich noch am 10. Februar 1911 auf den nächsten Tag vertagt.1855 Allerdings wurde die Lesung weder am nächsten Tag noch später fortgesetzt.1856 Damit blieb auch dieser Regierungsentwurf schlussendlich unerledigt – am 18. April 1912 teilte auch das ReichsJustizamt dem Reichstag mit, dass die Reichsleitung nach dem Scheitern des Entwurfs 1909 nicht die Absicht hege, ihn in der neuen Legislaturperiode erneut vorzulegen, da die verbündeten Regierungen eine solche Vorlage für aussichtslos hielten.1857 In der noch bis zum 20. Mai 1914 andauernden ersten Session des 13. Reichstages fand die Berufungsfrage tatsächlich keine wesentliche Erwähnung mehr.
1851 Vgl. die Einlassungen vom Reichsjustizsekretär Lisco, in: Verhandlungen des Reichstags, 12. Legislaturperiode, II. Session 1909/11, Band 263, S. 4484 f. 1852 Verhandlungen des Reichstags, 12. Legislaturperiode, II. Session 1909/11, Band 263, S. 4485. 1853 Entsprechend den Beschlüssen des Reichstages sollten auch Berufungsstrafkammern und die Berufungssenate in der Hauptverhandlung in der Besetzung von zwei Richtern und drei Schöffen entscheiden, vgl. für § 77 GVG i. d. F. nach der 2. Lesung im Plenum Verhandlungen des Reichstags, 12. Legislaturperiode, II. Session 1909/11, Band 278, Aktenstück Nr. 713 sowie Nr. 716, S. 3907; für § 991 GVG i. d. F. nach der 2. Lesung im Plenum, ebd., Aktenstück Nr. 712, dort Antrag Nr. 3 Buchst. a). 1854 Hierbei ging es um die Frage, ob Volksschullehrer (vergleichbar mit heutigen Hauptschullehrern) vollumfänglich am Schöffendienst zu beteiligen waren, was die Regierungsvorlage noch verneint hatte. 1855 Verhandlungen des Reichstags, 12. Legislaturperiode, II. Session 1909/11, Band 264, S. 4546. 1856 So vermerkt auch im Gesamtregister des Sach- und Sprechregisters zu den stenographischen Berichten über die Verhandlungen des Reichstages und den Anlagen für die 12. Legislaturperiode, II. Session 1909/11, Band 269, S. 8480, unter [Gerichtsverfassung, bei A.] sowie S. 8756, unter [Strafprozeßordnung, bei II. Entwürfe]. 1857 Verhandlungen des Reichstags, 13. Legislaturperiode, I. Session 1912/14, Band 284, S. 1230.
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4. Kap.: Gesetzgeberische Versuche der Erweiterung des Rechtsschutzes
V. Strafverfahrensgesetzgebung während des Ersten Weltkrieges Die zweite Session des 13. Reichstages wurde durch Kaiser Wilhelm II., mit Blick auf den Ersten Weltkrieg, am 4. August 1914 – statt wie gewohnt im Reichstagsgebäude – im königlichen Schloss zu Berlin einberufen.1858 In jener Sitzung verabschiedete der Reichstag wohl das erste Ermächtigungsgesetz der deutschen parlamentarischen Geschichte.1859 Mit diesem Gesetz über die Ermächtigung des Bundesrats zu wirtschaftlichen Maßnahmen und über die Verlängerung der Fristen des Wechsel- und Scheckrechts im Falle kriegerischer Ereignisse vom 4. August 19141860 räumte der Reichstag nämlich dem Bundesrat die Befugnis ein, umfassende Rechtsetzungsmaßnahmen ohne seine Beteiligung durchzuführen.1861 Während der Reichstag in der Folgezeit nur noch unregelmäßig zusammentrat, machte der Bundesrat von dieser Ermächtigung umfassenden Gebrauch. So ist ein beachtlicher Teil der zu jener Zeit erlassenen Rechtsnormen bloß als „Bekanntmachung“ bezeichnet, wovon nicht wenige mit den Worten „Der Bundesrat hat aufgrund des § 3 des Gesetzes über die Ermächtigung des Bundesrats zu wirtschaftlichen Maßnahmen usw. vom 4. August 1914 (Reichs-Gesetzbl. S. 327) folgende Verordnung erlassen“ beginnen. Auch wenn dabei mit der Bekanntmachung zur Entlastung der Gerichte vom 9. September 19151862, der Bekanntmachung zur Entlastung der Strafgerichte vom 7. Oktober 19151863 sowie der Bekanntmachung über Änderungen der Verordnung zur Entlastung der Gerichte vom 9. September 1915 vom 18. Mai 19161864 auch Regelungen über die Strafrechtspflege im Verordnungswege getroffen wurden, hatten diese Änderungen keinen unmittelbaren Einfluss auf das strafrechtliche Rechtsmittelrecht.
1858
S. 1. 1859
S. 9. 1860
Verhandlungen des Reichstags, 13. Legislaturperiode, II. Session 1914/18, Band 306, Verhandlungen des Reichstags, 13. Legislaturperiode, II. Session 1914/18, Band 306,
RGBl. 1914, 327. Vgl. § 3 des Gesetzes über die Ermächtigung des Bundesrats zu wirtschaftlichen Maßnahmen und über die Verlängerung der Fristen des Wechsel- und Scheckrechts im Falle kriegerischer Ereignisse, RGBl. 1914, 327 f. 1862 RGBl. I 1915, 562 ff. 1863 RGBl. I 1915, 631 f. 1864 RGBl. I 1916, 393 f. 1861
B. Rechtsmitteldebatten in der Weimarer Republik und im „Dritten Reich“
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B. Rechtsmitteldebatten in der Weimarer Republik und im „Dritten Reich“ I. Reformversuche und Reformen des strafrechtlichen Rechtsmittelrechts in der Weimarer Republik Unmittelbar nach dem Ende des Ersten Weltkrieges wurden die Debatten um eine Reform der Rechtsmittel in Strafsachen wiederaufgenommen. Allerdings ging es hierbei nicht mehr vorrangig um die Stärkung des strafgerichtlichen Rechtsschutzes, sondern vor allem um die Entlastung der Gerichte und die Beschleunigung des Strafverfahrens, wodurch eine Senkung der Kosten der Rechtspflege erzielt werden sollte.1865 Zugleich wurde in der Weimarer Republik auch damit begonnen, das Rechtsmittelrecht und die Gerichtsverfassung in Strafsachen nicht ausschließlich durch die Strafprozessordnung und das Gerichtsverfassungsgesetz zu regeln. So etwa wurden durch spezifische Gesetze für bestimmte Fragestellungen Sondergerichte eingesetzt, die mit der Kompetenz ausgestattet waren, die in ihre Zuständigkeit fallenden Gesetzesverstöße in einem vereinfachten Verfahren zu ahnden, ohne an dieselben Verfahrensgrundsätze gebunden zu sein, wie die ordentlichen Strafgerichte. Bedeutsam im vorliegenden Kontext ist dabei, dass die Urteile dieser Sondergerichte in aller Regel nicht mit Rechtsmitteln angefochten werden konnten und somit unmittelbar in Rechtskraft erwuchsen. Auch wenn im Rahmen der vorliegenden Schrift auf solche mittelbaren Einflüsse der Gesetzgebung auf das Rechtsmittelrecht nicht umfassend eingegangen werden kann, soll nicht unerwähnt bleiben, dass die Errichtung der Sondergerichte in der Weimarer Republik weitaus früher begann, als gemeinhin angenommen. So etwa wurde bereits am 27. November 1919, also etwas mehr als ein Jahr nach der Gründung der Republik, durch die Verordnung über Sondergerichte gegen Schleichhandel und Preistreiberei die Rechtsgrundlage für die Errichtung der sog. Wuchergerichte an den Landgerichten geschaffen, die in einer Besetzung von einem Richter und zwei Schöffen verhandelten.1866 Ebenso wurden am 29. März 1921 durch eine entsprechende Verordnung des Reichspräsidenten außerordentliche Gerichte zur Wiederherstellung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung eingerichtet, die ausschließlich mit drei Berufsrichtern besetzt waren.1867 In beiden Fällen waren gegen die Urteile jener Sondergerichte keine Rechtsmittel vorgesehen.1868 1865 Vgl. hierzu die konzise Darstellung der Strafverfahrensreformen in der Weimarer Republik mit zahlreichen Nachweisen bei Kühne, in: Löwe/Rosenberg, Einl. F, Rn. 25 ff. 1866 Vgl. RGBl. 1919, 1909. 1867 Verordnung des Reichspräsidenten über die Bildung außerordentlicher Gerichte 29. März 1921, RGBl. 1921, 371. 1868 Siehe § 19 Abs. 1 der Verordnung des Reichspräsidenten über die Bildung außerordentlicher Gerichte vom 29. März 1921 (Fn. 1867) bzw. § 13 Abs. 1 der Verordnung über Sondergerichte gegen Schleichhandel und Preistreiberei vom 27. November 1919 (Fn. 1866).
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4. Kap.: Gesetzgeberische Versuche der Erweiterung des Rechtsschutzes
1. Regierungsentwurf1869 vom 29. Dezember 1919 Dass die Rechtsmittelreform auch in der Weimarer Republik ein bedeutsames Anliegen darstellte, wird aber vor allem daran erkennbar, dass der erste Reichsjustizminister Landsberg der Verfassungsgebenden Deutschen Nationalversammlung schon in ihrer 35. Sitzung am 11. April 1919 mitgeteilt hatte, dass sein Ministerium mit einer Novelle der Strafprozessordnung befasst war.1870 Tatsächlich sollte kein halbes Jahr vergehen, bevor Landsbergs Nachfolger Schiffer am 8. Oktober 1919 die Nationalversammlung über die Fertigstellung der Novellen zur Strafprozessordnung und zum Gerichtsverfassungsgesetz in Kenntnis setzte.1871 Schon am 29. Dezember 1919 legte das Reichsjustizministerium der Nachfolgeinstitution des Bundesrates, dem Reichsrat, schließlich den Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des Gerichtsverfassungsgesetzes und eines Gesetzes über den Rechtsgang in Strafsachen nebst Begründung vor.1872 Der Entwurf sollte nicht nur den Rechtsschutz in Strafsachen erheblich verbessern, sondern auch eine umfassende Laienbeteiligung im Strafverfahren, wie sie nunmehr immer häufiger gefordert wurde, sicherstellen.1873 Daher wirkt die Bestimmung des Entwurfs, wonach die Berufung weiterhin ausschließlich gegen Urteile der Amtsgerichte stattfinden sollte, zunächst überraschend.1874 Allerdings bestimmte der Entwurf 1919 auch, dass nahezu alle Strafsachen, die bis dahin in erster Instanz durch Strafkammern verhandelt und entschieden wurden, den Schöffengerichten zugewiesen werden sollte. Nach dem Entwurf sollte also eine grundsätzliche Konzentration erstinstanzlicher Strafsachen an den Amtsgerichten erfolgen; da der Entwurf hierbei weiterhin an der Berufung festhielt, hätte bereits diese Änderung zur Folge gehabt, dass alle erstinstanzlichen Urteile in Strafsachen – außer wenn diese von den Schwurgerichten oder dem Reichsgericht stammten – mit der Berufung hätten angefochten werden können.1875 Den Straf-
1869
Während die Bezeichnung eines Entwurfs als Regierungsentwurf bis hierhin noch eine von den verbündeten Regierungen im Bundesrat angenommenen Entwurf bezeichnete, bezeichnet er ab hier einen Entwurf der Reichsregierung, die erstmalig in der Weimarer Republik geschaffen wurde. 1870 Verhandlungen der verfassunggebenden Deutschen Nationalversammlung, Band 327, S. 983. 1871 Verhandlungen der verfassunggebenden Deutschen Nationalversammlung, Band 330, S. 2926. 1872 Abgedruckt in Materialien zur Strafrechtsreform, Bd. 14. 1873 Begründung zu den Entwürfen eines Gesetzes zur Änderung des Gerichtsverfassungsgesetzes und eines Gesetzes über den Rechtsgang in Strafsachen, S. 3, abgedruckt in Materialien zur Strafrechtsreform, Bd. 14. 1874 § 306 Abs. 1 des Gesetzes über den Rechtsgang in Strafsachen (Fn. 1872). 1875 §§ 23a, 23b GVG i. d. F. Gesetzes zur Änderung des Gerichtsverfassungsgesetzes (Fn. 1872); so auch die Begründung zum Entwurf 1919, S. 3 (Fn. 1873).
B. Rechtsmitteldebatten in der Weimarer Republik und im „Dritten Reich“
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kammern wies der Entwurf ausschließlich noch die Aufgabe einer Berufungsinstanz zu, die mit zwei Berufsrichtern und drei Schöffen besetzt sein sollten.1876 Anstelle der Revision sah der Entwurf als Rechtsmittel gegen die Berufungsurteile der Strafkammern und die erstinstanzlichen Urteile der Schwurgerichte eine sog. Rechtsrüge vor, die – anders als bis dahin die Revision – mit Zustimmung des Verfahrensgegners auch unmittelbar gegen Urteile der Amtsgerichte eingelegt werden konnte.1877 Damit sah der Entwurf erstmalig eine Sprungrevision im deutschen Strafverfahren vor. Bei der Rechtsrüge handelte es sich nämlich keinesfalls um ein völlig neues Rechtsmittel, sondern in der Sache weiterhin um eine Revision,1878 die lediglich eine treffendere Bezeichnung erhalten hatte.1879 Die Rechtsrüge gegen die Berufungsurteile der Strafkammern und gegen die erstinstanzlichen Urteile der Amtsgerichte war dabei an den Oberlandesgerichten anzubringen.1880 Das Reichsgericht sollte dagegen grundsätzlich nur für Rechtsrügen zuständig sein, die gegen Urteile der Schwurgerichte gerichtet waren – im Übrigen sollte sich das Reichsgericht mit einer Rechtsrüge nur dann befassen, wenn es von der Staatsanwaltschaft im Einvernehmen mit dem Oberreichsanwalt1881 beantragt wurde.1882 Ausweislich der Begründung kam es den Verfassern des Entwurfs hierbei „vor allem darauf an, daß das Reichsgericht seiner Aufgabe, die Rechtseinheit im Reiche zu wahren, weiter gerecht werden kann“.1883 Insofern sei angemerkt, dass auch 1919 noch keine Zweifel daran bestanden, dass das Rechtsmittel zum Reichsgericht in erster Linie der Herstellung der Rechtseinheit im Gesamtstaat dienen sollte. Aus demselben Grund sah der Entwurf erstmalig auch eine Divergenzvorlage1884 von den Oberlandesgerichten zu dem Reichsgericht vor.1885 Auch wenn sie im Rahmen der vorliegenden Schrift nicht weiter dargestellt werden können, enthielt der Entwurf 1919 auch weitere zahlreiche begrüßenswerte Vorschriften, die vor allem darauf abzielten, das deutsche Strafverfahren von den Resten des Inquisitionsver1876 Vgl. die Novelle des § 76 GVG durch Ziff. 29 des Gesetzes zur Änderung des Gerichtsverfassungsgesetzes sowie § 77 Abs. 2 GVG i. d. F. Gesetzes zur Änderung des Gerichtsverfassungsgesetzes (Fn. 1872). 1877 §§ 321 ff. StPO des Gesetzes über den Rechtsgang in Strafsachen (Fn. 1872). 1878 So auch die Begründung zum Entwurf 1919, S. 5 (Fn. 1873), die jedoch fälschlicher Weise behauptet, dies habe dem Beschluss der 7. Kommission entsprochen. Dass dem nicht so war, ist den §§ 333 ff. StPO i. d. F. nach der 2. Kommissionslesung (S. 372 Fn. 1848), S. 3624 f. zu entnehmen. 1879 Vgl. hierzu schon S. 184, dort insb. auch die Fn. 894. 1880 § 123a Nr. 2 GVG i. d. F. Gesetzes zur Änderung des Gerichtsverfassungsgesetzes (Fn. 1872). 1881 Zu dem Amt des Oberreichsanwaltes vgl. S. 263 Fn. 1260. 1882 § 321 StPO des Gesetzes über den Rechtsgang in Strafsachen (Fn. 1872). 1883 Vgl. Begründung zum Entwurf 1919, S. 6 (Fn. 1873). 1884 Ausführlich zur Divergenzvorlage vgl. S. 33 f. 1885 § 123b Nr. 2 GVG i. d. F. Gesetzes zur Änderung des Gerichtsverfassungsgesetzes (Fn. 1872).
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4. Kap.: Gesetzgeberische Versuche der Erweiterung des Rechtsschutzes
fahrens zu befreien, die es noch bis heute prägen.1886 Dieser insgesamt durchaus vielversprechende Entwurf scheiterte jedoch bereits im Reichsrat am Widerstand der Länder, sodass er dem Reichstag erst gar nicht vorgelegt wurde.1887 2. Regierungsentwurf vom 29. Mai 1923 Einen weiteren Versuch zur umfassenden Reform des Strafverfahrens unternahm die Reichsregierung in der Weimarer Republik erst mit dem Entwurf eines Gesetzes zur Neuordnung der Strafgerichte1888, der in seinen Grundzügen noch unter dem Reichsjustizminister Radbruch erarbeitet worden war.1889 Der Entwurf wurde nach einer umfassenden Überarbeitung durch den Reichsrat am 29. Mai 1923 durch Reichsjustizminister Heinze dem Reichstag vorgelegt.1890 Wie schon der Entwurf 1919 führte auch der Entwurf 1923 keine Berufung in Strafkammersachen ein, sondern wies nahezu alle Strafsachen in erster Instanz den Amtsgerichten zu.1891 Da gegen Urteile der Amtsgerichte seit jeher die Berufung statthaft war, hätten auch nach dem Entwurf 1923 nahezu alle strafgerichtlichen Urteile umfangreich angefochten werden können. Wie schon in Falle des Entwurfs 1919 blieben lediglich die Schwurgerichtssachen und Strafsachen, für die in erster Instanz das Reichsgericht1892 bzw. nunmehr der neu errichtete Staatsgerichtshof1893 zuständig war, von der Berufung ausgenommen. Doch in deutlicher Abweichung zu dem Entwurf 1919 sollte nach dem Entwurf 1923 an den Amtsgerichten drei unterschiedliche Spruchkörper für Strafsachen eingerichtet werden. So sah er zum ersten Mal auch für die Strafsachen einen Einzelrichter am Amtsgericht vor, der vor allem für Übertretungen und Privatklagedelikte zuständig sein sollte.1894 Daneben sollten große Schöffengerichte in einer 1886
Vgl. Begründung zum Entwurf 1919, S. 11, 21 ff. (Fn. 1873). Hierzu zusammenfassend Schubert, Quellen zur Reform des Straf- und Strafprozeßrechts I/1 (Weimarer Republik), S. XIV f. 1888 Verhandlungen des Reichstags, I. Wahlperiode 1920, Band 378, Anlage Nr. 5884, S. 6983 ff. 1889 Kühne, in: Löwe/Rosenberg, Einl. F, Rn. 33; vgl. ausführlich Fezer, Reform der Rechtsmittel, S. 32; aber vor allem auch Schubert, Quellen zur Reform des Straf- und Strafprozeßrechts I/1 (Weimarer Republik), S. XVII f. 1890 Verhandlungen des Reichstags, I. Wahlperiode 1920, Band 378, Anlage Nr. 5884, S. 6983 ff. 1891 Vgl. §§ 23a ff. GVG i. d. F. des Entwurfs vom 29. Mai 1923 (Fn. 1890). 1892 Vgl. §§ 23a ff. GVG i. d. F. des Entwurfs vom 29. Mai 1923 (Fn. 1890). 1893 Vgl. Andoor, RW 2015, 403, 431 f. m. w. N. 1894 § 23a GVG i. d. F. des Entwurfs vom 29. Mai 1923 (Fn. 1890). Die Zuständigkeit umfasste, neben der originären Zuständigkeit für Übertretungen und Privatklagedelikte, auf Antrag der Staatsanwaltschaft auch die Zuständigkeit für weitere Vergehen, sofern nur eine geringe Rechtsfolge erwartet wurde. Ebenfalls auf Antrag der Staatsanwaltschaft konnte der Einzelrichter auch über Verbrechen verhandeln, wenn es sich dabei um schweren Diebstahl, 1887
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Besetzung von zwei Schöffen und drei Berufsrichtern grundsätzlich für alle Verbrechen zuständig sein, sofern diese nicht ausnahmsweise den Schwurgerichten, dem Staatsgerichtshof oder dem Reichsgericht zugewiesen waren.1895 Für die übrigen Delikte, also vor allem für die im Wege der Offizialklage verfolgten Vergehen, waren nach dem Entwurf kleine Schöffengerichte an den Amtsgerichten einzurichten, die weiterhin in der Besetzung von zwei Schöffen und einem Richter verhandeln sollten.1896 Über die Berufung gegen die Urteile der amtsgerichtlichen Spruchkörper sollten ausschließlich die Strafkammern entscheiden,1897 die als Berufungsgerichte grundsätzlich mit zwei Schöffen und drei Berufsrichtern besetzt sein sollten; lediglich wenn sich die Berufung gegen Urteile richtete, die bloß Übertretungen oder eine Privatklage zum Gegenstand hatten, waren die Strafkammern mit zwei Schöffen und bloß einem Berufsrichter zu besetzen.1898 Eine Revision zum Reichsgericht sah der Entwurf gegen die Berufungsurteile der Strafkammern nur für den Fall vor, dass die Entscheidung in erster Instanz durch ein großes Schöffengericht gefällt worden war;1899 über die Revision gegen Urteile des Einzelrichters und der kleinen Schöffengerichte sollten dagegen die Oberlandesgerichte entscheiden.1900 Bemerkenswert und rechtspolitisch tiefgreifend war die Bestimmung des Entwurfs, wonach Schwurgerichte, die weiterhin für die schwersten Verbrechen zuständig bleiben sollten, statt mit zwölf nur noch mit sechs Geschworenen zu besetzen waren,1901 die auch nicht mehr allein über die Schuldfrage, sondern – wie schon die Schöffen an den Amtsgerichten – gemeinsam mit den drei Berufsrichtern des Schwurgerichts sowohl über die Schuld- als auch die Straffrage befinden sollten.1902 Damit degradierte der Entwurf die Schwurgerichte de facto zu vergrößerten Schöffengerichten. Begründet wurde dieser aus zeitgenössischer Perspektive gewiss radikale Schritt damit, dass die aus dem französischen Recht übernommenen Schwurgerichte Fremdkörper in der deutschen Rechtsentwicklung darstellten und
eine diesbezügliche Hehlerei oder ein Verbrechen handelte, das lediglich wegen wiederholter Begehung als solches verfolgt wurde (vgl. S. 351 Fn. 1706). 1895 §§ 27, 28 GVG i. d. F. des Entwurfs vom 29. Mai 1923 (Fn. 1890). Nicht zuständig war das große Schöffengericht im Übrigen für die Verbrechen des Diebstahls und der Hehlerei in Bezug auf einen schweren Diebstahl, für die insofern das kleine Schöffengericht zuständig war. Dafür konnte die Zuständigkeit des großen Schöffengerichts auch durch einen entsprechenden Antrag der Staatsanwaltschaft begründet werden. 1896 § 27 GVG i. d. F. des Entwurfs vom 29. Mai 1923 (Fn. 1890). 1897 § 76 GVG i. d. F. des Entwurfs vom 29. Mai 1923 (Fn. 1890). 1898 § 77 Abs. 1 Satz 2 GVG i. d. F. des Entwurfs vom 29. Mai 1923 (Fn. 1890). 1899 § 136 Abs. 1 Nr. 2 GVG i. d. F. des Entwurfs vom 29. Mai 1923 (Fn. 1890). 1900 § 123 Nr. 3 GVG i. d. F. des Entwurfs vom 29. Mai 1923 (Fn. 1890). 1901 § 81 GVG i. d. F. des Entwurfs vom 29. Mai 1923 (Fn. 1890). 1902 § 82 GVG i. d. F. des Entwurfs vom 29. Mai 1923 (Fn. 1890). Zu den originären Aufgaben der Geschworenen im reichsdeutschen Strafverfahren vgl. S. 142 ff.
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deshalb einer Reform bedürften.1903 An der Bezeichnung „Schwurgericht“ wurde jedoch weiterhin mit der Begründung festhalten, dass die Bevölkerung sich an diese Bezeichnung gewöhnt habe.1904 Obwohl mit diesen umfassenden Änderungen der Schwurgerichtsbarkeit die Argumente, die der Gesetzgeber bis dahin gegen eine Berufung in Schwurgerichtssachen vorgebracht hatte,1905 nicht mehr verfingen, blieben die Urteile der Schwurgerichte auch nach dem Entwurf 1923 von der Berufung ausgeschlossen.1906 Insoweit verwies die Begründung des Entwurfs darauf, dass die Einrichtung eines Berufungsschwurgerichts organisatorisch nicht leistbar sei – ebenso sei eine Berufung angesichts der großen Zahl der Richter am Schwurgericht und der dort zwingend vorgesehenen gerichtlichen Voruntersuchung1907 überflüssig.1908 Ein Argumentationsmuster, das – zu Unrecht1909 – bis heute herangezogen wird, um zu erklären, warum gegen erstinstanzliche Urteile der Landgerichte keine Berufung zulässig ist. Der Entwurf wurde am 29. Mai 1923 dem Reichstag vorgelegt und bereits am 6. Juni 1923 erstmalig im Plenum beraten.1910 Während sich Abgeordneter Radbruch, der noch als Justizminister der geistige Vater des ursprünglichen Entwurfs gewesen war, über die Änderungen, die „sein“ Entwurf im Reichsrat erfahren hatte, wenig begeistert zeigte,1911 zeigte sich Abgeordneter Emminger – wenig überraschend, wie die Geschichte noch zeigen würde – von dem Entwurf sehr angetan.1912 Im Anschluss an die erste Lesung wurde der Entwurf an den Rechtsausschuss des Reichstages überwiesen;1913 bevor er jedoch einer abschließenden Beratung durch den Reichstag zugeführt werden konnte, wurde er allerdings durch die Reichsregierung zurückgezogen und durch die Verordnung über Gerichtsverfassung und Strafrechtspflege vom 4. Januar 1924 (die sog. Emminger-Verordnung) ersetzt.1914
1903 Begründung zum Entwurf 1923, in: Verhandlungen des Reichstags, I. Wahlperiode 1920, Band 378, Anlage Nr. 5884, S. 6991. 1904 Begründung zum Entwurf 1923 (Fn. 1903), S. 6991. 1905 Vgl. hierzu schon S. 203 Fn. 984. 1906 Vgl. § 354 StPO i. d. F. des Entwurfs vom 29. Mai 1923 (Fn. 1890). 1907 Zu der 1974 abgeschafften gerichtlichen Voruntersuchung vgl. 197 ff. 1908 Begründung zum Entwurf 1923 (Fn. 1903), S. 6993. 1909 Vgl. schon S. 187 ff. 1910 Verhandlungen des Reichstags, I. Wahlperiode 1920, Band 360, S. 11185 ff. 1911 Verhandlungen des Reichstags, I. Wahlperiode 1920, Band 360, S. 11185 ff. 1912 Verhandlungen des Reichstags, I. Wahlperiode 1920, Band 360, S. 11194 f. 1913 Verhandlungen des Reichstags, I. Wahlperiode 1920, Band 360, S. 11199. 1914 So vermerkt auch im Sachregister zu den Verhandlungen des Reichstages und zu den Anlagen, I: Wahlperiode 1920, Band 362, S. 12945, unter [Gerichtsverfassung, bei 12 b)].
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3. Antrag Schiffer vom 14. November 1923 Doch noch vor den Emminger-Reformen unternahm auch der ehemalige Reichsjustizminister Schiffer (DDP) einen – soweit ersichtlich bislang wenig bekannten – Versuch, die gesamte ordentliche Gerichtsbarkeit zu reformieren. Schiffer, der seit Oktober 1921 nur noch einfacher Abgeordneter war, hatte dem Reichstag am 14. November 1923 den Entwurf eines ersten Gesetzes zur Vereinfachung des Rechtswesens vorgelegt,1915 der anders als alle bisherigen Entwürfe eine vollständig neue Verfassung der ordentlichen Gerichte im Reich vorsah. So sollte die ordentliche Gerichtsbarkeit künftig nur noch durch sog. Bezirksgerichte, Obergerichte und das Reichsgericht ausgeübt werden.1916 Die Bezirksgerichte waren dabei für die Verhandlung und Entscheidung der erstinstanzlichen Strafsachen zuständig, wobei funktional je nach angeklagtem Delikt ein Einzelrichter, Schöffengerichte (ein Richter, zwei Schöffen) oder Schwurgerichte (ein Richter, sechs Geschworene) zuständig sein sollten.1917 Gegen die Urteile der Einzelrichter und der Schöffengerichte am Bezirksgericht sah der Entwurf wahlweise die Berufung zu sog. Schöffenkammern (zwei Richter, drei Schöffen), die ebenfalls am Bezirksgericht zu errichten waren, oder die Revision zum Reichsgericht vor – Urteile der Schwurgerichte hingegen sollten ausschließlich mit der Revision zum Reichsgericht angefochten werden können.1918 Bei Übertretungen und Privatklagesachen war die Berufung jedoch nur bei offenbar unrichtigen Entscheidungen statthaft; die Revision sollte dagegen nur dann zulässig sein, wenn sie im öffentlichen Interesse lag.1919 Die ebenfalls neu zu errichtenden Obergerichte hingegen nahmen in Strafsachen keine Aufgaben wahr.1920 Der Entwurf wurde zwar noch am 23. November 1923 zur Vorberatung dem Rechtsausschuss überwiesen,1921 zu einer weiteren Beratung des Entwurfs in der Kommission kam es jedoch nicht mehr, da der Reichstag noch am selben Tag der Reichsregierung sein Misstrauen ausgesprochen hatte1922 und die neueingesetzte Reichsregierung die Gerichtsverfassung und das gerichtliche Verfahren im Verordnungswege neuregelte.
1915 Verhandlungen des Reichstags, I. Wahlperiode 1920, Band 380, Anlage Nr. 6310, S. 7601 ff. 1916 § 1 des Rechtswesensvereinfachungsgesetzes (Fn. 1915). 1917 § 5 Abs. 2, § 28 des Rechtswesensvereinfachungsgesetzes (Fn. 1915). 1918 §§ 36, 39 des Rechtswesensvereinfachungsgesetzes (Fn. 1915). 1919 § 36 Abs. 1 des Rechtswesensvereinfachungsgesetzes (Fn. 1915). 1920 § 39 des Rechtswesensvereinfachungsgesetzes (Fn. 1915). 1921 Verhandlungen des Reichstags, I. Wahlperiode 1920, Band 361, S. 12240. 1922 Verhandlungen des Reichstags, I. Wahlperiode 1920, Band 361, S. 12290.
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4. Kap.: Gesetzgeberische Versuche der Erweiterung des Rechtsschutzes
4. Verordnung über Gerichtsverfassung und Strafrechtspflege vom 4. Januar 1924 Nur wenige Tage nach der Einsetzung einer neuen Regierung unter Reichskanzler Marx am 30. November 1923 übertrug der Reichstag seine legislativen Kompetenzen durch ein Ermächtigungsgesetz bis zum 15. Februar 1924 an die neueingesetzte Reichsregierung.1923 Bei dem Ermächtigungsgesetz vom 8. Dezember 19231924, das mit einer überwältigenden Mehrheit von 313 gegen 18 Stimmen beschlossen worden war, handelte es sich in erster Linie um eine Reaktion auf die zunehmende Not in der In- und Deflationszeit der frühen 1920er-Jahre, die 1923 in einer Hyperinflation ihren Höhepunkt erreicht hatte und erst mit der Ausgabe der Deutschen Rentenmark um den 20. November 1923 aufgehalten werden konnte.1925 § 1 Abs. 1 Satz 1 des Ermächtigungsgesetzes erteilte der Reichsregierung eine Blankovollmacht, „die Maßnahmen zu treffen, die sie im Hinblick auf die Not von Volk und Reich für erforderlich und dringend erachtet“. Obwohl es sich bei diesen Maßnahmen nach dem Sinn und Zweck des Gesetzes bloß um solche der Wirtschafts- und Finanzgesetzgebung handeln sollte,1926 erließ die Reichsregierung auf seiner Grundlage auch die Verordnung über Gerichtsverfassung und Strafrechtspflege vom 4. Januar 1924 (Emminger-Verordnung),1927 mit der wohl die bislang weitreichendste Reform auf dem Gebiet des gesamtdeutschen Strafprozessrechts vorgenommen wurde.1928 Die Verordnung führte zu zahlreichen tiefgreifenden Änderungen der Strafprozessordnung und des Gerichtsverfassungsgesetzes, die bis heute fortwirken. So etwa war es die Emminger-Verordnung, welche die Besetzung der Senate des Reichsgerichts von sieben auf fünf bzw. die der Oberlandesgerichte von fünf auf grundsätzlich drei Richter reduzierte,1929 an den Amtsgerichten das erweiterte Schöffengericht einführte,1930 die „echten“ Schwurgerichte abschaffte,1931 das Ermittlungs1923
Verhandlungen des Reichstags, I. Wahlperiode 1920, Band 361, S. 12375. RGBl. I 1923, 1179. Allgemein zu den sog. verfassungsdurchbrechenden Ermächtigungsgesetzen in der Weimarer Republik vgl. Kotulla, Deutsche Verfassungsgeschichte, Rn. 2335 ff. 1925 Vgl. Gerland, Der deutsche Strafprozess, S. 28. 1926 Vgl. hierzu die Rede des Reichskanzlers vom 4. Dezember 1923 im Reichstag, Verhandlungen des Reichstags, I. Wahlperiode 1920, Band 361, S. 12279. 1927 RGBl. I 1924, 15. Ausführlich zu dieser sog. Emminger-Verordnung vgl. Vormbaum, Lex Emminger. 1928 Die Texte des Gerichtsverfassungsgesetzes und der Strafprozessordnung wurden gem. § 43 der Emminger-Verordnung am 22. März 1924 mit Wirkung zum 1. April 1924 im Sinne der Verordnung angepasst und neu bekanntgemacht, vgl. Bekanntmachung der Texte des Gerichtsverfassungsgesetzes und der Strafprozeßordnung vom 22. März 1924, RGBl. I 1924, 299 ff. 1929 §§ 2, 3 EmmingerVO (Fn. 1927). 1930 § 10 Abs. 2 EmmingerVO (Fn. 1927). 1931 § 12 Abs. 2 EmmingerVO (Fn. 1927). 1924
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verfahren um das Opportunitätsprinzip ergänzte1932 und die Sprungrevision in das deutsche Strafverfahren einführte.1933 Auch die erstinstanzliche Zuständigkeit der Oberlandesgerichte für bestimmte Staatsschutz-Strafverfahren beruht auf den Bemühungen der Emminger-Verordnung, das Reichsgericht in den Krisenjahren von seinen erstinstanzlichen Zuständigkeiten zu entlasten.1934 Dabei baute die Emminger-Verordnung ganz offensichtlich auf dem Geist des Regierungsentwurfs von 19231935 auf und übernahm zahlreiche seiner Regelungen.1936 So etwa sah sie eine grundsätzliche Konzentration aller Strafsachen an den Amtsgerichten vor.1937 Ebenso führte sie auch in den Strafsachen am Amtsgericht den Einzelrichter ein, dem sie die Zuständigkeit zur Aburteilung von Übertretungen, Privatklagedelikten und geringfügigen Vergehen übertrug.1938 Damit waren Schöffengerichte nunmehr nur noch für die schweren Vergehen, aber dafür auch für nahezu alle Verbrechen zuständig.1939 Strafkammern waren nach der Verordnung ausschließlich noch für die Berufung gegen die Urteile der amtsgerichtlichen Spruchkörper zuständig.1940 Allerdings gestattete die Emminger-Verordnung den Schöffengerichten auf Antrag der Staatsanwaltschaft einen weiteren Amtsrichter hinzuzuziehen.1941 Diese erweiterten Schöffengerichte mit zwei Berufsrichtern und zwei Schöffen sollten ganz offensichtlich als ein Ersatz für die Strafkammern in bedeutsamen Verfahren dienen. Nur so ist zu erklären, dass nach der Verordnung für die Verhandlung und Entscheidung einer Revision in Strafsachen das Reichsgericht nur noch dann zuständig war, wenn die Sache in erster Instanz durch ein erweitertes Schöffengericht abgeurteilt worden war; im Übrigen – wenn also in erster Instanz der Einzelrichter oder das „normale“ Schöffengericht entschieden hatte – konnten die Urteile bloß mit einer Revision zu den Oberlandesgerichten angefochten werden.1942 Die Strafkammern waren nunmehr ausschließlich für die Berufung zuständig und verhandelten entweder als kleine Strafkammern mit einem Richter und zwei Schöffen, sofern sich die Berufung gegen ein Urteil des Einzelrichters richtete, oder als große Strafkammern mit drei Richtern und zwei Schöffen bei Berufungen gegen Urteile des Schöffengerichts.1943 Eine erstinstanzliche Zuständigkeit der Landgerichte war nach der Emminger-Verordnung ausschließlich noch für Verbrechen 1932 1933 1934 1935 1936 1937 1938 1939 1940 1941 1942 1943
§§ 23, 24 EmmingerVO (Fn. 1927). § 34 EmmingerVO (Fn. 1927). § 15 EmmingerVO (Fn. 1927). Vgl. S. 378 ff. Ähnl. auch Kühne, in: Löwe/Rosenberg, Einl. F, Rn. 36. §§ 6 ff. EmmingerVO (Fn. 1927). §§ 7 ff. EmmingerVO (Fn. 1927). § 10 Abs. 1 EmmingerVO (Fn. 1927). § 11 Abs. 1 EmmingerVO (Fn. 1927). § 10 Abs. 2 EmmingerVO (Fn. 1927). §§ 16, 17, 34 EmmingerVO (Fn. 1927). § 11 Abs. 2 EmmingerVO (Fn. 1927).
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4. Kap.: Gesetzgeberische Versuche der Erweiterung des Rechtsschutzes
vorgesehen, die mit Festungshaft oder Zuchthaus1944 von über zehn Jahren bedroht waren – sofern in diesen Fällen nicht ausnahmsweise eine Zuständigkeit des Reichsgerichts begründet war, wurden sie vor Schwurgerichten an den Landgerichten verhandelt.1945 Die Schwurgerichte wurden durch die Emminger-Verordnung allerdings, wie bereits im Entwurf 1923 angedacht, in große Schöffengerichte umgewandelt, die in einer Besetzung von drei Berufsrichtern und sechs Geschworenen, bei denen es sich nunmehr faktisch um Schöffen handelte, verhandelten.1946 Gegen die Urteile der Schwurgerichte war ungeachtet dessen ausschließlich die Revision zum Reichsgericht statthaft; darüber hinaus blieb das Reichsgericht weiterhin für bestimmte Staatsschutz-Strafsachen als Gericht erster Instanz zuständig.1947 Damit hatte das Reichsjustizministerium 1924 im Verordnungswege annähernd das geschafft, was den Gesetzgebungsorganen des Reiches jahrzehntelang nicht gelungen war – nämlich nahezu alle Strafsachen einer vollumfassenden Berufung zu unterwerfen.1948 Wenig überzeugend war hierbei, dass ausgerechnet die Schwurgerichtssachen von der Berufung ausgenommen wurden, obwohl hier tendenziell mit den schwersten Rechtsfolgen zu rechnen waren – allerdings machten die Schwurgerichtssachen zu jener Zeit auch gerade mal 0,5 % der Strafsachen aus.1949 Dennoch, anders als im Falle der „echten“ Schwurgerichte, ließ sich diese Ausnahme – nach der Umgestaltung der Schwurgerichte in vergrößerte Schöffengerichte – kaum mehr damit rechtfertigen, dass der Wahrspruch der Geschworenen keine Begründung enthalte, die einer Nachprüfung zugeführt werden könne. Neben den Schwurgerichtssachen hatte die Emminger-Verordnung auch einen großen Teil der Strafrichtersachen, nämlich solche, die nur Übertretungen oder bestimmte im Wege der Privatklage verfolgten Vergehen zum Gegenstand hatten, von der Berufung ausgenommen, sofern wegen der Tat freigesprochen oder ausschließlich auf Geldstrafe erkannt worden war.1950 Bei genauer Betrachtung war somit selbst mit der Emminger-Verordnung mitnichten eine vollumfassende Berufung gegen erstinstanzliche Urteile eingeführt worden, wie sie etwa in der Militärstrafgerichtsordnung oder der Zivilprozessordnung vorgesehen war.
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Vgl. zu den Begriffen Festungshaft und Zuchthaus bereits S. 143 Fn. 680. Vgl. § 14 i. V. m. § 6 Nr. 3 EmmingerVO (Fn. 1927). 1946 § 12 Abs. 2 EmmingerVO (Fn. 1927). 1947 § 17 EmmingerVO (Fn. 1927). 1948 So etwa Rieß, in: Beiträge zur Entwicklung der deutschen Strafprozessordnung, S. 11, der insofern von einem „Gewaltakt“ spricht. 1949 Vgl. die Allgemeine Begründung zum Diskussionsentwurf 1975, S. 29. 1950 § 33 Abs. 1 EmmingerVO (Fn. 1927). 1945
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5. Weitere Entwicklungen in der Weimarer Republik Nach dem Inkrafttreten der Emminger-Verordnung kehrte in den Reformdebatten zunächst Ruhe ein.1951 Erst 1930 wurde mit dem am 20. Mai dem Reichstag zugeleiteten Entwurf eines Einführungsgesetzes zum Allgemeinen Deutschen Strafgesetzbuch und zum Strafvollzugsgesetz wieder ein Versuch unternommen, das deutsche Strafverfahrensrecht umfassend zu reformieren.1952 Bei dem Entwurf handelte es sich formal zwar – wie schon der Name andeutet – lediglich um das Einführungsgesetz zu einem Allgemeinen Deutschen Strafgesetzbuch, das sowohl für das Deutsche Reich als auch die Republik Österreich gelten sollte,1953 doch tatsächlich enthielt er auch umfassende Novellen zum Gerichtsverfassungsgesetz und zur Strafprozessordnung,1954 die jedoch den Rechtszustand, der durch die EmmingerVerordnung hergestellt worden war, nicht grundsätzlich in Frage stellten.1955 Allerdings wurde das Rechtsmittelrecht in Strafsachen in den Folgejahren im Verordnungswege, nämlich durch Verordnungen des Reichspräsidenten gem. Art. 48 Abs. 2 WRV, weitestgehend wieder in den Stand zurückgesetzt, in dem es sich bereits vor der Emminger-Verordnung befunden hatte. So wurde zunächst durch die Dritte Verordnung des Reichspräsidenten zur Sicherung von Wirtschaft und Finanzen und zur Bekämpfung politischer Ausschreitungen vom 6. Oktober 19311956 eine „bewegliche“ erstinstanzliche Zuständigkeit der Strafkammern eingeführt, die der Staatsanwaltschaft gestattete, bei Einreichung der Anklageschrift die Eröffnung des Hauptverfahrens vor einer großen Strafkammer zu beantragen, sofern die Hauptverhandlung voraussichtlich länger als sechs Verhandlungstage im Anspruch nehmen würde.1957 Da gegen Urteile der Landgerichte weiterhin keine Berufung zulässig war, konnten diese Sachen somit ausschließlich mit der Revision angefochten werden. Hierdurch sollte sichergestellt werden, dass in umfassenden und komplexen Verfahren eine ressourcenverschlingende Wiederholung der Sache durch die Berufung ausgeschlossen war. Eine noch weitergehende Einschränkung erfuhr die Allzuständigkeit der Amtsgerichte, die durch die Emminger-Verordnung für die Strafsachen eingeführt worden war, aufgrund der Verordnung des Reichspräsidenten über Maßnahmen auf dem Gebiete der Rechtspflege und Verwaltung vom 14. Juni 1932.1958 Die Verordnung führte zu einer Rückübertragung zahlreicher erstinstanzlicher Zuständigkeiten auf 1951
Kühne, in: Löwe/Rosenberg, Einl. F, Rn. 40. Verhandlungen des Reichstags, IV. Wahlperiode 1928, Band 442, Anlage Nr. 2070. 1953 Vgl. Entwurf eines Allgemeinen Deutschen Strafgesetzbuches vom 14. Mai 1927, Verhandlungen des Reichstags, III. Wahlperiode 1924, Band 415, Anlage Nr. 3390. 1954 Vgl. Art. 68 bis 77 des EGStGB vom 20. Mai 1930 (Fn. 1952). 1955 Kühne, in: Löwe/Rosenberg, Einl. F, Rn. 41; Fezer, Reform der Rechtsmittel, S. 35. 1956 RGBl. I 1931, 537. 1957 Vgl. Sechster Teil, Kapitel I, § 1 Abs. 1 der Verordnung, RGBl. I 1931, 537, 563. 1958 RGBl. I 1932, 285. 1952
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die (großen) Strafkammern.1959 Weiterhin gestaltete die Verordnung die Berufung in amtsgerichtlichen Strafsachen zu einem Wahlrechtsmittel um, sodass Urteile der Amtsgerichte nur noch entweder mit der Berufung oder der Revision angefochten werden konnten.1960 Die Verordnung zielte darauf, das Übermaß an Rechtsmitteln, das durch die Emminger-Verordnung vermeintlich geschaffen worden war, aus praktischen und finanziellen Gründen wieder einzuschränken.1961
II. Reformversuche und Reformen der strafrechtlichen Rechtsmittel im „Dritten Reich“ am Beispiel des Entwurfs 1939 Auch im „Dritten Reich“ wurden Versuche unternommen, das Strafverfahren und das darin normierte Rechtsmittelrecht zu reformieren. Denn gerade die beschränkte Natur der Revision als einzig zulässiges Rechtsmittel gegen erstinstanzliche Urteile der Strafkammern widersprach den nationalsozialistischen Vorstellungen von einer Strafrechtspflege, die auf die Herbeiführung einer „gerechten“ Entscheidung ausgerichtet sein sollte.1962 Eine „gerechte“ Entscheidung im Sinne der nationalsozialistischen Ideologie setzte nämlich voraus, dass die Ermittlung der materiellen Wahrheit auch in der Revisionsinstanz frei von jeglichen formellen Hindernissen erfolgen konnte, damit der Täter als vermeintlicher „Volksfeind“ in jedem Fall seiner mutmaßlich „gerechten“ Strafe zugeführt werden konnte. Unter „Gerechtigkeit“ verstanden die Nationalsozialisten mithin vor allem eine Gerechtigkeit im Strafen, die nicht durch formale Grenzen der Verfahrensordnungen behindert werden sollte. So wurde bereits 1933 eine amtliche Kommission einberufen, die den Entwurf einer neuen Strafverfahrensordnung und des dazugehörigen Gerichtsverfassungsgesetzes ausarbeiten sollte, die mehr den nationalsozialistischen Ansprüchen an die Strafrechtspflege entsprechen sollte.1963 Diese „Vorkommission“ legte am 27. Februar 1936 einen als „streng vertraulich“ eingestuften Entwurf vor,1964 der letztendlich in dem Entwurf einer Strafverfahrensordnung und einer Friedensrichter- und
1959
Art. 1 § 1 der Verordnung vom 14. Juni 1932 (Fn. 1958); so auch die Allgemeine Begründung zum Diskussionsentwurf 1975, S. 29. 1960 Art. 2 § 1 Nr. 1 der Verordnung vom 14. Juni 1932 (Fn. 1958). 1961 Fezer, Reform der Rechtsmittel, S. 36. 1962 Vgl. schon S. 260 ff. 1963 Vgl. die Einführung zum Entwurf einer Strafverfahrensordnung, einer Friedensrichterund Schiedsmannsordnung und eines Gerichtsverfassungsgesetzes vom 27. Februar 1936 in Schubert (Hrsg.), Quellen zur Reform des Straf- und Strafprozeßrechts III/1 (NS-Zeit), S. 5. 1964 Entwurf einer Strafverfahrensordnung, einer Friedensrichter- und Schiedsmannsordnung und eines Gerichtsverfassungsgesetzes, abgedruckt in Schubert (Hrsg.), Quellen zur Reform des Straf- und Strafprozeßrechts III/1 (NS-Zeit), S. 3 ff.
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Schiedsmannsordnung vom 1. Mai 19391965 mündete und hier näher betrachtet werden soll.1966 1. Die Gerichtsverfassung nach dem Entwurf 1939 Während der Entwurf 1936 noch einen Entwurf eines Gerichtsverfassungsgesetzes umfasst hatte, waren die Arbeiten daran zuletzt zugunsten der Fertigstellung des Entwurfs einer neuen Strafverfahrensordnung zurückgestellt worden. Deshalb war die Organisation der Strafgerichte, die dem Entwurf 1939 zugrunde lag, lediglich seiner Begründung zu entnehmen.1967 Danach sollte in erster Instanz über kleine und mittlere Kriminalität der Amtsrichter als Einzelrichter entscheiden, während Fälle der schweren Kriminalität Schöffenkammern an den Landgerichten, die mit drei Berufsrichtern und zwei Schöffen zu besetzen waren, übertragen werden sollten.1968 Rechtsprechungsaufgaben, die bis dahin den Sondergerichten oblagen, vor allem also die Rechtsprechung in Fällen politisch motivierter Kriminalität, waren nach der Begründung des Entwurfs 1939 von ordentlichen Strafkammern an den Landgerichten wahrzunehmen, die ausschließlich mit drei Berufsrichtern besetzt werden sollten.1969 Bei Hoch- und Landesverratssachen hingegen sollte der Volksgerichtshof oder die Oberlandesgerichte zuständig sein. Ebenso sollte der Oberreichsanwalt beim Reichsgericht1970 die Anklage unmittelbar zu einem Besonderen Strafsenat des Reichsgerichts erheben können, wenn er dies für erforderlich hielt.1971 Rechtsmittel waren dabei ausschließlich gegen Urteile des Einzelrichters und der Schöffenkammer vorgesehen. Erstinstanzliche Urteile des Reichsgerichts, des Volksgerichtshofs, der Oberlandesgerichte und der Strafkammern dagegen sollten unmittelbar in Rechtskraft erwachsen.1972
1965 Abgedruckt in Schubert (Hrsg.), Quellen zur Reform des Straf- und Strafprozeßrechts III/1 (NS-Zeit), S. 297 ff. 1966 Aus einem etwas anderen Blickwinkel, dafür aber die Vorentwürfe und zeitgenössische Diskussionen in der Literatur und Wissenschaft mitberücksichtigend, Fezer, Reform der Rechtsmittel, S. 41 ff. 1967 Gruchmann, Justiz im Dritten Reich, S. 931 f. 1968 Begründung zum Entwurf 1939, S. 2, in: Schubert (Hrsg.), Quellen zur Reform des Straf- und Strafprozeßrechts III/1 (NS-Zeit), S. 372 ff. 1969 Begründung zum Entwurf 1939, S. 2 f., in Schubert (Hrsg.), Quellen zur Reform des Straf- und Strafprozeßrechts III/1 (NS-Zeit), S. 372 ff. 1970 Vgl. S. 263 Fn. 1260. 1971 Begründung zum Entwurf 1939, S. 3, in: Schubert (Hrsg.), Quellen zur Reform des Straf- und Strafprozeßrechts III/1 (NS-Zeit), S. 372 ff. 1972 § 315 Abs. 2 der Strafverfahrensordnung nach dem Entwurf 1939.
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2. Ordentliche Rechtsmittel nach dem Entwurf 1939 a) Berufung Gegen Urteile des Amtsrichters sah der Entwurf die Berufung zu der Schöffenkammer an den Landgerichten vor.1973 Anders als nach der Strafprozessordnung war die Berufung nach dem Entwurf 1939 jedoch grundsätzlich mit einer Begründung zu versehen, in der darzulegen war, inwieweit und aus welchen tatsächlichen und rechtlichen Gründen der Beschwerdeführer das vorinstanzliche Urteil anfocht und welche neuen Tatsachen und Beweismittel er in der Berufungshauptverhandlung vorbringen würde.1974 Durch die Ausgestaltung dieser Anforderungen an die Berufungsschrift als „Soll-Vorschriften“ sollte sichergestellt werden, dass die Berufung ihre Natur als volkstümliches Rechtsmittel beibehielt, aber zugleich dem Vorsitzenden des Berufungsgerichts eine sinnvolle Auswahl der Beweismittel für die Berufungshauptverhandlung ermöglichte.1975 Das Berufungsurteil der Schöffenkammer sollte dabei unmittelbar in Rechtskraft erwachsen, sodass die Berufung in amtsrichterlichen Strafsachen das einzig verfügbare Rechtsmittel darstellte. Selbst die bis dahin noch mögliche Wahlrevision gegen die amtsgerichtlichen Urteile,1976 die durch die Verordnung des Reichspräsidenten über Maßnahmen auf dem Gebiete der Rechtspflege und Verwaltung vom 14. Juni 19321977 eingeführt worden war, sollte mit dem Entwurf 1939 also wieder abgeschafft werden. b) Urteilsrüge Gegen erstinstanzliche Urteile der Schöffenkammern dagegen sah der Entwurf ausschließlich eine sog. Urteilsrüge zum Reichsgericht vor, welche die Revision in den Strafsachen ersetzen sollte.1978 Obwohl die Urteilsrüge dabei grundsätzlich der Revision nachempfunden war, bestanden zwischen beiden Rechtsmittel einige wesentliche Unterschiede, die bereits die Begründung zu dem Entwurf 1939 in den Vordergrund hob: „Die für das Gerechtigkeitsempfinden vielfach unerträglichen Beschränkungen, die das Rechtsmittel der Revision im bisherigen Recht dem Gericht bei der Nachprüfung des angefochtenen Urteils auferlegte, werden bei der Urteilsrüge weitestgehend beseitigt. Sie soll umfassender als die bisherige Revision der Gerechtigkeit dienen, und zwar nicht nur dadurch, daß die gleiche Anwendung gleichen Rechts für alle Volksgenossen und damit die 1973 § 315 Abs. 1 Var. 1 der Strafverfahrensordnung nach dem Entwurf 1939; Begründung zum Entwurf 1939, S. 3, in: Schubert (Hrsg.), Quellen zur Reform des Straf- und Strafprozeßrechts III/1 (NS-Zeit), S. 372 ff. 1974 § 321 Abs. 2 der Strafverfahrensordnung nach dem Entwurf 1939. 1975 Begründung zum Entwurf 1939, S. 150, in: Schubert (Hrsg.), Quellen zur Reform des Straf- und Strafprozeßrechts III/1 (NS-Zeit), S. 372 ff. 1976 Vgl. S. 386. 1977 RGBl. I 1932, 285. 1978 §§ 315 Abs. 1 Var. 2, 318 der Strafverfahrensordnung nach dem Entwurf 1939.
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Rechtseinheit wahrt, sondern auch dadurch, daß sie über die Rechtsanwendung hinaus die gerechte Gesamtbeurteilung des Einzelfalls sichert. […] Das Rügegericht kann also künftig über die reine Rechtsprüfung weit hinausgreifen. Es braucht nicht mehr einen Richterspruch aufrecht zu erhalten, der ihm sachlich ungerecht erscheint. [Hervorh. d. Verf.]“1979
Die Urteilsrüge sollte also, anders als die Revision, nicht auf eine Gesetzesverletzung beschränkt bleiben, sondern eine Gesamtbeurteilung des Einzelfalls erlauben. Diese Erwägungen belegen aber auch, dass die Vorstellung, wonach die Revision auch dazu bestimmt sei, Einzelfallgerechtigkeit zu gewährleisten, 1939 noch unbekannt war. Vielmehr sollte die Revision sogar gerade deshalb durch die Urteilsrüge ersetzt werden, weil Erstere keinen Bezug zur Einzelfallgerechtigkeit vorwies: „Der Entwurf stellt in der Urteilsrüge für das Strafverfahren ein Rechtsmittel zur Verfügung, das dem im höchsten Rechtszuge entscheidenden Gericht die Möglichkeit gibt, im Rahmen der ihm eingeräumten Nachprüfung die richtige Entscheidung des Einzelfalls zu finden, ohne durch die gesetzlichen Grenzen seines Urteilsbereichs in die Lage gebracht zu werden, ein unrichtiges Urteil aufrechtzuerhalten. […] Damit stellt sich das neue Rechtsmittel in Gegensatz zur Revision des bisherigen Rechts. Diese hat in erster Linie die Aufgabe, eine einheitliche Rechtsprechung zu sichern. Die Gewährleistung eines gerechten Richterspruchs im Einzelfall ist als Ziel der Revision neben der Wahrung der Rechtseinheit nur in dem begrenzten Umfange berücksichtigt, den der Rahmen der reinen Rechtsprüfung zulässt. [Hervorh. d. Verf.]“1980
Um sicherzustellen, dass das Urteilsrügegericht vollumfassend auf eine im Einzelfall richtige Entscheidung hinwirken kann, eröffnete der Entwurf 1939 ihm den vollen Zugriff auf die Tatsachenfeststellungen der Vorinstanz. So lautete § 331 der Strafverfahrensordnung nach dem Entwurf 1939: „Auf die Urteilsrüge wird das angefochtene Urteil nachgeprüft, 1. ob es auf einem Fehler im Verfahren beruht, 2. ob es wegen eines Fehlers in der Anwendung des Rechts auf die festgestellten Tatsachen oder die Ausübung des richterlichen Ermessens, insbesondere der Bemessung der Strafe, ungerecht ist, 3. ob ein so schweres Bedenken gegen die Richtigkeit der tatsächlichen Feststellungen besteht, daß eine neue Entscheidung notwendig ist.“
Sofern eine neue Entscheidung notwendig war, konnte das Urteilsrügegericht das Urteil aufheben und die Sache an die Vorinstanz zurückverweisen oder selbst in der Sache entscheiden,1981 sodass seine Sachentscheidungskompetenzen weit über die des Revisionsgerichts hinausgereicht hätten. 1979
Begründung zum Entwurf 1939, S. 3, in: Schubert (Hrsg.), Quellen zur Reform des Straf- und Strafprozeßrechts III/1 (NS-Zeit), S. 372 ff. 1980 Begründung zum Entwurf 1939, S. 155, in: Schubert (Hrsg.), Quellen zur Reform des Straf- und Strafprozeßrechts III/1 (NS-Zeit), S. 372 ff. 1981 § 342 Abs. 2 der Strafverfahrensordnung nach dem Entwurf 1939.
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Zudem sollte das Urteilsrügegericht die Möglichkeit erhalten, selbst Beweise zu erheben, um sich gegebenenfalls in die Lage zu versetzen, ein eigenes Bild von dem Tathergang zu verschaffen – dies hätte allerdings einen entsprechenden Antrag des Oberreichsanwaltes vorausgesetzt.1982 So lautete § 340 Abs. 2 der Strafverfahrensordnung nach dem Entwurf 1939: „Das Urteilsrügegericht kann Beweise selbst aufnehmen oder durch einen beauftragten oder ersuchten Richter aufnehmen lassen, wenn der Oberreichsanwalt es beantragt. Findet eine Beweisaufnahme statt, so kann es Feststellungen über einzelne von mehreren Taten, abtrennbare Teile einer Tat oder andere Vorgänge, die selbstständig festgestellt werden können, seiner Entscheidung zugrundelegen, wenn sie nach seiner Überzeugung in dem angefochtenen Urteil einwandfrei getroffen sind.“
Auch sollte die Urteilsrüge – anders als die Revision – nicht durch Anträge der Verfahrensbeteiligten auf bestimmte Prüfungspunkte beschränkt werden können.1983 Vielmehr hatte das Urteilsrügegericht nach dem Entwurf von Amts wegen zu prüfen, ob das Urteil auf einer Verletzung des materiellen Rechts beruhte oder schwerwiegende Bedenken gegen die Richtigkeit der tatsächlichen Feststellungen bestanden.1984 Selbst im Falle einer Verfahrensrüge hatte das Urteilsrügegericht einen Verfahrensmangel, den es im Rahmen des Urteilsrügeverfahrens erkannte, auch ohne eine entsprechende Rüge selbstständig seiner Entscheidung zugrunde zu legen.1985 Die Urteilsrüge hätte damit eine vollumfassende Nachprüfung des vorinstanzlichen Urteils erlaubt, sodass sie gerade im Vergleich zu der Revision zunächst wie das rechtsschutzintensivere Rechtsmittel wirkt. Hierbei darf allerdings nicht übersehen werden, dass der Entwurf 1939 in seiner Gänze auf dem Weltanschauungsprinzip des Nationalsozialismus aufbaute, was nicht zuletzt in seiner Begründung zum Ausdruck kommt. Die Urteilsrüge diente insofern keinesfalls dem Zweck, die Rechtsschutzmängel der Revision zu beseitigen; sie sollte vielmehr sicherstellen, dass Urteile der Instanzgerichte gegebenenfalls durch regimetreue Obergerichte aufgehoben bzw. korrigiert werden konnten, ohne dass die Letzteren durch die formalen Grenzen der Revision beschränkt wären. Sofern man diese Aspekte außen vor lässt, zeigt die Urteilsrüge aber durchaus auf, wie ein Rechtsmittel ausgestaltet sein könnte, das die vollumfassende Nachprüfung aller strafgerichtlichen Entscheidungen zulässt, ohne zugleich gegen alle Urteile erster Instanz eine aufwändige Berufung zuzulassen.
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Begründung zum Entwurf 1939, S. 162, in: Schubert (Hrsg.), Quellen zur Reform des Straf- und Strafprozeßrechts III/1 (NS-Zeit), S. 372 ff. 1983 § 341 der Strafverfahrensordnung nach dem Entwurf 1939; für die entsprechende Revisionsvorschrift vgl. § 352 StPO. 1984 § 341 Abs. 1 Satz 1 der Strafverfahrensordnung nach dem Entwurf 1939. 1985 § 341 Abs. 2 der Strafverfahrensordnung nach dem Entwurf 1939.
B. Rechtsmitteldebatten in der Weimarer Republik und im „Dritten Reich“
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3. Neue außerordentliche Rechtsbehelfe nach dem Entwurf 1939 Neben den ordentlichen Rechtsmitteln der Beschwerde, Berufung und Urteilsrüge sowie dem auch heute bekannten außerordentlichen Rechtsbehelf der Wiederaufnahme des Verfahrens, die nach dem Entwurf 1939 erheblich ausgeweitet werden sollte, sah der Entwurf mit der Nichtigkeitsbeschwerde und dem außerordentlichen Einspruch zudem zwei außerordentliche Rechtsbehelfe vor, die der Strafprozessordnung bis dahin unbekannt waren.1986 Beide Rechtsbehelfe orientierten sich dabei an Rechtsbehelfe des nunmehr an das Deutsche Reich „angeschlossenen“ Österreichs, nämlich an die Nichtigkeitsbeschwerde zur Wahrung des Gesetzes sowie an die außerordentliche Wiederaufnahme. Sie wichen jedoch ausweislich der Begründung des Entwurfs deutlich von ihren Vorbildern ab.1987 Insbesondere blieben erstinstanzliche Urteile der Oberlandesgerichte, des Volksgerichtshofs und des Reichsgerichts auch von diesen außerordentlichen Rechtsbehelfen ausgeschlossen. Beide Rechtsbehelfe sollten nach dem Entwurf ausschließlich durch den Oberreichsanwalt beim Reichsgericht eingelegt werden können.1988 Die Nichtigkeitsbeschwerde sollte dabei binnen sechs Monaten nach Eintritt der Rechtskraft (!) gegen Urteile des Amtsrichters, der Schöffenkammer und der Strafkammer eingelegt werden können, „wenn das Urteil wegen eines groben Fehlers bei der Anwendung des Rechts auf die festgestellten Tatsachen ungerecht ist“.1989 Damit entsprach sie im Wesentlichen einer außerordentlichen Sachrüge. Das Reichsgericht als Beschwerdegericht sollte insofern ausschließlich die Rechtsanwendung durch die Vorinstanz nachprüfen. Allerdings sollte es auch in der Sache selbst entscheiden können, wenn ihm dies aufgrund der in Urteil enthaltenen tatsächlichen Feststellungen möglich war; im Übrigen hatte das Nichtigkeitsbeschwerdegericht die Sache zur Neuverhandlung an die Vorinstanz oder ein anderes Gericht zurückzuverweisen.1990 Damit stellte die Nichtigkeitsbeschwerde vor allem bei Urteilen der Strafkammern und Berufungsurteilen der Schöffenkammern einen Rechtsbehelf zur Verfügung, mit dem aus staatlicher Sicht „ungerechte“ Urteile wieder aufgehoben werden konnten, selbst wenn diese bereits in Rechtskraft erwachsen waren.1991 Der außerordentliche Einspruch hingegen entsprach einer außerordentlichen Berufung und konnte nach dem Entwurf unter denselben formalen Voraussetzungen eingelegt werden wie die Nichtigkeitsbeschwerde, sofern der Oberreichsanwalt beim 1986
§§ 370 ff. der Strafverfahrensordnung nach dem Entwurf 1939. Begründung zum Entwurf 1939, S. 176 f., in Schubert (Hrsg.), Quellen zur Reform des Straf- und Strafprozeßrechts III/1 (NS-Zeit), S. 176 f. 1988 §§ 370 Abs. 1, 373 Abs. 1 der Strafverfahrensordnung nach dem Entwurf 1939. 1989 § 370 Abs. 1 der Strafverfahrensordnung nach dem Entwurf 1939. 1990 § 370 Abs. 2 der Strafverfahrensordnung nach dem Entwurf 1939. 1991 Begründung zum Entwurf 1939, S. 177, in: Schubert (Hrsg.), Quellen zur Reform des Straf- und Strafprozeßrechts III/1 (NS-Zeit), S. 177. 1987
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4. Kap.: Gesetzgeberische Versuche der Erweiterung des Rechtsschutzes
Reichsgericht „wegen schwerwiegender Bedenken gegen die Richtigkeit des Urteils eine neue Verhandlung und Entscheidung in der Sache für notwendig“ hielt.1992 Der außerordentliche Einspruch führte zu einer Neuverhandlung der Sache vor dem sog. Besonderen Senat des Reichsgerichts, wobei die Einhaltung der Vorschriften, die für das Verfahren in erster Instanz galten, in sein Ermessen gestellt sein sollte.1993 Zu dem eigentlichen Zweck des außerordentlichen Einspruchs heißt in der Begründung des Entwurfs: „Über ihn soll der Besondere Strafsenat des Reichsgerichts entscheiden […]. Seine Mitglieder werden auf Vorschlag des Reichsministers der Justiz vom Führer und Reichskanzler für die Dauer von zwei Geschäftsjahren bestellt. Seine Zusammensetzung soll Gewähr dafür bieten, daß er in besonderem Maße das Vertrauen des Obersten Gerichtsherren des Reiches [gemeint ist Adolf Hitler – Anm. d. Verf.] hat.“1994
Der außerordentliche Einspruch sollte also allein dem Ziel dienen, eine Rechtsprechung sicherzustellen, die völlig im Sinne des „Führers“ war. Allerdings wurde der Entwurf 1939 nie durch das Reichskabinett als Gesetz beschlossen, da zwischen dem Reichsinnenministerium sowie der Polizei- und SSFührung einerseits und dem Reichsjustizministerium andererseits keine Einigkeit über die Vorlage hergestellt werden konnte – wohl auch deshalb, weil die Parteispitze dem Vorhaben insgesamt reserviert gegenüberstand.1995 Wie bereits näher ausgeführt,1996 wurden jedoch einzelne Aspekte des Entwurfs während des Zweiten Weltkrieges tatsächlich in das deutsche Strafverfahren überführt.1997 Dies betraf insbesondere die Nichtigkeitsbeschwerde und den außerordentlichen Einspruch, die bis zum Kriegsende zum Teil sogar noch ausgeweitet wurden; auch diesbezüglich sei auf die ausführliche Darstellung der tatsächlichen Anwendung dieser Rechtsbehelfe an anderer Stelle der vorliegenden Schrift verwiesen.1998
1992
§ 373 der Strafverfahrensordnung nach dem Entwurf 1939. § 376 i. V. m. § 373 Abs. 2 der Strafverfahrensordnung nach dem Entwurf 1939. 1994 Begründung zum Entwurf 1939, S. 177, in: Schubert (Hrsg.), Quellen zur Reform des Straf- und Strafprozeßrechts III/1 (NS-Zeit), S. 372 ff. 1995 So Kühne, in: Löwe/Rosenberg, Einl. F, Rn. 65; ausführlicher Schubert, Quellen zur Reform des Straf- und Strafprozeßrechts III/1 (NS-Zeit), S. IX, sowie detailliert Gruchmann, Justiz im Dritten Reich, S. 1055 ff. 1996 Vgl. S. 268 ff. 1997 Schubert, Quellen zur Reform des Straf- und Strafprozeßrechts III/1 (NS-Zeit), S. XVI; mit einer knappen Übersicht Kühne, in: Löwe/Rosenberg, Einl. F, Rn. 69 ff.; ausführlicher Gruchmann, Justiz im Dritten Reich, S. 1068 ff. 1998 Vgl. S. 268 ff. 1993
C. Versuche einer Rechtsmittelreform in der Bundesrepublik Deutschland
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C. Versuche einer Rechtsmittelreform in der Bundesrepublik Deutschland I. Reformerwägungen beim Erlass des Vereinheitlichungsgesetzes vom 12. September 1950 Nach dem Zweiten Weltkrieg erfuhr das Strafverfahrensrecht in den einzelnen Besatzungszonen unter alliierter Kontrolle zunächst noch eine im Detail unterschiedliche Ausgestaltung,1999 auch wenn sich diese Vorschriften in aller Regel an die Strafprozessordnung und das Gerichtsverfassungsgesetz von 1877 orientierten.2000 Doch bereits durch das Gesetz zur Wiederherstellung der Rechtseinheit auf dem Gebiete der Gerichtsverfassung, der bürgerlichen Rechtspflege, des Strafverfahrens und des Kostenrechts vom 12. September 1950 (das sog. Vereinheitlichungsgesetz), wurde das Strafverfahrensrecht in Deutschland alsbald wieder in eine einheitliche Fassung versetzt.2001 Das Vereinheitlichungsgesetz stellte dabei im Wesentlichen den Rechtszustand wieder her, der vor dem Stichtag des 30. Januar 1933 in den deutschen Gebieten gegolten hatte.2002 Damit war auch in der Bundesrepublik Deutschland das vollumfängliche Rechtsmittel der Berufung ausschließlich gegen Urteile der amtsgerichtlichen Spruchkörper, nicht aber gegen die erstinstanzlichen Urteile der Strafkammern und der Schwurgerichte zulässig. In der Begründung des Vereinheitlichungsgesetzes heißt es hierzu: „Das vorliegende Gesetz trägt Übergangscharakter; es will also nur das Fundament bilden, auf dem in einem zweiten Abschnitt der Gesetzgebung die notwendigen Reformarbeiten durchgeführt werden sollen“.2003 Der Gesetzgeber ging also zunächst noch davon aus, mit dem Vereinheitlichungsgesetz in Bezug auf das Strafverfahrensrecht bloß eine vorläufige Grundlage für eine funktionsfähige Strafrechtspflege zu schaffen, die zeitnah durch ein reformiertes Strafverfahren abgelöst werden sollte. So heißt es auch in dem Abschlussbericht des Abgeordneten Laforet – dem Generalberichterstatter des Rechtsausschusses des Bundestages – zum Vereinheitlichungsgesetz: „Der Entwurf des Gesetzes hat davon Abstand genommen, grundsätzliche Neuerungen zu bringen. Auch bei der Behandlung des Gegenstandes im Rechtsausschuß des Bundestages 1999
Vgl. im Einzelnen mit weiteren Nachweisen Kühne, in: Löwe/Rosenberg, Einl. F, Rn. 79 f. 2000 Schon der Alliierte Kontrollrat hatte mit dem Kontrollratsgesetz Nr. 4 Art. I Satz 1 angeordnet, dass die „Umgestaltung der deutschen Gerichte […] grundsätzlich in Übereinstimmung mit dem Gerichtsverfassungsgesetz vom 27. Januar 1877 in der Fassung vom 22. März 1924 (RGBI. I S. 299) erfolgen“ soll, ABl. (Kontrollrat) 1945 Nr. 2, S. 26. 2001 BGBl. 1950/40, 455. 2002 Ausführlicher Kühne, in: Löwe/Rosenberg, Einl. F, Rn. 86 f.; Rieß, in: Beiträge zur Entwicklung der deutschen Strafprozessordnung, S. 222 f. 2003 BT-Drs. 1/530, Anlage Ia, Vorbemerkung.
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4. Kap.: Gesetzgeberische Versuche der Erweiterung des Rechtsschutzes
und in seinen Unterausschüssen wurde wie im Bundesrat mit voller Absicht davon Abstand genommen, grundsätzliche Fragen des Verfahrensrechts zu erörtern und zu Gesetzesvorschlägen zu schreiten. So ist, um nur ein Beispiel zu geben, die wichtige Frage, ob der Rechtsschutz auch im Strafprozeß wie im bürgerlich-rechtlichen Verfahren und im verwaltungsrechtlichen Verfahrens verlangt, grundsätzlich stets eine zweite Rechtsstufe mit der Feststellung des Tatbestandes zu befassen, also die sogenannte zweite Tatsacheninstanz zu schaffen, der späteren Neufassung des Gerichtsverfassungsgesetzes und der Strafprozessordnung überlassen [Hervorh. d. Verf.].“2004
Auch Abgeordneter Greve berichtete aus den Beratungen des Unterausschusses für die Strafprozessordnung: „Es war die allgemeine Auffassung […], daß man sich bei der Vorbereitung der großen Justizreform sehr eindringlich mit dem Gedanken befassen möge, daß unser Verfahrensrecht in Deutschland in keinem Falle auf eine einzige Tatsacheninstanz abgestellt werden sollte, daß wir in Zukunft in jedem Falle zwei Tatsacheninstanzen wünschen. Der derzeitige Entwurf der Strafprozeßordnung […] beläßt es bei einer Tatsacheninstanz, deren Urteile nur in den Fällen mit der Revision angefochten werden können, in denen die Große Strafkammer oder das Schwurgericht erstinstanzlich zuständig sind. Wir haben also ein System, das vielleicht gerade für denjenigen, der nicht Jurist ist, überhaupt nicht verständlich ist [Hervorh. d. Verf.], daß nämlich in allen den Fällen, in denen es sich um minder schwere Verbrechen oder Vergehen handelt, zwei Tatsacheninstanzen und möglicherweise eine Revisionsinstanz und in den schwereren Fällen von Verbrechen nur eine Tatsacheninstanz und eine Revisionsinstanz vorhanden sind.“2005
Demnach betrachtete also auch der Bundesgesetzgeber die Notwendigkeit für eine zweite Tatsacheninstanz in Strafkammersachen unmittelbar nach der Gründung der Bundesrepublik noch als eine der wesentlichen Fragen des Verfahrensrechts, derer man sich noch im Rahmen einer „großen Justizreform“ annehmen wollte.
II. Reformerwägungen beim Erlass des Strafprozessänderungsgesetzes vom 19. Dezember 1964 Vor der großen Justizreform, die auf eine Neufassung des Gerichtsverfassungsgesetzes und der Strafprozessordnung gerichtet sein sollte, stand zunächst jedoch eine umfassende Reform des materiellen Strafrechts. Eine Große Strafrechtskommission, die zu diesem Zweck seit 1954 mit der Neukonzeption des Strafgesetzbuches befasst war, stellte ihre Arbeiten jedoch erst 1959 fertig und legte sogar erst 1962 dem Bundestag einen konkreten Entwurf für das neue materielle Strafrecht
2004
Verhandlungen des Deutschen Bundestages, Stenografische Berichte, 1. Wahlperiode, 79. Sitzung, S. 2866 f. 2005 Verhandlungen des Deutschen Bundestages, Stenografische Berichte, 1. Wahlperiode, 79. Sitzung, S. 2878.
C. Versuche einer Rechtsmittelreform in der Bundesrepublik Deutschland
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vor;2006 dieser Entwurf konnte sich jedoch nicht gegen die Kritik aus der Wissenschaft und Praxis durchsetzen.2007 Mit Blick auf diese Verzögerungen bei der Reform des materiellen Strafrechts wurde 1959 beschlossen, schon vor dem Abschluss jener Reformen mit den Vorarbeiten für eine umfassende Reform des Strafverfahrensrechts zu beginnen.2008 Ein Ergebnis dieser Vorarbeiten stellte das Gesetz zur Änderung der Strafprozessordnung und des Gerichtsverfassungsgesetzes (StPÄG) vom 19. Dezember 1964 (Strafprozessänderungsgesetz) dar.2009 Die bis dahin umfassendste Novelle des Strafverfahrensrechts, die in Abgrenzung zu einer großen Justizreform auch als die „kleine Strafprozessreform“ bezeichnet wird,2010 befasste sich allerdings nur mit den dringendsten Reformfragen des Strafprozessrechts, die nach der Auffassung des Gesetzgebers keinen weiteren Aufschub duldeten.2011 Alle weiteren Fragen, darunter auch die Frage nach einer Rechtsmittelreform in Strafsachen, sollten weiterhin einer großen Justizreform vorbehalten bleiben.2012 So forderte der Bundestag die Bundesregierung noch bei der Verabschiedung des Strafprozessänderungsgesetzes am 24. Juni 1964 auf, eine Große Strafverfahrenskommission nach dem Vorbild der Großen Strafrechtskommission einzusetzen, die eine umfassende Reform des Strafverfahrensrechts vorbereiten sollte.2013 Die schlechten Erfahrungen, die mit dem Versuch einer umfassenden Reform des materiellen Strafrechts gemacht worden waren, bewegte die Bundesregierung allerdings dazu, von einem Vorhaben dieser Größenordnung abzusehen.2014 Nach der Vorstellung der Bundesregierung sollte vielmehr anstelle einer Gesamtreform, mit der die Strafprozessordnung und das Gerichtsverfassungsgesetz vollständig neukodifiziert werden sollte, eine „Gesamtreform durch Teilgesetze“ treten.2015 So folgte dem Strafprozessänderungsgesetz bis zum Ende der 1980er-Jahre eine „Epoche der ,Strafprozessreform‘ in Raten“, in der versucht wurde, das deutsche Strafprozess-
2006
BT-Drs. 4/650. Weigend, Leipziger Kommentar, Einl., Rn. 34 ff. Letztendlich beschränkte sich die Reform des materiellen Rechts auf eine Neufassung des Allgemeinen Teiles des Strafgesetzbuches zwischen 1970 und 1975, vgl. Rieß, in: Beiträge zur Entwicklung der deutschen Strafprozessordnung, S. 229 f. 2008 Rieß, in: Beiträge zur Entwicklung der deutschen Strafprozessordnung, S. 229. 2009 BGBl. I 1964/63, 1067. 2010 So auch die Begründung zum Entwurf des 1. StVRG, BT-Drs. 7/551, S. 32; Rieß, in: Beiträge zur Entwicklung der deutschen Strafprozessordnung, S. 229. 2011 Vgl. die Begründung zum Entwurf des StPÄG, BT-Drs. 4/178, S. 15. 2012 Begründung zum Entwurf des StPÄG, BT-Drs. 4/178, S. 15. 2013 Vgl. Verhandlungen des Deutschen Bundestages, Stenografische Berichte, 4. Wahlperiode, 132. Sitzung, S. 6479 sowie die Anlage 12 (Umdruck 229), a. a. O., S. 6506. 2014 Rieß, in: Beiträge zur Entwicklung der deutschen Strafprozessordnung, S. 231. 2015 So Rieß, in: Beiträge zur Entwicklung der deutschen Strafprozessordnung, S. 231. 2007
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4. Kap.: Gesetzgeberische Versuche der Erweiterung des Rechtsschutzes
recht durch eine umfangreiche Novellengesetzgebung möglichst umfassend zu erneuern.2016
III. Amtliche Entwürfe zur Rechtsmittelreform in Strafsachen In dieser Epoche der „Strafprozessreform in Raten“ wurden zwei amtliche Vorentwürfe vorgelegt, die sich auch mit der Frage der Rechtsmittelreform in Strafsachen befassten. Zum einen der Referenten-Entwurf eines Gesetzes zur Neugliederung der ordentlichen Gerichtsbarkeit (Erstes Justizreformgesetz) von Dezember 1971 und zum anderen der Diskussionsentwurf für ein Gesetz über die Rechtsmittel in Strafsachen (DE-Rechtsmittelgesetz) von Dezember 1975. Daneben wurden auch von wissenschaftlichen Arbeitskreisen und Berufsverbänden – wie etwa der Bundesrechtsanwaltskammer oder dem Deutschen Richterbund2017 – zahlreiche Entwürfe und Reformvorschläge vorgelegt, die jedoch im Folgenden unberücksichtigt bleiben müssen.2018 Die nachfolgenden Ausführungen beschränken sich vielmehr auf die beiden amtlichen Entwürfe, die vor allem deshalb aus den übrigen Entwürfen hervorstechen, weil sie im Auftrag der Justizministerkonferenz im Bundesjustizministerium erarbeitet worden waren.2019 1. Referenten-Entwurf eines Gesetzes zur Neugliederung der ordentlichen Gerichtsbarkeit (Erstes Justizreformgesetz) von Dezember 1971 Vorrangiges Ziel des Referenten-Entwurfs von Dezember 1971 war es, die ordentliche Gerichtsbarkeit, wie schon die Verwaltungs-, Arbeits- und Sozialgerichtsbarkeit, drei- statt viergliedrig zu organisieren. Dieses Ziel war von der Bundesregierung bereits in einer Regierungserklärung vom 28. Oktober 1969 ausgegeben worden, in der es hieß: „Zunächst wollen wir unsere zersplitterte Rechtspflege für den rechtsuchenden Bürger durchschaubarer machen. […] Die ordentliche Gerichtsbarkeit soll dreistufig gegliedert werden. Dem Bürger soll außerdem nicht nur ein gutes, sondern auch ein schnelleres Gerichtsverfahren zu Verfügung gestellt werden.“ 2016
So Kühne, in: Löwe/Rosenberg, Einl. F, Rn. 90. Ausführlich zu diesen beiden Entwürfen vgl. Kintzi, in: FS Rieß, S. 228 ff.; Franke, in: Löwe/Rosenberg, vor § 333 Rn. 17; diese im Wesentlichen zusammenfassend Rieß, in: Verhandlungen des 52. DJT, S. L 11. 2018 Für einen umfassenden, aber konzisen Überblick über die nichtamtlichen Reformvorschläge zum Rechtsmittelrecht vgl. nur Fezer, Reform der Rechtsmittel, S. 55 ff., aber auch Fezer, Möglichkeiten einer Reform, passim. 2019 So auch Peters, Gutachten C zum 52. DJT, S. C 7, bezogen auf den Entwurf 1975; nichts anderes kann aber für den Entwurf 1971 gelten. 2017
C. Versuche einer Rechtsmittelreform in der Bundesrepublik Deutschland
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Auch die Landesjustizminister bestätigten im Rahmen einer außerordentlichen Justizministerkonferenz vom 4. und 5. Mai 1970, „daß der dreigliedrige Aufbau der ordentlichen Gerichtsbarkeit die geeignete Grundlage für eine Reform der Rechtspflege sei“2020. Daraufhin wurden Arbeitsgruppen der Justizverwaltungen des Bundes und der Länder für die Zivil- und die Strafgerichtsbarkeit gegründet, deren Beratungen letztendlich in dem Referenten-Entwurf 1971 mündeten.2021 Dabei stellte die Begründung zu dem Entwurf in jeder Hinsicht zutreffend fest, dass die Strafprozessordnung einer Zeit entstammt, in der die Garantien des Grundgesetzes noch nicht galten, und sie somit nicht auf die Bedürfnisse der nachkonstitutionellen Zeit zugeschnitten ist. Wörtlich heißt es in der Begründung des Referenten-Entwurfs hierzu: „Das Instrumentarium, das ihr [gemeint ist: der Justiz – Anm. d. Verf.] der Gesetzgeber des ausgehenden 19. Jahrhunderts zur Verfügung gestellt hat, und die den damaligen justizpolitischen Bedürfnissen angepassten Formen reichen nicht aus, um den Rechtsschutz zu gewährleisten, den das Grundgesetz dem Bürger garantiert.“2022
Eine Verbesserung des Rechtsschutzes erhoffte der Referenten-Entwurf daher vor allem durch grundlegende Reformen der Verfassung der ordentlichen Gerichtsbarkeit zu erreichen. So sah der Entwurf vor, dass die Amtsgerichte aufgelöst, die Zahl der Landgerichte dafür aber vervierfacht und die der Oberlandesgerichte verdoppelt werden, wobei ausschließlich noch die Landgerichte als Eingangsinstanz fungieren sollten.2023 Für die Verhandlung und Entscheidung erstinstanzlicher Strafsachen sollten dabei an den Landgerichten (!) drei unterschiedliche Spruchkörper gebildet werden.2024 So sollte für die einfachsten Strafsachen an den Landgerichten der Strafrichter als Einzelrichter zuständig sein,2025 während für mittelschwere Sachen mit einem Richter und zwei Schöffen besetzte Schöffengerichte – ebenfalls aber am Landgericht – gebildet werden sollten.2026 Für die Verhandlung und Entscheidung schwerster Strafsachen hingegen sollten ausschließlich noch Strafkammern zu-
2020
Zitiert nach der Begründung, Referenten-Entwurf 1971, S. 16. Begründung, Referenten-Entwurf 1971, S. 16. 2022 Begründung, Referenten-Entwurf 1971, S. 16. 2023 § 1 Entwurf 1971; die Zahl der Landgerichte sollte von damals 93 auf etwa 320 bis 360 und die der damaligen Oberlandesgerichte von damals 19 Oberlandesgerichte auf etwa 30 bis 35 erhöht werden, siehe Begründung, Referenten-Entwurf 1971, S. 20. 2024 § 13 Entwurf 1971. 2025 § 14 Entwurf 1971; der Strafrichter war demnach für Vergehen zuständig, die im Wege der Privatklage verfolgt wurden oder mit keiner höheren Strafe als einem Jahr Freiheitsstrafe bedroht waren bzw. für die im Einzelfall keine höhere Strafe als ein Jahr Freiheitsstrafe erwartet wurden. 2026 §§ 15 ff. Entwurf 1971; das Schöffengericht war danach für Vergehen und Verbrechen zuständig, wenn eine Freiheitsstrafe zwischen einem und drei Jahren erwartet wurde und die Tat nicht mit einer Mindeststrafe von zwei Jahren Freiheitsstrafe oder höher bedroht war. 2021
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4. Kap.: Gesetzgeberische Versuche der Erweiterung des Rechtsschutzes
ständig sein,2027 die jedoch mit drei Richtern und vier Schöffen zu besetzen gewesen wären.2028 Hierbei ging der Referenten-Entwurf von einem Rechtsmittelsystem in Strafsachen aus, das gegen alle erstinstanzlichen Urteile in Strafsachen die Berufung zu den Oberlandesgerichten zuließ – allerdings sollte die endgültige Beantwortung der Rechtsmittelfrage durch eine gemeinsame Arbeitsgruppe der Landesjustizverwaltungen und des Bundesjustizministeriums erfolgen.2029 Der Entwurf 1971 jedoch ging davon aus, dass selbst gegen erstinstanzliche Urteile der Oberlandesgerichte in Staatsschutz-Strafsachen eine Berufung zum Bundesgerichtshof zulässig sein würde.2030 Die Revision hingegen sollte nach dem Entwurf ausschließlich gegen Berufungsurteile der Oberlandesgerichte zulässig sein, wobei der Bundesgerichthof wie schon in den Zivilsachen die einzige Revisionsinstanz bilden sollte.2031 Der Entwurf ging nämlich zutreffenderweise davon aus, dass der „Bundesgerichtshof […] in erster Linie für die Einheit und Fortbildung des Rechts verantwortlich sein“ würde und diese Aufgabe, da nunmehr auch die amtsgerichtlichen Strafsachen zu seiner Entscheidung gelangen würden, „in noch weiterem Umfang als heute erfüllen können“ würde.2032 Damit glaubte der Entwurf, allen Verfahrensbeteiligten einen ausreichenden Rechtsschutz bieten zu können, ohne ihren Anspruch auf eine gerechte und der materiellen Wahrheit entsprechende Entscheidung zu gefährden.2033 Bemerkenswert und richtig war dabei die Entscheidung des Entwurfs, die Berufung nicht mehr als eine vollständige Wiederholung des erstinstanzlichen Verfahrens auszugestalten, sondern durch eine „beschränkte Berufung“ zu ersetzen, die dem höheren Richter statt einer Wiederholung der Hauptverhandlung eine „inhaltliche Auseinandersetzung mit dem angefochtenen Urteil in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht“ ermöglichen würde.2034 Die Berufungsinstanz sollte damit von einer „zweiten ersten Instanz“, wie sie von der Reichsstrafprozessordnung ausgestaltet worden war, erneut zu einer echten „Nachprüfungsinstanz“ umgewandelt 2027 § 17 Entwurf 1971; die Strafkammer entschied nach dem Entwurf bei Vergehen und Verbrechen, wenn eine Freiheitsstrafe über drei Jahren erwartet wurde; Verbrechen fielen darüber hinaus auch dann in ihre Zuständigkeit, wenn sie mit einer Mindeststrafe von zwei Jahren Freiheitsstrafe oder höher bedroht waren. Zudem war die Strafkammer auch dann zuständig, wenn die Sache besonders umfangreich war. 2028 § 18 Abs.1 Entwurf 1971. 2029 § 30 Nr. 1 Entwurf 1971. 2030 § 35 Abs. 1 Entwurf 1971. Dies wäre jedoch in den Fällen, in denen die Oberlandesgerichte nicht bloß im Wege der Organleihe eine Gerichtsbarkeit des Bundes ausüben, sondern eine originäre Landesgerichtsbarkeit wahrnehmen, insofern problematisch geworden, als durch die Berufung die letztendliche Sachentscheidungskompetenz auf ein Bundesgericht übertragen worden wäre, ohne dass eine entsprechende Ermächtigungsgrundlage im Grundgesetz vorhanden wäre, vgl. hierzu ausführlich Andoor, RW 2015, 403, 418 ff. 2031 §§ 35 Abs. 1, 37 Abs. 2 Entwurf 1971. 2032 Vgl. Begründung, Referenten-Entwurf 1971, S. 20. 2033 Begründung, Referenten-Entwurf 1971, S. 34. 2034 Begründung, Referenten-Entwurf 1971, S. 35.
C. Versuche einer Rechtsmittelreform in der Bundesrepublik Deutschland
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werden, wie sie bereits manche partikularen Rechtsordnungen im frühen 19. Jh. in Form der Appellationsinstanz kannten.2035 Damit hatte der Referenten-Entwurf schon 1971 für die Berufung in Strafsachen eine besonders sinnvolle Reform im Blick, wie sie drei Jahrzehnte später durch das Gesetz zur Reform des Zivilprozesses vom 27. Juli 20012036 ausschließlich für die Zivil- und die Arbeitsgerichtsbarkeit realisiert worden ist. Doch obwohl der Referenten-Entwurf sich damit vieler Reformforderungen anzunehmen schien, mit denen sich die Gesetzgebungspraxis und die Rechtswissenschaft schon zu dem Zeitpunkt seit nahezu einem Jahrhundert befassten, zeigte sich im Februar und Mai 1972, dass der Entwurf nicht die Zustimmung der Landesjustizministerien finden würde, weshalb die Bundesregierung letztlich darauf verzichtete, den Referenten-Entwurf als Regierungsentwurf2037 vorzulegen.2038 Diesbezüglich kann an dieser Stelle nur gemutmaßt werden, dass es auch in der Bundesrepublik Deutschland haushaltspolitische Erwägungen waren, welche die Länder davon abhielten, sich für eine generelle Einführung der Berufung in Strafsachen auszusprechen. 2. Diskussionsentwurf für ein Gesetz über die Rechtsmittel in Strafsachen (DE-Rechtsmittelgesetz) vom Dezember 1975 Nachdem die Landesministerien im Februar 1972 den Referenten-Entwurf 1971 im Grunde abgelehnt hatten, hatte die Justizministerkonferenz etwa zur gleichen Zeit einen Beschluss gefasst, wonach zumindest die Rechtsmittel in Strafsachen reformiert werden sollten; dort hieß es: „Das derzeitige Rechtsmittelsystem in Strafsachen ist unbefriedigend, da für die Fälle leichter und mittlerer Kriminalität zwei Tatsacheninstanzen zur Verfügung stehen, während im Bereich der Schwerkriminalität eine Überprüfung der tatsächlichen Feststellungen nicht stattfindet. Es wird die Aufgabe einer Neugestaltung des Rechtsmittels in Strafsachen sein, ein im Interesse der Durchschaubarkeit der Rechtspflege möglichst einheitliches Rechtsmittel zu entwickeln. Dieses Rechtsmittel soll die Mängel der bisherigen Rechtsmittel ,Berufung‘ und
2035
Vgl. S. 88 ff. BGBl. I 2001/40, 1887. 2037 Als Referenten-Entwurf wird der in einem Ministerium – meist auf Referatsebene (Bundesministerien sind in der Regel in Abteilungen, Unterabteilungen und Referate untergliedert) – ausgearbeiteter Entwurf bezeichnet; ein Regierungsentwurf dagegen ist der Gesetzesentwurf, der bereits durch die (Bundes-)Regierung beschlossen und an das Parlament weitergeleitet wurde. 2038 Ausführlich hierzu vgl. Rieß, in: FS Paeffgen, S. 762 ff., mit weiterführenden Nachweisen. 2036
400
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,Revision‘ vermeiden und durch eine sachbezogene Überprüfung des Urteils in rechtlicher und tatsächlicher Hinsicht einen optimalen Rechtsschutz bieten.“2039
Mit dem Beschluss hatte die Justizministerkonferenz einen völlig neuen Weg in der Reformdebatte betreten. Denn der umfassende Rechtsschutz in Strafsachen sollte nunmehr weder – wie es über Jahrzehnte hinweg gefordert und im Entwurf 1971 noch vorgesehen war – durch die Einführung der Berufung gegen erstinstanzliche Urteile der Landgerichte noch durch eine simple Erweiterung der Revision – wie sie etwa in dem Entwurf 1939 noch vorgesehen war – verwirklicht werden. Stattdessen sollte die bekannte Dichotomie der Rechtsmittel gegen verfahrensabschließende Urteile, nämlich ihre Teilung in „Berufung“ und „Revision“, zugunsten eines neuen einheitlichen Rechtsmittels aufgegeben werden, das die Schwächen der beiden alten Rechtsmittel vermeiden sollte. a) Die Urteilsrüge nach dem Diskussionsentwurf 1975 In Umsetzung des Justizministerkonferenz-Beschlusses legte eine von Bund und Ländern gemeinsam eingerichtete Arbeitsgruppe zur Strafverfahrensreform im Dezember 1975 den Diskussionsentwurf für ein Gesetz über die Rechtsmittel in Strafsachen (DE-Rechtsmittelgesetz) vor.2040 Erwartungsgemäß wich das von dem Diskussionsentwurf vorgeschlagene Rechtsmittelrecht deutlich von dem ab, was noch dem Referenten-Entwurf 1971 zugrunde gelegt worden war. So schlug die Arbeitsgruppe unter Beseitigung der Berufung und der Revision ein als Urteilsrüge2041 bezeichnetes Einheitsrechtsmittel gegen alle Urteile der Strafgerichte vor,2042 die grundsätzlich der Revision nachempfunden war.2043 Während mit der Revision jedoch bis heute ausschließlich gerügt werden kann, dass das Urteil auf einer Verletzung des Gesetzes beruhe, ging die Urteilsrüge deutlich darüber hinaus. § 314 StPO in der Fassung des Diskussionsentwurfs bestimmte nämlich: „(1) Die Urteilsrüge kann darauf gestützt werden, daß das Urteil auf einer Verletzung des Gesetzes beruhe. Das Gesetz ist verletzt, wenn eine Rechtsnorm nicht oder nicht richtig angewendet worden ist. (2) Die Urteilsrüge kann auch darauf gestützt werden, daß gegen die Richtigkeit erheblicher Feststellungen oder gegen die Auswahl und Zumessung der Rechtsfolgen schwerwiegende Bedenken bestünden. Auf Bedenken gegen die richterliche Überzeugungsbildung kann die Urteilsrüge gestützt werden, soweit nicht Erkenntnisse betroffen sind, die nur dem Tatrichter 2039 2040
S. 25 f.
Zit. n. der Allgemeinen Begründung, Teil A, Diskussionsentwurf 1975, S. 25 f. Vgl. hierzu ausführlich die Allgemeine Begründung zum Diskussionsentwurf 1975,
2041 Eine Bezeichnung, die bereits von dem Entwurf 1939 verwendet worden war, vgl. S. 388 ff. 2042 § 312 StPO i. d. F. des Entwurfs 1975. 2043 So auch Rieß, in: FS Paeffgen, S. 767.
C. Versuche einer Rechtsmittelreform in der Bundesrepublik Deutschland
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offenstehen [Hervorh. d. Verf.]. Mit neuen Tatsachen und Beweismitteln, die in dem Verfahren des ersten Rechtszuges nicht zu berücksichtigen waren, können die Bedenken nicht begründet werden.“
Somit konnte der Beschwerdeführer die Urteilsrüge auch auf Bedenken gegen die Richtigkeit erheblicher Tatsachenfeststellungen oder gegen die Strafzumessung stützen, sofern diese schwerwiegend waren; im beschränkten Maße konnte die Urteilsrüge zudem auch auf Bedenken gegen die tatrichterliche Beweiswürdigung gestützt werden. Der Sache nach war die Urteilsrüge mithin eine um eine Tatsachen-, Rechtsfolgen- und Beweiswürdigungsrüge erweiterte Revision. Die Ähnlichkeit der Urteilsrüge zu der Nichtigkeitsbeschwerde in der Fassung von August 1942 ist dabei unverkennbar.2044 Dabei hatte sich der Diskussionsentwurf, indem er dem Urteilsrügegericht den Zugriff auf die Sachverhaltsfeststellungen und die Beweiswürdigung des Tatrichters eröffnete, nach nahezu einem Jahrhundert eines gravierenden Fehlers angenommen, der dem Gesetzgeber 1877 unterlaufen war. Der historische Gesetzgeber war nämlich, wie bereits anderenorts ausführlich dargelegt, irrtümlich davon ausgegangen, dass die freien Beweiswürdigung einer Nachprüfung der tatrichterlichen Sachverhaltsfeststellungen und der ihr zugrunde liegenden Beweiswürdigung durch eine höhere Instanz entgegenstünde.2045 Ein gefährlicher Schritt, da die tatrichterliche Beweiswürdigung in Strafsachen zwischenzeitlich von allen sie beschränkenden – und folglich auch rechtsschützenden – Momenten (wie etwa der Beschränkung durch gesetzliche Beweisregeln oder der Übertragung der Schuldfrage an Geschworene) freigestellt worden war.2046 Nach nahezu 100 Jahren stellte der Entwurf 1975 nunmehr klar, dass sowohl die Feststellungen als auch die Beweiswürdigung grundsätzlich einer echten höherinstanzlichen Nachprüfung zugänglich sind und man hierbei auch nicht auf eine Wiederholung des erstinstanzlichen Verfahrens – also auf eine Berufung im Sinne der Strafprozessordnung – angewiesen war. Da eine Prüfung der Feststellungen und der Beweiswürdigung des Tatrichters auf ihre inhaltliche Richtigkeit voraussetzte, dass dieser zwingend angab, aus welchen Gründen er zu jenen Feststellungen gelangt war (sog. subjektive Beweisgründe),2047 enthielt § 267 StPO in der Fassung des Entwurfs von 1975 eine umfassende Urteilsbegründungspflicht des Tatrichters, die endlich auch eine Pflicht zur Begründung der Tatsachenfeststellungen vorsah: „(1) Wird der Angeklagte verurteilt, so enthält die Urteilsbegründung die erwiesenen Tatsachen, in denen die gesetzlichen Merkmale der Straftat gefunden werden. Auf Schriftstücke und Abbildungen kann hierbei hinsichtlich der Einzelheiten Bezug genommen werden, sofern sie sich bei den Akten befinden. 2044 2045 2046 2047
Vgl. S. 271. Vgl. hierzu bereits S. 172 ff. Vgl. S. 174 f. Vgl. S. 172 ff.
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4. Kap.: Gesetzgeberische Versuche der Erweiterung des Rechtsschutzes
(2) Die Begründung gibt die Erwägungen an, die für die Auswahl und Zustimmung der Rechtsfolgen bestimmend gewesen sind, und bezeichnet die hierbei zugrunde gelegten Tatsachen. (3) Die Begründung gibt an, welche Gründe für die Feststellung der in Absatz 1 und 2 bezeichneten Tatsachen maßgebend gewesen sind [Hervorh. d. Verf.]. (4) Die Begründung bezeichnet die angewendeten Vorschriften; hierbei kann auf die Angaben nach § 260 Abs. 5 Bezug genommen werden.“
Vergleichbare Anforderungen sah der Entwurf in einem neuen § 267a StPO auch für die Begründung freisprechender Urteile vor.2048 Des Weiteren gestattete der Diskussionsentwurf dem Urteilsrügegericht – wie bereits der Entwurf 1939 – die Durchführung einer eigenen Beweisaufnahme, um sich selbst in die Lage zu versetzen, überprüfen zu können, ob die gerügten Feststellungen tatsächlich mangelhaft waren. So hieß es in § 330 Abs. 1 StPO des Entwurfs: „Zur Überprüfung und Ergänzung von einzelnen Feststellungen, die schwerwiegenden Bedenken unterliegen, lückenhaft oder widersprüchlich sind oder auf Verfahrensfehlern beruhen, erhebt das Gericht Beweise, wenn ihm hierdurch eine abschließende Entscheidung ermöglicht und das Verfahren beschleunigt werden kann. [Hervorh. d. Verf.]“
Durch diese Vorschrift, die im geltenden Revisionsrecht ohne Vorbild ist, sollte das Urteilsrügegericht in die Lage versetzt werden, auch in jenen Fällen eine eigene Sachentscheidung zu treffen, in denen nach dem geltenden Recht mangels einzelner Feststellungen bloß eine Zurückverweisung an die Vorinstanz in Betracht käme.2049 Allerdings sollte es dem Urteilsrügegericht nach dem ausdrücklichen Wortlaut der Vorschrift lediglich gestattet sein, einzelne Feststellungen zu treffen; dies auch nur dann, wenn das Gericht hierdurch nach einer eigenen Prognoseentscheidung in die Lage versetzt würde, eine abschließende Entscheidung zu treffen und hierdurch das Verfahren beschleunigt werden konnte.2050 Durch diese Einschränkungen sollte sichergestellt werden, dass die Urteilsrügeinstanz nicht zu einer verkappten Berufungsinstanz verkam. Letztendlich sollte die Urteilsrüge als Einheitsrechtsmittel eine vollumfängliche, aber auch effiziente Nachprüfung aller Strafurteile sicherstellen und damit sowohl Mängel der Berufung als auch der Revision vermeiden. So schloss die Urteilsrüge anders als die Berufung die ineffiziente Wiederholung der Hauptverhandlung aus, die 2048 § 267a StPO i. d. F. des Entwurfs 1975 lautete: „(1) Wird der Angeklagte freigesprochen oder wird das Verfahren eingestellt, so gibt die Urteilsbegründung an, welche Gründe hierfür maßgebend waren. (2) Ist der Angeklagte nicht überführt, so gibt die Begründung an, welche Feststellungen getroffen sind; § 267 Abs. 3 gilt entsprechend. (3) Hält das Gericht eine Tat für erwiesen, aber nicht für strafbar, so ist § 267 Abs. 1 und 3 sinngemäß anzuwenden.“ 2049 Einzelbegründung zum Diskussionsentwurf 1975, S. 96. 2050 Vgl. auch Einzelbegründung zum Diskussionsentwurf 1975, S. 96.
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weder dem Rechtsmittelgericht eine echte Nachprüfung des vorinstanzlichen Urteils ermöglichte, noch geeignet war, eine disziplinierende Wirkung auf den ersten Richter zu entfalten, da das Berufungsrecht in Strafsachen eine Zurückverweisung der Sache an die Vorinstanz nicht kennt.2051 Zugleich ermöglichte die Urteilsrüge, die wenig volkstümlichen Beschränkungen der Revision zu überwinden, und gestattete dem Urteilsrügegericht einen umfassenden Zugriff auf die Feststellungen und die Beweiswürdigung des Tatrichters.2052 Damit hatte die Bund-Länder-Arbeitsgruppe „Strafverfahrensreform“ ein modernes Rechtsmittel entwickelt, das nicht mehr durch die historischen Beschränkungen der Appellation und der Nichtigkeitsbeschwerde geprägt war – gerade die Urteilsrüge wäre damit wohl tatsächlich in der Lage gewesen, im Strafverfahren ein deutlich höheres Rechtsschutzniveau als heute zu gewährleisten. b) Die Gerichtsverfassung und das gerichtliche Verfahren nach dem Entwurf 1975 aa) Das vereinfachte Verfahren vor dem Strafrichter zur Entlastung der Rechtsmittelgerichte Der Diskussionsentwurf 1975 beschränkte sich dabei nicht nur auf eine Reform der Rechtsmittel. Um eine Überbürdung der Rechtsmittelgerichte zu verhindern, sah er für die einfachen Strafsachen, die in erster Instanz vor dem Strafrichter verhandelt wurden, auch ein deutlich vereinfachtes Verfahren vor. Hierzu sollte die Strafprozessordnung um ein weiteres Buch mit dem Titel „2a. Buch. Verfahren vor dem Strafrichter“2053 ergänzt werden, das dem Strafrichter Vorschriften zur Verfügung stellen sollte, um „durch eine volksnahe, verständliche Verhandlungsweise [zu] versuchen, einen hohen Befriedigungseffekt zu erreichen“.2054 Diese neuen Vorschriften sahen vor, dass der Strafrichter nicht mehr durch Urteil, sondern entweder ohne eine mündliche Verhandlung durch einen Strafbefehl (Strafbefehlsverfahren) oder nach der Durchführung einer mündlichen Hauptverhandlung durch einen Bescheid entscheiden sollte (Strafbescheidverfahren).2055 Während es sich bei dem Strafbefehlsverfahren im Wesentlichen um dasselbe Verfahren handelte, das sich bis heute in der Strafprozessordnung wiederfindet,2056 stellte das Strafbescheidverfahren einen völlig neuen Verhandlungstypus dar. Es sollte für diejenigen Strafsachen, die zwar einfach gelagert waren, aber zur vollständigen Aufklärung des entschei2051
Allgemeine Begründung zum Diskussionsentwurf 1975, S. 27, 31. Allgemeine Begründung zum Diskussionsentwurf 1975, S. 27. 2053 Art. I Nr. 38 Diskussionsentwurf 1975. 2054 Allgemeine Begründung zum Diskussionsentwurf 1975, S. 35. 2055 § 288 Abs. 1 StPO i. d. F. des Entwurfs 1975. 2056 §§ 407 ff. StPO; lediglich die Möglichkeit, im Wege des Strafbefehls auch auf Freiheitsstrafen zu erkennen, war dem Entwurf 1975 noch unbekannt, § 295k Abs. 2 StPO i. d. F. des Entwurfs 1975. 2052
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dungsrelevanten Sachverhalts dennoch eine mündliche Verhandlung voraussetzten, ein summarisches Verfahren zur Verfügung stellen. Hierbei handelte es sich um einen durchaus sinnvollen Reformvorschlag, da bis heute nicht ohne Weiteres einzusehen ist, warum für die vergleichsweise einfachen Strafrichtersachen generell dieselben komplexen Verfahrensvorschriften zur Anwendung gebracht werden müssen wie für ungleich komplexere Schwurgerichts- oder Staatsschutzstrafsachen. Ergänzt wurden die Vorschriften zudem durch die Möglichkeit eines beschleunigten Verfahrens, wie sie auch dem heutigen Strafverfahrensrecht bekannt ist.2057 Zu den zahlreichen Vereinfachungen, die konkret für das Strafbescheidverfahren vorgesehen waren, gehörten dabei etwa der Verzicht auf einen Eröffnungsbeschluss,2058 vereinfachtere Möglichkeiten auch ohne die Anwesenheit des Angeklagten zu verhandeln,2059 die vollständige Freistellung des Tatrichters von der Bindung an Beweisanträge2060 und deutliche Lockerungen von dem Mündlichkeitsprinzip2061. Auch sollte die Hauptverhandlung nur auf Antrag des Angeklagten öffentlich durchgeführt werden;2062 hierdurch sollte die mit einem ordentlichen Strafverfahren verbundene Prangerwirkung vermieden und eine entspanntere Verhandlungsatmosphäre geschaffen werden, in der die einfachen Strafsachen vor allem mit einem verstärkten Blick auf die (positive) Spezialprävention abgeurteilt werden sollten.2063 Mit Blick auf die weitgehende Entformalisierung des Verfahrens vor dem Strafrichter bestimmte der Entwurf zudem, dass der Strafrichter nur noch für Vergehen zuständig sein sollte, bei denen im Einzelfall keine höhere Strafe als ein Jahr Freiheitsstrafe erwartet wurde und die weder umfangreich noch besonders schwierig waren.2064 Der Bescheid mit dem das Strafbescheidverfahren abgeschlossen wurde, unterlag dabei erheblich herabgesetzteren Begründungsanforderungen als ein ordentliches Urteil.2065 Anders als ein Urteil hätte der Bescheid aber auch nicht mit dem neuen Rechtsmittel der Urteilsrüge angefochten werden können, da die Urteilsrüge, wie schon die Berufung und die Revision, ausschließlich gegen Urteile statthaft war. Gegen den Bescheid sah der Entwurf jedoch – ähnlich wie im Falle des Strafbefehls –
2057
§§ 295d ff. StPO i. d. F. des Entwurfs 1975; zu dem beschleunigten Verfahren nach dem geltenden Recht vgl. §§ 417 ff. StPO. 2058 § 290 StPO i. d. F. des Entwurfs 1975. 2059 § 293 StPO i. d. F. des Entwurfs 1975. 2060 § 295 Abs. 1 StPO i. d. F. des Entwurfs 1975. 2061 § 295 Abs. 2 und 3 StPO i. d. F. des Entwurfs 1975. 2062 § 170a GVG i. d. F. des Entwurfs 1975; eine ähnliche Regelung findet sich in der Wehrdisziplinarordnung für das einem Strafverfahren nicht unähnliche Disziplinarverfahren, vgl. § 105 WDO. 2063 Einzelbegründung zum Diskussionsentwurf 1975, S. 121 f. 2064 § 24 Abs. 1 GVG i. d. F. des Entwurfs 1975. 2065 § 295b Abs. 3 StPO i. d. F. des Entwurfs 1975.
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mit dem Einspruch zum Schöffengericht einen besonderen Rechtsbehelf vor.2066 Sofern ein Einspruch erhoben wurde, hatte das Schöffengericht die Sache in einer Besetzung von einem Richter und zwei Schöffen neu zu verhandeln, wobei für die Verhandlung vor dem Schöffengericht die Vorschriften für das ordentliche Strafverfahren heranzuziehen waren.2067 Das Schöffengericht stellte nach dem Verständnis des Entwurfs dabei keine zweite Tatsacheninstanz, sondern eine weitere Stufe einer zweistufig ausgestalteten ersten Instanz dar. Demnach bestand die erste Instanz in Bagatellsachen aus einem summarischen Verfahren vor dem Strafrichter und, sofern gegen die Entscheidung des Strafrichters Einspruch eingelegt worden war, einem ordentlichen Verfahren vor dem Schöffengericht. Dem Verfahren vor dem Strafrichter sollte dabei eine rechtsbefriedende Filterfunktion für die „unstreitigen“ einfachen Strafsachen zukommen, wodurch die Schöffengerichte als die eigentliche ordentliche Instanz und die Oberlandesgerichte als Urteilsrügeinstanz für Urteile der Schöffengerichte entlastet werden sollten.2068 bb) Die sachlichen Zuständigkeiten der Strafgerichte nach dem Entwurf 1975 Von der Einführung des Strafbescheidverfahrens abgesehen, hielt der Diskussionsentwurf zwar weitestgehend an den Verfahrensvorschriften der Strafprozessordnung fest, die auch noch heute gelten, sah allerdings weitreichende Änderungen der sachlichen Zuständigkeit der Strafgerichte vor. Demnach sollten die mittelschweren Strafsachen, die heute hauptsächlich vor den Schöffengerichten anzuklagen sind, bereits in erster Instanz von den kleinen Strafkammern – die heute ausschließlich Berufungsspruchkörper sind – verhandelt werden, die weiterhin mit einem Richter und zwei Schöffen besetzt bleiben sollten.2069 Hierdurch sollte sichergestellt werden, dass schon die Verhandlungen, die mittelschwere Strafsachen betreffen, durch erfahrene Richter2070 geleitet wurden, denen die vermeintlich besseren sachlichen und organisatorischen Mittel der Landgerichte zur Verfügung standen.2071 Für die Verhandlung und Entscheidung von Strafsachen, bei denen im 2066 § 295e Abs. 1 StPO (im Falle des Strafbefehls i. V. m. § 295k Abs. 3 StPO) i. d. F. des Entwurfs 1975. 2067 Vgl. §§ 28, 29 GVG sowie § 295 h Abs. 4 StPO, jeweils i. d. F. des Entwurfs 1975. 2068 § 121 Abs. 1 Nr. 1 GVG i. d. F. des Entwurfs 1975. 2069 Vgl. § 73 GVG i. d. F. des Entwurfs 1975. Die kleinen Strafkammern waren nach dem Entwurf für diejenigen Strafsachen zuständig, bei denen im Einzelfall eine Strafe zwischen einem und zwei Jahren Freiheitsstrafe erwartet wurden, wobei die Strafgewalt der kleinen Strafkammern ebenfalls auf zwei Jahre Freiheitsstrafe beschränkt sein sollte, § 73 GVG i. V. m. § 24 Abs. 1 GVG jeweils i. d. F. des Entwurfs 1975. 2070 In der Regel also durch Vorsitzende Richter am Landgericht, die der Besoldungsgruppe R 2 angehören. 2071 Allgemeine Begründung zum Diskussionsentwurf 1975, S. 40.
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Einzelfall eine höhere Strafe als zwei Jahre Freiheitsstrafe erwartet wurden, für besonders umfangreiche Sachen sowie für Sachen, die auch bis dahin vor einer großen Strafkammer oder einem Schwurgericht anzuklagen waren, sollten hingegen die großen Strafkammern an den Landgerichten zuständig sein.2072 Die Oberlandesgerichte und der Bundesgerichtshof sollten nach dem Diskussionsentwurf ihre Funktion als oberste Rechtsmittelgerichte in Strafsachen beibehalten. Allerdings sollte der Bundesgerichtshof nur noch über Urteilsrügen entscheiden, wenn diese sich gegen erstinstanzliche Urteile der Oberlandesgerichte, gegen Urteile der Jugendkammern, der Staatsschutzkammern oder der Wirtschaftsstrafkammern richteten oder Urteile der großen Strafkammern zum Gegenstand hatten, die Verbrechen oder freiheitsentziehenden Maßregeln betrafen.2073 In allen übrigen Fällen war die Urteilsrüge den Oberlandesgerichten zugewiesen.2074 Zugleich sah der Entwurf eine – höchst sinnvolle – Ausweitung der Divergenzvorlage2075 auch auf die Fälle der Innendivergenz bei den Oberlandesgerichten vor,2076 sodass ein Strafsenat eines Oberlandesgerichts die Sache auch dann dem Bundesgerichtshof vorzulegen hatte, wenn er von der Entscheidung eines anderen Strafsenats desselben Gerichts abweichen wollte – tatsächlich existiert bis heute für diesen Fall kein Instrument der Divergenzausgleichung, sodass unterschiedliche Strafsenate eines Oberlandesgerichts nach geltendem Recht dauerhaft unterschiedlich entscheiden können. c) Das Scheitern des Diskussionsentwurfs 1975 auf dem 52. Deutschen Juristentag Obwohl der Bund-Länder-Arbeitsgruppe mit dem DE-Rechtsmittelgesetz durchaus ein Entwurf gelungen war, mit dem nicht nur der Rechtsschutz in Strafsachen hätte erheblich verbessert, sondern auch weitere Mängel des deutschen Strafprozess hätten ausgemerzt werden können, fand der Entwurf vor allem bei den Vertretern der juristischen Praxis wenig Anklang.2077 Letztlich wurden die dem Entwurf zugrunde liegenden Reformgedanken von dem 52. Deutschen Juristentag im September 1978 mit einer großen Mehrheit abgelehnt und von dem Bundesjustizministerium ad acta gelegt.2078 Bereits das umfassende Gutachten von Peters zum 52. Deutschen Juristentag, das sich vorrangig mit dem Diskussionsentwurf 1975 2072
Vgl. §§ 73 ff. GVG i. d. F. des Entwurfs 1975. § 135 Abs. 1 GVG i. d. F. des Entwurfs 1975. 2074 § 121 Abs. 1 Nr. 1 GVG i. d. F. des Entwurfs 1975. 2075 Vgl. S. 33. 2076 § 121 Abs. 2 GVG i. d. F. des Entwurfs 1975. 2077 So weist Rieß darauf hin, dass bei den Beratungen auf dem Juristentag, um die es im Folgenden geht, als Hochschullehrer lediglich Naucke, Schünemann und Wagner beteiligt waren, Rieß, in: FS Paeffgen, S. 771 Fn. 84. 2078 Vgl. Kintzi, in: FS Rieß, S. 234; Rieß, in: FS Paeffgen, S. 771; zu den Ergebnissen der Abstimmungen im Einzelnen Rieß, ZRP 1979, 193, 194 f. ff. 2073
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befasste, bewertete den Entwurf überwiegend kritisch.2079 Selbst Rieß, der als Leiter2080 des Referats für Strafverfahrensrecht im Bundesjustizministerium an der Erstellung des Diskussionsentwurfs federführend mitgewirkt hatte, sprach sich auf dem 52. Deutschen Juristentag nicht uneingeschränkt für den Entwurf aus – so hielt er etwa weiter an der Berufung gegen Urteile des Strafrichters fest2081 und sprach sich gegen das Konzept eines Einheitsrechtsmittels in Strafsachen aus.2082 Dahs hingegen argumentierte in einem Beitrag in der Neuen Juristischen Wochenschrift vor allem retrospektiv und legte unter anderem dar, dass alle übrigen Verfahrensordnungen die Berufung ebenfalls kennen würden, weshalb auch im Strafverfahren auf diese nicht verzichtet werden könne, ohne sich allerdings ausgerechnet mit der Frage der fehlenden Berufung in den landgerichtlichen Strafsachen zu befassen.2083 Im Hinblick auf die Urteilsrüge wies er zudem – letztendlich unzutreffenderweise2084 – darauf hin, dass ein derartiges Rechtsmittel in der Rechtsgeschichte kein Vorbild habe.2085 Ebenso sei der Begriff „schwerwiegende Bedenken“, auf dem die Tatsachenrüge gestützt werden sollte, der Strafprozessordnung fremd.2086 Zudem wurde die Möglichkeit einer eigenen Beweisaufnahme durch das Rechtsmittelgericht von Dahs kritisch betrachtet.2087 Ähnliche Bedenken finden sich auch bei Sarstedt2088 und Teyssen2089. In einem jüngeren Beitrag fasste Rieß die Kritik an den Reformideen des Diskussionsentwurfs folgendermaßen zusammen:2090 - Durch die Abschaffung der Berufung verliere man an Möglichkeiten, die amtsgerichtlichen Urteile hinreichend zu kontrollieren. - Das Strafbescheidverfahren mit der Möglichkeit des Einspruchs stelle einen Etikettenschwindel dar, da der Einspruch in der Sache weiterhin eine Berufung darstelle. - Angesichts der bereits richterrechtlich erfolgten Erweiterung der Revision bestünde kein Bedürfnis für eine Tatsachenrüge.
2079
Peters, Gutachten C zum 52. DJT. Nach der Terminologie bis 1981 Referent, nach heutiger Terminologie Referatsleiter (Besoldungsgruppe B 3). 2081 Rieß, in: Verhandlungen des 52. DJT, S. L 12; vgl. auch Rieß, in: FS Paeffgen, S. 771. 2082 Rieß, in: Verhandlungen des 52. DJT, S. L 13. 2083 Dahs, NJW 1978, 1551, 1552. 2084 Vgl. S. 408 f. 2085 Dahs, NJW 1978, 1551, 1552. 2086 Dahs, NJW 1978, 1551, 1552. 2087 Dahs, NJW 1978, 1551, 1552. 2088 Sarstedt, in: Verhandlungen des 52. DJT, S. L 35 ff.; vgl. aber auch Sarstedt, in: FS Dreher, S. 681 ff. 2089 Teyssen, JR 1978, 309 ff. 2090 Rieß, in: FS Paeffgen, S. 770 m. w. N. 2080
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- Mit der Einführung der Möglichkeit, im Rahmen der „Revisionsinstanz“ über einzelne tatsächliche Fragen Beweis zu erheben, werde die Einheitlichkeit der Beweisaufnahme durchbrochen und eine Typenvermischung zwischen Berufung und Revision herbeigeführt. Diese Kritik scheint allerdings jedenfalls zum Teil (!) auf ein eher reflexartiges Festhalten-Wollen an gewohnten Strukturen zurückzuführen zu sein als auf eine fundierte Auseinandersetzung mit dem Rechtsmittelsystem in Strafsachen und den konkreten Vorschlägen des Diskussionsentwurfs. Während etwa die gravierende Einschränkung der Tatsachenrüge im § 314 Abs. 2 StPO des Entwurfs durchaus fragwürdig erscheint, kann gerade die Kritik, dass durch die Urteilsrüge eine Typenvermischung herbeigeführt würde, wenig überzeugen. Die konkrete Ausgestaltung eines Rechtsmittels bleibt schließlich stets eine originär gesetzgeberische Aufgabe – dabei an die Dichotomie zwischen Berufung und Revision mit dem Argument festzuhalten, die Berufung allein diene der Tatsachenkontrolle, während die Revision der Rechtskontrolle diene, weshalb eine Mischung beider Rechtsmittel nicht zulässig sei,2091 erscheint daher wenig überzeugend. Zumal es sich auch bei der Berufung und der Revision um „skizzierte“, also künstlich entworfene, Rechtsmittel handelt, welche an die bereits den Partikularrechten bekannte Trennung zwischen Appellation und Nichtigkeitsbeschwerde anknüpfen. Dass dabei sowohl das Gesetzgebungsverfahren betreffend das Rechtsmittelrecht der Reichsstrafprozessordnung als auch die damit verbundene Wiedereinführung der Appellation in den deutschen Gebieten eher von unübersichtlichen Zuständen geprägt waren, wurde bereits im historischen Teil der vorliegenden Schrift dargelegt und bedarf hier keiner weiteren Ausführung.2092 Im Übrigen ist ein höchstinstanzliches Rechtsmittel, dem auch die tatsächlichen Feststellungen der Vorinstanzen zugänglich war, dem deutschen Strafverfahrensrecht keineswegs so völlig fremd, wie Dahs dies noch annahm, sodass seine Kritik, wonach die Urteilsrüge kein historisches Vorbild habe, letztlich fehlgeht. So fand sich etwa in der württembergischen Strafprozessordnung vom 26. Mai 1868 (!)2093 eine Vorschrift, die frappierende Ähnlichkeiten mit dem § 314 StPO des Diskussionsentwurfs hatte.2094 Art. 486 der württembergischen StPO lautete nämlich: „Ergeben sich dem Cassationshofe aus Anlaß einer bei ihm erhobenen Nichtigkeitsbeschwerde oder eines Antrags auf Wiederaufnahme des Strafverfahrens gewichtige Bedenken gegen die Richtigkeit der Thatsachen, auf deren Annahme ein verurtheilendes Erkenntniß beruht, und werden diese Bedenken durch die Prüfung der Akten und etwa abgeordnete einzelne Erhebungen nicht beseitigt, so verfügt derselbe im außerordentlichen Wege, ohne
2091 2092 2093 2094
Vgl. etwa Lilie, Gutachten D zum 63. DJT, S. D 75 f. Vgl. etwa S. 82 ff., 90 ff.,181 ff., 193 ff., 208 ff. Veröffentlicht im RegBl. (Kgr. Wü.) 1868, 205. Für den vollständigen Wortlaut des § 314 StPO i. d. F. des Entwurfs 1975 vgl. S. 400 f.
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an die im Art. 471[2095] bezeichneten Voraussetzungen gebunden sein, die Wiederaufnahme des Strafverfahren zu Gunsten des Verurtheilten. Hierbei verweist der Cassationshof die Sache vor das frühere Gericht oder vor ein anderes Gericht und findet die Bestimmung des Art. 463[2096] entsprechende Anwendung [Hervorh. d. Verf.]“.
Demnach konnte der württembergische Cassationshof im Rahmen der Nichtigkeitsbeschwerde nicht nur die Rechtsanwendung, sondern eben auch die fehlerfreie Feststellung von Tatsachen durch die Vorinstanz nachprüfen. Hierbei konnte er sogar einzelne (!) Beweise erheben („abgeordnete einzelne Erhebungen“), um seine Bedenken an der „Richtigkeit der Thatsachen“ zu überwinden. Erst wenn auch nach der Würdigung dieser Beweise die Bedenken nicht zerstreut waren, hatte der Cassationshof die Sache zwecks Neuverhandlung an das ursprüngliche Tatgericht oder ein anderes Gericht zurückzuverweisen.2097 Auch soweit in der Einführung des vereinfachten Strafrichterverfahrens und in der Bezeichnung des Rechtsbehelfs gegen den richterlichen Strafbescheid als Einspruch ein „Etikettenschwindel“ erblickt wurde, scheinen viele zeitgenössische Literaten verkannt zu haben, dass das erstinstanzliche Verfahren vor dem Amtsgericht nach dem Diskussionsentwurf ein zweigliedriges sein sollte. Ähnlich wie das Widerspruchsverfahren im Verwaltungsrecht sollte das Strafbescheidverfahren (bzw. das Strafbefehlsverfahren) vor dem Strafrichter als eine Art Vorverfahren dienen, dessen Ergebnisse die Verfahrensbeteiligten grundsätzlich hinnehmen konnten – erst wenn sie mit ihrem Einspruch zum Ausdruck brachten, dass sie mit dem Ergebnis des summarischen Vorverfahrens nicht einverstanden waren, fand ein ordentliches Strafverfahren als Hauptverfahren statt. Somit war es verfehlt, allein das Strafbescheidverfahren als ein eigenständiges vereinfachtes Verfahren für Strafrichtersachen zu begreifen, in dem mit dem Einspruch eine lediglich umetikettierte Berufung fortbestand.2098 Ebenso kann die häufig vorgebrachte Kritik, dass aufgrund der richterrechtlichen Ausweitung der Revision eine gesetzliche Regelung der „erweiterten Revision“ nicht mehr erforderlich sei, aus bereits an anderer Stelle ausführlich dargelegten Gründen 2095
Art. 471 enthielt die Voraussetzungen einer ordentlichen Wiederaufnahme des Verfahrens. 2096 Art. 463 bestimmte lediglich, dass in Schwurgerichtssachen die Geschworenen, die schon beim ursprünglichen Verfahren mitgewirkt hatten, bei einer Zurückverweisung unter Aufhebung des Wahrspruchs der Geschworenen durch den Cassationshof, in dem zu wiederholenden Verfahren nicht erneut teilnehmen durften. 2097 Es soll dennoch nicht ohne Erwähnung bleiben, dass das königlich württembergische Justizministerium in einer Auskunft an die Gesandtschaft des norddeutschen Bundes in Württemberg einräumte, dass der Cassationshof von der ihm durch Art. 486 eingeräumten Befugnis im außerordentlichen Wege eine Wiederaufnahme des Verfahrens zu veranlassen, bis zu dem Jahre 1870 nie Gebrauch gemacht hat, vgl. Anlagen zu den Motiven der StPO, in: Hahn (Hrsg.), Materialien zur StPO, Bd. III/1, S. 330. 2098 So etwa aber Peters, Gutachten C zum 52. DJT, S. C 22; Lilie, Gutachten D zum 63. DJT, S. D 40 f.
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nicht überzeugen – insofern sei darauf verwiesen.2099 Ebenso unzutreffend ist die Annahme, dass mit der Abschaffung der Berufung auch die Nachprüfbarkeit amtsgerichtlicher Urteile abgeschafft worden wäre. Vielmehr wäre im gesamtdeutschen Strafverfahren mit der Urteilsrüge erstmalig die Möglichkeit geschaffen worden, das amtsgerichtliche Verfahren nicht bloß vor einer höheren Instanz zu wiederholen, sondern es auch tatsächlich nachzuprüfen. Vor allem wäre durch das DE-Rechtsmittelgesetz auch die landgerichtlichen Urteile vollumfänglich nachprüfbar geworden. Doch ungeachtet der zahlreichen vielversprechenden Ansätze des Diskussionsentwurfs hatten die ablehnenden Beschlüsse des 52. Deutschen Juristentages zur Folge, dass er von amtlicher Seite nicht mehr weiterverfolgt wurde, sodass infolge dessen das gesamte Vorhaben einer „Rechtsmittelreform“ vorerst kommentarlos aufgegeben worden ist.2100
IV. Jüngere Ansätze einer Rechtsmittelreform Nach der 1975 erfolgten offenen Ablehnung des DE-Rechtsmittelgesetzes durch die Praxis wurde von den Landesjustizministern erst 1994 erneut die Einsetzung einer Bund-Länder-Arbeitsgruppe beschlossen, welche die Möglichkeiten einer dreigliedrigen Ausgestaltung der ordentlichen Gerichtsbarkeit und einer Rechtsmittelreform prüfen sollte; doch aufgrund der Schätzungen der personellen und finanziellen Auswirkungen einer derart umfassenden Reform haben die Länder bereits 1996 entschieden, auch dieses Vorhaben nicht weiterzuverfolgen.2101 Einen weiteren, wenn auch zaghaften Anlauf zur Neuordnung des Rechtsmittelrechts unternahm die rot-grüne Koalition in der 14. Legislaturperiode des Bundestages (1998 – 2002). So heißt es in der Koalitionsvereinbarung vom 20. Oktober 1998: „Die neue Bundesregierung wird eine umfassende Justizreform (3-Stufigkeit, Aufwertung der einheitlichen Eingangsgerichte, Reform der Gerichte und der Instanzen, Vereinfachung und Angleichung der Verfahrensordnungen) durchsetzen“.2102 Im April 2001 erging sogar ein Regierungsbeschluss, wonach die Berufung und die Revision effizienter ausgestaltet werden sollten.2103 Bekanntlich ist es in der Folgezeit dennoch zu keinen tiefgreifenden Veränderungen des Rechtsmittelverfahrens in Strafsachen gekommen. Zwar wurde die Große Strafrechtskommission des Deutschen Richterbundes entsprechend der Koalitionsvereinbarung damit beauftragt, ein Gutachten zu dem Thema „Reform der Rechtsmittel im Strafverfahren“ zu erarbeiten, doch die Ansätze 2099
Vgl. ausführlich zu dieser Frage S. 288 ff. Lilie, Gutachten D zum 63. DJT, S. D 43; Rieß, in: FS Paeffgen, S. 772. 2101 Rieß, in: FS Paeffgen, S. 773. 2102 Vgl. Koalitionsvereinbarung zwischen der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – 14. Legislaturperiode, Überschrift IX. 12. 2103 Vgl. Punkte 10 und 11 im Beschluss der Bundesregierung v. 6. April 2001, abgedruckt in StV 2001, 314 ff. 2100
C. Versuche einer Rechtsmittelreform in der Bundesrepublik Deutschland
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der Großen Strafrechtskommission konnten weder die Praxis noch die Wissenschaft vollends überzeugen und wurden auf dem 63. Deutschen Juristentag abgelehnt.2104 Letztendlich erklärte auch das Bundesministerium der Justiz, eine veränderte Konzeption des Rechtsmittelsystems in Strafsachen nicht mehr weiterverfolgen zu wollen.2105 Im Koalitionsvertrag der schwarz-roten Koalition für die 18. Legislaturperiode (2013 bis 2017) hieß es dann erneut: „Wir wollen das allgemeine Strafverfahren und das Jugendstrafverfahren unter Wahrung rechtsstaatlicher Grundsätze effektiver und praxistauglicher ausgestalten. Dazu wird eine Expertenkommission bis zur Mitte dieser Wahlperiode Vorschläge erarbeiten“.2106 Und tatsächlich wurde im Mai 2014 von dem damaligen Bundesjustizminister Maas eine Expertenkommission einberufen und damit beauftragt, Vorschläge für eine grundlegende, strukturelle Reform des allgemeinen Strafverfahrens vorzulegen, mit dem Ziel, das Verfahren unter Wahrung rechtsstaatlicher Grundsätze und ohne Einschränkung der Rechte der Verfahrensbeteiligten effektiver und praxistauglicher auszugestalten.2107 Dieser Expertenkommission wurden bewusst keine konkreten inhaltlichen Vorgaben gemacht.2108 Im Oktober 2015 schließlich veröffentlichte die Expertenkommission zur effektiveren und praxistauglicheren Ausgestaltung des allgemeinen Strafverfahrens und des jugendgerichtlichen Verfahrens ihren Bericht.2109 Dabei befasste sich die Kommission im Grunde mit lediglich zwei Fragen, die eine bedeutsame Veränderung des geltenden Rechtsmittelrechts in Strafsachen hätten herbeiführen können.2110 So erwog sie zum einen, ob die Annahmeberufung (§ 313 StPO) ausgeweitet und die Sprungrevision im Bereich der Annahmeberufung ausgeschlossen werden sollte, was jedoch mit einer Mehrheit von 20:1 Stimmen abgelehnt wurde.2111 Zum anderen wurde von der Expertenkommission erwogen, ob in amtsgerichtlichen Strafsachen ein Wahlrechtsmittel eingeführt werden sollte, sodass die Urteile der amtsgerichtlichen Spruchkörper nur noch alternativ mit einer Berufung zu den Landgerichten oder mit einer Revision zu den Oberlandesgerichten angefochten hätten werden können. Doch auch diese Erwägung wurde mit einer Mehrheit von 19:2 Stimmen verworfen.2112 Mit der Frage einer umfassenden Rechtsmittelreform oder auch nur der Stärkung des Rechtsschutzes in den landgerichtlichen Strafsachen befasste sich die Kommission erst gar nicht. So überrascht es nicht, dass im Koalitionsvertrag der 2104
Kintzi, in: FS Rieß, S. 235 ff. So Kintzi, in: FS Rieß, S. 241 f. m. w. N. 2106 Vgl. Koalitionsvertrag zwischen CDU, CSU und SPD – 18. Legislaturperiode, S. 102. 2107 BT-Drs. 18/3215, S. 27. 2108 BT-Drs. 18/3215, S. 27. 2109 Bericht der Expertenkommission 2015. 2110 Für eine konzise Zusammenfassung der Ergebnisse der Beratungen der Kommission vgl. Caspari, DRiZ 2015, 386 ff.; kritisch zu den Ergebnissen, Schünemann, StraFo 2016, 45 ff. 2111 Bericht der Expertenkommission 2015, S. 23, 151 f. 2112 Bericht der Expertenkommission 2015, S. 24, 153 f. 2105
412
4. Kap.: Gesetzgeberische Versuche der Erweiterung des Rechtsschutzes
schwarz-roten Koalition für die 19. Legislaturperiode (2018 bis fortdauernd) eine Reform des Rechtsmittelverfahrens überhaupt keine Rolle mehr spielt.2113 Erwähnenswert an dieser Stelle sind gewiss noch die Vorschläge des zweiten Strafkammertags, der 2017 in Würzburg stattfand.2114 Seine Forderungen umfassen durchaus grundlegende Veränderungen der Rechtsmittelrechts. Danach soll künftig auch die Sachrüge ausgeführt, ein Zulassungserfordernis für die Revision gegen Urteile der Strafkammern eingeführt und die Sprungrevision abgeschafft werden. Während auch der Verfasser die Einführung eines Zulassungserfordernisses für strafrechtliche Rechtsmittel und jedenfalls eine Einschränkung der Sprungrevision für durchaus sinnvoll erachtet,2115 muss gerade die Forderung nach der Einführung einer Pflicht zur Begründung der Sachrüge insgesamt kritisch betrachtet werden. In dem Fall ist nämlich wohl davon auszugehen, dass die Revisionsgerichte auch an die Ausführung der Sachrüge ähnlich strenge Anforderungen stellen werden wie an die der Verfahrensrüge. Insoweit stünde zu befürchten, dass künftig ein durchschnittlicher Rechtsanwalt häufig nicht einmal mehr die Sachrüge mit zumutbarem Aufwand den Darstellungserfordernissen der Revisionsgerichte entsprechend ausführen können wird. Freilich gilt bei den Forderungen des Strafkammertages auch zu berücksichtigen, dass es sich hierbei um eine Institution handelt, die durch die Präsidenten der Oberlandesgerichte und des Kammergerichts ins Leben gerufen wurde, um dem Wunsch der Justizverwaltung nach effizienteren Strafverfahren mehr Ausdruck zu verleihen, sodass eine Stärkung der Beschuldigtenrechte hier auch generell eine eher geringere Priorität genossen haben dürfte.2116
D. Zusammenfassung Es zeigt sich also, dass die beschränkten Rechtsschutzmöglichkeiten in Strafkammersachen bereits wenige Jahre nach dem Inkrafttreten der Strafprozessordnung ein Thema von weitreichender parlamentarischer und gesellschaftlicher Bedeutung darstellte. So wurden in den Jahren zwischen 1883 und 1975 zahlreiche Versuche unternommen, dieser Rechtsschutzlücke abzuhelfen. Ursprünglich richteten sich die dahingehenden Bemühungen darauf, die Berufung auch auf die Strafkammersachen auszuweiten; später wurde vor allem versucht, die Revision dergestalt umzuwandeln, dass sie dem Rechtsmittelgericht auch eine tatsächliche Nachprüfung der tatrichterlichen Urteile ermöglichen würde. Insbesondere die frühen Entwürfe aus der Mitte des Reichstages und die Regierungsentwürfe aus dem Kaiserreich sahen dabei die Einführung einer Berufung in 2113
Vgl. Koalitionsvertrag zwischen CDU, CSU und SPD – 19. Legislaturperiode, S. 123. Wiedergegeben bei Sandherr, DRiZ 2017, 338, 340. 2115 Vgl. hierzu Andoor, in: FS Wolf, S. 30 ff. 2116 Vgl. insofern Gercke/Jahn/Pollähne, Reformvorschläge des 2. Strafkammertags zur StPO, auf Legal Tribune Online, Online-Quelle. 2114
D. Zusammenfassung
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den Strafkammersachen vor. Diese scheiterten jedoch oft an banalen Fragen, wie etwa der nach der Besetzung der Strafkammern oder der konkreten Ausgestaltung der Laienbeteiligung in Strafsachen. Die Debatte um die sog. „Wiedereinführung der Berufung in Strafkammersachen“ wurde zwar im November 1897 durch die Verabschiedung einer Militärstrafgerichtsordnung, die gegen alle erstinstanzlichen Strafurteile der Militärstrafgerichte eine Berufung vorsah, etwas verschärft,2117 doch auch in den Folgejahren war es dem Reichstag, der Reichsleitung und dem Bundesrat nicht möglich, einen Konsens zu finden, der eine zwischenzeitlich von allen Seiten ersehnte „Wiedereinführung“ der Berufung in Strafkammersachen ermöglicht hätte.2118 Dabei hatte die Reichsleitung dem Reichstag 1909 sogar einen Entwurf vorgelegt,2119 der nicht nur eine Berufung gegen die Entscheidungen der Strafkammern vorsah, sondern auch eine allseits annehmbare Lösung für die bislang umstrittene Besetzungsfrage sowie eine neukodifizierte und modernere Strafprozessordnung. Auch dieser Vorschlag scheiterte nicht an grundlegenden Zweifeln an der Notwendigkeit einer Berufung in den Strafkammersachen, sondern an der Forderung des Reichstages mit dem Gesetz auch die Laienbeteiligung in Strafsachen auszuweiten. In der Weimarer Republik gingen die Bemühungen, anders als im Kaiserreich, vor allem dahin, alle erstinstanzlichen Strafsachen an den Amtsgerichten zu konzentrieren, deren Urteile grundsätzlich mit der Berufung anfechtbar bleiben sollten. Dieser Ansatz wurde durch die Emminger-Verordnung sogar tatsächlich umgesetzt,2120 sodass für eine kurze Zeit gegen nahezu alle erstinstanzlichen Urteile der Strafgerichte im Deutschen Reich eine Berufung zulässig war. Allerdings wurde gerade in dieser Zeit auch die ersten Sondergerichte errichtet, gegen deren Urteile überhaupt keine Rechtsmittel vorgesehen waren. Zudem zeigte sich alsbald, dass die deutsche Justiz praktisch nicht in der Lage war, die durch die Einführung einer allgemeinen Berufung ausgelöste Mehrbelastung ihrer Ressourcen zu bewältigen. Infolge dessen wurden bis Juni 1932 die erstinstanzlichen Zuständigkeiten der Strafkammern durch Präsidialverordnungen erneut schrittweise wiederhergestellt.2121 Wenig überraschend erfuhr der Rechtsschutz in Strafsachen im nationalsozialistischen Deutschen Reich deutliche Einschränkungen. So wurden hier vor allem weitere Sondergerichte eingerichtet, gegen deren Urteile keine Rechtsmittel zulässig waren; gleiches galt für die Urteile des neu errichteten Volksgerichtshofs.2122 Bemerkenswerterweise jedoch empfanden auch die NS-Machthaber die fehlende Berufung in den Strafkammersachen als hinderlich, da Feststellungen der Strafkam2117 2118 2119 2120 2121 2122
Vgl. S. 352 ff. Vgl. S. 363 ff. Vgl. S. 369 ff. Vgl. S. 382 ff. Vgl. S. 385 f. Vgl. S. 386 ff.
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4. Kap.: Gesetzgeberische Versuche der Erweiterung des Rechtsschutzes
mern damit auch keiner Korrektur im Sinne der NS-Ideologie zugänglich waren. So wurden bereits 1933 mit den Arbeiten an dem Entwurf einer neuen Strafverfahrensordnung begonnen, die ein volksnahes, weniger formalistisches Strafverfahren gewährleisten und vor allem „gerechte“ Entscheidungen im Sinne der NS-Ideologie ermöglichen sollte. Der 1939 fertiggestellte Entwurf setzte dabei im Grunde auf eine erweiterte Revision mit der Bezeichnung Urteilsrüge, die dem Urteilsrügegericht über die schlichte Rechtsprüfung hinaus auch eine Nachprüfung der tatsächlichen Feststellungen der Vorinstanz ermöglicht hätte.2123 Konterkariert wurde dieser in der Theorie positive Ansatz durch die massive „Institutionalisierung“ von Sondergerichten, die in dem Entwurf 1939 vorgesehen war, gegen deren Urteile keine Rechtsmittel zulässig sein sollten. Auch wenn dieser Entwurf nicht Gesetz wurde, markiert er vor allem deshalb einen Wendepunkt in der Debatte um die Stärkung des Rechtsschutzes in den Strafkammersachen, weil er als erster amtlicher Entwurf eine Erweiterung der Revision anstelle einer Ausweitung der Berufung vorgeschlagen hatte, um alle Urteile einer vollumfassenden höherinstanzlichen Nachprüfung zuzuführen. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurden die Irrungen des nationalsozialistischen Reiches durch alliierte Anordnungen weitestgehend beseitigt und das Strafverfahrensrecht in der Bundesrepublik Deutschland durch das sog. Vereinheitlichungsgesetz von 1950 im Wesentlichen wieder in den Stand zurückversetzt, in dem es sich schon vor der „Machtergreifung“ durch die Nationalsozialisten befand. Hierbei war zwar wiederholt betont worden, dass durch das Vereinheitlichungsgesetz lediglich Übergangszustände geschaffen würden, die als Grundlage für umfassende Reformen des Strafverfahrensrechts dienen sollten.2124 Dennoch wurde das Vorhaben einer umfassenden Neukodifikation des deutschen Strafverfahrensrechts schon alsbald aufgegeben, nachdem der bundesdeutsche Gesetzgeber bereits bei der Reform des materiellen Strafrechts an seine Grenzen gestoßen war. So wurde anstelle einer umfassenden Reform der Strafprozessordnung eine Reform in kleinen Schritten beschlossen, in deren Rahmen das Bundesjustizministerium zwei Entwürfe vorlegte, die sich des Rechtsmittelrechts in den Strafsachen annehmen sollten. Der erste dieser Entwürfe, der Referenten-Entwurf 1971, sah vor, dass Strafsachen – bei Abschaffung der Amtsgerichte – ausschließlich noch an unterschiedlichen Spruchkörpern der Landgerichte angeklagt werden sollten.2125 Gegen die Urteile der Landgerichte sollte eine beschränkte Berufung zu den Oberlandesgerichten zugelassen werden, die anstelle einer vollständigen Wiederholung des erstinstanzlichen Verfahrens lediglich eine Nachprüfung des vorinstanzlichen Urteils in rechtlicher und tatsächlicher Hinsicht vorsah und insoweit der Berufung im heutigen Zivilverfahren glich. Der Entwurf 1971 wurde allerdings schon in Referentenstadium verworfen, nachdem sich abgezeichnet hatte, dass die Länder ihm nicht zustimmen 2123 2124 2125
Vgl. S. 388 ff. Vgl. S. 393 f. Vgl. S. 396 ff.
D. Zusammenfassung
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würden. Einen völlig anderen Weg schlug der zweite der beiden Entwürfe – der Diskussionsentwurf für ein Rechtsmittelgesetz aus dem Jahr 1975 – ein, der von einer gemeinsamen Arbeitsgruppe des Bundes und der Länder ausgearbeitet und der Praxis und Wissenschaft als Diskussionsentwurf vorgelegt wurde.2126 Statt an der Dichotomie der Berufung und Revision festzuhalten, sah er mit der sog. Urteilsrüge ein Einheitsrechtsmittel gegen alle erstinstanzlichen Urteile der Strafgerichte vor. Die Urteilsrüge ergänzte die Revision um eine Tatsachen- und eine Rechtsfolgenrüge und befreite sie von einigen starren Formvorschriften. Zugleich sah der Entwurf 1975 für einfache Strafsachen ein vereinfachtes, potentiell zweistufiges Verfahren vor dem Amtsgericht vor. Seine Reformansätze wurden jedoch auf dem 52. Deutschen Juristentag mit einer überwältigenden Mehrheit abgelehnt.2127 Eben jene Beschlüsse des 52. Deutschen Juristentages markierten im Wesentlichen auch das vorläufige Ende der Diskussion um die Erweiterung des Rechtsschutzes in Strafkammersachen. In der 14. Legislaturperiode des Bundestages (1998 – 2002) wurde die Frage der Rechtsmittelreform zwar ein weiteres Mal auf die Agenda der Regierungspolitik gesetzt, doch lag der Schwerpunkt hierbei eher auf der Entlastung der ordentlichen Gerichte und nicht mehr auf einer Stärkung des Rechtsschutzes in Strafsachen. Obwohl es seither, vor allem in der Wissenschaft und in den verschiedenen Berufsverbänden, unterschiedliche kleinere Ansätze gab, eine Reformdebatte anzustoßen, fanden die Diskussionen, den Rechtsschutz in den landgerichtlichen Strafsachen zu stärken, im Wesentlichen 1975 ihr vorläufiges Ende.
2126 2127
Vgl. S. 399 ff. Vgl. S. 406 ff.
5. Kapitel
Die Erweiterung der Revision um eine Tatsachenrüge de lege ferenda Nachdem bereits in den vorangegangenen Kapiteln dargelegt wurde, welche Schwächen die strafrechtliche Revision, wie sie von dem Gesetzgeber eingeführt und durch die höchstrichterliche Rechtsprechung fortentwickelt worden ist, noch heute kennzeichnen, geht es im vorliegenden Kapitel darum, dazulegen, wie eine an diesen Erkenntnissen orientierte zweckmäßige Erweiterung der Revision de lege ferenda ausgestaltet sein könnte. Ziel dieser Darstellung ist es, einen konkreten Änderungsvorschlag für das Rechtsmittelrecht zu unterbreiten, der die Stärken der bisherigen Reformversuche aufgreift, ohne dabei zugleich den Umfang einer großen Strafverfahrensreform zu erreichen. Dabei wird die Notwendigkeit für eine solche Reform bereits durch die höchstrichterliche Praxis der erweiterten Revision indiziert, derer es gerade nicht bedurfte, wenn schon die geltenden Vorschriften der Strafprozessordnung in der Lage wären, einen hinreichenden Rechtsschutz in Strafsachen zu gewährleisten. Dass selbst diese höchstrichterliche Erweiterung der Revision aber nicht ausreichend ist, einen umfassenden und verfassungsrechtlich zufriedenstellenden Rechtsschutz in Strafsachen sicherzustellen, wurde bereits an anderer Stelle ausführlich dargelegt und bedarf hier keiner wiederholten Ausführung.2128 Letztendlich versteht der Verfasser das vorliegende Kapitel als eine Art „Machbarkeitsstudie“, mit der aufgezeigt werden soll, dass sich der Rechtsschutz in land- und oberlandesgerichtlichen Strafsachen – sofern der politische Wille da ist – auch ohne eine umfassende Strafverfahrensreform erheblich erweitern ließe. Dabei liegt den Erwägungen in diesem Kapitel die Prämisse zugrunde, dass eine umfassende Reform des Strafverfahrens und der Gerichtsverfassung, wie sie etwa durch den Referenten-Entwurf 19712129 oder den Diskussionsentwurf 19752130 vorgeschlagen wurde, sich auch heute nur schwerlich umsetzen ließe. So deuten nicht zuletzt die zahlreichen Reformversuche der vergangenen 140 Jahre darauf hin, dass ein solch umfassendes Reformvorhaben eine derartige politische Brisanz in sich birgt, dass sie ohne einen äußeren Zwangsmoment – wie etwa der Reichsgründung oder der Gründung der Bundesrepublik Deutschland – wohl kaum noch realisierbar sein wird. Deshalb soll im vorliegenden Rahmen vor allem eruiert werden, wie das strafprozessuale Rechtsmittelrecht einer eher pointierten Reform zugeführt werden 2128 2129 2130
Vgl. S. 288 ff. Vgl. S. 396 ff. Vgl. S. 399 ff.
A. Die österreichische Nichtigkeitsbeschwerde
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kann, ohne zugleich das System der strafrechtlichen Rechtsmittel völlig neu zu gestalten. Namentlich geht der hier unterbreitete Vorschlag dahin, die strafrechtliche Revision von ihrer gesetzlichen Beschränkung auf Rechtsfragen zu befreien und um eine hier als Tatsachenrüge bezeichnete Rügeform zu erweitern, die dem Revisionsgericht auch den Zugriff auf die Feststellungen und Beweiswürdigung des Tatrichters eröffnet. Dabei befasst sich das vorliegende Kapitel in seinem ersten Abschnitt (A.) zunächst mit dem Rechtsmittelrecht im österreichischen Strafverfahren, vor allem mit der Nichtigkeitsbeschwerde zum Obersten Gerichtshof, deren Mängel- und Tatsachenrüge schon heute in Grundzügen das gewährleistet, was mit der hier vorgeschlagenen Erweiterung der Revision erzielt werden soll. Der darauffolgende Abschnitt (B.) setzt sich mit der Frage auseinander, wie eine solche Tatsachenrüge im bundesdeutschen Strafverfahrensrecht ausgestaltet sein könnte. In einem eigenen dritten Abschnitt (C.) werden zudem weitere Änderungen der Strafprozessordnung dargelegt, die nach Ansicht des Verfassers mit der Einführung einer Tatsachenrüge mehr oder minder zwingend einherzugehen hätten. In dem letzten Abschnitt (D) dieses Kapitels schließlich werden alle hier unterbreiteten Reformvorschläge in Form einer Synopse der geltenden Rechtslage gegenübergestellt, um dem Leser eine knappe Übersicht über die hier vorgeschlagenen Änderungen zu ermöglichen. Die Vorschriften der Strafprozessordnung, auf die insoweit genommen werden, befinden sich auf dem Stand von März 2020. Obwohl sich der Vorschlag des Verfassers dabei mit einer ausschließlich auf das Revisionsrecht bezogenen Lösung begnügt, soll hier nicht verschwiegen werden, dass er durchaus große Sympathien für die deutlich weitergehenderen Reformvorschläge, die im Rahmen der Entwürfe 1971 und 1975 vorgestellt wurden, hegt – insbesondere etwa für eine Vereinfachung des erstinstanzlichen Verfahrens, die Einführung einer der zivilrechtlichen Berufung angenäherten, dafür aber generell zulässigen Berufung in Strafsachen sowie eine generelle Vereinfachung der Instanzenzüge im Strafverfahren. Vor allem der diesem Kapitel zugrunde liegende Anspruch, einen zumindest denkbar konsensfähigen Vorschlag zu präsentieren, stand einem derart weitergehenden Vorschlag jedoch entgegen; diesem widmet sich der Verfasser aber in einem anderem Beitrag, auf den hier vollumfassend Bezug genommen wird.2131
A. Die österreichische Nichtigkeitsbeschwerde als Vorbild für eine erweiterte Revision Die hier verfolgte Idee eines letztinstanzlichen kassatorischen Rechtsmittels, das auch eine Nachprüfung der Tatfragen ermöglicht, ist, wie schon angedeutet, im 2131
Für einen deutlich weitergehenden Vorschlag vgl. Andoor, in: FS Wolf, S. 26 ff.
418
5. Kap.: Erweiterung der Revision um eine Tatsachenrüge de lege ferenda
deutschsprachigen Raum keinesfalls ohne Vorbilder. Neben der Strafprozessordnung der Republik Österreich, die im Folgenden näher besprochen werden soll, gestattet etwa auch die Strafprozessordnung des Fürstentums Liechtenstein (lieStPO) dem Fürstlichen Obersten Gerichtshof in Vaduz den Zugriff auf Teile der Tatfrage. Da die insoweit einschlägige Mängelrüge des liechtensteinischen Strafverfahrens allerdings nahezu wörtlich aus der österreichischen Strafprozessordnung rezipiert wurde,2132 kann es insoweit bei der weiter unten folgenden Darstellung des österreichischen Rechtsmittelrechts sein Bewenden haben. Abgesehen wurde vorliegend auch von einer besonderen Darstellung der Beschwerde an das Bundesgericht nach dem Bundesgerichtsgesetz der Schweizerischen Eidesgenossenschaft, obwohl auch sie eine Rüge offensichtlich unrichtiger Sachverhaltsfeststellungen zulässt.2133 Dem wiederum liegt die Erwägung zugrunde, dass die Beschwerde an das Bundesgericht bei genauer Betrachtung einen – mit der bundesdeutschen Verfassungsbeschwerde vergleichbaren – außerordentlichen Rechtsbehelf darstellt und nicht ein ordentliches Rechtsmittel wie die bundesdeutsche Revision.2134 Aus historischem Interesse bleibt an dieser Stelle noch an die Nichtigkeitsbeschwerde nach der württembergischen Strafprozessordnung vom 26. Mai 1868 zu erinnern, die dem württembergischen Cassationshof ebenfalls gestattete, das vorinstanzliche Urteil aufzuheben, wenn „gewichtige Bedenken gegen die Richtigkeit der Thatsachen“ bestanden und „diese Bedenken durch die Prüfung der Akten und etwa abgeordnete einzelne Erhebungen“ nicht beseitigt werden konnten – zu ihrer konkreten Ausgestaltung wird auf die Ausführungen an früherer Stelle der vorliegenden Schrift verwiesen.2135 Im Mittelpunkt der nachfolgenden Darstellung steht damit allein die Nichtigkeitsbeschwerde nach der Strafprozessordnung der Republik Österreich (öStPO). Bemerkenswert auch an ihr ist nämlich, dass sie, obwohl sie in vielen Aspekten durchaus mit der bundesdeutschen Revision vergleichbar ist, dem Obersten Gerichtshof in Wien den Zugriff auf die tatsächlichen Feststellungen des vorinstanzlichen Urteils gewährt.
2132 Vgl. insofern § 234 Abs. 1 Nr. 1 i. V. m. §§ 219 Abs. 2, 220 Nr. 3 lieStPO, der nahezu wörtlich mit § 281 Abs. 1 Nr. 5 öStPO übereinstimmt. 2133 Art. 97 Abs. 1 i. V. m. Art. 80 Abs. 1, 90, 95 Buchst. a BGG. 2134 Ausführlich Riedo/Fiolka/Niggli, schweizerisches Strafprozessrecht, Rn. 2971 ff. Das letzte ordentliche Rechtsmittel in Strafsachen in der Schweizerischen Eidesgenossenschaft ist in aller Regel die Berufung zu einem kantonalen Berufungsgericht (Art. 398 Abs. 1 und 2 chStPO), da die Gerichtshoheit für Strafsachen in der Schweiz – von einigen wenigen Staatsschutzdelikten abgesehen, die ausschließlich von dem Bundesstrafgericht in Bellinzona verhandelt werden (Art. 32 Abs. 1, Art. 35 Abs. 1 StBOG) – bei den Kantonen liegt. 2135 Vgl. schon S. 408 f.
A. Die österreichische Nichtigkeitsbeschwerde
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I. Der Aufbau der österreichischen Strafgerichtsbarkeit Generell hängt dabei die Frage, welche Rechtsmittel gegen die Urteile eines österreichischen Strafgerichts zulässig sind, im Wesentlichen davon ab, von welchem konkreten Spruchkörper das anzufechtende Urteil stammt. So wird die österreichische Strafgerichtsbarkeit durch Bezirksgerichte, Landesgerichte, Oberlandesgerichte sowie den Obersten Gerichtshof in Wien,2136 die anders als in der Bundesrepublik Deutschland allesamt Bundesgerichte sind,2137 ausgeübt. Einfachste Delikte werden dabei von den Bezirksgerichten verhandelt, die lediglich aus einem Einzelrichter bestehen.2138 Für alle anderen Strafsachen sind erstinstanzlich die Landesgerichte zuständig; sie entscheiden bei einfachen Sachen durch einen Einzelrichter,2139 bei mittelschweren Sachen durch ein Schöffengericht,2140 das aus zwei Schöffen und einem oder zwei Berufsrichtern besteht, und bei schweren Sachen durch ein Geschworenengericht, das sich aus einem Schwurgerichtshof mit drei Richtern sowie einer Geschworenenbank aus acht Geschworenen zusammensetzt.2141 Damit kommen in der Republik Österreich als erstinstanzliche Spruchkörper der Einzelrichter am Bezirksgericht sowie der Einzelrichter, das Schöffengericht und das Geschworenengericht am Landesgericht in Betracht.
II. Die Berufung Dabei können alle erstinstanzlichen Urteile mit der Berufung angefochten werden, bei der es sich auch im österreichischen Recht grundsätzlich ein reformatorisches Rechtsmittel handelt. Die Prüfungsweite der Berufung unterscheidet sich jedoch stark danach, von welchem Spruchkörper das angefochtene Urteil stammt. Einer vollumfänglichen Nachprüfung durch die Berufungsinstanz (der sog. Vollberufung) unterliegen nämlich ausschließlich Urteile des Einzelrichters am Bezirksgericht, die mit einer Berufung an das Landesgericht2142 angefochten werden können, sowie die Urteile des Einzelrichters am Landesgericht, die allerdings mit einer Berufung an das Oberlandesgericht2143 anzufechten sind.2144 Bei Urteilen der 2136
Vgl. insofern §§ 24 ff. GOG. Art. 82 B-VG. 2138 § 30 Abs. 1 und 2 öStPO. 2139 § 31 Abs. 4 öStPO. 2140 § 31 Abs. 3, § 32 Abs. 1 Satz 3, Abs. 1a öStPO. 2141 § 31 Abs. 2 öStPO, § 32 Abs. 1 Satz 1 und 2 öStPO. 2142 Das Landesgericht entscheidet über die Berufung gegen Urteile eines Bezirksgerichts als Senat in einer Besetzung von drei Richtern, § 31 Abs. 6 öStPO. 2143 Das Oberlandesgericht ist zuständig für die Berufungen gegen alle Urteile des Landesgerichts, damit also auch für die Berufung gegen Urteile des Einzelrichters am Landesgericht; insoweit verhandelt das Oberlandesgericht als ein Senat aus drei Richtern, § 33 Abs. 1 Z. 1 und 2 sowie Satz 2 öStPO. 2144 § 463 bzw. § 489 Abs. 1 öStPO. 2137
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5. Kap.: Erweiterung der Revision um eine Tatsachenrüge de lege ferenda
Schöffengerichte und Geschworenengerichte hingegen prüft das Oberlandesgericht als Berufungsinstanz ausschließlich die Ermessensentscheidungen des erstinstanzlichen Gerichts, welche die Strafart, die Strafhöhe oder die Strafaussetzung zur Bewährung (österr. Gewährung der bedingten Strafnachsicht) betreffen (sog. Strafberufung).2145 Damit ist vor allem die Schuldfrage von der Strafberufung ausgenommen. Mit dieser Beschränkung der Berufung gegen Urteile der Schöffengerichte und Geschworenengerichte auf Strafzumessungsfragen stellt das österreichische Strafverfahrensrecht offensichtlich sicher, dass die tatsächliche Seite der Entscheidungen, die unter Mitwirkung von Laienelementen zustande gekommen sind, nicht zur Disposition der ausschließlich berufsrichterlich besetzten Berufungsinstanz stehen.
III. Die Nichtigkeitsbeschwerde Statt mit einer (Straf-)Berufung zu den Oberlandesgerichten können Urteile der Schöffengerichte und Geschworenengerichte allerdings auch mit einer Nichtigkeitsbeschwerde zum Obersten Gerichtshof angefochten werden.2146 Sie gestattet dem Beschwerdeführer (österr. Rechtsmittelwerber), das vorinstanzliche Urteil wegen abschließend im Gesetz aufgezählter Mängel zu rügen.2147 Zwar liegen hierbei den meisten Nichtigkeitsbeschwerdegründen verfahrensrechtliche Mängel zugrunde, doch die hier bedeutsamen § 281 Abs. 1 Z. 5 und 5a sowie § 345 Abs. 1 Z. 10a öStPO befassen sich ausdrücklich auch mit Mängeln, welche die Tatfrage betreffen. Gemäß § 281 Abs. 1 Z. 5 öStPO können nämlich tatsächliche Feststellungen in schöffengerichtlichen Urteilen mit einer sog. Mängelrüge angefochten werden, wenn diese Feststellungs- oder Begründungsmängel enthalten.2148 Urteile der Geschworenengerichte allerdings sind schon denklogisch von der Mängelrüge ausge2145 § 283 Abs. 1 bzw. § 344 i. V. m. § 283 Abs. 1 öStPO. Handelt es sich bei dem Fehler, der die Straffrage betrifft, jedoch nicht um einen Fehler im Bereich des richterlichen Ermessens, sondern um einen Fehler, der auf einem Verstoß gegen zwingendes Recht beruht, ist er nicht mit der Strafberufung, sondern mit der Nichtigkeitsbeschwerde gem. § 281 Abs. 1 Z. 11 öStPO zum Obersten Gerichtshof zu rügen, Seiler, öStPO, Rn. 1161; Fabrizy, öStPO, § 283 Rn. 1; Bertel/ Venier, österreichisches Strafprozessrecht, Rn. 534 f. 2146 §§ 281, 281a, 345 öStPO. Es ist auch möglich, eine Nichtigkeitsbeschwerde mit einer Strafberufung zu verknüpfen. In diesem Fall entscheidet der Oberste Gerichtshof über beide Rechtsmittel, sofern er nicht die Nichtigkeitsbeschwerde in nichtöffentlicher Sitzung verwirft und die Strafberufung zur Entscheidung an ein Oberlandesgericht verweist, § 296 Abs. 1 i. V. m. § 285i öStPO. 2147 Ähnl. auch Seiler, öStPO, Rn. 990. Die Nichtigkeitsgründe finden sich dabei abschließend in den §§ 281, 281a, 345 öStPO, wobei §§ 281, 281a öStPO die Nichtigkeitsgründe bei Urteilen von Schöffengerichten und § 345 öStPO Nichtigkeitsgründe bei Urteilen der Geschworenengerichte enthalten. 2148 Ausführlich hierzu Bertel/Venier, österreichisches Strafprozessrecht, Rn. 498 ff.; Fabrizy, öStPO, § 281 Rn. 3.
A. Die österreichische Nichtigkeitsbeschwerde
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schlossen, da der Wahrspruch der Geschworenen keinerlei Begründungen enthält,2149 deren Mängel in diesem Rahmen gerügt werden könnten.2150 Im Rahmen der Mängelrüge leidet ein Urteil dabei an einem Feststellungsmangel, wenn der „Ausspruch des Schöffengerichts über entscheidende Tatsachen“, also schuldrelevante Feststellungen,2151 „undeutlich, unvollständig oder mit sich selbst im Widerspruch“ sind. Von einem Begründungsmangel dagegen ist dann die Rede, wenn für jene Feststellungen „keine oder nur offenbar unzureichende Gründe angegeben sind“.2152 Somit weist die österreichische Mängelrüge durchaus erhebliche Ähnlichkeiten zu der Darstellungskontrolle auf, wie sie in der Bundesrepublik Deutschland durch die höchstrichterliche Rechtsprechung entwickelt worden ist.2153 Darüber hinaus erlaubt § 281 Abs. 1 Z. 5 öStPO auch eine Anfechtung der Urteile der Schöffengerichte wegen einer Aktenwidrigkeit, „wenn zwischen den Angaben der Entscheidungsgründe über den Inhalt einer bei den Akten befindlichen Urkunde oder über eine Aussage und der Urkunde oder dem Vernehmungs- oder Sitzungsprotokoll selbst ein erheblicher Widerspruch besteht“.2154 In der Bundesrepublik Deutschland wird eine solche Rüge der Aktenwidrigkeit von dem Bundesgerichtshof in ständiger Rechtsprechung für unzulässig erachtet, sofern sich die Aktenwidrigkeit nicht schon aus dem Urteil selbst ergibt.2155 § 281 Abs. 1 Z. 5a öStPO erlaubt zudem, Urteile der Schöffengerichte im Rahmen der Nichtigkeitsbeschwerde auch mit einer sog. Tatsachenrüge anzufechten, „wenn sich aus den Akten erhebliche Bedenken gegen die Richtigkeit der dem Ausspruch über die Schuld zugrunde gelegten entscheidenden Tatsachen ergeben“. Für den Wahrspruch eines Geschworenengerichts regelt die vergleichbare Vorschrift des § 345 Abs. 1 Z. 10a öStPO, dass auch er mit einer Tatsachenrüge angefochten werden kann, „wenn sich aus den Akten erhebliche Bedenken gegen die Richtigkeit der im Wahrspruch der Geschworenen festgestellten entscheidenden Tatsachen ergeben“. 2149
Zum Wahrspruch im österreichischen Recht vgl. auch S. 149 f. Vgl. § 331 öStPO; ähnl. auch Bertel/Venier, österreichisches Strafprozessrecht, Rn. 563; Seiler, öStPO, Rn. 1090. Lediglich, wenn der Wahrspruch selbst undeutlich, unvollständig oder in sich widersprechend ist, kann dieser gem. § 345 Abs. 1 Z. 9 öStPO angefochten werden. 2151 Mit entscheidende Tatsachen sind allein Tatsachen gemeint, die für den Schuldspruch maßgeblich sind; sofern ausschließlich strafzumessungsrelevante Tatsachen betroffen sind, können diese ausschließlich mit der Strafberufung und nicht der Nichtigkeitsbeschwerde angefochten werden, Bertel/Venier, österreichisches Strafprozessrecht, Rn. 498. 2152 § 281 Abs. 1 Z. 5a öStPO. 2153 Vgl. S. 250 ff., 254 ff. 2154 Vgl. hierzu auch Bertel/Venier, österreichisches Strafprozessrecht, Rn. 506; Fabrizy, öStPO, § 281 Rn. 47; Seiler, öStPO, Rn. 1084. 2155 Vgl. nur BGH, Beschluss vom 9. August 2017 – 5 StR 75/17; Beschluss vom 30. April 2008 – 2 StR 82/08 –, juris Rn. 5; Urteil vom 10. Juli 2001 – 5 StR 236/01 –, juris Rn. 9; BGH NStZ 2000, 156; 1992, 506, 506 f. 2150
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5. Kap.: Erweiterung der Revision um eine Tatsachenrüge de lege ferenda
Während also die Mängelrüge gem. § 281 Abs. 1 Z. 5 öStPO dem Beschwerdeführer im Rahmen der Nichtigkeitsbeschwerde die Möglichkeit eröffnet, eine etwaig mangelhafte Darstellung oder Begründung der Feststellungen durch den Tatrichter zu rügen, gestattet ihm die Tatsachenrüge gem. § 281 Abs. 1 Z. 5a bzw. § 345 Abs. 1 Z. 10a öStPO sogar, unmittelbar gegen die tatrichterlichen Sachverhaltsfeststellungen vorzugehen.2156 Insgesamt geht die Nichtigkeitsbeschwerde damit deutlich über die bundesdeutsche Revision – selbst in ihrer höchstrichterlich erweiterten Form – hinaus, sodass sie zumindest in Grundzügen ein potentielles Vorbild für eine Reform des deutschen Rechtsmittelrechts darstellt. Zu beachten ist jedoch, dass mit der Nichtigkeitsbeschwerde ausschließlich materielle Mängel der Feststellungen gerügt werden können, die sich aus den Akten des vorinstanzlichen Urteils ergeben. So ist es dem Obersten Gerichtshof nicht gestattet, im Rahmen der Nichtigkeitsbeschwerde eigene Beweise zu erheben, um sich etwa in die Lage zu versetzen, zu beurteilen, ob die Feststellungen der Vorinstanz fehlerhaft waren (sog. Neuerungsverbot, vergleichbar mit dem Rekonstruktionsverbot im bundesdeutschen Revisionsrecht).2157 Selbst in dieser restriktiven Form ist die Tatsachenrüge, obwohl sie auch im Übrigen nur unter sehr engen Voraussetzungen einen Eingriff in die freie Beweiswürdigung der Vorinstanz gestattet, mit Blick auf die Rechtsmittelwirklichkeit in Österreich eher von bloß akademischem Interesse als von praktischer Bedeutung. Der Oberste Gerichtshof nimmt den Nichtigkeitsgrund des § 281 Abs. 1 Z. 5a öStPO bzw. des § 345 Abs. 1 Z. 10a öStPO nämlich in ständiger Praxis nur dann an, wenn die Beurteilung des erstinstanzlichen Urteils eine geradezu unerträgliche Fehlentscheidung vermuten lässt. Trotz des entsprechenden rechtlichen Instrumentariums soll die tatrichterliche Beweiswürdigung nach der Ansicht des Gerichts nämlich nur in Sonderfällen angefochten werden können – damit ist einer Tatsachenrüge letztendlich nur in Extremfällen Erfolg beschieden.2158
B. Zur Ausgestaltung einer möglichen Tatsachenrüge im bundesdeutschen Revisionsrecht Ein bloßes Kopieren der österreichischen Nichtigkeitsbeschwerde wäre nach dem oben Dargelegten somit nicht ausreichend, wenn es darum geht, im Rahmen der bundesdeutschen Revision einen vollumfassenden Rechtsschutz zu gewährleisten. Vielmehr wäre mit Blick auf die jüngsten Tendenzen in der höchstrichterlichen Rechtsprechung2159 sowie die letzten gesetzgeberischen Versuche einer Rechtsmit2156
Ähnl. Seiler, öStPO, Rn. 1087. Seiler, öStPO, Rn. 1088. 2158 Vgl. Bertel/Venier, österreichisches Strafprozessrecht, Rn. 509; Seiler, öStPO, Rn. 1087. 2159 Vgl. S. 214 ff. 2157
B. Tatsachenrüge im bundesdeutschen Revisionsrecht
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telreform2160 zunächst zu erwägen, was eine reformierte Revision in Strafsachen grundsätzlich zu leisten in der Lage sein müsste (I.), um anschließend zu erörtern, wie genau eine gesetzliche Erweiterung der Revision ausgestaltet sein könnte, die in der Lage ist, diese Ziele zu erreichen (II.). Dabei stellt sich vor allem die Frage, welchen Anforderungen eine Rüge der mangelhaften tatrichterlichen Feststellungen im Rahmen einer solchen erweiterten Revision genügen müsste (III.). Zu klären wäre bei einer solchen Rechtsmittelreform auch, ob dem Revisionsgericht zur Nachprüfung einer Tatsachenrüge eine eigene Beweisaufnahme zu gestatten wäre (IV.). Einer unbedingten Erörterung bedarf hierbei auch die Frage, welchen Umfang die Urteilsprüfung durch das Rechtsmittelgericht bei einer solchen erweiterten Revision generell einnehmen sollte (V.). In Rahmen dieses Abschnittes sollen eben diese Fragen beantwortet werden, wobei ein Fokus vor allem darauf gelegt werden wird, konkrete Reformvorschläge anzubieten, welche die Möglichkeiten einer praktischen Umsetzung der entsprechenden Antworten aufzeigen.
I. Anforderungen an den Leistungsumfang einer reformierten Revision in Strafsachen Eine Reform des strafprozessualen Rechtsmittelrechts müsste, mit Blick auf die bereits zu Beginn dieser Schrift dargelegte Notwendigkeit eines umfassenden Rechtsschutzes gegen strafrichterliche Urteile,2161 vor allem sicherstellen, dass auch die tatsächlichen Feststellungen der großen Strafkammern, der Schwurgerichte und der erstinstanzlichen Senate der Oberlandesgerichte einer höherinstanzlichen Nachprüfung zugeführt werden können. Nur so wäre sichergestellt, dass gegen alle erstinstanzlichen Urteile in Strafsachen, die sich im Falle einer Verurteilung stets als ein finaler Eingriff in die Grundrechte des Beschuldigten darstellen, ein dem Art. 19 Abs. 4 GG genügender Rechtsschutz gewährt wird.2162 Insoweit drängt sich sicherlich spontan der Gedanke auf, schlicht auch gegen erstinstanzliche Urteile der Land- und Oberlandesgerichte eine Berufung zuzulassen, wie dies schon seit 1883 durch zahlreiche Anträge und Entwürfe erfolglos versucht worden ist.2163 Hierbei gilt jedoch zu bedenken, dass eine vollständige Wiederholung des Verfahrens, wie sie die Berufung des geltenden Strafverfahrensrechts vorsieht, gerade in land- und oberlandesgerichtlichen Strafsachen schlicht nicht praktikabel wäre. Diese Verfahren nehmen schon in erster Instanz nicht selten Monate oder sogar Jahre in Anspruch, sodass es verfahrensökonomisch geradezu unsinnig wäre, sie in ihrer Gänze zu wiederholen, bloß weil einer der Verfahrensbeteiligten ein Rechtsmittel einlegt. 2160 2161 2162 2163
Vgl. insofern insb. S. 399 ff. Vgl. S. 61 ff. Hierzu ausführlich ebenfalls S. 61 ff. Vgl. S. 332 ff.
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5. Kap.: Erweiterung der Revision um eine Tatsachenrüge de lege ferenda
Ohnehin stellt sich die – hier nicht weiter zu vertiefende – Frage, wie sinnvoll die derzeitige Ausgestaltung der Berufung in Strafsachen generell noch ist. Schließlich bedingt sie geradezu denklogisch, dass der Bestand eines erstinstanzlichen Urteils nicht ausschließlich von seiner Qualität, sondern allein von der Frage abhängt, ob einer der Verfahrensbeteiligten von seinem Rechtsmittelrecht Gebrauch macht. So bedarf die heutige Berufung in den Strafsachen weder einer Zulassung durch den ersten Richter noch – von der Ausnahme des § 313 StPO abgesehen – einer Annahme durch das Berufungsgericht. Hierin liegt bei genauer Betrachtung nicht nur eine (gesetzgeberische) Geringschätzung der Tätigkeit des ersten Richters, auch werden auf diese Weise ausgerechnet die Ergebnisse des zeitlich tatnäheren Verfahrens, das auf „frischere“ Beweismittel und vor allem auf die noch relativ jungen und unbeeinflussten Erinnerungen von Zeugen aufbauen konnte, ohne jede Not vollständig (!) verworfen. Daher müsste ein modernes Rechtsmittel, das auch bei land- und oberlandesgerichtlichen Urteilen eine Nachprüfung der Feststellungen und der Beweiswürdigung gestatten soll, so ausgestaltet sein, dass es auch eine bloß punktuelle Nachprüfung der Tatfragen des vorinstanzlichen Urteils ermöglicht. Eine solche punktuelle Nachprüfung – wenn auch bezogen auf Rechtsfragen – sieht das Strafverfahrensrecht beispielsweise schon heute bei der Verfahrensrüge vor, bei der nur die gerügten Mängel der revisionsgerichtlichen Nachprüfung unterliegen. Für eine Erweiterung der Revision auf die tatrichterlichen Feststellungen könnte insofern erwogen werden, die Revision nach dem Vorbild der Verfahrensrüge auch auf die Tatfragen auszuweiten, um sie damit von ihrer Beschränkung auf die Rechtsfragen zu befreien.2164 Gegen eine Erweiterung der Revision auf die Tatfragen wurde zwar aus der Literatur wiederholt vorgetragen, dass sie gegenüber der höchstrichterlichen Erweiterung der Revision (Stichwort: Darstellungskontrolle) keine erkennbaren Vorteile böte2165 – Sarstedt ging dabei sogar so weit, eine gesetzliche Erweiterung der Revision als „überflüssig wie ein Kropf“ zu bezeichnen.2166 Ungeachtet dessen ist eine solche Erweiterung der Revision de lege ferenda mit Blick auf die Schwächen der höchstrichterlichen Darstellungskontrolle, die bereits im dritten Kapitel der vorliegenden Schrift ausführlich beschrieben wurden,2167 nicht nur keinesfalls überflüssig, sondern sogar dringend geboten. Wie bereits aufgezeigt, bestehen nämlich schon 2164
Eine andere – aber freilich eine umfassendere Reform des Rechtsmittelrechts voraussetzende – Lösung wäre, auch gegen erstinstanzliche land- und oberlandesgerichtliche Entscheidungen tatsächlich eine Berufung zuzulassen, diese allerdings von einer Zulassung durch den iudex a quo bzw. dem iudex ad quem abhängig zu machen, eine Berufungsbegründungspflicht des Beschwerdeführers zu statuieren und den Umfang der berufungsgerichtlichen Prüfung auf die von dem Beschwerdeführer angebrachten Beschwerdepunkte zu beschränken, vgl. zur Umsetzbarkeit dieser Möglichkeit Andoor, in: FS Wolf, S. 29 ff. 2165 Vgl. etwa Fezer, in: FS Hanack, S. 338; Albrecht, NStZ 1983, 486, 492 f.; Rieß, in: FS Hanack, S. 416 f.; Barton, in: FS Fezer, S. 335, nur um wenige Beispiele zu nennen. 2166 Sarstedt, in: FS Dreher, S. 687. 2167 Vgl. S. 288 ff.
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berechtigte Zweifel daran, ob die höchstrichterliche Erweiterung der Revision überhaupt noch mit den Prinzipien des Vorranges und des Vorbehaltes des Gesetzes zu vereinbaren ist, sodass allein deshalb nach einer gesetzlichen Grundlage für die erweiterte Revision zu verlangen wäre.2168 Ebenso wird die verfahrensrechtliche Position des Angeklagten durch die ausschließlich höchstrichterlich geschaffene Möglichkeit, auch freisprechende Urteile im Rahmen einer erweiterten Revision aufzuheben, maßgeblich geschwächt, ohne dass dies bislang auf den Willen des Gesetzgebers zurückzuführen wäre.2169 Zudem kann man sich dem Eindruck nicht gänzlich verschließen, dass die höchstrichterliche Rechtsprechung die Darstellungskontrolle als ein geradezu arbiträres Mittel zur Gewährleistung einer möglicherweise missverstandenen materiellen Gerechtigkeit nutzt,2170 sodass sie mit klaren Konturen versehen und somit vorhersehbar gemacht werden sollte. Zu bedenken gilt schließlich auch, dass sich die Nachprüfung bei der höchstrichterlichen Darstellungskontrolle – wie schon bei der Sachrüge, an die sie anknüpft – auf die schriftlichen Urteilsgründe beschränkt, sodass eine Prüfung, ob das vorinstanzliche Urteil auf tatsächlicher Ebene inhaltlich unzutreffend ist, in diesem Rahmen gerade nicht möglich ist. Eine gesetzgeberische Reform des Revisionsrechts, die einen umfassenden Rechtsschutz in den bislang nicht berufungsfähigen erstinstanzlichen Strafsachen gewährleisten will, müsste damit vor allem dreierlei leisten: 1. Sie müsste dem Beschwerdeführer zunächst die Möglichkeit eröffnen, im Rahmen einer materiellen Tatsachenrüge auch inhaltliche Mängel der Feststellungen zu rügen – dies betrifft vor allem Fälle, in denen der Beschwerdeführer behauptet, dass die tatrichterlichen Sachverhaltsfeststellungen fehlerhaft sind, weil sie nicht mit der historischen Wirklichkeit übereinstimmten. Gegenwärtig werden Urteile, die an materiellen Mängeln leiden, von den Revisionsgerichten allenfalls – so der Anschein – willkürlich aufgehoben, wenn die Feststellungen nach der Auffassung der Revisionsinstanz der allgemeinen Lebenserfahrung widersprechen oder nicht hinreichend begründet sind.2171 2. Weiter müsste dem Beschwerdeführer gestattet werden, im Rahmen einer formellen Tatsachenrüge zu rügen, dass die Tatsachenfeststellungen der Vorinstanz formelle Mängel aufweisen – hierbei ginge es vor allem um eine Institutionalisierung des revisionsgerichtlichen Rechtsprechung, wonach Feststellungen der Vorinstanz nicht gegen Denkgesetze und allgemeine Erfahrungssätze verstoßen bzw. nicht unvollständig, unklar oder widersprüchlich sein dürfen.2172 2168
Ausführlich S. 289 ff.; ähnl. auch Jähnke, in: FS Hanack, S. 359; Rieß, in: Beiträge zur Entwicklung der deutschen Strafprozessordnung, S. 198; Hamm, in: FS Rissing-van Saan, S. 204. 2169 Vgl. S. 311 ff. 2170 Vgl. S. 320 ff. 2171 Vgl. S. 254 ff. 2172 Vgl. S. 241 ff., 250 ff.
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3. Schließlich müsste dem Revisionsgericht gestattet werden, zumindest im beschränkten Maße selbstständig Beweise zu erheben, soweit dies erforderlich ist, nachzuprüfen, ob eine materielle Tatsachenrüge begründet ist. Nur so ist zu gewährleisten, dass durch die Revisionsinstanz künftig eine echte Überprüfung der tatrichterlichen Sachverhaltsfeststellungen erfolgen kann.
II. Erweiterung der strafrechtlichen Revision um eine Tatsachenrüge Erwägungen zu einer potentiellen Erweiterung der Revision, welche die oben genannten Prämissen berücksichtigt, könnten dabei rechtshistorisch vor allem an die Entwürfe anknüpfen, die 19392173 und 19752174 vorgelegt wurden und bereits eine Ausweitung der Revision auf die Tatfragen unter der Bezeichnung „Urteilsrüge“ vorzunehmen versucht hatten. Statt allerdings das Revisionsrecht wie jene Entwürfe völlig neu zu gestalten, geht der nachfolgend unterbreitete Vorschlag dahin, die strafrechtliche Revision lediglich um eine (materielle und formelle) Tatsachenrüge zu ergänzen, die als selbstständiger Rügetyp neben die Sach- und der Verfahrensrüge treten soll und sich im Übrigen vollständig in das bereits bestehende System der Revision einfügt. 1. Schaffung einer materiellen Tatsachenrüge zur Anfechtung inhaltlicher Mängel der Feststellungen a) Zur Ausgestaltung einer materiellen Tatsachenrüge Das Ziel einer Tatsachenrüge wäre es, den Revisionsführer in die Lage zu versetzen, ein tatrichterliches Urteil mit der Begründung anzufechten, dass es auf einen Mangel der tatsächlichen Feststellungen beruht. Anders als bei den Entwürfen 1939 und 1975 wäre dabei jedoch darauf zu verzichten, diese Rüge auf schwere oder schwerwiegende Bedenken gegen die Feststellungen zu beschränken.2175 Nur so könnte auch in den erstinstanzlichen land- und oberlandesgerichtlichen Strafsachen ein vergleichbarer Rechtsschutzstandard gewährleistet werden wie in den berufungsfähigen amtsgerichtlichen Strafsachen. Dabei wäre durch eine vollständige Integration dieser Tatsachenrüge in das bestehende System des § 337 Abs. 1 StPO sichergestellt, dass nicht schon beliebige Mängel der tatsächlichen Feststellungen zu einer Aufhebung des tatrichterlichen Urteils führen müssten, sondern nur solche, auf die – ähnlich wie schon im Falle der 2173
Vgl. S 386 ff. Vgl. S 386 ff.; S. 400 ff. 2175 Vgl. § 331 Nr. 3 der Strafverfahrensordnung nach dem Entwurf 1939; § 314 Abs. 2 Satz 1 i. d. F. des Entwurfs 1975. 2174
B. Tatsachenrüge im bundesdeutschen Revisionsrecht
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Verfahrensrüge – das Urteil auch beruht. Demnach könnte sich der Beschwerdeführer bei der hier vorgeschlagenen Tatsachenrüge nicht darauf beschränken, pauschal mangelhafte tatsächliche Feststellungen zu rügen; vielmehr wäre er, wie schon bei der Verfahrensrüge, verpflichtet, darzulegen, dass das Urteil ohne den gerügten Mangel der tatrichterlichen Feststellungen anders ausgefallen wäre. Erreicht werden könnte dies durch eine Änderung des § 337 Abs. 1 StPO, die etwa nach dem folgenden Vorbild erfolgen könnte: § 337 Abs. 1 StPO § 337 Abs. 1 StPO-E (1) Die Revision kann nur darauf gestützt (1) Die Revision kann nur darauf gestützt werden, daß das Urteil auf einer Verletzung werden, dass das Urteil auf einer Verletzung des Gesetzes beruhe. des Gesetzes oder auf einen Mangel der tatsächlichen Feststellungen beruhe.
Zugleich müsste allerdings sichergestellt werden, dass tatsächliche Feststellungen, die bereits Gegenstand berufungsgerichtlicher Befassung waren, keiner weiteren Nachprüfung durch die Revisionsinstanz zugeführt werden können. Nur so ließe sich verhindern, dass die Feststellungen der amtsgerichtlichen Spruchkörper einer mehrfachen Befassung durch Rechtsmittelgerichte zugeführt werden, obwohl ihre Urteile lediglich leichte und mittelschwere Delikte zum Gegenstand haben, während Feststellungen der Land- und Oberlandesgerichte, die sich vorrangig mit den schwersten Strafsachen befassen, bloß einer einfachen Nachprüfung im Rahmen der neuen Tatsachenrüge unterlägen. Auszuschließen wäre eine Tatsachenrüge aber auch in den Fällen, in denen bereits die Berufung gem. § 313 StPO unzulässig ist, weil sie nicht durch das Berufungsgericht angenommen worden ist; andernfalls könnte der Beschwerdeführer in solchen Fällen, indem er eine Tatsachenrüge bei dem Revisionsgericht anbringt, den eigentlichen Sinn und Zweck des § 313 StPO konterkarieren. Insoweit wäre die Einfügung eines neuen Absatzes 1a nach § 337 Abs. 1 StPO mit dem nachfolgenden Wortlaut zu erwägen, der eine Tatsachenrüge für die Fälle ausschließt, in denen der Beschwerdeführer bereits eine zulässige Berufung eingelegt hat: § 337 Abs. 1a StPO-E (1a) 1Wer gegen das Urteil eine zulässige Berufung eingelegt hat, kann die Revision nicht darauf stützen, dass das Urteil auf einen Mangel der tatsächlichen Feststellungen beruhe. 2 Dies gilt auch, wenn die Berufung nach § 313 unzulässig wäre.
Die beiden hier vorgeschlagenen Reformen würden dem Beschwerdeführer den Weg zu einer echten materiellen Tatsachenrüge eröffnen, die ihn in die Lage versetzen würde, das tatrichterliche Urteil stets mit der Begründung anzufechten, dass die darin enthaltenen Feststellungen nicht mit der Wirklichkeit übereinstimmten. Damit würde die Revision zu einem Rechtsmittel umgestaltet, das effizienter und deutlich besser geeignet für die Nachprüfung der land- und oberlandesgerichtlichen Feststellungen wäre als eine Berufung, wie sie im geltenden Strafverfahrensrecht angelegt ist.
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b) Ausweitung der tatrichterlichen Urteilsbegründungspflicht auf subjektive Beweisgründe Die hier vorgeschlagene Nachprüfung der tatsächlichen Feststellungen durch das Revisionsgericht setzt bereits denklogisch voraus, dass der Tatrichter auch mitteilt, welche Erwägungen seinen Feststellungen zugrunde liegen.2176 Um eine materielle Prüfung der Feststellungen zu ermöglichen, wäre der Tatrichter daher künftig gesetzlich zu verpflichten, seine subjektiven Beweisgründe, also die Gründe, die seiner richterlichen Überzeugung im Sinne des § 261 StPO zugrunde liegen, in den Urteilsgründen darzulegen. Nicht anders ist der historische Gesetzgeber bereits im 19. Jh. im Falle der Reichszivilprozessordnung und der Militärstrafgerichtsordnung verfahren, auch wenn er insoweit wohl aufgrund der irrtümlichen Erwägung gehandelt haben dürfte, dass die in den Fällen stets vorgesehene Berufungsinstanz auf eine derartige Beweisbegründung angewiesen sein würde.2177 Daher wäre § 267 Abs. 1 Satz 1 StPO um einen zweiten Halbsatz zu ergänzen, wie er bereits in dem Entwurf 1885 vorgesehen war. Dieser würde den Tatrichter verpflichten, in seinem Urteil eben auch jene Gründe anzugeben, aus denen er die von ihm festgestellten Tatsachen für erwiesen erachtet hat.2178 Im Wortlaut könnte ein derart reformierter § 267 Abs. 1 StPO folgendermaßen lauten: § 267 Abs. 1 StPO (1) 1Wird der Angeklagte verurteilt, so müssen die Urteilsgründe die für erwiesen erachteten Tatsachen angeben, in denen die gesetzlichen Merkmale der Straftat gefunden werden. 2Soweit der Beweis aus anderen Tatsachen gefolgert wird, sollen auch diese Tatsachen angegeben werden. 3Auf Abbildungen, die sich bei den Akten befinden, kann hierbei wegen der Einzelheiten verwiesen werden.
§ 267 Abs. 1 StPO-E (1) 1Wird der Angeklagte verurteilt, so müssen die Urteilsgründe die für erwiesen erachteten Tatsachen angeben, in denen die gesetzlichen Merkmale der Straftat gefunden werden, und die Gründe angeben, aus welchen diese Tatsachen für erwiesen erachtet worden sind. 2Soweit der Beweis aus anderen Tatsachen gefolgert wird, sollen auch diese Tatsachen angegeben werden. 32Auf Abbildungen, die sich bei den Akten befinden, kann hierbei wegen der Einzelheiten verwiesen werden.
Der bisherige Satz 2 des § 267 Abs. 1 StPO wäre mit Blick auf den hier vorgeschlagenen § 267 Abs. 1 Satz 1 Halbsatz 2 StPO zu streichen, da ihm gegenüber dem Letzteren keine eigenständige Bedeutung mehr zukäme; der bisherige Satz 3 würde damit zu dem neuen § 267 Abs. 1 Satz 2 StPO. Weiter wäre auch sicherzustellen, dass der Tatrichter sich nach dem Wortlaut des Gesetzes auch bei einem Freispruch aus tatsächlichen Gründen nicht darauf beschränken kann, bloß anzugeben, dass der Angeklagte für nicht überführt erachtet 2176 2177 2178
Vgl. hierzu ausführlich bereits S. 173 ff. Vgl. insofern schon S. 224 ff. Vgl. S. 219 f.
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worden ist.2179 Vielmehr wäre von diesem künftig auch gesetzlich zu verlangen, dass er sich auch bei Freisprüchen aus tatsächlichen Gründen dazu äußert, warum konkret eine Verurteilung nicht in Betracht kam. Erreichen ließe sich dies bereits, indem in § 267 Abs. 5 Satz 1 StPO die Wörter „und aus welchen Gründen“ vor die Worte „der Angeklagte für nicht überführt“ gezogen werden: § 267 Abs. 5 StPO (5) 1Wird der Angeklagte freigesprochen, so müssen die Urteilsgründe ergeben, ob der Angeklagte für nicht überführt oder ob und aus welchen Gründen die für erwiesen angenommene Tat für nicht strafbar erachtet worden ist. 2 Verzichten alle zur Anfechtung Berechtigten auf Rechtsmittel oder wird innerhalb der Frist kein Rechtsmittel eingelegt, so braucht nur angegeben zu werden, ob die dem Angeklagten zur Last gelegte Straftat aus tatsächlichen oder rechtlichen Gründen nicht festgestellt worden ist. 3Absatz 4 Satz 4 ist anzuwenden.
§ 267 Abs. 5 StPO-E (5) 1Wird der Angeklagte freigesprochen, so müssen die Urteilsgründe ergeben, ob und aus welchen Gründen der Angeklagte für nicht überführt oder ob und aus welchen Gründen die für erwiesen angenommene Tat für nicht strafbar erachtet worden ist. 2Verzichten alle zur Anfechtung Berechtigten auf Rechtsmittel oder wird innerhalb der Frist kein Rechtsmittel eingelegt, so braucht nur angegeben zu werden, ob die dem Angeklagten zur Last gelegte Straftat aus tatsächlichen oder rechtlichen Gründen nicht festgestellt worden ist. 3Absatz 4 Satz 4 ist anzuwenden.
Beide hier vorgeschlagenen Änderungen des § 267 StPO, nämlich der Absätze 1 und 5, greifen im Ergebnis lediglich höchstrichterlich formulierte Urteilsbegründungspflichten auf, wie sie schon seit geraumer Zeit von den Tatgerichten für sich als verpflichtend betrachtet werden und nach höchstrichterlicher Rechtsprechung auch sind.2180 Damit sind die hier vorgeschlagenen Änderungen des § 267 StPO in erster Linie vor allem deklaratorischer und legitimatorischer Natur. Allerdings schaffen sie zugleich auch die notwendigen Grundlagen für eine – im Folgenden ausführlicher darzustellende – formelle Tatsachenrüge, mit welcher der Revisionsführer auch Darstellungsmängel des tatrichterlichen Urteils eigeninitiativ rügen könnte. Bislang war es weitestgehend dem Gutdünken der Revisionsgerichte anheimgestellt, ob sie eine Rüge von Darstellungsmängeln zum Anlass nahmen, die Revision als unbegründet zu verwerfen oder aber in dem Urteil „sachlich-rechtliche Mängel“ zu erblicken und es deshalb aufzuheben.2181
2179 2180 2181
Vgl. S. 313 ff. Vgl. hierzu ausführlich S. 177 ff.; 180 ff.; 218 ff.; 273 ff.; 303 ff. Vgl. S. 320 ff.
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5. Kap.: Erweiterung der Revision um eine Tatsachenrüge de lege ferenda
2. Schaffung einer formellen Tatsachenrüge zur Anfechtung formeller Mängel der Feststellungen a) Zur Ausgestaltung einer formellen Tatsachenrüge Neben der Möglichkeit, inhaltliche Mängel der tatrichterlichen Feststellungen zu rügen, wäre es notwendig, dem Beschwerdeführer auch den Weg zu eröffnen, auch solche Feststellungen mit einer Tatsachenrüge anzufechten, deren Darstellung nicht überzeugend ist – sei es, weil die Feststellungen in sich nicht schlüssig sind oder die ihnen zugrunde liegende Beweisbegründung objektiv nicht zu überzeugen vermag. Schließlich ist auch bei solchen, im Ergebnis bloß formellen Mängeln der Feststellungen durchaus denkbar, dass der Tatrichter bei seiner Entscheidungsfindung von einer falschen Prämisse ausgegangen ist, sodass auch insoweit hinreichender Rechtsschutz zu gewährleisten ist. aa) Normierung der höchstrichterlich entwickelten Fallgruppen der erweiterten Revision Um eine solche formelle Tatsachenrüge gesetzlich zu normieren, bietet es sich zunächst an, die bereits heute in der höchstrichterlichen Rechtsprechung etablierten Fallgruppen der revisionsrelevanten Darstellungsmängel in die Strafprozessordnung zu überführen.2182 (1.) Insofern wäre zunächst klarzustellen, dass Verstöße gegen Denkgesetze oder gesichertes Erfahrungswissen – richtigerweise – nicht mehr als eine Verletzung des sachlichen Rechts zu betrachten sind, die schon im Rahmen einer allgemeinen Sachrüge berücksichtigt werden,2183 sondern als Mängel der tatsächlichen Feststellungen im Rahmen einer Tatsachenrüge geltend zu machen sind. (2.) Weiter wären auch Feststellungen, die unvollständig, unklar oder widersprüchlich sind, aufgrund ihrer Sachnähe zu Mängeln der tatsächlichen Feststellungen als eben solche zu behandeln, auch wenn die bisherige Revisionspraxis diese „umgekehrten Subsumtionsmängel“2184 – in durchaus zutreffenderweise – schon im Rahmen einer Sachrüge zur Kenntnis nimmt.2185 Denn unvollständige, unklare oder widersprüchliche Feststellungen werden in aller Regel nicht auf eine fehlerhaften Auslegung einer materiell-rechtlichen Norm (so bei einem klassischen Subsumtionsmangel2186), sondern vielmehr auf tatsächliche (Darstellungs-)Mängel der Feststellungen selbst zurückzuführen sein. (3.) Schließlich wäre noch klarzustellen, dass auch eine ungenügende Begründung der tatsächlichen Feststellungen einen Mangel der Feststellungen darstellt, der ebenfalls nur noch auf eine Tatsachenrüge hin Beachtung findet. 2182 2183 2184 2185 2186
Hierzu ausführlich S. 240 ff. Vgl. ausführlich hierzu S. 241 ff. Zu dem „umgekehrten Subsumtionsmangel“ vgl. S. 252 f. Vgl. hierzu ausführlich S. 250 ff. Vgl. hierzu S. 253.
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bb) Einführung einer Rüge der Aktenwidrigkeit sowie der Protokollwidrigkeit Bei den Urteilen, gegen die eine Berufung nicht zulässig ist, wäre darüber hinaus auch zu erwägen, erhebliche Widersprüche zwischen den Urteilsgründen und dem Inhalt der Akten bzw. dem Hauptverhandlungsprotokoll als einen Mangel der tatsächlichen Feststellungen zu begreifen, sofern sich die Urteilsgründe nicht in hinreichender Weise hierzu verhalten. Konkret nachzudenken wäre also zum einen über die Einführung einer Rüge der Aktenwidrigkeit, wie sie etwa dem österreichischen Strafverfahrensrecht – wie bereits dargelegt2187 – durchaus bekannt ist, von dem Bundesgerichtshof jedoch bislang in ständiger Rechtsprechung abgelehnt wird,2188 und zum anderen über die Einführung einer Rüge der Protokollwidrigkeit. Hierin läge ein weiterer Schritt hin zur Verwirklichung eines umfassenden Rechtsschutzes in land- und oberlandesgerichtlichen Strafsachen, der Aspekten der materiellen Gerechtigkeit Vorrang vor rein formalen Erwägungen einräumt. Gerade mit Blick auf die hier vorgeschlagene materielle Tatsachenrüge, die sich immerhin gegen den Inhalt der Tatsachenfeststellungen schlechthin richtet, wäre es zudem wenig konsequent, den Revisionsführer von der Rüge abzuschneiden, dass die Feststellungen des Tatrichters offensichtlich und ohne eine nähere Erläuterung im Widerspruch zu dem Inhalt der Akten bzw. zu dem Hauptverhandlungsprotokoll stehen. Eine solche Rüge der Aktenwidrigkeit findet dabei nicht nur in § 281 Abs. 1 Z. 5 und Z. 5a sowie § 345 Abs. 1 Z. 10a öStPO ein Vorbild,2189 sondern auch im bundesdeutschen Verfahrensrecht selbst – so erkennt das Bundesverwaltungsgericht in ständiger Rechtsprechung eine solche Rüge an und erblickt darin einen Fehler in der richterlichen Überzeugungsbildung.2190 Nichts anderes kann bei richtiger Betrachtung für das Strafverfahren gelten, da tatsächliche Feststellungen, die ohne eine nähere Begründung im Widerspruch zu dem Inhalt der Akten stehen, vermuten lassen, dass der Tatrichter sich mit diesem Widerspruch nicht im hinreichenden Maße auseinandergesetzt hat, sodass durchaus Zweifel an einer ausreichenden Aufklärung der Sache durch das Tatgericht angezeigt sind. Wenn es nun aber etwa in einem Beschluss des 5. Strafsenats des Bundesgerichtshofs vom 9. August 2017 heißt, 2187
Vgl. S. 421. Eine Rüge der Aktenwidrigkeit ablehnend dagegen die bisher ständige Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs: vgl. etwa BGH HRRS 2008 Nr. 632 Rn. 5; 2005 Nr. 45 Rn. 35; 2005 Nr. 768 Rn. 28; BGH, Urteil vom 10. Juli 2001 – 5 StR 236/01 –, juris Rn. 9; mit zahlreichen Verweisen auf die ständige Rechtsprechung BGH, Beschluss vom 19. Oktober 1999 – 5 StR 442/99; weitere Nachweise auf S. 421 Fn. 2155. 2189 In der gebotenen Kürze zu dem Möglichkeiten die Aktenwidrigkeit i. R. d. österreichischen Nichtigkeitsbeschwerde zu rügen, vgl. S. 421 f. 2190 Vgl. nur BVerwG, Beschluss vom 5. Oktober 1990 – 4 B 249/89 –, juris Rn. 194; jüngst BVerwG, Beschluss vom 30. Juni 2016 – 2 B 40/15 –, juris Rn. 15; Beschluss vom 10. Mai 2016 – 2 B 32/15 –, juris Rn. 6; Beschluss vom 17. November 2015 – 5 B 17/15 –, juris Rn. 9; Beschluss vom 14. September 2015 – 4 BN 4/15 –, juris Rn. 7. 2188
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5. Kap.: Erweiterung der Revision um eine Tatsachenrüge de lege ferenda
„Das weitere Vorbringen der Revision, die Strafanzeige des Großvaters des Angeklagten habe nicht den im Urteil wiedergegebenen Inhalt, belegt allenfalls einen Widerspruch zwischen dem Inhalt des Urteils und den Akten. Wie der Bundesgerichtshof wiederholt entschieden hat, ist ein solcher Widerspruch, wenn er sich nicht aus den Urteilsgründen selbst ergibt, für sich allein regelmäßig revisionsrechtlich unerheblich, da er auf die unzulässige Rüge der Aktenwidrigkeit der Urteilsgründe hinausläuft“,2191
läuft es geradezu auf eine apodiktische Aussage ohne rechtlichen Unterbau hinaus. Jedenfalls, wenn der abweichende Inhalt der Anzeige des Großvaters für die Schuld- oder Straffrage von Bedeutung ist, wäre es de lege ferenda durchaus wünschenswert, zu wissen, was den Tatrichter zu der abweichenden Bewertung in seinen Feststellungen bewegt hat. Deutlicher noch tritt dieser Aspekt in einem Beschluss des 2. Strafsenats vom 30. April 2008 hervor. Dort heißt es nämlich: „Die Revision kann nicht mit der Verfahrensrüge gehört werden, die Kammer habe es unter Verstoß gegen die richterliche Aufklärungspflicht nach § 244 Abs. 2 StPO versäumt, Beweis über die polizeilichen Aussagen des Zeugen Mo. vom 9. September 2006 durch Vernehmung des Zeugen KOK K. zu erheben. Widersprüche zwischen dem Inhalt des Urteils und den Akten sind nach ständiger Rechtsprechung des BGH revisionsrechtlich unerheblich, wenn sie sich nicht aus dem Urteil selbst ergeben. Ergibt sich der Widerspruch nicht aus dem Urteil selbst, so läuft die Rüge der Verletzung des § 244 Abs. 2 StPO vielmehr auf die unzulässige Rüge der Aktenwidrigkeit hinaus. So verhält es sich hier.“2192
Zur Rechtfertigung der Widersprüche zwischen dem Inhalt des Urteils der Akten heißt es dort weiter, die „vom Beschwerdeführer behaupteten Widersprüche können in der Hauptverhandlung mit dem Zeugen Mo. unter Vorhalten, insbesondere der Augenscheinseinnahme des Videos vom Tatabend, erörtert und ausgeräumt worden sein“.2193 Doch gerade diese Frage – nämlich, ob der Tatrichter diese Widersprüche in der Hauptverhandlung erörtert und ausgeräumt hat – gälte es im Rahmen der Revision zu klären, sofern auch in berufungsunfähigen Strafsachen ein umfassender Rechtsschutz gewährleistet werden soll. Nichts anderes kann gelten, wenn das Hauptverhandlungsprotokoll wesentliche Ergebnisse der Vernehmungen gem. § 273 Abs. 2 StPO enthält, die im Widerspruch zu dem Inhalt des Urteils stehen, ohne dass dem Urteil eine nähere Begründung hierfür zu entnehmen wäre. Wenig überraschend geht der Bundesgerichtshof in seiner derzeitigen Rechtsprechung davon aus, dass eine Revision nicht auf einen Widerspruch zwischen dem im Urteil wiedergegebenen Inhalt einer Aussage und ihrem Inhalt, wie er sich aus einer Protokollierung gem. § 273 Abs. 2 StPO ergibt, gestützt werden kann.2194 Überzeugend ist diese Auffassung freilich nicht; so ist jedenfalls de lege ferenda nicht ersichtlich, warum ein evidenter Widerspruch 2191 2192 2193 2194
So BGH, Beschluss vom 9. August 2017 – 5 StR 75/17. BGH, Beschluss vom 30. April 2008 – 2 StR 82/08 –, juris Rn. 5. Ebd. BGH NJW 1967, 61, 61; 1966, 63.
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zwischen einer Aussage, wie sie von dem Gericht selbst in dem Protokoll festgehalten wurde und ihrer (abweichenden) Wiedergabe in dem Urteil, keinerlei revisionsrechtliche Relevanz haben soll. Richtigerweise wäre mit Blick auf einen umfassenden Rechtsschutz künftig nicht nur – wie von § 273 Abs. 2 StPO in seiner geltenden Fassung vorgesehen – von dem Strafrichter und dem Schöffengericht, sondern vielmehr auch von der großen Strafkammer, dem Schwurgericht und den erstinstanzlichen Strafsenaten der Oberlandesgerichte zu verlangen, dass sie die wesentlichen Vernehmungsergebnisse protokollieren, um eventuelle Widersprüche zwischen der tatsächlich getätigten Aussage in der Hauptverhandlung und ihrer abweichenden Wiedergabe in den Urteilsgründen für eine spätere revisionsgerichtliche Nachprüfung zugänglich zu machen. Tatsächlich wurde die Beschränkung einer derartigen Protokollierungspflicht auf die amtsgerichtlichen Spruchkörper bereits 1895, wenn auch mit Blick auf das Wiederaufnahmeverfahren, „als ein großer Uebelstand empfunden“.2195 Jedenfalls aber, weil es im Rahmen der hier vorgeschlagenen Tatsachenrüge entscheidend auf die Ergebnisse der Vernehmungen in der Tatsacheninstanz ankommen kann, wären alle erstinstanzlichen strafgerichtlichen Spruchkörper dazu anzuhalten, bei einer Hauptverhandlung die wesentlichen Ergebnisse der Vernehmungen in das Protokoll aufzunehmen. Lediglich Urteile der Berufungsspruchkörper, die auch nach dem hier unterbreiteten Reformvorschlag keiner tatsächlichen Nachprüfung unterliegen sollen,2196 wären – freilich neben den Revisionsurteilen selbst – von einer solchen Protokollierungspflicht auszunehmen. Insofern erscheint eine Reform des § 273 Abs. 2 StPO entsprechend dem nachfolgenden Vorbild mit Blick auf die Einführung einer Tatsachenrüge geradezu zwingend: § 273 Abs. 2 StPO (2) 1Aus der Hauptverhandlung vor dem Strafrichter und dem Schöffengericht sind außerdem die wesentlichen Ergebnisse der Vernehmungen in das Protokoll aufzunehmen; dies gilt nicht, wenn alle zur Anfechtung Berechtigten auf Rechtsmittel verzichten oder innerhalb der Frist kein Rechtsmittel eingelegt wird. 2Der Vorsitzende kann anordnen, dass anstelle der Aufnahme der wesentlichen Vernehmungsergebnisse in das Protokoll einzelne Vernehmungen im Zusammenhang als Tonaufzeichnung zur Akte genommen werden. 3 § 58a Abs. 2 Satz 1 und 3 bis 6 gilt entsprechend.
§ 273 Abs. 2 StPO-E (2) 1Aus der Hauptverhandlung vor einem Gericht erster Instanz sind außerdem die wesentlichen Ergebnisse der Vernehmungen in das Protokoll aufzunehmen; dies gilt nicht, wenn alle zur Anfechtung Berechtigten auf Rechtsmittel verzichten oder innerhalb der Frist kein Rechtsmittel eingelegt wird. 2Der Vorsitzende kann anordnen, dass anstelle der Aufnahme der wesentlichen Vernehmungsergebnisse in das Protokoll einzelne Vernehmungen im Zusammenhang als Tonaufzeichnung zur Akte genommen werden. 3§ 58a Absatz 2 Satz 1 und 3 bis 6 gilt entsprechend.
2195 Begründung zum Entwurf 1895, Verhandlungen des Reichstags, 9. Legislaturperiode, IV. Session 1895/97, 1. Anlageband, Aktenstück Nr. 73, S. 363. 2196 Vgl. S. 427 f.
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Gerade mit Blick auf eine solche Änderung des § 273 Abs. 2 StPO wäre die Möglichkeit einer Rüge der Protokollwidrigkeit, wie sie weiter oben vorgeschlagen wurde, im Übrigen sogar zwingend zuzulassen, da eine solche Protokollierung sonst außer in den berufungsfähigen Sachen faktisch bedeutungslos wäre. cc) Normierung des Revisionsgrundes der überspannten Anforderungen an die tatrichterliche Überzeugung Die Argumente, die vorliegend für die Notwendigkeit einer gesetzlichen Normierung der Darstellungskontrolle vorgetragen wurden, gelten freilich auch für die ständige Praxis der Revisionsgerichte, tatrichterliche Freisprüche mit der Begründung aufzuheben, dass die Beweiswürdigung auch dann rechtsfehlerhaft ist, wenn durch den Tatrichter „an die zur Verurteilung erforderliche Gewissheit überspannte Anforderungen gestellt worden sind“.2197 Dabei ist dieser Rechtsprechung in der Sache durchaus zuzustimmen, da es dem Tatrichter in aller Regel schon aus tatsächlichen Gründen nicht möglich sein wird, eine über jeden denkbaren Zweifel erhabene Gewissheit von der Schuld des Angeklagten zu gewinnen. Daher muss von ihm verlangt werden, sich grundsätzlich damit zu begnügen, dass objektiv eine hohe Wahrscheinlichkeit für die Schuld des Angeklagten gegeben ist und er subjektiv keine vernünftigen – also intersubjektiv vermittelbaren – Zweifel an der Schuld des Angeklagten hat. Völlig zutreffend ist im englischen Recht insofern etwa von der „conviction beyond reasonable doubt“, also von der „Überzeugung jenseits vernünftiger Zweifel“, die Rede, was die Anforderungen an die richterliche Überzeugung deutlich treffender beschreibt als die von § 261 StPO genutzte Wendung „aus dem Inbegriff der Verhandlung geschöpften Überzeugung“. Insoweit gälte es jedoch, die höchstrichterlich entwickelten Anforderungen an freisprechende Urteile gesetzlich zu legitimieren; schließlich prüfen die Revisionsgerichte schon seit den 1980er-Jahren ohne eine entsprechende Rechtsgrundlage2198 bereits im Rahmen einer allgemeinen Sachrüge, ob der Tatrichter „überspannte Anforderungen an die für eine Verurteilung erforderliche Gewißheit gestellt hat“.2199 Dabei ist es durchaus folgerichtig, dass die Revisionsgerichte davon ausgehen, dass Zweifel, die dieses vernünftige Maß überschreiten, einen Freispruch nicht zu begründen vermögen. Fragwürdig ist allein die revisionsgerichtliche Praxis, einen solchen Mangel bereits auf eine allgemeine Sachrüge hin zur Kenntnis zu nehmen, obwohl selbst die Revisionsgerichte ihn als einen Mangel der Beweiswürdigung 2197 So wörtlich BGH, Urteil vom 14. September 2017 – 4 StR 45/17 –, juris Rn. 7; Urteil vom 5. Juli 2017 – 2 StR 110/17 –, juris Rn. 6; NStZ 2010, 407, 408; vgl. ausführlich hierzu aus S. 311 ff. 2198 Vgl. S. 315 ff. 2199 Vgl. nur BGH, Urteil vom 25. März 1982 – 4 StR 705/81 –, juris Rn. 7; jünger etwa BGH, Urteil vom 7. Dezember 2017 – 4 StR 162/17 –, juris Rn. 9; Urteil vom 5. Dezember 2017 – 1 StR 416/17 –, juris Rn. 22; Urteil vom 14. September 2017 – 4 StR 45/17 –, juris Rn. 7; Urteil vom 10. Mai 2017 – 2 StR 258/16 –, juris Rn. 17.
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einordnen.2200 Dabei stellt ein Verstoß gegen § 261 StPO richtigerweise bloß eine Verfahrensrechtsverletzung dar, da es sich bei der Vorschrift unstreitig um eine Rechtsnorm über das Verfahren handelt. Daher wäre ein Mangel des (freisprechenden) Urteils, der darauf beruht, dass der Tatrichter überspannte Anforderungen an die für eine Verurteilung erforderliche Gewissheit gestellt hat, zutreffenderweise erst auf eine Verfahrensrüge zur Kenntnis zu nehmen.2201 Allerdings wird den Urteilsgründen regelmäßig nicht zu entnehmen sein, ob der Tatrichter nun überspannte Anforderungen an die zur Verurteilung erforderliche Gewissheit gestellt hat oder ob er es lediglich versäumt hat, in den Urteilsgründen in hinreichender Weise mitzuteilen, warum er die für eine Verurteilung erforderliche Überzeugung nicht erlangen konnte. Insofern liegt es auch hier näher, statt den – dogmatisch sicher überzeugenderen – Weg über die Verfahrensrüge zu wählen, eine Lösung über die hier vorgeschlagene Tatsachenrüge anzustreben. Eine Rüge der Staatsanwaltschaft, des Privatklägers oder der Nebenklage, dass der Tatrichter überspannte Anforderungen an die zur Verurteilung erforderliche Gewissheit gestellt hat, wird sich nämlich stets schwerer begründen lassen, als die Rüge, dass er es versäumt habe, in den Urteilsgründen darzulegen, warum die zur Verurteilung erforderliche Gewissheit nicht vorgelegen habe. Insoweit handelte es sich jedoch um einen Mangel der Urteilsdarstellung, der nach dem hier unterbreiteten Vorschlag mit der formellen Tatsachenrüge anzufechten wäre. Eine solche Rüge wäre in diesem Fall allerdings darauf zu beschränken, dass das Tatgericht offensichtlich überspannte Anforderungen an die zur Verurteilung erforderliche Gewissheit gestellt hat. Durch die Beschränkung einer solchen „Überzeugungsrüge“ auf eine offensichtliche Überspannung der an die zur Verurteilung erforderlichen Gewissheit wäre sichergestellt, dass durch die Revisionsgerichte keine übermäßigen Begründungsanforderungen an einen Freispruch gestellt würden, die den Tatrichter letztlich dazu nötigen könnten, einen Angeklagten auch entgegen seiner eigentlichen Überzeugung zu verurteilen. dd) Konkreter Gesetzesvorschlag zur Umsetzung einer formellen Tatsachenrüge Zur konkreten Umsetzung der oben unterbreiteten Vorschläge – nämlich (a) der gesetzlichen Normierung der höchstrichterlichen entwickelten Fallgruppen der Darstellungskontrolle, (b) der Einführung einer Akten- und Protokollwidrigkeitsrüge sowie (c) der gesetzlichen Normierung der Anfechtbarkeit eines Freispruchs wegen überspannter Anforderungen an die zur Verurteilung erforderliche Gewissheit – böte sich die Anfügung eines neuen Absatzes 3 nach § 337 Abs. 2 StPO an, der diese Vorschläge in besondere Revisionsgründe überführt. Ein solcher Absatz 3 könnte dabei etwa den folgenden Wortlaut haben: 2200 2201
Vgl. nur BGH, Urteil vom 14. September 2017 – 4 StR 45/17 –, juris Rn. 7. Siehe S. 316 ff.
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§ 337 Abs. 3 StPO-E (3) 1Die tatsächlichen Feststellungen sind insbesondere auch dann mangelhaft, wenn 1. sie mit Denkgesetzen oder gesichertem Erfahrungswissen nicht übereinstimmen; 2. sie unvollständig, unklar oder widersprüchlich sind; 3. für sie offenbar unzureichende Gründe (§ 267) angegeben sind oder 4. zwischen den Urteilsgründen und dem Inhalt der Akten oder dem Hauptverhandlungsprotokoll ein erheblicher Widerspruch besteht, ohne dass die Urteilsgründe hierzu in hinreichender Weise Stellung nehmen. 2 Die einem freisprechenden Urteil zugrunde liegenden Feststellungen gelten auch dann als mangelhaft, wenn das Gericht offensichtlich überspannte Anforderungen an seine zur Verurteilung erforderliche Überzeugung gemäß § 261 gestellt hat.
Das Wort „insbesondere“ zu Beginn des § 337 Abs. 3 Satz 1 StPO-E verdeutlicht hierbei, dass die in der Vorschrift aufgezählten formellen Feststellungsmangel keinesfalls abschließend sind, und lässt somit Raum für eine künftige Rechtsfortbildung durch die Revisionsrechtsprechung. Dabei orientieren sich die Rügegründe der Nummern 1 bis 3 eng an die von der höchstrichterlichen Rechtsprechung im Rahmen der Darstellungskontrolle entwickelten Fallgruppen.2202 Bezüglich der Auslegung dieser Revisionsgründe könnte somit ohne Weiteres auf die bisherige Rechtsprechung zur Darstellungskontrolle zurückgegriffen werden.2203 Durch die Einordnung der in § 337 Abs. 3 Satz 1 StPO-E aufgeführten Revisionsgründe als Mängel der tatsächlichen Feststellungen wird zugleich der bisherigen Revisionspraxis, vergleichbare Mängel bereits auf eine Sachrüge hin zu berücksichtigen,2204 ausdrücklich eine Absage erteilt. Jene Mängel wären somit künftig zwingend mittels einer (formellen) Tatsachenrüge geltend zu machen. Letztlich ergänzt der hier vorgeschlagene § 337 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 bis 3 StPO-E damit die neugefassten Absätze 1 und 5 des § 267 StPO,2205 wonach der Tatrichter auch nach dem Gesetzeswortlaut verpflichtet würde, anzugeben, aus welchen Gründen er die festgestellten Tatsachen für erwiesen erachtet hat. § 337 Abs. 3 Satz 1 Nr. 4 StPO-E enthält die hier neu vorgeschlagenen Rügen der Akten- und Protokollwidrigkeit.2206 Während also der neugefasste § 337 Abs. 1 StPO-E2207 dem Revisionsgericht vor allem den Zugriff auf inhaltliche Mängel der tatrichterlichen Feststellungen eröffnet, wird ermöglicht § 337 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 bis 3 StPO-E dem Revisionsgericht die Prüfung der schlüssigen und überzeugenden Darstellung der tatrichterlichen Sachverhaltsfeststellungen, sofern eine entsprechende Rüge erhoben ist. 2202 2203 2204 2205 2206 2207
Vgl. hierzu schon S. 430. Vgl. schon S. 240 ff. Vgl. hierzu S. 249 ff.; 252 ff.; 256 ff. Vgl. S. 428 f. Vgl. S. 431 ff. Vgl. S. 427.
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Der hier vorgeschlagene § 337 Abs. 3 Satz 2 StPO-E hingegen fingiert („gelten […] als“) bezüglich der zur Verurteilung erforderlichen tatrichterlichen Gewissheit, dass Feststellungen, die einem freisprechenden Urteil zugrunde liegen, auch dann als mangelhaft gelten, wenn das Gericht offensichtlich überspannte Anforderungen an die zur Verurteilung erforderliche Überzeugung gem. § 261 StPO gestellt hat. Der Weg über eine gesetzliche Fiktion wurde vor allem deshalb gewählt, da überspannte Anforderungen an die zur Verurteilung erforderliche Überzeugung – mehr noch als Verstöße gegen Denkgesetze und allgemeine Erfahrungssätze – einen Verfahrensfehler darstellen, sodass es wenig plausibel erschien, diese ohne Weiteres mit mangelhaften Feststellungen gleichzusetzen. In der Sache zwingt § 337 Abs. 3 Satz 2 StPO-E – im Zusammenspiel mit dem neugefassten § 267 Abs. 5 Satz 1 StPO2208 – den Tatrichter auch de lege scripta, seine tatsächlichen Zweifel, die einer Verurteilung entgegenstehen, in den Urteilsgründen so darzulegen, dass sie auch von dem Revisionsgericht nachvollzogen werden können. b) Erweiterung der tatrichterlichen Urteilsbegründungspflichten mit Blick auf die formelle Tatsachenrüge Bei einer ausdrücklichen Normierung der höchstrichterlich entwickelten Darstellungskontrolle als eine formelle Tatsachenrüge wäre der Tatrichter zudem gesetzlich dazu anzuhalten, seine Urteilengründe so abzufassen, dass das Revisionsgericht ohne Weiteres nachprüfen kann, ob die in § 337 Abs. 3 StPO-E2209 genannten Revisionsgründe vorliegen. Insofern wäre auch eine entsprechende Änderung des § 267 Abs. 4 StPO angezeigt, aus der hervorgeht, dass die Urteilsgründe des Tatrichters den Anforderungen entsprechen müssen, die sich aus dem neuangefügten § 337 Abs. 3 StPO-E ergeben. Konkret böte sich dabei eine Änderung nach diesem Vorbild an: § 267 Abs. 4 StPO (4) 1Verzichten alle zur Anfechtung Berechtigten auf Rechtsmittel oder wird innerhalb der Frist kein Rechtsmittel eingelegt, so müssen die erwiesenen Tatsachen, in denen die gesetzlichen Merkmale der Straftat gefunden werden, und das angewendete Strafgesetz angegeben werden; bei Urteilen, die nur auf Geldstrafe lauten oder neben einer Geldstrafe ein Fahrverbot oder die Entziehung der Fahrerlaubnis und damit zusammen die Einziehung des Führerscheins anordnen, oder bei Verwarnungen mit Strafvorbehalt kann hierbei auf den zugelassenen Anklagesatz, auf die An2208 2209
Vgl. S. 428 f. Vgl. S. 436.
§ 267 Abs. 4 StPO-E (4) 1Verzichten alle zur Anfechtung Berechtigten auf Rechtsmittel oder wird innerhalb der Frist kein Rechtsmittel eingelegt, so müssen die erwiesenen Tatsachen, in denen die gesetzlichen Merkmale der Straftat gefunden werden, und das angewendete Strafgesetz angegeben werden; bei Urteilen, die nur auf Geldstrafe lauten oder neben einer Geldstrafe ein Fahrverbot oder die Entziehung der Fahrerlaubnis und damit zusammen die Einziehung des Führerscheins anordnen, oder bei Verwarnungen mit Strafvorbehalt kann hierbei auf den zugelassenen Anklagesatz, auf die An-
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klage gemäß § 418 Abs. 3 Satz 2 oder den Strafbefehl sowie den Strafbefehlsantrag verwiesen werden. 2Absatz 3 Satz 5 gilt entsprechend. 3Den weiteren Inhalt der Urteilsgründe bestimmt das Gericht unter Berücksichtigung der Umstände des Einzelfalls nach seinem Ermessen. 4Die Urteilsgründe können innerhalb der in § 275 Abs. 1 Satz 2 vorgesehenen Frist ergänzt werden, wenn gegen die Versäumung der Frist zur Einlegung des Rechtsmittels Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gewährt wird.
klage gemäß § 418 Absatz 3 Satz 2 oder den Strafbefehl sowie den Strafbefehlsantrag verwiesen werden. 2Absatz 3 Satz 5 gilt entsprechend. 3Den weiteren Inhalt der Urteilsgründe bestimmt das Gericht unter Berücksichtigung der Umstände des Einzelfalls sowie den sich aus § 337 Absatz 3 ergebenden Anforderungen nach seinem Ermessen. 4Die Urteilsgründe können innerhalb der in § 275 Absatz 1 Satz 2 vorgesehenen Frist ergänzt werden, wenn gegen die Versäumung der Frist zur Einlegung des Rechtsmittels Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gewährt wird.
Durch die hier vorgeschlagene Änderung des § 267 Abs. 4 StPO wird der Tatrichter also auch von Gesetzes wegen verpflichtet, bei der Abfassung der Urteilsgründe sicherzustellen, dass diese mit den Denkgesetzen und gesichertem Erfahrungswissen übereinstimmen, vollständig, klar und nicht widersprüchlich sind, kein erheblicher Widerspruch zwischen den Urteilsgründen und dem Inhalt der Akten oder dem Hauptverhandlungsprotokoll besteht, keine überspannten Anforderungen an ein freisprechendes Urteil gestellt werden sowie auch im Übrigen den Anforderungen des § 267 StPO-E2210 genügen.
III. Erfordernisse an die Revisionsanträge bei Einführung einer Tatsachenrüge 1. Generelle Anforderungen an die Begründung einer Tatsachenrüge Da die hier vorgeschlagene Tatsachenrüge kein eigenständiges Rechtsmittel, sondern bloß eine Erweiterung der Revision darstellt, richtet sich auch ihre Begründung grundsätzlich nach § 344 Abs. 1 StPO. So hat der Beschwerdeführer auch im Falle einer Tatsachenrüge eine Erklärung abzugeben, inwieweit er das Urteil anficht und dessen Aufhebung beantragt (Revisionsanträge) und diesen Antrag zu begründen. Mit Blick auf die Tatsachenrüge müsste allerdings sichergestellt werden, dass aus der Begründung künftig nicht nur hervorgeht, ob das Urteil wegen einer Verletzung des materiellen Rechts (Sachrüge) oder einer verfahrensrechtlichen Norm (Verfahrensrüge) angefochten wird, sondern gegebenenfalls auch, ob es wegen eines Mangels der tatsächlichen Feststellungen (Tatsachenrüge) gerügt wird. Insoweit bedürfte es also vor allem einer entsprechenden Anpassung des § 344 Abs. 2 StPO, wobei sich etwa diese Umgestaltung anböte:
2210
Vgl. S. 428 sowie 429.
B. Tatsachenrüge im bundesdeutschen Revisionsrecht § 344 Abs. 2 StPO (2) 1Aus der Begründung muß hervorgehen, ob das Urteil wegen Verletzung einer Rechtsnorm über das Verfahren oder wegen Verletzung einer anderen Rechtsnorm angefochten wird. 2 Ersterenfalls müssen die den Mangel enthaltenden Tatsachen angegeben werden.
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§ 344 Abs. 2 und 3 StPO-E (2) Aus der Begründung muss hervorgehen, ob das Urteil wegen Verletzung einer Rechtsnorm über das Verfahren oder, wegen Verletzung einer anderen Rechtsnorm oder wegen eines Mangels der tatsächlichen Feststellungen angefochten wird. Ersterenfalls müssen die den Mangel enthaltenden Tatsachen angegeben werden. (3) Wird das Urteil wegen Verletzung einer Rechtsnorm über das Verfahren angefochten, müssen die den Mangel enthaltenden Tatsachen angegeben werden.
Die hier vorgeschlagene Streichung des bisherigen Satz 2 des § 344 Abs. 2 StPO, dessen Inhalt sich unverändert in dem neuangefügten Absatz 3 wiederfindet, dient dabei ausschließlich der Übersichtlichkeit der Vorschrift. 2. Konkrete Anforderungen an die Begründung einer Tatsachenrüge a) Pflicht zur umfassenden Ausführung der Tatsachenrüge Weiter wäre von dem Beschwerdeführer auch bei einer Tatsachenrüge – ähnlich wie schon bei der Verfahrensrüge – zu verlangen, dass er die den Mangel der tatsächlichen Feststellungen enthaltenden Tatsachen bereits in seiner Revisionsschrift so substantiiert darlegt, dass das Revisionsgericht allein auf dieser Grundlage beurteilen kann, ob die vorinstanzliche Entscheidung – die Richtigkeit des Beschwerdevortrags unterstellt – auf einem Mangel der tatsächlichen Feststellungen beruht. Soweit dem Beschwerdeführer dies nicht gelingt, wäre die Tatsachenrüge – wie auch die Verfahrensrüge – als unzulässig zurückzuweisen. Nur so wäre sichergestellt, dass die Tatsachenrüge sich nicht in einem bloßen Widerspruch gegen die Feststellungen der Vorinstanz erschöpft. Zumal das Revisionsgericht gerade bei einer materiellen Tatsachenrüge – also der Rüge, dass die Feststellungen inhaltlich falsch seien – ohne eine substantiierte Begründung in aller Regel nicht in der Lage wäre, zu erkennen, worin der Beschwerdeführer die inhaltlichen Mängel der tatrichterlichen Feststellungen erblickt. Auch würde die Revisionsinstanz ohne eine weitergehende Begründungspflicht für die Tatsachenrüge de facto zu einer verkürzten Tatsacheninstanz umgestaltet werden, in deren Rahmen das Revisionsgericht verpflichtet wäre, sobald eine Tatsachenrüge erhoben ist, die tatrichterlichen Feststellungen erschöpfend und von Amts wegen auf tatsächliche Mängel hin zu untersuchen. Gerade mit Blick auf die
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begrenzten Kapazitäten des Bundesgerichtshofs2211 als Revisionsinstanz läge es allerdings fern, eine solche „allgemeine Tatsachenrüge“ zuzulassen.2212 Deshalb wäre auch bei einer formellen Tatsachenrüge eine qualifizierte Begründung der Revision durch den Beschwerdeführer zu verlangen, auch wenn Darstellungsmängel – ähnlich wie sachlich-rechtliche Mängel – in aller Regel schon der Urteilsbegründung selbst zu entnehmen sein werden. Nur bei einer solchen Entlastung der Revisionsgerichte wäre trotz der Einführung einer Tatsachenrüge sichergestellt, dass gerade der Bundesgerichtshof seiner vorrangigen Aufgabe, nämlich der Vereinheitlichung und Fortbildung des Bundesrechts, weiterhin effizient nachkommen kann. b) Anbringung von Beweisanträgen im Rahmen der Revisionsanträge Wie noch näher ausgeführt wird,2213 setzt die hier vorgeschlagene Ausgestaltung der Tatsachenrüge zwingend die Möglichkeit einer selbstständigen Beweisaufnahme durch das Revisionsgericht voraus. Andernfalls könnte das Revisionsgericht in vielen Fällen nicht nachvollziehen, ob das Urteil überhaupt auf einem der gerügten Mängel der tatsächlichen Feststellungen beruht. Um trotz dieser Möglichkeit der selbstständigen Beweisaufnahme durch das Revisionsgericht zu verhindern, dass das Revisionsverfahren seine grundsätzliche Natur als ein schriftliches Verfahren einbüßt, ist es notwenig, den Beschwerdeführer dazu anzuhalten, entsprechende Beweisanträge unmittelbar mit seinen Revisionsanträgen zu verbinden. Nur so wäre es dem Revisionsgericht möglich, bereits anhand der schriftlichen Revisionsanträge samt Begründung nachzuvollziehen, welche konkreten Beweise der Beschwerdeführer in der Lage ist, für die von ihm behaupteten Mängel der tatrichterlichen Feststellungen vorzubringen. Um auf die Durchführung einer mündlichen Revisionshauptverhandlung dort zu verzichten, wo offensichtlich ist, dass die von dem Beschwerdeführer angebotenen Beweismittel nicht in der Lage sein werden, seine Rüge zu stützen, wäre dem Revisionsgericht zugleich die Möglichkeit einzuräumen, über die Beweisanträge des Beschwerdeführers auch außerhalb einer Revisionshauptverhandlung zu entscheiden. Nur so wäre sichergestellt, dass der Beschwerdeführer durch seine Beweisanträge keine Revisionshauptverhandlung erzwingen kann. 2211 Denn ungeachtet der Einführung einer Tatsachenrüge dürften Urteile der Amtsgerichte auch künftig vorrangig mit der rechtschutzintensiveren Berufung zu den Landgerichten angefochten werden, sodass eine Tatsachenrüge zu den Oberlandesgerichten (die nach dem hier vorgeschlagenen § 337 Abs. 1a StPO-E – vgl. S. 427 – ohnehin nur alternativ zu der Berufung zulässig wäre) wohl eher die Ausnahme bleiben dürfte. 2212 Sofern aber eine „allgemeine Tatsachenrüge“ gewünscht ist, wäre in land- und oberlandesgerichtlichen Strafsachen tatsächlich nicht über die Normierung einer erweiterten Revision, sondern vielmehr über die einer beschränkten Berufung zu den Oberlandesgerichten nachzudenken, wie sie durch den Verfasser in Ansätzen bereits in Andoor, in: FS Wolf, S. 37 ff., vorgeschlagen wurde. 2213 Vgl. hierzu ausführlich S. 442 ff.
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Diese umfassenden Einschränkungen des Beweisantragsrechts im Revisionsverfahren sind nur sachgerecht, als das Revisionsgericht – anders als die Tatgerichte – in aller Regel schon anhand der Revisionsanträge, der tatrichterlichen Urteilsgründe sowie der Verfahrensakten beurteilen können wird, ob es für seine Entscheidung auf die beantragten Beweismittel angewiesen sein wird oder nicht. Insofern braucht es hier auch keiner Ausnahme von der Regel des § 304 Abs. 4 StPO, wonach Beschlüsse und Verfügungen des Bundesgerichtshofes und der Oberlandesgerichte grundsätzlich unanfechtbar sind; selbst wenn durch die Beschlüsse dieser Gerichte künftig auch Beweisanträge des Beschwerdeführers abgelehnt werden könnten. c) Konkreter Gesetzesvorschlag zur Umsetzung der erweiterten Begründungspflichten bei einer Tatsachenrüge Zur gesetzlichen Normierung der hier vorgeschlagenen besonderen Begründungspflichten des Beschwerdeführers im Rahmen einer Tatsachenrüge wären die folgenden zwei Absätze an § 344 Abs. 2 StPO anzufügen: § 344 Abs. 4 und 5 StPO-E (4) 1Wird das Urteil wegen eines Mangels der tatsächlichen Feststellungen angefochten, sind konkrete Anhaltspunkte anzugeben, die Zweifel an der Richtigkeit oder Vollständigkeit der Tatsachenfeststellungen im angefochtenen Urteil begründen und deshalb eine Aufhebung des Urteils gebieten. 2Zugleich hat der Beschwerdeführer die für eine Nachprüfung der tatsächlichen Feststellungen erforderlichen Beweisanträge zu stellen. (5) 1Das Gericht kann über die Beweisanträge außerhalb der Hauptverhandlung entscheiden. 2§ 244 Absätze 3 bis 6 finden entsprechende Anwendung. 3Die Entscheidung ist dem Beschwerdeführer bekanntzumachen. 4Die Beweisanträge sind, soweit ihnen stattgegeben ist, dem Gegner des Beschwerdeführers mitzuteilen.
Der hier vorgeschlagene § 344 Abs. 4 Satz 1 StPO-E orientiert sich an § 520 Abs. 3 Satz 2 Nr. 3 ZPO und verlangt von dem Beschwerdeführer, bei der Anfechtung eines Urteils wegen tatsächlicher Mängel, konkrete Anhaltspunkte anzugeben, die Zweifel an der Richtigkeit oder Vollständigkeit der tatrichterlichen Feststellungen begründen und deshalb eine Aufhebung des Urteils gebieten. Damit wird sichergestellt, dass das Revisionsgericht auch bei einer Tatsachenrüge, die sich gegen die inhaltliche Richtigkeit der Feststellungen richtet, zuverlässig erkennen kann, worin der Beschwerdeführer den Mangel der Feststellungen erblickt, und keine vollumfängliche Prüfung der tatrichterlichen Feststellungen vornehmen muss. § 344 Abs. 4 Satz 2 StPO-E hingegen ordnet an, dass der Beschwerdeführer etwaige Beweisanträge, die auf eine Nachprüfung der Mangelhaftigkeit der tatsächlichen Feststellungen zielen, schon mit seinen Revisionsanträgen zu stellen hat – in der Revisionshauptverhandlung selbst können demnach keine Beweisanträge mehr gestellt werden.
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§ 344 Abs. 5 Satz 1 StPO-E ermöglicht dem Revisionsgericht, wie bereits weiter oben vorgeschlagen, über Beweisanträge im Revisionsverfahren auch außerhalb der Revisionshauptverhandlung und damit vor ihrer Eröffnung abschließend zu entscheiden. Zugleich aber stellt der in § 344 Abs. 5 Satz 2 StPO-E enthaltene Verweis auf § 244 Abs. 3 bis 6 StPO sicher, dass die Beweisanträge nicht völlig willkürlich abgelehnt werden können. Des Weiteren ist die wegen § 304 Abs. 4 StPO unanfechtbare Entscheidung des Revisionsgerichts über die Beweisanträge gem. § 344 Abs. 5 Satz 3 und 4 StPO-E dem Beschwerdeführer bekanntzumachen und, soweit den Beweisanträgen stattgegeben wird, auch dem Beschwerdegegner mitzuteilen, damit sich die Verfahrensbeteiligten frühzeitig auf die Revisionshauptverhandlung einstellen können.
IV. Möglichkeit einer selbstständigen Beweisaufnahme durch das Revisionsgericht Wie bereits weiter oben angedeutet,2214 gilt es, dem Revisionsgericht im Zusammenhang mit der Einführung einer Tatsachenrüge auch die Möglichkeit zur Durchführung einer eigenen Beweisaufnahme einzuräumen. Nur so wäre es in der Lage, im Rahmen der Tatsachenrüge umfassend nachzuprüfen, ob das Urteil wirklich auf den von dem Beschwerdeführer gerügten tatsächlichen Mängeln beruht. Im Rahmen dieses Unterabschnittes wird erörtert, wie eine derartige Beweisaufnahme durch das Revisionsgericht ausgestaltet sein könnte. 1. Zur Notwendigkeit einer Beweisaufnahme in der Revisionshauptverhandlung In aller Regel könnte ein Revisionsgericht bei einer Rüge von formellen Mängeln der Feststellungen (formelle Tatsachenrüge), insbesondere bei solchen Mängeln, die in dem neuen § 337 Abs. 3 StPO-E aufgeführt sind,2215 schon allein anhand der Urteilsgründe, der Akten und des Hauptverhandlungsprotokolls entscheiden, ob diese tatsächlich vorliegen. Etwas anderes gilt jedoch, wenn mit einer Tatsachenrüge nicht bloß die Darstellung der Feststellungen, sondern ihr Inhalt selbst als fehlerhaft angegriffen würde (materielle Tatsachenrüge) – ein solcher inhaltlicher Mangel der tatrichterlichen Sachverhaltsfeststellungen wird für das Revisionsgericht regelmäßig nicht schon allein anhand des Urteils und der Verfahrensakten nachzuvollziehen sein. Man stelle sich etwa vor, dass ein Angeklagter wegen schwerer Körperverletzung gem. § 226 Abs. 2 i. V. m. Abs. 1 Nr. 3 StGB verurteilt wird, weil er seinem Opfer vorsätzlich eine Narbe im Gesicht zugefügt und damit „in erheblicher Weise dauernd entstellt“ haben soll. Nun hat der Tatrichter die Folgen der Verletzung des Opfers, von 2214 2215
Vgl. S. 440. Vgl. S. 436 f.
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denen er sich im Wege der Augenscheineinnahme überzeugt hat, in den Urteilsgründen ausführlich und detailliert dargelegt. Diese Feststellungen lassen sich auch ohne Weiteres unter das Tatbestandsmerkmal „in erheblicher Weise dauernd entstellt“ subsumieren. Auch im Übrigen ist die Urteilsbegründung des Tatrichters formell einwandfrei. Der Angeklagte führt jedoch im Rahmen seiner Revision aus, dass die Beschreibung der Verletzungsfolgen des Opfers in den Urteilsgründen unzutreffend sei. Er beschreibt in seiner Revisionsbegründung ausführlich und detailliert die nach seiner Ansicht bei dem Opfer zum Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung zurückgebliebenen Verletzungsfolgen, die zwar in Ansätzen mit den Feststellungen des Tatrichters übereinstimmen, sich im Ergebnis jedoch nicht mehr unter das Tatbestandsmerkmal der erheblichen Entstellung im Sinne des § 226 Abs. 1 Nr. 3 StGB subsumieren lassen. Zwar befinden sich in den Verfahrensakten auch Bilder von der Verletzung, doch wurden diese zum Tatzeitpunkt angefertigt, sodass sie eine Beurteilung der Frage, ob die tatsächliche Natur der Verletzung zum Zeitpunkt der tatrichterlichen mündlichen Verhandlung den Feststellungen des Tatrichters oder den Angaben des Beschwerdeführers entsprechen, nicht erlauben. Im vorliegenden Beispiel müsste das Revisionsgericht das Rechtsmittel nach dem geltenden Recht als unbegründet verwerfen, da der Beschwerdeführer mit der Revision keine Gesetzesverletzung rügt. Insbesondere liegt hier auch keine mit der Sachrüge anfechtbare Verletzung des materiellen Rechts vor, da gerade nicht gerügt wird, dass der Tatrichter die rechtliche Bedeutung des Tatbestandsmerkmals „in erheblicher Weise dauernd entstellt“ verkannt hat, sondern vielmehr, dass er Feststellungen getroffen hat, die zwar das Tatbestandsmerkmal der erheblichen Entstellung ausfüllen, aber nicht mit der Wirklichkeit der tatsächlichen Verletzungen übereinstimmen.2216 Selbst eine formelle Tatsachenrüge, wie sie hier vorgeschlagen wird,2217 hätte vorliegend keine Aussicht auf Erfolg, da die Feststellungen des Tatrichters keine Darstellungsmängel aufweisen. Insbesondere scheidet insoweit auch eine Rüge der Aktenwidrigkeit nach § 337 Abs. 3 Nr. 4 StPO-E2218 aus, da die Akte eben nur Bilder vom Tatzeitpunkt, nicht aber von dem Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung enthält. Erfolgsversprechend wäre damit allenfalls die hier ebenfalls vorgeschlagene materielle Tatsachenrüge gem. § 337 Abs. 1 Var. 2 StPO-E2219. 2216
Dass derart verfehlte Feststellungen des Tatgerichts, die aber für das Revisionsgericht aufgrund der „gelungenen“ Begründung durch den Berichterstatter verborgen bleiben, keinesfalls völlig lebensfern sind, zeigt etwa ein Blick in das Urteil des Landgerichts München I vom 9. Januar 2009 – 1 Ks 121 Js 10459/08 („Fall Sven G.“), besprochen von Erb in NStZ 2011, 186 und GA 2012, 72 ff.; so hob der Bundesgerichtshof das Urteil des Landgerichts zwar auf die Revision des Angeklagten hin auf, hielt jedoch ausgerechnet die Feststellungen des Urteils weiterhin aufrecht, BGH 1 StR 297/09 – Beschluss vom 4. August 2009 = HRRS 2009 Nr. 816 – kritisch hierzu Erb, GA 2012, 72 ff. 2217 Vgl. S. 430 ff. 2218 Vgl. S. 436 f. 2219 Vgl. S. 427.
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Über eine solche materielle Rüge, mit der behauptet wird, dass die von dem Tatrichter festgestellten Verletzungsfolgen nicht mit der Lebenswirklichkeit übereinstimmen, kann das Revisionsgericht jedoch nur dann sinnvoll entscheiden, wenn ihm die Möglichkeit eingeräumt ist, sich selbst einen unmittelbaren Eindruck von den Verletzungen des Opfers zu verschaffen. Es zeigt sich also, dass die Einführung einer materiellen Tatsachenrüge geradezu zwingend voraussetzt, dass dem Revisionsgericht zugleich die Möglichkeit eingeräumt ist, selbstständig Beweise zu erheben, soweit die Beweiserhebung notwendig ist, um zu beurteilen, ob das Urteil tatsächlich auf einen Mangel der tatrichterlichen Sachverhaltsfeststellungen beruht. 2. Allgemeine Erwägungen zur Ausgestaltung einer revisionsgerichtlichen Beweisaufnahme a) Abgrenzung zur Einführung einer revisionsgerichtlichen Beweisaufnahme in den bisherigen Reformvorschlägen Der Vorschlag, dem Revisionsgericht die Möglichkeit zu eröffnen, eine selbstständige Beweisaufnahme durchzuführen, ist keinesfalls neu. Wie bereits an anderer Stelle ausgeführt,2220 sahen nämlich schon der Entwurf 1939 und der Diskussionsentwurf 1975 neben der Erweiterung der Revision zu einer Urteilsrüge eine eigenständige Beweiserhebung durch das Urteilsrügegericht vor. Allerdings waren diese Vorschläge zum Teil auf erhebliche Kritik in der Literatur gestoßen.2221 Gerade in Bezug auf den Diskussionsentwurf 1975 wurde moniert, dass eine punktuelle Beweisaufnahme durch das Revisionsgericht kein vollständiges Bild von dem festzustellenden Lebenssachverhalt liefern könne.2222 Diese Kritik ist dabei durchaus berechtigt, diente doch die Beweisaufnahme nach dem Diskussionsentwurf 1975 tatsächlich dem Zweck, das Urteilsrügegericht in die Lage zu versetzen, die mangelhaften Feststellungen des Tatrichters aufgrund einer eigenen Beweisaufnahme punktuell zu korrigieren oder zu ergänzen, um dem Rechtsmittelgericht so ein „Durchentscheiden“ zu ermöglichen. Ziel der Beweisaufnahme nach dem Diskussionsentwurf 1975 war es damit vor allem, eine als wenig prozessökonomisch empfundene Zurückverweisung der Sache an die Vorinstanz zu vermeiden.2223 Der hier unterbreitete Vorschlag, die Revisionsinstanz um die Möglichkeit einer Beweisaufnahme zu ergänzen, verfolgt jedoch einen völlig anders gearteten Zweck. Während die Beweisaufnahme nach dem Diskussionsentwurf 1975 das Urteilsrügegericht nämlich in die Lage versetzen sollte, den historischen Vorgang selbstständig soweit zu rekonstruieren, dass es eine eigene Sachentscheidung treffen 2220
Vgl. S. 390 bzw. S. 402 für vergleichbare Vorschläge in den Entwürfen 1939 resp. 1975. Vgl. nur Peters, ZStW (57) 1938, 53, 63 f., bereits wohl in Bezug auf Entwurf 1939; Sarstedt, in: FS Dreher, S. 688 ff.; Dahs, NJW 1978, 1551, 1555 ff.; Peters, Gutachten C zum 52. DJT, S. C 77 ff.; Rosenau, in: FS Widmaier, S. 542 f. 2222 So schon Peters, ZStW (57) 1938, 53, 63 f. 2223 Einzelbegründung zum Diskussionsentwurf 1975, S. 95 ff. 2221
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konnte, soll das Revisionsgericht nach dem hier unterbreiteten Vorschlag lediglich in die Lage versetzt werden, nachzuprüfen, ob bestimmte Feststellungen des Tatrichters mit dem abgeurteilten historischen Lebensvorgang übereinstimmen. Damit soll die Revision also gerade nicht zu einem reformatorischen Rechtsmittel oder einer weiteren Tatsacheninstanz umgestaltet werden – vielmehr soll die eigene Beweisaufnahme dem Revisionsgericht ausschließlich die Möglichkeit eröffnen, erforderlichenfalls durch punktuelle Beweisaufnahmen nachzuprüfen, ob etwaige Mängel der Feststellungen, die der Beschwerdeführer bereits substantiiert dargelegt hat oder die sich dem Revisionsgericht selbst aufdrängen, tatsächlich vorliegen. Während die Beweisaufnahme also sowohl im tatrichterlichen Verfahren als auch nach den Entwürfen 1939 und 1975 prozessual zukunftsgerichtet ist und zur (endgültigen) Feststellung des subsumtionsrelevanten Sachverhalts führen soll, ist die hier vorgeschlagene Beweisaufnahme im Revisionsverfahren prozessual in die Vergangenheit gerichtet und dient ausschließlich der Prüfung, ob die bereits in der Vorinstanz festgestellten Tatsachen mangelhaft sind. Die Revision bleibt also trotz der Möglichkeit einer eigenen Beweisaufnahme weiterhin ein kassatorisches Rechtsmittel. Somit ist die an den Entwürfen aus den Jahren 1939 und 1975 geäußerte Kritik, dass eine punktuelle Beweisaufnahme dem Rechtsmittelgericht lediglich einen Ausschnitt des Gesamteindruckes vermittelt, bei dem hier unterbreiteten Vorschlag nicht von Bedeutung. Die revisionsgerichtliche Entscheidung, ob die Feststellungen des Tatrichters formell oder materiell mangelhaft sind, bedarf nämlich gerade keines Gesamteindruckes, wie sie der Tatrichter oder ein reformatorisch arbeitender Rechtsmittelrichter für die Beurteilung der Schuld- und Straffrage zwingend benötigt. b) Zur praktischen Durchführbarkeit einer Beweisaufnahme in der Revisionsinstanz Wenig überzeugend wäre im Übrigen auch der Einwand, dass vor allem die Kapazitäten des Bundesgerichtshofs der praktischen Durchführbarkeit einer revisionsgerichtlichen Beweisaufnahme entgegenstehen würden. Selbst wenn sich zeigen sollte, dass die derzeitigen Kapazitäten des Bundesgerichtshofs nicht ausreichend wären, eine selbstständige Beweisaufnahme im Rahmen des Revisionsverfahrens zu gewährleisten, wie sie hier vorgeschlagen wird, wäre es an dem Bundesminister der Justiz und für Verbraucherschutz,2224 durch die Einrichtung weiterer Strafsenate am Bundesgerichtshof entsprechende Kapazitäten zu schaffen. Bedenken, dass hierdurch die Herstellung der Rechtseinheit (noch weiter) erschwert würde, sind dabei offensichtlich unbegründet.2225 Dieser vermeintlichen Gefahr ließe sich 2224
Vgl. § 130 Abs. 1 Satz 2 GVG. So aber etwa die Begründung zum GVG, in: Hahn (Hrsg.), Materialien zum GVG, Bd. I/ 1, S. 40. 2225
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5. Kap.: Erweiterung der Revision um eine Tatsachenrüge de lege ferenda
nämlich schon dadurch begegnen, dass auch die Strafsenate ihre Geschäfte – wie alle übrigen Senate an obersten Gerichtshöfen des Bundes im Übrigen auch – nach Sachgebieten und nicht mehr mehrheitlich nach Oberlandesgerichtsbezirken verteilen. Zumal eine solche Geschäftsverteilungspraxis offensichtliche Ungleichheiten in der Spruchpraxis der einzelnen Strafsenate des Bundesgerichtshofs sogar eher reduzieren würde – schließlich weisen bereits verballhornende Bezeichnungen in der Presse wie etwa „Olli-Kahn-Senat“2226 für den 1. Strafsenat unter dem früheren Vorsitz von Nack oder „Rebellensenat“2227 für den 2. Strafsenat unter dem früheren Vorsitz von Fischer darauf hin, dass die Spruchpraxis der einzelnen Senate erheblich voneinander abweichen können. Generell ist es bemerkenswert, dass schon das Reichsgericht bei seiner Errichtung über bloß fünf Strafsenate verfügte. Ein 6. Strafsenat wurde am Bundesgerichtshof erst zum 15. Februar 2020 eingerichtet. Dies obwohl dem Reichsgericht ein Instrument wie die erweiterte Revision noch unbekannt war, das materielle Strafrecht deutlich überschaubarer war als heute und 1879 nur etwas mehr als 44,6 Millionen Menschen der Gerichtsbarkeit des obersten Strafgerichts unterlagen.2228 Dabei stehen den übrigen Gerichtsbarkeiten für die Wahrnehmung der Revisionsaufgaben deutlich mehr Senate zur Verfügung. Dies obwohl sie, mit Ausnahme der 13 Zivilsenate des Bundesgerichtshofs und der 14 Senate des Bundessozialgerichts, durchaus mit einer vergleichbaren Anzahl an Revisionen und Nichtzulassungsbeschwerden pro Jahr befasst sind wie bis vor Kurzem die 5 Strafsenate des Bundesgerichtshofs mit Revisionen. So stehen dem Bundesverwaltungsgericht 10 (ohne die als Berufungssenate tätigen Wehrdisziplinarsenate), dem Bundesfinanzhof 11 und dem Bundesarbeitsgericht 10 Senate zur Verfügung. Allein die teilweisen Sonderaufgaben und -rechtsbehelfe, die diesen Gerichten zugewiesen sind, vermögen diese Diskrepanz wohl kaum in sachlich befriedigender Weise zu rechtfertigen. Insofern ist die jüngste Entscheidung in Leipzig einen weiteren, also sechsten Strafsenat einzurichten, sehr zu begrüßen.2229
2226 Bezugnehmend auf den ehemaligen Torwart und Kapitän der deutschen Fußball-Nationalmannschaft Oliver „Der Titan“ Kahn, dem zugeschrieben wurde, auch unhaltbare Schüsse auf sein Tor zu halten. – gemeint ist hier, dass der 1. Strafsenat dazu neigt, vorinstanzliche Urteile überproportional häufig zu „halten“; dies selbst wenn sie eigentlich „unhaltbar“ schienen. 2227 Die vergleichsweise häufige Praxis, tradierte Rechtsprechung – keinesfalls zu unrecht – in Frage zu stellen, brachte dem 2. Strafsenat diese Bezeichnung ein. 2228 Vgl. zur Bevölkerungsdichte des Deutschen Reichs: HGIS Germany, Deutsches Reich 1879, Online-Quelle. 2229 Vgl. BT-Drs. 19/6672, S. 2.
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3. Die normtechnische Umsetzung einer revisionsgerichtlichen Beweisaufnahme Insofern spricht vieles dafür, den Revisionsgerichten mit der Einführung einer Tatsachenrüge zu gestatten, selbstständig Beweise zu erheben, soweit dies erforderlich ist, um zu prüfen, ob das angefochtene Urteil auf einen Mangel der tatsächlichen Feststellungen beruht. Damit sichergestellt ist, dass das vorliegend in § 344 Abs. 4 Satz 2 StPO-E2230 vorgeschlagene Beweisantragsrecht des Beschwerdeführers hierbei nicht völlig leerläuft, müsste insoweit gewährleistet werden, dass diese Beweisanträge auch in der Revisionshauptverhandlung nur unter den Voraussetzungen des § 244 Abs. 3 bis Abs. 6 Satz 2 StPO abgelehnt werden können. Zugleich müsste dem Revisionsgericht gestattet werden, die Beweisaufnahme in geeigneten Fällen durch einen beauftragten oder ersuchten Richter durchführen zu lassen, um seine Kapazitäten zu schonen. Gerade in den Fällen nämlich, in denen von vornherein anzunehmen ist, dass das Revisionsgericht das Ergebnis der Beweisaufnahme auch ohne einen unmittelbaren Eindruck von dem Verlauf der Beweisaufnahme sachgerecht würdigen können wird, könnte das Revisionsgericht hierdurch erheblich entlastet werden. Umgesetzt werden könnten diese Vorschläge durch die Einfügung eines neuen § 350a nach § 350 StPO, der folgendermaßen ausgestaltet sein könnte: § 350a StPO-E (1) Das Revisionsgericht kann Beweise erheben, soweit dies erforderlich ist, um zu prüfen, ob das Urteil auf einen Mangel der tatsächlichen Feststellungen beruht. (2) 1Ein Beweisantrag gemäß § 344 Absatz 4 Satz 2 kann auch in der Hauptverhandlung nur unter den Voraussetzungen des § 244 Absatz 3 bis Abstz 6 Satz 2 abgelehnt werden. 2Im Übrigen bestimmt das Revisionsgericht den Umfang der Beweisaufnahme, ohne hierbei durch Anträge, Verzichte oder frühere Beschlüsse gebunden zu sein. (3) Sofern in der Revisionshauptverhandlung eine Beweisaufnahme stattfindet, sind die §§ 257, 257a, 258 und 259 entsprechend anzuwenden. (4) In geeigneten Fällen kann das Revisionsgericht einen beauftragten oder ersuchten Richter mit der Beweisaufnahme betrauen; §§ 224, 225 gelten entsprechend.
§ 350a Abs. 1 StPO-E beschreibt hierbei den Umfang der revisionsgerichtlichen Beweisaufnahme und beschränkt diese auf Fälle, in denen sie erforderlich ist, um nachzuprüfen, ob das Urteil auf einen Mangel der tatsächlichen Feststellungen beruht. § 350a Abs. 2 Satz 1 StPO-E hingegen korrespondiert mit § 344 Abs. 5 Satz 2 StPO-E2231 und stellt sicher, dass die Beweisanträge des Beschwerdeführers, die er bereits mit seinen Revisionsanträgen zu stellen hat, auch in der Revisionshauptverhandlung nicht willkürlich abgelehnt werden können – von einem Verweis auf die in § 244 Abs. 2 StPO normierte Amtsaufklärungspflicht wurde hierbei bewusst abgesehen, um die Revisionsinstanz ungeachtet der Einführung einer Tatsachenrüge 2230 2231
Vgl. S. 441. Vgl. S. 441.
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nicht zu einer Tatsacheninstanz umzufunktionieren.2232 Stattdessen bestimmt § 350a Abs. 2 Satz 2 StPO-E, dessen Wortlaut sich eng an § 244 Abs. 2 RStPO (!) orientiert, dass das Revisionsgericht den Umfang der Beweisaufnahme, von den Beweisanträgen abgesehen, die bereits in den Revisionsanträgen angebracht worden sind, vollständig selbst bestimmt. Eine Beschränkung der revisionsgerichtliche Beweisaufnahme setzt somit voraus, dass der Beschwerdeführer die Revision gemäß § 352 StPO beschränkt hat. Ein Verweis auf § 244 Abs. 6 Satz 3 bis 5 StPO hingegen konnte unterbleiben, da nach der hier vorgeschlagenen Konzeption in der Revisionshauptverhandlung selbst ohnehin keine Beweisanträge angebracht werden können. Der Verweis in § 350a Abs. 3 StPO-E auf die Vorschriften der §§ 257, 257a, 258 und 259 StPO hingegen stellt unter anderem sicher, dass sofern eine Beweisaufnahme stattfindet, dem Angeklagten auch in der Revisionshauptverhandlung dieselben Frage- und Erklärungsrechte zustehen wie in einer tatrichterlichen Hauptverhandlung (§ 257 StPO). Zudem kann den Verfahrensbeteiligten auch in der Revisionshauptverhandlung aufgegeben werden, ihre Anträge und Anregungen zu Verfahrensfragen schriftlich zu stellen (§ 257a StPO). Ebenso ist der Staatsanwaltschaft und dem Angeklagten Gelegenheit zu Schlussvorträgen zu geben und dem Angeklagten das letzte Wort zu gewähren (§ 258 StPO). Schließlich sind die in den Schlussvorträgen enthaltenen Anträge des Staatsanwalts und des Verteidigers auch in der Revisionshauptverhandlung bei Bedarf durch einen Dolmetscher zu übersetzen (§ 259 StPO). Ein Verweis auf die Vorschriften betreffend die Erörterung des Verfahrensstandes und der Verständigung erschien dagegen mit Blick auf die kassatorische Natur der Revision nicht angezeigt. § 350a Abs. 4 StPO-E gestattet in geeigneten Fällen schließlich die Übertragung der Beweisaufnahme auf den beauftragten oder ersuchten Richter, wobei der Verweis auf §§ 224, 225 StPO gewährleistet, dass die Verfahrensbeteiligten von einer solchen Verfahrensweise benachrichtigt werden. 4. Einschränkung des Unmittelbarkeitsprinzips in der Revisionshauptverhandlung Da die hier vorgeschlagene Beweisaufnahme lediglich einer Überprüfung der tatsächlichen Feststellungen der Vorinstanz dient, wäre aus Gründen der Verfahrensbeschleunigung und Verfahrensökonomie, aber auch zur Entlastung der Revisionsgerichte, angezeigt, im Rahmen der Revisionshauptverhandlung nicht dieselbe Unmittelbarkeit anzuordnen, wie sie das Gesetz für die tatrichterliche Hauptverhandlung vorsieht. Vielmehr wäre für geeignete Fälle eine umfassende Verlesbarkeit von Vernehmungsniederschriften und schriftlichen Erklärungen anzuordnen, wodurch zwar auch die Unmittelbarkeit der Beweisaufnahme in der Revisionshauptverhandlung eingeschränkt würde, was jedoch – wie das Beispiel des § 325 StPO 2232
Vgl. schon S. 444.
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zeigt – im Rechtsmittelverfahren keinesfalls ohne Vorbild wäre. Aus denselben Gründen wäre auch die Entscheidung darüber, ob Urkunden und andere als Beweismittel dienende Schriftstücke im Wege des Selbstleseverfahrens in die Revisionshauptverhandlung einzuführen sind, in das alleinige Ermessen des Vorsitzenden zu stellen; ein Widerspruchsrecht der Staatsanwaltschaft, des Angeklagten oder der Verteidigung, wie es in § 249 Abs. 2 Satz 2 StPO für das tatrichterliche Verfahren vorgesehen ist, erscheint nämlich mit Blick auf die bereits beschriebene Natur der revisionsgerichtlichen Beweisaufnahme als ein Mittel zur bloßen Überprüfung der gerügten Feststellungen überflüssig. Erst recht wäre sicherzustellen, dass Bild-TonAufzeichnungen von Zeugenvernehmungen (vgl. § 58a StPO) in die Revisionshauptverhandlung unter denselben Voraussetzungen eingeführt werden können wie in das tatrichterliche Verfahren.2233 Erreicht werden könnten diese Ziele durch die Einführung eines neuen § 350b StPO mit dem folgenden Wortlaut: § 350b StPO-E (1) Findet eine Beweisaufnahme nach § 350a statt, kann in geeigneten Fällen die Vernehmung eines Zeugen, Sachverständigen oder Mitbeschuldigten durch die Verlesung einer Niederschrift über eine Vernehmung oder einer Urkunde, die eine von ihm stammende schriftliche Erklärung enthält, ersetzt werden. (2) § 249 Absatz 1 und Absatz 2 Satz 1 sowie §§ 252, 253, 254 und 256 gelten entsprechend. (3) Für die Vorführung von Bild-Ton-Aufzeichnung einer Zeugenvernehmung gelten Absatz 1 und 2 entsprechend.
§ 350b Abs. 1 StPO-E stellte dabei sicher, dass die Vernehmung einer Person in geeigneten Fällen durch die Verlesung einer Niederschrift über ihre Vernehmung oder einer Urkunde, die eine von ihr stammende schriftliche Erklärung enthält, ersetzt werden kann. Für die Beweisaufnahme im Übrigen verweist § 350b Abs. 2 StPO-E auf die Vorschriften des § 249 Abs. 1 und Abs. 2 Satz 1 sowie die §§ 252, 253 und 254 StPO. Der Ausschluss der Sätze 2 und 3 des § 249 Abs. 2 StPO aus dem Verweis stellt dabei sicher, dass die Entscheidung, ob Urkunden und andere als Beweismittel dienende Schriftstücke im Wege des Selbstleseverfahrens in die Revisionshauptverhandlung eingeführt werden, dem alleinigen Ermessen des Vorsitzenden obliegt. Die weiteren Verweise ermöglichen auch in der Revisionshauptverhandlung eine Protokollverlesung zur Gedächtnisunterstützung (§ 253 StPO), die Verlesung eines richterlichen Protokolls bei Geständnis oder Widersprüchen (§ 254 StPO) und verbieten eine Protokollverlesung nach Zeugnisverweigerung (§ 252 StPO). Der hier vorgeschlagene § 350b Abs. 3 StPO-E schließlich lässt eine Einführung von Bild-Ton-Aufzeichnungen von Zeugenvernehmungen auch in die Revisionshauptverhandlung zu.
2233
Vgl. insoweit § 255a Abs. 1 StPO.
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V. Umfang der Urteilsprüfung im Rahmen der Tatsachenrüge Nachdem nunmehr dargelegt ist, wie eine Tatsachenrüge im Rahmen der Revision ausgestaltet sein könnte, bliebe noch zu klären, welchen Umfang die Urteilsprüfung in diesem Rahmen einnehmen sollte. Insbesondere, weil die hier vorgeschlagene Tatsachenrüge sich rechtssystematisch bewusst an die Verfahrensrüge des geltenden Rechts anlehnt, stellt sich vor allem die Frage, ob auch hier ein ähnlich restriktiver Ansatz zu wählen ist, wie ihn der Gesetzgeber schon bei der Verfahrensrüge angelegt hat. 1. Die übermäßige Beschränkung der Urteilsprüfung bei der Verfahrensrüge Bekanntermaßen unterliegen der Prüfung des Revisionsgerichts ausschließlich die gestellten Revisionsanträge und im Falle der Verfahrensrüge nur die Tatsachen, die bereits bei Anbringung der Revisionsanträge bezeichnet worden sind.2234 Fraglich ist insofern, ob eine derart weitgehende Beschränkung des Prüfungsumfangs der Verfahrensrüge noch zeitgemäß ist; schließlich hat sie zur Folge, dass das Revisionsgericht auch offensichtliche (verfahrensrechtliche) Mängel des tatrichterlichen Urteils unbeachtet lassen muss, wenn diese nicht von einem der Verfahrensbeteiligten gerügt worden ist. Stellt sich etwa heraus, dass eine zur Begründung einer Verfahrensrüge aufgestellte Tatsachenbehauptung nicht erwiesen oder zur Rechtfertigung der Rüge nicht geeignet ist, so bliebe die Rüge im Allgemeinen selbst dann erfolglos, wenn es möglich wäre, sie durch andere Tatsachen zu rechtfertigen.2235 Dabei wollten die Verfasser des Entwurfs der Strafprozessordnung mit der Verpflichtung des Beschwerdeführers, die Revision mit begründeten Revisionsanträgen zu versehen, vor allem sicherstellen, dass das Revisionsgericht nicht schon durch die bloße Einlegung des Rechtsmittels zu einer neuen rechtlichen Würdigung der Sache angehalten werden kann.2236 Sie gingen nämlich zutreffenderweise davon aus, dass ein Rechtsmittel, das keiner weiteren Begründung bedarf, sich als ein bloßer Widerspruch gegen das vorinstanzliche Urteil darstellen und deshalb nicht in den Organismus des Strafprozesses passen würde.2237 Befürchtet wurde auch, dass ohne eine Begründungspflicht insgesamt ein sehr leichtfertiger Gebrauch von dem Rechtsmittelrecht gemacht werden könnte.2238 Eben deshalb wurde der Beschwerdeführer 2234
So § 352 Abs. 1 StPO. Gericke, KK-StPO, § 352 Rn. 15. 2236 Motive zur StPO, in: Hahn (Hrsg.), Materialien zur StPO, Bd. III/1, S. 253; völlig im Widerspruch zu dieser durchaus zutreffenden Annahme der Motive steht freilich die erst später im Gesetzgebungsverfahren erfolgte Einführung der Berufung in ihrer heutigen Ausgestaltung. 2237 Ebd. 2238 Ebd. 2235
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bereits in dem Entwurf der Strafprozessordnung, welche die Revision noch als das einzige Rechtsmittel gegen strafgerichtliche Urteile vorgesehen hatte,2239 dazu verpflichtet, seine Revision mit konkreten Revisionsanträgen zu verbinden, um sicherzustellen, dass die Revisionsgerichte nicht „mit frivolen Revisionen“ überschüttet würden.2240 Die darüber hinausgehende Beschränkung des Prüfungsumfangs der Verfahrensrüge auf solche Tatsachen, die bereits in der Revisionsbegründung anzugeben waren, sollte gewährleisten, dass die Revision vorrangig ein schriftliches Verfahren blieb. Denn anders als sachlich-rechtliche Mängel können verfahrensrechtliche Mängel nicht ohne Weiteres schon den schriftlichen Urteilsgründen oder dem Hauptverhandlungsprotokoll entnommen werden. Erst durch die Verpflichtung des Beschwerdeführers, die Tatsachen, die einen Verfahrensmangel enthalten, schon in der Revisionsbegründung anzugeben, können auch sie für eine Entscheidung im schriftlichen Verfahren verfügbar gemacht werden, sodass das Revisionsgericht nicht darauf warten muss, dass diese Tatsachen in der mündlichen Revisionshauptverhandlung vorgetragen werden.2241 Damit hatte der historische Gesetzgeber für die Verfahrensrüge eine Art Präklusionsvorschrift im Sinne, wie sie etwa § 530 ZPO heute für das Berufungsverfahren in Zivilsachen vorsieht und „verspätete“ Vorträge zu der Verfahrensrüge von dem Revisionsverfahren ausschließt. Doch die von dem Reichsgesetzgeber tatsächlich gewählte Ausgestaltung des § 392 RStPO, der mit dem heutigen § 352 StPO übereinstimmt, bewirkte nicht nur, dass der Beschwerdeführer mit seinen verspäteten Vorträgen zur Verfahrensrüge ausgeschlossen ist, sondern auch, dass das Revisionsgericht sogar offensichtliche Verfahrensmängel nicht von Amts wegen zum Anlass nehmen kann, das tatrichterliche Urteil aufzuheben, wenn die entsprechenden Tatsachen nicht von dem Beschwerdeführer vorgetragen worden waren. Eine derart absolute Präklusion von „verspätet“ vorgebrachten Tatsachen mag zwar noch in den Zivilsachen mit Blick auf den Beibringungsgrundsatz und die Beschränkung des Zivilverfahrens auf Parteiinteressen opportun erscheinen – doch im weitaus grundrechtsinvasiveren Strafverfahren erscheint es fraglich, ob es noch im Sinne der materiellen Gerechtigkeit ist, wenn sogar offensichtliche Mängel des Verfahrens unberücksichtigt bleiben müssen, bloß weil sie nicht rechtzeitig von dem Beschwerdeführer gerügt worden sind. Dass eine so weitgehende Beschränkung der Verfahrensrüge keinesfalls zwingend ist, zeigt dabei ein Blick in das ebenfalls von dem Amtsermittlungsgrundsatz beherrschte Verwaltungsverfahren.2242 So ist das Bundesverwaltungsgericht bei einer Verfahrensrüge gem. § 137 Abs. 3 VwGO jedenfalls dann nicht an die geltend gemachten Verfahrensmängel gebunden, wenn die angefochtene Rechtssache grundsätzliche 2239
Vgl. S. 106 ff. Motive zur StPO, in: Hahn (Hrsg.), Materialien zur StPO, Bd. III/1, S. 253. 2241 Motive zur StPO, in: Hahn (Hrsg.), Materialien zur StPO, Bd. III/1, S. 254. 2242 Seine positivrechtliche Normierung hat der Amtsermittlungsgrundsatz in Verwaltungsverfahren in § 86 Abs. 1 VwGO gefunden. 2240
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Bedeutung hat oder das vorinstanzliche Urteil von einer Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts, des Gemeinsamen Senats der obersten Gerichtshöfe des Bundes oder des Bundesverfassungsgerichts abweicht und auf dieser Abweichung beruht. Bemerkenswert an der Beschränkung des Prüfungsumfangs der Verfahrensrüge in Strafsachen ist dabei vor allem, dass sie im offensichtlichen Widerspruch zu der ursprünglichen Intention des historischen Gesetzgebers steht, mit der Einführung der Revision die besondere Formstrenge der partikularen Nichtigkeitsbeschwerden zu überwinden und den Revisionsgerichten größtmögliche Freiheiten bei der Beurteilung der Rechtsfragen einzuräumen. So heißt es noch in den Motiven zur Strafprozessordnung: „Vermöge der formalen Natur dieses Rechtsmittels muß der Nichtigkeitsrichter einerseits oft genug Entscheidungen vernichten, welche eine materielle Rechtsverletzung durchaus nicht enthalten, während er andererseits sich nicht selten gezwungen sieht, einer sachlich begründeten Beschwerde lediglich aus prozessualischen Gründen die Abhülfe zu versagen. Für den Entwurf konnte es deshalb nicht zweifelhaft sein, daß er das Rechtsmittel der Nichtigkeitsbeschwerde nicht anzunehmen habe, daß es vielmehr seine Aufgabe sei, dasselbe durch ein besseres zu ersetzen.“2243
Damit stand für die Motive also fest: „Die Aufgabe des höheren Richters besteht nur in der rechtlichen Beurtheilung der Sache; für die Lösung dieser Aufgabe ist ihm freie Bewegung gewährt, und es sind seiner Thätigkeit möglichst wenig formale Grenzen gezogen.“2244 An anderer Stelle des Entwurfs heißt es zur Formbindung des Revisionsgerichts sogar ausdrücklich, dass „der Entwurf dem Revisionsgericht die freie rechtliche Würdigung der Sache übertragen und den Erfolg des Rechtsmittels möglichst wenig von formalen Voraussetzungen abhängig machen will […].“2245 Gerade im Wissen um diese Umstände überrascht die letztendliche Entscheidung des historischen Gesetzgebers, mit § 392 RStPO (§ 352 StPO) eine Vorschrift zu schaffen, die das Revisionsgericht dazu zwingt, einer Revision selbst bei offensichtlichen Verfahrensmängeln aus bloß prozessualen Gründen die Abhilfe zu versagen. 2. Konsequenzen für den Umfang der Prüfung einer Tatsachenrüge durch das Revisionsgericht Dennoch erscheint im Rahmen der hier vorgeschlagenen Tatsachenrüge eine grundsätzliche Beschränkung der Urteilsprüfung auf jene konkreten Anhaltspunkte, die in der Begründung der Revisionsanträge angegebenen sind und Zweifel an der Richtigkeit und Vollständigkeit der Tatsachenfeststellungen begründen, durchaus angezeigt – wäre das Revisionsgericht nämlich generell verpflichtet, bereits auf eine 2243 2244 2245
Motive zur StPO, in: Hahn (Hrsg.), Materialien zur StPO, Bd. III/1, S. 249. Motive zur StPO, in: Hahn (Hrsg.), Materialien zur StPO, Bd. III/1, S. 250. Motive zur StPO, in: Hahn (Hrsg.), Materialien zur StPO, Bd. III/1, S. 252 f.
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nur lückenhaft begründete Tatsachenrüge die Feststellungen eines Urteils vollumfassend zu prüfen, wäre es kaum noch möglich, den Beschwerdeführer dazu anzuhalten, seiner Begründungspflicht entsprechend § 344 Abs. 4 Satz 1 StPO-E2246 im hinreichenden Maße nachzukommen. Insgesamt wäre daher zu erwägen, § 352 Abs. 1 Satz 1 StPO einen Satz 2 nach folgendem Vorbild anzufügen: § 352 Abs. 1 StPO (1) Der Prüfung des Revisionsgerichts unterliegen nur die gestellten Revisionsanträge und, soweit die Revision auf Mängel des Verfahrens gestützt wird, nur die Tatsachen, die bei Anbringung der Revisionsanträge bezeichnet worden sind.
§ 352 Abs. 1 StPO-E (1) 1Der Prüfung des Revisionsgerichts unterliegen nur die gestellten Revisionsanträge und, soweit die Revision auf Mängel des Verfahrens gestützt wird, nur die Tatsachen, die bei Anbringung der Revisionsanträge bezeichnet worden sind. 2Hat die Revision einen Mangel der tatsächlichen Feststellungen zum Gegenstand, beschränkt sich die Prüfung des Gerichts auf die konkreten Anhaltspunkte, die Zweifel an der Richtigkeit und Vollständigkeit der Tatsachenfeststellungen begründen und in der Begründung der Revisionsanträge angegebenen sind.
Ungeachtet dessen erscheint es weiterhin überholt, offensichtliche Mängel der Feststellungen (aber auch solche des Verfahrens) von der revisionsgerichtlichen Prüfung auszunehmen, bloß weil der Beschwerdeführer es versäumt hat, die entsprechenden Tatsachen vorzutragen. Insofern wäre also zu erwägen, dem Revisionsgericht die Befugnis einzuräumen, seine Prüfung im Rahmen der Revisionsanträge nach freiem Ermessen auch auf andere als die von dem Beschwerdeführer vorgetragenen Tatsachen auszuweiten, sofern sie sich aus dem Hauptverhandlungsprotokoll, den Urteilsgründen oder einer Beweisaufnahme gem. § 350a StPOE2247 ergeben. Eine solche Erweiterung des Prüfungsumfangs auch der Verfahrensrüge erscheint insofern nur billig, als der hier unterbreitete Vorschlag, die strafrechtliche Revision um eine Tatsachenrüge zu ergänzen, gerade den Zweck verfolgt, die formalen Beschränkungen der Revision aufzulockern und sie im Interesse eines umfassenden Rechtsschutzes, aber auch der materiellen Gerechtigkeit, zu einem effizienteren und rechtsschutzintensiveren Rechtsmittel auszugestalten. Deshalb gälte es, gerade auch mit Blick auf den Umfang der Urteilsprüfung, die außergewöhnlich formalistische Ausgestaltung der Revision, die sie bereits durch den historischen Gesetzgeber erfahren hat, auch im Bereich der Verfahrensrüge zu überwinden. Erreicht werden könnte dies durch die Einfügung eines neuen Absatzes 1a nach Absatz 1 des § 352 StPO, der eine entsprechende Ausweitung der Urteilsprüfung vorsähe:
2246 2247
Vgl. S. 441. Vgl. S. 447.
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§ 352 Abs. 1a StPO-E (1a) Ergeben sich bei der Prüfung des Revisionsgerichts aus den Urteilsgründen, dem Hauptverhandlungsprotokoll oder einer Beweisaufnahme gemäß § 350a andere Tatsachen, die auf eine Verletzung einer Rechtsnorm über das Verfahren oder auf einen Mangel der tatsächlichen Feststellungen hinweisen, so kann das Gericht seine Prüfung auch auf diese ausweiten; Absatz 1 Satz 1 erster Halbsatz bleibt unberührt.
Damit würde dem Revisionsgericht die Möglichkeit eröffnet, Mängel des Verfahrens oder der festgestellten Tatsachen aus Gründen der materiellen Gerechtigkeit zu berücksichtigen, gerade ohne einer „sachlich begründeten Beschwerde lediglich aus prozessualischen Gründen die Abhülfe zu versagen“2248. Die hier gewählte Ausgestaltung der Vorschrift als Ermessensvorschrift („so kann das Gericht“) stellt dabei sicher, dass dem Revisionsgericht hierdurch lediglich die Möglichkeit eingeräumt wird, Verfahrensmängel und Mängel der tatsächlichen Feststellungen von Amts wegen zu berücksichtigen. Eine Verpflichtung des Rechtsmittelgerichts das Urteil aus eigenem Antrieb auf solche Mängel hin zu prüfen, wird dadurch gerade nicht begründet. Insbesondere ist es dem Revisionsgericht damit unbenommen, eine Verfahrens- oder Tatsachenrüge, die keine oder nur eine offensichtlich mangelhafte Begründung enthält, weiterhin gem. § 349 Abs. 2 StPO im Beschlusswege zu verwerfen. Somit bleibt der Beschwerdeführer, der am Erfolg seiner Revision interessiert ist, trotz der hier vorgeschlagenen Ausweitung der revisionsgerichtlichen Urteilsprüfung, auch künftig gut beraten, sein Rechtsmittel umfassend zu begründen. Der Verweis in dem neuen Absatz 1a Halbsatz 2 des § 352 StPO auf seinen Absatz 1 Satz 1 Halbsatz 1 stellt dabei sicher, dass weiterhin nur die gestellten Revisionsanträge der Urteilsprüfung durch das Revisionsgericht unterliegen. Damit ist es dem Beschwerdeführer auch nach dem hier unterbreiteten Vorschlag unbenommen, seine Revision auf bestimmte Teile des Urteils, insbesondere auch auf eine Prüfung der materiellen Rechtsanwendung, des Verfahrens oder der tatsächlichen Feststellungen, zu beschränken und so Teile des Urteils von der revisionsgerichtlichen Nachprüfung auszunehmen. Insoweit verbleibt es also bei der Grundregel des § 344 Abs. 1 StPO, wonach die Entscheidung, „inwieweit er das Urteil anfechte“, allein dem Beschwerdeführer obliegt. Demzufolge wäre es dem Revisionsgericht beispielsweise auch künftig nicht gestattet, seine Prüfung gestützt auf den hier vorgeschlagenen § 352 Abs. 1a StPO-E2249 auf Mängel des Verfahrens oder der tatsächlichen Feststellungen auszuweiten, wenn der Beschwerdeführer lediglich eine Sachrüge erhoben hat. Ähnliches wird in den meisten Fällen auch zu gelten haben, in denen sich dem Revisionsgericht ein Verfahrens- oder Feststellungsmangel aufdrängt, der einem abtrennbaren Teil des Urteils anhaftet, der von dem Revisionsführer ausdrücklich nicht gerügt wurde – nicht angefochtene Teile eines Urteils 2248
So die eigentliche Intention des historischen Gesetzgebers bei der Einführung der Revision, wörtlich wiedergegeben in den Motive zur StPO, in: Hahn (Hrsg.), Materialien zur StPO, Bd. III/1, S. 249; vgl. auch S. 452 der vorliegenden Schrift. 2249 Vgl. oben.
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erwachsen nämlich gem. § 343 Abs. 1 StPO auch nach den hier unterbreiteten Reformvorschlägen weiterhin in (Teil-)Rechtskraft. Abschließend wäre in diesem Kontext noch zu erwägen, ob durch eine Klarstellung in dem Wortlaut des § 352 Abs. 2 StPO noch deutlicher hervorgerufen werden sollte, dass eine weitere Begründung der Revisionsanträge als die nunmehr in § 344 Abs. 2 bis 4 StPO-E2250 vorgeschriebene, nicht verlangt werden darf. Diese erscheint vor allem deshalb angezeigt, da die Tendenzen in der höchstrichterlichen Rechtsprechung, die Begründungsanforderungen an die Verfahrensrüge zu erhöhen – beispielsweise durch die Pflicht zum Vortrag von Negativtatsachen2251 –, fortwährend zuzunehmen scheinen. Zu erwägen wäre daher die folgende künftige Fassung des § 352 Abs. 2 StPO: § 352 Abs. 2 StPO (2) Eine weitere Begründung der Revisionsanträge als die in § 344 Abs. 2 vorgeschriebene ist nicht erforderlich und, wenn sie unrichtig ist, unschädlich.
§ 352 Abs. 2 StPO-E (2) Eine weitere Begründung der Revisionsanträge als die in § 344 Absätze 2 bis 4 vorgeschriebene ist nicht zu verlangen und, wenn sie dennoch erfolgt und unrichtig ist, unschädlich.
Damit wäre einer Beschränkung der gesetzlichen Rechtsschutzmöglichkeiten im Wege einer „Rechtsfortbildung“, die sich ausschließlich der Verfahrensökonomie widmet, die Grundlage entzogen. 3. Folgen einer begründeten Tatsachenrüge Schon der bisherige § 353 Abs. 1 StPO bewirkte bei der hier vorgeschlagenen Einführung einer Tatsachenrüge auch ohne eine Änderung, dass das angefochtene Urteil auch in den Fällen, in denen eine Revision aufgrund einer Tatsachenrüge für begründet erachtet wird, aufzuheben ist. Lediglich § 353 Abs. 2 StPO müsste mit Blick auf die Tatsachenrüge dahingehend geändert werden, dass die dem Urteil zugrunde liegenden Feststellungen auch dann aufzuheben sind, wenn sie mangelhaft sind. Insoweit böte sich die folgende Änderung des § 353 Abs. 2 StPO an: § 353 Abs. 2 StPO (2) Gleichzeitig sind die dem Urteil zugrunde liegenden Feststellungen aufzuheben, sofern sie durch die Gesetzesverletzung betroffen werden, wegen deren das Urteil aufgehoben wird.
2250
§ 353 Abs. 2 StPO-E (2) Gleichzeitig sind die dem Urteil zugrunde liegenden Feststellungen aufzuheben, sofern sie durch die Gesetzesverletzung betroffen werden, wegen deren das Urteil aufgehoben wird, oder mangelhaft sind.
Vgl. S. 439. Hier geht es um die Verpflichtung des Beschwerdeführers, vorzutragen, dass die von ihm behauptete Verfahrensrechtsverletzung auch nicht anderweitig geheilt wurde. 2251
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5. Kap.: Erweiterung der Revision um eine Tatsachenrüge de lege ferenda
C. Weitere Reformen im Zusammenhang mit der Einführung einer Tatsachenrüge Nachdem im vorangegangenem Abschnitt dargelegt wurde, wie die Einführung einer Tatsachenrüge im Wesentlichen ausgestaltet sein könnte und welche Änderung der strafprozessualen Vorschriften insoweit erforderlich wären, sollen im Folgenden vor allem Folgeänderungen aufgezeigt werden, die mit Blick auf die Einführung einer Tatsachenrüge einhergehen müssten. Diese betreffen insbesondere die Anpassung der Revisionshauptverhandlung (I.), Reformen der revisionsgerichtlichen Entscheidungsmöglichkeiten (II) sowie eine Ausweitung der Pflichtverteidigung auf das Revisionsverfahren, die Normierung der rügeverkümmernden Protokollberichtigung und die Ergänzungen der Erklärungsrechte des Beschwerdegegners (III.).
I. Anpassung der Revisionshauptverhandlung an die Tatsachenrüge 1. Die Vorbereitung der Revisionshauptverhandlung Die Schaffung der Möglichkeit tatrichterliche Feststellungen im Rahmen der Revision zu rügen, insbesondere aber auch die Einführung einer selbstständigen Beweisaufnahme durch das Revisionsgericht, bedingt geradezu zwingend eine Anpassung der Revisionshauptverhandlung an diese neuen Begebenheiten. So böte es sich an, zur Vorbereitung der Revisionshauptverhandlung zumindest partiell diejenigen Vorschriften heranzuziehen, die bereits heute bei der Vorbereitung des erstinstanzlichen Verfahrens zur Anwendung kommen, wenn im Rahmen der Revisionshauptverhandlung voraussichtlich über einen Mangel der tatsächlichen Feststellungen zu verhandeln sein wird. Zu erwägen wäre insoweit insbesondere eine Anwendung des § 214 Abs. 1, 2 und 4 sowie der §§ 221 bis 225 StPO. Zu erwägen wäre insoweit die Einfügung eines neuen § 349a nach § 349 StPO, der auf die besagten Vorschriften verweist: § 349a StPO-E Hat die Hauptverhandlung voraussichtlich einen Mangel der tatsächlichen Feststellungen zum Gegenstand, gelten für ihre Vorbereitung die Vorschriften des § 214 Absätze 1, 2 und 4, sowie der §§ 221 bis 222b Absatz 2 sowie der §§ 223 bis 225 entsprechend.
Somit wären nach § 214 Abs. 1 StPO i. V. m. § 349a StPO-E die erforderlichen Ladungen auch zu der Revisionshauptverhandlung durch den Vorsitzenden anzuordnen, wobei diese nach § 214 Abs. 1 StPO i. V. m. § 349a StPO-E bei einer voraussichtlich länger andauernden Hauptverhandlung grundsätzlich zu einem späteren Zeitpunkt als zu dem Beginn der Hauptverhandlung anzuordnen wären. Der Verweis auf § 214 Abs. 4 StPO hingegen stellt sicher, dass die Herbeischaffung der als Be-
C. Weitere Reformen im Zusammenhang
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weismittel dienenden Gegenstände auch im Revisionsverfahren grundsätzlich durch die Staatsanwaltschaft zu erfolgen hat. Aus dem fehlenden Verweis auf § 214 Abs. 3 und § 220 StPO folgt zugleich, dass weder der Staatsanwaltschaft noch dem Angeklagten im Revisionsverfahren die unmittelbare Ladung von Personen zusteht – dies ist nur konsequent, da die Beweisaufnahme in der Revisionshauptverhandlung nach dem hier unterbreiteten Vorschlag ohnehin im alleinigen Ermessen des Revisionsgerichts steht,2252 sodass wenig dafür spräche, den Verfahrensbeteiligten in der Vorbereitungsphase der Revisionshauptverhandlung zu gestatten, selbstständige Ladungen zu bewirken. Zumal der Beschwerdeführer seine Beweisanträge nach der hier vorgeschlagenen Ausgestaltung des revisionsgerichtlichen Beweisverfahrens ohnehin bereits mit der Begründung der Revisionsanträge zu verbinden hat.2253 Somit bestünde schon faktisch kein Bedarf für präsente Beweismittel, wie sie durch eine unmittelbare Ladung von Personen bewirkt werden soll, da in der Revisionshauptverhandlung keine Möglichkeit vorgesehen ist, die Beweisaufnahme durch einen Beweisantrag auf etwaige präsente Beweismittel auszuweiten. Überflüssig erschien auch ein Verweis auf die Ladungsvorschriften der §§ 216 bis 218 StPO, da das Revisionsgericht im Rahmen der hier vorgeschlagenen Tatsachenrüge lediglich nachprüft, ob die Feststellungen der Vorinstanz mangelhaft waren, aber keine eigenen Feststellungen trifft; insofern kann wohl in aller Regel auf eine zwingende persönliche Anwesenheit des Angeklagten in der Revisionshauptverhandlung verzichtet werden. Demnach bliebe es dabei, dass dem Angeklagten, seinem gesetzlichen Vertreter und dem Verteidiger gemäß § 350 Abs. 1 StPO lediglich Ort und Zeit der Hauptverhandlung mitzuteilen wären. Genauso unterbleiben konnte hier ein Verweis auf § 219 StPO, der sich mit den Beweisanträgen des Angeklagten befasst, da insoweit nach dem hiesigen Vorschlag auf die speziellere Vorschrift des § 344 Abs. 4 Satz 2 StPO-E2254 zurückzugreifen wäre. Naheliegenderweise wären jedoch auch in der Revisionshauptverhandlung die Vorschriften über die Herbeischaffung von Beweismitteln durch das Gericht (§ 221 StPO), die Namhaftmachung von Zeugen und Sachverständigen (§ 222 StPO), die Besetzungsmitteilung (§§ 222a, 222b StPO) sowie über die Vernehmung durch den beauftragten oder ersuchten Richter (§ 223 ff. StPO) aus dem fünften Abschnitt des zweiten Buches der Strafprozessordnung entsprechend anzuwenden. Lediglich ein Verweis auf die Entscheidung des Rechtsmittelgerichts über den Besetzungseinwand nach dem neuen § 222b Abs. 3 StPO hatte hier aus offensichtlichen Gründen zu unterbleiben.
2252 2253 2254
Vgl. schon § 350a Abs. 2 Satz 2 StPO-E auf S. 447. Vgl. S. 440 ff. Vgl. S. 441.
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5. Kap.: Erweiterung der Revision um eine Tatsachenrüge de lege ferenda
2. Die Ausgestaltung der Revisionshauptverhandlung Auch wenn der Angeklagte auch nach dem hier unterbreiteten Reformvorschlag nicht generell zu der Revisionshauptverhandlung geladen werden muss, kann es mit Blick auf die besondere Natur der Tatsachenrüge doch notwendig werden, dass das Revisionsgericht sich einen persönlichen und unmittelbaren Eindruck von dem Angeklagten machen muss. Für diese Fälle wäre sicherzustellen, dass das Revisionsgericht erforderlichenfalls die persönliche Anwesenheit des Angeklagten anordnen kann. Es gilt im Rahmen einer Revisionshauptverhandlung, die einer Tatsachenrüge folgt, nämlich zu bedenken, dass insoweit über tatsächliche und nicht – wie im Falle der Sach- und Verfahrensrüge – über Rechtsfragen gestritten wird. Daher kann bei einer Tatsachenrüge nicht generell ausgeschlossen werden, dass der Angeklagte ebenfalls etwas zur Aufklärung des streitigen Sachverhalts beizutragen hat – mithin müsste auch entgegen dem jüngst reformierten § 350 Abs. 2 Satz 2 StPO sichergestellt werden, dass auch der sich nicht auf freiem Fuß befindliche Angeklagte einen echten Anspruch auf Anwesenheit in der Revisionshauptverhandlung hat, soweit sie sich mit einer Tatsachenrüge befasst. Andernfalls würde er zum bloßen Verfahrensobjekt degradiert, was sich schon im Hinblick auf Art. 1 Abs. 1 GG verbietet. Schließlich bedürfte auch das Fragerecht der Verfahrensbeteiligten in der Revisionshauptverhandlung, jedenfalls soweit sie tatsächliche Fragen zum Gegenstand hat, einer ausdrücklichen Regelung. Folglich böte sich eine entsprechende Neufassung des § 350 Abs. 2 StPO und die Einfügung eines neuen Absatzes 3 in die Vorschrift an, die bereits heute die wesentlichen Vorschriften betreffend der Revisionshauptverhandlung enthält: § 350 Abs. 2 StPO (2) 1Der Angeklagte kann in der Hauptverhandlung erscheinen oder sich durch einen Verteidiger mit nachgewiesener Vertretungsvollmacht vertreten lassen. 2Die Hauptverhandlung kann, soweit nicht die Mitwirkung eines Verteidigers notwendig ist, auch durchgeführt werden, wenn weder der Angeklagte noch ein Verteidiger anwesend ist. 3Die Entscheidung darüber, ob der Angeklagte, der nicht auf freiem Fuß ist, zu der Hauptverhandlung vorgeführt wird, liegt im Ermessen des Gerichts.
§ 350 Abs. 2 und 3 StPO-E (2) 1Der Angeklagte kann in der Hauptverhandlung erscheinen oder sich durch einen Verteidiger mit nachgewiesener Vertretungsvollmacht vertreten lassen. 2Die Hauptverhandlung kann, soweit nicht die Mitwirkung eines Verteidigers notwendig ist, auch durchgeführt werden, wenn weder der Angeklagte noch ein Verteidiger anwesend ist. 3Die Entscheidung darüber, ob der Angeklagte, der nicht auf freiem Fuß ist, zu der Hauptverhandlung vorgeführt wird, liegt im Ermessen des Gerichts.; er ist jedoch zwingend vorzuführen, wenn über einen Mangel der tatsächlichen Feststellungen zu verhandeln ist. (3) Hat die Hauptverhandlung einen Mangel der tatsächlichen Feststellungen zum
C. Weitere Reformen im Zusammenhang
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Gegenstand, sind §§ 236 und 240 bis 242 entsprechend anzuwenden.
Der hier vorgeschlagene neue Halbsatz 2 in § 350 Abs. 2 Satz 2 StPO gewährleistet, dass auch der Angeklagte, der sich nicht auf freiem Fuß befindet, zwingend zu der Hauptverhandlung vorgeführt wird, wenn über einen Mangel der tatsächlichen Feststellungen zu verhandeln ist. Der neue § 350 Abs. 3 StPO-E ordnet ergänzend eine entsprechende Anwendung des § 236 StPO (Anordnung des persönlichen Erscheinens des Angeklagten) sowie der §§ 240 bis 242 StPO (Fragerecht in der Hauptverhandlung) auch in der Revisionshauptverhandlung an, soweit über einen Mangel der tatsächlichen Feststellungen zu verhandeln ist.
II. Reform der revisionsgerichtlichen Entscheidungsmöglichkeiten 1. Änderungen der Entscheidungsmöglichkeiten durch Beschluss ohne Hauptverhandlung Dringend angezeigt erscheint auch eine Konkretisierung der in § 349 Abs. 2 StPO vorgesehenen Möglichkeit, die Revision als offensichtlich unbegründet zu verwerfen, da hierdurch die mit der Einführung einer Tatsachenrüge beabsichtigte Erweiterung des Rechtsschutzes in den erstinstanzlichen land- und oberlandesgerichtlichen Sachen sonst konterkariert werden könnte. Gerade bei einer extensiven „ou“Beschlusspraxis, wie sie schon heute an der Tagesordnung ist, bei der aus der Begründung der Verwerfungsbeschlüsse nicht stets erkennbar ist, welche Erwägungen das Revisionsgericht dabei geleitet haben, bestünde nämlich die ernstliche Gefahr, dass gerade bei dem betroffenen Bürger der Eindruck entsteht, die Revisionsgerichte würden mit dem Instrumentarium, das ihnen von dem Gesetzgeber zur Verfügung gestellt worden ist, willkürlich verfahren. Insofern gälte es zunächst, den Wortlaut des § 349 Abs. 2 StPO soweit der tatsächlichen Revisionspraxis anzupassen, dass eine eindeutige Rechtsgrundlage für die bereits heute ausgeübte Verfahrensweise der Revisionsgerichte ersichtlich wird.2255 Hierbei böte es sich vor allem an, das nunmehr irreführende Adjektiv „offensichtlich“ in § 349 Abs. 2 StPO, das von der Rechtsprechung zuweilen nicht mal mehr bemüht wird,2256 aus dem Wortlaut der Vorschrift zu streichen und zugleich die rechtstatsächlichen Anforderungen, die von der Rechtsprechung nunmehr (lediglich) an die „ou“-Beschlüsse gestellt werden, in die Vorschrift zu integrieren. Damit wäre künftig auch im Gesetzeswortlaut zum Ausdruck zu bringen, dass eine Revision von dem Rechtsmittelgericht bereits dann im Beschlusswege als unbegründet verworfen werden kann, wenn die von der Revision aufgeworfenen 2255 2256
Vgl. hierzu S. 45 ff., aber auch etwa BGH NJW 2001, 85; BGH StraFo 2005, 212, 212. Ausführlich hierzu bereits S. 45 ff.
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Rechtsfragen zweifelsfrei zu beantworten sind und auch die Durchführung einer Hauptverhandlung keine neuen Erkenntnisse erwarten lässt.2257 Mit Blick auf die hier vorgeschlagenen Reformen wäre dem Revisionsgericht zudem die Möglichkeit einzuräumen, auch bei einer Tatsachenrüge die Revision im Beschlusswege zu verwerfen, soweit keine Zweifel an der Richtigkeit oder Vollständigkeit der angefochtenen tatsächlichen Feststellungen bestehen. Um eine größtmögliche Transparenz der Beschlussverwerfungen zu gewährleisten, sollten die Revisionsgerichte darüber hinaus verpflichtet werden, den Verwerfungsbeschluss mit Gründen zu versehen, soweit die Revision nicht schon offensichtlich unbegründet ist.2258 Hierbei wäre der Begriff „offensichtlich“ jedoch in einem standardsprachlichen Sinne zu begreifen, sodass es insoweit nicht darauf ankäme, wie die höchstrichterliche Rechtsprechung diesen Begriff im Zusammenhang mit § 349 Abs. 2 StPO bislang ausgelegt hat.2259 Vielmehr wäre eine Revision nach diesem standardsprachlichen Verständnis nur dann offensichtlich unbegründet, und ihre Verwerfung im Beschlusswege daher nicht begründungsbedürftig, wenn ein fachkundiger Jurist schon bei einer summarischen Prüfung erkennen könnte, dass die zulässige Revision keine Aussicht auf Erfolg haben würde. Allein hierdurch wäre dem Beschwerdeführer – in aller Regel wohl auch seinem Verteidiger – mit hinreichender Gewissheit zu vermitteln, dass sich das Gericht auch in den Fällen, in denen nicht selbsterklärend ist, warum seine Revision keinen Erfolg hatte, nicht hat von sachfremden Erwägungen leiten lassen. Zugleich würde durch die Begründung ein Nachweis dafür erbracht werden, dass dem Beschwerdeführer tatsächlich rechtliches Gehör gewährt wurde und das Revisionsgericht sich in ausreichender Tiefe mit seiner Beschwerde befasst hat. Erst auf dieser Weise würde auch bei Beschlussverwerfungen ein hinreichender Anwendungsbereich für die Anhörungsrüge nach § 356a StPO geschaffen. Eine Neufassung des § 349 Abs. 2 StPO, welche diese Aspekte vollumfassend berücksichtigt, könnte etwa folgendermaßen ausgestaltet sein: § 349 Abs. 2 StPO (2) Das Revisionsgericht kann auf einen Antrag der Staatsanwaltschaft, der zu begründen ist, auch dann durch Beschluß entscheiden, wenn es die Revision einstimmig für offensichtlich unbegründet erachtet.
2257
§ 349 Abs. 2 StPO-E (2) 1Das Revisionsgericht kann auf einen Antrag der Staatsanwaltschaft, der zu begründen ist, auch dann durch Beschluß entscheiden, wenn es die Revision einstimmig für offensichtlich unbegründet erachtet, weil die von der Revision aufgeworfenen Rechtsfragen zweifelsfrei zu beantworten sind und auch die Durchführung eine Hauptverhandlung keine neuen Erkenntnisse erwarten lässt;
Ausführlich hierzu bereits S. 45 ff. Vgl. zu den grundlegenden Mängeln der unbegründeten Beschlussverwerfungen S. 45 ff. 2259 Zur höchstrichterlichen Auslegung des Begriffes „offensichtlich“ vgl. S. 45 f. 2258
C. Weitere Reformen im Zusammenhang
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gleiches gilt, wenn keine Zweifel an der Richtigkeit oder Vollständigkeit der angefochtenen tatsächlichen Feststellungen bestehen. 2Soweit die Revision nicht offensichtlich unbegründet ist, ist der Beschluss mit Gründen zu versehen.
Problematisch bleiben ungeachtet dieser Neufassung aber die Fälle, in denen das Revisionsgericht die Revision im Beschlusswege aus anderen Gründen verwerfen will, als jenen, die bereits in dem Verwerfungsantrag der Revisionsstaatsanwaltschaft angegeben sind. Nach der derzeitigen Revisionspraxis werden diese Gründe dem Beschwerdeführer erst mit der (unmittelbar rechtskräftigen) Revisionsentscheidung bekanntgegeben.2260 Zwar hat das Bundesverfassungsgericht diese revisionsgerichtliche Praxis, eine von der Revisionsstaatsanwaltschaft abweichende Rechtsauffassung erst in dem Verwerfungsbeschluss selbst mitzuteilen, für verfassungskonform gehalten.2261 Wie bereits an anderer Stelle ausgeführt,2262 hat das Bundesverfassungsgericht hierbei jedoch offensichtlich verkannt, dass dem Revisionsführer ausgerechnet in dem Fall, in dem ihm weitere Gründe für die Verwerfung erst im Verwerfungsbeschluss mitgeteilt werden, in Bezug auf diese Gründe kein rechtliches Gehör mehr gewährt wird. Daher wäre sicherzustellen, dass dem Beschwerdeführer die neuen Verwerfungsgründe vorab mitgeteilt und ihm eine angemessene Zeit zur Gegenerklärung eingeräumt werden. Insofern wäre zu erwägen, ob nach Absatz 3 des § 349 StPO ein Absatz 3a mit dem nachfolgenden Wortlaut einzufügen ist: § 349 Abs. 3a StPO-E (3a) Soweit das Revisionsgericht aus anderen Gründen als den von der Staatsanwaltschaft angegebenen eine Revision durch Beschluss als unbegründet verwerfen will, hat es diese Gründe dem Beschwerdeführer mitzuteilen und ihm eine angemessene Zeit zur Gegenerklärung einzuräumen.
2. Erweiterung der eigenen Sachentscheidungsbefugnisse des Revisionsgerichts Bekanntermaßen sieht § 354 StPO, trotz der grundsätzlich kassatorischen Natur der Revision, unter engen Voraussetzungen auch eine eigene Sachentscheidung durch das Revisionsgericht vor. So etwa kann das Revisionsgericht gem. § 354 Abs. 1 StPO in der Sache entscheiden, statt sie zurückzuverweisen, wenn die Aufhebung des vorinstanzlichen Urteils wegen eines Subsumtionsfehlers erfolgt und ohne weitere tatsächliche Erörterungen nur auf eine der in der Vorschrift genannten Rechtsfolgen zu erkennen ist. Sofern die Revision um die hier vorgeschlagene Tatsachenrüge ergänzt würde, wäre es nur konsequent, diese beschränkte Sachent2260 2261 2262
Vgl. ausführlich S. 46 f. BVerfG wistra 2014, 434. Vgl. ausführlich S. 46 f.
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5. Kap.: Erweiterung der Revision um eine Tatsachenrüge de lege ferenda
scheidungsbefugnis auch auf jene Fälle zu erstrecken, in denen die Aufhebung des Urteils wegen eines Mangels der tatsächlichen Feststellungen erfolgt, sofern hierbei ohne weitere tatsächliche Erörterungen nur auf eine Einstellung oder eine absolut bestimmte Strafe zu erkennen ist; dies auch in jenen Fällen, in denen weitere tatsächliche Erörterungen nur deshalb nicht erforderlich sind, weil das Revisionsgericht bereits eine Beweisaufnahme gem. §§ 350a2263, 350b2264 StPO-E durchgeführt hat und deshalb hinreichendes Tatsachenmaterial zur Verfügung steht. Eine Zurückverweisung der Sache an die Vorinstanz wäre in diesen Fällen nämlich ebenso wenig verfahrensökonomisch wie im Falle eines Subsumtionsmangels, da das Gericht, an das die Sache zurückverwiesen würde, auch hier lediglich die Anweisungen des Revisionsgerichts umzusetzen hätte, ohne dass ihm Raum für eine eigene Sachentscheidung verbliebe. Eine entsprechende Neufassung des Absatzes 1 des § 354 StPO könnte dabei etwa nach dem folgenden Vorbild erfolgen: § 354 Abs. 1 StPO (1) Erfolgt die Aufhebung des Urteils nur wegen Gesetzesverletzung bei Anwendung des Gesetzes auf die dem Urteil zugrunde liegenden Feststellungen, so hat das Revisionsgericht in der Sache selbst zu entscheiden, sofern ohne weitere tatsächliche Erörterungen nur auf Freisprechung oder auf Einstellung oder auf eine absolut bestimmte Strafe zu erkennen ist oder das Revisionsgericht in Übereinstimmung mit dem Antrag der Staatsanwaltschaft die gesetzlich niedrigste Strafe oder das Absehen von Strafe für angemessen erachtet.
§ 354 Abs. 1 StPO-E (1) Erfolgt die Aufhebung des Urteils nur wegen Gesetzesverletzung bei Anwendung des Gesetzes auf die dem Urteil zugrunde liegenden Feststellungen oder eines Mangels der tatsächlichen Feststellungen, so hat das Revisionsgericht in der Sache selbst zu entscheiden, sofern ohne weitere tatsächliche Erörterungen oder aufgrund einer Beweisaufnahme gemäß den §§ 350a und 350b nur auf Freisprechung oder auf Einstellung oder auf eine absolut bestimmte Strafe zu erkennen ist oder das Revisionsgericht in Übereinstimmung mit dem Antrag der Staatsanwaltschaft die gesetzlich niedrigste Strafe oder das Absehen von Strafe für angemessen erachtet.
Zu beachten gilt allerdings, dass diese Fassung des § 354 Abs. 1 StPO das Revisionsgericht keinesfalls in die Lage versetzen soll, Beweise ausschließlich und gezielt zu dem Zweck zu erheben, um sich somit überhaupt erst in die Lage zu versetzen, eine eigene Sachentscheidung zu treffen. Ungeachtet der durch den § 354 Abs. 1 StPO-E eröffneten Möglichkeiten darf die revisionsgerichtliche Beweisaufnahme ausschließlich zu dem Zweck erfolgen, nachzuprüfen, ob die substantiierte Tatsachenrüge des Beschwerdeführers begründet ist. Erst wenn aufgrund der Tatsachenkenntnisse, die hierbei gewonnen wurden, eine eigene Sachentscheidung durch das Revisionsgericht in Betracht kommt, ist § 354 Abs. 1 StPO-E heranzu-
2263 2264
Vgl. S. 447. Vgl. S. 449.
C. Weitere Reformen im Zusammenhang
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ziehen. Darin ist auch ein wesentlicher Unterschied der hier unterbreiteten Reformvorschläge zu dem Diskussionsentwurf 1975 zu erblicken.2265 Zu erwägen ist bei einer Reform des § 354 StPO auch, seinen Absatz 1a jenen Anforderungen anzupassen, die bereits 2007 durch das Bundesverfassungsgericht für eine verfassungskonforme Auslegung der Vorschrift aufgestellt worden sind. So betonte das Bundesverfassungsgericht, dass eine Strafzumessung nach Aktenlage, wie sie in § 354 Abs. 1a Satz 1 StPO faktisch vorgesehen ist, nur dann in Betracht kommt, wenn dem Revisionsgericht „ein lückenloser, wahrheitsorientiert ermittelter und aktueller Strafzumessungssachverhalt zur Verfügung steht“.2266 Andernfalls würde durch die revisionsgerichtliche Bewertung, dass die Rechtsfolgen angemessen seien, grundrechtlich geschützte Positionen des Angeklagten berührt.2267 Daher habe sich das Revisionsgericht, bevor es nach § 354 Abs. 1a Satz 1 StPO verfährt, über das Vorliegen einer vollständigen und verlässlichen Entscheidungsgrundlage Gewissheit zu verschaffen.2268 Um diesen Anforderungen gerecht zu werden, böte sich eine Neufassung auch des § 354 Abs. 1a Satz 1 StPO nach dem folgenden Vorbild an: § 354 Abs. 1a StPO (1a) 1Wegen einer Gesetzesverletzung nur bei Zumessung der Rechtsfolgen kann das Revisionsgericht von der Aufhebung des angefochtenen Urteils absehen, sofern die verhängte Rechtsfolge angemessen ist. 2Auf Antrag der Staatsanwaltschaft kann es die Rechtsfolgen angemessen herabsetzen.
§ 354 Abs. 1a StPO-E (1a) 1Wegen einer Gesetzesverletzung nur bei Zumessung der Rechtsfolgen kann das Revisionsgericht von der Aufhebung des angefochtenen Urteils absehen, sofern die verhängte Rechtsfolge angemessen ist und ein zutreffend ermittelter, vollständiger und aktueller Strafzumessungssachverhalt zur Verfügung steht. 2Auf Antrag der Staatsanwaltschaft kann es die Rechtsfolgen angemessen herabsetzen.
Darüber hinaus verlangt das Bundesverfassungsgericht aber auch, dass dem Angeklagten rechtliches Gehör zu gewähren ist, wenn das Gericht gedenkt nach § 354 Abs. 1a Satz 1 StPO zu verfahren, damit dieser die Möglichkeit hat, das Revisionsgericht rechtzeitig über einen unzureichenden oder nicht mehr aktuellen Strafzumessungssachverhalt zu informieren.2269 Zugleich, so das Bundesverfassungsgericht, seien ihm auch die Gründe mitzuteilen, die aus revisionsgerichtlicher Sicht für eine solche Vorgehensweise sprechen, damit er auch dazu – nicht notwendigerweise mündlich – Stellung nehmen kann.2270 Schließlich verlangt das Bundesverfassungsgericht, ungeachtet des Grundsatzes, wonach letztinstanzliche Entscheidungen nicht zwingend begründet werden müssen, dass eine Entscheidung 2265 2266 2267 2268 2269 2270
Zu der Beweisaufnahme nach dem Diskussionsentwurf 1975 vgl. S 402 f. BVerfGE 118, 212, 230. Ebd. BVerfGE 118, 212, 234. Ebd. Ebd.
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5. Kap.: Erweiterung der Revision um eine Tatsachenrüge de lege ferenda
gem. § 354 Abs. 1a Satz 1 StPO jedenfalls dann mit Gründen zu versehen ist, wenn der Angeklagte ansonsten die für die Strafzumessung relevanten Umstände und deren konkretes Gewicht nicht nachvollziehen könnte.2271 Diese Grundsätze gelten dabei gleichermaßen für Entscheidungen gem. § 354 Abs. 1a Satz 2 StPO, bei denen das Revisionsgericht auf Antrag der Staatsanwaltschaft die Rechtsfolgen angemessen herabsetzt.2272 Zur gesetzlichen Umsetzung dieser Anhörungserfordernisse bei einem Verfahren nach § 354 Abs. 1a Satz 1 StPO böte es sich insofern an, nach dem Absatz 1b des § 354 StPO einen neuen Absatz 1c nach dem folgenden Vorbild einzufügen: § 354 Abs. 1c StPO-E (1c) 1Soweit das Revisionsgericht nach Absatz 1a verfährt, hat es den Angeklagten auf die Gründe hinzuweisen, die aus seiner Sicht für eine solche Entscheidung sprechen und ihm Gelegenheit zur Stellungnahme zu geben; dies kann schriftlich oder während der mündlichen Verhandlung erfolgen. 2Sofern die für die Zumessung der Strafe bedeutsamen Umstände und ihr Gewicht für den Angeklagten sonst nicht erkennbar sind, ist die Entscheidung des Revisionsgerichts mit Gründen zu versehen.
3. Anpassung der Revisionserstreckung auf Mitverurteile Die Revision als Rechtsmittel wirkt grundsätzlich ausschließlich zugunsten dessen, der sie eingelegt hat. Ein Urteil kann also gegenüber einem Mitangeklagten, der das Urteil nicht angefochten hat, bereits Rechtskraft erlangen, obwohl darüber in Bezug auf einen anderen Mitangeklagten in der Revisionsinstanz weiterverhandelt wird. Lediglich für die Fälle, in denen zugunsten eines Mitangeklagten, der das Urteil angefochten hat, eine Aufhebung des Urteils wegen materiell-rechtlicher Mängel erfolgt, ordnet § 357 Satz 1 StPO an, dass die Revisionswirkung sich auch auf diejenigen Mitverurteilten erstreckt, die selbst keine Revision eingelegt hatten. Insoweit wird nämlich aus Gründen der materiellen Gerechtigkeit – auch unter Durchbrechung der Rechtskraft – verhindert, dass ein inhaltlich falsches Urteil aus bloß formalen Gründen aufrechterhalten wird; damit sollen das Rechtsgefühl verletzende Ungleichheiten bei der Aburteilung einer Mehrheit von Personen vermieden werden.2273 Von der Revisionserstreckung ausgenommen sind allerdings Urteile, die ausschließlich wegen eines Verfahrensmangels aufgehoben werden. Diese gesetzgeberische Entscheidung, deren Motive auch den Materialien zur Strafprozessordnung nicht eindeutig zu entnehmen sind, beruht wohl auf der Erwägung, dass Verfahrensmängel keinen Einfluss auf den materiellen Inhalt des Urteils haben, weshalb 2271
BVerfGE 118, 212, 238. So das Bundesverfassungsgericht in BVerfG NStZ 2007, 710. 2273 So schon die Protokolle der Kommission, in: Hahn (Hrsg.), Materialien zur StPO, Bd. III/1, S. 1048; vgl. aber auch BGHSt 12, 335, 341. 2272
C. Weitere Reformen im Zusammenhang
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eine Durchbrechung der Rechtskraft nicht notwendig erschien.2274 Mit Blick auf die potentielle Einführung einer Tatsachenrüge gilt allerdings zu bedenken, dass auch Mängel der tatsächlichen Feststellungen, wie schon sachlich-rechtliche Mängel, stets ein materiell falsches Urteil zur Folge haben. Auch wenn sich die hier vorgeschlagene Tatsachenrüge in vielen Punkten also an der Verfahrensrüge orientiert, wäre daher für die Fälle, in denen das Urteil aufgrund eines Mangels der tatsächlichen Feststellungen aufgehoben wird, sicherzustellen, dass eine Revisionserstreckung auch auf jene Mitverurteilte erfolgt, die nicht selbst Revision eingelegt haben. Insoweit böte sich eine Neufassung des § 357 StPO nach dem folgenden Vorbild an: § 357 StPO Erfolgt zugunsten eines Angeklagten die Aufhebung des Urteils wegen Gesetzesverletzung bei Anwendung des Strafgesetzes und erstreckt sich das Urteil, soweit es aufgehoben wird, noch auf andere Angeklagte, die nicht Revision eingelegt haben, so ist zu erkennen, als ob sie gleichfalls Revision eingelegt hätten. 2 § 47 Abs. 3 gilt entsprechend. 1
§ 357 StPO-E Erfolgt zugunsten eines Angeklagten die Aufhebung des Urteils wegen einer Gesetzesverletzung bei Anwendung des Strafgesetzes oder eines Mangels der tatsächlichen Feststellungen und erstreckt sich das Urteil, soweit es aufgehoben wird, noch auf andere Angeklagte, die nicht Revision eingelegt haben, so ist zu erkennen, als ob sie gleichfalls Revision eingelegt hätten. 2§ 47 Absatz 3 gilt entsprechend. 1
4. Bindung des Tatgerichts an die Ergebnisse der Beweisaufnahme gemäß § 350a StPO-E Schließlich gilt es, dem Revisionsgericht auch ein Instrument an die Hand zu geben, mit dem es sicherstellen kann, dass das Gericht, an das die Sache nach einer Tatsachenrüge zur erneuten Verhandlung und Entscheidung zurückverwiesen wird, die revisionsgerichtliche Beurteilung der Tatfrage und etwaige Ergebnisse der revisionsgerichtlichen Beweisaufnahme gem. § 350a StPO-E2275 seiner erneuten Entscheidung zugrunde legt. Andernfalls bestünde die Gefahr, dass die Sache fortwährend zwischen Tatgericht und Revisionsgericht hin- und hergeschoben wird, ohne dass sich die abweichende tatsächliche Bewertung des Revisionsgerichts endgültig durchsetzen kann. Insofern wäre das Tatgericht also durch eine entsprechende Änderung des § 358 StPO zu verpflichten, neben der rechtlichen auch die tatsächliche Beurteilung des Revisionsgerichts seiner neuen Entscheidung zugrunde zu legen. Ebenso wäre dem Revisionsgericht die Kompetenz einzuräumen, in geeigneten Fällen anzuordnen, dass das Gericht, an das die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung 2274 Vgl. Protokolle der Kommission, in: Hahn (Hrsg.), Materialien zur StPO, Bd. III/1, S. 1048 f. 2275 Vgl. S. 447.
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5. Kap.: Erweiterung der Revision um eine Tatsachenrüge de lege ferenda
zurückverwiesen wird, bei seiner Entscheidung auch die Ergebnisse einer Beweisaufnahme in der Revisionshauptverhandlung zugrunde zu legen hat. Als ungeeignet für eine solche Anordnung dürften sich dabei vor allem nur Fälle erweisen, in denen die tatsächlichen Erkenntnisse des Revisionsgerichts bloß fragmentarischer Natur sind oder eine umfassende gerichtliche Untersuchung der Sache durch das Tatgericht, an das die Sache zurückverwiesen wird, angezeigt ist. Zur Umsetzung dieser Reformerfordernisse könnte etwa der Satz 1 des § 358 Abs. 1 nach dem folgenden Vorbild neugefasst und ihm ein Satz 2 des folgenden Wortlauts angefügt werden: § 358 Abs. 1 StPO (1) Das Gericht, an das die Sache zur anderweiten Verhandlung und Entscheidung verwiesen ist, hat die rechtliche Beurteilung, die der Aufhebung des Urteils zugrunde gelegt ist, auch seiner Entscheidung zugrunde zu legen.
§ 358 Abs. 1 StPO-E (1) 1Das Gericht, an das die Sache zur anderweiten Verhandlung und Entscheidung verwiesen ist, hat die rechtliche und tatsächliche Beurteilung, die der Aufhebung des Urteils zugrunde gelegt ist, auch seiner Entscheidung zugrunde zu legen. 2Gleiches gilt für die Ergebnisse der Beweisaufnahme gemäß § 350a, soweit das Revisionsgericht dies in geeigneten Fällen ausdrücklich angeordnet hat.
Die hier vorgeschlagenen Änderungen des § 358 Abs. 1 StPO hätten zwar eine Einschränkung der freien Beweiswürdigung des Tatrichters zur Folge, doch reicht diese Einschränkung bei genauer Betrachtung nicht weiter, als in den Fällen, in denen das Revisionsgericht die tatsächlichen Feststellungen der Vorinstanz gem. § 353 Abs. 2 StPO bei Aufhebung und Zurückverweisung eines Urteils aufrechterhält. Auch in diesen Fällen ist nämlich das Gericht, an das die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung zurückverwiesen wird, an die Feststellungen eines anderen Gerichts gebunden und folglich in seiner Beweiswürdigung eingeschränkt.
III. Sonstige Änderungsvorschläge 1. Einführung einer notwendigen Verteidigung für Zwecke der Revisionsbegründung Die Mitwirkung eines Verteidigers im Revisionsverfahren erscheint mit Blick auf die Komplexität der strafrechtlichen Revision im Grunde geradezu zwingend. So hat auch der 2. Strafsenat des Bundesgerichtshofs in einer Verfügung vom 25. September 2014 hervorgehoben, dass zumindest in der Revisionshauptverhandlung – entgegen der Praxis bis dahin – die Anwesenheit eines Verteidigers notwendig ist.2276 Ebenso hat auch die obergerichtliche Rechtsprechung hervorgehoben, dass die 2276
BGH, Verfügung vom 25. September 2014 – 2 StR 163/14.
C. Weitere Reformen im Zusammenhang
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Bestellung eines Verteidigers im Revisionsverfahren bereits dann angezeigt sein kann, wenn die Revisionsbegründung besondere Schwierigkeiten bereitet – dies selbst dann, wenn die Voraussetzungen des § 140 StPO in der damaligen Fassung nicht vorlagen.2277 Dennoch gilt für die Begründung einer Revision wohl weiterhin, dass die Bestellung eines Pflichtverteidigers hierfür allenfalls gem. § 140 Abs. 2 StPO erfolgen kann, wenn nicht schon in der Tatsacheninstanz die Notwendigkeit einer Verteidigung bestand.2278 Die naheliegende Annahme, dass bereits die Komplexität des Revisionsrechts stets zu einer Verteidigerbeiordnung wegen der Schwierigkeit der Rechtslage führen müsse, wird durch die Rechtsprechung als eine vom Gesetz nicht gewollte Ausdehnung der notwendigen Verteidigung abgelehnt.2279 Tatsächlich jedoch ist angesichts der Komplexität des Revisionsverfahrens, die nicht zuletzt auf die (höchstrichterlichen) Anforderungen an die Revisionsbegründungsschrift zurückzuführen ist, und der Mitwirkung von spezialisierten Revisionsstaatsanwaltschaften auf der Gegenseite durchaus fraglich, ob die Durchführung eines Revisionsverfahrens ohne die frühe Einbindung eines Verteidigers den Prinzipien des fairen Verfahrens und dem Grundsatz der Waffengleichheit im Strafverfahren noch gerecht wird.2280 So ist kaum ersichtlich, warum die zwingende Mitwirkung eines Verteidigers auf die Revisionshauptverhandlung beschränkt sein soll. Vor allem mit Blick auf die komplexen Begründungsanforderungen an eine Verfahrensrüge erscheint es schon heute geradezu zwingend, dass dem Angeklagten bereits frühzeitig – also auch bereits zur Begründung seiner Revision – ein Verteidiger zur Seite gestellt wird, damit er seine Rechte hinreichend wahrnehmen kann.2281 Gerade da es dem Angeklagten ohne rechtskundigen Rat kaum einmal gelingen wird, Verfahrensmängel des Urteils überhaupt aufzuspüren, ist alles andere wohl kaum mit dem Rechtsstaatsprinzip und dem Gebot des fairen Verfahrens zu vereinbaren.2282 So heißt es bereits in einem Beschluss des 2. Senats vom 19. Oktober 1977 wörtlich: „Die Bestellung eines Verteidigers ist […] nicht nur in den in dieser Vorschrift [gemeint ist § 140 Abs. 2 StPO a. F. – Anm. d. Verf.] genannten Fällen – die ihrerseits Ausprägungen des Gebots fairer Verfahrensführung darstellen –, sondern stets auch dann erforderlich, wenn die Ablehnung der Beiordnung aus anderen Gründen den Angeklagten in seinem Anspruch auf ein faires Verfahren verletzen würde. Das ist insbesondere dann der Fall, wenn die Wür2277 KG Berlin, Beschluss vom 14. Juli 2010 – 4 Ws 77 – 78/10 –, juris Rn. 22; MeyerGoßner/Schmitt, StPO, § 140 Rn. 29 m. w. N.; Lüderssen/Jahn, in: Löwe/Rosenberg, § 140 Rn. 117. 2278 Laufhütte/Willnow, KK-StPO, § 140 Rn. 5 m. w. N. 2279 OLG Hamm NStZ 1982, 345 ff.; OLG Oldenburg JR 1985, 256 ff. 2280 Ähnliche Bedenken äußert auch Dahs, Anm. zu OLG Hamm, Beschluss vom 5. Februar 1981, NStZ 1981, 345 ff.; kritisch auch Dahs, Anm. zu OLG Oldenburg, Beschluss vom 17. Mai 1984, JR 1985, 256 ff. 2281 Dass dies nicht schon durch das Tatgericht erfolgen kann, hat der Bundesgerichtshofs – entgegen der damaligen teilweisen obergerichtlichen Rechtsprechung – schon früh klargestellt, BGHSt 19, 258 ff. 2282 So auch das Bundesverfassungsgericht schon 1977, wenn auch mit einer Beschränkung auf schwerwiegende Fälle, vgl. BVerfGE 46, 202, 209 ff.
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5. Kap.: Erweiterung der Revision um eine Tatsachenrüge de lege ferenda
digung aller Umstände […] das Vorliegen eines ,schwerwiegenden Falles‘ ergibt und der Beschuldigte die Kosten eines gewählten Verteidigers nicht aufzubringen vermag.“2283
Grundsätzlich ist dem Beschluss wenig hinzuzufügen; lediglich die Annahme des 2. Strafsenats, dass sich eine Beiordnung aus Gründen des fairen Verfahrens auf „schwerwiegende Fälle“ beschränken soll, kann mit Blick auf die generelle Grundrechtsinvasivität der Strafe als Ausspruch eines sozialethischen Unwerturteils nicht überzeugen – dies gilt erst recht für Fälle, in denen die Revision das einzige dem Beschwerdeführer zur Verfügung stehende Rechtsmittel darstellt. Wenn insoweit gelegentlich darauf verwiesen wird, dass der Angeklagte, der sich keinen Verteidiger leisten kann oder will, seine Revision bzw. seine Gegenerklärung doch auch zur Protokoll der Geschäftsstelle einlegen könne, vermag dies wenig zu überzeugen. Schließlich wird der Rechtspfleger als Urkundsbeamter der Geschäftsstelle hierbei lediglich als eine rechtskundige Urkundsperson tätig, der die von dem Beschwerdeführer vorgetragenen Revisionsrügen in rechtlich einwandfreier Form protokolliert.2284 Weder ist es die Aufgabe des Rechtspflegers noch wird er in den wenigsten Fällen selbstständig erkennen können, ob das Urteil tatsächlich an (verfahrensrechtlichen) Mängeln leidet. Diese Erwägungen gelten im gleichen Maße für die hier vorgeschlagene Tatsachenrüge. Eine das Revisionsgericht überzeugende Darstellung, warum die tatrichterlichen Feststellungen unvollständig, unklar, widersprüchlich oder sonst fehlerhaft sind, wird dem gemeinen Angeklagten aus eigener Kraft wohl nur in den wenigsten Fällen gelingen. Jedenfalls mit der Einführung einer Tatsachenrüge wäre deshalb zu erwägen, ob für das Revisionsverfahren nicht generell eine notwendige Verteidigung anzuordnen ist, damit der Beschwerdeführer sowohl bei der Entscheidung, welche Teile des Urteils er anfechten sollte, als auch bei der Frage, wie die entsprechenden Rügen auszuführen sind, frühzeitig rechtlich beraten ist. Damit setzt eine effiziente Ausgestaltung der notwendigen Verteidigung im Revisionsverfahren voraus, dass die Bestellung des notwendigen Verteidigers, sofern die Revision von dem Angeklagten eingelegt wird, bereits ab diesem Zeitpunkt, und sofern sie von einem anderen Verfahrensbeteiligten eingelegt wird, jedenfalls ab dem Zeitpunkt, in dem feststeht, dass die Revisionsschrift dem Angeklagten zugestellt werden soll, erfolgt. Erreicht werden könnte dieses Ziel etwa, indem nach Nummer 3 des § 140 Abs. 1 StPO ein neuer Nummer 3a mit dem nachfolgenden Wortlaut eingefügt wird: § 140 Abs. 1 Nr. 3a StPO-E (1) Ein Fall der notwendigen Verteidigung liegt vor, wenn […] 2283 2284
345.
BVerfG 46, 202, 210 f. So auch Dahs, Anm. zu OLG Hamm, Beschluss vom 5. Februar 1981, NStZ 1981, 345,
C. Weitere Reformen im Zusammenhang
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3a. der Angeklagte das Urteil mit der Revision angefochten hat oder ihm eine Revisionsschrift der Staatsanwaltschaft, des Privatklägers oder des Nebenklägers nach § 347 Absatz 1 Satz 1 zugestellt wird; […]
Konsequenterweise wäre zudem sicherzustellen, dass einem Angeklagten, der zu dem in § 140 Abs. 1 Nr. 3a StPO-E vorgesehenen Zeitpunkt noch keinen Verteidiger hat, rechtzeitig ein Pflichtverteidiger bestellt wird. Insoweit könnte etwa nach Absatz 2 des § 141 StPO ein neuer Absatz 3 mit dem folgenden Wortlaut eingefügt werden: § 141 Abs. 3 StPO-E (3) In dem Fall des § 140 Absatz 1 Nr. 3a ist dem Angeklagten, der noch keinen Verteidiger hat, ein Verteidiger zu bestellen, sobald er das Urteil angefochten hat oder ihm die Revisionsschrift des Beschwerdeführers zugestellt worden ist.
Sichergestellt werden müsste insoweit aber auch, dass die Revisionsbegründungsfrist erst mit der Bestellung eines Verteidigers zu laufen beginnt, wenn dem unverteidigten Angeklagten noch kein Verteidiger gem. § 141 Abs. 3 StPO-E bestellt ist. Erreicht werden könnte dieses Ziel, indem dem Satz 2 des § 345 Abs. 1 StPO ein zweiter Halbsatz nach dem folgenden Vorbild angefügt wird: § 345 Abs. 1 StPO (1) 1Die Revisionsanträge und ihre Begründung sind spätestens binnen eines Monats nach Ablauf der Frist zur Einlegung des Rechtsmittels bei dem Gericht, dessen Urteil angefochten wird, anzubringen. 2War zu dieser Frist das Urteil noch nicht zugestellt, so beginnt die Frist mit der Zustellung.
§ 345 Abs. 1 StPO-E (1) 1Die Revisionsanträge und ihre Begründung sind spätestens binnen eines Monats nach Ablauf der Frist zur Einlegung des Rechtsmittels bei dem Gericht, dessen Urteil angefochten wird, anzubringen. 2War zu dieser Frist das Urteil noch nicht zugestellt, so beginnt die Frist mit der Zustellung; ist ein Verteidiger gemäß § 141 Absatz 3 noch nicht bestellt, beginnt die Frist erst mit der Bestellung des Verteidigers.
Nur so wäre gewährleistet, dass der Verteidiger auch bei seiner verspäteten Bestellung die Revisionsbegründungsfrist voll ausschöpfen kann. 2. Abschaffung der Möglichkeit der Revisionsbegründung zu Protokoll der Geschäftsstelle Sofern tatsächlich die generelle Mitwirkung eines Verteidigers im Revisionsverfahren vorgeschrieben würde, würde die bislang gesetzlich vorgesehene Möglichkeit zur Anbringung der Revisionsanträge und ihrer Begründung zu Protokoll der Geschäftsstelle des Gerichts letztlich obsolet werden. Doch auch im Übrigen gilt zu berücksichtigen, dass die Begründung einer Revision, von der allgemeinen Sachrüge einmal abgesehen, derart ausgeprägte Kenntnisse des Revisionsrechts und der
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5. Kap.: Erweiterung der Revision um eine Tatsachenrüge de lege ferenda
höchstrichterlichen Rechtsprechung voraussetzt, dass ein Angeklagter – auch mit Hilfe eines qualifizierten Rechtspflegers – kaum mal dazu in der Lage sein wird, eine Revisionsbegründung, die diesen Anforderungen genügt, zu Protokoll der Geschäftsstelle anzubringen. Selbst bei einer Sachrüge muss wohl realistischerweise davon ausgegangen werden, dass ein Verteidiger eher dazu in der Lage sein wird, das Revisionsgericht auch auf weniger offensichtliche sachlich-rechtliche Mängel des Urteils aufmerksam zu machen, als ein juristisch nicht vorgebildeter Angeklagte. Dass die allgemeine Sachrüge auch ohne eine nähere Ausführung zu einer umfassenden Prüfung des Urteils auf materiell-rechtliche Mängel führt, ist dabei nur ein geringer Trost – schon die Tatsache, dass kaum ein vernünftiger Verteidiger auf die Ausführung einer Sachrüge verzichten würde, deutet schließlich darauf hin, dass es naiv wäre, der allein von Amts wegen erfolgende Prüfung im Rahmen der Sachrüge zu vertrauen. Zu erwägen wäre daher, in § 345 Abs. 2 StPO die Wörter „oder zu Protokoll der Geschäftsstelle“ zu streichen: § 345 Abs. 2 StPO (2) Seitens des Angeklagten kann dies nur in einer von dem Verteidiger oder einem Rechtsanwalt unterzeichneten Schrift oder zu Protokoll der Geschäftsstelle geschehen.
§ 345 Abs. 2 StPO-E (2) Seitens des Angeklagten kann dies nur in einer von dem Verteidiger oder einem Rechtsanwalt unterzeichneten Schrift oder zu Protokoll der Geschäftsstelle geschehen.
Damit könnte die Revision seitens des Angeklagten ausschließlich noch in einer von dem (Pflicht-)Verteidiger oder einem Rechtsanwalt unterzeichneten Schrift angebracht werden, sodass stets eine Mindestqualität der Revisionsschrift sichergestellt wäre. 3. Protokollberichtigung und Verfahren bei Rügeverkümmerung Mit der hier vorgeschlagenen Änderung des § 273 Abs. 2 StPO2285, wonach die wesentlichen Ergebnisse der Vernehmungen bei erstinstanzlichen Hauptverhandlungen stets – und nicht bloß bei solchen vor dem Strafrichter und dem Schöffengericht – in das Protokoll aufzunehmen sind, gewinnt das Protokoll insbesondere auch für die Tatsachenrüge eine besondere Bedeutung. Daher böte es sich an, die eventuelle Einführung einer Tatsachenrüge zum Anlass zu nehmen, die von dem Großen Senat für Strafsachen bereits im Jahre 2007 entwickelten Grundsätze für eine rügeverkümmernde Protokollberichtigung – einer Protokollberichtigung also, durch die einer ordnungsgemäß erhobenen Revision die Grundlage entzogen wird – gesetzlich zu normieren.2286 2285
Vgl. S. 433 f. Vgl. BGHSt (GSSt) 51, 298; zu der Kritik an dieser Form der richterlichen Rechtsschöpfung vgl. schon S. 294 ff. der vorliegenden Schrift. 2286
C. Weitere Reformen im Zusammenhang
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Hierbei gilt nämlich zu beachten, dass derzeit schon die grundsätzliche Zulässigkeit einer Protokollberichtigung bloß auf der höchstrichterlichen Rechtsprechung beruht.2287 Insofern müsste in einem ersten Schritt die Zulässigkeit der Protokollberichtigung auch im Strafverfahren auf eine eindeutige Rechtsgrundlage gestellt werden. Als Vorbild für eine solche gesetzliche Regelung könnte die zivilprozessuale Parallelvorschrift des § 164 ZPO herangezogen werden, wodurch der in den übrigen Verfahrensordnungen ohnehin schon seit 1974 geltende Rechtszustand auch im Strafverfahren Einzug erhielte.2288 Nachzudenken wäre insoweit etwa darüber, nach § 273 StPO einen neuen § 273a mit dem folgenden Wortlaut einzufügen: § 273a StPO-E (1) Unrichtigkeiten des Protokolls können jederzeit berichtigt werden. (2) Vor der Berichtigung ist die Staatsanwaltschaft, der Angeklagte und der Verteidiger zu hören. (3) 1Die Berichtigung wird auf dem Protokoll vermerkt; dabei kann auf eine mit dem Protokoll zu verbindende Anlage verwiesen werden. 2Der Vermerk ist von dem Richter, der das Protokoll unterschrieben hat, oder von dem allein tätig gewesenen Richter, selbst wenn dieser an der Unterschrift verhindert war, und von dem Urkundsbeamten der Geschäftsstelle zu unterschreiben. (4) 1Erfolgt der Berichtigungsvermerk in der Form des § 32e Satz 2, ist er in einem gesonderten elektronischen Dokument festzuhalten. 2Das Dokument ist mit dem Protokoll untrennbar zu verbinden.
In einem zweiten Schritt wären anschließend die durch den Großen Senat für Strafsachen aufgestellten Grundsätze, die bei einer rügeverkümmernden Protokollberichtigung zu beachten sind,2289 in die Strafprozessordnung zu überführen. Insofern wäre nach § 352 StPO ein neuer § 352a einzufügen, der eben diese Grundsätze berücksichtigt und in etwa den folgenden Wortlaut haben könnte: § 352a StPO-E (1) 1Soll einer bereits ordnungsgemäß erhobenen Revision durch eine Berichtigung des Protokolls über die Hauptverhandlung (§ 273a) die Grundlage entzogen werden, so hat das Gericht, dessen Urteil angefochten wird, dem Beschwerdeführer unverzüglich eine mit Gründen versehene Abschrift der Berichtigung zuzustellen. 2Der Beschwerdeführer kann binnen einer Woche nach der Zustellung der Berichtigung widersprechen. 3Der Widerspruch ist schriftlich zu begründen. (2) 1Widerspricht der Beschwerdeführer, so sind auch von den übrigen Verfahrensbeteiligten Erklärungen einzuholen. 2Sie sind dem Beschwerdeführer unter Bestimmung einer angemessenen Frist zur Stellungnahme mitzuteilen.
2287
So schon BGHSt (GSSt) 51, 298, 304. Art. 1, Art. 3 Nr. 1, Art. 4 Nr. 1, Art. 5 Nr. 1 des Gesetzes zur Entlastung der Landgerichte und zur Vereinfachung des gerichtlichen Protokolls vom 20. Dezember 1974, BGBl. I 1974/141, 3651. 2289 Vgl. hierzu BGHSt (GSSt) 51, 298, 316 f. 2288
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5. Kap.: Erweiterung der Revision um eine Tatsachenrüge de lege ferenda
(3) 1Kommt der Richter, der das Protokoll unterschrieben hat, oder der allein tätig gewesene Richter, der an der Unterschrift verhindert war, oder der Urkundsbeamte der Geschäftsstelle nach Ablauf der Frist gemäß Absatz 2 Satz 2 zu dem Schluss, dass das Protokoll nicht unrichtig ist, ist eine Änderung unzulässig; andernfalls ist das Protokoll zu berichtigen. 2 § 273a Absatz 3 und 4 gilt entsprechend. (4) Wird das Protokoll berichtigt, ist § 274 Satz 2 auf den berichtigten Teil des Protokolls nicht anzuwenden.
4. Beweisanträge des Beschwerdegegners bei einer Tatsachenrüge Soweit der Beschwerdeführer das Urteil wegen eines tatsächlichen Mangels anficht, hat er nach dem hier vorgeschlagenen § 344 Abs. 4 Satz 2 StPO-E2290 die für die Nachprüfung seiner Rüge erforderlichen Beweisanträge unmittelbar mit seiner Revisionsbegründung zu verbinden. Um in einem solchem Fall dem Beschwerdegegner zu ermöglichen, dem Revisionsgericht Gegenbeweise anzubieten, ohne selbst eine Revision einlegen zu müssen, wäre diesem zu gestatten, mit seiner Gegenerklärung gem. § 347 Abs. 1 Satz 2 StPO eigene Beweisanträge zu verbinden. Insoweit böte es sich an, nach dem Absatz 1 des § 347 StPO einen neuen Absatz 1a, etwa in der folgenden Fassung, einzufügen: § 347 Abs. 1a StPO-E (1a) 1Soweit das Urteil wegen eines Mangels der tatsächlichen Feststellungen angefochten ist, kann der Beschwerdegegner mit der Gegenerklärung eigene Beweisanträge verbinden. 2 § 344 Absatz 5 gilt entsprechend.
Die hier gewählte Formulierung („Soweit das Urteil […] angefochten ist“) stellt sicher, dass die mit der Gegenerklärung verbundenen Beweisanträge des Beschwerdegegners sich ausschließlich auf Teile des Urteils beziehen können, die von dem Beschwerdeführer angefochten worden sind. Die Beweisanträge sollen den Beschwerdegegner also ausschließlich in die Lage versetzen, Gegenbeweise für eine von ihm als unberechtigt empfundene Tatsachenrüge vorzulegen. Will er dagegen erreichen, dass über eine Tatsache Beweis erhoben wird, die bislang nicht angefochtene Teile des Urteils betrifft, muss er innerhalb der Revisionsfrist selbst eine entsprechende Tatsachenrüge anbringen. Der Verweis auf § 344 Abs. 5 StPO-E2291 in dem neuen Absatz 1a Satz 2 gestattet dem Revisionsgericht, auch über die in der Gegenerklärung enthaltenen Beweisanträge außerhalb der Hauptverhandlung zu entscheiden. Da der hier vorgeschlagene § 140 Abs. 1 Nr. 3a StPO-E2292 für das gesamte Revisionsverfahren eine notwendige Verteidigung vorsieht, erscheint es zudem 2290 2291 2292
Vgl. S. 441. Vgl. S. 441. Vgl. S. 468.
D. Zusammenfassende Darstellung der Reformvorschläge
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sachgerecht, den Angeklagten zu verpflichten, auch seine Gegenerklärung – wie schon die Revisionsbegründung – in einer von dem Verteidiger oder einem Rechtsanwalt unterzeichneten Schrift einzureichen. Auf die Möglichkeit, die Gegenerklärung auch zu Protokoll der Geschäftsstelle abzugeben, wäre somit – nach den bereits zuvor angestellten Erwägungen zu der Revisionsbegründungsschrift2293 – auch hier zu verzichten. Um dieses Ziel zu erreichen, wäre Satz 2 des § 347 Abs. 1 StPO um einen zweiten Halbsatz nach dem folgenden Vorbild zu ergänzen und sein bisheriger Satz 4 zu streichen: § 347 Abs. 1 StPO (1) 1Ist die Revision rechtzeitig eingelegt und sind die Revisionsanträge rechtzeitig und in der vorgeschriebenen Form angebracht, so ist die Revisionsschrift dem Gegner des Beschwerdeführers zuzustellen. 2Diesem steht frei, binnen einer Woche eine schriftliche Gegenerklärung einzureichen. 3Wird das Urteil wegen eines Verfahrensmangels angefochten, so gibt der Staatsanwalt in dieser Frist eine Gegenerklärung ab, wenn anzunehmen ist, dass dadurch die Prüfung der Revisionsbeschwerde erleichtert wird. 4Der Angeklagte kann die Gegenerklärung auch zu Protokoll der Geschäftsstelle abgeben.
§ 347 Abs. 1 StPO-E (1) 1Ist die Revision rechtzeitig eingelegt und sind die Revisionsanträge rechtzeitig und in der vorgeschriebenen Form angebracht, so ist die Revisionsschrift dem Gegner des Beschwerdeführers zuzustellen. 2Diesem steht frei, binnen einer Woche eine schriftliche Gegenerklärung einzureichen.; § 345 Absatz 2 gilt entsprechend. 3Wird das Urteil wegen eines Verfahrensmangels angefochten, so gibt der Staatsanwalt in dieser Frist eine Gegenerklärung ab, wenn anzunehmen ist, dass dadurch die Prüfung der Revisionsbeschwerde erleichtert wird. 4Der Angeklagte kann die Gegenerklärung auch zu Protokoll der Geschäftsstelle abgeben.
Gerade durch den Verweis auf § 345 Abs. 2 StPO-E2294 in § 347 Abs. 1 Satz 2 StPO-E würde hierbei sichergestellt, dass die Gegenerklärung des Angeklagten nur in einer von dem Verteidiger oder einem Rechtsanwalt unterzeichneten Schrift abgegeben werden kann.
D. Zusammenfassende Darstellung der Reformvorschläge zur Einführung einer Tatsachenrüge Die nachfolgende Zusammenfassung der in diesem Kapitel vorgeschlagenen Änderungen der Strafprozessordnung zu einem Entwurf eines Gesetzes zur Stärkung des Rechtsschutzes im Strafverfahren dient vor allem der besseren Übersicht. Deshalb wurde auch, statt sich der üblichen Darstellung eines Gesetzesentwurfs zu bedienen, eine in synoptische Darstellungsform gewählt, die sich im Wesentlichen an die „Formulierungshilfen für die Änderung von Gesetzentwürfen im Gesetzgebungsverfahren“ im Handbuch der Rechtsförmlichkeit orientiert: 2293 2294
Vgl. insoweit S. 469 f. Vgl. S. 470.
474
5. Kap.: Erweiterung der Revision um eine Tatsachenrüge de lege ferenda Bestehendes Gesetz
Änderungsvorschlag
Strafprozessordnung
Entwurf eines Gesetzes zur Stärkung des Rechtsschutzes im Strafverfahren
in der Fassung der Bekanntmachung vom 7. April 1987 (BGBl. I S. 1074, 1319)
Vom … Der Bundestag hat das folgende Gesetz beschlossen:2295 Artikel 1 Die Strafprozessordnung in der Fassung der Bekanntmachung vom 7. April 1987 (BGBl. I S. 1074, 1319), zuletzt geändert durch … (BGBl. I S. …) erhält die veränderte Fassung, welche sich aus der nachstehenden Zusammenstellung ergibt.
§ 140 Notwendige Verteidigung (1) Ein Fall der notwendigen Verteidigung liegt vor, wenn 1. zu erwarten ist, dass die Hauptverhandlung im ersten Rechtszug vor dem Oberlandesgericht, dem Landgericht oder dem Schöffengericht stattfindet; 2. dem Beschuldigten ein Verbrechen zur Last gelegt wird; 3. das Verfahren zu einem Berufsverbot führen kann;
§ 140 Notwendige Verteidigung2296 (1) Ein Fall der notwendigen Verteidigung liegt vor, wenn 1. u n v e r ä n d e r t
2. u n v e r ä n d e r t 3. u n v e r ä n d e r t
3a. der Angeklagte das Urteil mit der Revision angefochten hat oder ihm eine Revisionsschrift der Staatsanwaltschaft, des Privatklägers oder des Nebenklägers nach § 347 Absatz 1 Satz 1 zugestellt wird; 4. der Beschuldigte nach den §§ 115, 115a, 4. u n v e r ä n d e r t 128 Absatz 1 oder § 129 einem Gericht zur Entscheidung über Haft oder einstweilige Unterbringung vorzuführen ist;
2295
Die hier gewählte Eingangsformel des Entwurfs stellt klar, dass das Gesetz keiner Zustimmung des Bundesrates bedürfte. Dies folgt vor allem daraus, dass die hier vorgeschlagenen Änderungen der Strafprozessordnung nicht in bestehende Einrichtungen der Länder eingreifen. Damit ist jedenfalls in der Theorie sichergestellt, dass ein solcher Entwurf auch ohne eine umfassende Beteiligung der Länder umgesetzt werden könnte. 2296 Zur Begründung der Änderungsvorschläge zum § 140 StPO vgl. S. 466 ff.
D. Zusammenfassende Darstellung der Reformvorschläge 5. der Beschuldigte sich auf Grund richterlicher Anordnung oder mit richterlicher Genehmigung in einer Anstalt befindet; 6. zur Vorbereitung eines Gutachtens über den psychischen Zustand des Beschuldigten seine Unterbringung nach § 81 in Frage kommt; 7. zu erwarten ist, dass ein Sicherungsverfahren durchgeführt wird; 8. der bisherige Verteidiger durch eine Entscheidung von der Mitwirkung in dem Verfahren ausgeschlossen ist; 9. dem Verletzten nach den §§ 397a und 406 h Absatz 3 und 4 ein Rechtsanwalt beigeordnet worden ist. 10. bei einer richterlichen Vernehmung die Mitwirkung eines Verteidigers auf Grund der Bedeutung der Vernehmung zur Wahrung der Rechte des Beschuldigten geboten erscheint; 11. ein seh-, hör- oder sprachbehinderter Beschuldigter die Bestellung beantragt. (2) Ein Fall der notwendigen Verteidigung liegt auch vor, wenn wegen der Schwere der Tat, der Schwere der zu erwartenden Rechtsfolge oder wegen der Schwierigkeit der Sachoder Rechtslage die Mitwirkung eines Verteidigers geboten erscheint oder wenn ersichtlich ist, dass sich der Beschuldigte nicht selbst verteidigen kann.
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5. u n v e r ä n d e r t 6. u n v e r ä n d e r t
7. u n v e r ä n d e r t 8. u n v e r ä n d e r t 9. u n v e r ä n d e r t 10. u n v e r ä n d e r t
11. u n v e r ä n d e r t (2) u n v e r ä n d e r t
§ 141 § 141 Bestellung eines Pflichtverteidigers Bestellung eines Pflichtverteidigers2297 (1) In den Fällen der notwendigen Verteidi- (1) u n v e r ä n d e r t gung wird dem Beschuldigten, dem der Tatvorwurf eröffnet worden ist und der noch keinen Verteidiger hat, unverzüglich ein Pflichtverteidiger bestellt, wenn der Beschuldigte dies nach Belehrung ausdrücklich beantragt. Über den Antrag ist spätestens vor einer Vernehmung des Beschuldigten oder einer Gegenüberstellung mit ihm zu entscheiden. (2) Unabhängig von einem Antrag wird dem (2) u n v e r ä n d e r t Beschuldigten, der noch keinen Verteidiger
2297
Zur Begründung der Änderungsvorschläge zum § 141 StPO vgl. S. 469.
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5. Kap.: Erweiterung der Revision um eine Tatsachenrüge de lege ferenda
hat,in den Fällen der notwendigen Verteidigung ein Pflichtverteidiger bestellt, sobald 1. er einem Gericht zur Entscheidung über Haft oder einstweilige Unterbringung vorgeführt werden soll; 2. bekannt wird, dass der Beschuldigte, dem der Tatvorwurf eröffnet worden ist, sich auf Grund richterlicher Anordnung oder mit richterlicher Genehmigung in einer Anstalt befindet; 3. im Vorverfahren ersichtlich ist, dass sich der Beschuldigte, insbesondere bei einer Vernehmung des Beschuldigten oder einer Gegenüberstellung mit ihm, nicht selbst verteidigen kann, oder 4. er gemäß § 201 zur Erklärung über die Anklageschrift aufgefordert worden ist; ergibt sich erst später, dass die Mitwirkung eines Verteidigers notwendig ist, so wird er sofort bestellt. Erfolgt die Vorführung in den Fällen des Satzes 1 Nummer 1 zur Entscheidung über den Erlass eines Haftbefehls nach § 127b Absatz 2 oder über die Vollstreckung eines Haftbefehls gemäß § 230 Absatz 2 oder § 329 Absatz 3, so wird ein Pflichtverteidiger nur bestellt, wenn der Beschuldigte dies nach Belehrung ausdrücklich beantragt. 3In den Fällen des Satzes 1 Nummer 2 und 3 kann die Bestellung unterbleiben, wenn beabsichtigt ist, das Verfahren alsbald einzustellen und keine anderen Untersuchungshandlungen als die Einholung von Registerauskünften oder die Beiziehung von Urteilen oder Akten vorgenommen werden sollen.
(3) In dem Fall des § 140 Absatz 1 Nr. 3a ist dem Angeklagten, der noch keinen Verteidiger hat, ein Verteidiger zu bestellen, sobald er das Urteil angefochten hat oder ihm die Revisionsschrift des Beschwerdeführers zugestellt worden ist.
D. Zusammenfassende Darstellung der Reformvorschläge
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§ 267 Urteilsgründe (1) Wird der Angeklagte verurteilt, so müssen die Urteilsgründe die für erwiesen erachteten Tatsachen angeben, in denen die gesetzlichen Merkmale der Straftat gefunden werden. Soweit der Beweis aus anderen Tatsachen gefolgert wird, sollen auch diese Tatsachen angegeben werden. Auf Abbildungen, die sich bei den Akten befinden, kann hierbei wegen der Einzelheiten verwiesen werden.
§ 267 Urteilsgründe2298 (1) Wird der Angeklagte verurteilt, so müssen die Urteilsgründe die für erwiesen erachteten Tatsachen angeben, in denen die gesetzlichen Merkmale der Straftat gefunden werden, und die Gründe angeben, aus welchen diese Tatsachen für erwiesen erachtet worden sind. Soweit der Beweis aus anderen Tatsachen gefolgert wird, sollen auch diese Tatsachen angegeben werden. Auf Abbildungen, die sich bei den Akten befinden, kann hierbei wegen der Einzelheiten verwiesen werden. (2) Waren in der Verhandlung vom Strafgesetz (2) u n v e r ä n d e r t besonders vorgesehene Umstände behauptet worden, welche die Strafbarkeit ausschließen, vermindern oder erhöhen, so müssen die Urteilsgründe sich darüber aussprechen, ob diese Umstände für festgestellt oder für nicht festgestellt erachtet werden. (3) Die Gründe des Strafurteils müssen ferner (3) u n v e r ä n d e r t das zur Anwendung gebrachte Strafgesetz bezeichnen und die Umstände anführen, die für die Zumessung der Strafe bestimmend gewesen sind. Macht das Strafgesetz Milderungen von dem Vorliegen minder schwerer Fälle abhängig, so müssen die Urteilsgründe ergeben, weshalb diese Umstände angenommen oder einem in der Verhandlung gestellten Antrag entgegen verneint werden; dies gilt entsprechend für die Verhängung einer Freiheitsstrafe in den Fällen des § 47 des Strafgesetzbuches. Die Urteilsgründe müssen auch ergeben, weshalb ein besonders schwerer Fall nicht angenommen wird, wenn die Voraussetzungen erfüllt sind, unter denen nach dem Strafgesetz in der Regel ein solcher Fall vorliegt; liegen diese Voraussetzungen nicht vor, wird aber gleichwohl ein besonders schwerer Fall angenommen, so gilt Satz 2 entsprechend. Die Urteilsgründe müssen ferner ergeben, weshalb die Strafe zur Bewährung ausgesetzt oder einem in der Verhandlung gestellten Antrag entgegen nicht ausgesetzt worden ist; 2298 Zur Begründung der Änderungsvorschläge zum § 267 Abs. 1 und 5 StPO vgl. S. 428 f.; zur Änderung des Absatzes 4 vgl. S. 437 f.
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5. Kap.: Erweiterung der Revision um eine Tatsachenrüge de lege ferenda
dies gilt entsprechend für die Verwarnung mit Strafvorbehalt und das Absehen von Strafe. Ist dem Urteil eine Verständigung (§ 257c) vorausgegangen, ist auch dies in den Urteilsgründen anzugeben. (4) Verzichten alle zur Anfechtung Berechtigten auf Rechtsmittel oder wird innerhalb der Frist kein Rechtsmittel eingelegt, so müssen die erwiesenen Tatsachen, in denen die gesetzlichen Merkmale der Straftat gefunden werden, und das angewendete Strafgesetz angegeben werden; bei Urteilen, die nur auf Geldstrafe lauten oder neben einer Geldstrafe ein Fahrverbot oder die Entziehung der Fahrerlaubnis und damit zusammen die Einziehung des Führerscheins anordnen, oder bei Verwarnungen mit Strafvorbehalt kann hierbei auf den zugelassenen Anklagesatz, auf die Anklage gemäß § 418 Abs. 3 Satz 2 oder den Strafbefehl sowie den Strafbefehlsantrag verwiesen werden. Absatz 3 Satz 5 gilt entsprechend. Den weiteren Inhalt der Urteilsgründe bestimmt das Gericht unter Berücksichtigung der Umstände des Einzelfalls nach seinem Ermessen. Die Urteilsgründe können innerhalb der in § 275 Abs. 1 Satz 2 vorgesehenen Frist ergänzt werden, wenn gegen die Versäumung der Frist zur Einlegung des Rechtsmittels Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gewährt wird. (5) Wird der Angeklagte freigesprochen, so müssen die Urteilsgründe ergeben, ob der Angeklagte für nicht überführt oder ob und aus welchen Gründen die für erwiesen angenommene Tat für nicht strafbar erachtet worden ist. Verzichten alle zur Anfechtung Berechtigten auf Rechtsmittel oder wird innerhalb der Frist kein Rechtsmittel eingelegt, so braucht nur angegeben zu werden, ob die dem Angeklagten zur Last gelegte Straftat aus tatsächlichen oder rechtlichen Gründen nicht festgestellt worden ist. Absatz 4 Satz 4 ist anzuwenden. (6) Die Urteilsgründe müssen auch ergeben, weshalb eine Maßregel der Besserung und Sicherung angeordnet, eine Entscheidung über
(4) Verzichten alle zur Anfechtung Berechtigten auf Rechtsmittel oder wird innerhalb der Frist kein Rechtsmittel eingelegt, so müssen die erwiesenen Tatsachen, in denen die gesetzlichen Merkmale der Straftat gefunden werden, und das angewendete Strafgesetz angegeben werden; bei Urteilen, die nur auf Geldstrafe lauten oder neben einer Geldstrafe ein Fahrverbot oder die Entziehung der Fahrerlaubnis und damit zusammen die Einziehung des Führerscheins anordnen, oder bei Verwarnungen mit Strafvorbehalt kann hierbei auf den zugelassenen Anklagesatz, auf die Anklage gemäß § 418 Absatz 3 Satz 2 oder den Strafbefehl sowie den Strafbefehlsantrag verwiesen werden. Absatz 3 Satz 5 gilt entsprechend. Den weiteren Inhalt der Urteilsgründe bestimmt das Gericht unter Berücksichtigung der Umstände des Einzelfalls sowie den sich aus § 337 Absatz 3 ergebenden Anforderungen nach seinem Ermessen. Die Urteilsgründe können innerhalb der in § 275 Absatz 1 Satz 2 vorgesehenen Frist ergänzt werden, wenn gegen die Versäumung der Frist zur Einlegung des Rechtsmittels Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gewährt wird. (5) Wird der Angeklagte freigesprochen, so müssen die Urteilsgründe ergeben, ob und aus welchen Gründen der Angeklagte für nicht überführt oder ob und aus welchen Gründen die für erwiesen angenommene Tat für nicht strafbar erachtet worden ist. Verzichten alle zur Anfechtung Berechtigten auf Rechtsmittel oder wird innerhalb der Frist kein Rechtsmittel eingelegt, so braucht nur angegeben zu werden, ob die dem Angeklagten zur Last gelegte Straftat aus tatsächlichen oder rechtlichen Gründen nicht festgestellt worden ist. Absatz 4 Satz 3 ist anzuwenden. (6) u n v e r ä n d e r t
D. Zusammenfassende Darstellung der Reformvorschläge
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die Sicherungsverwahrung vorbehalten oder einem in der Verhandlung gestellten Antrag entgegen nicht angeordnet oder nicht vorbehalten worden ist. Ist die Fahrerlaubnis nicht entzogen oder eine Sperre nach § 69a Abs. 1 Satz 3 des Strafgesetzbuches nicht angeordnet worden, obwohl dies nach der Art der Straftat in Betracht kam, so müssen die Urteilsgründe stets ergeben, weshalb die Maßregel nicht angeordnet worden ist. § 273 Beurkundung der Hauptverhandlung (1) Das Protokoll muß den Gang und die Ergebnisse der Hauptverhandlung im wesentlichen wiedergeben und die Beachtung aller wesentlichen Förmlichkeiten ersichtlich machen, auch die Bezeichnung der verlesenen Urkunden oder derjenigen, von deren Verlesung nach § 249 Abs. 2 abgesehen worden ist, sowie die im Laufe der Verhandlung gestellten Anträge, die ergangenen Entscheidungen und die Urteilsformel enthalten. In das Protokoll muss auch der wesentliche Ablauf und Inhalt einer Erörterung nach § 257b aufgenommen werden. (1a) Das Protokoll muss auch den wesentlichen Ablauf und Inhalt sowie das Ergebnis einer Verständigung nach § 257c wiedergeben. Gleiches gilt für die Beachtung der in § 243 Absatz 4, § 257c Absatz 4 Satz 4 und Absatz 5 vorgeschriebenen Mitteilungen und Belehrungen. Hat eine Verständigung nicht stattgefunden, ist auch dies im Protokoll zu vermerken. (2) Aus der Hauptverhandlung vor dem Strafrichter und dem Schöffengericht sind außerdem die wesentlichen Ergebnisse der Vernehmungen in das Protokoll aufzunehmen; dies gilt nicht, wenn alle zur Anfechtung Berechtigten auf Rechtsmittel verzichten oder innerhalb der Frist kein Rechtsmittel eingelegt wird. Der Vorsitzende kann anordnen, dass anstelle der Aufnahme der wesentlichen Vernehmungsergebnisse in das Protokoll einzelne
2299
§ 273 Beurkundung der Hauptverhandlung2299 (1) u n v e r ä n d e r t
(1a) u n v e r ä n d e r t
(2) Aus der Hauptverhandlung vor einem Gericht erster Instanz sind außerdem die wesentlichen Ergebnisse der Vernehmungen in das Protokoll aufzunehmen; dies gilt nicht, wenn alle zur Anfechtung Berechtigten auf Rechtsmittel verzichten oder innerhalb der Frist kein Rechtsmittel eingelegt wird. Der Vorsitzende kann anordnen, dass anstelle der Aufnahme der wesentlichen Vernehmungsergebnisse in das Protokoll einzelne Verneh-
Zur Begründung der Änderungsvorschläge zum § 273 StPO vgl. S. 433 f.
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5. Kap.: Erweiterung der Revision um eine Tatsachenrüge de lege ferenda
Vernehmungen im Zusammenhang als Tonaufzeichnung zur Akte genommen werden. § 58a Abs. 2 Satz 1 und 3 bis 6 gilt entsprechend. (3) Kommt es auf die Feststellung eines Vorgangs in der Hauptverhandlung oder des Wortlauts einer Aussage oder einer Äußerung an, so hat der Vorsitzende von Amts wegen oder auf Antrag einer an der Verhandlung beteiligten Person die vollständige Protokollierung und Verlesung anzuordnen. Lehnt der Vorsitzende die Anordnung ab, so entscheidet auf Antrag einer an der Verhandlung beteiligten Person das Gericht. In dem Protokoll ist zu vermerken, daß die Verlesung geschehen und die Genehmigung erfolgt ist oder welche Einwendungen erhoben worden sind. (4) Bevor das Protokoll fertiggestellt ist, darf das Urteil nicht zugestellt werden.
mungen im Zusammenhang als Tonaufzeichnung zur Akte genommen werden. § 58a Absatz 2 Satz 1 und 3 bis 6 gilt entsprechend. (3) u n v e r ä n d e r t
(4) u n v e r ä n d e r t § 273a Protokollberichtigung2300 (1) Unrichtigkeiten des Protokolls können jederzeit berichtigt werden. (2) Vor der Berichtigung ist die Staatsanwaltschaft, der Angeklagte und der Verteidiger zu hören. (3) Die Berichtigung wird auf dem Protokoll vermerkt; dabei kann auf eine mit dem Protokoll zu verbindende Anlage verwiesen werden. Der Vermerk ist von dem Richter, der das Protokoll unterschrieben hat, oder von dem allein tätig gewesenen Richter, selbst wenn dieser an der Unterschrift verhindert war, und von dem Urkundsbeamten der Geschäftsstelle zu unterschreiben. (4) Erfolgt der Berichtigungsvermerk in der Form des § 32e Satz 2, ist er in einem gesonderten elektronischen Dokument festzuhalten. Das Dokument ist mit dem Protokoll untrennbar zu verbinden.
2300
Zur Einfügung des § 273a StPO-E vgl. S. 470 f.
D. Zusammenfassende Darstellung der Reformvorschläge
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§ 337 § 337 Revisionsgründe2301 Revisionsgründe (1) Die Revision kann nur darauf gestützt (1) Die Revision kann nur darauf gestützt werden, daß das Urteil auf einer Verletzung werden, dass das Urteil auf einer Verletzung des Gesetzes oder auf einen Mangel der des Gesetzes beruhe. tatsächlichen Feststellungen beruhe. (1a) Wer gegen das Urteil eine zulässige Berufung eingelegt hat, kann die Revision nicht darauf stützen, dass das Urteil auf einen Mangel der tatsächlichen Feststellungen beruhe. Dies gilt auch, wenn die Berufung nach § 313 unzulässig wäre. (2) Das Gesetz ist verletzt, wenn eine (2) u n v e r ä n d e r t Rechtsnorm nicht oder nicht richtig angewendet worden ist. (3) Die tatsächlichen Feststellungen sind insbesondere auch dann mangelhaft, wenn 1. sie mit Denkgesetzen oder gesichertem Erfahrungswissen nicht übereinstimmen; 2. sie unvollständig, unklar oder widersprüchlich sind; 3. für sie offenbar unzureichende Gründe (§ 267) angegeben sind oder 4. zwischen den Urteilsgründen und dem Inhalt der Akten oder dem Hauptverhandlungsprotokoll ein erheblicher Widerspruch besteht, ohne dass die Urteilsgründe hierzu in hinreichender Weise Stellung nehmen. Die einem freisprechenden Urteil zugrunde liegenden Feststellungen gelten auch dann als mangelhaft, wenn das Gericht offensichtlich überspannte Anforderungen an seine zur Verurteilung erforderliche Überzeugung gemäß § 261 gestellt hat.
2301 Zur Begründung der Änderungsvorschläge zum § 337 Abs. 1 StPO sowie zur Einfügung des Absatzes 1a vgl. S. 426 f.; zur Einfügung des Absatzes 3 vgl. S. 430 ff., insb. S. 435 ff.
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5. Kap.: Erweiterung der Revision um eine Tatsachenrüge de lege ferenda
§ 344 Revisionsbegründung (1) Der Beschwerdeführer hat die Erklärung abzugeben, inwieweit er das Urteil anfechte und dessen Aufhebung beantrage (Revisionsanträge), und die Anträge zu begründen. (2) Aus der Begründung muß hervorgehen, ob das Urteil wegen Verletzung einer Rechtsnorm über das Verfahren oder wegen Verletzung einer anderen Rechtsnorm angefochten wird. Ersterenfalls müssen die den Mangel enthaltenden Tatsachen angegeben werden.
§ 344 Revisionsbegründung2302 (1) u n v e r ä n d e r t
(2) Aus der Begründung muss hervorgehen, ob das Urteil wegen Verletzung einer Rechtsnorm über das Verfahren oder, wegen Verletzung einer anderen Rechtsnorm oder wegen eines Mangels der tatsächlichen Feststellungen angefochten wird. Ersterenfalls müssen die den Mangel enthaltenden Tatsachen angegeben werden. (3) Wird das Urteil wegen Verletzung einer Rechtsnorm über das Verfahren angefochten, müssen die den Mangel enthaltenden Tatsachen angegeben werden. (4) Wird das Urteil wegen eines Mangels der tatsächlichen Feststellungen angefochten, sind konkrete Anhaltspunkte anzugeben, die Zweifel an der Richtigkeit oder Vollständigkeit der Tatsachenfeststellungen im angefochtenen Urteil begründen und deshalb eine Aufhebung des Urteils gebieten. Zugleich hat der Beschwerdeführer die für eine Nachprüfung der tatsächlichen Feststellungen erforderlichen Beweisanträge zu stellen. (5) Das Gericht kann über die Beweisanträge außerhalb der Hauptverhandlung entscheiden. § 244 Absätze 3 bis 6 finden entsprechende Anwendung. Die Entscheidung ist dem Beschwerdeführer bekanntzumachen. Die Beweisanträge sind, soweit ihnen stattgegeben ist, dem Gegner des Beschwerdeführers mitzuteilen.
§ 345 § 345 Revisionsbegründungsfrist Revisionsbegründungsfrist2303 (1) Die Revisionsanträge und ihre Begründung (1) Die Revisionsanträge und ihre Begründung sind spätestens binnen eines Monats nach sind spätestens binnen eines Monats nach Ablauf der Frist zur Einlegung des Rechts- Ablauf der Frist zur Einlegung des Rechts2302
Zur Begründung der Änderungsvorschläge zum § 344 Abs. 2 StPO sowie zur Einfügung des Absatzes 3 vgl. S. 438 f.; zur Einfügung der Absätze 4 und 5 vgl. S. 439 ff., insb. S. 441 f. 2303 Zur Begründung der Änderungsvorschläge zum § 345 StPO vgl. S. 469 f.
D. Zusammenfassende Darstellung der Reformvorschläge
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mittels bei dem Gericht, dessen Urteil angefochten wird, anzubringen. War zu dieser Frist das Urteil noch nicht zugestellt, so beginnt die Frist mit der Zustellung; ist ein Verteidiger gemäß § 141 Absatz 3 noch nicht bestellt, beginnt die Frist erst mit der Bestellung des Verteidigers. (2) Seitens des Angeklagten kann dies nur in (2) Seitens des Angeklagten kann dies nur in einer von dem Verteidiger oder einem einer von dem Verteidiger oder einem Rechtsanwalt unterzeichneten Schrift oder zu Rechtsanwalt unterzeichneten Schrift oder zu Protokoll der Geschäftsstelle geschehen. Protokoll der Geschäftsstelle geschehen.
mittels bei dem Gericht, dessen Urteil angefochten wird, anzubringen. War zu dieser Frist das Urteil noch nicht zugestellt, so beginnt die Frist mit der Zustellung.
§ 347 Zustellung; Gegenerklärung; Vorlage der Akten an das Revisionsgericht (1) Ist die Revision rechtzeitig eingelegt und sind die Revisionsanträge rechtzeitig und in der vorgeschriebenen Form angebracht, so ist die Revisionsschrift dem Gegner des Beschwerdeführers zuzustellen. Diesem steht frei, binnen einer Woche eine schriftliche Gegenerklärung einzureichen. Wird das Urteil wegen eines Verfahrensmangels angefochten, so gibt der Staatsanwalt in dieser Frist eine Gegenerklärung ab, wenn anzunehmen ist, dass dadurch die Prüfung der Revisionsbeschwerde erleichtert wird. Der Angeklagte kann die Gegenerklärung auch zu Protokoll der Geschäftsstelle abgeben.
§ 347 Zustellung; Gegenerklärung; Vorlage der Akten an das Revisionsgericht2304 (1) Ist die Revision rechtzeitig eingelegt und sind die Revisionsanträge rechtzeitig und in der vorgeschriebenen Form angebracht, so ist die Revisionsschrift dem Gegner des Beschwerdeführers zuzustellen. Diesem steht frei, binnen einer Woche eine schriftliche Gegenerklärung einzureichen.; § 345 Absatz 2 gilt entsprechend. Wird das Urteil wegen eines Verfahrensmangels angefochten, so gibt der Staatsanwalt in dieser Frist eine Gegenerklärung ab, wenn anzunehmen ist, dass dadurch die Prüfung der Revisionsbeschwerde erleichtert wird. Der Angeklagte kann die Gegenerklärung auch zu Protokoll der Geschäftsstelle abgeben. (1a) Soweit das Urteil wegen eines Mangels der tatsächlichen Feststellungen angefochten ist, kann der Beschwerdegegner mit der Gegenerklärung eigene Beweisanträge verbinden. § 344 Absatz 5 gilt entsprechend. (2) Nach Eingang der Gegenerklärung oder (2) u n v e r ä n d e r t nach Ablauf der Frist sendet die Staatsanwaltschaft die Akten an das Revisionsgericht.
2304 Zur Einfügung des § 347 Abs. 1a StPO-E sowie zu Begründung der Änderungsvorschläge zum § 347 Abs. 1 StPO vgl. S. 472 f.
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5. Kap.: Erweiterung der Revision um eine Tatsachenrüge de lege ferenda
§ 349 Entscheidung ohne Hauptverhandlung durch Beschluss (1) Erachtet das Revisionsgericht die Vorschriften über die Einlegung der Revision oder die über die Anbringung der Revisionsanträge nicht für beobachtet, so kann es das Rechtsmittel durch Beschluß als unzulässig verwerfen. (2) Das Revisionsgericht kann auf einen Antrag der Staatsanwaltschaft, der zu begründen ist, auch dann durch Beschluß entscheiden, wenn es die Revision einstimmig für offensichtlich unbegründet erachtet.
§ 349 Entscheidung ohne Hauptverhandlung durch Beschluss2305 (1) u n v e r ä n d e r t
(2) Das Revisionsgericht kann auf einen Antrag der Staatsanwaltschaft, der zu begründen ist, auch dann durch Beschluß entscheiden, wenn es die Revision einstimmig für offensichtlich unbegründet erachtet, weil die von der Revision aufgeworfenen Rechtsfragen zweifelsfrei zu beantworten sind und auch die Durchführung eine Hauptverhandlung keine neuen Erkenntnisse erwarten lässt; gleiches gilt, wenn keine Zweifel an der Richtigkeit oder Vollständigkeit der angefochtenen tatsächlichen Feststellungen bestehen. Soweit die Revision nicht offensichtlich unbegründet ist, ist der Beschluss mit Gründen zu versehen. (3) Die Staatsanwaltschaft teilt den Antrag (3) u n v e r ä n d e r t nach Absatz 2 mit den Gründen dem Beschwerdeführer mit. Der Beschwerdeführer kann binnen zwei Wochen eine schriftliche Gegenerklärung beim Revisionsgericht einreichen. (3a) Soweit das Revisionsgericht aus anderen Gründen als den von der Staatsanwaltschaft angegebenen eine Revision durch Beschluss als unbegründet verwerfen will, hat es diese Gründe dem Beschwerdeführer mitzuteilen und ihm eine angemessene Zeit zur Gegenerklärung einzuräumen. (4) Erachtet das Revisionsgericht die zuguns- (4) u n v e r ä n d e r t ten des Angeklagten eingelegte Revision einstimmig für begründet, so kann es das angefochtene Urteil durch Beschluß aufheben. (5) Wendet das Revisionsgericht Absatz 1, 2 (5) u n v e r ä n d e r t oder 4 nicht an, so entscheidet es über das Rechtsmittel durch Urteil. 2305 Zur Begründung der Änderungsvorschläge zum § 349 Abs. 2 StPO sowie zur Einfügung des Absatzes 3a vgl. S. 459 ff.
D. Zusammenfassende Darstellung der Reformvorschläge
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§ 349a Vorbereitung der Revisionshauptverhandlung2306 Hat die Hauptverhandlung voraussichtlich einen Mangel der tatsächlichen Feststellungen zum Gegenstand, gelten für ihre Vorbereitung die Vorschriften des § 214 Absätze 1, 2 und 4, sowie der §§ 221 bis 222b Absatz 2 sowie der §§ 223 bis 225 entsprechend. § 350 Revisionshauptverhandlung (1) Dem Angeklagten, seinem gesetzlichen Vertreter und dem Verteidiger sowie dem Nebenkläger und den Personen, die nach § 214 Absatz 1 Satz 2 vom Termin zu benachrichtigen sind, sind Ort und Zeit der Hauptverhandlung mitzuteilen. Ist die Mitwirkung eines Verteidigers notwendig, so ist dieser zu laden. (2) Der Angeklagte kann in der Hauptverhandlung erscheinen oder sich durch einen Verteidiger mit nachgewiesener Vertretungsvollmacht vertreten lassen. Die Hauptverhandlung kann, soweit nicht die Mitwirkung eines Verteidigers notwendig ist, auch durchgeführt werden, wenn weder der Angeklagte noch ein Verteidiger anwesend ist. Die Entscheidung darüber, ob der Angeklagte, der nicht auf freiem Fuß ist, zu der Hauptverhandlung vorgeführt wird, liegt im Ermessen des Gerichts.
2306
§ 350 Revisionshauptverhandlung2307 (1) u n v e r ä n d e r t
(2) Der Angeklagte kann in der Hauptverhandlung erscheinen oder sich durch einen Verteidiger mit nachgewiesener Vertretungsvollmacht vertreten lassen. Die Hauptverhandlung kann, soweit nicht die Mitwirkung eines Verteidigers notwendig ist, auch durchgeführt werden, wenn weder der Angeklagte noch ein Verteidiger anwesend ist. Die Entscheidung darüber, ob der Angeklagte, der nicht auf freiem Fuß ist, zu der Hauptverhandlung vorgeführt wird, liegt im Ermessen des Gerichts; er ist jedoch zwingend vorzuführen, wenn über einen Mangel der tatsächlichen Feststellungen zu verhandeln ist. (3) Hat die Hauptverhandlung einen Mangel der tatsächlichen Feststellungen zum Gegenstand, sind §§ 236 und 240 bis 242 entsprechend anzuwenden.
Zur Einfügung des § 349a StPO-E vgl. S. 456 ff. Zur Begründung der Änderungsvorschläge zum § 350 Abs. 2 StPO sowie zur Einfügung des Absatzes 3 vgl. S. 458 f. 2307
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5. Kap.: Erweiterung der Revision um eine Tatsachenrüge de lege ferenda § 350a Beweisaufnahme in der Revisionshauptverhandlung2308 (1) Das Revisionsgericht kann Beweise erheben, soweit dies erforderlich ist, um zu prüfen, ob das Urteil auf einen Mangel der tatsächlichen Feststellungen beruht. (2) Ein Beweisantrag gemäß § 344 Absatz 4 Satz 2 kann auch in der Hauptverhandlung nur unter den Voraussetzungen des § 244 Absätze 3 bis Absatz 6 Satz 2 abgelehnt werden. Im Übrigen bestimmt das Revisionsgericht den Umfang der Beweisaufnahme, ohne hierbei durch Anträge, Verzichte oder frühere Beschlüsse gebunden zu sein. (3) Sofern in der Revisionshauptverhandlung eine Beweisaufnahme stattfindet, sind die §§ 257, 257a, 258 und 259 entsprechend anzuwenden. (4) In geeigneten Fällen kann das Revisionsgericht einen beauftragten oder ersuchten Richter mit der Beweisaufnahme betrauen; §§ 224, 225 gelten entsprechend. § 350b Einschränkung der Unmittelbarkeit in der Revisionshauptverhandlung2309 (1) Findet eine Beweisaufnahme nach § 350a statt, kann in geeigneten Fällen die Vernehmung eines Zeugen, Sachverständigen oder Mitbeschuldigten durch die Verlesung einer Niederschrift über eine Vernehmung oder einer Urkunde, die eine von ihm stammende schriftliche Erklärung enthält, ersetzt werden. (2) § 249 Absatz 1 und Absatz 2 Satz 1 sowie §§ 252, 253, 254 und 256 gelten entsprechend. (3) Für die Vorführung von Bild-Ton-Aufzeichnung einer Zeugenvernehmung gelten Absatz 1 und 2 entsprechend.
2308 2309
Zur Einfügung des § 350a StPO-E vgl. S. 442 ff. Zur Einfügung des § 350b StPO-E vgl. S. 448 f.
D. Zusammenfassende Darstellung der Reformvorschläge
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§ 352 Umfang der Urteilsprüfung2310 (1) Der Prüfung des Revisionsgerichts unterliegen nur die gestellten Revisionsanträge und, soweit die Revision auf Mängel des Verfahrens gestützt wird, nur die Tatsachen, die bei Anbringung der Revisionsanträge bezeichnet worden sind. Hat die Revision einen Mangel der tatsächlichen Feststellungen zum Gegenstand, beschränkt sich die Prüfung des Gerichts auf die konkreten Anhaltspunkte, die Zweifel an der Richtigkeit und Vollständigkeit der Tatsachenfeststellungen begründen und in der Begründung der Revisionsanträge angegebenen sind. (1a) Ergeben sich bei der Prüfung des Revisionsgerichts aus den Urteilsgründen, dem Hauptverhandlungsprotokoll, oder einer Beweisaufnahme gemäß § 350a andere Tatsachen, die auf eine Verletzung einer Rechtsnorm über das Verfahren oder auf einen Mangel der tatsächlichen Feststellungen hinweisen, so kann das Gericht seine Prüfung auch auf diese ausweiten; Absatz 1 Satz 1 erster Halbsatz bleibt unberührt. (2) Eine weitere Begründung der Revisions- (2) Eine weitere Begründung der Revisionsanträge als die in § 344 Abs. 2 vorgeschriebene anträge als die in § 344 Absätze 2 bis 4 vorist nicht erforderlich und, wenn sie unrichtig geschriebene ist nicht erforderlich zu verlangen und, wenn sie dennoch erfolgt und unist, unschädlich. richtig ist, unschädlich.
§ 352 Umfang der Urteilsprüfung (1) Der Prüfung des Revisionsgerichts unterliegen nur die gestellten Revisionsanträge und, soweit die Revision auf Mängel des Verfahrens gestützt wird, nur die Tatsachen, die bei Anbringung der Revisionsanträge bezeichnet worden sind.
§ 352a Verfahren bei rügeverkümmernder Protokollberichtigung2311 (1) Soll einer bereits ordnungsgemäß erhobenen Revision durch eine Berichtigung des Protokolls über die Hauptverhandlung (§ 273a) die Grundlage entzogen werden, so hat das Gericht, dessen Urteil angefochten wird, dem Beschwerdeführer unverzüglich eine mit Gründen versehene Abschrift der Berichtigung zuzustellen. Der Beschwerdeführer kann binnen einer Woche nach der 2310 Zur Begründung der Änderungsvorschläge zum § 352 Abs. 1 und 2 StPO sowie zur Einfügung des Absatzes 1a vgl. S. 452 ff. 2311 Zur Einfügung des § 352a StPO-E vgl. S. 471 f.
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5. Kap.: Erweiterung der Revision um eine Tatsachenrüge de lege ferenda Zustellung der Berichtigung widersprechen. Der Widerspruch ist schriftlich zu begründen. (2) Widerspricht der Beschwerdeführer, so sind auch von den übrigen Verfahrensbeteiligten Erklärungen einzuholen. Sie sind dem Beschwerdeführer unter Bestimmung einer angemessenen Frist zur Stellungnahme mitzuteilen. (3) Kommt der Richter, der das Protokoll unterschrieben hat, oder der allein tätig gewesene Richter, der an der Unterschrift verhindert war, oder der Urkundsbeamte der Geschäftsstelle nach Ablauf der Frist gemäß Absatz 2 Satz 2 zu dem Schluss, dass das Protokoll nicht unrichtig ist, ist eine Änderung unzulässig; andernfalls ist das Protokoll zu berichtigen. § 273a Absatz 3 und 4 gilt entsprechend. (4) Wird das Protokoll berichtigt, ist § 274 Satz 2 auf den berichtigten Teil des Protokolls nicht anzuwenden
§ 353 Aufhebung des Urteils und der Feststellungen (1) Soweit die Revision für begründet erachtet wird, ist das angefochtene Urteil aufzuheben. (2) Gleichzeitig sind die dem Urteil zugrunde liegenden Feststellungen aufzuheben, sofern sie durch die Gesetzesverletzung betroffen werden, wegen deren das Urteil aufgehoben wird.
(2) Gleichzeitig sind die dem Urteil zugrunde liegenden Feststellungen aufzuheben, sofern sie durch die Gesetzesverletzung betroffen werden, wegen deren das Urteil aufgehoben wird, oder mangelhaft sind.
§ 354 Eigene Entscheidung in der Sache; Zurückverweisung (1) Erfolgt die Aufhebung des Urteils nur wegen Gesetzesverletzung bei Anwendung des Gesetzes auf die dem Urteil zugrunde liegenden Feststellungen, so hat das Revisionsgericht in der Sache selbst zu entscheiden, sofern ohne weitere tatsächliche Erörterungen
§ 354 Eigene Entscheidung in der Sache; Zurückverweisung2313 (1) Erfolgt die Aufhebung des Urteils nur wegen Gesetzesverletzung bei Anwendung des Gesetzes auf die dem Urteil zugrunde liegenden Feststellungen oder eines Mangels der tatsächlichen Feststellungen, so hat das Revisionsgericht in der Sache selbst zu ent-
2312
§ 353 Aufhebung des Urteils und der Feststellungen2312 (1) u n v e r ä n d e r t
Zur Begründung der Änderungsvorschläge zum § 353 vgl. S. 455 f. Zur Begründung der Änderungsvorschläge zum § 354 Abs. 1 und 1a StPO sowie zur Einfügung des Absatzes 1c vgl. S. 461 ff. 2313
D. Zusammenfassende Darstellung der Reformvorschläge nur auf Freisprechung oder auf Einstellung oder auf eine absolut bestimmte Strafe zu erkennen ist oder das Revisionsgericht in Übereinstimmung mit dem Antrag der Staatsanwaltschaft die gesetzlich niedrigste Strafe oder das Absehen von Strafe für angemessen erachtet. (1a) Wegen einer Gesetzesverletzung nur bei Zumessung der Rechtsfolgen kann das Revisionsgericht von der Aufhebung des angefochtenen Urteils absehen, sofern die verhängte Rechtsfolge angemessen ist. Auf Antrag der Staatsanwaltschaft kann es die Rechtsfolgen angemessen herabsetzen.
(1b) Hebt das Revisionsgericht das Urteil nur wegen Gesetzesverletzung bei Bildung einer Gesamtstrafe (§§ 53, 54, 55 des Strafgesetzbuches) auf, kann dies mit der Maßgabe geschehen, dass eine nachträgliche gerichtliche Entscheidung über die Gesamtstrafe nach den §§ 460, 462 zu treffen ist. Entscheidet das Revisionsgericht nach Absatz 1 oder Absatz 1a hinsichtlich einer Einzelstrafe selbst, gilt Satz 1 entsprechend. Die Absätze 1 und 1a bleiben im Übrigen unberührt.
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scheiden, sofern ohne weitere tatsächliche Erörterungen oder aufgrund einer Beweisaufnahme gemäß den §§ 350a und 350b nur auf Freisprechung oder auf Einstellung oder auf eine absolut bestimmte Strafe zu erkennen ist oder das Revisionsgericht in Übereinstimmung mit dem Antrag der Staatsanwaltschaft die gesetzlich niedrigste Strafe oder das Absehen von Strafe für angemessen erachtet. (1a) Wegen einer Gesetzesverletzung nur bei Zumessung der Rechtsfolgen kann das Revisionsgericht von der Aufhebung des angefochtenen Urteils absehen, sofern die verhängte Rechtsfolge angemessen ist und ein zutreffend ermittelter, vollständiger und aktueller Strafzumessungssachverhalt zur Verfügung steht. Auf Antrag der Staatsanwaltschaft kann es die Rechtsfolgen angemessen herabsetzen. (1b) u n v e r ä n d e r t
(1c) Soweit das Revisionsgericht nach Absatz 1a verfährt, hat es den Angeklagten auf die Gründe hinzuweisen, die aus seiner Sicht für eine solche Entscheidung sprechen und ihm Gelegenheit zur Stellungnahme zu geben; dies kann schriftlich oder während der mündlichen Verhandlung erfolgen. Sofern die für die Zumessung der Strafe bedeutsamen Umstände und ihr Gewicht für den Angeklagten sonst nicht erkennbar sind, ist die Entscheidung des Revisionsgerichts mit Gründen zu versehen. 2) In anderen Fällen ist die Sache an eine an- (2) u n v e r ä n d e r t dere Abteilung oder Kammer des Gerichtes, dessen Urteil aufgehoben wird, oder an ein zu demselben Land gehörendes anderes Gericht gleicher Ordnung zurückzuverweisen. In
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5. Kap.: Erweiterung der Revision um eine Tatsachenrüge de lege ferenda
Verfahren, in denen ein Oberlandesgericht im ersten Rechtszug entschieden hat, ist die Sache an einen anderen Senat dieses Gerichts zurückzuverweisen. (3) Die Zurückverweisung kann an ein Gericht (3) u n v e r ä n d e r t niederer Ordnung erfolgen, wenn die noch in Frage kommende strafbare Handlung zu dessen Zuständigkeit gehört. § 357 Revisionserstreckung auf Mitverurteilte Erfolgt zugunsten eines Angeklagten die Aufhebung des Urteils wegen Gesetzesverletzung bei Anwendung des Strafgesetzes und erstreckt sich das Urteil, soweit es aufgehoben wird, noch auf andere Angeklagte, die nicht Revision eingelegt haben, so ist zu erkennen, als ob sie gleichfalls Revision eingelegt hätten. § 47 Abs. 3 gilt entsprechend.
§ 357 Revisionserstreckung auf Mitverurteilte2314 Erfolgt zugunsten eines Angeklagten die Aufhebung des Urteils wegen einer Gesetzesverletzung bei Anwendung des Strafgesetzes oder eines Mangels der tatsächlichen Feststellungen und erstreckt sich das Urteil, soweit es aufgehoben wird, noch auf andere Angeklagte, die nicht Revision eingelegt haben, so ist zu erkennen, als ob sie gleichfalls Revision eingelegt hätten. § 47 Absatz 3 gilt entsprechend.
§ 358 Bindung des Tatgerichts, Verbot der Schlechterstellung (1) Das Gericht, an das die Sache zur anderweiten Verhandlung und Entscheidung verwiesen ist, hat die rechtliche Beurteilung, die der Aufhebung des Urteils zugrunde gelegt ist, auch seiner Entscheidung zugrunde zu legen.
§ 358 Bindung des Tatgerichts, Verbot der Schlechterstellung2315 (1) Das Gericht, an das die Sache zur anderweiten Verhandlung und Entscheidung verwiesen ist, hat die rechtliche und tatsächliche Beurteilung, die der Aufhebung des Urteils zugrunde gelegt ist, auch seiner Entscheidung zugrunde zu legen. Gleiches gilt für die Ergebnisse der Beweisaufnahme gemäß § 350a, soweit das Revisionsgericht dies in geeigneten Fällen ausdrücklich angeordnet hat. (2) Das angefochtene Urteil darf in Art und Höhe (2) u n v e r ä n d e r t der Rechtsfolgen der Tat nicht zum Nachteil des Angeklagten geändert werden, wenn lediglich der Angeklagte, zu seinen Gunsten die Staatsanwaltschaft oder sein gesetzlicher Vertreter Revision eingelegt hat. Wird die Anordnung der Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus aufgehoben, hindert diese Vorschrift 2314 2315
Zur Begründung der Änderungsvorschläge zum § 357 vgl. S. 464 f. Zur Begründung der Änderungsvorschläge zum § 358 vgl. S. 465 f.
D. Zusammenfassende Darstellung der Reformvorschläge nicht, an Stelle der Unterbringung eine Strafe zu verhängen. Satz 1 steht auch nicht der Anordnung der Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus oder einer Entziehungsanstalt entgegen.
Artikel 2 Dieses Gesetz tritt am … in Kraft.
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Fazit Die bereits zu Beginn der vorliegenden Schrift gestellte Frage, ob die Revision als das einzige Rechtsmittel gegen Urteile der Land- und Oberlandesgerichte noch einen zeitgemäßen und effektiven Rechtsschutz in diesen Sachen gewährleistet, muss nach den Ergebnissen dieser Untersuchung mit einem klaren „Nein“ beantwortet werden. Dies hat unterschiedliche Gründe, die bereits ausführlich dargestellt wurden und hier so knapp wie möglich, dennoch so ausführlich wie nötig, zusammengefasst werden sollen, um einen zügigen Überblick über die Ergebnisse dieser Arbeit zu ermöglichen: Das erste Kapitel der vorliegenden Schrift befasste sich mit den Fragen, welche Stellung das beschränkte Rechtsmittel der Revision im System der strafrechtlichen Rechtsbehelfe einnimmt und ob sie als das alleinige Rechtsmittel gegen erstinstanzliche Urteile der in Art. 19 Abs. 4 GG vorgesehenen Rechtsweggarantie genügt. Wie sich zeigte, dient die Revision dabei – als ein Rechtsmittel, das die Rechtssache grundsätzlich vor einen obersten Gerichtshof des Bundes trägt – vorwiegend dem Zweck, die einheitliche Anwendung und Fortbildung des Bundesrechts im Gebiet der Bundesrepublik Deutschland sicherzustellen. Gerade dieser Zweck bedingt auch in Strafsachen eine Beschränkung der Revision auf eine Nachprüfung der Rechtsanwendung durch die Vorinstanz. Damit ist der gesetzgeberisch intendierte Zweck auch der strafrechtlichen Revision vor allem die Sicherstellung der einheitlichen Rechtsanwendung im Bundesgebiet. Zwar wird in der gegenwärtigen Literatur vor allem die Herstellung der Einzelfallgerechtigkeit als ein hauptsächlicher Zweck der strafrechtlichen Revision hervorgehoben, allerdings ist diese Auffassung nach den Ergebnissen der vorliegenden Schrift nur beschränkt haltbar.2316 So ist es zwar durchaus zutreffend, dass die Revision im Rahmen ihrer Leistungsmöglichkeiten auch geeignet ist, Einzelfallgerechtigkeit zu gewährleisten. Daraus kann jedoch keinesfalls im Wege des schlichten Umkehrschlusses gefolgert werden, dass die Gewährleistung der Einzelfallgerechtigkeit eine vorrangige Aufgabe der Revisionsgerichte wäre. Ein derartiger Schluss findet nicht nur im geltenden Recht keine Stütze, auch beschwört er die Gefahr herauf, dass die Grenzen der Revision nicht mehr anhand konkreter gesetzlicher Vorschriften bestimmt werden, sondern frei danach, was zur Herstellung der materiellen Gerechtigkeit im Einzelfall als notwendig empfunden wird – eine Gefahr, die sich teilweise bereits in der sog. Leistungsmethode in der strafgerichtlichen Revisionsrechtsprechung realisiert hat und vor allem im „Dritten Reich“ zu einer 2316
Vgl. S. 50 ff.
Fazit
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gewissen – allerdings gesetzlich sanktionierten – Perversion der Rechtsmittelinstanz geführt hat.2317 Nach hier vertretener Auffassung dient die Revision de lege lata vor allem der Sicherstellung der einheitlichen Rechtsanwendung und Rechtsfortbildung, sodass bei erstinstanzlichen Urteilen der Land- und Oberlandesgerichte de lege ferenda darüber hinaus sicherzustellen wäre, dass sie auch in tatsächlicher Hinsicht einer höherinstanzlichen Nachprüfung zugeführt werden können. Denn die Revision, wie sie von dem historischen Gesetzgeber ausgestaltet wurde, ist aufgrund ihrer Beschränkung auf die Rechtsfragen nicht geeignet, in den nichtberufungsfähigen Strafsachen einen effektiven Rechtsschutz gegen erstinstanzliche Entscheidungen zu gewährleisten, wie er von Art. 19 Abs. 4 GG vorausgesetzt wird.2318 Hieran vermag auch der häufig zitierte Grundsatz, dass Art. 19 Abs. 4 GG lediglich Rechtsschutz durch den Richter, aber nicht gegen den Richter gewährleiste, mit Blick auf die Besonderheiten der Strafjustiz nichts zu ändern.2319 Die Strafgerichte nehmen nämlich bei einer ausschließlich materiellen Betrachtung vorrangig exekutive Aufgaben wahr, die lediglich wegen ihrer Grundrechtsinvasivität exklusiv in richterliche Hände gelegt sind. So gewährt der Richter im Rahmen des ordentlichen Strafverfahrens gerade keinen Rechtsschutz, sondern greift erst durch seine rechtsprechende Tätigkeit unmittelbar in die Rechte des Beschuldigten ein – hierin unterscheidet sich der Strafrichter etwa von dem Zivil- oder dem Verwaltungsrichter (von Ausnahmen wie dem Familien- oder Disziplinarverfahren abgesehen), die in aller Regel über die Zulässigkeit von Rechtsbeschränkungen entscheiden, die von dritter Seite vorgenommen wurden. Entgegen der herrschenden Ansicht ist daher bereits von Verfassungs wegen sicherzustellen, dass gegen strafrichterliche Urteile ein umfassender – also auch die Tatfragen umfassender – Rechtsschutz durch eine höhere Instanz gewährleistet ist. Die häufig zu vernehmende Auffassung, dass in Strafsachen ein Instanzenzug nicht zwingend sei, kann im Übrigen auch deshalb nicht überzeugen, da auch völkerrechtliche Verpflichtungen der Bundesrepublik Deutschland einen solchen zwingend vorschreiben, auch wenn die materielle Reichweite dieses Instanzenzuges keinesfalls eindeutig bestimmt ist.2320 Ausgehend von der Auffassung, dass in Strafsachen ein vollumfassendes Rechtsmittel bereits von Verfassungs wegen geboten ist, befasste sich das zweite Kapitel dieser Schrift vor allem mit der Frage, welche Erwägungen es waren, die den historischen Gesetzgeber leiteten, als er die Revision als ein bloß beschränktes Rechtsmittel ausgestaltete. Hierbei zeigte sich, dass bereits im Spätmittelalter die Möglichkeiten in Strafsachen eine höhere Instanz um Schutz anzurufen, erheblich eingeschränkt waren. So war bereits dem königlichen Hofgericht aufgrund kaiserlicher Privilegien der Landesherren nicht selten verboten, eine Appellation gegen die 2317 2318 2319 2320
Vgl. vor allem S. 259 ff. Vgl. S. 63 ff. Vgl. S. 65 ff. Vgl. S. 69 ff.
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Fazit
Gerichte der Landesherren in Strafsachen anzunehmen.2321 Im Reichsabschied zu Augsburg von 1530 wurde schließlich sogar ausdrücklich und generell angeordnet, dass das 1495 neu errichtete Reichskammergericht in den sog. peinlichen Sachen – also den Strafsachen – von den Landesgerichten keine Appellationen mehr annehmen durfte. Begründet wurde diese Beschränkung vor allem damit, dass die Appellation als ein vollumfängliches Rechtsmittel, das in ihren Grundzügen durchaus mit der heutigen Berufung vergleichbar war, mit dem summarischen Charakter des seit dem 16. Jh. vorherrschenden Inquisitionsverfahrens unvereinbar wäre.2322 Dieser eher dürftige Erklärungsansatz bewirkte zugleich, dass die Reichsvorschrift, welche die Gerichtshoheit der Partikularstaaten schützen sollte, in der Folgezeit auch von vielen partikularen Rechtsordnungen inhaltsgleich rezipiert wurde, sodass in den Partikularstaaten bis in das 19. Jh. hinein oftmals auch eine Appellation an die eigenen obersten Gerichte ausgeschlossen war.2323 Eine Renaissance erlebte die Appellation in Strafsachen in den deutschen Rechtsordnungen erst im 19. Jh., nachdem hier erkannt worden war, dass gerade im Strafverfahren eine umfassende Überprüfung der gerichtlichen Urteile angezeigt war, wenn eine solche sogar in den Zivilsachen vorgesehen war, obwohl dort ausschließlich um Sachwerte gestritten wurde.2324 Allerdings sahen sich die deutschen Partikularstaaten bei der ebenfalls im 19. Jh. einsetzenden Rezeption des französischen Rechts mit der Schwierigkeit konfrontiert, die Appellation und die freie Beweiswürdigung aus dem französischen Recht miteinander in Einklang zu bringen.2325 Vor allem die Annahme, dass es sich um keine freie Beweiswürdigung mehr handeln würde, wenn die Ergebnisse der richterlichen Beweiswürdigung einer Nachprüfung durch eine höhere Instanz nachgeprüft werden konnte, schien die Vereinbarkeit eines vollumfassenden Rechtsmittels wie der Appellation mit dem Prinzip der freien Beweiswürdigung generell auszuschließen. Als problematisch wurde auch empfunden, dass die Appellation nach dem deutschen Recht ein bloß schriftliches Verfahren darstellte, während das französische Recht generell ein mündliches und unmittelbares Verfahren vorsah. Dass die Ergebnisse eines unmittelbar und mündlich durchgeführten erstinstanzlichen Verfahrens in einem schriftlichen Appellationsverfahren korrigiert werden könnten, wurde zuweilen als widersprüchlich empfunden. So schafften viele der partikularen Rechtsordnungen die Appellation, soweit sie eine solche überhaupt wieder vorsahen, mit der Einführung der freien Beweiswürdigung erneut ab, obwohl selbst das rezipierte französische Recht vergleichbare Rechtsmittel vorgesehen hatte.2326
2321 2322 2323 2324 2325 2326
Vgl. S. 82 ff. Vgl. S. 83 ff. Vgl. S. 85 ff. Vgl. S. 88 ff. Vgl. S. 92 ff. Vgl. S. 93 f.
Fazit
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Diese Überbewertung der freien Beweiswürdigung und des Unmittelbarkeits- und Mündlichkeitsprinzips in der Rechtswissenschaft hatte ihren Ursprung vor allem in den sog. irrationalen Überzeugungslehren wie etwa der deutschen Lehre vom Totaleindruck ohne Reflexion oder der französischen Lehre von der intime conviction, wonach die freie Beweiswürdigung einen rational nicht nachvollziehbaren, daher auch einer Begründung nicht zugänglichen und folglich durch eine höhere Instanz nicht nachprüfbaren Vorgang darstellen sollte.2327 Diese Lehren, die in der Praxis vor allem bei den Schwurgerichten praktische Relevanz erfuhren, waren jedoch als generelle Lehren zur freien Beweiswürdigung selbst in der Rechtswissenschaft bereits zur Mitte des 19. Jh. überwunden worden.2328 Sofern die partikularen Rechtsordnungen neben den Geschworenen auch ordentlichen Gerichten eine freie Beweiswürdigung gestatteten, hatten sie damit oftmals durchaus eine Verpflichtung des Richters vorgesehen, seine Entscheidungen – anders als die Geschworenen am Schwurgericht – mit einer umfassenden Begründung zu versehen; wenig konsequent war freilich, dass dennoch nicht jeder der partikularen Gesetzgeber auch eine Nachprüfbarkeit der Entscheidungen des ersten Richters vorgesehen hatte.2329 Bemerkenswerterweise blendete ausgerechnet der Reichsgesetzgeber, als er sich nach der Gründung des Deutschen Reiches an den Versuch wagte, eine einheitliche Strafverfahrensordnung für das gesamte Reich zu entwerfen, die jüngeren Entwicklungen im partikularen Strafverfahren nahezu vollständig aus und knüpfte an eine Vorstellung der tatrichterlichen Tätigkeit an, die noch aus der Zeit vor 1848 stammte.2330 So lag dem Entwurf der Strafprozessordnung die längst überholt geglaubte Auffassung zugrunde, dass die freie tatrichterliche Überzeugung keiner Begründung zugänglich sei, was zugleich eine Nachprüfung der darauf beruhenden Feststellungen ausschloss. So bestimmte der Entwurf der Reichsstrafprozessordnung, dass der Tatrichter ausschließlich verpflichtet sein sollte, in den Urteilsgründen die objektiven Entscheidungsgründe (Tatsachenfeststellungen) anzugeben; eine Pflicht zur Angabe der subjektiven Beweisgründe (also eine Darlegung seiner Beweiswürdigung) sah hingegen weder der Entwurf noch die endgültige und in wesentlichen Teilen bis heute in Kraft gebliebene Strafprozessordnung vor. Insofern war es nur konsequent, dass der Entwurf der Strafprozessordnung als Rechtsmittel ausschließlich die auf Rechtsfragen beschränkte Revision vorsah. Die Berufung gegen amtsgerichtliche Urteile, wie sie bis heute fortexistiert, fand erst im Rahmen der parlamentarischen Debatten Eingang in die Strafprozessordnung – sie sollte einen Ausgleich für das (damals noch) summarische Verfahren vor den Amtsgerichten und die fehlende gerichtliche Voruntersuchung in jenen Sachen schaffen.2331 Gegen erstinstanzliche Urteile der Strafkammern und Schwurgerichte jedoch war 2327 Vgl. zu der französischen intime-conviction-Lehre S. 134 ff.; zur deutschen Lehre vom Totaleindruck ohne Reflexion S. 150 ff. 2328 Vgl. S. 157 ff. 2329 Vgl. S. 172 ff. 2330 Vgl. S. 177 ff. 2331 Vgl. S. 185 ff.
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Fazit
weiterhin ausschließlich die als Rechtsrüge ausgestaltete Revision zulässig, welche eine Nachprüfung der tatsächlichen Feststellungen des Tatrichters, erst recht eine seiner Beweiswürdigung, nicht gestattete. Ungeachtet dessen war jedoch weder das Reichsgericht noch später der Bundesgerichtshof willens, die mit dieser Überprüfungsresistenz tatrichterlicher Sachverhaltsfeststellungen einhergehenden Einschränkungen des Rechtsschutzes gegen erstinstanzliche Urteile der Landgerichte und später der Oberlandesgerichte vollumfänglich hinzunehmen. So erfolgte eine stückweise Erweiterung der revisionsgerichtlichen Rechtsprechung auf bestimmte Aspekte der tatrichterlichen Feststellungen und der Beweiswürdigung. Das dritte Kapitel der vorliegenden Schrift befasste sich mit eben dieser Erweiterung der Revision, die je nach Leseart als praeter oder contra legem bezeichnet werden kann. Dabei wurde aufgrund ausgewählter Urteile des Reichsgerichts und des Bundesgerichtshofs aufgezeigt, wie diese höchstrichterliche Erweiterung der Revision vonstattenging und welche rechtlichen und tatsächlichen Schwächen diese höchstrichterliche Rechtsprechung aufweist. Festgehalten werden kann insofern zunächst, dass die Revision, wie sie heute von den Revisionsgerichten gehandhabt wird, weit über das hinausgeht, was der historische Gesetzgeber sich unter diesem Rechtsmittel vorgestellt hatte.2332 So hatte sich bereits das Reichsgericht bei der Prüfung eines tatrichterlichen Urteils nicht bloß auf die Rechtsfragen beschränkt, sondern kontrollierte in dem Rahmen auch, ob das vorinstanzliche Urteil im Einklang mit Denkgesetzen und allgemeinen Erfahrungssätzen stand.2333 Diese Rechtsprechung wurde nach der Gründung der Bundesrepublik Deutschland auch von dem neuerrichteten Bundesgerichtshof fortgesetzt. Bemerkenswert ist dabei, dass die höchstrichterliche Rechtsprechung Verstöße gegen Denkgesetze und allgemeine Erfahrungssätze, die bei strenger Betrachtung allenfalls auf eine Verletzung von Verfahrensvorschriften hinwiesen, bereits im Rahmen einer allgemeinen Sachrüge zur Kenntnis nimmt. Dies obwohl verfahrensrechtliche Mängel nach dem ausdrücklichen Wortlaut der Strafprozessordnung nur insoweit der Revision unterliegen, als sie substantiiert von dem Beschwerdeführer gerügt worden sind.2334 Insbesondere in der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs liegt damit eine formale Erweiterung der Revision, mit der er sich bei Verstößen gegen Denkgesetze oder allgemeine Erfahrungssätze der prozessualen Grenzen der Verfahrensrüge entledigte. Zugleich gilt aber zu beachten, dass die heute ebenfalls übliche revisionsgerichtliche Aufhebung von Urteilen wegen unvollständiger, unklarer oder widersprüchlicher Feststellungen weder eine formale noch eine materielle Erweiterung der Revision darstellt, obwohl auch diese Fälle in aller Regel unter dem Stichwort der „erweiterten Revision“ diskutiert werden. Anders als es den Anschein hat, liegt in diesen Fällen nämlich sehr wohl ein sachlich-rechtlicher Mangel (der hier als um2332 2333 2334
Vgl. S. 231 ff., 240 ff. Vgl. S. 241 ff. Hierzu ausführlich S. 247 ff.
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gekehrter Subsumtionsmangel bezeichnet wird2335) – und gerade nicht bloß ein Feststellungs- oder Darstellungsmangel – vor, der insofern auch nach dem strengen Gesetzeswortlaut schon im Rahmen der allgemeinen Sachrüge zu berücksichtigen ist.2336 Davon wiederum zu unterscheiden ist allerdings die revisionsgerichtliche Praxis, tatrichterliche Urteile auch dann aufzuheben, wenn die Tatsachenfeststellungen zwar vollständig, klar und ohne Widerspruch sind, und sie auch nicht gegen Denkgesetze oder allgemeine Erfahrungssätze verstoßen, sie allerdings von dem Revisionsgericht als außerhalb der allgemeinen Lebenserfahrung liegend oder nicht mit überzeugenden Gründen versehen empfunden werden.2337 Für ein derartiges Vorgehen der Revisionsgerichte enthält das geltende Strafverfahrensrecht keine hinreichende Rechtsgrundlage. Vielmehr ist der Tatrichter nach den Vorschriften der Strafprozessordnung und dem ihnen zugrunde liegenden Willen des historischen Gesetzgebers in seiner Beweiswürdigung sogar völlig frei. Damit ist er bei strengem Gesetzesverständnis keinesfalls daran gehindert, auch von einem unwahrscheinlichen Lebenssachverhalt überzeugt zu sein, ohne dass er verpflichtet wäre, den Verfahrensbeteiligten oder dem Revisionsgericht seine Überzeugung in irgendeiner Weise intersubjektiv nachvollziehbar zu vermitteln. Daraus folgt zugleich, dass materielle Mängel der Feststellungen, obwohl auch sie in aller Regel schon aufgrund des schriftlichen Urteils erkennbar sind, materiell-rechtlichen Mängeln nicht gleichstehen.2338 Insofern muss die revisionsgerichtliche Praxis, bereits die tatrichterliche Beweiswürdigung (!) – und nicht erst die Feststellungen – als unvollständig, unklar oder widersprüchlich zu rügen, erst recht als problematisch angesehen werden. Deutlicher noch als bei den Feststellungen geht die Strafprozessordnung nämlich bei der Beweiswürdigung davon aus, dass eine Verpflichtung des Tatrichters, sie zu begründen, nicht existiert; ebenso sieht sie ausdrücklich keine Befugnis des Revisionsgerichts vor, die tatrichterliche Beweiswürdigung nachzuprüfen, gerade um sicherzustellen, dass die Beweiswürdigung tatsächlich frei ist.2339 Gewiss muss an dieser Stelle eingeräumt werden, dass eine Rückbesinnung auf die beschränkte Reichweite der Revision, wie sie im Gesetzeswortlaut angelegt ist, jedenfalls rechtspolitisch schwerlich umsetzbar und im Ergebnis sicherlich auch unter dem Gesichtspunkt der materiellen Gerechtigkeit nicht angezeigt wäre. Ungeachtet dessen bleibt dennoch festzuhalten, dass eine erweiterte Revision, die sowohl den Wortlaut des Gesetzes als auch den eindeutigen Willen des historischen Gesetzgebers außer Acht lässt, letztlich eine Rechtsfortbildung contra legem darstellt, die durchaus erhebliche Zweifel an der Gesetzesbindung der Revisionsgerichte auslöst. Schließlich fordert der Bundesgerichtshof (a) von dem Tatrichter unter 2335 2336 2337 2338 2339
Zu dem Begriff des „umgekehrten Subsumtionsmangels“ vgl. S. 252 ff. Vgl. S. 250 ff. Vgl. S. 254 ff. Eingehend dazu S. 308 ff. Vgl. S. 280 ff.
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Fazit
Missachtung der §§ 261, 267 StPO eine umfassende Beweisbegründung, (b) prüft zugleich unter Missachtung des eindeutigen Normbefehls in § 337 StPO die Sachverhaltsfeststellungen und die Beweiswürdigung des Tatrichters darauf, ob sie den von ihm contra legem aufgestellten Voraussetzungen genügen, und (c) prüft entgegen dem Wortlaut der §§ 344 Abs. 2 Satz 2, 352 StPO bereits auf eine Sachrüge hin, ob sich aus dem Urteil Verstöße gegen die verfahrensrechtlichen Anforderungen der §§ 244 Abs. 2 und 261 StPO ergeben. Bedenklich ist an dieser Entwicklung zum einen, dass nicht völlig ausgeschlossen werden kann, dass sie an die Entformalisierung der Rechtsanwendung im „Dritten Reich“ anknüpft und diese – wenn sicherlich auch nicht final, aber doch faktisch – fortschreibt.2340 Zum anderen aber ist diese Form der Rechtsfortbildung vor allem auch deshalb bedenklich, da ausgerechnet die Gerichte von Verfassungs wegen im besonderen Maße – mehr noch als Behörden im engeren Sinne – den Gesetzen unterworfen sind, weshalb eine richterliche Rechtsfortbildung richtigerweise nur unter engen Grenzen und hinreichender Beachtung des gesetzgeberischen Willens zulässig ist.2341 Die erweiterte Revision widerspricht dabei nicht nur dem Wortlaut des Gesetzes und dem Willen des historischen Gesetzgebers, sie kommt zudem auch, statistisch betrachtet, deutlich häufiger zum Nachteil des Angeklagten zur Anwendung als zu seinem Vorteil.2342 Dabei berauben die Revisionsgerichte den Angeklagten aufgrund eines ausschließlich richterrechtlichen Instituts um eine von Gesetzes wegen sichere verfahrensrechtliche Position, indem sie sich anmaßen, auch Freisprüche aus tatsächlichen Gründen aufzuheben.2343 Dies obwohl eine tatrichterliche Überzeugung, dass der Angeklagte aus tatsächlichen Gründen der Tat nicht zu überführen ist, jedenfalls nach dem Gesetzeswortlaut keiner weiteren Nachprüfung im Rahmen der Revision unterliegt – gerade diese Möglichkeit verschaffen sich die Revisionsgerichte jedoch mit der erweiterten Revision.2344 Da ein Revisionsrichter, der sich anmaßt, nachprüfen zu können, ob die Begründung eines freisprechenden Urteils inhaltlich überzeugend ist oder die Zweifel des Tatrichters berechtigt sind, zugleich richterliche Kompetenzen für sich in Anspruch nimmt, die ihm gesetzlich nicht zugewiesen sind, liegt in dieser Form der erweiterten Revision nicht zuletzt auch eine Verletzung des Anspruchs auf den gesetzlichen Richter im Sinne des Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG.2345 Besondere Brisanz gewinnt dieser Grundrechtseingriff durch die Tatsache, dass der aktuellen Revisionsrechtsprechung auch keine eindeutigen Kriterien zu entnehmen sind, wann eine Darstellungsrüge durch den Beschuldigten erfolgsversprechend wäre – somit steht es 2340 2341 2342 2343 2344 2345
Vgl. S. 273 ff. Vgl. S. 289 ff. Vgl. S. 318 ff. Vgl. S. 315 ff. Vgl. S. 311 ff. Vgl. ausführlich hierzu S. 318 ff.
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ausschließlich im Gutdünken des Revisionsgerichts, ob der Beschwerdeführer mit einer Rüge der mangelhaften Darstellung der Feststellungen durchdringt oder ob seine Rüge als eine unzulässige Tatsachenrüge zurückgewiesen wird. Darin liegt zumindest der Anschein eines Willkürmomentes in der Revisionsrechtsprechung, der mit Blick auf den allgemeinen Gleichheitssatz und das Willkürverbot aus Art. 3 Abs. 1 GG nicht ohne Weiteres hingenommen werden kann.2346 Insofern müssten dem Beschwerdeführer – gegebenenfalls de lege ferenda – objektive Kriterien an die Hand gegeben werden, die ihm ermöglichen, abzuschätzen, unter welchen Voraussetzungen seine Rüge eine reale Aussicht auf Erfolg hat. Die gegenwärtige Situation hingegen müsste als ein Armutszeugnis für die strafrechtliche Revisionsrechtsprechung begriffen werden, wenn selbst erfahrene und fähige Revisionsverteidiger sich genötigt fühlen, ihre Mandanten darauf hinzuweisen, dass der Erfolg einer Revision selbst dann nicht prognostizierbar ist, wenn der Rechtsfehler offensichtlich zu sein scheint. Diese Mängel des geltenden Rechtsmittelrechts sind dem Gesetzgeber durchaus seit langem bekannt. Wie im vierten Kapitel der vorliegenden Untersuchung dargelegt, hat er nämlich in den vergangenen 140 Jahren bereits zahlreiche, letztendlich erfolglos gebliebene Versuche unternommen, ausgerechnet die Rechtsschutzlücke in den land- und oberlandesgerichtlichen Sachen zu schließen. Noch bis in die Weimarer Republik gingen diese Bestrebungen dahin, die Berufung auch auf die Strafkammersachen auszuweiten.2347 Einige der zu diesem Zweck vorgelegten Gesetzesentwürfe sahen insoweit eine Berufung von den Strafkammern zu den Oberlandesgerichten vor, während andere die Errichtung besonderer Berufungsspruchkörper an den Landgerichten selbst vorschlugen. Bemerkenswert ist dabei, dass spätestens ab Dezember 1894 zwischen den Gliedstaaten des Reiches, der Reichsleitung und dem Reichstag gerade über die Notwendigkeit einer Berufung in Strafkammersachen Einigkeit herrschte, ihre Einführung aber vor allem an Diskordanzen scheiterte, die im engeren Sinne sachfremd waren und heute geradezu trivial erscheinen.2348 Die Entwürfe in der Weimarer Republik gingen dagegen einen völlig anderen Weg und sahen vor allem eine Konzentration nahezu aller erstinstanzlichen Strafsachen an den Amtsgerichten vor; dadurch wären nahezu alle Strafsachen berufungsfähig geworden.2349 Letztendlich konnte sich jedoch auch keiner dieser Entwürfe durchsetzen, weil sie entweder schon im Reichstag nicht zu Ende beraten werden konnten oder der Reichstag oder der Bundesrat ihnen die erforderliche Zustimmung verweigerte. Für eine kurze Zeit allerdings wurde durch die EmmingerVerordnung von Januar 1924 eine nahezu alle erstinstanzlichen Urteile umfassende Berufung in Strafsachen realisiert, indem tatsächlich so gut wie alle Strafsachen in 2346 2347 2348 2349
Vgl. S. 320 ff. Vgl. S. 333 ff. Vgl. S. 345 ff. Vgl. insofern S. 375 ff.
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erster Instanz auf die Amtsgerichte übertragen wurden.2350 Da der Verordnungsgeber das Berufungsverfahren jedoch im Grunde unverändert belassen hatte, war die Strafgerichtsbarkeit, aber auch die Landeshaushalte, alsbald mit der Wiederholung des Verfahrens in der zweiten Instanz derart überfordert, dass die landgerichtlichen Zuständigkeiten bis 1932 weitestgehend wiederhergestellt wurden; selbst in den originär amtsgerichtlichen Strafsachen wurde die Berufung zudem nur noch als Wahlrechtsmittel alternativ zur Revision zugelassen.2351 Einen wiederum anderen Ansatz, eine umfassende Nachprüfbarkeit der „normalen“ Strafgerichtsurteile sicherzustellen, wählte man dagegen im „Dritten Reich“. Mit dem Entwurf einer Strafverfahrensordnung und einer Friedensrichter- und Schiedsmannsordnung vom 1. Mai 1939 wurde nämlich anstelle einer bloßen Ausweitung der Berufung auf alle strafgerichtlichen Urteile, die Einführung einer sog. Urteilsrüge bei schweren Strafsachen vorgeschlagen, bei der es sich de facto um eine erweiterte Revision handelte.2352 Auch wenn sich der Entwurf 1939 und damit auch die Urteilsrüge nicht haben durchsetzen können, wurde auch in der Bundesrepublik Deutschland ein vergleichbarer Ansatz verfolgt. So lag dem Diskussionsentwurf für ein Gesetz über die Rechtsmittel in Strafsachen (DE-Rechtsmittelgesetz) vom Dezember 1975 ebenfalls ein ebenfalls als Urteilsrüge bezeichnetes Rechtsmittel zugrunde, bei dem es sich – wie schon im Falle des Entwurfs 1939 – um eine erweiterte Revision handelte, die „auch darauf gestützt werden [kann], daß gegen die Richtigkeit erheblicher Feststellungen oder gegen die Auswahl und Zumessung der Rechtsfolgen schwerwiegende Bedenken bestünden“.2353 Anders als nach dem Entwurf 1939, der in einfachen Strafsachen weiterhin an der Berufung festhielt, sollte die Urteilsrüge nach dem Entwurf 1975 in Strafsachen jedoch das einzig zulässige Rechtsmittel darstellen. Allerdings konnte sich auch der Diskussionsentwurf 1975, nicht anders als schon der Entwurf 1939, nicht durchsetzen. Damit gilt in Strafsachen bis heute ein Rechtsmittelrecht, das vor 140 Jahren vor allem als eine Kompromisslösung in Kraft gesetzt worden war. Die vermeintliche Abhilfe der Mängel des Rechtsschutzes in Strafsachen durch die höchstrichterliche Erweiterung der Revision stellt sich dabei als ein zweischneidiges Schwert dar. Obwohl sie grundsätzlich eine vergleichsweise weitgehende Nachprüfung der tatrichterlichen Sachverhaltsfeststellungen ermöglicht, geht sie nicht nur weit über die gesetzlichen Grenzen der Revision hinaus, sondern kommt mehrheitlich auch zulasten des angeklagten Bürgers zur Anwendung, ohne sich dabei auf eine entsprechende Rechtsgrundlage stützen zu können. Zugleich aber ist selbst die erweiterte Revision nicht in der Lage, einen vollumfänglichen Rechtsschutz gegen Urteile der Strafkammern zu gewährleisten – denn selbst im Rahmen der Darstellungskontrolle, 2350 2351 2352 2353
Vgl. S. 382 ff. Vgl. S. 385 ff. Vgl. S. 386 ff. Vgl. S. 399 ff.; zu dem Zitat vgl. § 314 StPO in der Fassung des Diskussionsentwurfs.
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welche die erweiterte Revision ermöglicht, bleibt die Nachprüfung der Feststellungen und der Beweiswürdigung auf dasjenige beschränkt, was aus dem schriftlich niedergelegten Urteil ersichtlich ist. Ausgerechnet in den schweren Strafsachen kann der Beschwerdeführer also trotz der Erweiterung, welche die Revision durch die höchstrichterliche Rechtsprechung erfahren hat, weiterhin nicht mit der Rüge gehört werden, dass eine Tatsache inhaltlich falsch festgestellt – und nicht bloß fehlerhaft dargestellt – wurde. Insofern wäre es an dem Gesetzgeber, sein bereits 1883 begonnenes Vorhaben zu Ende zu führen und auch gegen Urteile der Landgerichte und Oberlandesgerichte einen effektiven Rechtsschutz zu gewährleisten. Mit Blick darauf schlägt der Verfasser im fünften Kapitel der vorliegenden Schrift eine gesetzliche Erweiterung der Revision um eine sog. Tatsachenrüge vor, ohne dabei so weit zu gehen, wie die Entwürfe 1939 oder 1975. Gerade weil sie aber nicht so weit gehen, könnten die hier unterbreiteten Änderungen des Revisionsrechts einen Vorschlag darstellen, der umsetzungsfähig und jedenfalls vorläufig geeignet wäre, einen umfassenden Rechtsschutz in den Strafsachen sicherzustellen. Die wesentlichen Änderungsvorschläge umfassen hierbei, neben einer Ausweitung der strafrechtlichen Revision auf inhaltliche und formelle Mängel der Feststellungen,2354 die Möglichkeit einer revisionsgerichtlichen Beweisaufnahme, soweit diese notwendig ist, um beurteilen zu können, ob die von dem Beschwerdeführer substantiiert behaupteten Mängel der tatrichterlichen Feststellungen auch tatsächlich vorliegen,2355 sowie die revisionsgerichtliche Berücksichtigungsfähigkeit von Verfahrens- und Tatsachenmängeln auch ohne einen ausdrücklichen Revisionsvortrag hierzu.2356 Durch diese Reformen würde insbesondere für die nicht berufungsfähigen Strafsachen eine erweiterte Revision zur Verfügung gestellt, deren Grundlagen über bloßes, wenig transparentes Richterrecht hinausreichten und sich bereits in der Strafprozessordnung wiederfänden. Dass die hier vorgeschlagenen Reformen allein freilich nicht ausreichen, die aus dem Jahre 1877 stammende, im Wesentlichen weiterhin auf den Grundsätzen des Inquisitionsverfahrens aufbauende Strafprozessordnung an die Bedürfnisse eines zeitgemäßen und modernen Strafverfahrens anzupassen, dürfte selbsterklärend sein. Doch mit der überragenden Bedeutung des Rechtsschutzes für den Bürger, dessen (Grund-)Rechte im Falle eines Strafverfahrens einem – denkbar massiven – Eingriff durch staatliche Stellen ausgesetzt sind, wäre eine Reform nach dem hier vorgeschlagenen Vorbild sicherlich ein erster und durchaus notwendiger Schritt in die richtige Richtung, um auch in den land- oder oberlandesgerichtlichen Strafsachen einen hinreichenden Rechtsschutz zu gewährleisten.
2354 2355 2356
Vgl. S. 426 ff. Vgl. S. 442 ff. Vgl. S. 450 ff.
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Stichwortverzeichnis Abgrenzung von Tat- und Rechtsfrage 234 Akkusationsprozess 163 Allgemeine Erfahrungssätze 241 Allgemeine Lebenserfahrung siehe Erfahrungen des täglichen Lebens Appellation 79 – in Preußen 97 – Verbot der 82 – Wiederentdeckung der 88 Aufklärungsrüge 249 Außerordentliche Wiederaufnahme 391 Außerordentlicher Einspruch nach dem E1939 391 Berufung 34, 38 – im österreichischen Recht 419 – nach dem E1939 388 – nach der MStGO 355 – nur beim Amtsgericht 186 – Versuche der „Wiedereinführung“ 333, 342, 347 f., 354, 366, 398 Beweisbegründungspflicht 176, 179, 181, 219, 223, 225 f., 228, 232, 272, 279, 363 – in sonstigen Verfahrensordnungen 231 – nach der MStGO 228 – nach der ZPO a. F . 224 Beweismittel – formale 109 – in der Urteilsberatung 217 – irrationale 77 – rationale 78 Beweisregeln 126 – gesetzliche 111, 126 f., 130, 133, 141, 150, 153, 164, 172, 174, 178 – in der Rechtsprechung 281 Beweistheorie vgl. Beweisregeln Beweiswürdigung – als allgemeiner Verfahrensgrundsatz 156 – Ausschluss der Nachprüfung der 171
– Begründungsumfang de lege lata 223 – und das Schwurgerichtsverfahren 133 – vor Einführung der 109 Darstellungskontrolle 214, 284 – arbiträre Handhabung der 320 Darstellungsrüge siehe Darstellungskontrolle DE-Rechtsmittelgesetz 58, 396, 399, 406 Denkgesetze – Verletzung von 241 Einspruch 24 – außerordentlicher, im „Dritten Reich“ 268 – im französischen Recht 93 – nach dem DE-Rechtsmittelgesetz 405, 409 Einzelfallgerechtigkeit 50 – Bedeutung als Revisionszweck 53 – Entformalisierung durch 326 – im „Dritten Reich“ 259 – in der BGH-Rechtsprechung 326 Entformalisierung des Rechts 260 – im „Dritten Reich“ 265 – in der BGH-Rechtsprechung 273, 325 Erfahrungen des täglichen Lebens 214, 257 f., 306 – Abgrenzung zu Erfahrungssätzen 241 Feststellungen 216 – nicht hinreichend begründete 254 – Überprüfbarkeit der 172, 177 – widersprüchliche, unklare oder lückenhafte 250 Gesetzlicher Richter 49, 318 f. Gewaltenteilung und Rechtsprechung 291, 299, 301 f.
288,
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Stichwortverzeichnis
Inquirent siehe Inquisitionsprozess Inquisitionsprozess – Beweiskognition im 126 – Durchführung des 114 – Entwicklung des 111 – Reform des 160 – reformierter 160 Kassationsrekurs im französischen Recht 93 Kassatorisches Rechtsmittel 36 Lehre von der intime conviction 134 Lehren von Totaleindruck ohne Reflexion 150 Leistungsmethode 239, 257 Mängelrüge – in Liechtenstein 418 – in Österreich 420 Nichtigkeitsbeschwerde – im „Dritten Reich“ 264, 269 – im preußischen Strafverfahren 100 – in Österreich 54, 417, 420 – nach dem E1939 391 – nach der wüttemberg. StPO 408 – Verhältnis zur Revision 107 Polenprozess
97
Rechtsbehelfe – bei Verbot der Apellation 85 – im „Dritten Reich“ 267 – im französischen Recht 92 – im Partikularrecht 91 – in Strafsachen 32 – nach dem E1939 391 Rechtsfortbildung 293 – als Revisionszweck 50 – Gefahren der 294 – Grenzen der 292, 299 Rechtsfrage 239 Rechtspositivismus – im „Dritten Reich“ 260 Rechtsweggarantie 62 Reformatorisches Rechtsmittel 35
Reformiertes Strafverfahren 160, 162, 164, 393 Reformiertes Strafverfahren 97 Revision 34, 38, 42 – Erweiterung der 240 – Erweiterung im „Dritten Reich“ 259 – Historische Entwicklung der 74 – im preußischen Recht 101 f. – in mecklenburgischen Staaten 96 – Kritik an der erweiterten 288 – nach der MStGO 356 – nach der StPO-E 107, 184 – Reformvorschlag zur 422 – Zwecke der 50 Rüge der Aktenwidrigkeit 421 – de lege ferenda 431 Rüge der Protokollwidrigkeit de lege ferenda 431 Schwurgerichtsbarkeit – im Deutschen Reich 142 – im Nachkriegs-Deutschland – in England 136 – in Frankreich 137 – in Österreich 147 – Rezeption der 138 Strafberufung 420 Strafe – außerordentliche 127 – Verdachts- 129 f. Subsumtionsmangel – klassischer 253 – umgekehrter 253
145
Tatfrage 239 Tatsachenrüge 407 – de lege ferenda 416 Untersuchungsrichter siehe Voruntersuchung, gerichtliche Urteilsbegründungspflicht 172, 177, 180, 218, 224, 232, 303, 428, 437 Urteilsrüge – nach dem DE-Rechtsmittelgesetz 400 – nach dem E1939 266, 388
Stichwortverzeichnis Vollberufung 419 Vorläufige Lossprechung von der Instanz 127 Voruntersuchung
529
– Abschaffung der gerichtlichen – gerichtliche 197, 202 Weitere Verteidigung
86, 96, 124
209