Defizite der Wiederaufnahme in Strafsachen: Bestandsaufnahme und Reformvorschläge auf der Grundlage einer empirischen Untersuchung [1 ed.] 9783428556472, 9783428156474

Die Korrektur eines strafrechtlichen Fehlurteils obliegt mit den §§ 359 ff. StPO dem Wiederaufnahmerecht, das das Instru

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Defizite der Wiederaufnahme in Strafsachen: Bestandsaufnahme und Reformvorschläge auf der Grundlage einer empirischen Untersuchung [1 ed.]
 9783428556472, 9783428156474

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Schriften zum Strafrecht Band 341

Defizite der Wiederaufnahme in Strafsachen Bestandsaufnahme und Reformvorschläge auf der Grundlage einer empirischen Untersuchung

Von

Carolin Arnemann

Duncker & Humblot · Berlin

CAROLIN ARNEMANN

Defizite der Wiederaufnahme in Strafsachen

Schriften zum Strafrecht Band 341

Defizite der Wiederaufnahme in Strafsachen Bestandsaufnahme und Reformvorschläge auf der Grundlage einer empirischen Untersuchung

Von

Carolin Arnemann

Duncker & Humblot · Berlin

Die Juristische Fakultät der Universität Augsburg hat diese Arbeit im Jahre 2018 als Dissertation angenommen.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

D384 Alle Rechte vorbehalten © 2019 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Satz: L101 Mediengestaltung, Fürstenwalde Druck: CPI buchbücher.de gmbh, Birkach Printed in Germany ISSN 0558-9126 ISBN 978-3-428-15647-4 (Print) ISBN 978-3-428-55647-2 (E-Book) ISBN 978-3-428-85647-3 (Print & E-Book) Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706

Internet: http://www.duncker-humblot.de

Für meine Familie und Peter Witting

Vorwort Anstoß für diese Dissertationsschrift war das als „Parkhausmord“ bekannt gewordene Verfahren gegen Benedikt Toth. Das Schwurgericht des Landgerichts München I verurteilte Benedikt Toth am 12.08.2008 wegen Mordes an seiner Tante Charlotte Böhringer zu lebenslanger Freiheitsstrafe. Zugleich wurde die besondere Schwere der Schuld festgestellt. Benedikt Toth, der die Tat bis heute vehement bestreitet, befindet sich seit 18.05.2006 in Haft. Nachdem eine Revision, eine Verfassungsbeschwerde sowie eine Beschwerde zum Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte ohne Erfolg blieben, wurde erstmals 2012 – erfolglos – die Wiederaufnahme des Verfahrens beantragt. Ein weiterer Antrag wurde im Februar 2019 eingereicht. Bis heute bin ich überzeugt, dass das Urteil gegen Benedikt Toth ein Fehlurteil ist. Mein herzlicher Dank für die Unterstützung auf meinem Weg zur Strafverteidigerin gebührt meinen Mentoren, Herrn Rechtsanwalt Stefan Mittelbach und Herrn Rechtsanwalt Peter Witting. Sie werden mir stets ein Vorbild sein. Danken möchte ich vor allem auch meinem Doktorvater, Herrn Prof. Dr. Johannes Kaspar, der von Anfang an meine Idee zu dieser Dissertationsschrift unterstützt hat und mich stets mit wertvollen Anregungen und Tipps vorangebracht hat. Großer Dank gebührt meiner Familie und meinen Freunden, für ihre Unterstützung und ihren Zuspruch in den letzten Jahren. Besonderer Dank gilt dabei meiner Schwester Marion Arnemann und Benedikt Toth. München, im Februar 2019

Carolin Arnemann

Inhaltsverzeichnis Teil 1

Rechtliche Grundlagen zum geltenden Wiederaufnahmerecht 

23

A. Problemstellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Wiederaufnahmeverfahren in der öffentlichen Wahrnehmung . . . . . . . . II. Möglichkeiten zur Korrektur eines Fehlurteils . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Rechtsinstitut der Wiederaufnahme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Praxis der Wiederaufnahme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

23 23 26 27 28

B. Voraussetzungen für die Wiederaufnahme eines Strafverfahrens . . . . . . . . . . . I. Rechtliche Grundstruktur de lege lata . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Ablauf des Wiederaufnahmeverfahrens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Zulässigkeit des Wiederaufnahmeantrags . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Allgemeine Zulässigkeitsvoraussetzungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Statthaftigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Zuständigkeit des Wiederaufnahmegerichts . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Örtliche Zuständigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Sachliche Zuständigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . cc) Zuständigkeit der Staatsanwaltschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . dd) Distanz zu Beteiligten des Vorverfahrens . . . . . . . . . . . . . . ee) Rechtsgedanke des § 210 Abs. 3 StPO . . . . . . . . . . . . . . . . c) Antragsberechtigung sowie Antrags- und Mitwirkungspflichten der Staatsanwaltschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Antragsbefugnis der Staatsanwaltschaft  . . . . . . . . . . . . . . . bb) Antragspflicht der Staatsanwaltschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . cc) Ermittlungspflicht der Staatsanwaltschaft . . . . . . . . . . . . . . dd) Mitwirkungspflichten der Ermittlungsbehörden . . . . . . . . . ee) Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Beschwer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . e) Frist zur Antragstellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Besondere Zulässigkeitsvoraussetzungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Wiederaufnahmeantrag zugunsten des Verurteilten . . . . . . . . . . aa) Antragsziele . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (1) Strafmilderungswiederaufnahme § 363 StPO . . . . . . . . (2) Generelle Zulässigkeit der Strafmaßwiederaufnahme . (3) § 363 Abs. 2 StPO . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

30 30 33 34 35 36 36 36 37 38 40 40 41 41 42 45 48 50 51 52 54 54 55 56 60 63

10 Inhaltsverzeichnis (4) Antragsziel der Korrektur von Rechtsfehlern . . . . . . . . 65 (5) Antragsziel bei Rechtsprechungs- bzw. bei Gesetzesänderungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 72 (6) Antragsziel der Strafaussetzung zur Bewährung bzw.. der Herbeiführung einer anderen Entscheidung gem. § 47 StGB . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 74 bb) Formelle Anforderungen an den Sachvortrag . . . . . . . . . . . 77 b) Wiederaufnahmeantrag zuungunsten des Freigesprochenen oder Angeklagten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 81 aa) Antragsziele . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 82 bb) Formelle Anforderungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 84 cc) Sachvortrag . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 84 dd) Erwägungen im Zusammenhang mit der ungünstigen Wiederaufnahme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 84 (1) Grundsätzliche Zulässigkeit der ungünstigen Wiederaufnahme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 85 (2) Einschränkung der ungünstigen Wiederaufnahme . . . . 89 (3) Ungünstige Wiederaufnahme propter nova . . . . . . . . . . 90 (4) § 362 Nr. 4 StPO auch beim Verurteilten . . . . . . . . . . . 95 IV. Aditionsverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 96 1. Ablauf des Aditionsverfahrens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 97 2. Bestellung eines Pflichtverteidigers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 97 3. Entscheidungsmöglichkeiten  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 101 V. Probationsverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 102 1. Vorliegen eines Wiederaufnahmegrundes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 103 2. Verfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 104 3. Entscheidungsmöglichkeiten des Wiederaufnahmegerichts . . . . . . . 109 VI. Neue Hauptverhandlung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 111 VII. Rechtsbehelfe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 113 VIII. Bedeutung der Wiederaufnahme für die Strafvollstreckung . . . . . . . . . . 117 IX. Entschädigung des Verurteilten bei erfolgreicher Wiederaufnahme . . . . 118 C. Die Wiederaufnahme im System der Rechtsmittel der StPO . . . . . . . . . . . . . . I. Abhängigkeit vom Grundverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Das Wiederaufnahmeverfahren im Kontext von Berufung und Revi­ sion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Berufung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Revision . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Unterschiede zwischen Revision und Wiederaufnahme . . . . . . . b) Gemeinsamkeiten von Wiederaufnahme und Revision . . . . . . . c) Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Möglichkeit der isolierten Reformierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

121 121 122 129 131 135 136 136 137

D. Verfassungsrechtlicher Bezug . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 138

Inhaltsverzeichnis11 I.

Antinomie zwischen materieller Gerechtigkeit und Rechtssicherheit . . . 140 1. Bedeutung der Rechtskraft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 141 2. Bedeutung der Rechtskraft im geltenden Wiederaufnahmerecht . . . 141 3. Verfassungsrechtlicher Rahmen und Asymmetrie der Wiederaufnahmekonstellationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 143 4. Vorrang der materiellen Gerechtigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 146 5. Vorrang materieller Gerechtigkeit auch wegen des Schuldgrundsatzes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 150 6. Bedeutung der verfassungsrechtlichen Antinomie für die Praxis . . 150 II. Wiederaufnahme als Rechtsschutzmöglichkeit gem..Art. 19 Abs. 4 GG  151 III. Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 154 1. Betroffene Grundrechtspositionen  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 154 2. Anspruch auf Wiederaufnahme eines Verfahrens . . . . . . . . . . . . . . . 156 3. Pflicht zur Wahrheitsermittlung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 157 4. Neue Tatsachen oder Beweismittel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 158 a) Novität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 158 b) Tatsachenbegriff . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 160 c) Alternativität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 160 d) Verbrauchtes Vorbringen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 161 5. Geeignetheitsprüfung gem. §§ 359 Nr. 5, 368 Abs. 1 StPO . . . . . . 161 a) Wahrscheinlichkeitsmaßstab . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 162 b) Beachtung strafprozessualer Strukturen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 163 c) Verbot der Ersetzung wesentlicher Feststellungen . . . . . . . . . . . 164 d) Pflicht zur Gesamtbetrachtung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 165 6. Formanforderungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 166 7. Beurteilungsmaßstab im Probationsverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . 167 8. Beschleunigungsgebot . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 167 9. Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 169

E. Historische Entwicklung der gesetzlichen Grundlagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Die Wiederaufnahme im inquisitorischen Prozess . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Die Wiederaufnahme im akkusatorischen Prozess . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Die Wiederaufnahme im reformierten Strafprozess  . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Entwicklung der Gesetzgebung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Gesetzesentwurf des 1. StRVG von 1974 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Gesetzesentwurf von 1993 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Gesetzesentwurf von 1996 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Gesetzesentwurf des Bundesrats von 2008 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Justizministerinnen- und Justizministerkonferenz 2013 . . . . . . . . . . 6. Bericht der Expertenkommission 2015 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7. Koaltionsvertrag 19. Legislaturperiode . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

169 170 170 171 172 177 178 180 181 182 182 185

12 Inhaltsverzeichnis Teil 2

Eigene Untersuchung und Reformvorschläge 

186

A. Forschungsstand . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Wissenschaftliche Erkenntnisse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Forschungsmethoden wissenschaftlicher Aufarbeitungen . . . . . . . . . . . . III. Anzahl von Wiederaufnahmeverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Wiederaufnahmeanträge im Bundes- und Landesvergleich  . . . . . . . . . . V. Wiederaufnahmeanträge in Bayern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

186 186 193 194 195 214

B. Eigene Untersuchung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Methodik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Leitfadeninterviews . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Vorbereitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Bestimmung des Adressatenkreises und Versendung der Frage­ bögen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Rücklauf  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Auswertungsphase . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Untersuchungsergebnisse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Kenntnisse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Anzahl bearbeiteter Wiederaufnahmeanträge und deren Erfolgsquote . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Zeitpunkt der Beauftragung, Beiordnung und weiterer Rechtsanwalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Erarbeitung eines Wiederaufnahmeantrags . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Öffentlichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6. Gründe für Fehlurteile . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7. Eigene Ermittlungen der Verteidigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8. Unterstützung der Ermittlungstätigkeit des Verteidigers durch Ermittlungsbehörden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9. Wiederaufnahmegründe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10. Strafmaßwiederaufnahme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11. Verfahrensablauf . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12. Mündliche Verhandlung über die Zulässigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . 13. Erfordernis der erweiterten Darlegungslast . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14. Hinweispflicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15. Novität, § 359 Nr. 5 StPO . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16. Geeignetheitsprüfung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17. In-dubio-pro-reo . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 18. Einfluss auf Strafvollstreckung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 19. Verhältnis zur Revision . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 20. Korrektur fehlerhafter Entscheidungen durch eine zweite Tat­ sacheninstanz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

216 216 218 218 221 222 224 224 225 226 228 229 234 235 239 242 245 247 248 251 253 257 259 261 262 264 267 268

Inhaltsverzeichnis13 21. Wiederaufnahmerechtliche Praxis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 22. Gründe für das Scheitern von Wiederaufnahmeanträgen . . . . . . . . . 23. Reformüberlegungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 24. Umfassende Dokumentation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 25. Örtliche Zuständigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 26. Bundesgerichtshof als Beschwerdeinstanz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

270 273 281 288 293 294

C. Ursachen von Fehlurteilen und Möglichkeiten ihrer Verhinderung und Aufdeckung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Fehlurteile und ihre Ursachen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Voraussetzungen für fehlerfreie Entscheidungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Ausbildung in Hilfswissenschaften . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Vermeidung von Fehlern im Ermittlungsverfahren . . . . . . . . . . . . . 3. Vermeidung von Fehlern im Hauptverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Resümee  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Möglichkeiten zur Aufdeckung von Fehlurteilen . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Innocence project . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Aufarbeitung von Fehlurteilen in England und Frankreich . . . . . . . 3. Aufarbeitung von Fehlurteilen in Deutschland . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Eigene Ermittlungen der Verteidigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Ermittlung wiederaufnahmerelevanter Umstände . . . . . . . . . . . . . . . 6. Erforschung des Wiederaufnahmerechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

296 296 300 301 302 306 308 309 310 311 311 313 314 318

D. Defizite im geltenden Wiederaufnahmerecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Anwendungsdefizite . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Prozessuale Aufgliederung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Beiordnung eines anderen Verteidigers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Praktische Barrieren und justizielle Praxis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

318 319 321 322 323

E. Verfahrenserleichterungen zur Rechtskraftdurchbrechung de lege ferenda . . . I. Anwendung des Zweifelsgrundsatzes im Rahmen der Zulässigkeitsentscheidung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Verfassungsrang . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Anwendungsbereich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Geltung im Wiederaufnahmerecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Ablehnung aufgrund von Sachlogik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Ablehnung aufgrund von institutioneller Unanwendbarkeit . . . . c) Ablehnung aufgrund des Ausnahmecharakters des Wiederaufnahmerechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Ablehnung wegen der Gefahr einer Antragsflut . . . . . . . . . . . . . e) Ablehnung aufgrund verfassungsrechtlichen Spannungsverhältnisses . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . f) Mittelbare Anwendbarkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Eigene Beurteilung der Anwendbarkeit des Zweifelssatzes im Vorschaltverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

327 327 329 329 330 331 333 334 335 335 336 337

14 Inhaltsverzeichnis II. Zuständigkeit des Wiederaufnahmegerichts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Mündliche Verhandlung über die Zulässigkeit oder gesetzliche Normierung einer Hinweispflicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Geltung des Beschleunigungsgebots . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . V. Erstreckung der Wiederaufnahmeanordnung auf Mitverurteilte . . . . . . . VI. Reformgedanken zum Beschwerdeverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . F. Reformierung des geltenden Rechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Einführung einer zweiten Tatsacheninstanz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Ausschluss der Wiederaufnahme bei Bagatellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Bereichsdefizit bezüglich der Strafmaßwiederaufnahme . . . . . . . . . . . . . IV. Wiederaufnahmegrund einer fehlenden, erschöpfenden Beweiswürdigung  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . V. Prozessuale Fehler als Wiederaufnahmegrund . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . VI. Sachlich-rechtliche Fehler als Wiederaufnahmegrund . . . . . . . . . . . . . . . VII. Anwendung bei nachträglichen Gesetzes- und Rechtsprechungsänderungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . VIII. Reduzierung auf § 359 Nr. 5 StPO . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IX. Wiederaufnahme mit dem Ziel der Strafaussetzung zur Bewährung . . . X. Feststellung der Rechtswidrigkeit einer gerichtlichen Entscheidung zum Zwecke der Rehabilitation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . XI. Wiederaufnahme und Strafvollstreckung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

338 340 342 343 344 346 346 351 353 354 355 360 363 364 365 366 368

G. Zur Gewährleistung des Anspruchs auf Wiederaufnahme eines Strafverfahrens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 369 Teil 3

Besondere Betrachtung des Anwendungsdefizits um den Novitätsbegriff des § 359 Nr. 5 StPO 

A. Wiederaufnahmegrund § 359 Nr. 5 StPO . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Anforderungen an den Sachvortrag . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Tatsachen oder Beweismittel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Neuheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Neuheit von Tatsachen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Spiegelbildtheorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Neuheit von Beweismitteln . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Verbrauch ehemaligen Wiederaufnahmevorbringens . . . . . . . . . . . . 5. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Geeignetheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Prüfung der Geeignetheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Erheblichkeit des Sachvortrags . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Hinreichende Erfolgsaussicht des Sachvortrages . . . . . . . . . . . . aa) Antizipierte Beweiswürdigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

371 372 372 374 377 380 383 384 388 390 391 393 393 395 397

Inhaltsverzeichnis15 bb) Prognosemaßstab . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (1) Grammatische Auslegung des Geeignetheitsbegriffs . . (2) Systematisches Argument . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (3) Historisches Argument . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (4) Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . cc) Beurteilungsstandpunkt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . dd) Hinreichende Erfolgsaussicht bei komplexen Beweiswürdigungen und verbleibenden Hilfstatsachen . . . . . . . . . . . . ee) Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Erweiterte Darlegungslast . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Erfordernis erweiterter Darlegungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Fallgruppen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Kritik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Ergebnisse der Untersuchung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . e) Lösungsvorschläge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Gesamtwürdigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Zusammenfassung  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Bestätigungsbegriff § 370 Abs. 1 StPO . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

400 406 407 408 408 409

B. Defizite in der Kontrolle tatrichterlicher Beweisergebnisse . . . . . . . . . . . . . . . I. Die Bedeutung des § 261 StPO beim Abfassen der schriftlichen Urteilsgründe  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Hauptverhandlungsprotokoll . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Rekonstruktionsverbot in der Revision . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Rekonstruktion der Hauptverhandlung im Wiederaufnahmeverfahren . . V. Konsequenzen für die Verteidigung im erstinstanzlichen Verfahren  . . . VI. Konsequenzen für das Tatgericht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . VII. Konsequenzen für die Verteidigung im Wiederaufnahmeverfahren . . . .

429

V.

414 415 416 416 418 420 423 423 424 425 427

430 432 433 436 437 438 439

C. Grundsatz der freien Beweiswürdigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 439 D. Dokumentationspflicht  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Dokumentation von Vernehmungen im Ermittlungsverfahren . . . . . . . . II. Dokumentation einer landgerichtlichen Hauptverhandlung . . . . . . . . . . III. Dokumentation einer amtsgerichtlichen Hauptverhandlung . . . . . . . . . . IV. Auswirkungen einer umfassenden Dokumentationspflicht auf Rechtsmittelverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

442 448 452 460 460

E. Novität bereits eingeführter Beweismittel im Rahmen des § 359 Nr. 5 StPO . 464 I. Abstrakte Theorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 465 II. Konkrete Sichtweise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 466 III. Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 467 IV. Feststellung der Neuheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 467 V. Eigene Beurteilung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 471

16 Inhaltsverzeichnis Teil 4

Conclusio und Gesetzesvorschlag 

477

A. Änderungen des § 359 StPO . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 480 B. Neueinfügung eines § 363 Abs. 1 S. 2 StPO . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 481 C. Anpassung des § 364a StPO . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 481 D. Einfügung eines § 364c StPO . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 481 E. Normierung einer gesetzlichen Hinweispflicht in § 366 Abs. 1a StPO . . . . . . 481 F. Ergänzung des § 367 Abs. 3 StPO . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 482 G. Einfügung eines § 368 Abs. 1 S. 2 StPO . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 482 H. Änderung des § 370 StPO . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 482 I. Einfügung eines § 372 S. 3 StPO . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 482 J. Änderung des § 373 Abs. 2 S. 1 StPO . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 482 K. Einführung einer umfassenden Dokumentationspflicht in § 273 Abs. 2 und 3 StPO . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 483 L. Einführung einer Divergenzvorlage in § 121 Abs. 2 Nr. 4 GVG . . . . . . . . . . . 485 M. Einfügung eines § 140a Abs. 2 S. 2 GVG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 485 N. Einfügung eines § 143 Abs. 1 S. 1a GVG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 485 O. Ergänzung der Nr. 76 RiStBV um Absatz 3 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 485 Anhang 

486

Anhang 1: Leitfaden  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 486 Anhang 2: Exposé . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 488 Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 490 Stichwortverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 505

Tabellenverzeichnis Tabelle 1:

Erledigte Wiederaufnahmeverfahren, Amtsgerichte . . . . . . . . . . . 190

Tabelle 2:

Erledigte Wiederaufnahmeverfahren, Landgerichte 2. Instanz . . . 191

Tabelle 3:

Erledigte Wiederaufnahmeverfahren, Landgerichte 1. Instanz /  OLG-Verfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 191

Tabelle 4:

Wiederaufnahmeanträge in der Bundesrepublik, Amtsgerichte . . . 197

Tabelle 5:

Wiederaufnahmeanträge in der Bundesrepublik, Landgerichte . . . 197

Tabelle 6:

Wiederaufnahmeanträge in Baden-Württemberg, Amtsgerichte . . 198

Tabelle 7:

Wiederaufnahmeanträge in Baden-Württemberg, Landgerichte . . . 198

Tabelle 8:

Wiederaufnahmeanträge in Bayern, Amtsgerichte . . . . . . . . . . . . . 199

Tabelle 9:

Wiederaufnahmeanträge in Bayern, Landgerichte . . . . . . . . . . . . . 199

Tabelle 10:

Wiederaufnahmeanträge in Berlin, Amtsgerichte . . . . . . . . . . . . . 200

Tabelle 11:

Wiederaufnahmeanträge Berlin, Landgerichte . . . . . . . . . . . . . . . . 200

Tabelle 12:

Wiederaufnahmeanträge in Brandenburg, Amtsgerichte . . . . . . . . 201

Tabelle 13:

Wiederaufnahmeanträge in Brandenburg, Landgerichte . . . . . . . . 201

Tabelle 14:

Wiederaufnahmeanträge in Bremen, Amtsgerichte . . . . . . . . . . . . 202

Tabelle 15:

Wiederaufnahmeanträge in Bremen, Landgerichte . . . . . . . . . . . . 202

Tabelle 16:

Wiederaufnahmeanträge in Hamburg, Amtsgerichte . . . . . . . . . . . 203

Tabelle 17:

Wiederaufnahmeanträge in Hamburg, Landgerichte . . . . . . . . . . . 203

Tabelle 18:

Wiederaufnahmeanträge in Hessen, Amtsgerichte . . . . . . . . . . . . . 204

Tabelle 19:

Wiederaufnahmeanträge in Hessen, Landgerichte . . . . . . . . . . . . . 204

Tabelle 20:

Wiederaufnahmeanträge in Mecklenburg-Vorpommern, Amtsgerichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 205

Tabelle 21:

Wiederaufnahmeanträge in Mecklenburg-Vorpommern, Landgerichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 205

Tabelle 22:

Wiederaufnahmeanträge in Niedersachsen, Amtsgerichte . . . . . . . 206

Tabelle 23:

Wiederaufnahmeanträge in Niedersachsen, Landgerichte . . . . . . . 206

Tabelle 24:

Wiederaufnahmeanträge in Nordrhein-Westfalen, Amtsgerichte . 207

Tabelle 25:

Wiederaufnahmeanträge in Nordrhein-Westfalen, Landgerichte  . 207

Tabelle 26:

Wiederaufnahmeanträge in Rheinland-Pfalz, Amtsgerichte . . . . . 208

Tabelle 27:

Wiederaufnahmeanträge in Rheinland-Pfalz, Landgerichte . . . . . 208

18 Tabellenverzeichnis Tabelle 28:

Wiederaufnahmeanträge im Saarland, Amtsgerichte . . . . . . . . . . . 209

Tabelle 29:

Wiederaufnahmeanträge im Saarland, Landgerichte . . . . . . . . . . . 209

Tabelle 30:

Wiederaufnahmeanträge in Sachsen, Amtsgerichte . . . . . . . . . . . . 210

Tabelle 31:

Wiederaufnahmeanträge in Sachsen, Landgerichte . . . . . . . . . . . . 210

Tabelle 32:

Wiederaufnahmeanträge in Sachsen-Anhalt, Amtsgerichte . . . . . . 211

Tabelle 33:

Wiederaufnahmeanträge in Sachsen-Anhalt, Landgerichte . . . . . . 211

Tabelle 34:

Wiederaufnahmeanträge in Schleswig-Holstein, Amtsgerichte . . . 212

Tabelle 35:

Wiederaufnahmeanträge in Schleswig-Holstein, Landgerichte . . . 212

Tabelle 36:

Wiederaufnahmeanträge in Thüringen, Amtsgerichte . . . . . . . . . . 213

Tabelle 37:

Wiederaufnahmeanträge in Thüringen, Landgerichte . . . . . . . . . . 213

Tabelle 38:

Wiederaufnahmeanträge in Bayern im Vergleich zum bundesdeutschen Durchschnitt, Amtsgerichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 215

Tabelle 39:

Wiederaufnahmeanträge in Bayern im Vergleich zum bundesdeutschen Durchschnitt, Landgerichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 215

Tabelle 40:

Übersicht über Anzahl der bearbeiteten Wiederaufnahme­ verfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 226

Abkürzungsverzeichnis a. am a. A. anderer Ansicht a. a. O. am angegebenen Ort Abs. Absatz AG Amtsgericht Alt. Alternative Bd.  Band BRAK Bundesrechtsanwaltskammer BVerfG Bundesverfassungsgericht BVerfGE Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts BVerfGG Bundesverfassungsgerichtsgesetz BGH Bundesgerichtshof BGHSt Entscheidungen des Bundesgerichtshofs in Strafsachen BGHZ Entscheidungen des Bundesgerichtshofs in Zivilsachen BR-Drs. Bundesratdrucksache BR-PlPr. Bundesrat Plenarprotokoll bspw. beispielsweise BT-Drs. Bundestagsdrucksache bzgl. bezüglich bzw. beziehungsweise ca. circa d. h. das heißt DJZ Deutsche Juristenzeitung DRiZ Deutsche Richterzeitung EGMR Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte EGStPO Einführungsgesetz zur Strafprozessordnung EMRK Europäische Menschenrechtskonvention evtl. eventuell f. folgende ff. fortfolgende Fn. Fußnote FPPK Forensische Psychiatrie, Psychologie, Kriminologie FS Festschrift

20 Abkürzungsverzeichnis GA

Goltdammer’s Archiv

gem.

gemäß

GG Grundgesetz GOBT

Geschäftsordnung des Deutschen Bundestages

grds. grundsätzlich GVG Gerichtsverfasungsgesetz Hg. Herausgeber h. M.

herrschende Meinung

HRRS HRR-Strafrecht HS Halbsatz i. d. R.

in der Regel

i. d. S.

in diesem Sinne

i. E.

im Ergebnis

i.F.v.

in Form von / im Fall von

i. R. d.

im Rahmen der / des

i. R.e.

im Rahmen einer / eines

i. S. d.

im Sinne der / des

i. S. v.

im Sinne von

i. V. m.

in Verbindung mit

JA

Juristisches Arbeitsblatt

JGG Jugendgerichtsgesetz JR

Juristische Rundschau

Jura

Juristisches Ausbildung

JuS

Juristische Schulung

JZ

Juristische Zeitung

KrimZ

Kriminologische Zentralstelle

LG Landgericht Lit. Literatur lit. litera max. maximal MDR

Monatsschrift für Deutsches Recht

MiStra

Anordnung über Mitteilungen in Strafsachen

m. M.

Mindermeinung

m. w. N.

mit weiteren Nachweisen

NJW

Neue Juristische Wochenschrift

NK

Neue Kriminalpolitik

Nr. Nummer NStZ

Neue Zeitschrift für Strafrecht

Abkürzungsverzeichnis21 NStZ-RR

Neue Zeitschrift für Strafrecht Rechtsprechungsreport

NZV

Neue Zeitschrift für Verkehrsrecht

o. ä.

oder ähnliches

OLG Oberlandesgericht R & P

Recht und Psychiatrie

RiStBV

Richtlinien für das Strafverfahren und das Bußgeldverfahren

Rspr.

Rechtsprechung

RStPO Reichtsstrafprozessordnung Rz. 

Randziffer

S.

Seite / Satz

s. o.

siehe oben

sog.

sogenannte / sogenannter / sogenanntes

StA Staatsanwaltschaft StGB Strafgesetzbuch StPÄG

Gesetz zur Änderung der Strafprozeßordnung und des Gerichtsverfassungsgesetzes

StPO Strafprozessordnung StPO-E

Entwurf der Strafprozessordnung

str. strittig StraFo

Strafverteidiger Forum

StrEG

Gesetz über die Entschädigung von Strafverfolgungsmaßnahmen

StV Strafverteidiger StVollstrO Strafvollstreckungsordnung StVRG

Gesetz zur Reform des Strafverfahrensrechts

s. u.

siehe unten

SVR Straßenverkehrsrecht tlw. teilweise u. a.

unter anderem

u. U.

unter Umständen

v. a.

vor allem

vgl.

vergleiche

VO Verordnung WAA Wiederaufnahmeantrag wistra

Zeitschrift für Wirtschafts- und Steuerstrafrecht

ZAP

Zeitschrift für die Anwaltspraxis

z. B.

zum Beispiel

z. G.

zugunsten

ZIF

Zentrum für interdisziplinäre Forensik

22 Abkürzungsverzeichnis ZIS Zeitschrift für internationale Strafrechtsdogmatik ZPO Zivilprozessordnung ZRP Zeitschrift für Rechtspolitik ZStW Zeitschrift für die gesamte Strafrechtswissenschaft z. T. zum Teil  z. U. zuungunsten

Teil 1

Rechtliche Grundlagen zum geltenden Wiederaufnahmerecht Das Wiederaufnahmerecht, d. h. die Vorschriften über die außerordentliche gerichtliche Korrekturmöglichkeit strafrichterlicher Entscheidungen nach Eintritt der Rechtskraft1, ist Gegenstand der folgenden Untersuchung. Entsprechend dem in der Praxis wohl am Häufigsten2 vorkommenden Wiederaufnahmegrund der neuen Tatsachen oder Beweismittel propter nova, § 359 Nr. 5 StPO, konzentrieren sich die Ausführungen im Wesentlichen auf diesen. Neben einer Darstellung des materiellen Wiederaufnahmerechts und des Wiederaufnahmeverfahrens wird die Korrelation des Rechtsbehelfs mit den ordentlichen Rechtsmitteln ebenso wie sein verfassungsrechtlicher Rahmen im Folgenden analysiert. Im Mittelpunkt soll die praktische Relevanz des Wiederaufnahmerechts stehen sowie eine Darstellung und Analyse der Hürden, die der Antragsteller3 im Wiederaufnahmeverfahren zu nehmen hat. Hierzu wurden mit Verteidigern, die im Bereich der Wiederaufnahme tätig sind, Leitfadeninterviews geführt und diese ausgewertet. Aufbauend auf den gewonnenen Erkenntnissen werden Reformdiskussionen aufgegriffen und weiterentwickelt, insbesondere zum Begriff der Neuheit des § 359 Nr. 5 StPO.

A. Problemstellung I. Wiederaufnahmeverfahren in der öffentlichen Wahrnehmung Das Wiederaufnahmerecht dient der Korrektur von Fehlurteilen und der Herstellung von Einzelfallgerechtigkeit. Immer wieder lenken spektakuläre Wiederaufnahmeverfahren das Interesse der Öffentlichkeit auf das Wiederaufnahmerecht. Zu diesen zählt in jüngerer Vergangenheit das Verfahren zu1  J. Meyer,

Die Wiederaufnahme in rechtsvergleichender Darstellung, S. 734. gibt es hierzu nicht, vgl. Eisenberg, JR 2007, 360, Fn. 2. 3  Soweit lediglich von dem „Antragsteller“ gesprochen wird, sind selbstverständlich auch weibliche Antragstellerinnen gemeint. Alle maskulinen Personen- und Funktionsbezeichnungen beziehen sich in gleicher Weise auf Frauen und Männer. 2  Zahlen

24

Teil 1: Rechtliche Grundlagen zum geltenden Wiederaufnahmerecht

gunsten Ulvi Kulaçs4, das 2013 angeordnete Wiederaufnahmeverfahren zugunsten Gustl Mollaths5, aber auch die Verfahren zur Entlastung des Lehrers Hans Arnold oder um den Tod des Bauers Rudi Rupp.6 Parallelen zu historischen Verfahren zeugen von der Zeitlosigkeit des Wiederaufnahmerechts.7 Spektakuläre Wiederaufnahmeverfahren infolge der Verurteilung eines vermeintlich oder tatsächlich Unschuldigen rühren am Gerechtigkeitsgefühl der Öffentlichkeit.8 Ihr Vertrauen in die Strafrechtspflege schwindet und das Ansehen des Rechtsstaates leidet stets nach solchen Fällen. Es erscheint daher unbedingt geboten, rechtskräftige Fehlentscheidungen im Wege der ­ Wiederaufnahme des Verfahrens einer erneuten Überprüfung zuzuführen, wenn das Vertrauen in die Rechtsordnung gestärkt werden soll.9 Öffentlich bekannt gewordene Wiederaufnahmeerfolge dürfen jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass eine Wiederaufnahme der Gerechtigkeit nicht immer zum Durchbruch verhelfen kann.10 Die Dunkelziffer nicht korrigierter Fehlurteile dürfte nicht unwesentlich sein.11 In den siebziger Jahren äußerte das Bundesjustizministerium die Vermutung, dass wohl durchschnittlich alle 14 Tage drei Urteile, die sich später als Justizirrtum erweisen, rechtskräftig würden.12

4  www.ulvi-kulac.de / index.html,

zuletzt aufgerufen am 31.07.2015. Lakotta, Beate, Der neue Prozess gegen Gustl Mollath, in: Spiegel Online vom 06.07.2014, http: /  / www.spiegel.de / panorama / justiz / gustl-mollath-wiederaufnah meverfahren-beginnt-in-regensburg-a-979168.html (zuletzt aufgerufen am 22.04.2017) und Przybilla, Olaf, Sofortige Freilassung oder geschlossene Psychiatrie, in: Sueddeutsche Online vom 15.07.2013, http: /  / www.sueddeutsche.de / bayern / fall-mollathsofortige-freilassung-oder-geschlossene-psychiatrie-1.1722110 (zuletzt aufgerufen am 22.04.2017). 6  Z.  B. Ahr, Nadine, Herzversagen nach Justizversagen, in: Zeit Online vom 05.07.2012, http: /  / www.zeit.de / 2012 / 28 / Arnold-Justizirrtum (zuletzt aufgerufen am 22.04.2017) und Friedrichsen, Gisela, Schämt sich keiner?, in: Spiegel 9 / 2011, http: /  / www.spiegel.de / spiegel / print / d-77222581.html (zuletzt aufgerufen am 22.04. 2017). 7  Geipel, in: Miebach / Hohmann, Wiederaufnahme in Strafsachen, Teil A, Rz. 3. 8  Jehle, FPPK 2013, 220, 221; Brinkmann, Zum Anwendungsbereich der §§ 359 ff. StPO, S. 19. 9  Neuhaus, StV 2015, 185, 186. 10  So betont etwa Dr. Herbert Veh, PräsLG Augsburg in einem Interview gegenüber der Augsburger Allgemeinen Zeitung, Nr. 218 vom 22.09.2014, S. 13, dass das Wiederaufnahmeverfahren Mollath ein Stück Vertrauen in die Justiz zurückgebracht habe. 11  Neuhaus, StV 2015, 185; auch Hirschberg, Das Fehlurteil im Strafprozeß, S. 127 geht von einer großen Mehrzahl der unschuldig Verurteilten aus, von denen nur ein kleiner Bruchteil Wiederaufnahmeverfahren erfolgreich durchführen können. 12  Gerhardt, ZRP 1972, 121. 5  Z. B.



A. Problemstellung25

Dass es in der Praxis zu Justizirrtümern und Fehlurteilen kommt, ist unbestritten.13 Was man unter diesen Begriffen indes genau versteht, ist unklar. Der Begriff des Justizirrtums ist weiter als der Begriff des Fehlurteils. Unter Justizirrtum sind auch solche fehlerhaften Entscheidungen zu verstehen, die in Form eines Beschlusses ergehen oder die Anordnung einer Maßregel betreffen. Auch fehlerhafte Haftbefehle unterfallen diesem Begriff. Dennoch ist er insoweit unklar, als von einem „Irrtum“ vorsätzliche Fehlurteile nicht umfasst würden. Unklar ist zudem, was genau unter einer Fehlentscheidung zu verstehen ist. Vom Wortlaut ausgehend, wäre jedes Urteil als Fehlurteil zu bezeichnen, dessen Ergebnis bei Kenntnis des tatsächlichen Sachverhalts anders ausgefallen wäre. Weiterhin führen rechtliche Fehler zu einem Fehl­ urteil, ebenso wie unrichtige Urteilsfeststellungen trotz richtigen Ergebnisses. Fehlurteile fällt man jedoch bewusst und gewollt auch in den Fällen und zugunsten des Angeklagten, in denen ein Schuldiger wegen des Grundsatzes in dubio pro reo nicht oder nur aufgrund eines milderen Gesetzes verurteilt werden kann oder ein Unschuldiger richtigerweise bei Anwendung des Zweifelsgrundsatzes hätte freigesprochen werden müssen.14 Der Ausgang eines Verfahrens kann auf mangelnde oder fehlerhafte Ermittlungen15, eine misslungene Beweisaufnahme oder auf unzuverlässige 13  Bundesrichter Eschelbach, geht von Fehlurteilen im zweistelligen Prozentbereich aus, vgl. BeckOK-Eschelbach, § 261 / 67.5. Dies würde bedeuten, dass täglich 650 Fehlurteile gesprochen werden, vgl. Darnstädt, Blind vor Wahrheit, http: /  / www. spiegel.de / panorama / justiz / justizirrtuemer-wie-strafgerichte-daneben-liegen-a-896583. html (zuletzt aufgerufen am 31.08.2015). 14  Vgl. hierzu Kiwit, Fehlurteile im Strafrecht, S. 77 f. und Brinkmann, Zum Anwendungsbereich der §§ 359 ff. StPO, S. 20 ff. Überzeugend scheint die Auffassung von Peters, der davon ausgeht, dass der Begriff des Fehlurteils materielle und prozessuale Merkmale enthält, vgl. Peters, Fehlerquellen im Strafprozeß III, S. 33. Ein Fehlurteil ist demnach ein Urteil, das vom Standpunkt der materiellen Gerechtigkeit aus falsch ist und diese falsche Entscheidung nicht auf zwingenden formellen Vorschriften beruht, vgl. Lange, Fehlerquellen im Ermittlungsverfahren, S. 5. Auch auf den materiellen Fehlurteilsbegriff abstellend, Theobald, Barrieren im strafrechtlichen Wiederaufnahmeverfahren, S. 9. Gründe, die zu einem Fehlurteil führen, können dabei insbesondere sein: Verfahrensfehler, ungerechtes materielles Recht, Fehlen tatsächlicher Gründe für das Urteil, Unverhältnismäßigkeit einer Entscheidung oder unzureichender Schutz der Rechte eines potenziellen Opfers durch staatliche Maßnahmen bzw. Gesetze, vgl. Jehle, FPPK 2013, 220, 222. In Übereinstimmung mit Kleinknecht sind daher solche Entscheidungen falsch, durch die der Angeklagte zu Unrecht verurteilt oder nicht verurteilt wird, wobei es genügt, dass die Entscheidung in einem wesentlichen Teil unrichtig ist, vgl. Kleinknecht, GA 1961, 45, 46. 15  Auf Fehler im Ermittlungsverfahren, wie bspw. einseitig geführte Ermittlungen, hat der Betroffene selbst nur geringen Einfluss. Gerade die Versäumnisse in diesem frühen Verfahrensstadium wirken sich aber oft entscheidend auf den späteren Verlauf eines Verfahrens aus, bspw. indem aus polizeilichen Vernehmungen Vorhalte an Zeugen gemacht werden. Derartige Fehler können im weiteren Verlauf des Verfahrens

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Teil 1: Rechtliche Grundlagen zum geltenden Wiederaufnahmerecht

oder gar manipulierte Beweismittel zurückzuführen sein, auf einer ungenügenden Beweiswürdigung des Gerichts beruhen, ebenso jedoch im Versagen des Verteidigers oder in einem Fehlverhalten des Angeklagten selbst gründen.16 Dennoch dürfte in der öffentlichen Wahrnehmung eine richterliche Fehlentscheidung stets auch von den Strafverfolgungsbehörden zu verantworten sein, obliegt diesen doch die umfassende und objektive Aufklärung eines Sachverhalts.17

II. Möglichkeiten zur Korrektur eines Fehlurteils Wird ein Fehlurteil gefällt, hat der Betroffene verschiedene Möglichkeiten zur Korrektur dieser Entscheidung. Für ihn besteht neben den gängigen ordentlichen Rechtsmitteln der Berufung und Revision18 bei Verletzung spezifischen Verfassungsrechts auch die Möglichkeit eine Verfassungsbeschwerde zu erheben. Bei Verletzung der EMRK oder ihrer Zusatzprotokolle kann zudem eine Individualbeschwerde gem. Art. 34 EMRK zum Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte erhoben werden. Bei dennoch fortbestehender Rechtskraft einer Fehlentscheidung kann der Verurteilte die Wiederaufnahme des Strafverfahrens beantragen.19 auch kaum mehr beseitigt werden, was u. a. daran liegen kann, dass Sachbeweise nicht mehr vorhanden sind. Vgl. hierzu Peters, Fehlerquellen im Strafprozeß II, S. 195. 16  Peters, Fehlerquellen im Strafprozeß II, S. 2, 300; Kiwit, Fehlurteile im Strafrecht, S. 123 ff.; Strate, Der Verteidiger in der Wiederaufnahme, http: /  / www.strate. net / de / publikationen / verteidiger_in_der_wiederaufnahme.html (zuletzt aufgerufen am 13.05.2014). 17  Peters, Fehlerquellen im Strafprozeß I, S. 39, 517. Das Finden eines richtigen Urteils liegt in der Verantwortung sämtlicher (professioneller) Prozessbeteiligter, vgl. Kiwit, Fehlurteile im Strafrecht, S. 123 ff. Die Untersuchung von Kiwit ergab, dass insbesondere Gerichte Fehlurteile zu verantworten haben. Hauptgrund dafür war, dass das Gericht nicht vorurteilsfrei geurteilt hat (so auch Eschelbach, Wiederaufnahmefragen, in: FS Stöckel, S. 203), gefolgt von einer unzureichenden Überprüfung der Zuverlässigkeit und Glaubwürdigkeit von Zeugen. Die Verantwortung der Staatsanwaltschaft für Fehlurteile ist nahezu vergleichbar mit der Verantwortung der Verteidiger (vgl. Kiwit, a. a. O.). Soweit die Verantwortung für ein Fehlurteil bei der Staatsanwaltschaft lag, waren Ursachen insbesondere ungenügende bzw. einseitige Ermittlungen, vgl. Kiwit, Fehlurteile im Strafrecht, S. 142. Zeichnete sich jedoch der Verteidiger verantwortlich, lag das in erster Linie an unzureichender Beschäftigung mit dem Fall im Vorfeld oder fehlerhaftem Verhalten in der Hauptverhandlung, vgl. Kiwit, Fehl­ urteile im Strafrecht, S. 148. 18  Wobei zu bedenken ist, dass über 90 % der zum BGH erhobenen Revision durch einstimmigen Beschluss gem. § 349 StPO entschieden werden, vgl. Fischer / Krehl, StV 2012, 550 m. w. N. 19  Dabei ist jedoch die psychische Belastung nicht zu verkennen, sollte das Verfahren nicht zum Erfolg führen. Führt der Wiederaufnahmeantrag zu einem Erneuerungs-



A. Problemstellung27

Bleiben sämtliche Bemühungen, die Rechtskraft einer richterlichen Entscheidung zu durchbrechen ohne Erfolg, besteht nur noch die Möglichkeit der Herbeiführung eines Gnadenerweises nach Landesrecht.20 Das Gnadenrecht ist jedoch insoweit gegenüber dem Wiederaufnahmerecht unbefriedigend, als es keinen Anspruch auf Gnade, wohl aber einen Anspruch auf Wiederaufnahme des Strafverfahrens gibt.21 Hinzu kommt, dass Gnadenerweise lediglich Auswirkungen auf die laufende Strafvollstreckung haben, jedoch keine Rehabilitation für bereits vollstreckte Strafen bieten.22 Der Gnadenweg beseitigt demnach den Strafausspruch nicht, sondern führt nur zu seiner Nichtvollstreckung.23 Auch löst ein Gnadenerweis keine Entschädigungsansprüche nach dem StrEG aus.24

III. Rechtsinstitut der Wiederaufnahme Nach der Intention des Gesetzgebers ist das Wiederaufnahmeverfahren das Instrument, welches rechtskräftige Fehlurteile korrigieren und im Einzelfall materielle Gerechtigkeit herbeiführen soll.25 Um dies zu erreichen, lässt der Gesetzgeber in den Grenzen der §§ 359 ff. StPO die Durchbrechung der Rechtskraft und der Rechtssicherheit zu.26 Die Wiederaufnahme eines Verfahrens zielt dabei darauf ab, die tatsächlichen Urteilsfeststellungen einer rechtskräftigen, verfahrensabschließenden Entscheidung zu erschüttern. Sie soll den Verurteilten zugleich rehabilitieren.27 Entfällt das Vertrauen in die Richtigkeit der Ausgangsentscheidung, ist also die Wiederaufnahme eröffnet.28

verfahren, muss sich der Betroffene wiederum einer öffentlichen Hauptverhandlung stellen. Zugleich kann das Betreiben eines Wiederaufnahmeverfahrens für den Betroffenen einen erheblichen finanziellen Aufwand bedeuten. 20  Von Hentig spricht bereits 1930 davon, dass „(d)ie Korrektur von gesetzlichen Konstruktionsfehlern und richterlichen Fehlurteilen dem Begnadigungsrecht zu überlassen (…) immer ein Ausweg der Hilflosigkeit (ist) und widerspricht den Grundsätzen des Rechtsstaats.“, vgl. von Hentig, Die Wiederaufnahme des Strafverfahrens dogmatisch und rechtsvergleichend dargestellt, S. 90 f. 21  Funcke, Die Korrektur des Strafausspruches zugunsten des Verurteilten im Wege der Wiederaufnahme des Strafverfahrens, S. 4. 22  Peters, in: FS-Gallas, S. 448. 23  Peters, Strafprozeß, S. 636. 24  Brinkmann, Zum Anwendungsbereich der §§ 359 ff. StPO, S. 26. 25  Eschelbach, in: FS-Stöckel, S. 199. 26  BVerfG NJW 1968, 147, 149; BVerfG NJW 1990, 3193, 3194. 27  Peters, Fehlerquellen im Strafprozeß III, S. 4. 28  Brinkmann, Zum Anwendungsbereich der §§ 359 ff. StPO, S. 77.

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Teil 1: Rechtliche Grundlagen zum geltenden Wiederaufnahmerecht

Dem Rechtsbehelf der Wiederaufnahme ist damit das Spannungsverhältnis zwischen materieller Gerechtigkeit und Rechtssicherheit immanent, die sich beide aus dem Rechtsstaatsprinzip des Art. 20 Abs. 3 GG ableiten.29 Der Gesetzgeber hat sich mit den §§ 359 ff. StPO tendenziell zugunsten der Rechtssicherheit entschieden, da das Wiederaufnahmerecht von dem Grundgedanken beherrscht wird, eine Fehlentscheidung nur dann zu korrigieren, wenn ihre Aufrechterhaltung die Gerechtigkeit erheblich beeinträchtigen würde. Der Gesetzgeber geht damit im Grundsatz davon aus, den öffentlichen Rechtsfrieden mit einer rechtskräftigen, verfahrensabschließenden Entscheidung wiederhergestellt zu haben.30 Wiederaufnahmeverfahren sind daher nur im engen Rahmen der §§ 359 ff. StPO möglich. So sind die gesetzlich normierten Wiederaufnahmegründe in § 359 StPO und § 362 StPO abschließend31 und beruhen sämtlich auf Verfahrens- und Beweismittelmängeln (so etwa die Mängel hinsichtlich der richterlichen Integrität und Beweismittelmängel der Wiederaufnahme propter falsa, § 359 Nr. 1–4 StPO bzw. § 362 Nr. 1–3 StPO) oder Feststellungsmängeln (so im Falle der Wiederaufnahme propter nova, § 359 Nr. 5 StPO bzw. § 362 Nr. 4).32

IV. Praxis der Wiederaufnahme Tatsächlich ist die Anzahl eingereichter Wiederaufnahmeanträge im Vergleich zur Anzahl verfahrensabschließender Entscheidungen verschwindend gering33; zudem scheitern die meisten. Neuhaus spricht davon, dass das Wiederaufnahmerecht faktisch tot sei.34 Marxen / Tiemann berichten, dass die Praxis der Wiederaufnahme in Strafsachen höchst unbefriedigend sei und es keiner empirischen Untersuchung bedürfe, um zu wissen, dass die Misserfolgs29  BVerfG NJW 1995, 2024; BVerfG NJW 2007, 207, 208; BVerfG NJW 1968, 147, 149. 30  BGH NJW 2003, 1261, 1262. 31  MG vor § 359 / 1; KK-Hannich, Vorbemerkungen zu § 359 / 15. Auch die Legislative darf nicht per se neue Wiederaufnahmegründe schaffen, vgl. BVerfGE 2, 380, 403. 32  KK-Schmidt, § 359 / 1; Peters, Fehlerquellen im Strafprozeß III, S. 44; Theobald, Barrieren im strafrechtlichen Wiederaufnahmeverfahren, S. 85; Wasserburg, Die Wiederaufnahme des Strafverfahrens, S. 270; Bericht der Expertenkommission 2015, S. 168, https: /  / www.bmjv.de / SharedDocs / Downloads / DE / PDF / Abschlussbericht_Re form_StPO_Kommission.pdf?__blob=publicationFile&v=2 (zuletzt aufgerufen am 04.04.2016). 33  Vgl. S. 214. 34  Andreas Ulrich, Wer tötete Johanna Schenuit, in: DER SPIEGEL, Ausgabe 25 / 2000, S. 74.



A. Problemstellung29

quote außerordentlich hoch ist.35 Eschelbach / Geipel / Hettinger / Meller / Wille erachten das Wiederaufnahmerecht als unstreitig desaströs.36 Schon 1972 geht Schünemann davon aus, dass die Erfolgschance eines Wiederaufnahmeantrags unter 5 % liegt.37 Eschelbach spricht von einem Promillebereich.38 Die meisten Anträge scheitern bereits auf der Stufe der Zulässigkeit.39 Die eigentliche Hürde der Wiederaufnahmebemühungen sind demnach die hohen Restitutionsvoraussetzungen, die teilweise ohne im Wortlaut des Gesetzes eine Stütze zu finden, durch die Rechtsprechung entwickelt wurden.40 Die Zulässigkeitsprüfung, die von Gesetzes wegen im Vorverfahren41 stattzufinden hat, wird damit zum Knotenpunkt des Wiederaufnahmeverfahrens, wohingegen das Probationsverfahren nicht mehr ist als ein „Durchlauftermin“42 auf dem Weg zum Erneuerungsverfahren. Die neue Hauptverhandlung schließlich beendet das Verfahren ordnungsgemäß, wenngleich das Ergebnis im Regelfall bereits nach dem Aditionsverfahren feststehen dürfte. Schünemann bezeichnet die erneute Hauptverhandlung daher nicht zu Unrecht als „Farce (…), als ein Schauspiel, das nur noch der Erbauung der Öffentlichkeit und daneben vielleicht noch einer effektvollen Rehabilitierung der Verurteilten dient.“43 Die geringen Erfolgsaussichten dürften nicht nur44 an einer restriktiven Anwendung der §§ 359 ff. StPO und einer wiederaufnahmefeindlichen psychologischen Haltung der Rechtsanwender45 bzw. der damit einhergehenden einschränkenden Handhabung geltenden Rechts46 liegen, sondern auch an 35  Marxen / Tiemann,

Die Wiederaufnahme in Strafsachen, Rn. 1. GA 2018, 238. 37  Schünemann, ZStW 84 (1972), 870, 889. 38  BeckOK-Eschelbach, § 261 / 67.3 und Eschelbach / Geipel / Hettinger / Meller /  Wille, GA 2018, 238, 239. 39  v. Stackelberg, in: Festgabe Peters, S. 454. 40  Hier ist etwa die erweiterte Darlegungslast zu nennen, s. u. S. 416. Auch die Enge des Geeignetheitsbegriffs im § 359 Nr. 5 StPO in der gerichtlichen Praxis ist zu erwähnen, ebenso wie zu fragen, aus welcher Perspektive das Wiederaufnahmegericht die Geeignetheit des Vorbringens zu bewerten hat. 41  Das Vorverfahren umfasst neben dem Aditions- auch das Probationsverfahren, vgl. Theobald, Barrieren im strafrechtlichen Wiederaufnahmeverfahren, S. 3. 42  Theobald, Barrieren im strafrechtlichen Wiederaufnahmeverfahren, S. 3. 43  Schünemann, ZStW 84 (1972), 870, 888. 44  Hanack, JZ 1973, 393, 395. Diese Kritik wurde von der Richterschaft in der Vergangenheit offensichtlich für berechtigt erachtet, so jedenfalls berichtet Hanack, JZ 1973, 393, 396. 45  s. hierzu auch unten S. 270 ff. 46  Hanack / Gerlach / Wahle, Denkschrift zur Reform des Rechtsmittelrechts und der Wiederaufnahme, S. 75; vgl. hierzu auch: Geipel, in: Miebach / Hohmann, Wiederaufnahme in Strafsachen, Teil A, Rz. 29 ff.; Eschelbach, HRRS 2008, 190, 198. 36  Eschelbach / Geipel / Hettinger / Meller / Wille,

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Teil 1: Rechtliche Grundlagen zum geltenden Wiederaufnahmerecht

der mangelnden Vertrautheit und Kenntnis des Rechtsinstituts der Wiederaufnahme in der Praxis.47 Sollen Fehlerquellen erkannt und umgangen sowie der wirkliche Sachverhalt ermittelt werden, erscheint es unabdingbar, dass die professionellen Verfahrensbeteiligten über Kenntnisse und Erfahrungen auf dem Gebiet kriminalistischer Hilfswissenschaften verfügen.48 Die Errichtung interdisziplinärer Forschungsstellen, wie etwa die Gründung des Zentrums für interdisziplinäre Forensik (ZIF) im Jahr 201449 an der Johannes Gutenberg Universität, Mainz ist daher wünschenswert. Ob von einer realistischen Chance auf Beseitigung eines Justizirrtums die Rede sein kann, ob der Betroffene gar einen realisierbaren Anspruch auf Wiederaufnahme seines Verfahrens hat, soll Gegenstand der weiteren Untersuchung sein.

B. Voraussetzungen für die Wiederaufnahme eines Strafverfahrens Für die Analyse der wiederaufnahmerechtlichen Praxis erscheint zunächst eine Auseinandersetzung mit der Struktur und den Voraussetzungen des Wiederaufnahmeverfahrens geboten. Im Zentrum der Betrachtung soll dabei der in der Praxis relevanteste Wiederaufnahmegrund des § 359 Nr. 5 StPO stehen.

I. Rechtliche Grundstruktur de lege lata Nach aktuellem Gesetzesstand ist die Wiederaufnahme – mit nur 18 Paragraphen das kürzeste Buch der StPO – ein außerordentlicher Rechtsbehelf.50 Das ergibt sich bereits aus der Tatsache, dass sie, anders als die Rechtsmittel der Berufung oder Revision, per se weder Suspensiv- noch Devolutiveffekt entfaltet.51 Der fehlende Suspensiveffekt ergibt sich aus dem Wortlaut des 47  Marxen / Tiemann,

Die Wiederaufnahme in Strafsachen, Rn. 2. Fehlurteile im Strafrecht, S. 100 f. 49  Das ZIF hat sich zum Ziel gesetzt, die Professionen der Rechtswissenschaft, Psychologie und Kriminologie miteinander zu vernetzen und Kooperationen zu fördern, um interdisziplinäre Zusammenarbeit zu ermöglichen, http: /  / www.zif-forensik. uni-mainz.de (zuletzt aufgerufen am 08.01.2016). 50  Marxen / Tiemann, Die Wiederaufnahme in Strafsachen, Rn. 5. Peters bezeichnet das Wiederaufnahmeverfahren trotz seiner engen Beziehungen zu den ordentlichen Rechtsmitteln als außerordentliches Rechtsmittel, vgl. Peters, Strafprozeß, S. 578. Dem ist jedoch zu widersprechen, da die Wiederaufnahme weder Supsensiv- noch Devolutiveffekt entfaltet, die einem Rechtsmittel immanent sind. 51  SSW-Kaspar, Vor § 359 / 2. Auch der Zulassungsbeschluss hat weder Suspensivnoch Devolutiveffekt. Erst mit der Begründetheitserklärung wird die Rechtskraft der 48  Kiwit,



B. Voraussetzungen für die Wiederaufnahme eines Strafverfahrens 31

§ 360 Abs. 1 StPO, demgemäß ein Urteil i. d. R. weiter vollstreckt wird52, und legt andererseits nahe, dass die vom Antragsteller angegriffene rechtskräftige Entscheidung als richtig vermutet wird. Gem. § 360 Abs. 2 StPO kann das gem. § 140a GVG zuständige Gericht53 jedoch einen Aufschub sowie die Unterbrechung der Vollstreckung der Freiheitsstrafe anordnen. ­ Diese Entscheidung, die von Amts wegen ergeht, steht im Ermessen des Gerichts.54 Das Gericht hat dabei den Strafanspruch des Staates und die Sicherheitsinteressen der Öffentlichkeit gegenüber der Gefahr irreparabler ­ Auswirkungen für den Betroffenen, insbesondere einer Vertiefung der Rechts­verletzung in Art. 2 Abs. 2 S. 2 GG, abzuwägen. Maßgeblich für die Entscheidung ist, ob eine hohe Wahrscheinlichkeit für den Erfolg des Wiederaufnahmeantrages anzunehmen ist55, die weitere Vollstreckung der Entscheidung demnach als bedenklich erschiene.56 Für die Einleitung eines Wiederaufnahmeverfahrens ist ein rechtskräftiges57 Sachurteil58 Voraussetzung, ebenso wie ein den §§ 360 Abs. 1, 361 Abs. 1, 364 S. 1, 365, 366 StPO entsprechender Antrag. Antragsteller kann dabei gem. § 365 StPO neben dem Verurteilten bzw. dessen Verteidiger gem. §§ 296, 297 StPO auch die Staatsanwaltschaft sein. In formeller Hinsicht muss der Antrag gem. § 366 Abs. 1 StPO einen oder mehrere WiederaufnahAusgangsentscheidung beseitigt, so dass eine neue verfahrensabschließende Entscheidung erforderlich ist, vgl. Theobald, Barrieren im strafrechtlichen Wiederaufnahmeverfahren, S. 13. 52  Auch im Fall eines Zulassungsbeschlusses gem. § 368 StPO wird das Urteil grds. weiter vollstreckt, vgl. SSW-Kaspar, § 360 / 1. Die Vollstreckung wird erst durch die Anordnung der erneuten Hauptverhandlung gem. § 370 Abs. 2 StPO aufgeschoben, vgl. a. a. O. 53  Im Fall einer Beschwerde gegen einen gem. §§ 368 Abs. 1, 370 Abs. 1 StPO ergangenen Beschluss, geht die Zuständigkeit auf das Beschwerdegericht über, vgl. SSW-Kaspar, § 360 / 5. 54  SSW-Kaspar, § 360 / 2. 55  KMR-Eschelbach, § 360 / 17 ff. 56  SSW-Kaspar, § 360 / 4; AK-Loos, § 360 / 4; KMR-Eschelbach, § 359 / 19. Zwar reicht aufgrund des Ausnahmecharakters des § 360 Abs. 2 StPO die bloße Zulässigkeit des Antrags für eine Unterbrechung bzw. einen Aufschub der Vollstreckung nicht aus, gleichwohl dürfen die Anforderungen nicht i. S. e. quasi sicheren Erfolges überspannt werden, so dass eine überwiegende Wahrscheinlichkeit des Erfolges des Antrags ausreichend erscheint. SK-Frister, § 360 / 5 f. stellt demgegenüber nicht auf die wahrscheinliche Erfolgsaussicht ab, sondern darauf, ob ein dringender Tatverdacht besteht und andernfalls zu erwarten wäre, dass sich der Verurteilte der weiteren Vollstreckung durch Flucht entziehen würde. Die Maßstäbe des § 112 StPO werden insoweit übernommen. 57  Str., a. A. Peters, Fehlerquellen im Strafprozeß III, S. 111, der ein Vor-Wiederaufnahmeverfahren dem Wiederaufnahmeverfahren voranstellt. 58  Str., s. S. 36.

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Teil 1: Rechtliche Grundlagen zum geltenden Wiederaufnahmerecht

megründe und die dazugehörigen Beweismittel anführen. Abhängig davon, ob die Wiederaufnahme zugunsten des Verurteilten (pro reo) oder zuungunsten des Angeklagten (contra reum) des Verurteilten angestrebt wird, müssen die weiteren Voraussetzungen der §§ 359 bzw. 362 StPO vorliegen. Die beiden Wiederaufnahmekonstellationen unterscheiden sich deutlich voneinander59 und stehen in einem Stufenverhältnis zueinander.60 Eine Eigenheit des Wiederaufnahmeverfahrens besteht darin, dass die Verfahrensherrschaft beim Angeklagten liegt.61 Während dieser im regulären Erkenntnisverfahren die Erhebung von Beweisen im Rahmen des § 244 StPO beantragen kann, im Wesentlichen jedoch das Gericht zur Sachaufklärung verpflichtet ist, zeichnet sich das Wiederaufnahmeverfahren dadurch aus, dass die Verfahrensherrschaft und Verpflichtung zur Sachverhaltsaufklärung beim Antragsteller liegt. Er selbst beherrscht das Verfahren. Damit ist es ähnlich ausgestaltet wie ein Zivilprozess.62 Der Antragsteller hat umfassende Darlegungs- und Beweisführungslasten. Das Prinzip der Wahrheitsermittlung des § 244 Abs. 2 StPO rückt mit der Rechtskraft des Urteils in den Hintergrund. Die Verfahrensbeteiligten wechseln vielmehr die Rollen: Während der Verteidiger zum Ermittler wird, werden die Ermittlungsbehörden zu Verteidigern der Rechtskraft.63 Grund für diesen strukturellen Rollentausch nach Rechtskraft eines Urteils ist, dass das vom Gesetzgeber mit einem Strafverfahren unter anderem angestrebte Ziel der Wiederherstellung des öffentlichen Rechtsfriedens mit der Rechtskraft eines Urteils als erreicht gilt. Der Gesetzgeber geht davon aus, dass sich mit der Rechtskraft eines Urteils das öffentliche Interesse dahingehend ändert, dass nunmehr das Urteil – dessen Richtigkeit vermutet wird – aufrechterhalten werden soll. Der Gesetzgeber betrachtet die Rehabilitation eines Verurteilten also als private Angelegenheit, zu der dem Verurteilten zwar Rechtspflegeorgane zur Verfügung gestellt werden müssen, um ein 59  Dies gilt v. a. im Hinblick auf die Wiederaufnahmegründe. So gibt es keinen allgemeinen Wiederaufnahmegrund propta nova i. R. d. § 362 StPO. Im Einzelnen s. S. 90. 60  SSW-Kaspar, Vor § 359 / 20. Zur verfassungsrechtlichen Asymmetrie s. S. 140 ff. 61  OLG Hamm NStZ-RR 2014, 215. 62  Die StPO kennt erhöhte Darlegungsanforderungen wie im Wiederaufnahmeverfahren auch im Bereich der Wiedereinsetzung, dem Revisions- und dem Klageerzwingungsverfahren. Eine Parallele zum Zivilprozess vehement ablehnend Theobald, Barrieren im strafrechtlichen Wiederaufnahmeverfahren, S. 120 f. Dabei argumentiert Theobald wenig überzeugend mit der „grundsätzlichen Verschiedenheit“ der Verfahren, u. a. im Hinblick auf die Prozesswirklichkeit, aber auch hinsichtlich der Ziele und Aufgaben der Prozessarten. 63  Strate, Der Verteidiger in der Wiederaufnahme, http: /  / www.strate.net / de / publi kationen / verteidiger_in_der_wiederaufnahme.html (zuletzt aufgerufen am 13.05.2014).



B. Voraussetzungen für die Wiederaufnahme eines Strafverfahrens 33

rechtsstaatlich geordnetes Verfahren zu garantieren, das jedoch erst dann Gegenstand des öffentlichen Interesses wird, wenn es dem Verurteilten gelingt, die Vermutung der Richtigkeit der Urteilsfeststellungen zu erschüttern.64

II. Ablauf des Wiederaufnahmeverfahrens Das Wiederaufnahmeverfahren zeichnet sich durch eine Zweistufigkeit aus.65 Nach dem Aditions- und dem Probationsverfahren folgt eine neue Hauptverhandlung (sog. Erneuerungsverfahren66), die jedoch unabhängig vom Wiederaufnahmeverfahren ist und deshalb nicht als dritte Stufe des Verfahrens bezeichnet werden kann.67 Die terminologische Unterscheidung zwischen dem „Wiederaufnahmeverfahren“, bestehend aus Adition und Probation zur Prüfung der Voraussetzungen einer etwaigen Durchbrechung der materiellen Rechtskraft, und dem „Erneuerungsverfahren“ zur Herbeiführung einer unabhängigen Entscheidung in der Sache, erscheint daher naheliegend. Im Aditionsverfahren wird gem. § 368 StPO vom gem. § 367 Abs. 1 S. 1 StPO zuständigen Wiederaufnahmegericht über die Zulässigkeit und Schlüssigkeit des Antrags entschieden (§§ 366–368 StPO). Die Zulässigkeitsanforderungen ergeben sich dabei aus § 368 Abs. 1 StPO. Bereits im Aditionsverfahren muss der Antrag zwingend gem. § 368 Abs. 1 StPO als unzulässig verworfen werden, wenn er nicht der vorgeschriebenen Form entspricht, in ihm kein Wiederaufnahmegrund der §§ 359, 362 StPO vorgebracht oder kein geeignetes Beweismittel angeführt wird. Erachtet das Wiederaufnahmegericht den Antrag als zulässig, wird er der Gegenseite unter Fristsetzung zur Stellungnahme zugestellt. Erst wenn der Antrag durch Beschluss gem. § 368 StPO zugelassen wurde68, werden die vorgebrachten Beweise gem. § 369 StPO – soweit erfor64  Marxen / Tiemann, Die Wiederaufnahme in Strafsachen, Rn. 8 ff. Eine identische Rollenverteilung findet sich im StrEG. 65  Unter dem Begriff „Wiederaufnahmeverfahren“ ist dabei das Verfahren über die Entscheidung der Erneuerung einer Hauptverhandlung zu verstehen. Die weitere, unabhängige Stufe stellt die neue Verhandlung dar (so auch MG vor § 359 / 3, der die neue Verhandlung nicht mehr als Teil des Wiederaufnahmeverfahrens betrachtet). Wie hier auch AnwK-Rotsch, Vorbemerkung §§ 359 ff. / 3. 66  Wasserburg, Die Wiederaufnahme des Strafverfahrens, S. 50. 67  Ebenso im Revisionsrecht: die erneute Hauptverhandlung nach Zurückverweisung wird auch hier nicht als Teil des Revisionsverfahrens betrachtet. So auch MG vor § 359 / 3. 68  KMR-Eschelbach, Vor § 359 / 58 widerspricht dieser h. M. mit dem Gesetzeswortlaut, das einen Zulassungsbeschluss über die Zulässigkeit des Antrages nicht kennt.

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Teil 1: Rechtliche Grundlagen zum geltenden Wiederaufnahmerecht

derlich – erhoben. Auf dieser zweiten Stufe, dem sog. Probationsverfahren, entscheidet das Gericht gem. den Maßstäben der §§ 369, 370 StPO über die Begründetheit des Wiederaufnahmeantrags. Geprüft wird dabei, ob die vorgelegten Fakten das Antragsbegehren stützen. Nach Schluss der richterlichen Beweisaufnahme werden sowohl die Staatsanwaltschaft als auch der Angeklagte unter Bestimmung einer Frist zur Abgabe weiterer Erklärungen aufgefordert, § 369 Abs. 4 StPO. Soweit die angetretenen Beweise keine Bestätigung erfahren haben, wird der Antrag gem. § 370 Abs. 1 StPO als unbegründet verworfen. Erachtet das Wiederaufnahmegericht den Antrag jedoch für begründet, ordnet es gem. § 370 Abs. 2 StPO die Wiederaufnahme des Verfahrens und eine erneute Hauptverhandlung an. Das Verfahren befindet sich damit im Stadium des Hauptverfahrens69 nach Erlass des Eröffnungsbeschlusses.70 Ausnahmsweise können Aditions- und Probationsentscheidung zusammenfallen, wenn beispielsweise der im Wiederaufnahmeantrag vorgetragene Umstand aktenkundig und deshalb eine Beweisaufnahme gem. § 369 StPO entbehrlich ist.71 Im Anschluss folgt im Regelfall72 die neue Hauptverhandlung entsprechend den Regeln eines erstinstanzlichen Verfahrens gem. §§ 226 ff. StPO, die jedoch „spannungsarm“73 verläuft. Im Verfahrensabschluss bestehen gem. § 373 StPO hinsichtlich der Tenorierung Besonderheiten. Auch für die Durchführung des Wiederaufnahmeverfahrens sollen die Anforderungen des Beschleunigungsgebots im Falle einer Freiheitsentziehung gelten.74 Dem Beschleunigungsgebot ist im Regelfall nur dann Genüge getan, wenn innerhalb von drei Monaten nach der Wiederaufnahmeentscheidung, die funktionell an die Stelle des Eröffnungsbeschlusses tritt, mit der erneuten Hauptverhandlung begonnen wurde.75

III. Zulässigkeit des Wiederaufnahmeantrags Voraussetzung für den Erfolg eines Wiederaufnahmeantrags ist zunächst dessen Zulässigkeit. Gerade an dieser Hürde scheitern jedoch die meisten Wiederaufnahmebegehren. 69  MG

vor § 359 / 2. § 370 / 10. 71  OLG Brandenburg NStZ-RR 2010, 22. 72  Lediglich im Fall des § 371 StPO bedarf es keiner neuen Hauptverhandlung. 73  Schwenn, StV 2010, 705, 710. 74  BVerfG NJW 2012, 513, 515. 75  BVerfG NJW 2012, 513. 70  MG



B. Voraussetzungen für die Wiederaufnahme eines Strafverfahrens 35

1. Allgemeine Zulässigkeitsvoraussetzungen76 Unabhängig davon, ob ein Wiederaufnahmeverfahren zugunsten des Verurteilten oder zuungunsten des Angeklagten angestrebt wird, müssen die allgemeinen Zulässigkeitsvoraussetzungen vorliegen. Dazu gehören neben der Zulässigkeit des Rechtswegs gem. § 13 GVG auch die Verhandlungsfähigkeit des Antragstellers und das Nichtvorliegen einer anderweitigen Rechtshängigkeit bzw. rechtskräftigen Entscheidung. Für die Wiederaufnahme zugunsten des Verurteilten gilt die Besonderheit, dass sein Rehabilitationsinteresse die Durchführung des Verfahrens auch dann gebieten kann, wenn ein Verfahrenshindernis vorliegt oder eine allgemeine Prozessvoraussetzung fehlt. § 361 StPO ist daher analog auf Fälle der fehlenden Verhandlungsfähigkeit, der Vollstreckungsverjährung oder auf Fälle der Begnadigung oder Amnestie anwendbar.77 Da das Recht auf Rehabilitation nicht verjährt, geht das Rehabilitationsinteresse des Verurteilten auch gegenüber der Verfolgungsverjährung vor.78 Umgekehrt hindert die Verfolgungsverjährung eine Wiederaufnahme zuungunsten des Angeklagten.79

76  Diese können, im Gegensatz zu den besonderen Zulässigkeitsvoraussetzungen, unabhängig von der Antragszielrichtung beurteilt werden, vgl. Alexander, in: Miebach / Hohmann, Wiederaufnahme in Strafsachen, Teil F, Rz. 4. 77  Vgl. SSW-Kaspar, § 361 / 1 m. w. N.; LR-Gössel, Vor § 359 / 112 und MG § 361 / 1. Dies ergibt sich aus dem Grundgedanken des § 361 StPO, demgemäß der Wiederaufnahme weder eine bereits erfolgte Strafvollstreckung noch der Tod des ­Verurteilten entgegenstehen. § 361 StPO ist daher auch analog bei Verhandlungsun­ fähigkeit des Verurteilten (LR-Gössel, Vor § 359 / 112; AK-Loos, § 361 / 9; a. A. OLG Frankfurt NJW 1983, 2398, das § 206a StPO für anwendbar erachtet; KK-Schmidt, § 361 / 7), bei Vorliegen einer Vollstreckungsverjährung gem. § 79 StGB, bei Begnadigung oder Amnestie anzuwenden (KK-Schmidt, § 361 / 1; MG § 361 / 1; LR-Gössel, Vor § 359 / 113 f.). 78  KK-Schmidt, § 361 / 1; HK-Temming, § 361 / 1. 79  OLG Nürnberg NStZ 1988, 555 f.; KK-Schmidt, § 362 / 7; MG § 362 / 1. Daran ändert auch ein freisprechendes Urteil innerhalb der gem. § 78a StGB zu bestimmenden Verjährung nichts, denn weder beendet eine derartige Entscheidung die Verfolgungsverjährung, so dass mit einem Beschluss gem. § 370 Abs. 2 StPO auch keine neue Verjährungsfrist anläuft (so aber BGH MDR 1973, 191; OLG Düsseldorf NJW 1988, 2251, 2252; LR-Gössel, § 362 / 3; Gössel, NStZ 1988, 537 f.) noch führt sie gem. § 78b StGB zu einem Ruhen der Verjährung (so aber Lackner / Kühl § 78 / 7; Lenzen JR 1988, 520, 521). Der Freigesprochene ist in diesem Fall gleichzustellen mit einem Täter, der durch die Verjährung dergestalt profitiert, dass gegen ihn keine Strafverfolgung eingeleitet werden kann (OLG Nürnberg NStZ 1988, 555, 556; KKSchmidt, § 362 / 7; SS-Bosch / Sternberg-Lieben § 78a / 15).

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Teil 1: Rechtliche Grundlagen zum geltenden Wiederaufnahmerecht

a) Statthaftigkeit Gem. §§ 359, 362, 373a StPO kann sich der Antrag auf Wiederaufnahme gegen rechtskräftige Urteile und Strafbefehle richten.80 Entscheidungen in diesem Sinne sind Sachurteile, nicht jedoch Prozessurteile81, die mangels Sachentscheidung und Strafklageverbrauch auch keine materielle Rechtskraft entfalten.82 b) Zuständigkeit des Wiederaufnahmegerichts Der Antrag auf Wiederaufnahme des Verfahrens ist bei dem gem. §§ 367 Abs. 1 S. 1 StPO, 140a GVG zuständigen Gericht oder gem. § 367 Abs. 1 S. 2 StPO beim Tatgericht einzureichen.83 § 140a GVG regelt neben der sachlichen und funktionalen Zuständigkeit in § 140a Abs. 1 GVG auch die örtliche Zuständigkeit in § 140a Abs. 2–6 GVG.84 aa) Örtliche Zuständigkeit Die örtliche Zuständigkeit wird gem. § 140a Abs. 2 GVG zu Beginn eines Geschäftsjahres vom Präsidium des Oberlandesgerichts bestimmt. Diese Re80  Nicht statthaft ist ein Wiederaufnahmeverfahren im Verfahren nach §§ 109 ff. StVollzG, vgl. OLG Rostock NStZ-RR 2012, 359 und OLG Hamburg NStZ 2001, 391. Auch Beschlüsse gem. §§ 153, 153a StPO sollen im Wege der Wiederaufnahme nach h. M. nicht anfechtbar sein. Teilweise wird eine analoge Anwendung befürwortet, da Beschlüsse gem. §§ 153, 153a, 349 Abs. 2 und 4 StPO ein Strafverfahren nicht nur wie ein Urteil beenden, sondern wie dieses auch materiell rechtskräftig werden und eine Sachentscheidung beinhalten. Eine spätere Korrektur wäre demnach, außer über die Vorschriften der § 359 ff. StPO, nicht möglich. Im Fall des § 153a StPO ist jedoch zu sehen, dass kein Strafklageverbrauch eintritt, wenn sich die Tat später als Verbrechen darstellt. Eine Verfahrenseinstellung gem. §§ 153, 153a StPO stellt auch keine Beschwer für den Betroffenen dar, vgl. LG Baden-Baden NStZ 2004, 513. 81  Str., so MG Vor § 359 / 4 und KMR-Eschelbach, Vor § 359 / 16. Bei Prozessurteilen, die lediglich zu einer formellen Rechtskraft führen, besteht auch kein Bedarf für die Anwendung der §§ 359 ff. StPO, da sie eine spätere Fortführung des Verfahrens nicht ausschließen. Kaspar spricht sich für eine Wiederaufnahmefähigkeit nur solcher Prozessurteile aus, die zu einer endgültigen Verfahrensbeendigung geführt haben, vgl. SSW-Kaspar, Vor § 359 / 29. So auch KK-Hannich, Vorbemerkungen zu § 359 / 10, der die Anwendbarkeit der § 359 ff. StPO für solche Einstellungsurteile annimmt, die eine Sachentscheidung enthalten. Eingehend hierzu Brinkmann, Zum Anwendungsbereich der §§ 359 ff. StPO, S. 161 ff. 82  LR-Gössel, Vor § 359 / 42. 83  Grüner / Wasserburg, NStZ 1999, 286. 84  AK-Loos, § 367 / 4.



B. Voraussetzungen für die Wiederaufnahme eines Strafverfahrens 37

gelung war bereits Gegenstand einer verfassungsgerichtlichen Entscheidung85 und erscheint vor dem Grundsatz des gesetzlichen Richters, Art. 101 Abs. 1 S. 2 GG, als verfassungsrechtlich bedenklich. Die Notwendigkeit einer gesetzlichen Grundlage für die Bestimmung der örtlichen Zuständigkeit entfällt nicht mit Rechtskraft einer Entscheidung. Hinzu kommt, dass mangels Publizitätszwang die Zuweisungen der Wiederaufnahmeverfahren gem. § 140a Abs. 2 GVG nicht veröffentlicht werden (müssen), und daher für den Antragsteller keinerlei Transparenz bei der örtlichen Zuständigkeit besteht.86 Dennoch wird die Regelung des § 140a Abs. 2 GVG vom Bundesverfassungsgericht aufgrund der Verschiedenartigkeit der Gerichte hinsichtlich Organisation, Größe und Umfang der Geschäftslast als verfassungsgemäß betrachtet.87 Mit der Einführung des § 140a Abs. 2 GVG 1974 wurde somit erstmals die örtliche Zuständigkeit nicht allgemein durch Gesetz, sondern durch ein Organ der gerichtlichen Selbstverwaltung bestimmt.88 Eine Veröffentlichungspflicht des entsprechenden Geschäftsverteilungsplanes erscheint in jedem Fall de lege ferenda geboten.89 bb) Sachliche Zuständigkeit Sachlich entscheidet über den Wiederaufnahmeantrag nach § 140a Abs. 1 S. 1 GVG ein anderes gleichrangiges, erstinstanzliches Gericht als das ursprünglich sachlich zuständige Ausgangsgericht.90 Anderes Gericht i. S. d. § 140a GVG ist demnach ein anderes Amts- oder Landgericht im Oberlandesgerichtsbezirk.91 Das in § 140a GVG zum Ausdruck kommende Gebot der Ortsferne ergänzt § 23 Abs. 2 StPO92, demgemäß der Richter, der an der Grundentscheidung mitgewirkt hat, von Gesetzes wegen von der Entschei85  BVerfG Beschluss vom 07.05.1987, Az. 2 BvR 410 / 87, in: BeckRS 1987, 06412. 86  AK-Loos, § 367 / 12; Feiber, NJW 1986, 699, 700. Für eine Transparenz auch LR-Franke, § 140a GVG / 7a. 87  BVerfG Beschluss vom 07.05.1987, Az. 2 BvR 410 / 87, in: BeckRS 1987, 06412. A. A. Feiber, NJW 1986, 699 und Weiler, NJW 1996, 1042 ff. 88  Feiber, NJW 1986, 699. 89  AK-Loos, § 367 / 12. 90  Ausnahmen hiervon bilden lediglich die in § 140a Abs. 3–6 GVG geregelten Fälle, und wenn sich die Wiederaufnahme gegen ein Berufungsurteil richtet, in dem die Berufung gem. § 322 Abs. 1 S. 2 StPO oder § 329 Abs. 1 StPO verworfen wurde. In diesem Fall ist das Amtsgericht zuständig. 91  Wasserburg, Die Wiederaufnahme des Strafverfahrens, S. 229. 92  Der zum 01.04.1965 mit dem Gesetz zur Änderung der StPO und des GVG (StPÄG) vom 19.12.1964 inkraftgetreten ist, BGBl. Nr. 63, Jahrgang 1964, Teil I, S. 1074.

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Teil 1: Rechtliche Grundlagen zum geltenden Wiederaufnahmerecht

dung im Wiederaufnahmeverfahren ausgeschlossen ist.93 Diese Regelungen sollen bei dem Verurteilten den Eindruck vermeiden, ihm stünde ein voreingenommener Richter gegenüber und mithin Objektivität gewährleisten.94 Zugleich dient der Richterausschluss bzw. -austausch der Beseitigung einer wahrscheinlichen Fehlerquelle von Fehlurteilen.95 In der Literatur geht man indes davon aus, dass der Wechsel des Wiederaufnahmegerichts mit § 140a GVG und des Wiederaufnahmerichters mit § 23 Abs. 2 StPO Wiederaufnahmegesuche erschwert hätten, weil sich der neue Richter für das bestehende Urteil nicht verantwortlich fühle und nicht wisse, ob beigebrachte Umstände neu seien.96 Tatsächlich hatte sich der Gesetz­ geber zunächst auch für eine Wiederaufnahme beim iudex a quo entschieden. Begründet wurde dies damit, dass dem Gericht kein ursprünglicher Fehler vorgehalten werde, sondern ein Umstand, der sich erst im Nachhinein ergeben hätte.97 Im Interesse einer objektiven und unvoreingenommenen Entscheidung im Wiederaufnahmeverfahren ist jedoch die Regelung des § 140a GVG als Ergänzung des § 23 Abs. 2 StPO zu begrüßen und sollte beibehalten werden. cc) Zuständigkeit der Staatsanwaltschaft Mit dem Prinzip der Ortsferne geht nach dem gesetzlichen Grundgedanken auch die Mitwirkung einer anderen Staatsanwaltschaft einher.98 Zuständig im Wiederaufnahmeverfahren ist gem. § 143 GVG diejenige Staatsanwaltschaft, die bei dem gem. § 367 StPO i. V. m. § 140a GVG zuständigen Wiederaufnahmegericht ansässig ist. 93  Nicht ausgeschlossen ist jedoch eine Mehrfachbefassung im Wiederaufnahmeverfahren selbst, vgl. Brandt-Janczyk, Richterliche Befangenheit durch Vorbefassung im Wiederaufnahmeverfahren, S. 35. Die BRAK hatte bereits 1971 geäußert, dass allein die Regelung des § 23 Abs. 2 StPO nicht ausreichend sei, um der Besorgnis einer Richtersolidarität vollständig entgegenzuwirken. Angeregt wurde daher im Hinblick auf solche Verfahren, die im besonderen Lichte der Öffentlichkeit standen, dem Antragsteller die Möglichkeit einzuräumen, auf entsprechenden Antrag die Sache an ein anderes Gericht zu verweisen, um eine objektive Prüfung zu gewährleisten. Vgl. Hanack / Gerlach / Wahle, Denkschrift zur Reform des Rechtsmittelrechts und der Wiederaufnahme, S.  101 f. 94  Wasserburg, Die Wiederaufnahme des Strafverfahrens, S. 229. 95  Brandt-Janczyk, Richterliche Befangenheit durch Vorbefassung im Wiederaufnahmeverfahren, S. 16. 96  Peters, Strafprozeß, S. 46; Eschelbach / Geipel / Hettinger / Meller / Wille, GA 2018, 238, 245, die jedoch in der Dokumentation der Hauptverhandlung eine Abhilfemöglichkeit sehen. 97  KMR-Eschelbach, Vor § 359 / 21 m. w. N. 98  LR-Franke, § 140a GVG / 13.



B. Voraussetzungen für die Wiederaufnahme eines Strafverfahrens 39

Die Staatsanwaltschaft, die mit dem Verfassen der Anklage betraut war, ist lediglich mit der Vollstreckung des mit dem Antrag angefochtenen Urteils befasst.99 Gem. RiStBV Nr. 170 Abs. 1 soll in der Regel der Staatsanwalt, der die Anklage verfasst oder an der Hauptverhandlung teilgenommen hat, in dem vom Verurteilten beantragten Wiederaufnahmeverfahren nicht mitwirken. Es handelt sich dabei jedoch um eine bloße Sollvorschrift. Sie kann nach h. M. keinen Ausschluss des früher mit der Sache befassten Staatsanwalts begründen.100 Jedoch entspricht es gängiger Praxis, dass die am Ausgangsverfahren mitwirkende Staatsanwaltschaft, ebenso wie die Polizei, an Stellungnahmen der nunmehr mit dem Wiederaufnahmeverfahren betrauten Staatsanwaltschaft, beteiligt werden.101 Dass dies nicht dem Willen des Gesetzgebers entsprechen kann, liegt auf der Hand. Es gibt daher zu denken, wenn die zwingende Ausschließung des an der Verurteilung mitwirkenden Staatsanwalts – anders als die des Richters, § 23 Abs. 2 StPO – nicht gesetzlich geregelt ist. Auch die am Wiederaufnahmeverfahren mitwirkende Staatsanwaltschaft sollte dem Verfahren aber gänzlich unbefangen gegenüberstehen.102 Bereits die Regelungen der § 140a GVG und § 23 Abs. 2 StPO belegen, dass der Gesetzgeber beabsichtigte, jeden bösen Anschein zu vermeiden und nur den Richter im Wiederaufnahmeverfahren entscheiden zu lassen, der mit der angefochtenen Entscheidung nicht befasst war. Der Fairnessgrundsatz gebietet, dass auch der Staatsanwalt des Erstverfahrens an der Mitwirkung am Wiederaufnahmeverfahren ausgeschlossen ist. Insoweit verbietet sich auch eine Rücksprache des staatsanwaltschaftlichen Sachbearbeiters mit dem vormaligen Dezernenten.103 Für eine Einflussnahme oder Mitwirkung der Staatsanwaltschaft des Ausgangsverfahrens ist vor diesem Hintergrund kein Raum. Eine gesetzliche Regelung, die den Ausschluss des Anklägers garantiert, wie sie bereits etwa in den Niederlanden existiert, sollte auch in die StPO integriert werden.104 Für sie sprach sich auch Hanack aus.105

99  MG

§ 367 / 2.

100  LR-Gössel,

§ 365 / 4; MG § 365 / 2; Wasserburg, Die Wiederaufnahme des Strafverfahrens, S. 234. 101  KK-Schmidt, § 365 / 3. 102  Wasserburg, Die Wiederaufnahme des Strafverfahrens, S. 234. 103  KMR-Eschelbach, § 367 / 16. 104  J. Meyer, Die Wiederaufnahme in rechtsvergleichender Darstellung, S. 761; Knoche, DRiZ 1971, 299, 301; KMR-Eschelbach, § 367 / 16. 105  Hanack, JZ 1973, 393, 400.

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Teil 1: Rechtliche Grundlagen zum geltenden Wiederaufnahmerecht

dd) Distanz zu Beteiligten des Vorverfahrens Im Interesse eines objektiven und fairen Verfahrens sollte sich das Wiederaufnahmegericht jedenfalls so weit als möglich von den Personen und Institutionen distanzieren, die an dem Zustandekommen der Ausgangsentscheidung beteiligt waren. Dies gilt insbesondere auch für die Ermittlungspersonen der Staatsanwaltschaft, § 152 GVG, deren Arbeit im Ermittlungsverfahren oftmals weichenstellend und von erheblichen Defiziten geprägt war.106 ee) Rechtsgedanke des § 210 Abs. 3 StPO In diesem Zusammenhang fällt auf, dass in § 372 StPO keine dem § 210 Abs. 3 StPO entsprechende Regelung enthalten ist. Demnach ist der Richter, dessen (ablehnende) Entscheidung über die Zulässigkeit oder Begründetheit in der Beschwerdeinstanz aufgehoben wurde, von der Mitwirkung im weiteren Verfahren nicht ausgeschlossen. § 210 Abs. 3 S. 1 StPO soll – wie § 354 Abs. 2 StPO – sicherstellen, dass das erkennende Gericht nicht durch die Aufhebung einer Entscheidung belastet ist und die Unbefangenheit des erkennenden Gerichts sichern. Die Durchführung der Hauptverhandlung vor einem anderen Spruchkörper ist jedoch nicht zwingend, sondern möglich.107 Steht zu besorgen, dass der bisher mit der Sache befasste Richter sich bereits festgelegt hat, kann das Beschwerdegericht unter analoger Anwendung des § 210 Abs. 3 S. 1 StPO bestimmen, dass die Hauptverhandlung vor einem anderen Gericht stattzufinden hat.108 Die Entscheidung über die Wiederaufnahme eines Verfahrens und diejenige über die Eröffnung des Hauptverfahrens sind auch vergleichbar, da es sich bei beiden um Vorschaltverfahren vor einer Hauptverhandlung handelt.109 Unverständlich erscheint, weshalb der Gesetzgeber, der mit Einführung der §§ 23 Abs. 2 StPO und 140a GVG der Gefahr der Voreingenommenheit vorbeugen wollte110, eine dem § 210 Abs. 3 StPO entsprechende Regelung im Wiederaufnahmeverfahren nicht eingeführt hat. In Fortführung des in 106  Püschel,

StraFo 2015, 269 ff. § 210 / 12. 108  OLG Nürnberg NJW 2013, 2692, 2694 f. unter Hinweis darauf, dass das Wiederaufnahmeverfahren Parallelen zum Verfahren über die Eröffnung des Hauptverfahrens gem. §§ 203 ff. StPO aufweise, da es sich bei beiden um Vorschaltverfahren vor einer Hauptverhandlung handle. Ablehnend hingegen OLG Frankfurt a. M. NStZ-RR 2008, 378. 379. 109  OLG Nürnberg NJW 2013, 2692, 2694 f. 110  Wasserburg, Die Wiederaufnahme des Strafverfahrens, S. 229. 107  KK-Schneider



B. Voraussetzungen für die Wiederaufnahme eines Strafverfahrens 41

§ 23 Abs. 2 StPO und § 140a GVG zum Ausdruck kommenden Gedankens wäre eine entsprechende Regelung de lege ferenda wünschenswert. c) Antragsberechtigung sowie Antrags- und Mitwirkungspflichten der Staatsanwaltschaft Für das Betreiben eines Wiederaufnahmeverfahrens ist de lege lata ein Antrag erforderlich. Ein Betreiben von Amts wegen kennt das Gesetz nicht.111 Antragsberechtigt ist der Verurteilte112, §§ 365 i. V. m. 296 Abs. 1 StPO und sein Verteidiger, §§ 365 i. V. m. 297 StPO, ebenso wie die in § 361 Abs. 3 StPO und § 47 Abs. 3 JGG genannten Personen. Der Verteidiger darf jedoch nicht gegen den Willen seines Mandanten die Wiederaufnahme des Verfahrens beantragen. Nicht mehr antragsberechtigt ist der Nebenkläger seit 1986 mit der Änderung des § 397 Abs. 1 StPO.113 Dieser kann erst nach der Wiederaufnahme des Verfahrens mitwirken, sich mithin auch nicht einem durch einen anderen Verfahrensbeteiligten initiierten Wiederaufnahmegesuch anschließen.114 Die Antragsberechtigung des Privatklägers folgt aus § 390 Abs. 1 S. 2 StPO115, die (eingeschränkte) des Einziehungsbeteiligten aus §§ 427, 433 Abs. 6 StPO. aa) Antragsbefugnis der Staatsanwaltschaft Die Antragsbefugnis der Staatsanwaltschaft gem. §§ 365, 296 Abs. 1 StPO ist insoweit umfassender als die des Verurteilten, als die Staatsanwaltschaft zugunsten oder zuungunsten des Betroffenen die Wiederaufnahme des Verfahrens beantragen kann. Gem. § 365 StPO i. V. m. § 301 StPO kann jedoch auch ein zuungunsten gestellter Antrag zugunsten des Angeklagten wirken.116 111  MG vor § 359 / 2. Nur vereinzelt wird gefordert, dass ein Richter aus berufsethischen Gründen auf die Beseitigung einer als falsch erkannten Verurteilung hinwirken und entsprechend eine Unterrichtung des Verurteilten bzw. der Staatsanwaltschaft veranlassen solle, vgl. Marxen / Tiemann, Die Wiederaufnahme in Strafsachen, Rn. 13. 112  Wobei das Gesetz bei der Wiederaufnahme pro reo mit § 359 StPO das Wort „Verurteilter“ verwendet, wohingegen bei der Wiederaufnahme contra reum mit § 362 StPO der Begriff des „Angeklagten“ Verwendung findet. 113  Die ehemals in § 397 Abs. 1 StPO normierte Antragsberechtigung des Nebenklägers wurde durch das Opferschutzgesetz von 1986 abgeschafft, vgl. LG Münster NStZ 1989, 588. 114  SSW-Kaspar, Vor § 359 / 26. 115  Dieser kann jedoch nur die ungünstige Wiederaufnahme betreiben, wenngleich im Erneuerungsverfahren auch eine günstigere Entscheidung getroffen werden kann. 116  Theobald, Barrieren im strafrechtlichen Wiederaufnahmeverfahren, S. 19.

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Teil 1: Rechtliche Grundlagen zum geltenden Wiederaufnahmerecht

Die Staatsanwaltschaft bleibt zudem – anders als der Verteidiger – auch nach dem Tod des Verurteilten antragsberechtigt, § 362 Abs. 2 StPO.117 bb) Antragspflicht der Staatsanwaltschaft Fraglich erscheint, ob sich aus der staatsanwaltschaftlichen Antragsbefugnis zugleich eine Antragspflicht ergibt. Normierte Pflichten der Staatsanwaltschaft im Wiederaufnahmeverfahren enthält die StPO nicht.118 Für die Frage von Mitwirkungspflichten ist daher auf allgemeine verfahrensrechtliche Grundprinzipien abzustellen. Aufschlussreich ist insoweit auch die Entwicklung der RiStBV. Während etwa die Richtlinien für die preußische Staatsanwaltschaft ausdrücklich die Rechte und Pflichten derselben zum Stellen von Wiederaufnahmeanträgen benannte, beschränkte eine Rundverfügung von 1890 die Mitwirkungspflicht der Staatsanwaltschaft auf die Fälle, in denen die Unschuld nachweisbar war. Somit beschränkte man die staatsanwaltschaftliche Mitwirkung im Wiederaufnahmeverfahren deutlich.119 Die Literatur lehnt eine Antragspflicht der Staatsanwaltschaft unter Hinweis auf die strukturellen Besonderheiten des Wiederaufnahmeverfahrens ab. So sei die Rehabilitierung eines Verurteilten erst mit Anordnung der Wiederaufnahme gem. § 370 Abs. 2 StPO Gegenstand öffentlichen Interesses.120 Zudem beanspruche das Legalitätsprinzip des § 152 Abs. 2 StPO nur im ersten Rechtszug Geltung.121 Sollte die Staatsanwaltschaft von Umständen wissen, die eine Wiederaufnahme zugunsten eines Verurteilten begründen könnten, wird erwogen, sie zu verpflichten, diese mitzuteilen.122 Tatsächlich ist die Staatsanwaltschaft aber bei Vorliegen entsprechender Anhaltspunkte zur Antragstellung verpflichtet. Sie unterliegt gem. § 152 Abs. 2 StPO dem Legalitätsprinzip und ist bei Bekanntwerden eines Tatverdachts gem. § 160 Abs. 2 StPO verpflichtet, objektive Ermittlungen aufzunehmen.123 117  MG

§ 361 / 2. Nr. 170 RiStBV verhält sich zu der Frage, dass die an der Verurteilung mitwirkende Staatsanwaltschaft in der Regel in einem vom Verurteilten beantragten Wiederaufnahmeverfahren nicht mitwirken soll. 119  Peters, Fehlerquellen im Strafprozeß III, S. 112 f. 120  Marxen / Tiemann, Die Wiederaufnahme in Strafsachen, Rn. 44. 121  Marxen / Tiemann, Die Wiederaufnahme in Strafsachen, Rn. 297. 122  Alsberg, Justizirrtum und Wiederaufnahme, S. 69. Gem. § 354 S. 2 öStPO ist die Staatsanwaltschaft in Österreich verpflichtet, bei Kenntniserlangung eines Wiederaufnahmegrundes eine antragsberechtigte Person zu informieren, vgl. Brinkmann, Zum Anwendungsbereich der §§ 359 ff. StPO, S. 50. 118  Lediglich



B. Voraussetzungen für die Wiederaufnahme eines Strafverfahrens 43

Beide Vorschriften gelten im Wiederaufnahmerecht zwar nicht unmittelbar.124 Nach Fertigung der Abschlussverfügung und Übergang der Verfahrensherrschaft gem. § 199 StPO auf das Tatgericht, behält die Staatsanwaltschaft aber eine Kontrollfunktion. Diese Kontrollfunktion offenbart sich bereits mit § 296 Abs. 2 StPO, wonach die Staatsanwaltschaft – durch jedes fehlerhafte Urteil beschwert – auch zugunsten des Verurteilten Rechtsmittel einlegen kann. Verbüßt ein Unschuldiger eine Strafe, so ist die Staatsanwaltschaft gem. § 152 Abs. 2 StPO zudem zur Ermittlung des wahren Täters verpflichtet. Dies legt nahe, dass die Staatsanwaltschaft verpflichtet ist, urteilsrelevante Gesetzesverstöße einer Überprüfung durch die Rechtsmittelgerichte zuzuführen. Das Legalitätsprinzip beansprucht somit auch auf der Rechtsmittelebene Geltung.125 Um das Vertrauen in die Rechtsprechung jedoch nicht zu gefährden, wird teilweise angenommen, dass die Staatsanwaltschaft ihrer sich aus § 152 Abs. 2 StPO ergebenden Pflicht schon dann entspricht, wenn sie das Ermittlungsverfahren durch Abschlussverfügung beendet, weshalb die Einlegung von Rechtsmitteln in ihrem pflichtgemäßen Ermessen stehe.126 Nach dieser Ansicht läge nahe, der Staatsanwaltschaft auch im Bereich der Wiederaufnahmeverfahren ein entsprechendes Antragsermessen einzuräumen.127 Dies wäre vor dem Hintergrund, dass sich die Antragsbefugnis der Staats­ anwaltschaft im Wiederaufnahmerecht an den Rechtsmittelbefugnissen des § 296 StPO und Nr. 147 RiStBV orientiert, jedenfalls konsequent.128 Allerdings wäre in Fällen, in denen Anhaltspunkte dafür bestehen, dass ein Richterspruch nicht der materiellen Wahrheit entspricht, ein Ermessen der Staatsanwaltschaft auf Null reduziert, Nr. 147 Abs. 3 S. 1 RiStBV. Betrachtet man die Stellung des Wiederaufnahmerechts im reformierten Strafprozess als Rechtsbehelf zur Herstellung von Einzelfallgerechtigkeit, so 123  Die StA soll andererseits auch verpflichtet sein, die Wiederaufnahme zuungunsten des Angeklagten zu betreiben, wenngleich vor dem Grundsatz ne bis in idem das Legalitätsprinzip restriktiv zu handhaben ist (vgl. LR-Gössel, § 362 / 1; KKSchmidt, § 362 / 4; a. A. MG § 362 / 1; KMR-Eschelbach, § 362 / 20). Gegen eine Antragspflicht Feilcke, in: Miebach / Hohmann, Wiederaufnahme in Strafsachen, Teil G, Rz. 18 unter Hinweis auf die systematische Stellung des § 152 StPO im 2. Buch der StPO und dem Wiederaufnahmerecht im 4. Buch der StPO. 124  KMR-Eschelbach, § 365 / 23. 125  Grüner / Wasserburg, NStZ 1999, 286, 288; Peters, Fehlerquellen im Strafprozeß III, S. 32. 126  MG Vor § 296 / 16. Aus Nr. 147 RiStBV ergibt sich schließlich, dass das staatsanwaltschaftliche Ermessen restriktiv zu verstehen sein soll. 127  So im Ergebnis Alexander, in: Miebach / Hohmann, Wiederaufnahme in Strafsachen, Teil F, Rz. 66. 128  So SK-Frister, § 365 / 4.

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Teil 1: Rechtliche Grundlagen zum geltenden Wiederaufnahmerecht

ist für ein Ermessen der Staatsanwaltschaft jedoch kein Raum. Dies gilt umso mehr, als nach Rechtskraft einer Entscheidung die Verantwortung für die Strafvollstreckung der Staatsanwaltschaft zukommt.129 Um ihrer Funktion als objektiver Ermittlungsbehörde und verantwortungsvoller Vollstreckungsbehörde zu entsprechen, ist die Staatsanwaltschaft verpflichtet, ein fehlerhaftes Urteil im Wege der Wiederaufnahme anzugreifen.130 Ergeben sich Anhaltspunkte dafür, dass eine evident falsche rechtskräftige Entscheidung getroffen wurde, die schlechthin keinen Rechtsfrieden schaffen kann, ist die Staatsanwaltschaft im Hinblick auf das Prozessziel der materiellen Wahrheit und um ihrer Kontrollfunktion zu entsprechen, verpflichtet, eine Korrektur anzustreben.131 Dies folgt nicht zuletzt aus Art. 3 Abs. 1 GG sowie Art. 20 Abs. 3 GG, dem verfassungsrechtlichen Ursprung des Legalitätsprinzips.132 Um der Wahrheit und Gerechtigkeit willen, beansprucht das Legalitätsprinzip Geltung. Dies erscheint insbesondere für die Wiederaufnahmegründe der §§ 359 Nr. 1–3, 362 Nr. 1–3 StPO, die Straftaten zum Gegenstand haben, unproblematisch, zumal hier die Staatsanwaltschaft aufgrund des Legalitätsprinzips zur Ermittlung dieser Straftaten verpflichtet ist.133 Aber auch § 359 Nr. 5 StPO, der, wie die übrigen Wiederaufnahmeregelungen einfachgesetzliche Ausprägung des Rechtsstaatsprinzips ist, verpflichtet die Staatsanwaltschaft, die Annahme eines Wiederaufnahmegrundes zu prüfen.134 Die Staatsanwaltschaft ist daher bei Vorliegen entsprechender Anhaltspunkte zur Antragstellung verpflichtet.135 Verweigert sie sich hingegen ganz 129  Denn die Fortführung der Strafvollstreckung bedarf einer ständigen Legitimation dergestalt, dass die Schuld des Verurteilten feststehen muss, so KMR-Eschelbach, Vor § 359 / 3. 130  Die Abschlussverfügung der StA in eigenen Wiederaufnahmeverfahren kann demnach in der Einstellung des Wiederaufnahmeverfahrens, einer Anklage gegen einen neuen Tatverdächtigen oder im Antrag auf Wiederaufnahme des Verfahrens ­ bestehen, vgl. Grüner / Wasserburg, NStZ 1999, 286, 290. Auch Schwenn nimmt eine Pflicht der Staatsanwaltschaft gegenüber einem Verurteilten an, vgl. Schwenn, StV 2010, 705, 706. 131  A. A. SSW-Kaspar, § 362 / 2. Marxen / Tiemann begründen mit diesem Argument, dass keine Ermittlungspflicht der Staatsanwaltschaft anzunehmen sei, da der Aufwand einer Entscheidungsüberprüfung besonderer Rechtfertigung bedürfte, vgl. Marxen / Tiemann, Die Wiederaufnahme in Strafsachen, Rn. 297. 132  KMR-Eschelbach, § 365 / 23. 133  KMR-Eschelbach, § 365 / 22. 134  KMR-Eschelbach, § 365 / 24. 135  AK-Loos, vor § 359 / 22 und § 362 / 3; KK-Schmidt, § 362 / 4; KMR-Eschelbach, § 362 / 11; LR-Gössel, § 362 / 1. Nach Weber-Klatt, Die Wiederaufnahme von Verfahren zu Ungunsten des Angeklagten, S. 277 ff., könne von einem Antrag abgesehen werden, wenn personelle oder sachliche Ressourcen knapp würden, wenn hinsichtlich



B. Voraussetzungen für die Wiederaufnahme eines Strafverfahrens 45

oder fehlerhaft der Antragstellung, wäre im Hinblick auf den wahren Täter u. U. an eine Strafbarkeit wegen Strafvereitelung im Amt gem. § 258a StGB zu denken.136 cc) Ermittlungspflicht der Staatsanwaltschaft Für die Frage, wer auf Seiten der Ermittlungsbehörden mit Beweiserhebungen im Wiederaufnahmeverfahren betraut ist, gibt lediglich § 369 StPO Auskunft. Demnach obliegt die Beweiserhebung im Probationsverfahren ausschließlich einem Richter. Ein Ermittlungsrecht der Staatsanwaltschaft, entsprechend § 161 StPO, leitet Dünnebier137 daraus ab, dass die Staatsanwaltschaft auch diejenigen Ermittlungen anstellt, die Grundlage der Anklage und folglich auch der Eröffnung des Hauptverfahrens wie auch der Hauptverhandlung sind. Im Wiederaufnahmerecht werde hierzu parallel ebenfalls eine Erneuerungshauptverhandlung erreicht. Schon hieraus ergebe sich ein Ermittlungsrecht, von dem Dünnebier zwar ausgeht, dass jedoch „besser im Gesetz stünde“. Fraglich erscheint, ob sich neben einer Antragspflicht der Staatsanwaltschaft auch eine Ermittlungs- bzw. Mitwirkungspflicht ergibt. Über die gesetzliche Normierung staatsanwaltschaftlicher Mitwirkungspflichten wird bereits seit den 1980iger Jahren diskutiert. So sah das 1. StVRG auf Initiative der Bundesregierung mit dem Entwurf des § 364c StPO-E die Normierung einer Ermittlungspflicht vor. Diese beinhaltete in § 364c Abs. 1 S. 1 StPO-E die Verpflichtung der Staatsanwaltschaft138, all jenen Anträgen auf Durchführung weiterer Ermittlungen nachzugehen, die für den Verurteilten selbst oder dessen Verteidiger nicht oder nur unter erheblichen Schwierigkeiten durchführbar wären.139 Flankierend hierzu wurde in § 364c Abs. 1 S. 2 StPO-E eine Bindungsklausel vorgesehen, dergemäß im Falle der gerichtlichen Bestellung eines Verteidigers gem. § 364b Abs. 1 S. 1 und 2 StPO, bei Vorliegen hinreichender tatsächlicher Anhaltspunkte, die anderer Verfahren eine höhere kriminalpolitische Dringlichkeit bestünde, oder wenn der zugrunde liegenden Tat geringe Bedeutung zukäme. 136  Grüner / Wasserburg, NStZ 1999, 286, 290. 137  Dünnebier, in: Festgabe Peters, S. 340. 138  Wasserburg beschäftigte sich auch mit der Frage, ob derartige Vorermittlungen sinnvollerweise nicht vom Gericht selbst durchzuführen sein sollten. Er kommt jedoch zu dem Ergebnis, dass dies einen zu weiten Eingriff in die Funktionenverteilung zwischen Gericht und Staatsanwaltschaft darstellen würde, vgl. Wasserburg, Die Wiederaufnahme des Strafverfahrens, S. 58 f. 139  Der Gesetzesvorschlag verwendete insoweit die Formulierung „dem Verteidiger nicht zumutbar“, wobei offensichtlich „nicht zugänglich“ gemeint war, vgl. Dünnebier, in: Festgabe Peters, S. 338.

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Teil 1: Rechtliche Grundlagen zum geltenden Wiederaufnahmerecht

Staatsanwaltschaft zu den erforderlichen Ermittlungen verpflichtet ist.140 Schließlich war ein den § 172 ff. StPO nachgebildetes Ermittlungserzwingungsverfahren zum Zwecke richterlicher Kontrolle vorgesehen.141 Der Gesetzesentwurf wurde u. a. damit begründet, dass umfassendere Vorermittlungen und das Recht auf Beistand gem. §§ 364a, b StPO auch dazu führen, dass sich aufgrund eingehender Vorprüfung die Anzahl der eingereichten, aber von vornherein aussichtslosen Anträge verringere.142 Alternativ wurde erwogen, ob der Verteidiger selbst auf Kosten der Staatskasse Untersuchungen und Ermittlungen in Auftrag geben können sollte, oder aber der Verteidiger seine Ermittlungsansätze dem Vorsitzenden des zur Entscheidung über den Antrag gem. §§ 364a, b StPO berufenen Gerichts anzutragen habe.143 Der Bundesrat befürchtete, dass bei Beschreiten des Ermittlungserzwingungsverfahrens144 gem. § 364c Abs. 3 StPO-E i. V. m. §§ 171 ff. StPO der Geschäftsverkehr der Staatsanwaltschaften übermäßig belastet und folglich zu hohen Personalaufwand verursachen würde, so dass im Ergebnis eine Gefährdung der staatsanwaltschaftlichen Aufgaben nicht auszuschließen sei.145 Ebenso sei es ungewöhnlich und psychologisch bedenklich, wenn die Staatsanwaltschaft zum Ermittlungsorgan des Verteidigers gemacht werde. Zudem würde der gänzlich mittellose Verurteilte gegenüber dem nicht mittellosen übervorteilt, weil der nicht mittellose mit seinem Wahlverteidiger ebenfalls nicht über die erforderlichen rechtlichen, persönlichen und sachlichen Mittel verfüge.146 Eine Normierung wurde daher unter Hinweis darauf, dass die Staatsanwaltschaft in begründeten Fällen ohnehin Hilfe leiste147 – und um eine unbegründete Antragsflut zu vermeiden – vollständig abgelehnt.148 Nach Einschaltung des Vermittlungsausschusses wurde der Gesetzesvor140  BT-Drs.

7 / 551, S. 12. NJW 1975, 137, 138. 142  BT-Drs. 7 / 551, S. 52. 143  Hanack / Gerlach / Wahle, Denkschrift zur Reform des Rechtsmittelrechts und der Wiederaufnahme, S. 96 f.; Hanack, JZ 1973, 393, 397 ff., mit Hinweis darauf, dass dann der Verteidiger in eine Zwitterstellung gerate, da er nicht mehr nur zu Ermittlungen befugt, sondern beauftragt und verpflichtet sei. J. Meyer, ZStW 84 (1972), 909, 919 verweist zugleich darauf, dass auch rechtsvergleichend dieser Aspekt nicht überzeugen kann. 144  Wasserburg, Die Wiederaufnahme des Strafverfahrens, S. 53. 145  BT-Drs. 7 / 2774, S. 3. 146  Hanack, JZ 1973, 393, 398. 147  BT-Drs. 7 / 551, S. 146. Dies war jedoch im Fall des Bauern Rudi Rupp gerade nicht geschehen. Die Staatsanwaltschaft stellte selbst keinen Wiederaufnahmeantrag, sprach sich vielmehr gegen den der Verteidigung aus, der schließlich in der Folge vom Wiederaufnahmegericht als unzulässig verworfen wurde. 148  BT-Drs. 7 / 2774, S. 3. 141  Krägeloh,



B. Voraussetzungen für die Wiederaufnahme eines Strafverfahrens 47

schlag, der im Bundestag bereits in der dritten Lesung beschlossen worden war, schließlich verworfen.149 Auch wenn § 364c StPO-E nicht geltendes Recht wurde, lässt der Gesetzesvorschlag erkennen, dass sich der Gesetzgeber der überlegenen Ermittlungsbefugnisse der Staatsanwaltschaft bewusst war150 und erkannt hatte, dass umfassende staatsanwaltschaftliche Vorermittlungen die Antragstellung in aussichtslosen Fällen verhindern könnten.151 Dies würde zu einer Entlastung der Wiederaufnahmegerichte führen. Damit wurde, neben einer Unterstützung der Ermittlungsbemühungen des Verteidigers für die Wiederaufnahme, auch eine Beschleunigung des Wiederaufnahmeverfahrens angestrebt.152 Mit dem geltenden Recht, das keinerlei Mitwirkungspflichten der Ermittlungsbehörden kennt, dürften dem Verurteilten und seinem Verteidiger nicht selten die Hände gebunden sein, wenn sie sich um die Ermittlung relevanter nova bemühen. So verfügt weder der Antragsteller noch der Verteidiger über einen Untersuchungsapparat, auch stehen ihm keine Zwangsbefugnisse zu. Der Antragsteller befindet sich damit in einer schlechten Ausgangsposition für seine Wiederaufnahmebemühungen, obliegen ihm doch zugleich umfassende Darlegungs- und Beweisführungslasten. Bloße Anregungen an die Staatsanwaltschaft, ihrerseits ein Wiederaufnahmeverfahren vorzubereiten bzw. dahingehende Ermittlungen anzustellen153, oder gar die Annahme dass die Staatsanwaltschaft in „allen begründeten Fällen“ ohnehin Ermittlungshilfe leisten würde, erachtet Dünnebier als illusorisch.154 Vielmehr zeigt die Staatsanwaltschaft nicht selten Widerstand gegen die Korrektur von tatsächlich fehlerhaften Entscheidungen in Wiederaufnahmeverfahren.155 Peters forderte daher bereits 1972, dass die Staatsanwaltschaft zur Aufklärung eines Sachverhalts im Vorfeld eines Wiederaufnahmeantrags Amtshilfe leisten sollte, wenn begründet vorgetragen wird, dass frühere Personalbeweise zweifelhaft sind.156 Eine Flut unbegründeter Ermittlungsgesuche wäre 149  Krägeloh,

NJW 1975, 137, 138. 7 / 551, S. 52 und 89. 151  BT-Drs. 7 / 551, S. 90. 152  Wasserburg, Die Wiederaufnahme des Strafverfahrens, S. 54. 153  So Marxen / Tiemann, Die Wiederaufnahme in Strafsachen, Rn. 463, die aufgrund verfahrensstruktureller Gründe von keiner Ermittlungspflicht der Staatsanwaltschaft ausgehen. 154  Dünnebier, in: Festgabe Peters, S. 340. Vgl. hierzu auch Eschelbach / Geipel /  Hettinger / Meller / Wille, GA 2018, 238, 240. 155  Peters, Fehlerquellen im Strafprozeß III, S. 113 f. und unten S. 242 ff. 156  Peters, Fehlerquellen im Strafprozeß II, S. 261, 279. So auch Peters, in: FSGallas, S. 452. 150  BT-Drs.

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Teil 1: Rechtliche Grundlagen zum geltenden Wiederaufnahmerecht

u. U. dann nicht zu erwarten, wenn – wie auch bereits mit § 364c StPO-E vorgesehen – der Antrag auf Vornahme einer Ermittlungshandlung nur durch einen Verteidiger gestellt werden könnte.157 Eine Hilfeleistung ist der Staatsanwaltschaft mit §§ 474 Abs. 1, 4, 5; 479 Abs. 2 Nr. 3 StPO nicht fremd. Auch Dippel158 favorisierte eine Normierung, die Staatsanwaltschaft zu verpflichten auf Antrag des Verteidigers die zur Vorbereitung eines Wiederaufnahmeantrages erforderlichen Ermittlungen anzustellen. Die Vorschläge Peters’ und Dippels überzeugen nicht. Soweit Peters verlangt, nicht sachgerechten Anträgen nur dadurch zu begegnen, dass der Antragsteller begründet darlegen solle, weshalb seine Wiederaufnahmebemühungen sachgerecht und erfolgsversprechend seien, entsteht keine Rechts­ sicherheit. Denn die Frage, ab wann eine ausreichende Begründung i. d. S. anzunehmen wäre, lässt er offen. Zugleich würde der Staatsanwaltschaft die Aufgabe einer vorgezogenen Zulässigkeits- und Begründetheitsprüfung übertragen werden.159 Vor diesem Hintergrund ist auch de lege ferenda eine Ermittlungspflicht abzulehnen. dd) Mitwirkungspflichten der Ermittlungsbehörden Im Hinblick auf das Legalitätsprinzip auch im Wiederaufnahmeverfahren, kann der Verteidiger an die Antragspflicht der Staatsanwaltschaft appellieren (und dahingehende Ermittlungen anregen).160 Mit ähnlichem Ziel hatte die BRAK bereits 1971 angeregt, dass der Antragsteller über das Bundeskriminalamt eine wissenschaftliche Beurteilung über eine seiner Ansicht nach erhebliche Frage erhalten bzw. gar auf BKA-Einrichtungen und Sachverständige zurückgreifen können solle, um eine vorläufige Arbeitshypothese zu erhalten.161 Das Bundeskriminalamt, das mit seinem kriminaltechnischen Institut derzeit über 325 Experten aus 60 verschiedenen Berufsbildern verfügt162, erscheint hierfür als geeignete Stelle. Berücksichtigt man jedoch, dass bspw. das Bayerische Landeskriminalamt seinerseits über ein kriminaltechnisches Institut mit derzeit 200 Mitarbeitern verfügt163, be157  BT-Drs. 158  Dippel,

7 / 551, S. 90. Das geltende deutsche Wiederaufnahmerecht und seine Erneuerung,

S.  122 f. 159  Peters, Fehlerquellen im Strafprozeß III, S. 116. 160  AK-Loos, § 364b / 11. 161  Hanack / Gerlach / Wahle, Denkschrift zur Reform des Rechtsmittelrechts und der Wiederaufnahme, S. 86. 162  http: /  / www.bka.de / nn_206344 / DE / DasBKA / Organisation / KT / organisation KT__node.html?__nnn=true (zuletzt aufgerufen am 31.08.2015). 163  https: /  / www.polizei.bayern.de / lka / kriminalitaet / technik / index.html / 525 (zuletzt aufgerufen am 31.08.2015).



B. Voraussetzungen für die Wiederaufnahme eines Strafverfahrens 49

stünde zunächst kein Anlass für eine Konzentration sämtlicher in Zusammenhang mit Wiederaufnahmeverfahren stehender Untersuchungsanfragen auf das Bundeskriminalamt. Dass dafür indes keine Notwendigkeit besteht, berichtet Strate, da sowohl Mitarbeiter rechtsmedizinischer Institute als auch der Landeskriminalämter – wenn auch informell – im Regelfall hilfsbereit auf Anfragen eines Verteidigers reagieren würden.164 Ungeklärt bleibt damit das wesentliche Problem in Bezug auf die Beschaffung von Entlastungsmaterial.165 Auch wenn die Normierung einer Ermittlungspflicht, wie dargestellt, abzulehnen ist, erscheint es jedoch angebracht, der Staatsanwaltschaft jedenfalls eine Auskunftspflicht166 aufzuerlegen. Diese Auskunftspflicht sollte im Sinne der Rechtssicherheit, und um Streit über ihre Geltung zu vermeiden, gesetzlich fixiert werden. Weigert sich die Staatsanwaltschaft Ermittlungen anzustellen, müsste dann Dienstaufsichtsbeschwerde bis hin zum zuständigen Justizminister erhoben werden. Schließlich könnte eine Mitwirkungspflicht im Wege der §§ 23 ff. EGGVG eingeklagt werden.167 Wie gesehen begründet die Rechtskraft eine Zäsur, die bewirkt, dass der Antragsteller Entlastungsbeweise vorbringen muss, um ein (neues) gerichtliches Verfahren nach Rechtskraft und trotz ihrer in Gang zu setzen. Wenn ihm die Möglichkeit gegeben werden soll, unter Beibringung etwaiger Entlastungsaspekte die Erfolgsaussichten seines Vorhabens beurteilen zu können, sollte die Staatsanwaltschaft verpflichtet werden können, mitwirkend tätig zu werden, um dem potentiellen Antragsteller zu ermöglichen, Ermittlungen anzustrengen, Untersuchungen einzuleiten und mitunter auch Sachverständige zu beauftragen.168 Bleibt die Frage, wem die Kosten für Beweiserhebungen in diesem Verfahrensstadium aufzuerlegen wären. Die BRAK befürwortete etwa eine Befugnis des Pflichtverteidigers, auf Staatskosten Vorermittlungen veranlassen zu können bzw. der Staatskasse die Kostenvorschüsse für Sachverstände 164  MAH

Strafverteidigung-Strate, § 27 / 118 f. § 364b / 10. Dünnebier geht hingegen offensichtlich davon aus, dass die Staatsanwaltschaft dem Verurteilten keine Hilfe für seinen Wiederaufnahmeantrag leisten darf, da sich dies aus keinem Gesetz ergebe, vgl. Dünnebier, in: Festgabe Peters, S. 340. 166  KK-Schmidt, § 364b / 2; Marxen / Tiemann, Die Wiederaufnahme in Strafsachen, Rn. 463; a. A. LR-Gössel, § 364b / 8. 167  Peters, Strafprozeß, S. 145. 168  Im Hinblick auf § 359 Nr. 5 StPO ist etwa an Fortschritte in der Forschung zu denken, aber auch Sachverständige sind nicht frei von Irrtümer oder der unzutreffenden Bewertung von Anknüpfungstatsachen. Auch AK-Loos, vor § 359 / 22 fordert eine Förderung der StA durch Einsatz ihres Ermittlungsapparates. 165  AK-Loos,

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Teil 1: Rechtliche Grundlagen zum geltenden Wiederaufnahmerecht

aufzubürden, soweit der Verurteilte nicht in der Lage wäre, diese zu übernehmen.169 Peters sprach sich dafür aus, die Staatskasse zu verpflichten, solche Gutachterkosten zu übernehmen, mit denen das vom Antragsteller angestrebte Ziel zu erreichen sei.170 Zwingend erscheint die Kostenübernahmepflicht des Staates in diesem Verfahrensstadium jedoch nicht, zumal die Beibringungspflicht beim Antragsteller liegt. Von diesem kann jedoch nichts Unmögliches verlangt werden. In Erwägung zu ziehen wäre daher eine Art Untersuchungskostenhilfe für mittellose Beschuldigte, deren Wiederaufnahmebemühungen nicht von vornherein aussichtslos erscheinen, etwa weil der Verurteilte begründete Zweifel an sachverständigen Gutachten substantiiert darzulegen vermag bzw. wenn entsprechend dem Rechtsgedanken des § 220 Abs. 3 StPO die Sachdienlichkeit der Begutachtung zu bejahen wäre.171 Um die Kosten in einem überschaubaren Rahmen zu halten, wäre zudem denkbar, dass die Staatsanwaltschaft ihren Ermittlungsapparat zur Verfügung stellte, um die Erfolgsaussichten der Wiederaufnahmebemühungen in einem ersten Schritt beurteilen zu lassen. ee) Fazit Im Ergebnis ist festzuhalten, dass der Gesetzgeber zwar keine Ermittlungspflicht, in jedem Fall aber eine Antrags- und Auskunftspflicht der Staatsanwaltschaft normieren sollte. Die Ablehnung einer umfassenden Ermittlungspflicht bei gleichzeitiger Normierung einer Antragspflicht, widersprechen sich nicht. So ist die Staatsanwaltschaft verpflichtet, einen Wiederaufnahmeantrag zu stellen und Ermittlungen einzuleiten, wenn sie Kenntnis von neuen Umständen erhält, die aus ihrer Sicht die Wiederaufnahme des Verfahrens erfolgversprechend erscheinen lassen.172 Im übrigen erscheint die Normie169  Hanack / Gerlach / Wahle, Denkschrift zur Reform des Rechtsmittelrechts und der Wiederaufnahme, S. 96. Eingehend zur Befugnis des Verteidigers, Vorermittlungen auf Kosten der Staatskasse veranlassen zu können: Wasserburg, Die Wiederaufnahme des Strafverfahrens, S. 57 ff. Dieser befürwortet im Ergebnis ein stufenweises Vorgehen: nach dem Ermittlungserzwingungsverfahren müsse dem Verteidiger die Möglichkeit eröffnet sein, wahlweise eigene Ermittlungen auf Kosten der Staatskasse durchzuführen oder durch den Staatsanwalt durchführen zu lassen, wenn er den Eindruck habe, dass dieser seiner Ermittlungspflicht objektiv nicht entspreche, Wasserburg, Die Wiederaufnahme des Strafverfahrens, S. 60. 170  Peters, Fehlerquellen im Strafprozeß II, S. 323 f. 171  Auch bei § 220 Abs. 3 StPO soll so einem Missbrauch des Selbstladungsrechts vorgebeugt werden, vgl. MG § 220 / 11. 172  Gleichwohl kann nicht verkannt werden, dass durch eine entsprechende Formulierung, wie in § 364c StPO-E, den Gerichten wiederum die Möglichkeit einge-



B. Voraussetzungen für die Wiederaufnahme eines Strafverfahrens 51

rung einer Auskunftspflicht mit flankierender Möglichkeit der Untersuchungskostenhilfe entsprechend den Regelungen der §§ 114 ff. ZPO ausreichend, um angesichts der Beibringungs- und Beweislast des Antragstellers Waffengleichheit mit den Ermittlungsbehörden herzustellen. Zwar wird hierdurch der finanzschwache Antragsteller gegenüber dem finanzstarken insoweit benachteiligt, als dass er die hinreichende Erfolgsaussicht seines Vorhabens darlegen muss. Ein Verstoß gegen Art. 3 GG liegt jedoch deshalb nicht vor, da andernfalls eine nicht hinnehmbare Belastung der Staatskasse entstehen würde, die durch mutwillige Wiederaufnahmebemühungen belastet würde. Um den Antragsteller bezüglich der Auskunftspflicht der Staatsanwaltschaft nicht rechtschutzlos zu stellen, sollten – wie bereits mit § 364c Abs. 3 StPO-E angedacht – die Vorschriften des Klageerzwingungsverfahrens für anwendbar erklärt werden.173 d) Beschwer Der Antragsteller muss durch die angegriffene Entscheidung beschwert sein, § 365 StPO i. V. m. den allgemeinen Anforderungen an Rechtsbehelfe.174 Die Beschwer muss sich dabei aus dem Urteilstenor ergeben.175 Für die Staatsanwaltschaft ist – wie auch bei der Beschwer zur Einlegung von Rechtsmitteln – ausreichend, dass die angegriffene Entscheidung nicht in Einklang mit der materiellen Wahrheit steht.176

räumt würde, Wiederaufnahmeverfahren in diesem Zusammenhang zu blockieren, vgl. Wasserburg, Die Wiederaufnahme des Strafverfahrens, S. 54. 173  Eingehend zur Kritik am Ermittlungserzwingungsverfahren Wasserburg, Die Wiederaufnahme des Strafverfahrens, S. 54 ff. 174  Dies folgt bereits aus der Begriffswahl „Verurteilte“, vgl. KMR-Eschelbach, § 359 / 10. 175  BGH NJW 1955, 639, 640; BGH NJW 1962, 404 f. Der Angeklagte ist nicht beschwert, wenn er aus anderen Gründen als erwiesener Unschuld freigesprochen wurde. Auch kann er nicht ein Einstellungsurteil gem. § 260 Abs. 3 StPO mit dem Ziel eines Freispruchs angreifen, vgl. Junker / Armatage, Praxiswissen Strafverteidigung, Rn. 746 und Wasserburg, Die Wiederaufnahme des Strafverfahrens, S. 237. Eine Beschwer ist jedoch dann anzunehmen, wenn gem. §§ 46a, 46b, 60 StGB von Strafe abgesehen wird, § 199 StGB Anwendung findet oder Rechtsfolgen gem. §§ 9 ff., 13 ff., 27 JGG angeordnet werden, vgl. MG vor § 359 / 6. Dies folgt bereits daraus, dass sämtliche Formen dieser Verfahrenserledigung einen Schuldspruch beinhalten. 176  Wasserburg, Die Wiederaufnahme des Strafverfahrens, S. 234.

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Teil 1: Rechtliche Grundlagen zum geltenden Wiederaufnahmerecht

e) Frist zur Antragstellung Der Wiederaufnahmeantrag ist, anders als etwa im Zivilprozess, § 586 ZPO, oder im Ordnungswidrigkeitenverfahren, § 85 Abs. 2 Nr. 2 OWiG, nicht fristgebunden. Selbst die (vollständige) Strafvollstreckung oder der Tod177 des Verurteilten stehen einer Wiederaufnahme gem. § 361 Abs. 1 StPO nicht entgegen.178 Ist die Wiederaufnahme unbefristet möglich, stellt sich in der Konsequenz die Frage nach der tatsächlichen Durchführbarkeit von Wiederaufnahmeverfahren, etwa welchen Einfluss die durch Zeitablauf eintretende Beweisnot auf das Verfahren hat.179 Zeugen können schon nach relativ kurzer Zeit einen Sachverhalt nicht mehr verlässlich erinnern, mit zunehmender Verfahrensdauer wird die Erinnerung diffuser. Die Länge des Strafverfahrens hat demnach Einfluss auf die Suche nach der richtigen und gerechten Entscheidung; die Erforschung der materiellen Wahrheit wird mit zunehmender Dauer schwieriger.180 Da ein Wiederaufnahmeverfahren erst nach Rechtskraft der ursprünglichen Entscheidung durchgeführt wird, vergehen oftmals Jahre, bis Zeugen nochmals vernommen werden. Dass Beweismittel mit Zeitablauf ausfallen oder sich qualitativ verändern181, ist jedoch keineswegs ein wiederaufnahmespezifisches Problem, sondern Gefahr eines jeden Strafprozesses. Dass der Gesetzgeber dieses Risiko im Interesse der materiellen Gerechtigkeit bewusst hinnimmt, zeigt sich etwa darin, dass Mord gem. § 78 Abs. 2 StGB nicht verjährt, so dass derartige Verbrechen auch nach Jahrzehnten noch verfolgt werden können. Der Gesetzgeber hat folglich zum Ausdruck gebracht, dass das Verfolgungs- und Bestrafungsinteresse nicht durch Zeitablauf obsolet wird. Im Umkehrschluss ist die Durchsetzung materieller Gerechtigkeit im Wege eines Wiederaufnahmeantrags fristunabhängig möglich, zumal nicht einzusehen ist, weshalb ihre Durchsetzung mit Zeitablauf beschränkt werden sollte, wenn gleichzeitig die gerichtliche Entscheidung keine Bestandskraft verdient.182 Dieser am Rehabilitationsanspruch des Beschuldigten orientierte Gedanke ist auch der Reglung des § 361 StPO zu entnehmen. 177  Im Fall des Todes kann durch Verwandte des Verurteilten gem. § 361 Abs. 2 StPO das Wiederaufnahmeverfahren angestrengt werden. 178  Nicht möglich soll die Wiederaufnahme nach h. M. sein, wenn der Angeklagte bereits vor der Rechtskraft des Urteils verstorben ist, vgl. KK-Schmidt, § 361 / 7; LRGössel, § 361 / 9; a. A. Pflüger, NJW 1983, 1894, 1895 der sich für eine entsprechende Anwendung des § 361 StPO ausspricht. 179  Peters, Fehlerquellen im Strafprozeß I, S. 14. 180  Landau, in: FS-Hassemer, S. 1074. 181  LR-Gössel, Vor § 359 / 24. 182  Theobald, Barrieren des strafrechtlichen Wiederaufnahmeverfahrens, S. 68; Gössel, NStZ 1988, 537, 538.



B. Voraussetzungen für die Wiederaufnahme eines Strafverfahrens 53

Für den Antragsteller bedeutet dies, dass ihm der Zeitablauf im Falle der ungünstigen Wiederaufnahme womöglich zu Gute kommt. Betreibt er die günstige Wiederaufnahme, ist er jedoch darlegungspflichtig, so dass sich die Beweisnot für ihn in der Regel nachteilig auswirken dürfte. Grundsätzlich gilt: Je gewissenhafter die Aufklärung und Konservierung von Erkenntnissen im Ermittlungsverfahren erfolgt, desto weniger kann der Zeitablauf der Durchführung eines Wiederaufnahmeverfahrens entgegen gehalten werden.183 Der Zeitablauf kann sich demnach ebenso zuungunsten eines zu Unrecht Verurteilten auswirken. Ist bereits viel Zeit verstrichen, ist die Beschaffung von Entlastungsbeweisen für ihn – wenn überhaupt – mit nicht unerheblichen Anstrengungen verbunden, beginnend damit, dass zwar § 147 Abs. 1 Alt. 2 StPO ein Recht auf Besichtigung der Beweismittel gewährt, diese jedoch am Verwahrungsort besichtigt werden müssen.184 Probleme ergeben sich folglich dort, wo die Beschaffenheit des Beweismittels nicht ausreicht, um seine Beweisinformation am Verwahrort freizusetzen, weil etwa technische Analysen notwendig wären. Ist eine ausreichende Menge des Beweismaterials vorhanden und steht keine Beeinträchtigung des Beweisstückes durch weitere Besichtigungen zu befürchten, ist angesichts des Grundsatzes eines fairen Verfahrens die Herausgabe des Beweismaterials zu ermöglichen (s. o. S. 50 zur Auskunftspflicht). Zwar sind hinsichtlich objektiver Sachbeweismittel (wie etwa DNA-Proben) nicht dieselben Probleme oder Verfälschungen durch Zeitablauf wie bei personalen Beweismitteln zu erwarten, da die Konservierung von DNA-Proben zwischenzeitlich kein Problem mehr ist. Dennoch darf nicht verkannt werden, dass Regelungen wie § 81a Abs. 3 S. 2 StPO oder § 81c Abs. 5 S. 2 i. V. m. § 81a Abs. 3 StPO dazu führen, dass Untersuchungsmaterial des Angeklagten oder anderer Personen, das sich nur schwer von Spurenmaterial differenzieren lässt, nach der Urteilsrechtskraft grundsätzlich zu vernichten ist und somit für weitere Untersuchungen nicht mehr zur Verfügung steht. Zugleich zeigt Nr. 5a d) RiStBV kostenbewusstes Handeln im Rahmen der Ermittlungen, indem Verwahrungen vermieden, jedenfalls Asservate rasch zurückgegeben werden. Auch Nr. 75 Abs. 1 RiStBV bestimmt, dass Sachen, deren Einziehung, Verfall oder Unbrauchbarmachung nicht in Betracht kommt, im Regelfall herauszugeben sind, sobald sie für das Strafverfahren entbehrlich werden. Dies führt zur Beweisnot für den Antragsteller, wenn er auf objektive Beweismittel keinen Zugriff mehr hat, diese also nicht mehr zum Gegenstand seiner Wiederaufnahmebemühungen machen kann. De lege ferenda sollte sich daher die zu normierende Auskunftspflicht auch auf die Herausgabe von Asservaten und Beweismitteln zum Zwecke 183  Peters, 184  BGH

Fehlerquellen im Strafprozeß I, S. 14. NStZ 1981, 93, 95.

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Teil 1: Rechtliche Grundlagen zum geltenden Wiederaufnahmerecht

weiterer Untersuchungen nach Eintritt der Rechtskraft erstrecken. Zugleich sollte entsprechend Nr. 76 RiStBV normiert werden, dass Gegenstände, die für Zwecke des Strafverfahrens benötigt wurden, bis zum Eintritt der Verfolgungsverjährung aufzubewahren sind. 2. Besondere Zulässigkeitsvoraussetzungen Anders als im übrigen Prozessrecht ist unter Zulässigkeit i. S. d. Wiederaufnahmerechts nicht das bloße Vorliegen formeller Voraussetzungen zu verstehen. Vielmehr müssen auch zusätzliche, besondere Zulässigkeitsvoraussetzungen – die bereits an eine Begründetheitsprüfung des Vorbringens erinnern, und die meisten gesetzlichen Barrieren beinhalten185 – erfüllt sein.186 Dabei ist zwischen Wiederaufnahmeanträgen zugunsten des Verurteilten und zuungunsten des Freigesprochenen oder Angeklagten zu unterscheiden. a) Wiederaufnahmeantrag zugunsten des Verurteilten Gem. § 366 StPO muss sich der Antragsteller auf einen187 relativen oder absoluten188 Wiederaufnahmegrund berufen. Wiederaufnahmegründe zugunsten des Verurteilten ergeben sich aus § 359 StPO sowie § 79 BVerfGG und § 18 des Zuständigkeitsergänzungsgesetzes (ZEG) vom 07.08.1952 (BGBl. I, S. 407 ff.). Als relativer Wiederaufnahmegrund setzt § 359 Nr. 5 StPO die Erwartung eines für den Verurteilten günstigeren Urteils voraus.189 185  Theobald,

Barrieren im strafrechtlichen Wiederaufnahmeverfahren, S. 23. Der Verteidiger in der Wiederaufnahme, http: /  / www.strate.net / de / publi kationen / verteidiger_in_der_wiederaufnahme.html (zuletzt aufgerufen am 13.05.2014). 187  Kann sich der Antragsteller auf mehrere Gründe berufen, kann er wählen, auf welchen bzw. auf welche Gründe er seinen Antrag stützt, vgl. SSW-Kaspar, § 359 / 1. Er kann sich auch auf mehrere Gründe stützen, vgl. OLG Düsseldorf GA 1980, 393, 396 f. 188  Der Wiederaufnahmegrund muss demnach die angefochtene richterliche Entscheidung beeinflusst haben. Dabei muss im Rahmen des § 359 Nr. 5 StPO auf das gesamte Beweisgefüge zurückgegriffen werden (vgl. LG Saarbrücken, Beschluss vom 20.08.2013, Az. 2 Ks 05 Js 216 / 06 (1 / 13), in: BeckRS 2014, 03013). Bei den absoluten Wiederaufnahmegründen kommt es nicht darauf an, ob das Urteil auf dem Wiederaufnahmegrund beruht. Vgl. hierzu BeckOK-Singelnstein § 359 / 6; KK-Schmidt, § 359 / 2; Peters, Fehlerquellen im Strafprozeß III, S. 44 und Theobald, Barrieren im strafrechtlichen Wiederaufnahmeverfahren, S. 16; Wasserburg, Die Wiederaufnahme des Strafverfahrens, S. 270. Der absolute Charakter dieser Wiederaufnahmegründe wird mit § 370 Abs. 1 StPO relativiert, wonach die Wiederaufnahme dann nicht begründet ist, wenn ein Einfluss auf die Entscheidung ausgeschlossen ist. 189  HK-Temming, § 359 / 2. 186  Strate,



B. Voraussetzungen für die Wiederaufnahme eines Strafverfahrens 55

aa) Antragsziele § 359 Nr. 5 StPO katalogisiert die zulässigen Ziele eines Wiederaufnahmegesuchs.190 Der Antragsteller muss demnach einen (Teil-)Freispruch, eine Milderbestrafung aufgrund eines anderen Strafgesetzes oder eine wesentlich andere191 Entscheidung über Maßregeln der Besserung und Sicherung begehren192. Erstrebt wird folglich eine weniger belastende Entscheidung, wobei sich Beschränkungen aus §§ 363, 364 StPO ergeben.193 Diese Wiederaufnahmeziele des § 359 Nr. 5 StPO sind abschließend, Anträge mit anderen Zielen unzulässig.194 Im Fall des § 359 Nr. 5 StPO wird die Zulässigkeit der Wiederaufnahme angesichts des eindeutigen Gesetzeswortlauts an die Möglichkeit einer günstigeren Rechtsfolgenentscheidung geknüpft, so dass hier mit der Wiederaufnahme nicht die Abänderung des Schuldspruchs begehrt werden kann.195

190  OLG Celle NStZ-RR 2010, 251, 252; KK-Schmidt, § 359 / 4. Ob die Zielbegrenzung des § 359 Nr. 5 StPO für alle Wiederaufnahmegründe gilt, ist str., vgl. KMR-Eschelbach, § 359 / 32. Brinkmann erachtet den Begriff der Wiederaufnahmeziele „unglücklich“ gewählt, da es einzig darauf ankomme, dass rückbezüglich zu betrachten ist, ob der Wiederaufnahmegrund im Widerspruch zur Erstentscheidung steht, vgl. Brinkmann, Zum Anwendungsbereich der §§ 359 ff. StPO, S. 46. 191  Dies kann das vollständige Entfallen der Maßregel sein, aber auch deren Ersetzung durch eine wesentlich weniger einschneidende Maßnahme oder eine Verkürzung der Maßregel, vgl. SSW-Kaspar, § 359 / 8 m. w. N. 192  Eine erstmalige Anordnung einer Maßregel i. S. d. § 61 StGB kann demgegenüber nicht zulässiges Antragsziel sein, vgl. OLG Köln NStZ-RR 2011, 382, 383 und KK-Schmidt, § 359 / 4. 193  Hohmann, in: Miebach / Hohmann, Wiederaufnahme in Strafsachen, Teil  E, Rz. 1. 194  Strafherabsetzung aufgrund eines anderen milderen Gesetzes ist bspw. denkbar bei tateinheitlicher statt tatmehrheitlicher Verurteilung, Beihilfe statt Täterschaft oder Anstiftung, Versuch statt Vollendung oder der Anwendung des JGG statt des allgemeinen Strafrechts, vgl. hierzu und zu weiteren Einzelheiten MG § 359 / 41; Peters, Fehlerquellen im Strafprozeß III, S. 90. Diskutiert wird, ob als Wiederaufnahmeziel die Verfahrenseinstellung anerkannt wird, vgl. hierzu Marxen / Tiemann, Die Wiederaufnahme in Strafsachen, Rn. 80. Auch die Strafbefreiungsgründe der §§ 23 Abs. 3, 60, 218a Abs. 4 StGB, die Straffreierklärung gem. § 199 StGB oder die Verwarnung mit Strafvorbehalt gem. § 59 StGB sollen zulässige Antragsziele sein, da diese ein Mehr gegenüber einer Milderbestrafung darstellen und hinsichtlich ihrer Wirkung ­einem Freispruch gleichstehen, vgl. Marxen / Tiemann, Die Wiederaufnahme in Straf­ sachen, Rn. 86. A. A. KK-Schmidt, § 359 / 32; AK-Loos, § 359 / 6. 195  BGH NJW 2003, 1261, 1262.

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Teil 1: Rechtliche Grundlagen zum geltenden Wiederaufnahmerecht

(1) Strafmilderungswiederaufnahme § 363 StPO Hat die Wiederaufnahme eine Strafmilderung zum Ziel196, ist de lege lata gem. § 363 Abs. 1 i. V. m. § 359 Nr. 5 StPO ein Antrag nur dann zulässig, wenn der Antragsteller die Anwendung eines anderen Strafgesetzes anstrebt.197 Dabei fällt der Gesetzeswortlaut auf, der mit § 359 Nr. 5 StPO lediglich die Anwendung eines milderen Strafgesetzes verlangt, wohingegen aus § 363 StPO das Erfordernis des anderen Gesetzes abgeleitet wird. Im Ergebnis soll für die günstige Wiederaufnahme des § 359 Nr. 5 StPO jedenfalls die Anwendung eines anderen Gesetzes mit geringerer Strafdrohung Voraussetzung sein.198 Anderes Strafgesetz i. d. S. ist jede Vorschrift, die Umstände vorsieht, deren Vorliegen die Strafbarkeit erhöht oder vermindert.199 Strafgesetz i. d. S. soll ein Gesetz sein, das infolge eines anderen Strafrahmens abstraktgenerell eine Änderung der Strafzumessungserwägungen ermöglicht.200 § 363 StPO schließt damit die isolierte Anfechtung allein des Strafausspruchs aus.201 Nicht möglich ist nach geltender Gesetzeslage demnach die Wiederaufnahme eines Verfahrens um – bei Anwendung desselben Strafgesetzes – eine mildere Bestrafung herbeizuführen. Möglich ist hingegen eine wesentlich andere Entscheidung über eine Maßregel der Besserung und ­Sicherung i. S. d. § 61 StGB zu erstreben, wobei diese von § 363 Abs. 1 StPO nicht erfasst wird und daher auch auf derselben gesetzlichen Grundlage beruhen kann.202 Grundgedanke dieser gesetzlichen Regelung ist, dass das Wiederaufnahmerecht keine zweite Revisionsinstanz gewähren soll.203 196  Gegen den Begriff des „Ziels“ spricht sich in diesem Zusammenhang SKFrister, § 359 / 7 aus. Aus § 366 StPO ergäbe sich, dass der Antragsteller das Ziel seines Antrages nicht angeben müsse. Vielmehr sei die Aufhebung der Verurteilung in diesen Fällen unzulässig. Auch KMR-Eschelbach, § 363 / 1 erachtet § 363 StPO als Begrenzung der Statthaftigkeit des Wiederaufnahmeantrages. 197  § 363 StPO steht jedoch nur der Zulässigkeit eines Wiederaufnahmeantrages entgegen. Im Erneuerungsverfahren ergeben sich hieraus keine Einschränkungen, vgl. LR-Gössel, § 363 / 3. 198  LR-Gössel, § 363 / 2; MG § 359 / 41; Theobald, Barrieren im strafrechtlichen Wiederaufnahmeverfahren, S. 32. 199  KK-Schmidt, § 363 / 4, so dass die Anwendbarkeit der Wiederaufnahme ausscheidet, wenn die im Wiederaufnahmeantrag begehrte Norm einen gleichartigen Strafrahmen vorsieht. 200  KMR-Eschelbach, § 363 / 28. 201  KMR-Eschelbach, § 363 / 19. 202  LR-Gössel, § 359 / 150; MG § 359 / 42. Eine wesentlich andere Entscheidung kann dabei der Entfall der Maßregel sein, aber auch ihr Austausch hin zu einer günstigeren Maßregel oder die erhebliche Verkürzung ihrer Dauer i. S. e. einer Korrektur der Maßregelentscheidung, deren Voraussetzungen von Anfang an nicht vorgelegen haben, vgl. Marxen / Tiemann, Die Wiederaufnahme in Strafsachen, Rn. 100 ff.



B. Voraussetzungen für die Wiederaufnahme eines Strafverfahrens 57

Zulässig soll die Wiederaufnahme nach h. M. sein, die sich auf tatbestandlich vertypte Privilegierungen, Qualifikationen, benannte Strafänderungsgründe204 oder Regelbeispiele bezieht. Der Grund für Letzteres sei, dass Regelbeispiele Tatbestandsmerkmalen angenähert sind205 und daher einem anderen Gesetz i. S. d. § 363 StPO gleichstehen. Nur vereinzelt wird die Wiederaufnahme bei Regelbeispielen für unzulässig gehalten.206 Die Geltendmachung unbenannter Strafänderungsgründe und atypischer besonders schwerer Fälle soll demgegenüber nicht ausreichen, ein Wiederaufnahmeverfahren in Gang zu setzen.207 Aufgrund des beachtlichen Unterschieds zwischen Täterschaft und Teilnahme und der allein gesetzgeberischen Entscheidung einer obligatorischen oder fakultativen Strafrahmenänderung, können Vorschriften des allgemeinen Teils des StGB unabhängig davon, ob sie eine Milderung oder Verschärfung des Strafrahmens vorsehen, die Wiederaufnahme ermöglichen.208 Bringt der Verurteilte demnach vor, dass tatsächlich ein minder schwerer Fall anzunehmen gewesen wäre, oder macht er geltend, dass die Voraussetzungen eines Regelbeispiels oder einer strafschärfenden Strafzumessungsregel tatsächlich nicht vorgelegen haben, ist nach dem Gesetzeswortlaut des § 363 StPO entscheidend, ob sich die Strafmilderungsmöglichkeit aus demselben oder einem anderen Gesetz ergibt. Stellt sich heraus, dass die Voraussetzungen eines nicht benannten minder schweren Falles vorliegen bzw. die Voraussetzungen eines Regelbeispiels nicht anzunehmen sind, geht die h.A. davon aus, dass es sich um das gleiche Gesetz i. S. d. § 363 StPO handelt und eine Wiederaufnahme nicht möglich ist.209 Andererseits soll eine Wiederaufnahme dann zulässig sein, wenn sich Erkenntnisse ergeben, die einen benannten Strafschärfungsgrund nachträglich entfallen lassen.210

203  Eisenberg,

JR 2007, 360, 361. etwa § 49 Abs. 2 StGB, § 46a StGB, § 51 Abs. 3 StGB oder die Anwendbarkeit Jugendstrafrechts, vgl. MG § 363 / 4. 205  BGHSt 29, 359, 368. A. A. LR-Gössel, § 363 / 12. 206  OLG Düsseldorf NStZ 1984, 571; KK-Schmidt, § 363 / 5 und 8; MG § 363 / 5; LR-Gössel, § 363 / 12. 207  BGH NJW 1958, 1309 f.; OLG Stuttgart NJW 1968, 2206; MG § 363 / 5; KKSchmidt, § 363 / 7; Marxen / Tiemann, Die Wiederaufnahme in Strafsachen, Rn. 87. 208  Bspw. Beihilfe statt Täterschaft oder Anstiftung, Versuch statt Vollendung, Tateinheit statt Tatmehrheit, etc., HK-Temming, § 359 / 28. Nicht entscheidend ist insoweit, ob es sich um einen obligatorischen oder fakultativen Strafmilderungsgrund handelt, vgl. Waßmer, Jura 2002, 454, 455. 209  Stern, NStZ 1993, 409, 410. 210  OLG Stuttgart NJW 1968, 2206; LR-Gössel, § 363 / 11; KK-Schmidt, § 363 / 7; Theobald, Barrieren des strafrechtlichen Wiederaufnahmeverfahrens, S. 33. 204  Wie

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Teil 1: Rechtliche Grundlagen zum geltenden Wiederaufnahmerecht

Gründe, weshalb unbenannte Strafänderungsgründe anders als benannte zu behandeln sein sollten, erschließen sich nicht. Vielmehr muss sich eine derartige Praxis dem Vorwurf der Willkür aussetzen, wäre doch in beiden Fällen tatsächlich eine mildere Strafe zu verhängen gewesen.211 Letztlich ist die Gesetzesüberschrift für die Einordnung als Regelbeispiel oder Strafänderungsgrund unbeachtlich.212 Auch stellt es eine kaum nachvollziehbare Entscheidung des Gesetzgebers bzw. der formalen Gesetzestechnik dar, ob ein Strafänderungsgrund zum Gegenstand einer Strafzumessungsvorschrift wird – und damit lediglich relevant im Bereich der Strafzumessung – oder als Gegenstand einer tatbestandlichen Qualifikation oder Privilegierung, die damit ein anderes Gesetz im Sinne des § 363 StPO darstellen würden. Allein die Rechtsnatur einer Vorschrift als entscheidendes Abgrenzungsmerkmal für das Vorliegen eines Strafgesetzes i. S. d. Wiederaufnahmerechts heranzuziehen, erscheint aber bereits deshalb verfehlt, weil zwischen Qualifikationen und Regelbeispielen kein tiefgreifender Wesensunterschied besteht. Vielmehr charakterisiert beide ein erhöhter Unrechtsgehalt.213 Zugleich gibt es keinen nachvollziehbaren Grund, weshalb bei den fakultativen Strafmilderungsmöglichkeiten des Versuchs bzw. im Fall des Vorliegens eines vermeidbaren Verbotsirrtums nach § 17 StGB die Wiederaufnahme unproblematisch zulässig sein sollte.214 Es erscheint jedoch nicht nur vor dem Gleichheitssatz des Art. 3 GG bedenklich, unbenannte Strafzumessungsgründe anders zu behandeln als benannte, vielmehr würde dies als Konsequenz bedeuten, dass der Tatrichter beispielsweise dadurch, dass er die Annahme eines benannten Regelbeispiels ablehnt, den Angeklagten jedoch wegen eines unbenannten besonders schweren Falles verurteilt, vorweggenommen über die Zulässigkeit einer späteren Wiederaufnahme des Verfahrens entscheiden könnte. Für eine derartige Differenzierung ist von Verfassungs wegen kein Raum. Auch sind die Sachgründe, die den Gesetzgeber zur Begrenzung der Wiederaufnahme i. S. d. 211  Stern,

NStZ 1993, 409, 411. StV 1992, 534, 535; Theobald, Barrieren im strafrechtlichen Wiederaufnahmeverfahren, S. 33. 213  Funcke, Die Korrektur des Strafausspruches zugunsten des Verurteilten im Wege der Wiederaufnahme des Strafverfahrens, S. 48. 214  Marxen / Tiemann StV 1992, 534, 535; Theobald, Barrieren im strafrechtlichen Wiederaufnahmeverfahren, S. 33; Marxen / Tiemann, Die Wiederaufnahme in Strafsachen, Rn. 88; Funcke, Die Korrektur des Strafausspruches zugunsten des Verurteilten im Wege der Wiederaufnahme des Strafverfahrens, S. 92 f. Bei der Geltendmachung zwingender Strafmilderungsgründen, z. B. §§ 27 Abs. 2, 28 Abs. 1, 30 Abs. 1, 35 Abs. 2 StGB, ist die Wiederaufnahmemöglichkeit anerkannt, vgl. Funcke, Die Korrektur des Strafausspruches zugunsten des Verurteilten im Wege der Wiederaufnahme des Strafverfahrens, S. 87. Gegen die Möglichkeit einer Wiederaufnahme bei verschuldetem Verbotsirrtum OLG Oldenburg NJW 1953, 435. 212  Marxen / Tiemann



B. Voraussetzungen für die Wiederaufnahme eines Strafverfahrens 59

§§ 359 Nr. 5 Alt. 2, 363 Abs. 1 StPO veranlassten, nämlich dass das Wiederaufnahmegericht nicht nur die Ermessensentscheidung des ersten Tatgerichts wiederholt, ohne eine bessere oder richtigere Entscheidung treffen zu können215, nicht tangiert, wenn sich der Betroffene gegen die Verurteilung wegen eines unbenannten besonders schweren Falls wendet.216 Auch hier hat der Tatrichter kein freies Ermessen, vielmehr obliegt ihm eine Begründungspflicht. Die tatrichterliche Entscheidung der Annahme eines unbenannten besonders schweren Falles unterliegt auch der revisionsgerichtlichen Kontrolle. Gegenüber dem unbenannten besonders schweren Fall stellt demnach der Grundtatbestand ein anderes milderes Gesetz i. S. d. §§ 359 Nr. 5 Alt. 2, 363 Abs. 1 StPO dar.217 Für den Betroffenen und dessen tangierte (Freiheits-)Grundrechte ist es schließlich ohne Belang, ob sich eine Strafmilderungsmöglichkeit aus einem benannten oder unbenannten Strafmilderungsgrund ergibt.218 Liegt ein unbenannter minder schweren Fall vor, stellt dieser in der Konsequenz ein anderes Strafgesetz i. S. d. §§ 359 Nr. 5 Alt. 2, 363 Abs. 1 StPO dar.219 § 363 Abs. 1 StPO muss daher zur Vermeidung von Unbilligkeiten im Einzelfall bis zu einer klarstellenden Novellierung durch den Gesetzgeber verfassungskonform ausgelegt werden.220 Maßgeblich für die Anwendbarkeit wiederaufnahmerechtlicher Vorschriften für die Schaffung von Einzelfallgerechtigkeit im Bereich der Strafmaßwiederaufnahme ist demnach einzig die tatsächliche Wirkung der Vorschrift.221

215  Funcke, Die Korrektur des Strafausspruches zugunsten des Verurteilten im Wege der Wiederaufnahme des Strafverfahrens, S. 10 ff. 216  Funcke, Die Korrektur des Strafausspruches zugunsten des Verurteilten im Wege der Wiederaufnahme des Strafverfahrens, S. 65. Gleiches gilt für die vom Ausgangsgericht angenommenen benannten besonders schweren Fälle, vgl. a. a. O. S. 41, wenn in der Wiederaufnahme die Zugrundelegung des Grundtatbestandes angestrebt wird. Auch soweit sich der Antragsteller gegen das Vorliegen eines Regelbeispiels wendet, stehen die Sachgründe des historischen Gesetzgebers nicht entgegen, vgl. Funcke, Die Korrektur des Strafausspruches zugunsten des Verurteilten im Wege der Wiederaufnahme des Strafverfahrens, S. 54. 217  Funcke, Die Korrektur des Strafausspruches zugunsten des Verurteilten im Wege der Wiederaufnahme des Strafverfahrens, S. 85. 218  SSW-Kaspar, § 363 / 4. So auch Marxen / Tiemann, Die Wiederaufnahme in Strafsachen, Rn. 90. 219  Funcke, Die Korrektur des Strafausspruches zugunsten des Verurteilten im Wege der Wiederaufnahme des Strafverfahrens, S. 79. 220  So auch Marxen / Tiemann, Die Wiederaufnahme in Strafsachen, Rn. 91. 221  Theobald, Barrieren des strafrechtlichen Wiederaufnahmeverfahrens, S. 34.

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Teil 1: Rechtliche Grundlagen zum geltenden Wiederaufnahmerecht

(2) Generelle Zulässigkeit der Strafmaßwiederaufnahme Schlussendlich stellt sich die Frage, inwieweit im Wege der Wiederaufnahme eines Verfahrens die tatrichterliche Strafzumessung mit dem Ziel der Strafmilderung aufgrund des gleichen Strafgesetzes bei Vorliegen allgemeiner Strafzumessungsgesichtspunkte angreifbar sein sollte. Nachdem das Gericht innerhalb des gesetzlich vorgegebenen Strafrahmens ein erhebliches Ermessen hat, erscheint es naheliegend, im Wege einer Wiederaufnahme auch ungerecht hoch erscheinende Strafen anzugreifen.222 Tatsächlich kann die Umwandlung einer hohen Strafe in eine mildere Strafe für den Betroffenen wichtiger und spürbarer sein, als die Korrektur einer milden Strafe durch einen Freispruch.223 Eine entsprechende Forderung fand sich bereits im Gesetzesentwurf von 1936 / 1937.224 Auch im Jahr 1996 existierte ein entsprechender Gesetzesvorschlag der SPD, der als zulässiges Wiederaufnahmeziel die wesentlich mildere Bestrafung vorsah.225 Versteht man die Wiederaufnahme, wie geboten, nicht nur als Institut zur Korrektur grober Ungerechtigkeiten, sondern auch als Garantie zur Wahrung der Persönlichkeits- und Freiheitsrechte des betroffenen Einzelnen, erscheint die Anerkennung einer umfassenden Strafmaßwiederaufnahme überzeugend.226 Eine dahingehende Ausweitung wird im Hinblick auf den Wortlaut des § 363 Abs. 1 StPO jedoch fast ausschließlich verneint.227 Begründet wird dies mit mit der Gefährdung des Rechtsfriedens.228 Dabei handle es sich um 222  Alsberg, Justizirrtum und Wiederaufnahme, S. 56 f. Grund für den Ausschluss der Wiederaufnahme in diesem Zusammenhang de lege lata dürfte für den Gesetzgeber gewesen sein, dass die Strafzumessung im freien tatrichterlichen Ermessen steht und insbesondere im Urteil nicht begründet werden muss, so dass die Erheblichkeit des Wiederaufnahmevorbringens für das Wiederaufnahmegericht nicht überprüfbar ist. Im Wiederaufnahmeverfahren hätte daher die Ermessensentscheidung des Erstgerichts lediglich wiederholt werden können, ohne Gewähr, dass die Entscheidung des Wiederaufnahmegerichts richtiger wäre. Vgl. Funcke, Die Korrektur des Strafausspruches zugunsten des Verurteilten im Wege der Wiederaufnahme des Strafverfahrens, S. 107. 223  J. Meyer, Die Wiederaufnahme in rechtsvergleichender Darstellung, S. 769. 224  Peters, Fehlerquellen im Strafprozeß III, S. 26. 225  BT-Drs. 13 / 3594, S. 3. 226  So auch Eckert, Die Wiederaufnahme des Verfahrens im schweizerischen Strafprozeßrecht, S. 35. 227  Funcke, Die Korrektur des Strafausspruches zugunsten des Verurteilten im Wege der Wiederaufnahme des Strafverfahrens, S. 104 m. w. N. 228  Hanack / Gerlach / Wahle, Denkschrift zur Reform des Rechtsmittelrechts und der Wiederaufnahme, S. 87.



B. Voraussetzungen für die Wiederaufnahme eines Strafverfahrens 61

kein spezifisches Problem der Strafmaßwiederaufnahme, sondern um ein grundsätzliches Problem des Wiederaufnahmerechts. Gegen die Wiederaufnahme zum Zwecke einer neuen Strafzumessung spreche zudem, dass der Tatrichter nicht verpflichtet ist, die Strafzumessungserwägungen in den Urteilsgründen erschöpfend darzulegen.229 Die Strafzumessung sei vielmehr unüberprüfbare Aufgabe des Tatrichters. Zwar ist die konkrete Strafbemessung ein Akt rechtlich gebundenen Ermessens, wobei dem Tatgericht innerhalb des gesetzlichen Strafrahmens ein Spielraum eingeräumt wird.230 Wird dieser Spielraum jedoch überschritten oder liegt ein anderer revisibler Rechtsfehler vor, greift das Revisionsgericht korrigierend ein.231 Ergeben sich neue Umstände, die dem Tatgericht noch nicht zur Verfügung standen, erscheint es konsequent, eine Strafmaßwiederaufnahme anzuerkennen232, insbesondere dann, wenn Strafzumessung ihretwegen zwingend zu verschieben ist.233 So können neue Umstände, die in die richterliche Ermessensentscheidung zur Strafzumessung eingestellt würden, zu einer für den Verurteilten günstigeren Entscheidung führen.234 Dennoch ist kaum ein Fall denkbar, bei dem nicht neue Umstände vorgebracht werden könnten, um das Strafmaß in Frage zu stellen. Nicht sachgerecht erscheint, dass jeder Aspekt, der womöglich im Vergleich zu anderen Strafzumessungsaspekten marginal gewesen wäre, die Wiederaufnahme des Verfahrens rechtfertigen kann. Es stellt sich daher die Frage, welcher Maßstab für eine sachgerechte Handhabung einer de lege ferenda in Betracht zu ziehenden Strafmaßwiederaufnahmemöglichkeit heranzuziehen ist. 229  KK-Schmidt,

§ 363 / 1. 24, 132, 133; SK-Frister, § 363 / 1. 231  BGH NStZ-RR 2012, 168; SS-Stree / Kinzig § 46 / 65. Zu den revisiblen Rechtsfehlern im Bereich der Strafzumessung Funcke, Die Korrektur des Strafausspruches zugunsten des Verurteilten im Wege der Wiederaufnahme des Strafverfahrens, S. 112. Als revisible Rechtsfehler i. d. S. anerkannt: Der Strafzumessung wurde ein ungeklärter Sachverhalt zugrunde gelegt, den Erwägungen wurde ein falscher Strafrahmen zugrunde gelegt, es wurden widersprüchliche Strafzumessungserwägungen angestellt, anerkannte Strafzwecke wurden außer Acht gelassen, die erforderliche Gesamtbetrachtung von Tat und Täter fehlt oder es wurde keine Gesamtstrafe gebildet. So Funcke, Die Korrektur des Strafausspruches zugunsten des Verurteilten im Wege der Wiederaufnahme des Strafverfahrens, S. 112 m. w. N. 232  Die Anforderungen an die Zulässigkeit einer Wiederaufnahme mit dem Ziel der Herbeiführung einer wesentlich anderen Maßregelentscheidung sind hingegen nahezu unumstritten. Insoweit ist bereits ausreichend, wenn der Antragsteller solche Tatsachen vorträgt, die eine Milderung der verhängten Maßregel, eine andere günstigere Maßregel rechtfertigen oder den Schluss darauf zulassen, dass die Voraussetzungen der Maßregel nicht vorlagen, vgl. Theobald, Barrieren im strafrechtlichen Wiederaufnahmeverfahren, S. 34. 233  Brinkmann, Zum Anwendungsbereich der §§ 359 ff. StPO, S. 244. 234  SK-Frister, § 363 / 1. 230  BGHSt

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Teil 1: Rechtliche Grundlagen zum geltenden Wiederaufnahmerecht

Naheliegend wäre, auf Strafzumessungserwägungen des § 46 StGB, die dem Begriff des Strafgesetzes i. S. d. § 7 EGStPO gleichzustellen und gem. § 267 Abs. 3 StPO den schriftlichen Urteilsgründen zugrunde zu legen sind, als Maßstab einer Wiederaufnahmemöglichkeit abzustellen.235 Werden also vom Antragsteller neue Tatsachen vorgebracht, die im Erneuerungsverfahren i. R. d. allgemeinen Strafzumessung des § 46 StGB zu einer Strafmilderung führen, erscheint es denkbar, die Wiederaufnahme zu eröffnen.236 Es stellt sich jedoch nicht nur die Frage, ob die Orientierung an § 46 StGB eine taugliche Einschränkungsmöglichkeit eröffnet, sondern auch, ob es sich bei den dort genannten Erwägungen um ein milderes Strafgesetz i. S. d. § 359 Nr. 5 StPO handelt. Milder ist ein Strafgesetz, wenn es eine niedrigere Mindestoder Höchststrafe verlangt.237 Nicht jeder Aspekt, der im Rahmen des § 46 StGB als strafmildernd in Betracht kommt ist so erheblich, dass die Wiederaufnahme des Verfahrens allein deshalb sachgerecht erschiene.238 Derartige Umstände führen nämlich nicht zwingend zu einer Strafmilderung, sondern betreffen ausschließlich Strafzumessungserwägungen, deren Beurteilung im gerichtlichen Ermessen stehen. Die Wiederaufnahme des Verfahrens wegen Strafzumessungserwägungen würde daher die tatrichterliche Ermessensentscheidung wiederholen – ohne Gewährleistung eines besseren Ergebnisses, und würde ermöglichen, was revisionsrechtlich nur bei groben Missverhältnissen möglich sein soll: eine Prüfung der Angemessenheit der verhängten Strafe. Die Wiederaufnahmemöglichkeit ist daher de lege lata abzulehnen, da es sich bei Strafzumessungserwägungen des § 46 StGB nicht um ein milderes Strafgesetz i. S. d. § 359 Nr. 5 StPO handelt.239 Hinzu kommt, dass ausweislich der Urteilsgründe des § 267 Abs. 3 S. 1 StGB nur die bestimmenden Umstände der Strafzumessung wiederzugeben sind. Solange dem Tatrichter diese Freiheit eingeräumt bleibt, kann nicht verlässlich beurteilt werden, ob ein Aspekt für die Strafzumessung wesentlich war oder nicht. Vor diesem Hintergrund stellt die Orientierung an § 46 StGB im Hinblick auf § 267 StPO auch de lege ferenda keinen tauglichen Maßstab dar. Denkbar wäre zudem eine Orientierung an den im Revisionsrecht entwickelten Maßstäben für tatrichterliche Strafzumessungserwägungen. Demnach soll eine Strafe rechtsfehlerhaft bemessen sein, wenn sie sich von ihrer Be235  Funcke, Die Korrektur des Strafausspruches zugunsten des Verurteilten im Wege der Wiederaufnahme des Strafverfahrens, S. 105. 236  Kaspar / Arnemann, R&P 2016, 58, 63. 237  MG § 359 / 41. 238  SK-Frister, § 363 / 3. 239  A. A. Funcke, Die Korrektur des Strafausspruches zugunsten des Verurteilten im Wege der Wiederaufnahme des Strafverfahrens, S. 105 ff.



B. Voraussetzungen für die Wiederaufnahme eines Strafverfahrens 63

stimmung, gerechter Schuldausgleich zu sein, so weit nach oben oder unten vom üblichen Strafmaß löst, dass ein grobes Missverhältnis von Schuld und Strafe offenkundig ist.240 Auch dieser Maßstab erscheint jedoch – wie die Orientierung an der Wesentlichkeit – mangels Konkretisierbarkeit als nicht praxistauglich, kann demnach de lege ferenda ebenso wenig in Betracht gezogen werden. Schließlich wurde in vergangenen Gesetzesvorschlägen die Erwartung einer wesentlichen241 Strafmilderung gefordert bzw. darauf abgestellt, ob die Aufrechterhaltung der ursprünglichen Sanktion als grobe Unbilligkeit erschiene.242 Ein entsprechender Gesetzesvorschlag war bereits durch den Strafrechtsausschuss der BRAK entworfen worden243, ebenso wie im Jahr 1996 durch die SPD-Fraktion.244 Fraglich bliebe jedoch, wann diese Wesentlichkeitsschwelle überschritten wird, ist die Strafzumessung doch eine Ermessensentscheidung des Tatrichters im Einzelfall, für die es eben keine starren Richtwerte gibt, und deren Angemessenheit nicht der umfassenden revisionsrechtlichen Kontrolle unterliegt.245 Die grundsätzliche Zulassung der Wiederaufnahme im Bereich der Strafzumessung außerhalb von gesetzlich vorgesehen Strafänderungsgründen, erscheint daher nicht ohne weiteres praktikabel. Da sich der Maßstab der Wesentlichkeit in § 359 Nr. 5 StPO im Hinblick auf eine Entscheidung über eine Maßregel der Besserung und Sicherung findet, erscheint er dem gesetzgeberischen Ziel des § 359 Nr. 5 StPO, mit der Wiederaufnahme eine für den Verurteilten günstigere Entscheidung herbeizuführen, noch am nächsten zu kommen. Da der Maßstab jedoch mangels Bestimmbarkeit keine praktische Handhabung ermöglicht, ist er im Ergebnis auch de lege ferenda abzulehnen. (3) § 363 Abs. 2 StPO Wie bereits dargestellt, sollen fakultative Strafmilderungsgründe nach den Vorschriften des allgemeinen Teils des StGB eine Wiederaufnahmemöglich240  BGHSt

29, 319, 320. Wesentlichkeitsmaßstab findet sich im Wiederaufnahmerecht bereits hinsichtlich § 359 Nr. 5 StPO, soweit es um die Wiederaufnahme zum Zwecke einer anderen Maßregelentscheidung geht, Peters, Fehlerquellen im Strafprozeß II, S. 319 f. Entsprechend auch SSW-Kaspar, § 363 / 7; Eckert, Die Wiederaufnahme des Verfahrens im schweizerischen Strafprozeßrecht, S. 53. 242  Rieß, NStZ 1994, 153, 159. 243  Hanack / Gerlach / Wahle, Denkschrift zur Reform des Rechtsmittelrechts und der Wiederaufnahme, S.  86 f. 244  BT-Drs. 13 / 3594. 245  BGH NJW 1977, 1459, 1460. 241  Der

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Teil 1: Rechtliche Grundlagen zum geltenden Wiederaufnahmerecht

keit eröffnen. § 21 StGB sieht eine eben solche Strafmilderungsmöglichkeit vor. Gem. § 363 Abs. 2 StPO ist eine auf § 359 StPO gestützte Wiederaufnahme mit dem Ziel der Strafmilderung wegen Vorliegen der Voraussetzungen des § 21 StGB jedoch ausdrücklich ausgeschlossen. Der Betroffene wird in dieser Konstellation auf den Gnadenweg verwiesen.246 Der Hintergrund dürfte sein, dass der Gesetzgeber eine Antragsflut vermeiden wollte.247 Die Regelung des § 363 Abs. 2 StPO war bereits Gegenstand einer verfassungsgerichtlichen Entscheidung. Das Bundesverfassungsgericht erkannte keinen Verstoß gegen Art. 3 Abs. 1 GG. Die unterschiedliche Behandlung eines Angeklagten, dessen verminderte Zurechnungsfähigkeit noch in der Hauptverhandlung festgestellt werde, im Vergleich zu einem Verurteilten, bei dem sie sich erst nach Rechtskraft des Urteils herausstellt, rechtfertige sich durch die besondere Bedeutung der Rechtskraft einer Entscheidung für den Rechtstaat. Auch sei die gesetzgeberische Entscheidung, dass die Voraussetzungen einer Schuldunfähigkeit zwar die Wiederaufnahme eines Verfahrens ermöglichen, nicht jedoch die verminderte Zurechnungsfähigkeit, nicht willkürlich und stelle auch keinen Verstoß gegen Art. 2 Abs. 1 GG dar, da im ersten Fall die für die strafrechtliche Verantwortlichkeit erforderliche Schuld gänzlich fehle, in der zweiten Konstellation hingegen nur vermindert sei.248 Diese Argumentation erscheint zunächst in sich überzeugend. Sie lässt jedoch außer Betracht, dass in den übrigen Fällen der fakultativen Strafmilderungsmöglichkeit, die Wiederaufnahme zulässig sein soll.249 Nur bei Vorliegen eines sachlichen Differenzierungsgrundes wäre diese Ungleichbehandlung, gemessen an Art. 3 GG, tolerierbar. Der Gesetzgeber ging offensichtlich mit Einführung des § 363 Abs. 2 StPO im Jahr 1933, in dem zugleich die Regelung des § 21 StGB eingeführt wurde, davon aus, dass Gerichte mit auf verminderte Schuldfähigkeit stützenden Wiederaufnahmeanträgen, überhäuft werden würden.250 Da jedoch für einen auf Vorliegen der verminderten Schuldfähigkeit gem. § 21 StGB gestützten Antrag die Anforderungen der §§ 359 Nr. 5, 366, 368 StPO zu stellen sind, insbesondere die Geeignetheit des Vorbringens darzulegen ist, kann dies nicht ohne Weiteres angenommen werden. Funcke kommt daher in seiner ausführlichen Untersuchung zu dem überzeugenden Ergebnis, dass auch das Vorliegen der Voraussetzungen gem. 246  KK-Schmidt,

§ 363 / 11. § 363 / 3; KK-Schmidt, § 363 / 11. 248  BVerfG NJW 1956, 1026. A. A. Marxen / Tiemann, Die Wiederaufnahme in Strafsachen, Rn. 99. 249  Funcke, Die Korrektur des Strafausspruches zugunsten des Verurteilten im Wege der Wiederaufnahme des Strafverfahrens, S. 95 f.; Peters, Fehlerquellen im Strafprozeß III, S. 90. 250  Funcke, Die Korrektur des Strafausspruches zugunsten des Verurteilten im Wege der Wiederaufnahme des Strafverfahrens, S. 96. 247  HK-Temming,



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§ 21 StGB die Wiederaufnahme eines Verfahrens begründen können muss.251 Er hält § 363 Abs. 2 StPO wegen Verstoßes gegen das Willkürverbot des Art. 3 Abs. 1 GG für verfassungswidrig.252 Tatsächlich stellt es einen Wertungswiderspruch dar, wenn bei § 359 Nr. 5 StPO die Möglichkeit einer Strafmilderung aufgrund eines anderen Strafgesetzes ausreichend ist, während die Anwendbarkeit des § 21 StGB, der zwingend zu einer milderen Bestrafung führen muss, die Wiederaufnahmemöglichkeit nicht eröffnet sein soll.253 Hinzu kommt, dass für einen Wiederaufnahmeantrag i. d. R. ein Sachverständigengutachten erforderlich sein dürfte, an das die Anforderungen des § 359 Nr. 5 StPO zu stellen sind. Mithin ist ein derartiges Sachverständigengutachten im Regelfall nur dann neu, wenn der Sachverständige über neuartige Forschungsmittel etc. verfügt.254 Zudem erscheint § 363 Abs. 2 StPO als bedenklich, ist doch die Grenze zwischen Schuldunfähigkeit und verminderter Schuldfähigkeit nicht starr.255 Er sollte daher gestrichen werden.256 Im japanischen Recht ist die Wiederaufnahme mit dem Ziel der Strafmilderung wegen verminderter Schuldfähigkeit bereits zulässig.257 (4) Antragsziel der Korrektur von Rechtsfehlern Der Betroffene kann nicht in jeder Situation auf die Rehabilitation durch ein Wiederaufnahmeverfahren bauen. Erwächst eine verfahrensabschließende Entscheidung in Rechtskraft, besteht für ihn keine Möglichkeit, darin enthaltene Rechtsfehler im Instanzenzug zu korrigieren. Es ist jedoch davon auszugehen, dass Rechtsfehler weitaus weniger häufig vorkommen als Tatsachenirrtümer.258 251  Funcke, Die Korrektur des Strafausspruches zugunsten des Verurteilten im Wege der Wiederaufnahme des Strafverfahrens, S. 96 ff. 252  Funcke, Die Korrektur des Strafausspruches zugunsten des Verurteilten im Wege der Wiederaufnahme des Strafverfahrens, S. 99. Aus diesen Erwägungen sei auch im Falle der Anwendbarkeit der Rechtsfolgenlösung des BGH beim Heimtückemord die Wiederaufnahme eines Verfahrens möglich, vgl. Funcke, Die Korrektur des Strafausspruches zugunsten des Verurteilten im Wege der Wiederaufnahme des Strafverfahrens, S. 100 f. unter Hinweis auf OLG Bamberg NJW 1982, 1714, 1715. 253  So auch Kaspar / Arnemann, R&P 2016, 58, 63. 254  SK-Frister, § 363 / 21. 255  Wasserburg / Eschelbach, GA 2003, 335, 345. 256  So auch SK-Frister, § 363 / 22 und Deml, Zur Reform der Wiederaufnahme des Strafverfahrens, S. 167. 257  Kato, ZIS 2006, 354, 358. 258  So geht Dippel, Das geltende deutsche Wiederaufnahmerecht und seine Erneuerung, S. 26 davon aus, dass Fehlurteile durch falsche Rechtsanwendung selten sind.

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Teil 1: Rechtliche Grundlagen zum geltenden Wiederaufnahmerecht

Rechtsfehlerhafte, aber dennoch in Rechtskraft erwachsene Entscheidungen können im Wege einer Verfassungsbeschwerde angegriffen werden. Vo­ raussetzung dafür ist jedoch, dass spezifisches Verfassungsrecht verletzt ist, etwa weil die Entscheidung gegen das Willkürverbot verstößt.259 Das Bundesverfassungsgericht ist jedoch keine Superrevisionsinstanz, so dass eine Verlagerung der Problematik von der Strafgerichtsbarkeit zum Bundesverfassungsgericht hin, zu dessen Überlastung führen würde, die nicht akzeptabel wäre.260 Diskutiert wird, ob ein Urteil beim Vorliegen schwerster Mängel bzw. offensichtlicher Rechtsfehler nichtig ist. Als für deren Geltendmachung in Betracht kommender Rechtsbehelf wird eine sog. Nichtigkeitsbeschwerde in Erwägung gezogen.261 Die Nichtigkeit eines Urteils soll dazu führen, dass es im Ganzen unwirksam und damit rechtlich unbeachtlich ist. Dass dies jedoch nur in Ausnahmefällen möglich sein kann, folgt bereits aus dem Grundsatz der Rechtssicherheit. So ist im geltenden Rechtssystem der StPO der Urteilsspruch auch bei Vorliegen von Rechtsfehlern gültig, wenn auch anfechtbar. Die Nichtigkeit eines Urteils kann daher allenfalls dann angenommen werden, wenn die Annahme seiner Gültigkeit aufgrund seiner groben Fehlerhaftigkeit unerträglich ist und in Widerspruch zur rechtsstaatlichen Ordnung steht262 und die Fehlerhaftigkeit des Urteils offenkundig ist.263 Leidet eine 259  Bajohr, Die Aufhebung rechtsfehlerhafter Strafurteile im Wege der Wiederaufnahme, S. 126. 260  Bajohr, Die Aufhebung rechtsfehlerhafter Strafurteile im Wege der Wiederaufnahme, S. 130. 261  Peters, Fehlerquellen im Strafprozeß III, S. 12 ff. Mit § 362 öStPO können im Wege einer außerordentlichen Nichtigkeitsbeschwerde rechtskräftige Urteile, die rechtliche Mängel aufweisen, korrigiert werden, vgl. Peters, Fehlerquellen im Strafprozeß III, S. 7. Auch in Deutschland wurde etwa durch eine Verordnung vom 21.02.1940 mit Einführung der Nichtigkeitsbeschwerde die Möglichkeit geschaffen, auf Rechtsmängeln fußende rechtskräftige Urteile von Amtsrichtern, der Strafkammer und des Sondergerichts innerhalb einer Jahresfrist zugunsten oder zuungunsten des Verurteilten zu korrigieren, vgl. Peters, Fehlerquellen im Strafprozeß III, S. 7. Auch Binding sprach sich dafür aus, ein auf einem materiellen Rechtsfehler oder auf einer fälschlich angenommenen Prozessvoraussetzung basierendes Urteil als nichtig zu erachten, vgl. Lampe, GA 1968, 33, 35. Lampe erachtet vor der Möglichkeit, sämtliche Fehler, die die Entscheidung grob ungerecht machen, im Wege der Verfassungsbeschwerde anzugreifen, eine Nichtigkeitsbeschwerde für nicht erforderlich, vgl. Lampe, GA 1968, 33, 45. Eine derartige Kassation ist – lediglich auf Antrag des Generalstaatsanwalts beim Kassationshof – etwa in Frankreich, Ägypten, Belgien und Holland möglich, vgl. J. Meyer, Die Wiederaufnahme in rechtsvergleichender Darstellung, S. 736. 262  KK-Hannich, Vorbemerkungen zu § 359 / 15a. 263  BGH NJW 1985, 926; BGH NJW 1980, 1586; BGH NStZ 1984, 279; BVerfGE 29, 45, 49; BVerfG NJW 1985, 125 f. Brinkmann, Zum Anwendungsbereich der §§ 359 ff. StPO, S. 28.



B. Voraussetzungen für die Wiederaufnahme eines Strafverfahrens 67

Entscheidung unter besonders krassen Mängel, erkennt die h. M. die Nichtigkeit eines Urteils – obwohl der StPO unbekannt – an.264 Die förmliche Feststellung der Nichtigkeit bei Vorliegen grober Fehler, wäre im Sinne der Rechtssicherheit und zur Stärkung des Vertrauens der Allgemeinheit in den Richterspruch grundsätzlich zu begrüßen.265 Zwar würde die Suche nach der materiellen Wahrheit gestärkt werden, zugleich würde jedoch das Institut der Rechtskraft einer Entscheidung durchgreifend in Frage gestellt bzw. aufgehoben werden.266 Es dürfte zudem kaum möglich sein, einen verlässlichen Maßstab auszumachen, wann ein Urteil so grob fehlerhaft ist, dass es als nichtig zu betrachten wäre, weshalb die Nichtigkeitsbeschwerde auch aufgrund des in Art. 103 Abs. 2 GG verankerten Bestimmtheitsgebots abzulehnen ist.267 Zudem bietet das geltende Recht ausreichende Korrekturmöglichkeiten, bspw. im Wege der Verfassungsbeschwerde, den Rechtsmitteln und Rechtsbehelfen sowie dem Wiederaufnahmeverfahren.268 Schließlich würde ein derartiger gesetzgeberischer Akt, im Ergebnis, eine Art Über-Revision schaffen, die sich nicht mehr, wie die Revision, auf nichtrechtskräftige Urteile beschränken würde. Da die Annahme der Nichtigkeit eines Urteils somit weder rechtlich haltbar ist, noch praktikabel erscheint, ist sie (de lege lata sowie de lege ferenda) abzulehnen.269 Ist das in Rechtskraft erwachsene Urteil bei Vorliegen von materiellrechtlichen Fehlern nicht nichtig, stellt sich die Frage, ob es im Wege der Wiederaufnahme angreifbar ist. Die Wiederaufnahme soll auch bei offensichtlich unrichtiger Rechtsanwendung270 im Ausgangsurteil, ebenso wie im Fall einer Änderung der Rechtsprechung bzw. im Fall eines allgemeinen Beurteilungs-

264  Brinkmann, Zum Anwendungsbereich der §§ 359  ff. StPO, S. 29 f.; WeberKlatt, Die Wiederaufnahme von Verfahren zu Ungunsten des Angeklagten, S. 123 ff. Die Nichtigkeit eines Urteils sei etwa anzunehmen, wenn die deutsche Strafgerichtsbarkeit fehlt, eine unbekannte Strafart verhängt wird oder die Bestrafung aufgrund einer tatsächlich so nicht bestehenden Vorschrift erfolgt; wenn sich das Urteil gegen eine andere Person richtet, gegen den Grunsatz des ne bis in idem verstoßen wird oder krasse Mängel in der Person des Richters anzunehmen sind. 265  KK-Hannich, Vorbemerkungen zu § 359 / 15a. Für eine Nichtigkeitsbeschwerde oder einen anderen Rechtsbehelf, der offensichtliche Rechtsfehler korrigiert auch Peters, Fehlerquellen im Strafprozeß III, S. 63. 266  Gössel, NStZ 1993, 565, 567. 267  Dippel, Das geltende deutsche Wiederaufnahmerecht und seine Erneuerung, S. 59; Brinkmann, Zum Anwendungsbereich der §§ 359 ff. StPO, S. 31 ff. 268  Brinkmann, Zum Anwendungsbereich der §§ 359 ff. StPO, S. 39 ff. 269  Weber-Klatt, Die Wiederaufnahme von Verfahren zu Ungunsten des Angeklagten, S. 139. Dass für die Lehre von der Urteilsnichtigkeit auch kein Bedarf besteht, berichtet Brinkmann, Zum Anwendungsbereich der §§ 359 ff. StPO, S. 30 ff. 270  MG § 359 / 25; LR-Gössel, § 359 / 78.

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Teil 1: Rechtliche Grundlagen zum geltenden Wiederaufnahmerecht

wandels271 nicht möglich sein. Nach der ganz h. M. dient die Wiederaufnahme de lege lata lediglich der Korrektur der einer richterlichen Ent­ scheidung zugrunde liegenden tatsächlichen Feststellungen. Die fehlerhafte Rechtsanwendung stellt jedoch bislang kein anerkanntes Wiederaufnahmeziel dar.272 Insbesondere soll die unrichtige Rechtsanwendung nach h. M. keinen Fall neuer Tatsachen oder Beweismittel i. S. d. § 359 Nr. 5 StPO darstellen.273 Peters hingegen vertritt die Auffassung, dass auch Rechtsregeln, die von subjektiver Auslegung unabhängig sind, dem Tatsachenbegriff zuzuordnen sind. Er spricht insoweit aufgrund deren Allgemeingültigkeit von Rechtstatsachen und ordnet diese als Tatsachen bei § 359 Nr. 5 StPO ein.274 Rechtstatsachen sollen demnach insbesondere die Änderung oder der Wegfall eines angewendeten Gesetzes oder die Änderung der Rechtsprechung sein275, aber auch solche Tatsachen, deren Würdigung einen bestimmten Rechtsbegriff erschließen.276 Dieses Verständnis Peters’ würde jedoch dazu führen, dass keine Unterscheidung zwischen einer Tatsache im klassischen Sinn277 und Rechtstatsachen, mithin der rechtlichen Beurteilung eines Sachverhalts, möglich wäre. Da letztere jedoch nicht dem Beweis zugänglich sind und nicht die dem Urteil zugrunde liegende Tatsachengrundlage definieren, um deren Korrektur es im Wiederaufnahmeverfahren jedoch gerade geht, erscheint die von Peters angedachte Einordnung von Rechtstatsachen als Tatsachen i. S. d. § 359 Nr. 5 StPO nicht zielführend.278 Durch die Anerkennung von Rechtstatsachen i. R. d. § 359 Nr. 5 StPO würde vielmehr die Grenze zwischen Tatsachen und Rechtsanwendungsfehlern verschoben; fehlerhafte Rechtsanwendung könnte, 271  BGH NJW 1993, 1481; OLG Bamberg NJW 1982, 1714; BVerfG NJW 1961, 1203; KG NJW 1977, 1162, 1163. Insofern wird auf den Gnadenweg verwiesen. 272  BGH NStZ 1993, 502, 503; KG NJW 1991, 2505, 2506; Theobald, Barrieren des strafrechtlichen Wiederaufnahmeverfahrens, S. 116. 273  Rechtfehler können jedoch mittelbar über § 359 Nr. 3 StPO die Wiederaufnahme ermöglichen, AK-Loos, vor § 359 / 6. 274  Rechtstatsachen sind u. a. die Änderung eines Gesetzes, der Rechtsprechung oder einer verfestigten Rechtsregel, vgl. Peters, Fehlerquellen im Strafprozeß III, S. 63 ff.; SSW-Kaspar, § 359 / 24. 275  Eisenberg, Beweisrecht der StPO, Rn. 436. 276  Peters, Fehlerquellen im Strafprozeß III, S. 64. 277  Als Tatsache im materiellrechtlichen Sinn werden solche Umstände der Gegenwart oder Vergangenheit betrachtet, die dem Beweis zugänglich sind, TF § 263 / 6. 278  Im Ergebnis so auch BVerfG NJW 2007, 207, 209 und BGH NJW 1993, 1481, 1482; OLG Zweibrücken, Beschluss vom 14.09.2009, Az. 1 Ws 108 / 09, in: BeckRS 2009, 25266; KK-Schmidt, § 359 / 19. Marxen / Tiemann, Die Wiederaufnahme in Strafsachen, Rn. 173; Eisenberg, Beweisrecht der StPO, Rn. 436.



B. Voraussetzungen für die Wiederaufnahme eines Strafverfahrens 69

statt in der Revision, (auch) in der Wiederaufnahme gerügt werden.279 Die Wiederaufnahme würde damit zur zeitlich unbefristeten Revision umgewandelt. Richtigerweise stellen Rechtstatsachen demnach keine Tatsachen i. S. d. § 359 Nr. 5 StPO dar.280 Zu erwägen ist daher, ob de lege ferenda auch formelle oder materielle Rechtsfehler ein zulässiges Antragsziel im Wiederaufnahmerecht darstellen sollen. In seiner Entscheidung vom 03.12.1991 betonte der Bundesgerichtshof: „Mit Ausnahme des Falles der Mitwirkung eines unredlichen Richters (§ 359 Nr. 3 StPO) kann die auf falscher Rechtsauffassung beruhende ‚noch so falsche Entscheidung‘ im Wiederaufnahmeverfahren nur bei Unrichtigkeit des der fehlerhaften Entscheidung zugrundeliegenden Sachverhalts beseitigt werden (…).“281

Die fehlerhafte Rechtsanwendung ist damit – abgesehen von §§ 359 Nr. 3, 6 StPO und § 79 BVerfGG – als tauglicher Wiederaufnahmegrund nicht anerkannt.282 Die Problematik um die Korrektur von Rechtsfehlern stellt sich nicht nur, wenn der Antragsteller solche isoliert im Wiederaufnahmeantrag rügt, sondern auch, wenn er die Tatsachengrundlage angreift und das Wiederaufnahmegericht bei Prüfung der Tatsachengrundlage Rechtsfehler in der Ausgangsentscheidung erkennt. Versagt man die Korrektur von Rechtsfehlern im Wege der Wiederaufnahme, ist das Wiederaufnahmegericht gezwungen, falsche Rechtsauffassungen unkorrigiert zu übernehmen. Diese Perpetuierung des Unrechts dürfte dem Gedanken des Wiederaufnahmerechts, Fehlentscheidungen im Sinne der Gerechtigkeit zu korrigieren, widersprechen und dem Verfahrensziel der materiellen Einzelfallgerechtigkeit zuwiderlaufen.283 Die Erweiterung des Wiederaufnahmerechts um den Wiederaufnahmegrund des Vorliegens von Rechtsfehlern, die den Betroffenen gleichsam belasten können wie Mängel im tatsächlichen Bereich, könnte daher zur Herstellung materieller Gerechtigkeit beitragen.284 279  MG § 359 / 24; LR-Gössel, § 359 / 78; KK-Schmidt, § 359 / 19; Gössel, NStZ 1993, 565; Wasserburg, Die Wiederaufnahme des Strafverfahrens, S. 304. A. A. Peters, Fehlerquellen im Strafprozeß III, S. 63 ff. Nicht möglich soll die Wiederaufnahme daher gegen den Wegfall oder die Änderung eines angewendeten Gesetzes sein bzw. aufgrund einer geänderten Rspr., vgl. MG § 359 / 24 m. w. N. Ablehnend schließlich auch BGH NJW 1993, 1481, 1482. 280  BGHSt 51, 202, 208. 281  BGH NJW 1993, 1481, 1482. 282  Gorka, in: Miebach / Hohmann, Wiederaufnahme in Strafsachen, Teil D, Rz. 18. 283  So wohl auch Peters, Fehlerquellen im Strafprozeß III, S. 64 f. 284  J. Meyer, Wiederaufnahmereform, S. 116 und Wasserburg, ZRP 1997, 412, 414. Um die Wiederaufnahme jedoch nicht zu einer Super-Revisionsinstanz umzu-

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Teil 1: Rechtliche Grundlagen zum geltenden Wiederaufnahmerecht

Lantzke unterbreitete bereits 1970 einen Gesetzesvorschlag für einen neu einzuführenden Wiederaufnahmegrund: „Die Wiederaufnahme zugunsten des Angeklagten ist auch gegen solche rechtskräftigen tatrichterlichen Urteile zulässig, in denen eine unzutreffende Strafnorm auf den festgestellten Sachverhalt angewendet worden ist und die Anwendung des richtigen Gesetzes ohne weitere tatsächliche Erörterungen zu einem Freispruch oder zur Anwendung einer minderschweren Strafnorm führen würde.“285

Auch Deml sprach sich dafür aus, einen neuen Wiederaufnahmegrund zur Beseitigung grob rechtsfehlerhafter Entscheidungen einzuführen. Grob rechtsfehlerhaft sei eine Entscheidung, wenn der Mangel evident ist, mithin die Fehlerhaftigkeit der Entscheidung für das Wiederaufnahmegericht eindeutig sei. Zudem müsse das Urteil den Verurteilten empfindlich beeinträchtigen und zu erwarten sein, dass die richtige Rechtsanwendung zu einer vom Urteil erheblich zugunsten des Betroffenen abweichenden Entscheidung führe.286 Aus den Freiburger Untersuchungen von Meyer / Jeschek ergibt sich, dass rechtsvergleichend die Zulassung der Wiederaufnahme aufgrund materieller und formeller Rechtsfehler geboten wäre.287 Meyer empfiehlt daher, die Wiederaufnahme auch bei juristisch offensichtlichen, materiellen Rechtsfehlern und bei Verletzung rechtsstaatlicher Verfahrensgrundsätze zuzulassen.288 Eine Einschränkung dieser Wiederaufnahmemöglichkeit sieht er vor, wenn das erstinstanzliche Urteil in der zweiten Instanz bestätigt worden ist.289 1993 wurde ein Gesetzesentwurf in den Bundestag eingebracht, der Rechtsanwendungsfehler und offensichtliche Verletzungen rechtsstaatlicher Verfahrensgrundsätze als Wiederaufnahmegrund vorschlug. Zur Begründung wurde ausgeführt, dass das Gerechtigkeitsempfinden der Allgemeinheit bei Vorliegen von Rechtsanwendungsfehlern mindestens ebenso stark verletzt sei wie in Fällen, in denen sich nachträglich herausstellt, dass das Urteil auf einer falschen Tatsachengrundlage basiert.290 Diese in § 359 Nr. 2 StPO-E vorgesehene Wiederaufnahmemöglichkeit sollte jedoch gem. § 359 Abs. 2 StPO-E ausgeschlossen sein, wenn das Urteil in zweiter Instanz bestätigt wurde.291 funktionieren, möchte Wasserburg die Wiederaufnhme auf schwerwiegende Rechtsfehler beschränken. 285  Zitiert nach Bajohr, Die Aufhebung rechtsfehlerhafter Strafurteile im Wege der Wiederaufnahme, S. 127. 286  Zitiert nach Bajohr, Die Aufhebung rechtsfehlerhafter Strafurteile im Wege der Wiederaufnahme, S. 127. 287  J. Meyer, Wiederaufnahmereform, S. 126. 288  J. Meyer, Wiederaufnahmereform, S. 129, 133. 289  J. Meyer, Wiederaufnahmereform, S. 135. 290  BT-Drs. 12 / 6219, S. 1 und 3. 291  BT-Drs. 12 / 6219, S. 3.



B. Voraussetzungen für die Wiederaufnahme eines Strafverfahrens 71

Schließlich wurde ein Gesetzesentwurf zur Korrektur rechtsfehlerhafter Urteile im Wege der Wiederaufnahme von der SPD erneut am 29.01.1996 vorgelegt. Demgemäß sollte die Wiederaufnahme auch dann möglich sein, wenn ein Urteil offensichtliche Rechtsfehler enthält.292 Der Begriff der Offensichtlichkeit sollte die Wiederaufnahmemöglichkeit einschränken und nur solche Fälle erfassen, in denen der Rechtsanwendungsfehler auch für einen Rechtsunkundigen ohne Weiteres erkennbar wäre. Nicht offensichtlich sei ein Rechtsfehler etwa, wenn er in der Rechtsmittelinstanz unerkannt bliebe.293 Der Gesetzesvorschlag scheiterte an den parlamentarischen Kräfteverhältnissen.294 Unabhängig von der Frage, ob die katalogisierten Wiederaufnahmegründe um einen entsprechenden Wiederaufnahmegrund zu erweitern sind, ist zunächst zu bedenken, dass die Prüfung einer Entscheidung auf Rechtsfehler bereits im Rahmen der Revision stattzufinden hat und die nach Rechtskraft mögliche Wiederaufnahme nicht zur Wiederholung einer revisionsrechtlichen Überprüfung bzw. gar zu einem weiteren Instanzenzug führen darf.295 Andernfalls könnten im Zuge der Wiederaufnahme Versäumnisse der Revision wiedergutgemacht werden.296 Dem könnte dadurch begegnet werden, dass die Wiederaufnahme nur für solche Fällen zugelassen würde, in denen die angefochtene gerichtliche Entscheidung noch nicht revisionsgerichtlich überprüft wurde, wie dies etwa von Wasserburg befürwortet wird.297 Wesentlich gegen die Ausweitung der Wiederaufnahmemöglichkeiten auf Rechtsfehler spricht hingegen die unbefristete Möglichkeit, einen Wiederaufnahmeantrag zu stellen. Der Betroffene hätte mit der Wiederaufnahme die Möglichkeit, unabhängig von der Geltendmachung der Rechtsfehler im Revisionsverfahren, diese im Rahmen der Wiederaufnahme einzubringen, was der Rechtssicherheit zuwiderlaufen würde. Wer auf die Revision bewusst verzichtet bzw. die Revisionsfrist versäumt hat, hätte dann die Möglichkeit sein Verfahren im Wege der Wiederaufnahme aufzurollen. Dies würde letztlich die Befristung von Rechtsmitteln und die Wirkung der Rechtskraft unterlaufen. Obwohl im Wiederaufnahmerecht der materiellen Wahrheit der Vorrang zu geben ist, darf der Grundsatz der Rechtssicherheit doch nicht vollkommen aufgegeben werden.298 292  BT-Drs.

13 / 3594, S. 3. 13 / 3594, S. 9. 294  Theobald, Barrieren im strafrechtlichen Wiederaufnahmeverfahren, S. 4. 295  Rieß, NStZ 1994, 153, 158. 296  Theobald, Barrieren des strafrechtlichen Wiederaufnahmeverfahrens, S. 109. 297  Wasserburg, Die Wiederaufnahme des Strafverfahrens, S. 23. 298  Schünemann, ZStW 84 (1972), 870 f.; Stoffers, ZRP 1998, 173, 175. Ablehnend Wasserburg, ZRP 1997, 412, 414, der betont, dass das Gewicht eines Rechtsfeh293  BT-Drs.

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Teil 1: Rechtliche Grundlagen zum geltenden Wiederaufnahmerecht

Die oben genannten Gesetzesvorschläge sind daher abzulehnen. Im Übrigen fehlt etwa dem Vorschlag Lantzkes eine Begrenzung auf die Korrektur lediglich solcher Rechtsfehler, die eine Wiederaufnahme erforderlich machten.299 Auch gegen den Gesetzesvorschlag Demls bestehen Bedenken dahingehend, wann ein Fehler evident ist bzw. die Fehlerhaftigkeit der Entscheidung für das Wiederaufnahmegericht eindeutig ist. Dies dürfte den von Deml angedachten Wiederaufnahmegrund im Ergebnis praktisch leerlaufen lassen. Auch die 1993 und 1996 eingebrachten Gesetzesentwürfe sind wegen des zu unbestimmten Begriffs der „Offensichtlichkeit“ abzulehnen. Zu bedenken ist schließlich, dass die Möglichkeit der Wiederaufnahme aus rechtlichen Gründen – insbesondere bei Schaffung einer Generalklausel – auch die Gefahr einer Instrumentalisierung in sich birgt. Es könnte dann die jeweils aktuell empfundene Gerechtigkeit durchgesetzt werden. Allgemeingültige Gerechtigkeit gibt es jedoch nicht. Die Vergangenheit zeigt, dass sich das Verständnis von Gerechtigkeit stetig verändert hat.300 Für den durch Rechtsfehler beschwerten Verurteilten besteht daher nach Rechtskraft der verfahrensabschließenden Entscheidung nur die Möglichkeit, im Gnadenweg von der Strafvollstreckung verschont zu werden.301 (5) Antragsziel bei Rechtsprechungs- bzw. bei Gesetzesänderungen Die Wiederaufnahme auch bei Änderung der materiellrechtlichen Lage, d. h. nach Änderungen in der höchstrichterlichen Rechtsprechung bzw. Gesetzesänderungen, zuzulassen, erscheint ebenso erwägenswert. Dafür spricht sich etwa von Stackelberg aus.302 Zudem deuten § 79 BVerfGG und § 359 Nr. 6 StPO darauf hin, dass sich der Gesetzgeber in diesen Fällen bewusst dafür entschieden hat, die Wiederaufnahme aufgrund materiellrechtlicher lers nicht deshalb weniger schwer wiegt, weil der Fehler auch in der zweiten Instanz nicht korrigiert wurde. 299  Bajohr, Die Aufhebung rechtsfehlerhafter Strafurteile im Wege der Wiederaufnahme, S. 130. 300  Bajohr, Die Aufhebung rechtsfehlerhafter Strafurteile im Wege der Wiederaufnahme, S. 132. 301  Dabei ist jedoch zu beachten, dass es nach Auffassung des BVerfG NJW 1971, 795, BVerfG NJW 1978, 2591 und BVerfG NJW 1969, 1895, 1896 ff. – im Gegensatz zum Anspruch auf die Wiederaufnahme des Verfahrens – keinen Rechtsanspruch auf Gnade gibt. Hinzu kommt, dass solche Verurteilte, die über einen langen Zeitraum hinweg ihre Unschuld beteuert haben, Recht statt Gnade wollen, vgl. Peters, Fehlerquellen im Strafprozeß III, S. 39. Der Gnadenerweis beseitigt nämlich gerade nicht den durch eine rechtskräftige Verurteilung eingetretenen Strafmakel, vgl. KMREschelbach, Vor § 359 / 47. 302  v. Stackelberg, in: Festgabe Peters, S. 454.



B. Voraussetzungen für die Wiederaufnahme eines Strafverfahrens 73

Erwägungen rückwirkend zuzulassen. Ändert sich die Rechtslage nachträglich zugunsten des Verurteilten, stellt sich die Frage, ob er noch nachträglich in den Genuss von Vorteilen kommen soll. Eine Entscheidung, die zum Zeitpunkt ihres Erlasses der geltenden Rechtslage entsprach, ist per se keine Fehlentscheidung.303 Die Wiederaufnahme zuungunsten des Betroffenen im Falle von Rechtssprechungs- und Gesetzesänderungen zuzulassen, erscheint schon angesichts des Rückwirkungsverbotes des § 1 StGB, Art. 103 Abs. 2 GG, problematisch. Aber auch im Falle der günstigen Wiederaufnahme ist eine Entscheidung, die ursprünglich rechtskonform war, nicht später durch Rechtssprechungs- bzw. Gesetzesänderungen fehlerhaft geworden, bedenkt man, dass die Wiederaufnahme darauf abzielt, die tatsächlichen Urteilsfeststellungen zu erschüttern, die im Falle von Gesetzes- bzw. Rechtsprechungsänderungen nicht tangiert sind. Das Bundesverfassungsgericht hat bereits 1953 betont, dass das Rechtsstaatsprinzip des Art. 20 Abs. 3 GG als wesentlichen Bestandteil die Gewährleistung der Rechtssicherheit enthält. Zwar ist die Korrektur einer gericht­ lichen Entscheidung in den gesetzlich normierten Wiederaufnahmekonstella­ tionen möglich, nicht möglich ist sie jedoch da, wo nach althergebrachter und unbestrittener Rechtsüberzeugung ein Grund nicht geeignet ist, ein Wiederaufnahmeverfahren herbeizuführen. Vielmehr sind der Rechtsfriede und die Rechtssicherheit von einer derart zentralen Bedeutung für den Rechtsstaat, dass um ihretwillen die Möglichkeit einer im Einzelfall vielleicht unrichtigen Entscheidung in Kauf genommen werden müsse. Der Gesetzgeber hat auch im Zusammenhang mit § 79 BVerfGG erkannt, dass der Rechtsfriede und die Rechtssicherheit dem Rechtsschutz des Einzelnen vorgehen kann, so dass in diesem Fall lediglich die Wiederaufnahme des Verfahrens möglich ist, ohne dass der aufgrund einer nichtigen Norm erlassene Akt per se nichtig ist. Mit dem Gedanken der Rechtssicherheit ist es daher unverträglich, wenn Akte der Staatsgewalt, die aufgrund eines gültigen Gesetzes zustande gekommen sind, nur wegen eines Wandels der Rechtsauffassung wieder beseitigt werden könnten. Eine derartige Preisgabe der Rechtssicherheit kann nur dann gerechtfertigt sein, wenn besonders zwingende und schwerwiegende, den Erwägungen der Rechtssicherheit übergeordnete Gründe dazu Anlass geben.304 Dem Bundesverfassungsgericht ist lediglich insoweit zu widersprechen, als der Rechtsfriede und die Rechtssicherheit nicht einseitig zulasten der materiellen Gerechtigkeit überbetont werden dürfen. Im Übrigen erscheinen die Erwägungen dem Grunde nach überzeugend. Ausfluss der Rechtssicher303  Peters,

Fehlerquellen im Strafprozeß III, S. 66. NJW 1953, 1137, 1138.

304  BVerfG

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Teil 1: Rechtliche Grundlagen zum geltenden Wiederaufnahmerecht

heit ist § 2 Abs. 1 StGB, demgemäß sich die Strafe nach dem Gesetz bestimmt, das zur Zeit der Tat gilt. Ist für den Täter zur Zeit der Tat bestimmt vorhersehbar, dass, und wie er sich strafbar macht, besteht auch keine Notwendigkeit, ihn in den Genuss nachträglicher Gesetzesänderungen kommen zu lassen.305 Schließlich würde die Zulassung der Wiederaufnahme in diesen Fällen die Autorität der Rechtspflege und damit auch das Vertrauen der Allgemeinheit in die Rechtspflege in Frage stellen. Dies wäre dem beabsichtigten Eintritt des Rechtsfriedens abträglich.306 Ist die Wiederaufnahme jedoch nicht einmal im Falle einer nachträglichen Gesetzesänderung statthaft, ist sie es erst Recht nicht im Falle bloßer Rechtssprechungsänderung. Weder die Änderung des in der Ausgangsentscheidung angewandten Gesetzes noch der Wandel der Rechtsprechung stellen demnach neue Tatsachen i. S. d. § 359 Nr. 5 StPO dar.307 Die Einführung eines Wiederaufnahmegrundes ist auch de lege ferenda abzulehnen. (6) A  ntragsziel der Strafaussetzung zur Bewährung bzw. der Herbeiführung einer anderen Entscheidung gem. § 47 StGB Die Möglichkeit der Strafaussetzung zur Bewährung wird im Zusammenhang mit der Wiederaufnahme eines Verfahrens in zweierlei Hinsicht relevant: Einerseits wird diskutiert, ob die Wiederaufnahme bei Beibringung von Tatsachen oder Beweismitteln möglich sein sollte, die die (nachträgliche) Anordnung der Strafaussetzung zur Bewährung rechtfertigen. Zum anderen stellt sich die Frage, ob die Wiederaufnahme auch gegen rechtskräftige Bewährungswiderrufsbeschlüsse zuzulassen ist. Die Wiederaufnahme gem. § 359 Nr. 5 StPO mit dem Ziel der nachträg­ lichen Strafaussetzung zur Bewährung, wird von der h. M. abgelehnt. § 56 StGB sei kein milderes Strafgesetze i. S. d. § 359 Nr. 5 StPO.308 § 56 StGB berühre nicht die Frage der Anwendbarkeit eines milderen Strafgesetzes, sondern nur die Strafaussetzung zur Bewährung. § 56 StGB habe jedoch weder auf die Strafart noch auf die Strafhöhe Auswirkung.309

305  A. A.

SK-Frister, § 359 / 88. Die Aufhebung rechtsfehlerhafter Strafurteile im Wege der Wiederaufnahme, S. 141. 307  BGH NStZ 1993, 502, 503; KK-Schmidt, § 359 / 19; KMR-Eschelbach, § 359 / 147 f. 308  OLG Nürnberg NStZ-RR 2015, 318; Funcke, Die Korrektur des Strafausspruches zugunsten des Verurteilten im Wege der Wiederaufnahme des Strafverfahrens, S. 135. 309  OLG Nürnberg NStZ-RR 2015, 318; MG § 359 / 41. 306  Bajohr,



B. Voraussetzungen für die Wiederaufnahme eines Strafverfahrens 75

Dem Verständnis der h. M. steht entgegen, dass Strafgesetz i. S. d. §§ 359 Nr. 5 Alt. 2, 363 Abs. 1 StPO nicht den engen Begriff des Straftatbestandes meint, sondern gem. § 7 EGStPO jede Rechtsnorm des Strafrechts.310 Auch § 56 StGB stellt demnach ein Gesetz i. S. d. §§ 359 Nr. 5 Alt. 2, 363 Abs. 1 StPO dar. Fraglich ist aber, ob es sich bei § 56 StGB um ein milderes Strafgesetz handelt. Milder ist ein Strafgesetz, wenn es eine niedrigere Mindestoder Höchststrafe verlangt.311 Günstiger ist ein Strafgesetz dann, wenn es auch keine Strafandrohung enthält, jedoch die Rechtsfolgen für den Täter reduziert.312 Funcke will den Wortlaut des § 56 StGB daher dahingehend auslegen, dass milder auch das Strafgesetz ist, das die Rechtsfolgen zugunsten des Täters verringert.313 § 56 StGB stellt tatsächlich weder einen eigenen Straftatbestand dar noch sieht er mildernde Umstände vor. Insbesondere sind die Voraussetzungen, die zur Strafaussetzung zur Bewährung führen können, nicht abschließend in § 56 StGB normiert. So verlangt § 56 Abs. 1 StGB – anders als die Normen des materiellen Strafrechts – eine Prognoseentscheidung und eröffnet dem Tatrichter ein Ermessen. Die Wiederaufnahme zuzulassen würde folglich zu einer Wiederholung der Ermessensausübung führen, ohne dass klar wäre, ob ein „richtigeres“ Urteil zu erwarten wäre. Ferner ist zu beachten, dass die Frage der Strafaussetzung zur Bewährung nicht die tatsächlichen Urteilsfeststellungen berührt, sondern die Rechtsfolge. Letztere ist im Wege der Wiederaufnahme jedoch nicht angreifbar. Der h. M. ist insoweit zu folgen, als die Frage der Strafaussetzung zur Bewährung des § 56 StGB kein milderes Gesetz i. S. d. § 359 Nr. 5 StPO darstellt. Aus den gleichen Gründen wird auch die Möglichkeit abgelehnt, die Verhängung einer kurzen Freiheitsstrafe wiederaufnahmerechtlich anzugreifen. § 47 StGB sei keine Strafzumessungsnorm, die i. S. e. milderen Strafgesetzes eine geringere Strafdrohung darstelle oder die Strafbarkeit vermindernde Umstände vorsehe. Vielmehr erfolge die Strafzumessung zunächst ohne Anwendung des § 47 StGB, der erst später vom Gericht als Anwendungsregel bei Fällen, wahlweise von Freiheits- oder Geldstrafe, herangezogen werde, wenn eine Freiheitsstrafe von unter 6 Monaten als angemessen erachtet wurde.314 Demgegenüber betont Funcke, dass § 47 StGB mit seinen konkreten 310  Funcke, Die Korrektur des Strafausspruches zugunsten des Verurteilten im Wege der Wiederaufnahme des Strafverfahrens, S. 135. 311  MG § 359 / 41. 312  Funcke, Die Korrektur des Strafausspruches zugunsten des Verurteilten im Wege der Wiederaufnahme des Strafverfahrens, S. 135 f. 313  Funcke, Die Korrektur des Strafausspruches zugunsten des Verurteilten im Wege der Wiederaufnahme des Strafverfahrens, S. 136. 314  OLG Nürnberg NStZ-RR 2015, 318.

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Teil 1: Rechtliche Grundlagen zum geltenden Wiederaufnahmerecht

Voraussetzungen ein milderes bzw. anderes Strafgesetz i. S. d. wiederaufnahmerechtlichen Bestimmungen darstelle.315 Dabei sei insbesondere relevant, dass der Wechsel von einer Freiheitsstrafe zu einer Geldstrafe für den Verurteilten stets eine erhebliche Milderung bedeute.316 Letztlich gelten jedoch auch hinsichtlich der Verhängung einer kurzen Freiheitsstrafe gem. § 47 StGB die gleichen Ausführungen wie zu § 56 StGB. Auch § 47 StGB tangiert nicht die tatsächlichen Urteilsgrundlagen, sondern die Frage der Rechtsfolge, so dass die Vorschriften des Wiederaufnahmerechts nicht anwendbar sind. Fraglich ist weiter, ob zulässiges Antragsziel der Wiederaufnahme die Korrektur eines Bewährungswiderrufsbeschlusses sein kann. Zur Beantwortung dieser Frage ist streng zu differenzieren: Werden die Grundlagen der zum Bewährungswiderruf führenden Nachverurteilung durch Tatsachen angegriffen, ist die Wiederaufnahme gegen den Widerrufsbeschluss unstatthaft. Vielmehr ist die Nachverurteilung selbst im Wege der Wiederaufnahme anzufechten. Im Erfolgsfall kann die Vollstreckungsbehörde von der Strafvollstreckung im Gnadenwege absehen.317 Ob der Bewährungswiderrufsbeschluss gem. § 56f StGB im Wege der Wiederaufnahme angreifbar ist, ist umstritten. Dabei ist schon die Frage, ob die Vorschriften der § 359 ff. StPO (analog) auf Beschlüsse anwendbar sind, höchst umstritten. Nach dem insoweit eindeutigen Wortlaut des § 359 StPO wäre dies zunächst abzulehnen.318 Hinzu kommen die formalen und inhaltlichen Unterschiede von Beschluss- und Urteilsverfahren.319 Nicht verkannt werden darf dabei, dass Widerrufsbeschlüsse gem. §§ 56f, 67g StGB sachlich-rechtliche Rechtsfolgen, ähnlich einem Urteil haben.320 Der Beschluss über den Widerruf der Bewährung ist ein das Urteil ergänzender Beschluss. Er enthält eine Sachentscheidung, die in materieller Rechtskraft erwachsen kann, so dass die Anwendbarkeit der Wiederaufnahmeregelungen aufgrund der urteilsgleichen Wirkung naheliegend erscheint.321 Es ist 315  Funcke, Die Korrektur des Strafausspruches zugunsten des Verurteilten im Wege der Wiederaufnahme des Strafverfahrens, S. 141. 316  Funcke, Die Korrektur des Strafausspruches zugunsten des Verurteilten im Wege der Wiederaufnahme des Strafverfahrens, S. 142. 317  OLG Celle, Beschluss vom 29.08.2012, Az. 2 Ws 130 / 12, in: BeckRS 2012, 19758. 318  Ablehnend auch MG vor § 359 / 5; HK-Temming, Vor §§ 359 ff. / 5. 319  KMR-Eschelbach, Vor § 359 / 76. 320  Gegen eine Anwendbarkeit auf diese Konstellationen HansOLG Hamburg StV 2000, 568; OLG Stuttgart NStZ-RR 1996, 176 f.; PfzOLG Zweibrücken NStZ 1997, 55; LG Hamburg NStZ 1991, 149, 150; MG vor § 359 / 5; HK-Temming, Vor §§ 359 ff. / 5; LR-Gössel, Vor § 359 / 69. Befürwortend OLG Oldenburg NJW 1962, 1169; LG Bremen StV 1990, 311. 321  HansOLG Hamburg StV 2000, 568, 569; LR-Gössel, Vor § 359 / 66.



B. Voraussetzungen für die Wiederaufnahme eines Strafverfahrens 77

kein Grund ersichtlich, warum diesem Beschluss größere Bestandskraft zukommen sollte als dem Urteil selbst, zumal das Urteilsverfahren im Regefall mit mehr Aufwand betrieben wird.322 Vertreten wird daher, die § 359 ff. StPO entsprechend auch auf Bewährungswiderrufsbeschlüsse anzuwenden, wobei sich das Verfahren nach §§ 458, 462 StPO richte.323 Ist der Aussetzungswiderruf gem. §§ 56 ff. StGB offensichtlich unrichtig, aber bestandskräftig geworden, ist der Betroffene laut h. M. nach Rechtskraft der Entscheidung gem. § 462 StPO auf den Gnadenweg zu verweisen, da die §§ 359 ff. StPO unanwendbar sein sollen.324 Zur Begründung dafür wird angeführt, dass der Widerrufsbeschluss im Wege der sofortigen Beschwerde fristgebunden anfechtbar ist und nach Ablauf der Beschwerdefrist Rechtsfrieden eintreten soll.325 Zudem wäre es Sache des Gesetzgebers, die Regeln der Wiedereaufnahme auf Entscheidungen über den Widerruf einer Straf- bzw. Reststrafenaussetzung zur Bewährung für anwendbar zu erklären, was er jedoch bislang unterlassen hat, so dass von keiner planwidrigen Regelungslücke auszugehen sei.326 bb) Formelle Anforderungen an den Sachvortrag Anders als im Erkenntnisverfahren, ist die Geltung des Untersuchungsgrundsatzes im Wiederaufnahmeverfahren nicht unumstritten und wird von der h. M. abgelehnt.327 Im Rahmen des Aditionsverfahrens gilt – wie im Zivilverfahren bzw. für die Erhebung einer Verfahrensrüge gem. § 344 Abs. 2 322  Brinkmann,

Zum Anwendungsbereich der §§ 359 ff. StPO, S. 190. Oldenburg NJW 1962, 1169; OLG Düsseldorf MDR 1993, 67; LG Bremen StV 1990, 311; OLG Düsseldorf StV 1993, 87; SK-Frister, Vor § 359 / 22; Hohmann, NStZ 1991, 507. 324  OLG Celle, Beschluss vom 29.08.2012, Az. 2 Ws 130 / 12, in: BeckRS 2012, 19758; OLG Düsseldorf StraFo 2004, 146 f.; OLG Stuttgart NStZ-RR 1996, 176; OLG Stuttgart wistra 2001, 239; PfzOLG Zweibrücken NStZ 1997, 55, 56. Die h. M. beruft sich dafür insbesondere auf den Wortlaut der §§ 359, 373a StPO, vgl. LG Hamburg NStZ 1991, 149, 150. Ablehnend auch HK-Temming, Vor §§ 359 ff. / 5. A. A. LG Bremen StV 1990, 311. 325  OLG Düsseldorf, Beschluss vom 01.12.2003, Az. III  – 3 Ws 454 / 03, in: BeckRS 2003, 30334620; PfzOLG Zweibrücken NStZ 1997, 55, 56; Theobald, Barrieren im strafrechtlichen Wiederaufnahmeverfahren, S. 21. 326  OLG Stuttgart NStZ-RR 1996, 176; PfzOLG Zweibrücken NStZ 1997, 55, 56. 327  Dies ist umstritten. Die h. M. will den Untersuchungsgrundsatz im Probationsverfahren anerkennen, was bereits deshalb überzeugt, weil das Gericht lediglich im Probationsverfahren durch die Erhebung von Beweisen ermittelt und aufklärt, um die Richtigkeit des Wiederaufnahmevorbringens zu überprüfen. Zum Teil wird die Anwendbarkeit des Untersuchungsgrundsatzes gänzlich abgelehnt. Vgl. hierzu Theobald, Barrieren des strafrechtlichen Wiederaufnahmeverfahrens, S. 97. 323  OLG

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Teil 1: Rechtliche Grundlagen zum geltenden Wiederaufnahmerecht

S. 2 StPO – primär die Dispositionsmaxime und der Beibringungsgrundsatz. Der Antragsteller muss gem. § 366 StPO einen Wiederaufnahmegrund sowie die dazugehörigen Beweismittel in seinem Antrag anführen.328 Für seinen zulässigen Tatsachenvortrag muss der Antragsteller demnach geeignete Beweismittel329 benennen. Dabei muss das einzelne Beweismittel so genau bezeichnet werden, dass das Gericht es für die Durchführung der Beweisaufnahme heranziehen kann.330 Gem. §§ 366 Abs. 1, 368 Abs. 1 StPO ist ein in der Form des § 366 Abs. 2 StPO zu stellender Wiederaufnahmeantrag331 nur dann zulässig, wenn neben einem gesetzlich normierten Wiederaufnahmegrund332 auch geeignete Beweismittel schlüssig vorgetragen werden. Der Sachvortrag ist schlüssig, wenn bei unterstellter Richtigkeit333 der vom Antragsteller behaupteten Tatsachen ein gesetzlich normierter Wiederaufnahmegrund anzunehmen wäre. In der Darstellung der Schlüssigkeit seines Antrags liegt daher eine Hürde für den Antragsteller. Er muss dartun, welches Ergebnis die Beweiserhebung vermutlich haben wird, um darzulegen, dass es reale Anhaltspunkte für das von ihm behauptete Beweisergebnis gibt.334 Ähnlich wie beim Antrag auf Klageerzwingung gem. § 172 Abs. 3 S. 1 StPO oder der Darstellung einer 328  Insoweit handelt es sich um die allgemeinen Darlegungslasten, vgl. Theobald, Barrieren des strafrechtlichen Wiederaufnahmeverfahrens, S. 118 f. 329  Im Rahmen des § 359 Nr. 5 StPO ist der Verurteilte nicht auf die förmlichen Beweismittel der StPO beschränkt. Umstritten ist, ob der Beweismittelbegriff in § 368 Abs. 1 StPO damit weiter zu fassen sei, als der allgemeine Beweismittelbegriff der StPO (LR-Gössel, § 359 / 132). Umstritten ist, ob der Antragsteller in diesen Fällen ein Beweismittel im Sinne des § 359 Nr. 5 StPO ist, oder seine Angaben Tat­ sachen im Sinne des § 359 Nr. 5 StPO darstellen. Im Hinblick auf den Beweismittelbegriff der StPO ist die Ansicht vorzugswürdig, die den Antragsteller nicht als Beweismittel betrachtet, sondern seine Erklärung dem Tatsachenbegriff des § 359 Nr. 5 StPO zuschreibt. So auch KG JR 1976, 76, 77; KK-Schmidt, § 366 / 2; K.-H. Meyer, in: Festgabe Peters, S. 391. A. A. MG § 359 / 26. 330  LR-Gössel, § 366 / 3. 331  Der von einem Verteidiger oder einem Rechtsanwalt unterzeichnete Wiederaufnahmeantrag muss gem. § 366 Abs. 2 StPO schriftlich oder zu Protokoll der Geschäftsstelle des gem. § 140a GVG zuständigen Wiederaufnahmegerichts oder gem. § 367 Abs. 1 StPO zu Protokoll der Geschäftsstelle des Gerichts, dessen Urteil angefochten wird, eingereicht werden. Für den inhaftierten Verurteilten besteht darüber hinausgehend die Möglichkeit den Antrag bei der Geschäftsstelle desjenigen Amtsgerichts anzubringen, bei dem er verwahrt wird, §§ 299 Abs. 1, 365 StPO. 332  Der Antrag auf Wiederaufnahme eines Strafverfahrens kann jedoch auch auf mehrere Wiederaufnahmegründe gestützt werden. Dabei besteht zwischen den einzelnen Wiederaufnahmegründen kein Spezialverhältnis, vgl. KK-Schmidt, § 359 / 3. 333  Ob die vom Antragsteller vorgebrachten Tatsachen tatsächlich zutreffen, wird erst in der Stufe des Probationsverfahrens geprüft. 334  SK-Frister, § 359 / 50 f.



B. Voraussetzungen für die Wiederaufnahme eines Strafverfahrens 79

Verfahrensrüge in der Revisionsbegründungsschrift gem. § 344 Abs. 2 S. 2 StPO muss die Darstellung der den Wiederaufnahmegrund ergebenden Umstände aus sich heraus verständlich sein.335 Erforderlich ist weiterhin, dass der Gegenstand des Verfahrens, mithin das angegriffene Urteil, ebenso wie das Antragsziel mitgeteilt werden.336 Die Behauptungen des Antragstellers sind dabei durch entsprechende schriftliche Erklärungen oder Protokolle bzw. durch schriftliche Gutachten in das Wiederaufnahmegesuch zu integrieren. Die Bezugnahme oder der Verweis auf andere Schriftstücke soll nach h. M. nicht ausreichend sein.337 Der Ausschluss von Bezugnahmen und Verweisungen ist weder gesetzlich vorgesehen noch sachgerecht. Dem für die Wiederaufnahme zuständigen Gericht liegen die vollständigen Akten vor.338 Es darf daher vom Wiederaufnahmegericht erwartet werden, dass es sich mit dem Verfahrensstoff auseinandersetzt und auch solche Dokumente zur Kenntnis nimmt, auf die verwiesen wird. Hinzu kommt, dass der Antrag, der aufgrund eines unzureichenden Vortrages als unzulässig verworfen wird, mit entsprechenden Korrekturen erneut gestellt werden kann339, solange mangels Sachentscheidung kein Verbrauch des Antragsvorbringens eingetreten ist.340 Eine formalistische Betrachtung, wie sie die h. M. durch den Ausschluss von Bezugnahmen provoziert, würde daher (lediglich) zu einer ungerechtfertigten Verfahrensverzögerung führen. Entspricht das Antragsvorbringen den formellen Voraussetzungen nicht, müsste das Wiederaufnahmegericht den Antrag als unzulässig verwerfen. Richtig erscheint jedoch, dass dem Wiederaufnahmegericht eine besondere Fürsorgepflicht obliegt, die sich aus der speziellen Struktur des Wiederaufnahmerechts ergibt. Das Wiederaufnahmegericht ist aus prozessökonomischen Gründen nicht nur gehalten, Anträge auszulegen, sondern hat gegebenenfalls gerichtliche Hinweise zu erteilen.341 Die prozessuale Fürsorgepflicht gebietet, dass dem Antragsteller bzw. dessen Verteidiger Gelegenheit gegeben wird, seinen Antrag zu vervollständigen, wenn es diesem an Inhalt mangelt 335  OLG

Hamburg StraFo 2003, 430; OLG Stuttgart NStZ-RR 2000, 243. § 366 / 1; MG § 366 / 1. 337  LG Saarbrücken, Beschluss vom 20.08.2013, Az. 2 Ks 05 Js 216 / 06 (1 / 13), in: BeckRS 2014, 03013; OLG Hamm NJW 1980, 717; MG § 366 / 1. 338  Peters, Fehlerquellen im Strafprozeß III, S. 123; Marxen / Tiemann, Die Wiederaufnahme in Strafsachen, Rn. 130; Strate, Der Verteidiger in der Wiederaufnahme, http: /  / www.strate.net / de / publikationen / verteidiger_in_der_wiederaufnahme.html (zuletzt aufgerufen am 13.05.2014). 339  LR-Gössel, § 366 / 1. 340  KK-Schmidt, § 366 / 17; Marxen / Tiemann, Die Wiederaufnahme in Strafsachen, Rn. 66. 341  LR-Gössel, § 366 / 1. 336  LR-Gössel,

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Teil 1: Rechtliche Grundlagen zum geltenden Wiederaufnahmerecht

und das Zuwenig an Inhalt ohne Weiteres heilbar erscheint.342 Demnach hat das Wiederaufnahmegericht den Antragsteller etwa auch darauf hinzuweisen, dass ein auf § 359 Nr. 5 StPO gestützter Antrag lückenhaft ist.343 Aber auch auf andere, leicht behebbare formale Mängel ist der Antragsteller vor einem Verwerfungsbeschluss hinzuweisen.344 Bei Zweifeln über das Antragsziel hat das Wiederaufnahmegericht vor Verwerfung des Antrags den Betroffenen etwa zu befragen.345 Der Antragsteller erhält damit Gelegenheit, sein Wiederaufnahmegesuch zu ergänzen.346 Insbesondere auf das Ausmaß und den Umfang der besonderen Darlegungs-347 und Beweislast sollte der Antragsteller hingewiesen werden, soweit sein Vortrag den Anforderungen nicht genügt. Dies gebietet bereits der Grundsatz des fairen Verfahrens, wenn – der h. M. folgend348 – ein nicht erfolgreiches Wiederaufnahmevorbringen als prozessual verbraucht gilt.349 Dieser Forderung folgend, würde die gerichtliche Fürsorgepflicht einer Kompensation der dem Antragsteller aufgebürdeten hohen Darlegungserfordernisse entsprechen.350 Um den Rechtschutz des Betroffenen nicht auszuhöhlen, ist er deshalb richtigerweise auf eine mögliche Ergänzung seines Antrags vor einer Entscheidung hinzuweisen. Derartiges offenes Prozessieren, das mitunter seinen Ausdruck in § 369 Abs. 4 StPO gefunden hat, wahrt rechtliches Gehör und ist damit auch Ausdruck des fairen Verfahrens.351 Dem Wiederaufnahmegericht obliegen ähnlich einem Zivilgericht mit § 139 ZPO Hinweispflichten gegenüber dem Antragsteller. Verfassungsrechtlich ist diese Hinweispflicht aus dem Fairnessgebot des Art. 2 Abs. 1 i. V. m. Art. 20 Abs. 3 GG abzuleiten, zudem aus Art. 19 Abs. 4 S. 1 GG und Art. 103 Abs. 1 GG.352

342  OLG

Hamm NJW 1980, 717. § 366 / 1 und § 368 / 1; Marxen / Tiemann, Die Wiederaufnahme in Strafsachen, Rn. 8 und 68. 344  LR-Gössel, § 368 / 11; KK-Schmidt, § 365 / 2. 345  MG § 366 / 3. Eine absolute Vergleichbarkeit zum Zivilprozess erscheint insoweit nicht möglich, als dem Wiederaufnahmegericht das gesamte Aktenmaterial des Ausgangsverfahrens vorliegt, das im Zivilprozess erst beigebracht werden muss, vgl. KMR-Eschelbach, § 366 / 6 und Peters, Fehlerquellen im Strafprozeß III, S. 140 f. 346  MG § 366 / 1 und 3. 347  Zu den erweiterten Darlegungslasten grundlegend s. u. 416 ff. 348  s. hierzu ausführlich unten S. 388. 349  SSW-Kaspar, § 368 / 11; KMR-Eschelbach, Vor § 359 / 9. 350  AK-Loos, § 359 / 75. 351  BVerfG NJW 2013, 1058, 1062. 352  KMR-Eschelbach, § 366 / 81 und KMR-Eschelbach, § 365 / 52. 343  SSW-Kaspar,



B. Voraussetzungen für die Wiederaufnahme eines Strafverfahrens 81

b) Wiederaufnahmeantrag zuungunsten des Freigesprochenen oder Angeklagten Die in § 362 StPO normierte ungünstige Wiederaufnahme bezieht sich auf den zu Unrecht Freigesprochenen, der erstmals einer Bestrafung zugeführt werden soll, aber auch auf den Verurteilten, der im Rahmen des § 363 StPO einer schwereren Bestrafung zugeführt werden soll. Den Vorschriften über die Wiederaufnahme zuungunsten des Angeklagten liegt dabei der Gedanke zugrunde, dass sich ein irrtümlich Freigesprochener nicht folgenlos öffentlich einer Straftat rühmen können soll. Es stehe in seinem freien Willen, ob er nach erfolgter Freisprechung ein glaubhaftes Geständnis der Tat353 ablegt, so dass seine Interessen mit Zulassung der ungünstigen Wiederaufnahme nicht gefährdet seien.354 Der Freigesprochene, aber auch der zu milde Bestrafte, sollen demnach einer gerechten Bestrafung zugeführt werden können.355 Diese nach Rechtskraft zulässige Bestrafungsmöglichkeit unterliegt der verfassungsrechtlichen Schranke des Verbots einer Mehrfachverfolgung gem. Art. 103 Abs. 3 GG. Verfassungsrechtlich eingeschränkt sind auch die Wiederaufnahmemöglichkeiten des § 362 StPO mit Art. 103 Abs. 2 GG. Die Vorschriften der ungünstigen Wiederaufnahme müssen sich demnach – auch de lege ferenda – daran messen lassen, ob die Wiederaufnahmemöglichkeit begrenzt und sachlich begründet ist. Die Vorschriften zur ungünstigen Wiederaufnahme, die restriktiv anzuwenden sind356, müssen demnach stets vorhersehbar, berechenbar und messbar sein, um verfassungsrechtlichen Anforderungen zu genügen.357 Sie dürfen nicht zudem beliebig ausgedehnt werden.358 Die Wiederaufnahme zuungunsten des Freigesprochenen oder Verurteilten359 kann neben der Staatsanwaltschaft auch der Privatkläger anstreben, nicht jedoch der Nebenkläger. Die Staatsanwaltschaft darf nur bei sachlichem 353  Wobei das Geständnis i. d. R. den objektiven Tatbestand einer Straftat sowie eine täterschaftliche Beteiligung daran beinhalten muss, vgl. LR-Gössel, § 362 / 15. Das Geständnis ist glaubhaft, wenn es denkgesetzlich möglich ist und der Lebens­ erfahrung entspricht, vgl. LR-Gössel, § 362 / 19. 354  Hahn, Materialien zur RStPO, Band 1, S. 265. 355  KK-Schmidt, § 362 / 1. 356  SSW-Kaspar, § 362 / 1. 357  Ziemba, Die Wiederaufnahme des Verfahrens zuungunsten des Freigesprochenen oder Verurteilten, S. 216. 358  Vgl. hierzu unten S. 84 ff. 359  Wobei in dieser Konstellation § 363 StPO entsprechend gilt, vgl. KK-Schmidt, § 362 / 8. Andernfalls würde der Verurteilte gegenüber dem Freigesprochenen privilegiert, vgl. Ziemba, Die Wiederaufnahme des Verfahrens zuungunsten des Freigesprochenen oder Verurteilten, S. 222 ff.

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Teil 1: Rechtliche Grundlagen zum geltenden Wiederaufnahmerecht

Anlass neue Ermittlungen gegen den Freigesprochenen führen.360 Sie ist aus Legalitätsgründen aber bei Vorliegen eines Wiederaufnahmegrundes auch verpflichtet, einen Antrag auf Wiederaufnahme des Verfahrens zu stellen.361 Anders als gegenüber dem Verurteilten hat das für die Wiederaufnahme zuständige Gericht gegenüber der antragstellenden Staatsanwaltschaft jedoch keine besondere Fürsorgepflicht. aa) Antragsziele Die möglichen Ziele eines Wiederaufnahmeverfahrens zuungunsten des Freigesprochenen bzw. Verurteilten bestimmen sich parallel zu § 359 Nr. 5 StPO.362 So muss eine für den Betroffenen nachteilig abweichende Entscheidung angestrebt werden, wie die Verurteilung nach einem Freispruch, eine wesentlich andere nachteilige Entscheidung über eine Maßregel i. S. d. § 61 StGB363 oder eine Strafverschärfung aufgrund eines anderen Gesetzes, § 363 StPO. § 363 StPO gilt auch für die ungünstige Wiederaufnahme. Die Wiederaufnahme kann demnach nicht lediglich zur Änderung des Strafausspruchs aufgrund des gleichen Gesetzes begehrt werden. Parallel zur Problematik der günstigen Strafmaßwiederaufnahme stellt sich die Frage, ob die Wiederaufnahme des Verfahrens auch bei Strafverschärfung aufgrund des gleichen Gesetzes zulässig sein sollte.364 Hiergegen spricht zunächst, dass kein zuverlässiger Beurteilungsmaßstab ersichtlich ist, auf dem eine bestimmbare Grenze feststellbar wäre, sei es, dass eine Strafe zu mild oder eine andere, strengere notwendig wäre.365 Anders als bei der günstigen Wiederaufnahme gewinnt in diesem Kontext auch der verfassungsrechtliche Rahmen an Bedeutung. Aufgrund der gebotenen restriktiven Handhabung der ungünstigen Wiederaufnahmevorschriften, ist eine Ausdehnung der Strafmaßwiederaufnahme aufgrund des gleichen Gesetzes abzulehnen. Die reine Strafmaßwiederaufnahme zum Nachteil des Beschuldigten würde den aufgrund Art. 103 Abs. 2 GG zu fordernden Anforderungen der Berechenbarkeit, Voraussehbar360  MG

§ 362 / 1 und Walder, ZStW 95 (1983), 862, 872. hierzu bereits oben, S. 42 ff. und AK-Loos, § 362 / 3; KK-Schmidt, § 362 / 4; LR-Gössel, § 362 / 1. A. A. MG § 362 / 1; Marxen / Tiemann, Die Wiederaufnahme in Strafsachen, Rn. 293, die § 152 Abs. 2 StPO als Regelung des erstinstanz­ lichen Verfahrens auf die Wiederaufnahme für nicht anwendbar erachten. 362  Einzelheiten zu Einstellung, Teilfreispruch und Strafbefreiungsgründen bei Marxen / Tiemann, Die Wiederaufnahme in Strafsachen, Rn. 309–312. 363  SSW-Kaspar, § 362 / 3. 364  So Marxen / Tiemann, Die Wiederaufnahme in Strafsachen, Rn. 299. 365  Ziemba, Die Wiederaufnahme des Verfahrens zuungunsten des Freigesprochenen oder Verurteilten, S. 225. 361  Siehe



B. Voraussetzungen für die Wiederaufnahme eines Strafverfahrens 83

keit und Messbarkeit nicht genügen.366 So ist die konkrete Strafhöhe im Ergebnis rationalen Erwägungen nicht zugänglich.367 Anders als bei der günstigen Wiederaufnahme, sind bei der ungünstigen Wiederaufnahme die unbenannten Strafschärfungsgründe den benannten nicht gleichzustellen, um den Grundrechtsschutz des Betroffenen und das sich aus Art. 103 Abs. 2 GG ergebende Bestimmtheitsgebot, das auch für Rechtskraftdurchbrechungen gilt, nicht auszuhöhlen.368 Nicht ausgeschlossen wird durch § 363 Abs. 2 StPO die auf § 362 StPO gestützte Wiederaufnahme mit dem Ziel, die bisherige Anwendung des § 21 StGB auszuschließen.369 Auch bei der ungünstigen Wiederaufnahme stellt sich die Frage, ob diese zur Korrektur bloßer Rechtsfehler zugelassen werden sollte. Für eine dahingehende Ausweitung spricht der Aspekt der materiellen Gerechtigkeit. Andererseits würde dies zu einer weitgehenden Durchbrechung der Rechtskraft führen. Der verfassungsrechtliche Rahmen gebietet wiederum eine restriktive Handhabung. Es obliegt hier der Staatsanwaltschaft, durch Einlegung von Rechtsmitteln Fehlurteile zu korrigieren. Macht sie hiervon keinen Gebrauch, kann sich dieses Versäumnis nicht zu Lasten des Betroffenen auswirken.370 Vor diesem Hintergrund ist auch eine Ausweitung der ungünstigen Wiederaufnahme auf rechtsfehlerhafte Entscheidungen abzulehnen. Die bloße Schuldspruchänderung ohne Auswirkungen auf die Rechtsfolgen, wie sie bei der günstigen Wiederaufnahme möglich sein soll, dürfte kein zulässiges Antragsziel i. R. d. § 362 StPO sein371, weil Art. 103 Abs. 3 GG die restriktive Handhabung der ungünstigen Wiederaufnahmeregelungen gebietet372 und die Vorschriften zur ungünstigen Wiederaufnahme nicht analogiefähig sind.373

366  Ziemba, Die Wiederaufnahme des Verfahrens zuungunsten des Freigesprochenen oder Verurteilten, S. 225. 367  Knoche, DRiZ 1971, 299. 368  KMR-Eschelbach, § 363 / 36. 369  KMR-Eschelbach, § 363 / 40. 370  Ziemba, Die Wiederaufnahme des Verfahrens zuungunsten des Freigesprochenen oder Verurteilten, S. 221. 371  SSW-Kaspar, § 362 / 3. 372  HK-Temming, § 362 / 1. 373  SSW-Kaspar, § 362 / 4.

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Teil 1: Rechtliche Grundlagen zum geltenden Wiederaufnahmerecht

bb) Formelle Anforderungen Die Formvorschrift des § 366 Abs. 2 StPO findet auf Wiederaufnahme­ anträge zuungunsten des Verurteilten durch die Staatsanwaltschaft oder den Privatkläger keine Anwendung. cc) Sachvortrag Gem. §§ 366 Abs. 1, 368 Abs. 1 StPO ist auch für die Zulässigkeit eines Wiederaufnahmeantrags zuungunsten des Verurteilten erforderlich, dass ein gesetzlicher Wiederaufnahmegrund und ein geeignetes Beweismittel angeführt werden. Die gesetzlichen Wiederaufnahmegründe ergeben sich dabei aus § 362 StPO und § 373a Abs. 1 StPO. § 373a StPO stellt eine Spezial- und Ausnahmeregelung für das Strafbefehlsverfahren dar, wenn mit Hilfe neuer Tatsachen oder Beweismitteln die Verurteilung wegen eines Verbrechens herbeigeführt werden soll, § 373a Abs. 1 StPO.374 Begründet wird diese Ausweitung der ungünstigen Wiederaufnahme mit der im Strafbefehlsverfahren mög­ lichen Erledigung nach lediglich summarischer Prüfung.375 dd) Erwägungen im Zusammenhang mit der ungünstigen Wiederaufnahme Die günstige Wiederaufnahme unterscheidet sich von der ungünstigen, malam partem, bereits darin, dass letztere grundsätzlich keinen Wiederaufnahmegrund propter nova kennt.376 Ausnahmen stellen insofern die ungünstige Wiederaufnahme aufgrund eines Geständnisses, § 362 Nr. 4 StPO und die Regelung des § 373a Abs. 1 StPO dar, die Ausfluss des dem Inquisitionsprinzip entstammenden Ziels einer materiell gerechten Verfahrensentscheidung sind. Die Wiederaufnahmegründe der § 362 Nr. 1–3 StPO verlangen hingegen mit dem Akkusationsprinzip die Beseitigung einer mit schwerwiegenden Verfahrensfehlern behafteten Entscheidung, die keine Rechtskraft verdient.377 Neue Tatsachen und Beweismittel können eine ungünstige Wie374  Dies kann dazu führen, dass sich die sachliche Zuständigkeit des Gerichts ändert. Für diese Fälle finden die §§ 225a und 270 StPO Anwendung. 375  SSW-Kaspar, § 373a / 1; MG § 373a / 3. 376  Dies ist nach LG Saarbrücken, Beschluss vom 20.08.2013, Az. 2 Ks 05 Js 216 / 06 (1 / 13), in: BeckRS 2014, 03013 auch der Grund, dass gem. § 364 S. 1 Alt. 2 StPO Sachverhalte mit geringerer Indizwirkung ausreichen würden, um in das Probationsverfahren zu gelangen. 377  Gössel, NStZ 1988, 537, 538.



B. Voraussetzungen für die Wiederaufnahme eines Strafverfahrens 85

deraufnahme demnach nur gem. § 373a Abs. 1 StPO begründen, wenn diese allein oder in Verbindung mit den früheren Tatsachen oder Beweismitteln geeignet sind, die Verurteilung wegen eines Verbrechens i. S. d. § 12 Abs. 1 StGB zu begründen. Anders als die günstige Wiederaufnahme dient die ungünstige Wiederaufnahme auch nicht dem Grundrechtsschutz des Betroffenen.378 Eine vollständige Angleichung der beiden Wiederaufnahmekonstellationen – wie etwa im Gesetzesentwurf von 1939 zur gleichmäßigen Verwirklichung der materiellen Gerechtigkeit angedacht – kann vor diesem Hintergrund nicht mehr in Erwägung gezogen werden.379 Rechtsvergleichend ist zu konstatieren, dass in Italien, Belgien, Holland, England, Wales, Spanien, Japan und den USA die ungünstige Wiederaufnahme nicht bekannt ist.380 Auch im französischen Recht ist die Wiederaufnahme bereits seit dem 14. Jahrhundert nur zugunsten des Verurteilten möglich.381 In der ehemaligen DDR war die Möglichkeit einer ungünstigen Wiederaufnahme nach Ablauf von fünf Jahren ausgeschlossen. In Österreich, Portugal, der Schweiz und Schweden ist die ungünstige Wiederaufnahme demgegenüber möglich.382 Die Wiederaufnahme malam partem fand sich im deutschen Recht erstmals in der Neuen Josephinischen Peinlichen Gerichtsordnung von 1788 und fand ihre – dem heutigen Recht entsprechende – Fassung mit der RStPO von 1877.383 (1) Grundsätzliche Zulässigkeit der ungünstigen Wiederaufnahme Der Gesetzgeber unterscheidet, wie gesehen, die Wiederaufnahme zugunsten des Verurteilten von der Wiederaufnahme zuungunsten eines Beschuldigten.384 Auch bei Anerkennung der ungünstigen Wiederaufnahme darf aber nicht verkannt werden, dass es grundsätzlich Aufgabe des Ausgangsverfah378  s. hierzu unten S. 143 ff. und Eckert, Die Wiederaufnahme des Verfahrens im schweizerischen Strafprozeßrecht, S. 37. 379  Dippel, Das geltende deutsche Wiederaufnahmerecht und seine Erneuerung, S.  68 f. 380  Kato ZIS 2006, 354; J. Meyer, ZStW 84 (1972), 909, 924; J. Meyer, Wiederaufnahmereform, S. 67; KK-Schmidt, § 362 / 2; Peters, Fehlerquellen im Strafprozeß III, S. 41. 381  Eckert, Die Wiederaufnahme des Verfahrens im schweizerischen Strafprozeßrecht, S.  18 f. 382  Wasserburg, Die Wiederaufnahme des Strafverfahrens, S. 270. 383  Ziemba, Die Wiederaufnahme des Verfahrens zuungunsten des Freigesprochenen oder Verurteilten, S. 10 ff. 384  In der DDR war diese Differenzierung nicht vorgenommen worden, vgl. Peters, Fehlerquellen im Strafprozeß III, S. 41.

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Teil 1: Rechtliche Grundlagen zum geltenden Wiederaufnahmerecht

rens ist, eine richtige Entscheidung zu finden. Hierfür gewährt der Staat den Strafverfolgungsbehörden neben einem breiten Ermittlungsapparat auch weitreichende Ermittlungsbefugnisse. Auf all diese kann der Beschuldigte weder im laufenden Ermittlungsverfahren noch nach rechtskräftigem Abschluss des Verfahrens zugreifen. Die materielle Wahrheit kann und soll daher grundsätzlich im Grundverfahren ermittelt werden.385 Anfang der siebziger Jahre warf Peters vor diesem Hintergrund die Frage auf, ob die Wiederaufnahme zuungunsten des Beschuldigten überhaupt eine Berechtigung hat.386 Bis heute wird vereinzelt gefordert, die Wiederaufnahme zuungunsten eines Freigesprochenen vollständig abzuschaffen387 oder jedenfalls erheblich einzuschränken.388 Dies erscheint vor dem Hintergrund, dass die Prozessbeteiligten gegen die freisprechende Ausgangsentscheidung Rechtsmittel einlegen können, dem Verbot der Mehrfachverfolgung des Art. 103 Abs. 3 GG und dessen Wortlaut durchaus nicht unvertretbar.389 Schließlich sind Wiederaufnahmeverfahren zuungunsten des Betroffenen statistisch gesehen weitaus seltener als günstige Wiederaufnahmeverfahren, so dass sich überhaupt die Frage stellt, ob die ungünstige Wiederaufnahme erforderlich ist.390 Das Bundesverfassungsgericht hat jedoch bereits entschieden, dass der in Art. 103 Abs. 3 GG zum Ausdruck kommende ne bis in idem-Grundsatz391 einer immanenten Schranke unterliege, die aus einer historischen Auslegung der Gesetzesintention folge und bereits zum Zeitpunkt des Inkrafttretens des 385  Eckert, Die Wiederaufnahme des Verfahrens im schweizerischen Strafprozeßrecht, S.  36 f. 386  Peters, Fehlerquellen im Strafprozeß III, S. 41 ff. und Peters, Fehlerquellen im Strafprozeß II, S. 321. 387  Dünnebier, in: Festgabe Peters, S. 345 ff.; J. Meyer, ZStW 84 (1972), 909, 930. 388  J. Meyer, Wiederaufnahmereform, S. 77; Knoche möchte § 362 Nr. 4 StPO streichen, vgl. Knoche, DRiZ 1971, 299. 389  KMR-Eschelbach, § 362 / 5. 390  Eschelbach, in: FS-Stöckel, S. 222; Peters, Fehlerquellen im Strafprozeß III, S. 41. 391  Der Grundsatz ne bis in idem war Vorgänger des sich aus Art. 103 Abs. 3 GG ergebenden Verbots der Mehrfachbestrafung. Während er sowohl den Verurteilten als auch den Freigesprochenen vor erneuter Strafverfolgung schützt, wird vom Wortlaut des Art. 103 Abs. 3 GG nur eine Doppelbestrafung ausgeschlossen, der Freigesprochene demnach nicht unmittelbar vom Wortlaut des Grundrechts erfasst. Art. 103 Abs. 3 GG ist jedoch nach einhelliger Meinung dahingehend auszulegen, dass über den Wortlaut hinaus auch der Freigesprochene geschützt wird, vgl. Weber-Klatt, Die Wiederaufnahme von Verfahren zu Ungunsten des Angeklagten, S. 33 f. Im Übrigen schützt Art. 103 Abs. 3 GG nicht nur vor erneuter Bestrafung aufgrund derselben Tat, sondern schließt bereits die erneute Strafverfolgung und die erneute Durchfürhung eines Strafverfahrens nach Rechtskraft grundsätzlich aus, vgl. KMR-Eschelbach, § 362 / 33 und 42.



B. Voraussetzungen für die Wiederaufnahme eines Strafverfahrens 87

Grundgesetzes von Praxis und Lehre akzeptiert worden war.392 Da § 362 StPO bereits seit 1879 – also vorkonstitutionell – gelte, stehe Art. 103 Abs. 3 GG der ungünstigen Wiederaufnahme nicht entgegen. Art. 103 Abs. 3 GG wird demnach dahin ausgelegt, dass die Wiederaufnahmegründe des § 362 StPO verfassungsrechtlich anerkannt sind.393 Die h. M. betrachtet damit die Möglichkeit der Wiederaufnahme zuungunsten des Angeklagten als zulässige Ausnahme vom Verbot der Doppelbestrafung.394 Dies ergäbe sich auch aus dem in § 362 Nr. 1–4 StPO zur Geltung kommenden Gerechtigkeitsgedanken.395 Der Angeklagte solle in den Fällen des § 362 Nr. 1–3 StPO nicht von Straftaten profitieren, die Einfluss auf das Urteil hatten und sich auch nicht folgenlos einer Straftat rühmen können, § 362 Nr. 4 StPO.396 Im Übrigen erwägt Dippel, ob die vollständige Abschaffung der Wiederaufnahmemöglichkeit dazu führen könne, dass die Anzahl von Freisprüchen in der Tat­ sacheninstanz sinke, wenn eine spätere Korrektur des Urteilsspruches ganz und gar ausgeschlossen wäre.397 Soweit § 362 StPO die ungünstige Wiederaufnahme zulässt, soll Art. 103 Abs. 3 GG dem nicht per se entgegenstehen.398 Dennoch kann nicht verkannt werden, dass Art. 103 Abs. 3 GG die erneute Strafverfolgung wegen derselben Tat gerade ausschließen will, diese durch die ungünstige Wiederaufnahme mit § 362 StPO aber erst ermöglicht wird. Auch das Verständnis, dass die geltenden Wiederaufnahmegründe des § 362 StPO mit ihrem vorverfassungsrechtlichen Bestand legitimiert werden, spricht gegen die Möglichkeit einer Ausdehnung.399 Diesen Widerspruch lösen Rechtsprechung und h. M., wie dargestellt, mit der Annahme, dass die mit Inkrafttreten des Grundgesetzes am 23.05.1949 geltende Regelung des Art. 103 Abs. 3 GG den Rechtssatz des ne bis in idem nur soweit gewährleistet, wie er zum Zeitpunkt des Inkrafttretens des Grundgesetzes gegolten hat. Gegen das Verständnis der h. M. bestehen erhebliche Bedenken, insbesondere, weil ein vorverfassungsrecht­ liches Gesamtbild des Prozessrechts als Grundrechtsschranke des Art. 103 392  BVerfGE 3, 248, 252 f. Zustimmend Ziemba, Die Wiederaufnahme des Verfahrens zuungunsten des Freigesprochenen oder Verurteilten, S. 76 f.; Feilcke, in: Miebach / Hohmann, Wiederaufnahme in Strafsachen, Teil G, Rz. 4. 393  BGH NJW 1954, 609, 610. 394  MG § 362 / 1; Grünewald, ZStW 120 (2008), 545, 568 f. 395  Weber-Klatt, Die Wiederaufnahme von Verfahren zu Ungunsten des Angeklagten, S. 169. 396  KMR-Eschelbach, § 362 / 6. 397  Dippel, Das geltende deutsche Wiederaufnahmerecht und seine Erneuerung, S. 73. 398  Was sich bereits daraus ergibt, dass Art. 103 Abs. 3 GG nach der RStPO von 1877 verabschiedet wurde. BVerfG NJW 1954, 69 f.; BGH NJW 1954, 609, 610. 399  Eschelbach, in: FS-Stöckel, S. 222.

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Teil 1: Rechtliche Grundlagen zum geltenden Wiederaufnahmerecht

Abs. 3 GG anerkannt wird. Damit dient einfaches Recht als Schranke für das Verfassungsrecht, was normenhierarchisch unmöglich erscheint.400 Im Umkehrschluss folgt aus dem Verständnis der h. M. aber in jedem Fall, dass sich künftige Erweiterungen des § 362 StPO an Art. 103 Abs. 3 GG messen lassen müssen und im Zweifel unzulässig sind.401 Soweit die Große Koalition mit Koalitionsvertrag vom 12.03.2018 die Erweiterung der Wiederaufnahme zuungunsten des Freigesprochenen in Bezug auf die nicht verjährten Straftaten ausdehnen möchte402, wird dieser Maßstab zu berücksichtigen sein. Die ungünstige Wiederaufnahme tangiert zudem die individuelle Rechtssicherheit des Angeklagten, für den mit Rechtskraft der Entscheidung Vertrauensschutz entsteht.403 Die von Art. 103 Abs. 3 GG verfassungsrechtlich verbürgte Rechtssicherheit hinsichtlich der Freiheit der Person404 steht einer Ausweitung der geltenden Wiederaufnahmegründe ebenfalls entgegen. So erfasst der in Art. 103 Abs. 3 GG normierte ne bis in idem-Grundsatz, neben einem Verbot erneuter Bestrafung, insbesondere auch das Verbot erneuter Strafverfolgung nach einem rechtskräftigen Freispruch.405 Mit Art. 103 Abs. 3 GG hat der Gesetzgeber zwischen Rechtssicherheit und materieller Gerechtigkeit zugunsten der Rechtssicherheit entschieden. Eine freisprechende Entscheidung würde damit letztlich entwertet werden. Hinzu kommt, dass das Rechtsempfinden und das Vertrauen in die Rechtspflege durch fehlerhafte Freisprüche weniger erschüttert sein dürfte, als durch fehlerhafte Verurteilungen.406 Es kann daher – wenn überhaupt – nur in für das allgemeine Rechtsempfinden unerträglichen Ausnahmefällen gerechtfertigt sein, das Interesse der Allgemeinheit an einer gerechten Bestrafung den Interessen des Angeklagten überzuordnen.407 Da ein unbedingtes Festhalten am Grundsatz ne bis in idem jedoch dem Grundsatz der Gerechtigkeit zuwiderliefe und folglich ebenso zu unerträglichen Ergebnissen führen würde, ist die Schranke des Art. 103 Abs. 3 GG zum kollidierenden Verfassungsrecht der materiellen Gerechtigkeit des Art. 20 Abs. 3 GG in Beziehung zu setzen. Eine Ausweitung der ungünstigen Wiederaufnahme erscheint demnach nur dann möglich, 400  KMR-Eschelbach,

§ 362 / 50. § 362 / 52. Ziemba, Die Wiederaufnahme des Verfahrens zuungunsten des Freigesprochenen oder Verurteilten, S. 78. 402  Ein neuer Aufbruch für Europa; Eine neue Dynamik für Deutschland; Ein neuer Zusammenhalt für unser Land. Koalitionsvertrag zwischen CDU, CSU und SPD. 19. Legislaturperiode. S. 125, Zeile 5853 f. 403  BVerfG NStZ 1995, 437. KMR-Eschelbach, § 362 / 2. 404  BGHSt 3, 13, 15. 405  BVerfGE 12, 62, 66; BVerfGE 65, 377, 381. 406  LR-Gössel, § 362 / 2. 407  BVerfGE 3, 248, 253 f.; KMR-Eschelbach, § 362 / 2. 401  KMR-Eschelbach,



B. Voraussetzungen für die Wiederaufnahme eines Strafverfahrens 89

wenn die Aufrechterhaltung einer fehlerhaften rechtskräftigen Entscheidung abstrakt-generell unerträglich erscheint408 (sog. Unerträglichkeitsschranke409). Erweiterungen des Wiederaufnahmerechts malam partem um weitere grobe Ungerechtigkeiten wären demnach folglich nur zulässig, wenn sie voraussehbar, berechenbar und messbar sind, mithin keinen Ermessensspielraum gewähren.410 Es besteht zugleich ein strikter Gesetzesvorbehalt für die Zulassung einer Wiederaufnahme, der eine analoge Anwendung der Wiederaufnahmegründe des § 362 StPO ausscheiden lässt.411 Auch das Bundesverfassungsgericht hat bereits 1953 betont, dass der Gesetzgeber nicht nach Belieben neue Wiederaufnahmegründe schaffen darf. Eine Erweiterung der Wiederaufanhmegründe über jedes voraussehbare Maß hinaus, würde gegen das Prinzip der Rechtssicherheit, mithin gegen das Rechtsstaatsgebot verstoßen und wäre aus diesem Grund nichtig.412 (2) Einschränkung der ungünstigen Wiederaufnahme Wasserburg betont, dass die ungünstige Wiederaufnahme, obwohl sie in der Praxis selten vorkomme, nicht gestrichen werden könne. Er schlägt eine Einschränkung auf Verbrechenstatbestände vor.413 Auch J. Meyer schlug 1977 einen möglichen Wiederaufnahmegrund propta nova, beschränkt auf Verbrechen, vor: „Die Wiederaufnahme eines durch rechtskräftiges Urteil abgeschlossenen Verfahrens zuungunsten des freigesprochenen Angeklagten ist zulässig, wenn neue Tatsachen oder Beweismittel beigebracht werden, die allein oder in Verbindung mit den früher erhobenen Beweisen jeden vernünftigen Zweifel ausschließen, daß der Angeklagte in einer neuen Hauptverhandlung der Begehung eines Mordes oder Völkermordes überführt werden wird.“414

Auch der im Jahr 1993 in den Bundestag eingebrachte Gesetzesentwurf sah vor, die Wiederaufnahme malam partem auf die Tatbestände des Mordes und Völkermordes einzuschränken.415 Zwar würde eine Einschränkung auf Verbrechenstatbestände zunächst eine sachliche und klar begrenzte Differenzierung ermöglichen, die jedoch damit 408  KMR-Eschelbach,

§ 362 / 53. Zur Reform der Wiederaufnahme des Strafverfahrens, S. 49. 410  KMR-Eschelbach, § 362 / 54 f.; Ziemba, Die Wiederaufnahme des Verfahrens zuungunsten des Freigesprochenen oder Verurteilten, S. 78 f. 411  KMR-Eschelbach, § 362 / 4. 412  BVerfG NJW 1953, 1137, 1138 f.; AK-Loos, vor § 359 / 2. 413  Wasserburg, Die Wiederaufnahme des Strafverfahrens, S. 289. 414  J. Meyer, Wiederaufnahmereform, S. 158. 415  BT-Drs. 12 / 6219, S. 2. 409  Deml,

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Teil 1: Rechtliche Grundlagen zum geltenden Wiederaufnahmerecht

wieder hinfällig werden kann, dass sich die Strafzumessung bei Vergehen und Verbrechen im konkreten Fall nicht wesentlich voneinander unterscheiden müssen. Gegen eine derartige Einschränkung spricht auch, dass die Begründung einer Strafbarkeit per se zum Ausdruck bringt, dass ein Verhalten als strafwürdig empfunden wird, so dass eine Differenzierung eines strafbaren Verhaltens als schlimm – mithin wiederaufnahmefähig – oder weniger schlimm – mithin nicht wiederaufnahmefähig – vor dem Gedanken materieller Gerechtigkeit bedenklich erscheint. Schließlich hat die Unterscheidung von Vergehen und Verbrechen v. a. gesetzestechnische und damit vorwiegend formale Bedeutung.416 Die Kategorisierung als Verbrechen bzw. Vergehen kann ihrerseits oftmals vom gesetzgeberischen Zufall abhängen417 und unterscheidet sich sachlich dort nicht, wo der besonders schwere Fall eines Vergehens mit gleicher Mindesstrafe bedroht ist, wie ein Verbrechen.418 (3) Ungünstige Wiederaufnahme propter nova Gelingt die abschließende Würdigung eines Sachverhalts mangels Ausschöpfung aller Erkenntnismöglichkeiten nicht, stellt sich die Frage, inwieweit der Betroffene im Vertrauen auf die endgültige Beendigung eines Verfahrens schutzwürdig und schutzbedürftig sei. Der Gesetzgeber hat sich mit der Regelung des § 362 Nr. 4 StPO dafür entschieden, dass der Freigesprochene dann nicht schutzwürdig ist, wenn er vor Gericht oder außergerichtlich ein glaubwürdiges Geständnis abgelegt hat.419 Dies wirft die Frage der Wiederaufnahmemöglichkeit auf, wenn ein Tatnachweis i. S. d. § 362 Nr. 4 StPO auch anders als durch ein Geständnis möglich wäre.420 Die Erweiterung der ungünstigen Wiederaufnahmegründe um neue Tatsachen oder Beweismittel, wird seit langem diskutiert und fand zuletzt 1993 und 1996 Eingang in entsprechende Gesetzesentwürfe.421 Zum einen wird diese Forderung auf Verbrechen beschränkt, teils auf Verbrechen 416  BGH

NStZ 2006, 393. Die Wiederaufnahme des Verfahrens zuungunsten des Freigesprochenen oder Verurteilten, S. 167. 418  BGH NStZ 2006, 393. 419  Ziemba, Die Wiederaufnahme des Verfahrens zuungunsten des Freigesprochenen oder Verurteilten, S. 56. Wenn das nachträgliche Geständnis sogar zur ungünstigen Wiederaufnahme führen kann, folgt daraus im Hinblick auf die Spiegelbildlichkeit der Wiederaufnahmegründe, dass der substantiierte Widerruf eines Geständnisses als actus contrarius eine günstige Wiederaufnahme rechtfertigen kann, vgl. KMREschelbach, § 359 / 18. 420  Bspw. auf dem Feld der rasch voranschreitenden DNA-Analyse. 421  Vgl. S. 178 und 180. 417  Ziemba,



B. Voraussetzungen für die Wiederaufnahme eines Strafverfahrens 91

von besonderer Schwere bzw. auf Delikte mit absoluter Strafdrohung, zum anderen vertreten, die Wiederaufnahme insoweit uneingeschränkt bei Vorliegen von nova zuzulassen.422 Peters etwa spricht sich dafür aus, dass neue Tatsachen und Beweismittel dann zur Zulässigkeit eines Antrags auf Wiederaufnahme führen sollten, wenn sie „eindeutig und zweifelsfrei die Täterschaft des Freigesprochenen dartun“, der Fehler demnach offensichtlich sei.423 Seine Überlegungen gehen weiter dahin, ob auch in Fällen eines unerträg­ lichen Missverhältnisses zwischen Strafe und Tat die ungünstige Wiederaufnahme zulässig sein sollte.424 Diesem Gedanken folgend, legte der Bundesrat am 20.12.2007 auf den durch Nordrhein-Westfalen und Hamburg eingebrachten Gesetzesantrag hin erneut einen Gesetzesentwurf425 vor, demgemäß eine Wiederaufnahme gem. § 362 Nr. 5 StPO-E auch dann möglich sein sollte, wenn aufgrund neuer, wissenschaftlich anerkannter technischer Untersuchungsmethoden, die bei Erlass des Urteils, in dem die urteilsbegründenden Feststellungen letztmalig geprüft werden konnten, noch nicht zur Verfügung standen und neue Tatsachen oder Beweismittel beigebracht werden, die allein oder in Verbindung mit den früher erhobenen Beweisen zur Überführung eines Freigesprochenen geeignet sind.426 Der Wiederaufnahmegrund sollte auf die Tatbestände des Völkerstrafgesetzbuchs und auf Mord beschränkt werden.427 Ebenso sollte § 370 StPO dahingehend geändert werden, dass der auf § 362 Nr. 5 StPO-E gestützte Wiederaufnahmeantrag als unbegründet zu verwerfen sei, wenn dringende Gründe für die Annahme fehlten, dass der Freigesprochene verurteilt oder nur deshalb nicht verurteilt werden wird, weil seine Schuldunfähigkeit erwiesen oder nicht auszuschließen ist.428 Dieser 2008 diskutierte Gesetzesvorschlag erscheint zunächst nachvollziehbar, zielt er doch darauf ab vermeintliche Ungerechtigkeiten in den Augen der Allgemeinheit zu korrigieren und der materiellen Gerechtigkeit zum Durchbruch zu verhelfen. Der gleiche Gedanke findet sich etwa in § 78 Abs. 2 StGB bzw. § 5 VStGB, demgemäß die Verfolgung von Taten des 422  Ziemba, Die Wiederaufnahme des Verfahrens zuungunsten des Freigesprochenen oder Verurteilten, S. 206 ff. 423  Peters, Fehlerquellen im Strafprozeß II, S. 321. 424  Peters, Fehlerquellen im Strafprozeß II, S. 321 f. 425  BT-Drs. 16 / 7957 und BR-Drs. 655 / 07. 426  Die auf neue Tatsachen oder Beweismittel gestützte ungünstige Wiederaufnahme ist de lege lata nur im Rahmen des § 373a StPO möglich. 427  Gesetzesentwurf BT-Drs. 16 / 7959 und BR-Drs. 222 / 10; zustimmend zur Verfassungsmäßigkeit einer ungünstigen Wiederaufnahme nur im Falle von Mord und Völkermord Ziemba, Die Wiederaufnahme des Verfahrens zuungunsten des Freigesprochenen oder Verurteilten, S. 212. 428  BT-Drs. 16 / 7057, S. 4.

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Teil 1: Rechtliche Grundlagen zum geltenden Wiederaufnahmerecht

Mordes und Völkermordes unabhängig von Verjährungsfragen möglich ist. Auch berichtete die Presse zuletzt, dass 91 Prozent der Bevölkerung eine Änderung der StPO mit dem Ziel befürworten würden, einen Mordprozess wiederaufnahmen zu können, wenn durch moderne Untersuchungsmethoden neue Beweise ans Licht gekommen sind.429 Dem Gesetzesentwurf ist insoweit zuzustimmen, als dass es nicht einleuchtet, worin sich ein Geständnis als Beweismittel von anderen neuen Beweismitteln qualitativ unterscheiden sollte430, so dass naheliegend erscheint, die Wiederaufnahme auch mit neuen Tatsachen oder Beweismitteln zuzulassen.431 Hierfür spricht insbesondere, dass der ex post geständige Täter gegenüber dem fortwährend leugnenden schlechter gestellt würde, da nur bei Ersterem die Wiederaufnahme möglich wäre.432 Der neu einzufügende Wiederaufnahmegrund propter nova müsste demnach voraussehbar, berechenbar und messbar sein. Wie bereits ausgeführt (s. o. S. 84 ff.) ist eine Erweiterung der ungünstigen Wiederaufnahme daher nur in sehr engen Grenzen möglich. Die Ausweitung der Wiederaufnahmegründe zuungunsten des Betroffenen würde andernfalls das grundrechtlich geschützte Vertrauen des Freigesprochenen auf den Bestand der Entscheidung – und damit dessen Vertrauen in die Rechts­ sicherheit – in Frage stellen.433 Gegen das Gesetzesvorhaben von 2007 bestehen insbesondere aber deshalb Bedenken, weil dieses hauptsächlich auf die Überführung eines Täters infolge neuer Erkenntnisse im Bereich der Auswertung von DNA-Spuren gerichtet ist. Eine Verurteilung allein auf Basis einer DNA-Spur ist nach Rechtsprechung des Bundesgerichtshof allerdings rechtsfehlerhaft.434 Vielmehr können derartige Untersuchungsergebnisse lediglich als Indiz Einfluss auf die Entscheidung haben.435 Die Aussage darüber, ob DNA-Muster übereinstimmen, stellt demnach keine Information dar, die zur Aufklärung einer Straftat geeignet ist. Weiter stellt sich die Frage, wann überhaupt bereits bekannte Untersuchungsmethoden, die jedoch mangels wissenschaftlicher Validität noch nicht 429  Friedrichsen, So denken die Deutschen über den Mordfall Möhlmann, http: /  /  www.spiegel.de / panorama / justiz / strafprozessordnung-grosse-mehrheit-haelt-schutzvon-freigesprochenen-fuer-falsch-a-1086705.html (zuletzt aufgerufen am 19.09.2016). 430  Scherzberg / Thiée, ZRP 2008, 80, 81. Insoweit ist jedoch zu entgegnen, dass sich ein Geständnis von anderen Beweismitteln dadurch unterscheidet, dass der Beschuldigte über die Abgabe eines Geständnisses frei entscheidet. 431  Stoffers, ZRP 1998, 173, 177. 432  Stoffers, ZRP 1998, 173, 177 f. 433  Weber-Klatt, Die Wiederaufnahme von Verfahren zu Ungunsten des Angeklagten, S. 381. 434  BGHSt 38, 320, 322. 435  Scherzberg / Thiée, ZRP 2008, 80, 82.



B. Voraussetzungen für die Wiederaufnahme eines Strafverfahrens 93

anerkannt waren436, i. S. d. § 362 Nr. 5 StPO-E neu wären. Welcher Grad an Fortentwicklung hierfür ausreichend ist, dürfte in kaum einem Fall unstreitig sein. Die Einführung des § 362 Nr. 5 StPO-E würde demnach eine Ausweitung über jedes voraussehbare Maß hinaus darstellen, und wäre nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts nichtig.437 Ebenfalls unklar erscheint, wie zu verfahren wäre, wenn zwar feststünde, dass sich der Freigesprochene tatsächlich strafbar gemacht hat, die Voraussetzungen der zur Wiederaufnahme berechtigenden Delikte jedoch nicht vorliegen. Wäre etwa ein Totschläger mangels Mordmerkmal dann erneut freizusprechen? Dank stetiger Fortentwicklung wissenschaftlicher Untersuchungsmethoden würde die Anerkennung dieses Wiederaufnahmegrundes eine Wiederaufnahmemöglichkeit ad infinitum bedeuten. Ein Freispruch würde zu einem Freispruch unter Vorbehalt degradiert.438 Der Angeklagte würde in das Bemühen gezwängt, alle ihn belastenden Beweismittel in eine Hauptverhandlung einzubringen, um Rechtssicherheit für die Zukunft zu schaffen.439 Im Übrigen ist die Überführung des Täters auch infolge anderer als wissenschaftlicher Erkenntnisse möglich (z. B. durch erst nachträglich bekannt gewordene Zeugen).440 Eine Einschränkung auf wissenschaftliche Erkenntnisse würde also auch am Gleichheitssatz des Art. 3 GG scheitern, weil ohne nachvollziehbaren Grund Erkenntnisse aufgrund wissenschaftlich anerkannter (technischen) Untersuchungsmethoden gegenüber anderen Beweisgewinnungsmöglichkeiten privilegiert würden.441 Einen Verstoß gegen Art. 3 GG stellt schließlich auch die materiellrecht­ liche Deliktsdifferenzierung dar, zumal die Wiederaufnahmemöglichkeit nur auf bestimmte Delikte beschränkt wäre. Ist etwa von vorherein klar, dass eine Verurteilung zu lebenslanger Freiheitsstrafe wegen Mordes daran scheitert, dass der Täter im Zustand verminderter Schuldfähigkeit gem. § 21 StGB agiert hat, erscheint die Fortgeltung eines Freispruches weniger unerträglich. Umgekehrt erscheint es nicht einleuchtend, warum etwa ein Täter, der sich eines erpresserischen Menschenraubes mit Todesfolge gem. § 239a Abs. 3 StGB schuldig gemacht hat, nicht verfolgt werden könnte.442 436  So offensichtlich die Vorstellung Drs. 16 / 7957, S. 6. 437  BVerfG NJW 1953, 1137, 1138 f. 438  Marxen / Tiemann ZIS 2008, 188, 439  Pabst, ZIS 2010, 126, 130. 440  Marxen / Tiemann ZIS 2008, 188, 441  Marxen / Tiemann ZIS 2008, 188, 442  Marxen / Tiemann ZIS 2008, 188,

des 2008 diskutierten Gesetzesentwurfs BT190. 191. 193. 193.

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Teil 1: Rechtliche Grundlagen zum geltenden Wiederaufnahmerecht

Ein derartiger Wiederaufnahmegrund würde nebenbei dem System der ungünstigen Wiederaufnahme widersprechen: Sämtliche Wiederaufnahmegründe des § 362 StPO gründen auf einem in rechtswidriger Weise beeinflussten Verfahren (§ 362 Nr. 1–3 StPO) bzw. entspringen dem Verantwortungsbereich des Angeklagten (§ 362 Nr. 4 StPO). Sie beruhen demnach auf falschen Beweisen, nicht auf fehlenden.443 Neue wissenschaftliche Erkenntnisse entspringen jedoch weder dem Verantwortungsbereich des Angeklagten noch dem des Gerichts.444 Dass sich die Kriminaltechnik fortentwickelt, liegt vielmehr außerhalb jedes Verantwortungsbereichs, so dass kein nachvollziehbarer Grund ersichtlich ist, die Rechtskraft insoweit zu durchbrechen.445 Untauglich scheint als Kriterium ein vom Gesetzgeber in der Vergangenheit vorausgesetzter, zweifelsfreier Tatnachweis bereits angesichts der Unschuldsvermutung des Art. 6 Abs. 2 EMRK. Zweifelsfrei kann die Täterschuld erst mit einem Urteil beurteilt werden. Somit wäre es im Ergebnis sachgerecht, eine am wissenschaftlichen Fortschritt im Bereich der DNA-Untersuchung orientierte Ausdehnung der ungünstigen Wiederaufnahme de lege ferenda mit Blick auf den aus Art. 103 Abs. 3 GG abgeleiteten Schutz abzulehnen. Der Gesetzesentwurf, der auch im Rechtsausschuss des Bundestags überwiegend kritisch gesehen wurde, wurde in Folge des Diskontinuitätsprinzips mit Ablauf der 16. Legislaturperiode obsolet.446 Zwar wurde der Vorschlag am 21.04.2010 erneut eingebracht447 und in den Rechtsausschuss überwiesen, jedoch ohne dass er seitdem nochmals thematisiert worden wäre. Für künftige Gesetzesvorhaben wird im Übrigen auch die Frage nach dem normativen Reformbedarf von Belang sein. Im 2008 diskutierten Gesetzesentwurf wurde bereits ausgeführt, dass es im Jahr 2003 bundesweit neun Freisprüche vom Vorwurf des Mordes gab; 2004 waren es immerhin bundesweit 17. Nicht untersucht wurde jedoch, ob davon ein Freispruch überhaupt in Zweifel zu ziehen war.448 443  § 362 Nr. 4 StPO stellt insoweit eine Ausnahme dar. Die Regelung basiert auf der Idee, dass der Freigesprochene sich nicht folgenlos seiner Tat rühmen soll. Die Wiederaufnahme wird hier (verfassungsrechtlich unbedenklich) zugelassen, zumal hier der Freigesprochene selbst entscheidet, ob er ein Geständnis ablegt oder nicht, vgl. Pabst, ZIS 2010, 126, 129. 444  So auch BRAK Stellungnahme Nr. 7 / 2009 zum Gesetzesentwurf BT-Drs. 16 /  7957, S. 4 http: /  / www.brak.de / zur-rechtspolitik / stellungnahmen-pdf / stellungnahmendeutschland / 2009 / maerz / stellungnahme-der-brak-2009-07.pdf (zuletzt aufgerufen am 04.09.2016). 445  Marxen / Tiemann ZIS 2008, 188, 189. 446  KK-Hannich, Vorbemerkungen zu § 359 / 9. 447  BR-Drs. 222 / 10; BR-PlPr 869, S. 123.



B. Voraussetzungen für die Wiederaufnahme eines Strafverfahrens 95

(4) § 362 Nr. 4 StPO auch beim Verurteilten Die auf § 362 Nr. 4 StPO gestützte Wiederaufnahme ist nur gegen den Freigesprochenen möglich. In dieser Konstellation ist das Ziel der bloßen Strafschärfung in jedem Fall ausgeschlossen.449 Fraglich bleibt, ob § 362 Nr. 4 StPO über den Freigesprochenen hinaus auch den Verurteilten umfassen sollte, wenn dessen vergleichsweise milde Strafe in einem krassen Missverhältnis zu der von ihm eingeräumten Tat steht.450 Dahingehende Forderungen waren bereits kurz nach Inkrafttreten der RStPO erhoben worden.451 Da sich ein Verurteilter nicht nachträglich einer Straftat rühmen können soll – was den Gesetzgeber zur Einführung des § 362 Nr. 4 StPO motiviert hatte – erscheint dies naheliegend. Dem kann zunächst entgegengehalten werden, dass der Verurteilte bestraft wurde. Da ihm aber nur eine Teilschuld nachgewiesen werden konnte, erscheint die Korrektur seiner Strafe naheliegend. Eine Begrenzung auf Ver­ brechenstatbestände, die im Prozessrecht bspw. bereits in § 153a Abs. 5 StPO oder § 373a StPO zur Wiederaufnahme eines eingestellten Verfahrens führen können, wäre dabei denkbar.452 Berücksichtigt man jedoch, dass der Betroffene bereits aufgrund eines Vergehens zu einer hohen Strafe verurteilt worden sein kann, bleibt weiter fraglich, wann die Grenze des eine Wiederaufnahme rechtfertigenden Missverhältnisses erreicht sein würde. Hinzu kommt, dass der Verurteilte in seinem Vertrauen auf die Endgültigkeit der Sanktion schutzwürdig ist.453 Räumt er etwa im Zusammenhang mit der Aufarbeitung seiner Tat ein, tatsächlich größeres Unrecht begangen zu haben, erscheint es nicht angebracht, ihn dem Risiko einer neuerlichen Strafverfolgung auszusetzen.454 Schließlich kann § 362 Nr. 4 StPO bereits deshalb auch de lege ferenda nicht ausgedehnt werden, da es sich im Ergebnis um eine Form der allgemei448  Scherzberg / Thiée, Stellungnahme der Strafverteidigervereinigungen zum ­ ntwurf eines Gesetzes (BT-Drucksache 16 / 7957) zur Reform des strafrechtlichen E Wiederaufnahmerechts, http: /  / www.strafverteidigervereinigungen.org / Material / Stel lungnahmen / wiederaufnahme_prn.html (zuletzt aufgerufen am 22.08.2015). 449  Marxen / Tiemann, Die Wiederaufnahme in Strafsachen, Rn. 308. 450  Weber-Klatt, Die Wiederaufnahme von Verfahren zu Ungunsten des Angeklagten, S. 391. 451  Ziemba, Die Wiederaufnahme des Verfahrens zuungunsten des Freigesprochenen oder Verurteilten, S. 61. 452  A. A. ohne weitere Begründung Weber-Klatt, Die Wiederaufnahme von Verfahren zu Ungunsten des Angeklagten, S. 393. 453  Vgl. hierzu unten S. 85 ff. 454  So auch Weber-Klatt, Die Wiederaufnahme von Verfahren zu Ungunsten des Angeklagten, S.  395 f.

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Teil 1: Rechtliche Grundlagen zum geltenden Wiederaufnahmerecht

nen Strafmaßwiederaufnahme handeln würde. Wie bereits dargestellt, ist diese jedoch im Falle der ungünstigen Wiederaufnahme abzulehnen.455 Soweit hält Dippel eine Einengung des § 362 Nr. 4 StPO für erwägenswert und empfiehlt insoweit eine klare Begrenzung auf schwerste Straftaten.456 Da auch hier eine materiellrechtliche Deliktsdifferenzierung nur schwer möglich erscheint, ist die Ansicht Dippels abzulehnen.

IV. Aditionsverfahren Im Rahmen des Aditionsverfahrens ist gem. § 368 Abs. 1 StPO über die Zulässigkeit des Antrags zu entscheiden. Neben den Voraussetzungen des § 366 StPO sind auch allgemeine Zulässigkeitsvoraussetzungen wie die Gerichtszuständigkeit, die Statthaftigkeit des Antrags, die Antragsberechtigung sowie die Beschwer des Antragstellers zu prüfen.457 Bei dieser Prüfung ist die Beweiskraft der vorgebrachten Beweismittel zu unterstellen.458 Erachtet das Wiederaufnahmegericht den Antrag für unzureichend, ist der Antragsteller auf behebbare Mängel hinzuweisen.459 Die Geltung des Untersuchungsgrundsatzes im Wiederaufnahmeverfahren ist umstritten.460 Während die wohl h. M. von der Geltung der Untersuchungsmaxime ausgeht461, wird diese von einer Minderansicht gänzlich in Abrede gestellt462. Innerhalb der h. M. wiederum umstritten ist, ob der Untersuchungsgrundsatz lediglich im Probationsverfahren Geltung beansprucht.463 Für das Aditionsverfahren ist insofern maßgeblich, dass die Richtigkeit des Antragsvorbringens zu unterstellen ist.464 Ist das Wiederaufnahmegericht zugleich verpflichtet, rechtliche Hinweise zu erteilen, kann auf die Geltung des Untersuchungsgrundsatzes im Aditionsverfahren verzichtet werden. 455  Vgl.

oben S. 82 f. Das geltende deutsche Wiederaufnahmerecht und seine Erneuerung,

456  Dippel,

S.  70 ff. 457  SSW-Kaspar, § 368 / 2. 458  SSW-Kaspar, § 368 / 1. Auf Richtigkeit und Beweiskraft ist das Vorbringen erst im Rahmen der Probation zu prüfen. 459  Siehe oben, S. 77 ff. So auch SSW-Kaspar, § 368 / 1. 460  Siehe unten S. 327 ff. 461  OLG Hamburg StV 2003, 229, 230; MG § 369 / 5; LR-Gössel, § 369 / 2; Gössel, NStZ 1987, 378, 379. Dafür auch BVerfG StV 2003, 223, 224. A. A. KMR-Eschelbach, § 369 / 3 f. 462  Marxen / Tiemann, Die Wiederaufnahme in Strafsachen, Rn. 370. 463  OLG Zweibrücken GA 1993, 463, 465; MG § 369 / 5; KK Schmidt, § 369 / 2; Peters, Fehlerquellen im Strafprozeß III, S. 144. Vgl. auch Theobald, Barrieren im strafrechtlichen Wiederaufnahmeverfahren, S.  97 m. w. N. 464  Theobald, Barrieren im strafrechtlichen Wiederaufnahmeverfahren, S. 97.



B. Voraussetzungen für die Wiederaufnahme eines Strafverfahrens 97

1. Ablauf des Aditionsverfahrens Über die Zulässigkeit des Wiederaufnahmeantrags wird gem. § 367 Abs. 2 StPO ohne mündliche Verhandlung und ohne Mitwirkung von Schöffen durch Beschluss entschieden.465 Das Gericht ist insbesondere bei Anträgen von juristischen Laien aufgrund seiner Fürsorgepflicht gehalten, den Antragsteller auf die Sachdienlichkeit seines Antrags hinzuweisen und ihm Gelegenheit einzuräumen, seinen Antrag bei leicht zu behebenden Mängeln zu ergänzen.466 2. Bestellung eines Pflichtverteidigers Die §§ 140 ff. StPO finden für das Wiederaufnahmeverfahren in §§ 364a, b StPO ihre Ergänzung.467 Die Bestellung eines Pflichtverteidigers im Grundverfahren soll, ebenso wie die erteilte Vollmacht, auch über die Rechtskraft hinaus, bis zum Beschluss über die Anordnung des Erneuerungsverfahrens (§ 370 Abs. 2 StPO) oder der unanfechtbaren Entscheidung gem. §§ 368 Abs. 1, 370 Abs. 1 StPO reichen.468 Die Bestellung des Pflichtverteidigers endet mithin nicht mit der Rechtskraft des Urteils, sondern besteht fort für das ganze Verfahren bis zur Wiederaufnahme.469 Dies folge bereits aus dem Wortlaut des § 364b Abs. 1 S. 2 StPO. Die erstmalige470 Bestellung eines Verteidigers gem. § 364a, b StPO findet demnach nur für den Verurteilten Anwendung, der noch keinen gewählten oder bestellten Verteidiger hat.471

465  Dies

466  OLG

folgt aus §§ 30 Abs. 2, 76 Abs. 1 S. 2 GVG. Hamm NJW 1980, 717; MG § 366 / 3. s. zu den Hinweispflichten bereits

oben S. 96. 467  Wasserburg, Die Wiederaufnahme des Strafverfahrens, S. 167. 468  KG, Beschluss vom 15.02.2013, Az. 4 Ws 25 / 13 – 141 AR 56 / 13, in: BeckRS 2013, 07665; LG Ulm, Beschluss vom 07.01.2013, Az. 2 Qs 2088 / 12, in: BeckRS 2013, 01047; LG Saarbrücken, Beschluss vom 20.08.2013, Az. 2 Ks 05 Js 216 / 06 (1 / 13), in: BeckRS 2014, 03013; KG NJW 2013, 182, 183; OLG Düsseldorf NStZ 1983, 235; KK-Schmidt, § 364a / 2; LR-Gössel, § 364a / 3; AnwK-Rotsch, § 364a / 3; Marxen / Tiemann, Die Wiederaufnahme in Strafsachen, Rn. 469. Dem widersprechend: ThürOLG Jena StV 15, 16 und KMR-Eschelbach, § 364a / 39. 469  OLG Braunschweig NStZ-RR 2014, 314; Wasserburg, GA 1982, 304, 306 und 309 unter Verweis auf RGSt 22, 97, 99. A. A. Thüringer OLG StV 2015, 16. 470  Ausnahme ist insoweit § 364b Abs. 1 S. 2 StPO, für den jede frühere Verteidigerbestellung ausreicht, vgl. Wasserburg, Die Wiederaufnahme des Strafverfahrens, S. 174. § 364b Abs. 1 S. 2 StPO dient dazu, aussichtslose oder unzulässige Wiederaufnahmeverfahren auszuschalten, vgl. Wasserburg, Die Wiederaufnahme des Strafverfahrens, S.  174 f. 471  Wasserburg, Die Wiederaufnahme des Strafverfahrens, S. 167, 169, 176.

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Teil 1: Rechtliche Grundlagen zum geltenden Wiederaufnahmerecht

Gem. § 364a StPO kann dem unverteidigten Betroffenen bei schwieriger Sach- und Rechtslage auf Antrag (erstmalig) ein Verteidiger bestellt werden.472 Die Sach- bzw. Rechtslage ist schwierig, wenn solche sachliche oder rechtliche Schwierigkeiten anzunehmen sind, dass sich der Verurteilte im Wiederaufnahmeverfahren nicht sachgerecht selbst verteidigen kann. Aufgrund der bestehenden besonderen Darlegungs- und Beweisführungslasten dürfte im Regelfall anzunehmen sein, dass der Verurteilte mit der Durchsetzung seiner Interessen ohne Verteidiger überfordert ist. Ihm ist daher im Regelfall ein Verteidiger zu bestellen.473 Die Schwierigkeit der Sach- und Rechtslage ist auch dann anzunehmen, wenn es dem Antragsteller aus sachlichen oder rechtlichen Gründen Probleme bereitet, sachgerechte Anträge zu stellen oder seine Interessen im Rahmen der Beweiserhebung gem. § 369 StPO wahrzunehmen bzw. sachgerechte Erklärungen im Rahmen des § 369 Abs. 4 StPO abzugeben.474 Enge Voraussetzungen der Bestellung eine Verteidigers sollen sicherstellen, dass nicht offensichtlich aussichtslose oder sonst unzulässige Wiederaufnahmeanträge auf Kosten der Staatskasse betrieben werden.475 § 364a StPO ist nicht nur auf bereits laufende Wiederaufnahmeverfahren anwendbar, sondern soll bereits die Beiordnung eines Verteidigers für die Erstellung und Einreichung des Antrags – auch eines Antrags auf Bestellung eines Pflichtverteidigers476 – ermöglichen.477 Die Verteidigerbestellung gem. § 364b StPO betrifft Fälle, bei denen zur Prüfung oder Vorbereitung eines Wiederaufnahmeantrags erst noch weitergehende Sachverhaltsermittlungen erforderlich sind.478 Voraussetzung für diese Verteidigerbestellung ist neben einer fehlenden Verteidigung insbesondere die Erfolgsaussicht des Wiederaufnahmeantrags. Spiegelbildlich zum Anfangsverdacht i. S. d. § 152 Abs. 2 StPO479 wird jenseits bloßer Vermutungen 472  Ein weggefallener Verteidiger, bspw. in Folge von Mandatsniederlegung, Tod, Verlust der Zulassung darf nicht gem. § 364b Abs. 1 S. 1 StPO neu bestellt werden und ist zu ersetzen, vgl. Wasserburg, Die Wiederaufnahme des Strafverfahrens, S. 174. 473  Marxen / Tiemann, Die Wiederaufnahme in Strafsachen, Rn. 473 f. 474  Miebach, in: Miebach / Hohmann, Wiederaufnahme in Strafsachen, Teil  J, Rz. 66. 475  Wasserburg, Die Wiederaufnahme des Strafverfahrens, S. 174. 476  Gorka, in: Miebach / Hohmann, Wiederaufnahme in Strafsachen, Teil D, Rz. 101 und 132. 477  LR-Gössel, § 364a / 4; KK-Schmidt, § 364a / 5; MG § 364a / 3; KMR-Eschelbach, § 364b / 13; Marxen / Tiemann, Die Wiederaufnahme in Strafsachen, Rn. 466. A. A. Wasserburg, Die Wiederaufnahme des Strafverfahrens, S. 176, der § 364a StPO auf bereits laufende Wiederaufnahmeverfahren beschränken will. 478  Was sich bereits aus § 46 Abs. 3 RVG ergibt. 479  Anders als im Aditionsverfahren, in dem prozessuales Gegenstück der hinreichende Tatverdacht der §§ 170 Abs. 1, 203 StPO ist, sind im Rahmen des § 364b StPO die Anforderungen i. S. e. bloßen Anfangsverdachts damit geringer.



B. Voraussetzungen für die Wiederaufnahme eines Strafverfahrens 99

eine Möglichkeit gefordert, dass weitere Nachforschungen zu Tatsachen oder Beweismitteln führen, die die Wiederaufnahme begründen.480 Die Bestellung eines Verteidigers setzt zudem eine schwierige Sach- oder Rechtslage die vorzunehmenden Nachforschungen betreffend voraus, die bereits dann anzunehmen ist, wenn der Verurteilte sich nicht auf freiem Fuß befindet.481 Schließlich ist gem. § 364b Abs. 1 S. 1 Nr. 3 StPO die Mittellosigkeit des Verurteilten Voraussetzung für die Bestellung eines Verteidigers.482 Anders als bei § 364b StPO ist bereits angesichts des Wortlauts des § 364a StPO keine Prüfung der Erfolgsaussicht des Wiederaufnahmebegehrens vorzunehmen. Dennoch wird angenommen, dass eine Negativprüfung durch das Gericht dahingehend möglich sein soll, dass dem Verurteilten bei offensichtlicher Aussichtslosigkeit kein Verteidiger zu bestellen sei.483 Dieses Merkmal soll jedoch restriktiv gehandhabt werden, zumal es nach der Intention des Gesetzgebers gerade Aufgabe des zu bestellenden Verteidigers sein soll, die Erfolgsaussichten einzuschätzen.484 Es sei auf Evidenzfälle zu beschränken.485 Dem kann nicht gefolgt werden. Aus Sicht des Verurteilten sollte ihm stets ein Pflichtverteidiger beigeordnet werden, damit sein Verteidiger nach Prüfung der Sach- und Rechtslage in seinem Interesse darlegen kann, ob sein Begehr Erfolgsaussichten hat, oder nicht. Die Regelungen der §§ 364a, b StPO, die erst durch Gesetz vom 09.12.1974 eingeführt wurden, sollen die Rechtsstellung des Verurteilten in einem zu seinen Gunsten angestrengten Wiederaufnahmeverfahren verbessern.486 Die h. M. will die Anwendbarkeit des § 364a StPO auf Fälle der günstigen Wiederaufnahme beschränkt verstehen.487 Dies lässt sich weder dem insoweit nicht eindeutigen Wortlaut entnehmen, noch erscheint es sachgerecht.488 480  MG § 364b / 5; Marxen / Tiemann, Die Wiederaufnahme in Strafsachen, Rn. 487; Gorka, in: Miebach / Hohmann, Wiederaufnahme in Strafsachen, Teil D, Rz. 155. 481  KK-Schmidt, § 364b / 5; MG § 364b / 6; KMR-Eschelbach, § 364b / 29 ff.; LRGössel, § 364b / 10. 482  Gem. § 364b Abs. 2 StPO gelten die Vorschriften der ZPO insoweit entsprechend. 483  KK-Schmidt, § 364a / 1; MG § 364a / 5; AK-Loos, § 364a / 8; KMR-Eschelbach, § 364a / 54; LR-Gössel, § 364a / 6; Marxen / Tiemann, Die Wiederaufnahme in Strafsachen, Rn. 475. 484  BT-Drs. 7 / 551, S. 52. 485  KMR-Eschelbach, § 364a / 58. 486  BGBl. Nr. 132, Jahrgang 1974, Teil I, S. 3393 ff.; BT-Drs. 7 / 551, S. 52. 487  SSW-Kaspar, § 364a / 1; LR-Gössel, § 364a / 2; MG § 364a / 1; KK-Schmidt, § 364a / 3; Marxen / Tiemann, Die Wiederaufnahme in Strafsachen, Rn. 465. A. A. SKFrister, § 364a / 13. 488  KMR-Eschelbach, § 364a / 32, da andernfalls die Rollenbezeichnung des Betroffenen als Angeklagter oder Verurteilter überbetont würde. Tatsächlich sind die Begriffe als Synonyme zu verstehen, vgl. KMR-Eschelbach, § 364a / 30.

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Teil 1: Rechtliche Grundlagen zum geltenden Wiederaufnahmerecht

Zwar ist für den inhaftierten Antragsteller die Aufarbeitung der Wiederaufnahmegrundlagen zweifelsohne mühsamer, gleichwohl kann auch den von einer ungünstigen Wiederaufnahme Betroffenen, der zunächst freigesprochen worden war, die volle Wucht des Rechtsbehelfs treffen. Anders als im Fall der günstigen Wiederaufnahme, bei der es u. a. um die Wiederherstellung der auch grundrechtlich geschützten Rechtspositionen geht, wird durch die ungünstige Wiederaufnahme u. U. in Rechte des Betroffenen unmittelbar eingegriffen, jedenfalls sein Vertrauen in den Fortbestand einer freisprechenden Entscheidung erschüttert. Beabsichtigt also die Staatsanwaltschaft einen auf § 362 StPO gestützten Wiederaufnahmeantrag zuungunsten des Angeklagten, kann dieser nicht zur Abwehr des von der Staatsanwaltschaft betriebenen Antrags die Beiordnung eines Verteidigers zur Ermittlung von Entlastungsbeweisen bzw. der Abwehr des staatsanwaltschaftlichen Wiederaufnahmeverfahrens beantragen.489 Ein Verstoß gegen Art. 3 GG ist trotz der Ungleichbehandlung des Verurteilten (§ 359 StPO) und des Angeklagten (§ 362 StPO) nicht anzunehmen, da die Staatsanwaltschaft gem. § 160 Abs. 2 StPO auch die zur Entlastung dienenden Gesichtspunkte ermitteln muss und der Angeklagte auch durch das Aditions- und Probationsverfahren vor einem ungerechtfertigten Wiederaufnahmeverfahren geschützt wird.490 Soweit erwogen wird, § 140 Abs. 2 StPO und Art. 6 Abs. 3 lit. c EMRK auf Fälle der ungünstigen Wiederaufnahme anzuwenden491, erscheint dies nicht sachgerecht, hat doch der Gesetzgeber in §§ 364a, b StPO Spezialregelungen geschaffen492. Die Norm sollte dennoch aus Fairnessgesichtspunkten unmittelbar auf Fälle des § 362 StPO Anwendung finden.493 Der Gesetzgeber ist insoweit aufgerufen, eine klarstellende Änderung des § 364a StPO zu veranlassen.494 Die Fortgeltung einer Vollmacht bzw. insbesondere einer Verteidigerbestellung bis zur Rechtskraft eines Beschlusses gem. § 370 Abs. 1 StPO erscheint bedenklich, worauf im weiteren Verlauf der Untersuchung noch eingegangen wird (s. S. 322). Die Verteidigerbestellung gem. §§ 364a, b StPO gilt nur für das Wiederaufnahmeverfahren. Sie endet mithin durch Verwerfung des Antrags gem. § 368 489  KMR-Eschelbach,

§ 364b / 15 f. § 364b / 16. 491  OLG Düsseldorf NJW 1989, 676; MG § 364a / 1. 492  OLG Stuttgart NStZ-RR 2003, 114, 115. AK-Loos, § 364a / 4. 493  KMR-Eschelbach, § 364a / 32. 494  Überlegungen, an Stelle der §§ 364a, b StPO einen Verteidiger im Wege der Prozesskostenhilfe beizuordnen, würde systematisch der Regelung des § 140 StPO widersprechen, bei dem es nicht auf die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit des Betroffenen ankommt, sondern auf die Schwierigkeit der Sach- oder Rechtslage, vgl. Wasserburg, Die Wiederaufnahme des Strafverfahrens, S. 59. 490  KMR-Eschelbach,



B. Voraussetzungen für die Wiederaufnahme eines Strafverfahrens 101

Abs. 1 oder § 370 Abs. 1 StPO bzw. mit Eintritt der Rechtskraft des die Wiederaufnahme anordnenden Beschlusses gem. § 370 Abs. 2 StPO. Im Erneuerungsverfahren richtet sich die Verteidigerbestellung nach § 140 StPO.495 Über einen Antrag gem. §§ 364a, b StPO hat das gem. § 367 Abs. 1 S. 1 StPO zuständige Wiederaufnahmegericht zu entscheiden. Anders als bei § 141 Abs. 4 StPO entscheidet über die Bestellung jedoch nicht allein der Vorsitzende, sondern der gesamte Spruchkörper.496 Die Entscheidung ergeht ohne mündliche Verhandlung durch Beschluss, § 367 Abs. 2 StPO. Der Beschluss, mit dem die Bestellung eines Verteidigers abgelehnt wird, ist im Wege der Beschwerde gem. § 304 StPO anzugreifen. 3. Entscheidungsmöglichkeiten Das Wiederaufnahmegericht entscheidet innerhalb angemessener Frist497, Art. 6 Abs. 1 S. 1 EMRK, durch Beschluss über die Zulässigkeit des Antrags.498 Obwohl nach Anhörung der Verfahrensbeteiligten grds. unverzüglich über die Zulässigkeit des Antrags zu entscheiden ist, ist in der gerichtlichen Praxis häufig eine unangemessene Verfahrensverzögerung zu beklagen, für die bislang kein hinreichender Schutz besteht.499 Der Antragsteller kann einzig über die Verzögerungsrüge des § 198 Abs. 3 GVG und damit korrespondierende Entschädigungsklage nach dem GVG gerichtlichen Schutz bei überlanger Verfahrensdauer beanspruchen.500 Die Entscheidung ist gem. § 34 StPO zu begründen.501 Die Bekanntmachung richtet sich nach den allgemeinen Vorschriften des § 35 StPO und § 368 S. 2 StPO. Aufgrund der Anfechtbarkeit des Verwerfungsbeschlusses 495  Marxen / Tiemann,

Die Wiederaufnahme in Strafsachen, Rn. 482. Die Wiederaufnahme in Strafsachen, Rn. 480. 497  Marxen / Tiemann, Die Wiederaufnahme in Strafsachen, Rn. 337. 498  Dabei kann das Gericht den Antrag auch nur in Teilen für zulässig erklären, bspw. hinsichtlich einer von mehreren tatmehrheitlich begangener Taten, die Strafzumessung oder nur bezüglich eines von mehreren Wiederaufnahmegründen, vgl. BGH NJW 1958, 1309, 1310; HansOLG Hamburg GA 1967, 317; MG § 368 / 12. Hinsichtlich eines Wiederaufnahmegrundes ist jedoch nur eine homogene Entscheidung möglich, bspw. können im Fall von § 359 Nr. 5 StPO nicht einzelne Beweismittel oder Tatsachen ausgeschlossen werden, BGH NJW 1966, 2177; OLG Frankfurt NJW 1955, 73; LR-Gössel, § 368 / 33; MG § 368 / 12. 499  Marxen / Tiemann, Die Wiederaufnahme in Strafsachen, Rn. 337. 500  Miebach, in: Miebach / Hohmann, Wiederaufnahme in Strafsachen, Teil  J, Rz. 19. 501  Alexander, in: Miebach / Hohmann, Wiederaufnahme in Strafsachen, Teil  F, Rz. 237. 496  Marxen / Tiemann,

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Teil 1: Rechtliche Grundlagen zum geltenden Wiederaufnahmerecht

gem. §§ 372 S. 1 i. V. m. 311 StPO ist die Entscheidung dem Beschwerde­ berechtigten gem. § 35 Abs. 2 S. 1 StPO zuzustellen. Wird der Antrag gem. § 370 Abs. 1 StPO als unzulässig verworfen, trägt der Antragsteller gem. § 473 Abs. 6 Nr. 1 StPO die Kosten.502 Zugleich führt die Verwerfung dazu, dass das Vorbringen verbraucht ist, mithin nicht mehr Gegenstand eines gesonderten Antrags sein kann.503 Erklärt das Gericht den Antrag für zulässig, folgt gem. § 368 Abs. 2 StPO die Zustellung an den Antragsgegner sowie dessen Anhörung. Sodann mündet das Verfahren in das Probationsverfahren. Der Zulassungsbeschluss, der auch in Fällen offensichtlicher Begründetheit unerlässlich ist504, entfaltet nur hinsichtlich der negativen Feststellung von Formmängeln des § 366 StPO Bindungswirkung; im Übrigen kann auch im späteren Verfahrensverlauf der Antrag auf Wiederaufnahme noch als unzulässig verworfen werden505 oder – wenn der Antrag gerade auf die Einstellung des Verfahrens wegen eines übersehenen Verfahrenshindernisses abzielt – gem. § 371 Abs. 2, 3 StPO verbeschieden werden.506 Nicht möglich ist die Einstellung des Wiederaufnahmeverfahrens gem. § 206a StPO bei Vorliegen eines Verfahrenshindernisses.507 Vielmehr ist der Antrag gem. § 368 Abs. 1 StPO als unzulässig zu verwerfen.508

V. Probationsverfahren Die Prüfung der Begründetheit des Wiederaufnahmeantrages bedarf der Feststellung, ob der vom Antragsteller vorgebrachte Wiederaufnahmegrund vorliegt.509 Anders als im Aditionsverfahren wird hierbei die Richtigkeit des Wiederaufnahmevorbringens nicht unterstellt, sondern untersucht.510 502  Alexander, in: Miebach / Hohmann, Wiederaufnahme in Strafsachen, Teil  F, Rz. 240. Wird der Antrag (teilweise) für zulässig erklärt, bleibt die Kostenentscheidung der abschließenden Entscheidung vorbehalten, vgl. Marxen / Tiemann, Die Wiederaufnahme in Strafsachen, Rn. 340. 503  SSW-Kaspar, § 368 / 11. Dies gilt nicht, soweit die Verwerfung auf rein formalen Gründen beruht. Insoweit obliegt dem Wiederaufnahmegericht ohnehin aus prozessualer Fürsorgepflicht eine entsprechende Hinweispflicht, vgl. Marxen / Tiemann, Die Wiederaufnahme in Strafsachen, Rn. 68 und 336. 504  Miebach, in: Miebach / Hohmann, Wiederaufnahme in Strafsachen, Teil  J, Rz. 72. 505  SSW-Kaspar, § 368 / 13. 506  Marxen / Tiemann, Die Wiederaufnahme in Strafsachen, Rn. 339. 507  Marxen / Tiemann, Die Wiederaufnahme in Strafsachen, Rn. 339. 508  Marxen / Tiemann, Die Wiederaufnahme in Strafsachen, Rn. 339 m. w. N. 509  Marxen / Tiemann, Die Wiederaufnahme in Strafsachen, Rn. 353.



B. Voraussetzungen für die Wiederaufnahme eines Strafverfahrens 103

1. Vorliegen eines Wiederaufnahmegrundes Ein Wiederaufnahmegrund liegt vor, wenn der vom Antragsteller schlüssig dargetane Wiederaufnahmegrund Bestätigung findet, § 370 Abs. 1 StPO. Dafür werden nach Zulassung des Antrags durch Beschluss gem. § 368 Abs. 2 StPO die vorgebrachten Beweise gem. § 369 StPO erhoben. Im Rahmen des Probationsverfahrens wird mithin geprüft, ob die vom Antragsteller vorgebrachten Tatsachen – deren Richtigkeit im Aditionsverfahren noch unterstellt worden war – tatsächlich vorliegen und die vorgetragenen Beweismittel beweiskräftig sind. Das Wiederaufnahmegericht soll dabei nach h. M. nicht auf die vom Antragsteller benannten Beweismittel beschränkt511 sein, sondern kann von Amts wegen entsprechend seiner Pflicht aus § 244 Abs. 2 StPO, weitere Beweise erheben, die es für die Prüfung der Begründetheit für erforderlich erachtet.512 Es gilt zu bedenken, dass auf diesem Weg Gegenbeweise erhoben werden könnten, wohingegen die Erforschung der materiellen Wahrheit dem Erneuerungsverfahren vorbehalten bleiben muss.513 Die Möglichkeit zu überschießenden Beweiserhebungen ergibt sich im Übrigen auch nicht aus dem Wortlaut des § 369 StPO. Zudem dient das Probationsverfahren nach Vorstellung des Gesetzgebers einzig der Überprüfung, ob das Wiederaufnahmevorbringen zutrifft oder nicht.514 Die Beweiserhebung ist demnach auf die vom Antragsteller angetretenen Beweise zu beschränken. Das Wiederaufnahmevorbringen ist genügend bestätigt, wenn es aufgrund der durchgeführten Beweisaufnahme gem. § 369 StPO hinreichend515 wahrscheinlich516 richtig ist.517 Auch in diesem Verfahrensstadium ist der volle

510  MG

§ 368 / 1.

511  SSW-Kaspar,

§ 369 / 2; KMR-Eschelbach, § 369 / 3. § 369 / 2. Eidesstattliche Versicherungen sollen zur Beweiserhebung gem. § 369 StPO nicht zugelassen sein, vgl. BGH Urteil vom 19.06.1962, 5 StR 189 / 62, in: BeckRS 9998, 114842. 513  KMR-Eschelbach, § 369 / 3. 514  KMR-Eschelbach, § 369 / 2. 515  So h. M. OLG Köln, Beschluss vom 15.07.2013, Az. 2 Ws 288 / 13, in: BeckRS 2013, 17033; KK-Schmidt, § 370 / 4 f. 516  OLG Schleswig NJW 1974, 714; LR-Gössel, § 370 / 18; Petermann, in: Miebach / Hohmann, Wiederaufnahme in Strafsachen, Teil B, Rz. 52. 517  So h. M. OLG Karlsruhe, Beschluss vom 18.07.2012, Az. 2 Ws 273 / 11, in: BeckRS 2012, 15707; OLG Karlsruhe, Beschluss vom 08.10.2004, Az. 3 Ws 100 / 04, in: BeckRS 2004, 09772, in dem ausgeführt wird, dass eine günstige Entscheidung naheliegend, mindestens aber hinreichend wahrscheinlich sei. MG § 370 / 4; HKTemming, § 370 / 3. 512  SSW-Kaspar,

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Teil 1: Rechtliche Grundlagen zum geltenden Wiederaufnahmerecht

Beweis nicht erforderlich.518 Vielmehr ergeht nur eine auf die erneute Hauptverhandlung bezogene Prognoseentscheidung. Ausreichend ist im Fall des § 359 Nr. 5 StPO, wenn die vorgetragenen nova die Urteilsfeststellungen so erschüttern, dass genügend Anlass zur Erneuerung der Hauptverhandlung besteht.519 Vertreten wird auch, dass ernsthafte Zweifel an den früheren Urteilsfeststellungen zur Annahme der Begründetheit ausreichen.520 Die vorzuziehende m.M. vertritt, dass auch hier, wie im Rahmen der Aditionsprüfung, die bloße Möglichkeit einer abweichenden Entscheidung ausreicht.521 Das Wiederaufnahmegericht betrachtet dabei über das Antragsvorbringen hinaus auch das angefochtene Urteil, den Akteninhalt und die Ergebnisse der gem. § 369 StPO durchgeführten Beweisaufnahme.522 Wie im Aditionsverfahren soll das Wiederaufnahmegericht die Prüfung vom Standpunkt des erkennenden Gerichts vornehmen.523 Vorzugswürdig erscheint auch hier, dass die Beweiswürdigung aus Sicht des Wiederaufnahmegerichts vorzunehmen ist.524 2. Verfahren Über die Begründetheit des Antrags wird nach Durchführung einer Beweisaufnahme gem. § 369 StPO entschieden. Diese ist erforderlich, wenn die Anordnung der Wiederaufnahme davon abhängt, ob sich das Vorbringen tatsächlich als zutreffend erweist525 und ähnelt der Erforschung des Sachverhalts im Ermittlungsverfahren.526 Wurde der Wiederaufnahmeantrag als zulässig erachtet, ist eine negative Begründetheitsentscheidung nur denkbar, wenn sich die Entscheidungsgrundlagen verändert haben. Dies ist etwa der Fall, wenn die erhobenen Beweise 518  BVerfG NStZ 1990, 499, 500; BGHSt 42, 314, 323; OLG Schleswig NJW 1974, 714; OLG Stuttgart StV 1990, 539; LG Hamburg NJW 1987, 3016. 519  OLG Stuttgart StV 1990, 539, 530; MG § 370 / 4; AK-Loos, § 370 / 14. 520  AK-Loos, § 370 / 14. 521  KMR-Eschelbach, § 370 / 16. 522  LR-Gössel, § 370 / 20. Das Wiederaufnahmegericht kann jedoch auch eine Beweiserhebung für entbehrlich halten, etwa wenn es den Sachvortrag schon aus dem Vorbringen für genügend bestätigt erachtet, vgl. Marxen / Tiemann, Die Wiederaufnahme in Strafsachen, Rn. 360. Es kann dann den Beschluss über die Zulässigkeit und Begründetheit des Antrags verbinden, vgl. OLG Brandenburg NStZ-RR 2010, 22. 523  Vgl. hierzu ausführlich unten S. 409 ff. und BGHSt 19, 365, 366; MG § 370 / 4. A. A. AK-Loos, § 370 / 13; LR-Gössel, § 370 / 21. 524  s. hierzu unten S. 409 ff. So auch AK-Loos, § 370 / 13. 525  Alexander, in: Miebach / Hohmann, Wiederaufnahme in Strafsachen, Teil  F, Rz. 251. 526  LR-Gössel, § 369 / 1.



B. Voraussetzungen für die Wiederaufnahme eines Strafverfahrens 105

das Wiederaufnahmevorbringen nicht bekräftigt haben oder der zunächst noch angenommene Wiederaufnahmegrund keine genügende Bestätigung findet.527 Im Regelfall beauftragt das Gericht gem. § 369 Abs. 1 StPO einen Richter mit der Erhebung der angetretenen Beweise.528 Eindeutiger gesetzgeberischer Wille des § 369 Abs. 1 StPO ist, dass die Beweisaufnahme durch einen Richter stattfindet, unerheblich ob es sich um einen beauftragten529 oder ersuchten Richter handelt.530 Der i. S. d. § 369 Abs. 1 StPO beauftragte Richter ist ein für das Wiederaufnahmegericht agierendes Organ und an dessen Anordnungen gebunden.531 Staatsanwaltschaft und Polizei dürfen als Ermittlungsbehörden Beweismittel lediglich herbeischaffen, wobei ihnen bereits verwehrt ist, Vorermittlungen zu tätigen.532 Nichtrichterliche Vernehmungen sind daher richtigerweise unverwertbar, unabhängig davon, ob eine richterliche Vernehmung möglich gewesen wäre oder nicht.533 Auch Durchsuchungs- und andere Maßnahmen zur Herbeischaffung von Beweismitteln sind zulässig. Wird die Wiederaufnahme zuungunsten des Antragstellers begehrt, ist umstritten, ob dieser vor staatlichem Zwang durch die Rechtskraft der angegriffenen Entscheidung geschützt wird. Da die Rechtskraft erst mit dem Beschluss über die Anordnung der Wiederaufnahme gem. § 370 Abs. 1 StPO entfällt534, sind staatliche Zwangsmaßnahmen auch erst ab diesem Zeitpunkt möglich. Andernfalls könnte bereits ein Wiederaufnahmeantrag und die Entscheidung über dessen Zulässigkeit zum Erlass eines Haftbefehls legitimieren. Dies erscheint jedoch vor dem Hintergrund, dass für die Zulässigkeit lediglich die schlüssige Darlegung des Antragsvorbringens ausreichend ist und die angebotenen Beweise erst im Probationsverfahren erhoben und folglich auch be527  Marxen / Tiemann,

Die Wiederaufnahme in Strafsachen, Rn. 362, 363. Beweise werden durch einen ersuchten oder beauftragten Richter oder durch das zur Entscheidung berufene Kollegialgericht in voller Besetzung erhoben, vgl. LR-Gössel, § 369 / 12; MG § 369 / 6; KK-Schmidt, § 369 / 6; Peters, Fehlerquellen im Strafprozeß III, S. 142. Möglich ist auch eine Beweisaufnahme, die auf einem Rechtshilfeersuchen beruht, § 156 ff. GVG, vgl. KK-Schmidt, § 369 / 6. 529  Gem. §§ 63, 223 Abs. 1 StPO. 530  Marxen / Tiemann, Die Wiederaufnahme in Strafsachen, Rn. 364. 531  Marxen / Tiemann, Die Wiederaufnahme in Strafsachen, Rn. 365. 532  OLG Düsseldorf MDR 1976, 777, 778. Nichtrichterliche Ermittlungen müssen in vollem Umfang wiederholt werden, vgl. KK-Schmidt, § 369 / 7; MG § 369 / 3; LRGössel, § 369 / 8. 533  OLG Celle MDR 1991, 1077; SSW-Kaspar, § 369 / 3 f. A. A. OLG Braunschweig NStZ 1987, 377, 378. 534  Die Zulassung des Antrags ist für die Rechtskraft der angegriffenen Entscheidung hingegen unbeachtlich. Nach Rechtskraft der nach § 370 StPO erlassenen Entscheidung, kann der Wiederaufnahmeantrag i.Ü. auch nicht mehr zurückgenommen werden, LG Frankfurt NJW 1970, 70. 528  Die

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Teil 1: Rechtliche Grundlagen zum geltenden Wiederaufnahmerecht

urteilt werden können, im Hinblick auf den Eingriff in die Freiheitsrechte des Betroffenen nicht hinnehmbar. Nicht gestattet ist es dem Wiederaufnahmegericht, die frühere Beweisaufnahme zu wiederholen bzw. die Beweisaufnahme einer neuen Hauptverhandlung vorweg zu nehmen.535 Das Wiederaufnahmegericht soll hinsichtlich des Umfangs der Beweisaufnahme nicht auf die vom Antragstellers oder dem Antragsgegner gem. § 368 Abs. 2 StPO vorgebrachten Beweismittel beschränkt sein. Vielmehr soll nach h. M. der allgemeine Untersuchungsgrundsatz des § 244 Abs. 2 StPO gelten. Die Ermittlung des wahren Sachverhalts sei von zentraler Bedeutung, um das materielle Schuldprinzip zu verwirklichen.536 Das Wiederaufnahmegericht müsse daher sämtliche Erkenntnismöglichkeiten ausschöpfen, um das Vorbringen des Antragstellers umfassend zu prüfen. Dem ist jedoch aus den o. g. Gründen entgegenzutreten.537 Verfahrensrechtlich gelten für die Beweisaufnahme im Probationsverfahren die allgemeinen Regeln der §§ 244 ff. StPO, mithin das Strengbeweisverfahren.538 Lediglich für die Vernehmung von Zeugen und Sachverständigen trifft § 369 Abs. 2 StPO eine Sonderregel. Über die Beweisaufnahme ist ein Protokoll zu erstellen. Dass es sich dabei um ein Inhaltsprotokoll handeln muss und nicht nur um ein Formalienprotokoll ergibt sich bereits aus § 369 Abs. 4 StPO, weil andernfalls das Äußerungsrecht ausgehöhlt würde. Unabhängig von der Anwesenheit der Verfahrensbeteiligten dient die Protokollierung der Sicherung des Beweisinhalts und ermöglicht eine Kontrolle in der Beschwerdeinstanz.539 Dennoch ist die Beweisaufnahme in diesem Verfah535  So die h. M. Dieser wird entgegen gebracht, dass nach dem eindeutigen Gesetzeswortlaut Beweise insoweit zu erheben sind, wie sie erforderlich sind um zu überprüfen, ob das Vorbringen des Antragstellers durch die angetretenen Beweise ausreichend bestätigt wird. Zudem gelte der Untersuchungsgrundsatz in Wiederaufnahmeverfahren nicht, vgl. Marxen / Tiemann, Die Wiederaufnahme in Strafsachen, Rn. 370, a. A. HK-Temming, § 369 / 2. Auch sei es nicht Aufgabe des Wiederaufnahmegerichts, den Stoff für das Wiederaufnahmeverfahren zu sammeln. Zwar könne das Gericht auf erforderliche Beweise hinweisen, jedoch müsse es dem Antragsteller überlassen werden, ob er sie zum Gegenstand des Verfahrens macht und damit das Risiko eines Verbrauchs eingeht. Auch sei eines Ausdehnung der Beweisaufnahme anhand des Untersuchungsgrundsatzes nicht praktikabel, da die Grenze zwischen einer möglichen Beweiserhebung und einer Wiederholung bzw. Vorwegnahme einer Beweisaufnahme nicht mehr klar zu unterscheiden sei, vgl. Marxen / Tiemann, Die Wiederaufnahme in Strafsachen, Rn. 370. 536  BVerfG StV 2003, 223, 224. 537  So auch KMR-Eschelbach, § 369 / 3. 538  BGHSt 17, 303, 304; LR-Gössel, § 369 / 9. A. A. OLG Jena NStZ-RR 1997, 47 f. 539  KMR-Eschelbach, § 369 / 26.



B. Voraussetzungen für die Wiederaufnahme eines Strafverfahrens 107

rensstadium nur vorläufiger Natur und dient nicht der Feststellung von Schuld oder Unschuld.540 Gem. § 369 Abs. 3 S. 1 StPO sind die Staatsanwaltschaft, der Angeklagte und sein Verteidiger bei der Vernehmung eines Zeugen oder Sachverständigen oder bei der Einnahme eines Augenscheins zur Anwesenheit berechtigt. Sie sind gem. §§ 369 Abs. 3 S. 2, 224, 225 StPO über einen Termin zur Beweiserhebung zu benachrichtigen. Anderes gilt für den inhaftierten Verurteilten, soweit der Termin für die Beweiserhebung nicht am Gericht des Ortes stattfindet, an dem sich seine Haftanstalt befindet und seine Mitwirkung an mit der Beweiserhebung bezweckten Klärung nicht dienlich ist, § 369 Abs. 3 S. 3 StPO.541 Vor dem Hintergrund des Art. 103 Abs. 1 GG ist eine Dienlichkeit jedoch grundsätzlich zu bejahen, da der Angeklagte selbst durch Fragen und Vorhalte an Zeugen zu einer Klärung beitragen kann.542 Für den Angeklagten besteht jedoch keine Anwesenheitspflicht, so dass seine zwangsweise Vorführung nicht in Betracht kommt.543 Soweit er anwesend ist, kann er gem. § 369 Abs. 3 S. 2 StPO i. V. m. § 168c Abs. 3 StPO von der Beweis­ erhebung ausgeschlossen werden, wenn durch seine Anwesenheit eine Gefährdung des Untersuchungszwecks zu befürchten steht.544 Wurde der Antrag gem. § 361 Abs. 2 StPO von einem dort Berechtigten gestellt, so ist auch dieser anwesenheitsberechtigt. Gleiches gilt für Erziehungsberechtigte oder gesetzliche Vertreter gem. § 67 Abs. 1 JGG. Der Nebenkläger kann zwar selbst keine Wiederaufnahme anstrengen, jedoch ist auch er zur Anwesenheit berechtigt545, um seiner Stellung als Verfahrensbeteiligtem entsprechend seine Rechte, bspw. auf Befragung des zu vernehmenden Zeugen, wahrnehmen zu können. Die Beweisaufnahme erfolgt grundsätzlich nur, soweit sie erforderlich ist. Entbehrlich ist sie zum Beispiel, wenn das Wiederaufnahmegericht den Vortrag des Antragstellers schon aufgrund des Vorbringens im Antrag als bestätigt erachtet, bspw. wenn der Antragsteller ein rechtskräftiges Urteil oder sonstige Urkunden vorlegt, aus denen sich die Begründetheit des Antrags 540  KMR-Eschelbach,

§ 369 / 1. Entscheidung muss eingehend begründet werden und alle Argumente Für und Wider der Anwesenheit abwägen, vgl. OLG Frankfurt a. M. StV 1990, 538. 542  Marxen / Tiemann, Die Wiederaufnahme in Strafsachen, Rn. 374. Nicht ausreichend ist, wenn sein Verteidiger bei der Beweisaufnahme anwesend ist, vgl. MG § 369 / 10; LR-Gössel, § 369 / 20. 543  Alexander, in: Miebach / Hohmann, Wiederaufnahme in Strafsachen, Teil  F, Rz. 263. 544  Marxen / Tiemann, Die Wiederaufnahme in Strafsachen, Rn. 374 ff. 545  LR-Gössel, § 369 / 18; KK-Schmidt, § 369 / 9; MG § 369 / 9; a. A. SSW-Kaspar, § 369 / 6. In einer neuen Hauptverhandlung ist der Nebenkläger dann gem. § 397 Abs. 1 i. V. m. § 385 Abs. 1 StPO wieder Verfahrensbeteiligter. 541  Die

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Teil 1: Rechtliche Grundlagen zum geltenden Wiederaufnahmerecht

ergibt.546 Beim Wiederaufnahmegrund des § 359 Nr. 5 StPO kann eine Beweisaufnahme auch dann entbehrlich sein, wenn der Antragsteller bereits aufgrund verfahrensinterner Widersprüchlichkeit den Beweiswert seines Vortrags besonders darlegen musste, um den Anforderungen eines zulässigen Wiederaufnahmeantrags zu entsprechen. Auch soweit sich die Tatsachen, auf die sich der Antragsteller stützt, und die nicht bereits offenkundig sind, bereits aus den Akten oder den beigebrachten Beweismitteln ergeben, ist eine Beweisaufnahme entbehrlich.547 Nach Durchführung der Beweisaufnahme ist der Staatsanwaltschaft und dem Verteidiger gem. § 369 Abs. 3 S. 2 StPO i. V. m. § 224 Abs. 1 S. 3 StPO das Protokoll über die Beweiserhebung zwingend vorzulegen, unabhängig davon, ob sie anwesend waren oder nicht.548 Eine Protokollvorlage direkt an den Angeklagten erfolgt jedoch nicht.549 Der Angeklagte ist jedoch für die Schlussanhörung gem. § 369 Abs. 4 StPO über das Ergebnis der Beweisaufnahme – durch Protokollvorlage oder sonstige Unterrichtung – direkt in Kenntnis zu setzen.550 Schließt das Gericht die Beweisaufnahme, so ist dem Angeklagten, der Staatsanwaltschaft gem. § 369 Abs. 4 StPO, ebenso wie den übrigen bei der Beweiserhebung anwesenheitsberechtigten Verfahrensbeteiligten551 Gelegenheit zur Stellungnahme zu geben, verbunden mit der Aufforderung, weitere Erklärungen abzugeben. Unterbleibt die Anhörung, kann eine spätere negative Entscheidung des Wiederaufnahmegerichts gem. § 372 StPO mit der 546  MG

§ 369 / 2; KK-Schmidt, § 369 / 4; LR-Gössel, § 369 / 6. eine Beweiserhebung insgesamt entbehrlich, kann das Wiederaufnahmegericht in einem Beschluss über die Zulässigkeit und Begründetheit des Antrags entscheiden, LR-Gössel, § 369 / 7; KK-Schmidt, § 369 / 4. A. A. AK-Loos, § 369 / 7 f., da die Entscheidungsgrundlagen mit den die Entscheidung tragenden Gründen identisch sind. Dennoch ist auch in einem einheitlichen Beschluss ausdrücklich über die Zulässigkeit des Antrags zu entscheiden, da die Zulässigkeit Voraussetzung für die Entscheidung über die Begründetheit des Antrags ist, LR-Gössel, § 370 / 2, und für den Antragsgegner mittels einer sofortigen Beschwerde selbstständig anfechtbar ist. Die Kombination einer positiven Zulässigkeitsentscheidung mit einer negativen Begründetheitsentscheidung ist jedoch nicht möglich. Erachtet das Wiederaufnahmegericht den Antrag für zulässig, kann der Antrag im Rahmen des Probationsverfahrens nur dann als unbegründet verworfen werden, wenn sich die Grundlagen für die Entscheidung geändert haben, a. A. OLG München MDR 1974, 775; OLG Bremen GA 1960, 216, 217. 548  KK-Schmidt, § 369 / 11; LR-Gössel, § 369 / 24; MG § 369 / 12. 549  Alexander, in: Miebach / Hohmann, Wiederaufnahme in Strafsachen, Teil  F, Rz. 271. 550  Alexander, in: Miebach / Hohmann, Wiederaufnahme in Strafsachen, Teil  F, Rz. 276. 551  MG § 369 / 13. Dies folgt bereits aus Art. 103 Abs. 1 GG. 547  Ist



B. Voraussetzungen für die Wiederaufnahme eines Strafverfahrens 109

sofortigen Beschwerde erfolgreich angegriffen werden552, da rechtliches Gehör versagt blieb. 3. Entscheidungsmöglichkeiten des Wiederaufnahmegerichts Über das Ergebnis des Probationsverfahrens entscheidet das Wiederaufnahmegericht ohne mündliche Verhandlung durch Beschluss, § 370 Abs. 1 StPO, mit dem die Wiederaufnahme des Verfahrens angeordnet oder der Antrag verworfen wird. Im Übrigen ist das Gericht im Rahmen des Proba­ tionsverfahrens an eine im Aditionsverfahren getroffene Entscheidung gebunden und kann Formmängel i. S. d. § 366 Abs. 2 StPO nicht mehr prüfen.553 Die Bindungswirkung gilt insoweit, als im Aditionsverfahren eine Sachentscheidung getroffen wurde. Sachentscheidung ist dabei auch die Bejahung der Erfolgsaussichten des Antrags anhand der Beurteilungsmöglichkeiten des Aditionsverfahrens.554 Der Wiederaufnahmeantrag wird gem. § 370 Abs. 1 StPO als unbegründet verworfen, wenn kein gesetzlicher Wiederaufnahmegrund vorliegt bzw. die vom Antragsteller aufgestellten Behauptungen keine Bestätigung gefunden haben.555 Die Beurteilung dieser Erfolgsaussichten soll – wie im Aditionsverfahren – vom Standpunkt des Wiederaufnahmegerichts erfolgen. Erachtet das Wiederaufnahmegericht den geltend gemachten gesetzlichen Wiederaufnahmegrund als gegeben, ordnet es durch Beschluss gem. § 370 Abs. 2 StPO die Wiederaufnahme des Verfahrens556 und die Erneuerung der Hauptverhandlung an557 oder führt gem. § 371 Abs. 1, 2 StPO eine Entscheidung ohne erneute Hauptverhandlung herbei.558 Im Rahmen des § 371 StPO 552  Einschränkend HK-Temming, § 369 / 9 und KMR-Eschelbach, § 369 / 35, nach denen die unterbliebene Anhörung nur dann die Aufhebung der Entscheidung rechtfertige, wenn das rechtliche Gehör im Rahmen des Beschwerdeverfahrens nicht nachgeholt werden kann. 553  MG § 370 / 2. 554  Marxen / Tiemann, Die Wiederaufnahme in Strafsachen, Rn. 387. Keine Sachentscheidung im Aditionsverfahren ist hingegen anzunehmen, wenn allgemeine Zulässigkeitsvoraussetzungen, etwa solche des § 366 Abs. 2 StPO, fehlen, vgl. Marxen /  Tiemann, Die Wiederaufnahme in Strafsachen, Rn. 388. 555  SSW-Kaspar, § 370 / 3. 556  Dieser Beschluss wird gem. § 16 Abs. 1 BZRG in das Bundeszentralregister eingetragen. 557  Der StA steht gegen den Beschluss gem. § 370 Abs. 2 StPO gem. § 372 S. 2 StPO kein Rechtsbehelf zu. 558  Im Fall von § 371 Abs. 2 StPO ist gem. Nr. 171 Abs. 1 S. 2 RiStBV die Zustimmung der StA notwendig. Diese hat sich – ebenso wie das Wiederaufnahmegericht selbst – neben der Prozessökonomie insbesondere am Rehabilitationsinteresse

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Teil 1: Rechtliche Grundlagen zum geltenden Wiederaufnahmerecht

gilt anders – jedenfalls nach Ansicht der h. M. – der Zweifelsgrundsatz.559 Die Anordnung der Wiederaufnahme ist Prozessvoraussetzung für das weitere Verfahren.560 Sie beseitigt die Rechtskraft der angegriffenen Entscheidung561, die nicht mehr vollstreckt werden kann.562 Die angegriffene Sachentscheidung wird damit nicht bereits mit Anordnung der Erneuerungshauptverhandlung hinfällig, schreibt doch das Gesetz mit §§ 371 Abs. 3 S. 1, 373 Abs. 1 StPO die Aufhebung des angefochtenen Urteils vor.563 Auf Mitverurteilte erstreckt sich die Aufhebung der Rechtskraft nicht, § 357 StPO soll auch nicht analog anwendbar sein.564 Mit Rechtskraft des Beschlusses im Probationsverfahren endet auch die Beiordnung des Verteidigers aus dem Erkenntnisverfahren. Der Antragsteller kann gem. § 371 Abs. 4 StPO verlangen, dass der Tenor der urteilsaufhebenden Entscheidung öffentlich bekannt gemacht wird. Die öffentliche Bekanntmachung soll die fehlende Rehabilitation durch Urteilsverkündung ersetzen und ist nur in Fällen des § 371 Abs. 1, 2 StPO zulässig.565 Die Bekanntmachung erfolgt im Bundesanzeiger oder in anderer geeigneter Weise.566 des Verurteilten zu orientieren, ob eine Freisprechung durch Beschluss gem. § 371 Abs. 2 StPO erfolgt oder eine neue Hauptverhandlung angeordnet wird. Dabei sollte nicht gegen den Willen des Betroffenen ohne Hauptverhandlung entschieden werden, § 371 Abs. 4 StPO und Nr. 171 RiStBV. Vgl. insoweit auch SSW-Kaspar, § 371 / 4. 559  KK-Schmidt, § 371 / 7; LR-Gössel, § 371 / 16; wohl auch MG § 371 / 8; Peters, Fehlerquellen im Strafprozeß III, S. 159. 560  KK-Schmidt, § 370 / 12; LR-Gössel, § 370 / 29. 561  BGHSt NJW 1960, 545; KK-Schmidt, § 370 / 13; LR-Gössel, § 370 / 31; SSWKaspar, § 370 / 7; Peters, Fehlerquellen im Strafprozeß III, S. 154. Soweit sich die Anordnung der Wiederaufnahme auf eine Straftat bezieht, die über eine tatmehrheitliche Verurteilung Teil eines Gesamtstrafe wurde, entfällt auch die Gesamtstrafe, vgl. BGHSt 14, 85, 89. Das Wiederaufnahmegericht hat dann ggf. über die Aussetzung der Strafe zu Bewährung zu entscheiden, vgl. OLG Koblenz NStZ 1991, 555. Jedoch kann die Vollstreckung aufgrund von der Wiederaufnahme unberührten Einzelstrafen fortgesetzt werden, vgl. LR-Gössel, § 370 / 39. Auch Maßregeln der Besserung und Sicherung entfallen, ebenso wie Nebenstrafen. 562  SSW-Kaspar, § 370 / 7; LR-Gössel, § 370 / 36; MG § 370 / 11. 563  Wie hier KK-Schmidt, § 370 / 13; HK-Temming, § 370 / 4; Hassemer NJW 1983, 2353, 2357. A. A. LR-Gössel, § 370 / 34; Marxen / Tiemann, Die Wiederaufnahme in Strafsachen, Rn. 396. Für die hier vertretene Ansicht spricht bereits der Wortlaut der §§ 371 Abs. 3 S. 1, 373 Abs. 1 StPO. Zudem wird die angefochtene Entscheidung gem. § 16 Abs. 2 BZRG erst nach Eintritt der Rechtskraft der neuen Entscheidung aus dem Bundeszentralregister entfernt. 564  Vgl. hierzu unten S. 343 f. Marxen / Tiemann, Die Wiederaufnahme in Straf­ sachen, Rn. 394; LR-Gössel, § 370 / 47. 565  LR-Gössel, § 371 / 26; MG § 371 / 12. 566  Die Veröffentlichung kann der Antragsteller fristunabhängig verlangen und gem. §§ 36 Abs. 2, 463c III, IV StPO vollstrecken, vgl. MG § 371 / 12.



B. Voraussetzungen für die Wiederaufnahme eines Strafverfahrens 111

VI. Neue Hauptverhandlung Die erneute Hauptverhandlung findet de lege lata grds. vor dem Gericht statt, das die Wiederaufnahme anordnet.567 Für den Verfahrensablauf gelten die Regeln der § 226 ff. StPO bzw. im Fall von Berufungs- oder Revisionsverhandlungen die §§ 324 ff. und 351 ff. StPO. Wurde ein Rechtsmittelurteil im Weg der Wiederaufnahme erfolgreich angefochten, kann das Verfahren durch die Rücknahme des Rechtsmittels gem. § 302 StPO beendet werden.568 Für das Erneuerungsverfahren ist gem. § 140 StPO ein neuer Verteidiger zu bestellen, wenn ein Fall notwendiger Verteidigung vorliegt.569 Gegenstand der erneuten Hauptverhandlung ist die prozessuale Tat im Sinne des § 264 StPO. Zugleich kann sich die Hauptverhandlung auch auf solche neuen Vorfälle erstrecken, die zeitlich erst nach Erlass des angegriffenen Urteils begangen worden sind.570 Für die vom Wiederaufnahmegericht durchzuführende Hauptverhandlung gilt der Amtsaufklärungsgrundsatz des § 244 Abs. 2 StPO. Das Gericht ist weder an die Beweise des früheren Verfahrens noch auf die im Wiederaufnahmeverfahren verwendeten Beweise beschränkt.571 Insbesondere ist nicht mehr entscheidend, ob der zur Wiederaufnahme des Verfahrens geführte Wiederaufnahmegrund tatsächlich vorlag.572 Das Wiederaufnahmegericht kann das angegriffene Urteil oder den Beschluss gem. § 370 Abs. 2 StPO über die Anordnung der Wiederaufnahme des Verfahrens verlesen. Sofern an der Verhandlung Schöffen mitwirken, darf die Beweiswürdigung des angegriffenen Urteils nicht verlesen werden.573 Wird das frühere Urteil verlesen, dürfen die darin enthaltenen Feststellungen nicht verwertet werden.574 567  Das Wiederaufnahmegericht kann jedoch analog § 354 Abs. 3 StPO das Verfahren auch vor einem Gericht niederer Ordnung anordnen. Analog § 355 StPO besteht auch die Möglichkeit, die Hauptverhandlung vor einem Gericht höherer Ordnung zu eröffnen, was insbesondere Fälle des § 362 StPO betrifft, vgl. SSW-Kaspar, § 370 / 6 und KMR-Eschelbach, § 367 / 1. 568  Marxen / Tiemann, Die Wiederaufnahme in Strafsachen, Rn. 409 f. 569  LR-Gössel, § 373 / 4. 570  LR-Gössel, § 373 / 6. Zwar ist ein neues Vorbringen unbeschränkt zulässig, jedoch kann im Zuge einer erneuten Revisionshauptverhandlung nur über die ursprünglich eingelegte Revision entschieden werden. Neue Rügen können nicht erhoben werden. 571  SSW-Kaspar, § 373 / 2; MG § 373 / 2. 572  KK-Schmidt, § 373 / 1; LR-Gössel, § 373 / 22. 573  BGH MDR 1961, 250. AK-Loos, § 373 / 7. 574  SSW-Kaspar, § 373 / 1; HK-Temming, § 373 / 2.

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Teil 1: Rechtliche Grundlagen zum geltenden Wiederaufnahmerecht

Hält das Wiederaufnahmegericht an rechtlichen Hinweisen fest, die dem Angeklagten bereits in der früheren Hauptverhandlung erteilt wurden, muss es diese wiederholen.575 Mit Abschluss der Beweisaufnahme trifft das Gericht eigene und ggf. neue Feststellungen und würdigt den festgestellten Sachverhalt selbstständig aufgrund der geltenden Gesetzeslage.576 Neu zu entscheiden ist auch über Maßregeln der Besserung und Sicherung, § 61 StGB.577 Das Gericht kann das Verfahren bei Vorliegen eines Verfahrenshindernisses gem. §§ 206a, 260 Abs. 3 StPO einstellen.578 Auch kann das Verfahren gem. §§ 153 ff. StPO eingestellt werden.579 Das Gericht kann das angegriffene Urteil hinsichtlich des Urteilstenors nur dann gem. § 373 Abs. 1 Alt. 1 StPO aufrechterhalten, wenn es aufgrund der eigenen Feststellungen und Prüfung identisch entscheidet wie das früher erkennende Gericht.580 Die Urteilsgründe müssen jedoch in jedem Fall neu verfasst werden. Im Übrigen wird das frühere Urteil aufgehoben und in der Sache anderweitig erkannt, § 373 Abs. 1 Alt. 2 StPO.581 Hinsichtlich der Rechtsfolgen gilt das Verbot der reformatio in peius gem. § 373 Abs. 2 StPO. Nicht ausgeschlossen ist, dass im Erneuerungsverfahren auf eine mildere Strafe erkannt wird. § 363 StPO steht dem nicht entgegen, da mit § 363 StPO lediglich solche Wiederaufnahmeverfahren ausgeschlossen werden sollen, die einzig eine Strafmilderung zum Ziel haben.582 575  LR-Gössel, § 373 / 15; MG § 373 / 2; KMR-Eschelbach, § 373 / 14; AK-Loos, § 373 / 10; SSW-Kaspar, § 373 / 2. 576  Gem. § 2 Abs. 3 StGB sind Gesetzesänderungen bei der zu treffenden Entscheidung zu berücksichtigen. 577  Marxen / Tiemann, Die Wiederaufnahme in Strafsachen, Rn. 438. 578  Vorrangig ist jedoch zu prüfen, ob im Fall eines begehrten Freispruchs ausreichend Beweise für eine freisprechende Entscheidung vorliegen oder beschafft werden können und ggf. gem. § 371 Abs. 2 StPO eine freisprechende Entscheidung herbeigeführt werden kann, sofern das Rehabilitationsinteresse des Verurteilten einer verfahrenseinstellenden Entscheidung vorgeht. 579  Der Antragsteller hat jedoch auch in diesen Fällen ein Interesse an einer Verfahrensfortführung. Bei Opportunitätseinstellungen ist daher stets die Zustimmung des Antragstellers erforderlich. Zweifelhaft erscheint, ob das Gericht gem. § 371 Abs. 2 StPO von den Einstellungsmöglichkeiten der §§ 153 ff. StPO Gebrauch machen darf. Dies wird von OLG Hamm JMBl. NRW 1981, 285 befürwortet, vgl. auch LR-Gössel, § 371 / 18. Zwar spricht dagegen, dass das Wiederaufnahmegericht eine klare Entscheidung über ein als zweifelhaft erachtetes Urteil nicht getroffen hat, jedoch spricht die Struktur des Wiederaufnahmeverfahrens dafür, wie in einer regulären Entscheidung, die Entscheidungsmöglichkeiten des § 153 ff. StPO auch bereits im Vorfeld einer Hauptverhandlung zu eröffnen. A. A Marxen / Tiemann, Die Wiederaufnahme in Strafsachen, Rn. 452. 580  KK-Schmidt, § 373 / 7; LR-Gössel, § 373 / 27. 581  BGH, Beschluss vom 10.05.2011, Az. 4 StR 144 / 11, in: BeckRS 2011, 15300. 582  Marxen / Tiemann, Die Wiederaufnahme in Strafsachen, Rn. 436.



B. Voraussetzungen für die Wiederaufnahme eines Strafverfahrens 113

Spricht das Wiederaufnahmegericht eine gleichartige Strafe aus wie das Ausgangsgericht, wird die aus dem aufgehobenen Urteil bereits vollstreckte Strafe auf die verhängte Strafe angerechnet.583 Das Wiederaufnahmegericht entscheidet gem. § 473 Abs. 6 Nr. 1 StPO auch über die Kosten des Ursprungsverfahrens sowie des Erneuerungs- und des Wiederaufnahmeverfahrens.584

VII. Rechtsbehelfe Wird ein Wiederaufnahmeantrag als unzulässig oder unbegründet verworfen, kann der Antragsteller sofortige Beschwerde gem. § 372 i. V. m. § 311 StPO erheben. Die sofortige Beschwerde kann nicht nur gegen Beschlüsse gem. §§ 368, 370 Abs. 1, 370 Abs. 2585 StPO, sondern auch gegen den Beschluss gem. § 360 Abs. 2 StPO oder eine sofortige Freisprechung des Antragstellers gem. § 371 Abs. 1, 2 StPO gerichtet werden.586 Sie ist demnach statthaft für alle Entscheidungen, die aus Anlass des Wiederaufnahmeantrages erlassen wurden, mithin unmittelbar dessen Zulässigkeit respektive Begründetheit betreffen oder sich auf die Frage der Strafvollstreckung beziehen.587 Gegen ablehnende Entscheidungen gem. §§ 364a, b StPO sowie gegen andere Beschlüsse, die nicht die Zulässigkeit respektive Begründetheit des Antrags oder die Strafvollstreckung betreffen, ist die einfache Beschwerde gem. § 304 Abs. 1 StPO statthaft.588 Unanfechtbar sind Beschlüsse über Art und Weise sowie Umfang der Beweiserhebung gem. § 369 StPO589, wie auch die übrigen Zwischenentscheidungen.590 Zusammenfassend ist festzustellen, 583  Marxen / Tiemann,

Die Wiederaufnahme in Strafsachen, Rn. 438. § 473 / 14. 585  Die StA ist jedoch im Fall der Anordnung der Wiederaufnahme nicht beschwerdeberechtigt, § 372 S. 2 StPO. Auch bei sofortigem Freispruch gem. § 371 Abs. 2 StPO ist sie nur beschwerdeberechtigt, wenn sie der Verfahrensweise gem. § 371 Abs. 2 StPO nicht zustimmte. Vgl. SSW-Kaspar, § 371 / 2 zu weiteren Einzelheiten. 586  Die StA kann die sofortige Beschwerde jedoch nur darauf stützen, dass die Entscheidung ohne ihre Zustimmung ergangen ist. Hat das Gericht nicht gem. § 371 Abs. 2 StPO entschieden, obwohl eine Zustimmung der StA vorliegt, ist auch der Antragsteller beschwerdeberechtigt, vgl. OLG Frankfurt NJW 1965, 314, 315. 587  Miebach, in: Miebach / Hohmann, Wiederaufnahme in Strafsachen, Teil  J, Rz. 1. 588  MG § 372 / 2; HK-Temming, § 372 / 2; KMR-Eschelbach, § 372 / 3. 589  OLG Frankfurt NJW 1955, 73 f. KMR-Eschelbach, § 372 / 13. A. A. Miebach, in: Miebach / Hohmann, Wiederaufnahme in Strafsachen, Teil J, Rz. 2. 590  KMR-Eschelbach, § 372 / 3 f., der sich jedoch dafür ausspricht, dass solche Zwischenentscheidungen, die zu einem bleibenden rechtlichen Nachteil für den Betroffe584  KK-Gieg,

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Teil 1: Rechtliche Grundlagen zum geltenden Wiederaufnahmerecht

dass keine Entscheidung, welche die Entscheidung des Gerichts gem. §§ 368, 370 StPO lediglich vorbereitet, im Beschwerdeverfahren angreifbar ist.591 Erachtet das Wiederaufnahmegericht die Wiederaufnahme für zulässig und ordnet die Wiederaufnahme des Verfahrens an, kann diese Entscheidung durch die Staatsanwaltschaft gem. § 372 S. 2 StPO nicht angegriffen werden. Im Rahmen der Beschwerdebegründung kann ein bereits im Wiederaufnahmeantrag vorgebrachtes Beweismittel konkretisiert werden592, wohingegen umstritten ist, ob der Sachvortrag noch ergänzt werden kann. Vereinzelt wird vertreten, dass die Abrundung oder Ergänzung eines Sachvortrages möglich sein soll.593 Dies wird von der h. M. abgelehnt, die sich dafür ausspricht, Vorbringen, das der Beschwerdeführer erstmals im Rahmen der Beschwerdebegründung vorträgt, bei der Entscheidung grundsätzlich unberücksichtigt zu lassen, da andernfalls dem Verurteilten ein Rechtszug entzogen würde.594 Dieses Vorbringen könne jedoch später noch Gegenstand eines neuen Wiederaufnahmeantrags werden.595 Im Rahmen seiner Fürsorgepflicht müsste das Wiederaufnahmegericht dann jedoch den Beschwerdeführer darüber informieren, welcher Vortrag nicht berücksichtigt wurde, und dass dieser ggf. Inhalt eines neuen Wiederaufnahmeantrags sein kann. Nur damit ist dem Beschwerdeführer auch für sein neues Vorbringen der volle Instanzenzug garantiert.596 Als Beschwerdegericht ist das dem Wiederaufnahmegericht übergeordnete Gericht berufen. Erachtet es die Beschwerde für begründet, befindet es gem. § 309 Abs. 2 StPO auch in der Sache selbst.597 Wurde der Antrag zu Unrecht nen führen können indem sie Bedeutung für die Endentscheidungen haben, einer isolierten Anfechtung zugänglich sind. Zur Begründung stützt sich Eschelbach im Wesentlichen auf den Wortlaut des § 372 S. 1 StPO, wonach „alle“ Entscheidungen im Wiederaufnahmeverfahren anfechtbar sind. Vgl. hierzu KMR-Eschelbach, § 372 / 13 ff. 591  LR-Gössel, § 372 / 7. 592  BGH NStZ 1985, 492, 496; MG § 372 / 7. Das Vorbringen vollkommen neuer Beweismittel ist hingegen unzulässig, vgl. LR-Gössel, § 372 / 17 f. 593  Peters, Fehlerquellen im Strafprozeß III, S. 152. 594  OLG Hamburg NStZ-RR 2000, 50. So auch die h. M., die darauf abstellt, dass dem Wiederaufnahmeführer keine Instanz verloren gehen soll und so ein Verbrauch des Vorbringens verhindert wird. A. A. KMR-Eschelbach, § 372 / 39 ff., der anführt, dass durch die Ausblendung nachträglichen Vortrags eine Gesamtwürdigung der Umstände vermieden wird und damit eine isolierte Elimination des Vorbringens erst möglich werde. 595  OLG München MDR 1982, 250; LR-Gössel, § 372 / 17 f.; Marxen / Tiemann, Die Wiederaufnahme in Strafsachen, Rn. 346. 596  KK-Schmidt, § 372 / 6. So auch Marxen / Tiemann, Die Wiederaufnahme in Strafsachen, Rn. 347. 597  OLG Nürnberg NJW 2013, 2692, 2694. Ausnahmsweise ist die Sache an das Wiederaufnahmegericht zurückzuverweisen, wenn das Verfahren an schwerwiegen-



B. Voraussetzungen für die Wiederaufnahme eines Strafverfahrens 115

nach § 368 Abs. 1 StPO verworfen oder liegen schwerwiegende Verfahrensfehler vor, muss das Beschwerdegericht an das Wiederaufnahmegericht zurückverweisen.598 Eine Zurückverweisung soll zudem möglich sein, wenn das Wiederaufnahmegericht seine Entscheidung rein auf formale Erwägungen gestützt599 hat oder das Antragsvorbringen inhaltlich unvollständig600 geprüft hat. In analoger Anwendung von § 210 Abs. 3 StPO sollte das Beschwerdegericht – bis zur Normierung einer entsprechenden Regelungen im Wiederaufnahmerecht – mit Stattgabe der Beschwerde zugleich bestimmen, dass die Hauptverhandlung vor einer anderen Kammer des Wiederaufnahmegerichts, das den angefochtenen Beschluss erlassen hat, stattzufinden hat.601 Gegen die Entscheidung des Beschwerdegerichts ist keine weitere Beschwerde gem. § 310 StPO möglich.602 Angesichts der zu beachtenden kurzen Einlegungsfrist und des prozessualen Fortgangs der sofortigen Beschwerde erscheint es zweifelhaft, im Fall von erstinstanzlichen Entscheidungen anlässlich eines Wiederaufnahmeverfahrens einen Angriff nur über die sofortige Beschwerde zuzulassen.603 Insbesondere leuchtet nicht ein, wieso dem Wiederaufnahmegericht nicht selbst die Möglichkeit eingeräumt werden sollte, seine Entscheidung korrigieren und abändern zu dürfen. Soweit vorgebracht wird, dass eine Entscheidung im Wiederaufnahmeverfahren eine ähnliche Wirkung wie ein Urteil habe, ist entgegenzuhalten, dass Urteile gerade anders als Beschlüsse in Wiederaufnahmeverfahren aufgrund einer mündlichen Verhandlung ergehen604, in der Argumente vorgebracht, ausgetauscht und diskutiert werden können.605 Einen derartigen direkten Austausch der Argumente von Antragsteller und -gegner gibt es im Wiederaufnahmeverfahren jedoch gerade nicht. Hinzu den und unbehebbaren Verfahrensmängeln leidet, vgl. SSW-Kaspar, § 372 / 5; MG § 372 / 7. 598  OLG Frankfurt NStZ 1983, 426, 427. MG § 372 / 8; KK-Schmidt, § 367 / 7. Marxen / Tiemann, Die Wiederaufnahme in Strafsachen, Rn. 350. 599  OLG Frankfurt NStZ 1983, 426, 427. 600  Marxen / Tiemann, Die Wiederaufnahme in Strafsachen, Rn. 351. 601  s. hierzu bereits oben S. 40  f. Die Entscheidung über die Wiederaufnahme eines Verfahrens und diejenige über die Eröffnung des Hauptverfahrens seien vergleichbar, da es sich bei beiden um Vorschaltverfahren vor einer Hauptverhandlung handle. In beiden Fällen ergäbe sich daher u. U. die Problematik fraglicher Akzeptanz der Auffassung des Beschwerdegerichts. So OLG Nürnberg NJW 2013, 2692, 2694 f. 602  OLG Düsseldorf NJW 1958, 1248; OLG Hamm NJW 1961, 2363. 603  Alsberg, Justizirrtum und Wiederaufnahme, S. 65 f. 604  Alsberg, Justizirrtum und Wiederaufnahme, S. 66. 605  Gerade dieser Diskurs liegt dem Gedanken des Mündlichkeitsprinzips zugrunde.

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Teil 1: Rechtliche Grundlagen zum geltenden Wiederaufnahmerecht

kommt, dass in umfangreichen Verfahren eine Beschwerdefrist von einer Woche kaum ausreichen kann, um die angegriffene Entscheidung vollständig erfassen, würdigen und überprüfen zu können. Eine sachgerechte Beschwerdebegründung ist innerhalb der Einlegungsfrist daher kaum möglich.606 Auch leuchtet nicht ein, weshalb für die Beschwerde eine derart kurze Frist vonnöten sein sollte, kann der Wiederaufnahmeantrag als solcher doch zeitlich unbegrenzt gestellt werden.607 Das Beschleunigungsinteresse ist in diesem Verfahrensstadium demnach von geringerer Bedeutung als im Erstverfahren.608 Da jedoch die Beschwerdebegründung nicht innerhalb der Frist des § 311 Abs. 2 StPO verfasst werden muss, die Beschwerde im Übrigen jederzeit zurückgenommen werden kann, ist ein Einschreiten des Gesetzgebers insoweit nicht veranlasst. Findet ein Erneuerungsverfahren statt, kann das Urteil des Wiederaufnahmegerichts durch die Rechtsmittel der Berufung oder Revision angegriffen werden. Wird das Urteil rechtskräftig, ist auch ein weiterer Antrag auf Wiederaufnahme des Verfahrens möglich. Daneben können gegen Entscheidungen des Wiederaufnahmegerichts auch außerordentliche Rechtsbehelfe ergriffen werden. Mit §§ 33a, 311a StPO kann der Antragsteller einen unanfechtbaren Beschluss angreifen, wenn er zu Tatsachen und Beweisergebnissen nicht gehört wurde, oder seine Rechtsausführungen in der Entscheidung keine Berücksichtigung gefunden haben.609 Gegen die Entscheidung des Wiederaufnahmegerichts kann bei Verletzung spezifischen Verfassungsrechts schließlich nach Erschöpfung des Rechtsweges auch Verfassungsbeschwerde erhoben werden.610 Aufgrund der abschließenden Regelung zur Überprüfung rechtskräftiger Entscheidungen soll die Erhebung von Gegenvorstellungen zum Zwecke der Beseitigung groben prozessualen Unrechts hingegen nicht möglich sein.611 Nicht möglich ist zudem die Wiederaufnahme des Wiederaufnahmeverfahrens, was sich bereits

606  Eine Beschwerdebegründung kann freilich auch noch nach Ablauf der Einlegungsfrist nachgereicht werden. Kündigt der Beschwerdeführer etwa eine Begründung an, ist das Gericht vor dem Grundsatz rechtlichen Gehörs aus Art. 103 Abs. 1 GG gehalten, eine Frist für die Beschwerdebegründung zu bestimmen oder angemessene Zeit mit seiner Entscheidung zuzuwarten. Dennoch wäre hier eine gesetzliche Regelung wünschenswert, die den Verfahrensbeteiligten Sicherheit gibt und dem Antragsteller die Gewissheit einräumt, dass seine Beschwerdebegründung in jedem Fall Berücksichtigung findet. 607  Alsberg, Justizirrtum und Wiederaufnahme, S. 67. 608  KMR-Eschelbach, § 372 / 22. 609  KMR-Eschelbach, Vor § 359 / 71. 610  KMR-Eschelbach, Vor § 359 / 75. 611  KMR-Eschelbach, Vor § 359 / 72.



B. Voraussetzungen für die Wiederaufnahme eines Strafverfahrens 117

daraus ergibt, dass die Wiederaufnahme gegen verfahrensbeendende Beschlüsse grds. nicht statthaft ist.612

VIII. Bedeutung der Wiederaufnahme für die Strafvollstreckung Der Wiederaufnahmeantrag hat gem. § 360 Abs. 1 StPO keinen Suspensiveffekt. Erst durch die Anordnung der Wiederaufnahme und die Anordnung zur Durchführung einer erneuten Hauptverhandlung gem. § 370 Abs. 2 StPO wird die weitere Vollstreckung der durch die angefochtene Entscheidung verhängten Strafe oder Maßregel unzulässig.613 Vor dieser Anordnung kann durch das Wiederaufnahmegericht einen Aufschub oder eine Unterbrechung der Vollstreckung gem. § 360 Abs. 2 StPO angeordnet werden.614 Die Anordnung kann prinzipiell hinsichtlich aller Rechtsfolgen getroffen werden. Einzige Ausnahme hiervon bleibt die Entziehung der Fahrerlaubnis gem. § 69 StGB615, für die nach aktuellem Gesetzesstand keine Hemmung der Vollstreckung möglich ist. Eine Entscheidung gem. § 360 Abs. 2 StPO ergeht von Amts wegen durch Beschluss.616 Ein Antrag ist demnach zwar nicht erforderlich, jedoch als Anregung an das Gericht möglich.617 Gegen die Entscheidung über die Vollstreckungshemmung gem. § 360 Abs. 2 StPO ist die sofortige Beschwerde gem. § 372 S. 1 StPO statthaft.618 612  HansOLG

Hamburg JR 2000, 380, 381. § 360 / 1; MG § 360 / 1 und § 370 / 11. 614  Umstritten ist, ob die Möglichkeit der Anordnung gem. § 360 Abs. 2 StPO eine ausschließliche Zuständigkeit begründet, oder ob auch die Strafvollstreckungsbehörde einen Vollstreckungsaufschub im Rahmen der §§ 456 ff. StPO anordnen darf. Dies ist jedoch im Hinblick auf § 2 StVollstrO, der die Strafvollstreckungsbehörde zu einer nachdrücklichen und schnellen Vollstreckung verpflichtet, abzulehnen. Zudem kann nicht davon ausgegangen werden, dass es dem Willen des Gesetzgebers entspricht, dass sich neben dem Wiederaufnahmegericht eine weitere Behörde in Fragen der Vollstreckungshemmung aufgrund des Wiederaufnahmeantrags einschalten kann, vgl. LR-Gössel, § 360 / 2; KMR-Eschelbach, § 360 / 10; SK-Frister, § 360 / 2; Marxen / Tiemann, Die Wiederaufnahme in Strafsachen, Rn. 500; a. A. MG § 360 / 4 und KKSchmidt, § 360 / 4. 615  LR-Gössel, § 360 / 3; KK-Schmidt, § 360 / 6; MG § 360 / 2; KMR-Eschelbach, § 360 / 14. 616  KK-Schmidt, § 360 / 3 f. 617  LR-Gössel, § 360 / 7; KK-Schmidt, § 360 / 3; KMR-Eschelbach, § 360 / 28; MG § 360 / 4. 618  OLG Frankfurt NJW 1965, 314; KK-Schmidt, § 360 / 7; AK-Loos, § 360 / 9; MG § 360 / 5; LR-Gössel, § 360 / 8. Die Entscheidung des Beschwerdegerichts ist 613  KK-Schmidt,

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Teil 1: Rechtliche Grundlagen zum geltenden Wiederaufnahmerecht

Eine Anordnung gem. § 360 Abs. 2 StPO trifft das gem. §§ 367 StPO, 140a GVG zuständige Wiederaufnahmegericht nur dann, wenn davon auszugehen ist, dass der Antrag auf Wiederaufnahme des Verfahrens mit einiger Sicherheit oder zumindest mit gewisser Wahrscheinlichkeit Erfolg619 haben wird und eine weitere Vollstreckung demnach bedenklich erscheint.620 Dafür reicht jedoch nicht aus, dass lediglich möglich erscheint, dass der Antrag Erfolg haben wird oder zulässig ist.621 Vielmehr ist, ausgehend von den Feststellungen der angegriffenen Entscheidung, zu beurteilen, ob die Urteilsfeststellungen bereits durch den Antrag derart erschüttert sind, dass eine weitere Vollstreckung bedenklich wäre.622 Ordnet das Gericht eine Vollstreckungshemmung an, gilt diese grundsätzlich bis zu einer rechtskräftigen Entscheidung über den Wiederaufnahmeantrag fort, sofern sie nicht vorher, etwa aufgrund einer gem. § 369 StPO durchgeführten Beweiserhebung, aufgehoben wird.623 Mit der Rechtskraft einer Entscheidung gem. § 370 Abs. 1, 2 StPO wird die Entscheidung gegenstandslos.624

IX. Entschädigung des Verurteilten bei erfolgreicher Wiederaufnahme Dass auch der Rechtsbehelf der Wiederaufnahme nur begrenzt in der Lage ist, ein Verfahren einem „guten“ Ende zuzuführen, wird bereits daraus deutlich, dass in vielen Fällen die verhängte Strafe bereits (teilweise) verbüßt ist.625 Wird der Verurteilte freigesprochen, folgt ein Kosten- und Auslagen­ erstattungsanspruch der §§ 464 ff. StPO.626 Zudem kann sich ein Anspruch dann unanfechtbar, vgl. OLG Düsseldorf NJW 1958, 1248; OLG Hamm NJW 1961, 2363. 619  OLG Hamm MDR 1978, 691, 692; LG Gießen NJW 1994, 465, 467. 620  LR-Gössel, § 360 / 4; MG § 360 / 3; KK-Schmidt, § 360 / 3; Marxen / Tiemann, Die Wiederaufnahme in Strafsachen, Rn. 497. 621  LG Gießen NJW 1994, 465, 467; KG, Beschluss vom 27.03.2000, Az. 1 AR 348 / 00  – 4 Ws 67 / 00, 1 AR 348 / 00, 4 Ws 67 / 00, in: BeckRS 2000, 15791; LRGössel, § 360 / 4; MG § 360 / 3; KK-Schmidt, § 360 / 3. 622  LG Gießen NJW 1994, 465, 467; Marxen / Tiemann, Die Wiederaufnahme in Strafsachen, Rn. 497. 623  LR-Gössel, § 360 / 5; MG § 360 / 3; Marxen / Tiemann, Die Wiederaufnahme in Strafsachen, Rn. 499. 624  LR-Gössel, § 360 / 5; KK-Schmidt, § 360 / 7. 625  So etwa im Fall des verurteilten Lehrers Horst Arnold, der eine fünfjährige Haftstrafe vollständig verbüßte, bevor sich herausstellte, dass die Vergewaltigungsvorwürfe seiner ehemaligen Kollegin falsch waren. 2011 sprach ihn das Landgericht Kassel in einem Wiederaufnahmeverfahren frei. Wenige Monate nach dem Freispruch verstarb Horst Arnold.



B. Voraussetzungen für die Wiederaufnahme eines Strafverfahrens 119

gegen den Staat auch aus unerlaubter Handlung ergeben, § 839 BGB bzw. Art. 5 Abs. 5 EMRK i. V. m. Art. 34 GG. Weitere Anspruchsgrundlagen – auch gegen Zeugen oder Sachverständige – stellen § 823 Abs. 1 und 2 i. V. m. einem Schutzgesetz (etwa §§ 153 ff. StGB) sowie 826 BGB dar.627 Neben dem Wiederaufnahmeverfahren, das u. a. der Rehabilitation des Betroffenen dient, dient insbesondere die Entschädigungspflicht des Staates gem. § 1 Abs. 1 StrEG der Rehabilitation dessen, der durch eine strafgerichtliche Verurteilung einen messbaren Schaden erlitten hat, soweit die Verurteilung im Wiederaufnahmeverfahren fortfällt oder gemildert628 wird. Voraussetzung für einen Entschädigungsanspruch ist demnach, dass das Wiederaufnahmeverfahren Erfolg hat. Die Feststellung der Entschädigungspflicht trifft das gem. § 140a GVG zuständige Wiederaufnahmegericht von Amts wegen, § 8 Abs. 1 S. 1 StrEG. Sie stellt eine Annexentscheidung zum Erneuerungsverfahren dar.629 Der Entschädigungspflicht können Gründe der §§ 5, 6 StrEG entgegenstehen. Die Entschädigung kann etwa ganz oder teilweise versagt werden, wenn der Beschuldigte fahrlässig handelte, indem er sich prozessual widersprüchlich eingelassen hat, § 6 Abs. 1 Nr. 1 StrEG. Einerseits spielt im Rahmen einer adäquaten Kausalität auch das Verhalten der Strafverfolgungsbehörden eine Rolle, so wie sich der Angeklagten andererseits das etwaige Verschulden seines Verteidigers hinsichtlich dessen Beratung bezüglich eines bestimmten Prozessverhaltens u. U. zurechnen lassen muss.630 Unterliegt der Antragsteller bereits auf Zulässigkeitsebene einer erweiterten Darlegungslast, muss er im Rahmen des StrEG-Verfahrens damit rechnen, dass ihm Entschädigungsansprüche versagt werden. Nicht ausgeschlossen ist der Entschädigungsanspruch gem. § 5 Abs. 2 S. 2 StrEG aber dann, wenn der 626  Forkert-Hosser, in: Miebach / Hohmann, Wiederaufnahme in Strafsachen, Teil L, Rz. 26. 627  Peters, Fehlerquellen im Strafprozeß III, S. 190 ff. 628  Für die Beurteilung einer Milderung ist eine vergleichende Gesamtschau zwischen den jetzigen und den ursprünglichen Rechtsfolgen vorzunehmen, vgl. OLG München StV 1984, 471, 472; OLG Nürnberg MDR 1975, 779, 780. Die bloße Änderung des Schuldspruchs reicht dafür nicht aus, ebenso wenig wie eine Strafaussetzung als modifizierte Vollstreckungsentscheidung, vgl. D.  Meyer, StrEG § 1 / 29 und 30. Bei einer Gesamtstrafe ist unerheblich, ob diese sich durch den Fortfall der Verurteilung einer tatmehrheitlich begangener Tat nicht auswirkt, vgl. D. Meyer, StrEG § 1 / 25, a. A. MG § 1 StrEG / 3. Die Einstellung des Verfahrens steht dem Fortfall der Verurteilung gleich. 629  Forkert-Hosser, in: Miebach / Hohmann, Wiederaufnahme in Strafsachen, Teil L, Rz. 11. 630  Marxen / Tiemann, Die Wiederaufnahme in Strafsachen, Rn. 569; D.  Meyer, StrEG § 5 / 45. Marxen / Tiemann, Die Wiederaufnahme in Strafsachen, Rn. 572.

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Teil 1: Rechtliche Grundlagen zum geltenden Wiederaufnahmerecht

Beschuldigte zur Sache schweigt oder keine Rechtsmittel gegen die Ausgangsentscheidung eingelegt hatte.631 Besteht ein Entschädigungsanspruch dem Grunde nach, sind Vermögensschäden in Geld und u. U. auch immaterielle Schäden zu ersetzen. Für eine richterlich angeordnete und vollzogene Freiheitsentziehung ist der Beschuldigte gem. § 7 Abs. 3 StrEG mit 25,00 € täglich zu entschädigen. Es stellt sich dabei zwangsläufig die Frage, ob Geldzahlungen überhaupt einen (langandauernden) Freiheitsentzug entschädigen können. Dennoch ist davon auszugehen, dass eine finanzielle Entschädigung zumindest dazu beitragen kann, dass der Betroffene ansatzweise in die Lage versetzt wird, wieder ein normales Leben zu führen und ihn, wenn auch nur in symbolischer Höhe, einer Genugtuung für erlittenes Unrecht annähert. Der zu entschädigende Schaden bemisst sich nach den §§ 249 ff. BGB, wobei auch § 254 BGB hinsichtlich eines etwaigen Mitverschuldens des ursprünglich Verurteilten mit Blick auf den konkreten Betrag zu berücksichtigen ist. Auch die zivilrechtlichen Grundsätze des Vorteilsausgleichs sind zu beachten, bspw. durch Verrechnung ersparter Aufwendungen für die Unterkunft und Verpflegung bei Freiheitsentziehung.632 Das Entschädigungsrecht wird in der Literatur als wiederaufnahmehemmend angesehen.633 Dies erscheint aufgrund aktuell geringerer Entschädigungsansprüche nicht nachvollziehbar. Sitzt ein Betroffener etwa fünf Jahre zu Unrecht in Haft, ergibt sich, neben Kostenerstattungsansprüchen, ein Entschädigungsanspruch – ohne Berücksichtigung von ersparten Aufwendungen – i. H. v. ca. 45.500,– € als immaterieller Schadensersatz für die Freiheitsentziehung. In diesem Zusammenhang soll auf die möglichen psychischen Beeinträchtigungen des zu Unrecht Verurteilten, aber auch der ihm nahestehenden Personen nur am Rande hingewiesen werden. Aus einer 2005 in Großbritannien durchgeführten Studie mit 18 Personen, die zu Unrecht inhaftiert waren, ergab sich, dass 14 dieser 18 Untersuchten, anders als Inhaftierte mit begründeter Hafterfahrung, psychische Beeinträchtigungen aufwiesen, wie sie aus der klinischen Traumaforschung bekannt sind.634 Es sollte daher in Erwägung gezogen werden, dem Betroffenen weitere, nicht-finanzielle Unterstützung 631  Marxen / Tiemann,

Die Wiederaufnahme in Strafsachen, Rn. 571. Die Wiederaufnahme in Strafsachen, Rn. 576. 633  Peters, Strafprozeß, S. 46. 634  Untersuchung aus 2005 von Adrian Grounds, Institute of Criminology, University of Cambridge, Understanding the Effects of Wrongful Imprisonment, in: Crime and Justice, Vol. 32, S. 1–58 zitiert nach Leuschner / Hoffmann, NK 2016, 155, 164 und https: /  / www.utpjournals.press / doi / abs / 10.3138 / cjccj.46.2.165 (zuletzt aufgerufen am 04.03.2018). 632  Marxen / Tiemann,



C. Die Wiederaufnahme im System der Rechtsmittel der StPO 121

zukommen zu lassen, da gänzlich unverständlich bleibt, wie Straffälligen im Rahmen der Resozialisierung und Haftentlassung Unterstützung zuteil wird, dem rehabilitierten Entschädigungsberechtigten jedoch nicht. Auch im Hinblick auf posttraumtische Belastungsstörungen wäre an weitergehende Beratung zu denken. Vorbild könnten insoweit die USA sein, die Programme zur Reintegration und zum Wiederaufbau eines Lebens wie vor der unberechtigten Haft anbieten.635

C. Die Wiederaufnahme im System der Rechtsmittel der StPO In den Niederlanden geht man davon aus, dass das Recht der Wiederaufnahme umso großzügiger sein kann – ohne dass die Justiz überlastet würde oder die Wiederaufnahme ihren Charakter als außerordentlichen Rechtsbehelf verlöre – je besser das Grundverfahren ist.636 Die praktische Handhabung des Wiederaufnahmerechts hängt somit maßgeblich vom Grundverfahren und den dort angesiedelten Rechtsmitteln ab. Welche Bedeutung dem Wiederaufnahmerecht zukommt, hängt mitunter davon ab, mit welcher Qualität die Tatsachen im Grundverfahren ermittelt und festgestellt werden und welche Möglichkeiten zur Überprüfung einer getroffenen Entscheidung bis zur Rechtskraft bestehen.637

I. Abhängigkeit vom Grundverfahren Mit unbedingter Anerkennung der Rechtskraft geht der Gesetzgeber das Risiko ein, dass eine möglicherweise falsche Entscheidung falsch bleibt. Durch die Ausgestaltung eines Verfahrens mit Rechtsgarantien und Sicherungen, wie etwa den Regelungen über das Zwischenverfahren zur Überprüfung des Tatverdachts, der öffentlichen Hauptverhandlung, der Rechtsmittelgarantie oder den § 140 ff. StPO, aber auch durch das Vertrauen in die richterliche Objektivität und den Amtsermittlungsgrundsatz, versucht der Gesetzgeber dieses Risiko soweit wie möglich einzudämmen.638 Auch durch die bestmögliche Ausgestaltung des Grundverfahrens lassen sich unrichtige Entscheidungen jedoch nicht immer vermeiden. Es besteht, unabhängig vom Grundverfahren und seinen Kautelen zur Vermeidung von Fehlentscheidungen, das Bedürfnis nach einem außerordentlichen Rechtsbe635  Leuschner / Hoffmann,

NK 2016, 155, 167. Wiederaufnahmereform, S. 57. 637  J. Meyer, Die Wiederaufnahme in rechtsvergleichender Darstellung, S. 745 f. 638  Peters, Fehlerquellen im Strafprozeß III, S. 1. 636  J. Meyer,

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Teil 1: Rechtliche Grundlagen zum geltenden Wiederaufnahmerecht

helf, der auf die Korrektur von Fehlern ausgerichtet ist.639 Hierzu dient nach der gesetzgeberischen Intention das Wiederaufnahmeverfahren. Dessen Anerkennung darf jedoch nicht dazu führen, dass es Strafverfolgungsbehörden umfunktionieren, fehlerhafte Arbeit oder Ungenauigkeiten in den Ermittlungen in einem Wiederaufnahmeverfahren korrigieren zu können.640 Das Wiederaufnahmeverfahren ist dem Grunde nach losgelöst vom Grundverfahren zu betrachten, und folgt ihm und dem sich daran anschließenden Rechtsweg als eigener Instanzenzug.641 Wie im Wiederaufnahmeverfahren ist Ziel des Ausgangsverfahrens, Einzelfallgerechtigkeit herzustellen.642 Wie das Grundverfahren zielt auch das Wiederaufnahmeverfahren auf die Herstellung von Gerechtigkeit und Rechtssicherheit.643 Vergleicht man das Ausgangsverfahren mit dem Wiederaufnahmeverfahren, fällt insbesondere auf, dass der Amtsermittlungsgrundsatz in Letzterem keine Geltung hat.644 Vielmehr obliegt dem Antragsteller eine Beibringungs-, Darlegungs- und Beweisführungspflicht. Anders als im Ausgangsverfahren hat das Gericht selbst keine Verfahrensherrschaft. Das Wiederaufnahmeverfahren ähnelt damit in seiner strukturellen Ausgestaltung dem Zivilprozess. Das Wiederaufnahmeverfahren ist vom Ausgangsverfahren aber auch insoweit abhängig, als für das Wiederaufnahmeverfahren umso mehr Ressourcen für weitergehende Nachforschungen zur Verfügung stehen, je weniger die Strafverfolgungsbehörden ihrer Sachaufklärungspflicht gem. §§ 155 Abs. 2, 160 Abs. 1, 2, 244 Abs. 2 StPO entsprachen. Wurden im Erstverfahren Beweisanträge abgelehnt, etwa auf Vernehmung von Auslandszeugen, können diese im Wiederaufnahmeverfahren vorgebracht werden.645

II. Das Wiederaufnahmeverfahren im Kontext von Berufung und Revision Jede richterliche Entscheidung birgt das Risiko eines Fehlurteils in sich. Um das Verfahrensziel der Einzelfallgerechtigkeit zu gewährleisten, hat der Gesetzgeber neben Sicherungen im Ausgangsverfahren zusätzliche Rechts639  Rieß,

NStZ 1994, 153, 155. ZRP 2008, 80, 83. 641  KMR-Eschelbach, Vor § 359 / 1; a. A. Peters, der von einer Einheit zwischen Ausgangs- und Wiederaufnahmeverfahren ausgeht, vgl. Peters, Fehlerquellen im Strafprozeß III, S. 32. 642  LR-Gössel, Vor § 359 / 26. 643  Peters, Fehlerquellen im Strafprozeß III, S. 32. 644  A. A. LR-Gössel, Vor § 359 / 13. 645  KMR-Eschelbach, § 364b / 7. 640  Scherzberg / Thiée,



C. Die Wiederaufnahme im System der Rechtsmittel der StPO 123

mittel geschaffen.646 Ein Rechtsmittel muss so ausgestaltet sein, dass es Fehlurteile bestmöglich korrigiert und dadurch materielle Gerechtigkeit gewährleistet.647 Einen vagen Hinweis auf die Fehlerhaftigkeit von Urteilen könnte die Anzahl der mit Rechtsmitteln angegriffenen gerichtlichen Entscheidungen geben. Doch auch der rechtsmittelbewehrte Angriff auf ein fehlerbehaftetes Urteil beseitigt den Fehler nicht gewiss. Insbesondere bei landgerichtlichen Urteilen erster Instanz dürfte das auch an den hohen Anforderungen liegen, die an das Revisionsvorbringen gestellt werden. Offenbar ist dabei das Verlangen nach einem Wiederaufnahmeverfahren umso geringer, je höher die Funktionsfähigkeit der Kontrollmechanismen ist, ein Fehlurteil im Grundverfahren zu vermeiden. Peters führte hierzu aus: „Die Feststellung von Fehlerquellen, die sich erst im Wiederaufnahmeverfahren ergeben, zeigt das Problem des fehlerhaften Urteils sehr viel nachdrücklicher, als wenn der Fehler schon vor der Rechtskraft des Urteils entdeckt ist. Ist der Fehler noch rechtzeitig sichtbar geworden, so mag das frühere Urteil zwar Anlaß zur Kritik geben, aber es wirkt doch beruhigend, daß der Fehler noch im Rechtsmittelzug erkannt, also ein unrichtiges rechtskräftiges Urteil verhindert worden ist. Die Pro­ blematik des fehlerhaften Urteils erfordert jedoch sehr viel eindringlicher Beachtung, wenn die Rechtskraft eines falschen oder doch wenigstens fragwürdigen Urteils nicht verhindert worden ist. Nicht zu Unrecht hat daher auch im Schrifttum das rechtskräftig gewordene Fehlurteil mehr Beachtung gefunden als das im Instanzenzug berichtigte Fehlurteil. Selbstverständlich soll auch hier betont werden, daß nicht alle im Wiederaufnahmeverfahren aufgehobenen Urteile Fehlurteile sind. Man sollte sich aber davor hüten, sich zu schnell mit der Unsicherheit des Wiederaufnahmeurteils zu trösten.“648

Betrachtet man das geltende Rechtsmittelrecht gemessen an dessen Ziel, Fehlurteile zu vermeiden, mag auf den ersten Blick verwundern, warum der Gesetzgeber gegen Urteile von Amtsgerichten die Rechtsmittel der Berufung und Revision zugelassen hat, in den erstinstanzlich vor einem Landgericht entschiedenen Verfahren jedoch nur das Rechtsmittel der Revision. Damit kann in Fällen einfacher Kriminalität das Urteil im Wege der Berufung vollständig, im Bereich der höheren bis schwersten Kriminalität demgegenüber lediglich auf Rechtsfehler überprüft werden. Zur Begründung wurde auf die größere Anzahl von entscheidungsberufenen Richtern einer Strafkammer verwiesen. Mit § 76 Abs. 2 GVG ist dieses Argument jedoch überholt.649

646  LR-Gössel,

Vor § 359 / 26. Denkschrift zur Reform des Rechtsmittelrechts und der Wiederaufnahme, S. 1. 648  Peters, Fehlerquellen I, S. 17. 649  Geipel, in: Miebach / Hohmann, Wiederaufnahme in Strafsachen, Teil  A, Rz.  33 ff. 647  Hanack / Gerlach / Wahle,

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Teil 1: Rechtliche Grundlagen zum geltenden Wiederaufnahmerecht

Die Wiederaufnahme ist dann das Rechtsinstitut, das Fehlurteile korrigieren soll. Wie die Berufung und die Revision, dient auch die Wiederaufnahme des Verfahrens der Nachprüfung eines Urteils und damit dem Prozessziel der Einzelfallgerechtigkeit.650 Zwar wird die Wiederaufnahme nicht als Rechtsmittel, sondern als außerordentlicher förmlicher Rechtsbehelf verstanden651, doch steht sie mit den Rechtsmitteln der Berufung und Revision, die ihrerseits Rechtsbehelfe sind, in engem Zusammenhang. Bereits die Zulässigkeitsvoraussetzungen stimmen in weiten Teilen überein. Mit § 365 StPO werden etwa die Regelungen der §§ 296–303 StPO für anwendbar erklärt, die Wiederaufnahme den Rechtsmitteln damit gleichgestellt. Auch die Vorschriften über Rechtsmittelbeschränkungen, §§ 318, 327, 344 Abs. 1, 352 Abs. 1 StPO sollen anwendbar sein.652 Das Verschlechterungsverbot gilt in § 373 Abs. 2 StPO wie in §§ 331 und 358 Abs. 2 StPO, so dass die angefochtene Entscheidung nicht zum Nachteil des Betroffenen abgeändert werden darf, wenn er den Rechtsbehelf selbst oder gem. § 296 Abs. 2 StPO die Staatsanwaltschaft zu seinen Gunsten eingelegt hat.653 Schließlich wird die Wiederaufnahme mit §§ 365, 473 Abs. 6 Nr. 1 StPO auch kostenrechtlich wie ein Rechtsmittel behandelt.654 Anders als die Berufung oder Revision ist die Wiederaufnahme jedoch an keine Notfrist gebunden, wie auch die Formvorschriften der ordentlichen Rechtsmittel (§§ 314, 344 StPO) keine Anwendung finden zugunsten spe­ zieller Formanforderungen des § 366 StPO.655 Ebenso wenig kennt die Wiederaufnahme einen Suspensiv- oder Devolutiveffekt.656 Schließlich unterscheiden sich Berufung und Revision von ihr insbesondere dadurch, dass sie nur gegen rechtskräftige Entscheidungen statthaft ist, die Rechtsmittel ihrerseits, indessen gerade den Nichteintritt der Rechtskraft voraussetzen.657 Das Betreiben eines Wiederaufnahmeverfahrens ist grds. nicht neben einem Rechtsmittelverfahren möglich.658 Ob auch teilrechtskräftige Entscheidungen im Wege der Wiederaufnahme angegriffen werden können, ist um650  LR-Gössel,

Vor § 359 / 26. Vor § 296 / 2; KMR-Plöd, Vor § 296 / 2. 652  LR-Gössel, Vor § 359 / 27 und § 365 / 2; BGH NJW 1958, 1309, 1310. 653  LR-Gössel, Vor § 296 / 16. 654  s. Hohmann, in: Miebach / Hohmann, Wiederaufnahme in Strafsachen, Teil  M, Rz. 1. 655  LR-Gössel, § 365 / 2. 656  LR-Gössel, Vor § 359 / 28. Der fehlende Suspensiveffekt folgt bereits aus § 360 Abs. 1 StPO, der fehlende Devolutiveffekt aus § 367 Abs. 1 S. 1 StPO i. V. m. § 140a GVG. 657  LR-Gössel, Vor § 359 / 30. 658  BGH NStZ 94, 23, 25. 651  LR-Hanack,



C. Die Wiederaufnahme im System der Rechtsmittel der StPO 125

stritten. Während bei vertikaler Teilrechtskraft bereits aufgrund der Vollstreckbarkeit der Entscheidung und der Möglichkeit zur Verbindung bzw. Trennung von Taten im prozessualen Sinn gem. §§ 2, 4 StPO die Wiederaufnahme zulässig sein soll,659 ist dies im Fall der horizontalen Teilrechtskraft umstritten. Wird das Urteil etwa durch eine Revision angegriffen und ist noch nicht in Rechtskraft erwachsen, sprechen sich für die Zulässigkeit der Wiederaufnahme auch bei horizontaler Teilrechtskraft neben der Rspr.660 nur Teile der Literatur661 aus. Erkennt das Rechtsmittelgericht, dass das nur im Rechtsfolgenausspruch angefochtene Urteil hinsichtlich des zugrunde liegenden Schuldspruchs materiell falsch ist, bestehen grundsätzlich drei Möglichkeiten der Korrektur: entweder das Rechtsmittelgericht ist an die Teilrechtskraft nicht gebunden, da von nur auflösend bedingter Teilrechtskraft auszugehen ist. Oder der Beschuldigte wird nach Abschluss des Verfahrens auf den Weg der Wiederaufnahme verwiesen oder dem Beschuldigten wird die Möglichkeit des Wiederaufnahmeverfahrens gegen teilrechtskräftige Urteile eröffnet.662 Nach der insbesondere in der Literatur h. M. wird die Möglichkeit zur Stellung eines Wiederaufnahmeantrags bei nur im Schuldspruch rechtskräftigen Urteilen abgelehnt.663 Begründet wird dies damit, dass bedingt durch die Zuständigkeitsänderung des § 140a GVG das weitere Verfahren verzögert werde, indem zwar der Schuldspruch rechtskräftig ist, jedoch das zur Entscheidung über die Rechtsfolgen berufene (Berufungs- / Revisions-)Gericht zunächst die Akten an das Wiederaufnahmegerichts abgeben müsste, was 659  Marxen / Tiemann, Die Wiederaufnahme in Strafsachen, Rn. 26; Alexander, in: Miebach / Hohmann, Wiederaufnahme in Strafsachen, Teil  F, Rz. 28. Für die subjektiv-vertikale Teilrechtskraft ablehnend LR-Gössel, Vor § 359 / 76 mit Hinweis auf die Gefahr sich widersprechender Entscheidungen. 660  OLG Stuttgart MDR 1980, 955; OLG München NJW 1981, 593; OLG Frankfurt NJW 1983, 2399; OLG Celle StV 1990, 537; OLG Braunschweig NJW 1961, 1082; OLG Hamburg NJW 1971, 2240, 2241; OLG Hamm NStZ-RR 1997, 371, 372; Thüringer OLG StraFo 1997, 116, 117; OLG München, unveröffentlichter Beschluss vom 19.12.2008, Az. 3 Ws 375 / 09. 661  J.  Meyer, in: Festgabe für Peters, S. 384; SK-Frister, Vor § 359 / 27; Marxen / Tiemann, Die Wiederaufnahme in Strafsachen, Rn. 24. AK-Loos, vor § 359 / 16 f.; AnwK-Rotsch, Vorbemerkung §§ 359 ff. / 5; KK-Hannich, Vorbemerkungen zu § 359 / 12; KMR-Eschelbach, Vor § 359 / 8; a. A. Gössel, NStZ 1983, 391; Ziemba, Die Wiederaufnahme des Verfahrens zuungunsten des Freigesprochenen oder Verurteilten, S. 83. 662  J. Meyer, in: Festgabe Peters, S. 382 ff. 663  OLG Düsseldorf NJW 54, 1499; MG vor § 359 / 4; HK-Temming, Vor §§ 359 ff. / 4; LR-Gössel, Vor § 359 / 75. Peters, Strafprozeß, S. 643. A. A. OLG Celle StV 1990, 537; OLG Frankfurt NJW 83, 2399, 2400; Thüringer OLG StraFo 97, 116, 117; OLG München NJW 1981, 593 und SK-Frister, Vor § 359 / 27.

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Teil 1: Rechtliche Grundlagen zum geltenden Wiederaufnahmerecht

dem Gebot der Prozessökonomie zuwiderlaufe.664 Auch beziehe sich der Wortlaut der Überschrift des 4. Buches der StPO auf ein abgeschlossenes Verfahren, unter dem wiederum nur ein im Schuld- und Strafausspruch rechtskräftig abgeschlossenes Verfahren zu verstehen sei.665 Gleichzeitig bestünde so die Gefahr, widersprüchliche Entscheidungen zu verursachen.666 Die materielle Gerechtigkeit könne bis zur umfassenden Rechtskraft eines Urteils noch ohne die Mithilfe der Wiederaufnahme verwirklicht werden, so dass diese bis dahin unzulässig sei.667 Es sei auch nicht vorgesehen Rechtsmittel- und Wiederaufnahmeverfahren parallel zu führen.668 Der Wortlaut der §§ 359, 362 StPO, der den Abschluss des Verfahrens als Wiederaufnahmefall nenne, bestätige diese Ansicht.669 Bereits angesichts des Wortlauts des § 359 StPO ist aber davon auszugehen, dass auch teilrechtskräftige Entscheidungen anfechtbar sind. Soweit der Gesetzeswortlaut auf rechtskräftige Entscheidungen abstellt, drückt er aus, dass die Rechtshängigkeit eines Verfahrens der Wiederaufnahme entgegensteht.670 Die Rechtshängigkeit wird jedoch auch durch einen in Rechtskraft erwachsenen Schuldspruch beendet; lediglich über den Rechtsfolgenausspruch kann weiter entschieden werden.671 Hinzu kommt, dass im Fall eines erfolgreichen Wiederaufnahmeverfahrens eine Entscheidung im Strafausspruch nicht mehr nötig ist, da der rechtskräftige Schuldspruch durch die Anordnung der Wiederaufnahme hinfällig wird.672 Schließlich ist auch zu sehen, dass sich der Wiederaufnahmeantrag, insbesondere wegen § 363 Abs. 1 StPO, im Regelfall gerade auf den Schuldausspruch, nicht aber auf den Rechtsfolgenausspruch bezieht.673

664  MG vor § 359 / 4; Gössel, NStZ 1983, 391; J.  Meyer, in: Festgabe Peters, S. 378; Dippel, Das geltende deutsche Wiederaufnahmerecht und seine Erneuerung, S. 50. 665  Gössel, NStZ 1983, 391. 666  Gössel, NStZ 1983, 391, 392 f., der die Gefahr der Widersprüchlichkeit insbesondere auf die Verschiedenheit der Gerichte gem. der Zuständigkeitsregelung des § 140a GVG zurückführt. 667  Gössel, NStZ 1983, 391, 392. 668  BGH Beschluss vom 29.04.1993, 1 StR 219 / 93, Leitsatz in: NStZ 1994, 23, 25. 669  KMR-Eschelbach, Vor § 359 / 8. 670  OLG Köln NJW 1953, 396. KK-Hannich, Vorbemerkungen zu § 359 / 12; Wasserburg, Die Wiederaufnahme des Strafverfahrens, S. 332; Alexander, in: Miebach /  Hohmann, Wiederaufnahme in Strafsachen, Teil F, Rz. 30. 671  OLG München NJW 1981, 593. 672  Thüringer OLG StraFo 1997, 116, 117. 673  OLG Hamburg NJW 1971, 2240, 2241.



C. Die Wiederaufnahme im System der Rechtsmittel der StPO 127

Soweit gegen die Zulässigkeit der Wiederaufnahme auf teilrechtskräftige Entscheidungen vorgebracht wird, dass der Angeklagte die Möglichkeit hätte, die Festsetzung von Rechtsfolgen durch ein Wiederaufnahmegesuch zu verzögern674, gebietet bereits das Beschleunigungsgebot des Art. 6 Abs. 1 EMRK, dass der Betroffene so schnell wie möglich die Korrektur einer fehlerhaften Entscheidung erreichen können muss.675 Das Argument der Prozess­ ökonomie ist demnach ambivalent.676 Die sofortige (umfassende) Korrektur einer Entscheidung im Wege der Wiederaufnahme erscheint gerade prozessökonomisch.677 Andernfalls müsste etwa das Rechtsmittelverfahren fortgeführt werden, obwohl bereits feststeht, dass die tatsächlichen Grundlagen der Entscheidung im Wege einer Wiederaufnahme zu korrigieren sind.678 Es wäre nicht hinnehmbar, wenn ein bereits zweifelhaft gewordener Schuldspruch noch zur Grundlage eines geänderten Rechtsfolgenausspruchs gemacht werden könnte.679 Schließlich ist zu berücksichtigen, dass der Angeklagte eine Verzögerung des Verfahrens auch durch Einlegung ordentlicher Rechtsmittel, die ihrerseits sogar Supsensiveffekt entfalten, erreichen kann, die Rechtsmittel aber dennoch nicht in Frage stehen.680 Einer Verfahrensverzögerung kann im Übrigen auch dadurch begegnet werden, dass das Rechtsmittelgericht zur Anlage von Zweitakten und deren Vorlage an das Wiederaufnahmegericht angehalten wird.681 Auch ist zu bedenken, dass Rechtsbehelfe durch Zeitablauf allenfalls unzulässig, nicht aber zulässig werden können. Wäre die Wiederaufnahme bis zur Rechtskraft über den Rechtsfolgenausspruch unzulässig, würde allein der Zeitablauf zur Zulässigkeit des Rechtsbehelfs führen. Da das Rechtsmittel­ gericht nicht gehalten ist, innerhalb einer Frist die Rechtskraft des Rechtsfol-

674  OLG

Frankfurt NJW 1983, 2399, 2400. Hamm NStZ-RR 1997, 371, 372; OLG Frankfurt NJW 1965, 313, 314; OLG Köln NJW 1953, 396, 397; OLG Hamburg NJW 1971, 2240, 2241, das insoweit sogar von einem Rechtsanspruch des unschuldig Verfolgten ausgeht. KK-Hannich, Vorbemerkungen zu § 359 / 12; Wasserburg, Die Wiederaufnahme des Strafverfahrens, S. 332. KMR-Eschelbach, § 364a / 2 hält Art. 6 EMRK im Wiederaufnahmeverfahren hingegen für unanwendbar. 676  OLG Köln NJW 1953, 396, 397. 677  OLG Frankfurt NJW 1983, 2399, 2400; KMR-Eschelbach, Vor § 359 / 8. 678  OLG München NJW 1981, 593; OLG Köln NJW 1953, 396, 397. 679  OLG München NJW 1981, 593, 594; OLG Frankfurt NJW 1965, 313, 314. So ist etwa auch bei der Rechtsmittelbeschränkung anerkannt, dass die Teilrechtskraft auflösend bedingt ist: die Teilrechtskraft der Schuldfrage steht unter dem Vorbehalt, dass diese keiner Nachprüfung bedarf, vgl. J. Meyer, in: Festgabe Peters, S. 382. 680  J. Meyer, in: Festgabe Peters, S. 377. 681  J. Meyer, in: Festgabe Peters, S. 378. 675  OLG

128

Teil 1: Rechtliche Grundlagen zum geltenden Wiederaufnahmerecht

genausspruchs herbeizuführen, wäre der Verurteilte Unwägbarkeiten ausgesetzt, auf die er keinen Einfluss hat.682 Es erscheint daher insbesondere im Hinblick auf prozessökonomische Erwägungen überzeugend, die Wiederaufnahme auch gegen teilrechtskräftige Urteile für statthaft zu erachten. Hierfür spricht nicht zuletzt auch die Gefahr eines Beweismittelverlustes, würde die Wiederaufnahmemöglichkeit abgelehnt werden.683 In der Praxis dürfte so zu verfahren sein, dass das Rechtsmittelgericht die Entscheidung des Wiederaufnahmegerichts über den Schuldspruch abwartet, sofern der Antrag nicht offensichtlich aussichtslos ist.684 Diese Lösung ist flexibel, vermeidet sie doch in begründeten Fällen widersprechende gerichtliche Entscheidungen, zwingt das Rechtsmittelgericht andererseits bei offensichtlich aussichtslosen Wiederaufnahmeanträgen nicht, den Abschluss des Wiederaufnahmeverfahrens abzuwarten. Ein weiterer wesentlicher Unterschied zwischen dem Wiederaufnahmeund dem Rechtsmittelrecht besteht darin, wie neue Umstände berücksichtigt werden. Im Ausgangs- und Berufungsverfahren können nova durch Beweisanträge noch bis zur Urteilsverkündung in das Verfahren eingebracht werden. Im Revisionsverfahren kann im Wege einer Aufklärungsrüge eine unzulängliche Sachaufklärung gerügt werden. Bis zur Rechtskraft einer richterlichen Entscheidung können neue Tatsachen demnach – lediglich begrenzt von §§ 244 Abs. 3–5, 245 StPO – vorgebracht werden. Nach Eintritt der Rechtskraft ändert sich dies wesentlich: Neue Tatsachen und Beweismittel können nur noch unter den engen Voraussetzungen der §§ 359 Nr. 5, 368, 370 StPO Auswirkungen entfalten. Diese restriktive Möglichkeit rechtfertigt sich damit, dass nova vor Eintritt der Rechtskraft bis zum Abschluss der Tatsacheninstanz und auch noch in der Revisionsinstanz so umfassend geltend gemacht werden können, dass hierfür nach Eintritt der Rechtskraft nur noch ein geringeres Bedürfnis besteht. Damit einhergeht jedoch das Verständnis, dass die Möglichkeiten zur Berücksichtigung von nova nach Eintritt der Rechtskraft umso beschränkter sind, je größer die Möglichkeit ihrer Geltendmachung vor Eintritt der Rechtskraft ist.685 Schließlich hat die Wiederaufnahme anders als bei Rechtsmitteln nicht die umfassende Prüfung der Sach- und Rechtslage686 zur Folge, sondern ledig682  OLG

München NJW 1981, 593, 594. Vor § 359 / 27. I. E. gegen eine Anwendbarkeit auf horizontal teilrechtskräftige Entscheidungen LR-Gössel, Vor § 359 / 80. 684  J. Meyer, in: Festgabe Peters, S. 384. 685  LR-Gössel, Vor § 359 / 31. 686  So jedenfalls, wenn die Sachrüge im Revisionsverfahren allgemein erhoben wurde. 683  SK-Frister,



C. Die Wiederaufnahme im System der Rechtsmittel der StPO 129

lich die Prüfung der geltend gemachten Wiederaufnahmegründe.687 Wie es im Rechtsmittelrecht (§§ 318 S. 1, 327, 344 Abs. 1, 352 Abs. 1 StPO) möglich ist, kann auch die Wiederaufnahme auf bestimmte Beschwerdepunkte beschränkt werden.688 Betrachtet man die Wiederaufnahme im Vergleich zur Berufung und Revision, fällt mithin ein Stufenverhältnis auf: während die Berufung eine vollständige Überprüfung der angefochtenen Entscheidung ermöglicht, ohne an die Zulässigkeit besondere Anforderungen zu stellen, ist die Revision bereits im Hinblick auf die Zulässigkeitsbeschränkungen und den Prüfungsumfang enger gefasst. Die Wiederaufnahme ist sowohl hinsichtlich der Zulässigkeitsanforderungen als auch der wenigen Wiederaufnahmegründe in §§ 359 und 362 StPO der engste Rechtsbehelf zur Fehlerkorrektur.689 Berufung, Revision und Wiederaufnahme ist jedoch gemeinsam, dass sie alle Rechtschutzmittel im Sinne des Art. 19 Abs. 4 GG sind.690 Anders als die ordentlichen Rechtsmittel wird vom Wiederaufnahmegericht zudem verlangt, dass es sich in das seinerzeit zuständige Gericht hineinversetzt.691 1. Berufung Die Berufung ist ein Mittel zur Durchsetzung materieller Wahrheit.692 Sie ist das Rechtsmittel, das eine angefochtene Entscheidung in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht einer vollständigen Überprüfung zuführt, wobei der Sachverhalt im Rahmen einer völlig neuen Verhandlung überprüft wird. Entsprechend häufig wird gegen amtsgerichtliche Urteile Berufung eingelegt. Gemäß der Statistik des Bundesamtes für Statistik für das Jahr 2011 wurden gegen 15 % der amtsgerichtlichen Urteile Berufung eingelegt. Davon waren 42 % begründet, in 7 % der Fälle wurde der Urteilsspruch abgeändert, in 9 % das Verfahren eingestellt, in 3 % der Angeklagte freigesprochen.693 Damit gleicht die Berufung dem Wiederaufnahmeverfahren nach Erlass eines Beschlusses über die Wiederaufnahme des Verfahrens. In beiden Konstellationen wird nach Beseitigung eines vorangegangenen Verfahrens ein völlig neues Verfahren durchgeführt.694 687  KMR-Eschelbach,

Vor § 359 / 24. 11, 361, 363 f.; BGHSt 48, 153, 160. Bedenken hiergegen KMREschelbach, § 363 / 6. 689  Ohne explizit von einem Stufenverhältnis zu sprechen LR-Gössel, Vor § 359 /30. 690  KMR-Eschelbach, Vor § 359 / 23. 691  Eisenberg, Beweisrecht der StPO, Rn. 461. 692  Prantl, StraFo 2015, 221. 693  Jehle, FPPK 2013, 220, 226. 694  LR-Gössel, Vor § 359 / 29. 688  BGHSt

130

Teil 1: Rechtliche Grundlagen zum geltenden Wiederaufnahmerecht

Es verwundert daher nicht, dass der Gesetzgeber das Wiederaufnahmeverfahren als Berufungsersatz für solche Verfahren angedacht hat, in denen die Berufung gegen erstinstanzliche Urteile nicht möglich ist.695 In den Gesetzesmaterialien zur RStPO findet sich der Hinweis, dass die Wiederaufnahme eine Art Berufung mit Novenpflicht ist: Das Bedürfnis zur Berücksichtigung neuer Umstände im Wiederaufnahmeverfahren wäre weniger dringend, wenn das Gesetz eine ordentliche zweite Instanz gewähren würde, in der neue Tatsachen und Beweise vorgebracht werden könnten. Es ist jedoch denkbar, dass derartige neue Tatsachen oder Beweismittel erst nach Ablauf der Rechtsmittelfrist entdeckt würden. Neben der Berufung sei daher die Wiederaufnahme erforderlich.696 Kaum ein Zweifel an der Unentbehrlichkeit der Wiederaufnahme aufgrund neuer Tatsachen und Beweismittel bestehe, wenn das Gesetz keine Berufungsinstanz gewährt.697 Die Wiederaufnahme soll demnach u. a. als Ersatz einer fehlenden Berufungsinstanz in solchen Verfahren dienen, die erstinstanzlich vor Land- und Oberlandesgerichten verhandelt werden.698 Anders als im Wiederaufnahmeverfahren wird im Berufungsverfahren aber nicht die Richtigkeit des Ersturteils geprüft, sondern eine komplett neue Entscheidung herbeiführt.699 Dies wiederum ist dem Berufungsverfahren mit dem Erneuerungsverfahren des Wiederaufnahmerechts gemein.700 Anders als die Wiederaufnahme wird das Berufungsverfahren auch dann durchgeführt, wenn ein besseres Urteil nicht zu erwarten ist.701 Im Vorfeld der Berufungshauptverhandlung kommt es zu keiner Bewertung der Berufungsgründe. Demgegenüber liegt dem Wiederaufnahmerecht der Gedanke zugrunde, dass ein formell702 und / oder materiell703 besseres Urteil zu erwarten ist. Dies folgt bereits aus der Prüfung der Wiederaufnahmegründe im Aditionsverfah695  LR-Gössel, Vor § 359 / 29; Wasserburg, Die Wiederaufnahme des Strafverfahrens, S. 6. Ablehnend wohl BVerfG, Beschluss vom 04.04.2012, Az. 2 BvR 24 / 11, in: BeckRS 2012, 51065. Zweifelnd Brinkmann, Zum Anwendungsbereich der §§ 359 ff. StPO, S. 225. 696  Hahn, Materialien zur RStPO, Band 1, S. 262 f. 697  Hahn, Materialien zur RStPO, Band 1, S. 263. 698  Hahn, Materialien zur RStPO, Band 1, S. 263; Neuhaus, Fehlerquellen im Ermittlungsverfahren aus Sicht der Verteidigung, StV 2015, 185, 186; Eschelbach, in: FS-Stöckel, S. 207. Ablehnend J. Meyer, Wiederaufnahmereform, S. 46. 699  LR-Gössel, Vor § 359 / 29. 700  LR-Gössel, Vor § 359 / 29. 701  J. Meyer, Wiederaufnahmereform, S. 44. 702  Ein Urteil ist formell besser, wenn es nicht unter den Mängeln der §§ 359 Nr. 1–4, 362 Nr. 1–3 StPO leidet. Vgl. Peters, Fehlerquellen im Strafprozeß III, S. 29. 703  Materiell besser ist ein Urteil, wenn es der Wahrheit, und folglich auch der Gerechtigkeit näher kommt, als das bisherige Urteil, vgl. Peters, Fehlerquellen im Strafprozeß III, S. 29.



C. Die Wiederaufnahme im System der Rechtsmittel der StPO 131

ren.704 Die Berufung dient folglich der Überprüfung des bereits bekannten Tatsachenmaterials, während die Wiederaufnahme ein neues Urteil wegen neu bekannt gewordener Umstände verlangt. Das Wiederaufnahmeverfahren ist damit jedoch grundlegend anders ausgestaltet, als das Berufungsverfahren.705 Die Wiederaufnahme weist schließlich auch strukturelle Ähnlichkeiten zum Berufungsrecht auf: Wie im Berufungsverfahren sind auch im Wiederaufnahmeverfahren drei Arten von Zulässigkeitsvoraussetzungen zu unterscheiden: neben den allgemeinen Prozessvoraussetzungen die allgemeinen und besonderen Zulässigkeitsvoraussetzungen.706 Anders als im Rechtsmittelverfahren stellen sich fehlende Prozessvoraussetzungen jedoch nicht als Prozesshindernisse einem Wiederaufnahmeverfahren entgegen, sondern können vielmehr ein tauglicher Wiederaufnahmegrund sein.707 Eine weitere Ähnlichkeit besteht in den formellen Anforderungen: wie das Berufungsgericht hat auch das Wiederaufnahmegericht das gesamte Aktenmaterial zu sichten.708 Alsberg kommt angesichts der Ausgestaltung der §§ 359 ff. StPO dennoch zu einem eindeutigen Ergebnis: „Selten hat aber wohl eine gesetzgeberische Schöpfung so wenig die Idee ihres Schöpfers verwirklicht als diese. Die Wiederaufnahme ist in der Praxis alles andere geworden als ein Ersatz für die an sich unentbehrliche Berufung. Schon ihre geringe Anwendung führt das vor Augen.“709

2. Revision Die Anerkennung des Anklageprozesses ermöglicht zwar die Überprüfung eines Urteils im Wege der befristeten Revision, von der Prüfung ausgenommen waren und sind auch heute noch im Wesentlichen die Urteilsgrundlagen.710 Mit § 337 StPO ist die Revision auf die Nachprüfung einer Gesetzesanwendung beschränkt. Die Urteilsfeststellungen sind demnach der Revision grundsätzlich entzogen, es sei denn sie sind verfahrenswidrig zustande ge704  Peters,

Fehlerquellen im Strafprozeß III, S. 29. Zum Anwendungsbereich der §§ 359 ff. StPO, S. 225. 706  Petermann, in: Miebach / Hohmann, Wiederaufnahme in Strafsachen, Teil  B, Rz. 25. 707  Petermann, in: Miebach / Hohmann, Wiederaufnahme in Strafsachen, Teil  B, Rz. 26. 708  KMR-Eschelbach, § 366 / 38. 709  Alsberg, Justizirrtum und Wiederaufnahme, S. 47. Zustimmend Bauer, JZ 1952, 209, 210. 710  Lampe, GA 1968, 33, 35. 705  Brinkmann,

132

Teil 1: Rechtliche Grundlagen zum geltenden Wiederaufnahmerecht

kommen.711 Die Revision lässt die tatsächlichen Grundlagen des Urteils, zu dem sie akzessorisch ist, also unangetastet, weshalb sie auch als „der denkbar unzuverlässigste Notanker des schuldlos Verurteilten“712 betrachtet wird. Inzwischen ist zwar anerkannt, dass auch die tatsächlichen Urteilsfeststellungen, insbesondere die Beweiswürdigung, bei begründbaren Zweifeln einer ausreichenden Sachverhaltserforschung der revisionsrechtlichen Kontrolle unterliegen („erweiterte Revision“), doch bleibt die Revision ihrem Wesen nach grundsätzlich ein lediglich an der formalen Gerechtigkeit orientiertes Rechtsmittel.713 Dies folgt auch daraus, dass das Revisionsgericht Verfahrensfehler nur insoweit überprüfen darf, als diese vom Revisionsführer gem. § 344 Abs. 2 StPO gerügt werden. Dass gerade das Verfassen von Verfahrensrügen jedoch Erfahrung und besondere Kenntnisse des verfassenden Verteidigers erfordern, ist bekannt. Benachteiligt ist demnach oftmals der Angeklagte, dessen Verteidiger keine besonderen Revisionserfahrungen hat. Nicht die Tatfrage ist Gegenstand des Revisionsverfahrens, sondern die Überprüfung der Entscheidung auf Rechtsfehler. Die tatsächlichen Urteilsfeststellungen können im Rahmen der erweiterten Revision darauf überprüft werden, ob sie in sich widerspruchsfrei, lückenlos und ohne Verletzung von Denk- und allgemeinen Erfahrungsregeln, mithin tragfähig, getroffen wurden, wenngleich dem Revisionsgericht im Hinblick auf den Grundsatz der freien Beweiswürdigung des § 261 StPO nicht der gesamte Bereich der Tatsachenfeststellungen zugänglich ist.714 Daneben wird in der Revision geprüft, ob der Entscheidung eine zweifelsfreie Gewissheit des Richters zugrunde liegt, die auf einer objektiven Grundlge basiert und ob die rechtlichen Voraussetzungen an die Überzeugungsbildung eingehalten wurden.715 Im Rahmen der Verfahrensrüge können die tatsächlichen Urteilsfeststellungen auf Beweisverbote, ebenso wie auf die vollständige Sachaufklärung gem. § 244 Abs. 2 StPO und die Einhaltung der rechtlichen Grenzen der freien Beweiswürdigung des § 261 StPO überprüft werden. Im Rahmen einer auf die Verletzung des § 261 StPO gestützten Rüge kann der Revident geltend machen, dass das Gericht seine Überzeugung von der Schuld etwa auf das Schweigen des Angeklagten gestützt, Beweise entwe711  Gössel, in: Schlosser u.  a., Tatsachenfeststellung in der Revisionsinstanz, S. 117. 712  KMR-Eschelbach, § 370 / 4. 713  BeckOK-Eschelbach, § 261 / 7.1. Hanack / Gerlach / Wahle, Denkschrift zur Reform des Rechtsmittelrechts und der Wiederaufnahme, S. 3. 714  Gössel, in: Schlosser u.  a., Tatsachenfeststellung in der Revisionsinstanz, S. 121 ff.; KMR-Eschelbach, Vor § 359 / 36. Auch hebt das Revisionsgericht die dem Urteil zugrunde liegenden Feststellungen nur insoweit auf, als diese von dem Rechtsfehler betroffen sind, § 353 Abs. 2 StPO. 715  Eisenberg, Beweisrecht der StPO, Rn. 96.



C. Die Wiederaufnahme im System der Rechtsmittel der StPO 133

der nicht erschöpfend gewürdigt oder solche verwertet hat, die unverwertbar waren.716 Auch mit der erweiterten Revision, nach der die Sachrüge nicht mehr nur eine Subsumtionskontrolle, sondern eine umfassende Plausibilitätskontrolle mit Überprüfungsmöglichkeit der Beweiswürdigung und Beweisdichte darstellt717, gewährleistet die revisionsgerichtliche Überprüfung keine lückenlose Kontrolle.718 Lässt der Tatrichter in den schriftlichen Urteilsgründen etwa störende Umstände unerwähnt, um sein Urteil revisionssicher abzufassen, berührt diese Fehlerhaftigkeit das rechtliche Gehör, kann jedoch revi­ sionsrechtlich mangels Beweisbarkeit kaum beanstandet werden.719 Eine Rüge der Aktenwidrigkeit des Urteilstextes kann der Revisionsführer aufgrund des Verbots der Rekonstruktion der Hauptverhandlung nicht erheben.720 Private Aufzeichnungen werden ebenso wenig als Gegenbeweis wie dienstliche Erklärungen zugelassen.721 Eine auf § 244 Abs. 2 StPO gestützte Aufklärungsrüge verspricht keinen Erfolg, solange der Beweis erhoben wurde. Die Darstellungsrüge722 basierend auf § 261 StPO bleibt erfolglos, solange der Mangel nicht dem Urteil zu entnehmen ist. Erörterungsmängel etwa bleiben revisionsrechtlich oft unbeanstandet.723 Diese Rechtschutzlücken müssen angesichts des Rechts auf effektiven Rechtschutz geschlossen werden.724 Denkbar erscheint insoweit Rechtschutz im Wege der Wiederaufnahme, wenn nichterörterte aber entscheidungserhebliche Umstände als wiederaufnahmerelevantes novum zu verstehen sind.725 Die Beweiswürdigung und richterliche Überzeugungsbildung bleiben als Domäne des Tatrichters für die Revision folglich weitgehend unüberprüfbar. Das Revisionsrecht ist damit – anders als das Rechtsmittel der Berufung – nicht ausnahmslos geeignet, Einzelfallgerechtigkeit herzustellen. Wohl aus unberechtigtem Respekt gegenüber dem Tatrichter, oder aus Verständnis für dessen Fehler, werden insbesondere sachliche Mängel eines Urteils oftmals 716  Gössel, in: Schlosser u.  a., Tatsachenfeststellung in der Revisionsinstanz, S.  123 ff. 717  Fischer / Krehl, StV 2012, 550, 554. 718  KMR-Eschelbach, Vor § 359 / 37. 719  KMR-Eschelbach, Vor § 359 / 37. 720  KMR-Eschelbach, § 372 / 34. 721  BGH NJW 1967, 213; BGHSt 29, 18, 20; BGH NStZ 1990, 35; BGH StV 1997, 561. 722  Die Darstellungsrüge rügt als Verfahrensrüge die Nichtübereinstimmung des Urteils mit dem Akteninhalt und scheitert am Rekonstruktionsverbot, vgl. Eschelbach, in: FS-Widmaier, S. 132. 723  Schwenn, StV 2010, 705, 709. 724  KMR-Eschelbach, Vor § 359 / 37. 725  s. hierzu unten S. 464 ff.

134

Teil 1: Rechtliche Grundlagen zum geltenden Wiederaufnahmerecht

in der Revisionsinstanz nicht korrigiert, sondern unter dem „Mantel kollegialer Rücksicht verhüllt“726 gehalten und wird in zu weitem Umfang von der Möglichkeit des „OU“-Beschlusses gem. § 349 Abs. 2 StPO Gebrauch gemacht.727 Nicht nur die fehlende Tiefe der revisionsgerichtlichen Prüfung, auch das Beruhenserfordernis kann seinen Teil zu Fehlurteilen beitragen. Das Revisionsgericht prüft nicht, ob die Feststellungen des Tatgerichts richtig oder falsch sind. Dieses Manko zu beseitigen, ist Aufgabe des Wiederaufnahmeverfahrens. Anders als im Revisionsverfahren liegt bei der Wiederaufnahme der Fokus demnach nicht auf der Prüfung formeller oder materieller Rechtsfehler, sondern auf der Anfechtung der tatsächlichen Urteilsfeststellungen. Dennoch wird gegen mehr als jedes vierte Urteil einer großen Strafkammer Revision eingelegt. Dies lässt sich insbesondere damit erklären, dass landgerichtliche Entscheidungen i. d. R. mehrjährige Haftstrafen vorsehen, die der Betroffene oftmals nicht akzeptieren will. Gegen die im Jahr 2011 gesprochenen 9.635 Urteile der großen Strafkammern wurde bspw. in 28 %, d. h. in 2.905 Fällen Revision eingelegt. Gegen landgerichtliche Urteile werden damit weit häufiger Revisionen eingelegt, als gegen amtsgerichtliche Entscheidungen. 19 % der Revisionen führten zur Aufhebung des Urteils, wohingegen nur in 1 % der Angeklagte in der Revision freigesprochen wurde. In 10 % der Revisionsverfahren wurde das Strafmaß gesenkt.728 Geipel geht davon aus, dass die Fehlerquoten im irreversiblen Bereich der Tatsachenfeststellungen höher sein müssen, jedenfalls aber gleich hoch wie die durch die Erfolgsquote von Revisionen zum Ausdruck kommenden Fehlurteilsquoten, da es sich bei der gerichtlichen Tatsachenfeststellung um keine juristische Tätigkeit handelt.729 Ergeben sich bei der Überprüfung der gerichtlichen Entscheidung also Tatsachen, die mit den durch die Rechtskraft der Entscheidung bindend gewordenen Feststellungen in Widerspruch stehen, wird der Betroffene auf die Möglichkeit der Wiederaufnahme eines Verfahrens verwiesen.730 Gelingt diese, werden nicht selten im Rahmen der Adition und Probation die Versäumnisse der Revision wiedergutgemacht.731 Versäumnisse der Revisions­ 726  Schwenn,

StV 2010, 705, 711. StV 2010, 705, 709. 75 % der zum BGH erhobenen Revisionen werden durch Beschluss gem. § 349 Abs. 2 StPO entschieden, vgl. Fischer / Krehl, StV 2012, 550, 550 dort Fn. 12 m. w. N. 728  Jehle, FPPK 2013, 220, 226 f. 729  Jehle, FPPK 2013, 220, 225 f.; Geipel, in: Miebach / Hohmann, Wiederaufnahme in Strafsachen, Teil A, Rz. 89 und 95. 730  BGHSt 14, 31, 34 ff. 731  Schwenn, StV 2010, 705, 710. 727  Schwenn,



C. Die Wiederaufnahme im System der Rechtsmittel der StPO 135

instanz aufzuarbeiten, kann ein Rechtsbehelf wie die Wiederaufnahme – die noch näher zu untersuchenden hohen Hürden unterliegt – jedoch nicht leisten. a) Unterschiede zwischen Revision und Wiederaufnahme Anders als die Berufung und die Wiederaufnahme ist das Revisionsverfahren weder dafür bestimmt noch geeignet, die tatsächlichen Urteilsgrundlagen umfassend zu korrigieren. Überprüfungsgegenstand ist zwar stets ein Urteil, dieses wird jedoch bei der Revision nur auf Rechtsanwendungsfehler überprüft.732 Ein weiterer Unterschied zwischen Revision und Wiederaufnahme ergibt sich bezüglich der Antragsbefugnis der Staatsanwaltschaft: während diese im Revisionsverfahren das Rechtsmittel zunächst „ungerichtet“ einlegen kann, mithin sich erst binnen der Monatsfrist zur Begründung der Revision entscheiden muss, ob sie zugunsten oder zuungunsten des Betroffenen einlegt, muss sie im Wiederaufnahmeantrag bereits von vornherein mit Angabe des gesetzlichen Wiederaufnahmegrundes gem. § 366 StPO klarstellen, in welche Richtung der Antrag wirken soll.733 Zudem besteht ein weiterer Unterschied darin, dass im Revisionsrecht das Verbot der Rekonstruktion der Hauptverhandlung gilt, das dem Wiederaufnahmeverfahren fremd ist. Vielmehr ist es gerade Aufgabe des auf § 359 Nr. 5 StPO gestützten Wiederaufnahmeverfahrens, die Hauptverhandlung vor dem Ausgangsgericht soweit zu rekonstruieren, dass bewertet werden kann, ob der Antragsteller nunmehr neue Tatsachen oder Beweismittel vorbringt oder nicht.734 Revisions- und Wiederaufnahmeverfahren unterscheiden sich ferner in der interprozessualen Bindungswirkung, die nur im Revisionsrecht besteht. Das Gericht, an welches das Verfahren vom Revisionsgericht zurückverwiesen wird, ist an dessen Rechtsansicht gebunden.735 Das Wiederaufnahmegericht hingegen fällt im Erneuerungsverfahren, losgelöst vom Aditions- und Probationsverfahren, eine neue Sachentscheidung. Bei der Wiederaufnahme ist die Erstreckung auf Mitangeklagte – wie dies im Revisionsrecht mit § 357 StPO möglich ist – nicht vorgesehen.

732  LR-Gössel,

Vor § 359 / 29. in: Festgabe Peters, S. 342. 734  KMR-Eschelbach, § 372 / 34. 735  Stache, Die Abschaffung des § 357 StPO und seine Umstrukturierung in eine Norm des strafprozessualen Wiederaufnahmerechts, S. 158. 733  Dünnebier,

136

Teil 1: Rechtliche Grundlagen zum geltenden Wiederaufnahmerecht

b) Gemeinsamkeiten von Wiederaufnahme und Revision Das Revisionsverfahren weist mit dem Wiederaufnahmerecht aber auch strukturelle Ähnlichkeiten auf: In beiden Fällen entscheidet ein Gericht aufgrund schriftlicher Grundlagen darüber, ob die Entscheidung des Tatgerichts akzeptiert werden kann oder ob die Einwände im Rahmen einer erneuten Hauptverhandlung der Überprüfung bedürfen.736 Bemerkenswert erscheint in diesem Zusammenhang, dass im schweizerischen Strafprozessrecht der Begriff der Revision z.  T. dem Begriff der Wiederaufnahme gleichgesetzt wird.737 Revision und Wiederaufnahme dienen zudem beide der Beseitigung von Fehlentscheidungen und verfolgen das Ziel, Gerechtigkeit im Einzelfall herzustellen.738 Hinsichtlich der formellen Voraussetzungen entsprechen sich § 345 Abs. 2 StPO und § 366 Abs. 2 StPO.739 Anders als das Revisionsgericht hat das Wiederaufnahmegericht jedoch das gesamte Aktenmaterial zu sichten.740 Der Amtsermittlungsgrundsatz des § 244 Abs. 2 StPO gilt zudem weder im Revisions- noch im Wiederaufnahmeverfahren. Wie bereits dargestellt ist die Rechtsansicht des Revisionsgerichts für das zur Entscheidung berufene Gericht bindend.741 Auch das Wiederaufnahmerecht kennt eine derartige Bindung an die angegriffene Entscheidung, soweit das Wiederaufnahmegericht nach h. M. an die rechtliche Beurteilung eines Sachverhalts gebunden ist, solange diese nicht unvertretbar ist. c) Zusammenfassung Nach aktuellem Gesetzesstand ist die Revision nur bedingt in der Lage, sachliche Fehlentscheidungen zu korrigieren.

736  Wenngleich im Rahmen der Wiederaufnahme die im vorgetragenen Wiederaufnahmegrund behaupteten Umstände zu den bisherigen Entscheidungsfeststellungen hinzutreten müssen. Rieß, NStZ 1994, 153, 156. 737  Eckert, Die Wiederaufnahme des Verfahrens im schweizerischen Strafprozeßrecht, S. 15. 738  LR-Gössel, Vor § 359 / 26. 739  KMR-Eschelbach, § 366 / 15, der jedoch in den Einzelheiten eine Vergleichbarkeit bezweifelt. 740  KMR-Eschelbach, § 366 / 38. 741  Stache, Die Abschaffung des § 357 StPO und seine Umstrukturierung in eine Norm des strafprozessualen Wiederaufnahmerechts, S. 158.



C. Die Wiederaufnahme im System der Rechtsmittel der StPO 137

Es verwundert daher nicht, dass die Einführung einer zweiten Tatsachen­ instanz immer wieder gefordert wird (s. hierzu S. 346 ff.). Lehnt man diese ab, erscheint es jedenfalls sachgerecht, die revisionsgerichtliche Kontrolle auszuweiten. Soweit bislang einer revisionsgerichtlichen Kontrolle die Prüfung der im Zuge der Beweiswürdigung vorgenommenen Bewertungen weitestgehend entzogen ist, da dem Revisionsgericht der Zugang zu den Erkenntnisquellen des Tatrichters nicht möglich sei742, könnte dieses Manko ohne Weiteres durch die umfassende Dokumentation der Hauptverhandlung behoben werden (s. hierzu unten S. 442 ff.).

III. Möglichkeit der isolierten Reformierung Zwischen dem Erkenntnisverfahren und dem Wiederaufnahmeverfahren bestehen wie dargestllt enge Berührungspunkte, so dass das Recht der Wiederaufnahme nicht völlig losgelöst von dem Recht des Erkenntnisverfahrens betrachtet werden sollte.743 Damit bleibt auch unklar, ob das Recht der Wiederaufnahme isoliert vom übrigen Prozessrecht reformiert werden kann. Hierfür spricht zunächst, dass das Wiederaufnahmerecht vom Gesetzgeber im Vierten Buch der StPO, abgesehen von der Verweisungsnorm des § 365 StPO, isoliert behandelt wurde. Zudem ist das Wiederaufnahmerecht ultima ratio zur Beseitigung von Fehlentscheidungen, mithin unabhängig von der Ausgestaltung des Grundund Rechtsmittelverfahrens. Es muss also auch formal von diesen unabhängig sein.744 Selbst ein reformiertes übriges Verfahrensrecht kann ein wirksames Wiederaufnahmerecht nicht ersetzen, da sich Fehlurteile niemals vollständig werden verhindern lassen.745 Da es sich bei der Wiederaufnahme mithin um einen eigenständigen Rechtsbehelf handelt, erscheint es möglich, das Wiederaufnahmerecht gesondert zu reformieren.746

742  Hanack / Gerlach / Wahle, Denkschrift zur Reform des Rechtsmittelrechts und der Wiederaufnahme, S.  34 ff. 743  Deml, Zur Reform der Wiederaufnahme des Strafverfahrens, S. 31. 744  Deml, Zur Reform der Wiederaufnahme des Strafverfahrens, S. 31. 745  Deml, Zur Reform der Wiederaufnahme des Strafverfahrens, S. 32 f. 746  A. A. KMR-Eschelbach, § 359 / 19, der eine Wiederaufnahmereform nur im Zusammenhang mit der Beachtung des Rechtsmittelrechts für sinnvoll erachtet.

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Teil 1: Rechtliche Grundlagen zum geltenden Wiederaufnahmerecht

D. Verfassungsrechtlicher Bezug Die Wiederaufnahme des Verfahrens dient als außerordentlicher Rechtsbehelf der Durchbrechung der Rechtskraft zur Herstellung materieller Einzelfallgerechtigkeit.747 Der Gesetzgeber hat sich mit den §§ 359 ff. StPO tendenziell zugunsten der Rechtssicherheit entschieden und geht im Grundsatz davon aus, dass der öffentliche Rechtsfriede mit einer rechtskräftigen, verfahrensabschließenden Entscheidung wiederhergestellt ist. Das Wiederaufnahmerecht wird mithin von dem Grundgedanken beherrscht, eine Fehlentscheidung nur dann zu korrigieren, wenn die Gerechtigkeit mit ihr erheblich beeinträchtigt wäre.748 Aus diesem gesetzgeberischen Willen lässt sich auf das gesetzgeberisch intendierte Streben nach Gerechtigkeit und Wahrheit schließen. Rechtskraft soll also nur insoweit eintreten, als keine gesetzlichen Abänderungsmöglichkeiten eingreifen.749 Aus dem Recht auf ein faires, rechtsstaatliches Verfahren ergibt sich, dass zur Verwirklichung des Schuldprinzips die Ermittlung des wahren Sachverhalts von zentraler Bedeutung ist.750 Das Prozessgrundrecht auf ein faires, rechtsstaatliches Verfahren wird dabei aus Art. 2 Abs. 1 i. V. m. Art. 20 Abs. 3 GG und Art. 6 Abs. 1 S. 1 EMRK abgeleitet.751 Es beinhaltet u. a. den Anspruch des Betroffenen, dass die vom Gesetzgeber vorgegebene Verfahrensstruktur beachtet wird, und verlangt zugleich, dass strafgerichtliche Entscheidungen nach ausreichender Sachaufklärung ergehen.752 Das Schuldprinzip ist damit auch eine Säule der Rechtskraft.753

747  Radtke, Kurzgutachten zur Stärkung des Wiederaufnahmeverfahrens für die 5. Sitzung der BMJV-Expertenkommission, http: /  / www.bmjv.de / SharedDocs / Down loads / DE / PDF / Anlage_1_StPO_Kommission.pdf?__blob=publicationFile&v=4, S. 699 ff. (zuletzt aufgerufen am 26.08.2016); Bajohr, Die Aufhebung rechtsfehlerhafter Strafurteile im Wege der Wiederaufnahme, S. 21. 748  BGH NJW 2003, 1261, 1262. 749  Peters, Fehlerquellen im Strafprozeß III, S. 2. 750  BVerfG StV 2003, 223, 224. 751  Für den Richter ist der Fairnessgrundsatz neben dem positiven Verfahrensrecht und den strafprozessualen Grundsätzen eine Auslegungshilfe, die aufgrund ihrer Ableitung aus dem Gerechtigkeitsgedanken auch im Wiederaufnahmeverfahren Geltung beansprucht, vgl. Theobald, Barrieren im strafrechtlichen Wiederauf-nahmeverfahren, S. 98. 752  BVerfG NJW 1995, 2024, 2025; BVerf NJW 1992, 2947, 2949. 753  Greco, Strafprozesstheorie und materielle Rechtskraft, S. 897. Die anderen beiden Säulen der Rechtskraft sieht Greco in der Verfahrensgerechtigkeit (Mitbewirkungsmöglichkeit des Beschuldigten als Verfahrenssubjekt) und in seinem Recht auf Rehabilitation nach Erdulden eines Verfahrens.



D. Verfassungsrechtlicher Bezug139

Die Erforschung materieller Wahrheit ist jedoch nicht nur Grundlage der Verurteilung, sondern auch der fortdauernden Vollstreckung754, wohingegen auf die materielle Wahrheit allein abzustellen dazu führen würde, dass die Rechtskraft ohne zeitliche Begrenzung jederzeit in Zweifel gezogen werden könnte.755 Dass die Herstellung materieller Einzelfallgerechtigkeit einziges Ziel des Strafverfahrens ist, darf daher bezweifelt werden.756 Auch die Herstellung von Rechtssicherheit durch Anerkennung der Rechtskraft kann Verfahrensziel sein.757 Dem steht jedoch entgegen, dass der Strafprozess zu einer andauernden Grundrechtsbeschränkung des Betroffenen führt, so dass auch nicht die durch Rechtskraft eintretende Rechtssicherheit758 alleiniges Prozessziel ist. Vermittelnd erscheint die Auffassung, dass das Ziel des Strafverfahrens eine materiell richtige, justizförmige und Rechtsfrieden schaffende Entscheidung ist.759 Tatsächlich lässt sich als einzelnes Ziel des Strafverfahrens demnach weder Gerechtigkeit noch Rechtsfriede ausmachen. Vielmehr stehen diese als gleichberechtigte Prozessziele nebeneinander.760 Bei einem fehlerfreien Urteil ergänzen sich beide Prinzipien, da die Rechtskraft den Bestand eines richtigen Urteils gewährleistet. Bei einem fehlerbehafteten Urteilsspruch treten die Regelungstendenzen jedoch in Widerspruch zueinander.761 Dies führt zu der im Folgenden noch eingehend darzustellenden verfassungsrechtlichen Antinomie zwischen den möglichen Prozesszielen des Strafverfahrens. Auf die Frage, wie es gelingen kann, Gerechtigkeit wiederherzustellen, ohne zugleich die Rechtssicherheit nachhaltig in Frage zu stellen, und ob das geltende Wiederaufnahmerecht diesen Anforderungen entspricht, wird in der weiteren Untersuchung noch eingegangen werden.

754  Eisenberg,

Beweisrecht der StPO, Rn. 432. Vor § 359 / 3. 756  Das Prozessziel der materiellen Wahrheit stellt sich dabei als die prozessuale Verlängerung des materiellen Rechts dar, vgl. Schünemann, StraFo 2015, 177, 179. 757  Dippel, GA 1972, 97, 106. 758  So aber im Ergebnis Deml, Zur Reform der Wiederaufnahme des Strafverfahrens, S. 57. 759  Wasserburg / Eschelbach, GA 2003, 335, 339; Ziemba, Die Wiederaufnahme des Verfahrens zuungunsten des Freigesprochenen oder Verurteilten, S. 152 f. 760  Ziemba, Die Wiederaufnahme des Verfahrens zuungunsten des Freigesprochenen oder Verurteilten, S. 154. 761  Deml, Zur Reform der Wiederaufnahme des Strafverfahrens, S. 43. 755  KMR-Eschelbach,

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Teil 1: Rechtliche Grundlagen zum geltenden Wiederaufnahmerecht

I. Antinomie zwischen materieller Gerechtigkeit und Rechtssicherheit Das geltende Wiederaufnahmerecht ist damit in verfassungsrechtlicher Hinsicht geprägt vom Spannungsverhältnis zweier verfassungsmäßiger Grund­sätze, die dem Rechtsstaatsprinzip des Art. 20 Abs. 3 GG entspringen: der materiellen Gerechtigkeit einerseits und der Rechtssicherheit in Form der Rechtskraft einer Entscheidung andererseits.762 Die Rechtssicherheit durch Eintritt von Rechtskraft dient dabei dem Indivualinteresse des Angeklagten, sichert jedoch auch im Interesse der Gesellschaft Rechtsfrieden durch Abschluss eines Verfahrens. Auch das Prozessziel der materiellen Gerechtigkeit ist janusköpfig: so strebt der zu Unrecht Beschuldigte nach Gerechtigkeit, ebenso wie im Falle eines ungerechtfertigten Freispruchs die Allgemeinheit eine gerechte Bestrafung verlangt. Dass der verfassungsrechtliche Kontext insgesamt eine differenzierte Betrachtung der Wiederaufnahme zugunsten bzw. zuungunsten gebietet, mithin zu einer Asymmetrie der Wiederaufnahmekonstellationen führt, wird sogleich unter 3. (S. 143 ff.) eingehend beleuchtet werden. Nur auf das Prozessziel der materiellen Gerechtigkeit abstellend wäre kein Raum für die endgültige Beendigung eines Strafverfahrens, da das Streben nach Wahrheit und Gerechtigkeit nicht ausschließen kann, dass eine gerichtliche Entscheidung trotz Rechtskraft fehlerhaft ist.763 Demgegenüber würde die isolierte Betrachtung des Prinzips der Rechtssicherheit bedeuten, dass über eine Rechtslage mit Eintritt der Rechtskraft Klarheit geschaffen wurde und diese unantastbar ist.764 Aus diesem verfassungsrechtlichen Hintergrund lässt sich bereits ableiten, dass die Wiederaufnahme eines Verfahrens, insbesondere im Hinblick auf die Rechtssicherheit, enger gefasst ist als die ordentlichen Rechtsmittel, weil sie erst nach Eintritt der Rechtskraft statthaft ist. Mit der Wiederaufnahme wird die Rechtskrafthürde erst überwunden, wenn im Rahmen eines vorgeschalteten Prüfungsverfahrens zweifelhaft ist, ob der Tatrichter von den getroffenen Feststellungen überzeugt sein durfte.765

762  BVerfG MDR 1975, 468, 469; BVerfG NJW 2007, 207, 208; BVerfG NJW 1968, 147, 149. LR-Gössel, Vor § 359 / 11. Diesen Maßstab ziehen Eschelbach / Geipel / Hettinger / Meller / Wille, GA 2018, 238, 242 in Zweifel. 763  Deml, Zur Reform der Wiederaufnahme des Strafverfahrens, S. 41. 764  Deml, Zur Reform der Wiederaufnahme des Strafverfahrens, S. 41. 765  Rieß, NStZ 1994, 153, 157.



D. Verfassungsrechtlicher Bezug141

1. Bedeutung der Rechtskraft Das geltende Strafprozessrecht sorgt mit der Rechtskraft einer Entscheidung dafür, dass ein Strafverfahren – wie jedes andere Verfahren – einmal zu Ende geht. Rechtskraft bedeutet dabei, dass die systemimmanenten Kontrollmöglichkeiten der ordentlichen Rechtsmittel im Interesse der Rechtssicherheit, des Rechtsfriedens und letztlich auch aus prozessökonomischen Gründen ein Ende finden.766 Durch die grundsätzliche Unabänderlichkeit einer Entscheidung und ihrer Vollstreckung kann die prozessuale Tat auch nicht mehr Gegenstand eines Strafverfahrens werden. Der Betroffene wird vor wiederholter Strafverfolgung geschützt, Art. 103 Abs. 3 GG.767 Für die Strafverfolgungsorgane bedeutet die Rechtskraft einer Entscheidung, dass sie sich neuen Verfahren zuwenden können und ihren Ermittlungsapparat nicht länger einem abgeschlossenen Verfahren widmen müssen.768 Dem soll Art. 19 Abs. 4 GG, die Rechtsschutzgarantie, nicht engegenstehen. Diese garantiert nach h. M. nur den Anspruch auf eine vollständige Nachprüfung einer gerichtlichen Entscheidung in tatsächlicher und recht­ licher Hinsicht769, eröffnet aber keinen Instanzenzug770. Ist ein Rechtsmittel aber statthaft, verpflichten Art. 19 Abs. 4 GG und Art. 13 EMRK die Rechtsmittelgerichte zur wirksamen gerichtlichen Kontrolle.771 Insbesondere darf der Anspruch auf effektiven Rechtsschutz nicht dazu führen, dass Gerichte den Zugang zum Instanzenzug in unzumutbarer Weise erschweren.772 2. Bedeutung der Rechtskraft im geltenden Wiederaufnahmerecht Das Strafverfahren hat aufgrund des Schuld- und Strafausspruchs Eingriffsqualität. Hier muss eine gerichtliche Entscheidung, ausgehend vom Prozessziel der Erforschung materieller Wahrheit und anders als im Zivilpro766  Rieß, NStZ 1994, 153, 157. Das Risiko einer fehlerhaften rechtskräftigen Entscheidung ist dabei durch die Gestaltung des Verfahrensablaufs im Ermittlungs- und Zwischenverfahren, durch die öffentliche Hauptverhandlung, das Rechtsmittelrecht und die Verpflichtung der Judikative zu Objektivität und Wahrheitssuche aus Sicht des Gesetzgebers wohl vertretbar, vgl. Peters, Fehlerquellen im Strafprozeß III, S. 1. 767  Peters, Fehlerquellen im Strafprozeß III, S. 1. 768  Peters, Fehlerquellen im Strafprozeß III, S. 1. 769  Jarass / Pieroth Art. 19 GG / 56. A. A. OLG Nürnberg NJW 2013, 2692, 2694, nach dem Art. 19 Abs. 4 GG auch im Wiederaufnahmeverfahren eine Garantie auf Rechtsschutz gewähre. 770  BVerfGE 107, 395, 402. 771  KMR-Eschelbach, § 365 / 55. 772  BVerfG, Beschluss vom 02.03.2014, Az. 2 BvR 53 / 13, in: BeckRS 2014, 49415.

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zess, der auf die Rechtskraft einer Entscheidung zielt, auch nach Eintritt der Rechtskraft und demnach ohne zeitliche Begrenzung nachträglich in Frage gestellt werden können. Nur dann, wenn die Schuld des Verurteilten den Eingriff anhaltend legitimiert, erscheint die Strafvollstreckung und die damit einhergehende Belastung des Verurteilten gerechtfertigt.773 Das Schuldprinzip ist damit neben der Prozesssubjektstellung des Betroffenen und seinem Anspruch auf Rehabilitation eine tragende Säule der Rechtskraft. Während die günstige Wiederaufnahme ihre Rechtfertigung in dem Wegfall der die Rechtskraft stützenden Säulen der Schuld oder der Verfahrensgerechtigkeit findet, liegt diese für die ungünstige Wiederaufnahme im Wegfall des Rehabilitierungsanspruchs des Betroffenen.774 Rechtskraft und Wiederaufnahme stehen sich demgemäß spiegelbildlich gegenüber: sind die Feststellungen, auf denen die Rechtskraft beruht, nicht mehr haltbar, bedarf es der Korrektur im Wege der Wiederaufnahme.775 Der Gesetzgeber hat bereits durch die Ausgestaltung des Wiederaufnahmeverfahrens und den Anforderungen an die Wiederaufnahme den Schutz der Rechtskraft berücksichtigt.776 Er hat hier selbst die Abwägung zwischen Gerechtigkeit und Rechtssicherheit vorgenommen.777 Mit dem Rechtsinstitut der Wiederaufnahme wird um des Grundsatzes der materiellen Gerechtigkeit willen die Rechtssicherheit durchbrochen, wobei zum Schutz der Rechts­ sicherheit die Rechtskraftdurchbrechnung nur bei Vorliegen besonderer, eng begrenzter Ausnahmetatbestände möglich ist.778 Eine darüber hinausgehende restriktive Handhabung der Wiederaufnahmevorschriften unter Berufung auf das Institut der Rechtskraft wäre daher verfehlt.779 Zwar sind (insbesondere im Rahmen des § 359 Nr. 5 StPO780) die vom Antragsteller vorgebrachten neuen Tatsachen und Beweismittel kritisch zu prüfen, um einer missbräuchlichen Ausuferung des Rechtsbehelfs entgegenzuwirken. Nichtsdestotrotz darf eine kritische Prüfung jedenfalls im Zusammenhang mit der günstigen 773  KMR-Eschelbach, Vor § 359 / 3; Eschelbach / Geipel / Hettinger / Meller / Wille, GA 2018, 238, 242. 774  Greco, Strafprozesstheorie und materielle Rechtskraft, S. 897. 775  Greco, Strafprozesstheorie und materielle Rechtskraft, S. 865. 776  Greco bezeichnet das geltende Wiederaufnahmerecht als „Manifestation einer (…) Haltung des Respekts vor der Autorität der Rechtskraft“, vgl. Greco, Strafprozesstheorie und materielle Rechtskraft, S. 870. 777  Lampe, GA 1968, 33, 47; KMR-Eschelbach, Vor § 359 / 4. 778  BVerfG NJW 1968, 147, 149; KMR-Eschelbach, Vor § 359 / 4. 779  Peters, Fehlerquellen im Strafprozeß III, S. 16. 780  Auf den 99 % der Wiederaufnahmeanträge gestützt werden, vgl. Strate, Der Verteidiger in der Wiederaufnahme, http: /  / www.strate.net / de / publikationen / verteidi ger_in_der_wiederaufnahme.html (zuletzt aufgerufen am 13.05.14).



D. Verfassungsrechtlicher Bezug143

Wiederaufnahme nicht dazu führen, dass an unliebsame Begehren überzogene Anforderungen gestellt werden und dadurch die materielle Wahrheit auf der Strecke bleibt. 3. Verfassungsrechtlicher Rahmen und Asymmetrie der Wiederaufnahmekonstellationen Tatsächlich widerstrebt es dem Gesetz, „wenn der Gesichtspunkt der Rechtskraft überbetont und das Wiederaufnahmeverfahren durch Betonung des Ausnahmecharakters auf ein Abstellgleis geschoben wird.“781 Das muss jedenfalls für solche gerichtlichen Entscheidungen gelten, denen ein nicht nur unerheblicher Fehler zu Lasten des Verurteilten im Nachhinein leicht nachzuweisen ist.782 Dies gilt umso mehr im Fall einer Freiheitsentziehung. Das Bundesverfassungsgericht führt hierzu aus: „Denn es ist unverzichtbare Voraussetzung rechtsstaatlichen Verfahrens, daß Entscheidungen, die den Entzug der persönlichen Freiheit betreffen, auf zureichender richterlicher Sachaufklärung beruhen (…) und eine in tatsächlicher Hinsicht genügende Grundlage haben, die der Bedeutung der Freiheitsgarantie entsprechen (…). Das folgt letztlich aus der Idee der Gerechtigkeit, die wesentlicher Bestandteil des Grundsatzes der Rechtsstaatlichkeit ist (…) und an der sich jedwede Rechtspflege messen lassen muß.“783

Anders ist dies freilich bei der ungünstigen Wiederaufnahme, da hier neben der Rechtssicherheit auch das in Art. 103 Abs. 3 GG niedergelegte Verbot der Doppelbestrafung gilt, das seinerseits v. a. individualschützenden Charakter hat.784 Der Schutz vor erneuter Strafverfolgung gebietet eine restriktive Anwendung der ungünstigen Wiederaufnahme.785 Die Vorschriften über die ungünstige Wiederaufnahme, die empfindlich in das Rehabilitationsrecht des Beschuldigten eingreifen, sind daher auch nicht analogiefähig.786 Auch darf nicht verkannt werden, dass es grundsätzlich die Aufgabe und Pflicht des Staates ist, im Zuge des Ausgangsverfahrens alles zu unterneh781  Peters,

Fehlerquellen im Strafprozeß III, S. 32. R&P 2016, 58, 60 f. 783  BVerfGE 70, 297, 308. 784  Keinen Unterschied zwischen den beiden Wiederaufnahmekonstellationen nimmt Theobald an, der damit jedoch das verfassungsrechtlich gebotene Stufenverhältnis verkennt. Vgl. Theobald, Barrieren im strafrechtlichen Wiederaufnahmeverfahren, S. 84. Radtke, Kurzgutachten zur Stärkung des Wiederaufnahmeverfahrens für die 5. Sitzung der BMJV-Expertenkommission, http: /  / www.bmjv.de / SharedDocs /  Downloads / DE / PDF / Anlage_1_StPO_Kommission.pdf?__blob=publicationFile&v=4, S. 699 ff. (zuletzt aufgerufen am 26.08.2016). 785  SSW-Kaspar, § 362 / 1; AK-Loos, § 362 / 2. 786  Greco, Strafprozesstheorie und materielle Rechtskraft, S. 863. 782  Kaspar / Arnemann,

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Teil 1: Rechtliche Grundlagen zum geltenden Wiederaufnahmerecht

men, um eine Straftat aufzuklären. Der Staat hat hierfür weit mehr und effektivere Mittel als der Betroffene.787 Andernfalls würde die Möglichkeit einer erneuten Strafverfolgung für den Betroffenen stets zu Unsicherheit führen und ihn mit einem unkalkulierbaren Risiko belasten.788 Bereits aufgrund dieses unterschiedlichen Kräfteverhältnisses erscheint es daher sachgerecht, die ungünstige Wiederaufnahme nur eingeschränkt zuzulassen. Dass im Übrigen zur Beseitigung eines freisprechenden Urteils gewichtige Gründe vorliegen müssen, ergibt sich schon daraus, dass ein verurteilendes Fehlurteil bereits beim Vorliegen von Zweifeln anzunehmen ist, bei einem Freispruch hingegen ein Fehlurteil unter Anwendung des Zweifelsgrundsatzes bis zur Gewissheit des Gegenteils der Gerechtigkeit entspricht.789 So zeigt sich, dass sich im Falle eines Fehlurteils die Rechtssicherheit qua Rechtskraft und die Gerechtigkeit contra Rechtskraft unversöhnlich gegenüberstehen, obwohl beide dem übergeordneten Rechtsfrieden dienen. Das Streben nach Rechtsfrieden rechtfertigt eben unter Gerechtigkeitserwägungen weder, an falschen Sachentscheidungen festzuhalten, noch aus Gründen der Rechtssicherheit die Beständigkeit einer richterlichen Entscheidung vorschnell in Frage zu stellen. Wird ein tatsächlich Schuldiger freigesprochen, werden dessen Grundrechte nicht tangiert. Allenfalls das Vertrauen in die Rechtsordnung wird erschüttert, was im Hinblick auf die Freiheitsgrundrechte des Einzelnen jedoch hinzunehmen ist.790 Im Hinblick auf das Verfassungsrecht sind folglich die Belange des Grundrechtsschutzes (bei der Verurteilung eines Unschuldigen etwa der Eingriff in das Freiheitsgrundrecht aus Art. 2 Abs. 2 GG, das dem Betroffenen eine Abwehrfunktion garantiert) und die hinter dem Rechtsinstitut der Rechtskraft stehenden öffentlichen Interessen, im Sinne einer praktischen Konkordanz zu einem schonenden Ausgleich zu bringen. Im Fall der ungünstigen Wiederaufnahme fällt diese im Zweifel für die Rechtskraft der Entscheidung aus, im Falle der günstigen Wiederaufnahme hingegen für die Wiederaufnahme des Verfahrens. Letzteres folgt aus der grundrechtlichen Abwehrfunktion, weshalb bei Eingriffen in Freiheitsgrundrechte des Betroffenen der Wiederaufnahme des Verfahrens der Vorrang gegenüber dem Rechtsinstitut der Rechtskraft, dem öffentliche Interessen zugrunde liegen, zuzusprechen ist.791 In die Abwägung 787  J. Meyer,

Wiederaufnahmereform, S. 50 f., 70. anderes gilt freilich dann, wenn der Betroffene ein Geständnis ablegt. In diesem Fall erscheint er als nicht schutzwürdig. 789  Peters, Fehlerquellen im Strafprozeß III, S. 103. 790  So auch Greco, Strafprozesstheorie und materielle Rechtskraft, S. 879. 791  SSW-Kaspar, Vor § 359 / 9 ff. 788  Etwas



D. Verfassungsrechtlicher Bezug145

sind insbesondere auch Schwere und Offensichtlichkeit eines Fehlers einzubeziehen.792 Bei der ungünstigen Wiederaufnahme verhält sich die Situation insoweit wiederum anders, fällt die Abwägung im Zweifel nicht zuungunsten des Betroffenen aus, als hier mangels Eingriffs in ein unmittelbares Grundrecht, die Abwehrfunktion der Grundrechte nicht relevant wird, wenn ein tatsächlich Schuldiger freigsprochen wurde.793 Zwar wird das Vertrauen der Allgemeinheit in die Rechtsordnung erschüttert, jedoch ermöglicht der Gesetzgeber mit der Regelung des § 362 StPO, die Rechtskraft zur Durchsetzung präventiver Strafzwecke nur in engen Grenzen zu durchbrechen. Dass der Gesetzgeber eine Durchbrechung der Rechtskraft mittels einer freisprechenden Entscheidung im engen Rahmen des § 362 StPO grundsätzlich zulässt, ist – wie bereits dargestellt794 – nicht zu beanstanden. Dies ist, neben präventiven Strafzwecken, auch im Hinblick auf das Vertrauen der Allgemeinheit in die Strafrechtspflege legitim.795 Der Staat ist von Verfassungs wegen indes nicht zur Durchsetzung präventiver Strafzwecke – wie Art. 103 Abs. 3 GG oder das Rechtsinstitut der Verjährung zeigen – oder zur Bestrafung eines bereits verfolgten, aber nicht bestraften Täters verpflichtet.796 Zugleich ist zu erwarten, dass die Strafverfolgungsorgane umso sorgfältiger und umfassender ermitteln, wenn die ungünstige Wiederaufnahme lediglich in engen Grenzen zulässig ist.797 Das verfassungsrechtliche Spannungsfeld berührt demnach sowohl die günstige als auch die ungünstige Wiederaufnahme. Fehlentscheidungen sind – in die eine wie in die andere Richtung – ungerecht. Nichtsdestotrotz können die beiden Wiederaufnahmekonstellationen nicht gleichgestellt werden.798 Art. 103 Abs. 3 GG gewährt ein grundrechtsgleiches Abwehrrecht gegen staatliche Eingriffe durch Strafverfolgung, das bei § 359 StPO u. a. wegen des Verschlechterungsverbots des § 373 Abs. 2 S. 1 StPO nicht relevant wird. So erklärt sich die Inkongrenz der Wiederaufnahmekonstellationen.799 Zwischen der günstigen und ungünstigen Wiederaufnahme besteht demnach ein Stufenverhältnis, das sich aus der verfassungsrechtlichen Asymme792  SSW-Kaspar,

Vor § 359 / 11. R&P 2016, 58, 61.

793  Kaspar / Arnemann, 794  s. o.

S.  85.

795  SSW-Kaspar,

Vor § 359 / 17. Vor § 359 / 18. 797  Diesen Gedanken lehnt Greco, Strafprozesstheorie und materielle Rechtskraft, S. 965, ab. 798  Grünewald, ZStW 120 (2008), 545, 548 f. 799  KMR-Eschelbach, § 362 / 3. 796  SSW-Kaspar,

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Teil 1: Rechtliche Grundlagen zum geltenden Wiederaufnahmerecht

trie ergibt. Dieses führt im Ergebnis dazu, dass Wiederaufnahmen zugunsten von Verurteilten großzügiger zu handhaben und die Wiederaufnahmegründe des § 359 StPO folglich extensiv anzuwenden sind, um den Schutz grundrechtlich geschützter Positionen zu gewährleisten. Die ungünstige Wiederaufnahme hingegen muss zum Schutz grundrechtlicher Positionen restriktive Anwendung erfahren.800 Der verfassungsrechtliche Rahmen erklärt auch, dass sich bereits de lege lata die beiden Wiederaufnahmekonstellationen in ihrer Reichweite unterscheiden.801 Im Zuge der geführten Reformdiskussionen legt die verfassungsrechtliche Betrachtung dem Gesetzgeber eine Ausweitung der günstigen Wiederaufnahme nahe. Soweit bereits das BVerfG802 in Erwägung gezogen hat, auch der Gesetzgeber selbst dürfe die gesetzlichen Wiederaufnahmegründe nicht beliebig ausdehnen, ist dem nur im Hinblick auf die ungünstige Wiederaufnahme zuzustimmen.803 4. Vorrang der materiellen Gerechtigkeit Im Falle eines rechtskräftigen Fehlurteils steht dem Rechtskraftprinzip – wie gesehen – das zumindest gleichbedeutende Ziel804 eines jeden Strafprozesses diametral entgegen: die Suche nach der materiellen Wahrheit805 in einem gerechten Verfahren.806 Das Bundesverfassungsgericht führt hierzu aus: „Zentrales Anliegen des Strafprozesses ist die Ermittlung des wahren Sachverhalts, ohne den das materielle Schuldprinzip sich nicht verwirklichen lässt.“807

800  A. A. Marxen / Tiemann, Die Wiederaufnahme in Strafsachen, Rn. 136, die aus der gebotenen restriktiven Handhabung der ungünstigen Wiederaufnahmevorschriften und des z. T. identischen Wortlauts der §§ 359 und 362 StPO auch die Vorschrift des § 359 StPO restriktiv verstehen. 801  Kaspar / Arnemann, R&P 2016, 58, 60. 802  BVerfGE 2, 380, 403. 803  SSW-Kaspar, Vor § 359 / 22. 804  Zum Teil wird die Suche nach der materiellen Wahrheit als oberstes Ziel des Verfahrens betrachtet: BGH NJW 1956, 1646, 1647; Alsberg, Justizirrtum und Wiederaufnahme, S. 85; Geipel, in: Miebach / Hohmann, Wiederaufnahme in Strafsachen, Teil A, Rz. 9; KMR-Eschelbach, Vor § 359 / 5. Brinkmann erachtet die Wiederherstellung und den Erhalt des Rechtsfriedens als Ziel des Strafprozesses, vgl. Brinkmann, Zum Anwendungsbereich der §§ 359 ff. StPO, S. 72 f. 805  Wobei sich der Gesetzgeber mit §§ 261, 264 Abs. 1 StPO für die dem erkennenden Richter mögliche Wahrheitserkenntnis als Verfahrensziel beschränkt hat, vgl. LR-Gössel, Vor § 359 / 6. 806  KK-Hannich, Vorbemerkungen zu § 359 / 1 und Brinkmann, Zum Anwendungsbereich der §§ 359 ff. StPO, S. 19. 807  BVerfG NJW 2007, 2977, 2979.



D. Verfassungsrechtlicher Bezug147

Dass das Gebot der Wahrheitserforschung auch im Wiederaufnahmeverfahren gilt, hat das Bundesverfassungsgericht nochmals an anderer Stelle betont: „Ungeachtet des Streits um Geltung und Umfang der Offizialmaxime im Proba­ tionsverfahren (…) ergibt sich aus dem Recht auf ein faires, rechtsstaatliches Verfahren, daß auch für die außerhalb des prozessualen Hauptverfahrens zu treffenden Entscheidungen die Ermittlung des wahren Sachverhalts von zentraler Bedeutung bleibt, weil sonst das materielle Schuldprinzip nicht verwirklicht werden kann (…).“808

Dabei ist zu bedenken, dass die Ermittlung der objektiven Wahrheit in einem Strafverfahren unmöglich ist. Die im Prozess ermittelte Wahrheit ist stets nur eine subjektive Gewissheit der urteilenden Personen über die Wahrheit.809 Kann die objektive Wahrheit nicht zwingend erreicht werden, ist Ziel des Strafprozesses jedenfalls die Suche nach einer prozessual gerechten Entscheidung im Einzelfall. Dafür ist wiederum unabdingbare Voraussetzung, dass die prozessuale Tat zutreffend ermittelt wurde. Die zutreffende Ermittlung des Sachverhalts ist nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgericht aufgrund des mate­ riellen Schuldprinzips auch Voraussetzung für die Gewährleistung materieller Gerechtigkeit.810 Dies bedeutet, dass materielle Gerechtigkeit nicht durch prozessuale Gerechtigkeit erreicht werden kann, wenngleich prozessuale Gerechtigkeit im Sinne eines fairen Verfahrens ihrerseits Voraussetzung für ein gerechtes Urteil ist. Im Gegensatz zum Fehlurteil zeichnet sich ein fehlerfreies Urteil dadurch aus, dass es materiell richtig auf prozessual korrektem Weg gefällt ist. Materielle Gerechtigkeit ist wiederum nur dann gewährleistet, wenn auch rechtskräftige, fehlerhafte Entscheidungen korrigiert werden können. Zum Teil wird vertreten, dass der Grundsatz ne bis in idem, Art. 103 Abs. 3 GG, und damit das Prinzip der Rechtskraft gegenüber der materiellen Wahrheit 808  BVerfG

StV 2003, 223, 224. Vorbemerkungen zu § 359 / 1; Brinkmann, Zum Anwendungsbereich der §§ 359 ff. StPO, S. 19. Dem Grundverfahren liegen dabei für die Gewinnung der Entscheidungsgrundlagen die Maxime der Mündlichkeit und Unmittelbarkeit des Verfahrens ebenso wie die Freiheit der richterlichen Beweiswürdigung zugrunde. Diese Maximen führen im Grundverfahren dazu, dass die tatsächlichen Urteilsfeststellungen aufgrund der tatrichterlichen Überzeugung personengebunden und damit nicht vollständig reproduzierbar, möglicherweise also auch nicht vollständig nachvollziehbar sind. Zugleich können Beweisergebnisse aufgrund der Unmittelbarkeit und Mündlichkeit der Hauptverhandlung – jedenfalls nach der geltenden Rechtslage – nicht erschöpfend konserviert werden, vgl. Rieß, Möglichkeiten und Grenzen einer Reform des Rechts der Wiederaufnahme im Strafverfahren, in: NStZ 1994, 153, 155. 810  BVerfG NJW 2007, 2977, 2979. 809  KK-Hannich,

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Teil 1: Rechtliche Grundlagen zum geltenden Wiederaufnahmerecht

bei Vorliegen eines Fehlers, der sich für den Betroffenen günstig auswirkte, per se vorrangig sei.811 Diese Ansicht findet jedoch im Gesetz keine Stütze. Vielmehr sind – wie bereits ausgeführt – die beiden verfassungsrechtlichen Ausprägungen des Rechtsstaatsprinzips als kollidierendes Verfassungsrecht im Sinne einer praktischen Konkordanz gegeneinander abzuwägen.812 Alsberg beschreibt das Spannungsverhältnis zwischen diesen beiden Grundidealen zutreffend so, dass sich das Rechtskraftprinzip und das Prinzip der materiellen Wahrheit gegenseitig Grenzen setzen.813 Während bei den Rechtsmitteln der Berufung und Revision, neben dem Streben nach materieller Wahrheit, insbesondere das Prinzip der Rechtssicherheit dominiert, steht im Vordergrund des Wiederaufnahmerechts eben jenes Streben nach materieller Wahrheit.814 Nicht zuletzt aus dem Verständnis, dass das Strafrecht ultima ratio ist, ergibt sich wie oben auf S. 143 ff. dargestellt, dass im Zweifelsfall dem Grundsatz der materiellen Wahrheit bei der Auslegung der günstigen Wiederaufnahmevorschriften Vorrang gegenüber der Rechtssicherheit einzuräumen ist. Denn „es gehört zum Kern der Gerechtigkeit, dass die materielle Wahrheit wichtiger sein kann und sein muss als das Prinzip der Rechtskraft.“815 In die verfassungsrechtlich gebotene Abwägung mit einzustellen sind auch das Interesse an der Bewährung der Rechtsordnung, ebenso wie der dem Strafrecht zugrunde liegende Gedanke des Schutzes der Rechtsgüter des Einzelnen.816 Den Konflikt zum Gebot der Rechtssicherheit hat der Gesetzgeber dadurch zu lösen versucht, dass er die Wiederaufnahmegründe auf wenige Ausnahmefälle beschränkt und – anders als bei den Rechtsmitteln – ein Angriff auf das Urteil nur dann zulässt, wenn die Urteilsbasis im Sinne der zugrunde gelegten Beweisgrundlagen angegriffen wird.817 Ein Angriff im Wege der Wiederaufnahme ist demnach nur dann möglich, wenn die tatsächlichen Urteilsgrundlagen unzutreffend festgestellt wurden, mithin der dem Urteil zugrunde gelegte Sachverhalt unrichtig ist oder die Entscheidung auf fehlerhaften Beweisgrundlagen basiert.818 Das dargestellte Spannungsverhältnis hat der Gesetzgeber demnach dem Konkordanzgedanken entsprechend reguliert, indem er dem Schutz der 811  Gössel,

NStZ 1993, 565, 566. NStZ 1993, 565, 566; Peters, Fehlerquellen im Strafprozeß III, S. 33. 813  Alsberg, Justizirrtum und Wiederaufnahme, S. 85. 814  Eisenberg, JR 2007, 360. 815  Prantl, StraFo 2015, 221. 816  Hanack / Gerlach / Wahle, Denkschrift zur Reform des Rechtsmittelrechts und der Wiederaufnahme, S. 76. 817  Peters, Fehlerquellen im Strafprozeß III, S. 63. 818  Gorka, in: Miebach / Hohmann, Wiederaufnahme in Strafsachen, Teil D, Rz. 23. 812  Gössel,



D. Verfassungsrechtlicher Bezug149

Rechtskraft dienend im Aditionsverfahren eine generelle Eignungsprüfung normiert hat, wohingegen die normierten Wiederaufnahmegründe der Suche nach der materiellen Wahrheit dienen.819 Betrachtet man die verfassungsrechtliche Antinomie aus der Perspektive des von beiden Grundsätzen angestrebten Ziels des Rechtsfriedens, ist im Zusammenhang mit der günstigen Wiederaufnahme – wie gesehen – im Zweifel der Gerechtigkeit der Vorrang vor der Rechtssicherheit zu gewähren.820 Rechtsfrieden kann nicht entstehen, solange eine ungerechte Entscheidung unter Berufung auf das Institut der Rechtssicherheit aufrechterhalten bleibt. Das Prinzip der Rechtssicherheit schafft formelles Recht, das im Strafverfahren, in dem die materielle Wahrheit zu suchen ist, nicht ohne Weiteres akzeptiert werden kann.821 Die Rechtssicherheit, die dem Interesse der Allgemeinheit dient, kann eine Bestrafung eines Unschuldigen nicht legitimieren.822 Da die Rechtssicherheit dem Grunde nach darauf abzielt, eine fehlerlose gerichtliche Entscheidung in ihrem Bestand zu sichern und damit der Rechtsbewährung im Sinne der Gerechtigkeit dient, entfällt diese schützende Funktion im Falle einer der materiellen Gerechtigkeit widersprechenden gerichtlichen Entscheidung.823 Zudem ist zu sehen, dass die Rechtssicherheit durch Rechtskraft nicht nur dem Rechtsfrieden dient, sondern auch dem Schutz des Beschuldigten.824 Hinzu kommt, dass nach dem geltenden Verfahrensrecht nur der Urteilsspruch, nicht aber die Urteilsgründe in Rechtskraft erwachsen. Die Feststellungen eines Urteils entfalten keine Bindungswirkung,825 allein der in Rechtskraft erwachsene Tenor einer fehlerhaften Entscheidung kann jedoch nicht ihrer Korrektur entgegengehalten werden. Bereits dieser verfassungsrechtliche Hintergrund muss im Ergebnis dazu führen, dass der Gesetzgeber für die günstige Wiederaufnahme die Gerichte durch Reformierung der lex lata dazu zwingt, ihre psychologischen Barrieren durch eine ungerechtfertigte Überbewertung der Rechtskraft aufzugeben. De lege lata ist im Zusammenhang mit der günstigen Wiederaufnahme demnach wiederaufnahmefreundlich zu agieren.826

819  Schöneborn,

MDR 1975, 441, 442. vor § 359 / 3. A. A. Greco, Strafprozesstheorie und materielle Rechtskraft, S. 872 f., der im Regelfall der Rechtssicherheit den Vorrang einräumen möchte. 821  Wasserburg, Die Wiederaufnahme des Strafverfahrens, S. 7. 822  Greco, Strafprozesstheorie und materielle Rechtskraft, S. 873. 823  Theobald, Barrieren des strafrechtlichen Wiederaufnahmeverfahrens, S. 58 f. 824  Theobald, Barrieren des strafrechtlichen Wiederaufnahmeverfahrens, S. 62. 825  BGHSt 30, 377, 383; BGHZ 13, 265, 279. 826  Geipel, in: Miebach / Hohmann, Wiederaufnahme in Strafsachen, Teil A, Rz. 21. 820  AK-Loos,

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Teil 1: Rechtliche Grundlagen zum geltenden Wiederaufnahmerecht

5. Vorrang materieller Gerechtigkeit auch wegen des Schuldgrundsatzes Das zentrale Anliegen des Strafprozesses ist also die Ermittlung des wahren Sachverhalts.827 Dies gebietet auch der sich aus Art. 20 Abs. 3 GG i. V. m. Art. 1 Abs. 1 GG ergebende Schuldgrundsatz828, der neben dem Gebot der materiellen Gerechtigkeit mit dem Prinzip der Rechtssicherheit kollidiert. Der Anspruch des Betroffenen, bei fehlender Schuld die Korrektur einer Entscheidung anzustreben zu können, legitimiert mithin die günstige Wiederaufnahme und begründet den Verlust der Rechtskraft der in Frage stehenden Entscheidung.829 Die Erhebung eines strafrechtlichen Vorwurfs, gar die Verhängung einer Strafe, setzt Vorwerfbarkeit im Sinne einer strafrechtlichen Schuld voraus.830 Folgt aus der wichtigsten Werteentscheidung des Grundgesetzes, dem Menschenwürdegrundsatz des Art. 1 Abs. 1 GG, dass gemäß dem Schuldgrundsatz nur derjenige bestraft werden darf, der die Tat schuldhaft begangen hat, muss die vorzunehmende Abwägung zwischen den betroffenen verfassungsrechtlichen Grundsätzen bei den Vorschriften der günstigen Wiederaufnahme auch deshalb wiederaufnahmefreundlich im Sinne der materiellen Gerechtigkeit ausfallen, wenn im Nachhinein belastbare Zweifel an der Schuld des Verurteilten aufkommen.831 6. Bedeutung der verfassungsrechtlichen Antinomie für die Praxis Das Sich-Berufen auf die Rechtskraft einer Entscheidung ist bisweilen das Argument, das Gerichte günstigen Wiederaufnahmebegehren kritisch entgegenhalten. Eine Abwägung zwischen den verfassungsrechtlich berührten Prinzipien findet dabei kaum statt.832 Die Praxis ist nach Auffassung Strates 827  Geipel, in: Miebach / Hohmann, Wiederaufnahme in Strafsachen, Teil  A, Rz.  18 ff. 828  Greco, Strafprozesstheorie und materielle Rechtskraft, S. 899. Der Schuldgrundsatz, der seine einfachgesetzliche Ausprägung in § 46 Abs. 1 S. 1 StGB findet, wurde ursprünglich ebenfalls aus dem Rechtsstaatsprinzip des Art. 20 Abs. 3 GG abgeleitet. Inzwischen folgt der Schuldgrundsatz jedoch aus den sich aus Art. 1 Abs. 1 und Art. 2 Abs. 1 GG ergebenden Grundrechten auf Würde und Eigenverantwortlichkeit des Menschen, so BVerfGE 45, 187, 259 f. und BVerfGE 80, 244, 255. 829  Greco, Strafprozesstheorie und materielle Rechtskraft, S. 898 f. 830  BVerfGE 20, 323, 331. 831  Geipel, in: Miebach / Hohmann, Wiederaufnahme in Strafsachen, Teil A, Rz. 21. 832  MAH Strafverteidigung-Strate, § 27 / 2.



D. Verfassungsrechtlicher Bezug151

von einer „völlig überzogenen Apotheose der Rechtskraft“ gekennzeichnet.833 Das Wiederaufnahmerecht wird deshalb in der Rechtswirklichkeit als Ausnahme834 verstanden, die Rechtskraft einer Entscheidung zu passieren. Aus dem Gesetz selbst lässt sich ein derartiger Ausnahmecharakter des Wiederaufnahmerechts nicht ableiten. Auch, dass der Gesetzgeber die Vorschriften über die Wiederaufnahme eines Verfahrens getrennt von den ordentlichen Rechtsbehelfen der Berufung oder Revision in die StPO eingeordnet hat, spricht nicht dafür, dass eine Wiederaufnahme nur ausnahmsweise möglich sein soll. Während sich Rechtsmittel gegen noch nicht rechtskräftige Entscheidungen richten, greift die Wiederaufnahme erst nach Rechtskraft. Ein qualitativer Unterschied lässt sich durch die differenzierte systematische Stellung in der StPO demnach nicht ableiten.835 Bis zu einer gesetzlichen Neuregelung sind die Wiederaufnahmegerichte angesichts des verfassungsrechtlichen Hintergrundes gehalten, die Wiederaufnahmeregelungen entsprechend auszulegen. Diese Auslegung muss bei den Vorschriften der Wiederaufnahme zugunsten des Verurteilten im Zweifel zu dessen Gunsten ausfallen. Die Vorschriften dürfen mithin nicht zu restriktiv ausgelegt werden. Andernfalls wäre der Rechtsschutzbedürftige in seinen Prozessgrundrechten tangiert. Anders muss dies wiederum für die Regelungen der ungünstigen Wiederaufnahme sein.836

II. Wiederaufnahme als Rechtsschutzmöglichkeit gem. Art. 19 Abs. 4 GG Welche Prozessgrundrechte den Anspruch auf die günstige Wiederaufnahme absichern, soll daher im Folgenden nochmals näher betrachtet werden. In Betracht kommt das Grundrecht des Verurteilten auf effektiven Rechtsschutz, 833  MAH

Strafverteidigung-Strate, § 27 / 2. etwa das LG Regensburg im Fall Mollath, vgl. LG Regensburg, Beschluss vom 24.07.2013, 7 KLs 151 Js 4111 / 13 WA, 7 KLS 151 Js 22423 / 12 WA, in: BeckRS 2013, 12543. Peters geht davon aus, dass die Wiederaufnahme als Ausnahme verstanden wird, da sie zahlenmäßig selten ist. Er führt jedoch zugleich an, dass die Seltenheit des Verfahrens keinen Rückschluss auf den Ausnahmecharakter der zugrunde liegenden Bestimmungen zulässt, vgl. Peters, Fehlerquellen im Strafprozeß III, S. 4. Vor einem Ausnahmeverständnis warnt auch Greco, Strafprozesstheorie und materielle Rechtskraft, S. 897. 835  Peters, Fehlerquellen im Strafprozeß III, S. 3 f. In den Entwürfen einer StPO von 1909 und 1937 wurde bereits angeregt, die Rechtsmittel und die Vorschriften zur Wiederaufnahme eines Verfahrens unter eine gemeinsame Überschrift in die StPO aufzunehmen, vgl. Peters, Fehlerquellen im Strafprozeß III, S. 3. 836  s. hierzu eingehend oben S. 143 ff. 834  So

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Teil 1: Rechtliche Grundlagen zum geltenden Wiederaufnahmerecht

abgeleitet aus Art. 2 Abs. 1 GG i. V. m. Art. 20 Abs. 3 GG837 bzw. der Rechtsschutzanspruch gegen Akte der öffentlichen Gewalt aus Art. 19 Abs. 4 GG. Einen Grundrechtseingriff, gegen den Art. 19 Abs. 4 GG Rechtsschutz gebietet, stellt auch eine strafgerichtliche Entscheidung dar, die einen Schuldund Strafausspruch beinhaltet.838 Art. 19 Abs. 4 GG soll jedoch nur Rechtsschutz durch den Richter und nicht gegen ihn gewähren.839 Da die Rechtsprechung nicht der öffentlichen Gewalt zuzurechnen sei, ist ein Rechtsweg gegen Gerichtsentscheidungen nicht eröffnet.840 Bezogen auf den Strafprozess geht man davon aus, dass es keinen Anspruch auf Rechtsbehelfe gegen ein Strafurteil gibt, so dass auch keine Rechtsbehelfe verfassungsrechtlich garantiert werden.841 Dieses Verständnis soll einen Rechtsweg ad infinitum zum Schutz des durch die Rechtskraft garantierten Rechtsfriedens verhindern.842 Auch das Bundesverfassungsgericht legt Art. 19 Abs. 4 GG dahingehend aus, dass kein Instanzenzug garantiert wird843, sondern nur ein Mindestmaß gerichtlichen Rechtsschutzes.844 Dem Wortlaut des Art. 19 Abs. 4 GG lässt sich eine derartige Einschränkung nicht entnehmen. Unter Eröffnung des Rechtswegs kann vielmehr auch die Eröffnung von Rechtsbehelfen verstanden werden. Gem. Art. 1 Abs. 3 GG sind alle drei Gewalten, mithin auch die Judikative, an die Grundrechte und damit auch an Art. 19 Abs. 4 GG gebunden.845 Dieses Verständnis des Art. 19 Abs. 4 GG kollidiert zwar mit dem Rechtsstaatsprinzip, da jeder Rechtsstreit ein Ende finden muss, jedoch darf auch das Rechtsstaatsprinzip des Art. 20 Abs. 3 GG den sich aus Art. 19 Abs. 4 GG ergebenden Schutzbereich nicht vollständig aushöhlen. Demnach gewährt Art. 19 Abs. 4 GG Rechtsschutzmindeststandards wie die jedenfalls einmalige Kontrolle gerichtlicher Entscheidungen846 sowie den lückenlosen Schutz gegen Fehler der öffentlichen Gewalt.847 837  BVerfG

NJW 1995, 2024, 2025. Vor § 359 / 21 und Eschelbach / Geipel / Hettinger / Meller / Wille, GA 2018, 238, 243. 839  BVerfG, Beschluss vom 04.04.2012, Az. 2 BvR 24 / 11; BGHSt 13, 102, 113; BGHSt15, 73, 75 f. 840  Wasserburg / Eschelbach, GA 2003, 335, 336. 841  Wasserburg / Eschelbach, GA 2003, 335, 336. 842  Wasserburg / Eschelbach, GA 2003, 335, 337. 843  BVerfG, Beschluss vom 04.04.2012, Az. 2 BvR 24 / 11; BVerfGE 11, 263, 265; BVerfGE 49, 329, 341; BVerfGE 96, 27 39; BVerfGE 104, 220, 231 f. 844  BVerfGE 22, 106, 110. 845  Wasserburg / Eschelbach, GA 2003, 335, 336. 846  Wasserburg / Eschelbach, GA 2003, 335, 337; Eschelbach, in: FS-Stöckel, S. 202; OLG Nürnberg NJW 2013, 2692, 2694. 847  Wasserburg / Rübenstahl, GA 2002, 29, 41. 838  KMR-Eschelbach,



D. Verfassungsrechtlicher Bezug153

In amtsgerichtlichen Verfahren gewährleistet die Berufung diese Kontrolle. In landgerichtlichen Verfahren, bei denen aufgrund der erhöhten Eingriffs­ intensität ein Mehr an Rechtsschutz zu verlangen wäre, leistet die Revision diese Kontrolle nur eingeschränkt. Es obliegt demnach de lege lata als Ausprägung des Mindeststandards auf Überprüfung einer landgerichtlichen Entscheidung der Wiederaufnahme, diese Kontrolle zu gewährleisten.848 Das Wiederaufnahmerecht kompensiert daher einerseits den eingeschränkten Rechtsschutz in Strafkammersachen, gleicht aber andererseits die sich durch Abschaffung der gerichtlichen Voruntersuchung, §§ 178 ff. StPO a. F.849, die schwächere Gerichtsbesetzung der Strafkammern und die Zurückdrängung des Beweisantragsrecht der Verteidigung bspw. durch § 244 Abs. 5 S. 2 StPO bzw. die mit § 244 Abs. 6 StPO jüngst eingeführte Befristung des Beweis­ antragsrechts der Verteidigung ergebenden Schwächen aus.850 Art. 19 Abs. 4 GG gewährleistet jedoch nicht nur Rechtsschutz gegen richterliche Entscheidungen, sondern auch dessen Effektivität. Soweit das Prozessrecht den Instanzenzug eröffnet, gewährleistet Art. 19 Abs. 4 GG auch dessen Wirksamkeit.851 Demnach sind Vorschriften über Rechtsschutzmittel gemessen am Effektivitätsgebot auszulegen. Es darf daher weder unzumutbar sein, gegen gerichtliche Entscheidungen den Rechtsweg zu beschreiten noch darf dieser ohne sachliche Gründe erschwert werden.852 Der Anspruch, materielles Recht gerichtlich durchzusetzen, darf insbesondere nicht unzumutbar verkürzt werden, indem Verfahrensnormen übermäßig streng gehandhabt werden.853 Übertragen auf das Wiederaufnahmerecht bedeutet dies wiederum, dass an die Substantiierung des Vortrags ebenso wenig wie an die Wahrscheinlichkeit der Neuheit und Geeignetheit der Tatsachen und Beweismittel der auf § 359 Nr. 5 StPO gestützten Wiederaufnahme ein überstrenger Maßstab angelegt werden darf.854

848  Wasserburg / Eschelbach,

GA 2003, 335, 337. etwa als Kompensation für die fehlende zweite Tatsacheninstanz betrachtet wurde, vgl. Wasserburg / Eschelbach, GA 2003, 335, 343. 850  Wasserburg / Eschelbach, GA 2003, 335, 343. 851  Wasserburg / Rübenstahl, GA 2002, 29, 42. Dies ergibt sich auch aus Art. 13 EMRK. 852  BVerfGE 77, 275, 284; BVerfGE 78, 88, 99; BVerfG NVwZ 2000, 1163, 1164. 853  BVerfGE 84, 366, 369 f.; KMR-Eschelbach, Vor § 359 / 22. 854  Wasserburg / Eschelbach, GA 2003, 335, 338. 849  Die

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Teil 1: Rechtliche Grundlagen zum geltenden Wiederaufnahmerecht

III. Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts Das Bundesverfassungsgericht hat sich in seiner Rechtsprechung wiederholt mit wiederaufnahmerechtlichen Fragestellungen beschäftigt. Peters kritisierte bereits 1981, dass es als letzte verfassungsrechtliche Kontrollinstanz die Not des Strafverfahrens nicht lindere, die sich u. a. ergäbe, weil zahlreiche Wiederaufnahmegesuche noch im Zulassungsverfahren verworfen würden, obschon sie sachlich begründet waren. Unweigerlich gefährde dies die Wahrheitsfindung, damit die Gerechtigkeit und auch die Rechtssicherheit.855 Ob dieser Vorwurf zutrifft, soll im Folgenden näher beleuchtet werden. Hierzu bedarf es einer eingehenden Auseinandersetzung mit der Rspr. des BVerfG. Da entsprechend der Heck’schen Formel nur die Verletzung spezifischen Verfassungsrechts im Wege einer Verfassungsbeschwerde gegen wiederaufnahmerechtliche Entscheidungen gerügt werden kann856, werden angefochtene Wiederaufnahmeentscheidungen auf Willkür, die allgemeine Beachtung der Grundrechte bei Auslegung und Anwendung einfachen Rechts, die Garantie effektiven Rechtsschutzes und den Anspruch auf ein faires Verfahren geprüft.857 1. Betroffene Grundrechtspositionen Insbesondere die Verletzung des Willkürverbots aus Art. 3 Abs. 1 GG858, des Freiheitsgrundrechts aus Art. 2 Abs. 2 GG aber auch des Grundrechts des Verurteilten auf effektiven Rechtsschutz aus Art. 2 Abs. 1 GG i. V. m. Art. 20 Abs. 3 GG859 waren Gegenstand verfassungsgerichtlicher Rechtsprechung. So erkennt das Bundesverfassungsgericht im Prozessgrundrecht auf ein faires, rechtsstaatliches Verfahren, Art. 2 Abs. 1 i. V. m. Art. 20 Abs. 3 GG, einen Anspruch des Betroffenen darauf, dass die vom Gesetzgeber vorgegebene Verfahrensstruktur beachtet wird.860 Auch mit dem Grundrecht auf rechtliches Gehör, Art. 103 Abs. 1 GG861 hatte sich das Bundesverfassungsgericht bereits auseinanderzusetzen. 855  Peters,

Strafprozeß, S. 28. 18, 85, 92 f.; BVerfGE 95, 96, 128. 857  KMR-Eschelbach, Vor § 359 / 75. 858  BVerfG NJW 2007, 207, 209. 859  BVerfG NJW 1995, 2024, 2025. 860  BVerfG NJW 1995, 2024, 2025; BVerfG NStZ 1995, 43, 44. 861  So etwa, wenn das Wiederaufnahmegericht einen Antrag mit einer völlig unerwarteten Begründung ablehnt, ohne zuvor dem Antragsteller Gelegenheit zur Stellungnahme gewährt zu haben, vgl. BVerfG StV 2003, 223, 224 f. 856  BVerfGE



D. Verfassungsrechtlicher Bezug155

Spezifische verfassungsrechtliche Ausprägung findet Art. 3 Abs. 1 GG im Willkürverbot hoheitlicher Maßnahmen.862 Willkür liegt nach der Rspr. des Bundesverfassungsgerichts vor, wenn Gesetze willkürlich angewandt, oder die der Entscheidung zugrunde liegende Beweiswürdigung oder Strafzumessung willkürlich erscheint. Dabei setzt ein Verstoß gegen Art. 3 GG die objektive Unangemessenheit der fehlerhaften Entscheidung voraus.863 Die den Fachgerichten eingeräumte Entscheidungsfreiheit findet ihre verfassungsrechtlich relevante Grenze da, wo die Entscheidung bei verständiger Würdigung der das Grundgesetz beherrschenden Gedanken nicht mehr verständlich erscheint864 und sich daher der Schluss aufdrängt, sie beruhe auf sachfremden Erwägungen.865 Der grundrechtsrelevante Verstoß gegen das Freiheitsgrundrecht aus Art. 2 Abs. 2 GG liegt nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgericht nicht vor, wenn die Anwendung einfachen Rechts durch den Richter zu einem Ergebnis geführt hat, über dessen Richtigkeit sich streiten lässt. Im Umkehrschluss liegt eine Verletzung des Art. 2 Abs. 2 GG vor, wenn die Unrichtigkeit einer richterlichen Entscheidung klar erkennbar ist, mithin eine freiheitsentziehende Maßnahme grob ungerecht erscheint.866 Die grobe Ungerechtigkeit einer angegriffenen gerichtlichen Entscheidung berührt daher den verfassungsspezifischen Gehalt der Grundrechte aus Art. 2 Abs. 2 und Art. 3 GG. Ob das Unrecht im Einzelfall als „grob“ zu qualifizieren ist, dürfte jedoch für den Einzelnen kaum verlässlich zu beurteilen sein. Der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgericht folgend, kann ein fehlerhaftes Wiederaufnahmeverfahren auch gegen das Recht des Verurteilten auf effektiven Rechtsschutz verstoßen, wenn es „von den Grundsätzen des Wiederaufnahmeverfahrens im Sinne einer wesentlichen Verschlechterung der Chancen des Verurteilten auf Erlangung eines gerechten Richterspruchs ab[weicht].“867

In diesem Fall verfehle es sein Ziel, den Konflikt zwischen materialer Gerechtigkeit und Rechtssicherheit angemessen zu lösen: „Wird das Wiederaufnahmeverfahren – an diesem Ziel gemessen – derart ineffektiv, so steht dies in Widerspruch zum Rechtsstaatsprinzip des Grundgesetzes und 862  BVerfG Beschluss vom 24.09.2014, Az. 2 BvR 2782 / 10, in: BeckRS 2014, 57289. 863  Lampe, GA 1968, 33, 41. 864  BVerfG NJW 2002, 2308, 2309; BVerfG NJW 1993, 2735, 2736. 865  BVerfG NJW 1964, 1715; BVerfG NJW 1993, 2735, 2736; BVerfG 1990, 3193; BVerfG NJW 1993, 2735, 2736. 866  So auch Lampe, GA 1968, 33, 42. 867  BVerfG NJW 2007, 207, 208.

156

Teil 1: Rechtliche Grundlagen zum geltenden Wiederaufnahmerecht

verletzt den Verurteilten in dessen Grundrecht aus Art. 2 Abs. 1 GG, das ein Recht auf effektiven Rechtsschutz in sich schließt (…).“868

Weicht das Wiederaufnahmegericht also von fachgerichtlichen Grundsätzen ab (weil es bspw. verkennt dass für die Neuheit eines Beweismittels im Strafbefehlsverfahren auf die Aktenlage abzustellen ist), verschlechtern sich die Chancen des Verurteilten auf einen gerechten Richterspruch; das Wiederaufnahmeverfahren wird derart ineffektiv, dass eine Grundrechtsverletzung anzunehmen ist.869 Auch die einseitige Betonung des Grundsatzes der Rechtssicherheit führt nach Ansicht des Bundesverfassungsgerichts zu einer Verletzung des Grundrechts auf effektiven Rechtsschutz aus Art. 2 Abs. 1 i. V. m. Art. 20 Abs. 3 GG.870 Eröffnet die Prozessordnung einen Instanzenzug, muss dieser zumutbar und effektiv sein und darf nicht aus mit Sachgründen nicht mehr zu rechtfertigenden Gründen erschwert werden.871 Der Rechtsbehelf – etwa die Wiederaufnahme – darf mithin nicht leer laufen.872 2. Anspruch auf Wiederaufnahme eines Verfahrens Das Bundesverfassungsgericht führte in seiner Entscheidung vom 17.02.2009, NJW 2009, 1405, 1408 zudem aus: „Die Aufklärung von Straftaten, die Ermittlung des Täters, die Feststellung seiner Schuld und seine Bestrafung wie auch der Freispruch des Unschuldigen sind die wesentlichen Aufgaben der Strafrechtspflege, die zum Schutz der Bürger den staatlichen Strafanspruch in einem justizförmigen und auf die Ermittlung der Wahrheit ausgerichteten Verfahren in gleichförmiger Weise durchsetzen soll. Strafnormen und deren Anwendung in einem rechtsstaatlichen Verfahren sind Verfassungsaufgaben (…). Der Verhinderung und Aufklärung von Straftaten kommt daher nach dem Grundgesetz eine hohe Bedeutung zu (…).“

Das verdeutlicht den Anspruch des Antragstellers auf ein willkürfreies, effektives Wiederaufnahmeverfahren. Auch nach Rechtskraft muss sich das Verfahren dabei auf die Ermittlung des wahren Sachverhalts konzentrieren.

868  BVerfG

NJW 2007, 207, 208. NZV 2016, 45 f.; BVerfG, Beschluss vom 16.05.2007, Az. 2 BvR 93 / 07, in: BeckRS 2007, 23783; BVerfG NJW 1993, 2735, 2736; BVerfG NJW 1995, 2024. 870  BVerfG NJW 1993, 2735, 2736. 871  BVerfGE 77, 275, 284; BVerfGE 78, 88, 99; BVerfG NVwZ 2000, 1163, 1164. 872  BVerfGE 96, 27, 39. 869  BVerfG



D. Verfassungsrechtlicher Bezug157

3. Pflicht zur Wahrheitsermittlung Dient das Wiederaufnahmeverfahren der Erforschung des wahren Sachverhalts, erscheint es naheliegend, die Aufklärungsmaxime auch im Wiederaufnahmeverfahren anzuerkennen. Das Wiederaufnahmeverfahren soll als Antragsverfahren jedoch von der Dispositionsmaxime beherrscht sein, die mit einer Amtsaufklärungspflicht zunächst unvereinbar erscheint.873 Tatsächlich ist deren Geltung im Wiederaufnahmeverfahren umstritten, wird jedoch von der h. M. befürwortet.874 Das Bundesverfassungsgericht hat sich hierzu bislang wie folgt positioniert: „Ungeachtet des Streits um Geltung und Umfang der Offizialmaxime im Proba­ tionsverfahren (…) ergibt sich aus dem Recht auf ein faires, rechtsstaatliches Verfahren, dass auch für die außerhalb des prozessualen Hauptverfahrens zu treffenden Entscheidungen die Ermittlung des wahren Sachverhalts von zentraler Bedeutung bleibt, weil sonst das materielle Schuldprinzip nicht verwirklicht werden kann (…).“875

In einer weiteren Entscheidung stellte es fest, dass das Recht auf effek­ tiven Rechtsschutz auch im Aditionsverfahren eine umfassende Prüfung des Verfahrensgegenstandes und eine „zureichende gerichtliche Sachaufklärung (…)“ gebietet.876 Für das Wiederaufnahmegericht ergibt sich aus dieser Pflicht zur Sachverhaltsfeststellung, dass es die angetretenen Beweise umfassend auszuschöpfen hat.877 Demnach sind die im Kontext des konkreten Wiederaufnahmeantrags stehenden Umstände aufzuklären, soweit sie für die Entscheidung von Bedeutung sein können.878 Dies soll nicht zuletzt aus dem sich aus dem Rechtsstaatsprinzip ergebenden Anspruch des Betroffenen auf Gerechtigkeit im Einzelfall und dem Schuldgrundsatz folgen.879 Dabei sei das Gericht nicht auf gerichtskundige Umstände beschränkt, vielmehr könne es auch naheliegende, ergänzende Umstände von Amts wegen ermitteln.880 Dies würde zwar v. a. der Ermittlung des wahren Sachverhalts dienen, hätte jedoch auch mittelbar Auswirkung auf den Schutz der Rechtskraft, da die Grundlagen eines 873  KMR-Eschelbach,

§ 365 / 67. Zweibrücken GA 1993, 463, 465 nur für das Probationsverfahren; LRGössel, Vor § 359 / 13. A. A. SK-Frister, § 369 / 8; Marxen / Tiemann, Die Wiederaufnahme in Strafsachen, Rn. 370. 875  BVerfG StV 2003, 223, 224. 876  BVerfG NZV 2016, 45, 47. 877  BVerfG StV 2003, 223, 224. 878  KMR-Eschelbach, § 365 / 71. 879  Geipel, in: Miebach / Hohmann, Wiederaufnahme in Strafsachen, Teil  A, Rz.  15 f. 880  KMR-Eschelbach, § 365 / 67. 874  OLG

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Teil 1: Rechtliche Grundlagen zum geltenden Wiederaufnahmerecht

Wiederaufnahmeantrags zunächst umfassend aufgeklärt würden, bevor die Rechtskraft durchbrochen werden würde. Wie oben bereits ausgeführt, erscheint die Geltung des Amtsaufklärungsgrundsatzes im Aditionsverfahren verzichtbar, sobald dem Wiederaufnahmegericht eine umfassende Hinweispflicht obliegt. Solange diese nicht gesetzlich normiert ist, sollte im Hinblick auf die von der h. M. zugleich tolerierte Beweisantizipation bereits im Aditionsverfahren zum Schutz des Antragstellers der Amtsermittlungsgrundsatz gelten.881 4. Neue Tatsachen oder Beweismittel Vorgenannte Maßstäbe hat das Bundesverfassungsgericht in verschiedenen Entscheidungen – insbesondere in Bezug auf das Aditionsverfahren – konkretisiert, jüngst jedoch eine verfassungsrechtliche Unbedenklichkeit bescheinigt, wenn im Zulässigkeitsverfahren geprüft werde, ob bei der auf § 359 Nr. 5 StPO gestützten Wiederaufnahme Tatsachen oder Beweismittel vorgebracht werden, die geeignet sind, die Freisprechung des Angeklagten oder in Anwendung eines milderen Strafgesetzes eine geringere Bestrafung zu begründen.882 Dem ist grundsätzlich auch zuzustimmen, da andernfalls die Rechtskraft vorschnell in Frage gestellt würde. Für die Zulässigkeit eines auf § 359 Nr. 5 StPO gestützten Wiederaufnahmeantrags kommt es mithin wesentlich darauf an, ob der Antragsteller neue Tatsachen oder Beweismittel beibringt. Weist das Wiederaufnahmegericht einen Antrag unter Hinweis auf mangelnde Novität zurück, kann der Antragsteller dies unter Hinweis auf die verfassungsgerichtliche Rechtsprechung u. U. angreifen. a) Novität Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgericht ist das Merkmal der „Neuheit“ wie folgt auszulegen: „Ob eine (…) Tatsache im wiederaufnahmerechtlichen Sinne neu ist, beurteilt sich allein danach, ob das Gericht sie bereits bei der Urteilsfindung verwertet hat. Neu ist damit grundsätzlich alles, was der Überzeugungsbildung des Gerichts nicht zugrunde gelegt worden ist, auch wenn es ihr hätte zugrunde gelegt werden ­ können.“883 881  KMR-Eschelbach,

§ 365 / 72. NZV 2016, 45, 47. 883  BVerfG, Beschluss vom 19.07.2002, Az. 2 BvR 18 / 02, in: BeckRS 2002, 30273719; BVerfG NZV 2016, 45, 47. Ebenso BVerfG NJW 2007, 207, 208 und BVerfG SVR 2015, 36, 37. 882  BVerfG



D. Verfassungsrechtlicher Bezug159

Folgerichtig schließt der Bayerische Verfassungsgerichtshof, dass auch ein dem erkennenden Gericht bekannter Zeuge neues Beweismittel ist, „wenn er zu den im Wiederaufnahmeverfahren relevanten Tatsachen nicht vernommen wurde.“884

Dafür soll im Zulässigkeitsverfahren nach h. M. die vorgetragene Tatsache zweifelsfrei neu sein, der Grundsatz in dubio pro reo mithin nicht gelten.885 Das Bundesverfassungsgericht hat diese Frage bislang, ebenso wie die Frage der Geltung der Aufklärungsmaxime im Aditionsverfahren, offen gelassen. Eine Klarstellung des Bundesverfassungsgerichts könnte sich aber wesentlich auf die Effektivität des Wiederaufnahmerechts auswirken. Die Ansicht der h. M. überzeugt dabei nicht: Zum einen muss sich das Wiederaufnahmegericht bei bestehenden Zweifeln über die Neuheit bereits im Aditionsverfahrens um Aufklärung im Wege des Freibeweises bemühen.886 So ist eine weitere Aufklärung der Novität etwa angezeigt, wenn nicht klar ist, ob das Ausgangsgericht einen Umstand bei der Urteilsfindung übersehen oder aber seiner Entscheidung zugrunde gelegt hat, ohne ihn explizit zu benennen: „Insoweit wäre eine weitere Aufklärung durch freibeweisliche Einholung einer dienstlichen Stellungnahme des den Strafbefehl erlassenden Richters am Amtsgericht möglich und zur umfassenden Prüfung auch angezeigt gewesen (…). Die vorschnelle Festlegung auf einen Rechtsanwendungsfehler durch das Landgericht hat demgegenüber den Anspruch des Bf. auf erschöpfende Behandlung seines Antrages in verfassungsrechtlich zu beanstandender Weise verkürzt.“887

Über Inhalt und Umfang der Beweisaufnahme des Ursprungsverfahrens hat daher ggf. in der Wiederaufnahme eine Beweisaufnahme stattzufinden.888 Zum anderen kann das Wiederaufnahmegericht die Neuheit des Wiederaufnahmevorbringens unter Hinweis auf den Akteninhalt nur dann ablehnen, wenn sich ergibt, dass der in Frage stehende Aspekt tatsächlich in das Verfahren eingeführt und zur Entscheidungsfindung herangezogen wurde.889 (Nur) beim Strafbefehlsverfahren sei für die Neuheit einer Tatsache oder eines Beweismittels auf die Aktenlage abzustellen, da das Gericht nicht auf-

884  BayVerfGH,

Entscheidung vom 17.07.2007, Az. Vf. 96-VI-05, in: juris. Düsseldorf NJW 1987, 2030; LR-Gössel, § 368 / 18. 886  BVerfG SVR 2015, 36, 37; OLG Celle MDR 1991, 1077. HK-Temming, § 368 / 4. 887  BVerfG NZV 2016, 45, 47. 888  So OLG Frankfurt a. M. NJW 1978, 841. 889  BVerfG NJW 2007, 207, 208. 885  OLG

160

Teil 1: Rechtliche Grundlagen zum geltenden Wiederaufnahmerecht

grund einer Hauptverhandlung entschieden hat.890 So hat das Wiederaufnahmegericht im Strafbefehlsverfahren das Antragsvorbringen zum gesamten Akteninhalt und den früheren Beweisergebnissen in Beziehung zu setzen, da es andernfalls einseitig den Grundsatz der Rechtssicherheit betonen würde.891 b) Tatsachenbegriff Auch für die Auslegung des Tatsachenbegriffs ergeben sich verfassungsgerichtliche Vorgaben. Danach sind unter Tatsachen i. S. v. § 359 Nr. 5 StPO als existierend feststellbare Vorgänge oder Zustände zu verstehen, die der Gegenwart oder Vergangenheit angehören.892 c) Alternativität Der Antragsteller ist gehalten, für die Wiederaufnahme seines Verfahrens neue Tatsachen oder Beweismittel vorzubringen. Unstreitig893 ist es ausreichend, dass er entweder eine neue Tatsache oder ein neues Beweismittel vorbringt.894 Mithin können alte Tatsachen durch neue Beweismittel bewiesen bzw. neue Tatsachen durch alte Beweismittel bewiesen werden. Verkennt das Wiederaufnahmegericht diese Alternativität, wird dem Antragsteller effektiver Rechtsschutz versagt: „Das LG (…) hat im Wiederaufnahmevorbringen dieses Vorbringen aber lediglich unter dem Gesichtspunkt gewürdigt, dass die benannten Sachverständigen keine neuen Beweismittel seien. Eine Prüfung des Vortrages (…), ob dieser auch neue Tatsachen enthält, hat das LG nicht angestellt. Es hat damit den Vortrag (…) nur einer unzulänglichen Bewertung zugeführt und mit der Nichtberücksichtigung des Gesichtspunkts, der Vortrag des Bf. enthalte auch diesbezüglich neue Tatsachen, das Rechtsschutzbegehren des Bf. nicht in dem gebotenen Maße erfasst. Damit aber ist das Wiederaufnahmeverfahren in einem zentralen Punkt entwertet worden, so dass dem Bf. ein effektiver Rechtsschutz nicht zu Teil wurde.“895

890  BVerfG NZV 2016, 45, 46; BVerfG NJW 1993, 2735, 2736; BVerfG, Beschluss vom 19.07.2002, Az. 2 BvR 18 / 02, in: BeckRS 2002, 30273719. 891  BVerfG NJW 1993, 2735, 2736. 892  BVerfG NJW 2007, 207, 208; BVerfG SVR 2015, 36, 37; BVerfG, Beschluss vom 19.07.2002, Az. 2 BvR 18 / 02, in: BeckRS 2002, 30273719. 893  Marxen / Tiemann, Die Wiederaufnahme in Strafsachen, Rn. 170. 894  Gegen eine solche Differenzierung Brinkmann, Zum Anwendungsbereich der §§ 359 ff. StPO, S. 43 ff. Demnach sei nur entscheidend, dass neue Beweisergebenisse zu erwarten seien. 895  BVerfG, Beschluss vom 16.05.2007, Az. 2 BvR 93 / 07, in: BeckRS 2007, 23783.



D. Verfassungsrechtlicher Bezug161

d) Verbrauchtes Vorbringen Dem Antragsteller ist es verfassungsrechtlich nicht versagt, ergänzend zu neuen Umständen auf bereits in anderen Wiederaufnahmeanträgen Vorgetragenes zurückzugreifen. Zwar gilt derartiges Vorbringen als „verbraucht“, jedoch ist unstreitig, dass der Antragsteller dieses zumindest ergänzend erneut vortragen kann896, weil sich nur auf dieser Grundlage die Frage der Plausibilität und der genügenden Wahrscheinlichkeit des im Wiederaufnahmeantrag dargestellten Geschehensablaufes in sachgemäßer Weise beantworten lässt.897 Ignoriert das Wiederaufnahmegericht altes Vorbringen, stellt dies eine verfassungswidrige Verletzung des Anspruchs auf ein effektives Wiederaufnahmeverfahren dar. 5. Geeignetheitsprüfung gem. §§ 359 Nr. 5, 368 Abs. 1 StPO Verfassungsrechtlich unbedenklich ist der Antragsteller zudem gehalten, die Geeignetheit seines Vorbringens gem. §§ 359 Nr. 5, 368 Abs. 1 StPO darzulegen.898 Das Bundesverfassungsgericht betont, dass es verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden sei, wenn die StPO bei der auf § 359 Nr. 5 StPO gestützten Wiederaufnahme eine Vorprüfung vorsieht, ob das Antragsvorbringen geeignet sei, das Wiederaufnahmeziel zu begründen.899 Auch die fachgerichtliche Rechtsprechung, nach der in Anbindung an die Rechtsauffassung des Ausgangsgerichts zu prüfen ist, ob dessen Urteil unter Berücksichtigung der neuen Beweise anders ausgefallen wäre, sei verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden. Zu diesem Zwecke müsse der gesamte Akteninhalt zu dem früheren Beweisergebnis in Beziehung gesetzt werden.900 Nach der verfassungsgerichtlich gebilligten h. M.901 hat das Wiederaufnahmegericht i. R. e. Erheblichkeitsprüfung dafür die hypothetische Schlüssigkeit des Vorbringens zu prüfen: 896  LR-Gössel, 897  BVerfG,

§ 372 / 22. Beschluss vom 16.05.2007, Az. 2 BvR 93 / 07, in: BeckRS 2007,

23783. 898  BVerfG MDR 1975, 468, 469. 899  BVerfG NJW 1993, 2735, 2736; BVerfG NJW 1994, 510; BVerfG Beschluss vom 11.09.2001, Az. 2 BvR 1491 / 01, in: BeckRS 2001, 30204100; BVerfG, Beschluss vom 19.07.2002, Az. 2 BvR 18 / 02, in: BeckRS 2002, 30273719. 900  BVerfG NJW 1993, 2735, 2736; BVerfG NJW 1994, 510; BVerfG Beschluss vom 11.09.2001, Az. 2 BvR 1491 / 01, in: BeckRS 2001, 30204100; BVerfG, Beschluss vom 19.07.2002, Az. 2 BvR 18 / 02, in: BeckRS 2002, 30273719. 901  BGHSt 17, 303, 304; MG § 368 / 9.

162

Teil 1: Rechtliche Grundlagen zum geltenden Wiederaufnahmerecht

„Vorzunehmen ist seitens der Fachgerichte zunächst nur eine hypothetische Schlüssigkeitsprüfung. Dabei ist zu unterstellen, dass die in dem Antrag behaupteten Tatsachen richtig sind und die beigebrachten Beweismittel den ihnen zugedachten Erfolg haben werden. Dabei ist in gewissen Grenzen auch eine Vorwegnahme der Beweiswürdigung zulässig. (…)“902

Zugleich hat das Bundesverfassungsgericht gebilligt, dass das Wiederaufnahmegericht die Beweiswürdigung grundsätzlich vom Standpunkt des Erstgerichts aus vorzunehmen haben soll.903 Dabei hat es bei seiner eigenen Beweiswürdigung offensichtlich fehlerhafte Feststellungen des Ausgangsgerichts außer Acht zu lassen bzw. richtig zu stellen.904 a) Wahrscheinlichkeitsmaßstab Überspannt das Wiederaufnahmegericht den für die Geeignetheit des Vorbringens gebilligten Wahrscheinlichkeitsgrad, wird das Ziel des Wiederaufnahmeverfahrens durch eine wesentliche Verschlechterung der Chancen des Verurteilten auf einen gerechten Richterspruchs verfehlt.905 Legt das Wiederaufnahmegeicht an die Prüfung der Erheblichkeit einen zu engen Prüfungsmaßstab an, kann dies im Ergebnis dazu führen, dass das Wiederaufnahmeverfahren ineffektiv wird: „[Das Wiederaufnahmegericht] hat im konkreten Fall letztlich einen Grad an Wahrscheinlichkeit für das Vorliegen einer Erheblichkeit gefordert, der das Vorliegen einer an Sicherheit grenzenden Wahrscheinlichkeit bedingt. Dies stellt eine Überspannung der Zulässigkeitsvoraussetzungen dar.“906

In diesem Fall käme ein Verstoß gegen das Willkürverbot des Art. 3 Abs. 1 GG in Betracht, wenn das Wiederaufnahmegericht einen Maßstab für die Geeignetheit des Wiederaufnahmevorbringens verlangte, der jeden Zweifel ausschließt.907 Wird demnach der von der h. M. befürwortete Wahrscheinlichkeitsmaßstab für die Geeignetheit des Vorbringens gem. § 359 Nr. 5 StPO unterstellt und 902  BVerfG, Beschluss vom 16.05.2007, Az. 2 BvR 93 / 07, in: BeckRS 2007, 23783. 903  BVerfG NJW 1994, 510; BVerfG, Beschluss vom 16.05.2007, Az. 2 BvR 93 / 07, in: BeckRS 2007, 23783; BGHSt 19, 365, 366. 904  BVerfG NJW 1993, 2735, 2736; BVerfG, Beschluss vom 16.05.2007, Az. 2 BvR 93 / 07, in: BeckRS 2007, 23783. 905  BVerfG, Beschluss vom 11.09.2001, Az. 2 BvR 1491 / 01, in: BeckRS 2001, 30204100. 906  BVerfG, Beschluss vom 16.05.2007, Az. 2 BvR 93 / 07, in: BeckRS 2007, 23783. 907  BVerfG NJW 1990, 3193, 3194; Geipel, in: Miebach / Hohmann, Wiederaufnahme in Strafsachen, Teil C, Rz. 29.



D. Verfassungsrechtlicher Bezug163

die Antizipation der Beweisaufnahme nicht grundsätzlich abgelehnt, unterliegt diese Handhabung demnach zwei verfassungsrechtlichen Schranken: Zunächst darf der Prognosemaßstab nicht überzogen werden. Für die Geeignetheit ist keine der Gewissheit nahekommende Wahrscheinlichkeit nötig; andernfalls würde das Prozessgrundrecht auf effektiven Rechtsschutz aus Art. 2 Abs. 1 GG verletzt. Zum anderen ist die Feststellung wesentlicher Umständen der erneuten Hauptverhandlung vorbehalten und kann auch nicht im Vorprüfungsverfahren, im Wege antizipierter Beweiswürdigung, getroffen werden.908 Dennoch darf der Antragsteller nicht verkennen, dass das Bundesver­ fassungsgericht die Beweiswürdigung nach der Heck’schen Formel grundsätzlich nicht nachprüft.909 Für den Wiederaufnahmeführer dürfte es daher schwer sein, die verfehlte extensive Beweiswürdigung im Aditionsverfahren verfassungsrechtlich zu beanstanden.910 b) Beachtung strafprozessualer Strukturen Das Wiederaufnahmegericht darf demnach die vom Antragsteller vorgebrachten Beweise würdigen. Eine über die sich aus dem Verfassungsrecht ergebenden Grenzen hinausgehende hypothetische Beweiswürdigung verletzt den Antragsteller jedoch in seinem Anspruch auf effektiven Rechtsschutz.911 Es widerspräche dem Grundsatz der Mündlichkeit und Unmittelbarkeit, würden im Zulassungsverfahren bereits Beweise abschließend gewürdigt werden. So ist stets zu beachten, dass die Beweisantizipation den Sonderfall darstellt. Nur wenn alles für die Nutzlosigkeit der Beweiserhebung spricht, kann von der Ungeeignetheit eines angebotenen Beweismittels infolge vorweggenommener Beweiswürdigung ausgegangen werden.912 Verwehrt ist es dem Wiederaufnahmegericht nach der Rspr. des BVerfG, im Zulassungsverfahren Beweise zu würdigen und Feststellungen zu treffen, die nach der Struktur des Strafprozesses der Hauptverhandlung vorbehalten sind. Der Vorbehalt der Hauptverhandlung gilt insbesondere für die Feststellung solcher Tatsachen, die den Schuldspruch wesentlich tragen, indem sie 908  BVerfG, Beschluss vom 16.05.2007, Az. 2 BvR 93 / 07, in: BeckRS 2007, 23783. Hellebrand, NStZ 2008, 374, 378. 909  BVerfGE 95, 96, 128. 910  KMR-Eschelbach, § 365 / 55. 911  BVerfG, Beschluss vom 11.09.2001, Az. 2 BvR 1491 / 01, in: BeckRS 2001, 30204100. 912  BVerfG, Beschluss vom 04.02.2002, Az. 2 BvR 1240 / 01, in: BeckRS 2002, 20646.

164

Teil 1: Rechtliche Grundlagen zum geltenden Wiederaufnahmerecht

die abgeurteilte Tat in ihren entscheidenden Merkmalen umgrenzen, oder deren Bestätigung oder Widerlegung im Verteidigungskonzept des Angeklagten eine hervorragende Rolle spielen.913 Insbesondere bei einander widersprechenden Zeugenaussagen bedarf es daher regelmäßig der Beweiserhebung in einer neuen Hauptverhandlung.914 Die Grenze antizipierter Beweiswürdigung sei etwa dann überschritten, wenn einem Tatzeugen von vornherein jegliche Glaubwürdigkeit abgesprochen wird.915 c) Verbot der Ersetzung wesentlicher Feststellungen Damit einhergeht das Verbot, den festgestellten unmittelbaren Tatverlaufs in einer Kernfrage außerhalb einer erneuten Hauptverhandlung zu erschüttern bzw. zu ersetzen.916 Dem Wiederaufnahmegericht ist es mithin verwehrt, in der Hauptverhandlung getroffene Feststellungen zu wesentlichen, den Schuldspruch begründenden Tatsachen, die sich im Nachhinein als unhaltbar erwiesen haben, ohne erneute Hauptverhandlung zu ersetzen. Ebenso wenig dürfen Feststellungen unter Verweis auf denkbare alternative Verläufe für irrelevant erklärt werden. Stellte das Ausgangsgericht beispielsweise fest, der Mörder habe nach der Tat den Leichnam zerstückelt und Schweinen zum Fraß vorgeworfen, darf das Wiederaufnahmegericht – nach Entdeckung des unversehrten Leichnams – den Sachverhalt nicht dadurch ersetzen, dass der vollständigen Leichnam in einem Fluß versenkt worden sei. Dem Antragsteller würde andernfalls die Möglichkeit genommen werden, auf die für einen Schuldspruch wesentlichen Umstände angemessen zu reagieren.917 Dann wäre ein Verstoß gegen das Recht auf ein faires, rechtsstaatliches Verfahren anzunehmen, wenn das Wiederaufnahmegericht sich bspw. in Spe913  BVerfG NJW 1995, 2024, 2025; BVerfG, Beschluss vom 16.05.2007, Az. 2 BvR 93 / 07, in: BeckRS 2007, 23783; BayVerfGH NStZ 2004, 447, 449; OLG München, Beschluss vom 09.03.2010, Az. 3 Ws 109, 110, 111, 112 / 10, in: BeckRS 2011, 00034. 914  OLG Koblenz NStZ-RR 2005, 273 und KG NStZ 2014, 670, 671, wonach die Grenze der Zulässigkeit einer vorweggenommenen Beweiswürdigung überschritten ist, wenn in einer Aussage-gegen-Aussage Konstellation den Angaben eines Zeugen von Vorneherein die Glaubhaftigkeit abgesprochen wird. LR-Gössel, § 368 / 24; Marxen / Tiemann, Die Wiederaufnahme in Strafsachen, Rn. 255 mit Fn. 439. 915  OLG Koblenz StV 2003, 229. 916  BVerfG NJW 1995, 2024, 2025; BayVerfGH, Entscheidung vom 17.07.2007, Az. Vf. 96-VI-05, in: juris; OLG München, Beschluss vom 09.03.2010, Az. 3 Ws 109, 110, 111, 112 / 10, in: BeckRS 2011, 00034. 917  BVerfG, Beschluss vom 16.05.2007, Az. 2 BvR 93 / 07, in: BeckRS 2007, 23783.



D. Verfassungsrechtlicher Bezug165

kulationen über alternative Geschehensabläufe verliert.918 Würdigt das Gericht im Aditionsverfahren Beweise, deren Würdigung der Hauptverhandlung vorbehalten ist, kann dies zugleich einen Verstoß gegen den Grundsatz des fairen Verfahrens darstellen.919 d) Pflicht zur Gesamtbetrachtung Nach der h. M. ist die Geeignetheit neuer Tatsachen oder Beweismittel i. S. d. § 359 Nr. 5 StPO anhand einer hypothetischen Schlüssigkeitsprüfung zu eruieren (s. u. S. 394 ff.). Erheblich soll ein Vorbringen sein, wenn die den Schuldspruch tragenden Feststellungen des Erstgerichts erschüttert werden. Das Wiederaufnahmegericht hat sich also mit dem Beweisergebnis des Erstgerichts zu befassen und soll an dessen Beurteilung der Beweisresultate gebunden sein, so dass ihm eine eigene Gesamtwürdigung versagt wäre. Dies jedoch könnte dazu führen, dass das Wiederaufnahmegericht die im Antrag vorgetragenen neuen Umstände isoliert eliminiert, statt eine eigene Gesamtschau vorzunehmen. Kaum ein novum dürfte demnach geeignet sein, das Ausgangsurteil in Frage zu stellen.920 Sinn und Zweck des Vorschaltverfahrens ist aber, das Vorbringen auf seine generelle Geeignetheit zu prüfen und evident erfolglose Anträge auszulesen, um die Rechtskraft nicht ohne Anlass in Frage zu stellen. Das Wiederaufnahmegericht muss daher Gesamtzusammenhänge berücksichtigen, zugleich hat es naheliegende Fragestellungen aufzugreifen, ohne dass erhebliche Argumentationslücken entstehen. Das Wiederaufnahmegericht ist zudem angehalten, seine Feststellungen hinreichend zu begründen und darf sich nicht auf bloße und ungesicherte Hypothesen stützen.921 Nur durch eine gebotene Gesamtbetrachtung, in die auch nicht neue Tatsachen einzustellen sind, kann nach Ansicht des Bundesverfassungsgerichts die Wahrscheinlichkeit des Antragsvorbringens in sachgemäßer Weise beantwortet werden.922

918  BVerfG

NJW 1995, 2024; BVerfG NStZ 1995, 43, 44. NStZ 1995, 43, 44. 920  KMR-Eschelbach, § 365 / 78. 921  BVerfG, Beschluss vom 16.05.2007, Az. 2 BvR 93 / 07, in: BeckRS 2007, 23783. 922  BVerfG, Beschluss vom 16.05.2007, Az. 2 BvR 93 / 07, in: BeckRS 2007, 23783. 919  BVerfG

166

Teil 1: Rechtliche Grundlagen zum geltenden Wiederaufnahmerecht

6. Formanforderungen Wie gesehen, ist es dem Wiederaufnahmegericht zwar nicht verwehrt, im Aditionsverfahren bereits eine Beweisantizipation vorzunehmen. Nicht nachvollziehbar erscheint indes, weswegen die erweiterte Darlegungslast, mit der das Wiederaufnahmegericht vorweg die Nutzlosigkeit dargetaner Beweise behauptet, verfassungsrechtlich nicht beanstandet wird. So ist etwa anerkannt, dass in Fällen widersprüchlichen Prozessverhaltens vom Antragsteller verlangt werden kann, durch nähere Ausführungen wi­ dersprüchliches Verhalten aufzuklären (sog. erweiterte Darlegungslast).923 Kommt der Antragsteller dem nicht nach, soll sein Vorbringen allein deswegen unzulässig sein. Das BVerfG hat diese weitere Darlegungslast bereits gebilligt.924 Die zur Wahrung der Rechtssicherheit dienenden erweiterten Darlegungslasten seien jedoch auf Ausnahmefälle beschränkt.925 So sei die Eignung des Beweismittels nur darzulegen, wenn nach dem bisherigen Erkenntnisstand alles für die Nutzlosigkeit der erstrebten Beweiserhebung spreche. In diesem Fall habe der Antragsteller anzuführen, warum ein für ihn sprechendes Beweisergebnis zumindest möglich sei.926 Dieses Verständnis erscheint bereits vor dem Anspruch auf rechtliches Gehör zweifelhaft. Der Verfahrensbeteiligte muss bei Anwendung der von ihm zu verlangenden Sorgfalt erkennen können, auf welchen Tatsachenvortrag es für die Entscheidung ankommen kann. Stellt das Gericht ohne vorherigen Hinweis etwa Anforderungen an den Sachvortrag, mit denen auch ein gewissenhafter und kundiger Prozessbeteiligter nach dem bisherigen Prozessverlauf nicht rechnen musste, ist dies verfassungsrechtlich als Verstoß gegen Art. 103 Abs. 1 GG zu beanstanden.927 Da aber weder der Umfang noch der Anwendungsbereich erweiterter Darlegungslasten gesetzlich normiert ist, das Wiederaufnahmegericht de lege lata auch keine gesetzliche Hinweispflicht hat, stellt sich das Wiederaufnahmerecht insoweit als unzumutbar und damit ineffektiv dar. Soweit vom Antragsteller erweiterte Darlegungslasten verlangt werden, ohne dass er deren Umfang erkennt, wird er mithin in seinen Grundrechten aus Art. 103 Abs. 1 GG und Art. 2 Abs. 1 i. V. m. Art. 20 Abs. 3 GG verletzt. 923  BGH JR 1977, 217 f.; MG § 359 / 46 ff.; Hellebrand, NStZ 2004, 413, 416 f.; Marxen / Tiemann, Die Wiederaufnahme in Strafsachen, Rn. 243 ff. 924  BVerfG, Beschluss vom 26.03.2002, Az. 2 BvR 357 / 02, in: BeckRS 2002, 30249493; BVerfG NJW 1994, 510; BayVerfGH NStZ 2004, 447, 449; VerfGH Berlin, Beschluss vom 30.08.2002, Az. 93 / 01, 93 A / 01, in: BeckRS 2002, 18429. 925  BVerfG NJW 1994, 510; VerfGH Berlin, a. a. O. 926  BVerfG NJW 1994, 510. 927  BVerfG StV 2003, 223, 224.



D. Verfassungsrechtlicher Bezug167

Die Glaubwürdigkeit eines Zeugen bzw. die Glaubhaftigkeit einer Aussage ist nach der Struktur des Strafprozesses der Hauptverhandlung vorbehalten. Eine vorweggenommene Beweiswürdigung im Aditionsverfahren erscheint daher verfassungsrechtlich bedenklich, jedenfalls solange die von der Rspr. angenommenen Fallgruppen erweiterter Darlegungslasten nicht gesetzlich normiert sind. Die Annahme erweiterter Darlegungslasten ist daher verfassungswidrig.928 7. Beurteilungsmaßstab im Probationsverfahren Das Bundesverfassungsgericht bestätigt, dass der Antragsteller im Probationsverfahren für die in seinem Antrag aufgestellten Behauptungen nicht den vollen, jeden Zweifel ausschließenden Beweis erbringen muss. Vielmehr reiche angesichts des Wortlauts des § 370 Abs. 1 StPO und des Sinn und Zwecks des Wiederaufnahmerechts, wenn seine Behauptungen genügende Bestätigung erfahren. Die Behauptungen haben nach h. M. genügende Bestätigung erhalten, wenn die Urteilsfeststellungen erschüttert sind, und deshalb Anlass zur Erneuerung der Hauptverhandlung bestünde.929 Zugleich betont das Verfassungsgericht, dass die genaue Auslegung des § 370 StPO keiner verfassungsrechtlichen Prüfung unterliegt. Das fachgerichtliche Verständnis, dass, ausgehend vom Standpunkt des Tatgerichts, die Ergebnisse der Probation mit den Urteilsfeststellungen zu vergleichen seien, sei von Verfassungs wegen jedenfalls nicht zu beanstanden.930 8. Beschleunigungsgebot Der Beschleunigungsgedanke ist im Wiederaufnahmeverfahren in mehrfacher Hinsicht relevant. So dürfte im Lauf der Zeit die Erforschung des wahren Sachverhalts immer schwieriger werden. Abgesehen davon, dass sich der Zeitablauf zuungunsten des zu Unrecht Verurteilten auswirken kann, kann er auch günstige Auswirkungen haben, etwa wenn Beweismittel des Grundverfahrens für ein Erneuerungsverfahren nicht mehr zur Verfügung stehen.931 Der Verurteilte, der die Wiederaufnahme anstrebt, ist an einer Verfahrensbeschleunigung interessiert.932 Rechtsfriede als Ziel des Strafverfahrens ist möglichst zeitnah wiederherzustellen.933 928  Vgl.

unten S. 416 ff. NJW 1990, 3193. 930  BVerfG NJW 1990, 3193. 931  Dippel, GA 1972, 97, 102. 932  Landau, in: FS-Hassemer, S. 1074. 933  Landau, in: FS-Hassemer, S. 1075. 929  BVerfG

168

Teil 1: Rechtliche Grundlagen zum geltenden Wiederaufnahmerecht

Fraglich bleibt aber, ob das Beschleunigungsgebot im Wiederaufnahmeverfahren gilt. Dem Beschleunigungsgebot wäre im Regelfall nur dann Genüge getan, wenn innerhalb von drei Monaten nach der Wiederaufnahmeentscheidung, die funktionell an die Stelle des Eröffnungsbeschlusses tritt, die erneute Hauptverhandlung begonnen würde.934 Das Beschleunigungsgebot ergibt sich aus der Garantie auf ein faires Verfahren des Art. 6 Abs. 1 S. 1 EMRK, das eine gerichtliche Entscheidung innerhalb angemessener Frist umfasst. Das Bundesverfassungsgericht leitet das Recht auf eine abschließende gerichtliche Entscheidung innerhalb angemessener Zeit aus Art. 20 Abs. 3 GG i. V. m. Art. 2 Abs. 1 GG ab.935 Für den Inhaftierten ergibt sich der Beschleunigungsgrundsatz in Haftsachen überdies aus Art. 5 Abs. 3 S. 1 HS 2 EMRK bzw. aus Art. 2 Abs. 2 GG.936 Das Beschleunigungsgebot entfaltet seine Wirkung ab der ersten Ermittlungshandlung mit Außenwirkung und endet in der letzten Instanz mit der verfahrensabschließenden Entscheidung.937 Die Angemessenheit der Verfahrensdauer hängt dabei im Einzelfall von der Bedeutung der Sache, der Komplexität des Verfahrens, dem Verhalten des Betroffenen und dem Verhalten der Strafverfolgungsbehörden ab.938 Dem Staat obliegt es, seine Gerichtsbarkeit so auszugestalten, dass Verfahren innerhalb angemessener Zeit abgeschlossen werden können.939 Vor dem Hintergrund formeller, und damit einhergehender materieller Rechtskraft des Ausgangsverfahrens, dürfte der Beschleunigungsgrundsatz im Wiederaufnahmeverfahren keine Rolle spielen. Da der Einzelne jedoch einen Anspruch auf ein faires Verfahren hat und das Beschleunigungsgebot zugleich eine funktionsfähige Strafrechtspflege gebietet940, liegt es nahe, den Beschleunigungsgrundsatz auch im Wiederaufnahmeverfahren anzuwenden. Insbesondere das öffentliche Interesse an der Wahrheitsermittlung verbietet unnötige Ververfahrensverzögerungen.941 Entsprechend wird das Beschleunigungsgebot für das Wiederaufnahmeverfahren auch vom Bundesverfassungsgericht im Fall einer andauernden Freiheitsentziehung angenommen.942 934  BVerfG

NJW 2012, 513. NJW 1984, 967. Landau, in: FS-Hassemer, S. 1076 f. 936  Landau, in: FS-Hassemer, S. 1077. 937  Landau, in: FS-Hassemer, S. 1077. 938  Landau, in: FS-Hassemer, S. 1077. 939  Landau, in: FS-Hassemer, S. 1078. 940  Landau, in: FS-Hassemer, S. 1079. 941  Landau, in: FS-Hassemer, S. 1080. 942  BVerfG NJW 2012, 513, 515. 935  BVerfG



E. Historische Entwicklung der gesetzlichen Grundlagen 169

9. Ergebnis Die verfassungsgerichtliche Rechtsprechung lässt durchaus wiederaufnahmefreundliche Tendenzen erkennen, soweit es sich etwa zum Begriff der Novität einer Tatsache oder eines Beweismittels positioniert oder soweit es verlangt, dass für die Verteidigung wesentliche Umstände nur im Rahmen einer Hauptverhandlung, in der sich der Antragsteller angemessen verteidigen kann, beurteilt werden dürfen. Das Bundesverfassungsgericht zeigt zwar Problembewusstsein, jedoch hat es sich zu grundlegenden wiederaufnahmerechtlichen Fragen (etwa dem Prüfungsmaßstab im Vorschaltverfahren) bislang nicht positioniert. Der Ansicht Peters’, dass das Bundesverfassungsgericht die Missstände des Strafverfahrens nicht behebt, kann vor diesem Hintergrund nur begrenzt beigepflichtet werden. Das Wiederaufnahmeverfahren muss, verfassungsrechtlich besehen, effektiv sein. Diese Effektivität im Einzelnen zu gewährleisten ist jedoch nicht Aufgabe des BVerfGs, sondern der Fachgerichte.

E. Historische Entwicklung der gesetzlichen Grundlagen „Die Geschichte der Fehlurteile führt durch alle Zeiten und alle Völker. Der Irrtum der Zeugen, Sachverständigen, Ermittler und Urteiler ist mit dem Wesen des Menschen verbunden. Menschliche Lügenhaftigkeit und Machtwille gefährden die Urteilsfindung, solange Urteile gefällt werden.“943

Der Umgang mit Fehlurteilen geht nach dieser Aussage Peters’ weit zurück. Um das geltende Wiederaufnahmerecht und die darin zum Ausdruck kommende Intention des Gesetzgebers nachvollziehen zu können, erscheint es daher angebracht, auch im Hinblick auf Reformfragen die Geschichte des Wiederaufnahmerechts eingehender zu untersuchen. Das geltende Wiederaufnahmerecht beinhaltet Elemente des akkusatorischen, aber auch des inquisitorischen Prozessverständnisses.944 Während im Inquisitionsprozess angesichts der materiellen Wahrheit die Rechtskraft von untergeordneter Bedeutung ist, dominiert im Akkusationsprozess der Gedanke der Rechtssicherheit durch Rechtskraft.

943  Peters,

Fehlerquellen im Strafprozeß I, S. 25. Die Wiederaufnahme des Strafverfahrens, S. 6. Petermann, in: Miebach / Hohmann, Wiederaufnahme in Strafsachen, Teil B, Rz. 8. 944  Wasserburg,

170

Teil 1: Rechtliche Grundlagen zum geltenden Wiederaufnahmerecht

I. Die Wiederaufnahme im inquisitorischen Prozess Die Wahrheit war bereits Leitgedanke des mittelalterlichen Inquisitionsprozesses, der seit jeher die Beseitigung unrichtiger Entscheidungen verlangte.945 Damit überwog die Wahrheit gegenüber der durch Rechtskraft eintretenden Rechtssicherheit. Im reinen Inquisitionsprozess reichte daher die Behauptung von nova für die Zulassung der Wiederaufnahme.946 Wie bereits im römischen und kanonischen Recht beinhaltete das Wiederaufnahmerecht bis zur RStPO von 1877 als inquisitorisch geprägtes Verfahrensrecht die günstige Wiederaufnahme ex capite novorum.947 Diese weitreichende Zulassung der Wiederaufnahme wurde insbesondere mit der ständigen Legitimationsbedürftigkeit eines Strafanspruchs, der Schuld voraussetzt, begründet.948

II. Die Wiederaufnahme im akkusatorischen Prozess Im 19. Jahrhundert schließlich wuchs die Forderung nach einem gerechten und rechtsstaatlichen Verfahren, um den durch ein Strafverfahren angestrebten Rechtsfrieden herbeizuführen.949 Der Inquisitionsprozess wurde durch den auf einer Anklage beruhenden Prozess ersetzt.950 Zugleich stieg das Bedürfnis nach Rechtssicherheit. Die Verbindlichkeit einer gerichtlichen Entscheidung sollte nicht in Frage stehen. Anfechtbar war das Urteil nur im Hinblick auf Rechtsmängel, die Richtigkeit der Urteilsgrundlagen blieb einer Überprüfung entzogen.951 Im akkusatorischen Prozess war die Wiederaufnahme demnach nur bei groben Verfahrensverstößen zulässig.952 Damit wurde mit Anerkennung der Rechtskraft das Prozessziel der materiellen Wahrheit eingeschränkt.953 945  So wurde der durch ein Fehlurteil Verurteilte durch den Landesherren bspw. entschädigt, vgl. Grüner / Wasserburg, NStZ 1999, 286, 289; Gössel, NStZ 1993, 565. 946  Wasserburg, Die Wiederaufnahme des Strafverfahrens, S. 6. Dies war deshalb ohne großen Aufwand möglich, da das Verfahren ausschließlich schriftlich durchgeführt wurde. Vgl. KK-Hannich, Vorbemerkungen zu § 359 / 6. 947  Wasserburg, Die Wiederaufnahme des Strafverfahrens, S. 6. 948  Wasserburg, Die Wiederaufnahme des Strafverfahrens, S. 7. 949  Mit Anerkennung des gerechten Verfahrens wurde der Beschuldigte zum Prozesssubjekt erhoben, der eigene prozessuale Rechte wahrnehmen kann, und dessen subjektive Rechte Schutz durch Beweisverbote erfahren. Im reformierten Strafprozess gibt es keine Wahrheitsermittlung um jeden Preis, vgl. Grüner / Wasserburg, NStZ 1999, 286, 289. 950  Wasserburg, Die Wiederaufnahme des Strafverfahrens, S. 7. 951  Wasserburg, Die Wiederaufnahme des Strafverfahrens, S. 8.



E. Historische Entwicklung der gesetzlichen Grundlagen 171

III. Die Wiederaufnahme im reformierten Strafprozess Den Wiederaufnahmegründen des geltenden Rechts lässt sich der Gedanke entnehmen, dass Zweifel an der Wahrheit eines Urteilsspruchs die Wiederaufnahme eines Verfahrens begründen sollen.954 Fehler im Rahmen eines Verfahrensablaufs als Rechtsanwendungsfehler bleiben hingegen dem Rechts­mittelverfahren vorbehalten. Das Wiederaufnahmerecht ist nach der Wertentscheidung des Gesetzgebers folglich ultima ratio gegen die Rechtskraft einer Entscheidung und zugleich die Entscheidung des Gesetzgebers für die Prozessziele der Wahrheit und Gerechtigkeit. Nur ein wahres Urteil vermag Rechtsfrieden herzustellen.955 Das geltende Wiederaufnahmerecht wird schließlich dominiert vom reformierten Strafprozess, der inquisitorische956 mit parteiprozessualen957 Komponenten vereint, um den Rechtsfrieden durch ein wahres Urteil als Abschluss eines gerechten Verfahrens wiederherzustellen.958 Das inquisitorische Element959 mit den Anforderungen an die richterliche Überzeugungsbildung aus § 261 StPO und der Überprüfung durch die Staatsanwaltschaft als unabhängige Anklagebehörde, überwiegt im Aditions- und Probationsverfahren. Nach dem Willen des Gesetzgebers der RStPO sollte die hinreichende Wahrscheinlichkeit eines Irrtums für die Wiederaufnahme eines Verfahrens ausreichen.960 Auch die Wiederaufnahmegründe der § 359 Nr. 5 und § 362 Nr. 4 StPO sind Ausdruck des Inquisitionsgedankens, während mit §§ 359 Nr. 1–3 und 362 Nr. 1–3 StPO akkusatorische Ideen verfolgt werden.961

952  KK-Hannich, Vorbemerkungen zu § 359 / 6; Wasserburg, Die Wiederaufnahme des Strafverfahrens, S. 9. 953  Grüner / Wasserburg, NStZ 1999, 286, 289. 954  Grüner / Wasserburg, NStZ 1999, 286, 289. 955  Grüner / Wasserburg, NStZ 1999, 286, 290. 956  Dies bedeutet eine Konzentration der Aufklärungs-, Sachleitungs- und Entscheidungskompetenz in der Hand des Tatgerichts, vgl. Grüner / Wasserburg, NStZ 1999, 286, 287. 957  Diese Komponente folgt aus der Stellung des Beschuldigten als Prozesssubjekt sowie aus seinen Verteidigungsmöglichkeiten, wie insbesondere dem Beweisantragsrecht und der Möglichkeit zur Durchführung außergerichtlicher eigener Ermittlungen, vgl. Grüner / Wasserburg, NStZ 1999, 286, 287. 958  Grüner / Wasserburg, NStZ 1999, 286, 289. 959  Grüner / Wasserburg, NStZ 1999, 286, 287. A. A. Wasserburg, der ausführt, dass der Gedanke der Rechtskraft im Vordergrund steht, vgl. Wasserburg, Die Wiederaufnahme des Strafverfahrens, S. 10. 960  Wasserburg, Die Wiederaufnahme des Strafverfahrens, S. 10. 961  Wasserburg, Die Wiederaufnahme des Strafverfahrens, S. 11.

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Teil 1: Rechtliche Grundlagen zum geltenden Wiederaufnahmerecht

Die erneute Hauptverhandlung stellt ebenso eine Ausprägung des Akkusationsprozesses dar.962

IV. Entwicklung der Gesetzgebung Die 1877 verabschiedete RStPO trat am 01.10.1879 in Kraft. Bis heute wurde das Recht der Wiederaufnahme nur geringfügig modifiziert.963 Im Wesentlichen entspricht die geltende Gesetzeslage dem Gesetzesstand der §§ 399 bis 413 der StPO von 1877964 – auch die ungünstige Wiederaufnahme war bereits Gesetzesinhalt.965 In den Gesetzesmaterialien zu § 399 RStPO, dem heutigen § 359 StPO, findet sich der Hinweis, dass gegen die Regelung des § 399 Nr. 5 RStPO, im Gegensatz zu den unbedenklichen Wiederaufnahmegründen der § 399 Nr. 1–4 RStPO, sehr erhebliche Bedenken bestehen könnten. So hätte etwa die Preussische Verordnung vom 03.01.1849 eine auf neue Tatsachen oder Beweismittel gestützte Wiederaufnahme nicht gewährt. Den Gesetzesmaterialen lässt sich jedoch weiter entnehmen, dass dies in der Rechtsübung wiederholt zu Härten geführt hätte, welche auf die Notwendigkeit der Erweiterung der gesetzlichen Wiederaufnahmegründe hingedeutet hätten. Es hat im Gesetzgebungsverfahren zwar Stimmen gegeben, die den Ausgleich derartiger Härten dem Gnadenweg vorbehalten wollten, anstatt „den wichtigen Grundsatz von der Rechtskraft der Strafurtheile wiederum in der Gestaltlosigkeit des älteren Untersuchungsprozesses untergehen zu lassen.“966 Der Gesetzgeber entschied sich jedoch für den Wiederaufnahmegrund der neuen Tatsachen und Beweismittel. Die grundsätzliche Notwendigkeit des Instituts der Wiederaufnahme wurde seit 1879 soweit ersichtlich nicht angezweifelt. Reformdiskussionen bezogen sich vielmehr darauf, das Verhältnis zwischen Rechtskraft und materieller Wahrheit zu verändern.967 Bereits 1908 legte das Reichsjustizamt einen Entwurf zur Modifikation des Wiederaufnahmerechts vor, der keine Differenzierung mehr zwischen der günstigen und ungünstigen Wiederaufnahme vorsah und auf drei Bestimmungen reduziert war. Mit § 354 StPO-E 1908 sah er die auf nova gestützte 962  Wasserburg,

Die Wiederaufnahme des Strafverfahrens, S. 13. GA 1972, 97, 111 ff. 964  Hahn, Materialien zur RStPO, Band 1, S. 41–43. 965  Wasserburg, Die Wiederaufnahme des Strafverfahrens, S. 13. 966  Hahn, Materialien zur RStPO, Band 1, S. 262. 967  Wasserburg, Die Wiederaufnahme des Strafverfahrens, S. 12. 963  Dippel,



E. Historische Entwicklung der gesetzlichen Grundlagen 173

günstige Wiederaufnahme vor.968 Bloße Zweifel sollten jedoch nicht mehr für die Wiederaufnahme eines Verfahrens ausreichen, u. a. weil die früheren Grundlagen des Urteils nicht mehr reproduzierbar waren.969 Mit § 353 ­StPO-E wurde als ausreichend erachtet, dass ein falsches Zeugnis oder Gutachten das Urteil beeinflusst hätte haben können, ohne dass es insoweit auf die Strafbarkeit eines Zeugen oder Gutachters ankam.970 In einem Gesetzesentwurf von 1909 wurde für § 399 Nr. 5 StPO gefordert, dass die neuen Tatsachen oder Beweismittel die Unschuld beweisen oder jedenfalls belegen, so dass kein begründeter Tatverdacht gegen den Betroffenen bestehe. Diese Überlegungen können heute nicht mehr überzeugen, kann doch die Wiederaufnahme bereits von ihrem Sinn und Zweck nicht auf Fälle der eindeutigen oder nahezu erwiesenen Unschuld eingeschränkt werden. Dies würde zu einer nicht hinnehmbaren Einschränkung führen, weil ein vollständiger Unschuldsbeweis in kaum einem Fall gelingen würde.971 1919 sah ein Gesetzesentwurf hinsichtlich der Wiederaufnahme aufgrund von neuen Tatsachen oder Beweismitteln vor, dass im Ergebnis kein begründeter Tatverdacht gegen den Verurteilten mehr angenommen werden dürfe.972 1924 wurden im Zuge von Änderungen des GVG und der StPO die Wiederaufnahmegründe in § 359 StPO normiert. Der Anwendungsbereich des § 359 Nr. 5 StPO sollte insoweit verändert werden, dass nicht mehr nur in den vor dem Schöffengericht verhandelten Sachen, sondern auch in vor dem Amtsrichter verhandelten Sachen nur solche Tatsachen und Beweismittel beigebracht werden können, welche der Verurteilte im früheren Verfahren einschließlich der Berufungsinstanz nicht gekannt hatte oder ohne Verschulden nicht hat geltend machen können.973 Mit dem Einführungsgesetz von 1930 wurden die Wiederaufnahmegründe neu gefasst, und deren wesentliche Erweiterung angestrebt. Vorgesehen war bspw. die Wiederaufnahme bei Strafen, Nebenstrafen, Nebenfolgen oder Maßregeln zuzulassen, auf die nach dem Gesetz nicht hätte erkannt werden dürfen. Die Wiederaufnahme sollte auch bei Verletzung des ne bis in idem Grundsatzes (§ 360a StPO-E 1930) anwendbar sein.974 Vorgesehen war zudem, die Wiederaufnahmegründe des § 359 Nr. 1, 2 und 4 StPO zu streichen, 968  Wasserburg,

Die Wiederaufnahme des Strafverfahrens, S. 14 und 35. Die Wiederaufnahme des Strafverfahrens, S. 14. 970  Wasserburg, Die Wiederaufnahme des Strafverfahrens, S. 14. 971  Peters, Fehlerquellen im Strafprozeß III, S. 25. 972  Dippel, GA 1972, 97, 112; Wasserburg, Die Wiederaufnahme des Strafverfahrens, S. 14. 973  Wasserburg, Die Wiederaufnahme des Strafverfahrens, S. 15, 37. 974  Dippel, GA 1972, 97, 113. 969  Wasserburg,

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Teil 1: Rechtliche Grundlagen zum geltenden Wiederaufnahmerecht

da diese bereits in der Generalklausel des § 359 Nr. 5 StPO enthalten waren.975 Die Wiederaufnahme sollte in § 360 Abs. 1 StPO-E 1930 mit dem Ziel der Verfahrenseinstellung zugelassen werden976, auch eine andere Bestrafung aufgrund desselben Gesetzes sollte mögliches Wiederaufnahmeziel sein.977 Im Bezug auf nova-gestützte Wiederaufnahmen sah der Entwurf mit § 360 Abs. 3 StPO-E 1930 vor, dass neue Tatsachen und Beweismittel solche seien, die bei der Verurteilung nicht berücksichtigt waren, unabhängig davon, ob sie sich bereits aus den Verfahrensakten ergaben.978 Zudem sollte die Wiederaufnahme unabhängig davon möglich sein, ob der Verurteilte die neuen Tatsachen oder Beweismittel bereits im früheren Verfahren gekannt oder schuldhaft nicht vorgebracht hatte. Mit § 360a StPO-E sah der Entwurf weiter vor, dass der zu Unrecht Verurteilte ausdrücklich einen Anspruch auf Beseitigung oder Änderung des Urteils hatte.979 Der Gesetzesentwurf enthielt auch bereits den Entwurf eines § 23 Abs. 2 StPO-E 1930, wonach der in der Sache vorbefasste Richter von der Mitwirkung im Wiederaufnahmeverfahren ausgeschlossen wurde, ohne dass der Entwurf insoweit Gesetz wurde.980 Auch § 359 Nr. 5 S. 2 StPO sollte gestrichen werden.981 Mit Einführung der Maßregeln der Besserung und Sicherung wurde 1933 auch das Wiederaufnahmeziel einer wesentlich anderen Entscheidung über Maßregeln der Besserung und Sicherung normiert.982 Zugleich wurde § 363 Abs. 2 StPO eingefügt.983 1935 wurde das Verbot der reformatio in peius aufgehoben.984 Mit dem Gesetzesentwurf von 1939 sollte die ungünstige Wiederaufnahme keinen strengeren Maßstäben unterliegen als die günstige. Zulässig sollte die Wiederaufnahme sein, die eine wesentlich mildere Ahndung oder eine wesentlich andere Entscheidung über eine Maßregel der Besserung und Sicherung verfolgte. So sei es ein Gebot der materiellen Gerechtigkeit, die Straf975  Wasserburg, Die Wiederaufnahme des Strafverfahrens, S. 15; Dippel, GA 1972, 97, 112. 976  Dippel, GA 1972, 97, 112. 977  Deml, Zur Reform der Wiederaufnahme des Strafverfahrens, S. 18. 978  Dippel, GA 1972, 97, 113. 979  Wasserburg, Die Wiederaufnahme des Strafverfahrens, S. 15 und 35 f.; Dippel, GA 1972, 97, 113. 980  Dippel, GA 1972, 97, 113. 981  Dippel, GA 1972, 97, 113. 982  Ausführungsgesetz zum Gesetz gegen gefährliche Gewohnheitsverbrecher und über Maßregeln der Sicherung und Besserung vom 24.11.1933, RGBl. Jahrgang 1933, Teil I, S. 1002. 983  Dippel, GA 1972, 97, 114. 984  LR-Gössel, Vor § 359; Wasserburg, Die Wiederaufnahme des Strafverfahrens, S. 16.



E. Historische Entwicklung der gesetzlichen Grundlagen 175

maßwiederaufnahme unabhängig davon zuzulassen, ob sich die wesentlich mildere Strafe aufgrund desselben oder eines anderen Gesetzes ergebe. Dies gelte auch für die ungünstige Wiederaufnahme.985 Die Wiederaufnahme sollte insgesamt nur noch dann möglich sein, wenn eine Urteilsänderung mit großer Wahrscheinlichkeit zu erwarten sei.986 1940 wurde im Zusammenhang mit der Neuregelung der Zuständigkeitsverordnung für den Oberreichsanwalt mit § 370 StPO die Möglichkeit der Erhebung einer Nichtigkeitsbeschwerde eingeräumt, § 34 VO, wenn das Urteil wegen eines Fehlers bei der Rechtsanwendung auf die festgestellten Tatsachen ungerecht war.987 Bedenken gegen die Ausgestaltung dieser Rechtsbehelfe wurden zu Recht dahingehend erhoben, dass die Durchbrechung der Rechtskraft im Wege politischer Willkür möglich wurde.988 Das NS-Regime missbrauchte die Nichtigkeitsbeschwerde zuungunsten des Betroffenen.989 Der nationalsozialistische Gesetzgeber hatte nicht nur das Wiederaufnahmerecht ausgedehnt, sondern auch Möglichkeiten zur Beseitigung der Rechtskraft eingeführt, um aus politischen Gründen unliebsame Urteile angreifen zu können.990 So wurde im Zusammenhang mit der Vereinfachungsverordnung von 1943 wiederum die ungünstige Wiederaufnahme erheblich ausgeweitet (das Verfahren konnte zuungunsten des Beschuldigten aufgrund neuer Tatsachen und Beweismittel nach dem Ermessen der Staatsanwaltschaft wiederaufgenommen werden991), aber durch Beseitigung des § 359 Nr. 5 S. 2 StPO zugleich eine nicht unwesentliche Erweiterung der günstigen Wiederaufnahme vorgenommen.992 Zeitgleich wurden die Wiederaufnahmegründe des § 359 Nr. 1–4 und § 362 Nr. 1–4 StPO abgeschafft. § 359 StPO wurde durch die dritte Vereinfachungsverordnung so umgestaltet, dass die Wiederaufnahme bei Vorliegen neuer Tatsachen und Beweismittel zugunsten wie auch zuungunsten zulässig war. § 359 Nr. 2 StPO stellte klar, dass die ungünstige Wiederaufnahme zum Schutz des Volkes notwendig sei. 985  Wasserburg, Die Wiederaufnahme des Strafverfahrens, S. 16; Ziemba, Die Wiederaufnahme des Verfahrens zuungunsten des Freigesprochenen oder Verurteilten, S. 68. 986  Dippel, GA 1972, 97, 115. 987  Lampe, GA 1968, 33, 36; Dippel, GA 1972, 97, 115. Eine entsprechende Möglichkeit sah später die DDR mit dem Rechtsbehelf der Kassation in §§ 301 ff. DDRStPO vor. 988  Lampe, GA 1968, 33, 37. 989  Wasserburg, Die Wiederaufnahme des Strafverfahrens, S. 16. 990  Hanack / Gerlach / Wahle, Denkschrift zur Reform des Rechtsmittelrechts und der Wiederaufnahme, S. 74. 991  SK-Frister, § 362 / 2. 992  Wasserburg, Die Wiederaufnahme des Strafverfahrens, S. 17; Dippel, GA 1972, 97, 117.

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Teil 1: Rechtliche Grundlagen zum geltenden Wiederaufnahmerecht

§§ 362 und 363 StPO wurden abgeschafft, § 373a StPO eingeführt. Neu gefasst wurden schließlich auch § 367 Abs. 1 S. 2 StPO und § 370 Abs. 1 ­StPO.993 Zwischen 1933 und 1945 erfuhr das Wiederaufnahmerecht mehrfach Veränderungen, die durch das Vereinheitlichungsgesetz von 1950, das den bis 1933 geltenden Gesetzeszustand wiederherstellte, obsolet wurden.994 Insbesondere wurden das Verbot der reformatio in peius und der Ausschluss der Strafmilderungswiederaufnahme mit § 363 StPO wieder eingeführt.995 Maßregeln der Besserung und Sicherung fanden in § 359 Nr. 5 und § 373 Abs. 2 S. 2 StPO Berücksichtigung.996 § 359 Nr. 5 S. 2 StPO wurde gestrichen, der eine Einschränkung dahingehend enthalten hatte, dass bei Amtsrichter- und Schöffengerichtssachen Tatsachen und Beweismittel dann nicht mehr als neu galten, wenn sie dem Verurteilten bereits im Ausgangsverfahren bekannt waren oder hätten bekannt sein können.997 Mit Gesetz vom 04.08.1953 wurde neben § 362 Nr. 2 StPO mit § 364 S. 2 StPO eine Verfahrenserleichterung für den Antragsteller eingeführt, nach der die Einschränkung des § 364 S. 1 StPO nicht für den Wiederaufnahmegrund des § 359 Nr. 5 StPO gilt. 1964 und 1975 wurden die Anwesenheitsrechte von Verfahrensbeteiligten bei der Beweisaufnahme im Probationsverfahren ausgeweitet, § 369 Abs. 3 StPO.998 Ebenfalls 1964 wurde das Beschwerderecht der Staatsanwaltschaft, bei Anordnung einer Wiederaufnahm gem. § 372 S. 2 StPO aufgehoben.999 Zugleich wurde § 23 Abs. 2 StPO eingeführt, nach dem ein an der Grundentscheidung mitwirkender Richter von weiteren Entscheidungen im Wiederaufnahmeverfahren ausgeschlossen ist.1000 Die RiStBV beinhaltet seit 1970 mit Nr. 170 RiStBV die Sollvorschrift, dass der Staatsanwalt, der an dem Verfahren beteiligt war, in der Regel nicht mehr in dem Wiederaufnahmeverfahren mitwirken soll. 993  LR-Gössel,

Vor § 359. Vorbemerkungen zu § 359 / 7. 995  Wasserburg, Die Wiederaufnahme des Strafverfahrens, S. 17; Dippel, GA 1972, 97, 117. 996  LR-Gössel, Vor § 359. 997  Peters, Strafprozeß, S. 638. 998  StPÄG vom 19.12.1964, BGBl. Nr. 63, Jahrgang 1964, S. 1067; 1. StVRG vom 09.12.1974, BGBl. Nr. 132, Jahrgang 1974, Teil I, S. 3402. 999  StPÄG vom 19.12.1964, BGBl. Nr. 63, Jahrgang 1964, S. 1067. 1000  Wasserburg, Die Wiederaufnahme des Strafverfahrens, S.  17. Gem. § 23 Abs. 2 StPO ist auch der Richter, der an der Revisionsentscheidung mitgewirkt hat, im Wiederaufnahmeverfahren ausgeschlossen, vgl. BVerfG, Urteil vom 27.01.1971, 2 BvR 507 / 69, 2 BvR 511 / 69, in: BeckRS 1971, 00476. 994  KK-Hannich,



E. Historische Entwicklung der gesetzlichen Grundlagen 177

Die Entwicklung des Wiederaufnahmerechts zeigt, dass die Überwindung richterlicher Entscheidungen oft abhängig von politischen Anschauungen war. Neben der gesetzlich normierten Möglichkeit zur Überwindung der Rechtskraft ist einem Missbrauch jedoch nur dann Tür und Tor geöffnet, wenn die Intention, mit der die Rechtskraft überwunden wird, rechtspolitisch motiviert ist, sie also nicht darauf gerichtet ist, dem Recht zum Durchbruch zu verhelfen, sondern einen Eingriff in die Gewaltenteilung bezweckt.1001 Insgesamt verdeutlicht die Gesetzesentwicklung, dass seit 1877 die Möglichkeit der günstigen Wiederaufnahme stetig verbessert werden sollte.1002 Besondere Erwähnung finden die Gesetzesentwürfe aus den Jahren 1974, 1993, 1996 und 2008, auf die im Folgenden näher eingegangen werden soll. Insbesondere soll auch der 2015 vorgelegte Bericht der Expertenkommission näher beleuchtet werden. 1. Gesetzesentwurf des 1. StRVG von 1974 Die Bestellung eines Verteidigers für das Wiederaufnahmeverfahren gem. §§ 364a, b StPO wurde durch das Erste Gesetz zur Reform des Strafverfahrensrechts 1974 (1. StVRG) ermöglicht1003, und sollte zu einer wesentlichen Verbesserung der verfahrensrechtlichen Situation des Antragstellers führen.1004 Zugleich wurden die in § 369 Abs. 3 StPO normierten Anwesenheitsrechte modizifiert, gem. § 369 Abs. 3 S. 3 StPO das Anwesenheitsrecht des Verurteilten eingeschränkt.1005 Ebenfalls übertrug das 1. StVRG, in Abänderung des § 367 StPO, die örtliche Zuständigkeit in Wiederaufnahmeverfahren mit § 140a GVG einem anderen Gericht mit gleicher sachlicher Zuständigkeit – und damit einhergehend auch unter Mitwirkung einer anderen Staatsanwaltschaft.1006 Der seinerzeitige Regierungsentwurf wollte mit § 372 Abs. 2 StPO zugleich das Beschwerdegericht bestimmen lassen, ob ein etwaig weiteres Verfahren vor einer anderen Abteilung oder Kammer des Gerichts stattzufinden habe, das den Wiederaufnahmeantrag abgelehnt hatte – oder vor einem benachbarten gleichrangigen, zum selben Land gehörenden Gericht.1007 1001  Ausführlich

hierzu Lampe, GA 1968, 33, 38. GA 1972, 97, 119. 1003  1. StVRG vom 09.12.1974, BGBl. Nr. 132, Jahrgang 1974, Teil I, S. 3402. § 364b Abs. 2 wurde durch das StVÄG vom 27.01.1987, BGBl. Nr. 9, Jahrgang 1987, Teil I, S. 476 den Regelungen der ZPO angeglichen. 1004  Wasserburg, Die Wiederaufnahme des Strafverfahrens, S. 18. 1005  1. StVRG vom 09.12.1974, BGBl. Nr. 132, Jahrgang 1974, Teil I, S. 3402. 1006  1. StVRG vom 09.12.1974, BGBl. Nr. 132, Jahrgang 1974, Teil I, S. 3402. 1007  BT-Drs. 7 / 551, S. 12. 1002  Dippel,

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Teil 1: Rechtliche Grundlagen zum geltenden Wiederaufnahmerecht

Vorgesehen war mit § 364c StPO die bereits oben, S. 45 ff., erörterte Ermittlungspflicht der Staatsanwaltschaft. Diese sollte auf Antrag des Verteidigers zur Vorbereitung eines Wiederaufnahmeantrags diejenigen Ermittlungen anstellen, die dem Verurteilten oder seinem Verteidiger nicht zuzumuten sind.1008 Der Verurteilte sollte damit in die Lage versetzt werden, die tatsächlichen Grundlagen für seinen Antrag zu schaffen.1009 Durch die Vorermittlungen und den rechtlichen Beistand würde die Anzahl unberechtigter Anträge laut Gesetzesentwurf zurückgehen.1010 Nach Einschaltung des Vermittlungsausschusses wurde der Gesetzesvorschlag, der im Bundestag bereits in der dritten Lesung beschlossen worden war, letztlich verworfen.1011 Der Gesetzgeber hielt bereits bei den Beratungen zum 1. StVRG eine grundlegende Reform des Wiederaufnahmerechts auf Grundlage zweier rechtsvergleichender Gutachten für dringend geboten.1012 Er stellte diese jedoch mangels erforderlicher Rechtstatsachenforschung vorerst zurück1013 und begnügte sich mit der Änderung der verfahrensrechtlichen Stellung des Verurteilten. Der Rechtsausschuss des Bundestags bedauerte ausdrücklich, dass im Zuge des 1. StRVG noch kein Vorschlag zur grundlegenden Reform des Wiederaufnahmerechts eingebracht wurde.1014 2. Gesetzesentwurf von 1993 Mit einem 1993 in den Bundestag eingebrachten Gesetzesentwurf sollte das Recht der Wiederaufnahme grundlegend verändert werden. Statt den Wiederaufnahmegründen der § 359 Nr. 1–5 StPO, sah die Generalklausel des § 359 Nr. 1 StPO-E vor, dass die Wiederaufnahme bei Vorliegen neuer Tatsachen und Beweismittel möglich sei. Mit § 359 Nr. 2 StPO-E wurde zugleich angedacht, auch Rechtsanwendungsfehler oder offensicht­ liche Verletzungen der rechtsstaatlichen Verfahrensgrundsätze angreifbar zu machen, wenn das Urteil gem. § 359 Abs. 2 StPO-E noch nicht in einer zweiten Instanz bestätigt wurde. Nach Ermessen des Wiederaufnahmegerichts sollte eine mündliche Verhandlung ermöglicht werden, in der über die Begründetheit des Antrags ent1008  BT-Drs.

7 / 551, S. 12. 7 / 551, S. 52. 1010  BT-Drs. 7 / 551, S. 52. 1011  Krägeloh, NJW 1975, 137, 138. 1012  BT-Drs. 7 / 551, S. 34. 1013  Protokolle der Expertenkommission, Anlagenband II, S. 279, http: /  / www. bmjv.de / SharedDocs / Downloads / DE / PDF / Anlage_2_StPO_Kommission.pdf?__ blob=publicationFile&v=2 (zuletzt aufgerufen am 26.08.2016). 1014  BT-Drs. 7 / 2600, S. 7. 1009  BT-Drs.



E. Historische Entwicklung der gesetzlichen Grundlagen 179

schieden würde; bei Tatsachenfehlern sollte auf Antrag des Verurteilten stets mündlich verhandelt werden.1015 Mit § 359 Abs. 4 StPO-E sah der Entwurf auch eine Antragsfrist von zehn Jahren für Vergehen und 20 Jahre für Verbrechen vor. § 363 und § 364 StPO sollten ersatzlos entfallen.1016 Die ungünstige Wiederaufnahme sollte auf Mord und Völkermord beschränkt werden, jedoch als Wiederaufnahmegrund ebenfalls neue Tatsachen und Beweismittel vorsehen1017, und nur bei „Ausschluss jeden Zweifels“ einer Überführung möglich sein.1018 Begründet wurde der Gesetzesentwurf u. a. damit, dass ein aus Mangel an Beweisen erfolgter Freispruch kein Fehlurteil sei, sondern eine entsprechend den Prinzipien der StPO zustande gekommene, rechtmäßige Entscheidung. Zudem wurde argumentiert, dass die Strafverfolgungsbehörden über Möglichkeiten verfügten, einen Sachverhalt umfassend aufzuklären, so dass sie sämtliche be- und entlastenden Umstände bereits im Ausgangsverfahren beibringen müssten.1019 Der Entwurf hatte auch eine Konkretisierung der Erheblichkeitsprüfung im Aditions- und Probationsverfahren zum Ziel. Mit § 370 Abs. 1 StPO-E sollte der Wahrscheinlichkeitsmaßstab für die Prüfung der Begründetheit normiert werden.1020 Für die Zulässigkeit des Antrags hingegen sollte die Möglichkeit einer Verbesserung des Urteils ausreichen.1021 Die Wiederaufnahme sollte nach dem Gesetzesentwurf zugleich mit dem Ziel einer Verfahrenseinstellung sowie einer wesentlichen Strafmilderung möglich sein.1022 Nach Beratung im Rechtsausschuss wurde, abgesehen von der Erweiterung der Wiederaufnahmegründe um § 359 Nr. 6 StPO, der Gesetzesentwurf durch die Fraktion und ohne weitere Beratung zurückgezogen.1023 1015  BT-Drs.

12 / 6219, S. 3 und 8. 12 / 6219, S. 3. 1017  BT-Drs. 12 / 6219, S. 3. Zustimmend J. Meyer, Wiederaufnahmereform, S. 87. 1018  BT-Drs. 12 / 6219, S. 8. Dieser Prognosemaßstab im Wiederaufnahmeverfahren käme jedoch einer endgültigen Entscheidung gleich, und dürfte somit die Besorgnis der Befangenheit begründen. Zudem würde vom Wiederaufnahmegericht verlangt werden, was im Aditionsverfahren kaum zu leisten ist, nämlich den Ausschluss jeden begründeten Zweifels. Der Prognosemaßstab würde auch dem Prinzip der Gesamtwürdigung der Beweise und der Unschuldsvermutung zuwiderlaufen. Vgl. KMREschelbach, § 362 / 66. 1019  BT-Drs. 12 / 6219, S. 7. 1020  BT-Drs. 12 / 6219, S. 3. 1021  BT-Drs. 12 / 6219, S. 6. 1022  BT-Drs. 12 / 6219, S. 7. 1023  BT-Drs. 13 / 10333, S. 4. 1016  BT-Drs.

180

Teil 1: Rechtliche Grundlagen zum geltenden Wiederaufnahmerecht

3. Gesetzesentwurf von 1996 Am 29.01.1996 wurde auf Iniative mehrerer Abgeordneter und der SPDFraktion nochmals ein Gesetzesentwurf zur Reform des strafrechtlichen Wiederaufnahmerechts präsentiert.1024 Vorgesehen war auch nun, die Wiederaufnahme bei offensichtlichen Rechtsanwendungsfehlern zuzulassen und die günstige Wiederaufnahme im Übrigen durch einen allgemeinen Wiederaufnahmegrund der neuen Tatsachen oder Beweismittel zu ersetzen. Die Geltendmachung von Rechtsfehlern sollte wiederum ausgeschlossen sein, wenn das Urteil in zweiter Instanz bestätigt worden war. Verfahrenseinstellung oder wesentliche Milderbestrafung waren weitere Ziele. Ferner wurde vorgeschlagen, die ungünstige Wiederaufnahme nur eingeschränkt bei Mord und Völkermord zuzulassen, und dies neben dem ne bis in idem Grundsatz insbesondere damit begründet, dass die ungünstige Wiederaufnahme, nach Vorbild ausländischer Rechtsordnungen, absoluten Ausnahmecharakter haben solle. Zudem sollte der Maßstab der Erheblichkeits­ prüfung im Aditions- und Probationsverfahren konkretisiert1025 und die Wiederaufnahmeziele erweitert werden. Erneut wurde auch vorgeschlagen, die Möglichkeit zu normieren, über den Antrag auf Wiederaufnahme des Verfahrens in mündlicher Verhandlung entscheiden zu können.1026 Der Gesetzesvorschlag entsprach somit im Wesentlichen – mit Ausnahme der Antragsfrist – dem Gesetzesvorschlag von 1993.1027 Nach erster Lesung und Überweisung an den Rechtsausschuss, legte dieser am 01.04.1998 eine Beschlussempfehlung vor, dergemäß einstimmig die Ergänzung des Wiederaufnahmerechts lediglich im Hinblick auf § 359 Nr. 6 StPO vorgeschlagen wurde.1028 Gegen die Herabsenkung des Niveaus der Prognoseentscheidung im Aditionsverfahren wurde vorgebracht, dass dies zu einer Flut von Wiederaufnahmeverfahren und einer erheblichen Kostenbelastung führen würde. Die Möglichkeit der Wiederaufnahme wegen offensichtlicher Rechtsfehler wurde als nicht notwendig erachtet, da es aus der Praxis keinerlei Anhaltspunkte für die Notwendigkeit einer solchen Regelung gäbe. 1024  BT-Drs.

13 / 3594, S. 1 ff. die Zulässigkeit des Antrags sollte die Möglichkeit einer Urteilsverbesserung bestehen, während für die Begründetheit die Wahrscheinlichkeit einer solchen vorausgesetzt wurde, vgl. BT-Drs. 13 / 3594, S. 6. 1026  BT-Drs. 13 / 3594, S. 2 f. 1027  In beiden Entwürfen wurde zudem vorgesehen, einen Wiederaufnahmegrund für Urteile einzuführen, die gegen die EMRK verstoßen. Dies ist zwischenzeitlich mit § 359 Nr. 6 StPO umgesetzt worden. 1028  BT-Drs. 13 / 10333, S. 1. 1025  Für



E. Historische Entwicklung der gesetzlichen Grundlagen 181

Seitens der SPD-Fraktion wurde im Gegensatz zu den Kolaitionsfraktionen eine weitergehende Reform des Wiederaufnahmerechts für erforderlich erachtet.1029 Durch Gesetz vom 09.07.1998 wurde § 359 Nr. 6 StPO in das Wiederaufnahmerecht eingefügt.1030 4. Gesetzesentwurf des Bundesrats von 2008 Am 05.02.2008 legte der Bundesrat dem Bundestag einen Gesetzesentwurf zur Erweiterung der Wiederaufnahme zuungunsten des Betroffenen vor. So sollte eine Wiederaufnahme auch dann möglich sein, wenn aufgrund neuer, wissenschaftlich anerkannter, technischer Untersuchungsmethoden, die bei Erlass des Urteils, als die urteilsbegründenden Feststellungen letztmalig geprüft werden konnten, noch nicht zur Verfügung standen, und neue Tatsachen oder Beweismittel beigebracht würden, die allein oder in Verbindung mit den früher erhobenen Beweisen zur Überführung eines Freigesprochenen geeignet wären. Zugleich sollte dies auf die Tatbestände des Völkerstrafgesetzbuchs und Mord beschränkt werden.1031 Technische Neuerungen würden fortan eindeutige Nachweise der Täterschaft erlauben und das Festhalten an der Rechtskraft eines freisprechenden Urteils würde zu unerträglichen Ergebnissen führen würde.1032 Gerade bei Mord und Völkermord – auf die aus Verhältnismäßigkeitserwägungen der Entwurf beschränkt wurde – könne das verwirklichte Unrecht nicht mehr hingenommen werden.1033 Es sollte ausreichen, wenn die neuen Tatsachen oder Beweismittel in Verbindung mit den früher erhobenen Beweisen die Überführung des Freigesprochenen ermöglichten.1034 Für die Begründetheit des auf § 362 Nr. 5 StPO-E gestützten Wiederaufnahmeantrags wurde nach dem Prinzip der Rechtssicherheit mit § 370 Abs. 1 StPO-E gefordert, dass dringende Gründe für die Annahme vorhanden sein müssten, dass der Freigesprochene verurteilt oder nur deshalb nicht verurteilt werde, weil seine Schuldunfähigkeit erwiesen oder nicht auszuschließen sei.1035 1029  BT-Drs.

13 / 10333, S. 3. zur Reform des strafrechtlichen Wiederaufnahmerechts BGBl. Nr. 44, Jahrgang 1998, Teil I, S. 1802. 1031  BT-Drs. 16 / 7957, S. 1 f. 1032  BT-Drs. 16 / 7957, S. 6. 1033  BT-Drs. 16 / 7957, S. 6 f. 1034  BT-Drs. 16 / 7957, S. 7. 1035  BT-Drs. 16 / 7957, S. 8. 1030  Gesetz

182

Teil 1: Rechtliche Grundlagen zum geltenden Wiederaufnahmerecht

Die Bundesregierung nahm zu dem Gesetzesentwurf Stellung und hielt das verfolgte Ziel für gut nachvollziehbar. Aufgrund der verfassungsrechtlich und strafverfahrensrechtlich tangierten Fragestellungen wurde jedoch eine genaue Prüfung im Gesetzgebungsverfahren angekündigt.1036 Nachdem der Gesetzesentwurf im Rechtsausschuss des Bundestags diskutiert worden war, endete die Wahlperiode des Bundestages, ohne dass der Gesetzesentwurf verabschiedet worden wäre. Damit trat eine Erledigung des Gesetzesvorhabens gem. § 125 S. 1 GOBT ein.1037 Nach erneuter Vorlage des Gesetzesvorschlags wurde er durch den Bundesrat am 07.05.2010 an die Ausschüsse verwiesen, ohne dass ihm nunmehr nähere Aufmerksamkeit geschenkt worden wäre.1038 5. Justizministerinnen- und Justizministerkonferenz 2013 In der Konferenz der Justizministerinnen und Justizminister im Jahr 2013 wurde davon ausgegangen, dass das geltende Wiederaufnahmerecht einen sachgerechten Ausgleich zwischen Rechtssicherheit und Einzelfallgerechtigkeit herstelle.1039 Ein Reformbedarf wurde daher verneint. 6. Bericht der Expertenkommission 2015 Auch die vom Bundesjustizministerium eingesetzte Expertenkommission sprach sich im Oktober 2015 gegen eine Änderung des Wiederaufnahmerechts aus.1040 Sie erkannte jedoch den Bedarf zur Korrektur von Fehlurteilen in besonders schwerwiegenden Fällen, in denen nur eine Tatsacheninstanz eröffnet sei.1041

1036  BT-Drs.

16 / 7957, S. 9. in: Miebach / Hohmann, Wiederaufnahme in Strafsachen, Teil  B,

1037  Petermann,

Rz. 8.

1038  SK-Frister,

Vor § 359 / 31. der Expertenkommission, Anlagenband II, S. 284, http: /  / www. bmjv.de / SharedDocs / Downloads / DE / PDF / Anlage_2_StPO_Kommission.pdf?__ blob=publicationFile&v=2 (zuletzt aufgerufen am 26.08.2016). 1040  Bericht der Expertenkommission 2015, S. 168, https: /  / www.bmjv.de / Shared Docs / Downloads / DE / PDF / Abschlussbericht_Reform_StPO_Kommission.pdf?__ blob=publicationFile&v=2 zuletzt aufgerufen am 04.04.2016. Drei Kommissionsmitglieder enthielten sich dem Vorschlag, Änderungen im Wiederaufnahmeverfahren anzustreben, fünf unterstützen diesen, sieben Mitglieder stimmten dagegen, vgl. Protokolle der Expertenkommission, Anlagenband II, S.  287, http: /  / www.bmjv.de /  SharedDocs / Downloads / DE / PDF / Anlage_2_StPO_Kommission.pdf?__blob=publica tionFile&v=2 (zuletzt aufgerufen am 26.08.2016). 1039  Protokolle



E. Historische Entwicklung der gesetzlichen Grundlagen 183

Die Kommission erörterte Vorschläge zur Stärkung des Wiederaufnahmerechts, indem die hohen Zulässigkeitserfordernisse gelockert würden. So wurde insbesondere erwogen, das Wiederaufnahmegericht bei der Geeignetheitsprüfung des § 368 Abs. 1 StPO von der Beweiswürdigung des Erstgerichts zu entbinden.1042 Um eine autonome Gesamtwürdigung der Beweis­ ergebnisse durch das Wiederaufnahmegericht zu erreichen, wurde erwogen, § 368 Abs. 1 StPO um einen Satz 2 zu ergänzen: „Bei der Prüfung, ob das Beweismittel geeignet ist, ist das Gericht nicht an die Beweiswürdigung durch das Erstgericht gebunden.“1043

Erneut erwog man, die Ermittlungsbehörden zu verpflichten, den Angeklagten bei seinen Wiederaufnahmebemühungen zu unterstützen. Die Kommission erörterte darüber hinaus den bereits im Rahmen des 1. StrVG diskutierten § 372 Abs. 2 StPO-E, um einen Richter nach Korrektur der Zulässigkeitsentscheidung im Beschwerdeverfahren auszuschließen.1044 Auch die Zulässigkeit der Stafmaßwiederaufnahme wurde diskutiert, ebenso wie eine Divergenzvorlagepflicht für Oberlandesgerichte an den Bundesgerichtshof zur Vereinheitlichung der Rechtsprechung. Schließlich wurde vorgeschlagen, als Teil einer grundlegenden Reform die Zulassung der Beweisantizipation im Rahmen der Aditionsprüfung zu erörtern.1045 Sämtliche Erwägungen wurden schließlich nicht weiter verfolgt, da die Expertenkommission von tatsächlichen Defiziten des geltenden Wiederaufnahmerechts zugunsten des Verurteilten nicht überzeugt war. Zwar sei bei Schaffung des Wiederaufnahmerechts die Wahrscheinlichkeit höher eingeschätzt worden, dass es bei nur einer Tatsacheninstanz zu unrichtigen Sachverhaltsfeststellungen kommen könne. Diese Einschätzung könne jedoch inzwischen durch die zunehmend erweiterte Kontrolle im Wege der revisions-

1041  Bericht der Expertenkommission 2015, S. 169, https: /  / www.bmjv.de / Shared Docs / Downloads / DE / PDF / Abschlussbericht_Reform_StPO_Kommission.pdf?__ blob=publicationFile&v=2 (zuletzt aufgerufen am 04.04.2016). 1042  Bericht der Expertenkommission 2015, S. 168 f., https: /  / www.bmjv.de / SharedDocs / Downloads / DE / PDF / Abschlussbericht_Reform_StPO_Kommission.pdf?__ blob=publicationFile&v=2 (zuletzt aufgerufen am 04.04.2016). 1043  Protokolle der Expertenkommission, Anlagenband II, S. 279, http: /  / www. bmjv.de / SharedDocs / Downloads / DE / PDF / Anlage_2_StPO_Kommission.pdf?__ blob=publicationFile&v=2 (zuletzt aufgerufen am 26.08.2016). 1044  Protokolle der Expertenkommission, Anlagenband II, S. 280, http: /  / www. bmjv.de / SharedDocs / Downloads / DE / PDF / Anlage_2_StPO_Kommission.pdf?__ blob=publicationFile&v=2 (zuletzt aufgerufen am 26.08.2016). 1045  Bericht der Expertenkommission 2015, S. 169, https: /  / www.bmjv.de / Shared Docs / Downloads / DE / PDF / Abschlussbericht_Reform_StPO_Kommission.pdf?__ blob=publicationFile&v=2 (zuletzt aufgerufen am 04.04.2016).

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Teil 1: Rechtliche Grundlagen zum geltenden Wiederaufnahmerecht

gerichtlichen Überprüfung der Beweiswürdigung relativiert werden.1046 Hinzu komme, dass die Rechtssicherheit nur durchbrochen werden dürfe, wenn Zweifel an der materiellen Richtigkeit des Ersturteils auch begründet seien. Die hohen Zulässigkeitsanforderungen würden dem Rechnung tragen. Außerdem müsse in Fällen, in denen Zweifel an der Richtigkeit des Urteils bestünden, auch anzunehmen sein, dass in einem zweiten Verfahren bessere Erkenntnisse gewonnen werden können. Dies sei jedoch – insbesondere bei der Notwendigkeit des Rückgriffs auf Personalbeweise – bereits aufgrund der zeitlichen Distanz zum Geschehen typischerweise nicht der Fall.1047 Auch die Normierung einer Unterstützungspflicht wurde unter Hinweis da­ rauf, dass die Staatsanwaltschaft in begründeten Fällen ohnehin Ermittlungshilfe leiste, für nicht erforderlich erachtet. Lediglich die Aufnahme einer Unterstützungspflicht in die RiStBV wurde befürwortet.1048 Abgesehen davon, dass auch die Expertenkommission damit contra legem eine der Begründetheitsprüfung entsprechende Prüfung im Zulässigkeitsverfahren zulässt, hat bereits Deml zu Recht und ausführlich dargelegt, dass die Gefahr des Beweisverlustes im Wiederaufnahmeverfahren keine entscheidende Rolle spielen kann, und einer Erweiterung des Vorschaltverfahrens nicht von vornherein entgegensteht.1049 Im Hinblick auf verfassungsrechtliche Bedenken sah die Kommission davon ab, Vorschläge zur Erweiterung der ungünstigen Wiederaufnahme (etwa dem Gesetzesvorschlag aus 2008 entsprechend) aufzugreifen.1050 Die Kommission empfahl, durch eine Ausweitung audiovisueller Dokumentation dafür Sorge zu tragen, dass der wahre Sachverhalt bereits im Erstverfahren bestmöglich ermittelt werde.1051 Es mag an fehlenden validen Untersuchungen zum aufgeworfenen Begriff des Fehlurteils gelegen haben, 1046  Bericht der Expertenkommission 2015, S. 169 f., https: /  / www.bmjv.de / Shared Docs / Downloads / DE / PDF / Abschlussbericht_Reform_StPO_Kommission.pdf?__ blob=publicationFile&v=2 (zuletzt aufgerufen am 04.04.2016). 1047  Bericht der Expertenkommission 2015, S. 170, https: /  / www.bmjv.de / Shared Docs / Downloads / DE / PDF / Abschlussbericht_Reform_StPO_Kommission.pdf?__ blob=publicationFile&v=2 (zuletzt aufgerufen am 04.04.2016). 1048  Bericht der Expertenkommission 2015, S. 170, https: /  / www.bmjv.de / Shared Docs / Downloads / DE / PDF / Abschlussbericht_Reform_StPO_Kommission.pdf?__ blob=publicationFile&v=2 (zuletzt aufgerufen am 04.04.2016). 1049  Deml, Zur Reform der Wiederaufnahme des Strafverfahrens, S. 76 ff. 1050  Bericht der Expertenkommission 2015, S. 168, https: /  / www.bmjv.de / Shared Docs / Downloads / DE / PDF / Abschlussbericht_Reform_StPO_Kommission.pdf?__ blob=publicationFile&v=2 (zuletzt aufgerufen am 04.04.2016). 1051  Bericht der Expertenkommission 2015, S.  2, 170, https: /  / www.bmjv.de /  SharedDocs / Downloads / DE / PDF / Abschlussbericht_Reform_StPO_Kommission. pdf?__blob=publicationFile&v=2 (zuletzt aufgerufen am 04.04.2016).



E. Historische Entwicklung der gesetzlichen Grundlagen 185

dass die Kommission im Laufe der Gespräche keine Empfehlung für die Reformierung des Wiederaufnahmerechts aussprach.1052 Dass das geltende Recht indessen dem Anspruch des Verurteilten auf Wiederaufnahme eines Verfahrens gem. § 359 Nr. 5 StPO, entgegen der Kommission, mitnichten ausreichend Rechnung trägt, und der Gesetzgeber konsequentermaßen zur Reformierung des geltenden Rechts berufen ist, belegt die von der Verfasserin durchgeführte Untersuchung.1053 Sie hat ergeben, dass weniger die gesetzliche Regelung das Problem des Wiederaufnahmerechts ist, sondern vielmehr die in der Praxis dominierende restriktive Handhabung durch die Wiederaufnahmegerichte. Die befragten Experten sehen den Gesetzgeber in der Pflicht, u. a. die Hürden des Wiederaufnahmeverfahrens abzusenken. Die Einschätzung der Expertenkommission erscheint umso verwunder­ licher, als bereits 1972 der seinerzeitige Bundesminister Jahn betonte, dass die Reformbedürftigkeit des Wiederaufnahmerechts „seit langem nahezu unbe­stritten“1054 sei. Dennoch entspricht das geltende Wiederaufnahmerecht nach wie vor weitestgehend dem Rechtsstand von 1879. Auch Wasserburg sieht ein Hauptproblem des Wiederaufnahmerechts in der Tatsache, dass aufgrund eines fehlenden Problembewusstseins die Reformbedürftigkeit nicht als dringlich angesehen werde.1055 7. Koaltionsvertrag 19. Legislaturperiode Mit Koalitionsvertrag vom 12.03.2018 sprach sich die Große Koalition für die Erweiterung der Wiederaufnahme zuungunsten des Freigesprochenen in Bezug auf die nicht verjährten Straftaten aus.1056 Dahingehende konkrete Gesetzesvorschläge sind bislang nicht bekannt. Reformvorschläge in Bezug auf die günstige Wiederaufnahme sieht der Koalitionsvertrag indes nicht vor.

1052  Protokolle der Expertenkommission, Anlagenband II, S. 282, http: /  / www. bmjv.de / SharedDocs / Downloads / DE / PDF / Anlage_2_StPO_Kommission.pdf?__ blob=publicationFile&v=2 (zuletzt aufgerufen am 26.08.2016). 1053  s. hierzu unten S. 327 ff. 1054  Protokoll der 191. Sitzung des Deutschen Bundestages vom 14.06.1972, S. 11169. 1055  Wasserburg, Die Wiederaufnahme des Strafverfahrens, S. 2. 1056  Ein neuer Aufbruch für Europa; Eine neue Dynamik für Deutschland; Ein neuer Zusammenhalt für unser Land. Koalitionsvertrag zwischen CDU, CSU und SPD. 19. Legislaturperiode. S. 125, Zeile 5853 f.

Teil 2

Eigene Untersuchung und Reformvorschläge A. Forschungsstand Nach Darlegung der gesetzlichen und verfassungsrechtlichen Grundlagen des Wiederaufnahmerechts sowie der Darstellung der geschichtlichen Entwicklung des Wiederaufnahmerechts soll im Folgenden der Frage nachgegangen werden, inwieweit sich die Wissenschaft mit dem Wiederaufnahmerecht empirisch beschäftigt hat. Anschließend wird die eigene Untersuchung dargestellt (s. u. S.  216 ff.). Dabei ist voranzustellen, dass in Deutschland der Forschungsstand zu Fehlurteilen, im Vergleich zum internationalen Ausland wie etwa China, Norwegen oder der Schweiz, defizitär erscheint. An der Spitze der Fehlurteilsforschung stehen die USA, deren Strafurteile nach dortigen Schätzungen eine Fehlerquote von 3–5 % aufweisen.1 Die Untersuchung von Fehlurteilen ist mit der Forschung zu Wiederaufnahmeverfahren eng verzahnt, da diese hilft, Fehlurteile und deren Ursachen aufzuarbeiten.2

I. Wissenschaftliche Erkenntnisse Anschließend an Mayr, der sich mit der Anzahl beendeter Wiederaufnahmeverfahren in einem Zeitraum von 1881 bis 1909 beschäftigt hatte3, berichtet Alsberg für die Jahre 1908 und 1909 von 508 und 504 beendeten Wiederaufnahmeverfahren, denen jeweils ca. 740.000 Strafklagen zugrunde lagen, die 1908 zu 548.000 und 1909 zu 544.000 Verurteilungen führten4. Sello beschäftigte sich 1911 mit Fehlurteilen und schilderte 208 Fälle, von denen er in 192 Fällen ein Fehlurteil annahm.5 Auch von Schettler wurden für die 1  Dunkel / Kemme,

NK 2016, 138, 147 f. NK 2016, 138. 3  Zwischen 1881 und 1909 wurden 6.516 Wiederaufnahmeverfahren beendet, darunter 1.771 amtsgerichtliche und 4.745 landgerichtliche, zitiert nach Peters, Fehlerquellen im Strafprozess I, S. 10. 4  Alsberg, Justizirrtum und Wiederaufnahme, S. 48. 5  Zitiert nach Dippel, Das geltende deutsche Wiederaufnahmerecht und seine Erneuerung, S. 133. 2  Dunkel / Kemme,



A. Forschungsstand187

Jahre 1927 bis 1929 in Preußen 260 Freisprüche nach durchgeführten Wiederaufnahmeverfahren gezählt.6 Hirschberg veröffentlichte eine aktenmäßige Aufarbeitung von 48 nationalen und internationalen Fehlurteilen, die er auf ihre Ursachen hin untersuchte. Sein Fokus lag dabei insbesondere auch auf der Richterpsychologie.7 Insbesondere Peters sprach sich für eine Untersuchung der in Wiederaufnahmeverfahren aufgehobenen Fehlurteile aus.8 Auch Bundesjustizminister Schäffer hatte 1960 angeregt, eine amtliche Sammlung der strafgerichtlichen Urteile anzulegen, die als Fehlurteile in Wiederaufnahmeverfahren aufgehoben wurden. Durch Bundesjustizminister Stammberger wurde jedoch in der Bundestagssitzung vom 14.02.1962 bekannt gegeben, dass sich die Landesjustizverwaltungen gegen eine derartige Sammlung ausgesprochen hätten. Sie begründeten ihre ablehnende Haltung insbesondere damit, dass kein Raum für eine „amtliche Urteilsschelte“ und schwer festzustellen sei, ob es sich bei einem aufgehobenen Urteil tatsächlich um ein Fehlurteil handle. Auch sei es nicht Aufgabe der Landesjustizverwaltung, die Grundlagen für eine wissenschaftliche Analyse zur Verfügung zu stellen.9 Von Peters wurden ab 1962 nach seiner Berufung an die Universität Tübingen insgesamt 1.115 durchgeführte, mithin als zulässig und begründet erachtete Wiederaufnahmeverfahren untersucht. Seine Arbeit ist die bislang ausführlichste empirische Untersuchung von Fehlurteilen. Peters geht gleichwohl davon aus, dass die tatsächliche Anzahl der Wiederaufnahmeverfahren die von ihm untersuchte Anzahl (1.100 Verfahren in 10 Jahren, mithin 100 Verfahren jährlich) um das Doppelte bis Dreifache übersteige, so dass er für den Zeitraum von 1951 bis 1961 von 2.200 bis 3.300 Wiederaufnahmeverfahren ausgeht. Seine Darstellung kommt zu dem Ergebnis, dass die von ihm untersuchten Wiederaufnahmebemühungen ganz überwiegend zugunsten des Verurteilten durchgeführt wurden. Von den von ihm untersuchten 1.115 Wiederaufnahmeverfahren war nur in 8 % (mithin in 91 Fällen) die ungünstige Wiederaufnahme angestrebt worden, von diesen hatten 25 Anträge keinen Erfolg, die übrigen 66 Verfahren betrafen Delikte der Kleinkriminalität.10 Weiter wären Delikte der schweren, mittleren und leichten Kriminalität jeweils zu gleichen Teilen wiederaufgenommen worden, wobei ein geringes Übergewicht bei der leichten Kriminalität zu konstatieren war. Von den verhängten Strafen hätten 6  Schettler,

DJZ 1932, 396, 399. Das Fehlurteil im Strafprozeß, S. 8 ff. 8  Peters, JZ 1960, 230, 231. 9  Peters, Fehlerquellen im Strafprozess I, S. 1. 10  Wasserburg, Die Wiederaufnahme des Strafverfahrens, S. 20, 270. 7  Hirschberg,

188

Teil 2: Eigene Untersuchung und Reformvorschläge

die mittleren überwogen, von den geltend gemachten Wiederaufnahmegründen die Beibringung neuer Tatsachen oder Beweismittel gem. § 359 Nr. 5 StPO11. Die Wiederaufnahmegründe des § 359 Nr. 3, 4 StPO wären dagegen überhaupt nicht vorgekommen. Bei den Wiederaufnahmeverfahren zuungunsten des Verurteilten hätten die Wiederaufnahmegründe des § 362 Nr. 2, 4 StPO dominiert. Bezogen auf die den Spruchkörper wurden die meisten von Peters untersuchten Wiederaufnahmeverfahren in Einzel- und Schöffengerichtssachen betrieben.12 Judex berichtet 1963 davon, dass laut einer nicht veröffentlichten Mitteilung des Bundesjustizministeriums von den bayerischen Amts- und Landgerichten 56 strafgerichtliche Urteile im Jahr 1957, 70 im Jahr 1958 und 58 im Jahr 1959 durch Wiederaufnahmeentscheidungen aufgehoben wurden. Er geht für Bayern von einer Fehlurteilsquote von etwa 0,46 Promille jährlich aus, in Preußen hingegen von etwa 0,24 Promille. Judex schätzt weiter, dass im Wege der Wiederaufnahme jährlich etwa 150–350 Fehlurteile aufgehoben wurden.13 Kiwit untersuchte für die Zeit von 1950 bis 1958 100 der 105 Wiederaufnahmeverfahren im Oberlandesgerichtsbezirk Hamm, wobei auch er v. a. die Fehlerquellen in den Fokus nahm. Von den untersuchten Fehlurteilen stammten genau 50 % von Amtsgerichten, die andere Hälfte von Landgerichten.14 92 % der untersuchten Fälle waren Wiederaufnahmeverfahren zugunsten des Angeklagten, wovon auch tatsächlich 91 % zu einer Urteilsaufhebung führten, davon 74 % der Fälle zu einem Freispruch. Von den 8 % Wiederaufnahmeverfahren zuungunsten des Angeklagten waren 6 % erfolgreich. Untersucht wurden auch die Gründe für die im Wiederaufnahmeverfahren abgeänderten Fehlurteile. So stellte Kiwit fest, dass in 52 der insgesamt 97 von ihm untersuchten Freisprüche aufgrund fehlender oder falscher Beweismittel fehlende oder falsche Sachbeweise15 überwogen gegenüber 45 Freisprüchen nach fehlenden oder falschen Personalbeweisen.16 In sechs Fällen wurden Urteile 11  Wobei die den Wiederaufnahmeantrag begründenden Tatsachen auch aus Verfahren außerhalb eines Strafverfahrens herrührten wie beispielsweise einem Disziplinar- oder Zivilverfahren. 12  Peters, Fehlerquellen im Strafprozess I, S. 4 ff. 13  Judex, Irrtümer der Strafjustiz, S. 37 ff. 14  Kiwit, Fehlurteile im Strafrecht, S. 2, 115. 15  Wobei er zu den Sachbeweisen auch den Sachverständigenbeweis zählt, vgl. Kiwit, Fehlurteile im Strafrecht, S. 82. 16  Fehlentscheidungen sollen tatsächlich häufiger auf Personalbeweisen beruhen, als auf Sach- bzw. Sachverständigenbeweisen. So fehlten in den meisten Fällen der auf Sach- und Sachverständigenbeweisen zurückgehenden Justizirrtümer die entsprechenden Beweise, nur in 15 Fällen waren sie falsch. Zieht man diese Verfahren ab, so beruhen lediglich 15 der festgestellten Fehlentscheidungen auf falschen Sach- bzw. Sachverständigenbeweisen, hingegen 30 Entscheidungen auf falschen Personalbeweisen. Tatsächlich überwiege demnach der falsche Personal- gegenüber dem falschen



A. Forschungsstand189

im Wiederaufnahmeverfahren abgeändert, da Indizien unzutreffend bewertet wurden. In weiteren 28 der untersuchten Verfahren stellte sich die Unzurechnungsfähigkeit des Angeklagten heraus, in zwölf Fällen wurde der Grundsatz in dubio pro reo vom Tatgericht zunächst falsch oder zu Unrecht nicht angewandt. In 23 der untersuchten Verfahren wurde das Urteil abgeändert, da Zweifel an der Glaubwürdigkeit von Zeugen bestanden. In lediglich zwei Fällen wurden die Urteile aufgrund von falschen Geständnissen17 abgeändert, in vier Fällen aufgrund von Rechtsirrtümern.18 Schöneborn legte mit seiner Habilitationsschrift 1979 erstmals eine Untersuchung auch der gescheiterten Wiederaufnahmeanträge vor. Er monierte die fehlende amtliche Sondererfassung dieser Fälle, weshalb er die Senatsbeschlüsse des Oberlandesgerichts Frankfurt auswertete. Für die Jahre 1970 bis 1975 zählte Schöneborn 102 Wiederaufnahmeentscheidungen, von denen er nur 64 Verfahren einsehen durfte. Die übrigen Akten wurden ihm nicht zur Verfügung gestellt.19 In der Untersuchung erfasst wurden mithin nur solche (landgerichtlichen) Wiederaufnahmeverfahren, in denen das Oberlandesgericht mit der sofortigen Beschwerde angerufen wurde.20 Von den 64 Verfahren stützten sich 55 auf den Wiederaufnahmegrund des § 359 Nr. 5 StPO. Von diesen wurden 36 Anträge als unzulässig verworfen, 17 als unbegründet, wohingegen in zwei Fällen das Erneuerungsverfahren angeordnet wurde. Schöneborn listete die auf § 359 Nr. 5 StPO gestützten Verfahren hinsichtlich der Wahrscheinlichkeit das Wiederaufnahmeziel zu erreichen auf, also hinsichtlich der völligen Untauglichkeit bzw. Irrelevanz des Neuvortrages (21 Fälle), der hochunwahrscheinlichen Möglichkeit (davon acht Fälle als unzulässig, zwölf unbegründet und ein Fall der erneuten Hauptverhandlung) und hinsichtlich der reellen Möglichkeit (davon sieben Fälle unzulässig, fünf unbegründet und ein Erneuerungsverfahren).21 Schöneborn stellte schließlich fest, dass zwölf von 17 Anträgen in das Probationsverfahren gelangten, obwohl ihr Vorbringen völlig untauglich bzw. irrelevant war. 13 der 36 Anträge beinhalteten einen plausiblen Vortrag, wobei sieben davon als unzulässig verworfen wurden, lediglich fünf in das Probationsverfahren gelangten und Sachverständigenbeweis. Insgesamt bestätigt sich, dass der Personalbeweis mehr Risiken in sich birgt als der Realbeweis. Vgl. Kiwit, Fehlurteile im Strafrecht, S. 83 ff. 17  Es ist davon auszugehen, dass Fehlurteile aufgrund falscher Geständnisse heute weitaus häufiger vorkommen. Hauptgrund dafür dürfte die Einführung der Verfahrensabsprachen sein. Hinzu kommt, dass die Anzahl der tatsächlichen Fehlurteile in Folge falscher Geständnisse aufgrund einer empfundenen Gebundenheit an den Inhalt der Verständigung noch weitaus größer sein dürfte. 18  Kiwit, Fehlurteile im Strafrecht, S. 80 f. 19  Schöneborn, Strafprozessuale Wiederaufnahmeproblematik, S. 125. 20  Schöneborn, Strafprozessuale Wiederaufnahmeproblematik, S. 125. 21  Schöneborn, Strafprozessuale Wiederaufnahmeproblematik, S. 126 ff.

190

Teil 2: Eigene Untersuchung und Reformvorschläge

nur in einem Fall eine erneute Hauptverhandlung angeordnet wurde. In 50 % der von Schöneborn untersuchten Fälle wurden mithin „einigermaßen aussichtsreiche (…) Anträge“ als unzulässig verworfen.22 Die Wahrscheinlichkeit für die Anordnung der Wiederaufnahme des Verfahrens läge demnach bei ca. 3 %. Diese Wahrscheinlichkeit erscheint aber bereits deshalb nicht valide, weil Schöneborn keine vollständige Aussage über alle gescheiterten Wiederaufnahmeverfahren treffen konnte, nachdem er das Material nicht sichten durfte.23 Im Zusammenhang mit dem Entwurf eines Gesetzes zur Reform des strafrechtlichen Wiederaufnahmeverfahrens vom 29.01.1996 wurde auf die Untersuchung Jürgen Meyers verwiesen, nach der nur etwa 8 % der Wiederaufnahmefälle die ungünstige Wiederaufnahme beträfen.24 Das Landesamt für Statistik Nordrhein-Westfalen hatte schließlich anhand der ihm vorliegenden Zählkarten für einen Zeitraum von 1997 bis 2001 die Form der Erledigung der auf einen Wiederaufnahmeantrag hin eingeleiteten Verfahren ausgewertet (wobei auch hier unter der Rubrik der „sonstigen Erledigung“ nicht zwischen verwerfenden Entscheidungen als unzulässig oder unbegründet differenziert wurde). Hierbei ergab sich für erledigte Wiederaufnahmeanträge folgendes Bild:25 Tabelle 1 Erledigte Wiederaufnahmeverfahren, Amtsgerichte Amtsgerichtliche Verfahren

2001

2000

1999

1998.

1997

z. U.

z. G.

z. U.

z. G.

z. U.

z. G.

z. U.

z. G.

z. U.

z. G.

Anzahl der Anträge (absolut)

241

316

298

321

262

301

258

321

243

329

zulässig und begründet (in %)

83

64,6

88,6

56,1

81,3

56,1

83,3

62,3

79

55,3

Freispruch im neuen Verfahren (in %)

1,7

8,2

2,3

6,5

3,1

7,6

4,7

7,2

2,9

8,8

Einstellungen gem. § 153 II StPO (in %)

9,5

10,1

7,4

8,1

8,4

12,6

6,9

9,3

7,4

9,4

22  Schöneborn,

Strafprozessuale Wiederaufnahmeproblematik, S. 197. NK 2016, 138, 144. 24  BT-Drs. 13 / 1594, S. 7. 25  SK-Frister / Deiters, Vor § 359 / 27 ff. (Stand: Dezember 2002). 23  Dunkel / Kemme,



A. Forschungsstand191 Tabelle 2 Erledigte Wiederaufnahmeverfahren, Landgerichte 2. Instanz Landgerichtliche Verfahren (2. Instanz)

2001

2000

1999

1998

1997

z. U.

z. G.

z. U.

z. G.

z. U.

z. G.

z. U.

z. G.

z. U.

z. G.

Anzahl der Anträge (absolut)

5

19

11

29

8

30

12

18

6

33

zulässig und

80

21,1

63,6

41,4

40

33,3

50

11,1

50

21,2

Freispruch im neuen Verfahren (in %)

0

5,3

0

3,4

0

0

0

0

0

3

Einstellungen gem. § 153 II StPO (in %)

20

5,3

0

0

0

3,3

0

0

16,7

3

begründet (in %)

Tabelle 3 Erledigte Wiederaufnahmeverfahren, Landgerichte 1. Instanz / OLG-Verfahren Landgerichtliche (1. Instanz) /  OLG Verfahren

2001

2000

1999

1998

1997

z. U.

z. G.

z. U.

z. G.

z. U.

z. G.

z. U.

z. G.

z. U.

z. G.

Anzahl der Anträge (absolut)

10

40

12

44

5

35

4

36

4

39

zulässig und begründet (in %)

30

7,5

33,3

22,7

40

11,4

50

13,9

25

18

Freispruch im neuen Verfahren (in %)

10

0

0

0

20

2,9

0

0

0

0

Einstellungen gem. § 153 II StPO (in %)

0

0

0

0

0

0

0

0

0

0

192

Teil 2: Eigene Untersuchung und Reformvorschläge

Auf Bitte Fristers, diese Statistik fortzuschreiben, teilte das Landesamt für Statistik mit, dass man auf „ein tiefgreifendes Problem aufmerksam gewor­ den“26 sei und deshalb keine „konsistenten Daten“27 zur Verfügung gestellt werden könnten. Ab der 4. Auflage des SK-StPO verzichtete Frister deshalb auf einen Abdruck. Auch wenn aufgrund des Vorstehenden den Erkenntnissen keine Validität zugesprochen werden kann, wird dennoch deutlich, dass selbst nach erfolgreicher Wiederaufnahme das Erneuerungsverfahren kaum mit Freispruch, sondern zumeist mit Verurteilung oder Opportunitätsentscheidungen endet. Vereinfacht kann gesagt werden, dass Wiederaufnahmeanträge gegen erst­ instanzliche Entscheidungen von Land- oder Oberlandesgerichten zugunsten des Verurteilten kaum Erfolg (i. S. d. Herbeiführung eines freisprechenden Erkenntnisses) haben. Dies entspricht auch der geläufigen Einschätzung in der Kommentarliteratur.28 Bei Anträgen, die sich gegen amtsgerichtliche Entscheidungen richten, wurde hingegen in mehr als 50 % der Fälle das Verfahren wiederaufgenommen. Dies könnte u. a. darauf zurückzuführen sein, dass für die Erledigung amtsgerichtlicher Verfahren weit weniger Zeit zur Verfügung steht als bei erstinstanzlich vor dem Landgericht oder Oberlandesgericht erledigten Strafverfahren.29 Hinzu kommt, dass der Aufwand einer erneuten Hauptverhandlung vor dem Amtsgericht meist relativ gering ist und der zuständige Richter daher möglicherwiese weniger Bedenken hat, die Wiederaufnahme eines Verfahrens anzuordnen.30 Neuere empirische Erkenntnisse existieren ebenso wenig wie eine Statistik über geführte Wiederaufnahmeverfahren. Für eine aktuelle bundesweite Untersuchung justizieller Fehlentscheidungen sprachen sich neben Jehle auch Marxen und Eschelbach aus.31 Eine derartige amtliche Statistik forderte neben Bundesjustizminister Schäffer auch Judex bereits 1963.32 Theobald hingegen ist der Meinung, dass die Bestätigung der von Schünemann angenommenen Misserfolgsquote von über 95 % zwar wünschenswert aber nicht unbedingt erforderlich ist, da diese Auskunft unisono von sämtlichen Verfahrensbeteiligten eines Wiederaufnahmeverfahrens zu erhalten sei.33 26  Zitiert

nach SK-Frister, Vor § 359 / 28. nach SK-Frister, Vor § 359 / 28. 28  AnwK-Rotsch, Vorbemerkung §§ 359 ff. / 10. 29  SK-Frister / Deiters, Vor § 359 / 31 (Stand: Dezember 2002). 30  SK-Frister / Deiters, Vor § 359 / 31 (Stand: Dezember 2002). 31  Jehle, FPPK 2013, 220, 228; Kaspar / Arnemann, R&P 2016, 58, 61. 32  Judex, Irrtümer der Strafjustiz, S. 36. 33  Theobald, Barrieren im strafrechtlichen Wiederaufnahmeverfahren, S. 1. 27  Zitiert



A. Forschungsstand193

Ein im April 2015 begonnenes Projekt der Kriminologischen Zentralstelle e. V., Forschungs- und Dokumentationseinrichtung des Bundes und der Länder thematisiert Rehabilitation und Entschädigung zu Unrecht inhaftierter Personen. Dabei stehen insbesondere solche Fälle im Fokus, die nach Verbüßung einer Freiheitsstrafe und Durchführung eines Wiederaufnahmeverfahrens durch Freispruch endeten. Neben einer Befragung der Prozessbeteiligten sollen die entsprechenden Verfahrensakten analysiert werden. Aus dem empirisch gewonnenen Material erhofft man sich sodann Hinweise zu einem verbesserten Umgang der Justiz mit derartigen Fallkonstellationen.34

II. Forschungsmethoden wissenschaftlicher Aufarbeitungen Hirschberg, der sich 1960 mit Fehlurteilen im Strafprozess auseinandersetzte, wertete die Unzulänglichkeiten der von ihm untersuchten Vorgänge, ausgehend von erkannten Fehlerquellen, aus, und ordnete dann die von ihm untersuchten Verfahren den erkannten Fehlerquellen unter, um deren kriminalistische Bedeutung zu erforschen.35 Peters hat zur Darstellung der Praxis von Wiederaufnahmeverfahren das gesamte Wiederaufnahmematerial (1.115 durchgeführte Wiederaufnahmeverfahren36), zunächst losgelöst von etwaigen Fehlerquellen, ausgebreitet, die Verfahren nach den jeweiligen Deliktsgruppen der untersuchten Vorgänge geordnet und schließlich deren Erfolgsquoten ausgewertet. Der Vorteil dieser Vorgehensweise liegt darin, dass in einzelnen Verfahren verschiedene (kriminalistische) Fehlerquellen mehrmals vorkamen und innerhalb jeder untersuchten Deliktsgruppe Problemfelder offensichtlich wurden.37 Erst im Anschluss führte Peters die Darstellung und Bewertung der dargestellten Verfahren einer generalisierenden Auswertung zu. Kiwit bevorzugte das bereits von Peters gewählte Vorgehen und untersuchte das von ihm ausgewertete Material zunächst losgelöst von Art und Ursache der Fehlurteile. Erst im Anschluss wurden die erkannten Fehlerquellen ausgewertet und Vorschläge zur Vermeidung von Fehlurteilen präsentiert.38 Peters schlug nach Abschluss der Tübinger Untersuchungen bereits 1973 vor, Aktenmaterial für eine eingehende Untersuchung von gescheiterten Wie34  http: /  / www.krimz.de / forschung / strafverfolgung / rehabilitation /  (zuletzt aufgerufen am 09.01.2016). 35  Hirschberg, Das Fehlurteil im Strafprozeß, S. 16 ff. 36  Peters, Fehlerquellen im Strafprozess I, S. 3. 37  Peters, Fehlerquellen im Strafprozess I, S. 36 ff. 38  Kiwit, Fehlurteile im Strafrecht, S. 1.

194

Teil 2: Eigene Untersuchung und Reformvorschläge

deraufnahmeverfahren bei der Anwaltschaft zu beschaffen. Dieses Material, das nur einen Teil der Gesamtheit ausmachen könne, sei deshalb besonders interessant, weil es sich um bereits anwaltschaftlich geprüfte Verfahren handle. Darunter seien für eine Untersuchung insbesondere auch die Verfahren relevant, in denen auf die Stellung eines Antrags verzichtet wurde.39 Eine Untersuchung habe dabei nach „zutreffend gescheiterten“, „vermutlich zutreffend gescheiterten“, „vermutlich unzutreffend gescheiterten“ und „wahrscheinlich oder sicher unzutreffend gescheiterten“ Wiederaufnahmeverfahren zu differenzieren.40

III. Anzahl von Wiederaufnahmeverfahren Für die Untersuchung der Praxis des Wiederaufnahmerechts stellt sich zunächst die Frage nach deren Relevanz. Hierzu existieren in der neueren Literatur nur wenig Erkenntnisse. In Deutschland wurden im Jahr 2011 nach Erkenntnissen Jehles 1.773 Verfahren erledigt, die durch einen Wiederaufnahmeantrag eingeleitet wurden, davon betrafen 1.580 amtsgerichtliche und 193 landgerichtliche Verfahren. In 727 Fällen wurde die Wiederaufnahme zuungunsten und in 1.046 Fällen zugunsten des Verurteilten angestrebt. Der Verlauf dieser Verfahren ist jedoch statistisch nicht erfasst.41 Aus der Auswertung von Datensätzen über eingereichte Wiederaufnahmeanträge im Zeitraum von 2000 bis 2014 ermittelten Dunkel / Kemme, dass in Deutschland durchschnittlich 2.283 Wiederaufnahmeanträge jährlich eingereicht werden, 1935 bei Amtsgerichten, 204 bei Landgerichten in erster In­ stanz, 144 bei Landgerichten in der Berufungsinstanz und 0,13 bei Oberlandesgerichten.42 Daran anschließend stellt sich die Frage nach der Qualität und Effektivität der Wiederaufnahmepraxis. Diese könnte mitunter an der Anzahl erfolgreicher bzw. gescheiterter Wiederaufnahmeanträge gemessen werden. Wie gesehen, wurde die Erfolgsquote von Wiederaufnahmeanträgen jedoch seit Jahr39  Peters,

in: FS-Gallas, S. 442. in: FS-Gallas, S. 445. 41  Jehle, FPPK 2013, 220, 227. Der SPIEGEL berichtete demgegenüber, dass sich die Justiz in Deutschland in rund 2.000 Fällen pro Jahr genötigt sehe, ein Wiederaufnahmeverfahren einzuleiten, ohne hierfür eine Quelle anzugeben, vgl. SPIEGEL 22 / 2011, S. 56. Die Süddeutsche Zeitung bezeichnet die statistische Lücke als „kleinen Skandal“, vgl. Janisch, Ohne jeden Zweifel, Süddeutsche Zeitung vom 17.05.2015, http: /  / www.strafverteidigervereinigungen.org / Material / Stellungnahmen / wiederauf nahme_prn.html (zuletzt aufgerufen am 19.09.2016). 42  Dunkel / Kemme, NK 2016, 138, 142. 40  Peters,



A. Forschungsstand195

zehnten nicht mehr untersucht.43 Weder das Statstische Bundesamt noch die statistischen Ämter der Länder weisen die Anzahl erfolgreicher Wiederaufnahmeverfahren aus.44 Ebenso wenig gibt es eine amtliche Statistik zur Anzahl oder den Gründen von Fehlurteilen oder eine aktuelle systematische Untersuchung von Fehlerquellen des Strafprozesses.45 In der Literatur wird davon ausgegangen, dass es jährlich eine Vielzahl von gescheiterten Wiederaufnahmeverfahren gibt und erfolgreiche Anträge, die mithin zur Wiederaufnahme eines Verfahrens und der Erneuerung einer Hauptverhandlung führen, eine „forensische Rarität“ seien.46 Geipel spricht in einem 2016 erschienenen Handbuch zur Wiederaufnahme gar davon, dass die „Wiederaufnahme (…) a priori nur eine minimale Erfolgsaussicht“47 habe. Auch Ziemann geht von einer niedrigen Erfolgsquote für Wiederaufnahmeanträge aus, was zu einem großen Teil der restriktiven Haltung der Gerichte geschuldet sei.48

IV. Wiederaufnahmeanträge im Bundes- und Landesvergleich Im Folgenden soll daher zunächst die Relevanz des Wiederaufnahmerechts untersucht werden. Diese ergibt sich aus der Anzahl der auf einen Wiederaufnahmeantrag hin eingeleiteten Verfahren. Die Relevanz des Wiederaufnahmerechts i. w. S. beträfe seine Notwendigkeit. Diese ließe sich aber nur benennen, wenn man im Vorfeld die Quote der wiederaufzunehmenden – weil mit Fehlurteilen beendeten – Verfahren kennen würde. Da dies aus der Natur der Sache nur ex post möglich ist, kann die Praxis seriöserweise nur von einer Relevanz des Wiederaufnahmerechts i. e. S. sprechen, also dem unmittelbarem Verhältnis der eingereichten Anträge zu ihrem Erfolg. In einem nächsten Schritt könnte dieser Erfolg rückbezogen werden auf die Gesamtzahl der zu prüfenden Verfahren. Dies wäre jedoch nur spekulativ möglich, außer 43  Dunkel / Kemme, NK 2016, 138, 143. Erfolgreich i. d. S. ist ein Wiederaufnahmeverfahren, wenn es zur Wiederaufnahme des Verfahrens und der Erneuerung einer Hauptverhandlung führt. 44  SK-Frister, Vor § 359 / 28. 45  Eschelbach / Geipel / Hettinger / Meller / Wille, GA 2018, 238. In den USA wird von der University of Michigan Law School eine Statistik über erfolgreiche „Exonerations“, die neben der Wiederaufnahme nach deutschem Rechtsverständnis auch die Begnadigung und das Fallenlassen der Anklage umfasst, geführt, vgl. etwa http: /  / www.law.umich.edu / special / exoneration / Documents / exonerations_us_1989_ 2012_full_report.pdf (zuletzt aufgerufen 30.05.2015). 46  Stern, NStZ 1993, 409. 47  Geipel, in: Miebach / Hohmann, Wiederaufnahme in Strafsachen, Teil A, Rz. 10. 48  Ziemann, HRRS 2006, 401 f.

196

Teil 2: Eigene Untersuchung und Reformvorschläge

man könnte alle gefällten Strafurteile objektiv anhand der Akten und des Prozessverlaufs auf ihre Fehlerhaftigkeit überprüfen. Wiederaufnahmeverfahren und -anträge wurden lange Zeit auf staatsanwaltschaftlichen Zählkarten nicht explizit als solche registriert und erhielten auch kein gesondertes Aktenzeichen.49 Inzwischen wird in Bayern mit Abgabe des Verfahrens durch die Vollstreckungsbehörde an die beim Wiederaufnahmegericht ansässige Staatsanwaltschaft ein neues Aktenzeichen vergeben und das Verfahren im Datenverarbeitungsprogramm web.sta als Wiederaufnahmeverfahren erfasst. Gem. § 4 Abs. 6 BayAktO werden Vorgänge über die Wiederaufnahme eines Verfahrens zur Ursprungsakte genommen. Zahlen über die Anzahl eingereichter Wiederaufnahmeanträge existieren, Zahlen über deren Erfolg fehlen – soweit ersichtlich – vollständig.50 Die Statistik des Bundesamtes zu Geschäftsanfall und -erledigung der Straf- und Bußgeldsachen vor den Amts-, Land- und Oberlandesgerichten nach Ländern sowie vor dem Bundesgerichtshof unterteilt u. a. nach Verfahrensgegenstand, Erledigungsart und Verfahrensdauer präsentiert die Anzahl der in Deutschland eingereichten Wiederaufnahmeanträge, ohne über deren Schicksal Auskunft zu geben51: 49  Vgl. Zählkarte für bayerische Staatsanwaltschaften gem. Anlage 1 zur AktO, Muster 32. Peters, Fehlerquellen im Strafprozess I, S. 8. Peters, in: FS-Gallas, S. 442. 50  Neuhaus, StV 2015, 185, 186. 51  Die Statistik über Straf- und Bußgeldverfahren des Statistischen Bundesamtes enthalten u. a. Erhebungen über die Art der Einleitung und Erledigung eines Straf­ verfahrens. Diese bundesweiten Daten beruhen auf den Länderergebnissen der jeweiligen Bundesländer, denen eine einheitliche Verwaltungsanordnung zugrunde liegt. Die Daten werden dergestalt erhoben, dass aus den Geschäftsstellenautomations­ programmen der Strafgerichte im Rahmen einer Vollerhebung Informationen elek­ tronisch übermittelt werden. Zugleich werden nach Eingang eines Verfahrens bei Gericht Zählkarten angelegt, die an das Statistische Landesamt übermittelt werden. Die ­Statistiken im Einzelnen: https: /  / www.destatis.de / GPStatistik / servlets / MCRFile NodeServlet / DEHeft_derivate_00006741 / 2100230087004.pdf (zuletzt aufgerufen am 31.05.2015); https: /  / www.destatis.de / GPStatistik / servlets / MCRFileNodeServlet / DEHeft_derivate_00006742 / 2100230097004.pdf (zuletzt aufgerufen am 31.05.2015); https: /  / www.destatis.de / GPStatistik / servlets / MCRFileNodeServlet / DEHeft_deri vate_00006743 / 2100230107004.pdf (zuletzt aufgerufen am 31.05.2015); https: /  / www.destatis.de / GPStatistik / servlets / MCRFileNodeServlet / DEHeft_deri vate_00010102 / 2100230117004.pdf (zuletzt aufgerufen am 31.05.2015); https: /  / www.destatis.de / GPStatistik / servlets / MCRFileNodeServlet / DEHeft_deri vate_00012139 / 2100230127004.pdf (zuletzt aufgerufen am 31.05.2015); https: /  / www.destatis.de / GPStatistik / servlets / MCRFileNodeServlet / DEHeft_deri vate_00013689 / 2100230137004.pdf (zuletzt aufgerufen am 31.05.2015); https: /  / www.destatis.de / DE / Publikationen / Thematisch / Rechtspflege / GerichtePer sonal / Strafgerichte2100230147004.pdf?__blob=publicationFile (zuletzt aufgerufen am 05.03.2015).

0,10

736.029

2012: 700.394

2013: 679.123

2014:

670.787

2015:

0,10

790 0,11

929 0,10

751 0,13

997 0,09

694 0,11

886 0,08

566 0,12

908 0,08

551

13.924

2009: 13.956

2010: 13.867

2011:

13.625

2012:

13.077

2013:

0,14

946

0,14

928

12.860

2014:

0,07

488

0,13

865

12.786

2015:

0,06

408

1,31

183 0,17

23 1,19

166 0,25

35 1,26

176

0,24

33

1,15

160

0,16

22

0,94

128

0,29

38

1,12

146

0,14

18

1,05

135

0,23

29

1,49

190

auf die zweite Nachkommastelle. hier und im Folgenden dargestellten landgerichtlichen Verfahren beziehen sich nur auf landgerichtliche Verfahren erster In­stanz.

0,25

Angaben in %

53  Die

772.867

2011:

z. U. z. G. z. U. z. G. z. U. z. G. z. U. z. G. z. U. z. G. z. U. z. G. z. U. z. G. z. U. z. G.

14.010

35

52  Gerundet

0,06

542

2008:

durch WAA eingeleitete landgerichtliche Verfahren

Anzahl erledigter Verfahren53 vor dem Landgericht (gesamt)

790.085

2010:

Tabelle 5 Wiederaufnahmeanträge in der Bundesrepublik, Landgerichte

885

in %52

Angaben

818.593

2009:

z. U. z. G. z. U. z. G. z. U. z. G. z. U. z. G. z. U. z. G. z. U. z. G. z. U. z. G. z. U. z. G.

844.424

durch WAA eingeleitete amtsgerichtliche Verfahren

Anzahl erledigter Verfahren vor dem Amtsgericht (gesamt)

2008:

Tabelle 4 Wiederaufnahmeanträge in der Bundesrepublik, Amtsgerichte

Deutschland A. Forschungsstand197

Angaben in %

durch WAA eingeleitete landgerichtliche Verfahren

Anzahl erledigter Verfahren vor dem Landgericht (gesamt)

Angaben in %

durch WAA eingeleitete amtsgerichtliche Verfahren

Anzahl erledigter Verfahren vor dem Amtsgericht (gesamt) 74.896

2009: 73.483

2010: 73.310

2011: 71.218

2012: 67.419

2013: 64.879

2014:

62.626

2015:

0,23

183 0,08

62 0,23

172 0,04

33 0,15

112

1.281

2009: 1.296

2010:

0,30

0,82

11 0,08

1 1,01

13 0

0

1,08

14

z. U. z. G. z. U. z. G. z. U. z. G.

1.349

2008:

4

0,06

43 0,20

147 0,07

48 0,19

133 0,05

35

1.205

2012:

1.214

2013:

0,22

146

0,26

168

1.145

2014:

0,04

26

0,22

140

1.142

2015:

0,03

20

0,15

2

1,21

16

0,08

1

1,58

19

0,58

7

1,57

19

0,35

4

1,31

15

0,44

5

1,23

14

z. U. z. G. z. U. z. G. z. U. z. G. z. U. z. G. z. U. z. G.

1.322

2011:

Tabelle 7 Wiederaufnahmeanträge in Baden-Württemberg, Landgerichte

0,11

83

z. U. z. G. z. U. z. G. z. U. z. G. z. U. z. G. z. U. z. G. z. U. z. G. z. U. z. G. z. U. z. G.

77.923

2008:

Tabelle 6 Wiederaufnahmeanträge in Baden-Württemberg, Amtsgerichte

Baden-Württemberg

198 Teil 2: Eigene Untersuchung und Reformvorschläge

Angaben in %

durch WAA eingeleitete landgerichtliche Verfahren

Anzahl erledigter Verfahren vor dem Landgericht (gesamt)

Angaben in %

durch WAA eingeleitete amtsgerichtliche Verfahren

Anzahl erledigter Verfahren vor dem Amtsgericht (gesamt) 116.713

2009: 115.805

2010: 112.806

2011: 108.036

2012: 103.121

2013: 97.985

2014:

93.171

2015:

0,23

273 0,13

148 0,21

243 0,12

130 0,23

256 0,06

67 0,21

232

1.934

2009: 2.045

2010: 1.910

2011:

1.894

2012:

0,21

213

1.897

2013:

0,07

73

0,17

168

1.812

2014:

0,05

46

0,16

153

1.892

2015:

0,04

39

0,15

3 2,13

44 0,05

1 1,55

30 0,39

8

1,76

36

0,52

10

1,68

32

0,05

1

1,69

32

0,32

6

1,79

34

0,06

1

1,49

27

0,21

4

2,64

50

z. U. z. G. z. U. z. G. z. U. z. G. z. U. z. G. z. U. z. G. z. U. z. G. z. U. z. G. z. U. z. G.

2.064

0,17

194

Tabelle 9 Wiederaufnahmeanträge in Bayern, Landgerichte

0,21

252

2008:

0,21

247

z. U. z. G. z. U. z. G. z. U. z. G. z. U. z. G. z. U. z. G. z. U. z. G. z. U. z. G. z. U. z. G.

119.788

2008:

Tabelle 8 Wiederaufnahmeanträge in Bayern, Amtsgerichte

Bayern A. Forschungsstand199

Angaben in %

durch WAA eingeleitete landgerichtliche Verfahren

Anzahl erledigter Verfahren vor dem Landgericht (gesamt)

Angaben in %

durch WAA eingeleitete amtsgerichtliche Verfahren

Anzahl erledigter Verfahren vor dem Amtsgericht (gesamt) 51.639

2009: 46.945

2010: 47.158

2011: 38.567

2012: 38.904

2013:

0,03

16 0,03

17 0

1 0,03

15 0

1 0,03

12 0

1 0,02

7

897

2009: 805

2010: 797

2011:

850

2012:

Tabelle 11 Wiederaufnahmeanträge Berlin, Landgerichte

0

1

0,01

5

805

2013:

0

1

0,56

5 1,47

13 0,11

1 1,00

9

0,87

7

2,36

19

0,38

3

1,13

9

0,24

2

0,47

4

0,12

1

0,37

3

42.893

2015:

0

0

739

2014:

0

1

0

0

0,14

1

0,01

3

0,14

1

0,84

6

z. U. z. G.

715

2015:

0

1

z. U. z. G. z. U. z. G.

40.255

2014:

z. U. z. G. z. U. z. G. z. U. z. G. z. U. z. G. z. U. z. G. z. U. z. G. z. U. z. G.

885

2008:

0

2

z. U. z. G. z. U. z. G. z. U. z. G. z. U. z. G. z. U. z. G. z. U. z. G.

58.430

2008:

Tabelle 10 Wiederaufnahmeanträge in Berlin, Amtsgerichte

Berlin

200 Teil 2: Eigene Untersuchung und Reformvorschläge

Angaben in %

durch WAA eingeleitete landgerichtliche Verfahren

Anzahl erledigter Verfahren vor dem Landgericht (gesamt)

Angaben in %

durch WAA eingeleitete amtsgerichtliche Verfahren

Anzahl erledigter Verfahren vor dem Amtsgericht (gesamt) 33.800

2009: 30.267

2010: 28.151

2011: 26.325

2012: 24.261

2013: 23.275

2014:

24.625

2015:

0,14

46 0,13

45 0,12

35 0,17

51 0,10

29 0,13

38 0,12

31 0,24

64

333

330

2010: 311

2011:

296

2012:

0,26

1 2,62

10 0,30

1 1,50

5 0,30

1

1,82

6

0

0

1,93

6

0

0

1,01

3

z. U. z. G. z. U. z. G. z. U. z. G. z. U. z. G. z. U. z. G.

381

2009:

28 0,24

59

0,31

71

247

2014:

0,10

23

0,23

56

262

2015:

0,04

11

0,87

3

1,45

5

0,40

1

2,02

5

0

0

1,15

3

z. U. z. G. z. U. z. G. z. U. z. G.

345

2013:

0,12

Tabelle 13 Wiederaufnahmeanträge in Brandenburg, Landgerichte

0,15

52

2008:

0,17

60

z. U. z. G. z. U. z. G. z. U. z. G. z. U. z. G. z. U. z. G. z. U. z. G. z. U. z. G. z. U. z. G.

34.505

2008:

Tabelle 12 Wiederaufnahmeanträge in Brandenburg, Amtsgerichte

Brandenburg A. Forschungsstand201

Angaben in %

durch WAA eingeleitete landgerichtliche Verfahren

Anzahl erledigter Verfahren vor dem Landgericht (gesamt)

Angaben in %

durch WAA eingeleitete amtsgerichtliche Verfahren

Anzahl erledigter Verfahren vor dem Amtsgericht (gesamt) 10.663

2009:

0,05

5 0,03

3 0

0 0,01

1 0

0

125

2009: 174

2010: 154

2011:

0

0 0

0 0

0 0

0 0

0

1,15

2

0

0

1,30

2

z. U. z. G. z. U. z. G. z. U. z. G. z. U. z. G.

154

0

0

9.120

2011: 8.416

2012: 8.280

2013: 7.268

2014:

0,02

2 0,04

3

164

2013:

0,10

8

0,06

4

131

2014:

0,04

3

0

0

152

2015:

0,04

3

z. U. z. G.

6.809

2015:

0,59

1

0

0

0,61

1

0

0

0

0

0

0

0

0

0

0

z. U. z. G. z. U. z. G. z. U. z. G. z. U. z. G.

170

2012:

0,05

4

z. U. z. G. z. U. z. G. z. U. z. G. z. U. z. G. z. U. z. G.

9.663

2010:

Tabelle 15 Wiederaufnahmeanträge in Bremen, Landgerichte

0,04

4

2008:

0,06

6

z. U. z. G. z. U. z. G.

10.537

2008:

Tabelle 14 Wiederaufnahmeanträge in Bremen, Amtsgerichte

Bremen

202 Teil 2: Eigene Untersuchung und Reformvorschläge

Angaben in %

durch WAA eingeleitete landgerichtliche Verfahren

Anzahl erledigter Verfahren vor dem Landgericht (gesamt)

Angaben in %

durch WAA eingeleitete amtsgerichtliche Verfahren

Anzahl erledigter Verfahren vor dem Amtsgericht (gesamt) 22.099

2009: 21.494

2010: 20.483

2011: 20.483

2012: 18.281

2013: 17.615

2014:

16.413

2015:

0

0 1,79

6

z. U. z. G.

336

0,05

10 0,07

16 0,09

20 0,10

22 0,10

21 0,01

3 0,10

21 0,01

3

309

2010: 279

2011:

0,31

1 3,08

10 0

0

0,65

2

0

0

0,72

2

z. U. z. G. z. U. z. G. z. U. z. G.

325

2009:

0,10

19

329

2013:

0,01

1

0,11

19

300

2014:

0,03

6

0,14

23

280

2015:

0,01

2

0,31

1

0

0

0

0

0

0

0

0

1,00

3

0

0

0,71

2

z. U. z. G. z. U. z. G. z. U. z. G. z. U. z. G.

324

2012:

Tabelle 17 Wiederaufnahmeanträge in Hamburg, Landgerichte

0,05

12

2008:

0,03

8

z. U. z. G. z. U. z. G. z. U. z. G. z. U. z. G. z. U. z. G. z. U. z. G. z. U. z. G. z. U. z. G.

23.773

2008:

Tabelle 16 Wiederaufnahmeanträge in Hamburg, Amtsgerichte

Hamburg A. Forschungsstand203

Angaben in %

durch WAA eingeleitete landgerichtliche Verfahren

Anzahl erledigter Verfahren vor dem Landgericht (gesamt)

Angaben in %

durch WAA eingeleitete amtsgerichtliche Verfahren

Anzahl erledigter Verfahren vor dem Amtsgericht (gesamt) 52.585

2009: 52.062

2010: 48.688

2011: 46.043

2012: 42.553

2013: 40.000

2014:

40.108

2015:

0,08

40 0,09

49 0,11

56 0,06

31 0,06

29 0,09

43 0,06

28

1.345

2009: 1.432

2010: 1.453

2011:

1.245

2012:

0,07

28

1.167

2013:

0,08

34

0,06

23

1.162

2014:

0,06

25

0,15

2 1,38

19 0,30

4 1,78

24

0,28

4

1,61

23

0,34

5

1,38

20

0,16

2

1,12

14

0,26

3

1,03

12

0,34

4

1,29

15

z. U. z. G. z. U. z. G. z. U. z. G. z. U. z. G. z. U. z. G. z. U. z. G. z. U. z. G.

1.372

0,07

36

Tabelle 19 Wiederaufnahmeanträge in Hessen, Landgerichte

0,09

48

2008:

0,10

53

0,05

20

0,18

2

z.u.

1,06

12

z. G.

1.130

2015:

0,06

24

z. U. z. G. z. U. z. G. z. U. z. G. z. U. z. G. z. U. z. G. z. U. z. G. z. U. z. G. z. U. z. G.

54.509

2008:

Tabelle 18 Wiederaufnahmeanträge in Hessen, Amtsgerichte

Hessen

204 Teil 2: Eigene Untersuchung und Reformvorschläge

Angaben in %

durch WAA eingeleitete landgerichtliche Verfahren

Anzahl erledigter Verfahren vor dem Landgericht (gesamt)

Angaben in %

durch WAA eingeleitete amtsgerichtliche Verfahren

Anzahl erledigter Verfahren vor dem Amtsgericht (gesamt) 17.731

2009: 16.169

2010: 15.365

2011: 14.893

2012: 13.747

2013: 13.104

2014:

13.411

2015:

0,24

45 0,70

125 0,23

40 0,83

135 0,35

57 0,92

141 0,23

35 0,29

43 0,19

28 0,73

100 0,24

33

291

2009: 298

2010:

0

0 2,51

7 0

0 0,69

2 0

0

0,67

2

z. U. z. G. z. U. z. G. z. U. z. G.

279

2008:

314

2012:

0,75

2

2,63

7

0

0

1,59

5

z. U. z. G. z. U. z. G.

266

2011:

0,22

29

239

2014:

0,43

57

0,38

1

1,52

4

0

0

1,67

4

z. U. z. G. z. U. z. G.

264

2013:

Tabelle 21 Wiederaufnahmeanträge in Mecklenburg-Vorpommern, Landgerichte

0,71

131

0,16

21

0,77

2

4,21

11

z. U. z. G.

261

2015:

0,06

8

z. U. z. G. z. U. z. G. z. U. z. G. z. U. z. G. z. U. z. G. z. U. z. G. z. U. z. G. z. U. z. G.

18.490

2008:

Tabelle 20 Wiederaufnahmeanträge in Mecklenburg-Vorpommern, Amtsgerichte

Mecklenburg-Vorpommern A. Forschungsstand205

Angaben in %

durch WAA eingeleitete landgerichtliche Verfahren

Anzahl erledigter Verfahren vor dem Landgericht (gesamt)

Angaben in %

durch WAA eingeleitete amtsgerichtliche Verfahren

Anzahl erledigter Verfahren vor dem Amtsgericht (gesamt) 71.503

2009: 68.849

2010: 63.646

2011: 60.222

2012: 58.366

2013: 55.659

2014:

55.597

2015:

0,17

120 0,09

66 0,14

95 0,09

59 0,18

116 0,08

49 0,14

82 0,06

38

1.155

1.197

2010: 1.244

2011:

1.183

2012:

1.117

0,08

47

1.102

2014:

0,16

87

0,07

39

1.108

2015:

0,16

87

0,25

3 0,74

9 0,78

9 1,30

15

0,42

5

0,58

7

0,24

3

0,72

9

0,34

4

0,42

5

0,36

4

0,36

4

0,09

1

0,45

5

0,18

2

0,72

8

z. U. z. G. z. U. z. G. z. U. z. G. z. U. z. G. z. U. z. G. z. U. z. G. z. U. z. G. z. U. z. G.

1.211

2009:

0,08

44

2013:

0,17

98

Tabelle 23 Wiederaufnahmeanträge in Niedersachsen, Landgerichte

0,08

56

2008:

0,14

106

z. U. z. G. z. U. z. G. z. U. z. G. z. U. z. G. z. U. z. G. z. U. z. G. z. U. z. G. z. U. z. G.

74.375

2008:

Tabelle 22 Wiederaufnahmeanträge in Niedersachsen, Amtsgerichte

Niedersachsen

206 Teil 2: Eigene Untersuchung und Reformvorschläge

Angaben in %

durch WAA eingeleitete landgerichtliche Verfahren

Anzahl erledigter Verfahren vor dem Landgericht (gesamt)

Angaben in %

durch WAA eingeleitete amtsgerichtliche Verfahren

Anzahl erledigter Verfahren vor dem Amtsgericht (gesamt) 214.707

2009:

0

6 0,03

54

209.890

2011: 202.344

2012: 190.609

2013:

3.648

187.248

2015:

0,02

48 0,08

170 0,02

41 0,08

174 0,04

71 0,10

206 0,06

105

3.521

2010: 3.543

2011:

3.568

2012:

3.196

2013:

0,12

227

0,12

221

3.459

2014:

0,07

131

0,13

238

3.221

2015:

0,07

134

0,29

10 0,95

33 0,05

2 0,88

32 0,11

4

1,02

36

0,08

3

0,73

26

0,06

2

0,53

19

0,25

8

1,06

34

0,09

3

0,98

34

0,25

8

1,52

49

z. U. z. G. z. U. z. G. z. U. z. G. z. U. z. G. z. U. z. G. z. U. z. G. z. U. z. G. z. U. z. G.

3.477

2009:

188.005

2014:

z. U. z. G. z. U. z. G. z. U. z. G. z. U. z. G. z. U. z. G. z. U. z. G.

206.738

2010:

Tabelle 25 Wiederaufnahmeanträge in Nordrhein-Westfalen, Landgerichte

0,01

19

2008:

0

8

z. U. z. G. z. U. z. G.

211.993

2008:

Tabelle 24 Wiederaufnahmeanträge in Nordrhein-Westfalen, Amtsgerichte

Nordrhein-Westfalen A. Forschungsstand207

Angaben in %

durch WAA eingeleitete landgerichtliche Verfahren

Anzahl erledigter Verfahren vor dem Landgericht (gesamt)

Angaben in %

durch WAA eingeleitete amtsgerichtliche Verfahren

Anzahl erledigter Verfahren vor dem Amtsgericht (gesamt) 32.927

2009: 33.424

2010: 32.514

2011: 30.276

2012: 28.363

2013: 27.985

2014:

27.464

2015:

0,05

17 0,13

42 0,08

26 0,11

36

626

649

2009: 663

2010:

0,16

0,96

6 0,15

1 0,46

3 0

0

1,06

7

z. U. z. G. z. U. z. G. z. U. z. G.

1

0,07

24 0,07

23 0,04

11 0,08

23

603

2012:

588

0,19

54

578

2014:

0,06

16

0,44

3

1,02

7

0

0

0,66

4

0

0

0,51

3

0

0

1,21

7

z. U. z. G. z. U. z. G. z. U. z. G. z. U. z. G.

687

2011:

0,17

49

2013:

0,02

7

Tabelle 27 Wiederaufnahmeanträge in Rheinland-Pfalz, Landgerichte

0,08

27

2008:

0,06

19

0,19

53

0,16

1

1,24

8

z. U. z. G.

645

2015:

0,04

11

z. U. z. G. z. U. z. G. z. U. z. G. z. U. z. G. z. U. z. G. z. U. z. G. z. U. z. G. z. U. z. G.

34.400

2008:

Tabelle 26 Wiederaufnahmeanträge in Rheinland-Pfalz, Amtsgerichte

Rheinland-Pfalz

208 Teil 2: Eigene Untersuchung und Reformvorschläge

Angaben in %

durch WAA eingeleitete landgerichtliche Verfahren

Anzahl erledigter Verfahren vor dem Landgericht (gesamt)

Angaben in %

durch WAA eingeleitete amtsgerichtliche Verfahren

Anzahl erledigter Verfahren vor dem Amtsgericht (gesamt) 10.546

2009: 10.142

2010: 9.951

2011: 9.429

2012: 9.360

2013: 7.926

2014:

0,02

2 0,23

23 0,06

6

201

2009: 263

2010:

0

0 1,29

3 0

0 1,99

4 0

0

1,90

5

z. U. z. G. z. U. z. G. z. U. z. G.

232

0,14

15 0,19

19 0,10

10 0,11

10 0,10

9

252

2012:

0,06

6

245

2013:

0,09

8

0

0

4,5

9

0,40

1

3,17

8

0

0

2,45

6

z. U. z. G. z. U. z. G. z. U. z. G.

200

2011:

Tabelle 29 Wiederaufnahmeanträge im Saarland, Landgerichte

0,04

4

2008:

0,05

6

0,08

6

0,45

1

2,27

5

z. U. z. G.

220

2014:

0,15

12

z. U. z. G. z. U. z. G. z. U. z. G. z. U. z. G. z. U. z. G. z. U. z. G. z. U. z. G.

11.283

2008:

Tabelle 28 Wiederaufnahmeanträge im Saarland, Amtsgerichte

Saarland

0,03

2

z. G.

0,44

1

0

0

z. U. z. G.

226

2015:

0,04

3

z.u.

7.745

2015:

A. Forschungsstand209

Angaben in %

durch WAA eingeleitete landgerichtliche Verfahren

Anzahl erledigter Verfahren vor dem Landgericht (gesamt)

Angaben in %

durch WAA eingeleitete amtsgerichtliche Verfahren

Anzahl erledigter Verfahren vor dem Amtsgericht (gesamt) 42.719

2009: 41.463

2010: 41.132

2011: 41.616

2012: 40.352

2013: 40.730

2014:

39.626

2015:

0,21

89

566

2009:

0,20

1 1,59

8 0

0 1,24

7

z. U. z. G. z. U. z. G.

502

0,20

86 0,16

68 0,26

107 0,08

32 0,19

80 0,06

23 0,16

67

591

2011:

614

2012:

0,17

70

620

2013:

0,03

13

0,18

74

618

2014:

0,04

18

0,20

80

573

2015:

0,06

24

0,18

1

0,89

5

0,17

1

0,85

5

0,16

1

1,30

8

0

0

1,94

12

0

0

1,13

7

0

0

1,40

8

z. U. z. G. z. U. z. G. z. U. z. G. z. U. z. G. z. U. z. G. z. U. z. G.

564

2010:

Tabelle 31 Wiederaufnahmeanträge in Sachsen, Landgerichte

0,17

76

2008:

0,15

70

z. U. z. G. z. U. z. G. z. U. z. G. z. U. z. G. z. U. z. G. z. U. z. G. z. U. z. G. z. U. z. G.

45.217

2008:

Tabelle 30 Wiederaufnahmeanträge in Sachsen, Amtsgerichte

Sachsen

210 Teil 2: Eigene Untersuchung und Reformvorschläge

Angaben in %

durch WAA eingeleitete amtsgerichtliche Verfahren

Anzahl erledigter Verfahren vor dem Landgericht (gesamt)

Angaben in %

durch WAA eingeleitete amtsgerichtliche Verfahren

Anzahl erledigter Verfahren vor dem Amtsgericht (gesamt) 22.062

2009: 21.024

2010: 20.354

2011: 19.024

2012: 18.747

2013: 17.362

2014:

16.608

2015:

0,13

29 0,19

41 0,13

27 0,12

25 0,17

35 0,06

12 0,15

28 0,09

18

380

396

2010: 411

2011:

366

2012:

370

0,14

24

375

2014:

0,10

17

0,05

8

393

2015:

0,08

14

0,79

3 1,31

5 0,53

2 0,79

3 0,25

1

1,01

4

0,24

1

1,95

8

0,82

3

0,82

3

0,27

1

1,62

6

0,27

1

1,07

4

0,25

1

2,04

8

z. U. z. G. z. U. z. G. z. U. z. G. z. U. z. G. z. U. z. G. z. U. z. G. z. U. z. G. z. U. z. G.

381

2009:

0,10

19

2013:

0,10

19

Tabelle 33 Wiederaufnahmeanträge in Sachsen-Anhalt, Landgerichte

0,13

30

2008:

0,19

44

z. U. z. G. z. U. z. G. z. U. z. G. z. U. z. G. z. U. z. G. z. U. z. G. z. U. z. G. z. G. z. U.

23.608

2008:

Tabelle 32 Wiederaufnahmeanträge in Sachsen-Anhalt, Amtsgerichte

Sachen-Anhalt A. Forschungsstand211

Angaben in %

durch WAA eingeleitete landgerichtliche Verfahren

Anzahl erledigter Verfahren vor dem Landgericht (gesamt)

Angaben in %

durch WAA eingeleitete amtsgerichtliche Verfahren

Anzahl erledigter Verfahren vor dem Amtsgericht (gesamt) 23.553

2009: 22.859

2010: 21.096

2011: 19.926

2012: 18.563

2013: 17.373

2014:

17.541

2015:

0,04

9 0,02

5

377

384

2009:

0

0

0 0

0 0,52

2

z. U. z. G. z. U. z. G.

0

0,07

15 0,06

13 0,03

6 0,04

9 0,03

6 0,05

9 0,04

8

362

2011:

362

2012:

400

2013:

0,03

5

0,03

6

403

2014:

0,01

2

0,28

1

0,57

2

0

0

0

0

0

0

0,28

1

0

0

0,50

2

0

0

0,74

3

z. U. z. G. z. U. z. G. z. U. z. G. z. U. z. G. z. U. z. G.

353

2010:

Tabelle 35 Wiederaufnahmeanträge in Schleswig-Holstein, Landgerichte

0,01

3

2008:

0,02

4

0,02

4

0,23

1

0,92

4

z. U. z. G.

434

2015:

0,06

10

z. U. z. G. z. U. z. G. z. U. z. G. z. U. z. G. z. U. z. G. z. U. z. G. z. U. z. G. z. U. z. G.

24.042

2008:

Tabelle 34 Wiederaufnahmeanträge in Schleswig-Holstein, Amtsgerichte

Schleswig-Holstein

212 Teil 2: Eigene Untersuchung und Reformvorschläge

Angaben in %

durch WAA eingeleitete landgerichtliche Verfahren

Anzahl erledigter Verfahren vor dem Landgericht (gesamt)

Angaben in %

durch WAA eingeleitete amtsgerichtliche Verfahren

Anzahl erledigter Verfahren vor dem Amtsgericht (gesamt) 20.450

2009: 19.698

2010: 19.203

2011: 19.211

2012: 19.468

2013: 19.702

2014:

18.902

2015:

0,11

22

410

2009:

0,52

2 2,34

9 0

0 1,71

7

z. U. z. G. z. U. z. G.

384

0,12

24 0,13

25 0,13

25 0,12

24 0,05

9 0,08

16 0,07

14

337

2011:

0,97

3

1,94

6

0

0

0,59

2

z. U. z. G. z. U. z. G.

310

2010:

0,08

15

356

2013:

0,09

17

0,79

3

0,79

3

0,84

3

0,56

2

z. U. z. G. z. U. z. G.

379

2012:

Tabelle 37 Wiederaufnahmeanträge in Thüringen, Landgerichte

0,06

14

2008:

0,18

38

0,07

14

0,13

25

352

2015:

0,09

17

0,61

2

0

0

0,28

1

1,99

7

z. U. z. G. z. U. z. G.

330

2014:

0,09

18

z. U. z. G. z. U. z. G. z. U. z. G. z. U. z. G. z. U. z. G. z. U. z. G. z. U. z. G. z. U. z. G.

21.551

2008:

Tabelle 36 Wiederaufnahmeanträge in Thüringen, Amtsgerichte

Thüringen A. Forschungsstand213

214

Teil 2: Eigene Untersuchung und Reformvorschläge

V. Wiederaufnahmeanträge in Bayern Auch das Bayerische Ministerialblatt informiert über die Anzahl der in Bayern gestellten Wiederaufnahmeanträge, ohne über deren weiteren Fortgang Auskunft zu geben.54

54  https: /  / www.verkuendung-bayern.de / jmbl

(zuletzt aufgerufen am 29.07.2017).

0,21

0,25

0,15

Bayern

z. U.

2,13

1,31

z. G.

2008:

Bundesdeutscher Durchschnitt

Landgerichtliche Verfahren

0,21

Bayern

0,06

z. G.

0,17

0,10

z. U.

0,23

0,11

z. G.

2009:

0,13

0,10

z. U.

0,21

0,13

z. G.

2010:

0,12

0,09

z. U.

0,23

0,11

z. G.

2011:

0,06

0,08

z. U.

0,21

0,12

z. G.

2012:

0,07

0,08

z. U.

0,21

0,14

z. G.

2013:

0,05

0,07

z. U.

0,17

0,14

z. G.

2014:

0,04

0,06

z. U.

0,16

0,13

z. G.

2015:

0,05

0,17

z. U.

1,55

1,19

z. G.

2009:

0,39

0,25

z. U.

1,76

1,26

z. G.

2010:

0,52

0,24

z. U.

1,68

1,15

z. G.

2011:

0,05

0,16

z. U.

1,69

0,94

z. G.

2012:

0,32

0,29

z. U.

1,79

1,12

z. G.

2013:

0,06

0,14

z. U.

1,49

1,05

z. G.

2014:

0,21

0,23

z. U.

2,64

1,49

z. G.

2015:

Tabelle 39 Wiederaufnahmeanträge in Bayern im Vergleich zum bundesdeutschen Durchschnitt, Landgerichte

0,10

z. U.

2008:

Bundesdeutscher Durchschnitt

Amtsgerichtliche Verfahren

Tabelle 38 Wiederaufnahmeanträge in Bayern im Vergleich zum bundesdeutschen Durchschnitt, Amtsgerichte

0,12

0,09

0,20

0,11

1,19

0,22

z. G. 1,84

z. U. 0,22

1,03

z. G.

z. U.

0,70

Durchschnitt in %

z. G.

z. U.

0,16

z. G.

z. U.

0,10

Durchschnitt in %

A. Forschungsstand215

216

Teil 2: Eigene Untersuchung und Reformvorschläge

Während im bundesdeutschen Durchschnitt gegen amtsgerichtliche Entscheidungen (s. Tabellle 4 und 38) in 0,12 % der Fälle die günstige Wiederaufnahme beantragt wird, beläuft sich diese Anzahl bei landgerichtlichen Verfahren Entscheidungen (s. Tabellle 5 und 39) auf 1,19 %.55 Die ungünstige Wiederaufnahme amtsgerichtlicher Verfahren wird im bundesdeutschen Durchschnitt in 0,09 %, in landgerichtlichen Verfahren in 0,22 % der Fälle angestrebt. In Bayern wird die günstige Wiederaufnahme in amtsgerichtlichen Verfahren in 0,20 % der Fälle begehrt, in landgerichtlichen in 1,84 %. Die ungünstige Wiederaufnahme wird in amtsgerichtlichen Verfahren in 0,11 % der Fälle beantragt, in landgerichtlichen Verfahren in 0,22 %. Vergleicht man die prozentuale Anzahl der in Bayern gestellten Wiederaufnahmeanträge im Vergleich zum bundesdeutschen Durchschnitt, fällt auf (s. Tabelle 38, 39): 1. Insgesamt werden amtsgerichtliche Urteile in Bayern in 0,16 % der Fälle mit der Wiederaufnahme angegriffen, während der bundesdeutsche Durchschnitt bei 0,10 % liegt. 2. Die ungünstige Wiederaufnahme amtsgerichtlicher Urteile wird in Bayern (0,11 %) häufiger als im bundesdeutschen Durchschnitt (0,09 %) beantragt. 3. Die günstige Wiederaufnahme amtsgerichtlicher Urteile wird in Bayern (0,20 %) sehr viel häufiger als im bundesdeutschen Durchschnitt (0,12 %) beantragt. 4. In landgerichtlichen Verfahren wird in Bayern deutlich häufiger (1,84 %) als im Vergleich zum bundesdeutschen Durchschnitt (1,19 %) das Urteil im Wege der Wiederaufnahme angegriffen. 5. Die Anzahl der Anträge nach § 362 StPO gegen landgerichtliche Urteile unterscheidet sich in Bayern (0,22 %) nicht vom bundesdeutschen Durchschnitt (0,22 %).

B. Eigene Untersuchung I. Methodik Für die eigene Untersuchung wurde zunächst anhand der Veröffentlichungen des Bundesamtes für Statistik die Anzahl der jährlich in Deutschland und nach Bundesländern getrennt eingereichten Wiederaufnahmeanträge ausge55  s. hierzu

auch die Erkenntnisse der Untersuchung, S. 270 f.



B. Eigene Untersuchung217

wertet. Hierbei fiel auf, dass die Statistiken keinerlei Rückschluss auf die Erfolgsquote der gestellten Wiederaufnahmeanträge ermöglichen oder über deren Verlauf und Ausgang Auskunft geben. Da erst aus der gehäuften Untersuchung von Einzelverfahren erkennbar wird, ob Probleme in der Praxis auf Gesetzmäßigkeiten beruhen oder nicht und zudem erst eine gesicherte empirische Basis des Schicksals von Wiederaufnahmeanträgen strukturelle Empfehlungen und Reformvorschläge ermöglicht, konnte sich die Untersuchung nicht auf das existierende Datenmaterial beschränken.56 Um Daten unmittelbar aus der Praxis der Wiederaufnahme zu erheben, wurden stattdessen Interviews mit Strafverteidigern durchgeführt. Die Befragung beschränkte sich neben forschungsökonomischen Gründen auch deshalb auf Strafverteidiger, weil nur diese die Verfahren, von denen sie berichtet hatten, durch alle Instanzen begleiteten und die Wiederaufnahmeumstände bereits anwaltschaftlich geprüft waren. Zudem wurde davon ausgegangen, dass auf die Bearbeitung von Wiederaufnahmeverfahren spezialisierte Strafverteidiger mit wiederaufnahmerechtlichen Themen so vertraut sind, dass diese am Besten von der Praxis berichten können. Zwar war damit eine einseitige Darstellung der subjektiven Erfahrungen zu befürchten, jedoch haben die durchgeführten Interviews differenzierte und auch verteidigungskritische Erkenntnisse ergeben. Eine einseitige Justizschelte aus Verteidigersicht fand gerade nicht statt, auch ergaben sich keine Anzeichen von übertrieben einseitigen oder negativen Darstellungen. Qualitative Experteninterviews erschienen insoweit als geeignetes Instrument, da nur wenige auf das Wiederaufnahmerecht spezialisierte Strafverteidiger über Tiefenstrukturen berichten können. Die mit der Bearbeitung von Wiederaufnahmeanträgen vertrauten Experten wurden über eine Literatur-, Medien- und Internet­ recherche ausfindig gemacht. Um diesen die zur Überprüfung stehenden und, im Vorfeld erarbeiteten Hypothesen, vorzustellen, ohne jedoch die Offenheit der Datenerhebung zu unterlaufen, wurde ein halbstandardisiertes Verfahren in Form eines Leitfadeninterviews favorisiert. Dies erschien schon deshalb angebracht, um die Vergleichbarkeit der erhobenen Daten zu gewährleisten.57

56  Walter / Brand / Wolke, Einführung in kriminologisch-empirisches Denken und Arbeiten, S.  19 ff. 57  Zu Leitfadengestützten Interviews allgemein: Nohl, Interview und dokumentarische Methode, S. 20 ff.

218

Teil 2: Eigene Untersuchung und Reformvorschläge

II. Leitfadeninterviews 1. Vorbereitung Um Experteninterviews mit anwaltlichen Wiederaufnahmespezialisten zu führen, wurde ein Leitfaden bzw. Fragenkatalog erarbeitet, der die Gesprächspartner vorab über beabsichtigte Fragen und Themenkomplexe informieren sollte. Der Fragenkatalog (vgl. Anhang 1) beinhaltet folgende Themenkomplexe: – Erfahrungen mit Wiederaufnahmeanträgen – Erarbeitung eines Wiederaufnahmeantrags – Praxis der Wiederaufnahme – Reformüberlegungen Im Zusammenhang mit der Ausarbeitung des Fragenkatalogs wurde darauf geachtet, dass das Interview nicht länger als 45–60 Minuten dauert und die praktischen Erfahrungen der Gesprächspartner im Mittelpunkt stehen. Basierend auf der Literatur zum Wiederaufnahmerecht und Teil 1 dieser Untersuchung, wurden folgende Hypothesen zur Praxis des Wiederaufnahmerechts aufgestellt58: 1. Wiederaufnahmeanträge scheitern u. a. daran, dass die mit der Be- bzw. Ausarbeitung Betrauten nicht über ausreichende Kenntnisse des Wiederaufnahmerechts verfügen. 2. Die meisten zugunsten des Verurteilen gestellten Wiederaufnahmeanträge stützen sich auf § 359 Nr. 5 StPO. 3. Die meisten Wiederaufnahmeanträge scheitern bereits an der Hürde der Zulässigkeit. 4. Wiederaufnahmebemühungen eines zu einer Vollzugsstrafe Verurteilten werden im Rahmen von Strafvollstreckungsentscheidungen zu dessen Nachteil gewertet. 5. Für den Verteidiger ist die Übernahme eines Wiederaufnahmemandats mit erheblichem Arbeitsaufwand verbunden. 6. Für den Verurteilten bzw. seinen Verteidiger besteht ein wesentliches Problem darin, mangels Ermittlungsapparats nova nur schwer ermitteln zu können. 58  Vgl. hierzu Gläser / Laudel, Experteninterviews und qualitative Inhaltsanalyse, S. 62 ff. und Walter / Brand / Wolke, Einführung in kriminologisch-empirisches Denken und Arbeiten, S.  36 ff.



B. Eigene Untersuchung219

7. Den am Wiederaufnahmeverfahren Beteiligten mangelt es an Kenntnissen aus den Komplementärwissenschaften. 8. In Deutschland gibt es keine dem amerikanischen „innocence project“ vergleichbare Inititative, obwohl diese wünschenswert wäre. 9. Das Wiederaufnahmegericht weist den Antragsteller nicht auf formelle Mängel hin, bevor der Antrag als unzulässig verworfen wird. 10. Die hohen Zulässigkeitsanforderungen führen zu einer Vermengung von Aditions- und Probationsverfahren. Der auf dieser Basis erstellte Leitfaden umfasst folgende Fragen59: I. Erfahrungen mit Wiederaufnahmeanträgen: 1. Wie haben Sie sich Ihre Kenntnisse zum Wiederaufnahmeverfahren angeeignet? 2. Wie viele Wiederaufnahmeanträge haben Sie bislang bearbeitet? 3. Auf welchen Wiederaufnahmegrund haben Sie die von Ihnen bearbeiteten Wiederaufnahmegesuche gestützt? 4. Zu welchem Zeitpunkt haben Sie das Wiederaufnahmegesuch gestellt? War die Strafe bereits (teilweise) verbüßt? 5. Waren Sie in den Verfahren, in denen Sie einen Wiederaufnahmeantrag gestellt haben, bereits im Ausgangs- oder Rechtsmittelverfahren mandatiert? 6. Wurde im Rahmen von Entscheidungen über Vollzugslockerungen ein gestellter Wiederaufnahmeantrag negativ angelastet? 7. Welches Ergebnis hatte das Wiederaufnahmeverfahren? II. Erarbeitung eines Wiederaufnahmeantrages: 1. Was bedeutet die Erarbeitung eines Wiederaufnahmeantrages – im Vergleich zur normalen Verteidigertätigkeit – hinsichtlich Arbeitsumfang, -aufwand etc.? 2. Halten Sie es für erforderlich und sinnvoll, bei Wiederaufnahmebemühungen durch die Staatsanwaltschaft unterstützt zu werden? 3. Unter welchen Umständen kann einem Mandanten ernsthaft zur Stellung eines Wiederaufnahmeantrages geraten werden? 4. In den USA haben sich bereits 1992 im Rahmen des „innocence project“ Rechtsanwälte mit Experten zusammengeschlossen um Fehlurteile aufzuarbeiten. 59  Kruse,

Qualitative Interviewforschung, S. 215 ff.

220

Teil 2: Eigene Untersuchung und Reformvorschläge

a) Halten Sie ein derartiges Projekt in Deutschland für sinnvoll? b) Müssten Strafverteidiger besser mit Komplementärwissenschaften kooperieren? 5. Dem Wiederaufnahmegericht sollen – ähnlich zu § 139 ZPO – besondere Hinweispflichten (bspw. im Hinblick auf die Darlegungslasten) obliegen. Haben Sie in den von Ihnen bearbeiteten Verfahren einen entsprechenden gerichtlichen Hinweis erhalten? Gehen Sie davon aus, dass dieser Hinweispflicht mehr entsprochen werden würde, wenn sie gesetzlich normiert wäre? III. Praxis der Wiederaufnahme: 1. Woran scheitern Wiederaufnahmegesuche nach Ihrer Erfahrung? 2. Ist der Verfahrensablauf (Aditionsverfahren, Probationsverfahren, neue Hauptverhandlung) sinnvoll? 3. Bestünde Ihres Erachtens ein Vorteil in einer mündlichen Verhandlung über die Entscheidung der Zulässigkeit eines Wiederaufnahmeantrages? 4. Funktioniert die Kontrolle von Fehlurteilen durch den Rechtsbehelf der Wiederaufnahme nach Ihrer Einschätzung? 5. Wie würde sich die Anwendbarkeit des in-dubio-Grundsatzes in Adition und Probation auf die Praxis der Wiederaufnahme auswirken? IV. Reformüberlegungen: 1. Wäre die Protokollierung außergerichtlicher und gerichtlicher Vernehmungen für das Wiederaufnahmeverfahren von Vorteil? 2. Wäre die Einführung einer zweiten Tatsacheninstanz auch für landgerichtliche Verfahren u. U. besser geeignet, Fehler – die derzeit durch die Wiederaufnahme korrigiert werden sollen – zu beheben? 3. Würden Sie die Korrektur von Rechts- und Verfahrensfehlern im Wiederaufnahmeverfahren begrüßen? 4. Wie würden Sie einem Wiederaufnahmegrund der fehlenden erschöpfenden Beweiswürdigung gegenüberstehen? (Bspw. im Falle von Verfahrensabsprachen) 5. Befürworten Sie die Wiederaufnahme auch in Fällen der nachträg­ lichen Gesetzes- bzw. Rechtsprechungsänderung? 6. Wie stehen Sie zum Verbot der Strafmaßwiederaufnahme in § 363 StPO? 7. Glauben Sie, dass es für die Rehabilitation des Betroffenen von Vorteil wäre, wenn im Tenor der Wiederaufnahmeentscheidung bzw. des



B. Eigene Untersuchung221

erneuten Urteils die Rechtswidrigkeit / Fehlerhaftigkeit der Ausgangs­ entscheidung ausdrücklich festgestellt würde? 8. Wäre das Wiederaufnahmerecht effektiver, wenn nicht das OLG Beschwerdeinstanz wäre, sondern der BGH? 9. Sind die Vorschriften des Wiederaufnahmerechts analogiefähig? Ist dabei zwischen der günstigen und ungünstigen Wiederaufnahme zu differenzieren? 10. Welche Wiederaufnahmegründe erachten Sie als überflüssig? 11. Haben Sie Vorschläge zur Verbesserung der geltenden Rechtslage?60 2. Bestimmung des Adressatenkreises und Versendung der Fragebögen61 Zur Ermittlung des Adressatenkreises (mit Wiederaufnahmefragen vertraute Strafverteidigerinnen und Strafverteidiger) wurden mit Hilfe einer im August 2015 durchgeführten Medien- und Internetrecherche potentielle Interviewpartner ausfindig gemacht. Hierzu wurden über die Internetsuchmaschine Google die zehn größten deutschen Zeitungen ermittelt.62 Auf deren Internetportal wurde sodann – soweit möglich63 – mittels des Suchbegriffs „Wiederaufnahme“ nach Presseberichten über Wiederaufnahmeverfahren recherchiert. Aus den gewonnen Suchergebnissen wurden sodann die darin enthaltenen Wiederaufnahmeverfahren, bis zum Jahr 2010 rückgehend, ermittelt und die in diesem Zusammenhang tätigen Rechtsanwältinnen und Rechtsanwälte, soweit namentlich erwähnt, ausfindig gemacht. Zusätzlich wurden über das Internetsuchportal Google per Stichwortsuche („Wiederaufnahme + Straf + Rechtsanwalt“) die ersten dreißig Suchergebnisse ausgewertet. Zudem wurden über das Internetportal Google, Suchmaske „News“, anhand der Stichworte „Wiederaufnahme + Straf + Rechtanwalt“ die in Wie60  Vgl.

Anhang 1.

61  Froschauer / Lueger,

Das qualitative Interview, S. 54 ff.; Gläser / Laudel, Experteninterviews und qualitative Inhaltsanalyse, S. 117 ff. 62  Dabei handelt es sich um: Bildzeitung, Bild am Sonntag, Westdeutsche Allgemeine, Sonntag Aktuell, Zeitungsgruppe Köln (Kölner Tagesanzeiger), Die Zeit, Süddeutsche Zeitung, Die Welt, Rheinische Post, Frankfurter Allgemeine Zeitung, Zeitungsgruppe Thüringen (Thüringer Allgemeine Zeitung), vgl. http: /  / www.focus.de /  finanzen / geldanlage / top-60_aid_100734.html (zuletzt aufgerufen am 21.09.2016). 63  Eine Recherche auf dem Portal der Zeitung „Sonntag Aktuell“ war nicht möglich.

222

Teil 2: Eigene Untersuchung und Reformvorschläge

deraufnahmeverfahren tätigen Rechtsanwältinnen und Rechtsanwälte ermittelt, um sicherzustellen, dass Gespräche mit erfahrenen Experten geführt werden können. Auf diesem Weg wurden die Kontaktdaten der ersten zehn ermittelten Strafverteidigerinnen und Strafverteidiger recherchiert. Schließlich wurden zum Zwecke einer möglichst breiten Datenbasis auch die Strafverteidigerinnen und Strafverteidiger kontaktiert, über die aus Publikationen und persönlichen Unterredungen bekannt war, dass sie bereits Wiederaufnahmeanträge ausgearbeitet hatten respektive in Wiederaufnahmeverfahren tätig waren. Insgesamt wurden im August 2015 per E-Mail 60 Strafverteidigerinnen und Strafverteidiger kontaktiert, drei per Briefpost.64 Ein kontaktierter Strafverteidiger, Vorstandsmitglied der Initiative Bayerischer Strafverteidigerinnen und Strafverteidiger, leitete das Anschreiben samt Exposé sodann mittels EMailverteiler an 204 Mitglieder der Initiative weiter, von denen bereits vier dem selbst ermittelten Adressatenkreis entsprachen. Zudem wurde durch eine konkrete Weiterempfehlung kontaktierter potentieller Gesprächspartner Kontakt zu einem weiteren Strafverteidiger aufgenommen. Im Februar 2016 wurden die Strafverteidiger, die sich bis dahin nicht zurückgemeldet hatten, nochmals per E-Mail kontaktiert und an das Vorhaben erinnert. Auch über den E-Mailverteiler der Initiative Bayerischer Strafverteidigerinnen und Strafverteidiger wurden nochmals 20465 Strafverteidigerinnen und Strafverteidigern an eine Beteiligung am Forschungsvorhaben erinnert. Sämtlichen Adressaten wurde mit einem kurzen Anschreiben ein Exposé übermittelt, welches das Forschungsvorhaben skizzierte und den Leitfaden zu angedachten Fragen enthielt.66 3. Rücklauf Auf diese Anfragen hin erklärten sich sechs Strafverteidiger (mit Kanzleisitz in Dortmund, Hamm, Augsburg, Berlin, Essen und Bautzen) für ein telefonisches, weitere sieben (mit Kanzleisitz in Mainz, Frankfurt am Main und fünf Verteidiger mit Kanzleisitz in München) für ein persönliches Interview bereit. Die Interviews mit den ausschließlich männlichen Interviewpartnern wurden im Zeitraum zwischen dem 14.09.2015 und 18.03.2016 durchgeführt und dabei digital aufgezeichnet. Zu jedem Interviewpartner wurde im Vorfeld 64  Diese konnten weder telefonisch erreicht, noch konnte eine Fax- bzw. E-Mailadresse in Erfahrung gebracht werden. 65  Wiederum ergab sich eine Überschneidung von vier Personen. 66  Vgl. Anhang 2.



B. Eigene Untersuchung223

des Gesprächs nochmals zu seinen persönlichen Erfahrungen mit dem Wiederaufnahmerecht – soweit möglich – recherchiert. Nach den jeweiligen Gesprächen wurden persönliche Eindrücke in einem Post-Skriptum festgehalten und die Gespräche vollständig transkribiert und anonymisiert. Die verschriftlichten und anonymisierten Interviews wurden sodann im Anschluss an den jeweiligen Gesprächspartner übermittelt. Ein Gesprächspartner teilte daraufhin mit, dass er seine Antworten gerne sprachlich überarbeiten würde. Ihm wurde mitgeteilt, dass dies möglich wäre, die Angaben jedoch ohnehin anonym verwendet und ggf. zitiert würden. Der weiteren Auswertung wurde – wie gewünscht – das modifizierte Gespräch zugrunde gelegt. Für die Auswertung benötigte Zitate wurden von den Gesprächspartnern nochmals autorisiert. Hierbei formulierten vier Gesprächspartner die ihnen übermittelten Zitate nochmals stilistisch leicht um. Auch bei ihnen wurden die abgeänderten Zitate zugrunde gelegt, die Modifikation jedoch gekennzeichnet.67 Soweit von den übrigen kontaktierten Personen überhaupt eine Rückmeldung kam (was in nur acht Fällen geschah), lehnten sie die Mitwirkung an einem ausführlichen Interview ab. Ein kontaktierter Rechtsanwalt, der bislang ausschließlich eine Wiederaufnahme nach § 362 StPO betrieben hatte, sah aufgrund hoher Arbeitsbelastung und seiner fehlenden Kenntnisse zur günstigen Wiederaufnahme keine Basis für ein Interview. Fünf weitere Strafverteidiger, die auf ihrer Internetseite mit der Bearbeitung von Wiederaufnahmeverfahren warben, gaben an, dass sie tatsächlich noch nicht mit der Bearbeitung eines Wiederaufnahmemandats betraut waren. Zwei weitere Strafverteidiger aus Bendorf und München teilten mit, aufgrund hoher Arbeitsbelastung für ein derartiges Forschungsvorhaben nicht zur Verfügung zu stehen, wobei sie ihre Erfahrungen kurz schriftlich übersandten. Soweit der Fragebogen schriftlich in Stichworten beantwortet und übermittelt wurde, wurde dieser zum Zwecke einer breiteren Datenbasis der weiteren Auswertung zugrunde gelegt, jedoch als „Angaben“ gekennzeichnet um klarzustellen, dass es sich dabei nicht um wörtliche Interviewaufzeichnungen wie in den übrigen Fällen handelt. In einem weiteren Fall konnte zunächst zwar ein persönliches Gespräch geführt werden, da dies jedoch in der Öffentlichkeit stattfand, konnte es nur stichpunktartig mitnotiert werden. Das Gespräch wurde daraufhin im März 2016 nochmals wiederholt, beide Gespräche (Interview 10.1 und 10.2) dem Gesprächspartner übermittelt. Dieser nahm daraufhin leichte Modifikationen vor. Der Auswertung wurde jeweils das modifizierte Gesprächsprotokoll zugrunde gelegt. 67  Froschauer / Lueger, Das qualitative Interview, S. 74 ff.; Gläser / Laudel, Experteninterviews und qualitative Inhaltsanalyse S. 153 ff.

224

Teil 2: Eigene Untersuchung und Reformvorschläge

Alle übrigen kontaktieren Strafverteidigerinnen und Strafverteidiger meldeten sich nicht auf die Anfrage. Von den kontaktierten 261 potentiellen Experten erklärten sich also 13 Personen für ein Interview bereit, was 4,98 % des kontaktierten Adressatenkreises entspricht. Die Erkenntnisse aus den Gesprächen beanspruchen damit keine Allgemeingültigkeit, ermöglichen aber dennoch einen wertvollen Einblick in die anwaltliche Praxis. 4. Auswertungsphase Sodann wurden die Erkenntnisse aus den Expertengesprächen zusammengetragen und ausgewertet. Dabei wurden die Gesprächsinhalte übergeordneten Themenkomplexen (s. III.) zugeordnet.68

III. Untersuchungsergebnisse Aus den Interviews lassen sich Rückschlüsse auf die Praxis des Wiederaufnahmerechts ziehen. Dabei darf nicht verkannt werden, dass die Erfahrungen von Strafverteidigern – auch wenn sie Organe der Rechtspflege sind – subjektiv sind und kein objektives Bild der tatsächlichen Abläufe wiederspiegeln können. Hellwig mahnte daher bereits 1913, dass isolierte Berichte des Verteidigers für die Beurteilung eines Verfahrens in den seltensten Fällen als Überzeugungen einer objektiven Meinung gelten können, ob es sich vorliegend tatsächlich um ein Fehlurteil gehandelt hat: „Auch der Verteidiger, der berufsmäßig Angeklagte zu verteidigen hat, wird in vielen Fällen, wo es der objektiven Sachlage nicht entspricht, an die Unschuld des von ihm vertretenen Angeklagten glauben und von dieser vorgefaßten Meinung aus die Tatsachen in einem falschen Lichte sehen und Schlüsse aus ihnen ziehen, die sich objektiv nicht halten lassen.“69

Gleichwohl beziehen sich die Erkenntnisse der Experten lediglich auf die Wiederaufnahmeverfahren, die bereits anwaltlicher Vorprüfung standgehalten haben. Ebenso erkennt Hellwig, dass gerade der Verteidiger besonders berufen ist, die Sachlage zu beurteilen, da ihm das Urteil, die Akten und Erkenntnisse des Angeklagten zur Verfügung stehen.70 Auch Alsberg untersuchte Fälle aus der Praxis anhand der Beschreibung von Verteidigern.71 68  Mayer, Interview und schriftliche Befragung, S. 47 ff.; Gläser / Laudel, Experteninterviews und qualitative Inhaltsanalyse, S. 43 ff. 69  Hellwig, Justizirrtümer, S. 27. 70  Hellwig, Justizirrtümer, S. 27 f. betrachtet jedoch als am wertvollsten eine aktenmäßige Darstellung von Justizirrtümern durch ein Mitglied des erkennenenden Gerichts. 71  Alsberg, Justizirrtum und Wiederaufnahme, S. 123 ff.



B. Eigene Untersuchung225

1. Kenntnisse Die vorliegende Untersuchung hat bislang ergeben, dass die Anzahl der Wiederaufnahmeverfahren verglichen zur Anzahl der verfahrensabschließenden Entscheidungen äußerst gering ist.72 Dies könnte neben der kritisierten restriktiven Anwendung der Wiederaufnahmevorschriften auch an einer mangelnden Vertrautheit mit dem Wiederaufnahmerecht liegen.73 Zunächst stellte sich die Frage, wie die Experten ihre Kenntnis des Wiederaufnahmerechts erlangt haben. Sie gaben insoweit an, dass ihr Wissen dem Selbststudium und anwaltlicher Erfahrung entspringe.74 In der Ausbildung sei das Wiederaufnahmerecht nicht vermittelt worden.75 Diese Ausbildung wäre jedoch notwendig76, da die Motivation von Rechtsanwältinnen und Rechtsanwälten, sich in ein Rechtsgebiet neu einzuarbeiten, begrenzt sei.77 Außerdem wurde die Arbeit im Bereich von Wiederaufnahmeverfahren als sehr speziell78 beschrieben, da es sich um ein Nischenthema79 handle, für das – wie etwa im Bereich des Revisionsrechts – Spezialwissen80 erforderlich sei. Richtern und Staatsanwälten wurde insoweit das gleiche Wissensniveau unterstellt.81 Zugleich wurden fehlende Kenntnisse aller Verfahrensbeteiligten in den Komplementärwissenschaften kritisiert. Indessen würden diese Kenntnisse allein für eine erfolgreiche Tätigkeit im Wiederaufnahmerecht nicht ausreichen – praktische Erfahrung sei unerlässlich.82

72  s. o.

S.  195 ff.

73  Kaspar / Arnemann,

R&P 2016, 58, 62. Nr. 1 vom 14.09.2015, S. 1; Interview Nr. 2 vom 28.09.2015, S. 25; Interview Nr. 3 vom 12.10.2015, S. 6; Interview Nr. 5 vom 27.10.2015, S. 22; Interview Nr. 7 vom 16.11.2015, S. 1; Interview Nr. 9 vom 15.12.2015, S. 3; Angaben I vom 11.02.2016, S. 2; Angaben II vom 12.10.2015, S. 1. 75  Interview Nr. 1 vom 14.09.2015, S. 1; Interview Nr. 13 vom 18.03.2016, S. 1 und 4. 76  Interview Nr. 7 vom 16.11.2015, S. 1; Interview Nr. 13 vom 18.03.2016, S. 4. 77  Interview Nr. 7 vom 16.11.2015, S. 6; Interview Nr. 2 vom 28.09.2015, S. 25. 78  Interview Nr. 2 vom 28.09.2015, S. 25. 79  Interview Nr. 2 vom 28.09.2015, S. 25. 80  Interview Nr. 5 vom 27.10.2015, S. 22. 81  Interview Nr. 13 vom 18.03.2016, S. 13 f. 82  Interview Nr. 11 vom 11.03.2016, S. 11. 74  Interview

226

Teil 2: Eigene Untersuchung und Reformvorschläge

2. Anzahl bearbeiteter Wiederaufnahmeanträge und deren Erfolgsquote Alle Gesprächspartner wurden befragt, wie viele Wiederaufnahmeanträge sie bearbeitet und gestellt haben und wie viele davon erfolgreich waren: Tabelle 40 Übersicht über Anzahl der bearbeiteten Wiederaufnahmeverfahren Nr.

183

bearbeitete Wiederaufnahmeanträge

eingereichte Wiederaufnahmeanträge

erfolgreiche Wiederaufnahmeanträge

30

9–0

3

erstinstanzlich AG oder LG 2 x AG erfolgreich, 1 x LG erfolgreich

284

Gutes Dutzend

Keine Angaben

relativ hoch

Keine Angaben

385

Keine Angaben

20–25

Ungefähr 5 %

Keine Angaben

486

Einige wenige

Keine Angaben

Keine Angaben

Immer LG

587

Keine Angaben

Ca. 10

1

AG und LG

688

4–5

2

2

1 x AG, 1 x LG

789

1

1

1

Keine Angaben

890

Deutlich mehr als 10–15 10–15

1

Keine Angaben

83  Interview 84  Interview 85  Interview 86  Interview 87  Interview 88  Interview 89  Interview 90  Interview

Nr. 1 Nr. 2 Nr. 3 Nr. 4 Nr. 5 Nr. 6 Nr. 7 Nr. 8

vom vom vom vom vom vom vom vom

14.09.2015, S. 1 und 2. 28.09.2015, S. 1, 14. 12.10.2015, S. 1. 19.10.2015, S. 1. 27.10.2015, S. 1. 09.11.2015, S. 2, 6, 19. 16.11.2015, S. 1. 14.12.2015, S. 1.



B. Eigene Untersuchung227 bearbeitete Wiederaufnahmeanträge

eingereichte Wiederaufnahmeanträge

erfolgreiche Wiederaufnahmeanträge

991

50

40

4

Keine Angaben

1092

Keine Angaben

7–8

1 Antrag hatte Erfolg, jedoch wurde das Urteil im Erneuerungsverfahren bestätigt

Keine Angaben

1193

Mehr als 30

Ca. 30

0

Keine Angaben

1294

25–30

2

0

Keine Angaben

1395

1

1

1

AG

1496

Max. 50

Keine Angaben

5

Keine Angaben

1597

15

Keine Angaben

Bislang 8

Keine Angaben

Nr.

erstinstanzlich AG oder LG

Aus der Darstellung wird deutlich, dass die Anzahl bearbeiteter und gestellter Anträge deutlich divergiert. Vier der Gesprächspartner berichteten von einer Erfolgsquote von 10 %98 oder höher (30 %99). Ein Praktiker schätzte seine Erfolgsquote auf 5 %100, ein anderer berichtete von einer Erfolgsquote von 100 %.101 Letzteres dürfte jedoch im Hinblick auf die absolute Anzahl

91  Interview

Nr. 9 vom 15.12.2015, S. 1. Nr. 10.1 vom 29.09.2015, S. 1. 93  Interview Nr. 11 vom 11.03.2016, S. 1. 94  Interview Nr. 12 vom 14.03.2015, S. 3 und 5. 95  Interview Nr. 13 vom 18.03.2016, S. 1. 96  Angaben I vom 11.02.2016, S. 2. 97  Angaben II vom 12.10.2015, S. 1. 98  Interview Nr. 5 vom 27.10.2015, S. 1; Interview Nr. 8 vom 14.12.2015, S. 1 und Interview Nr. 9 vom 15.12.2015, S. 1. 99  Interview Nr. 1 vom 14.09.2015, S. 1. 100  Interview Nr. 3 vom 12.10.2015, S. 2. 101  Interview Nr. 6 vom 09.11.2015, S. 2. 92  Interview

228

Teil 2: Eigene Untersuchung und Reformvorschläge

der von diesem Gesprächspartner gestellten Wiederaufnahmeanträge (zwei) nicht repräsentativ sein. Insgesamt wurde die Erfolgsquote der Wiederaufnahmeanträge von den Gesprächspartner als sehr gering (0 % bis 3 %) eingeschätzt.102 Bemerkenswert erscheint, was ein Verteidiger – befragt nach der Erfolgsquote von Wiederaufnahmeanträgen – berichtete: „Äußerst gering. Also äußerst gering. Ich hab da keine Zahlen gelesen, ich habe nur gehört, im OLG Bezirk Hamm, in dem ich ja bin, würden so 6–8 Wiederaufnahmeanträge im Jahr gestellt, im ganzen OLG-Bezirk. Ob das stimmt, weiß ich nicht. Das habe ich nur so (unverständlich) gehört. Und davon würden die meisten erfolglos bleiben.“103

3. Zeitpunkt der Beauftragung, Beiordnung und weiterer Rechtsanwalt Befragt nach dem Zeitpunkt ihrer Beauftragung berichteten die Experten, dass Anfragen zur Erarbeitung eines Wiederaufnahmegesuchs mit Ladung zum Haftantritt oder aus laufender Strafhaft erfolgen würden. Zudem seien auch längere Zeit nach Abschluss des Strafverfahrens sogar nach vollständiger Strafverbüßung und Ablauf der Aktenverwahrfristen Wiederaufnahmen mit dem Ziel der Rehabilitierung angestrengt worden.104 Ein Verteidiger gab an, dass er Anträge aus laufender Strafhaft nicht bearbeite.105 Befragt zur Verteidigerbestellung gem. §§ 364a, b StPO gab lediglich ein Gesprächspartner an, dass die Beiordnung großzügig gehandhabt werde.106 Ein weiterer berichtete von einem erfolgreichen Beiordnungsantrag.107 Drei Befragte befürworteten für die Wiederaufnahme einen andereren Verteidiger als für das Ausgangsverfahren.108 Ein Gesprächspartner regte an, dass der Pflichtverteidiger des Ursprungsverfahrens ohne weitere Prüfung 102  Interview Nr. 2 vom 28.09.2015, S. 24; Interview Nr. 5 vom 27.10.2015, S. 1; Interview Nr. 8 vom 14.12.2015, S. 1; Interview Nr. 10.1 vom 29.09.2015, S. 1; Interview Nr. 11 vom 11.03.2016, S. 1 und 9. 103  Interview Nr. 7 vom 16.11.2015, S. 7 (Wortlaut vom Gesprächspartner abgeändert). 104  Interview Nr. 2 vom 28.09.2015, S. 1, 2; Interview Nr. 3 vom 12.10.2015, S. 3; Interview Nr. 4 vom 19.10.2015, S. 2. 105  Interview Nr. 11 vom 11.03.2016, S. 2. 106  Interview Nr. 1 vom 14.09.2015, S. 2. 107  Angaben II vom 12.10.2015, S. 1. 108  Interview Nr. 7 vom 16.11.2015, S. 1; Interview Nr. 8 vom 14.12.2015, S. 1; Interview Nr. 10.2 vom 08.03.2016, S. 9.



B. Eigene Untersuchung229

ersetzt werden müsse, wenn er als Verteidiger nicht mehr agieren könne (z. B. wegen Zulassungsverlusts). Zudem dürfe der frühere Pflichtverteidiger nicht gegen den Willen des Verurteilten erneut auftreten, insbesondere nicht bei fehlendem Vertrauensverhältnis.109 Hinzu komme, dass Fehlurteile oft auf Verteidigerfehlern, z. B. dem falschen Rat zu einem Geständnis, beruhen würden, so dass der Verteidiger sich in der Wiederaufnahme gleichsam selbst verteidigen müsse. Dies allein führe zu der Notwendigkeit der Bestellung eines neuen Verteidigers.110 Drei Experten berichteten, dass sie im Regelfall in den von ihnen bearbeiteten Wiederaufnahmeverfahren nicht als Instanzverteidiger tätig waren. Diese Distanz zum Verfahren wurde auch als sinnvoll eingeschätzt.111 4. Erarbeitung eines Wiederaufnahmeantrags Gorka betont, dass der Erfolg eines Wiederaufnahmeantrags maßgeblich von dessen Vorbereitung abhängt.112 Aufgrund der hohen Zulässigkeitshürde des § 368 StPO, die faktisch einer Begründetheitsprüfung gleichkomme, habe der Verteidiger auf die Formulierung und Ausarbeitung des Wiederaufnahmeantrags besondere Sorgfalt zu verwenden. Dies gelte auch vor dem Hintergrund der Beschränkung des Wiederaufnahmegerichts im Aditionsverfahren auf die Prüfung der beigebrachten Umstände sowie des drohenden Verbrauchs des Vorbringens.113 Hierbei darf nicht außer Acht gelassen werden, dass die Verwerfung eines Wiederaufnahmeantrages als unzulässig auch ein Haftungsrisiko für den Verteidiger bedeutet. Der Verteidiger habe daher bei der Erarbeitung eines Antrags, ausgehend von der Grundentscheidung, wie folgt vorzugehen: – Analyse des Urteils auf mögliche Schwachstellen in der Beweisführung, – Prüfung des Ausgangsverfahrens auf Ausschöpfung der Verteidigungsmöglichkeiten, – Aufklärung des wahren Sachverhalts durch eigene Ermittlungen, ggf. unter Mithilfe des Mandanten.114 109  Interview

Nr. 10.2 vom 08.03.2016, S. 9. Nr. 10.2 vom 08.03.2016, S. 4, 10. 111  Interview Nr. 9 vom 15.12.2015, S. 3; Angaben I vom 11.02.2016, S. 2; Angaben II vom 12.10.2015, S. 1. 112  Gorka, in: Miebach / Hohmann, Wiederaufnahme in Strafsachen, Teil D, Rz. 1. 113  Gorka, in: Miebach / Hohmann, Wiederaufnahme in Strafsachen, Teil  D, Rz.  178 ff. 114  Gorka, in: Miebach / Hohmann, Wiederaufnahme in Strafsachen, Teil  D, Rz.  26 ff., 38. 110  Interview

230

Teil 2: Eigene Untersuchung und Reformvorschläge

Wasserburg rät nur solchen engagierten Anwälten zur Übernahme eines Wiederaufnahmemandats, die über hohe Fachkenntnis, einen sorgfältigen Arbeitsstil und eine hohe Frustrationstoleranz verfügen. Die Bearbeitung von Wiederaufnahmeverfahren erfordert nach seiner Einschätzung weit mehr Zeit und Arbeit als übliche Verfahren. Ferner würde in jenen Fällen der finan­ zielle Ertrag, verglichen zum Arbeitsaufwand, in einem groben Missverhältnis stehen.115 Auch Strate schildert, dass die Finanzierung eines Wiederaufnahmemandats in fast jedem Fall problematisch sei. Da der Betroffene zu Führung eines Wiederaufnahmeverfahrens im Regelfall keine finanziellen Mittel mehr habe, sei die Wiederaufnahme für den Anwalt in der Regel ein pro-bono-Mandat.116 Er empfiehlt dem Verteidiger daher, sich davor zu hüten, voreilig eine Prüfung des angetragenen Mandats in Aussicht zu stellen. Zugleich solle der Verteidiger ein Mandat nur dann annehmen, wenn er von der Unschuld des Mandanten überzeugt sei.117 Hinsichtlich der konkreten Antragserarbeitung betont Strate, dass die Urteilsgründe der Maßstab sind, „an dem sich die Triftigkeit eines neuen Beweismittels erweist oder erledigt“118. Allein das schriftliche Urteil sei für die Prüfung der Neuheit und Erheblichkeit eines Beweises aus dem Standpunkt des erkennenden Richters relevant.119 Eine in den Urteilsgründen gelungene und schlüssige Darstellung der Beweisführung bedeute eine ungünstige Ausgangsbedingung im Wiederaufnahmeverfahren. Ausgehend von den schrift­ lichen Urteilsgründen seien Schwachstellen des Urteils bei der Logik, der Beweisführung und der Tragfähigkeit der Urteilsgründe durch den Verteidiger auszuloten.120 Insbesondere die Gewichtung der Beweismittel zueinander sei für die weitere Erarbeitung des Wiederaufnahmeantrags entscheidend.121 Sodann sei mit Hilfe der Akte des abgeschlossenen Strafverfahrens die Tragfähigkeit der einzelnen Beweisgründe und -mittel zu prüfen. Diskrepanzen zwischen im Urteil wiedergegebenen Aussageinhalten und protokollierten Aussagen des Ermittlungsverfahrens, die im Urteil nicht erörtert werden, seien ein möglicher Ansatzpunkt für die Wiederaufnahme. Auch Zeugenaussagen seien vom Verteidiger in seine Überlegungen einzubeziehen. Die Widerlegung von Zeugenaussagen sei jedoch ein schweres Unterfangen für den Wiederaufnahmeführer, der sich bemühen solle, die Widerlegung durch 115  Wasserburg, 116  MAH 117  MAH 118  MAH 119  MAH

120  MAH 121  MAH

Die Wiederaufnahme des Strafverfahrens, S. 226. Strafverteidigung-Strate, § 27 / 8. Strafverteidigung-Strate, § 27 / 8 ff. Strafverteidigung-Strate, § 27 / 13. Strafverteidigung-Strate, § 27 / 13, 65. Strafverteidigung-Strate, § 27 / 15 ff. Strafverteidigung-Strate, § 27 / 24.



B. Eigene Untersuchung231

­ bjektive Beweismittel zu untermauern.122 Je größer der Beweiswert eines o Sachverständigengutachtens für die angegriffene Entscheidung sei, desto entscheidender sei die systematische und methodenaktuelle Prüfung des Gutachtens auf Fehlerquellen.123 Aus den Ermittlungsakten ergeben sich zudem, nach Strates Erfahrung, Hinweise auf andere (Parallel-)Verfahren. Neue Ermittlungsansätze würden sich schließlich neben der Verfahrensakte auch aus der Besichtigung der Asservate ergeben.124 Um die Frage zu beantworten, welcher Umstand geeignet sei, das Urteil in Frage zu stellen, solle sich der Verteidiger, nach der von Strate empfohlenen Herangehensweise, möglichst auf den Punkt konzentrieren, der seiner Einschätzung nach den größten Effekt habe.125 Auch Geipel betont, dass der in der Wiederaufnahme versierte Verteidiger – bereits angesichts der Fülle von Anfragen und den kaum vorhandenen finanziellen Ressourcen der Wiederaufnahmemandanten – nur solche Fälle näher prüfen sollte, die ihn bereits bei der ersten Kontaktaufnahme fesseln und für die der potenzielle Mandant hieb- und stichfeste Gründe benennen kann, die die Ausgangsentscheidung in Zweifel ziehen.126 Um die Bearbeitung von vornherein auf potentiell erfolgreiche Wiederaufnahmegesuche zu konzentrieren, empfiehlt Geipel daher zudem, einen moderaten Honorarvorschuss zu verlangen, der vom tatsächlich Unschuldigen im Regelfall aufgebracht werden könne, dagegen einen nur vermeintlich Unschuldigen abschrecken würde.127 Als Verteidiger in der Wiederaufnahme empfehle es sich lt. Geipel zudem, zunächst von der Schuld des potentiellen Mandanten in der weiteren Prüfung auszugehen.128 Das Mandat solle erst dann übernommen werden, wenn der Verteidiger von der Unschuld des Mandanten überzeugt ist.129 Übereinstimmend mit den von der Literatur gestellten Anforderungen an den Wiederaufnahmeverteidiger hinsichtlich besonderer Kenntnisse, Fähigkeiten, Arbeitsaufwand und tatsächlicher Recherche130 berichteten auch die befragten Verteidiger, dass die Erarbeitung eines Wiederaufnahmeantrags –

122  MAH

Strafverteidigung-Strate, § 27 / 34, eingehender dann Rn. 92 ff. Strafverteidigung-Strate, § 27 / 62, 91. 124  MAH Strafverteidigung-Strate, § 27 / 113 f. 125  MAH Strafverteidigung-Strate, § 27 / 63. 126  Geipel, in: Miebach / Hohmann, Wiederaufnahme in Strafsachen, Teil C, Rz. 7. 127  Geipel, in: Miebach / Hohmann, Wiederaufnahme in Strafsachen, Teil C, Rz. 9. 128  Geipel, in: Miebach / Hohmann, Wiederaufnahme in Strafsachen, Teil C, Rz. 10. 129  Geipel, in: Miebach / Hohmann, Wiederaufnahme in Strafsachen, Teil C, Rz. 10. 130  Geipel, in: Miebach / Hohmann, Wiederaufnahme in Strafsachen, Teil C, Rz. 11. 123  MAH

232

Teil 2: Eigene Untersuchung und Reformvorschläge

aufgrund der „Ameisenarbeit“131 – sehr aufwendig sei.132 Insbesondere für einen Verteidiger, der im Übrigen wenig Erfahrung im Bereich der Wiederaufnahme habe, bedeute die Übernahme eines Wiederaufnahmemandats einen erhöhten Aufwand.133 Dieser sei mit normaler Verteidigertätigkeit nicht vergleichbar, was insbesondere daran liege, dass neben dem Ursprungsverfahren auch neue Umstände ermittelt und aufgearbeitet werden müssten.134 Das Mandat würde im Regelfall erst dann übernommen, wenn der Betroffene dem Verteidiger darlegen kann, warum das Ausgangsurteil fehlerhaft sei und worin er Wiederaufnahmegründe erkenne.135 Ein Verteidiger schilderte, dass er zunächst prüfe, ob der Betroffene die Akte selbst gelesen hat. Sofern dies nicht geschehen sei, ermögliche er dies dem Mandanten.136 Andere berichteten, dass die Erarbeitung des Antrags mit einem Studium der schriftlichen Urteilsgründe beginne.137 Zudem würden die Akten angefordert und komplett durchgearbeitet werden.138 Aus dem Aktenmaterial, insbesondere den Spurenakten, ergäben sich die hilfreichsten Anhaltspunkte für die Erarbeitung eines Wiederaufnahmeantrags.139 Es komme öfter vor, dass relevante Hinweise auf Täteralternativen in den Spurenakten abgelegt würden.140 Da der Antragsteller darzulegen habe, warum das Ausgangsgericht bei Kenntnis der neuen Umstände zu einem anderen Ergebnis gekommen wäre und sich dies am Akteninhalt bemesse, müsse sich der Verteidiger mit dem gesamten Akteninhalt auseinandersetzen.141 Denn das Urteil klinge auf den ersten Blick zunächst plausibel, erst bei intensiverer Beschäftigung würden Defizite offenbar werden.142 131  Interview Nr. 9 vom 15.12.2015, S. 3; gemeint ist, dass der Verteidiger viele kleine Details zusammentragen und diese dann in einen stilistisch sauberen Antrag umarbeiten muss. 132  Interview Nr. 2 vom 28.09.2015, S. 1; Interview Nr. 6 vom 09.11.2015, S. 19; Interview Nr. 7 vom 16.11.2015, S. 2; Interview Nr. 12 vom 14.03.2016, S. 5; Angaben I vom 11.02.2016, S. 2; Angaben II vom 12.10.2015, S. 1. 133  Interview Nr. 7 vom 16.11.2015, S. 2. 134  Interview Nr. 8 vom 14.12.2015, S. 4; Interview Nr. 9 vom 15.12.2015, S. 17. 135  Interview Nr. 2 vom 28.09.2015, S. 1; Interview Nr. 8 vom 14.12.2015, S. 4; Interview Nr. 9 vom 15.12.2015, S. 4. 136  Interview Nr. 10.2 vom 08.03.2015, S. 19 f. 137  Interview Nr. 8 vom 14.12.2015, S. 4; Interview Nr. 9 vom 15.12.2015, S. 4. So auch MAH Strafverteidigung-Strate, § 27 / 13. 138  Interview Nr. 2 vom 28.09.2015, S. 1; Interview Nr. 8 vom 14.12.2015, S. 4 und 25. 139  Interview Nr. 2 vom 28.09.2015, S. 2. 140  Interview Nr. 9 vom 15.12.2015, S. 8. 141  Interview Nr. 3 vom 12.10.2015, S. 7.



B. Eigene Untersuchung233

Befragt zur praktischen Herangehensweise berichtete ein Verteidiger, dass er zunächst auf Grundlage des Urteils und den Informationen des Betroffenen ein Gutachten zu den Erfolgsaussichten des Wiederaufnahmeantrags anfertige: „Also ich mache Folgendes: Ich mache im Grunde genommen als Einstieg ein Gutachten. Ein Gutachten ausschließlich auf Grundlage des Urteils. Und dann das, was der Mandant sagt, was neue Tatsachen, neue Beweismittel oder Wiederaufnahmegründe sind. Und was damit in unmittelbaren Zusammenhang steht. Ich guck mir also nicht die gesamte Verfahrensakte in diesem Schritt an, sondern tatsächlich nur das Urteil. Das ist natürlich schon ein Unterschied, ob das Urteil 10 oder 100 Seiten hat. Dieses Urteil, das lese ich dann auch recht sorgfältig. Das kann also sein, dass ich das durchaus 3 bis 5 Mal lese, bevor ich sowas verstanden hab, was dort gespielt wird. Also vielleicht nicht komplett, aber ich sage mal, die Beweiswürdigung natürlich und der festgestellte Sachverhalt, die entsprechenden Punkte. Ja, also, so. Ja, also ne Uhr habe ich da meistens nicht laufen, was allerdings sinnvoll wäre. Ja und dann der Antrag selber, der hängt dann natürlich an dem Ergebnis der Begutachtung drin, das kann dann durchaus schon schneller gehen. Wenn ich dann beispielsweise eine Beiordnung habe, dann gucke ich mir natürlich die gesamte Akte an, klar. Und ja – also – es ist unterschiedlich, ich kann mich da nicht festlegen, aber ich denke schon, dass es recht zeitintensiv ist.“143

Ein Problem für den Verteidiger liege in der griffigen Darstellung des Wiederaufnahmegesuchs.144 Aufgrund des Verbrauchs des Wiederaufnahmevorbringens müsse der Antrag mit größter Sorgfalt erarbeitet werden. Als Verteidiger habe man nur einen Versuch, in den es alle Argumente einzubringen gelte.145 Dies gehe mit einer erhöhten Bearbeitungszeit einher, was insbesondere bei inhaftierten Mandanten zu Unmut führen könne.146 Zudem berichteten drei Experten, oftmals einen Antrag auf Beiordnung als Pflichtverteidiger gem. § 364b StPO zu stellen, um neben der Frage der Kostentragung auch eine Einschätzung des Wiederaufnahmegerichts in der Sache zu erhalten, und den Mandanten vor dem Verbrauch des Vorbringens zu bewahren.147 Die in der Praxis häufig vorkommenden Überraschungsentscheidungen könnten über diesen Umweg u. U. verhindert werden148, da die Beschlussgründe über den Beiordnungsantrag oftmals der Hauptsacheentscheidung entsprechen würden.149 Befürwortet wurde daher zur Verbesserung der 142  Interview

Nr. 4 vom 19.10.2015, S. 13. Nr. 1 vom 14.09.2015, S. 6. 144  Interview Nr. 9 vom 15.12.2015, S. 4. 145  Interview Nr. 5 vom 27.10.2015, S. 9. 146  Interview Nr. 5 vom 27.10.2015, S. 9. 147  Interview Nr. 1 vom 14.09.2015, S. 2; Interview Nr. 2 vom 28.09.2015, S. 24; Interview 10.2 vom 08.03.2016, S. 8. 148  Interview Nr. 2 vom 28.09.2015, S. 24. 149  Interview Nr. 1 vom 14.09.2015, S. 2. 143  Interview

234

Teil 2: Eigene Untersuchung und Reformvorschläge

geltenden Rechtslage, eine gesetzliche Hinweispflicht einzuführen, um das Wiederaufnahmegericht zu zwingen, darzulegen, aus welchen Gründen beabsichtigt ist, den Antrag nach derzeitigem Stand abzulehnen. Denn genau dies müsse derzeit über Beiordnungsanträge gem. § 364b StPO durch die Verteidiger künstlich konstruiert werden.150 Die Bearbeitung eines Wiederaufnahmemandats auf RVG-Basis stehe in keinem Verhältnis zum tatsächlichen Arbeitsaufwand.151 Insbesondere als beigeordneter Verteidiger sei die Tätigkeit im Wiederaufnahmeverfahren nicht wirtschaftlich.152 Im Regelfall müsse daher eine Honorarvereinbarung mit dem Mandanten getroffen werden.153 Der Verteidiger werde auf RVGBasis kaum bereit sein, das Mandat für die Wiederaufnahme eines Verfahrens überhaupt anzunehmen.154 Auch eine hypothetisch angedachte Anhebung des Gebührenrahmens nach dem RVG könne keine Abgeltung des Arbeitsaufwands gewähren.155 Gleichwohl berichteten Verteidiger, dass die Tätigkeit im Wiederaufnahmeverfahren Spaß mache und eine Frage des Berufsethos sei.156 5. Öffentlichkeit Die Gesprächspartner wurden auch gefragt, ob der öffentliche Druck oder ein öffentlicher Fokus auf das Wiederaufnahmerecht einem Wiederaufnahmeverfahren nütze. Öfentlichkeitswirksame Verfahren seien zwar die Ausnahme, mitunter aber könne das öffentliche Interesse für das Betreiben eines Wiederaufnahmeverfahrens maßgeblich sein und es bestünden (wesentlich157) höhere Erfolgschancen.158 Sobald die Öffentlichkeit an einem Verfahren Interesse zeige, könne Druck auf die Justiz ausgeübt werden.159 Es sei festzustellen, dass Wirtschaftsstrafverfahren, für die die Öffentlichkeit nicht begeistert werden 150  Interview

Nr. 3 vom 12.10.2015, S. 13. Nr. 3 vom 12.10.2015, S. 7; Interview Nr. 7 vom 16.11.2015, S. 5; Interview Nr. 8 vom 14.12.2015, S. 23 f.; Interview Nr. 9 vom 15.12.2015, S. 1. 152  Interview Nr. 6 vom 09.11.2015, S. 20. 153  Interview Nr. 7 vom 16.11.2015, S. 6; Interview Nr. 8 vom 14.12.2015, S. 23 f. 154  Interview Nr. 8 vom 14.12.2015, S. 23 f.; Interview Nr. 12 vom 14.03.2015, S. 5. 155  Interview Nr. 8 vom 14.12.2015, S. 23 f. 156  Interview Nr. 6 vom 09.11.2015, S. 20; Interview Nr. 9 vom 15.12.2015, S. 2. 157  Interview Nr. 12 vom 14.03.2016, S. 20. 158  Interview Nr. 1 vom 14.09.2015, S. 14; Interview Nr. 2 vom 28.09.2013, S. 15; Interview Nr. 7 vom 16.11.2015, S. 4; Interview Nr. 12 vom 14.03.2016, S. 20. 159  Interview Nr. 2 vom 28.09.2015, S. 14 f. 151  Interview



B. Eigene Untersuchung235

könne, so gut wie nie wiederaufgenommen würden.160 Für den Wiederaufnahmeverteidiger sei es daher stets ratsam, mit öffentlichem Druck zu arbeiten.161 Die richterliche Angst vor dem Verlust des eigenen Ansehens könne konstruktiv für den Mandanten eingesetzt werden.162 Dem widersprachen Verteidiger, deren Einschätzung nach sich die Justiz von öffentlichem Druck nicht beeindrucken lasse und öffentlicher Druck bei ihr eine Art Trotzreaktion verursachen könne.163 Ein Gesprächspartner lehnte ab, das Verfahrensergebnis zu beeinflussen zu versuchen, indem er als Wiederaufnahmeverteidiger öffentlichen Druck aufbaue.164 Ein weiterer gab zu bedenken, dass der Verteidiger bei überbordenden Angriffen in der Öffentlichkeit damit rechnen müsse, dass die in der Justiz zu beobachtende Solidarität und der damit einhergehende Schulterschluss schnell kontraproduktive Auswirkungen haben könne.165 Ein weiterer Verteidiger schaltete bislang in den von ihm bearbeiteten Wiederaufnahmeverfahren die Öffentlichkeit nicht ein, da dies seiner Meinung nach keine Auswirkung auf den Erfolg des Verfahrens habe.166 Schlussendlich berichtete ein Gesprächspartner, dass seiner Erfahrung nach die Presse respektive die Öffentlichkeit an einem Verfahren erst Inte­ resse zeige, wenn sich eine Freispruchtendenz abzeichne.167 Dies bestätigte zwar ein weiterer Gesprächspartner insoweit, als in der Bevölkerung ein sehr hohes Vertrauen in die Richtigkeit justizieller Entscheidungen vorherrsche168, doch dürfe nicht übersehen werden, dass öffentlich wahrgenommene Wiederaufnahmeverfahren einem „Feigenblatt“ gleichkämen, das die Gesellschaft glauben lasse, das geltende Wiederaufnahmerecht würde funktionieren.169 6. Gründe für Fehlurteile Die Gesprächspartner sollten außerdem Auskunft erteilen, wie Fehlurteile entstehen und wie die Justiz ihrer Erfahrung nach mit Fehlurteilen umgeht. 160  Interview

Nr. 2 vom 28.09.2015, S. 14. Nr. 2 vom 28.09.2015, S. 15. Differenzierend: Interview Nr. 5 vom 27.10.2015, S. 21. 162  Interview Nr. 12 vom 14.03.2016, S. 21. 163  Interview Nr. 4 vom 19.10.2015, S. 4; Interview Nr. 10.1 vom 29.09.2015, S. 1. 164  Interview Nr. 4 vom 19.10.2015, S. 4. 165  Interview Nr. 8 vom 14.12.2015, S. 10. 166  Interview Nr. 10.1 vom 29.09.2015, S. 1. 167  Interview Nr. 4 vom 19.10.2015, S. 4. 168  Interview Nr. 9 vom 15.12.2015, S. 7. 169  Interview Nr. 10.1 vom 29.09.2015, S. 2. 161  Interview

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Teil 2: Eigene Untersuchung und Reformvorschläge

In der Kommentarliteratur wird davon ausgegangen, dass die strukturelle Überbetonung einer Verdachtshypothese und deren Bestätigung durch Zwischenentscheidungen sowie eine Dissonanzreduktion widerstreitender Gesichtspunkte dazu führt, dass die Entscheidungsträger mit zunehmender Verfahrensdauer Argumente der Verteidigung ausblenden, weil sie sich einem wachsenden Rechtfertigungsdruck ausgesetzt sehen. Dies führe zugleich zu der „äußerst bedenklichen Wiederaufnahmepraxis“.170 Fehlurteile hätten ihren Grund in der unzureichenden Arbeit der Justiz.171 So würden Gerichte Fehlurteile dadurch verursachen, dass sie nicht nachgewiesene Umstände mit lediglich behaupteten eigenen Tatsachenfeststellungen ersetzen.172 Unzulänglichkeiten seien auch oft und bereits im Ermittlungsverfahren zu konstatieren.173 Berichtet wurde in diesem Zusammenhang von einseitiger Ermittlungsarbeit der Polizei, die eine Weichenstellung für das weitere Verfahren darstelle: „Die (Anm.: gemeint die Polizei) haben sich etwas in den Kopf gesetzt und das muss so gewesen sein. Und dann ermitteln die nur noch in diese eine Richtung. Dann sehen sie das, was sie wollen, weil natürlich diese Menschen diesem Druck überhaupt nicht standhalten können. Und wenn du dann noch Verteidiger hast, die das, die haben, die Verteidiger haben erst gemerkt aus meiner Sicht, das ist aus dem Aktenberg rauszulesen, als die Verurteilung dann da war, die Revisionen, die die gemacht haben und insbesondere die von meinem Mandanten war sehr gut eigentlich aus meiner Sicht. Aber hat halt nichts mehr gebracht. Der BGH der hat das durchgewunken. (…) Klar, man muss oder kann natürlich sagen, gut, das Gericht muss sich halt nunmehr der Beweisführung auch der Gutachter bedienen, aber das ist halt teilweise so blindgläubig. Und genauso ist es: ein Polizist lügt nicht. Das ist ja genau das gleiche. Und das ist das, was bei diesem xxx-Verfahren insbesondere augenscheinlich war, die Polizisten haben gelogen, dass sich die Balken bogen. Wirklich. Auch jetzt dann noch, noch Jahre später. Täuschten Erinnerungslücken vor, der Hauptermittler hat dann sogar ein Arztattest vorgelegt, der ist vom Amtsarzt untersucht worden, eine Aussagenuntüchtigkeit läge vor, er leidet an einem posttraumatischen Belastungssyndrom und welches durch die mit Sicherheit zu erwartenden kritischen Fragen der Verteidiger wieder aufleben würde. Und da hat der Arzt kann da aus gesundheitlichen Gründen nicht ihm anraten, dass er da hingeht. Ist vom Landgerichtsarzt bestätigt worden.“174

170  BeckOK-Eschelbach, 171  Interview

Nr. 2 172  Interview Nr. 6 173  Interview Nr. 2 174  Interview Nr. 6

vom vom vom vom

§ 261 / 5.1. ff. 28.09.2015, S. 8. 09.11.2015, S. 1. 28.09.2015, S. 8; Interview Nr. 9 vom 15.12.2015, S. 8 f. 09.11.2015, S. 11.



B. Eigene Untersuchung237

Derselbe Gesprächspartner berichtete, dass die Polizeiarbeit im Ermittlungsverfahren eine Weichenstellung für Fehlurteile sei: „Mit Sicherheit. Also da bin ich überzeugt davon, dass zumindest im xxx-Verfahren diese Polizeiarbeit und vor allem die Gläubigkeit der Richter auf bestimmte eingesessene Gutachter z. B., das ist auch ein ganz extrem wichtiger Punkt. (…)“175

Gleiches berichtete ein weiterer Gesprächspartner: „Ja. Das würde ich schon ganz klar sagen: Jagdeifer, zu frühe Festlegung auf einen nur Verdächtigen als Täter, einseitige Ermittlungen, weil § 160 Abs. 2 StPO nicht gelebt wird.“176

Von mangelhafter Polizeiarbeit handelt auch ein weiterer Erfahrungsbericht: „In dem Zusammenhang habe ich die Akten genau studiert und habe einen Zeugen ausfindig gemacht, der damals eine Aussage gemacht hat, bei der Polizei. Der hatte sich gemeldet, der war nämlich in einer dort nahe gelegenen Bank und hat Geld abgehoben. So. Dieser Zeuge schildert ganz genau, wie der Schütze ausgesehen hat. Den hat man nicht vor Gericht gehört. In der Akte findet sich nur ein Vermerk von der Polizei, der Zeuge lügt, weil wir haben den Bankdirektor von der Sparkasse gefragt, und der sagt, der hat hier kein Geld abgehoben und der war auch nicht mit einer EC-Karte hier am Automaten. Wir haben das überprüft. Was dann das Gericht, wie gesagt, letzten Endes dazu veranlasst zu sagen, unglaubwürdiger Zeuge, laden wir erst gar nicht zum Verfahren. Ich hab’ den letzte Woche jetzt besucht im Knast und habe gesagt, hier, du hast hier ’ne Aussage bei der Polizei gemacht, die liest sich total toll. Eigentlich kann man sowas nur erzählen, wenn man es wirklich gesehen hat. Sagt er – ja hab ich ja auch gesehen. Sag ich – ja dann erklär mir doch mal bitte, warum der Bankdirektor sagt, dass du da gar nicht am Automaten warst, wenn du doch angibst, dort gewesen zu sein. Sagt er – ja steht doch in der Akte. Sag ich – ne, da steht nur drin, dass Sie da nicht waren. Sagt er – naja, ich war zwar da, aber nicht mit meiner EC-Karte. Das war eine gestohlene ECKarte und ich hab noch lange überlegt, ob ich der Polizei das überhaupt mitteile, dass ich da was gesehen habe, weil ich mich ja selbst in die Pfanne haue mit der gestohlenen EC-Karte. Ich hab noch richtig Ärger mit meiner Anwältin gekriegt, hab mir aber gesagt, mir ist es wichtiger, da etwas zu sagen, weil ob ich am Ende 26 oder 27 EC-Karten-Delikte an der Backe habe – sagt er – war sowieso egal. Deshalb habe ich der Polizei auch gesagt gehabt, dass die EC-Karte gestohlen ist. Das hat aber keinen Niederschlag in der Akte gefunden. Stattdessen schreibt die Polizei sogar noch, dass der da nie am Automaten war nach Rücksprache mit dem Bankdirektor und das ganz Kuriose ist: Der hat auch nie ein Verfahren deshalb bekommen. Ein Schelm, wer Böses denkt: Jetzt gibt es zwei Möglichkeiten in dem Fall: Entweder, Möglichkeit 1, die Polizeibeamten waren völlig inkompetent und hatten überhaupt keine Ahnung davon, was sie machen, haben die Hälfte vergessen nach dieser Vernehmung und haben einfach vergessen, solche elementar wichtigen 175  Interview 176  Interview

überarbeitete.

Nr. 6 vom 09.11.2015, S. 11. Nr. 9 vom 15.12.2015, S. 8 f., wobei der Gesprächspartner das Zitat

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Teil 2: Eigene Untersuchung und Reformvorschläge

Sachen, wie der war mit ner gestohlenen EC-Karte am Automat, vergessen in die Vernehmung reinzuschreiben, und in den Abschlussvermerk. Möglichkeit 1. Und dann noch nicht mal dran gedacht, weshalb sie dann nochmal beim Bankdirektor angerufen haben. Möglichkeit 1. Möglichkeit 2 ist, man hat ein aufbereitetes Verfahren mit einer Menge Zeugen, die teilweise so und so ausgesagt haben, und am Ende stellt man fest, es passt nicht. Wenn ich dem Zeugen das und dem Zeugen das glaube, dann scheidet der als Täter aus. Dann haben wir aber kein Ermittlungsergebnis. Gar nicht gut. Also gucken wir mal, wie kriegen wir da ein tolles Ergebnis hin. Mit solchen Vermerken passt am Ende alles.“177

Neben Fehlerquellen im Ermittlungsverfahren wurde von weiteren Fehl­ urteilsgründen berichtet: „Manchmal dürften Fehlurteile aber auch auf falscher anwaltlicher Beratung beruhen, etwa weil zu pauschal geraten wird, sich nicht zum Anklagevorwurf zu äußern oder zu schnell vom Zeugnisverweigerungsrecht Gebrauch zu machen. Oder: wegen nicht engagiert genug geführter Verteidigung. Das sind die Fälle, in denen die Erfahrung fehlt oder die Kampfbereitschaft, das prozessuale und das materielle Wissen – auch in den sog. Nebengebieten wie Psychiatrie, Kriminaltechnik, Naturwissenschaften usw. – nicht ausreicht und vielleicht deshalb, weil der eine oder andere Verteidiger nicht wirklich lebt, was er von anderen Verfahrensbeteiligten wie selbstverständlich verlangt, nämlich die Unschuldsvermutung auch an den konkreten Fall seines Mandanten anzulegen. Sich Sachkunde in diesen ausbildungsfremden Gebieten anzueignen, setzt viel Bereitschaft zur Eigeninitiative vo­ raus. Die fehlt nicht selten, auch auf Seiten der Staatsanwälte und Richter. Ich verkenne nicht, dass es mitunter schwierig ist, die Unschuldsvermutung zu leben. Aber wenn mir ein Mandant sagt, ‚ich war das nicht‘, obwohl die Indizienkette oder der Indizienring ihn nach Ansicht des Verteidigers einschließen, dann ist man in Gefahr, sich selbst zu sagen, dass man dem Mandanten nicht glaubt: ‚Was erzählt der mir? Was soll der auch anders sagen?‘“178

Dabei sei mitunter eine wesentliche Fehlerquelle, dass dem Mandanten die Ermittlungsakte nicht zur eigenen Lektüre überlassen worden sei.179 Hinzu komme, dass ein Problem sowohl des Wiederaufnahmerechts als auch von Fehlurteilen sei, dass die professionellen Verfahrensbeteiligten nicht über Kenntnisse in Komplementärwissenschaften verfügen.180 Die Gerichte würden tatsächlich nicht leisten, was sie leisten sollten, nämlich eine Kontrolle der Ermittlungsergebnisse.181 Da auch Richter nur Menschen sind, seien sie durch z. B. das optische Erscheinungsbild des Angeklag177  Interview 178  Interview

Nr. 2 vom 28.09.2015, S. 10. Nr. 9 vom 15.12.2015, S. 8 f., wobei der Gesprächspartner das Zitat

überarbeitete. 179  Interview Nr. 10.2 vom 08.03.2016, S. 20. 180  Interview Nr. 10.1 vom 29.09.2015, S. 2; Interview Nr. 10.2 vom 08.03.2016, S. 26. 181  Interview Nr. 12 vom 14.03.2016, S. 22.



B. Eigene Untersuchung239

ten beeinflussbar.182 Querulatorisches Verhalten etwa verursache schnell eine negative Voreingenommenheit des Gerichts.183 Gleichwohl würden sich auch Richter vor Fehlurteilen scheuen.184 Zugleich sei unter ihnen der Glaube verbreitet, dass ein Richter keine Fehler mache.185 Dies gelte insbesondere für die bayerische Justiz, die sich für unfehlbar halte. In anderen Bundesländern herrsche insoweit ein lockererer Umgang.186 Hinzu komme, dass Richter keine persönliche Verantwortung für ihre Entscheidungen übernehmen müssen. Fehler würden mit einem Schulterzucken zur Kenntnis genommen.187 „Wenn ich sehe, da ist was eklatant falsch gelaufen, dann muss man auch so konsequent sein, das muss der Rechtsstaat auch aushalten und auch sicherstellen, ok, da ist ein falsches Urteil gesprochen worden. Und sich dann hinstellen und sagen, ok, muss man korrigieren.“188

Sind erst nach Erlass des Ausgangsurteils neue Beweismittel aufgetaucht, die vorher noch nicht bekannt waren, könne ja dafür niemandem die Schuld gegeben werden.189 7. Eigene Ermittlungen der Verteidigung Neben der Erarbeitung der Rechtsprechung190 liege das größte Problem im Rahmen der Vorbereitung eines Wiederaufnahmeantrags bei der Herbeischaffung des Tatsachenmaterials191, u. U. durch die Erstattung einer Strafanzeige.192 Neben Zeugen wurden auch Urkunden und Sachverständige als für die Wiederaufnahme relevante Beweismittel benannt.193 Problematisch sei jedoch, an die Zeugen heranzutreten.194 Auch die Kontaktaufnahme mit Sachverständigen obliege dem Verteidiger.195 So habe der Verteidiger zu 182  Interview 183  Interview 184  Interview 185  Interview 186  Interview 187  Interview 188  Interview 189  Interview 190  Interview 191  Interview 192  Interview 193  Interview

S. 21.

194  Interview 195  Interview

Nr. 6 vom 09.11.2015, S. 17 f. Nr. 12 vom 14.03.2016, S. 4. Nr. 10.1 vom 29.09.215, S. 4. Nr. 6 vom 09.11.2015, S. 15. Nr. 6 vom 09.11.2015, S. 15, 17 f. Nr. 5 vom 27.10.2015, S. 12 f. Nr. 5 vom 27.10.2015, S. 15. Nr. 2 vom 28.09.2015, S. 8. Nr. 4 vom 19.10.2015, S. 5; Interview Nr. 6 vom 09.11.2015, S. 19. Nr. 4 vom 19.10.2015, S. 5. Nr. 5 vom 27.10.2015, S. 10. Nr. 2 vom 28.09.2015, S. 9; Interview Nr. 10.2 vom 08.03.2016, Nr. 1 vom 14.09.2015, S. 7. Nr. 8 vom 14.12.2015, S. 4; Interview Nr. 10.1 vom 29.09.2015, S. 2.

240

Teil 2: Eigene Untersuchung und Reformvorschläge

prüfen, ob auf der Ebene von Sachverständigengutachten neue Erkenntnisse zu gewinnen seien.196 Dabei stelle sich das Problem der Kosten für die Erstattung eines Gutachtens.197 Ein Verteidiger berichtete, dass nach seiner Erfahrung Gutachter z. T. unentgeltlich Gutachten für Wiederaufnahmemandate erstatten würden, so dass die Durchführung des Verfahrens nicht zwingend an derartigen Kostenerwägungen scheitern müsse. Zugleich berichtete er, Wiederaufnahmeverfahren überwiegend auf eigene Kosten durchgeführt zu haben.198 Nur der (gem. § 364b StPO) bestellte Verteidiger erhält die durch Nachforschungen entstandenen Auslagen gem. § 46 Abs. 3 S. 1 RVG ersetzt. Die Beschaffung des Tatsachenmaterials für einen Wiederaufnahmeantrag dürfte stets eigene Ermittlungstätigkeit des Verteidigers voraussetzen.199 Den Ermittlungsmöglichkeiten sind jedoch, neben den rechtlichen Grenzen, die sich aus § 258 StGB und dem Standesrecht ergeben, insbesondere faktische Grenzen gesetzt. Dem Verteidiger stehen etwa keine Zwangsbefugnisse zu.200 Im Zusammenhang mit der Erarbeitung von Wiederaufnahmeanträgen wurden die Experten auch befragt, ob sie eigene Ermittlungen zur Herbeischaffung des für die Wiederaufnahme erforderlichen neuen Tatsachenmaterials anstrengen. Dies wurde ganz überwiegend bejaht201, von einem Verteidiger gar als zwingend erachtet.202 Eigene Ermittlungstätigkeiten des Verteidigers sei schon zur Überprüfung des Mandantenvortrags erforderlich203, weil der Mandant i. d. R. nicht erkenne, was für die Wiederaufnahme wirklich von Bedeutung sei.204 Zwar würde er bereits mit Informationen, Zeugen oder Beweismitteln an den 196  Interview

Nr. 8 vom 14.12.2015, S. 4. Nr. 11 vom 11.03.2016, S. 6. 198  Interview Nr. 10.1 vom 29.09.2015, S. 2; Interview Nr. 10.2 vom 08.03.2016, S. 5. 199  Marxen / Tiemann sprechen insoweit sogar davon, dass die eigene Ermittlungstätigkeit des Verteidigers zur Vorbereitung eines Wiederaufnahmeantrags zugunsten des Verurteilten vom Gesetz vorausgesetzt werde, vgl. Marxen / Tiemann, Die Wiederaufnahme in Strafsachen, Rn. 462. 200  Marxen / Tiemann, Die Wiederaufnahme in Strafsachen, Rn. 462 f. 201  Interview Nr. 2 vom 28.09.2015, S. 16; Interview Nr. 4 vom 19.10.2015, S. 1; Interview Nr. 7 vom 16.11.2015, S. 3; Interview Nr. 8 vom 14.12.2015, S. 4; Interview Nr. 9 vom 15.12.2015, S. 6; Interview Nr. 10.1 vom 29.09.2015, S. 4; Interview Nr. 13 vom 18.03.2016, S. 2. 202  Interview Nr. 2 vom 28.09.2015, S. 16. 203  Interview Nr. 9 vom 15.12.2015, S. 6. 204  Interview Nr. 8 vom 14.12.2015, S. 4. 197  Interview



B. Eigene Untersuchung241

­Verteidiger herantreten.205 Die eigene Ermittlungstätigkeit des Verteidigers wurde jedoch gegenüber Recherchen des Mandanten bevorzugt206, auch wenn diese nach dem Bericht eines Gesprächspartners langwierig sei: „Bevor ich da überhaupt rangegangen bin, habe ich ungefähr ein halbes Jahr ermittelt. Also ich habe bestimmt 50 Zeugen befragt, schätze ich mal. 40–50 Zeugen. (…) Nicht nur Zeugen befragt, auch ne Ortsbesichtigung gemacht z. B.“207

Ein Experte schilderte, dass er aufgrund eigener Ermittlungen in der Vergangenheit bedroht und ihm mit Anzeigen gedroht wurde.208 Weiter wurden die Experten befragt, ob ihres Erachtens ein „innocence project“ (s. hierzu S. 310) auch in Deutschland denkbar wäre, um Fehl­ urteile aufzudecken und zu korrigieren. Dies wurde bejaht.209 Jede Hilfe zur Einarbeitung in ein Wiederaufnahmeverfahren sei sinnvoll.210 Die Umsetzung wäre jedoch schwierig, wenn ein derartiges Projekt ausschließlich von ehrenamtlicher Tätigkeit lebe.211 Ein weiterer Verteidiger äußerte sich skeptisch, da er ein vergleichbares Projekt in Deutschland nur für theoretisch möglich erachte.212 Ein anderer schätzte, dass in Deutschland weniger ­Unschuldsfälle als in den USA mit dem Geschworenensystem vorkämen213, weshalb die Vergleichbarkeit fehle. Ein dem „innocence project“ nachgebildetes Projekt in Deutschland sei gleichwohl sinnvoll, um Sensibilität zu schaffen.214 Eine breite Aufarbeitung von Fehlurteilen könne an der Einstellung der Justiz möglicherweise etwas verändern: „Doch, würde ich schon sagen. Denn die Justiz lebt ja von der Vorstellung, fehlerfrei zu arbeiten. Das glaube ich, ist ja nicht nur in der Justiz so. Sondern jeder, der beruflich tätig ist, bemüht sich – und das unterstelle ich auch der Justiz – möglichst 205  Interview Nr. 11 vom 11.03.2016, S. 6. Deshalb berichtete dieser Gesprächspartner auch davon, dass er bisher selten selbstständig an Zeugen zur Durchführung weiterer Ermittlungen herangetreten sei. 206  Interview Nr. 5 vom 27.10.2015, S. 10; Interview Nr. 10.1 vom 29.09.2015, S. 4. A. A., dass nämlich auch dem Mandanten Ermittlungen aufgegeben werden könnten; Interview Nr. 12 vom 14.03.2016, S. 4. 207  Interview Nr. 4 vom 19.10.2015, S. 6. 208  Interview Nr. 10.1 vom 29.09.2015, S. 4. 209  Interview Nr. 7 vom 16.11.2015, S. 5; Interview Nr. 8 vom 14.12.2015, S. 5. Offen gelassen hingegen von Interview Nr. 5 vom 27.10.2015, S. 24. 210  Interview Nr. 7 vom 16.11.2015, S. 5. 211  Interview Nr. 8 vom 14.12.2015, S. 5. 212  Interview Nr. 10.1 vom 29.09.2015, S. 2. 213  Angaben I vom 11.02.2016, S. 2. 214  Angaben II vom 12.10.2015, S. 1.

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Teil 2: Eigene Untersuchung und Reformvorschläge

keine Fehler zu machen. Und die Bereitschaft zuzugeben, dass auch in der Justiz fehlerhaft gearbeitet wird, ist nicht besonders ausgeprägt. So ein Projekt könnte die Bereitschaft aus meiner Sicht durchaus fördern.“215

Demgegenüber wurde Skepsis geäußert, ob sich die Justiz durch das Aufzeigen von Fehlurteilen beeindrucken lasse.216 8. Unterstützung der Ermittlungstätigkeit des Verteidigers durch Ermittlungsbehörden Der Gesetzgeber hatte bereits 1974 in Erwägung gezogen neben §§ 364a, b StPO auch eine Ermittlungspflicht der Staatsanwaltschaft mit § 364c StPO einzuführen. Die Experten wurden befragt, ob die Einführung einer derartigen Ermittlungspflicht aus praktischer Sicht befürwortet wird. Von den Befragten berichtete einer, dass er von einer Staatsanwaltschaft gehört habe, die Wiederaufnahmeverfahren „relativ aktiv“ betreibe.217 Ein anderer Verteidiger schilderte, dass die Staatsanwaltschaft in einem von ihm begleiteten Verfahren eigene Ermittlungen erst angestrengt habe, als er gegen die Belastungszeugin Strafanzeige wegen Freiheitsberaubung in mittelbarer Täterschaft erstattete.218 Eine Unterstützungspflicht der Staatsanwaltschaft wurde zwar theoretisch befürwortet219, in praktischer Hinsicht wurden jedoch erhebliche Bedenken geäußert: „Also, das sind ja nicht meine Freunde für das Betreiben von Wiederaufnahmen. Bei all denen ist das abgeschlossen und die sind ja wie die Gerichte auch daran interessiert, dass die abgeschlossenen Dinge auch abgeschlossen bleiben. Also dass ich da nun gucke, dass polizeiliche oder staatsanwaltschaftliche Zeugenvernehmungen im abgeschlossenen Sachverhalt, für die abgeschlossenen Sachverhalte, nein. Das versuche ich eher zu vermeiden. Es kann aber sein, dass es andere Verfahren gibt, wo die sich schneiden. Ich meine, es kommt ja nicht ganz selten vor, dass die Mandanten dann auch Strafanzeige wegen Falschaussage stellen und solche Sachen, wo dann, da gucke ich natürlich schon, dass ich mir die Akten beiziehe und 215  Interview

Nr. 8 vom 14.12.2015, S. 6. Nr. 5 vom 27.10.2015, S. 24. 217  Interview Nr. 3 vom 12.10.2015, S. 9. 218  Interview Nr. 4 vom 19.10.2015, S. 6. 219  Interview Nr. 1 vom 14.09.2015, S. 7; Interview Nr. 3 vom 12.10.2015, S. 9; Interview Nr. 5 vom 27.10.2015, S. 11; Interview Nr. 7 vom 16.11.2015, S. 1 und 5; Interview Nr. 8 vom 14.12.2015, S. 4; Interview Nr. 9 vom 15.12.2015, S. 7; Interview Nr. 11 vom 11.03.2016, S. 2; Interview Nr. 13 vom 18.03.2016, S. 14. A. A. Interview Nr. 12 vom 14.03.2016, S. 13, in dem der Gesprächspartner betonte, dass die Darlegungslast in der Wiederaufnahme beim Antragsteller liege; ebenso Angaben II vom 12.10.2015, S. 1. 216  Interview



B. Eigene Untersuchung243 dann nochmal reingehe und vielleicht gucke, dass man da, wo dann das Verfahren eingestellt wird, da nochmal ne Beschwerde einlegt, oder so. Aber grundsätzlich bin ich der Meinung: das sind nicht unsere Freunde, was das Betreiben von Wiederaufnahme angeht. Und dass die im Zweifel, wie man es ja auch ansonsten da gewohnt ist, da irgendwelche Sachen in den Protokollen erscheinen, die einem die Sache eher schwerer als leichter machen.“220

Ähnliches berichteten weitere Verteidiger: „Also ich bin da skeptisch, wenn ich ehrlich bin. Ich bin da skeptisch. Ich seh die Staatsanwaltschaft xxx, die saufen alle ab. Mit laufenden Verfahren, vielleicht noch Haftsachen. Der sagt natürlich, ich hab hier eine laufende Haftsache und da ein rechtskräftiges Verfahren. Welches höher steht, sagt uns das Bundesverfassungsgericht. So gesehen habe ich da massive Zweifel, dass da Staatsanwälte, für die die Rechtskraft eine heilige Kuh ist, quasi aktiv daran mitarbeiten, die heilige Kuh zu töten – also da habe ich erhebliche Zweifel.“221 „Ich versuche bei diesen Wiederaufnahmen die Staatsanwaltschaft weitestgehend außen vor zu lassen. Weil, obwohl die Staatsanwaltschaft eigentlich neutrales Organ sein sollte, steht sie doch oft auf Seiten der Justiz. Zumal die Staatsanwaltschaft damals ja auch die Anklage geschrieben hat. Und das Urteil dann im Sinne der Staatsanwaltschaft ausgefallen ist, weil – ich habe es eher selten, dass die Staatsanwaltschaft Freispruch beantragt und das Gericht verurteilt und ich soll dann eine Wiederaufnahme machen. D. h. auch die Staatsanwaltschaft hat ein Interesse daran, dass so ein Urteil hält. Und dann hole ich mir natürlich für die Ermittlungstätigkeit genau den Falschen wieder ins Boot. Weil die Staatsanwaltschaft ermittelt dann möglicherweise nicht ganz so neutral.“222

Auch gegen die Staatsanwaltschaft beim Wiederaufnahmegericht bestehen Bedenken: „Da habe ich die gleichen Bedenken. Genau die gleichen Bedenken. Deshalb halte ich es grundsätzlich immer so, dass die Ermittlungen zunächst allein durch mich getätigt werden. Wenn ich dann die Erklärungen habe, die ich mir von den Zeugen dann in der Regel schriftlich, und nach Möglichkeit, als eidesstattliche Versicherung geben lasse, steht das. Weil man kann – das haben wir im Fall xxx gesehen –, Zeugen im Vorfeld kaputt machen durch Mehrfachvernehmung. Da sind Zeugen drei, vier Mal vernommen worden, beim vierten Mal, insbesondere wenn ein Jahr dazwischen liegt, wissen sie nicht mehr, was sie da gesagt haben, und ob das auch so war. Und dann sind echt Vorhalte gemacht worden, dann wird der Zeuge gefragt, 2001 was er am Mittag gegessen hat. Und das fragen sie 2002 nochmal. Und dann kriegt er den Vorhalt gemacht, ja wieso können Sie sich denn daran nicht mehr erinnern, dass es Würstchen gab, wenn Sie das vor einem Jahr ja zu Protokoll gegeben haben. Haben Sie sich vielleicht jetzt auch geirrt, dass Sie das Mädchen gesehen haben? So einen Unfug haben die da vorgehalten. Also allein darüber könnte man Bücher schreiben. Und die Gefahr besteht halt, wenn Sie durch die 220  Interview

Nr. 1 vom 14.09.2015, S. 7. Nr. 5 vom 27.10.2015, S. 11. 222  Interview Nr. 2 vom 28.09.2015, S. 17. 221  Interview

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Teil 2: Eigene Untersuchung und Reformvorschläge

Staatsanwaltschaft und die Polizei wieder ermitteln lassen, dass die möglicherweise wieder ihre eigenen Interessen am entsprechenden Verfahrensausgang haben.“223

Diese Einschätzung ergab sich auch aus den übrigen Gesprächen. Da die Staatsanwaltschaft Interesse am Bestand des Urteils habe224, ermittle sie nicht mehr neutral.225 Hinzu komme, dass sie womöglich Fehlleistungen innerhalb der Behörde aufklären müsse, was den Ermittlungseifer dämpfe.226 Gleichwohl wurde eine Ermittlungspflicht der Staatsanwaltschaft zur Unterstützung des Verteidigers befürwortet, etwa wenn sich ein Zeuge weigere, gegenüber dem Verteidiger Auskunft zu geben. Hier müsse der Verteidiger Ermittlungsaufträge an die Staatsanwaltschaft vergeben können.227 Die Experten waren sich einig, dass die Staatsanwaltschaft bei entsprechenden Hinweisen aufgrund des Legalitätsprinzips verpflichtet sei, eigene Untersuchungen anzustellen.228 Andernfalls stünde der Vorwurf der Strafvereitelung im Amt zur Diskussion.229 Vor diesem Hintergrund könne eine gesetzliche Regelung nur klarstellende Wirkung haben: „Die Staatsanwaltschaft müsste meines Erachtens auch auf der bestehenden Prozessordnung, durchaus von sich aus, wieder weitere Ermittlungen anführen – wenn eben entsprechende Kenntnisse da sind. Ich denke, da müsste das (unverständlich) Legalitätsprinzip ja gelten, dass sie von Amts wegen wieder ermitteln. Ich weiß nicht, ob man das zwingend gesetzlich nochmal regeln muss. Wenn, dann vielleicht klarstellend regeln. Aber ich denke, das ergibt sich schon aus der Aufgabenstellung der Staatsanwaltschaft an sich. Da auch, weil sie ja sowohl Entlastendes als auch Belastendes ja ermitteln soll und muss; steht ja auch so schon drin. Wenn dann eben sie Kenntnis kriegt, dass offensichtlich entlastendes Material da ist, dann 223  Interview

Nr. 2 vom 28.09.2015, S. 17 f. Nr. 1 vom 14.09.2015, S. 7; Interview Nr. 2 vom 28.09.2015, S. 17; Interview Nr. 5 vom 27.10.2015, S. 11; Interview Nr. 7 vom 16.11.2015, S. 5; Interview Nr. 8 vom 14.12.2015, S. 4; Interview Nr. 12 vom 14.03.2016, S. 15; Angaben I vom 11.02.2016, S. 2. 225  Interview Nr. 2 vom 28.09.2015, S. 17. 226  Interview Nr. 5 vom 27.10.2015, S. 11. 227  Interview Nr. 8 vom 14.12.2015, S. 4; Interview Nr. 10.2 vom 08.03.2016, S. 7. A. A. Interview Nr. 9 vom 15.12.2015, S. 7, in dem der Gesprächspartner berichtete, dass es nicht vorkomme, dass man als Verteidiger keinen Zugang zu einem Zeugen erhalte. Gleichwohl berichtete auch dieser Verteidiger von einem Verfahren, in dem ihm das für die Wiederaufnahme benötigte Beweismaterial nicht zugänglich gemacht wurde. 228  Interview Nr. 4 vom 19.10.2015, S. 6; Interview Nr. 6 vom 09.11.2015, S. 21; Interview Nr. 7 vom 16.11.2015, S. 1, Interview Nr. 10.1 vom 29.09.2015, S. 2. A. A. zur Geltung des Untersuchungsgrundsatzes Interview Nr. 7 vom 16.11.2015, S. 6, wobei auch dieser Interviewpartner davon ausgeht, dass die Staatsanwaltschaft bei Kenntnis entlastender Umstände einen Wiederaufnahmeantrag stellen muss (vgl. Interview Nr. 7 vom 16.11.2015, S. 1). 229  Interview Nr. 10.1 vom 29.09.2015, S. 2. 224  Interview



B. Eigene Untersuchung245 muss von Amts wegen weiterermittelt werden. Aber vielleicht müsste man es nochmal auch so direkt reinschreiben. In den Wiederaufnahmeteil der StPO. (unverständlich) wahrscheinlich Sinn machen.“230

Wenn die Ermittlungspflicht der Staatsanwaltschaft gesetzlich normiert würde, sei die Person des Ermittlers zu ersetzen. Zudem müsse dem Verteidiger ein Anwesenheitsrecht bei Beweiserhebungen eingeräumt werden.231 Ein Verteidiger betonte die Notwendigkeit einer Stärkung der Rechte des Antragstellers und seines Verteidigers, etwa im Hinblick auf die Möglichkeit der Akteneinsicht in Spurenakten oder Verfahrensakten aus abgetrennten Verfahren. Weiter müsse der Betroffene zur Generierung neuer Beweistatsachen einen Anspruch auf gerichtliche Beauftragung eines Gutachters haben.232 Der Antragsteller sei dabei gehalten, Anknüpfungstatsachen für die Geeignetheit und Erforderlichkeit der begehrten Beweiserhebungen darzulegen.233 9. Wiederaufnahmegründe Über Erfahrungswerte mit der ungünstigen Wiederaufnahme konnte keiner der hierzu Befragten berichten.234 Ein Gesprächspartner stellte die Berechtigung der ungünstigen Wiederaufnahme grundsätzlich in Frage,235 wenngleich es sich nicht um die Wiederaufnahmekonstellation handle, die den Verteidiger beschäftige.236 Gleichwohl leuchte ein, dass die Anforderungen an die beiden Wiederaufnahmekonstellationen unterschiedlich sein müssten.237 Wie bereits in der Literatur angenommen, werden die meisten Wiederaufnahmeanträge auf die Generalklausel des § 359 Nr. 5 StPO gestützt.238 Strate geht vom Wiederaufnahmegrund des § 359 Nr. 5 StPO in 99 % der Fälle aus.239 Auch in den untersuchten Gesprächen dominierte § 359 Nr. 5 StPO als fast ausschließlich geltend gemachter Wiederaufnahmegrund.240 230  Interview

Nr. 6 vom 09.11.2015, S. 21. Nr. 10.2 vom 08.03.2016, S. 7; Interview Nr. 11 vom 11.03.2016, S. 2; Interview Nr. 13 vom 18.03.2016, S. 14. 232  Interview Nr. 12 vom 14.03.2016, S. 13 und 15. 233  Interview Nr. 12 vom 14.03.2016, S. 19. 234  Interview Nr. 2 vom 28.09.2015, S. 22; Interview Nr. 3 vom 12.10.2015, S. 20; Interview Nr. 8 vom 14.12.2015, S. 9. 235  Interview Nr. 1 vom 14.09.2015, S. 11. 236  Interview Nr. 8 vom 14.12.2015, S. 9. 237  Interview Nr. 1 vom 14.09.2015, S. 3. 238  Wasserburg, Die Wiederaufnahme des Strafverfahrens, S. 270. 239  MAH Strafverteidigung-Strate, § 27 / 3. 240  Interview Nr. 1 vom 14.09.2015, S. 3; Interview Nr. 2 vom 28.09.2015, S. 2; Interview Nr. 3 vom 12.10.2015, S. 3; Interview Nr. 4 vom 19.10.2015, S. 1; Inter231  Interview

246

Teil 2: Eigene Untersuchung und Reformvorschläge

Es verwundert daher nicht, dass bereits in der Literatur diskutiert wurde, inwieweit die Wiederaufnahme propter falsa überhaupt beibehalten werden sollte. Ihre Beibehaltung wurde von einem Teil der Lit. für den Fall befürwortet, dass sie erhebliche Erleichterungen gegenüber der Wiederaufnahme propter nova biete, etwa wenn sie als absoluter Wiederaufnahmegrund ausgestaltet wäre. Eine solche Erleichterung besteht jedoch mit § 364 StPO gerade nicht. Vertreten wird demnach, dass auf die Wiederaufnahmegründe der § 359 Nr. 1–4 StPO, neben der Generalklausel des § 359 Nr. 5 StPO, verzichtet werden könnte.241 Vor diesem Hintergrund wurden die Experten auch befragt, ob die übrigen Wiederaufnahmegründe obsolet wären und aus dem Gesetz gestrichen werden könnten. In der Literatur wird dies von der wohl überwiegenden Meinung mit Hinweis darauf abgelehnt, dass die Wiederaufnahmegründe der §§ 359 Nr. 1–3, 362 Nr. 1–3 StPO, die jeweils i. V. m. § 364 StPO stehen, für den Betroffenen eine deutliche Verfahrenserleichterung bedeuten könnten.242 Entsprechend äußerten sich auch die Experten, die die Notwendigkeit der übrigen Wiederaufnahmegründe erkannten, wenngleich betont wurde, dass diese in der Regel nicht zum Tragen kämen.243 Berichtet wurde u. a., dass auch falsche Zeugenaussagen in Wiederaufnahmeverfahren eine Rolle spielen könnten.244 Dennoch laufe der Wiederaufnahmegrund des § 359 Nr. 2 StPO in diesen Fällen faktisch leer, da gem. § 364 StPO das Verfahren gegen den falsch Aussagenden abgeschlossen sein müsse, bevor die Wiederaufnahme auf diesen Aspekt gestützt werden könne.245 Da die Staatsanwaltschaft in Fällen des § 359 Nr. 2 StPO das Verfahren gegen den Zeugen einstelle246 oder den Ausgang des Wiederaufnahmeverfahrens abwarte247, sei in diesen view Nr. 5 vom 27.10.2015, S. 23; Interview Nr. 6 vom 09.11.2015, S. 5 und 7; Interview Nr. 7 vom 16.11.2015, S. 1; Interview Nr. 8 vom 14.12.2015, S. 1; Interview Nr. 9 vom 15.12.2015, S. 1; Interview Nr. 11 vom 11.03.2016, S. 4; Interview Nr. 13 vom 18.03.2016, S. 1; Angaben I vom 11.02.2016, S. 2; Angaben II vom 12.10.2015, S.  1 f. 241  J. Meyer, Wiederaufnahmereform, S. 97 ff. 242  Wasserburg, Die Wiederaufnahme des Strafverfahrens, S. 21. 243  Interview Nr. 2 vom 28.09.2015, S. 7; Interview Nr. 8 vom 14.12.2015, S. 19; Interview Nr. 9 vom 15.12.2015, S. 26; Interview Nr. 11 vom 11.03.2016, S. 4; Angaben II vom 12.10.2015, S. 1 f. 244  Interview Nr. 2 vom 28.09.2015, S. 2; Interview Nr. 3 vom 12.10.2015, S. 3; Interview Nr. 10.2 vom 08.03.2016, S. 15 f. 245  Interview Nr. 2 vom 28.09.2015, S. 2; Interview Nr. 3 vom 12.10.2015, S. 3; Interview Nr. 10.2 vom 08.03.2016, S. 16. 246  Interview Nr. 2 vom 28.09.2015, S. 2. 247  Interview Nr. 10.2 vom 08.03.2016, S. 16. In Interview Nr. 7 vom 16.11.2015, S. 1, wurde berichtet, dass die Staatsanwaltschaft das weitere Wiederaufnahmeverfah-



B. Eigene Untersuchung247

Konstellationen die Wiederaufnahme auf § 359 Nr. 5 StPO gestützt worden.248 Ein Verteidiger äußerte, sich § 359 Nr. 1 StPO auch in der Praxis vorstellen zu können.249 Ein weiterer Verteidiger gab zu bedenken, dass der Weg zum Wiederaufnahmegrund des § 359 Nr. 3 StPO sehr weit sei.250 Über die Wiederaufnahmegründe de lege lata wurde mit einigen Gesprächspartnern auch die Frage der analogen Anwendbarkeit des Wiederaufnahmerechts erörtert. Dabei wurden die Vorschriften über die günstige Wiederaufnahme als analogiefähig erachtet.251 Dies wird jedoch in der Literatur aufgrund des Ausnahmecharakters der Wiederaufnahmevorschriften abgelehnt.252 Ein weiterer Gesprächspartner sprach sich für die Ausdehnung des Wiederaufnahmerechts – insbesondere auf Beschlüsse – aus.253 10. Strafmaßwiederaufnahme Die Experten wurden auch zum Verbot der Strafmaßwiederaufnahme befragt. Diese Problematik komme in der Praxis zwar relativ selten vor254, doch wurde betont, dass das Strafmaß im Rahmen des Revisionsverfahrens überprüfbar sei.255 Gleichwohl wurde die Beschränkung der Wiederaufnahme de lege lata auf das Ziel eines Freispruchs ohne Möglichkeit einer Strafmaß­ wiederaufnahme kritisiert.256 Die Befragten sprachen sich dafür aus, neue Tatsachen und Beweismittel auch insoweit zuzulassen, als sie für eine Strafaussetzung zur Bewährung von Relevanz seien.257 Befürwortet wurde auch die Strafmaßwiederaufnahme etwa in Fällen, in denen § 21 StGB anwendbar sei. Dann jedoch stelle sich das Risiko einer Unterbringung gem. § 63 StGB.258 ren zurückstellen wollte, bis das Verfahren gegen eine Belastungszeugin abgeschlossen sei. 248  Interview Nr. 2 vom 28.09.2015, S. 2. 249  Interview Nr. 6 vom 09.11.2015, S. 5 und 7. 250  Interview Nr. 8 vom 14.12.2015, S. 19. 251  Angaben II vom 12.10.2015, S. 2. 252  Schlüchter, Das Strafverfahren, Rn. 769.2. 253  Interview Nr. 3 vom 12.10.2015, S. 6, 18. 254  Interview Nr. 3 vom 12.10.2015, S. 18. 255  Interview Nr. 4 vom 19.10.2015, S. 15; Interview Nr. 9 vom 15.12.2015, S. 24. 256  Interview Nr. 8 vom 14.12.2015, S. 17. 257  Interview Nr. 9 vom 15.12.2015, S. 24. 258  Interview Nr. 8 vom 14.12.2015, S. 17; Interview Nr. 3 vom 12.10.2015, S. 18.

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Teil 2: Eigene Untersuchung und Reformvorschläge

11. Verfahrensablauf Das Wiederaufnahmeverfahren als solches wurde in der Literatur bislang kaum kritisiert259, vielmehr aus prozessökonomischen Gründen toleriert, dass sich das Wiederaufnahmegericht im Wege einer Schlüssigkeitsprüfung mit den Erfolgsaussichten des Antrags befasst, um nicht von aussichtslosen Anträgen überschwemmt zu werden und zu diesen noch Beweisaufnahmen durchführen zu müssen.260 Lediglich für das Probationsverfahren wurde in Erwägung gezogen, die Prüfung durch das richterliche Kollegium im Rahmen einer öffentlichen Hauptverhandlung zuzulassen.261 Die getrennte Beurteilung von Zulässigkeit und Begründetheit eines Wiederaufnahmeantrags wurde auch von den Experten befürwortet. Es bestehe Bedarf für eine derartige Kontrolle, um Wiederaufnahmegerichte nicht mit von vornherein sinnlosen Anträgen zu belasten. Die grundsätzliche Struktur des Wiederaufnahmeverfahrens wurde nicht beanstandet.262 Der Rechtsbehelf der Wiederaufnahme werde andernfalls zu einem unbefristeten Rechtsmittel. Die Aditionsprüfung sei daher notwendiges Korrektiv im Sinne einer vorangestellten Prüfpflicht um der Rechtskraft der Entscheidung263 im Interesse der Rechtssicherheit264 Rechnung zu tragen. Ein Verteidiger teilte mit: „Klar, es darf auch aus Sicht der Justiz und im Interesse der Gesellschaft nicht jedes zweite Verfahren wiederaufgenommen werden. Sondern es muss eine Prüfungsstufe durchlaufen werden. Das ist für mich durchaus nachvollziehbar. Und da ist der Aspekt der Rechtssicherheit natürlich schon einer, der Beachtung finden muss. Also die Stufung an sich würde ich nicht beanstanden wollen. Nur, sie muss auch eingehalten werden. Also in der Zulässigkeit darf eben nur die Zulässigkeit geprüft werden, und nicht die Begründetheit vorweg.“265

Nur wenige Gesprächspartner betrachteten die Mehrstufigkeit des Wiederaufnahmeverfahrens als unnötige Förmelei266 bzw. als nicht sinnvoll.267 Einer 259  Rieß, NStZ 1994, 153, 155; Hanack / Gerlach / Wahle, Denkschrift zur Reform des Rechtsmittelrechts und der Wiederaufnahme, S. 95 f.; Wasserburg, Die Wiederaufnahme des Strafverfahrens, S. 20. 260  Wasserburg, Die Wiederaufnahme des Strafverfahrens, S. 20. 261  Wasserburg, Die Wiederaufnahme des Strafverfahrens, S. 26. 262  Interview Nr. 1 vom 14.09.2015, S. 4; Interview Nr. 2 vom 18.09.2015, S. 22; Interview Nr. 3 vom 12.10.2015, S. 12; Interview Nr. 4 vom 19.10.2015, S. 10; Interview Nr. 6 vom 09.11.2015, S. 23; Interview Nr. 8 vom 14.12.2015, S. 7 und 9; Interview Nr. 9 vom 15.12.2015, S. 12. 263  Interview Nr. 2 vom 18.09.2015, S. 22. 264  Interview Nr. 8 vom 14.12.2015, S. 9. 265  Interview Nr. 8 vom 14.12.2015, S. 9. 266  Interview Nr. 7 vom 16.11.2015, S. 8.



B. Eigene Untersuchung249

von ihnen sprach sich daher dafür aus, sowohl die Hürden für das Wiederaufnahmeverfahren zu senken, als es auch einstufig auszugestalten.268 Ein weiterer hielt den Aufbau des Wiederaufnahmeverfahrens für sinnvoll, gab jedoch zugleich an: „wobei es schon schöner wäre, wenn mal schneller und öfter mündliche Anhörungstermine gemacht würden.“269

Das praktische Problem bestehe jedenfalls darin, dass Wiederaufnahmeverfahren nicht durchgeführt würden.270 So gewinne man in der Praxis den Eindruck, dass eine strenge Trennung zwischen Zulässigkeits- und Begründetheitsprüfung nicht stattfinde. Entsprechend berichtete ein Rechtsanwalt, dass er sich „alles in der Gesamtheit“271 anschaue und dann sage „passts oder passts halt nicht“272. Dies gelte sowohl für die Anwalts- als auch für die Richterseite.273 Daher könne man den Eindruck gewinnen, dass der Antrag tatsächlich begründet sei, wenn er für zulässig erklärt wird.274 Zudem wurde berichtet, dass die im Zulässigkeitsverfahren gesetzte Hürde viel zu hoch275 sei, und tatsächlich einer Begründetheitsprüfung entspreche.276 Ein Experte erklärte die Durchführung des Erneuerungsverfahrens seiner Wahrnehmung nach zur Farce. So seien die für die Wiederaufnahme relevanten Zeugen bereits im Probationsverfahren gehört worden; es habe dennoch weitere 2–3 Monate bis zur Erneuerungshauptverhandlung gedauert. In dieser seien, neben der Angeklagten, auch die beiden Zeugen zum identischen Inhalt nochmals vernommen worden, so dass man sich einen Verfahrensabschnitt hätte sparen können, zumal das Probationsverfahren wie eine öffentliche Hauptverhandlung stattgefunden habe. Insbesondere für die Angeklagte sei der Verfahrensablauf unbefriedigend gewesen, da sie nach den Beweis­ erhebungen im Probationsverfahren weiter im Unklaren gewesen sei, ob sie mit einem Freispruch rechnen dürfe oder nicht.277 267  Interview

Nr. 11 vom 11.03.2016, S. 12; Angaben II vom 12.10.2015, S. 1. Nr. 11 vom 11.03.2016, S. 12. 269  Interview Nr. 3 vom 12.10.2015, S. 12. 270  Interview Nr. 1 vom 14.09.2015, S. 4. 271  Interview Nr. 5 vom 27.10.2015, S. 15. 272  Interview Nr. 5 vom 27.10.2015, S. 15. 273  Interview Nr. 5 vom 27.10.2015, S. 15. 274  Interview Nr. 5 vom 27.10.2015, S. 15. 275  So auch MAH Strafverteidigung-Strate, § 27 / 120. 276  Interview Nr. 8 vom 14.12.2015, S. 8; Interview Nr. 9 vom 15.12.2015, S. 12; Angaben II vom 12.10.2015, S. 1. 277  Interview Nr. 13 vom 18.03.2016, S. 7 f. 268  Interview

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Teil 2: Eigene Untersuchung und Reformvorschläge

Zeugen würden neben dem Verteidiger und, contra legem, auch durch die Staatsanwaltschaft bzw. Polizei278 im Vorfeld des eigentlichen Probationsverfahrens vernommen, dann im Probationsverfahren selbst und schließlich nochmals im Erneuerungsverfahren. Dadurch würden Zeugenaussagen durch Mehrfachbefragung entwertet und zerstört.279 Hierzu gab ein Gesprächspartner an: „Ich hatte parallel zum Wiederaufnahmeantrag gegen die angeblich vergewaltigte Frau Strafanzeige wegen Freiheitsberaubung in mittelbarer Täterschaft gestellt. Die Staatsanwaltschaft hat dann tatsächlich eigene Ermittlungen aufgenommen. Dafür hat sie dann fast ein Jahr benötigt. Ein Polizist (der schon früher die Ermittlungen gegen Herrn xxx mit einem ganzen Team von Polizisten geführt hat) hat nun allein, nach und nach, die von mir benannten Zeugen befragt, und die haben im Wesent­ lichen das bestätigt, was mir die Zeugen berichtet hatten, die ich in den Monaten zuvor aufgetrieben hatte. Deren Angaben hatte ich ausführlich in Wiederaufnahmeantrag und Strafanzeige dargelegt. Es gab in zwei oder drei Fällen kleine Nuancen, Präzisierungen, die sich aus weiteren Nachfragen bei der polizeilichen Vernehmung ergeben haben. Nach Zulassung des Wiederaufnahmeantrags mussten die Zeugen im sog. Proba­ tionsverfahren noch einmal richterlich vernommen werden. Später, im wieder zugelassenen Verfahren, wurden sie in der Hauptverhandlung ein viertes Mal befragt bzw. vernommen, im späteren Prozeß gegen die angeblich Vergewaltigte ein fünftes Mal. Zeuge sein ist kein Vergnügen. Aber man muss schon sagen, dass die Zeugen das durchgehalten haben und die Aussagen über einen so langen Zeitraum erstaunlich konsistent gewesen sind.“280


Als problematisch im Zusammenhang mit dem Vorschaltverfahren wurde schließlich die lange Prüfungsdauer eines Wiederaufnahmeantrags genannt.281 Ein Gesprächspartner berichtete davon, dass über seinen beim Amtsgericht eingereichten Antrag auf Wiederaufnahme des Verfahrens nach ca. 6–9 Monaten entschieden worden war282, von einer noch längeren Verfahrensdauer wurde in einem weiteren Gespräch berichtet: „Im März 2008 habe ich den Wiederaufnahmeantrag eingereicht. Im Juli 2011 erfolgte der Freispruch durch das Landgericht in xxx. Die Nebenklägerin legte hiergegen aber Revision ein. Erst im Februar 2012 hat der Bundesgerichtshof den Freispruch bestätigt und die Revision zurückverwiesen.“283 278  Interview

Nr. 4 vom 19.10.2015, S. 6. Nr. 2 vom 24.09.2015, S. 17. 280  Interview Nr. 4 vom 19.10.2015, S. 6 f., wobei das Zitat vom Gesprächspartner überarbeitet wurde. 281  Interview Nr. 1 vom 14.09.2015, S. 4; ähnlich auch der Fall Tatjana Gsell, in dem der Wiederaufnahmeantrag auch nach über einem Jahr noch nicht verbeschieden wurde: http: /  / www.sueddeutsche.de / bayern / justiz-wie-tatjana-gesell-um-gerechtigkeitkaempft-1.3255591-2. 282  Interview Nr. 13 vom 18.03.2016, S. 3. 279  Interview



B. Eigene Untersuchung251

Das Wiederaufnahmeverfahren müsse zwar ein bevorzugtes Verfahren sein. Der Beschleunigungsgrundsatz jedoch solle im Wiederaufnahmeverfahren nicht gelten, da dann zu befürchten sei, dass die Gerichte Anträge nicht ernsthaft prüfen würden.284 12. Mündliche Verhandlung über die Zulässigkeit Wie dargestellt findet im Wiederaufnahmeverfahren keine mündliche Verhandlung über die Zulässigkeit des Antrags statt. Die Gesprächspartner wurden daher befragt, ob aus ihrer Sicht eine mündliche Verhandlung über die Zulässigkeit des Antrags von Vorteil wäre. Hier konnte bei den durchgeführten Experteninterviews kein einheitliches Meinungsbild gewonnen werden. Eine mündliche Verhandlung garantiere einen offenen Kommunikations- und Verhandlungsstil285: „Weil das Problem ist oft in der Praxis, dass Sie in den Beschlüssen eine Ablehnung präsentiert bekommen, die Sie zunächst mal überrascht. Das ist das Problem bei den Wiederaufnahmeverfahren – ganz großes Problem – weil Sie haben am Ende immer eine Überraschungsentscheidung. Oft. Gerade vor dem Hintergrund, dass das Wiederaufnahmeverfahren unwahrscheinlich viel differierende Rechtsprechung aufweist, gerade wie die Anträge zu begründen sind – Stichwort, wie gesagt: erweiterte Darlegungslast. Oder muss ich das Ding so abfassen wie eine Revisionsschrift, darf ich mit Anlagen arbeiten, und und und und und – das kriegen Sie dann in einem Beschluss präsentiert. Und je nachdem, wie der Beschluss ausfällt, ist es dann vorbei mit der Wiederaufnahme. Wenn ich einen neuen Zeugen präsentiere, scheitere aber an der erweiterten Darlegungslast für diesen neuen Zeugen, kann ich keinen neuen Wiederaufnahmeantrag machen mit diesem neuen Zeugen. Und das ist eigentlich eine Sauerei, weil das Beweismittel eigentlich nach wie vor neu ist, es ist nur eine Frage der Begründung, warum das neu ist, dieses Beweismittel. Und gerade bei dieser recht unterschiedlichen Rechtsprechung, die es da teilweise gibt, ja, und gerade auch vor dem Hintergrund, was (unverständlich) denn überhaupt das Gericht in dem konkreten Fall möglicherweise an der Darlegungslast, wie weit muss ich mich denn aus dem Fenster lehnen in meinem Antrag – das ist ja für mich im Vorfeld überhaupt nicht zu überblicken. So und dann erwarte ich oder dann wäre es eine schöne Sache, wenn ich vor dem Hintergrund eine mündliche Verhandlung hätte, wo mir der Richter das sagen kann, dass er da ein Problem sieht.“286

283  Interview Nr. 4 vom 19.10.2015, S. 9 f., wobei das Zitat vom Gesprächspartner überarbeitet wurde. 284  Interview Nr. 10.2 vom 08.03.2016, S. 16 f. 285  Interview Nr. 9 vom 15.12.2015, S. 14. 286  Interview Nr. 2 vom 28.09.2013, S. 13.

252

Teil 2: Eigene Untersuchung und Reformvorschläge

Durch eine mündliche Verhandlung sei zudem eine Verfahrensbeschleunigung zu erreichen.287 Die Durchführung einer mündlichen Verhandlung garantiere rechtliches Gehör288 und ermögliche dem Antragsteller, seinen Darlegungslasten zu entsprechen.289 Für die Verfahrensbeteiligten bestünde damit ein Zwang, sich argumentativ auseinanderzusetzen.290 Die mündliche Erörterung, die nach Einschätzung eines Gesprächspartners das Probationsverfahren ersetzen könne291, sei dann jedoch zu dokumentieren.292 Insgesamt erachteten neun Gesprächspartner eine mündliche Verhandlung für sinnvoll.293 Während betont wurde, dass dem deutschen Strafprozess das Prinzip der Mündlichkeit innewohne294, wurde eine mündliche Verhandlung von anderer Seite nur für solche Verfahren befürwortet, in denen der Betroffene selbst etwas beitragen könne.295 Wiederum ein anderer Gesprächspartner wollte die Durchführung einer mündlichen Verhandlung davon abhängig machen, ob das Gericht beabsichtige, den Antrag abzulehnen: „Ja ich finde es sinnvoll, wenn darüber mündlich verhandelt wird, bevor ein Gericht die Zulässigkeit eines Wiederaufnahmeantrags ablehnt. Wenn es ihn im Beschlusswege für zulässig erachtet, dann bedarf es meines Erachtens keiner münd­ lichen Verhandlung.“296

Doch sprachen sich auch vier Experten vollständig gegen eine mündliche Verhandlung aus.297 Das Aditionsverfahren sei ein dem Revisionsverfahren gleichzustellendes Rechtsprüfungsverfahren, das eine mündliche Verhand287  Interview

Nr. 7 vom 16.11.2015, S. 9. Nr. 12 vom 14.03.2016, S. 24. 289  Interview Nr. 2 vom 28.09.2015, S. 13 f. 290  Angaben II vom 12.10.2015, S. 1. 291  Interview Nr. 13 vom 18.03.2016, S. 9. 292  Interview Nr. 10.2 vom 08.03.2016, S. 14; Interview Nr. 12 vom 14.03.2016, S. 24. 293  Interview Nr. 2 vom 28.09.2015, S. 13; Interview Nr. 4 vom 19.10.2015, S. 10; Interview Nr. 5 vom 27.10.2015, S. 15 f.; Interview Nr. 7 vom 16.11.2015, S. 9; Interview Nr. 9 vom 15.12.2015, S. 14; Interview Nr. 11 vom 11.03.2016, S. 2; Interview Nr. 13 vom 18.03.2016, S. 9; Angaben II vom 12.10.2015, S. 1. Befürwortet nur für den Fall einer wörtlichen Protokollierung: Interview 10.2 vom 08.03.2016, S. 14. 294  Interview Nr. 1 vom 14.09.2015, S. 11. 295  Interview Nr. 1 vom 14.09.2015, S. 11. Dies sei etwa im Fall von Verfahrensabsprachen und Geständnissen anzunehmen. 296  Interview Nr. 4 vom 19.10.2015, S. 10, wobei das Zitat vom Gesprächspartner überarbeitet wurde. In diesem Zusammenhang wurde auch die Normierung eines Beschleunigungsgebotes in Erwägung gezogen, vgl. Interview Nr. 4 vom 19.10.2015, S. 10. 297  Interview Nr. 3 vom 12.10.2015, S. 12; Interview Nr. 6 vom 09.11.2015, S. 21; Interview Nr. 8 vom 14.12.2015, S. 7; Interview 10.1 vom 29.09.2015, S. 2. 288  Interview



B. Eigene Untersuchung253

lung nicht kenne.298 Auch in Fällen, in denen der Mandant von seinem Schweigerecht Gebrauch mache, käme eine mündliche Verhandlung nicht in Betracht.299 Die Ergebnisse einer mündlichen Verhandlung über die Adition seien schließlich ohne ihre Dokumentation wiederum nicht anfechtbar.300 Schließlich sei eine mündliche Verhandlung auch nicht erforderlich, wenn sich die Praxis an die gesetzlichen Kriterien halten würde: „Ich weiß nicht, ein Gedanke, den habe ich mir noch nie gestellt. Für mich ist ja das Problem, dass die Zulässigkeitsprüfung eigentlich eine Begründetheitsprüfung ist. Das ist mein Kernproblem. Würde man sich an den Kriterien, die der Gesetzgeber wohl vorgesehen hat, halten, dann meine ich, weiß ich nicht, müsste man glaube ich nicht mündlich verhandeln.“301

13. Erfordernis der erweiterten Darlegungslast Sowohl die untersuchten Gespräche als auch die Literatur liefern Hinweise, dass die richterrechtlich entwickelten, sog. erweiterten Darlegungslasten eine praktische Hürde für die Zulässigkeit des Wiederaufnahmegesuchs darstellen. Die Gesprächspartner wurden zu dem Problemkreis der erweiterten Darlegungslasten eingehend befragt. Einer gab an: „Wir hatten sehr schlüssig dargelegt, dass das Geständnis des Mandanten, ein auf dem Gebiet des Zivilrechtes tätiger Kollege, ausschließlich abgelegt worden war, weil er Angst hatte, dass für den Fall, dass er sich auf den Deal des Amtsgerichts nicht einlasse, Presse erscheinen würde und hierdurch ein sehr großes Mandat, welches er in dieser Zeit akquirieren wollte, gefährdet würde. Dieses Risiko wollte er nicht eingehen. Mit Blick auf eine etwaige Wiederaufnahme habe ich ihm dann persönlich geschrieben, dass ich große Bedenken habe, dass er bereit sei, ein falsches Geständnis zur Erfüllung des Deals abzulegen. Mit Blick auf eine etwaige Wiederaufnahme sollte dies meines Erachtens jeder Instanzenverteidiger so machen, wenn er Bedenken hat, dass es sich bei dem Geständnis nicht um ein von innerer Einsicht getragenen Geständnis handelt, sondern eher um ein Zweckgeständnis, beispielsweise in den Fällen, in denen mit einer Sanktionsschere gedroht wird (Geständnis: dann Bewährungsstrafe, und ohne Geständnis: eben keine Bewährungsstrafe mehr). Dieses Schreiben, das an den Mandanten gerichtet ist, könnte man dann im Falle eines Widerrufs des Geständnisses im Wiederaufnahmeverfahren zur Untermauerung des Wiederaufnahmeantrags vorlegen. Es ist bis heute

298  Interview

Nr. 6 vom 09.11.2015, S. 21. Nr. 6 vom 09.11.2015, S. 22. 300  Interview 10.1 vom 29.09.2015, S. 2 und Interview 10.2 vom 08.03.2016, S. 14. 301  Interview Nr. 8 vom 14.12.2015, S. 7. 299  Interview

254

Teil 2: Eigene Untersuchung und Reformvorschläge

meines Wissens nicht entschieden, ob solche mandatsinternen Schreiben eigentlich ein zulässiges Beweismittel darstellen. (…)“302

Vermutet wurde, dass das Erfordernis erweiterter Darlegungslasten, das im Gesetz keine Stütze findet, von der Rechtsprechung zur vereinfachten Ablehnung von Wiederaufnahmegesuchen entwickelt wurde: „Naja, ich sag mal so, diese erweiterte Darlegungslast, das – mein Eindruck ist, das Gesetz gibt das ja nicht her. Das ist was, was durch die Rechtsprechung entwickelt worden ist. Und letzten Endes dürfte das vor dem Hintergrund entwickelt worden sein, Wiederaufnahmeanträge abzulehnen. Das ist so rein meine persönliche Meinung, weil die erweiterte Darlegungslast führt in einer Vielzahl von Fällen dazu, dass sie wirklich begründete Anträge mit Verweis auf die erweiterte Darlegungslast ablehnen können. Und diese erweiterte Darlegungslast ist so ein dehnbarer Begriff: Da gibt es kein Richtig und kein Falsch, da können Sie immer sagen: Das reicht mir nicht. Ich will mal ein Beispiel machen: Ich hatte jetzt einen Mandant, machen (unverständlich), nen Antrag gestellt, wo die Herrschaften in xxx (unverständlich), der ist verurteilt worden in einer Wirtschaftsstrafsache, da ging es um Kapitalanlagebetrug im Millionenbereich. Den Kerl haben sie eingesperrt, in Untersuchungshaft genommen, der saß über ein Jahr in U-Haft. Dann beraumt es Termine, das Gericht in xxx, Termin an und dann gibts vor der Hauptverhandlung erst mal noch ne Besprechung mit dem Gericht, Angeklagten, Staatsanwalt – so ne Art Vorbesprechung wie das denn laufen soll in der Hauptverhandlung. Und da sagt das Gericht eines – da sagt das Gericht: Pass auf, es ist alles schön und gut. Wir werden jetzt hier ne Hauptverhandlung durchführen, wenn es sein muss 50 Verhandlungstage. Du bleibst während dieser Zeit weiter in Untersuchungshaft. Ein Jahr sitzt Du sowieso schon drinnen, wir lassen Dich auch noch die 50 Tage drin. Kannst Dich gerne beschweren, beim OLG. Du bleibst hier drin, das versprechen wir Dir jetzt schon. Sollten wir dann nach diesen 50 Tagen feststellen, dass Du irgendwas angestellt hast, kriegst Du von uns Minimum fünf Jahre. Oder aber, wir machen es uns hier alle einfach: Du gibst ein Geständnis ab am ersten Hauptverhandlungstag, wir sparen uns das, auch nur einen einzigen Zeugen zu laden und dafür – gerade vor dem Hintergrund, dass Du ja schon ein Jahr in U-Haft saßt, die Zusage machen, dass wir nicht über zweieinhalb Jahre gehen. – Der Mandant rechnet kurz, sagt sich ich hock ein Jahr jetzt schon drin, das wird angerechnet auf die zweieinhalb Jahre und die haben Halbstrafe zusagt. Das heißt eineinhalb Jahre sind ein Jahr drei Monate bei Halbstrafe, ein Jahr zwei Wochen gehen weg, also zwei Monate 2 Wochen noch im Offenen. Alternative wäre, wie gesagt, sowie ein halbes Jahr weiter in U-Haft mit ungewissem Ausgang. Weil vor Gericht und auf hoher See weiß man nie was rauskommt, (unverständlich) Mandant meint er hat nichts gemacht, das mag der Richter anders sehen, deshalb sagt er sich: Scheiß drauf, gehe ich noch zwei Monate in den offenen Vollzug und bin draußen. Hat er gemacht. Problem war nur, er hat sich verlegen lassen von xxx nach xxx, da ist dann eine andere Strafvollstreckungskammer zuständig. Die hat gesagt, ja, ich 302  Interview Nr. 12 vom 14.03.2016, S. 9, wobei das Zitat vom Gesprächspartner sprachlich überarbeitet wurde.



B. Eigene Untersuchung255 hab zwar mit xxx telefoniert, stimmt auch, Halbstrafe ist zugesagt worden, aber wenn ich das hier mache, ist das glatte Rechtsbeugung. Bei mir kriegst Du keine Halbstrafe. Also saß er 2 / 3. Hat er gesagt: Leck mich, jetzt gibt’s nen Wiederaufnahmeantrag, weil ich lass mir das nicht gefallen. Haben wir nen Wiederaufnahmeantrag gestellt, sehr gut begründet, meinte sogar auch das Landgericht – was ja eigentlich ne Wiederaufnahme rechtfertigt, aber die erweiterte Darlegungslast brach uns das Genick. Man sagte, es sei nicht erkennbar oder nicht ersichtlich, warum der denn damals in erster Instanz ein Geständnis abgelegt hat.“303

Das Erfordernis der erweiterten Darlegung führt nach den Expertenerfahrungen in einer Vielzahl von Verfahren dazu, dass Wiederaufnahmegerichte sachlich begründete Anträge unter Hinweis auf eine fehlende erweiterte Darlegung abweisen würden.304 Problematisch sei in diesem Zusammenhang insbesondere, dass der Umfang und Inhalt erweiterter Darlegungslasten unbestimmt sei, so dass Wiederaufnahmegerichte immer den Standpunkt vertreten können, dass das Vorbringen des Antragstellers nicht ausreichend sei.305 Auch für den Wiederaufnahmeverteidiger sei nicht vorhersehbar, wie hoch die Anforderungen des Wiederaufnahmegerichts seien.306 Eine zu hoch angesetzte Schwelle sei das Problem dieser Rechtsfigur.307 Als problematisch wurde die geforderte erweiterte Darlegungslast im Falle eines seine Aussage ändernden Zeugen angesehen. So habe der Antragsteller keine Möglichkeit, Ermittlungsbehörden zu bemühen, den Zeugen zu einer Erklärung über die Veränderung seiner Aussage zu zwingen:308 „Ja, die erweiterte Darlegungslast natürlich, die auch ausufernd von der Rechtsprechung zugelassen oder erfordert wird. Ich glaube wir täten gut daran, es auf den Widerruf eines Geständnisses zu beschränken. Dort wird es nämlich wirklich erforderlich. Aber wie kann ich eine erweiterte Darlegungslast einem Antragsteller auferlegen, wenn ein Zeuge etwa seine Aussage geändert hat? Wie kann ich erfragen bei dem Zeugen, bitte erkläre mir doch mal, warum Du Deine Aussage jetzt geändert hast? Ist das meine Aufgabe? Wenn ich keine Möglichkeit habe, die Ermittlungsbehörden zu bemühen, und den Zeugen zu zwingen, sich zu erklären zu diesem Aspekt, werde ich keinen Zugang haben zu ihm. Sondern dann erschöpft sich 303  Interview

Nr. 2 vom 28.09.2015, S. 5 f. Nr. 2 vom 28.09.2015, S. 5; Interview Nr. 3 vom 12.10.2015, S. 9; Interview Nr. 5 vom 27.10.2015, S. 7. 305  Interview Nr. 2 vom 28.09.2015, S. 5; Interview Nr. 8 vom 14.12.2015, S. 26. 306  Interview Nr. 2 vom 28.09.2015, S. 13. 307  Interview Nr. 5 vom 27.10.2015, S. 6. 308  Interview Nr. 8 vom 14.12.2015, S. 26. Ein weiterer Gesprächspartner berichtete, dass er bereits erlebt habe, dass die Staatsanwaltschaft aufgrund eines Wiederaufnahmeantrags sofort ein Ermittlungsverfahren gegen einen Zeugen, der von seiner ursprünglichen Aussage abgerückt sei, eingeleitet hätte, vgl. Interview Nr. 10.1 vom 29.09.2015, S. 3. Das Risiko sei jedoch, dass der Zeuge bei Anwendung von Zwang womöglich nicht mehr wahrheitsgemäß aussage aus Angst vor der Justiz, vgl. Interview Nr. 10.2 vom 08.03.2016, S. 22. 304  Interview

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Teil 2: Eigene Untersuchung und Reformvorschläge

meine Möglichkeit in der Bitte an den Zeugen: Erklär mal! Wenn er es nicht tut, werde ich es auch nicht erklären können.“309

Demgegenüber sprachen sich drei Verteidiger grundsätzlich für erweiterte Darlegungslasten aus.310 Zwar sei die Hürde der erweiterten Darlegungslast hoch, das Wiederaufnahmerecht auch ohne sie denkbar, doch die erweiterte Darlegungslast sei objektiv sinnvoll, da andernfalls mit einer Flut von unbegründeten Wiederaufnahmeanträgen zu rechnen sei.311 Kritisch äußerte sich einer der Befürworter: „Das ist eine Geschmacksfrage. Ich muss ganz offen sagen, aus dem Gesetz geht sie nicht hervor. Die Hürden sind hoch. Man könnte auch ohne sie leben. Einfach als Jurist, also objektiv, muss ich aber sagen, ich halte die erweiterte Darlegungslast für sinnvoll, um zu klären, warum habe ich bei bekannten Beweismitteln das Ganze nicht schon vorgebracht? Ich glaube aber, wie gesagt, dass die Sinnhaftigkeit davon entkoppelt sein muss von der Schwellenhöhe, von der Höhe, die ich überspringen muss. Also dass es grundsätzlich sinnvoll ist, es muss halt eine logische Erklärung sein, ok. Finde ich nicht schlecht. Ansonsten kann ich ja auch einfach mal (unverständlich) geben. Ich finde einfach, die Schwelle ist einfach viel zu hoch, wie ich logisch erklären muss, warum ich es nicht gemacht habe. Ich finde, das ist der Knackpunkt. Ansonsten finde ich es, wie gesagt – kann ich gar nicht – vielleicht bin ich da auch ein bisschen vorgeprägt durch die Wiederaufnahmeanträge, die wir gemacht haben. Weil es bei uns jedes Mal wirklich sinnvolle Punkte gab, wie gesagt, da brauche ich mich nicht verstecken, da brauchen wir auch nichts verschweigen, sondern können wir logisch darlegen. Beispiel xxx. Der sagt, ich hatte einen Strafbefehl bekommen mit einer Geldstrafe. Naja, nehm ich mir einen Anwalt, flieg da hoch – selbst beim Freispruch, zahle ich, was weiß ich wie viel drauf. Der die Punkte natürlich im Hintergrund hatte. Haben die dann auch – dem sind die dann auch gefolgt und haben gesagt, ja verstehen wir. Deshalb ist es – an dem Beispiel sieht man, das war eine logische Erklärung. Das Firmenbeispiel in Bulgarien. Ist vielleicht deshalb für mich jetzt der Punkt, dass ich sage, naja, wir hatten immer eine gute Erklärung, eine sinnvolle Erklärung. Aber bei uns sind Verfahren teilweise auch daran gescheitert, dass die Schwelle zu hoch gesetzt wurde. Grundsätzlich natürlich: aus dem Gesetz geht es nicht hervor.“312

Zudem stelle sich stets die Frage, wie hoch die Schwelle erweiterter Darlegungslasten sei. Der Begriff der „erweiterten“ Darlegungslast täusche darüber hinweg, dass eine konkrete Schwellenhöhe nicht bestimmbar sei. Im Einzelfall sei daher unvorhersehbar, wann das Wiederaufnahmegericht die gesteigerte Darlegungslast als erfüllt ansehe.313 309  Interview

Nr. 8 vom 14.12.2015, S. 26. Nr. 5 vom 27.10.2015, S. 6; Interview Nr. 9 vom 15.12.2015, S. 12; Interview Nr. 10.1 vom 29.09.2015, S. 3. 311  Interview Nr. 5 vom 27.10.2015, S. 6 f. 312  Interview Nr. 5 vom 27.10.2015, S. 7. 313  Interview Nr. 9 vom 15.12.2015, S. 12. 310  Interview



B. Eigene Untersuchung257

Inhalt der Gespräche war auch, inwieweit der Gesetzgeber regulierend durch Normierung einer erweiterten Darlegungslast eingreifen könnte. Mit Anerkennung der erweiterten Darlegungslast korrespondiere die Notwendigkeit ihrer Normierung.314 Dies insbesondere vor dem Hintergrund des Verbrauchs des Wiederaufnahmevorbringens, und dass ihre Entwicklung durch Richterrecht nicht praktikabel erscheine.315 Ein Verteidiger lehnte dies ab, zumal die Höhe der Schwelle der erweiterten Darlegungslasten, die den Knackpunkt des Problems darstelle, gesetzlich nicht fixierbar sei, sondern auch weiterhin Richterrecht bliebe.316 Die Frage der Normierung der erweiterten Darlegungslast wurde daher als theoretischer Natur angesehen.317 Ein Befürworter unterbreitete zugleich den Vorschlag, die erweiterte Darlegungslast auf solche Fälle zu beschränken, in denen ein Beweisantrag gem. § 244 Abs. 3–5 StPO abgelehnt werden könnte.318 14. Hinweispflicht Insbesondere im Zusammenhang mit dem Erfordernis erweiterter Darlegungslasten wurde mit den Gesprächspartnern die Notwendigkeit und der Sinn einer gesetzlich normierten Hinweispflicht erörtert.319 Obgleich eine gerichtliche Hinweispflicht hinsichtlich leicht zu beseitigender Mängel des Wiederaufnahmeantrags bereits anerkannt ist320, konnte keiner der befragten Verteidiger von einem richterlichen Hinweis berichten.321 Lediglich aus der Stellungnahme der Staatsanwaltschaft, die dem Wiederaufnahmeverteidiger jedoch auch nicht immer zur Stellungnahme übermittelt werde, könnten entscheidungserhebliche Umstände erschlossen werden.322 Berichtet wurde weiter davon, dass eine Art gerichtlicher Hinweis dadurch

314  Interview

Nr. 10.2 vom 08.03.2016, S. 14. Nr. 5 vom 27.10.2015, S. 8. 316  Interview Nr. 5 vom 27.10.2015, S. 6. 317  Interview Nr. 5 vom 27.10.2015, S. 8. 318  Interview Nr. 10.2 vom 08.03.2016, S. 15. 319  So etwa Interview Nr. 7 vom 27.10.2015, S. 8. Eine Hinweispflicht diesbezüglich fordert auch Eschelbach, HRRS 2008, 190, 205. 320  OLG Hamm NJW 1980, 717; LR-Gössel, § 366 / 1; MG § 366 / 3; KK-Schmidt, § 366 / 2. 321  Interview Nr. 2 vom 28.09.2015, S. 14; Interview Nr. 4 vom 19.10.2015, S. 8; Interview Nr. 5 vom 27.10.2015, S. 5; Interview Nr. 8 vom 14.12.2015, S. 6; Interview Nr. 9 vom 15.12.2015, S. 10; Interview Nr. 10.1 vom 29.09.2015, S. 2; Interview Nr. 10.2 vom 08.03.2016, S. 14. Angaben I vom 11.02.2016, S. 2; Angaben II vom 12.10.2015, S. 1. 322  Interview Nr. 3 vom 12.10.2015, S. 9 f. 315  Interview

258

Teil 2: Eigene Untersuchung und Reformvorschläge

erzwingbar sei, dass der Verteidiger einen Antrag auf Beiordnung gem. §§ 364a, b StPO stellt323: „Weil da habe ich in der Praxis die größten Probleme, dass Sie halt vor diese Überraschungsentscheidungen gestellt werden. Ich versuche es schon damit zu umgehen, dass ich mich – bevor ich einen Wiederaufnahmeantrag stelle – lasse ich mich beiordnen als Pflichtverteidiger. Hat zur Konsequenz, dass die den eigentlichen Antrag auf Erfolgsaussichten prüfen müssen, ob Sie mich dann beiordnen. Und im Rahmen dieses Antrags müssten die dann ja schon schreiben, warum es nach ihrem Dafürhalten keine Aussicht auf Erfolg hat. Und da kriegt man hin und wieder dann schon mal gesagt, ja, da reicht es aber nicht.“324

Für den Fall, dass das Vorbringen aus Sicht des Wiederaufnahmegerichts den Anforderungen an die erweiterte Darlegungslast nicht genügt, werde ein richterlicher Hinweis im Wiederaufnahmeantrag regelmäßig pauschal erbeten, sein Unterlassen im Beschwerdeverfahren gerügt.325 Die Normierung einer gesetzlichen Hinweispflicht wurde daher befürwortet326 bzw. als notwendig erachtet.327 Der Justiz entstehe – abgesehen von einer Arbeitsmehrbelastung, die jedoch in einem Rechtsstaat hinnehmbar sei – kein Nachteil.328 Die Wiederaufnahme als eine Art Dialog zwischen den Verfahrensbeteiligten auszugestalten, sei dabei das erstrebenswerte Ziel.329 Gleichwohl wurden auch Bedenken vorgebracht: Eine gesetzliche Hinweispflicht sei der Systematik der StPO insoweit fremd, als dass ein Richter vor Entscheidung der Rechtssache seine Einschätzung offen lege und damit einen Befangenheitsgrund riskiert. Daran etwas zu ändern sei „pazifistische Phantasie“ und rechtspolitisch kaum durchsetzbar.330 Die Experten waren auch skeptisch, ob normierten Hinweispflichten in der Praxis tatsächlich entsprochen würde, oder ob diese nicht vielmehr ausgehebelt würden.331 Jedenfalls würde ihnen zumindest mehr entsprochen, wären sie gesetzlich normiert.332 323  Interview

Nr. 10.1 vom 29.09.2015, S. 2. Nr. 2 vom 28.09.2015, S. 24. 325  Interview Nr. 2 vom 28.09.2015, S. 14; Interview Nr. 3 vom 12.10.2015, S. 9 f. 326  Interview Nr. 2 vom 28.09.2015, S. 14; Interview Nr. 3 vom 12.10.2015, S. 9 f.; Interview Nr. 4 vom 19.10.2015, S. 9; Interview Nr. 7 vom 16.11.2015, S. 7; Interview Nr. 8 vom 14.12.2015, S. 6; Interview Nr. 9 vom 15.12.2015, S. 10; Interview Nr. 10.2 vom 08.03.2016, S. 14; Interview Nr. 11 vom 11.03.2016, S. 3; Interview Nr. 12 vom 18.03.2016, S. 6. 327  Interview Nr. 11 vom 11.03.2016, S. 3. 328  Interview Nr. 8 vom 14.12.2015, S. 6; Interview Nr. 12 vom 14.03.2016, S. 19. 329  Interview Nr. 10.2 vom 08.03.2016, S. 14; so im Ergebnis auch: Interview Nr. 11 vom 11.03.2016, S. 3. 330  Interview Nr. 9 vom 15.12.2015, S. 11. 331  Interview Nr. 10.1 vom 29.09.2015, S. 2. 332  Angaben II vom 12.10.2015, S. 1. 324  Interview



B. Eigene Untersuchung259

Zur Verbesserung der Effektivität wurde in einem Gespräch vorgeschlagen: „Er (Anm. der Wiederaufnahmerichter) könnte vielleicht dem Verteidiger, der den Antrag stellt, nochmal einen gesonderten Hinweis geben, aus welchen Gründen er beabsichtigt, den Antrag abzulehnen, wenn an diesen und jenen Stellen nicht noch was nachkommt. Man kann das versuchen künstlich zu konstruieren, indem man einen Antrag stellt darauf, als Pflichtverteidiger in der Wiederaufnahme beigeordnet zu werden. Und dann erstmal nur den Beiordnungsantrag stellt und sagt, ich möchte gerne beigeordnet werden, und zwar hat das Wiederaufnahmeverfahren aus diesen und jenen Gründen Erfolg. Und dann kriegen Sie den Ablehnungsbeschluss, in dem steht, der wird abgelehnt, und es sind keine Erfolgsaussichten da, aus den und den Gründen. Dann haben Sie so ein bisschen was in der Hand, wo Sie sagen können, auf diese Punkte muss ich mich besonders konzentrieren. So, Sie haben natürlich das Risiko dabei, dass das Gericht, wenn der Hauptantrag kommt, sagt, alles Quatsch, wir haben ja hier unsere Textbausteine, können wir ja zur Ablehnung des Antrags verwenden.“333

15. Novität, § 359 Nr. 5 StPO Inhalt der geführten Interviews war auch das Verständnis der Experten zum Begriff der „Novität“. Für die Novität einer Tatsache bzw. eines Beweismittels könne es nicht auf den Akteninhalt ankommen, sondern darauf, was in der Hauptverhandlung erörtert worden sei.334 Bemerkenswert erscheinen die Erfahrungen eines Experten im Zusammenhang mit einer von ihm erstrittenen oberlandesgerichtlichen Entscheidung: „Weil, also ich habe schon gelesen in einer Entscheidung, die habe ich auch hier, das hat mich sehr beschäftigt, eine oberlandesgerichtliche Entscheidung. Und da heißt es: ‚Die in der Hauptverhandlung erörterten Tatsachen sind niemals neu, selbst wenn sie bei der Entscheidung deshalb nicht berücksichtigt worden sind, weil eine Aussage oder ein Gutachten übersehen oder missverstanden worden ist.‘ Wenn das wirklich richtig ist, dann ist die Wiederaufnahme kein taugliches Mittel. Denn gerade das, was in einer Hauptverhandlung auch erörtert worden ist – und jetzt kommen wir wieder zur Frage der Dokumentation – aber übersehen oder missverstanden worden ist, was aber entscheidungserheblich wäre, und daran hängt natürlich alles, das muss neu sein. Und ich denke, da ist eine Klarstellung durch den Gesetzgeber eigentlich erforderlich, wenn wir darüber sprechen wollen, was der Gesetzgeber tun kann. Dass einfach klargestellt wird, was ist jetzt unter Novität tatsächlich zu verstehen? Ich meine eine Kasuistik wird der Gesetzgeber nicht betreiben können, aber diesen sensiblen Punkt, den ich jetzt hier angesprochen habe: ist neu, was in einer Hauptverhandlung erörtert worden ist, was aber tatsächlich in den Urteilsgründen sich nicht wieder findet, obwohl es entscheidungserheblich ist, 333  Interview 334  Interview

Nr. 3 vom 12.10.2015, S. 13. Nr. 2 vom 28.09.2015, S. 11; Interview Nr. 8 vom 14.12.2015, S. 25.

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Teil 2: Eigene Untersuchung und Reformvorschläge

obwohl es nach 267 StPO in das Urteil gehört? Das ist eine Frage, die in dieser Weise, wie ich es gerade zitiert habe, aus meiner Sicht nicht beantwortet werden kann. Und die Rspr. geht aber in diese Richtung, sprich: Aspekte, die in einer Hauptverhandlung erörtert worden sind, die sollen nicht neu sein, auch wenn sie entscheidungserheblich waren, aber in der Entscheidung nicht berücksichtigt wurden.“335

Ein anderer Experte meinte, dass seiner Ansicht nach eine schriftliche Erklärung eines Zeugen, unabhängig davon, ob er bereits im Erstverfahren ausgesagt hatte oder nicht, stets ein neues Beweismittel sei.336 Die Neuheit werde jedenfalls allein dadurch, dass der Umstand bereits Inhalt der Ermittlungsakte wurde, nicht ausgeschlossen.337 Umstände, die im Urteil nicht verwertet wurden, seien neu.338 Indiz für die Neuheit einer Tatsache sei folglich, wenn das Urteil zu einem entscheidungserheblichen Punkt schweige.339 Was in der Hauptverhandlung erörtert worden sei, jedoch vom Gericht trotz Entscheidungserheblichkeit angesichts der Nichtberücksichtigung in den schriftlichen Urteilsgründen vermutlich übersehen oder missverstanden wurde, müsse mithin als wiederaufnahmerechtliches novum zu behandeln sein.340 Für die Feststellung der Neuheit eines vorgetragenen Umstands führte ein Verteidiger aus, dass er von einer Beweislastumkehr ausgehe. Die Justiz müsse beweisen, dass Umstände, zu denen die Urteilsgründe schweigen, nicht neu seien341: „Ich würde sagen, die Beweislast liegt in jedem Fall bei der Justiz, dass die Tatsache nicht neu ist.“342

Nur auf diesem Weg könne Rechtssicherheit geschaffen und dem fairtrial-Grundsatz entsprochen werden.343 Insoweit wurde eine Klarstellung durch den Gesetzgeber befürwortet.344 335  Interview

Nr. 8 vom 14.12.2015, S. 19 f. Nr. 5 vom 27.10.2015, S. 19. 337  Interview Nr. 3 vom 12.10.2015, S. 8. 338  Interview Nr. 2 vom 28.09.2015, S. 11. Ein Gesprächspartner berichtete, dass Wiederaufnahmeverfahren früher leichter gewesen seien, weil neue Beweismittel auch dann als Wiederaufnahmegrund akzeptiert worden seien, wenn sie schon zum Zeitpunkt der Verurteilung zur Verfügung standen, jedoch nicht in das Verfahren eingeführt wurden, vgl. Angaben I vom 11.02.2016, S. 2. 339  Interview Nr. 2 vom 28.09.2015, S. 12; Interview Nr. 10.2 vom 08.03.2016, S. 1. 340  Interview Nr. 8 vom 14.12.2015, S. 19; Interview Nr. 10.2 vom 08.03.2016, S. 1; Interview Nr. 12 vom 14.03.2016, S. 10. 341  Interview Nr. 2 vom 28.09.2015, S. 11. 342  Interview Nr. 2 vom 28.09.2015, S. 12. 343  Interview Nr. 12 vom 14.03.2016, S. 10. 344  Interview Nr. 8 vom 14.12.2015, S. 19. 336  Interview



B. Eigene Untersuchung261

Eine andere Seite erwog zur Feststellung der Novität im Rahmen des Aditionsverfahrens die Durchführung des Freibeweisverfahrens.345 Ein wiederum anderer gab an, dass die Rspr. ein derartiges Freibeweisverfahren zwar fordern würde, dies jedoch nicht richtig sei. Die Neuheit sei richtigerweise erst später im Verfahren zu prüfen. Schweige das Urteil, sei zunächst davon auszugehen, dass der Zeuge zu diesem Umstand nicht befragt wurde.346 Der Zulässigkeit eines Freibeweisverfahrens widersprach auch ein weiterer Verteidiger, da andernfalls der Ausgangsrichter am Wiederaufnahmeverfahren mitwirke. Dies sei nicht nötig, wenn lediglich auf die schriftlichen Urteilsgründe abgestellt würde.347 Die verlässliche Feststellung der Novität einer Tatsache oder eines Beweismittels wäre schließlich nur möglich nach einer vollständig dokumentierten Beweisaufnahme.348 Die umfassende Dokumentation der Aussageinhalte führe spiegelbildlich zu einer erhöhten Darlegungslast des Gerichts. Entspreche es dieser Darlegungslast nicht, sei ein Umstand als wiederaufnahmerechtlich neu zu qualifizieren.349 Diametral entgegengesetzt vertrat nur ein Gesprächspartner, dass im Wiederaufnahmeverfahren zu unterstellen sei, dass alle Beweismittel die eingeführt wurden, auch in der Entscheidungsfindung berücksichtigt worden wären, auch wenn sie nicht in die Urteilsgründe eingeflossen sind.350 16. Geeignetheitsprüfung Die Gesprächspartner äußerten sich auch zu den Anforderungen, die an die Geeignetheit des Vorbringens gestellt werden. Die Geeignetheit des Vorbringens als Prüfungsstufe im Aditionsverfahren wurde angesichts des Rechtskraftschutzes nicht grundsätzlich kritisiert. Für das Wiederaufnahmeverfahren müsse feststehen, ob ein Beweismittel tatsächlich geeignet sei, das Ausgangsurteil anzugreifen.351 Die Geeignetheit sei aus der Perspektive des Wiederaufnahmegerichts zu beurteilen, da es sich nicht in die Situation des Ausgangsgerichts hineindenken könne, sondern auf die schriftlichen Urteilsgründe angewiesen sei.352 345  Interview

Nr. 2 vom 28.09.2015, S. 12. Nr. 10.2 vom 08.03.2016, S. 1. 347  Interview Nr. 12 vom 14.03.2016, S. 10. 348  Interview Nr. 12 vom 14.03.2016, S. 10. 349  Interview Nr. 12 vom 14.03.2016, S. 10. 350  Interview Nr. 12 vom 14.03.2016, S. 10. 351  Interview Nr. 2 vom 28.09.2015, S. 22. 352  Interview Nr. 8 vom 14.12.2015, S. 21; Interview Nr. 12 vom 14.03.2016, S. 12. 346  Interview

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Teil 2: Eigene Untersuchung und Reformvorschläge

Die sich aus § 359 Nr. 5 StPO ergebende Geeignetheitprüfung des Vorbringens verwässere jedoch die Grenzlinie zwischen Zulässigkeit und Begründetheit des Vorbringens.353 Diese Prüfung sei das Einfallstor für richterliche Willkür.354 Von übersteigerten Anforderungen an die Geeignetheit des Vorbringens berichtete ein Experte: „Bei der Erheblichkeitsprüfung, das habe ich mir hier auch noch aufgeschrieben, da ist dieser Aspekt mit ‚an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit‘, der immer wieder auftaucht. Also ich habe diesen einen Fall, den ich vorher angesprochen hatte, mit der Vergewaltigung, da erinnere ich mich noch sehr gut, da ging es um diese Verletzungen des Hymen. Ja oder nein bzw. die Frage, kann ein Hymen unverletzt sein bei mehrfach durchgeführtem Geschlechtsverkehr. Und das Gutachten, das ich seinerzeit auch erholt hatte, kam zu dem Ergebnis, sehr sehr unwahrscheinlich, wenn ich es noch richtig in der Formulierung in Erinnerung habe. Das hat dem Wiederaufnahmegericht nicht genügt. Weil die eben sagen, ja, aber das ist ja keine Sicherheit, die damit verbunden ist. Es kann ja auch so sein, dass mehrfach ein Geschlechtsverkehr durchgeführt worden ist, letztlich wenn auch nur in einem krassen Ausnahmefall, dass das Hymen nicht verletzt ist. Kann das richtig sein?“355

Aus Verteidigersicht kritisierte man, dass die Rspr. im Rahmen der Zulässigkeitsprüfung eine Beweisantizipation toleriere, die keinen Bezug mehr zu den Urteilsfeststellungen habe. Dies führe zu einer Vorwegnahme der Hauptverhandlung.356 Für den Verteidiger bedeute dies, dass er sich zur Darlegung der Geeignetheit mit dem gesamten Akteninhalt zu beschäftigen habe.357 Die Prüfung der Geeignetheit des Vorbringens würde besser gelingen, wenn der Gesetzgeber die Anforderungen an die Geeignetheit des Vorbringens gesetzlich definiere.358 Es wäre schon ausreichend, wenn die Praxis die vom Bundesverfassungsgericht vorgegebenen Maßstäbe einhalten würde. Die Schlüssigkeitsprüfung sei auf den Beweiswürdigungsstand zum Zeitpunkt der letzten Erkenntnisentscheidung zu beschränken, die hypothetische Beweiswürdigung stark einzuschränken.359 17. In-dubio-pro-reo Der Zweifelsgrundsatz soll im Wiederaufnahmerecht lediglich mittelbare Anwendung finden.360 Nur in der Erneuerungshauptverhandlung und im Fall 353  Interview

Nr. 10.2 vom 08.03.2016, S. 18. Nr. 12 vom 14.03.2016, S. 10. 355  Interview Nr. 8 vom 14.12.2015, S. 22. 356  Interview Nr. 8 vom 14.12.2015, S. 21. 357  Interview Nr. 3 vom 12.10.2015, S. 8. 358  Interview Nr. 10.2 vom 08.03.2016, S. 18. 359  Interview Nr. 12 vom 14.03.2016, S. 10. 360  Marxen / Tiemann, Die Wiederaufnahme in Strafsachen, Rn. 232. 354  Interview



B. Eigene Untersuchung263

der Freisprechung ohne erneute Hauptverhandlung gem. § 371 Abs. 1 StPO soll er unmittelbar anwendbar sein.361 Demgegenüber wird er etwa in der Schweiz für die Prüfung der Erheblichkeit des Vorbringens herangezogen.362 Mit den Gesprächspartnern wurde daher die Anwendbarkeit des Zweifelsgrundsatzes im Wiederaufnahmeverfahren diskutiert. So berichtet etwa die Literatur, dass „auch Strafverteidiger von der Unanwendbarkeit des Grundsatzes in dubio pro reo (…) überzeugt sind.“363 In vorliegender Untersuchung wurde dessen Anwendbarkeit im Aditionsverfahren (z. B. im Rahmen der Erheblichkeitsprüfung) als guter Ansatz gewertet, um im Zweifel die Zulässigkeit des Antrags anzunehmen und das Probationsverfahren durchführen zu können364: „Das wäre aus meiner Sicht ein guter Ansatz, ja. Spricht zwar gegen sämtliche gegenwärtige Praxis; so weit muss man ja auch erst mal kommen bei Reformüberlegungen, dass man halt nicht im jetzigen System stecken bleiben muss, das ist also so der geistige Punkt, das die auch erst mal überspringen muss. Ja, das kann ich mir schon vorstellen, dass man dort jedenfalls, wenn es neu ist, wenn man dazu kommt, dass es neu und entscheidungsrelevant ist, dass man dann quasi so eine Umkehr der Beweislast einführt, damit man dann überhaupt mal in eine Begründetheitsprüfung kommt. Also ich meine, Rechtssicherheit ist ja schon auch ein gewisser Wert, also darüber will ich ja auch nicht hinwegreden. Aber die Einzelfallgerechtigkeit ist halt auch sehr wichtig. Gut, aber wenn die Sache neu ist und anhand der Urteilsgründe ersichtlich ist, so es entscheidungsrelevant ist oder anhand des Gesetzes klar ist, es hätte entscheidungsrelevant sein müssen. Dann kann ich mir die in dubio Formel da vorstellen, ja.“365

Zwei Gesprächspartner betrachteten den Zweifelsgrundsatz im Wiederaufnahmeverfahren für anwendbar.366 Ein weiterer ging davon aus, dass der Zweifelsgrundsatz in der Praxis bereits sinngemäß angewendet werde.367 Ein Experte zweifelte, ob die theoretische Anwendbarkeit des Zweifelsgrundsatzes den Mangel der praktischen Anwendung korrigieren könne. Der Zweifelsgrundsatz greife nur dann, wenn der zur Entscheidung berufene 361  MG

§ 370 / 4; MG § 371 / 4. Die Wiederaufnahme in rechtsvergleichender Darstellung, S. 808. 363  Dippel, Das geltende deutsche Wiederaufnahmerecht und seine Erneuerung, S. 103. 364  Interview Nr. 1 vom 14.09.2015, S. 12; Interview Nr. 3 vom 12.10.2015, S. 14; Interview Nr. 8 vom 14.12.2015, S. 22; Interview Nr. 10.2 vom 08.03.2016, S. 15; Angaben II vom 12.10.2015, S. 2. 365  Interview Nr. 1 vom 14.09.2015, S. 12. 366  Interview Nr. 2 vom 28.09.2015, S. 14; Interview Nr. 10.1 vom 29.09.2015, S. 2. 367  Interview Nr. 3 vom 12.10.2015, S. 14. 362  J. Meyer,

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Teil 2: Eigene Untersuchung und Reformvorschläge

Richter Zweifel habe. Keine Anwendung fände er jedoch bei nur objektiven bzw. objektiv gebotenen Zweifeln. So lange der Richter demnach die Freiheit habe, keine Zweifel zu haben, helfe der Zweifelsgrundsatz nicht weiter.368 Alternativ wurde vorgeschlagen, bei neuen entscheidungserheblichen Tatsachen eine Umkehr der Beweislast vorzunehmen, um die Probationsprüfung zu erreichen.369 18. Einfluss auf Strafvollstreckung Befragt nach den Auswirkungen eines Wiederaufnahmeantrags auf die vollstreckungsrechtliche Situation, berichteten die Spezialisten zumeist, dass ein Wiederaufnahmeantrag keinen positiven Effekt auf den Strafvollzug gehabt habe. Insbesondere beim Vollzug einer unbedingten Freiheitsstrafe gelte der Antragsteller eines Wiederaufnahmeantrags als nicht geständig und arbeite seine Tat nicht auf, was im Ergebnis dazu führe, dass eine Strafaussetzung nicht gewährt werde.370 Schöpfe der Betroffene hingegen sämtliche Rechtsmittel aus, werde ihm dies in der Strafvollstreckung nicht negativ angelastet.371 Auf die Frage, inwiefern der Wiederaufnahmeantrag für die Strafvollstreckung relevant werde und Einfluss auf die Sozialprognose bzw. den Vollstreckungsplan gehabt habe, antwortete einer der Experten: „Ja, und zwar meistens keinen guten. Ja, also Leute, die Wiederaufnahmeanträge stellen, sind nicht geständig, und im Sinne der Vollstreckung bearbeiten sie ihre Straftaten ja nicht auf. Das ist ein ganz großes Problem, d. h. man kommt sehr schlecht oder gar nicht zu seiner 2 / 3-Strafe oder zu einer Reststrafenaussetzung. Schlichtweg, weil der Vollzug einfach schreibt, keine hinreichende Auseinandersetzung mit Straftat usw. Also, das ist etwas, wo ich die Mandanten auch regelmäßig darauf hinweise, insbesondere wenn absehbar ist, dass man mit dem Wiederaufnahmeverfahren – ich sag mal – vor Abschluss der Strafvollstreckung wahrscheinlich 368  Interview Nr. 11 vom 11.03.2016, S. 5. Der Zweifelsgrundsatz funktioniere jedoch schon im regulären Strafverfahren nicht und werde so gut wie gar nicht angewandt, anders als die im Zivilverfahren geltende non-liquet-Entscheidungsmöglichkeit, vgl. a. a. O. 369  Interview Nr. 1 vom 14.09.2015, S. 12. 370  Interview Nr. 1 vom 14.09.2015, S. 4; Interview Nr. 2 vom 28.09.2015, S. 4; Interview Nr. 9 vom 15.12.2015, S. 2; Interview Nr. 10.1 vom 29.09.2015, S. 1; Angaben I vom 11.02.2016, S. 2; Angaben II vom 12.10.2015, S. 1. Von einer besonders rigiden Behandlung geht auch Eschelbach, aus, vgl. Eschelbach, in: FS-Stöckel, S. 213. 371  Interview Nr. 2 vom 28.09.2015, S. 4. Lediglich in Interview Nr. 10.2 vom 08.03.2016 wurde berichtet, dass derjenige, der sich bereits dem erstinstanzlichen Urteil füge, es in der Strafvollstreckung leichter haben werde als der Angeklagte, der das Urteil anfechte, Interview Nr. 10.2 vom 08.03.2016, S. 21.



B. Eigene Untersuchung265 nicht allzu weit kommt. Das ist ein Grundproblem, was allerdings, das kann ich auch mit Mitteln der Wiederaufnahme nicht bewältigen. Weil ich weiß, wie der Strafvollzug tickt und die in gewisser Weise natürlich auch ticken müssen, sie sind ja nun an die rechtskräftigen Urteile auch irgendwie gebunden. Ja gut. Also das gibt immer Probleme.“372

Ein anderer Experte schilderte, dass in einem Verfahren kurz vor Erreichung des Zwei-Drittel-Zeitpunktes die endgültig ablehnende Entscheidung über den Wiederaufnahmeantrag erging. Die Strafvollstreckungskammer lehnte daraufhin die vorzeitige Haftentlassung ab, da der Verurteilte die Tat sowohl bestreite als auch nicht aufarbeite: „Da ging es um den Vorwurf der Vergewaltigung einer Stieftochter, mehrfachen Vergewaltigung einer Stieftochter. Das war eine Sache, die ich aufgenommen hatte erst in laufender Strafhaft. Und ich habe begleitend zu der Strafhaft mich mit der Wiederaufnahme versucht. Ein wesentlicher Aspekt war in diesem Fall die Frage: Kann es sein, dass ein mehrfacher Geschlechtsverkehr durchgeführt wird, ohne dass das Hymen Narben oder Verletzungen aufweist? So war es nämlich in diesem Fall. Es hatte eine gynäkologische Untersuchung des Mädchens gegeben und es konnten keine Auffälligkeiten festgestellt werden – und ja, dieses Bemühen um Wiederaufnahme – noch mit vielen Zeugen, noch im Umfeld des Verfahrens, das hat sich ziemlich lange hingezogen und letztlich war eine endgültige Ablehnung der Wiederaufnahme erst erfolgt nach Ablauf von 2 / 3 oder kurz vor Ablauf von 2 / 3. Erinnere ich jetzt nicht mehr genau. Die Strafvollstreckungskammer hatte dann, mit der Frage einer vorzeitigen Bewährungsaussetzung konfrontiert, entschieden, dass der Mandant nicht entlassen werden kann vorzeitig, weil er die Tat bestreitet, und eine Aufarbeitung der Tat – ich glaube auch therapeutischer Ansatz war damals gesucht – nicht erfolgt ist. Und erst in der Beschwerdeinstanz konnte dann eine vorzeitige Entlassung doch noch durchgesetzt werden. Da hat das Oberlandesgericht – ich meine, es war xxx – dann entschieden, dass so nicht argumentiert werden kann wie von der Strafvollstreckungskammer und auch nicht angelastet werden kann, dass ein Betroffener sich mit einer Wiederaufnahme gegen ein rechtskräftiges Urteil wendet. Ja, aber das war eine Erfahrung von mir.“373

Sogar Lockerungsgutachten, die zunächst für den Inhaftierten positiv gewesen seien, änderten laut Aussage eines Experten ihren Tenor nach Bekanntwerden des Wiederaufnahmeantrags ins Negative.374 Ferner: „Ich kann aus meiner Erfahrung sagen, dass für alle verurteilten Täter, die die Tat bestritten haben und nach ihrer Verurteilung am Bestreiten der Tat festgehalten haben, die also keine Reue gezeigt haben, die Vollzugssituation beschissener war 372  Interview

Nr. 1 vom 14.09.2015, S. 4 f. Nr. 8 vom 14.12.2015, S. 2. 374  Interview Nr. 10.2 vom 08.03.2016, S. 20. 373  Interview

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Teil 2: Eigene Untersuchung und Reformvorschläge

und ist als für jeden anderen im Knast. Das kann man so generell für wegen Sexualstraftaten Verurteilte sagen. Für Wirtschaftsdelinquenten, die ihre Tat bestreiten, dürfte Anderes gelten. Das Bestreiten des Sexualtäters führt zu der Prognose, er sei wegen fehlender Reue und Einsicht weiterhin gefährlich. Für den Wirtschaftsdelinquenten gilt das nicht. Der kann nach seiner Verurteilung zu einer mehrjährigen Freiheitsstrafe sowieso nicht mehr Geschäftsführer einer GmbH oder Vorstandsmitglied einer Aktiengesellschaft werden. Bei Sexualdelikten verbaut die Gefährlichkeitsprognose die Möglichkeit zu Hafterleichterungen oder einer Reststrafenaussetzung gegen Bewährung. (…) Ich habe umgekehrt einige Fälle gehabt von Strafgefangenen, die mich angeschrieben haben und gesagt haben, sie haben ein falsches Reuegeständnis abgegeben, um Hafterleichterungen zu erlangen und in einem Fall hat mir einer geschrieben, es sei für ihn noch schrecklicher, gewesen als die Verurteilung selbst, weil er das Gefühl gehabt habe, sich mit einem falschen Geständnis unwürdig erniedrigt zu haben. Das sei sogar noch weitergegangen, da man ihm im Therapieprozess, dem er sich aufgedrängt sah, das Geständnis nicht als „ehrliches“ abgenommen habe. Er habe sich dann mit der psychologischen Fachliteratur befasst und in der psychologischen Fachliteratur habe er dann das Täterprofil, das man ihm angedichtet habe, studiert und sich dann entsprechend diesem Profil als angeblich narzisstische Persönlichkeit reuig verhalten. Die ganze Psychotherapie, der er sich unterzogen habe, sei eine einzige Theatervorstellung gewesen.“375

Dies liege auch daran, dass die Justizvollzugsanstalten mit Wiederaufnahmegesuchen überfordert seien, wenngleich nicht selten auch Sozialarbeiter und Vollzugsbeamte Zweifel an der Richtigkeit des Urteilsspruchs hätten.376 „Ich meine, man hat das ja häufig, dass gerade auch so im Umgang mit den Sozialarbeitern und so – da kommt halt, da sagt der eine dann doch schon mal ach ja, hab ich feedback gekriegt. Die sagen auch: Naja, Sie waren das doch gar nicht, das passt ja so gar nicht zu Ihnen wie Sie sich hier geben. Gut, kann er sich natürlich auch nichts von kaufen bzw. ob die Einschätzung dann so stimmt, ist auch immer die große Frage, aber das hat man halt schon häufiger. Hatte ich hier beim xxx, da haben die auch immer gesagt, die Pfleger, die er da drin hatte: Ja, so, der hat gar nichts gemacht, der hat kein Kind umgebracht. Also, die Zweifel sind da schon oft da. Aber das Problem ist halt, da springt keiner über den eigenen Schatten und schreibt das mal ins Positive um. Also meine Erfahrungen sind immer, dass das negativ ausgelegt wird.“377

Lediglich ein Experte berichtete, dass der Wiederaufnahmeantrag einen mittelbar positiven Effekt auf die Vollzugssituation gehabt habe. Die Vollzugsbeamten seien von dem Wiederaufnahmeantrag so überzeugt gewesen, 375  Interview Nr. 4 vom 19.10.2015, S. 3, wobei das Zitat vom Gesprächspartner überarbeitet wurde. 376  Interview Nr. 1 vom 14.09.2015, S. 4; Interview Nr. 2 vom 28.09.2015, S. 4; Interview Nr. 9 vom 15.12.2015, S. 2. 377  Interview Nr. 2 vom 28.09.2015, S. 4.



B. Eigene Untersuchung267

dass die Stellungnahmen im Rahmen von Vollzugslockerungsentscheidungen plötzlich sehr viel besser ausgefallen sind.378 Schließlich berichteten vier Strafverteidiger, dass der Wiederaufnahmeantrag für Vollzugsentscheidungen ihrer Erfahrung nach keine Rolle gespielt habe.379 Die Vollzugsstelle habe in der Regel keine Kenntnis vom Wiederaufnahmegesuch.380 Dennoch berichteten auch diese Gesprächspartner, dass Tatleugner mit dem Vollzug der Strafe bis zum Endstrafenzeitpunkt zu rechnen hätten381, ein fehlendes Reuegeständnis demnach in allen Fällen vollstreckungsschärfende Wirkung gehabt habe.382 Insbesondere skizzierte ein Verteidiger das Dilemma seines Mandanten, dass er einerseits die Tat bestritt und eine Wiederaufnahme des Verfahrens anstrebte, andererseits zum Zwecke einer Reststrafenaussetzung zur Bewährung nach zwei Dritteln der verbüßten Strafe ein Geständnis erforderlich erschien.383 Den Verteidiger treffe in diesen Fällen eine erweiterte Aufklärungspflicht.384 Allerdings dürfe ein Wiederaufnahmeantrag keine Rücksicht nehmen auf die Frage, ob bereits über eine etwaige vorzeitige Entlassung entschieden wurde385, da andernfalls die Gefahr des Beweismittelverluststs irreparabel würde.386 19. Verhältnis zur Revision Ein fehlerhaftes Urteil hätte bereits im Vorfeld der Wiederaufnahmebemühungen korrigiert werden können, wenn sich die Revisionsinstanz eingehender mit dem angegriffenen Urteil befasst hätte.387 Die Wiederaufnahme müsse dann leisten, was die Revision nicht geleistet habe.388 Dies liege mitunter an den sehr hohen Hürden im Revisionsverfah378  Interview

Nr. 9 vom 15.12.2015, S. 13. Nr. 3 vom 12.10.2015, S. 6; Interview Nr. 4 vom 19.10.2015, S. 2; Interview Nr. 5 vom 27.10.2015, S. 5; Interview Nr. 7 vom 16.11.2015, S. 2. 380  Interview Nr. 3 vom 12.10.2015, S. 6. 381  Interview Nr. 3 vom 12.10.2015, S. 6; Interview Nr. 4 vom 19.10.2015, S. 3; Interview Nr. 5 vom 27.10.2015, S. 5; Interview Nr. 7 vom 16.11.2015, S. 2; Interview Nr. 8 vom 14.12.2015, S. 1; Angaben I vom 11.02.2016, S. 2. 382  Interview Nr. 4 vom 19.10.2015, S. 3. 383  Interview Nr. 2 vom 28.09.2015, S. 5. 384  Interview Nr. 10.2 vom 08.03.2016, S. 21. 385  Interview Nr. 8 vom 14.12.2015, S. 24. 386  Interview Nr. 10.1 vom 29.09.2015, S. 1. 387  Interview Nr. 6 vom 09.11.2015, S. 23, 27; Interview Nr. 8 vom 14.12.2015, S. 23. 388  Interview Nr. 6 vom 09.11.2015, S. 27. 379  Interview

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Teil 2: Eigene Untersuchung und Reformvorschläge

ren.389 Zwar habe die Entwicklung der erweiterten Revision zu Verbesserungen, möglicherweise jedoch auch dazu geführt, dass das Wiederaufnahmerecht restriktiver gehandhabt werde.390 Zwei Verteidiger äußerten die Besorgnis, dass sich das Wiederaufnahmegericht angesichts der Revisionsentscheidung scheuen könnte, die Wiederaufnahme des Verfahrens anzuordnen.391 Es sei denkbar, dass insoweit rechts­ soziologische Abhängigkeiten bestünden.392 In jedem Fall sei eine Korrektur in der Rechtsmittelinstanz wünschenswert. Sie reduziere sowohl den Arbeitsaufwand für die Justiz und stelle für den Betroffenen eine wesentliche Erleichterung dar, da er nicht erst den mühsamen Weg der Wiederaufnahme beschreiten müsse393 – den Faktor Zeit gänzlich außer Acht gelassen. Die in der Literatur geäußerte Kritik fand in den durchgeführten Interviews Bestätigung: Bleiben entscheidende Aspekte auf Ebene eines Rechtsmittels / Rechtsbehelfs ungeprüft, kann dessen Erfolgsquote nichts über die Richtigkeit der angefochtenen Entscheidung aussagen.394 Demnach kann auch ein vom Bundesgerichtshof in der Revisionsinstanz nicht beanstandetes Urteil keine Richtigkeitsgarantie entfalten, zumal die Tatsachenfeststellungen im Revisionsverfahren im Regelfall unbeanstandet bleiben.395 20. Korrektur fehlerhafter Entscheidungen durch eine zweite Tatsacheninstanz Im Zusammenhang mit landgerichtlichen Verfahren wurde zur Korrektur fehlerhafter Urteile zudem die Einführung einer zweiten Tatsacheninstanz bei landgerichtlichen Verfahren erörtert. Die fehlende Berufung, die in diesem Fall insbesondere durch die größere Anzahl von entscheidungsberufenen Richtern einer Strafkammer begründet wird, kritisiert die Literatur. Sie wendet insoweit ein, dass über § 76 Abs. 2 GVG die reduzierte Besetzung von Strafkammern der Besetzung des erweiterten Schöffengerichts gleichkom389  Interview

Nr. 6 vom 09.11.2015, S. 27. Nr. 9 vom 15.12.2015, S. 15. 391  Interview Nr. 7 vom 16.11.2015, S. 11; Interview Nr. 8 vom 14.12.2015, S. 23. Keine Einschätzung traute sich der Gesprächspartner von Interview Nr. 6 vom 09.11.2015, S. 27. Ablehnend Interview Nr. 1 vom 14.09.2015, S. 15. 392  Interview Nr. 9 vom 15.12.2015, S. 15. 393  Interview Nr. 8 vom 14.12.2015, S. 13. 394  Geipel, in: Miebach / Hohmann, Wiederaufnahme in Strafsachen, Teil A Rz. 10 m. w. N. 395  Paeffgen / Wasserburg, GA 2012, 535, 537. 390  Interview



B. Eigene Untersuchung269

me.396 Allein die Stärke der Gerichtsbesetzung kann demnach nichts über die Qualität der Entscheidung aussagen. Eine zweite Tatsacheninstanz generell zuzulassen wurde von der überwiegenden Anzahl der befragten Verteidiger befürwortet.397 So erfahre der Verurteilte, wie sein Verteidiger oft erst aus dem Urteil, was das Gericht als entscheidungserheblich angesehen habe. Ein Fehler in der ersten Tatsacheninstanz könne dann jedoch nicht mehr korrigiert werden.398 Das Zivilrecht, in dem auch bei landgerichtlichen Verfahren eine zweite Tatsacheninstanz angerufen werden kann, bestätige, dass das System nur einer Tatsacheninstanz nicht richtig sein kann.399 Die Einführung einer zweiten Tatsacheninstanz wurde zudem im Hinblick auf die geringen Erfolgschancen einer Revision begrüßt.400 So sei auch die erweiterte Revision ineffektiv, da viele Details ebenso wenig in ihrem Rahmen überprüft werden könnten.401 Durch eine Zuständigkeit des Oberlandesgerichts als zweiter Tatsacheninstanz könne das Revisionsverfahren zwar möglicherweise bedeutungslos werden, der Wiederaufnahme käme dagegen stärkere Bedeutung zu.402 Spekuliert wurde in diesem Zusammenhang, dass die Einführung einer zweiten Tatsacheninstanz an finanziellen Erwägungen scheitere.403 Problematisch sei darüber hinaus, dass in der zweiten Tatsacheninstanz das Geschehen bereits längere Zeit zurückliege. Zudem würde die zweite Tatsachen­ instanz insbesondere in umfangreichen Verfahren über schwerwiegende Delikte in den meisten Fällen angerufen werden. Deshalb sei die geltende Rechtslage mit einer Tatsacheninstanz und der Möglichkeit der Revision in landgerichtlichen Verfahren zu favorisieren, wobei die Revision dann in ihrer Effizienz zu erweitern sei. Dabei spiele insbesondere die sorgfältige Dokumentation von Zeugenvernehmungen und sonstigen Beweiserhebungsakten eine entscheidende Rolle.404

396  Geipel, in: Miebach / Hohmann, Wiederaufnahme in Strafsachen, Teil  A, Rz.  33 ff. 397  Interview Nr. 7 vom 16.11.2015, S. 11; Interview Nr. 11 vom 11.03.2016, S. 8; Angaben II vom 12.10.2015, S. 2. 398  Interview Nr. 11 vom 11.03.2016, S. 8. 399  Interview Nr. 11 vom 11.03.2016, S. 8. 400  Interview Nr. 7 vom 16.11.2015, S. 11. 401  Interview Nr. 11 vom 11.03.2016, S. 7. 402  Interview Nr. 12 vom 14.03.2016, S. 24. 403  Interview Nr. 8 vom 14.12.2015, S. 14. 404  Interview Nr. 9 vom 15.12.2015, S. 21 f.

270

Teil 2: Eigene Untersuchung und Reformvorschläge

21. Wiederaufnahmerechtliche Praxis Hamm erachtet das geltende Wiederaufnahmerecht als „hervorragend“. Zu kritisieren sei jedoch seine restriktive Anwendung durch die Gerichte.405 Auch Prantl moniert, dass Gerichte Wiederaufnahmeverfahren als Majestätsbeleidigung betrachten und diese auf „Biegen und Brechen abgeschmettert werden“.406 Ein Experte berichtete Folgendes: „Das Problem, was die Justiz hat bei jedem Wiederaufnahmeverfahren: die riskiert, dass sie das Gesicht verliert, weil man jemanden unschuldig verurteilt hat. D. h. vor dem Hintergrund besteht ein ganz großes Hemmnis des jeweiligen Gerichts, um eine Wiederaufnahme anzuordnen, weil man ja Fehler in den eigenen Reihen einräumt. Dann ist das doch schon ganz glücklich gelöst, dass man das in einem anderen Landgerichtsbezirk machen muss. Gleichwohl habe ich aber immer so den Eindruck, dass da trotzdem so – eine Krähe hackt der anderen kein Auge aus, und auch wenn das der Kollege aus einem Nachbarbezirk ist, macht man das ungern. Wenn dann allerdings die Öffentlichkeit dahinter steht und draußen auf der Straße mit Protestplakaten sagt: Hier, lasst den da raus, der hat doch nichts gemacht und die Presse darüber berichtet, und sich auch in der Presse abzeichnet, da ist ein Unschuldiger eingesperrt, wiegt es wiederum schwerer, wenn man sagt nein, wir lassen die Wiederaufnahme nicht zu. Weil dann bringt man den ganzen Mob gegen sich auf.“407

Bereits seit Inkrafttreten der StPO wurde eine wiederaufnahmefeindliche Tendenz in der gerichtlichen Praxis kritisiert.408 Diese Kritik hält bis heute an.409 Die Experten berichteten, dass aus Verteidigersicht mit dem Scheitern des Wiederaufnahmeantrags zu rechnen sei.410 Die Erfolgsquote wurde, verglichen zur Revision, als geringer eingeschätzt.411 Die Wiederaufnahme sei kein funktionierender Rechtsbehelf412, sondern ein illusionärer Rechtsbereich.413 405  Rückert, Sabine. Interview Prof. Dr. Rainer Hamm, Strafen ist Menschenwerk, in: Die ZEIT vom 02.12.2004, Nr. 50. http: /  / www.zeit.de / 2004 / 50 / Laura_Interview (zuletzt aufgerufen am 21.09.2016). 406  Prantl, Heribert, Wiederaufnahme Mollath, Hobelspäne der Strafjustiz. Süddeutsche Zeitung Nr. 152 vom 05. / 06. Juli 2014, S. 4. 407  Interview Nr. 2 vom 28.09.2015, S. 15. 408  Alsberg, Justizirrtum und Wiederaufnahme, S. 86. 409  KMR-Eschelbach, § 359 / 122; Geipel, in: Miebach / Hohmann, Wiederaufnah­me in Strafsachen, Teil A, Rz. 10. 410  Interview Nr. 6 vom 09.11.2015, S. 19. 411  Interview Nr. 7 vom 16.11.2015, S. 7. 412  Interview Nr. 9 vom 15.12.2015, S. 15. 413  Interview Nr. 10.1 vom 29.09.2015, S. 3.



B. Eigene Untersuchung271

Nur in extremen Ausnahmefällen habe sie Erfolg.414 Im gesamten Wiederaufnahmerecht gehe es nur um das Abblocken.415 Den meisten Mandanten müsse daher von einem Wiederaufnahmeantrag abgeraten werden, so die Meinung der befragten Experten.416 Dass Wiederaufnahmeanträge erst gar nicht gestellt würden, läge neben den Kosten auch an mangelnder Fachkenntnis der Verteidiger. Auch die Auffindung neuer Beweismittel und deren Umsetzung in ein Wiederaufnahmegesuch bärge Fallstricke.417 Das Verständnis der Rechtsprechung habe sich dringend zu ändern. Die Wiederaufnahme müsse das sein, was sie nach dem Willen des Gesetzgebers sein soll: ein funktioneller Berufungsersatz.418 Das Wiederaufnahmerecht laufe aber leer, wenn kein Wille zur Anwendung bestehe. Aus Verteidigersicht könne man zwar außerordentliche Rechtsmittel wie Verfassungsbeschwerde oder Menschenrechtsbeschwerde einlegen. Diese würden jedoch ebenso leerlaufen. Gegen den fehlenden Willen zur Rechtsanwendung sei der Verteidiger machtlos.419 Regionale Unterschiede im gerichtlichen Umgang mit Wiederaufnahmeverfahren wurden nicht berichtet.420 Die in den Bundesländern schwankende Anzahl von Wiederaufnahmeanträgen ließe sich auf Engagement und Spezialisierung der Verteidiger zurückführen. In Großstädten etwa seien engagiertere Strafverteidiger angesiedelt. Dem im ländlichen Gebiet angesiedelten Strafverteidiger fehle neben der Erfahrung die Diskussionsmöglichkeit mit Kollegen sowie der Zugang zu Fachbibliotheken.421 Die im Verhältnis höhere Antragsquote gegen landgerichtliche Entscheidungen wurde auf die härtere Bestrafung zurückgeführt. Zwar sei bei amtsgerichtlichen Urteilen von einer extrem hohen Fehlurteilsquote auszugehen, doch sei der Betroffene hier eher geneigt, das Urteil hinzunehmen.422 Nach landgerichtlichen Verurteilungen würden die Verurteilten mehr Ehrgeiz und Geld investieren, um das Urteil zu Fall zu bringen.423 Dass in erster Instanz umfassender ermittelt wurde und sich das Gericht größere Mühe bei der Ur414  Interview 415  Interview 416  Interview 417  Interview 418  Interview 419  Interview 420  Interview 421  Interview 422  Interview 423  Interview

Nr. 8 vom 14.12.2015, S. 10; Interview Nr. 9 vom 15.12.2015, S. 15. Nr. 10.2 vom 08.03.2016, S. 2. Nr. 12 vom 14.03.2016, S. 6. Nr. 13 vom 18.03.2016, S. 14. Nr. 11 vom 11.03.2016, S. 4. Nr. 10.2 vom 08.03.2016, S. 2. Nr. 10.2 vom 08.03.2016, S. 3. Nr. 10.2 vom 08.03.2016, S. 3 f. Nr. 10.2 vom 08.03.2016, S. 5. Nr. 13 vom 18.03.2016, S. 4 f.

272

Teil 2: Eigene Untersuchung und Reformvorschläge

teilsabsetzung gibt, führe für den Verteidiger zu Schwierigkeiten bei der Erarbeitung des Antrags.424 Hervorzuheben ist in diesem Kontext zugleich Folgendes: „(…) die Richterin xxx in xxx, (…) (w)ar (…) eine ganz faire Richterin, die hat sich dann im Namen der Justiz beim Mandanten entschuldigt. Im Gerichtssaal. Ja, das fand ich echt eine sehr eindrucksvolle Geste.“425

Aus der eigenen wiederaufnahmerechtlichen Praxis berichtete man von folgenden Problemkreisen: – Abgekürzte Berufungsurteile beinhalten kaum Ausführungen, die wiederaufnahmerechtlich angegriffen werden können.426 – Zeugen würden wiederholt befragt: Zunächst wurde der Zeuge vom Verteidiger den Zeugen befragt, dann von der Polizei, dann vom Wiederaufnahmegericht im Probationsverfahren und schließlich folgte noch die Befragung in der erneuten Hauptverhandlung.427 – Das Wiederaufnahmeverfahren habe lange gedauert.428 – Im Wiederaufnahmeverfahren habe der gleiche psychiatrische Gutachter wie im Ausgangsverfahren mitgewirkt.429 – Die Mitwirkung eines Zeugen könne – trotz erweiterter Darlegungslasten – nicht erzwungen werden.430 – Strafverteidiger müssen besser mit Komplementärwissenschaften kooperieren.431 – Die Ungewissheit, ob die Anordnung einer Maßregel einen Fall der günstigen oder der ungünstigen Wiederaufnahme nach sich zieht.432 – Die Abgrenzung von Tatsachen und Beweisergebnissen. Bei Beweisergebnissen handle es sich um Schlussfolgerungen. Für die Wiederaufnahme eines Verfahrens sei jedoch bereits ausreichend, wenn einzelne Tatsachen durch neue widerlegt würden.433 424  Interview 425  Interview 426  Interview 427  Interview 428  Interview 429  Interview 430  Interview

S. 22.

431  Angaben

Nr. 13 vom 18.03.2016, S. 4 f. Nr. 6 vom 09.11.2015, S. 9. Nr. 3 vom 12.10.2015, S. 14. Nr. 4 vom 19.10.2015, S. 7. Nr. 4 vom 19.10.2015, S. 7. Nr. 6 vom 09.11.2015, S. 10. Nr. 8 vom 14.12.2015, S. 4; Interview Nr. 10.2 vom 08.03.2016,

II vom 12.10.2015, S. 1. Nr. 1 vom 14.09.2015, S. 11. Zur Frage ob die Nichtanordnung einer Maßregel eine Beschwer darstellt: KMR-Eschelbach, § 359 / 14 ff. 433  Interview Nr. 10.1 vom 29.09.2015, S. 3. 432  Interview



B. Eigene Untersuchung273

Auch die Strafrechtswissenschaft sah sich wegen ihrer Untätigkeit kritisiert. So fehle etwa Tatsachenforschung dazu, ob richterliche Kontrolle funktioniert.434 Im Zusammenhang mit der wiederaufnahmerechtlichen Praxis wurden die befragten Verteidiger auch gefragt, ob die Betroffenen gegen die ablehnende Entscheidung über die Zulässigkeit des Wiederaufnahmeantrags Rechtsmittel einlegen. Ein Verteidiger berichtete davon, in jedem der Wiederaufnahme­ verfahren den Beschwerdeweg beschritten zu haben.435 Eine Verfassungsbeschwerde würden die Betroffenen im Regelfall aber nicht wünschen.436 Hierbei stelle sich u. a. das Problem, dass materielle Wahrheit im Verfassungsbeschwerdeverfahren nicht aufzuklären sei.437 Werde das Bundesverfassungsgericht angerufen – was in den wenigsten Fällen geschehe – werde die Beschwerde in der Regel auch nicht zur Entscheidung angenommen.438 Ein Experte erachtete die Anrufung des Bundesverfassungsgericht als wichtig, um auch dort Verständnis für das Wiederaufnahmerecht zu wecken. Er habe daher in allen Fällen Verfassungsbeschwerde eingereicht, in mehreren Fällen auch Menschenrechtsbeschwerde. Diese hätten ebenfalls keinen Erfolg gehabt.439 22. Gründe für das Scheitern von Wiederaufnahmeanträgen In der Literatur wird angenommen, dass sich die Strafjustiz im Wiederaufnahmeverfahren in eine Verteidigungsstellung begeben hat, die jeden Angriff auf eine rechtskräftige Entscheidung abzuwehren versucht.440 Gegen Wiederaufnahmeverfahren bestehe eine strukturelle Voreingenommenheit aller Strafrichter.441 Auch nach Einführung von § 23 Abs. 2 StPO und § 140a GVG habe sich nichts geändert. Vielmehr sei die Einstellung der Richterschaft als Gruppe maßgeblich.442 Die Judikatur stehe Wiederaufnahmeverfahren etwa aufgrund einer empfundenen Sicherheit in die richterliche ­Urteilsfähigkeit und dem Bedürfnis eines Sachabschlusses abneigend gegen434  Interview

Nr. 12 vom 14.03.2016, S. 1 f. Nr. 5 vom 27.10.2015, S. 4. 436  Interview Nr. 3 vom 12.10.2015, S. 20; Interview Nr. 6 vom 09.11.2015, S. 20; Interview Nr. 11 vom 11.03.2016, S. 1. 437  Interview Nr. 8 vom 14.12.2015, S. 23. 438  Interview Nr. 5 vom 27.10.2015, S. 4; Interview Nr. 8 vom 14.12.2015, S. 3; Interview Nr. 10.2 vom 08.03.2016, S. 27; Interview Nr. 11 vom 11.03.2016, S. 1. 439  Interview Nr. 10.2 vom 08.03.2016, S. 27. 440  MAH Strafverteidigung-Strate, § 27 / 5. 441  KMR-Eschelbach, § 372 / 35. 442  Peters, Strafprozeß, S. 46. 435  Interview

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Teil 2: Eigene Untersuchung und Reformvorschläge

über.443 Schließlich stehe besonders der Wiederaufnahmerichter Anträgen skeptisch gegenüber, da für ihn fraglich sei, ob er ein besseres Urteil fällen könne, zumal er nicht auf Grund einer mündlichen Hauptverhandlung ­Beweise würdigen und ein Urteil fällen kann.444 Dies führe dazu, dass die Erfolgsaussichten eines Antrags auf Wiederaufnahme des Verfahrens der „Chance, mit einem Schilfboot einen Tsunami zu überstehen“, entsprechen würden.445 Peters bemerkte bei seiner Aufarbeitung von Wiederaufnahmeverfahren, dass solche Verfahren, die in der Öffentlichkeit Beachtung gefunden hatten bzw. in denen zäh um die Schuld des Angeklagten gerungen wurde, wenig Chancen auf Erfolg hatten. Auch die Komplexität des Sachverhalts hatte Auswirkung darauf, ob das Verfahren wiederaufgenommen wurde oder nicht. So waren etwa Anträge, die unter Bezugnahme auf ein Sachverständigengutachten auf Schuldunfähigkeit abstellten, relativ problemlos durchführbar.446 Zugleich wird angenommen, dass ein Urteil umso weniger in Frage gestellt wird, je schwerer die Rechtsfolgen sind, zu denen der Betroffene verurteilt wurde.447 Andererseits wird in der Literatur auch angenommen, dass in der Praxis Wiederaufnahmeanträge nicht selten missbräuchlich oder mit offensichtlich unerreichbarem Ziel gestellt werden, oder ihre Zulassung erschlichen wird. Dies rechtfertige eine strenge Prüfung des Antrags und die in der Praxis feststellbare Zurückhaltung.448 Probleme, die zum Scheitern des Wiederaufnahmeantrags führen, werden in der Literatur auch im Rahmen der Recherchetätigkeit im Vorfeld eines Wiederaufnahmeantrags reklamiert (fehlende Mitwirkung von Zeugen, fehlende Untersuchungsmöglichkeit von Spuren, fehlender Zugriff auf Aktenmaterial, etc.).449 Die größte, für die meisten Wiederaufnahmebegehren unüberwindliche Hürde stelle das Aditionsverfahren dar.450 Aus den geführten Gesprächen bestätigt sich, dass die erste Hürde des Wiederaufnahmeverfahrens noch vor den prozessualen Hürden liegt, wenn z. B. angekündigte Beweismittel dem Antragsteller keine Informationen an

443  Peters,

Strafprozeß, S. 46. Strafprozeß, S. 635. 445  Paeffgen, GA 2013, 253, 265. 446  Peters, Fehlerquellen im Strafprozeß III, S. 16. 447  Eschelbach / Geipel / Hettinger / Meller / Wille, GA 2018, 238, 239. 448  Fuchs, JuS 1969, 516, 517. 449  MAH Strafverteidigung-Strate, § 27 / 11. 450  MAH Strafverteidigung-Strate, § 27 / 67. 444  Peters,



B. Eigene Untersuchung275

die Hand geben451 und das für das Wiederaufnahmeverfahren erforderliche Tatsachenmaterial nicht beschafft werden kann. Ein Problem stelle die Vernichtung von Asservaten dar. Etwa bei Mordverurteilungen sollten Asservate daher so lange aufbewahrt werden, wie der Verurteilte lebt. Allgemein sei die Aufbewahrungspflicht für Asservate aber nicht auf bestimmte Deliktsbereiche zu beschränken, da dies andernfalls zu einer Privilegierung bestimmter Delikte führen würde. Die Aushändigung an den Betroffenen sei indes keine Alternative zur amtlichen Aufbewahrung, da damit das Beweismaterial entwertet würde.452 Die Experten monierten, dass es viele fehlerhafte Urteile gäbe und die Wiederaufnahmevorschriften so eng gefasst seien, dass nicht jedes Fehlurteil im Wege der Wiederaufnahme anfechtbar sei.453 Dass Wiederaufnahmeanträge in der Praxis scheitern, wurde von den Experten auf die geltende Rechtslage zurückgeführt: „Das Wiederaufnahmerecht ist ein gesetzliches Nadelöhr. Und dieses Nadelöhr wird von einem unwilligen Gericht noch mehr verkleinert als es der Gesetzgeber eh schon klein gemacht hat. Es müssen ja vom verurteilten Täter völlig neue Tatsachen oder Beweismittel von einer solchen Erheblichkeit vorgetragen werden, dass diese die Prognose einer künftigen Freisprechung begründen. Es reicht also nicht, wenn nur Zweifel am Urteil erweckt werden können.“454

Neben den gesetzlichen Hürden seien auch die durch die Rechtsprechung entwickelten Hürden zu beklagen,455 die dazu führen, dass das Wiederaufnahmerecht nicht effektiv sei.456 „Das ist das gelebte Problem der Wiederaufnahme: dass die Schwellen so hoch gesetzt werden, dass selbst fundierte und begründete, also wirklich objektiv begründete Wiederaufnahmeanträge nicht durchgehen.“457

Zwar sei die Rechtskraft wichtig.458 Doch seien die formalen Hürden zu deren Überwindung so hoch459 wie etwa die von der Rechtsprechung tolerierte Beweisantizipation im Aditionsverfahren falsch: 451  Interview

Nr. 6 vom 09.11.2015, S. 19. Nr. 10.2 vom 08.03.2016, S. 7 f. 453  Interview Nr. 8 vom 14.12.2015, S. 5 f. 454  Interview Nr. 4 vom 19.10.2015, S. 13. 455  Interview Nr. 4 vom 19.10.2015, S. 13; Interview Nr. 7 vom 16.11.2015, S. 9; Interview Nr. 10.1 vom 29.09.2015, S. 3; Angaben I vom 11.02.2016, S. 2; Angaben II vom 12.10.2015, S. 2. 456  Interview Nr. 5 vom 27.10.2015, S. 23. 457  Interview Nr. 5 vom 27.10.2015, S. 22. 458  Interview Nr. 5 vom 27.10.2015, S. 22. 459  Interview Nr. 1 vom 14.09.2015, S. 10; Interview Nr. 5 vom 27.10.2015, S. 20; Interview Nr. 8 vom 14.12.2015, S. 7; Interview Nr. 7 vom 16.11.2015, S. 6. Die restriktive Gesetzesanwendung, deren Folge die Abwehr von mitunter auch berechtigten 452  Interview

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Teil 2: Eigene Untersuchung und Reformvorschläge

„(D)ie in der Rechtsprechung gewachsenen Möglichkeiten, dass in der Zulässigkeit eine Beweisantizipation vorgenommen werden kann, dass eine erweiterte Darlegungslast in allen möglichen Bereichen auferlegt wird, dass es auch offensichtlich möglich ist, eigene Beweiswürdigung mit einzubringen in die Entscheidung eines Wiederaufnahmegerichts. Also das, was die Rechtsprechung in der Zulässigkeitsprüfung noch für zulässig erachtet, das ist aus meiner Sicht die Problematik. Wenn es so sein sollte, wie es der Grundsatz sagt, alles was vorgetragen ist, dazu ist zu unterstellen, dass es richtig ist, und dass die Beweismittel auch Beweiskraft ist – wenn es wirklich so wäre, dann wäre ein Zulässigkeitsverfahren, wenn es sauber geführt wird und der notwendige „Nachweis“ durch den Betroffenen erbracht wird, eine Prüfungsstufe, die mir eingängig ist und die ich gut finde.“460

Auch die vom Antragsteller abverlangte Darlegungslast wurde als eine dieser Hürden reklamiert461, wie auch die Anforderungen an die Geeignetheit des Vorbringens überspannt würden.462 So könne sich der Antragsteller nicht auf Zweifel am Urteil berufen, sondern müsse vielmehr den Beweis seiner Unschuld sowie die Prognose eines künftigen Freispruchs erbringen.463 Während ein Wiederaufnahmeantrag als unsubstantiiert bzw. unplausibel zurückgewiesen werde, spekuliere das Wiederaufnahmegericht in Alternativsachverhalten.464 Die Rechtsprechung halte sich also bisweilen nicht an ihre eigenen Vorgaben.465 Das Kernproblem sei aber die tatsächliche Handhabung der Zulässigkeitsprüfung de facto als Begründetheitsprüfung466, innerhalb derer wohl noch das Problem der Novität dazu führen könne, dass ein Wiederaufnahmegesuch ins Leere läuft.467 Ein weiteres Problem jenseits formaler Prozessualität tauche auf, wenn auf begründete Argumente nicht eingegangen oder das Gesuch mit falschen Argumenten zurückgewiesen würde.468 Anträgen ist, wird auch auf eine Überdehnung der formalen Voraussetzungen zurückgeführt, vgl. KMR-Eschelbach, § 366 / 4. 460  Interview Nr. 8 vom 14.12.2015, S. 8 f. 461  Interview Nr. 2 vom 28.09.2015, S. 26; Interview Nr. 3 vom 12.10.2015, S. 9; Interview Nr. 5 vom 27.10.2015, S. 3, 6 und 22; Interview Nr. 8 vom 14.12.2015, S.  9 f. 462  Interview Nr. 5 vom 27.10.2015, S. 3 und 22. 463  Interview Nr. 4 vom 19.10.2015, S. 13; Geipel, in: Miebach / Hohmann, Wiederaufnahme in Strafsachen, Teil A, Rz. 31. 464  Interview Nr. 1 vom 14.09.2015, S. 8; Interview Nr. 5 vom 27.10.2015, S. 22. 465  Interview Nr. 12 vom 14.03.2016, S. 8. 466  Interview Nr. 8 vom 14.12.2015, S. 7 f. und 12; Interview Nr. 9 vom 15.12.2015, S. 12. 467  Interview Nr. 12 vom 14.03.2016, S. 20; Interview Nr. 13 vom 18.03.2016, S. 10. 468  Interview Nr. 10.1 vom 29.09.2015, S. 3.



B. Eigene Untersuchung277

Die bereits in der Literatur vorhandene Vermutung, es gäbe Richter, die sich nicht vorstellen könnten, dass ein Richter ein Fehlurteil fällt469 und auf dem durch ein getroffenes Urteil eingetretenen Rechtsfrieden beharren470, wird durch die Praktiker bestätigt. Dies führe zu einer Abneigung gegenüber Wiederaufnahmegesuchen.471 Ein Experte führte aus: „(D)as halte ich wirklich für ganz große Crux, dass die versuchen, wirklich diese Verfahren zu vermeiden, wie es irgendwie geht.“472

Die Justiz habe – bedingt durch die Aufklärungsmaxime – generell das Verständnis, keine Fehler zu machen.473 Da die Justiz zudem keine Fehlerkultur habe, würden sich Gerichte scheuen, Fehlurteile zu korrigieren.474 Ein Gesprächspartner betonte: „Die Justiz ist ein Glaubensgebäude, das an Gerechtigkeit glauben will.“475

Mit einem Wiederaufnahmeverfahren gehe die Justiz das Risiko ein, das Gesicht zu verlieren. Dies hemme Fehler in den eigenen Reihen einzuräumen.476 Hinzu komme, dass die in Bayern existierende Laufbahnverzahnung zwischen Gerichten und Staatsanwaltschaften dazu beitrage, dass keine funktionierende Überwachung und Kontrolle von Entscheidungen stattfinde.477 Zu unterstellen sei, dass die Erfolgsquote von Wiederaufnahmeanträgen in den Bundesländern, in denen es eine Laufbahnverflechtung zwischen Staatsanwaltschaft und ordentlicher Gerichtsbarkeit gäbe, geringer sei.478 Diese fehlende Fehlerkultur führe dazu, dass Gerichte sich scheuen, Fehlurteile zu korrigieren.479 Sie habe ihre Ursache im justiziellen Selbstver-

469  Wasserburg, Die Wiederaufnahme des Strafverfahrens, S.  282  f.; Interview Nr. 4 vom 19.10.2015, S. 11; Interview Nr. 5 vom 27.10.2015, S. 13; Interview Nr. 7 vom 16.11.2015, S. 7; Interview Nr. 8 vom 14.12.2015, S. 6; Interview Nr. 8 vom 14.12.2015, S. 10 f.; Interview Nr. 9 vom 15.12.2015, S. 11 f. 470  Interview Nr. 7 vom 16.11.2015, S. 7. 471  Interview Nr. 10.1 vom 29.09.2015, S. 3; Interview Nr. 1 vom 14.09.2015, S. 10. 472  Interview Nr. 1 vom 14.09.2015, S. 10. 473  Interview Nr. 8 vom 14.12.2015, S. 10 f. 474  Interview Nr. 5 vom 27.10.2015, S. 12. 475  Interview Nr. 10.1 vom 29.09.2015, S. 3. 476  Interview Nr. 2 vom 28.09.2015, S. 15; Interview Nr. 4 vom 19.10.2015, S. 11. 477  Interview Nr. 5 vom 27.10.2015, S. 12. Für eine Beseitigung des Karrierewechsels auch Schünemann, Legitimation durch Verfahren?, StraFo 2015, 177, 185. 478  Interview Nr. 11 vom 11.03.2016, S. 9. 479  Interview Nr. 5 vom 27.10.2015, S. 12 f.; Interview Nr. 8 vom 14.12.2015, S. 6; Interview Nr. 9 vom 15.12.2015, S. 17; Interview Nr. 11 vom 11.03.2016, S. 9.

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Teil 2: Eigene Untersuchung und Reformvorschläge

ständnis, keine Fehler machen zu dürfen und zur Aufklärung verpflichtet zu sein.480 Die Gesprächspartner schilderten weiter, dass Wiederaufnahmegerichte Gesuche abblocken481, noch bevor das Verfahren die Probationsstufe erreicht hat.482 Wenn das Gericht dem Wiederaufnahmegesuch bereits mit dem Vorurteil begegne, dass das Urteil richtig sei, seien leicht Gründe zu finden, weshalb der Wiederaufnahmegrund doch nicht greife.483 Es entstehe der Eindruck, dass die Justiz froh sei, wenn der Antrag fehlerbehaftet ist.484 Die Justiz scheue die Arbeit,485 was auch auf ihre Überlastung zurückgeführt wurde: „Wir sind da natürlich wieder bei diesem Problem, der Richter, der hier entscheidet kann sich dann quasi ein Verfahren ans Bein nageln. Ich will keinem Richter unterstellen, er ist faul und will das nicht machen, nur wir wissen auch, dass bei uns die Justiz gnadenlos absäuft. Und ich kann jeden Richter dann auch verstehen, der sagt, wenn ich es irgendwo scheitern lassen kann, bevor ich mir wieder 20 Hauptverhandlungstage ans Bein binde, obwohl ich sowieso schon eine Überlastungsanzeige gestellt habe, dann lassen wir es daran scheitern. Kann ich jeden verstehen, der das dann macht. So gesehen haben wir da natürlich das nächste Problem wieder: dass, wenn er jetzt diese Hinweispflicht nicht hat und nicht ein Gesetz hat, wird er es auch nicht machen. Oder möglicherweise nicht machen, weil klar, wir haben es ja auch schon erlebt, dass Richter gesagt haben, ja – auch Landgerichte, die die Wiederaufnahme für zulässig erklärt hatten – nur das ist halt das Problem: Wahrscheinlich, weil der Richter dann selber entscheidet, naja, habe ich die Möglichkeit, was heißt die Arbeit zu ersparen aber mir nicht noch mehr reinzuhauen als ich ohnehin schon habe, oder kann ich mir zumindest die ein, zwei, fünf, zehn, 20 Hauptverhandlungstage ersparen.“486

Ein Verteidiger schilderte: „Nehmen wir mal den Klassiker: der entscheidende Belastungszeuge sitzt in der Kneipe und erzählt dabei, dass er das Gericht da richtig gut über den Leisten gezogen hat. Gut, also er sagt, er lügt, er hat gelogen und dafür benenne ich nun denjenigen, der das gehört hat. Und da benenne ich natürlich auch den Belastungszeugen und sage, ok, der hat das und das gesagt; und neue Tatsachen, neue Beweismittel. Also, er ist natürlich kein neues Beweismittel, aber für die neue Tatsache jeden480  Interview

Nr. 8 vom 14.12.2015, S. 11. Nr. 10.1 vom 29.09.2015, S. 3; Angaben I vom 11.02.2016, S. 2. 482  Interview Nr. 1 vom 14.09.2015, S. 8. 483  Interview Nr. 11 vom 11.03.2016, S. 9. Das Vorurteil wird auch von Hirschberg, Das Fehlurteil im Strafprozeß, S. 105 als die größte Gefahr für das richtige Urteil bezeichnet. 484  Interview Nr. 8 vom 14.12.2015, S. 6; Interview Nr. 10.2 vom 08.03.2016, S.  2 f. 485  Interview Nr. 2 vom 28.09.2015, S. 14. 486  Interview Nr. 5 vom 27.10.2015, S. 8. 481  Interview



B. Eigene Untersuchung279 falls, dass er das gesagt hat. Welche Begründung sie dann alle bringen, dass der Zeuge das zwar gesagt haben könnte, ja das stellen die gar nicht in Abrede, aber dass er doch nicht diesen konkreten Fall gemeint hat und in der Aussage doch nicht dieser Punkt betroffen sei, sondern allenfalls eine generelle Gemütsäußerung, es habe den Richtigen getroffen usw. Also, was da an Arbeit geleistet wird, um zu sagen, genau dieser Punkt, der für die Überzeugungsbildung des Gerichts maßgeblich gewesen sei, der sei nicht betroffen. Also, da lassen sie sich ne riesige Büchse einfallen, warum es nicht relevant ist. Und gehen dann auch gar nicht den zweiten Schritt ihn erstmal vor Anordnung der Hauptverhandlung hören wollen in diesem Probationsverfahren, sondern sie sagen von vornherein, weg damit. Ich vermute, der Hintergrund ist einfach, die befürchten, dass der substantiiert das in dem zweiten Schritt darlegt, und das wollen sie sich nach Aktenlage vom Hals halten.“487

Auf begründete Argumente des Wiederaufnahmeführers werde oft nicht eingegangen bzw. das Gesuch mit Pseudoargumenten zurückgewiesen.488 Druck zugunsten des Antragstellers könne durch die Öffentlichkeit und Medien aufgebaut werden.489 Hierbei sei jedoch zu bedenken, dass öffent­ licher Druck auch schnell einen Schulterschluss in der Justiz verursachen könne.490 Ein weiterer Gesprächspartner gab an: „Also generell wird man sagen können, dass sich niemand gern korrigiert und eine Fehlentscheidung einräumt. Das ist menschlich. Im Wiederaufnahmeverfahren entscheiden darüber ja nicht die Richter die die Verurteilung ausgesprochen haben, sondern ein anderer Spruchkörper, noch dazu an einem örtlich anderen Gericht. Aber man tritt sich eben auch nicht so gern wechselseitig auf die Füße. Es gibt wahrscheinlich oft eine bewusste oder unbewusste Richtersolidarität. Oder -kollegialität. Davon war erfreulicherweise das Gericht im Fall xxx in xxx frei. In xxx Justizkreisen soll man angeblich ziemlich empört darüber gewesen sein, wie man den Vorsitzenden Richter, der das Fehlurteil im Fall xxx mitzuverantworten hatte, in xxx als Zeugen vorgeführt hat. Aber das muss nicht stimmen, ich habe es ja nur im Flurfunk gehört.“491

Da jeder Wiederaufnahmerichter selbst Instanzrichter sei, werde die Rechtskraft und damit auch die Standesehre verteidigt.492 Die Richtersolidarität gelte unabhängig davon, dass als Wiederaufnahmegericht ein anderes Gericht zuständig sei.493 Hinzu komme, dass das Gericht, das die Wiederauf487  Interview

Nr. 1 vom 14.09.2015, S. 8 f. Nr. 1 vom 14.09.2015, S. 12; Interview Nr. 10.1 vom 29.09.2015, S. 3; Interview Nr. 10.2 vom 08.03.2016, S. 2; Angaben II vom 12.10.2015, S. 2. 489  Interview Nr. 2 vom 28.09.2015, S. 15. 490  Interview Nr. 8 vom 14.12.2015, S. 10. 491  Interview Nr. 4 vom 19.10.2015, S. 11 f., wobei das Zitat vom Gesprächspartner überarbeitet wurde. 492  Interview Nr. 12 vom 14.03.2016, S. 22. 493  Interview Nr. 4 vom 19.10.2015, S. 11. 488  Interview

280

Teil 2: Eigene Untersuchung und Reformvorschläge

nahme des Verfahrens zulässt, sich selbst damit zusätzliche Arbeit auflade.494 Die ablehnende Haltung in der Wiederaufnahme sei auch eine Systemfrage: wer sich abweichend zum System verhalte, riskiere, gemobbt oder aber nicht mehr befördert zu werden.495 Dabei werde jedoch verkannt, dass der Antragsteller in der Wiederaufnahme nicht das Gericht angreift, sondern neue Umstände vorbringt, die eine andere Beurteilung des Sachverhalts rechtfertigen sollen.496 Die Justiz müsse offener und selbstkritischer mit Fehlentscheidungen umgehen und sich diesen stellen497: „Wenn ich sehe, da ist was eklatant falsch gelaufen, dann muss man auch so konsequent sein, das muss der Rechtstaat auch aushalten und auch sicherstellen, ok, da ist ein falsches Urteil gesprochen worden. Und sich dann hinstellen und sagen, ok, muss man korrigieren.“498

Am Selbstverständnis der Justiz lasse sich nur dann etwas ändern, wenn ihr vor Augen geführt werden kann, wie häufig tatsächlich Fehler gemacht würden.499 Peters betont, dass nicht die einzelne richterliche Persönlichkeitsstruktur hierfür ausschlaggebend sei, sondern vielmehr würde die Überbetonung der Rechtskraft aus der richterlichen Grundhaltung herrühren. Zudem sei die richterliche Psychologie und Soziologie zu berücksichtigen, die jedoch aufgrund ihrer Verwebung mit der richterlichen Arbeit, ihrer Zielrichtung und der betroffenen Interessen und schließlich auch der jeweiligen Persönlichkeitsstruktur nicht ohne Weiteres von außen und verallgemeinernd bewertet werden könne. Auch Sachdruck und fachliche Einstellungen hätten ihren Einfluss auf richterliche Entscheidungen. So sei insbesondere bei komplexen Sachverhalten naheliegend, dass der Wiederaufnahmerichter nicht die Verantwortung für ein „besseres“ Urteil übernehmen wolle, habe doch der Ausgangsrichter nach bestem Wissen entschieden und Verantwortung übernommen. Zudem führe auch der anzunehmende Beweisverlust mit Zeitablauf, verbunden mit der Annahme, dass sich für entgegengesetzte Meinungen stets Gutachter finden ließen, dazu, dass Gerichte Wiederaufnahmeanträge zurückhaltend bearbeiten würden. Diese Zurückhaltung habe demnach einen ernstzunehmenden Hintergrund, zumal Richter stets in dem Willen, ein richtiges 494  Interview

Nr. 5 vom 27.10.2015, S. 8. Nr. 10.2 vom 08.03.2016, S. 12. 496  Interview Nr. 5 vom 27.10.2015, S. 13. 497  Interview Nr. 5 vom 27.10.2015, S. 13  f.; Interview Nr. 8 vom 14.12.2015, S. 11. 498  Interview Nr. 5 vom 27.10.2015, S. 15. 499  Interview Nr. 8 vom 14.12.2015, S. 11. 495  Interview



B. Eigene Untersuchung281

Urteil zu fällen, ihre Aufgabe auch darin sehen, das Recht zu wahren, seine Ordnung zu erhalten und die Hoheit des Rechts zu gewährleisten.500 Begründet wurde das – bundeseinheitliche501 – restriktive Verständnis der Wiederaufnahme in der gerichtlichen Praxis mit der ungerechtfertigten Überbetonung der Rechtssicherheit im Vergleich zur materiellen Wahrheit.502 Tatsächlich jedoch sei der materiellen Wahrheit ein höheres Gewicht beizumessen.503 Gefordert wurde daher unter Hinweis auf die verfassungsrecht­ lichen Garantien der Art. 19 Abs. 4 GG, des Rechtsstaatsprinzips sowie des fair-trial-Grundsatzes, die Zulässigkeitsvoraussetzungen zu vereinfachen, wo erhebliche Grundrechtsnachteile drohen.504 Befragt, ob eine Wechselbeziehung zwischen revisionsgerichtlicher Bestätigung und restriktiver Wiederaufnahmepraxis besteht, verneinten dies die Experten unter Hinweis auf den völlig anderen Prüfungsmaßstab.505 Nicht zuletzt würden Wiederaufnahmegesuche aber auch daran scheitern, dass die Urteile richtig seien.506 Außerdem seien die in der Wiederaufnahme tätigen Verteidiger regelmäßig zu unerfahren und nicht bereit, sich in die Materie des Wiederaufnahmerechts einzuarbeiten.507 Deshalb wurde wiederholt von qualitativ schlechten Anträgen berichtet.508 Das Grundproblem der Wiederaufnahme gegen landgerichtliche Entscheidungen sei, dass die Hauptverhandlung nicht dokumentiert werde, nur eine Tatsacheninstanz existiere und die Gerichte im Verfahren in der Regel keine Hinweise erteilen würden.509 23. Reformüberlegungen Die Experten wurden jeweils befragt, welche Reformen sie zur Optimierung des Wiederaufnahmerechts vorschlagen.

500  Peters,

Fehlerquellen im Strafprozeß III, S. 17 ff. Nr. 8 vom 14.12.2015, S. 10 f.; Interview Nr. 10.1 vom 29.09.2015,

501  Interview

S. 3.

502  Interview

Nr. 8 vom 14.12.2015, S. 8; Angaben II vom 12.10.2015, S. 2. Nr. 8 vom 14.12.2015, S. 8. 504  Interview Nr. 1 vom 14.09.2015, S. 17. 505  Interview Nr. 2 vom 28.09.2015, S. 19. 506  Interview Nr. 12 vom 14.03.2016, S. 8. 507  Interview Nr. 2 vom 28.09.2015, S. 26. 508  Interview Nr. 2 vom 28.09.2015, S. 26; Interview Nr. 3 vom 12.10.2015, S. 2; Interview Nr. 5 vom 27.10.2015, S. 22; Interview Nr. 9 vom 15.12.2015, S. 12. 509  Interview Nr. 11 vom 11.03.2016, S. 12. 503  Interview

282

Teil 2: Eigene Untersuchung und Reformvorschläge

Ein Verteidiger erachtete die Wiederaufnahmevorschriften für ausreichend effektiv.510 Drei der Befragten gaben an, dass auch eine Reformierung des Wiederaufnahmerechts keine Verbesserung in der praktischen Anwendung herbeiführen könnte.511 Die in der Praxis zu hoch angesetzte Schwelle könne jedoch durch die Rspr. des Bundesverfassungsgerichts korrigiert werden. Hierzu müsse sich das Bundesverfassungsgericht aber mit der Rspr. zum Wiederaufnahmerecht auch tatsächlich befassen, was aktuell nicht der Fall sei.512 Der Gesetzgeber könne und müsse sogar durch Reformierung des Wiederaufnahmerechts zu einer Verbesserung beitragen.513 Die Frage sei jedoch, ob er dies wolle.514 Die von der Rspr. entwickelten zu hohen Hürden, die das eigentliche Problem der praktischen Anwendung seien515, seien nur durch Richterrecht zu korrigieren.516 Bspw. müssten Gerichte skeptischer gegenüber polizeilicher Ermittlungsarbeit sein.517 Andere Gesprächspartner hielten zur Korrektur der durch Richterrecht gesetzten Hürden ein Einschreiten des Gesetzgebers für erforderlich.518 Im Optimalfall werde das Wiederaufnahmerecht reformiert und die Einstellung der Gerichte ändere sich.519 Die Gesprächspartner äußerten folgende konkrete Reformvorschläge: – Die Einführung eines Beweises des ersten Anscheins, um die Zulässigkeitsprüfung zu erleichtern.520 – Die Einführung einer Beweislastumkehr für neue und entscheidungserhebliche Tatsachen, die in den Urteilsgründen nicht erwähnt sind.521

510  Interview

Nr. 5 vom 27.10.2015, S. 20. Nr. 2 vom 28.09.2015, S. 16; Interview Nr. 5 vom 27.10.2015, S. 23; Interview Nr. 10.1 vom 29.09.2015, S. 3. Ein Gesprächspartner zog die Schaffung einer Instanz außerhalb der Justiz zur neutralen Überprüfung einer gerichtlichen Entscheidung in Erwägung, vgl. Interview Nr. 10.2 vom 08.03.2016, S. 12. 512  Interview Nr. 5 vom 27.10.2015, S. 23. 513  Interview Nr. 4 vom 19.10.2015, S. 14; Interview Nr. 7 vom 16.11.2015, S. 12; Interview Nr. 11 vom 11.03.2016, S. 4; Interview Nr. 12 vom 14.03.2016, S. 28. 514  Interview Nr. 4 vom 19.10.2015, S. 14; Interview Nr. 6 vom 09.11.2015, S. 18. 515  So u.  a. Interview Nr. 9 vom 15.12.2015, S. 16 und Interview Nr. 13 vom 18.03.2016, S. 12. 516  Interview Nr. 5 vom 27.10.2015, S. 23; Interview Nr. 6 vom 09.11.2015, S. 18. 517  Interview Nr. 9 vom 15.12.2015, S. 16. 518  Interview Nr. 7 vom 16.11.2015, S. 12. 519  Interview Nr. 9 vom 15.12.2015, S. 16. 520  Interview Nr. 1 vom 14.09.2015, S. 12. 521  Interview Nr. 1 vom 14.09.2015, S. 12. 511  Interview



B. Eigene Untersuchung283

– Die Anerkennung des Zweifelsgrundsatzes im Aditionsverfahren, um im Zweifel die Zulässigkeit anzunehmen und das Probationsverfahren durchzuführen.522 – Die Normierung einer Hinweispflicht zur Vermeidung von Überraschungsentscheidungen.523 – Die Entwicklung des Wiederaufnahmeverfahrens hin zu einem Dialog, der schriftlich zu dokumentieren ist.524 – Die Anwendbarkeit der §§ 359 ff. StPO auch auf Bewährungswiderrufsbeschlüsse.525 – Die vereinfachte Möglichkeit der Wiederaufnahme gegen abgekürzte Berufungsurteile.526 – Die Zulassung der Strafmaßwiederaufnahme, u. a. bei Vorliegen der Voraussetzungen des § 21 StGB.527 – Die Normierung der Auswirkungen erfolgreicher Wiederaufnahmeverfahren auf Gesamtstrafen.528 – Die Anerkennung des Untersuchungsgrundsatzes im Wiederaufnahmerecht.529 – Herabsenken der Zulässigkeitsschwelle im Rahmen des § 359 Nr. 5 StPO durch Veränderung des Überzeugungsmaßstabs. Für die Zulässigkeit sollten erhebliche Zweifel – keine Freispruchsprognose – am Urteil ausreichen.530 – Die Dokumentation der Hauptverhandlung.531 Jedenfalls aber ein umfassendes Dokumentationsrecht der Verteidigung.532

522  Interview

S. 25.

Nr. 1 vom 14.09.2015, S. 12; Interview Nr. 10.2 vom 08.03.2016,

523  Interview Nr. 2 vom 28.09.2015, S. 24; Interview Nr. 3 vom 12.10.2015, S. 13; Interview Nr. 11 vom 11.03.2016, S. 4. 524  Interview Nr. 10.2 vom 08.03.2016, S. 14. 525  Interview Nr. 3 vom 12.10.2015, S. 5. 526  Interview Nr. 3 vom 12.10.2015, S. 14. 527  Interview Nr. 3 vom 12.10.2015, S. 18; Interview Nr. 8 vom 14.12.2015, S. 17. 528  Interview Nr. 3 vom 12.10.2015, S. 19. In der Rechtsprechung anerkannt ist, dass die Gesamtstrafe entfällt, wenn die Wiederaufnahme bzgl. einer von mehreren tatmehrheitlicher Taten angeordnet wird, vgl. BGHSt 14, 84, 88 f. 529  Interview Nr. 7 vom 16.11.2015, S. 6. 530  Interview Nr. 4 vom 19.10.2015, S. 14. 531  Interview Nr. 4 vom 19.10.2015, S. 15; Interview Nr. 8 vom 14.12.2015, S. 17. 532  Interview Nr. 10.1 vom 29.09.2015, S. 1.

284

Teil 2: Eigene Untersuchung und Reformvorschläge

– Die Anhebung der nach dem StrEG zu leistenden Entschädigungszahlungen.533 – Die Einführung einer Legaldefinition des Begriffs der Novität i. S. d. § 359 Nr. 5 StPO.534 – Die gesetzliche Normierung des zulässigen Umfangs der Geeignetheitsprüfung.535 – Die zwingende Anordnung einer Vollstreckungsunterbrechung mit der Zulässigkeit des Antrags.536 – Die Zuständigkeit des Erstgerichts für die Aditionsprüfung.537 – Die Normierung einer Aufbewahrungspflicht für Asservate538 bis zur fiktiven absoluten Verjährung.539 – Die Normierung einer Möglichkeit für den Verteidiger, Justizermittlungen in Gang zu setzen sowie einer staatsanwaltschaftlichen Unterstützungspflicht bei eigenen Ermittlungen des Verteidigers.540 – Die Umstrukturierung des justiziellen Systems: das Richteramt darf erst nach mehrjähriger Berufserfahrung, u. a. als Strafverteidiger, ausgeübt werden.541 – Die Änderung der Zuständigkeit für die Beiordnung eines Pflichtverteidigers gem. §§ 364a, b StPO.542 – Eine Reformierung der §§ 364a, b StPO: für die Wiederaufnahme ist stets ein neuer Verteidiger beizuordnen.543 – Eine Veränderung des Pensenschlüssels für die Bearbeitung eines Wiederaufnahmeverfahrens.544 533  Interview 534  Interview

S. 27.

Nr. 4 vom 19.10.2015, S. 15. Nr. 8 vom 14.12.2015, S. 20; Interview Nr. 12 vom 14.03.2016,

535  Interview Nr. 8 vom 14.12.2015, S. 21; Interview Nr. 11 vom 11.03.2016, S. 4; Interview Nr. 12 vom 14.03.2016, S. 28. 536  Interview Nr. 8 vom 14.12.2015, S. 24. Ablehnend: Interview Nr. 10.2 vom 08.03.2016, S. 24. 537  Interview Nr. 9 vom 15.12.2015, S. 12 f. 538  Interview Nr. 9 vom 15.12.2015, S. 14 und 27. 539  Interview Nr. 9 vom 15.12.2015, S. 14. 540  Interview Nr. 10.1 vom 29.09.2015, S. 3. 541  Interview Nr. 10.1 vom 29.09.2015, S. 3 f.; Interview Nr. 11 vom 11.03.2016, S. 11. 542  Interview Nr. 10.2 vom 08.03.2016, S. 8. 543  Interview Nr. 10.2 vom 08.03.2016, S. 9. 544  Interview Nr. 10.2 vom 08.03.2016, S. 17.



B. Eigene Untersuchung285

– Die Abschaffung des revisionsrechtlichen Rekonstruktionsverbots.545 – Die Einführung einer mündlichen Verhandlung über die Zulässigkeit des Antrags.546 – Die Normierung eines Erstattungsanspruchs für bezahlte Geldstrafen nach Erfolg der Wiederaufnahme.547 – Die Erstreckung der Anordnung der Wiederaufnahme auf Mitangeklagte, parallel zu § 357 StPO. Jedenfalls aber Normierung einer Antragspflicht von Amts wegen.548 Zur Frage der Erstreckung der Wiederaufnahmeanordnung auf andere Mit­ angeklagte erscheint folgende Schilderung lehrreich: „Und das war ja so, dass trotzdem ja die Frau xxx und der Herr xxx auch diese ganzen Punkte sehr ausführlich dargestellt haben. Hat ja die Staatsanwaltschaft bei der Stellungnahme nach wie vor auch darauf beharrt, dass es kein Wiederaufnahmeverfahren geben dürfe. Und haben dann aber nicht, obwohl die drei draußen waren oder die drei durch waren mit der Wiederaufnahme, haben die überhaupt nichts gemacht, dass der letzte noch einsitzende Mandant, dass der halt sozusagen von Amts wegen in diesen Genuss eines Wiederaufnahmeverfahrens kommt. Also, das wäre ein Punkt, auf jeden Fall, bei dem man nachforschen müsste, ob das von Amts wegen auch funktionieren müsste, wenn bei der selben Tateinheit sozusagen mehrere Beschuldigte davon Wiederaufnahme durchsetzen können, weil sich die Beweislage geändert hat. Warum dann nicht automatisch für die Übrigen das nicht auch gelten darf? Das wäre aus meiner Sicht durchaus ein wichtiger Punkt.“549

Eine grundsätzliche Ausdehnung des Wiederaufnahmerechts durch Einführung weiterer Wiederaufnahmegründe wurde nicht befürwortet. Andernfalls habe der Antragsteller mit dem außerordentlichen Rechtsbehelf der Wiederaufnahme eine rechtliche Handhabe, die weiter gehe, als die ordentlichen Rechtsmittel.550 Ebenso wurde betont, dass die Anforderungen des Gesetzes zwar herabgesenkt werden sollten, die Wiederaufnahme aber auch nicht zur zweiten Regeltatsacheninstanz umfunktioniert werden dürfe.551

545  Interview

Nr. 10.2 vom 08.03.2016, S. 27. Nr. 11 vom 11.03.2016, S. 4. S. hierzu oben S. 251 ff. 547  Interview Nr. 13 vom 18.03.2016, S. 14. Eine Geldleistung kann im Wege des öffentlich-rechtlichen Erstattungsanspruchs zurückgefordert wird, wobei sich hierbei die Frage stellen dürfte, ob die Zahlungs rechtsgrundlos erfolgte. 548  Interview Nr. 6 vom 09.11.2015, S. 4 f.; Interview Nr. 10.2 vom 08.03.2016, S. 24. 549  Interview Nr. 6 vom 09.11.2015, S. 5. 550  Interview Nr. 3 vom 12.10.2015, S. 17. 551  Interview Nr. 4 vom 19.10.2015, S. 14. 546  Interview

286

Teil 2: Eigene Untersuchung und Reformvorschläge

Die Ausdehnung des Wiederaufnahmerechts auf Fälle fehlender erschöpfender Beweiswürdigung wurde von nahezu allen Befragten abgelehnt.552 Ein derartiger Wiederaufnahmegrund sei indes nicht nötig, da im Falle einer nicht erschöpfenden Beweiswürdigung die nicht erschöpfend gewürdigten Umstände als neue Tatsachen in der Wiederaufnahme vorgebracht werden können.553 Zudem könne die nicht erschöpfende Beweiswürdigung im Revisionsverfahren gerügt werden.554 Konkretisiert auf Fälle, in denen, abgesehen von einem Geständnis, keine weiteren Beweismittel hinzugezogen und gewürdigt worden sind, wurde die Wiederaufnahmemöglichkeit hier für nicht erforderlich angesehen, da das Gericht Geständnisse nicht unreflektiert entgegennehmen und zur alleinigen Urteilsgrundlage machen dürfe.555 Ein derartiger Wiederaufnahmegrund eröffne daher eine Missbrauchsmöglichkeit556 und führe zu einer Flut von Wiederaufnahmebegehren.557 Zudem würde er in der Konsequenz dazu führen, dass, im Vergleich zu einem auf § 359 Nr. 5 StPO gestützten Wiederaufnahmeantrag, gesteigerte erweiterte Darlegungslasten abzuverlangen wären.558 Folglich würden Richter wohl auch im Falle von Geständnissen eine vollumfängliche Beweisaufnahme durchführen, da andernfalls eine vereinfachte Wiederaufnahmemöglichkeit zu befürchten sei.559 Lediglich zwei Gesprächspartner befürworteten die Einführung eines Wiederaufnahmegrunds wegen fehlender erschöpfender Beweiswürdigung.560 Darüber hinaus lehnten die Gesprächspartner überwiegend die Ausdehnung der Wiederaufnahme auf Rechts- und Verfahrensfehler ab. So müssten Verfahrensfehler im Rechtsmittel des ersten Rechtszuges geltend gemacht werden.561 552  Interview Nr. 2 vom 14.09.2015, S. 7; Interview Nr. 5 vom 27.10.2015, S. 16; Interview Nr. 3 vom 12.10.2015, S. 11. 553  Interview Nr. 2 vom 14.09.2015, S. 7. Im Rahmen der Geeignetheitsprüfung des § 359 Nr. 5 StPO stelle sich jedoch das Problem der Darlegungslast. Der Antragsteller könne dieser nicht entsprechen, wenn das Tatgericht seiner Verpflichtung nicht genügt habe, vgl. Interview Nr. 9 vom 15.12.2015, S. 21. 554  Interview Nr. 3 vom 12.10.2015, S. 11 und 17. 555  Interview Nr. 3 vom 12.10.2015, S. 12. 556  Interview Nr. 5 vom 27.10.2015, S. 16. 557  Interview Nr. 8 vom 14.12.2015, S. 16. 558  Interview Nr. 5 vom 27.10.2015, S. 17. 559  Interview Nr. 5 vom 27.10.2015, S. 18. 560  Interview Nr. 10.1 vom 29.09.2015, S. 2; Angaben II vom 12.10.2015, S. 2. 561  Interview Nr. 2 vom 28.09.2015, S. 19, wobei der Gesprächspartner sich vorstellen konnte, Rechts- und Verfahrensfehler in der Wiederaufnahme bei Verfahren ohne Revisionsmöglichkeit zuzulassen (z.  B. Jugendgerichtsverfahren). Interview Nr. 3 vom 12.10.2015, S. 17; Interview Nr. 4 vom 19.10.2015, S. 15; Interview Nr. 8 vom 14.12.2015, S. 15; Interview Nr. 9 vom 15.12.2015, S. 22; Interview Nr. 12 vom 14.03.2016, S. 26; Interview Nr. 13 vom 18.03.2016, S. 13.



B. Eigene Untersuchung287

Der Wiederaufnahme seien Rügen über Rechtsfehler zu Recht fremd, da sie nicht sie zu einer Hyperrevision ausarten soll.562 Zwei Befragte befürworteten schließlich grundsätzlich eine Erweiterung der Wiederaufnahmemöglichkeit infolge nachträglicher Gesetzesänderungen im Fall der günstigen Wiederaufnahme – trotz Praktikabilitätsproblem.563 Ein weiterer war gegen eine Ausweitung.564 Überdies sei die Berücksichtigung von Rechts- oder Verfahrensfehlern zu überdenken, wenn sich die Gesetzeslage nach der ersten Verurteilung für den Verurteilten günstiger verändere. Vor dem Grundsatz des § 2 StGB sei ein derartiger Wiederaufnahmegrund jedoch nicht zwingend.565 Für die Wiederaufnahmemöglichkeit bei Form- und Verfahrensfehlern sprachen sich lediglich zwei Verteidiger aus566, für die bedingungslose Ausdehnung der Wiederaufnahme auf Rechts- und Verfahrensfehler nur einer.567 Weiter wurden die Gesprächspartner befragt, ob, ergänzend zu dem Ausspruch von Strafrechtsentschädigung, eine Feststellungstenorierung über die Rechtswidrigkeit der Ausgangsentscheidung zum Zwecke der Rehabilitation zu befürworten wäre. Drei sprachen sich explizit für eine Feststellungs­ tenorierung aus.568 Zu bedenken sei hierbei die Schwierigkeit, die Rechtswidrigkeit des Urteils eines anderen Gerichts festzustellen. So basiere die Rechtswidrigkeit im Einzelfall etwa nicht auf einem Fehler des Gerichts, sondern auf Defiziten im Ermittlungsverfahren.569 Ein Gesprächspartner erachtete eine Feststellungstenorierung daher für gar kontraproduktiv.570 Auch im Übrigen wurde sie fast einhellig angesichts der Aufhebung der Ausgangsentscheidung als unnötig bezeichnet.571 Es spreche zwar nichts gegen eine derartige Tenorierung572, die für das subjektive Wohlbefinden des Betroffenen wichtig sein könne, doch wäre sie prozessual nicht notwen­ 562  Interview Nr. 2 vom 28.09.2015, S. 19; Interview Nr. 5 vom 27.10.2015, S. 20; Interview Nr. 11 vom 11.03.2016, S. 12. 563  Interview Nr. 8 vom 14.12.2015, S. 15  f.; Interview Nr. 9 vom 15.12.2015, S. 24 unter Hinweis darauf, dass sich der Betroffene bei der ungünstigen Wiederaufnahme auf Vertrauensschutz berufen könne. 564  Angaben II vom 12.10.2015, S. 2. 565  Interview Nr. 6 vom 09.11.2015, S. 26. 566  Interview Nr. 6 vom 09.11.2015, S. 26; Angaben II vom 12.10.2015, S. 2. 567  Interview Nr. 7 vom 16.11.2015, S. 11. 568  Interview Nr. 8 vom 14.12.2015, S. 18; Interview Nr. 10.2 vom 08.03.2016, S. 25; Angaben II vom 12.10.2015, S. 2. 569  Interview Nr. 9 vom 15.12.2015, S. 25. 570  Interview Nr. 9 vom 15.12.2015, S. 25. 571  Interview Nr. 2 vom 28.09.2015, S. 23; Interview Nr. 9 vom 15.12.2015, S. 25. 572  Interview Nr. 4 vom 19.10.2015, S. 16; Interview Nr. 9 vom 15.12.2015, S. 25.

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Teil 2: Eigene Untersuchung und Reformvorschläge

dig.573 Zwei Verteidiger betonten, dass für ihre Mandanten wichtig gewesen wäre, wenn sich die Justiz bei ihnen für das gesprochene Unrecht entschuldigt hätte.574 Die Anerkennung des Unrechts durch eine Entschuldigung könne das Vertrauen in die Rechtsordnung stärken575 und wäre als Respektsbekundung gegenüber dem Verurteilten zu werten.576 Die Ansprüche nach dem StrEG könnten jedenfalls keine Rehabilitation bewirken. Die für den Fall einer zu Unrecht erlittenen Haft zu erstattenden 25,00 € pro Tag wurden als viel zu gering kritisiert.577 24. Umfassende Dokumentation Die Gesprächspartner wurden auch zu einer etwaigen Wechselbeziehung fehlender umfassender Dokumentation von Beweiserhebungen zum Wiederaufnahmerecht befragt. Bedenken wurden insoweit angemeldet, als dass die Diskussion um die Dokumentation von Aussagen dahin ausufern könnte, dass auch nonverbale Reaktionen von Zeugen bedeutsam werden könnten. Auch stelle sich die umfassende Dokumentation als datenschutzrechtliches Problem dar; Fraglich sei zudem wo die Aufzeichnungen zu asservieren seien.578 Zusammenfassend sprachen sich gleichwohl alle befragten Strafverteidiger für eine umfassende Dokumentation von Aussageinhalten, auch im Rahmen polizeilicher Vernehmungen579, aus.580 Diese Notwendigkeit wollte ein Verteidiger auf bestimmte Deliktsgruppen beschränken: „Ich halte es für erforderlich, dass bei Strafprozessen vor dem Landgericht, gegen deren Urteile ja keine Berufung gegeben ist, zumindest eine Aufzeichnung des Verfahrensganges, insbesondere der Zeugenaussagen und der Aussage des Angeklagten, geboten wäre. In vielen anderen Ländern wird das selbstverständlich gemacht, entweder stenographisch oder mittels Bandaufnahmen. Bei uns ist ja nur 573  Interview Nr. 5 vom 27.10.2015, S. 20; Interview Nr. 7 vom 16.11.2015, S. 1; Interview Nr. 8 vom 14.12.2015, S. 18; Interview Nr. 9 vom 15.12.2015, S. 25; Interview Nr. 10.2 vom 08.03.2016, S. 25 f.; Interview Nr. 11 vom 11.03.2016, S. 12. 574  Interview Nr. 7 vom 16.11.2015, S. 11; Interview Nr. 13 vom 18.03.2016, S. 9. 575  Leuschner / Hoffmann, NK 2016, 155, 156. 576  Prantl, Heribert, Wiederaufnahme Mollath, Hobelspäne der Strafjustiz. Süddeutsche Zeitung Nr. 152 vom 5. / 6. Juli 2014, S. 4. 577  Interview Nr. 7 vom 16.11.2015, S. 12; Interview Nr. 8 vom 14.12.2015, S. 18. 578  Interview Nr. 3 vom 12.10.2015, S. 15 und 16. 579  Interview Nr. 6 vom 09.11.2015, S. 25. 580  Interview Nr. 1 vom 14.09.2015, S. 14; Interview Nr. 2 vom 28.09.2015, S. 20; Interview Nr. 3 vom 12.10.2015, S. 15 f.; Interview Nr. 6 vom 09.11.2015, S. 25; Interview Nr. 7 vom 16.11.2015, S. 10; Interview Nr. 11 vom 11.03.2016, S. 6; Angaben II vom 12.10.2015, S. 2.



B. Eigene Untersuchung289 eine magere Protokollierung vorgesehen. Strafverteidiger beklagten sich sehr sehr häufig darüber, dass die Urteile durch unzutreffende Tatsachenfeststellungen – sei es absichtlich oder unabsichtlich – revisionsfest gemacht werden. Das ist etwas, was ich aus eigener Anschauung nicht oft erlebt habe, aber ich habe auch nur selten in meinem Berufsleben Strafverteidigungen übernommen. Falsche Tatsachenfeststellungen im Urteil sind mit der Revision nicht angreifbar.“581

Eine umfassende Dokumentation sei technisch problemlos realisierbar582: „Aber allein da können wir zwei Stunden darüber reden. Man kann das alles machen, ich sag ja auch immer: Warum lasst ihr denn keine Tonbänder laufen? Ist doch kein Problem in der Hauptverhandlung. Technisch ließe sich das ohne Weiteres realisieren. Kein Mensch muss sogar diese Tonbänder abtippen, es reicht, wenn die einfach zur Verfügung gehalten werden für das Revisionsverfahren und man kann sogar dann noch, bevor jetzt einer sagt jaja, wir hören uns jetzt hier nicht eine komplette Hauptverhandlung an, kann man sagen gut, in der Revisionsschrift muss genau aufgeführt werden Bandnummer 10 ab Minute 15 wird der und der Satz gesagt, ist vom Gericht nicht berücksichtigt worden. So. Das will kein Richter, sowas. (…) Allgemein. Weil sie dann auf einmal vollumfänglich kontrolliert werden können und wer will das schon? Wer will das schon? Zumal es ihm die Möglichkeit nimmt, Urteile revisionssicher zu schreiben. Sie können – ich habe momentan so ein Verfahren hier. Auch wegen Mord verurteilt, keine Angaben gemacht, Mitgefangener erzählt in der Hauptverhandlung: Mir hat er die Tat gestanden. Dem Kerl hat kein Mensch geglaubt. Meine Referendarin war damals auf Seiten der Staatsanwaltschaft, die kann mir also ziemlich genau sagen, was die sich dabei gedacht haben. Die sagt, diesem Zeugen hat niemand geglaubt. Es gab bestimmte Punkte, wo man gesagt hat, der lügt. Das fing schon an zu dem Zeitpunkt, als meiner eben das berichtet haben soll, sagte der Zeuge hat es geschneit. Es hat in dem ganzen Monat nicht geschneit, das ließ sich ja relativ leicht feststellen. Das war ein reiner Indizienprozess, es gab kein einziges Beweismittel gegen meinen Mandanten. Nur so Indizien. Hat die Frau nicht sonderlich gemocht und hat man irgendwann gesagt, die macht ihm so viel Stress, er bringt sie noch um. So larifari, was auf 100 Leute zutrifft: Haben die den verurteilt. Und das Urteil setzt sich maßgeblich mit dieser Aussage dieses Mitinsassen auseinander, der gesagt hat, der hat mir es gestanden, ohne aber auf die Punkte einzugehen, die ihn unglaubwürdig werden lassen. Und das hat der Richter einfach unter den Teppich gekehrt. Und war natürlich LG, Schwurgericht, der lässt es einfach unter den Teppich fallen, Beweisanträge gab es diesbezüglich nicht, weil für alle war klar, der Kerl lügt. Und er hat sich selbst als Lügner geoutet, als er seine entsprechenden Aussagen gemacht hat. Der Richter lässt alles, was ihn als Lügner entlarvt, unter den Tisch fallen und schreibt es nicht in das Urteil. Wie rügt man das in der Revision? Gar nicht. Ich habe nichts im Protokoll stehen, der Richter schreibt einfach nur das rein, wo er meint, dass er 581  Interview Nr. 4 vom 19.10.2015, S. 7 f., wobei das Zitat vom Gesprächspartner überarbeitet wurde. 582  Interview Nr. 2 vom 28.09.2015, S. 20; Interview Nr. 3 vom 12.10.2015, S. 16.

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Teil 2: Eigene Untersuchung und Reformvorschläge

glaubwürdig ist. Ich habe in der Revision null Chance, an der Geschichte vorbei zu kommen. Der Richter hätte dieses Urteil in der Form aber nie schreiben können, wenn er gezwungen wäre, sich anhand eines umfassenden Protokolls überprüfen zu lassen. Weil, da hätte er dann nämlich reinschreiben müssen, die Aussage, und die Aussage, und die Aussage überhaupt nicht da reinpasst. Wie gesagt, das öffnet einem Richter am Landgericht diese mindere Dokumentation Tür und Tor, das Urteil so zu schreiben, wie er es gerne hätte.“583

Die technischen Aufzeichnungen müssten aus Sicht der befragten Verteidiger nicht verschriftlicht werden, vielmehr reiche deren bloße Existenz, um insbesondere in der Revision darauf Bezug nehmen zu können584 und die Gerichte – aber auch übrigen Verfahrensbeteiligten585 – zu disziplinieren.586 Eine umfassende Dokumentation beuge hier Willkür vor.587 Hierzu gab ein Verteidiger an: „Aus meiner Sicht wäre das ein Segen. Denn wie man weiß, in einem Urteil gehören eigentlich alle Aspekte nach dem 267, oder was es ist StPO, die für die Entscheidung bedeutsam sind. Sei es belastend, sei es entlastend. D. h. ein Revisionsgericht oder ein Rechtsmittelgericht muss sich ja Gedanken darüber machen können, wie die Beweiswürdigung des Vorgerichts zustande kam. Und dabei haben alle Aspekte eine Bedeutung. Und wenn man jetzt die Abfassung eines Urteils ohne Überprüfungsmöglichkeit nur einem Berichterstatter überlässt, der subjektiv eine bestimmte Überzeugung zu einem Fall hat, und die will ich ihm auch nicht absprechen, dann wird er immer in der Gefahr stehen, nur das ins Urteil aufzunehmen, was für seine Argumentation passend ist. Und das kann ich eben nur überprüfen, ob wirklich alles im Urteil, wie geboten, dargestellt ist, wie auch entlastend, wenn ich eine Dokumentationsmöglichkeit habe aus der Hauptverhandlung, oder auch aus vorangegangenen Vernehmungen. (…) Also, sie wird schon zu einer Disziplinierung – meine Auffassung – der Gerichte führen, weil sie natürlich mit dem Risiko leben müssen, wenn wir jetzt hier nicht ganz genau und sauber arbeiten, dann fliegen wir in der Rechtsmittelinstanz meinetwegen auf, wenn der Zugang in der Revision, meinetwegen zur Verwertung einer solchen Dokumentation in der Hauptverhandlung, möglich wäre. Also, es könnte zu einer Disziplinierung führen und es könnte in den Fällen, in denen eben ganz einfach etwas auf der Strecke bleibt, ob jetzt bewusst oder unbewusst, und wahrscheinlich sind die unbewussten Fälle häufiger, als die bewussten, dann habe ich die Möglichkeit, in der Wiederaufnahme darauf zurück zu greifen.“588

583  Interview

Nr. 2 vom 28.09.2015, S. 20 f. Nr. 2 vom 28.09.2015, S. 20. 585  Interview Nr. 12 vom 14.03.2016, S. 24. 586  Interview Nr. 8 vom 14.12.2015, S. 12; Interview Nr. 9 vom 15.12.2015, S. 19, 20 f. 587  Interview Nr. 12 vom 14.03.2016, S. 26. 588  Interview Nr. 8 vom 14.12.2015, S. 12 f. 584  Interview



B. Eigene Untersuchung291

In der Konsequenz sei das Rekonstruktionsverbot in der Revision nicht länger haltbar.589 Den Bedenken bezüglich einer umfassenden Protokollierungspflicht, die den Revisionsrichter verpflichte, die gesamte Hauptverhandlung nachzuvollziehen, könne mit einer Darlegungslast590 bzw. Rügelast des Revisionsführers begegnet werden.591 Zudem sei es Aufgabe der Staatsanwaltschaft, die einzelnen Aussageinhalte nachzuvollziehen, wenn sie der Meinung sei, dass der Revisionsvortrag unzureichend oder unvollständig ist.592 Ferner sei eine Negativvortragspflicht des Revisionsführers denkbar.593 Im Ergebnis würden die Revisionsgerichte nicht mit mehr Arbeit belastet, sondern vielmehr entlastet werden.594 Die Rechtsprechung versperre sich dieser Möglichkeit, weil sie die umfassende Kontrolle durch Rechtsmittelgerichte scheue. Dem Urteilsverfasser würde so die Möglichkeit genommen, Urteile revisionssicher abzufassen.595 Ein Gesprächspartner erachtete die Protokollierung von Aussageinhalten selbst für den Fall, dass das Revisionsrecht unverändert bliebe, für sinnvoll. So zeige etwa die Art und Weise der Protokollierung von Aussageinhalten im Zivilprozess, dass für die Verfahrensbeteiligten erkennbar werde, welche Auffassung das Gericht habe. Eine derartige Protokollierung im Strafprozess könne dazu führen, dass die Verfahrensbeteiligten frühzeitig Einfluss auf die Überzeugungsbildung des Gerichts nehmen könnten.596 Eine umfassende Dokumentation reduziere folglich die Gefahr, dass jeder Verfahrensbeteiligte nur das erfasst und niederschreibt, was aus seiner Sicht bedeutsam scheint.597 Nur die umfassende Dokumentation ermögliche eine Nachprüfung, ob die Urteilsgründe entsprechend dem Gebot des § 267 StPO abgefasst seien.598 Die Dokumentation polizeilicher Vernehmungen ermögli589  Interview

Nr. 12 vom 14.03.2016, S. 26. Revisionsführer müsse demnach exakt vortragen, auf welchen Protokoll­ inhalt er sich bezieht. 591  Interview Nr.  2 vom 28.09.2015, S. 20; Interview Nr. 8 vom 14.12.2015, S. 14 f.; Interview Nr. 9 vom 15.12.2015, S. 20 f. 592  Interview Nr. 8 vom 14.12.2015, S. 14  f.; Interview Nr. 9 vom 15.12.2015, S.  20 f. 593  Interview Nr. 9 vom 15.12.2015, S. 20 f., bspw. des Inhalts, dass eine Aussage auch nicht widerrufen wurde. 594  Interview Nr. 9 vom 15.12.2015, S. 20 f. 595  Interview Nr. 2 vom 28.09.2015, S. 20; Interview Nr. 4 vom 19.10.2015, S. 7. 596  Interview Nr. 11 vom 11.03.2016, S. 7. Dies setzt jedoch voraus, dass Vernehmungsinhalte, entsprechend den zivilprozessualen Gepflogtenheiten, unmittelbar durch den Vorsitzenden erfasst werden. 597  Interview Nr. 8 vom 14.12.2015, S. 14 f. 598  Interview Nr. 8 vom 14.12.2015, S. 12; Interview Nr. 12 vom 14.03.2014, S. 26. 590  Der

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Teil 2: Eigene Untersuchung und Reformvorschläge

che den Verfahrensbeteiligten, sich einen Eindruck der Vernehmungssituation und -atmosphäre zu verschaffen und diszipliniere Vernehmungsbeamten, keinen Druck auf den zu Vernehmenden auszuüben.599 Neben der Möglichkeit, durch eine Disziplinierung der Urteilsverfasser Fehlurteile zu verhindern, würde die Dokumentation von gerichtlichen und außergerichtlichen Aussageinhalten auch die Arbeit im Wiederaufnahmeverfahren erleichtern.600 So könne etwa im Erneuerungsverfahren das Beweis­ ergebnis mit der Beweiserhebung im Erstverfahren verglichen werden.601 Zwar wurde die Notwendigkeit einer umfassenden Dokumentation, insbesondere für landgerichtliche Verfahren, beschrieben602 (wenngleich auch amtsgerichtliche Protokolle als nur sinngemäße Wiedergaben des Inhalts einer Zeugenaussage als problematisch erachtet wurden603). Gleichwohl könne die fehlende Protokollierung von Aussageinhalten in landgerichtlichen Verfahren auch als Vorteil verstanden werden, da der erstmals in der Wiederaufnahme tätige Verteidiger unproblematisch einen entscheidungserheblichen, in den Entscheidungsgründen jedoch nicht ausgeführten Umstand, als neu vortragen könne.604 Ein anderer Verteidiger gab an, dass er an Auswirkungen umfassender Dokumentation von Aussageinhalten auf das Wiederaufnahmeverfahren nicht glaube.605 Zwei weitere Befragte äußerten, dass eine umfassende Protokollierung für die Wiederaufnahme nicht von Vorteil wäre, weil die Urteile richtiger würden. Dies würde zu einer faktischen Schmälerung des Anwendungsbereichs führen, da Urteile schon in der Rechtsmittelinstanz korrigiert werden würden.606 599  Interview

Nr. 6 vom 09.11.2015, S. 25. Nr. 4 vom 19.10.2015, S. 7; Interview Nr. 7 vom 16.11.2015, S. 10; Interview Nr. 8 vom 14.12.2015, S. 12; Interview Nr. 8 vom 14.12.2015, S. 12. Ein Gesprächspartner berichtete, dass die umfassende Dokumentation für die Wiederaufnahme nicht von Vorteil wäre, da die Urteile richtiger würden, vgl. Interview Nr. 9 vom 15.12.2015, S. 19. 601  Interview Nr. 5 vom 27.10.2015, S. 18. 602  Interview Nr. 4 vom 19.10.2015, S. 7; Interview Nr. 7 vom 16.11.2015, S. 10. 603  Interview Nr. 3 vom 12.10.2015, S. 15  f.; Interview Nr. 5 vom 27.10.2015, S. 18. 604  Interview Nr. 1 vom 14.09.2015, S. 9; Interview Nr. 2 vom 28.09.2015, S. 20. Sowohl Vorteile als auch Nachteile durch die umfassende Dokumentation der Hauptverhandlung für das Wiederaufnahmeverfahren nahm der Gesprächspartner des Interviews Nr. 5 vom 27.10.2015, S. 18, an. 605  Interview Nr. 3 vom 12.10.2015, S. 16. 606  Interview Nr. 9 vom 15.12.2015, S. 19 ff.; Interview Nr. 11 vom 11.03.2016, S. 6; Interview Nr. 12 vom 14.03.2016, S. 25. Ähnlich Interview Nr. 13 vom 18.03.2016, S. 13. 600  Interview



B. Eigene Untersuchung293

25. Örtliche Zuständigkeit Mit den Gesprächspartnern wurde darüber hinaus über die örtliche Zuständigkeit des Wiederaufnahmegerichts diskutiert. Im Wiederaufnahmeverfahren sei – parallel zu Befangenheitsanträgen – besonders problematisch, dass der über die Zulässigkeit der Wiederaufnahme entscheidende Richter sich selbst Arbeit mache, wenn er das Verfahren nach eigenhändiger Zulassung zu verhandeln und entscheiden habe.607 Deshalb würden sich Wiederaufnahmegerichte scheuen, einem Antrag Erfolg zu verbescheiden.608 Hinzu komme eine Hemmung, Fehler in den eigenen Reihen einzuräumen. Es sei deshalb zu befürworten, dass das Wiederaufnahmegericht aus einem anderen Landgerichtsbezirk stamme als das Ausgangsgericht. Gleichwohl stehe auch hier zu erwarten, dass „eine Krähe der anderen kein Auge aushack(e)“.609 Aus Verteidigersicht sei angesichts der Justizüberlastung verständlich, dass ein Wiederaufnahmerichter das Verfahren scheitern lasse, wenn es einen Grund dafür gibt.610 Wünschenswert sei gleichwohl, dass das Gericht, welches die Erneuerungsverhandlung führen müsse, mit dem Verfahren noch nicht befasst war.611 Eine großzügige, etwa länderübergreifende räumliche Distanz könne helfen, das Problem zu beheben.612 Sie würde jedoch wohl an fiskalischen Überlegungen scheitern613 und zu Meinungsverschiedenheiten zwischen den Bundesländern führen.614 Denkbar bliebe, die Zuständigkeit im Wiederaufnahmeverfahren auch weiterhin bei einem Gericht zu konzentrieren. Selbst eine größere örtliche Distanz, die dem Grunde nach sinnvoll wäre, würde im Zweifel nichts nützen, weil die ablehnende Haltung der Justiz gegenüber Wiederaufnahmeverfahren in ganz Deutschland gleich sei615 – ebenso wie das unbewusste länderübergreifende Verständnis von Kollegialität.616 607  Interview

Nr. 5 vom 27.10.2015, S. 8 f.; Interview Nr. 6 vom 09.11.2015, S. 24. Nr. 6 vom 09.11.2015, S. 24; Interview Nr. 8 vom 14.12.2015, S. 18. 609  Interview Nr. 2 vom 28.09.2015, S. 15. 610  Interview Nr. 5 vom 27.10.2015, S. 8 f., entsprechend auch KMR-Eschelbach, § 366 / 2. Zur Belastung / Überlastung der Strafjustiz BVerfG StV 2013, 353. 611  Interview Nr. 6 vom 09.11.2015, S. 24; Interview Nr. 8 vom 14.12.2015, S. 18. 612  Interview Nr. 7 vom 16.11.2015, S. 8; im Ergebnis so wohl auch Interview Nr. 8 vom 14.12.2015, S. 18; Interview Nr. 9 vom 15.12.2015, S. 17. 613  Interview Nr. 9 vom 15.12.2015, S. 17. 614  Interview Nr. 12 vom 14.03.2016, S. 23. 615  Interview Nr. 10.2 vom 08.03.2016, S. 11. 616  Interview Nr. 12 vom 14.03.2016, S. 23; Interview Nr. 13 vom 18.03.2016, S. 13. 608  Interview

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Teil 2: Eigene Untersuchung und Reformvorschläge

Ein weiterer Gesprächspartner plädierte gar für eine Sonderzuständigkeit der Spruchkörper, um ausreichende Sachkunde zu gewährleisten.617 Das Ursprungsgericht als Wiederaufnahmegericht entscheiden zu lassen sei zwar aufgrund der besseren Sachkenntnis überlegenswert, rein psychologisch jedoch abzulehnen. Der Richter, der einst ein Urteil gesprochen hat, werde ungern davon abweichen und einen Fehler eingestehen.618 26. Bundesgerichtshof als Beschwerdeinstanz Ein Gesprächspartner befürwortete demgegenüber, statt der Schaffung einer örtlichen Distanz das Oberlandesgericht als Wiederaufnahmegericht über den Antrag entscheiden zu lassen, so dass der Bundesgerichtshof als Beschwerdeinstanz zuständig werde.619 Fraglich bliebe, ob eine generelle Zuständigkeit des Bundesgerichtshof als Beschwerdeinstanz aus Verteidigersicht überhaupt zu begrüßen wäre. Der Bundesgerichtshof ist auf dem Gebiet des Wiederaufnahmerechts nur im Bereich der sofortige Beschwerden gegen erstinstanzliche oberlandesgerichtliche Entscheidungen zuständig, §§ 372 S. 1, 311 StPO i. V. m. § 140a GVG. Daraus folgt eine fehlende bundeseinheitliche Aufsicht über die Rechtsprechung im Wiederaufnahmerecht, die zu Fehlentwicklungen in der Praxis geführt haben könnte.620 Grund für die Überlegung der Beschwerdezuständigkeit des Bundesgerichtshof ist, was ein Verteidiger berichtet: „Jeder Wiederaufnahmerichter war mal Instanzenrichter d. h. er verteidigt letztendlich die eigene Standesehre, indem er die Rechtskraft verteidigt.“621

Eine Beschwerdezuständigkeit wurde gleichwohl unter Hinweis auf die schlechten Erfahrungen mit dem Bundesgerichtshof in Revisionssachen abgelehnt.622 Ein Verteidiger gab an: „Nein, so gute Erfahrungen haben wir ja nun mit dem BGH als Revisionsinstanz auch nicht. Nein, das würde die Probleme nicht lösen. Das können wir auf OLGEbene durchführen. Es hat auch den Vorteil, gerade bei den landgerichtlichen Ver617  Interview

Nr. 13 vom 18.03.2016, S. 11. Nr. 13 vom 18.03.2016, S. 10. 619  Interview Nr. 6 vom 09.11.2015, S. 24. 620  KMR-Eschelbach, § 372 / 16. 621  Interview Nr. 12 vom 14.03.2016, S. 22, wobei das Zitat vom Gesprächspartner sprachlich überarbeitet wurde. 622  Interview Nr. 1 vom 14.09.2015, S. 15; Interview Nr. 2 vom 28.09.2015, S. 18. Im Ergebnis auch ablehnend: Angaben II vom 12.10.2015, S. 2. 618  Interview



B. Eigene Untersuchung295 fahren, dass die Verfahren ja nicht wieder beim OLG landen. Das OLG kann ziemlich – na ich sage mal – leidenschaftslos da rangehen und sagen, ok, wir ordnen jetzt die Wiederaufnahme an und anschließend ist das Thema für uns gegessen. Denn es ist klar, allenfalls für irgendwelche Haftfragen sind sie dann zuständig oder sonstigen Kleinkram dann. Aber ansonsten haben Sie die Sache beim BGH und wenn der BGH jetzt darüber entscheidet, holen wir uns die ganzen Problematiken des Revisonsrechts da richtig rein und die werden da noch grausamer sein, als bei der Verfahrensrüge.“623

Zudem biete die Beschwerdezuständigkeit des Oberlandesgerichts die Gewähr, dass dieses nicht als Rechtsmittelinstanz erneut mit der Sache befasst sein könne.624 Auch für die Einheitlichkeit der Rspr. sei eine Zuständigkeit des Bundesgerichtshofs nicht notwendig, da diese Homogenität im Wege der Verfassungsbeschwerde erreicht werden könne.625 Hinzu komme, dass das Rechtsinstitut der Wiederaufnahme auch durch eine Zuständigkeit des Bundesgerichtshofs als Beschwerdegericht nicht effektiver würde, da die Einstellung der Bundesrichter sich von denen des Instanzrichters nicht unterscheide.626 Zwei Stimmen stritten für eine Veränderung der sachlichen Zuständigkeit der Wiederaufnahmegerichte dahingehend, dass das Oberlandesgericht als Wiederaufnahmegericht über den Antrag entscheiden soll und der Bundesgerichtshof letztinstanzlich entscheiden könne.627 Ein weiterer Gesprächspartner meinte auf diese Weise die Vereinheitlichung der Rspr. gewährleisten und das Problem der örtlichen Nähe und der damit einhergehenden persönlichen Bindungen zwischen Wiederaufnahme- und Beschwerdegerichten entzerren zu können.628

623  Interview

Nr. 1 vom 14.09.2015, S. 15. kann jedoch nur für landgerichtliche Verfahren gelten, da das OLG für amtsgerichtliche Verfahren Revisionsinstanz ist. Interview Nr. 1 vom 14.09.2015, S. 15; Interview Nr. 9 vom 15.12.2015, S. 24. 625  Interview Nr. 3 vom 12.10.2015, S. 19. Dem ist jedoch zu widersprechen, da das BVerfG gerade nicht im Sinne eines Fachgerichts im Rechtszug angerufen werden kann. Zu Recht betont daher das BVerfG, dass es nicht Superrevisionsinstanz sei, vgl. BVerfG NJW 2009, 1469, 1478 m. w. N. 626  Interview Nr. 10.1 vom 29.09.2015, S. 2 f. 627  Interview Nr. 6 vom 09.11.2015, S. 24; Interview Nr. 11 vom 11.03.2016, S. 8. 628  Interview Nr. 8 vom 14.12.2015, S. 19. Letzterem zustimmend: Interview Nr. 11 vom 11.03.2016, S. 8, demgegenüber widersprechend: Interview Nr. 10.1 vom 29.09.2015, S.  2 f. 624  Dies

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Teil 2: Eigene Untersuchung und Reformvorschläge

C. Ursachen von Fehlurteilen und Möglichkeiten ihrer Verhinderung und Aufdeckung I. Fehlurteile und ihre Ursachen Unabhängig von der Frage, wann genau ein Fehlurteil anzunehmen ist, steht fest, dass sich Fehlurteile nicht vollständig verhindern lassen werden.629 Gleichwohl müssen Fehlerquellen in einem Rechtsstaat so weit wie möglich behoben und Fehlurteile verhindert werden. Gelingt dies nicht, besteht Korrekturbedarf. Dann muss die Justiz Fehlurteile kritisch aufarbeiten, um deren Entstehung künftig verhindern zu können. Auch die Strafrechtswissenschaft wird künftig gehalten sein, Ursachen und Häufigkeit von Fehlurteilen, ebenso wie ihre Korrekturmöglichkeit im Wege der Wiederaufnahme, auf aktuellem Stand zu erforschen. Nur so kann eine rationale Auseinandersetzung mit der Problematik von Fehlurteilen erfolgen. Die bisherige Untersuchung legt nahe, dass Fehlurteile primär auf mangelhafte Arbeit der Justiz zurückgeführt werden können. So werden fehlende Tatsachenfeststellungen durch Mutmaßungen ersetzt. Aber auch fehlerhafte Polizeiarbeit, allen voran einseitig geführte Ermittlungen, führen zu Fehl­ urteilen. Gerichte hinterfragen die Ermittlungsergebnisse offensichtlich nicht stets in der gebotenen Art und Weise. Insbesondere schließen Gerichte Fehler anderer Gerichte zu häufig aus. Aber auch auf mangelhafte anwaltliche Tätigkeit und Beratung können Fehlurteile zurückgeführt werden. Dieses Ergebnis findet in der Literatur Bestätigung. So sei das Entstehen von Fehlurteilen auf eine Überforderung der Gerichte bei der Wahrheitsfindung zurückzuführen. Gerichte verlassen sich zumeist auf die Vorarbeit der Staatsanwaltschaften, wobei die eigentliche Herrin des Ermittlungsverfahrens nicht die Staatsanwaltschaft, sondern die Polizei sei. Bei deren Arbeit stehe aber eine schnelle Tataufklärung im Vordergrund. Schließlich sei das Tatgericht selten in der Lage, sich gedanklich von dem Ergebnis der Entscheidung im Zwischenverfahren zu lösen. Diese Mängel werden als Strukturdefizit im Strafverfahren betrachtet. Hinzu komme, dass Richter für die Wahrheitsfindung nicht qualifiziert seien. Mangels entsprechender Ausbildung im Bereich der Beweiswürdigung würden die Gerichte stets bloße Verdachtsurteile fällen, die auf Wahrscheinlichkeiten beruhen.630 Geipel führt Fehlurteile auf die schwierige, vielschichtige, gefahr- und irrtumsanfällige richterliche Tätigkeit zurück.631 629  Brinkmann,

Zum Anwendungsbereich der §§ 359 ff. StPO, S. 19. GA 2013, 328, 332. 631  Geipel, in: Miebach / Hohmann, Wiederaufnahme in Strafsachen, Teil A, Rz. 72. 630  Bock / Eschelbach / Geipel / Hettinger / Röschke / Wille,



C. Ursachen von Fehlurteilen und Möglichkeiten ihrer Verhinderung 297

Ausgehend von Fehlerquellen, auf denen unrichtige Verurteilungen beruhen, stellte Peters in seiner Untersuchung fest, dass Fehlurteile meist auf menschlichem Versagen eines oder mehrerer Verfahrensbeteiligter beruhen. Besonders häufig wurden dabei Fehler im Ermittlungsverfahren, die sich dann zwangsläufig auf den weiteren Verlauf eines Verfahrens auswirkten, konstatiert.632 Zum gleichen Ergebnis gelangte auch Kiwit, nach dessen Feststellungen sich die Gründe eines Fehlurteils nicht vollständig anhand des Aktenmaterials nachvollziehen lassen, sondern der Ausgang eines Verfahrens auch von subjektiven Wahrnehmungen geprägt werde.633 Schließlich geht auch Hanack davon aus, dass Fehlerquellen insbesondere menschliches Versagen der verschiedenen Beteiligten, unglückliche Zufälle und mangelndes kriminalistisches Wissen sind.634 Als wiederkehrende Fehlerquellen nennt die Literatur zudem die Überbetonung einer Verdachtshypothese, die Orientierung des Verfahrens am Aktenmaterial, das Zurückhalten von Alternativhypothesen sowie das Abwiegeln von Verteidigungsvorbringen.635 Die Quellen für Fehlurteile können demnach vielschichtig sein. Dabei sind Beweismittel für sich als Fehlerquellen vom Prozess der Beweisgewinnung und Beweiswürdigung an sich zu trennen.636 Schon 1911 setzte sich der Berliner Strafverteidiger Sello mit Fehlerquellen auseinander. Als solche erkannte er die Glaubhaftigkeit von Zeugenaussagen, das Wiedererkennen des Täters, Falschgeständnisse, Falschbeschuldigungen, unzureichende Sachverständigengutachten, einseitige Ermittlungen, Vorurteile, Suggestionen und Einfluss der Öffentlichkeit.637 Fehlerquellen sind nach der letzten hierzu ergangenen Untersuchung von Peters einseitige, unzulässige oder zu spät beginnende Ermittlungen, die nicht vollständige Ausnutzung von Beweismöglichkeiten, fehlerhafte Vernehmungen, falsche Geständnisse, Nichtaufklärung von Widersprüchlichkeiten, Ermittlungslücken, Voreingenommenheit und Missdeutungen des Beurteilenden, mangelhafte Beweiskontrolle, Gutachtenfehler und ungenügende Per632  Peters, Fehlerquellen im Strafprozeß II, S. 299 ff. Wobei lt. Peters menschliches Versagen in allen Verfahrensabschnitten festzustellen sei. Die präjudizierende Wirkung des Ermittlungsverfahrens wird bereits seit Langem reklamiert, vgl. Neuhaus, StV 2015, 185, 186. 633  Kiwit, Fehlurteile im Strafrecht, S. 1. 634  Hanack, JZ 1973, 393. 635  Bock / Eschelbach / Geipel / Hettinger / Röschke / Wille, GA 2013, 328. 636  Velten, StraFo 2015, 354, 355. 637  Zitiert nach Püschel, Fehlerquellen in der Sphäre von Staatsanwaltschaft und Polizei, StraFo 2015, 269.

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Teil 2: Eigene Untersuchung und Reformvorschläge

sönlichkeitsbetrachtungen.638 Aufgrund struktureller Änderungen der Pro­ zesspraxis können inzwischen auch Kronzeugenaussagen und Verfahrensabsprachen als Fehlerquellen angesehen werden. Neben unzuverlässigen Zeugen oder fehlerhaften forensischen Sachbeweismitteln639, können Ursache für Fehlurteile, und damit für Wiederaufnahmeverfahren, auch falsche Geständnisse nach physischem oder seelischem Zwang sein, die in der Folge, mangels Überprüfung auf ihre Richtigkeit hin, unentdeckt bleiben.640 In der Praxis würden – so berichtet Geipel – neben der „Sanktionenschere“ etwa auch ein Verhör nach der sog. „Reid-Methode“641 und der Druck der Untersuchungshaft Falschgeständnisse fördern.642 Fehlerquellen im Hauptverfahren seien in einem falschen Rollenverständnis der Gerichte, die sich nicht als Schiedsrichter, sondern als Garant einer effizienten Strafverfolgung verstehen würden, zu finden.643 Auch kognitive Urteilsfehler, insbesondere ein konfirmatorisches Hypothesentesten (d. h. das Fokussieren auf die nach den Ermittlungsakten präsentierte Tathypothese bestätigende Informationen) stellt eine Fehlerquelle dar.644 Besonders eine Voreingenommenheit des Gerichts, das von einer richtigen Anklage ausgeht statt eine Unwahrhypothese nach Aktenlage zu bilden, aber auch die psychologische Komponente der Urteilsfindung, die von Sympathien und Antipathien geprägt wird, können Fehlurteile begründen.645 Intuitiv falsche Beweiswürdigung, begründet durch misslungene Entlastungsbeweise, Schutzbehauptungen des Angeklagten oder späte Beweisanträge können ebenfalls zu einem Fehlurteil führen.646 Wie das Ersetzen der Wahrheitsüber638  Peters,

Fehlerquellen im Strafprozeß II, S. 6 ff. StraFo 2015, 354, 355. 640  Geipel, in: Miebach / Hohmann, Wiederaufnahme in Strafsachen, Teil  A, Rz. 116 f.; Hirschberg, Das Fehlurteil im Strafprozeß, S. 16 f. 641  John E. Reid entwickelte diese Verhörmethode bereits 1947. Ihr Ziel ist es durch eine strukturierte Vernehmung den Täter auf Grund seines verbalen, nonverbalen und paralinguistischen Verhaltens vom Unschuldigen zu unterscheiden, wobei er mitunter auch mit Unwahrheiten konfrontiert wird, vgl. hierzu http: /  / www.bundestag. de / presse / hib / 2014_05 / - / 274578 (zuletzt aufgerufen am 05.03.2018). 642  Geipel, in: Miebach / Hohmann, Wiederaufnahme in Strafsachen, Teil  A, Rz. 123. Zu Falschgeständnissen aufgrund Inaussichtstellung von milderen Strafen, Untersuchungshaft bzw. Einschüchterung seitens der Ermittlungsbehörden auch Hirschberg, Das Fehlurteil im Strafprozeß, S. 22. 643  Velten, StraFo 2015, 354, 359. 644  Velten, StraFo 2015, 354, 360 ff. 645  Geipel, in: Miebach / Hohmann, Wiederaufnahme in Strafsachen, Teil  A, Rz. 209 ff.; Hirschberg, Monatsschrift für Kriminalpsychologie und Strafrechtsreform 1930, 395, 404 ff. 646  Geipel, in: Miebach / Hohmann, Wiederaufnahme in Strafsachen, Teil  A, Rz.  128 ff. 639  Velten,



C. Ursachen von Fehlurteilen und Möglichkeiten ihrer Verhinderung 299

zeugung des § 261 StPO durch einen Wahrscheinlichkeitsglauben647 könne auch eine unkritische Entgegennahme der Aussagen von vermeintlichen Opfern und Geschädigten Fehlurteile verursachen.648 Hirschberg postulierte daher bereits 1930: „Immer und immer wieder führt die wissenschaftliche Auswertung der Fehlurteile in der Strafjustiz zum Kernproblem, zu Psychologie und Pathologie der richter­ lichen Urteilsbildung, zurück; (…) immer und immer wieder drängt die Betrachtung der Fehlurteile dazu, die Fehlerquelle auch im Richter zu suchen.“649

Eine weitere Fehlerquelle bildet das Wiedererkennen von Personen650, neben bewusst oder unbewusst falschen oder entstellten Zeugenaussagen651. Auch Falschbelastungen durch Mitangeklagte und Kronzeugen, die sich dadurch einen Vorteil versprechen, können Fehlurteile verursachen.652 Schließlich stellen unkritisch bewertete Sachverständigengutachten eine Fehlerquelle dar.653 In diesem Zusammenhang ist, neben den fachbereichsspezifischen Fehlermöglichkeiten, insbesondere bereits zu nennen, dass die Auswahl des Sachverständigen nicht selten Einfluss auf den Ausgang eines Strafverfahrens hat, was insbesondere auf eine Beeinflussung durch die Person des Auftragserteilenden zurückzuführen sein dürfte und darauf, dass dem geltenden Strafprozess ein Anspruch auf eine second opinion unbekannt ist.654 Zeugen werden als fehleranfälligstes Beweismittel im Strafprozess betrachtet.655 Die Überschätzung des Personalbeweises gegenüber dem Realbeweis sei Quelle vieler Fehlurteile.656 647  Hirschberg, Monatsschrift für Kriminalpsychologie und Strafrechtsreform 1930, 395, 403. 648  Geipel, in: Miebach / Hohmann, Wiederaufnahme in Strafsachen, Teil  A, Rz. 290 ff.; Hirschberg, Monatsschrift für Kriminalpsychologie und Strafrechtsreform 1930, 395, 401. 649  Hirschberg, Monatsschrift für Kriminalpsychologie und Strafrechtsreform 1930, 395, 398. 650  Geipel, in: Miebach / Hohmann, Wiederaufnahme in Strafsachen, Teil  A, Rz. 142; Hirschberg, Das Fehlurteil im Strafprozeß, S. 16. 651  Geipel, in: Miebach / Hohmann, Wiederaufnahme in Strafsachen, Teil  A, Rz. 146 ff. unter Hinweis darauf, dass die Aussage-gegen-Aussage-Konstellationen im Sexualstrafrecht besonders fehlurteilsanfällig sind. 652  Geipel, in: Miebach / Hohmann, Wiederaufnahme in Strafsachen, Teil  A, Rz. 163 ff.; Hirschberg, Das Fehlurteil im Strafprozeß, S. 16. 653  Hirschberg, Monatsschrift für Kriminalpsychologie und Strafrechtsreform 1930, 395, 397; Hirschberg, Das Fehlurteil im Strafprozeß, S. 16. 654  Geipel, in: Miebach / Hohmann, Wiederaufnahme in Strafsachen, Teil  A, Rz.  177 ff. 655  MAH Strafverteidigung-Strate, § 27 / 45. 656  Hirschberg, Monatsschrift für Kriminalpsychologie und Strafrechtsreform 1930, 395, 401.

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Teil 2: Eigene Untersuchung und Reformvorschläge

Auch Mängel sachverständiger Beurteilung würden zu Fehlurteilen beitragen.657 Ganz banal basieren Fehlurteile aber auch auf konkreten Verfahrensausgestaltungen der StPO. So wird einerseits bemängelt, dass die Beweiserhebungen dem Vorsitzenden übertragen werden, andererseits aber auch die Zuständigkeit des Hauptsachegerichts im Zwischenverfahren kritisiert.658 Auch die Ablehnungsmöglichkeiten für Beweisanträge, insbesondere wegen Bedeutungslosigkeit gem. § 244 Abs. 3 StPO, sollen eine nicht unwesentliche Fehlerquelle darstellen.659 Als bedeutungslos i. S. d. § 244 Abs. 3 StPO kann die Erhebung einer Indiztatsache abgelehnt werden, wenn diese nur mögliche, aber keine zwingenden Schlüsse in Aussicht stellt und das Gericht einen nur möglichen Schluss nicht ziehen will.660 Kritisert wird schließlich das Fehlen einer zweiten Tatsacheninstanz.661 Justizirrtümern ist wohl gemein, dass sie sämtlich auf menschlichem Versagen basieren.662 Dabei dürfte die ungenügende Untersuchung des tatsächlichen Geschehens die zahlenmäßig meisten Fehlurteile verursachen.663 Naturgemäß lässt sich dies durch positives Recht allein nicht ausschließen. Das Risiko von Fehlurteilen besteht demnach immer, kann jedoch nur dann akzeptiert und toleriert werden, wenn der Rechtsstaat alles ihm Mögliche unternimmt, ihre Ursachen so weit wie möglich zu minimieren.664 Geschehen dennoch Fehler, müssen sie im Interesse des Rechtsstaats so schnell und effektiv wie möglich aufgeklärt und korrigiert werden. Nur so kann das Vertrauen der Allgemeinheit in die Strafjustiz erhalten werden.

II. Voraussetzungen für fehlerfreie Entscheidungen So stellt sich die Frage, wie sich Fehlurteile vermeiden lassen. 657  MAH Strafverteidigung-Strate, § 27 / 54; Hirschberg, Monatsschrift für Kriminalpsychologie und Strafrechtsreform 1930, 395, 404. 658  Hirschberg, Das Fehlurteil im Strafprozeß, S. 106 ff. 659  Geipel, in: Miebach / Hohmann, Wiederaufnahme in Strafsachen, Teil  A, Rz. 199 und Hirschberg, Das Fehlurteil im Strafprozeß, S. 113 ff. 660  KK-Krehl, § 244 / 143; MG § 244 / 56. 661  Hirschberg, Das Fehlurteil im Strafprozeß, S. 120. 662  So betont etwa Dr. Herbert Veh, Präsident des LG Augsburg in einem Interview vom 22.09.2014, dass Richter „natürlich nicht unfehlbar“ sind, vgl. Augsburger Allgemeine Zeitung, Nr. 218 vom 22.09.2014, S. 13. 663  Judex, Irrtümer der Strafjustiz, S. 197. 664  Veh, Interview vom 22.09.2014, dass Richter „natürlich nicht unfehlbar“ sind, vgl. Augsburger Allgemeine Zeitung, Nr. 218 vom 22.09.2014, S. 13, fordert, dass sich die Justiz der öffentlichen Debatte stellt und ihre Arbeit erklärt.



C. Ursachen von Fehlurteilen und Möglichkeiten ihrer Verhinderung 301

Eine materiell gerechte Entscheidung, die zur Wiederherstellung von Rechtsfrieden Ziel eines jeden Strafprozesses ist, kann nur aufgrund eines korrekt ermittelten Sachverhalts ergehen.665 1. Ausbildung in Hilfswissenschaften Um einen Sachverhalt wirklichkeitsgetreu zu ermitteln, sind zunächst für alle strafprozessual mitwirkenden Juristen verschiedene Kenntnisse jenseits ihres unmittelbaren fachlichen Horizonts unerlässlich. Neben bekannten theoretischen Kenntnissen des Rechts und der Fähigkeit korrekte Entscheidungen herbeizuführen, werden dies immer mehr praktische Erfahrungen und Fertigkeiten in den Komplementärwissenschaften sein: Kriminaltechnik, angewandte Kriminologie666 und Kriminalistik einerseits, andererseits allgemeine Rechtsmedizin und forensische Psychiatrie, insbesondere Aussage­ psychologie.667 Die juristische Ausbildung beschäftigt sich aktuell hingegen lediglich mit der Gesetzesanwendung, nicht mit der Ermittlung eines Sachverhalts. Die interdisziplinäre Vernetzung der verschiedenen Wissenschaften dürfte eine strukturierte und neutrale Erforschung der Wahrheit, oder jedenfalls eine Annäherung an diese, gewährleisten. Überdies unverständlich ist, weshalb die juristische Ausbildung gerade das ausspart, was den Alltag der in der Praxis tätigen Volljuristen prägt: die Beweislehre.668 Entsprechendes hat die durchgeführte Untersuchung ergeben669: Kenntnisse zu Komplementärwissenschaften wären notwendig, u. a. auch, um als Verteidiger im Bereich der Wiederaufnahme tätig zu sein. Hier wird oftmals zum einen durch eigene Ermittlungen des Verteidigers eine Untätigkeit der Staatsanwaltschaft kompensiert, zum anderen die Einbeziehung von Ermittlungsbehörden in diesem Verfahrensstadium so weit wie möglich vermieden. 665  LR-Gössel,

Vor § 359 / 5. auch Geipel, in: Miebach / Hohmann, Wiederaufnahme in Strafsachen, Teil A, Rz. 107; Eschelbach, Wiederaufnahmefragen, in: FS Stöckel, S. 203. 667  Zustimmend Geipel, in: Miebach / Hohmann, Wiederaufnahme in Strafsachen, Teil A, Rz. 107; Eschelbach, Wiederaufnahmefragen, in: FS Stöckel, S. 203; Judex, Irrtümer der Strafjustiz, S. 169 ff. Auch Peters reklamiert die fehlende Ausbildung diesbezüglich, vgl. Peters, in: FS-Mezger, S. 477. 668  Bock / Eschelbach / Geipel / Hettinger / Röschke / Wille, Die erneute Wiederaufnahme des Strafverfahrens, GA 2013, 328, 332; Geipel, in: Miebach / Hohmann, Wiederaufnahme in Strafsachen, Teil A, Rz. 107 und 237; Eschelbach, Wiederaufnahmefragen, in: FS Stöckel, S. 203. 669  s. o. S.  225. 666  So

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Teil 2: Eigene Untersuchung und Reformvorschläge

2. Vermeidung von Fehlern im Ermittlungsverfahren Ein fehlerfreies Urteil setzt, wie gesehen, voraus, dass Beweise korrekt erhoben, verwertet und bewertet werden. Die Staatsanwaltschaft und ihre Hilfspersonen haben im Ermittlungsverfahren die Pflicht und Verantwortung, das Vorliegen einer strafbaren Handlung sorgfältig und objektiv zu ermitteln. Wie die bisherige Untersuchung ergeben hat, werden Fehlurteile immer wieder auf Versäumnisse im Ermittlungsverfahren zurückgeführt. Auch die Literatur hat sich mit Fehlerquellen im Ermittlungsverfahren befasst. Lange etwa wertete diese, basierend auf der Dokumentation Peters’ aus und zeigte Ermittlungsfehler systematisch auf.670 Dabei trat zu Tage, dass bewusst falsche Zeugenaussagen etwa doppelt so häufig wie falsche Geständnisse für ein Wiederaufnahmeverfahren mitursächlich waren.671 Fehlerquellen im Ermittlungsverfahren sind daher, insbesondere im Zusammenhang mit der Beweisbeschaffung und der Meinungsbildung zur Annahme eines hinreichenden Tatverdachts durch die Ermittlungsbehörden, zu sehen.672 Fehlerquellen bei der Beweisbeschaffung sind nach Erkenntnissen Langes zu spät einsetzende Ermittlungen bzw. unterlassene Nachforschungen und damit einhergehende Beweisverluste (in 6 von 1.100 untersuchten Wieder­ aufnahmeverfahren)673, aber auch verfrühte Ermittlungshandlungen, die ein Überführen des Täters vereiteln.674 Die Beweisbeschaffung kann auch dann fehlerbehaftet sein, wenn Beweismöglichkeiten nicht ausgeschöpft werden, die Ermittlungen einseitig verlaufen oder Beweismittel nicht auf ihre Zuverlässigkeit hin untersucht werden.675 Schließlich kann auch die Personenverwechslung bzw. eine ungenügende Identifizierung in der Praxis immer wieder eine Fehlerquelle darstellen.676 Bei Personalbeweisen können Fehlerquellen darüber hinaus in der Art der Beweisaufnahme und deren Würdigung liegen, etwa durch unzulängliche Vernehmungstechniken oder die Anwendung unzulässiger Beweismethoden (die mitunter zu falschen Geständnissen führen können mit dem Hintergrund, den wahren Täter zu decken oder weil der Beschuldigte den Überblick über die von ihm tatsächlich begangenen Taten verloren hat; als weitere Motive 670  Lange,

Fehlerquellen im Ermittlungsverfahren, S. 10. Fehlerquellen im Ermittlungsverfahren, S. 2. 672  Lange, Fehlerquellen im Ermittlungsverfahren, S. 15 f. 673  Lange, Fehlerquellen im Ermittlungsverfahren, S. 17 ff.; Peters, Fehlerquellen im Strafprozeß II, S. 196 ff. 674  Lange, Fehlerquellen im Ermittlungsverfahren, S. 23 f. 675  Kaspar / Arnemann, R&P 2016, 58, 59; Lange, Fehlerquellen im Ermittlungsverfahren, S. 24, 26; Peters, Fehlerquellen im Strafprozeß II, S. 200 ff. 676  Lange, Fehlerquellen im Ermittlungsverfahren, S. 131. 671  Lange,



C. Ursachen von Fehlurteilen und Möglichkeiten ihrer Verhinderung 303

wurde analysiert, dass der Beschuldigte zu Unrecht annimmt, sich tatsächlich strafbar gemacht zu haben oder ein falsches Geständnis ablegt, um den ­Verdacht, eine noch schwerere Straftat begangen zu haben, zu zerstreuen bzw. weitere Konsequenzen abzuwiegeln; schließlich kann auch empfundene Aussichtslosigkeit des Verfahrens einen Betroffenen zu einem Geständnis verleiten677).678 Auch eine ungenügende Protokollierung von Aussagen kann Fehler verursachen.679 Die schriftliche Fixierung von Zeugenaussagen beinhaltet das Risiko, dass das Vernehmungsprotokoll zu einem künstlichen Gebilde wird, vermengt vom Wissen der Aussageperson und den in Fragestellungen zum Ausdruck kommenden Hypothesen der Vernehmungsperson.680 Aber auch die ungenügende Erforschung der Persönlichkeit des Vernommenen bzw. seiner Interessenlage können fehlerhafte Personalbeweise verursachen.681 Neben bewussten Falschaussagen stellen auch unbewusst falsche Aussagen eine Fehlerquelle dar. Mangelhafte Gedächtnisleistung, suggestive Beeinflussung, Verständnisfehler und beeinträchtigte Wahrnehmungsfähigkeit führen zu falschen Angaben.682 Sachbeweise werden zu Fehlerquellen, wenn sie nicht ermittelt oder falsch gesichert werden, oder durch Zeitablauf verlustig gehen – oder gar falsche Spuren, bewusst oder irrtümlich, gesetzt werden. Schließlich besteht die Mögichkeit, dass richtig gewonnene und gesicherte Sachbeweise falsch ausgewertet bzw. ungenügend überprüft werden.683 Bei der für die Fertigung der Abschlussverfügung erforderlichen Bewertung der Ermittlungen und Beweisergebnisse können der Staatsanwaltschaft ebenfalls Fehler unterlaufen. Hier ist neben einer Voreingenommenheit (insbesondere gegenüber dem Tatverdächtigen684) etwa an Verstöße gegen Denkgesetze und an Trugschlüsse zu denken, ebenso wie an Verkennung der Grenzen der Beweisbarkeit oder Beweislücken im Zusammenhang mit Indizienketten.685 Neben Fehlern bei der Meinungsbildung ist schließlich noch an eine ungenügende Prüfung der gesetzlichen Grundlagen (bspw. einzelner 677  In 66 der untersuchten 1.100 Verfahren der Fall, vgl. Lange, Fehlerquellen im Ermittlungsverfahren, S. 90 ff. Hierzu auch Peters, Fehlerquellen im Strafprozeß II, S.  15 ff. 678  Peters, Fehlerquellen im Strafprozeß II, S. 209. 679  Lange, Fehlerquellen im Ermittlungsverfahren, S. 83 ff. 680  Schünemann, Legitimation durch Verfahren?, StraFo 2015, 177, 184. 681  Lange, Fehlerquellen im Ermittlungsverfahren, S. 103 ff.; Peters, Fehlerquellen im Strafprozeß II, S. 210. 682  Peters, Fehlerquellen im Strafprozeß II, S. 73 ff. und 85 ff.; Lange, Fehlerquellen im Ermittlungsverfahren, S. 112 f. 683  Lange, Fehlerquellen im Ermittlungsverfahren, S. 27 ff. 684  Lange, Fehlerquellen im Ermittlungsverfahren, S. 137 ff. 685  Lange, Fehlerquellen im Ermittlungsverfahren, S. 135 ff.

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Teil 2: Eigene Untersuchung und Reformvorschläge

Tatbestandsmerkmale, Prozessvoraussetzungen, -hindernisse oder einer ungenügenden Prüfung der Schuld686) zu denken. Da die Fehlerquellen, die im Ermittlungsverfahren wurzeln, für den weiteren Fortgang des Verfahrens von elementarer Bedeutung sind und oftmals im Hauptverfahren nicht neutralisiert werden, bedürfen sie besonderer Beachtung.687 Vor diesem Hintergrund erstaunt es, dass der Gesetzgeber mit den Regelungen über die Hauptverhandlung das Kräftegleichgewicht zwischen den Beteiligten weitaus konkreter gefasst hat, als er dies für die Mitwirkungsrechte der Beteiligten im Ermittlungsverfahren getan hat. Hier wäre durchaus zu überlegen, zur Vermeidung von Fehlern und zur Überwachung des Ermittlungsverfahrens, das von einer faktischen Kompetenzverlagerung der Staatsanwaltschaft hin zur Polizei als Herrin des Ermittlungsverfahrens dominiert wird688, die Mitwirkung eines Verteidigers im gesamten Ermittlungsverfahren zu fordern. Aktuell ist dem Verteidiger die Anwesenheit nur bei den wenigsten Ermittlungshandlungen gestattet.689 Die Ermittlungsbefugnisse der Verteidigung im Ermittlungsverfahren zu stärken und den Ermittlungsbehörden aufzugeben, die Bemühungen der Verteidigung aktiv zu unterstützen690, erscheint daher als eine Chance zur Vermeidung von Fehl­ urteilen. Aber nicht die Arbeit der Ermittlungsbehörden allein, sondern insbesondere auch Zeugenvernehmungen stellen eine der größten Fehlerquellen des Strafverfahrens dar. Dies gilt in erster Linie für die Identifizierung eines Verdächtigen durch einen Zeugen691, aber auch für das Problem der Qualifizierung des Beschuldigtenstatus, ebenso wie für das Recht auf Verteidigerkonsultation, und nicht zuletzt für die mangelhafte Dokumentation von Vernehmungen. Zeugenvernehmungen dominieren das Strafverfahren. Deren richtige Erfassung ist mithin Grundvoraussetzung auf dem Weg zu einem richtigen Urteil.692 Die Ermittlungsbehörden sind die Ersten, die mit dem 686  Lange,

Fehlerquellen im Ermittlungsverfahren, S. 164 ff. Fehlerquellen im Ermittlungsverfahren aus Verteidigersicht, StV 2015, 185, 186; Peters, in: FS-Mezger, S. 495; Velten, Fehlerquellen im Hauptverfahren StraFo 2015, 354, 355. 688  Neuhaus, Fehlerquellen im Ermittlungsverfahren aus Verteidigersicht, StV 2015, 185, 186. 689  Nach Wasserburg ist der gewissenhafte Verteidiger daher für die Kontrolle der Anklagevorwürfe auf eigene Nachforschungen angewiesen, vgl. Wasserburg, Die Wiederaufnahme des Strafverfahrens, S. 91. 690  Für die Verteidigung von Relevanz ist in diesem Zusammenhang insbesondere die Beweisantragsmöglichkeit des § 163b Abs. 2 StPO sein. 691  Janisch, Ohne jeden Zweifel, Süddeutsche Zeitung vom 17.05.2015, http: /  /  www.sueddeutsche.de / politik / fehlurteile-ohne-jeden-zweifel-1.2479505 (zuletzt aufgerufen am 29.07.2017). 687  Neuhaus,



C. Ursachen von Fehlurteilen und Möglichkeiten ihrer Verhinderung 305

Verfahrensstoff betraut sind. Haben sie sich ihre Gewissheit des Geschehens verschafft, liegt nahe, dass im Wege sog. „confirmation bias“693 anstelle objektiver Ermittlungen nach Bestätigung der persönlichen Hypothese gesucht wird und diese protokolliert wird. In der Praxis ist demnach zu konstatieren, dass der Vernehmungsbeamte die Herrschaft über den Protokollinhalt innehat, was faktisch zu einer Herrschaft über die Erkenntnisse des Ermittlungsverfahrens führt. Hierbei ist auch zu konstatieren, dass die Fragetechnik des Vernehmenden durchaus Einfluss auf die Antwort haben kann.694 Der Gesetzgeber sah sich wohl auch deshalb dazu veranlasst, den Vernehmungsbeamten mit Nr. 45 Abs. 2 RiStBV zu empfehlen, Frage, Vorhalte und Antworten im Wortlaut wiederzugeben. Umso mehr bedarf es einer authentischen Dokumentation des tatsächlich Gesagten695, so dass sich Staatsanwaltschaft, Gericht und Verteidigung im weiteren Fortgang des Verfahrens einen eigenen Eindruck über die befragte Person und den Inhalt der Vernehmung verschaffen können. Nur so sind die am Verfahren Beteiligten, insbesondere jedoch die zur Entscheidungen berufenen Personen, in der Lage, eine exakte Aussageanalyse anstellen zu können, und die Glaubwürdigkeit der Angaben zu verifizieren. Abhilfe könnte hier neben einer authentischen Dokumentation der Vernehmung, ein umfangreiches Anwesenheitsrecht des Verteidigers schaffen.696 Die vollständige und authentische Dokumentation einer Vernehmung in Form einer Videoaufzeichnung bietet jedoch die größte Verlässlichkeit und konserviert die Aussage auch für die Zukunft.697 Die Vernehmung wird so auch für evtl. erst später am Verfahren Beteiligte, wie z. B. für Sachverständige zur Erstattung eines 692  Neuhaus, Fehlerquellen im Ermittlungsverfahren aus Verteidigersicht, StV 2015, 185, 189. 693  Confirmation bias sind sog. Bestätigungsfehler. Zu verstehen ist darunter die Neigung, eine Information entsprechend der eigenen Überzeugung zu suchen bzw. zu interpretieren, mithin ein struktureller Selbstbestätigungsmechanismus, vgl. Püschel, Fehlerquellen in der Sphäre von Staatsanwaltschaft und Polizei, StraFo 2015, 269, 277. 694  Neuhaus, Fehlerquellen im Ermittlungsverfahren aus Verteidigersicht, StV 2015, 185, 189. 695  Oft ergibt sich aus dem schriftlichen Vernehmungsprotokoll schon nicht, ob der Zeuge einen zusammenhängenden Bericht lieferte oder die Erkenntnisse erst durch eingehende Befragung gewonnen werden konnten. Die Trennung zwischen beidem ist jedoch bereits angesichts § 69 Abs. 1 S. 1 StPO geboten. 696  Der Verteidiger hätte in diesem Fall nicht nur die Möglichkeit, die Dokumentation unmittelbar zu überprüfen und ggf. korrigierend Einfluss zu nehmen, sondern zugleich Alternativhypothesen zu schaffen und so der kognitiven Dissonanz des sog. Inertiaeffekts vorzubeugen. 697  Zu dieser Forderung vgl. auch Leitner, Videotechnik im Strafverfahren, S. 144 ff. Auch im aktuellen Koalitionsvertrag zwischen der CDU, CSU und SPD spielt die Aufzeichnung einer Vernehmung lediglich im Zusammenhang mit dem Op-

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Teil 2: Eigene Untersuchung und Reformvorschläge

aussagenpsychologischen Gutachtens, authentisch nachvollziehbar. Auch bietet diese Art der Dokumentation den Vorteil, dass ohne jeden Zweifel zwischen dem wirklichen Wissen des Zeugen und der Protokollierung durch die Vernehmungsperson abgegrenzt werden kann. Dass diese Abhilfemöglichkeit nach wie vor mit dem Argument erhöhten Aufwands abgelehnt wird, erscheint nicht nachvollziehbar. 3. Vermeidung von Fehlern im Hauptverfahren Die Hauptverhandlung hat das Ziel, die materielle Wahrheit zu ermitteln und die persönliche Schuld des Angeklagten festzustellen. Neben der Gefahr von Bestätigungsfehlern des bereits im Zwischenverfahren mit dem Ver­ fahrensstoff betrauten Richters, besteht in diesem Verfahrensstadium als weitere Fehlerquelle die sog. „kognitiven Dissonanz“698. Auch die anerkannte Überlastung der Justiz699 gilt als fehlurteilsförderlich. Das Pensum wird trotz Überlastung durch die Gerichte bewältigt, die Aufklärungsdichte nimmt ab.700 Mit der Eröffnung des Hauptverfahrens hat der zur Entscheidung in der Hauptsache berufene Richter angenommen, dass eine Verurteilung hinreichend wahrscheinlich ist. In der Konsequenz besteht die Gefahr, dass dieser Beurteilung widersprechende Umstände – die mithin den Anklagevorwurf in Frage zu stellen geeignet sind – nur ungern zur Kenntnis genommen werden, stehen sie doch der ersten Einschätzung entgegen, die zur Eröffnung des Hauptverfahrens geführt hat. Der Verteidigung obliegt es, alle für den Angeklagten sprechenden Umstände zu präsentieren und in die Hauptverhandlung einzubringen. Dazu gehört insbesondere die eingehende Vorbereitung und Beratung im Hinblick auf das Einlassungsverhalten, ebenso wie die umfassende Rechtsprüfung und Aufklärung des Mandanten. Daneben muss der Verteidiger durch entsprechende Anträge, wie bspw. auf Einholung eines psychiatrischen und aussagepsychologischen Gutachtens oder durch die Selbstladung eines Zeugen oder Sachverständigen, entlastende Umstände in das Verfahren einbringen.701 ferschutz eine Rolle, vgl. https: /  / www.cdu.de / system / tdf / media / dokumente / koaliti onsvertrag_2018.pdf?file=1, S. 131 (zuletzt aufgerufen am 05.02.2018). 698  Dies bedeutet, dass vom ersten Eindruck abweichende Erkenntnisse, als störend empfunden, der Entscheidungsfindung nicht zugrunde gelegt würden, vgl. Schünemann, StV 2000, 159, 160. 699  Judex, Irrtümer der Strafjustiz, S. 183. 700  Eschelbach, Wiederaufnahmefragen, in: FS Stöckel, S. 201. 701  Schwenn, Fehlurteile und ihre Ursachen – die Wiederaufnahme im Verfahren wegen sexuellen Missbrauchs, StV 2010, 705, 709.



C. Ursachen von Fehlurteilen und Möglichkeiten ihrer Verhinderung 307

Das Gericht schließlich muss sämtliche Umstände gewissenhaft und objektiv prüfen und sich seine Überzeugung unvoreingenommen bilden. Der zur Entscheidung berufene Richter muss sich vom Perseveranzeffekt702 lösen und frei vom polizeilich bestimmten Akteninhalt eine Entscheidung treffen. Dabei dürfen an die richterliche Überzeugungsbildung auch nicht zu geringe Anforderungen gestellt werden – es hat den Sachverhalt umfassend aufzuklären, um sich eine für die Verurteilung ausreichende Überzeugung zu verschaffen.703 Es muss sich nicht nur von öffentlichem oder politischem Druck lösen, sondern auch von dem Vorurteil, welches es mit Erlass des Eröffnungsbeschlusses offenbart hat.704 Zugleich darf nicht die Unschuldsvermutung zugunsten des Opferschutzes ausgehöhlt werden.705 Gleichfalls hinsichtlich der Urteilsabfassung ist das Gericht gehalten, Zweifel an der Schuld des Angeklagten darzulegen, um eine Überprüfung des Urteils in der Rechtsmittelinstanz zu ermöglichen. 702  Schünemann, StV 2000, 159, 165. Der Perseveranzeffekt beschreibt, dass der Betrachter oftmals kaum in der Lage ist, sich vom ersten Eindruck frei zu machen. Gerade im Strafprozess sollten die Würfel jedoch weder im Ermittlungs- noch im Zwischenverfahren, sondern erst in der Hauptverhandlung fallen. Das Wiederaufnahmegericht muss sich zudem von der Prämisse befreien, dass ein bereits höchstrichterlich bestätigtes Urteil richtig sein muss. Dies gilt insbesondere für die Revisionsin­ stanz, die mangels effektiver Möglichkeit der Beweiskontrolle keine Richtigkeitsgarantie liefern kann. 703  Kiwit, Fehlurteile im Strafrecht, S. 166 f. führt weiter aus, dass auch Beweise nicht erhoben bzw. verwertet wurden. Das Gericht müsse aber alle Beweismöglichkeiten ausschöpfen. Dazu seien in den von ihm untersuchten Verfahren Fehlurteile dadurch entstanden, dass Zeugen nicht auf ihre Glaubwürdigkeit hin überprüft worden seien. Kiwit fordert daher, für jeden Zeugen im Strafprozess Strafregisterauszüge anzufordern (a. a. O.). Ein weiterer Grund für Fehlurteilte bestehe darin, dass das Gericht durch die Aktenkenntnis bereits ein Vorurteil gefällt habe und deshalb keine freie Überzeugung mehr bilden könne. Kiwit fordert daher die Einführung einer Pflicht zur Darstellung des Sachverhalts aus Sicht des Beschuldigten im Zwischenverfahren, damit das Gericht bei der Entscheidung über die Eröffnung des Hauptverfahrens auch seine Perspektive kenne (a. a. O., S. 177). Dieser Forderung steht jedoch bereits die Selbstbelastungsfreiheit entgegen. 704  Schwenn, Fehlurteile und ihre Ursachen – die Wiederaufnahme im Verfahren wegen sexuellen Missbrauchs, StV 2010, 705, 706. 705  Zu denken ist hier insbesondere an Konstellationen, in denen (v. a. bei Verfahrensabsprachen) eine Revikitimisierung des Opfers dadurch verhindert werden soll, dass der Angeklagte sich geständig einlässt. Vor dem Druck einer mehrjährigen Freiheitsstrafe bei Vernehmung des Opfers fühlt sich u. U. auch ein Unschuldiger zu einem falschen Geständnis genötigt, vgl. Schwenn, Fehlurteile und ihre Ursachen – die Wiederaufnahme im Verfahren wegen sexuellen Missbrauchs, StV 2010, 705, 706. Der Tatverdächtige im Fall Peggy Knobloch, Ulvi Kulac, wurde etwa allein 900 Stunden von der Soko II verhört, vgl. http: /  / www.fnp.de / lokales / frankfurt / Anwalt-von Ulvi-Kula %E7-Manchmal-zweifle-ich-am-Rechtsstaat;art675,852198 (zuletzt aufgerufen am 09.06.2014).

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Geipel schlägt insoweit unter Bezugnahme auf Hirschberg u. a. vor, dass das Tatgericht die für und gegen die Schuld des Angeklagten sprechenden Umstände schriftlich aufzeichnen und gegenüberstellen solle. Dies könne einer Fehlurteilsgefahr, begründet durch die unvollständige und subjektive richterliche Wahrnehmung, vorbeugen. Nur so sei der Gefahr von Fehlurteilen zu begegnen, da aktuell weder alle Umstände der Beweisaufnahme aufgezeichnet würden, noch die Urteilsberatung mit der Gewichtung einzelner Umstände nachvollziehbar sei. So könne auch einen Irrtum des Tatgerichts verhindert werden, würde es gehalten sein, sich schriftlich mit einzelnen Beweismomenten auseinanderzusetzen.706 4. Resümee Fehlurteile beruhen meist auf menschlichem Versagen eines oder mehrerer Verfahrensbeteiligter und deren subjektiven Wahrnehmungen.707 Also können nicht allein gesetzliche Verbesserungen Fehlurteile verhindern. Trifft zudem die Klage über eine chronische Überbelastung der Strafjustiz zu, verwundert es nicht, dass hieraus Fehler und Fehlurteile entstehen. Die Häufigkeit von Fehlern wird sich aber nur dann reduzieren lassen, wenn die Justizressourcen aufgestockt werden und die Strafjustiz personell besser ausgestattet wird.708 Zu prüfen, ob die Verfahrensvorschriften der StPO gewahrt wurden, obliegt allen Beteiligten, ebenso wie die Pflicht, ihren Beruf gewissenhaft auszuüben.709 Denn ein Fehlurteil zu verhindern, ist Aufgabe sämtlicher (professioneller) Prozessbeteiligter. Über die Ausbildung der Justizjuristen in Hilfswissenschaften hinaus, fordert Eschelbach ein „geläutertes Verständnis“710 der Entscheidungsträger, um Fehlurteile zu verhindern.711 Die tatsächlichen Umstände würden verkannt, wenn stets nur einem Prozessbeteiligten der Vorwurf des Fehlurteils gemacht würde, denn nicht selten beruht eine Fehlentscheidung auf dem Fehlverhalten mehrerer Beteiligter.712 706  Geipel, in: Miebach / Hohmann, Wiederaufnahme in Strafsachen, Teil  A, Rz. 239. Geipel schlägt weiter vor, in richterlichen Kollegialorganen einen Richter als advocatus dei und einen als advocatus diaboli einzusetzen, um Wahrnehmungsverzerrungen zu vermeiden (vgl. Geipel, in: Miebach / Hohmann, Wiederaufnahme in Strafsachen, Teil A, Rz. 243). 707  Peters, Fehlerquellen im Strafprozeß II, S. 299 ff.; Kiwit, Fehlurteile im Strafrecht, S. 1. 708  Kaspar / Arnemann, R&P 2016, 58, 63. 709  Kiwit, Fehlurteile im Strafrecht, S. 161 ff. 710  Eschelbach, Wiederaufnahmefragen, in: FS Stöckel, S. 203 f. 711  Eschelbach, Wiederaufnahmefragen, in: FS Stöckel, S. 204. 712  Kiwit, Fehlurteile im Strafrecht, S. 161.



C. Ursachen von Fehlurteilen und Möglichkeiten ihrer Verhinderung 309

Gleichwohl wurde in ca. einem eine Fehlentscheidung durch die Er folgert, dass die Bestellung wäre, falsche Entscheidungen zu

Viertel der von Kiwit untersuchten Fällen Abwesenheit eines Verteidigers begünstigt. eines Pflichtverteidigers eine Möglichkeit verhindern.713

Der Bundesgerichtshof führte im Zusammenhang mit dem Anwaltshaftungsrecht aus: „Der mit der Prozessführung betraute Rechtsanwalt ist mit Rücksicht auf das auch bei Richtern nur unvollkommene menschliche Erkenntnisvermögen und die niemals auszuschließende Möglichkeit eines Irrtums verpflichtet, nach Kräften dem Aufkommen von Irrtümern und Versehen des Gerichts entgegenzuwirken (…).“714

Schließlich setzt ein fehlerfreies Urteil voraus, dass der Rechtsstaat effektive Instrumente zur Prüfung einer gerichtlichen Entscheidung gewährt. Den Rechtsmittelgerichten kommt eine entscheidende Funktion bei der Vermeidung von Fehlurteilen zu – ihnen obliegt, Fehlentscheidungen zu korrigieren. Die Kontrollinstanz kann aber nur dann effektiv eingreifen, wenn das Verhandlungsgeschehen für sie rekonstruierbar ist.715 Nur so steht der Tatrichter unter dem Druck, ein rechtsfehlerfreies Urteil zu verfassen.

III. Möglichkeiten zur Aufdeckung von Fehlurteilen Zugespitzt formuliert Tschadek, dass Justizirrtümer selten auf einem Rechtsirrtum, sondern oftmals auf einem Tatsachenirrtum beruhen.716 Die Revision kann demnach Justizirrtümer weder aufdecken, noch korrigieren. Dies ist nach der Intention des Gesetzgebers die Aufgabe des Wiederaufnahmeverfahrens. Voraussetzung für die Wiederherstellung des Rechtsfriedens im Wiederaufnahmeverfahren ist wiederum, dass der wahre Sachverhalt besser aufgeklärt werden kann. Dies bedingt, dass die materiell ungerechte Entscheidung im Erstverfahren auf einem nicht zutreffend ermittelten Sachverhalt beruhte und im Zweitverfahren zuverlässigere Möglichkeiten bestehen, den tatsächlichen Sachverhalt im Wege des Strengbeweises zu erforschen.717 713  Kiwit,

Fehlurteile im Strafrecht, S. 169, 172. NJW 2010, 73, 74. 715  Eschelbach, Wiederaufnahmefragen, in: FS Stöckel, S. 204. 716  Zitiert nach Geipel, in: Miebach / Hohmann, Wiederaufnahme in Strafsachen, Teil A, Rz. 244. 717  SK-Frister, Vor § 359 / 1; AK-Loos, vor § 359 / 1. Radtke, Kurzgutachten zur Stärkung des Wiederaufnahmeverfahrens für die 5. Sitzung der BMJV-Expertenkommission http: /  / www.bmjv.de / SharedDocs / Downloads / DE / PDF / Anlage_1_StPO_Kom mission.pdf?__blob=publicationFile&v=4, S. 699  ff. (zuletzt aufgerufen am 26.08. 2016). 714  BGH

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Zu berücksichtigen ist zugleich: Die Aufarbeitung von Fehlern des Grundverfahrens ist weder Zweck des Wiederaufnahmeverfahrens, noch kann der Rechtsbehelf dies leisten.718 Es ist also weder die Aufgabe des Wiederaufnahmegerichts noch die des zur neuen Entscheidung berufenen Gerichts, die Ursachen eines Fehlurteils zu eruieren. Ihre Verantwortung ist es vielmehr, richtig und rechtsfehlerfrei über Schuld oder Unschuld des Angeklagten zu befinden. Dennoch besteht großer Bedarf an der Aufarbeitung von Fehlern, um Fehlentscheidungen für die Zukunft zu vermeiden. Die Politik müsste das Zustandekommen von Fehlurteilen beleuchten und Konsequenzen ziehen. Da die letzte durch Peters initiierte fundierte Auseinandersetzung mit Fehlerquellen im Strafprozess bereits über 50 Jahre zurückliegt, besteht aufgrund geänderter Fehlerquellen (bspw. durch die Möglichkeit der Verfahrensabsprache gem. § 257c StPO) dringender Handlungsbedarf. Aufgerufen insoweit sind insbesondere die Ministerien sowie die Leitungsorgane von Justiz und Polizei719, denen bei einer Aufarbeitung wissenschaftliche Hilfe angeraten sein soll. Wenn schon im Fall gerichtlichen Fehlverhaltens eine Strafverfolgung gem. § 339 StGB kaum erfolgversprechend sein dürfte, so muss doch die Aufklärung der Ursachen von Fehlentscheidungen im Interesse des Rechtsstaates sein, um das eigene Ansehen nicht dauerhaft zu schädigen. Auch Ermittlungsbehörden sollten zu ihren Fehlern stehen, ohne sie rechtfertigen bzw. gar beschönigen zu wollen.720 Wie jede Institution ist die Justiz auf das Vertrauen angewiesen, das ihr entgegengebracht wird. Vertrauen kann aber nur entstehen, wo Fehler aufgearbeitet und der Frage nach dem Warum effektiv nachgegangen wird. 1. Innocence project Im Ausland gibt es bereits verschiedene Bewegungen mit dem Ziel, Fehlurteile auszumachen und gesprochenes Unrecht zu beseitigen.

718  s. hierzu auch oben S. 23  ff. Die Ursachen für eine Fehlentscheidung im Grundverfahren sind oftmals vielschichtig. 719  In deren Händen auch die Materialherrschaft liegt. 720  Im Fall des 2004 verurteilten Ulvi Kulac räumte ein V-Mann im Rahmen einer ermittlungsrichterlichen Vernehmung 2010 ein, im Verfahren vor dem Landgericht Hof falsch ausgesagt zu haben. Die Polizei habe ihn unter Druck gesetzt und ihm gesagt, was er aussagen solle. Vgl. http: /  / www.fnp.de / lokales / frankfurt / Anwalt-von Ulvi-Kula %E7-Manchmal-zweifle-ich-am-Rechtsstaat;art675,852198 (zuletzt aufgerufen am 09.06.2014).



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So gründeten in den Vereinigten Staaten 1992 Rechtsanwälte und andere Experten die Initiative „Innocence project“, um zusammen mit Jura-Studenten rechtskräftig abgeschlossene Kriminalfälle ihre Unschuld beteuernder Straftäter mittels DNA-Gutachten aufzuarbeiten.721 Bis Mai 2015 wurden 329 Fehlurteile aufgedeckt – davon 17, die mit Todesstrafe endeten.722 2. Aufarbeitung von Fehlurteilen in England und Frankreich In England fügte man in den Jahren 1994 und 2003 inquisitorische Elemente in die Rechtsordnung ein, dank derer die Sachgutachten und forensischen Beweiserhebungen stärker in den Strafprozess eingebunden wurden. Seit 1997 stößt eine Kommission polizeiliche Ermittlungen an, wertet Beweismittel aus und legt diese dann dem Verurteilten oder dem Rechtsmittelgericht vor. In 264 angestoßenen Verfahren wurden 144 Urteile abgeändert.723 In Frankreich endeten in den Jahren 1989 bis 2007 von 54 Wiederaufnahmeverfahren vor dem Cour de révision sechs mit einem Freispruch. Auch dort beschäftigt sich eine eigene Kommission mit der Beurteilung neuer Beweise, wobei diese – anders als in England – eigene Ermittlungsmaßnahmen durchführen kann. Die Kommission gibt nach Abschluss der Ermittlungen eine Empfehlung an den Cour de révision als Wiederaufnahmegericht.724 3. Aufarbeitung von Fehlurteilen in Deutschland Bereits seit längerer Zeit untersuchen Landeskriminalämter die Asservate aus schweren, unaufgeklärten Kriminalfällen nochmals und gleichen sie mit ihrem Datenbestand der DNA-Dateien ab.725 Die Juristenausbildung hingegen befasst sich ebenso wenig wie die übrige Strafrechtspflege mit der Aufarbeitung von Fehlurteilen und Fehlurteilsursachen.726

721  Strate, Der Schlaf der Gerechten – zum Umgang der Strafverteidiger mit der Wiederaufnahme. http: /  / www.strate.net / de / publikationen / der_schlaf_der_gerechten. html (zuletzt aufgerufen am 13.05.14). 722  www.innocenceproject.org / cases-false-imprisonment (zuletzt aufgerufen am 30.05.2015). 723  Jehle, FPPK 2013, 220, 223. 724  Jehle, FPPK 2013, 220, 223. 725  Z.  B. Artikel vom 03.09.09, in: https: /  / www.merkur.de / bayern / dank-dna-ana lyse-ungeklaerte-faelle-geloest-458835.html. 726  Geipel, in: Miebach / Hohmann, Wiederaufnahme in Strafsachen, Teil A, Rz. 5.

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Teil 2: Eigene Untersuchung und Reformvorschläge

Strate spricht sich für einen Zusammenschluss von Strafverteidigern aus, um unschuldig Verurteilten Beratung und Hilfe zukommen zu lassen.727 Auch die im Rahmen der Untersuchung befragten Experten hielten Initiativen wie das Innocence Project für sinnvoll, da dies jedenfalls Sensibilität schaffe und ggf. Einfluss auf das Problembewusstsein der Justiz habe. Dieses Ansinnen scheint mehr als hehr, gleichwohl wird sich in der Praxis die Frage der Finanzierung eines Mandates stellen. So hat die durchgeführte Untersuchung gezeigt, dass die gesetzlichen Vergütungsregelungen den tatsächlichen Arbeitsaufwand nicht zu decken in der Lage sind. Hinzu kommen freilich noch die Kosten für die Beauftragung von Sachverständigen. Die Finanzierung des Verteidigers wird auch in der Literatur als erstes und kaum lösbares Problem angesehen.728 Gem. VV-RVG Nr. 4136 fällt für die Erarbeitung eines Wiederaufnahmeantrags eine Gebühr in Höhe der Verfahrensgebühr des ersten Rechtszugs an729; die Grundgebühr für die erstmalige Einarbeitung in die Angelegenheit entsteht nach dem ausdrücklichen Gesetzeswortlaut nicht. Daneben können weitere Gebühren für das Verfahren über die Zulässigkeit und Begründetheit des Antrags, Nr. 4137, 4138 VV-RVG, entstehen730 sowie die Verfahrensgebühr für das Beschwerdeverfahren, Nr. 4139 VV-RVG, und Terminsgebühren gem. Nr. 4140 VV-RVG. Auch nach Einführung der §§ 364a, b StPO sind die Hürden für die Beiordnung eines Rechtsbeistands hoch. Hat der Verurteilte keinen engagierten Strafverteidiger zur Seite, wird ihm ein solcher für die Vorbereitung des Wiederaufnahmeverfahrens gem. § 364b Abs. 1 S. 1 StPO nur beigeordnet, wenn hinreichende tatsächliche Anhaltspunkte dafür vorliegen, dass bestimmte Nachforschungen zu Tatsachen oder Beweismitteln führen, welche die Zulässigkeit eines Antrags auf Wiederaufnahme begründen können (Nr. 1), wenn wegen der Schwierigkeit der Sach- oder Rechtslage der Nachforschungen731 die Mitwirkung eines Verteidigers geboten erscheint (Nr. 2) und der Verurteilte außerstande ist, auf eigene Kosten einen Verteidiger zu beauftragen (Nr. 3). Für eine Erfolgsaussicht i. d. S. müssen Tatsachen vorliegen, aus denen sich ergibt, dass bestimmte Nachforschungen zur Aufdeckung von Gründen im

727  Strate, Der Schlaf der Gerechten – zum Umgang der Strafverteidiger mit der Wiederaufnahme. http: /  / www.strate.net / de / publikationen / der_schlaf_der_gerechten. html (zuletzt aufgerufen am 13.05.14). 728  Geipel, in: Miebach / Hohmann, Wiederaufnahme in Strafsachen, Teil C, Rz. 3. 729  Diese liegt für den beigeordneten Verteidiger ohne Haftzuschlag und Auslagen derzeit bei netto 132,00 € für amtsgerichtliche Verfahren sowie 148,00 € für Verfahren vor Strafkammern. 730  In Höhe der Verfahrensgebühr des ersten Rechtszugs. 731  KG, Beschluss vom 17.05.1999, Az. 1 AR 355 / 99  – 4Ws 116, 117 / 99, in: BeckRS 2014, 09676.



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Sinne des § 359 Nr. 5 StPO führen.732 Der Verurteilte muss demnach bereits in seinem Antrag vortragen, aus welchen Tatsachen sich ergibt, dass Nachforschungen zur Gewinnung neuer Tatsachen oder Beweismittel im Sinne des § 359 Nr. 5 StPO erfolgsversprechend erscheinen.733 In der Regel wird dieser Antrag – mangels entsprechender Erfolgsaussicht – aufgrund zu restriktiver Handhabung und aufgrund der Vorwegnahme der Hauptsache bzw. des Erneuerungsverfahrens scheitern.734 4. Eigene Ermittlungen der Verteidigung Strate geht von einer Wagenburg-Mentalität der Strafjustiz im Wiederaufnahmeverfahren aus, die jeden Angriff auf eine rechtskräftige Entscheidung abzuwehren versucht. Der Verteidiger habe sich daher durch das Studium der Rechtsprechung, insbesondere der verfassungsrechtlichen, hiergegen zu wappnen.735 Die befragten Experten berichteten überdies, dass sie sich erst autodidaktisch und dank praktischer Erfahrungen die nötigen Kenntnisse zum Wiederaufnahmerecht angeeignet hätten. Sie regten daher eine vertiefende Ausbildung im Bereich des Wiederaufnahmerechts an. Neben der Schwierigkeit, neue Umstände überhaupt zu ermitteln – man denke nur an problematische Zeugenbefragungen, zumal dem Verteidiger keine Zwangsbefugnisse zustehen – gilt es auch, justizielles Misstrauen gegenüber den eigenen Ermittlungen zu vermeiden.736 Für Misstrauen ist kein Raum, wo der Verteidiger die Grenzen zulässiger Ermittlungen nicht überschreitet. Eine gesetzliche Regelung für anwaltliche Ermittlungen existiert indes nicht. Dass es der Gesetzgeber gleichwohl anerkennt, ergibt sich etwa aus den Regelungen zur Beschaffung von Sachverständigengutachten, dem Augenschein, der Vernehmung des Beschuldigten, der Auffindung von Urkunden oder der Ermittlung737 und Vernehmung von Zeugen.738 Auch §§ 364a, b StPO setzen – ebenso wie bspw. das Beweisan732  MG

§ 364b / 5. § 364b / 8. 734  Wasserburg, Die Wiederaufnahme des Strafverfahrens, S. 52. Wasserburg empfiehlt daher, die Beiordnung eines Anwalts für dieses Verfahrensstadium einem objektiveren Gremium zu übertragen. Auch den Einsatz eines Bürgerbeauftragten beim OLG im Rahmen einer Vorprüfung des Wiederaufnahmeantrages befürwortet er, vgl. Wasserburg, Die Wiederaufnahme des Strafverfahrens, S. 53. 735  MAH Strafverteidigung-Strate, § 27 / 5. 736  Wasserburg, Die Wiederaufnahme des Strafverfahrens, S. 74. 737  Dies ergibt sich bereits aus § 219 Abs. 1 StPO. 738  Wasserburg, Die Wiederaufnahme des Strafverfahrens, S. 81. Auch aus § 246 Abs. 2 StPO folgt, dass der Angeklagte ein eigenes Erkundigungsrecht bzgl. Zeugen hat. 733  MG

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Teil 2: Eigene Untersuchung und Reformvorschläge

tragsrecht – Ermittlungen des Verteidigers voraus. So können dem Verteidiger Auslagen, die durch eigene Nachforschungen zur Vorbereitung eines Wiederaufnahmeverfahrens entstehen, gem. § 46 Abs. 3 S. 1 RVG vergütet werden. Das anwaltliche Ermittlungsrecht gründet in allgemeinen Grundsätzen, etwa dem fair-trial-Grundsatz, dem Grundsatz der Waffengleichheit, dem Anspruch auf rechtliches Gehör, der Pflicht zur gewissenhaften Berufsausübung und aus seiner Stellung als unabhängiges Organ der Rechtspflege mit Beistandsfunktion.739 Zu Recht ist in der Rspr. das Ermittlungsrecht des Verteidigers, dem keineswegs ein Erstvernehmungsrecht staatlicher Ermittlungsbehörden vorangeht, anerkannt.740 Zur Aufdeckung von Fehlurteilen bzw. zur Ermittlung von Wiederaufnahmegründen kann die Verteidigung daher selbst ermitteln. Grenzen ergeben sich aus strafrechtlichen (insbesondere § 258 StGB) und standesrechtlichen Vorschriften. So kann der Verteidiger etwa gem. §§ 138 a–d StPO aus einem Verfahren ausgeschlossen werden, wenn er der Begehung von Straftaten hinreichend oder dringend verdächtig ist. Einschränkungen im Kontakt mit dem Mandanten können sich zudem aus §§ 148 Abs. 2, 148a Abs. 1 StPO ergeben. Die Grenze erlaubter Ermittlungsarbeit des Verteidigers zu straf- bzw. standesrechtlich untersagten Handlungen dürfte im Regelfall dort zu ziehen sein, wo der Verteidiger zum Zwecke der Verteidigung prozessual zulässige Rechte wahrnimmt.741 5. Ermittlung wiederaufnahmerelevanter Umstände Im Rahmen eigener Ermittlungen ist insbesondere an die Beauftragung von Sachverständigen zu denken, ebenso wie an Zeugenvernehmungen durch die Verteidigung. Ermittlungsansätze können sich dabei aus den Spurenakten742 ergeben. Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs743 sind Spurenakten als Beiakten den Hauptakten beizufügen, so dass sie dem Akteneinsichtsrecht

739  Wasserburg,

Die Wiederaufnahme des Strafverfahrens, S. 83. Frankfurt StV 1981, 28, 30. 741  Wasserburg, Die Wiederaufnahme des Strafverfahrens, S. 85. Dies ist etwa nicht der Fall, wenn der Verteidiger auf die Wahrheitsfindung im Strafverfahren in bewusst verfälschender und verdunkelnder Weise Einfluss nimmt, vgl. OLG Frankfurt StV 1981, 28, 30. 742  In den kriminalpolizeilichen Spurenakten werden sämtliche Ermittlungen, die zu Sachverhalten und Personen getätigt wurden, dokumentiert. Vgl. Wasserburg, Die Wiederaufnahme des Strafverfahrens, S. 139. Interview Nr. 2 vom 28.09.2015, S. 2. 743  Ebenso OLG Koblenz NJW 1981, 1570. 740  OLG



C. Ursachen von Fehlurteilen und Möglichkeiten ihrer Verhinderung 315

aus § 147 StPO unterliegen744, wenn sich aus ihnen für die Tat- oder Rechtsfolgenfragen bedeutsame Umstände ergeben können.745 Dies zu prüfen obliegt gem. § 199 Abs. 2 S. 2 StPO der Anklagebehörde.746 Dass diese Spurenakten dem Verteidiger im Wiederaufnahmeverfahren zur Einsichtnahme zur Verfügung gestellt werden müssen, ergibt sich nicht nur aus dem Grundsatz rechtlichen Gehörs, Art. 103 Abs. 1 GG, wonach dem Betroffenen die Möglichkeit zu gewähren ist, von allen polizeilichen Ermittlungsergebnissen Kenntnis zu nehmen, sondern auch aus dem fair-trial-Grundsatz, Art. 20 Abs. 3 GG, als Ausgleich des Übergewichts des staatlichen Ermittlungsapparates.747 Im Interesse der Wahrheitserforschung ist daher Akteneinsicht zu gewähren. Wird zur Vorbereitung eines Wiederaufnahmeverfahrens die He­ rausgabe von Akten, Schriftstücken oder Gegenständen durch eine Behörde 744  Zwar ergibt sich nicht aus dem Gesetzeswortlaut des § 147 StPO, dass Spurenakten als Teil der Gerichtsakten zu behandeln seien, negiert wird dies jedoch auch nicht ausdrücklich. Nr. 186 Abs. 3 RiStBV bestimmt, dass von der Einsicht die Handakten der Staatsanwaltschaft und andere innerdienstliche Vorgänge auszuschließen sind. Auch die Aushändigung von Beweisstücken ist gem. Nr. 187 Abs. 2 RiStBV vom Recht auf Akteneinsicht nicht umfasst. BVerfGE 63, 45, 66 f. stellt klar, dass Einsicht in die Spurenakten mit §§ 23 ff. EGGVG gerichtlich durchgesetzt werden und der Beschuldigte sich selbst darüber Gewissheit verschaffen kann, dass sich aus den Spurenakten keine zu seiner Entlastung dienenden Tatsachen ergeben. 745  BGH NStZ 1983, 228. Wasserburg, Die Wiederaufnahme des Strafverfahrens, S. 149. Ein derartiger Sachzusammenhang ist bspw. anzunehmen, wenn die StA in der Anklage auf Spurenakten Bezug nimmt, vgl. OLG Koblenz NJW 1981, 1570 und Wasserburg, Die Wiederaufnahme des Strafverfahrens, S. 145. Wasserburg betont zu Recht, dass eine Verweigerung der Akteneinsicht ein „vermeidbarer Schritt in Richtung auf eine formalistische prozessuale Wahrheitsfindung“, vgl. Wasserburg, Die Wiederaufnahme des Strafverfahrens, S. 147. Dennoch hat etwa der BGH mit Urteil vom 26.05.1981 (NStZ 1981, 361 ff.), aber auch das BVerfG mit Beschluss vom 12.01.1983 (NJW 1983, 1043) keinen Anspruch des Angeklagten darauf anerkannt, dem Gericht noch nicht bekannte Akten i. S. e. Anspruchs auf Verweigerung des gerichtlichen Aktenbestands beiziehen und der Verteidigung zur Einsichtnahme zur Verfügung stellen zu müssen. Noch 1981 unterfielen Spurenakten dem Akteneinsichtsrecht aus § 147 StPO nur dann, wenn diese durch Bezugnahme Teil der Gerichtsakten geworden waren (für die Durchsetzung ist dann der Rechtsweg gem. § 147 Abs. 5 StPO eröffnet). Andernfalls musste der Angeklagte – vom BVerfG gebilligt – außerhalb des gerichtlichen Verfahrens, mithin bei der StA selbst, Akteneinsicht in Spurenakten beantragen, wobei ihm zur Durchsetzung dieses Anspruchs §§ 23 ff. EGGVG zugebilligt wurde, vgl. Wasserburg, Die Wiederaufnahme des Strafverfahrens, S.  150 f. 746  Die dem Gericht gem. § 147 Abs. 1 StPO vorgelegten Akten setzen sich aus den von der StA mit Erhebung der Anklage vorgelegten Ermittlungsakten gem. § 199 Abs. 2 S. 2 StPO sowie den bei Gericht entstandenen Vorgängen zusammen, vgl. Wasserburg, NStZ 1981, 211. 747  Wasserburg, NStZ 1981, 211; Wasserburg, Die Wiederaufnahme des Strafverfahrens, S. 140 f. Datenschutzbestimmungen stehen insoweit nicht entgegen, vgl. Wasserburg, Die Wiederaufnahme des Strafverfahrens, S. 141.

316

Teil 2: Eigene Untersuchung und Reformvorschläge

verweigert, steht dem Angeklagten das Beschreiten des Rechtswegs vor das Verwaltungsgericht im Wege einer Verpflichtungsklage gem. § 42 Abs. 1 VwGO offen. Weigert sich die Justizverwaltung die Herausgabe der Akten durchzuführen, ist der Rechtsweg gem. § 23 EGGVG eröffnet.748 Wird Akteneinsicht bereits im Kontext eines Antrags auf Verteidigerbestellung gem. § 364b StPO begehrt, kann Akteneinsicht ebenfalls nicht versagt werden. Auch wenn der Antragsteller in diesem Verfahrensstadium – mangels weiterer Informationen – die Erfolgsaussichten seines Antrags noch nicht weiter belegt, kann sie das Gericht nicht bewerten. Die nicht nur entfernte Möglichkeit, bislang unbekannte Beweismittel ausfindig zu machen, muss daher ausreichend sein. In diesem Verfahrensstadium kann vom Antragsteller nicht verlangt werden, seinen Antrag konkret zu begründen, so dass nachvollziehbare Vermutungen ausreichend sein müssen. Andernfalls könnten bereits in diesem Verfahrensstadium – mithin noch vor der Erarbeitung eines Wiederaufnahmeantrags – Verfahren blockiert werden.749 Mit Geltung des Legalitätsprinzips auch im Wiederaufnahmeverfahren kann der Verteidiger an die Antragspflicht der Staatsanwaltschaft appellieren und Ermittlungen anregen.750 Tatsächlich jedoch wirken Behörden nicht nur nicht an der Wiederaufnahme eines Verfahrens mit, sondern verweigern offenbar auch Informationen.751 Die Staatsanwaltschaft zeigt nach Einschätzung Peters’ in den meisten Fällen Widerstand gegen die Korrektur tatsächlich fehlerhafter Entscheidungen.752 So berichteten auch die im Rahmen der Untersuchung befragten Verteidiger, dass die Staatsanwaltschaften von sich auch nicht aktiv würden, Wiederaufnahmeverfahren einzuleiten. Wie bereits dargestellt753, ist die Staatsanwaltschaft zu Ermittlungen im Zusammenhang mit potentiellen Wiederaufnahmeanträgen berechtigt. Der in den 1980er Jahren diskutierte Gesetzesentwurf eines § 364c StPO-E ließ erkennen, dass sich der Gesetzgeber der überlegeneren Ermittlungsbefugnisse der Staatsanwaltschaft bewusst war.754 Wie ebenfalls bereits gezeigt,755 sollte der Staatsanwaltschaft eine Auskunftspflicht756 obliegen, die gesetzlich zu normieren ist. Nur so wird dem 748  Peters,

Strafprozeß, S. 419 f. NStZ 1981, 211, 212. 750  AK-Loos, § 364b / 11. 751  KMR-Eschelbach, Vor § 359 / 30. 752  Peters, Fehlerquellen im Strafprozeß III, S. 113 f. 753  s. o. S.  41 ff. 754  BT-Drs. 7 / 551, S. 52 und 89. 755  s. o. S.  48 ff. 756  KK-Schmidt, § 364b / 2; Marxen / Tiemann, Die Wiederaufnahme in Strafsachen, Rn. 463; a. A. LR-Gössel, § 364b / 8. 749  Wasserburg,



C. Ursachen von Fehlurteilen und Möglichkeiten ihrer Verhinderung 317

Antragsteller ermöglicht, Entlastungsaspekte beizubringen, Ermittlungen anzustrengen und Untersuchungen zu beauftragen. Eine derartige Mitwirkungspflicht beginnt bereits da, wo ein inhaftierter Betroffener aktuell auf das Wohlwollen der Staatsanwaltschaft als Vollstreckungsbehörde angewiesen ist, ob er von einem Gutachter gesonderten bzw. unbewachten Besuch empfangen darf und untersucht werden kann und beinhaltet selbstverständlich auch die Herausgabe von Beweismitteln und Asservaten, um diese einer sachverständigen Beurteilung zuführen zu können. Abgesehen davon, dass nach Rechtskraft der Entscheidung einer Aushändigung der Asservate nichts entgegensteht, kann ihre Vernichtung bzw. Unbrauchbarmachung ausgeschlossen werden, indem die Untersuchungsobjekte direkt an den öffentlich bestellten und vereidigten Sachverständigen übermittelt werden. Die befragten Experten schilderten zwar, im Zweifel Ermittlungsbehörden nicht anzurufen, befürworteten jedoch die Möglichkeit dazu de lege ferenda aufgrund der fehlenden eigenen Zwangsbefugnisse sowie der praktischen Probleme bei der Beschaffung von wiederaufnahmerelevantem Tatsachenmaterial, sofern die Ermittlungspersonen ausgetauscht würden und die Verteidigung ein Anwesenheitsrecht bei Ermittlungen hätte. Zudem wurde gefordert, dass der Verteidigung Akteneinsicht in relevante Verfahrensakten, insbesondere in die Spurenakten, gewährt werde. Um die Ermittlungen zu gewährleisten, dass der Verteidiger für die Wiederaufnahme relevante Zeugen befragen kann (und folglich die Belastbarkeit ihrer Angaben prüfen) wäre ihm ein gesichertes Zeugenvernehmungsrecht zu gewährleisten, das zu Waffengleichheit führt und dem Antragsteller ermöglichte, seinen Beibringungs- und Darlegungslasten zu entsprechen.757 Die Praktiker sahen die Notwendigkeit, öffentlich bestellte Sachverständige für eigene Ermittlungen beauftragen zu können. Als hilfreich und wünschenswert bezeichnete man zudem die Zusammenarbeit mit Komplementärwissenschaften. Weiter ergab die Untersuchung, dass die Einführung einer Aufbewahrungspflicht für Asservate erforderlich erscheint. Schließlich kann der Verurteile neue Tatsachen oder Beweismittel generieren, indem er zivilgerichtliche oder verwaltungsrechtliche Verfahren anstrengt.758 Diese bieten ihm insbesondere die Möglichkeit, auf gerichtliche Protokolle über Vernehmungen zurückzugreifen, die im Wiederaufnahmeverfahren per se von höherer Bedeutung sein dürften. Zugleich dürfte eine dem Strafurteil widersprechende zivil- oder verwaltungsgerichtliche Entscheidung die Chancen des Verurteilten auf Korrektur einer fehlerhaften Entscheidung im Strafverfahren nicht unwesentlich erhöhen. 757  So

auch die Forderung Schünemanns, vgl. Schünemann, StraFo 2015, 177, 184.

758  Geipel, in: Miebach / Hohmann, Wiederaufnahme in Strafsachen, Teil A, Rz. 193.

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Teil 2: Eigene Untersuchung und Reformvorschläge

6. Erforschung des Wiederaufnahmerechts Ernüchternd berichtet Strate davon, dass das Wiederaufnahmerecht lediglich an zwei von insgesamt 38 Strafverteidigertagen thematisiert worden sei. Beim 16. Strafverteidigertag in Hamburg referierten Rieß und Stern vor drei Zuhörern. An einer anlässlich des 34. Strafverteidigertags initiierten Arbeitsgruppe zum Wiederaufnahmerecht nahmen 10 von 600 Strafverteidigerinnen und Strafverteidigern teil.759 Auch in Literatur und Politik scheint das Thema aktuell nicht Gegenstand eingehender Auseinandersetzung zu sein. Die im Rahmen der eigenen Untersuchung befragten Verteidiger beklagten eine Untätigkeit der Strafrechtswissenschaft und kritisierten die fehlende Standardausbildung im Bereich des Wiederaufnahmerechts. So wurde wiederholt von qualitativ schlechten Wiederaufnahmeanträgen aus der Anwaltschaft berichtet, ebenso wie von fehlender Kenntnis und Erfahrung im Bereich des Wiederaufnahmerechts. Der umfassenden wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit dem Wiederaufnahmerecht und damit einhergehend mit Fehlleistungen der Justiz, wird nach der durchgeführten Untersuchung von Seiten der Anwaltschaft zugleich das Potential zugeschrieben, eine Fehlerkultur innerhalb der Justiz zu etablieren und damit in das fehlende Wiederaufnahmeverständnis der justiziellen Praxis Veränderungen zu säen. Die Wissenschaft sollte sich jedoch nicht wie Peters auf die Untersuchung durchgeführter Wiederaufnahmeverfahren beschränken, sondern wie Schöneborn auch gescheiterte Wiederaufnahmegesuche untersuchen. Nur so lassen sich neben Fehlerquellen des Ausgangsverfahrens auch Schwächen des geltenden Wiederaufnahmerechts feststellen.

D. Defizite im geltenden Wiederaufnahmerecht Auch erfolgreiche und medienwirksame Wiederaufnahmeverfahren dürfen nicht darüber hinwegtäuschen, dass das Wiederaufnahmerecht defizitär ausgestaltet ist. „Wie groß die Anzahl zu Unrecht fehlgeschlagener Wiederaufnahmeverfahren ist, ist nicht schätzbar. Jedoch ist die Existenz nicht anerkannter und nicht aufgeklärter Fehlurteile unbestreitbar. Diese Tatsache ist auch von Gewicht, da sie, gleichgültig ob die Zahl größer oder kleiner ist, für die Rechtspflege und für den Betroffenen gleicherweise verhängnisvoll ist.“760

759  MAH

Strafverteidigung-Strate, § 27 / 8 mit Fn. 17. Fehlerquellen im Strafprozeß II, S. 316.

760  Peters,



D. Defizite im geltenden Wiederaufnahmerecht 319

In der Wiederaufnahmeliteratur wird, wie dargestellt, seit Langem darüber diskutiert, wie sich Fehlurteile vermeiden lassen und das Wiederaufnahmerecht reformiert werden kann. Dabei reichen allein gesetzliche Verbesserungen nicht aus, Fehlerquellen, die nicht (nur) auf rechtlichen Missständen beruhen, zu vermeiden.761 Das geltende Wiederaufnahmerecht ist praktisch ineffektiv, so berichten auch die im Rahmen der Untersuchung befragten Anwälte.762 Den Gerichten wird Wiederaufnahmefeindlichkeit und eine große Hemmung attestiert, Fehler in den eigenen Reihen einzuräumen. Damit besteht jedoch die Gefahr, dass das Wiederaufnahmerecht als effektives Rechtsschutzmittel leerläuft, mithin die Praxis gegen Art. 19 Abs. 4 GG verstößt.763 Augenfällig ist, dass das Wiederaufnahmerecht in der Literatur kritisiert wird, ohne dass aktuelle valide Erkenntnisse über Fehlurteilsquoten oder Fehlerursachen existieren. Aus den Experteninterviews ergeben sich zumindest Anhaltspunkte für das Scheitern von Wiederaufnahmeverfahren in der Praxis. Diese sollen im Folgenden dargestellt und näher betrachtet werden. Der praktisch relevanteste Wiederaufnahmegrund des § 359 Nr. 5 StPO mit seinen Barrieren und Defiziten soll im 3. Teil der Arbeit einer eingehenden Betrachtung unterzogen werden.

I. Anwendungsdefizite Eine wesentliche Barriere des geltenden Rechts sind die eng begrenzten Wiederaufnahmevoraussetzungen764, die auch vorliegend kritisiert wurden. Hinzu kommt, dass die Rechtskraft stellenweise absolut ist. So kommt im Fall der fehlerhaften Rechtsanwendung ein Wiederaufnahmeverfahren nicht in Betracht.765 Die begrenzte Überprüfungsmöglichkeit im Aditions- und Probationsverfahren, die lediglich eine Prüfung der geltend gemachten Wiederaufnahmegründe ermöglicht, jedoch nicht eine umfassende Prüfung der Sach- und Rechtslage, ist ein weiterer zentraler Problembereich des Wiederaufnahmerechts, das deshalb in der Praxis ineffektiv ist.766

761  Aufhellend hierzu die vom BVerfG zur Verständigung im Strafprozess in Auftrag gegebene Befragung, dergemäß die Mehrheit der Strafrichter in Nordrhein-Westfalen bereit ist, von zwingendem Prozessrecht abzuweichen, vgl. Stuckenberg, ZIS 2013, 212, 213. 762  KMR-Eschelbach, Vor § 359 / 1; Eschelbach / Geipel / Hettinger / Meller / Wille, GA 2018, 238. 763  KMR-Eschelbach, § 359 / 122. 764  Wasserburg, Die Wiederaufnahme des Strafverfahrens, S. 225. 765  Peters, Fehlerquellen im Strafprozeß III, S. 6. 766  KMR-Eschelbach, Vor § 359 / 24.

320

Teil 2: Eigene Untersuchung und Reformvorschläge

Wiederaufnahmeanträge scheitern meist an der Zulässigkeitshürde, indem sie Formvorschriften oder die erweiterte Darlegungslast nicht beachten oder wegen mangelnder Novität der behaupteten neuen Tatsachen. Die im Rahmen der eigenen Untersuchung befragten Verteidiger monierten neben den von der Rechtsprechung entwickelten Hürden (zulässige Beweisantizipation, erweiterte Darlegungslasten, für die Zulässigkeit von § 359 Nr. 5 StPO entwickelter Überzeugungsgrad), dass die in der gerichtlichen Praxis vorgenommene Zulässigkeitsprüfung de facto einer Begründetheitsprüfung entspreche, die Grenzen des Aditionsverfahrens mithin jedoch verkannt werden. In den meisten Fällen dürften Anträge aufgrund mangelnder Geeignetheit gem. § 359 Nr. 5 StPO im Zulässigkeitsverfahren scheitern. In der Handhabung des Merkmals der Geeignetheit bzw. des damit einhergehenden Wahrscheinlichkeitsmaßstabs dürfte damit ein Kernproblem des Wiederaufnahmerechts liegen. Lediglich solche Anträge, deren Erfolg quasi sicher erscheinen, werden überhaupt für zulässig erachtet. Eine derartige Wiederaufnahmepraxis ist mit dem Merkmal bloßer Geeignetheit nicht vereinbar, zumal die Geeignetheit des Vorbringens losgelöst von jeglicher Beweisaufnahme zu prüfen ist. Auch die Anerkennung einer Beweisantizipation im Rahmen der Zulässigkeitsprüfung stellt eine praktische Barriere im Wiederaufnahmeverfahren dar. Die Prüfung der Geeignetheit ist daher richtigerweise auf eine Prüfung mit dem Maßstab ernsthafter Erfolgsaussichten zu beschränken, ohne Vorwegnahme einer Beweiswürdigung. Es erscheint aufgrund der praktischen Probleme naheliegend, die Prüfung der Zulässigkeit auf das zu beschränken, was sie im geltenden Recht nach der Intention des Gesetzgebers sein soll: eine rein formelle Prüfung, um von vornherein sinnlos erscheinende Wiederaufnahmeanträge auszusondern. Der Schwerpunkt des Wiederaufnahmeverfahrens müsste demnach im Proba­ tionsverfahren liegen, in dem die Beweisermittlung durch einen Richter erfolgt. Dies umso mehr, als die bloße Zulässigkeit der Wiederaufnahme die Rechtskraft zunächst unberührt lässt. Auch vor dem Hintergrund der Rechtssicherheit erscheint es daher nicht geboten, an die Zulässigkeitsprüfung überspannte Anforderungen zu stellen. Soweit auch die befragten Experten berichten, dass die Wiederaufnahme Defizite des Revisionsrechts ausgleiche, widerspricht dies der gesetzlichen Intention: Die Wiederaufnahme ist als ein die Revision ergänzender Berufungsersatz mit Novenpflicht zu verstehen.767 767  Bock / Eschelbach / Geipel / Hettinger / Röschke / Wille, GA 2013, 328, 345. Demgegenüber spricht sich Radtke dafür aus, dass das Wiederaufnahmerecht für sämtliche Instanzenzüge einheitlich ist, weshalb das Berufen der Reformbefürworter auf die Berufungsersatzfunktion nicht überzeugend sei, vgl. Radtke, Kurzgutachten zur Stärkung des Wiederaufnahmeverfahrens für die 5. Sitzung der BMJV-Expertenkommission, http: /  / www.bmjv.de / SharedDocs / Downloads / DE / PDF / Anlage_1_StPO_Kom



D. Defizite im geltenden Wiederaufnahmerecht 321

Zu Recht führen die Motive zur StPO von 1877 aus: „Darüber aber wird kaum ein Zweifel bestehen, daß eine Wiederaufnahme aufgrund neuer Tatsachen zugunsten des Verurteilten nicht zu entbehren ist, sobald das Gesetz keine Berufungsinstanz gewährt.“768

II. Prozessuale Aufgliederung Neben der problematischen Vermengung von Zulässigkeits- und Begründetheitsprüfung äußerten die befragten Verteidiger keine Kritik an der grundsätzlichen Zulässigkeit eines Vorschaltverfahrens. Vielmehr wurde eine Vorprüfung des Antragsvorbringens für gerade erforderlich erachtet, um die Rechtskraft nicht vorschnell in Frage zu stellen. Dies deckt sich mit der Literatur: Weder Dippel769 noch Deml770 befürworten Änderungen der grundsätzlichen Struktur des Wiederaufnahmerechts. Vorliegend wurde jedoch geschildert, dass durchgeführte Erneuerungsverfahren einer Farce gleichen, zumal sie das Verfahren noch weiter verzögert haben. Insgesamt wurde kritisiert, dass es zu lange dauere, bis über einen Wiederaufnahmeantrag entschieden werde, wenngleich die Anwendung des Beschleunigungsgrundsatzes abgelehnt wurde. Dies begründeten die Befragten mit der Erwartung, dass die Wiederaufnahmegerichte das Antragsvorbringen dann unzureichend würdigen würden. Die nicht ausreichende bzw. fehlerhafte Würdigung des Antragsvorbringens wurde jedoch auch bereits nach aktuellem Gesetzesstand und -verständnis als Grund für das Scheitern eines Wiederaufnahmeantrags kritisiert. Schließlich wurde das geltende Wiederaufnahmerecht insoweit als problematisch erachtet, als es zur wiederholten Befragung von personalen Beweismitteln führe. Insbesondere wurde berichtet, dass Zeugen vor Durchführung eines Probationsverfahrens auch von Seiten der Ermittlungsbehörden vernommen wurden. Diese Praxis ist contra legem. Nach dem Wiederaufnahmerecht sollen Beweismittel erst und nur durch einen Richter im Probationsverfahren erhoben werden. Davon ist insoweit eine Ausnahme zu machen, als Zeugen zur Ermittlung von Tatsachenmaterial durch die Verteidigung befragt werden. Eine Befragung durch die Ermittlungsbehörden ist jedoch – aus gutem Grund – gesetzlich nicht vorgesehen. Vielmehr soll eine Prüfung des mission.pdf?__blob=publicationFile&v=4, S. 699  ff. (zuletzt aufgerufen am 26.08. 2016). 768  Zitiert nach Wasserburg, Die Wiederaufnahme des Strafverfahrens, S. 7. 769  Dippel, Das geltende deutsche Wiederaufnahmerecht und seine Erneuerung, S.  97, 101 ff. 770  Deml, Zur Reform der Wiederaufnahme des Strafverfahrens, S. 172–176.

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Teil 2: Eigene Untersuchung und Reformvorschläge

Wiederaufnahmevorbringens erst und nur durch das zuständige Wiederaufnahmegericht stattfinden. Eindeutiger gesetzgeberischer Wille des § 369 Abs. 1 StPO ist die Beweisaufnahme durch einen Richter. Staatsanwaltschaft und Polizei dürfen als Ermittlungsbehörden Beweismittel lediglich herbeischaffen, die Durchführung von Vorermittlungen ist ihnen verwehrt und führt zur Unverwertbarkeit.771

III. Beiordnung eines anderen Verteidigers Wie gesehen772 soll die Bestellung eines Pflichtverteidigers im Grundverfahren, ebenso wie die erteilte Vollmacht, auch über die Rechtskraft hinaus, bis zum Beschluss über die Anordnung des Erneuerungsverfahrens (§ 370 Abs. 2 StPO) oder der unanfechtbaren Entscheidung gem. §§ 368 Abs. 1, 370 Abs. 1 StPO, bestehen bleiben.773 Die Bestellung des Pflichtverteidigers endet mithin nicht mit der Rechtskraft des Urteils, sondern besteht für das ganze Verfahren, mithin auch für das Wiederaufnahmeverfahren.774 Die Fortgeltung einer Vollmacht, insbesondere einer Verteidigerbestellung bis zur Rechtskraft eines Beschlusses gem. § 370 Abs. 1 StPO, wurde von den Experten abgelehnt. Für die Wiederaufnahme sei dem Verurteilten vielmehr ein neuer Verteidiger zur Seite zu stellen, nicht zuletzt deshalb, da dieser über die nötige Distanz zum Verfahren verfügt und die Möglichkeiten zur Wiederaufnahme des Verfahrens anders beurteilen könne. Dem vorgebrachten Umstand, dass der bisherige Verteidiger aufgrund seiner Kenntnis des Verfahrensstoffs am besten geeeignet sei, das Wiederaufnahmeverfahren zu betreiben, ist entgegenzuhalten, dass das Vertrauen des Verurteilten in seinen (Pflicht-)Verteidiger oft erschüttert sein dürfte. Auch ist davon auszugehen, dass zwischen dem Ausgangs- und dem Wiederaufnahmeverfahren erhebliche Zeit vergangen ist, so dass dies nicht überzeugen kann.775 Ein von der h. M. angenommenes Ausnahmeverständnis, dass in 771  OLG Düsseldorf MDR 1976, 777, 778; OLG Celle MDR 1991, 1077; SSWKaspar, § 369 / 3 f. A. A. OLG Braunschweig NStZ 1987, 377, 378. 772  s. o. S.  104 ff. 773  KG, Beschluss vom 15.02.2013, Az. 4 Ws 25 / 13 – 141 AR 56 / 13, in: BeckRS 2013, 07665; LG Ulm, Beschluss vom 07.01.2013, Az. 2 Qs 2088 / 12, in: BeckRS 2013, 01047; LG Saarbrücken, Beschluss vom 20.08.2013, Az. 2 Ks 05 Js 216 / 06 (1 / 13), in: BeckRS 2014, 03013; KG NJW 2013, 182, 183; OLG Düsseldorf NStZ 1983, 235; KK-Schmidt, § 364a / 2; LR-Gössel, § 364a / 3; AnwK-Rotsch, § 364a / 3; Marxen / Tiemann, Die Wiederaufnahme in Strafsachen, Rn. 469. Dem widersprechend: ThürOLG Jena StV 15, 16 und KMR-Eschelbach, § 364a / 39. 774  OLG Braunschweig NStZ-RR 2014, 314; Wasserburg, GA 1982, 304, 306 und 309 unter Verweis auf RGSt 22, 97, 99. 775  KK-Schmidt, § 364a / 2.



D. Defizite im geltenden Wiederaufnahmerecht 323

Fällen offensichtlicher Eignungsmängel, etwa wegen einer missglückten Verteidigungsstrategie oder wegen Bindung an eine Absprache die Verteidigerbestellung zurückzunehmen sei776, dürfte im Einzelfall zu Abgrenzungsschwierigkeiten führen und verlangt von dem Verurteilten die Offenbarung von Umständen, die ihm – beispielsweise im Fall einer Bindung des Verteidigers an eine Absprache – oftmals nicht nachvollziehbar oder darlegbar erscheinen dürften. Sieht der bestellte Verteidiger aufgrund von ihm angenommener Aussichtslosigkeit davon ab, einen Wiederaufnahmeantrag zu stellen, ist der Verurteilte darauf beschränkt, unter Hinweis auf eine Zerstörung des Vertrauensverhältnisses die Beiordnung eines neuen Verteidigers zu erreichen.777 Dies dürfte ihm jedoch im Regelfall und nicht zuletzt auf das ohnehin restriktive Verständnis des Wiederaufnahmerechts in der Rechtsprechung kaum gelingen. Es wäre daher im Interesse der Ermittlung der materiellen Wahrheit angebracht, dem Verurteilten bereits zur Erarbeitung eines Wiederaufnahmeantrags einen neuen Verteidiger zu bestellen.778 Es kann nicht im Interesse des Rechtsstaates sein, dass der Verurteilte auf Gedeih und Verderb seinem Pflichtverteidiger „ausgeliefert“ ist. Dies ergibt sich bereits aus Art. 6 Abs. 3 lit. c EMRK, wonach der Betroffene in den Genuss einer wirksamen Verteidigung kommen soll, so dass der nicht pflichtgemäß agierende Verteidiger zu ersetzen ist.779 In jedem Fall aber ist davon auszugehen, dass die Bestellung eines Verteidigers im Erstverfahren nicht für das Wiederaufnahmeverfahren gilt.780

IV. Praktische Barrieren und justizielle Praxis Entschließt sich der Verurteilte, das rechtskräftige Urteil mit dem Rechtsbehelf der Wiederaufnahme anzugreifen, muss er nach Kritikern befürchten, dass die Strafjustiz „jeden Angriff auf das alte Urteil mit Zähnen und Klauen abzuwehren versucht“.781 Basierend auf der wiederaufnahmerechtlichen Literatur ist zu konstatieren, dass Wiederaufnahmeanträgen in der gerichtlichen Praxis mit großer Skepsis begegnet wird. Eine Neigung, an der ursprünglichen Entscheidung festzuhalten, ist insbesondere festzustellen, wenn im Rahmen eines Wiederaufnahme776  Marxen / Tiemann,

Die Wiederaufnahme in Strafsachen, Rn. 469 mit Fn. 17. Die Wiederaufnahme in Strafsachen, Rn. 470. 778  Gorka, in: Miebach / Hohmann, Wiederaufnahme in Strafsachen, Teil D, Rz. 91. 779  Wasserburg, GA 1982, 304, 321. 780  So explizit auch OLG Jena, Beschluss vom 23.10.2013, Az. 1 Ws 283 / 13, in: BeckRS 2014, 09283; KMR-Eschelbach, § 364a / 50. 781  Strate, Der Verteidiger in der Wiederaufnahme, http: /  / www.strate.net / de / publi kationen / verteidiger_in_der_wiederaufnahme.html (zuletzt aufgerufen am 13.05.14). 777  Marxen / Tiemann,

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Teil 2: Eigene Untersuchung und Reformvorschläge

verfahrens gestützt auf § 359 Nr. 5 StPO die Sachverhaltsfeststellungen der ursprünglichen Entscheidung angegriffen werden.782 Dass dem so ist, könnte, wie von Alsberg bereits 1913 dargetan, daran liegen, dass sich ein Wiederaufnahmegericht als „Schützer der Autorität der Rechtspflege“783 versteht und öffentlich dargestellte Fehlbarkeit verhindern möchte, um damit dem Ruf der Justiz wie dem Ansehen der Rechtsordnung und der Sicherheit der Rechtspflege nicht zu schaden.784 Gerechtfertigt wird die restriktive Wiederaufnahmepraxis meist mit der zu schützenden Rechtskraft einer Entscheidung zur Wahrung des Rechtsfriedens.785 Bundesrichter Eschelbach stellt daher fest, dass Wiederaufnahmeverfahren, statistisch betrachtet, nicht stattfinden, obwohl sie stattfinden müssten. Dass dem so sei, liegt nach seiner Einschätzung nicht an einer defizitären Rechtslage, sondern an der Handhabung des Wiederaufnahmerechts in der Praxis.786 So würden Richter keine Fehlurteile fällen wollen, sondern wollen vielmehr glauben, dass das von ihnen gefundenen Ergebnisse richtig sei.787 Dennoch geht Eschelbach davon aus, dass jedes vierte Strafurteil ein Fehlurteil ist. Er spricht insoweit von der „Lebenslüge der Justiz“, wenn diese davon ausgehe, dass es kaum falsche Strafurteile gäbe.788 Aber auch das Justizsystem decke falsche Entscheidungen. Die Kontrollmechanismen und Rechtsmittel würden – so Eschelbach – in einer für den Rechtsstaat inakzeptablen Weise versagen.789 Wiederaufnahmegerichte seien von der Unfehlbarkeit der tatrichterlichen Entscheidung zu Unrecht überzeugt und würden alle Zweifel systematisch abblocken.790 Die restriktive Handhabung von Wiederaufnahmegesuchen ist danach auf ein Mentalitätsproblem der Justiz zurückzuführen: Die Justiz scheut sich, Fehler und Irrtümer einzugestehen. Es scheint ein falsch verstandener Korpsgeist zu bestehen. Hinzu dürfte kommen, dass die Aufhebung von Entscheidungen negative Konsequenzen im justiziellen Zeugnis- und Beförderungs782  Peters,

Fehlerquellen im Strafprozeß I, S. 517. Justizirrtum und Wiederaufnahme, S. 84. 784  Alsberg, Justizirrtum und Wiederaufnahme, S. 84 ff.; Theobald, Barrieren des strafrechtlichen Wiederaufnahmeverfahrens, S. 59. 785  Peters, Fehlerquellen im Strafprozeß III, S. 20. 786  Entsprechendes konstatierte bereits Alsberg 1913, vgl. Alsberg, Justizirrtum und Wiederaufnahme, S. 84. 787  So auch Peters, Fehlerquellen im Strafprozeß III, S. 19. Anderes legt die vom BVerfG in Auftrag gegebene Befragung von Strafrichtern nahe, dergemäß die Mehrheit bewusst von zwingendem Prozessrecht abzuweichen bereit ist, vgl. Stuckenberg, ZIS 2013, 212, 213. 788  Darnstädt, Der Richter und sein Opfer, S. 14. 789  So auch Prantl, StraFo 2015, 221, 222. 790  Darnstädt, Der Richter und sein Opfer, S. 15. 783  Alsberg,



D. Defizite im geltenden Wiederaufnahmerecht 325

system hat. Das Infragestellen eines rechtskräftigen Urteils wird offenbar als Angriff auf das Ansehen der Judikative empfunden.791 Sogar in Evidenzfällen würden daher absurde Begründungen für die Verwerfung von Wiederaufnahmeanträgen entwickelt, von denen auch die vorliegend Befragten berichteten. Sozialwissenschaftlich fließt der angeprangerte Schulterschlusseffekt aus der Theorie der sozialen Vergleichsprozesse. Der zur Entscheidung berufene Richter orientiert sich etwa im Zwischenverfahren an der zuvor durch einen Staatsanwalt, einer von ihm als kompetent wahrgenommenen Vergleichsperson, abgegebenen Beurteilung.792 Da davon auszugehen ist, dass der Wiederaufnahmerichter den die Ausgangsentscheidung getroffenen Richter ebenfalls als kompetente Vergleichsperson wahrnimmt, können die sozialwissenschaftlichen Erkenntnisse Schünemanns auf diese Verfahrenssituation übertragen werden. Diese Wiederaufnahmefeindlichkeit793 scheint richterpsychologische Hintergründe zu haben, die ihrerseits bereits Argument gegen die Richteridentität im Grund- und Wiederaufnahmeverfahren war.794 Das Gericht dürfte wenig geneigt sein, eigene Urteile für falsch zu klären. An der einmal gebildeten Meinung wird festgehalten, neue Gesichtspunkte werden abgelehnt, außer sie sind unwiderleglich. Die Überzeugung, die sich das Gericht bereits im Grundverfahren gebildet hat, wird kaum revidiert, wurde doch das angegriffene Urteil im Namen des Volkes verkündet. Hinzu kommt, dass mit Rechtskraft des Urteils der Verurteilte bereits mit den Folgen der gerichtlichen Entscheidung unmittelbar konfrontiert wird. Hat er bspw. eine Strafe bereits zu einem nicht unerheblichen Teil verbüßt, erscheint die psychologische Barriere zur Korrektur eines womöglich fehlerhaften Urteil kaum überwindbar.795 Einen Irrtum einzugestehen erschüttert offensichtlich Autorität und Ansehen des Rechtsstaats.796 Zwar mögen einige dieser Aspekte durch den Austausch des Richters im Grund- und Wiederaufnahmeverfahren beseitigt worden sein. Gleichwohl dürfte die Abneigung gegen Wiederaufnahmever791  Hanack / Gerlach / Wahle, Denkschrift zur Reform des Rechtsmittelrechts und der Wiederaufnahme, S. 83. 792  Schünemann, StV 2000, 159, 163. 793  Brandt-Janczyk, Richterliche Befangenheit durch Vorbefassung im Wiederaufnahmeverfahren, S. 62. 794  Mit letzteren beschäftigt sich Brandt-Janczyk, Richterliche Befangenheit durch Vorbefassung im Wiederaufnahmeverfahren, S. 62 ff., deren Erwägungen jedoch die grundsätzliche Wiederaufnahmefeindlichkeit der Gerichte begründen dürften. 795  Brandt-Janczyk, Richterliche Befangenheit durch Vorbefassung im Wiederaufnahmeverfahren, S.  63 f. 796  Knoche, DRiZ 1971, 299, 300; Brandt-Janczyk, Richterliche Befangenheit durch Vorbefassung im Wiederaufnahmeverfahren, S. 64 m. w. N.

326

Teil 2: Eigene Untersuchung und Reformvorschläge

fahren auch daher rühren, dass man Kollegen nicht böse Absichten oder Fehler unterstellen möchte. Im Hinblick auf Rechtsmittelgerichte verhält sich die Situation insoweit anders, geht es doch um die Abwendung drohenden Unrechts noch vor Eintritt der Rechtskraft.797 Diese Praxis, die in der Literatur, übereinstimmend mit den befragten Experten, berichtet wird, kann angesichts des gesetzgeberischen Motivs des Rechtsbehelfs nicht toleriert werden. Eine Gefahr für den Rechtsfrieden stellt einzig und allein ein Fehlurteil dar.798 Die erneute Prüfung eines Sachverhalts führt zur Stärkung des justiziellen Ansehens, nicht zu seiner Gefährdung. Selbst negative Konsequenzen müssten für das Ansehen der Justiz angesichts des Gerechtigkeitspostulats hingenommen werden.799 Für eine fehlende Fehlerkultur, wie auch von Putzke moniert, ist daher kein Raum.800 Kein Verfahrensbeteiligter ist unfehlbar, für ein Verständnis wiederaufgenommener Verfahren als „eher ärgerliche Einzelfälle als rechtsstaatliche Notwendigkeiten“801 besteht in einem Rechtstaat kein Raum. Das Ansehen der Strafrechtspflege sollte nicht um jeden Preis hoch gehalten werden802, sondern das Vertrauen der Öffentlichkeit in einen funktionierenden Rechtstaat gerade dadurch gestärkt werden, dass Fehler erkannt und korrigiert werden. Fraglich erscheint, ob der erforderliche Wandel im Selbstverständnis der Justiz tatsächlich durch eine Änderung der Rechtsprechung herbeigeführt werden kann oder gar durch eine Bewusstseinsänderung der Richter, indem die Wissenschaft Fehlurteile und Wiederaufnahmeverfahren aufarbeitet. Angesichts der Berichte um die wiederaufnahmerechtliche Praxis und der von Verteidigerseite geschilderten Abwehrhaltung der Justiz kann auf einen ­Bewusstseinswandel zwar gehofft werden, naheliegend erscheint er jedoch nicht. Dann aber steht der Gesetzgeber in der Pflicht, die Gesetzeslage zu 797  Brandt-Janczyk, Richterliche Befangenheit durch Vorbefassung im Wiederaufnahmeverfahren, S. 68. 798  Theobald, Barrieren des strafrechtlichen Wiederaufnahmeverfahrens, S. 11. 799  Theobald, Barrieren des strafrechtlichen Wiederaufnahmeverfahrens, S. 59. 800  Putzke, ZAP 2015, 279. 801  Putzke, ZAP 2015, 279. 802  Empirisch belegt handelt es sich dabei um den sog. Inertia- und Perseveranz­ effekt. Die zur Entscheidung berufenen Personen halten an einmal getroffenen Entscheidungen fest. Dabei wird Umständen, die die eigene Entscheidung stärken, weitaus größere Bedeutung beigemessen, als Umständen, die eine Entscheidung als fehlerhaft erscheinen lassen. Vgl. Schünemann, StV 2000, 159, 160 ff.; Schünemann, in: FS-G. Pfeiffer, S. 477 f.; Bandilla / Hassemer, StV 1989, 551, 552 ff.; Gössel, in: FSMeyer-Gossner, S.  189 f.



E. Verfahrenserleichterungen zur Rechtskraftdurchbrechung 327

ändern und so Einfluss zu nehmen. Vorschläge zur Veränderung – durch Gesetzesauslegung oder Reformierung – sollen im Weiteren vorgestellt werden.

E. Verfahrenserleichterungen zur Rechtskraftdurchbrechungde lege ferenda Vor dem Ruf nach einer Gesetzesreformierung ist zwar stets die Rechtsanwendung und Rechtsauslegung zu überprüfen.803 Ist das Wiederaufnahmerecht aber praktisch unwirksam, wäre der Gesetzgeber gehalten, zu handeln.804 Vorrangig sind die Gerichte aufgefordert, das Wiederaufnahmerecht effektiv anzuwenden und nicht durch überhöhte Zulässigkeitsanforderungen leerlaufen zu lassen.805 Der Strafrechtsausschuss der BRAK hatte sich bereits 1971 ausgesprochen, Verfahrenserleichterungen in das Wiederaufnahmerecht zu integrieren, die die „verbreitete psychologische Barriere gegen den Angriff auf die Rechtskraft im Rahmen des Vertretbaren“806 abmildern sollen. Denn das grundlegende Problem im Wiederaufnahmerecht ist weniger die Reformfeindlichkeit des Gesetzgebers, als vielmehr eine unnötige Verengung des geltenden Rechts durch die Gerichte.807 Als Erleichterung erscheint insbesondere – wie von der BRAK angedacht – naheliegend, den Zugang zum Probationsverfahren zu erleichtern, um die angeboten Beweise zu erheben, bevor über den Erfolg des Wiederaufnahmeantrags sachgerecht entschieden werden kann.

I. Anwendung des Zweifelsgrundsatzes im Rahmen der Zulässigkeitsentscheidung Einen solchen erleichterten Zugang hat bereits die BRAK mit ihrem Vorschlag zur Neugestaltung des § 359 Nr. 5 StPO in Leitsatz 42 avisiert: „… wenn neue Tatsachen oder Beweismittel beigebracht (evtl.: neue Tatsachen behauptet und unter Beweis gestellt oder neue Beweismittel beigebracht) sind oder 803  Peters,

Fehlerquellen im Strafprozeß III, S. 10. Vor § 359 / 35. 805  KMR-Eschelbach, Vor § 359 / 35. 806  Hanack / Gerlach / Wahle, Denkschrift zur Reform des Rechtsmittelrechts und der Wiederaufnahme, S. 75. 807  Wasserburg, Die Wiederaufnahme des Strafverfahrens, S.  47. Wasserburg fürchtet indes, dass die Senkung der Stufe der Zulässigkeitsprüfung zu einer Flut von Wiederaufnahmeanträgen führen könne, der mit einer Ermittlungspflicht der Staatsanwaltschaften im Vorfeld begegnet hätten werden können, Wasserburg, Die Wiederaufnahme des Strafverfahrens, S. 60. 804  KMR-Eschelbach,

328

Teil 2: Eigene Untersuchung und Reformvorschläge

neue wissenschaftliche Erkenntnisse dargetan werden, sofern nicht auszuschließen ist, daß diese entweder allein oder in Verbindung mit den früher erhobenen Beweisen zur Freisprechung des Verurteilten oder zu einer wesentlichen Milderung der Strafe führen können.“808

Korrespondierend wurde mit Leitsatz 55 vorgesehen, die Unbegründetheit des Antrags nur dann anzunehmen, wenn die Urteilsgrundlagen nicht erschüttert sind.809 Zweifel sollten nach diesem Vorschlag also zum Vorteil des Antragstellers gereichen. Hintergrund der Gesetzesvorschläge der BRAK dürfte sein, dass in der Wiederaufnahmepraxis Zweifel an der Geeignetheit der nova gem. §§ 359 Nr. 5, 368 StPO zum Nachteil des Antragstellers reichen. Gleiches gilt, soweit im Probationsverfahren gem. § 370 StPO Zweifel an der genügenden Bestätigung des zulässigen Wiederaufnahmevorbringens im Rahmen der Begründetheit bestehen. So ist etwa nach Auffassung des Oberlandesgerichts Braunschweig im Zweifel zugunsten der Rechtskraft des Urteils zu entscheiden.810 Die Hürde vor einer erneuten Hauptverhandlung ist demnach nur dann zu überwinden, wenn der Antragsteller das Wiederaufnahmegericht davon überzeugen kann, dass sein als richtig unterstellter Vortrag der angefochtenen Entscheidung die Grundlage entziehen wird und das Wiederaufnahmegericht im Probationsverfahren von der Wahrscheinlichkeit der Feststellung der nova in der Erneuerungsverhandlung überzeugt ist.811 Die Anwendung des Zweifelsgrundsatzes, der zu den verfassungsrechtlich verbürgten Grundprinzipien des Strafprozessrechts zählt812, würde den Zugang in das Probationsverfahren deutlich erleichtern, ohne dass der Gesetzgeber – wie von der BRAK vorgesehen – tätig werden muss. Seine Anwendbarkeit im Vorschaltverfahren wird zwar von der h. M. abgelehnt, im Erneuerungsverfahren soll er hingegen uneingeschränkt gelten. Ein Grund, im summarischen Aditions- und Probationsverfahren strengere Maßstäbe anzulegen, ist nicht ersichtlich.813 Die im Rahmen der Untersuchung zur Anwendbarkeit des Zweifelsgrundsatzes befragten Experten gingen davon aus, dass dieser ohne jeden Zweifel anwendbar sei, oder würden seine Anwendung begrüßen.814 808  Hanack / Gerlach / Wahle, Denkschrift zur Reform des Rechtsmittelrechts und der Wiederaufnahme, S. 82, Leitsatz 42. 809  Hanack / Gerlach / Wahle, Denkschrift zur Reform des Rechtsmittelrechts und der Wiederaufnahme, S. 100, Leitsatz 55. 810  Schorn, MDR 1965, 869, 870; OLG Braunschweig NJW 1959, 1984. 811  Schünemann, ZStW 84 (1972), 870, 872. 812  Schünemann, ZStW 84 (1972), 870, 873. 813  Schünemann, ZStW 84 (1972), 870, 873. 814  s. o. S.  262.



E. Verfahrenserleichterungen zur Rechtskraftdurchbrechung 329

1. Verfassungsrang Der Zweifelsgrundsatz folgt aus dem Schuldgrundsatz und bildet dessen prozessuales Gegenstück.815 Der Angeklagte darf nur dann verurteilt werden, wenn ihm seine Schuld nachgewiesen werden kann. Der in-dubio-Satz ist demnach Ausprägung des Grundsatzes „keine Strafe ohne Gesetz“816, Teil der Unschuldsvermutung des Art. 6 Abs. 2 EMRK817, die ihrerseits Verfassungsrang hat818 und ergibt sich auch aus Art. 11 Nr. 1 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte. Wenngleich der Zweifelsgrundsatz also nicht ausdrücklich in der Verfassung normiert ist, nimmt er einen grundsrechtsgleichen Rang ein.819 Er ergibt sich aus dem Rechtsstaatsprinzip, das die Verurteilung eines Unschuldigen verhindern soll, dient also dem Schutz seiner Persönlichkeit und Freiheit.820 Er sichert damit auch den sich aus der Menschenwürde des Art. 1 Abs. 1 GG ergebenden Schutz des Einzelnen vor dem sittlichen Makel einer Bestrafung.821 2. Anwendungsbereich Der Grundsatz in dubio pro reo findet uneingeschränkt Anwendung auf Tatsachenzweifel, die die Schuld- und Straffrage betreffen und ist folglich Garant einer gerechten Entscheidung ist.822 Er bildet damit das prozessuale Pendant zu dem im StGB verankerten Schuldgrundsatz, indem er neben dem Grundsatz der freien richterlichen Beweiswürdigung, § 261 StPO, eine elementare richterliche Entscheidungsregel darstellt.823 Unklar ist seine Anwendung, soweit Zweifel bzgl. der Prozessvoraussetzungen oder -hindernisse bestehen.824 Die h. M. geht davon aus, dass er bezüglich Verfahrensvoraus815  OLG

Köln NJW 1968, 2119. Wasserburg, ZStW 94 (1982), 914, 920. ZStW 94 (1982), 914, 919. 817  Wasserburg, Die Wiederaufnahme des Strafverfahrens, S. 188; Wasserburg, ZStW 94 (1982), 914, 924. 818  BVerfGE 19, 343, 347 ff.; BVerfGE 22, 258, 265. 819  BayVerfGH NJW 1983, 1600, 1602; Wasserburg, Die Wiederaufnahme des Strafverfahrens, S. 188. Offen gelassen bei BVerfG MDR 1975, 468, 469. 820  Wasserburg, Die Wiederaufnahme des Strafverfahrens, S. 188. 821  Wasserburg, Die Wiederaufnahme des Strafverfahrens, S. 188. 822  Wasserburg, Die Wiederaufnahme des Strafverfahrens, S. 187; Wasserburg, ZStW 94 (1982), 914, 924. 823  Wasserburg, Die Wiederaufnahme des Strafverfahrens, S. 187. Wird der An­ geklagte dennoch verurteilt, ist das Rechtsstaatsprinzip des Art. 20 Abs. 3 GG verletzt. 824  Wasserburg, Die Wiederaufnahme des Strafverfahrens, S. 187 m.  w. N.; MG § 261 / 34. 816  Wasserburg,

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Teil 2: Eigene Untersuchung und Reformvorschläge

setzungen, von Ausnahmen abgesehen825, grds. nicht anwendbar ist.826 Auch für sonstige Verfahrensfragen soll der Grundsatz nicht greifen.827 Keine Anwendung soll er auch bei der Gewinnung des richterlichen Überzeugungsgrades (Möglichkeit, Wahrscheinlichkeit, hohe Wahrscheinlichkeit, Sicherheit) finden.828 Der Zweifelsgrundsatz kann demnach in dem Verfahrensstadium keine Anwendung finden, in dem noch kein Urteil über Schuld oder Unschuld getroffen wird bzw. bei Entscheidungen, die noch keine sichere Überzeugung vom Vorliegen bestimmter Tatsachen erfordern.829 3. Geltung im Wiederaufnahmerecht Weder im Aditions- noch im Probationsverfahren findet der Zweifelsgrundsatz daher nach der seit jeher herrschenden Ansicht Anwendung.830 Unmittelbare Wirkung soll er im Fall des § 371 Abs. 1 StPO haben, wenn der bereits verstorbene Verurteilte freizusprechen ist.831 In der Hauptverhandlung des wiederaufgenommenen Verfahrens findet der Zweifelsgrundsatz uneingeschränkt Anwendung832, weil in der Erneuerungsverhandlung wieder der Untersuchungsgrundsatz des § 244 Abs. 2 StPO gilt und das Gericht von den Tatsachen, die den Schuldvorwurf begründen, überzeugt sein muss.833 Zweifelt das Gericht hinsichtlich der Tatsachen, die die Schuld des Angeklagten betreffen, muss dieser freigesprochen werden. Andernfalls wäre wegen des Ausspruchs einer Verdachtsstrafe das Rechtsstaatsprinzip verletzt.834 825  So etwa bezüglich der Frage der Verjährung, des Vorliegens eines wirksamen Strafantrags, des Verbrauchs der Strafklage und des Einsatzes eines Lockspitzels, vgl. BGHSt 18, 274, 277; BayObLG NJW 1968, 2118; BGH NStZ 1984, 519, 520. 826  RGSt 65, 251, 255. 827  BGHSt 16, 164, 167; BGHSt 21, 4, 10. A. A. Wasserburg, ZStW 94 (1982), 914, 922 der von einer Anwendbarkeit auf Verfahrensrecht ausgeht, ebenso Wasserburg, Die Wiederaufnahme des Strafverfahrens, S. 187. 828  Peters, Strafprozeß, S. 275. 829  Wasserburg, Die Wiederaufnahme des Strafverfahrens, S. 189; Wasserburg, ZStW 94 (1982), 914, 925 f. 830  BGH NStZ 1993, 502, 504; OLG Braunschweig NJW 1959, 1984; OLG Köln NJW 1968, 2119; KMR-Eschelbach, § 365 / 79; Peters, Fehlerquellen im Strafprozeß III, S. 25; Wasserburg, Die Wiederaufnahme des Strafverfahrens, S. 185; Wasserburg, ZStW 94 (1982), 914, 917; Schorn, MDR 1965, 869, 870; Schöneborn, MDR 1975, 441, 443; Peters, Strafprozeß, S. 647. 831  Verstirbt der Betroffene im Fall der ungünstigen Wiederaufnahme nach Antragstellung, ist das Verfahren einzustellen. Vgl. hierzu: SSW-Kaspar, § 371 / 3. 832  Theobald, Barrieren des strafrechtlichen Wiederaufnahmeverfahrens, S. 56; Wasserburg, Die Wiederaufnahme des Strafverfahrens, S. 185. 833  Wasserburg, Die Wiederaufnahme des Strafverfahrens, S. 185. 834  Wasserburg, Die Wiederaufnahme des Strafverfahrens, S. 187.



E. Verfahrenserleichterungen zur Rechtskraftdurchbrechung 331

Das Bundesverfassungsgericht ließ in seinem Beschluss vom 06.11.1974 die Frage der Geltung des Zweifelsgrundsatzes im Wiederaufnahmeverfahren offen.835 Der Bundesgerichtshof entschied mit Beschluss vom 03.12.1992 (Ossietzky-Verfahren), dass der Zweifelssatz im Wiederaufnahmeverfahren nicht gilt.836 a) Ablehnung aufgrund von Sachlogik Die Anwendung des in-dubio-Satzes im Aditions- und Probationsverfahren wird zunächst aus Gründen der Sachlogik abgelehnt.837 Er stelle eine Beweisregel dar und betreffe die Feststellung von Tatsachen.838 Da im Aditions- und Probationsverfahren nicht über das Bewiesensein einer Tatsache entschieden werde, ebenso wenig wie über die endgültige Frage der Schuld oder Unschuld des Täters, sondern nur über die Notwendigkeit einer Wiederholung des Strafverfahrens, soll der Grundsatz nicht anwendbar sein.839 Im Rahmen des Aditionsverfahrens entscheide das Zulassungsgericht nicht über die Feststellung von Tatsachen i. S. e. Beweisaufnahme, sondern prüfe die Schlüssigkeit des Wiederaufnahmevorbringens. Hierzu sei eine Wahrscheinlichkeitsprognose vorzunehmen, bei der nach Wertungsgesichtspunkten zu entscheiden sei, so dass für Zweifelsregeln, wie sie bei einer Entscheidung zur vollen Überzeugung des Gerichts erforderlich sind, kein Raum bliebe.840 Da das Wiederaufnahmegericht lediglich zu prüfen habe, ob genügender Anlass zur Wiederholung der Hauptverhandlung besteht, sei der Zweifelsgrundsatz nicht anwendbar, da gerade keine Eindeutigkeit vorausgesetzt werde.841 Mit anderer Argumentation lehnt das Oberlandesgericht Braunschweig die Anwendung des Zweifelsgrundsatzes im wiederaufnahmerechtlichen Vorschaltverfahren ab: die Zulässigkeit des Antrags müsse positiv feststehen, um das weitere Verfahren zu eröffnen.842 Innerhalb des dem Wiederaufnahmerichter eingeräumten Ermessensspielraums zur Prüfung der Eignung zur Er835  BVerfGE

MDR 1975, 468, 469. NStZ 1993, 502, 504. 837  Schünemann, ZStW 84 (1972), 870, 874 f. 838  BGH NJW 1993, 1481, 1484; OLG Braunschweig NJW 1959, 1984. 839  OLG Köln 1968, 2119; OLG Braunschweig NJW 1959, 1984; Theobald, Barrieren des strafrechtlichen Wiederaufnahmeverfahrens, S. 70 f.; Wasserburg, Die Wiederaufnahme des Strafverfahrens, S. 189. 840  BGH NJW 1993, 1481, 1484; Fuchs, JuS 1969, 516, 517. 841  Peters, Fehlerquellen im Strafprozeß III, S. 87. 842  OLG Braunschweig NJW 1959, 1984. 836  BGH

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Teil 2: Eigene Untersuchung und Reformvorschläge

schütterung des Urteils habe sich das Gericht frei seine Überzeugung zu bilden; bei Zweifeln sei zugunsten der Rechtskraft zu entscheiden.843 Auch auf Stufe des Probationsverfahrens werden die Beweise zwar vom Gericht erhoben, die Beweislast jedoch trage der Antragsteller.844 Dieser Rspr. kann nicht gefolgt werden. Sowohl für die Zulässigkeit des Antrags, § 368 StPO wie auch für die Begründetheit, § 370 StPO, ist für das Vorliegen der „Geeignetheit“ bzw. „genügenden Bestätigung“ nicht erforderlich, dass sämtliche Zweifel auszuschließen sind. Vielmehr findet eine summarische Prüfung statt. Die Rspr. des Oberlandesgericht Braunschweig ist vielmehr als einseitige Betonung des Grundsatzes der Rechtssicherheit, die nach der Rspr. des Bundesverfassungsgericht zu einer Verletzung des Grundrechts auf effektiven Rechtsschutz aus Art. 2 Abs. 1 i. V. m. Art. 20 Abs. 3 GG führt, abzulehnen.845 Der Argumentation der h. M. ist entgegenzuhalten, dass auch die Feststellung eines Sachverhalts eine richterliche Überzeugung voraussetzt846, so dass es sich keineswegs um unterschiedliche Formen richterlicher Tätigkeit handelt.847 Eine strikte Trennung zwischen Tatsachenfeststellungen, für die der Zweifelsgrundsatz gilt und richterlicher Überzeugungsbildung, für die er keine Geltung beanspruchen soll, erscheint auch nicht möglich.848 Dennoch kann nicht verkannt werden, dass das Wiederaufnahmegericht im Aditionsverfahren vorgetragene nova zu unterstellen hat, deren Überprüfung dem Probationsverfahren vorbehalten bleibt.849 Es muss im Aditionsverfahren noch keine subjektive Gewissheit erlangen, sondern prognostiziert bei unterstellter Richtigkeit des Vortrags. Es bildet sich demnach noch kein Überzeugungsurteil, sondern ein Überzeugungsgrad – abhängig davon, ob der h. M. oder m.M. gefolgt wird – zwischen Möglichkeit und Wahrscheinlichkeit.850 Vor diesem Hintergrund erscheint es zunächst überzeugend, den Zweifelsgrundsatz abzulehnen.851

843  OLG

Braunschweig NJW 1959, 1984; OLG Köln NJW 1968, 2119. § 368 / 13. 845  BVerfG NJW 1993, 2735, 2736. 846  Der BGH etwa betont, dass die Schuldfrage davon abhängt, ob das Gericht von einem bestimmten Sachverhalt überzeugt ist oder nicht, vgl. BGHSt 10, 208, 209. 847  Schünemann, ZStW 84 (1972), 870, 875; Theobald, Barrieren des strafrecht­ lichen Wiederaufnahmeverfahrens, S.  72 f. 848  Theobald, Barrieren des strafrechtlichen Wiederaufnahmeverfahrens, S. 73 f. 849  Theobald, Barrieren des strafrechtlichen Wiederaufnahmeverfahrens, S. 74. 850  OLG Köln NJW 1968, 2119; Theobald, Barrieren des strafrechtlichen Wiederaufnahmeverfahrens, S. 74. 851  So auch Theobald, Barrieren des strafrechtlichen Wiederaufnahmeverfahrens, S. 74 ff.; Wasserburg, Die Wiederaufnahme des Strafverfahrens, S. 189. Dippel, GA 1972, 97, 106 f. 844  KK-Schmidt,



E. Verfahrenserleichterungen zur Rechtskraftdurchbrechung 333

Auch wenn im Vorschaltverfahren dem Wiederaufnahmegericht lediglich eine Prognose abverlangt wird, ist eine Prognoseentscheidung zu treffen, die Platz für Zweifel lässt. Nach der Konzeption des Gesetzgebers und dem hinter dem Wiederaufnahmerecht stehenden Grundgedanken der Durchsetzung materieller Gerechtigkeit, ist auch bei vorhandenen Restzweifeln von einem genügenden Anlass für die Erneuerung der Hauptverhandlung auszugehen.852 Zudem ist zu bedenken, dass der für die Zulässigkeit und Begründetheit eines Wiederaufnahmeverfahrens erforderliche Überzeugungsgrad (Wahrscheinlichkeit) dem Überzeugungsurteil über die Schuld- und Rechtsfolgenfrage des Erneuerungsverfahrens lediglich vorgeschaltet ist. Aber auch eine Wahrscheinlichkeitsentscheidung ist von richterlicher Überzeugung getragen, bei der Zweifel auftreten können. Die logischen Strukturen zur Feststellung von Tatsachen und zur Aufstellung einer Prognose stimmen – jedenfalls soweit es um die Möglichkeit des Bestehens von Zweifeln geht – überein.853 Dem wird wenig überzeugend entgegengehalten, dass bei der Überzeugungsbildung gem. § 261 StPO, nach dem Leitgedanken des Gesetzgebers, die Möglichkeit bestehe, zu einer zweifelsfreien Entscheidung zu kommen. Nicht also, wo die Möglichkeit zu zweifeln besteht, sondern vielmehr, wo die Möglichkeit der Gewissheit besteht, sei für den Zweifelsgrundsatz Raum. Hier habe der Zweifelsgrundsatz seine Berechtigung, nicht jedoch im Bereich der Wiederaufnahme, wo die Zukunftsprognose schon von Gesetzes wegen ungewiss ist.854 Dieser Gedankengang scheint rein theoretischer Natur zu sein. Entscheidend ist nicht, ob das Gericht die Möglichkeit zu zweifeln hat, sondern ob es zweifelt. Tut es dies, muss diesen Zweifeln Rechnung getragen werden. Da die Möglichkeit zu Zweifeln demnach auch im Aditions- und Proba­ tionsverfahren vorhanden ist, ist die Anwendung des Zweifelsgrundsatzes nicht bereits sachlogisch ausgeschlossen.855 b) Ablehnung aufgrund von institutioneller Unanwendbarkeit Gegen die Anwendbarkeit des Zweifelsgrundsatzes wird zugleich eingewandt, dass die Geeignetheit einer neuen Tatsache bzw. eines neuen Beweis852  Wasserburg,

Die Wiederaufnahme des Strafverfahrens, S. 190 f. ZStW 84 (1972), 870, 880 f.; dem widersprechend Wasserburg, ZStW 94 (1982), 914, 928 und Theobald, Barrieren des strafrechtlichen Wiederaufnahmeverfahrens, S. 75 unter Hinweis darauf, dass etwa bei offenkundigen Tatsachen der Tatsachenfeststellung kein Überzeugungsakt vorausgeschaltet ist, so dass nicht jeder Tatsache eine Überzeugungsbildung vorausgehen müsse. 854  Schöneborn, MDR 1975, 441, 443. 855  Schünemann, ZStW 84 (1972), 870, 881. 853  Schünemann,

334

Teil 2: Eigene Untersuchung und Reformvorschläge

mittels Zulässigkeitsvoraussetzung im Wiederaufnahmeverfahren sei.856 Erst wenn diese positiv feststehe, sei das weitere Verfahren eröffnet. Die Geeignetheit wird demnach als Prozessvoraussetzung angesehen, auf die der Zweifelsgrundsatz keine Geltung haben soll.857 Auch wenn das geltende Recht das Vorliegen eines Wiederaufnahmegrunds als Zulässigkeitsvoraussetzung versteht, kann Folgendes nicht übersehen werden: Sowohl die Geeignetheit der vorgetragenen nova als auch die Frage ihrer genügenden Bestätigung i. S. d. § 370 StPO sind keine rein prozessualen Parameter.858 Das Vorschaltverfahren ist, anders als etwa die klassischen Prozessvoraussetzungen oder -hindernisse, dazu bestimmt, von vornherein aussichtslose Anträge auszuschließen, wobei sich das Gericht in diesem Verfahrensstadium bereits mit dem Inhalt des Antragsvorbringens näher auseinanderzusetzen hat. Da demnach bereits im Aditionsverfahren die Schuldfrage unmittelbar zu stellen ist, steht auch dieser Einwand einer Anwendbarkeit des Zweifelsgrundsatzes nicht per se entgegen. c) Ablehnung aufgrund des Ausnahmecharakters des Wiederaufnahmerechts Für die Nichtanwendung des Zweifelsgrundsatzes im Wiederaufnahmeverfahren wird des Weiteren vorgebracht, dass die Rechtsordnung der Rechtskraft einen überragenden Wert beigemessen habe. Die Durchbrechung der Rechtskraft im Wege der Wiederaufnahme solle nur in den Fällen zugelassen werden, in denen die Aufrechterhaltung einer Entscheidung unerträglich erscheint. Dies sei nur der Fall, wenn mit einiger Wahrscheinlichkeit die Korrektur der Entscheidung zu erwarten sei. Dem Zweifelsgrundsatz könne dabei kein Raum bleiben.859 Diesem Verständnis der Korrekturmöglichkeit im Ausnahmefall steht bereits entgegen, dass das Wiederaufnahmerecht im Interesse der materiellen Wahrheit und Gerechtigkeit gerade nicht auf Ausnahmefälle beschränkt ist (s. o. S.  150 ff.).860 Die Rechtssicherheit dient dem Bestandsschutz eines materiell richtigen Urteils zum Zwecke des Rechtsfriedens. Sie kann jedoch 856  So

1828.

auch bei der Prüfung von nova i. S. d. § 211 StPO, vgl. BGH NJW 2017,

857  OLG

Braunschweig NJW 1959, 1984. ZStW 84 (1972), 870, 884; Theobald, Barrieren des strafrecht­ lichen Wiederaufnahmeverfahrens, S. 69. 859  Theobald, Barrieren des strafrechtlichen Wiederaufnahmeverfahrens, S. 57. 860  So auch Theobald, Barrieren des strafrechtlichen Wiederaufnahmeverfahrens, S. 62. 858  Schünemann,



E. Verfahrenserleichterungen zur Rechtskraftdurchbrechung 335

nicht zum „abwehrenden Schild gegen die Gerechtigkeit“861 werden. Rechtsfrieden in einem nicht nur formell verstanden Sinn kann nur dann eintreten, wenn Zweifel über die Richtigkeit des Urteils aufgeklärt werden.862 Das Ausnahme-Argument kann schließlich auch deshalb nicht überzeugen, da gerade die Frage, ob nicht bereits die Möglichkeit des Vorliegens eines Wiederaufnahmegrunds das Wiederaufnahmeverfahren eröffnen muss, im Zusammenhang mit der Frage der Anwendbarkeit des Zweifelssatzes steht. Das Berufen auf den Ausnahmecharakter des Rechtsinstituts stellt daher eine petitio principii dar, die nicht überzeugen kann.863 d) Ablehnung wegen der Gefahr einer Antragsflut Soweit die Anwendung des Zweifelsgrundsatzes abgelehnt wird, damit die Regelung des §  359 Nr.  5 StPO nicht zu einer „Gefahr für die Strafrechtspflege“864 wird (im Sinne einer Überbelastung des Justizapparates), fehlen hierzu schon empirische Erkenntnisse. Zwangsläufig ist die Zunahme von Wiederaufnahmeanträgen bei Absenkung der Zulässigkeitsanforderungen jedenfalls nicht.865 Dies umso mehr, als ihre Anzahl im Vergleich zu erledigten Strafverfahren sowohl marginal ist als auch die restriktive Handhabung des Wiederaufnahmerechts durch die Gerichte sie nicht hat rückläufig werden lassen.866 Schließlich können zweifelhafte Wiederaufnahmeanträge im Probationsverfahren, in dem gem. § 369 Abs. 1 StPO eine richterliche Beweisaufnahme stattfindet und in dem Zeugen und Sachverständige gem. § 369 Abs. 2 StPO eidlich vernommen werden können, ausgesondert werden. Dies wäre angesichts der vom Gesetzgeber bewusst vorgenommenen Abgrenzung in Adition und Probation ohnehin zu begrüßen.867 e) Ablehnung aufgrund verfassungsrechtlichen Spannungsverhältnisses Die Anwendung des Zweifelsgrundsatzes wird schließlich auch deshalb abgelehnt, weil das dem Wiederaufnahmerecht immanente Spannungsver861  Theobald,

Barrieren des strafrechtlichen Wiederaufnahmeverfahrens, S. 59. Barrieren des strafrechtlichen Wiederaufnahmeverfahrens, S. 59. 863  Theobald, Barrieren des strafrechtlichen Wiederaufnahmeverfahrens, S. 57. 864  So LR-Kohlhaas, 21. Auflage, zitiert nach Theobald, Barrieren des strafrecht­ lichen Wiederaufnahmeverfahrens, S. 63. 865  Theobald, Barrieren des strafrechtlichen Wiederaufnahmeverfahrens, S. 65. 866  Theobald, Barrieren des strafrechtlichen Wiederaufnahmeverfahrens, S. 64. 867  So auch Theobald, Barrieren des strafrechtlichen Wiederaufnahmeverfahrens, S.  65 f. 862  Theobald,

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Teil 2: Eigene Untersuchung und Reformvorschläge

hältnis zwischen Rechtskraft und Gerechtigkeit im Einzelfall einseitig zugunsten der Einzelfallgerechtigkeit aufgelöst würde.868 Dem kann nicht beigepflichtet werden. Die verfassungsrechtliche Analyse (I.) hat vielmehr ergeben, dass im Interesse der materiellen Gerechtigkeit im Zweifel eine permissive Gesetzesanwendung und -auslegung geboten ist. Die Anwendung des Zweifelsgrundsatzes würde aber das verfassungsrecht­ liche Spannungsverhältnis nicht einseitig zugunsten der Einzelfallgerechtigkeit verschieben, sondern das Wiederaufnahmeverfahren effektiv machen: ist das Probationsverfahren erreicht, können die bestehenden Zweifel eingehender betrachtet und womöglich ausgeräumt werden. f) Mittelbare Anwendbarkeit Die unmittelbare Anwendbarkeit des Zweifelssatzes ablehnend, fragte Wasserburg nach seiner mittelbaren Anwendbarkeit, die gegeben wäre, wenn ein Richter in einer Zukunftsprognose von der Anwendung des Zweifelsgrundsatzes innerhalb einer etwaig erneuerten Hauptverhandlung auszugehen hätte.869 Wäre dies der Fall, könne der Antrag nicht als unzulässig abgelehnt werden. Denn andernfalls würde nicht nur die Anwendung des Zweifelsgrundsatzes in der Hauptverhandlung vereitelt, vielmehr würde auch der Antragsteller in seinem Recht auf den gesetzlichen Richter verletzt werden. Es käme einem Eingriff in die Beweiswürdigung gleich, wenn im Rahmen der Aditionsprüfung die der Hauptverhandlung vorbehaltene Beweiswürdigung und die mögliche Anwendung des in-dubio-Grundsatzes durch Ablehnung des Antrags vereitelt werden könnte.870 Würde die Hauptverhandlung abgelehnt werden, obwohl sich der Antragsteller im Erneuerungsverfahren auf den Zweifelsgrundsatz berufen könnte, würde die Ablehnung der Hauptverhandlung den Antragsteller in seinem grundrechtsgleichen Recht des Zweifelsgrundsatzes verletzen.871 Im Rahmen der Geeignetheitsprüfung eines Beweismittels, § 368 StPO, sowie der genügenden Bestätigung, § 370 StPO, sei bei Wahrscheinlichkeit, hoher Wahrscheinlichkeit und Sicherheit eine erneute Hauptverhandlung anzuordnen, ebenso wie bei einem non liquet.872 868  AK-Loos,

§ 370 / 10. Die Wiederaufnahme des Strafverfahrens, S. 191; zustimmend Stoffers, ZRP 1998, 173, 177. So auch LG Hamburg NJW 1987, 3016. 870  Wasserburg, Die Wiederaufnahme des Strafverfahrens, S. 192; Wasserburg, ZStW 94 (1982), 914, 931. 871  Wasserburg, Die Wiederaufnahme des Strafverfahrens, S. 192. 872  Wasserburg, Die Wiederaufnahme des Strafverfahrens, S. 210; Wasserburg, ZStW 94 (1982), 914, 925. 869  Wasserburg,



E. Verfahrenserleichterungen zur Rechtskraftdurchbrechung 337

Wasserburg kommt demnach über die mittelbare Anwendbarkeit des Zweifelsgrundsatzes zu dem gleichen Ergebnis wie Schünemann: Ist wahrscheinlich, dass das Gericht des Erneuerungsverfahrens den in-dubio-Satz anwenden werde, kann der Antrag nicht abgelehnt werden.873 4. Eigene Beurteilung der Anwendbarkeit des Zweifelssatzes im Vorschaltverfahren § 359 Nr. 5 StPO erleichtert in seiner aktuellen Fassung die Betonung der Rechtssicherheit. Insbesondere der Begriff der „Geeignetheit“ räumt den Gerichten einen großen Spielraum ein, der dazu geführt hat, dass Antragsvorbringen dem von der Rspr. entwickelten Verständnis der Geeignetheit kaum entsprechen können.874 Die Anwendung des in-dubio-Grundsatzes im Adi­ tionsverfahren könnte die restriktive Praxis deutlich auflockern und die Aditionsprüfung auf die Beurteilung der formalen Zulassungsvoraussetzungen konzentrieren, mithin auf die Frage, ob eine Erfolgseignung anzunehmen ist. Der Prüfungsschwerpunkt würde sich so auf das Probations- und Erneuerungsverfahren verlagern.875 Wie aufgezeigt, ist der Zweifelsgrundsatz im Vorschaltverfahren unmittelbar anzuwenden.876 Dies folgt aus einer grammatischen sowie historischen Auslegung. Sämtliche von der h. M. vorgebrachten Gründe wurden widerlegt bzw. waren nicht zwingend. Hinzu kommt, dass einer Nichtgeltung des Zweifelsgrundsatzes auch Art. 3 GG entgegenstünde. Während der in-dubio-Satz in der Erneuerungshauptverhandlung zweifellos Anwendung finden soll, wäre es mit Art. 3 GG nicht zu vereinbaren, wenn im Vorschaltverfahren, in dem eine summarische Prüfung zu erfolgen habe, im Zweifel gegen den Verurteilten zu entscheiden wäre. Im Aditions- und Probationsverfahren würden andernfalls nicht völlig aussichtslose Anträge blockiert werden, die in einer Hauptverhandlung Aussicht auf Erfolg hätten.877 Schließlich spricht für die Geltung des Zweifelsgrundsatzes im Vorschaltverfahren, dass der Richter umgekehrt, ohne alle prozessual möglichen Aufklärungsmöglichkeiten ausschöpfen zu können, zu einer Beurteilung gelan873  Wasserburg, ZStW 94 (1982), 914, 931; Schünemann, ZStW 84(1972), 870, 889 ff.; so auch Fuchs, JuS 1969, 516, 518 und OLG Hamm StV 2003, 231, 232. 874  Wasserburg, Die Wiederaufnahme des Strafverfahrens, S. 185. 875  Wasserburg, ZStW 94 (1982), 914, 917. 876  Für die Frage der Geeignetheit eines Sachverständigenbeweises offenbar bejahend OLG Hamm, StraFo 2002, 168. 169. 877  Schünemann, ZStW 84 (1972), 870, 900.

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Teil 2: Eigene Untersuchung und Reformvorschläge

gen müsste.878 Das Wiederaufnahmegericht nimmt in diesem Verfahrensstadium jedoch lediglich eine summarische Beurteilung vor, eine fundierte Abwägung aller Umstände erfolgt nach dem eindeutigen Gesetzeswillen erst im Erneuerungsverfahren. Das Wiederaufnahmegericht beurteilt demnach im Vorschaltverfahren, ob dem Antragsvorbringen Erfolgschancen zuzubilligen oder abzuerkennen sind. Wie groß die Erfolgschancen sind, kann es noch nicht beurteilen, da die Gesamtabwägung einzig der Hauptverhandlung vorbehalten ist.879 Eine fundierte, abschließende Beurteilung im Vorschaltverfahren würde auch zu einer Entwertung des Erneuerungsverfahrens führen, was im Widerspruch zu der Entscheidung des Gesetzgebers für ein Erneuerungsverfahren stehen würde.

II. Zuständigkeit des Wiederaufnahmegerichts Die Untersuchungsergebnisse wecken Zweifel an der geltenden Rechtslage zur Zuständigkeit der Wiederaufnahmegerichte. So bemerkten die Experten, dass sich das Wiederaufnahmegericht mit einer Erklärung eines Wiederaufnahmeantrags als zulässig Arbeit – über das Pensum neuer Verfahren – selbst aufhalse: die Durchführung des Probationsverfahrens sowie der Erneuerungsverhandlung. Damit stellt sich die Frage, ob die Zuständigkeit des Wiederaufnahmeverfahrens für alle Stufen des Vorschalt- und Erneuerungsverfahrens sinnvoll ist oder nicht vielmehr dazu beiträgt, dass Wiederaufnahmeanträge abgeblockt werden. Der Gesetzgeber hatte bereits 1974 mit dem Prinzip der Ortsferne in § 140a GVG eine Regelung eingeführt, um über § 23 Abs. 2 StPO hinaus eine örtliche Distanz zu schaffen und bereits den Anschein kollektiver Befangenheit aller Richter eines Gerichts zu vermeiden.880 Diese Gesetzesregelung wurde in der Literatur kritisiert. Das Wiederaufnahmegericht könne mangels Aufzeichnung des Verhandlungsgeschehens nicht beurteilen, ob eine Tatsache neu und geeignet sei. Dies wird als schwerer Verfahrensnachteil kritisiert, der zu einer Potenzierung des Perseveranz-, Inertia- und Schulterschluss­ effektes führe.881 Ob in der Praxis tatsächlich ein Bedürfnis für die Zuständigkeit eines anderen Gerichts besteht, ist nicht erforscht.882 Ein Experte sprach sich inner-

878  Schünemann,

ZStW 84 (1972), 870, 902. ZStW 84 (1972), 870, 903. 880  BT-Drs. 7 / 2600, S. 7f., 11. Ganz anders demgegenüber § 584 ZPO. 881  Eschelbach, Wiederaufnahmefragen, in: FS-Stöckel, S. 206. 882  AK-Loos, § 367 / 1. 879  Schünemann,



E. Verfahrenserleichterungen zur Rechtskraftdurchbrechung 339

halb der Untersuchung für die Zuständigkeit des Ursprungsgerichts als Wiederaufnahmegericht aus. Tatsächlich erscheint der gesetzliche Gedanke zur Personenverschiedenheit zwischen Ausgangs- und Wiederaufnahmegericht nachvollziehbar, um dem Anschein einer Voreingenommenheit vorzubeugen. Das Problem fehlender Kenntnis von Verfahrensinhalten beim Wiederaufnahmegericht stellte sich im Übrigen bei einer, wie hier geforderten, umfassenden Protokollierung der Hauptverhandlung nicht. Vorliegend wurde erwogen, die örtliche Zuständigkeit eines Wiederaufnahmegerichts, das über die Zulässigkeit des Verfahrens entscheidet, von der örtlichen Zuständigkeit eines anderen Wiederaufnahmegerichts, das weiter in der Sache entscheidet, zu trennen. Eine Trennung der Zuständigkeit des Zulassungsgerichts vom Probations- / Erneuerungsgericht wäre eine Fortentwicklung des Gedankens, der den Gesetzgeber zur Regelung des § 140a GVG erwogen hatte. Die Zuständigkeitstrennung würde ein Abblocken eines Wiederaufnahmeverfahrens, um keine Mehrarbeit zu verursachen, verhindern und könnte zu einem großzügigeren Umgang mit Wiederaufnahmeverfahren führen. Eine gesetzliche Festlegung wäre dabei vor dem Gebot des Art. 101 Abs. 1 S. 2 GG erforderlich. Bereits aus Gründen der Rechtssicherheit wäre daher eine Vorhersehbarkeit und Kontinuität des gesetzlichen Richters zu fordern.883 Durch einen Vergleich der Größe der Landgerichtsbezirke könnte die örtliche Zuständigkeit – mit möglichst großer örtlicher Distanz – bestimmt werden. Diesem dem Grunde nach zu berfürwortenden Gedanken stehen jedoch bereits prozessökonomische Überlegungen entgegen. Trennt man die Zuständigkeiten des Ausgangs-, Zulassungs- und Probations- / Erneuerungsgerichts, würden die ohnehin schon knappen Justizressourcen strapaziert. Es müssten sich mindestens drei verschiedene Gerichte (das Beschwerdeverfahren noch nicht berücksichtigt) mit dem identischen Wiederaufnahmesachverhalt befassen. Hinzu kommt die Einschätzung der befragten Experten, die zwar eine räumliche Distanz zwischen den befassten Gerichten befürworteten, dennoch davon ausgingen, dass auch diese an dem auf Kollegialität basierenden res­ triktiven Verständnis der Wiederaufnahmepraxis keine zwingenden Verbesserungen bewirken würden. Eine Änderung der örtlichen Zuständigkeit ist vor diesem Hintergrund nicht anzuraten.

883  Feiber,

NJW 1986, 699, 700.

340

Teil 2: Eigene Untersuchung und Reformvorschläge

III. Mündliche Verhandlung über die Zulässigkeit oder gesetzliche Normierung einer Hinweispflicht Anders als im Strafprozess üblich, wird das Wiederaufnahmeverfahren nicht vom Prinzip der Mündlichkeit beherrscht. Entscheidungen des Wiederaufnahmegerichts ergehen schriftlich durch Beschluss. Den am Wiederaufnahmeverfahren beteiligten Parteien wird lediglich im Rahmen des § 369 Abs. 3 StPO die Anwesenheit gestattet. Dies führt nicht nur dazu, dass dem Verurteilten die Möglichkeit genommen wird, seinen Vortrag nochmals ergänzend klarstellen und erläutern zu können, sondern auch dazu, dass die Öffentlichkeit – die eine Kontrollfunktion wahrnimmt – nicht beteiligt wird.884 Alsberg kritisierte bereits 1913, dass das Wiederaufnahmeverfahren zur Erforschung der materiellen Wahrheit nur bedingt geeignet sei, mitunter weil der Grundsatz der Mündlichkeit nicht beachtet werde.885 Zwar würde die Mündlichkeit des Verfahrens zu einer Erhöhung der Arbeitslast der Gerichte führen, könnte sie jedoch zugleich von offensichtlich unbegründeten Anträgen verschonen, wenn die sofortige Zurückverweisung des Antrags möglich und dieser als von vornherein völlig aussichtslos zu beurteilen ist. Zugleich könne die Mündlichkeit des Verfahrens weitere Anträge im gleichen Verfahren verhindern.886 Alsberg hierzu: „Es erscheint mir völlig zweifellos, daß bei einer solchen Art des Verfahrens viele Wiederaufnahmeanträge, die heute schon im Keim erstickt werden, zu einer neuen, verdienten Verhandlung führen würden. Das Ansehen der Rechtspflege könnte auch nur gewinnen, wenn dieses geheime schriftliche Verfahren, dass bitteren Groll gegen die Justiz bei den meisten zurückläßt, die es ohne Erfolg beschritten haben, beseitigt würde.“887

Auch von Hentig sprach sich 1930 für eine mündliche, kontradiktorische Zwischenverhandlung im Rahmen des Probationsverfahrens aus.888 Dank seiner sozialwissenschaftlichen Experimente erkannte Schünemann, dass ein Richter tendenziell an dem Tatbild festhält, das sich ihm aus den Ermittlungsakten präsentiert. Zudem wirke sich „besonders negativ“ für die Informationsverarbeitungsleistung des Gerichts aus, wenn es keine eigene Möglichkeit zur Befragung von Zeugen habe, weil darunter im Regelfall die Aufmerksamkeit der Richter leide.889 884  Alsberg,

Justizirrtum und Wiederaufnahme, S. 75 f. Justizirrtum und Wiederaufnahme, S. 75 ff. 886  Alsberg, Justizirrtum und Wiederaufnahme, S. 78 f. 887  Alsberg, Justizirrtum und Wiederaufnahme, S. 79. 888  von Hentig, Die Wiederaufnahme des Strafverfahrens dogmatisch und rechtsvergleichend dargestellt, S. 279. 889  Schünemann, StV 2000, 159, 163. 885  Alsberg,



E. Verfahrenserleichterungen zur Rechtskraftdurchbrechung 341

Bereits bei Einführung der RStPO hatte sich der Gesetzgeber mit der Frage auseinandergesetzt, ob über den Antrag in mündlicher Verhandlung zu entscheiden sei. Wegen der „Eigentümlichkeit“ des damaligen schwurgericht­ lichen Verfahrens890 entschied sich der Gesetzgeber, erst nach eine Vorprüfung und Anordnung der Wiederaufnahme eine mündliche Verhandlung für erforderlich zu erachten.891 Die Einführung einer mündlichen Verhandlung war auch in dem 1993 in den Bundestag eingebrachten Gesetzesentwurf angedacht, und ist überdies aus ausländischen Verfahrensordnungen bekannt.892 Zwar sollte die mündliche Verhandlung danach nicht in jedem Fall zwingend sein, dennoch bestand nach dem Gesetzesentwurf die Möglichkeit einer mündlichen Verhandlung.893 Zudem setzte sich J. Meyer für die parteiöffentliche mündliche Verhandlung über die Begründetheit eines Wiederaufnahmeantrags ein.894 Die Einführung einer mündlichen Verhandlung wäre insbesondere im Hinblick die Frage der Zulässigkeit des Wiederaufnahmegesuchs zu begrüßen, weil diese den Verfahrensbeteiligten die Möglichkeit eröffnen würde, kontradiktorisch rechtliche oder tatsächliche Probleme zu erörtern. Zugleich könnte der Antragsteller auf Mängel in seinem Vortrag hingewiesen und ihm die Möglichkeit eröffnet werden, sich im Rahmen einer Anhörung zu verfahrensinternen Widersprüchlichkeiten zu äußern bzw. ergänzend zu erklären. Zwar kann vom Antragsteller erwartet werden, dass er die Voraussetzungen zur Überwindung der Rechtskraft bereits in seinem schriftlichen Antrag so dezidiert darlegt, dass das Gericht alle für die Entscheidung notwendigen Umstände kennt. Dennoch wäre ein Termin zur mündlichen Anhörung Ausdruck eines offenen Prozessierens, das der Gesetzgeber insbesondere mit den Regelungen über die Verständigung anerkannt hat.895 Die Anhörung des Antragstellers garantiert ihm rechtliches Gehör und ist damit auch Ausdruck des fairen Verfahrens nach Art. 2 Abs. 1 i. V. m. Art. 20 Abs. 3 GG896, wenngleich aus dem Anspruch auf rechtliches Gehör gem. Art. 103 Abs. 1 GG kein Anspruch auf eine mündliche Verhandlung abgeleitet werden kann.897 890  Damit ist offensichtlich die Zuständigkeit des Ausgangsgerichts als Wiederaufnahmegericht und der Umstand gemeint, dass nicht Kritik an der Ausgangsentscheidung geübt werde, sondern vielmehr neue Umstände zur Diskussion gestellt werden, vgl. Hahn, Materialien zur RStPO, Band 1, S. 266. 891  Hahn, Materialien zur RStPO, Band 1, S. 266 f. 892  BT-Drs. 12 / 6219, S. 2. J. Meyer, Die Wiederaufnahme in rechtsvergleichender Darstellung, S.  852 ff. 893  BT-Drs. 12 / 6219, S. 2. 894  J. Meyer, Wiederaufnahmereform, S. 157 ff. 895  BVerfG NJW 2013, 1058, 1062. 896  KMR-Eschelbach, § 366 / 81. 897  BVerfG NJW 2014, 2563.

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Teil 2: Eigene Untersuchung und Reformvorschläge

Damit stellt sich die Frage, ob eine solche mündliche Verhandlung öffentlich oder parteiöffentlich stattzufinden hätte. Für die öffentliche Verhandlung spricht, dass der Öffentlichkeit damit eine Kontrollfunktion gewährt wird, wohingegen die Parteiöffentlichkeit den Angeklagten vor der erneuten Belastung eines öffentlichen Verfahrens schützen würde, bis feststünde, ob sein Wiederaufnahmegesuch begründet ist. Zudem würde die Tat hierbei nicht vorschnell bei Geschädigten bzw. der Öffentlichkeit in Erinnerung gerufen werden. Die Untersuchung ergab hierzu kein eindeutiges Meinungsbild der befragten Experten. Bisweilen erachteten sie die mündliche Erörterung des Antragsvorbringens im Aditionsverfahren angesichts der Darlegungslasten, die dem Antragsteller u. U. hinsichtlich seines eigenen Prozessverhaltens obliegen, für positiv. Aus weiteren Gesprächsverläufen wurde jedoch erkennbar, dass die Gesprächspartner eine dialogische Prozessführung als wünschenswert empfinden, sei es im Wege einer mündlichen Anhörung oder einer gesetzlich normierten Hinweispflicht, die vor Überraschungsentscheidungen schützt.898 Welchen von beiden Wegen der Gesetzgeber einschlägt, kann daher ihm überlassen werden. Von der Verfasserin wird die Einführung einer Hinweispflicht als sachgerechter erachtet, zumal sie weniger Aufwand verursacht und den Antragsteller in die Lage versetzt, überlegt und vorbereitet auf die gerichtlichen Hinweise zu reagieren.

IV. Geltung des Beschleunigungsgebots Die lange Verfahrensdauer von Wiederaufnahmeverfahren wurde von den Gesprächspartnern kritisiert. Wie gesehen899 soll aber das Beschleunigungsgebot im Wiederaufnahmeverfahren gelten.900 In der Praxis besteht gerichtlicher Schutz gegen eine unangemessene Verfahrensverzögerung einzig über die Verzögerungsrüge des § 198 Abs. 3 GVG und der damit korrespondierenden Entschädigungsklage nach dem GVG.901 Da dem Antragsteller jedoch an einer schnellen Sachentscheidung gelegen ist – die ggf. einen gegen ihn vollstreckten Freiheitsentzug beendet – erscheint die Kompensation im Weg eines Entschädigungsverfahrens als stumpfes Schwert. Dies gilt umso mehr, als § 198 Abs. 2 S. 3 GVG im Regelfall eine Entschädigung von monatlich 100,00 € vorsehen soll. 898  s. o.

S.  77 ff. S.  167. 900  BVerfG NJW 2012, 513, 515. 901  Miebach, in: Miebach / Hohmann, Wiederaufnahme in Strafsachen, Teil  J, Rz. 19. 899  s. o.



E. Verfahrenserleichterungen zur Rechtskraftdurchbrechung 343

Vor Inkrafttreten der Vorschrift im Zuge des Gesetzes über den Rechtsschutz bei überlangen Gerichtsverfahren und strafrechtlichen Ermittlungsverfahren (ÜVerfBesG) am 03.12.2011 bestand für den Betroffenen die Möglichkeit der Erhebung einer außerordentlichen, durch Richterrecht entwickelten Untätigkeitsbeschwerde, die gesetzlich nicht geregelt jedoch gebilligt war.902 Der Gesetzgeber entschied sich für die Kombination aus Verzögerungsrüge mit Entschädigungsmöglichkeit, da er davon ausging, dass Gerichte auf entsprechende Rügen mit Abhilfe reagieren können und in begründeten Fällen auch regelmäßig abhelfen werden, so dass er von einer konkretpräventiven Beschleunigungswirkung ausging. Eine Beschwerdemöglichkeit für den Fall der Nichtabhilfe wurde jedoch nicht vorgesehen, um die „Belastungen für die Praxis begrenzt zu halten.“903 Tatsächlich könnte dem Interesse des Betroffenen aus der Kombination einer Verzögerungsrüge mit anschließender Beschwerdemöglichkeit zum übergeordneten Gericht entsprochen werden. Die geltende Rechtslage mit ihrer Entschädigungslösung ist jedenfalls für den inhaftierten Betroffenen keine lohnenswerte Kompensation. Der Gesetzgeber sollte hier de lege ferenda in Erwägung ziehen, zur Untätigkeitsrüge mit Beschwerdemöglichkeit zurückzukehren, wenngleich hier – mangels spezifischen Bezuges zum Wiederaufnahmerecht – kein konkreten Lösungsvorschlag unterbreitet werden soll.

V. Erstreckung der Wiederaufnahmeanordnung auf Mitverurteilte Aus der Untersuchung ergab sich ferner, dass für mehrere Verurteilte die Wiederaufnahme gesondert beantragt werden muss, auch wenn hinsichtlich eines Betroffenen die Wiederaufnahme zu seinen Gunsten bereits angeordnet wurde. Auf Mitverurteilte erstreckt sich mangels entsprechender gesetzlicher Regelung die Aufhebung der Rechtskraft nicht, § 357 StPO soll auch nicht analog anwendbar sein.904

902  BT-Drs. 17 / 3802, S. 15 und BVerfG NJW 2005, 3488, 3489 unter Hinweis auf die weiteren Möglichkeiten, ein pflichtgemäßes Verhalten der Justiz durch zivilrechtliche Haftung gem. § 839 BGB i. V. m. Art. 34 GG oder das Richterdienstrecht zu erreichen, das jedoch zugleich einen Verstoß gegen das Gebot der Rechtsmittelklarheit erkannte. 903  BT-Drs. 17 / 3802, S. 16. 904  Marxen / Tiemann, Die Wiederaufnahme in Strafsachen, Rn. 394; LR-Gössel, § 370 / 47. Trifft die zum Wegfall des Urteils führende Wiederaufnahmeanordnung mit

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Teil 2: Eigene Untersuchung und Reformvorschläge

Auch wenn ein anderes Gericht einen anderen Angeklagten aufgrund einer anderen rechtlichen Bewertung oder Beweiswürdigung freigesprochen hat, soll dieses Urteil kein neues Beweismittel i. S. d. § 359 Nr. 5 StPO sein.905 Um bekanntes Unrecht nicht fortdauern zu lassen, erscheint es daher, trotz der grundsätzlichen Antragspflicht im Wiederaufnahmerecht, zwingend, de lege ferenda die Wiederaufnahmeanordnung auf Mitverurteilte zu erstrecken, als ob diese gleichfalls die Wiederaufnahme beantragt hätten.

VI. Reformgedanken zum Beschwerdeverfahren In der Literatur wird angenommen, dass Wiederaufnahmeanträge regelmäßig erst in der Beschwerde Erfolg haben. Dies soll an einem besonders starken Korpsgeist unter Richtern der gleichen Gerichtsart liegen; erst das Oberlandesgericht habe als Kontrollinstanz mehr Distanz zum Gericht der Ausgangsentscheidung. Tatsächlich hatten auch einige der in der Öffentlichkeit bekannt gewordenen Wiederaufnahmeverfahren erst in der Beschwerde­ instanz Erfolg.906 Hierzu zählt insbesondere das Wiederaufnahmeverfahren zugunsten Gustl Mollaths. Im Kontext des Wiederaufnahmerechts fällt auf, dass es keine einheitliche obergerichtliche Rechtsprechung gibt. Da die Oberlandesgerichte als Beschwerdeinstanzen über landgerichtliche Wiederaufnahmeverfahren entscheiden, besteht für den Bundesgerichtshof nur im Hinblick auf § 121 Abs. 2 GVG eine Einflussmöglichkeit. Eine weitergehende Divergenzvorlagepflicht enthält das geltende Recht nicht. Es stellt sich damit die Frage, ob eine Vereinheitlichung der Rechtsprechung erreichbar wäre, wenn als Wiederaufnahmegerichte die Obergerichte zuständig wären, bis zum Bundesgerichtshof als Beschwerdeinstanz. Diese Einführung eines Devolutiveffekts, der in zahlreichen ausländischen Verfahrensordnungen normiert ist907, wurde bereits in der Vergangenheit diskutiert, hat sich jedoch bislang nicht durchgesetzt.908 Diese Überlegung erscheint begrüßenswert, bestünde doch zwischen dem Ober- und dem Ausgangsgeeiner Revisionserstreckung gem. § 357 StPO zusammen, kann Letztere leerlaufen, vgl. eingehend Gössel, NStZ 1983, 391, 394 ff. 905  BGH wistra 1991, 30, 31; OLG Düsseldorf NStZ-RR 1999, 245. 906  Geipel, in: Miebach / Hohmann, Wiederaufnahme in Strafsachen, Teil A, Rz. 29 und 55. 907  J. Meyer, Die Wiederaufnahme in rechtsvergleichender Darstellung, S. 756; J. Meyer, Wiederaufnahmereform, S. 29. Bei den von Meyer rechtsvergleichend untersuchten zehn Ländern gab es Devolutiveffekt nur in Österreich nicht. 908  Hanack, JZ 1973, 393, 401; J. Meyer, ZStW 84 (1972), 909, 921 f. Vor Einführung der RStPO war in Sachsen und Württemberg ein höheres Gericht für die Ent-



E. Verfahrenserleichterungen zur Rechtskraftdurchbrechung 345

richt eine größere Distanz als zwischen dem Wiederaufnahmegericht und dem – sachlich gleichrangigen – erstinstanzlichen Gericht. In Deutschland gibt es 24 Oberlandesgerichte. Mit dieser Vielzahl steht zwar eine uneinheitliche, zersplitterte Rechtsprechung zu befürchten, die dann aber vom Bundesgerichtshof und seinen fünf Strafsenaten vereinheitlicht werden könnte. Gleichwohl ist im Falle einer erfolgreichen Wiederaufnahme zu bedenken, dass der Bundesgerichtshof wiederum als Revisions­ instanz für landgerichtliche Verfahren fungiert. Deshalb wurde dieser Gedanke auch von den befragten Experten verworfen. Das Problem besteht allerdings nach geltender Rechtslage für erstinstanzlich vor dem Amtsgericht verhandelte Strafsachen bereits jetzt. Sowohl die Schwierigkeit und Bedeutung von Wiederaufnahmeverfahren als auch das Interesse an einer einheitlichen Rechtsprechung spricht dafür, dass über Wiederaufnahmeanträge die Oberlandesgerichte entscheiden sollten. Diese haben nicht nur eine höhere Autorität, sondern begegnen auch dem Vorurteil, dass sich Gerichte derselben Instanz solidarisieren.909 Die Zuständigkeitskonzentration auf Oberlandesgerichte würde damit voraussichtlich zu einer Befriedung führen, die der Gesetzgeber offensichtlich auch bei der Einführung des § 140a GVG vor Augen hatte. Hinzu kommt, dass auch die ordentlichen Rechtsmittel einen Devolutiveffekt haben.910 Nachdem die Expertenbefragung kein einheitliches Meinungsbild ergab, vielmehr auch gegen eine Beschwerdezuständigkeit des Bundesgerichtshofs Bedenken angemeldet wurden, erscheint eine Divergenzvorlagepflicht zur Vereinheitlichung der Wiederaufnahmepraxis, wie dies auch durch die Expertenkommission 2015 erörtert worden war911, zunächst als ausreichend. Keine Bedenken bestehen hingegen gegen den auch von Dippel unterstützten Vorschlag, nach dem in § 372 StPO eine § 354 Abs. 2 S. 1 StPO bzw. § 210 Abs. 3 StPO entsprechende Regelung aufgenommen werden sollte, die dem Beschwerdegericht die Möglichkeit eröffnen würde, die Sache an einen anderen Spruchkörper zurückzuverweisen.912 scheidung über die Wiederaufnahme zuständig, vgl. Brandt-Janczyk, Richterliche Befangenheit durch Vorbefassung im Wiederaufnahmeverfahren, S. 55. 909  Dippel, Das geltende deutsche Wiederaufnahmerecht und seine Erneuerung, S. 45. 910  J. Meyer, Wiederaufnahmereform, S. 28 f.; Dippel, Das geltende deutsche Wiederaufnahmerecht und seine Erneuerung, S. 45 f. 911  Protokolle der Expertenkommission, Anlagenband II, S. 281, http: /  / www.bmjv. de / SharedDocs / Downloads / DE / PDF / Anlage_2_StPO_Kommission.pdf?__blob= publicationFile&v=2 (zuletzt aufgerufen am 26.08.2016). 912  Dippel, Das geltende deutsche Wiederaufnahmerecht und seine Erneuerung, S. 47 ff. Hanack, JZ 1973, 393, 399 unter Hinweis auf die Möglichkeit in den USA, das Ausgangsverfahren bereits an ein anderes Gericht zu verweisen.

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Teil 2: Eigene Untersuchung und Reformvorschläge

F. Reformierung des geltenden Rechts Das geltende Wiederaufnahmerecht gewährt dem Wiederaufnahmerichter die Möglichkeit, „der Wiederaufnahme unendliche Schwierigkeiten zu bereiten, wenn er ihr abgeneigt ist“,913 und hat das Verfahren damit funktionslos gemacht.914 Aus den durchgeführten Befragungen hat sich ergeben, dass das Problem des Wiederaufnahmerechts in seiner praktischen Anwendung liegt. Da die Praxis zugleich dazu neigt, die Anforderungen an Wiederaufnahmeverfahren noch weiter anzuheben, ohne dass dies in der lex lata eine Stütze fände, liegt der Ruf nach dem Gesetzgeber nahe. Anlässlich der Denkschrift der BRAK hatte die Strafrechtskommission des deutschen Richterbundes angenommen, dass zu Recht kritisierte praktische Handhabung des Wiederaufnahmerechts nur durch eine Veränderung der gesetzlichen Regelung hin zu einer großzügigeren Handhabung des § 359 Nr. 5 StPO ein Bewusstseinswandel herbeigeführt werden könne.915 Basierend auf den durchgeführten Expertenbefragungen werden daher im Folgenden Reformüberlegungen präsentiert.

I. Einführung einer zweiten Tatsacheninstanz Gerade in Verfahren, die erstinstanzlich von Land- oder Oberlandesgerichten entschieden werden, ist zu kritisieren: eine effektive Kontrolle tatrichterlicher Beweiswürdigung ist kaum möglich, da eine zweite Tatsacheninstanz gesetzlich nicht vorgesehen ist. Dies führe gerade bei schweren Delikten, angesichts der Beschränkung der Revision als Rechtsfehlerkontrolle, häufig zu Fehlurteilen.916 Das Fehlen einer zweiten Tatsacheninstanz wird daher als schwerwiegender Mangel des Gesetzes, das Fehlurteile begünstigt, bezeichnet.917 Die Einführung einer zweiten Tatsacheninstanz für land- und oberlandesgerichtliche Verfahren soll im Folgenden näher untersucht werden.

913  Hirschberg, Monatsschrift für Kriminalpsychologie und Strafrechtsreform 1930, 395, 407. 914  KMR-Eschelbach, Vor § 359 / 29. 915  Hierzu Dippel, GA 1972, 97, 110. 916  Kiwit, Fehlurteile im Strafrecht, S. 113. In einem von Kiwit untersuchten Fall wurde noch während der laufenden Revisionsbegründungsfrist ein Fehler der Sachverhaltsfeststellung belegbar erkannt, dennoch wurde die Revision verworfen. Dies führte dazu, dass ein falsches Urteil in der Rechtsmittelinstanz aufrechterhalten werden musste und der Antragsteller auf den Wiederaufnahmeantrag zu verweisen war. 917  Hirschberg, Das Fehlurteil im Strafprozeß, S. 120.



F. Reformierung des geltenden Rechts347

War der Gesetzgeber ursprünglich der Überzeugung, dass es einer zweiten Tatsacheninstanz nicht bedürfe918, da die tatsächlichen Feststellungen der Korrektur im Wiederaufnahmeverfahren zugänglich sind, wäre dafür jedoch Voraussetzung, dass das Tor zur Wiederaufnahme passierbar ist. Angesichts der restriktiven Handhabung des Rechtsbehelfs in der Praxis, stellt sich aber vielmehr die Frage, ob eine zweite Tatsacheninstanz auch für solche Verfahren zu fordern wäre, die erstinstanzlich vor Land- und Oberlandesgerichten verhandelt werden. Bereits 1841 wurde im Rahmen eines Entwurfs der Strafprozessordnung für den Preußischen Staat betont, dass es mit dem Streben nach Gerechtigkeit nicht vereinbar sei, die „wichtigsten Güter des Menschen, Leben, Ehre und Freiheit, der Ansicht und dem Urteil eines einzigen Gerichtshofs zu überlassen, während für unerhebliche Gegenstände des Vermögens drei In­ stanzen zulässig sind.“919 Auch Alsberg kritisierte im Jahr 1913, dass in erstinstanzlichen Strafkammer- und Schwurgerichtsverfahren die Berufung nicht statthaft ist. Die statthafte Revision beurteilte auch Alsberg als unvollkommen: „Die Revision ist aber kein Rechtsmittel, das auch nur einigermaßen geeignet ist, der materiellen Wahrheit zum Siege zu verhelfen. Beim größten Unrecht kann sie versagen, beim größten Recht zur Aufhebung des Urteils führen.“920

Seit Einführung der StPO 1877 gab es durchaus Phasen, in denen es faktisch auch für Kapitalverbrechen eine zweite Tatsacheninstanz gab. So wurden durch die Emmingerverordnung vom 04.01.1924 Strafkammersachen den bei den Amtsgerichten angesiedelten mittleren Schöffengerichten übertragen. Dies führte, wenn auch indirekt, zu einer Berufungsmöglichkeit. Mit Verordnung vom 06.10.1931 wurde die Strafkammerzuständigkeit in erster Instanz für sog. Monstresachen921 wieder eingeführt. Am 14.06.1932 wurde schließlich die Zuständigkeit großer Strafkammern in erster Instanz gesetzlich begründet.922 Auch Hirschberg betonte 1960, dass es kein Urteil geben dürfe, dessen tatsächliche Feststellungen nicht von einer höheren Instanz nachgeprüft werden kann.923

918  So

auch Wasserburg / Eschelbach, GA 2003, 335, 344. nach Alsberg, Justizirrtum und Wiederaufnahme, S. 33. 920  Alsberg, Justizirrtum und Wiederaufnahme, S. 34. 921  Strafsachen mit einer über sechs Hauptverhandlungstagen hinausgehenden Dauer. 922  Theobald, Barrieren im strafrechtlichen Wiederaufnahmeverfahren, S.  92 m. w. N. 923  Hirschberg, Das Fehlurteil im Strafprozeß, S. 122. 919  Zitiert

348

Teil 2: Eigene Untersuchung und Reformvorschläge

Der Einführung einer zweiten Tatsacheninstanz wird entgegengehalten, dass die Justizressourcen allgemein knapp sind. Da in erstinstanzlichen Landgerichts- bzw. Oberlandesgerichtsverfahren drei bzw. fünf Berufsrichter über das Urteil beraten, beinhalte dieses per se weniger Fehler.924 Auch dient das Zwischenverfahren dazu, Fehler und spätere Fehlurteile zu verhindern. Es wird damit nicht nur unterstellt, dass die Mitglieder von Strafkammern sich gegenseitig kontrollieren, folglich genauer und gründlicher arbeiten und landgerichtliche Urteile damit weniger fehleranfällig sind, sondern auch, dass im Zwischenverfahren eine tatsächliche umfassende Prüfung stattfindet. Hinzu komme die zunehmende Kontrolldichte der tatrichterlichen Beweiswürdigung in der Revisionsinstanz.925 Dass dem nicht so ist, stellte Kiwit in seiner Untersuchung fest: 50 % der von ihm untersuchten Fehlurteile wurden von Landgerichten gesprochen.926 Hinzu kommt, dass auch in der Berufungsinstanz als zweiter Tatsacheninstanz die Beweisaufnahme mit § 323 Abs. 2–4 StPO nicht zwangsläufig vollständig zu wiederholen ist. Nicht zu vergessen, dass landgerichtlichen Verfahren gem. § 24 Abs. 1 Nr. 2 GVG eine Straferwartung von über vier Jahren zugrunde liegt. Gerade, da die zu erwartende Strafe hoch ist und die Sachverhalte nicht selten komplex sind, wäre eine zweite Tatsacheninstanz in landgerichtlichen Verfahren begrüßenswert. Mit den gesetzlichen Möglichkeiten der § 323 Abs. 2–4 StPO könnte auch unnötiger Aufwand und das unnötige Aufblähen des zu überprüfenden Tatsachenstoffs in einer Berufungsinstanz gegen landgerichtliche Urteile vermieden werden. Zugleich wäre denkbar, zur Vorbereitung der Überprüfung eines landgerichtlichen Verfahrens im Wege der Berufung dem Rechtsmittelführer aufzuerlegen, die Berufung ausführlich, und ähnlich wie im Rahmen einer Revisionsbegründung bzw. eines Wiederaufnahmeantrags begründen zu müssen.927 Damit wäre eine Konzentration des Prozessstoffs auf die wesentlichen Punkte möglich, sofern das Berufungsgericht nicht unter Aufklärungsgesichtspunkten eine Wiederholung einzelner Beweiserhebungen für erforderlich erachtet. Im Übrigen könnte entsprechend § 324 StPO das Ergebnis des bisherigen Ver924  Dass die Einführung einer zweiten Tatsacheninstanz nicht zwangsläufig zu einer Flut von Rechtsmitteln führt, lässt sich anhand des Zahlenmaterials von Kiwit belegen: so wurde gegen die amtsgerichtlichen 29 Fehlurteile nur in 17 Fällen tatsächlich Berufung eingelegt (vgl. Kiwit, Fehlurteile im Strafrecht, S. 118). Die Gründe, ein fehlerhaftes Urteil hinzunehmen können dabei vielfältig sein. 925  Radtke, Kurzgutachten zur Stärkung des Wiederaufnahmeverfahrens für die 5. Sitzung der BMJV-Expertenkommission, http: /  / www.bmjv.de / SharedDocs / Down loads / DE / PDF / Anlage_1_StPO_Kommission.pdf?__blob=publicationFile&v=4, S. 699 ff. (zuletzt aufgerufen am 26.08.2016). 926  Kiwit, Fehlurteile im Strafrecht, S. 115. 927  Bei der Berufung gegen amtsgerichtliche Urteile ist die Berufungsbegründung gem. § 317 StPO gesetzlich nicht vorgeschrieben.



F. Reformierung des geltenden Rechts349

fahrens referiert und das Urteil des ersten Rechtszuges verlesen werden. Als Berufungsinstanz gegen landgerichtliche Urteile ergäbe sich eine Zuständigkeit der Oberlandesgerichte. Zwar kann nicht bewiesen werden, dass landgerichtliche Fehlurteile durch die Einführung einer zweiten Tatsacheninstanz vermieden werden können. Es ist jedoch anzunehmen, dass eine weitere Rechtsmittelinstanz das Risiko von Fehlurteilen erheblich mindern würde.928 Dies nicht zuletzt deshalb, weil bereits die Existenz einer höheren und mit vollen Kontrollrechten ausgestatteten Instanz sich steigernd auf die Leistungen der unteren Instanzen auswirken dürfte. Aus der für Bayern ermittelten Justizstatistik ergibt sich, dass bspw. im Jahr 2012 9.430 Berufungen eingelegt wurden, dagegen nur in 1.090 Fällen Revision zum Oberlandesgericht.929 Dies lässt jedenfalls vermuten, dass bereits durch die Möglichkeit der Berufung ein Großteil von Fehlentscheidungen korrigiert werden konnte.930 Bemerkenswert ist dabei jedoch, dass die Revisionserfolgsquote gegen erstinstanzlich landgerichtliche Entscheidungen vor dem Bundesgerichtshof 3,2 % beträgt, während zweitinstanzliche landgerichtliche Entscheidungen mit dem Rechtsmittel der Revision in 19,5 % der Fälle beim Oberlandesgericht erfolgreich angefochten werden können.931 Dies könnte einerseits da­ rauf zurückgeführt werden, dass auch die Einführung einer zweiten Instanz nicht dazu beitragen kann, Fehlurteile zu verhindern, andererseits aber auch darauf, dass die Revisionsanforderungen von Oberlandesgerichten geringer sind, oder die Oberlandesgerichte als Revisionsgerichte im Wege der erweiterten Revision mehr kontrollieren. 928  Judex führt eine nicht geringe Zahl von Justizirrtümern auf das Fehlen einer zweiten Tatsacheninstanz zurück, vgl. Judex, Irrtümer der Strafjustiz, S. 196. Kiwit kommt zu einem gegenteiligen Ergebnis: von den Fehlurteilen, die in erster Instanz vor Amtsgerichten eröffnet und rechtskräftig abgeschlossen wurden, wäre die Fehlentscheidung voraussichtlich nur in einem von 29 Fällen vermieden worden, da dem Angeklagten Umstände nicht bekannt waren, die die fehlerhafte Entscheidungen hätten verhindern können bzw. der Angeklagte andere Motive hatte, die Fehlentscheidung hinzunehmen. Gleichzeitig kommt er jedoch zu dem Ergebnis, dass der Angeklagte, der sich durch eine erstinstanzlich amtsgerichtliche Entscheidung beschwert sah, Berufung einlegte. Demgegenüber wären voraussichtlich in elf der 34 vor dem Landgericht eröffneten Verfahren in einer Berufungsverhandlung die Fehler korrigiert worden. Insgesamt konstatiert Kiwit, dass in 11 % der von ihm untersuchten Fälle eine Möglichkeit zur Vermeidung der Fehlurteile bestanden hätte. Vgl. Kiwit, Fehl­ urteile im Strafrecht, S. 118 ff. 929  Bayerisches Justizministerialblatt 2012, Nr. 6, S. 78, 81. 930  Wenngleich die Justizstatistik keinen Aufschluss darüber gibt, wie groß der Anteil von Sprungrevisionen zum OLG ist. 931  Geipel, in: Miebach / Hohmann, Wiederaufnahme in Strafsachen, Teil  A, Rz. 285.

350

Teil 2: Eigene Untersuchung und Reformvorschläge

Auch die vergleichende Betrachtung zum Zivilrecht hilft weiter: Für die Erfolgsquote bei Angriffen im Bereich der Beweiswürdigung ist es unerheblich, ob der Erstrichter als Einzelrichter agierte oder die Entscheidung durch ein Richterkollegium getroffen wurde.932 In etwa 30,5 % (Oberlandesgericht als Berufungsgericht) bzw. 28 % (Landgericht als Berufungsgericht) der Fälle kam das Berufungsgericht zu anderen Tatsachenfeststellungen als das Erstgericht.933 Vor dem Hintergrund der Vergleichbarkeit des § 286 ZPO mit § 261 StPO darf demnach davon ausgegangen werden, dass die Größe des Spruchkörpers keinen Einfluss auf die Richtigkeit der Entscheidung hat.934 Bedenklich erscheint die Einführung einer zweiten Tatsacheninstanz jedoch deshalb, weil dies – gerade in umfangreichen Verfahren – zu einer nicht unerheblichen Verzögerung führen könnte, was auch den Angeklagten belastet. Auch lasten Kosten wegen einer weiteren Instanz auf ihm. Dabei könnte ein endgültiger Abschluss des Verfahrens durch die willkürliche Anrufung einer zweiten Instanz verzögert werden.935 Die Verzögerung eines Verfahrens infolge der Einlegung von Rechtsmitteln ist jedoch mit Anerkennung eines Rechtsmittelsystems immer der Fall. Hinzu kommt, dass der missbräuch­ lichen Einlegung eines Rechtsmittels durch einen Begründungszwang effektiv begegnet werden könnte. Die durchgeführte Untersuchung ergab, dass die Einführung einer zweiten Tatsacheninstanz von Verteidigerseite nicht unterstützt wurde, vielmehr die Beibehaltung der lex lata befürwortet wurde. Insbesondere wurde gegen eine weitere Tatsacheninstanz eingewandt, dass diese zu einer Verfahrensverzögerung führen würde, zumal sie vermutlich immer angerufen würde. Dies würde zu einer erheblichen Belastung der Justiz führen. Soweit ein Gesprächspartner hierzu angab, dass er davon ausgehe, dass durch die Einführung einer zweiten Tatsacheninstanz das Revisionsrecht geschwächt, die Wiederaufnahme hingegen gestärkt würde, erscheint dies nicht nachvollziehbar. Vielmehr dürfte sich der Anwendungsbereich der Wiederaufnahme durch eine zweite Tatsacheninstanz, in der Tatsachenfehler korrigierbar sind, verringern. Im Ergebnis befürworteten die befragten Experten eine erweiterte Revisionskontrolle, einhergehend mit einer Verfahrensdokumentation, die den Revisionsgerichten auch eine Kontrolle im tatsächlichen Bereich ermöglichen würde.

932  Geipel, in: Miebach / Hohmann, Wiederaufnahme in Strafsachen, Teil A, Rz. 252.

933  Geipel, in: Miebach / Hohmann, Wiederaufnahme in Strafsachen, Teil  A, Rz.  253 m. w. N. 934  Geipel, in: Miebach / Hohmann, Wiederaufnahme in Strafsachen, Teil A, Rz. 255. 935  Hanack / Gerlach / Wahle, Denkschrift zur Reform des Rechtsmittelrechts und der Wiederaufnahme, S.  7 f.



F. Reformierung des geltenden Rechts351

Ist die Einführung einer zweiten Tatsacheninstanz – aus den zutreffenden, o. g. Gründen – abzulehnen und bleibt die revisionsrechtliche Kontrolle auf die Kontrolle von Rechtsfehlern beschränkt, bleibt für die effektive Gewährung der verfassungsrechtlichen Garantien des Anspruchs auf rechtliches Gehör und effektiven Rechtsschutz nur der Rechtsschutz des Wiederaufnahmeverfahrens. Dann jedoch ist es auch unerlässlich, die wiederaufnahmerechtlichen Regelungen großzügiger und aufgeschlossener zu verstehen, anzuwenden und auszulegen.936 Eschelbach bezeichnet wegen des Fehlens einer Berufungsinstanz den Wiederaufnahmegrund des § 359 Nr. 5 StPO auch als relativen Wiederaufnahmegrund; er stelle einen Teilersatz für die fehlende zweite Tatsacheninstanz dar.937 Dieses Verständnis zugrunde gelegt, sollten die hohen Anforderungen im Rahmen der Prüfung des § 359 Nr. 5 StPO auf ein sachgerechtes Maß reduziert werden. Allein das Institut der Wiederaufnahme ist jedoch nicht in der Lage, die fehlende Möglichkeit einer zweiten Tatsacheninstanz zu kompensieren.938 Unabhängig davon, ob die Wiederaufnahmegründe erweitert würden oder nicht, kann ein Ausgleich der fehlenden Berufungsinstanz nur durch Verbesserungen im gesamten Strafverfahren erreicht werden.939 Jedenfalls aber scheint unabdingbar, dass die am Wiederaufnahmeverfahren Beteiligten ihrer Funktion entsprechend, einem Wiederaufnahmegesuch aufgeschlossen gegenübertreten und dieses nicht als querulatorischen Affront gegen den Rechtstaat verstehen.

II. Ausschluss der Wiederaufnahme bei Bagatellen Es stellt sich die Frage, ob hinsichtlich bloßer Bagatellen eine Einschränkung des Anwendungsbereichs vertretbar erscheint.940 So spricht sich etwa Wasserburg dafür aus, die Wiederaufnahme von der Schwere der Verurteilung abhängig zu machen.

936  Dies gilt insbesondere im Hinblick auf die Neuheit und Geeignetheit von Beweismitteln im Rahmen des § 359 Nr. 5 StPO. 937  KMR-Eschelbach, § 359 / 122. 938  Wasserburg spricht sich genau deshalb gegen die Möglichkeit einer zweiten Tatsacheninstanz aus, da er gerechtere Ergebnisse auch dann nicht erwartet, wenn Wiederaufnahmeverfahren in das Revsisionsverfahren umgeschichtet würden, vgl. Wasserburg, Die Wiederaufnahme des Strafverfahrens, S. 59. 939  Hanack / Gerlach / Wahle, Denkschrift zur Reform des Rechtsmittelrechts und der Wiederaufnahme, S. 75. 940  Peters, Fehlerquellen im Strafprozeß III, S. 35.

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Teil 2: Eigene Untersuchung und Reformvorschläge

Zunächst leuchtet ein, dass das Überprüfungsbedürfnis einer gerichtlichen Entscheidung mit der Schwere der Sanktion zunimmt.941 Der Ausschluss der Wiederaufnahme bei Bagatellen entspräche einem Filter und würde die Gerichte von unwesentlichen Wiederaufnahmeverfahren entlasten.942 Es bestünde etwa die Möglichkeit, Wiederaufnahmegesuche nur hinsichtlich solcher Strafaussprüche, die die Grenze von 90 Tagessätzen überschreiten – und damit als Vorstrafe zu werten sind – zuzulassen. Solch eine Einschränkung erscheint dazu vor dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz nicht ausgeschlossen. Auch Peters forderte, die Wiederaufnahme bei Bagatellen und einer Ver­ ursachung des Fehlurteils durch den Verurteilten auszuschließen.943 Diese Einschränkung würde nach seiner Auffassung den Ausnahmecharakter des Rechtsbehelfs der Wiederaufnahme stärker betonen.944 Berücksichtigt man demgegenüber, dass die Wiederaufnahme dazu dient, materielle Gerechtigkeit herbeizuführen und im Fall der günstigen Wiederaufnahme den Betroffenen, der in seinen Rechten verletzt wurde, zu rehabilitieren, würde eine derartige Einschränkung den Sinn und Zweck des Wiederaufnahmerechts aushöhlen. Weiter wäre das Verständnis von der Wiederaufnahme des Verfahrens als Ausnahme, wie bereits gesehen, verfehlt. Freilich wäre zu überlegen, ob in offensichtlichen Fällen von der vereinfachten Wiederaufnahmeentscheidung gem. § 371 Abs. 2 StPO Gebrauch gemacht werden oder das Verfahren beschleunigt im schriftlichen Wege erfolgen könnte. Ein stoisch durchgeführtes Probationsverfahren mit anschließender erneuter Hauptverhandlung erscheint hier jedenfalls obsolet.945 Da jedoch bereits die Frage nach der „Offensichtlichkeit“ objektiv unlösbar scheint, das Wiederaufnahmeverfahren gem. § 359 StPO zudem neben materieller Gerechtigkeit auch der Rehabilitation des Verurteilten dient, ist eine derartige vereinfachte Verfahrenserledigung abzulehnen. Die Rehabilitation des Verurteilten gebietet es, diesen in einer öffentlichen Hauptverhandlung – als actus contrarius zum Ausgangsverfahren – zu würdigen.

941  Wasserburg,

ZStW 94 (1982), 914, 960. ZStW 94 (1982), 914, 961. 943  Peters, Fehlerquellen im Strafprozeß II, S. 320  ff. Peters sieht Bagatelle in Geldstrafen bis zu 500 DM und nimmt Fälle der Herbeiführung eines Fehlurteils in Konstellationen bewusst falscher Geständnisse bzw. bei bewusster Beweisverfälschung an. 944  Peters, Fehlerquellen im Strafprozeß II, S. 320. 945  Auch Wasserburg spricht sich dafür aus, das Kriterium der Schwere des Delikts nicht völlig unberücksichtigt zu lassen, Wasserburg, ZStW 94 (1982), 914, 961. 942  Wasserburg,



F. Reformierung des geltenden Rechts353

III. Bereichsdefizit bezüglich der Strafmaßwiederaufnahme Wie bereits ausgeführt946, soll die Wiederaufnahme zulässig sein, wenn sie sich gegen tatbestandlich vertypte Privilegierungen und Qualifikationen oder benannte Strafänderungsgründe947 und Regelbeispiele richtet. Die Geltendmachung unbenannter Strafänderungsgründe und atypischer besonders schwerer Fälle soll demgegenüber nicht ausreichen, ein Wiederaufnahmeverfahren in Gang zu setzen.948 Die hier befragten Verteidiger kritisierten das Verständnis der h. M. ebenso wie das Verbot der Strafmilderungswiederaufnahme und sprachen sich für die Streichung des § 363 Abs. 2 StPO aus. Die derzeitige praktische Handhabung widerspricht nicht nur verfassungsrechtlichen Grundsätzen, sondern ist auch historisch betrachtet nicht gerechtfertigt. So ist die konkrete Ermittlung eines Strafmaßes nach geltendem Recht nicht nur durch die Kontrolle im Revisionsverfahren, sondern auch durch die Einführung von Vorschriften im materiellen Recht und Prozessrecht bei Weitem nicht mehr so „frei“, wie dies noch vor 150 Jahren der Fall war. Auch verfassungsrechtlich kann eine Strafmaßwiederaufnahme nicht länger abgelehnt werden. Die Entscheidung, ob eine bestimmte Sachverhaltskonstellation unter ein Regelbeispiel oder einen Qualifikationstatbestand fällt, hängt oft von Zweckmäßigkeitsentscheidungen des Gesetzgebers ab, ist jedoch von der prozessualen Angreifbarkeit der Entscheidungen unabhängig. Lehnt man die Strafmaßwiederaufnahme bspw. im Bereich der Regelbeispiele weiter apodiktisch ab, wären willkürliche Entscheidungen die Folge. Dieses Bereichsdefizit kann durch eine verfassungskonforme Rechtsfortbildung der relevanten Vorschriften, bei deren Anwendung mit einer wesentlich milderen Strafe aufgrund des gleichen Gesetzes zu rechnen ist, beseitigt werden. Das Wesentlichkeitskriterium erscheint dafür denkbar, zumal dieses auch in § 359 Nr. 5 StPO Verwendung findet. Es bleibt die Frage, wann eine Strafe wesentlich milder ist. Solange hierfür kein taugliches Abgrenzungskriterium entwickelt wurde, ist eine gesetzliche Klarstellung zur Gleichstellung von benannten und unbenannten Strafänderungsgründen ausreichend. Zugleich sollte § 364 Abs. 2 StPO gestrichen werden.

946  s. o.

S.  56 ff. etwa § 49 Abs. 2 StGB, § 46a StGB, § 51 Abs. 3 StGB oder die Anwendbarkeit Jugendstrafrechts, vgl. MG § 363 / 4. 948  BGH NJW 1958, 1309 f.; OLG Stuttgart NJW 1968, 2206; MG § 363 / 4; KKSchmidt, § 363 / 7; Marxen / Tiemann, Die Wiederaufnahme in Strafsachen, Rn. 87. 947  Wie

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Teil 2: Eigene Untersuchung und Reformvorschläge

IV. Wiederaufnahmegrund einer fehlenden, erschöpfenden Beweiswürdigung Die richterliche Entscheidung, die auf der Gewinnung einer subjektiven Überzeugung und Gewissheit basiert, orientiert sich ausschließlich an dem in § 261 StPO niedergelegten Grundsatz der freien Überzeugungsbildung.949 Da Überzeugung i. d. S. nicht mehr als subjektive Gewissheit ist, bleibt stets das Risiko, dass die objektive Sachlage von der richterlichen Überzeugung abweicht.950 Hatte der Richter nicht die Möglichkeit, einen Sachverhalt erschöpfend zu würdigen, gelingt die Wiederaufnahme nach geltendem Recht nur, falls der Wiederaufnahmegrund des § 359 Nr. 5 StPO erfolgreich dargetan werden kann.951 Bereits Alsberg hatte 1913, noch lange bevor Absprachen Einzug in das Strafverfahren hielten, die Einführung eines Wiederaufnahmegrunds der Nichterschöpfung der Beweismittel erwogen.952 Auch die BRAK hatte sich bereits 1971 dafür ausgesprochen, dass mangelhafte Sachverhaltsaufklärung stets zu Lasten des Staates gehen sollte.953 Das moderne Prozessrecht will trotz Anerkennung der Verfahrensabsprache, § 257c StPO, die Aufklärungspflicht nicht reduzieren, § 257c Abs. 1 S. 2 StPO. Zwar muss ein Geständnis als Beweisgrundlage einer Verurteilung im Wege des Strengbeweises abgesichert und überprüft werden.954 Geschieht dies aber nicht, erscheint die Beweisgrundlage des Ersturteils defizitär und der Angriff mittels Wiederaufnahmeverfahren scheint naheliegend.955 In diesem Zusammenhang stellt sich mithin die Frage, ob für diese Verfahrenssituation ein neuer (absoluter) Wiederaufnahmegrund geschaffen werden sollte, oder ob im Wege des Geständniswiderrufs eine neue Tatsache i. S. d. § 359 Nr. 5 StPO generiert wird. Bedenkt man, dass sich Urteile, die auf einer Verfahrensabsprache beruhen, von der summarischen Prüfung im Strafbefehlsverfahren nur wenig unterscheiden und gerade diese summarische Prüfung die Wiederaufnahme propter nova gem. § 373a StPO rechtfertigt, erscheint das Wiederaufnahmerecht betreffend Abspracheverfahren im Vergleich zu Strafbefehlsverfahren 949  Peters,

Fehlerquellen im Strafprozeß III, S. 29. Fehlerquellen im Strafprozeß III, S. 29. 951  Alsberg, Justizirrtum und Wiederaufnahme, S. 52. 952  Alsberg, Justizirrtum und Wiederaufnahme, S. 52. 953  Hanack / Gerlach / Wahle, Denkschrift zur Reform des Rechtsmittelrechts und der Wiederaufnahme, S. 95. 954  BGH NJW 2014, 872, 874. 955  KMR-Eschelbach, § 366 / 44. 950  Peters,



F. Reformierung des geltenden Rechts355

inkongruent. Die Wirkung der Rechtskraft erscheint vielmehr reduziert, zumal in der Hauptverhandlung kaum alle Möglichkeiten der Aufklärung ausgeschöpft worden sein dürften.956 Dann jedoch ist de lege ferenda auch über die Wiederaufnahme des Verfahrens zuungunsten des Angeklagten nachzudenken, die sich jedoch an den verfassungsrechtlich gebotenen strengen Maßstäben zu orientieren hätte.957 Die Einführung eines neuen Wiederaufnahmegrunds hielten die befragten Verteidiger für nicht erforderlich. Dem ist zuzustimmen, kann doch der Verurteilte durch den Widerruf seines Geständnisses eine neue Tatsache i. S. d. § 359 Nr. 5 StPO vorbringen. Zwar obliegt ihm dann eine erweiterte Darlegungslast,958 doch sind die Anforderungen an diese zugleich geringer. Ausreichend wäre, wenn der Antragsteller erklärt, dass eine Verweigerung der Absprache mit dem Risiko einer höheren Strafe verbunden gewesen wäre.959

V. Prozessuale Fehler als Wiederaufnahmegrund Das Wiederaufnahmerecht lässt mit § 359 Nr. 1–4 und § 362 Nr. 1–3 StPO die Wiederaufnahme zu, wenn schwerwiegende Verfahrensfehler offenbar werden. Diese Regelungen offenbaren den gesetzgeberischen Wille, dass eine materiell richtige Entscheidung ein faires und makelfrei durchgeführtes Verfahren voraussetzt960 und im Mängelfall dem Verurteilten ein Anspruch auf Korrektur und Rehabilitation zusteht. Sie stehen überdies in Einklang mit Art. 4 Abs. 2 des Protokolls Nr. 7 zur EMRK, demgemäß die Anordnung einer Wiederaufnahme auch dann zulässig sein muss, wenn das Verfahren an schweren, entscheidungserheblichen Mängeln, leidet. Dieses Protokoll wurde jedoch von Deutschland nicht ratifiziert. Weiter geht insoweit die in § 578 ZPO vorgesehene Nichtigkeitsklage, die neben der Restitutionsklage möglich ist. Während die Restitutionsklage, § 580 ZPO, auf die Korrektur der tatsächlichen Urteilsgrundlagen abzielt, ist die Wiederaufnahme eines Verfahrens im Wege der Nichtigkeitsklage möglich, wenn schwere Verfahrensmängel i. S. d. § 579 ZPO vorliegen. Hiervon geht das Gesetz etwa aus, wenn das erkennende Gericht nicht vorschriftsmäßig besetzt war, ein Richter an der Entscheidung mitgewirkt hat, der von der 956  KMR-Eschelbach,

§ 362 / 62. hierzu oben S. 143 ff. 958  BayVerfGH NStZ 2004, 447, 449. 959  Hellebrand, NStZ 2004, 413, 417 f. 960  Peters, Fehlerquellen im Strafprozeß III, S. 54. 957  s.

356

Teil 2: Eigene Untersuchung und Reformvorschläge

Ausübung des Richteramts kraft Gesetzes ausgeschlossen oder befangen war oder wenn eine Partei nicht vorschriftsmäßig vertreten war. Eine Wiederaufnahme infolge derartiger Verfahrensmängel bzw. prozessualer Fehler, kennt die StPO nicht. Verfahrensmängel in ihrem Sinne stellen vielmehr einen absoluten Revisionsgrund gem. § 338 StPO dar. Während demnach im Zivilprozess auch prozessuale Mängel nach Eintritt formeller Rechtskraft zur Wiederaufnahme eines Verfahrens führen können, kann der im Strafverfahren Beschuldigte diese Mängel nach Eintritt formeller Rechtskraft nicht mehr rügen.961 Fraglich erscheint allerdings, ob die Verletzung verfahrensrechtlicher Vorschriften als Tatsache i. S. d. § 359 Nr. 5 StPO vorgebracht werden kann, oder ob es der Einführung eines entsprechenden Wiederaufnahmegrunds bedarf. Deml spricht sich für eine Ausdehnung des § 359 Nr. 5 StPO auf prozessuale Tatsachen aus, aus denen sich das Fehlen einer dauernden Prozessvoraussetzung ergibt.962 Nach h. M. stellen sog. Prozesstatsachen keine Tatsachen i. S. d. § 359 Nr. 5 StPO dar.963 Prozesstatsachen erfassen insbesondere den Verfahrensablauf im Vorverfahren, wie bspw. das Beweiserhebungs- und Verwertungsverbot des § 136a StPO964, aber auch nachträgliche Gesetzesänderungen oder die Änderung einer gefestigten Rechtsprechung.965 Unerheblich sollen Prozesstatsachen sein, da die Wiederaufnahme andernfalls zu einer zeitlich unbefristeten Revision umfunktioniert werden würde.966 Für die h. M. spricht, 961  Lampe,

GA 1968, 33. Zur Reform der Wiederaufnahme des Strafverfahrens, S. 172–176; KMR-Eschelbach, § 359 / 139 ff. 963  AnwK-Rotsch, § 359 / 24; KMR-Eschelbach, § 359 / 137. 964  LR-Gössel, § 359 / 74; KK-Schmidt, § 359 / 18; MG § 359 / 22. Wurde trotz Unzulässigkeit der Beweisgewinnungsmethode ein daraus bekannt gewordener Beweis verwertet, hätte eine Verurteilung nicht erfolgen dürfen. Damit erscheint die Anwendbarkeit des Wiederaufnahmerechts vor dem oben beschriebenen gesetzgeberischen Gedanken, der in § 359 Nr. 1–4 StPO seinen Ausdruck findet, überzeugend. Vgl. hierzu Peters, Fehlerquellen im Strafprozeß III, S. 54 f. Anhaltspunkt hierfür liefert auch das BVerfG mit seinem Urteil zur Verständigung, demgemäß eine Sanktionenschere im Hinblick auf Art. 1 Abs. 1 GG eine Rechtsverletzung begründet, was wiederum einfachgesetzliche Ausprägung mit § 136a StPO erfährt. Die Wiederaufnahme in diesen Fällen zuzulassen, ist angesichts der staatlichen Schutzpflicht aus Art. 1 Abs. 1 S. 2 GG nur konsequent, so Bock / Eschelbach / Geipel / Hettinger / Röschke /  Wille, GA 2013, 328, 344. Befürwortend auch Wasserburg / Eschelbach, GA 2003, 335, 352 und SK-Frister, § 359 / 9 f. Brinkmann, Zum Anwendungsbereich der §§ 359 ff. StPO, S. 123 erfasst diese Konstellation unter § 359 Nr. 2 und 3 StPO. 965  BVerfGE 12, 338, 340; BGH NJW 1993, 1481, 1482; OLG Düsseldorf JR 1992, 124, 125; BGHSt 42, 314, 316; BVerfG NJW 1961, 1203; KG NJW 1977, 1162, 1163; LG Hannover NJW 1970, 288, 290. 966  LG Landau StV 2009, 237, 238; MG § 359 / 24. 962  Deml,



F. Reformierung des geltenden Rechts357

dass das Wiederaufnahmeverfahren sachlich fehlerhaft zustande gekommene Entscheidungen korrigieren soll, nicht jedoch „lediglich“ verfahrensfehlerhafte. Hinzu kommt, dass Beweisverwertungsverbote mit Entwicklung der Widerspruchslösung nur bis zum Zeitpunkt des § 257 StPO geltend gemacht werden können.967 Im Übrigen wird schon die Anwendbarkeit wiederaufnahmerechtlicher Vorschriften auf Verfahrensfehler abgelehnt, weshalb Verwerfungsurteile gem. § 329 Abs. 1 StPO968 und Revisionsurteile969 keinen Wiederaufnahmegrund des § 359 Nr. 5 StPO darstellen können.970 Zuzustimmen ist dem insoweit, als nicht jeder Verstoß gegen verfahrensrechtliche Vorschriften stets und zwangsläufig zu einem materiell fehlerhaften Urteil führt.971 Versteht man den Strafprozess als inquisitorisches Akkusationsverfahren972, erscheint es indessen naheliegend, die Wiederaufnahme zuzulassen, wenn das Verfahren in einem rechtsfriedentangierenden Maß fehlerbehaftet ist. Denn den Prozessparteien obliegt es im akkusatorisch geprägten Verfahren grundsätzlich, den für die Streitentscheidung relevanten Verfahrensstoff umfassend vorzulegen. Wird allein dieses Verständnis zugrunde gelegt, hätte es zur Folge, dass die Parteien nachträglich die Rechtskraft nicht durch neue Tatsachen oder Beweismittel in Frage stellen könnten.973 Da das geltende Wiederaufnahmerecht jedoch, wie gesehen, auch durch die Inquisitionsmaxime beherrscht wird, die eine Urteilsüberprüfung in weitem Umfang zulässt, müsste die Wiederaufnahme auch durch Vorbringen insoweit relevanter nova zulässig sein.974 Überzeugend erscheint aber letztlich der Einwand der h. M., dass die Wiederaufnahme andernfalls zu einer zeitlich unbefristeten Revision umfunktioniert werden würde.975 Die Möglichkeit der Geltendmachung von prozessualen Fehlern im Rahmen der Wiederaufnahme würde die Rechtskraft einseitig in Frage stellen. Auch von den befragten Experten wurde eine Ergänzung der Wiederaufnahmegründe auf prozessuale Fehler unter Hinweis auf das Revisionsrecht für nicht erforderlich erachtet.

967  KMR-Eschelbach,

§ 359 / 142. GA 1974, 25 f. 969  BGHSt 51, 202, 208. 970  MG § 359 / 22; KG GA 1974, 25, 26; Wasserburg, Die Wiederaufnahme des Strafverfahrens, S. 314. 971  OLG Stuttgart NStZ 2012, 290. 972  Ambos, Jura 2008, 586, 593. 973  LR-Gössel, Vor § 359 / 2. 974  LR-Gössel, Vor § 359 / 3 f. 975  LG Landau StV 2009, 237, 238; MG § 359 / 25. 968  KG

358

Teil 2: Eigene Untersuchung und Reformvorschläge

Besondere Beachtung verdient jedoch die Frage, ob die weitere Mitwirkung eines abgelehnten respektive ausgeschlossenen Richters im Ausgangsverfahren die Wiederaufnahme ermöglichen sollte. Ergeben sich für den Richterausschluss erst nach Rechtskraft der Entscheidung Anhaltspunkte, ist die Ablehnung eines Richters bereits angesichts der zeitlichen Grenze des § 25 Abs. 1 StPO ausgeschlossen. Im Fall des Ausschlusses eines Richters gem. §§ 22, 23 StPO kennt das Gesetz derartige zeitliche Grenzen nicht. Vertreten wird, dass die Mitwirkung eines an sich ausgeschlossenen Richters zwar prozessual zu beanstanden sei, und auch im Rechtsmittelverfahren hätte geltend gemacht werden können. Da dessen Mitwirkung aber nicht zwangsweise Einfluss auf das Urteilsergebnis hatte, könne dieser prozessuale Mangel nicht als Wiederaufnahmegrund angeführt werden.976 Insoweit komme es darauf an, ob der prozessuale Fehler hingenommen werden könne.977 Diese Argumentation verkennt jedoch, dass die zum Ausschluss des Richters führenden Umstände dem Verurteilten erst nach Rechtskraft der Entscheidung bekannt werden können. Zudem ist zu bedenken: Auch wenn die Mitwirkung des Richters nicht zwingend Einfluss auf das Urteilsergebnis hatte, so hat sich der Gesetzgeber doch gerade mit den kraft Gesetzes zum Ausschluss von Richtern führenden Umständen dazu entschieden, die Richterbank frei von solchen Richtern zu halten, die nicht mit einer für die richterliche Unparteilichkeit gebotenen Distanz zu einem Verfahren oder den daran beteiligten Personen stehen. Dabei soll – insbesondere in Fällen des gesetzlichen Richterausschlusses – bereits der Anschein eines Verdachts der Parteilichkeit unterbunden werden.978 Es wäre daher sachgerecht, die Wiederaufnahme auch in Fällen des gesetzlichen Richterausschlusses zuzulassen. Nur so kann der Besorgnis des Betroffenen, die in Fällen der §§ 22, 23 StPO noch nicht einmal konkret sein muss, Rechnung getragen werden. Jüngst berichtete schließlich die Süddeutsche Zeitung, dass das Münchner Schwurgericht über Jahre hinweg ohne rechtliche Grundlage geurteilt hatte. Eine Revision führte deshalb mit der Verfahrensrüge nach § 338 Nr. 1 StPO zur Urteilsaufhebung. Weitere Revisionen wurden verworfen, da versäumt worden war, die Gerichtsbesetzung rechtzeitig gem. § 222b StPO zu rügen.979 In der Revisionsentscheidung betonte der Bundesgerichtshof, dass das Landgericht seiner Pflicht aus § 21g Abs. 1, 2 GVG nicht entsprochen habe.980 In 976  Peters,

Fehlerquellen im Strafprozeß III, S. 55. Fehlerquellen im Strafprozeß III, S. 62. 978  BGH NJW 1983, 2711. 979  Rost, Christian, Richter ohne Plan. Artikel aus der digitalen Ausgabe der Süddeutschen Zeitung vom 28.04.2017, http: /  / sz.de / 1.3481776 (zuletzt aufgerufen am 29.07.2017). 980  BGH, Beschluss vom 08.02.2017, Az. 1 StR 491 / 16, in: BeckRS 2017, 106912. 977  Peters,



F. Reformierung des geltenden Rechts359

diesem Zusammenhang stellt sich die Frage, ob solch ein Verfahrensfehler in der Wiederaufnahme aufgegriffen werden könnte. Wie bereits gesehen sollen Verfahrensfehler grds. keine neue Tatsache i. S. d. § 359 Nr. 5 StPO darstellen. In der Literatur erkennt Dippel für die willkürliche Entziehung des gesetzlichen Richters keinen Reformbedarf, obwohl er dessen überragende Bedeutung erkennt. Er begründet dies zum Einen damit, dass dieser Mangel selten vorkomme und zum Anderen in der Revision sowie in der Verfassungsbeschwerde gerügt werden könne.981 Dies überzeugt, wenn der Angeklagte von den Besetzungseinwänden vor Rechtskraft der Entscheidung Kenntnis erlangt. Hat er jedoch – wie offensichtlich mehrere andere vom Schwurgericht München Verurteilte – erst nach Rechtskraft der Verurteilung Kenntnis von den zum Besetzungseinwand geführten Tatsachen erhalten, stellt sich die Frage, ob dieser Aspekt, der mit § 338 Nr. 1 StPO immerhin ein absoluter Revisionsgrund ist, auch in der Wiederaufnahme zu behandeln ist. Dabei ist zu bedenken, dass die Sanktion einer willkürlichen Entziehung des gesetzlichen Richters andernfalls ausbleiben würde, diese aber gerade zur Wiederherstellung des Ansehens der Rechtspflege geboten erscheint. Weiter ist ein ordnungsgemäßes Verfahren besondere Voraussetzung einer richtigen Entscheidung, zugleich haben Verletzungen des Verfahrensrechts besonderes einschneidende Wirkung.982 Letzteres Argument kann jedoch deshalb nicht entscheidend sein, da es nicht ausschließlich für den Entzug des gesetzlichen Richters gilt, sondern für sämtliche Verfahrensfehler. Der Einwand der Gerichtsbesetzung gem. § 222b Abs. 1 S. 1 StPO ist nur bis zum Beginn der Vernehmung des ersten Angeklagten zur Sache zulässig. Eine Wiedereinsetzung nach Fristversäumung soll nicht zulässig sein, um Verfahrensverzögerungen zu verhindern und Klarheit zu schaffen, ob die Besetzung ordnungsgemäß ist.983 Zwar kann eine fehlerhafte Gerichtsbesetzung gem. § 338 Nr. 1 HS 2 Nr. b) StPO in der Revision nur dann geltend gemacht werden, wenn der Einwand nicht präkludiert ist. Dies ist aber dann nicht der Fall, wenn der Mangel für den Angeklagten objektiv nicht erkennbar war oder eine der in § 338 Nr. 1 HS 2 Nr. a-d) StPO aufgezählten Ausnahmen vorliegen.984 Erfährt der Betroffene von für ihn nicht erkennbaren Besetzungsmängeln erst nach Rechtskraft der Entscheidung, muss dieser Umstand eine Wieder981  Dippel,

S. 79.

Das geltende deutsche Wiederaufnahmerecht und seine Erneuerung,

982  J. Meyer,

Die Wiederaufnahme in rechtsvergleichender Darstellung, S. 821. § 222b / 5. 984  KK-Gericke, § 338 / 10 ff. 983  KK-Gmel,

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Teil 2: Eigene Untersuchung und Reformvorschläge

aufnahme ermöglichen, da andernfalls der Verstoß folgenlos bliebe.985 Für den Betroffenen stellt der Entzug des gesetzlichen Richters nicht lediglich einen revisiblen Verfahrensfehler, sondern vielmehr einen Grundrechtsverstoß dar, wobei nicht auszuschließen ist, dass die fehlerhafte Gerichtsbesetzung auch Einfluss auf die Entscheidung hatte. Der Gesetzgeber ist daher gefordert, für den Fall der fehlerhaften Gerichtsbesetzung einen § 359 Nr. 3 StPO nachgebildeten Wiederaufnahmegrund einzuführen.

VI. Sachlich-rechtliche Fehler als Wiederaufnahmegrund Neben der offensichtlichen Verletzung von Verfahrensgrundsätzen als Wiederaufnahmegrund setzt sich J. Meyer auch für die Wiederaufnahme zur Korrektur von materiellen Rechtsfehlern ein, wenn diese nicht in zweiter Instanz bestätigt wurden.986 Auch Deml spricht sich für eine Korrektur von Rechtsanwendungsfehlern im Wiederaufnahmerecht aus, wenn die Entscheidung evident fehlerbehaftet ist und eine günstigere Entscheidung ernsthaft in Betracht kommt.987 Auf sachlich-rechtliche Fehler soll ein Wiederaufnahmeantrag nach geltendem Recht nicht gestützt werden können.988 Dies erscheint überzeugend, würde doch sonst die Wiederaufnahme zu einer zeitlich unbefristeten Revi­ sion.989 Auch von den Gesprächspartnern wurde ein entsprechender Wiederaufnahmegrund abgelehnt. Versteht man die Wiederaufnahme jedoch als Ergänzung der Rechtsmittel, nicht als Ersatz, erscheint naheliegend, auch Rechtsfehler im Wege der Wiederaufnahme zu korrigieren. Zur Korrektur rechtsfehlerhafter Urteile im Wiederaufnahmeverfahren wurden bereits zahlreiche Lösungsvorschläge präsentiert. Peters etwa plädierte dafür, auch Rechtsnormen als Rechtstat­ sachen unter den Tatsachenbegriff des § 359 Nr. 5 StPO zu subsumieren. Indem ein Rechtssatz Allgemeingültigkeit aufweise und von subjektiven Bewertungen unabhängig sei, stelle er eine sachverhaltsbezogene Tatsache dar 985  A. A. unter Hinweis darauf, dass der Verfahrensfehler nicht zum Freispruch, sondern lediglich zur Unterbrechung, Aussetzung oder verläufigen Einstellung geführt hätte: Brinkmann, Zum Anwendungsbereich der §§ 359 ff. StPO, S. 135. 986  J. Meyer, Wiederaufnahmereform, S. 157 ff. 987  Deml, Zur Reform der Wiederaufnahme des Strafverfahrens, S. 172 ff. 988  MG § 359 / 25. Dahingehende Überlegungen für den Fall einer Verhängung einer gesetzlich nicht vorgesehenen Strafe und des Verstoßes gegen den ne-bis-in-idemGrundsatz zog der Gesetzgeber bereits 1930 in Erwägung, vgl. Brinkmann, Zum Anwendungsbereich der §§ 359 ff. StPO, S. 225 m. w. N. 989  OLG Frankfurt a. M., Beschluss vom 29.01.2014, 1 Ws 100 / 13, in: BeckRS 2014, 04640.



F. Reformierung des geltenden Rechts361

und könne im Rahmen des § 359 Nr. 5 StPO Beachtung finden.990 Allerdings würde dies zur Vermengung von Rechtsnormen und Tatsachen führen, weshalb dieser Lösungsweg abzulehnen ist.991 Erwogen wurde auch, den Begriff der „Tatsachen oder Beweismittel“ durch den weiteren Begriff der „Umstände“ zu ersetzen. Unter diesem Ausdruck seien auch Fälle fehlerhafter Rechtsanwendung und divergierender Beurteilungen des gleichen Sachverhalts einzubeziehen.992 Soweit zur Korrektur von Rechtsfehlern die Erhebung einer Verfassungsbeschwerde vorgeschlagen wird993, steht dem entgegen, dass die Verfassungsbeschwerde fristgebunden ist und überdies nur die Verletzung spezifischen Verfassungsrechtes gerügt werden kann. Schließlich zieht etwa Lantzke die Erweiterung der gesetzlichen Wiederaufnahmeregelungen in Erwägung. Sie will die Wiederaufnahme auch in den Fällen zuzulassen, in denen dem Urteil eine Strafvorschrift zugrunde gelegt wurde, die zur Tatzeit bzw. vor dem Endurteil bereits aufgehoben worden war oder wenn gegen das Verbot der Doppelbestrafung verstoßen wurde. Sie regt für diese Fälle weiter die sofortige Freisprechung entsprechend § 371 Abs. 2 StPO an994 und im Fall des Verstoßes gegen § 2 Abs. 2 StGB die Beschränkung der Erneuerungshauptverhandlung auf die Straffrage.995 Subsumtionsfehler erachtet sie ebenfalls für korrekturbedürftig, wenngleich sie hierzu keine Lösung präsentiert. Eine über den Einzelbegründungszwang des § 366 StPO hinausgehende verfahrensmäßige Einengung regt sie jedoch dergestalt an, die Wiederaufnahme im Fall von Subsumtionsfehlern nur gegen tatrichterliche Urteile zuzulassen und die Zuständigkeit den Revisionsgerichten zu übertragen.996 Wandel in der Rechtsprechung erachtet sie deshalb nicht als wiederaufnahmebefähigend, da gerichtliche Entscheidungen von Obergerichten keine Bindungswirkung haben und die Einführung eines Wie990  Bajohr, Die Aufhebung rechtsfehlerhafter Strafurteile im Wege der Wiederaufnahme, S. 125 f. Zustimmend Klug, in: FS-Spendel, S. 684. 991  Zustimmend hingegen für den Fall einer Verurteilung ohne gesetzliche Grundlage Brinkmann, Zum Anwendungsbereich der §§ 359 ff. StPO, S. 229 ff. Brinkmann möchte die für den Beschuldigten vorteilhafte Ignoranz von Tatbestandsmerkmalen u. U. unter § 339 StGB bzw. § 359 Nr. 3 StGB subsumieren, profitiert der Angeklagte von dem Rechtsfehler, sieht sie § 362 Nr. 4 StPO eröffnet. Sonstige Subsumtionsfehler erachtet sie für wiederaufnahmerechtlich irrelevant, solange der Anwendungsbereich des § 359 Nr. 3 StPO nicht eröffnet ist, vgl. Brinkmann, Zum Anwendungsbereich der §§ 359 ff. StPO, S. 239 ff. 992  Knoche, DRiZ 1971, 299, 300 f. 993  Lampe, GA 1968, 33, 40 ff. 994  Lantzke, ZRP 1970, 201, 204 f. 995  Lantzke, ZRP 1970, 201, 205. 996  Lantzke, ZRP 1970, 201, 205 f.

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Teil 2: Eigene Untersuchung und Reformvorschläge

deraufnahmegrunds die richterliche Unabhängigkeit angreifen würde. Sie schlägt im Ergebnis einen Wiederaufnahmegrund vor: „Die Wiederaufnahme zugunsten des Angeklagten ist auch gegen solche rechtskräftige tatrichterlichen Urteile zulässig, in denen eine unzutreffende Strafnorm auf den festgestellten Sachverhalt angewendet worden ist und die Anwendung des richtigen Gesetzes ohne weitere tatsächliche Erörterungen zu einem Freispruch oder zur Anwendung einer minderschweren Strafnorm führen würde.“997

Deml schlägt vor, einen Wiederaufnahmegrund für Fälle grob rechtsfehlerhafter, d. h. evidenter und den Beschuldigten empfindlich beeinträchtigender Entscheidungen zu schaffen.998 Ähnlich will auch Meyer die Wiederaufnahme im Wege einer Generalklausel für offensichtliche materielle und formelle Rechtsfehler öffnen.999 Dementsprechend enthielt der Gesetzesentwurf zur Reform des strafrechtlichen Wiederaufnahmerechts vom 23.11.1993 mit § 359 Abs. 1 Nr. 2 StPO-E den Vorschlag, die Wiederaufnahme auch dann zuzulassen, wenn im Urteil enthaltene offensichtliche Rechtsfehler oder durch das Urteil oder das Hauptverhandlungsprotokoll bewiesene offensichtliche Verletzungen der rechtsstaatlichen Verfahrensgrundsätze geltend gemacht werden.1000 Auch der zweite Gesetzesentwurf zur Reform des strafrechtlichen Wiederaufnahmerechts vom 29.01.1996 enthielt diesen Gedanken (vgl. hierzu S. 180 f.).1001 Nach erster Lesung wurde der Entwurf an den Rechtsausschuss überwiesen, in dem die Vertreter der Koalitionsfraktionen für die Einführung eines solchen Wiederaufnahmegrunds kein Bedürfnis sahen, „da es aus der gerichtlichen Praxis der letzten Jahrzehnte keinerlei Anhaltspunkte für die Notwendigkeit einer solchen Regelung gäbe.“1002 Hanack regt demgegenüber an, die auf Rechtsfehler bezogene Wiederaufnahme nur zuzulassen, falls das Urteil nicht in der Revisionsinstanz überprüft und eine unrichtige Norm angewendet wurde oder die Anwendung des richtigen Gesetzes zu einem Freispruch oder einer wesentlichen Strafmilderung geführt hätte.1003 Dippel spricht sich auch dafür aus, die Wiederaufnahme in Grenzen zuzulassen, wenn das Urteil infolge schwerster Verstöße grob falsch ist, etwa wenn eine Strafe verhängt wurde, die nach Art oder Höhe gesetzlich nicht existiert.1004 997  Lantzke,

ZRP 1970, 201, 206. Zur Reform der Wiederaufnahme des Strafverfahrens, S. 133. 999  J. Meyer, Wiederaufnahmereform, S. 128 ff. 1000  BT-Drs. 12 / 6219, S. 3. 1001  BT-Drs. 13 / 3594, S. 3. 1002  BT-Drs. 13 / 10333, S. 3. 1003  Hanack, JZ 1973, 393, 401. 1004  Dippel, Das geltende deutsche Wiederaufnahmerecht und seine Erneuerung, S. 60. 998  Deml,



F. Reformierung des geltenden Rechts363

Keiner dieser Lösungswege vermag jedoch zu überzeugen, da bislang kein taugliches Abgrenzungskriterium bezogen auf einen wiederaufnahmewürdigen Rechtsfehler vorgeschlagen wurde, das zu Rechtssicherheit führen könnte.1005 Dabei ist insbesondere zu bedenken, dass ein Rechtsfehler, der den am Verfahren Beteiligten – mithin auch der Staatsanwaltschaft – nicht aufgefallen ist, kaum offensichtlich sein dürfte.1006

VII. Anwendung bei nachträglichen Gesetzes- und Rechtsprechungsänderungen Keine Tatsache i. S. d. § 359 Nr. 5 StPO ist nach h. M. eine nachträgliche Gesetzesänderung oder die Änderung einer gefestigten Rechtsprechung.1007 Auch die Gesprächspartner sahen für eine dahingehende Änderung des Wiederaufnahmerechts keine Veranlassung. Die Wiederaufnahme nach Rechtsprechungs- bzw. Gesetzesänderungen nicht zuzulassen, erscheint grundsätzlich überzeugend: Eine Entscheidung, die zum Zeitpunkt ihres Erlasses der geltenden Rechtslage entspricht, ist keine Fehlentscheidung. Gleichwohl sollen Änderungen, die sich nachträglich zugunsten des Verurteilten auswirken, dem Gerechtigkeitsgedanken des Wiederaufnahmerechts folgend, auch diesem zu Gute kommen. Entsprechend schlug Peters vor, die Wiederaufnahme im Falle der Rechtssprechungsänderung zuzulassen, wenn die Rechtsauffassung des früheren Gerichts offensichtlich falsch war.1008 Vor dem aufgezeigten verfassungsrechtlichen Rahmen wäre dies in der Konstellation einer ungünstigen Wiederaufnahme freilich anders, um für den Betroffenen Rechtssicherheit zu gewährleisten. Auch im Fall der günstigen Wiederaufnahme richtet sich die Strafe gem. § 2 Abs. 1 StGB nach dem Gesetz, das zum Zeitpunkt der Tatbegehung Geltung beansprucht. Für den Täter muss auch vor dem Hintergrund des Grundsatzes nulla poena sine lege, Art. 103 Abs. 2 GG, im Zeitpunkt der Tatbegehung hinreichend bestimmbar sein, ob und wie er sich strafbar macht, wenngleich sich daraus kein Verbot 1005  Bajohr, Die Aufhebung rechtsfehlerhafter Strafurteile im Wege der Wiederaufnahme, S.  138 ff. 1006  Bajohr, Die Aufhebung rechtsfehlerhafter Strafurteile im Wege der Wiederaufnahme, S. 139. 1007  BVerfGE 12, 338, 340; BGH NJW 1993, 1481, 1482; OLG Bamberg NJW 1982, 1714; OLG Düsseldorf JR 1992, 124, 125. A. A. Peters, Fehlerquellen im Strafprozeß III, S. 65, der bzgl. der bindenden Rechtsauffassung über neue Gesetze darauf abstellt, ob die Rechtsauffassung des früheren Gerichts offensichtlich falsch oder vertretbar war. 1008  Peters, Fehlerquellen im Strafprozeß III, S. 65.

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Teil 2: Eigene Untersuchung und Reformvorschläge

ergibt, dass nachträgliche und für ihn günstige Änderungen die Wiederaufnahme des Verfahrens rechtfertigen. Ihm im Nachhinein einen Vorteil dafür zu gewähren, dass sich das positive Recht oder die Rechtsprechung nach dem Tatzeitpunkt verbessert hat, erscheint aber nicht notwendig. Der Betroffene kann hier auf den Gnadenweg verwiesen werden.1009 Zugleich würde dem Prozessziel der materiellen Gerechtigkeit ein nicht gerechtfertigter Vorrang gegenüber der Rechtssicherheit eingeräumt werden, indem ein an sich richtiges Urteil abgeändert werden würde.1010 Für die Anwendbarkeit wiederaufnahmerechtlicher Vorschriften nach Rechtsprechungsänderungen besteht daher kein Raum. Selbst wenn die Begnadigung nicht dieselbe Wirkung wie die Korrektur einer Fehlentscheidung im Wege des Wiederaufnahmerechts hat, erscheint es doch überzeugend, hier nur eine Begnadigung in Frage kommen zu lassen.

VIII. Reduzierung auf § 359 Nr. 5 StPO Wie bereits vorangegangene Gesetzesvorhaben, erachtet auch Dippel § 359 Nr. 5 StPO als umfassenden Auffangtatbestand, so dass §§ 359 Nr. 1, 2 StPO entbehrlich wären.1011 Auch J. Meyer möchte die günstige Wiederaufnahme so umgestalten, dass die Wiederaufnahme nur aufgrund neuer Tatsachen oder Beweismittel zulässig ist, oder wenn offensichtliche Rechtsfehler (mithin materielle Fehler oder Verfahrensfehler) das Urteil prägen und das fehlerhafte Urteil nicht in zweiter Instanz bestätigt wurde.1012 Problematisch an dem Vorschlag Meyers wird stets das hinreichende Maß an Offensichtlichkeit bleiben. Nach den befragten Experten beschränken sich die von ihnen bearbeiteten Wiederaufnahmeanträge fast ausschließlich auf § 359 Nr. 5 StPO. Dennoch lehnten sie eine Reduzierung auf den Wiederaufnahmegrund des § 359 Nr. 5 StPO ab. Mit Einführung des § 364 S. 2 StPO hat der Antragsteller die Möglichkeit, zwischen einem Antrag, gestützt auf § 359 Nr. 1–3 StPO einerseits oder § 359 Nr. 5 StPO andererseits zu wählen, da diese nebeneinander anwendbar sind.1013 1009  So im Ergebnis auch Theobald, Barrieren des strafrechtlichen Wiederaufnahmeverfahrens, S.  26 f. 1010  Eckert, Die Wiederaufnahme des Verfahrens im schweizerischen Strafprozeßrecht, S. 34. 1011  Dippel, Das geltende deutsche Wiederaufnahmerecht und seine Erneuerung, S.  75 f. 1012  Wasserburg, Die Wiederaufnahme des Strafverfahrens, S. 25. 1013  OLG Rostock NStZ 2007, 357. Der Antragsteller hat dann eine Wahlmöglichkeit, ob er den Weg über eine Verurteilung i. S. d. § 364 StPO wählt oder ob er



F. Reformierung des geltenden Rechts365

Gründe, die einen Wiederaufnahmeantrag gem. § 359 Nr. 1–3 StPO stützen, stellen zugleich neue Tatsachen i. S. d. § 359 Nr. 5 StPO dar. Stützt sich der Antragsteller „nur“ auf § 359 Nr. 5 StPO, kann bzw. muss das Gericht den Antrag auch aus einem Grund der § 359 Nr. 1–3 StPO zulassen.1014 Da die Wiederaufnahmegründe der § 359 Nr. 1–3 i. V. m. § 364 StPO für den Antragsteller also eine Erleichterung gegenüber § 359 Nr. 5 StPO bedeuten, handelt es sich bei Letzterem doch um einen relativen Wiederaufnahmegrund. Bei ihm muss das Urteil auf dem Wiederaufnahmegrund beruhen, so dass die Reduzierung auf den Wiederaufnahmegrund des § 359 Nr. 5 StPO abzulehnen ist.

IX. Wiederaufnahme mit dem Ziel der Strafaussetzung zur Bewährung Im Laufe der Untersuchung sprach sich ein Experte dafür aus, dass die Vorschriften der §§ 359 ff. StPO auch gegen rechtskräftige Bewährungswiderrufsbeschlüsse anwendbar sein müssten. Wie bereits dargestellt ist dies strittig.1015 Dabei ist schon die Frage, ob die Vorschriften der § 359 ff. StPO (analog) auf Beschlüsse anwendbar sind, höchst umstritten. Nach dem Wortlaut des § 359 StPO wäre jedenfalls eine direkte Anwendung abzulehnen.1016 Hinzu kommen die formalen und inhaltlichen Unterschiede von Beschluss- und Urteilsverfahren.1017 Nicht verkannt werden darf dabei indes, wie ebenfalls gesehen, dass Widerrufsbeschlüsse gem. §§ 56f, 67g StGB Rechtsfolgen ähnlich einem Urteil haben.1018 Der Beschluss über den Widerruf der Bewährung enthält eine Sachentscheidung, die in materieller Rechtskraft erwachsen kann, so dass die Anwendbarkeit der Wiederaufnahmeregelungen aufgrund der urteilsgleichen i. R. d.§ 359 Nr. 5 StPO den Umstand als nova einer Erheblichkeitsprüfung zuführt, vgl. KK-Schmidt, § 359 / 3. 1014  OLG Düsseldorf GA 1980, 393, 396 f.; LR-Gössel, § 364 / 7. 1015  Vgl. oben S. 74 ff. 1016  Ablehnend auch MG vor § 359 / 5; HK-Temming, Vor §§ 359 ff. / 5. Differenzierend Greco, Strafprozesstheorie und materielle Rechtskraft, S. 863, der unter Hinweis auf die Differenzierung der beiden Wiederaufnahmekonstellationen für die günstige Wiederaufnahme keine strikte Bindung an den Gesetzeswortlaut annimmt. 1017  KMR-Eschelbach, Vor § 359 / 76. Vgl. eingehend Brinkmann, Zum Anwendungsbereich der §§ 359 ff. StPO, S. 187 ff. 1018  Gegen eine Anwendbarkeit auf diese Konstellationen HansOLG Hamburg StV 2000, 568; OLG Stuttgart NStZ-RR 1996, 176 f.; PfzOLG Zweibrücken NStZ 1997, 55; LG Hamburg NStZ 1991, 149, 150; MG vor § 359 / 5; HK-Temming, Vor §§ 359 ff. / 5; LR-Gössel, Vor § 359 / 69. Befürwortend: OLG Oldenburg NJW 1962, 1169; LG Bremen StV 1990, 311.

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Teil 2: Eigene Untersuchung und Reformvorschläge

Wirkung geboten erscheint.1019 Es ist kein Grund ersichtlich, warum diesem Beschluss größere Bestandskraft zukommen sollte, als dem Urteil selbst. Wie von einer Mindermeinung vertreten, sind §§ 359 ff. StPO daher entsprechend auch auf Bewährungswiderrufsbeschlüsse anzuwenden.1020 Insoweit ist dem Gesetzgeber eine Klarstellung de lege ferenda zu empfehlen.

X. Feststellung der Rechtswidrigkeit einer gerichtlichen Entscheidung zum Zwecke der Rehabilitation Die nach dem StrEG zu gewährende Entschädigung dürfte kaum in der Lage sein, die immateriellen Schäden zu ersetzen. Ferner darf unterstellt werden, dass dem Betroffenen oftmals mehr daran liegt, sich auch in der öffentlichen Wahrnehmung von den gegen ihn erhobenen Vorwürfen freizumachen. Dies kann eine materielle Entschädigung nicht leisten. Auch wenn es nicht die originäre Aufgabe des zur neuen Entscheidung berufenen Gerichts ist, stellt sich die Frage, inwieweit von ihm verlangt werden kann und sollte, sich mit einer fehlerhaften und im Wiederaufnahmeverfahren bzw. erneuten Verfahren korrigierten Fehlentscheidung auseinander zu setzen. So berichteten die Gesprächspartner etwa, dass ihren Mandanten eine Entschuldigung von Seiten der Justiz wichtig gewesen wäre. In § 361 StPO offenbart der Gesetzgeber, dass er ein umfassendes Rehabilitationsinteresse des Verurteilten, der die günstige Wiederaufnahme anstrebt, anerkennt.1021 Gem. § 371 Abs. 4 StPO ist in Fällen des § 371 StPO die Aufhebung des früheren Urteils auf Verlangen des Antragstellers im Bundesanzeiger bekannt zu machen, und kann nach dem Ermessen des Wiederaufnahmegerichts auch auf andere geeignete Weise veröffentlicht werden. Die Veröffentlichung soll die fehlende Verkündung der Entscheidung in öffent­ licher Hauptverhandlung ersetzen und ist daher nur bei Entscheidungen nach §§ 371 Abs. 1, 2 StPO möglich.1022 Eine weitere Möglichkeit zur öffentlichen Rehabilitation des Betroffenen wäre, dass das Wiederaufnahmegericht die Rechtswidrigkeit der ursprüng­ lichen Entscheidung feststellt.1023 Eine entsprechende Feststellung könnte in 1019  HansOLG

Hamburg StV 2000, 568, 569; LR-Gössel, Vor § 359 / 66. Oldenburg NJW 1962, 1169; OLG Düsseldorf MDR 1993, 67; LG Bremen StV 1990, 311; OLG Düsseldorf StV 1993, 87; SK-Frister, Vor § 359 / 22; Hohmann, NStZ 1991, 507. 1021  SSW-Kaspar, § 361 / 1; KK-Schmidt, § 361 / 1. 1022  AK-Loos, § 371 / 24. 1023  Hannich, ist der Auffassung, dass die §§ 359 ff. StPO nicht der geeignete Weg sind, die förmliche Feststellung der Unwirksamkeit von Urteilen festzustellen, vgl. KK-Hannich, Vorbemerkungen zu § 359 / 15a. Insoweit ist jedoch zu unterscheiden, 1020  OLG



F. Reformierung des geltenden Rechts367

den Entscheidungstenor aufgenommen werden. Gem. § 260 Abs. 5 S. 5 StPO steht die Fassung der Urteilsformel, abgesehen von den Anforderungen der § 260 Abs. 5 S. 1–4 StPO, im Ermessen des Gerichts. Eine Feststellungswirkung ist strafgerichtlichen Entscheidungen auch nicht fremd, so beispielsweise im Fall von § 66 Abs. 1 Nr. 1 StGB.1024 Überdies wird die Feststellung der rechtswidrigen Art und Weise der richterlichen angeordneten Beschlagnahmemaßnahme bzw. deren Anordnung als solcher anerkannt.1025 Zwar ist eine Beschwerde zur Feststellung der Rechtswidrigkeit einer bereits erledigten richterlichen Anordnung bzw. die Weiterführung eines Verfahrens allein zu diesem Zweck grundsätzlich unzulässig, jedoch wird u. a. dann eine Ausnahme anerkannt, wenn das Interesse des Betroffenen an der Feststellung der Rechtswidrigkeit auch noch nach der Erledigung fortbesteht.1026 Zwar wurde eine ausdrückliche Tenorierung von den Gesprächspartnern nicht für zwingend erforderlich erachtet, da bereits durch die Aufhebung der angefochtenen Entscheidung ausgedrückt werde, dass das Urteil keinen Bestand haben könne. Gleichwohl wurde eine ausdrückliche Tenorierung auch nicht abgelehnt. Statt einer nicht normierbaren, nicht einforderbaren Entschuldigung, bedeutete dem Betroffenen die explizite Anerkennung der Rechtswidrigkeit durch die Justiz die erwünschte Rehabilitation. Dennoch darf nicht übersehen werden, dass unrichtige Tatsachen für die Aufhebung einer richterlichen Entscheidung im Wiederaufnahmewege, jedenfalls nach § 359 Nr. 5 StPO ursächlich waren. Möglicherweise war demnach die damalige Sachkenntnis des Gerichts und die darauf basierende Urteilsfindung lege artis, so dass allein die Wiederaufnahme eines Verfahrens nichts darüber besagt, ob das Verhalten der Jusitz beanstandungswürdig bzw. gar rechtswidrig war. Es besteht somit keine Veranlassung, an der geltenden Rechtslage diesbezüglich etwas zu ändern. Trotzdem sollten sich die Wiederaufnahmegerichte ihrer Funktion entsprechend das Rehabilitationsinteresse des Verurteilten vergegenwärtigen und – wie von einem Experten geschildert – im Namen der Justiz Bedauern über die getroffene Fehlentscheidung zum Ausdruck bringen.

dass die Unwirksamkeit weiter geht, als die Feststellung der Rechtswidrigkeit einer gerichtlichen Entscheidung. So ist bspw. im Verwaltungsrecht ein rechtswidriger Verwaltungsakt dennoch wirksam. Ein nichtiger Verwaltungsakt ist hingegen von Anfang an unwirksam. Eine förmliche Feststellung der Rechtswidrigkeit erscheint daher ausreichend, aber im Interesse der Rechtssicherheit auch angebracht. 1024  MG Einl. / 169. 1025  MG § 98 / 23. 1026  MG vor § 296 / 18.

368

Teil 2: Eigene Untersuchung und Reformvorschläge

XI. Wiederaufnahme und Strafvollstreckung Ein Wiederaufnahmeantrag hat gem. § 360 Abs. 1 StPO keinen Suspensiveffekt. Erst durch die Anordnung der Wiederaufnahme und die Anordnung zur Durchführung einer erneuten Hauptverhandlung gem. § 370 Abs. 2 StPO wird de lege lata die weitere Vollstreckung der durch die angefochtene Entscheidung verhängten Strafe oder Maßregel unzulässig.1027 Vor dieser Anordnung kann vom Wiederaufnahmegericht ein Aufschub oder eine Unterbrechung der Vollstreckung gem. § 360 Abs. 2 StPO angeordnet werden.1028 Nach einem Experten sollte bereits das Überspringen der Zulässigkeitshürde die Vollzugsunterbrechung bedeuten. Unabhängig davon habe bereits der Antrag auf Wiederaufnahme nach Erfahrung der Experten in jeder Phase der Strafvollstreckung im Regelfall negativen Einfluss auf den Strafvollzug der Mandanten gehabt. Mit Rechtskraft ist ein Straferkenntnis zu vollstrecken. Dabei ist für die Frage der Aussetzung der Vollstreckung des Restes einer Freiheitsstrafe gem. § 57 Abs 1 S. 2 StGB auch das Verhalten des Verurteilten im Vollzug relevant. Mithin spielt das Wohlverhalten des Verurteilten im Strafvollzug eine entscheidende Rolle, wobei die Entwicklung – durch den Betroffenen nur im Weg der Gegenvorstellungen antastbar – durch die Justizvollzugsanstalten beurteilt wird.1029 Es verwundert daher nicht, dass die Verweigerung einer therapeutischen Aufarbeitung durch den Tatleugner negative Auswirkung für die Frage der Strafaussetzung hat, wenngleich die Tatleugnung kein Rückfallrisiko begründet.1030 Dass Vollzugslockerungen auch nicht unter Hinweis auf die Tatleugnung oder eine fehlende Mitwirkungsbereitschaft an der Auf1027  KK-Schmidt,

§ 360 / 1; MG § 360 / 1 und § 370 / 11. ist, ob die Möglichkeit der Anordnung gem. § 360 Abs. 2 StPO eine ausschließliche Zuständigkeit begründet, oder ob auch die Strafvollstreckungsbehörde einen Vollstreckungsaufschub im Rahmen der §§ 456 ff. StPO anordnen darf. Dies ist jedoch im Hinblick auf § 2 StVollstrO, der die Strafvollstreckungsbehörde zu einer nachdrücklichen und schnellen Vollstreckung verpflichtet, abzulehnen. Zudem kann nicht davon ausgegangen werden, dass es dem Willen des Gesetzgebers entspricht, dass sich neben dem Wiederaufnahmegericht eine weitere Behörde in Fragen der Vollstreckungshemmung aufgrund des Wiederaufnahmeantrags einschalten kann, vgl. LR-Gössel, § 360 / 2; KMR-Eschelbach, § 360 / 10; SK-Frister, § 360 / 2; Marxen / Tiemann, Die Wiederaufnahme in Strafsachen, Rn. 500; a. A. MG § 360 / 4 und KK-Schmidt, § 360 / 4. 1029  Leipold, NJW-Spezial 2006, 519. 1030  So Endres / Schwanengel, Kriminaltherapeutsche Straftäterbehandlung, S. 161 f., https: /  / researchgate.net / profile / Johann_Endres / publication / 305317018_Kriminalthe rapeutische_Straftaterbehandlung_Therapeutsiche_Modelle_und_praktische_Umsetzun gen / links / 5788b22b08aedc252a972aa5 / Kriminaltherapeutische-StraftaeterbehandlungTheoretische-Modelle-und-praktische-Umsetzungen.pdf (zuletzt aufgerufen am 06.03. 2018). 1028  Umstritten



G. Anspruch auf Wiederaufnahme eines Strafverfahrens369

arbeitung der Straftat versagt werden dürfen, ist bereits obergerichtlich entschieden.1031 Die Urteilsfeststellungen haben dabei keine absolute Bindungswirkung für die Entscheidungen im Strafvollstreckungsverfahren. Diese Erkenntnis ergibt sich bereits daraus, dass diese nicht in Rechtskraft erwachsen. Für den zu Unrecht Verurteilten bedeutet dies, dass der Sachverhalt bei anstehenden Prognoseentscheidungen im Vollstreckungsverfahren neu bewertet werden muss, wenn sich Erkenntnisse ergeben, dass sich der Sachverhalt anders als in der zu vollstreckenden gerichtlichen Entscheidung angenommen zugetragen hat. Andernfalls wird der Verurteilte in seinen Rechten aus Art. 1 Abs. 1 S. 2, Art. 2 Abs. 2 S. 2 und Art. 19 Abs. 4 S. 1 GG verletzt.1032 Verpflichten die Vollstreckungsgerichte aber Sachverständige im Rahmen von Gefährlichkeitsprognosen dazu, von der Richtigkeit der Urteilsfeststellungen auszugehen, wird der Verurteilte in eine Situation gebracht, in der er gezwungen ist, einen möglicherweise zu Unrecht erhobenen Vorwurf (therapeutisch) aufzuarbeiten, da ihm andernfalls Vollzugslockerungen versagt bleiben. Dies kollidiert jedoch mit dem Grundsatz nemo tenetur se ipsum accusare.1033 Damit steht zugleich fest, dass nicht erst der Umstand eines eingereichten Wiederaufnahmeantrags, sondern bereits das Abstreiten der Tat Einfluss auf die Strafvollstreckung hat. § 57 Abs. 1 S. 2 StGB, nicht hingegen die Vorschriften des Wiederaufnahmerechts werden berührt, so dass auf die bestehende Problematik an dieser Stelle nur hingewiesen werden soll, ohne einen konkreten Lösungsvorschlag zu unterbreiten.

G. Zur Gewährleistung des Anspruchs auf Wiederaufnahme eines Strafverfahrens Der Strafprozess dient nicht dazu, die besorgte Öffentlichkeit zu beruhigen.1034 Der Strafprozess hat sich einzig und allein der Gerechtigkeit verschrieben. Während bei den Rechtsmitteln der Berufung und Revision, neben dem Streben nach materieller Wahrheit, insbesondere das Prinzip der Rechts­ sicherheit dominiert, steht im Vordergrund des Wiederaufnahmerechts – wie gesehen1035 – das Streben nach materieller Wahrheit. Nicht zuletzt aus dem Verständnis, dass das Strafrecht ultima ratio ist, ergibt sich, dass bei der 1031  OLG

Hamm StV 1988, 348 und NStZ 1989, 27, 28. § 261 / 8.3. 1033  Eschelbach, HRRS 2008, 190, 200. 1034  Darnstädt, Der Richter und sein Opfer, S. 119. 1035  s. o. S.  146 ff. 1032  BeckOK-Eschelbach,

370

Teil 2: Eigene Untersuchung und Reformvorschläge

günstigen Wiederaufnahme im Zweifelsfall dem Grundsatz der Gerechtigkeit Vorrang gegenüber der Rechtssicherheit einzuräumen ist. So hat der Staat die Möglichkeit, die Waffe des Strafrechts anzuwenden und zwangsweise durchzusetzen, gleichwohl hat der Bürger einen Anspruch auf gerechte Behandlung. Bestehen berechtigte Zweifel, hat der Verurteilte einen Anspruch auf Kontrolle und u. U. auf Rehabilitation. Dieser Anspruch folgt dem Gedanken eines Anspruchs aus vorangegangenem Tun.1036 Die durchgeführte Untersuchung hat ergeben, dass das Problem des Wiederaufnahmerechts weniger ein Problem der gesetzlichen Regelungen ist, als vielmehr eines der praktischen Anwendung und einer restriktiven Handhabung durch die Wiederaufnahmegerichte. Der Anspruch auf Wiederaufnahme eines Strafverfahrens, normiert durch §§ 359 ff. StPO, wird nicht effektiv gewährleistet und ist auch nicht effektiv durchsetzbar. Von Verteidigerseite wird das Eingreifen des Gesetzgebers für erforderlich erachtet, um die Hürden im Wiederaufnahmeverfahren herabzusenken, insbesondere im Bereich des Aditionsverfahrens. Die Einführung weiterer Wiederaufnahmegründe wurde hingegen nicht befürwortet. Die Möglichkeit, für den Verteidiger, eigene Ermittlungen anzustellen, sollten gesetzlich abgesichert werden, ebenso wie die Wiederaufnahmegerichte den Dialog mit dem Antragsteller – durch mündliche Verhandlung oder eine gesetzlich normierte Hinweispflicht – suchen sollten. Daneben unterbreiteten die Experten weitere Vorschläge zu einer Reformierung des geltenden Rechts, die – soweit noch nicht diskutiert – im 3. Teil der Untersuchung dargelegt, oder an dieser Stelle nur kurz skizziert werden sollen: – Im Vorschaltverfahren sollte der Amtsaufklärungsgrundsatz Anwendung finden. – Die Entschädigungssummen des StrEG sollten angehoben werden. – Über die Beiordnung eines Verteidigers sollte ein Gremium außerhalb der Justiz entscheiden. – Nur Juristen mit mehrjähriger Berufserfahrung, u. a. als Strafverteidiger, sollen zum Richteramt befähigt sein. – Die Laufbahnverzahnung zwischen Richter- und Staatsanwaltsamt sollte beendet werden. Zugleich hat die Untersuchung ergeben, dass die Expertise der für eine Befragung zur Verfügung stehenden Experten zum Wiederaufnahmerecht sowie deren praktische Erfahrungen stark schwankten. Insbesondere aber können die von den Befragten berichteten Erfolgsquoten als nicht verallgemeinerungsfähig betrachtet werden. 1036  Peters,

Fehlerquellen im Strafprozeß III, S. 34.

Teil 3

Besondere Betrachtung des Anwendungsdefizits um den Novitätsbegriff des § 359 Nr. 5 StPO In der Praxis wird die Wiederaufnahme eines Verfahrens fast ausschließlich aufgrund neuer Tatsachen oder Beweismittel, § 359 Nr. 5 StPO, beantragt. Dabei dürfte vor allem Umfangsverfahren, die sich gegen die Urteilsfeststellungen einer landgerichtlichen Entscheidung richten, im Rahmen des § 359 Nr. 5 StPO die Frage nach der Beurteilung einer Tatsache als neu stellen. Fraglich ist, ob auch insoweit der Gesetzgeber zu einer Verbesserung der Rechtslage gehalten ist. § 359 Nr. 5 StPO stellt einen unbenannten relativen Wiederaufnahmegrund dar, der die Begrifflichkeiten der Tatsachen, des Beweismittels, der Erheblichkeit aber auch der Neuheit nicht gesetzlich bestimmt. Bei all diesen gesetzlich unbestimmten Begriffen bedarf es einer Gesetzesauslegung.1 Die Frage der Neuheit von vorgebrachten Tatsachen kann hierbei u. a. in folgendem Fall relevant werden: Ein Angeklagter wird nach einem erstinstanzlich landgerichtlichen Verfahren verurteilt. In den schriftlichen Urteilsgründen werden entlastende Tatsachen (bewusst oder unbewusst) verschwiegen oder nur selektiv bzw. verfälscht wiedergegeben. Eine darauf gestützte Revision bleibt erfolglos, weil das Revisionsgericht nicht gehalten und in der Lage ist, die Vollständigkeit und Richtigkeit der dem Urteil zugrunde liegenden Tatsachen zu überprüfen.2 Eine zweite Tatsacheninstanz – etwa eine Berufungsinstanz – ist gesetzlich nicht vorgesehen. Dem Betroffenen bleibt dann nur die Möglichkeit, die fehlerhaften tatsächlichen Urteilsfeststellungen im Weg eines Wiederaufnahmeverfahrens anzugreifen. Ob die im Urteil nicht angeführten und schließlich im Wiederaufnahmeantrag vorgebrachten Tatsachen, die bereits Gegenstand der erstin­ stanzlichen Hauptverhandlung waren, als nova gem. § 359 Nr. 5 StPO vorgebracht werden können, soll im Folgenden unter Berücksichtigung der bisherigen Untersuchungserkenntnisse eingehend geprüft werden. 1  Peters,

Fehlerquellen im Strafprozeß III, S. 44. die Tatsachen dargestellt, jedoch nicht in die Beweiswürdigung einbezogen, ist dieser Erörtertungsmangel revisionsrechtlich überprüfbar, Schwenn, StV 2010, 705, 709. 2  Werden

372

Teil 3: Betrachtung des Anwendungsdefizits des § 359 Nr. 5 StPO

A. Wiederaufnahmegrund § 359 Nr. 5 StPO Die Wiederaufnahme ist gem. § 359 Nr. 5 StPO möglich, wenn neue Tatsachen oder Beweismittel beigebracht werden, die allein oder in Verbindung mit den früher erhobenen Beweisen die Freisprechung des Angeklagten oder in Anwendung eines milderen Strafgesetzes eine geringere Bestrafung oder eine wesentlich andere Entscheidung über eine Maßregel der Besserung und Sicherung zu begründen geeignet sind. Die Wiederaufnahme gründet sich in diesem Fall mithin auf Feststellungsmängel. Der Verurteilte behauptet also neue Tatsachen, die belegen sollen, dass die dem Urteil zugrunde gelegten Feststellungen falsch sind oder aber neue Beweismittel existieren, die im ersten Verfahren noch unbekannt waren.3 Voraussetzung eines erfolgreichen auf § 359 Nr. 5 StPO gestützten Wiederaufnahmeantrags sind demnach folgende Elemente: – Wiederaufnahmegegenstand i.F.v. Tatsachen oder Beweismittel – Neuheit der Tatsachen / Beweismittel (nova) – zulässiges Wiederaufnahmeziel gemessen an §§ 359 Nr. 5, 363 StPO – Geeignetheit der nova Diese Voraussetzungen stehen jedoch nicht isoliert nebeneinander, sondern in gegenseitiger Abhängigkeit zueinander. Ein Wiederaufnahmeantrag hat demnach Erfolg, wenn der Wiederaufnahmegegenstand, der neu ist, zur Erreichung des Wiederaufnahmeziels geeignet ist.4

I. Anforderungen an den Sachvortrag Wie bei jedem Wiederaufnahmegrund ist erforderlich, dass der Sachvortrag für den auf § 359 Nr. 5 StPO gestützten Wiederaufnahmeantrag schlüssig ist und geeignete Beweismittel bezeichnet werden. Es ist davon auszugehen, dass 3  Jehle, FPPK 2013, 220, 227. Der Wiederaufnahmegrund des § 359 Nr. 5 StPO kommt auch in Betracht, soweit Umstände dargetan werden, die die Wiederaufnahmegründe gem. § 359 Nr. 1, 2 StPO darstellen. Derartige Umstände können zugleich als neue Tatsachen oder Beweismittel vorgebracht werden. OLG Hamburg NJW 1957, 601; OLG Celle NJW 1966, 216; Peters, Fehlerquellen im Strafprozeß III, S. 48. Dies führt dazu, dass die Wiederaufnahmegründe der §§ 359 Nr. 1 und 2 StPO kaum praktische Bedeutung haben. Anders ist dies bei der ungünstigen Wiederaufnahme gem. § 362 Nr. 4 StPO. Hier führen nicht schlechthin neue Tatsachen zur Wiederaufnahme, sondern nur das Geständnis. Beweisverfälschungen sind daher nur im Rahmen von § 362 Nr. 1, 2 StPO von Bedeutung. Soweit § 364 StPO Anwendung findet, ist diese Differenzierung auch von praktischer Relevanz. 4  LR-Gössel, § 359 / 57.



A. Wiederaufnahmegrund § 359 Nr. 5 StPO373

Wiederaufnahmeanträge häufig an unzureichenden Darlegungen scheitern.5 So wurde auch im Rahmen der Untersuchung wiederholt von qualitativ schlechten Wiederaufnahmeanträgen berichtet. Der Antragsteller muss in sich geschlossen, aus dem Antrag heraus verständlich Tatsachen bestimmt behaupten.6 Die vom Antragsteller vorgetragenen nova sind „beizubringen“; die schlichte Behauptung reicht insoweit nicht aus.7 Benannte Beweismittel müssen so detailliert bezeichnet werden, dass das Gericht sie ohne Weiteres heranziehen kann8, bspw. unter Angabe einer ladungsfähigen Anschrift, soweit diese noch nicht aktenkundig ist. Um schlüssig vorzutragen, muss der Antragsteller insbesondere den erweiterten Darlegungslasten entsprechen. Der Antragsteller muss, ähnlich dem Klageerzwingungsverfahren oder der Begründung von Verfahrensrügen im Revisionsverfahren, substantiiert9 vortragen. Die vom Antragsteller vorgebrachten Tatsachen sind daher möglichst genau zu bezeichnen. Sie müssen vollständig, detailliert und bestimmt vorgetragen und behauptet werden.10 Die formellen Anforderungen an das Antragsvorbringen sind in Folge der Divergenz zwischen Ausgangs- und Wiederaufnahmegericht damit erkennbar angestiegen, da dem Wiederaufnahmegericht der Sachverhalt erstmals zu erläutern ist, um ihm ein widersprechendes Wiederaufnahmevorbringen verständlich machen zu können.11 Vom Antragsteller in Auftrag gegebene Sachverständigengutachten müssen dem Antrag beigefügt sein.12 Soweit er noch kein Gutachten vorlegen kann und lediglich bestimmt behauptet, eine sachverständige Untersuchung führe zu einem gewissen Ergebnis, ist die Angabe des Fachbereichs eines Sachver5  Marxen / Tiemann,

Die Wiederaufnahme in Strafsachen, Rn. 259. Beschluss vom 22.04.1999, Az. 3 Ws 221 / 99, 1 AR 392 / 99, in: BeckRS 1999, 16100; LR-Gössel, § 359 / 179; MG § 359 / 45; KK-Schmidt, § 359 / 37; KMREschelbach, § 359 / 217 und § 366 / 31. 7  BGH NJW 1993, 1481, 1483. 8  LR-Gössel, § 359 / 186; KK-Schmidt, § 359 / 37; MG § 359 / 50. Ggf. wäre der Antragsteller demnach gehalten, eigene Ermittlungen anzustellen, um die ladungsfähige Anschrift eines Zeugen in Erfahrung zu bringen. Z. T. wird daher für ausreichend erachtet, wenn der Antragsteller das Gericht in die Lage versetzt, einen Zeugen ermitteln zu können. Dies erscheint wegen des fehlenden Ermittlungsapparats des Verurteilten und seiner Verteidigung überzeugend. So auch MG § 366 / 2; Theobald, Bar­ rieren des strafrechtlichen Wiederaufnahmeverfahrens, S. 36; Peters, Fehlerquellen im Strafprozeß III, S. 97. 9  BGHSt 31, 365, 369. 10  KG Beschluss vom 22.04.1999, Az. 3 Ws 221 / 99, 1 AR 392 / 99, in: BeckRS 1999, 16100. 11  KMR-Eschelbach, § 366 / 32. 12  BGHSt 39, 75, 84; BGHSt 31, 365, 370. Zum Teil wird auch diese Vorlagepflicht abgelehnt, so Theobald, Barrieren des strafrechtlichen Wiederaufnahmeverfahrens, S. 37. 6  KG

374

Teil 3: Betrachtung des Anwendungsdefizits des § 359 Nr. 5 StPO

ständigen ausreichend. Erst im Rahmen der Darlegung der Geeignetheit muss der Antragsteller dann vorbringen, was ihn veranlasst, ein bestimmtes Ergebnis sachverständiger Beurteilung erwarten zu dürfen.13 Hinsichtlich der Novität muss der Antragsteller bestimmt behaupten, dass die von ihm vorgebrachten Tatsachen oder Beweismittel dem erkennenden Gericht nicht bekannt waren bzw. nicht berücksichtigt wurden. Eine große Herausforderung besteht darin, die Geeignetheit seines Vortrages schlüssig darzulegen. Ob dem Antragsteller insoweit überhaupt eine Beibringungslast obliegt, ist umstritten. Nach dem Wortlaut des § 359 Nr. 5 StPO sind lediglich die neuen Tatsachen und Beweismittel beizubringen, nicht jedoch die Geeignetheit. Der Bundesgerichtshof hat deshalb bereits ausgeführt, dass der Antragsteller nur in Ausnahmefällen die Eignung des Beweismittels darlegen müsse.14 Der Antragsteller ist daher nicht verpflichtet, zum Beweiswert der vorgebrachten neuen Tatsachen oder Beweismittel vorzutragen. Etwas anderes gilt nur in Fällen eines widersprüchlichen Verhaltens, bei dem ihn eine erweiterte Darlegungslast treffen soll.15 Anerkannt ist jedoch, dass der Antragsteller aufgrund der bestehenden prozessualen Fürsorgepflicht des Wiederaufnahmegerichts auf behebbare Mängel in seinem Vortrag hinzuweisen ist.16 Für die Darlegung der Erheblichkeit des Vorbringens, empfiehlt es sich, die Urteilsfeststellung wörtlich vorzutragen, die durch den Wiederaufnahmeantrag erschüttert werden soll. Bringt der Antragsteller Hilfstatsachen oder neue Beweismittel vor, muss er die Haupttatsache, auf die sich sein Vortrag bezieht, ebenfalls umfassend vortragen.17

II. Tatsachen oder Beweismittel Der Wiederaufnahmeantrag muss auf Tatsachen oder Beweismittel gestützt werden. Ausreichend ist, wenn der Antragsteller neue Tatsachen vorträgt, ohne neue Beweismittel zu bezeichnen bzw. neue Beweismittel für bereits bekannte Tatsachen vorbringt. Es handelt sich um zwei zu unterscheidende Wiederaufnahmealternativen18, die solche Anträge ausnehmen sollen, die 13  BGH

MDR 1993, 167, 168; LR-Gössel, § 359 / 188. NJW 1977, 59; Theobald, Barrieren des strafrechtlichen Wiederaufnahmeverfahrens, S. 26 f. A. A. LR-Gössel, § 359 / 178. 15  MG § 359 / 51. 16  Marxen / Tiemann, Die Wiederaufnahme in Strafsachen, Rn. 262 und 336; OLG Hamm NJW 1980, 717; KK-Schmidt, § 368 / 1; MG § 368 / 1. 17  Marxen / Tiemann, Die Wiederaufnahme in Strafsachen, Rn. 266–269. 18  MG § 359 / 29; Schorn, MDR 1965, 869 f. sieht darin eine für den Verurteilten zur Einleitung des Wiederaufnahmeverfahrens günstige Chance, die zu einem Miss14  BGH



A. Wiederaufnahmegrund § 359 Nr. 5 StPO375

allein auf Rechtsfehlern des Urteils gründen oder die lediglich eine fehlerhafte Beweiswürdigung rügen. In jedem Fall ist gem. § 368 Abs. 1 StPO für die Zulässigkeit des Antrags erforderlich, dass der Antragsteller geeignete – wenn auch nicht zwangsläufig neue – Beweismittel vorbringt. Tatsachen im Sinne des § 359 Nr. 5 StPO sind nach dem materiellrecht­ lichen Tatsachenbegriff Vorgänge oder Zustände der Vergangenheit oder Gegenwart, die dem Beweis zugänglich sind.19 Tatsachen sind demnach insbesondere Umstände, durch die die Schuld- und Rechtsfolgenfeststellungen unmittelbar berührt werden (sog. materielle Tatsachen20). Tatsachen i. S. d. § 359 Nr. 5 StPO sind mithin solche, die den Sachverhalt betreffen, können sich aber etwa auch auf Beweisfragen (wie die Glaubwürdigkeit der benutzten Beweismittel oder dessen Wegfall21, bspw. im Fall eines Geständniswiderrufs22) richten.23 Diese sog. Beweistatsachen24 oder Beweisanzeichen25 haben lediglich indizielle, mithin mittelbare Bedeutung für den Schuld- und Rechtsfolgenausspruch.26 Da sich die Tatsache jedoch nicht brauch des Antragsrechts führen könne. Einen einheitlichen Wiederaufnahmegrund sieht Günther, MDR 1974, 93. 19  BVerfG StV 2003, 225; BVerfG SVR 2015, 36, 37; LR-Gössel, § 359 / 58. Der Tatsachenbegriff ist dabei weit zu verstehen, vgl. KK-Schmidt, § 359 / 17. Peters versteht als Tatsachen i. S. d. § 359 Nr. 5 StPO Vorgänge, Ereignisse, Gegebenheiten, Umstände, Eigenschaften und Zusammenhänge, die objektiv erkennbar oder allgemeingültig sind, also das Gegenteil zu Beurteilungen oder Bewertungen bilden und in einem Urteil als real angenommener Umstand der Überzeugungsbildung zugrunde gelegt werden, vgl. Peters, Fehlerquellen im Strafprozeß III, S. 56, 71 und BGH NJW 1993, 1481, 1482. Peters differenziert sodann weiter zwischen Sachverhaltstatsachen, Beweismitteltatsachen (wie die Glaubwürdigkeit eines Zeugen), Prozesstatsachen (Strafantrag, Verjährung) Rechtstatsachen (Beweismittelverbote etc., die bereits eine rechtliche Bewertung und Beurteilung von Tatsachen beinhalten), und wissenschaft­ lichen Tatsachen. 20  AnwK-Rotsch, § 359 / 24; KMR-Eschelbach, § 359 / 127. 21  OLG Rostock NStZ 2007, 357. 22  OLG Stuttgart NJW 1999, 375. Der Widerruf eines Geständnisses ist Tatsache und Beweis zugleich, vgl. KG Beschluss vom 16.05.2007, Az. 2 AR 20 / 06, 3 Ws 72–73 / 06, in: BeckRS 2007, 10902. 23  OLG Celle NJW 1967, 216; OLG Frankfurt NJW 1966, 2423, 2424; OLG München NJW 1981, 593, 594; OLG Schleswig NJW 1974, 714; OLG Neustadt NJW 1964, 678, 679; HansOLG Hamburg JR 1951, 218. MG § 359 / 23; AK-Loos, § 359 / 45; KMR-Eschelbach, § 359 / 131 f.; KK-Schmidt, § 359 / 22; AK-Loos, § 359 /  46; LR-Gössel, § 359 / 64; Differenzierend, dass nicht der Widerruf eines Geständnisses eine neue Tatsache ist, sondern nur die Umstände, auf die sich der Geständnis­ widerruf stützt: Förschner StV 2008, 443. 24  AnwK-Rotsch, § 359 / 24; KMR-Eschelbach, § 359 / 128; Hohmann, in: Miebach / Hohmann, Wiederaufnahme in Strafsachen, Teil E, Rz. 72. 25  LR-Gössel, § 359 / 64. 26  LR-Gössel, § 359 / 61.

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Teil 3: Betrachtung des Anwendungsdefizits des § 359 Nr. 5 StPO

unmittelbar auf die materiellrechtliche Tat beziehen muss, um wiederaufnahmerechtliche Relevanz zu besitzen, können auch die Identität des Verurteilten, sein Lebensalter sowie die Verfahrensvoraussetzungen oder Prozesshindernisse27 als Tatsachen vorgebracht werden.28 Diese, das Verfahren betreffende Tatsachen können die Wiederaufnahme begründen, wenn sie zur Einstellung des Verfahrens mit strafklageverbrauchender Wirkung führen.29 Mithin sind Tatsachen alle unmittelbaren und mittelbaren Umstände (Indizien), auf denen das Urteil beruht.30 Entscheidend ist, dass nur solche Tatsachen, die den Gegenstand der angefochtenen Entscheidung betreffen, vorgebracht werden können.31 Entsprechend zu den im Revisionsrecht relevanten Erfahrungssätzen können für das Wiederaufnahmerecht auch wissenschaftliche Tatsachen, wie etwa naturwissenschaftliche, psychologische und kriminologische Regeln, relevant werden.32 Auch ein Zivilurteil, das nach einem Strafurteil ergangen ist (mithin nicht den Wiederaufnahmegrund des § 359 Nr. 4 StPO begründen kann), kann über § 359 Nr. 5 StPO die Wiederaufnahme des Verfahrens ermöglichen. So z. B., wenn sich im Rahmen des Zivilverfahrens neue Tatsachen oder Beweismittel ergeben. Aber auch eine divergierende Beweiswürdigung stellt eine neue Tatsache dar.33 Keine Tatsachen i. S. d. § 359 Nr. 5 StPO sollen Rechtstatsachen darstellen.34 Unter den Begriff des Beweismittels i. S. d. § 359 Nr. 5 StPO fallen die förmlichen Beweismittel der StPO: Zeugen, Sachverständige, Urkunden und Augenschein.35 Aber auch der Antragsteller selbst kann in der Wiederaufnahme als Beweismittel fungieren.36 27  Es handelt sich insoweit um eine Ausnahme von der h. M., die Prozesstat­sachen grundsätzlich nicht als Tatsache i. S. d. § 359 Nr. 5 StPO anerkennt, vgl. KMREschelbach, § 359 / 138. 28  MG § 359 / 22; LR-Gössel, § 359 / 62; Junker / Armatage, Praxiswissen Strafverteidigung, Rn. 754; Peters, Fehlerquellen im Strafprozeß III, S. 57 f.; Hohmann, in: Miebach / Hohmann, Wiederaufnahme in Strafsachen, Teil  E, Rz. 70; Eisenberg, Beweisrecht der StPO, Rn. 437. 29  LR-Gössel, § 359 / 66 f. 30  HK-Temming, § 359 / 15. 31  LR-Gössel, § 359 / 73. 32  KMR-Eschelbach, § 359 / 130. 33  Peters, Fehlerquellen im Strafprozeß III, S. 53. A.  A. BGH wistra 1991, 30, 31; MG § 359 / 25. 34  BGHSt 51, 202, 208; OLG Zweibrücken wistra 2009, 488; MG § 359 / 24; LR-Gössel, § 359 / 78; a. A. Peters, Fehlerquellen im Strafprozeß III, S. 63 ff.



A. Wiederaufnahmegrund § 359 Nr. 5 StPO377

Beim personalen Beweismittel ist die Auskunftsperson das Beweismittel, nicht ihre Erklärung.37 Frister geht davon aus, dass die Formulierung des § 359 Nr. 5 StPO keine zwei Wiederaufnahmealternativen umschreibt, sonden einen einheitlichen Wiederaufnahmegrund. Die gesetzliche Formulierung der „Tatsachen oder Beweismittel“ sei lediglich eine Umschreibung neuer Erkenntnisse. Grund hierfür sei, dass die tatsächlichen Urteilsfeststellungen nicht auf Tatsachen oder Beweismitteln, sondern auf offenkundigen Umständen und den Ergebnissen der Beweisaufnahmen, beruhen. Demnach würden sich auch neue Erkenntnisse aus Ergebnissen einer Beweiserhebung, offenkundigen Tatsachen oder Erfahrungssätzen ergeben. Tatsachen oder Beweismittel seien demnach nichts anderes, als ein neues Beweisergebnis.38 Dem kann angesichts der eindeutigen Gesetzesformulierung des § 359 Nr. 5 StPO nicht zugestimmt werden. Da der Gesetzeswortlaut die äußerste Grenze der Gesetzesauslegung ist, ist Frister zu widersprechen und davon ausgehen, dass § 359 Nr. 5 StPO zwei Wiederaufnahmealternativen beinhaltet.

III. Neuheit Nur neue Tatsachen und Beweismittel ermöglichen eine Wiederaufnahme. Die Neuheit ist demnach Zulässigkeitsvoraussetzung.39 Bereits von Schwarze, Mitglied und Referent der Reichstagsjustizkommission, bemerkte wenige Monate nach Bekanntmachung der RStPO: „Über die Bedeutung des Erfordernisses ‚neu‘ herrschen in der Literatur und in der Gesetzgebung die verschiedensten Ansichten.“40 35  Teilweise wird vertreten, dass der Beweismittelbegriff des § 368 Abs. 1 StPO weiter zu verstehen sei und jeden Beleg für das Vorbringen umfasse. Die ganz h. M. beschränkt sich jedoch auf die Beweismittel i. S. d. Strengbeweises, vgl. Gorka, in: Miebach / Hohmann, Wiederaufnahme in Strafsachen, Teil D, Rz. 259 f. 36  A. A. LR-Gössel, § 359 / 82, der den Antragsteller nur als Beweismittel i. S. d. § 368 StPO zulassen will, vgl. LR-Gössel, § 368 / 21; MG § 359 / 26; KK-Schmidt, § 359 / 23; HK-Temming, § 359 / 16; OLG Karlsruhe NJW 1958, 1247; wie hier: Wasserburg, Die Wiederaufnahme des Strafverfahrens, S. 316. 37  HK-Temming, § 359 / 16; KMR-Eschelbach, § 359 / 150; Hohmann, in: Miebach / Hohmann, Wiederaufnahme in Strafsachen, Teil E, Rz. 75. LR-Gössel, § 359 / 84 geht demgegenüber davon aus, dass nicht die Person und auch nicht der Erklärungsinhalt das Beweismittel ist, sondern erst die Einheit von Beweisträger und Beweis­ inhalt. 38  SK-Frister, § 359 / 35 f. 39  OLG Jena, Beschluss vom 02.04.2013, Az. 1 Ws 391 / 12, in: BeckRS 2013, 14412. 40  Zitiert nach J. Meyer, JZ 1968, 7.

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Teil 3: Betrachtung des Anwendungsdefizits des § 359 Nr. 5 StPO

Schon vor der RStPO fand sich in den Partikularrechtsordnungen vor 1877 der Begriff der Neuheit. In Art. 471 der Württembergischen StPO von 1868 heißt es dazu: „Ein Verurtheilter kann die Wiederaufnahme eines durch rechtskräftiges Urteil beendigten Strafverfahrens beantragen, wenn in dem früheren Verfahren nicht vorgebrachte oder erhobene Thatsachen oder Beweismittel bezeichnet werden, welche für sich allein oder in Verbindung mit früher gewürdigten die Freisprechung des Verurtheilten von der ihm zur Last gelegten That oder in Betreff einen höheren Strafgrad begründender Umstände derselben herbeizuführen geeignet sind.“41

Nicht neu soll sein, was bereits Gegenstand der Entscheidung geworden ist, weil es dem Gericht bekannt war und für die Entscheidungsfindung herangezogen wurde.42 Damit stellt sich zunächst die Frage, auf wessen Kenntnis für die Beurteilung der Neuheit abzustellen ist. In Betracht kommen hierfür die Berufsrichter, sämtliche zur Entscheidung berufenen Richter inklusive der Schöffen oder sämtliche Verfahrensbeteiligte, mithin auch Staatsanwaltschaft, Verteidigung und Angeklagter. Die Neuheit des Sachvortrags beurteilt sich richtigerweise einzig danach, was das zur Entscheidung seinerzeit berufene Gericht – als gesamter Spruchkörper – in der getroffenen Entscheidung berücksichtigt hatte. Auch Umstände, die nur einzelnen Mitgliedern des Gerichts nicht bekannt waren, können daher als neu vorgebracht werden.43 Weiter stellt sich die Frage, welcher Zeitpunkt für die Beurteilung der Neuheit maßgeblich ist. Vertreten wird, dass der Erlass der Entscheidung, bei kollegialgerichtlichen Entscheidungen der Abschluss der Urteilsberatung entscheidend ist.44 Wiederum von anderer Seite wird der Abschluss der mündlichen Verhandlung als relevant erachtet.45 Die der Entscheidung voran41  Zitiert nach Theobald, Barrieren im strafrechtlichen Wiederaufnahmeverfahren, S. 90. 42  LG Karlsruhe NStZ-RR 2013, 55. LR-Gössel, § 359 / 97. 43  OLG Hamm GA 1957, 90; LR-Gössel, § 359 / 91; Hohmann, in: Miebach / Hohmann, Wiederaufnahme in Strafsachen, Teil E, Rz. 76. 44  OLG Hamm GA 1957, 90; OLG Stuttgart NStZ-RR 2012, 290, 291; MG § 359 / 28 und 30; KMR-Eschelbach, § 359 / 153. Bei Strafbefehlen und Beschlüssen, die ohne mündliche Verhandlung nach Aktenlage ergehen, wird insoweit auf die „Aktenneuheit“ (vgl. MG § 359 / 28; KK-Schmidt, § 359 / 24; LR-Gössel, § 359 / 90a; Peters, Fehlerquellen im Strafprozeß III, S. 76) abgestellt. Es müssen auch hier solche Umstände als neu beurteilt werden, die zwar zum Zeitpunkt der Entscheidung bereits in der Akte befindlich, jedoch nicht berücksichtigt waren (vgl. Noak, JA 2005, 539, 542). Trotz praktischer Beweisprobleme besteht dennoch kein Anlass, bei Entscheidungen nach Aktenlage auf ein anderes Verständnis der Neuheit abzustellen (vgl. Marxen / Tiemann, Die Wiederaufnahme in Strafsachen, Rn. 179). 45  So etwa LG Gießen NJW 465, 466; LG Stuttgart StV 2003, 233, 234; Peters, Fehlerquellen im Strafprozeß III, S. 77; Wasserburg, Die Wiederaufnahme des Straf-



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gestellte Beratung kann jedoch Umstände berücksichtigen, die erst im Rahmen der Beratung herangezogen wurden. Zwar handelt es sich in diesem Fall um einen Verstoß gegen das Mündlichkeits- und Unmittelbarkeitsprinzip des § 261 StPO, doch wurden die Umstände im Rahmen der Entscheidung berücksichtigt und sind daher nicht mehr neu nach dem wiederaufnahmerechtlichen Verständnis. Derartige auf § 261 StPO beruhende Rechtsfehler können und sollen nicht durch Entscheidungen der Wiederaufnahmegerichte korrigiert werden.46 Richtigerweise ist jedoch nicht auf einen konkreten Zeitpunkt abzustellen, sondern vielmehr darauf, ob eine Tatsache oder ein Beweismittel tatsächlich berücksichtigt wurde.47 So billigte bereits der Gesetzgeber der RStPO im Zusammenhang mit § 399 Nr. 5 RStPO die Verwerfung des Antrags als unzulässig, wenn die darin aufgeführten Tatsachen oder Beweismittel nach Aktenlage bereits im vorangegangenen Verfahren gewürdigt wurden.48 Auch nach Auffassung des Bundesverfassungsgerichts49, zuletzt betont durch Beschluss vom 31.07.2014, sind solche Tatsachen oder Beweismittel neu, die das erkennende Gericht bei Erlass der angefochtenen Entscheidung nicht berücksichtigt hat, auch wenn dies möglich gewesen wäre: „[A]ls Tatsachen im wiederaufnahmerechtlichen Sinne [sind] alle als existierend feststellbaren Vorgänge oder Zustände zu verstehen […], die der Gegenwart oder der Vergangenheit zugehören. Ob eine derartige Tatsache im wiederaufnahmerechtlichen Sinne neu ist, beurteilt sich allein danach, ob das Gericht sie bereits bei der Urteilsfindung verwertet hat. Neu ist damit grundsätzlich alles, was der Überzeugungsbildung des Gerichts nicht zugrunde gelegt worden ist, auch wenn es ihr hätte zugrunde gelegt werden können.“50

Wurde der im Wiederaufnahmeverfahren geltend gemachte Umstand im Rahmen der Hauptverhandlung verwertet, ist er demnach nicht neu. Im Strafbefehlsverfahren hingegen ist – mangels Durchführung einer Hauptverhandverfahrens, S. 319; J. Meyer, JZ 1968, 7, 9; AK-Loos, § 359 / 49; Hohmann, in: Miebach / Hohmann, Wiederaufnahme in Strafsachen, Teil E, Rz. 76. 46  OLG Hamm GA 1957, 90 f.; LR-Gössel, § 359 / 88, 94; J.  Meyer, JZ 1968, 7, 9; a. A. Wasserburg, Die Wiederaufnahme des Strafverfahrens, S. 308 und Peters, Fehlerquellen im Strafprozeß III, S. 77. 47  LR-Gössel, § 359 / 88. 48  Hahn, Materialien zur RStPO, Band 1, S. 267. 49  BVerfG StV 2003, 225; BVerfG 2007, 207, 208; OLG Düsseldorf NJW 1987, 2030; OLG Frankfurt NJW 1978, 841. Auch solche Tatsachen sind neu, die zwar der Angeklagte kannte, aber (bewusst) nicht vorgebracht hatte, so OLG Düsseldorf NStZ 1993, 504, 505; OLG Frankfurt StV 1984, 17; MG § 359 / 30; Schmidt, in KK § 359 / 24. Bringt der Verurteilte derartige Umstände erst im Rahmen eines Wiederaufnahmeantrags vor, obliegt ihm jedoch eine erweiterte Darlegungslast, vgl. MG § 359 /  49a. 50  BVerfG NZV 2016, 45, 47.

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lung – zu fragen, ob der Umstand schon Gegenstand der Akte war.51 Im Übrigen kann das Aktenmaterial schon deshalb nicht ausschlaggebend sein, weil die Wiederaufnahme nicht an Feststellungen des Erstverfahrens gebunden ist, diese vielmehr im Wiederaufnahmeverfahren angegriffen werden. Hinzu kommt, dass die Wahrnehmung einer Tatsache ihrer Kenntnis vorausgeht. Aktenkundige Tatsachen wurden jedoch nicht zwangsläufig auch wahrgenommen.52 Damit ist nicht nur neu, was nachträglich bekannt geworden ist. Auch in den Akten befindliche Tatsachen oder Beweismittel können Wiederaufnahmeanträge rechtfertigen.53 Dies ergibt sich nicht zuletzt daraus, dass mitunter das verfestigte Erkenntnisbild nach Aktenlage, in der Hauptverhandlung oftmals nur noch manifestiert, aber nicht kritisch überprüft wurde, mithin nicht sämtliche Tatsachen in die Hauptverhandlung eingeführt wurden.54 Dass eine Tatsache oder ein Beweismittel neu ist, muss nach h. M. feststehen. Bloße Zweifel sollen insoweit nicht ausreichen.55 Da es sich um eine Zulässigkeitsvoraussetzung handelt, soll der Grundsatz des in dubio pro reo nach h. M. keine Anwendung finden.56 Der Verurteilte soll die Darlegungsund Beweislast für die Neuheit der von ihm vorgetragener Umstände auch dann tragen, wenn die Akten nicht mehr vorhanden sind.57 Um festzustellen, ob ein Umstand neu ist, ist das Wiederaufnahmegericht gehalten, notfalls im Freibeweisverfahren diese Neuheit aufzuklären.58 1. Neuheit von Tatsachen Neu sind damit jedenfalls solche Tatsachen, die dem Ausgangsgericht nicht bekannt waren, z. B. weil sie erst nach Urteilserlass eingetreten sind.59 Insbesondere Tatsachen, die nicht aktenkundig waren oder zum Gegenstand der Hauptverhandlung gemacht wurden und auch keinem anderen Verfahrensbeteiligten bekannt waren, sind daher – indiziell – als neu zu werten.60 51  BVerfG NJW 1993, 2735, 2736; BVerfG, Beschluss vom 19.07.2002, Az. 2 BvR 18 / 02, in: BeckRS 2002, 30273719; LG Karlsruhe NStZ-RR 2013, 55. 52  Theobald, Barrieren im strafrechtlichen Wiederaufnahmeverfahren, S. 28 f. 53  Geipel, in: Miebach / Hohmann, Wiederaufnahme in Strafsachen, Teil C, Rz. 12. 54  Wasserburg / Eschelbach, GA 2003, 335, 347. 55  OLG Jena, Beschluss vom 02.04.2013, Az. 1 Ws 391 / 12, in: BeckRS 2013, 14412. 56  Theobald, Barrieren im strafrechtlichen Wiederaufnahmeverfahren, S. 28; Peters, Fehlerquellen im Strafprozeß III, S. 82. 57  LG Karlsruhe NStZ-RR 2013, 55. 58  BVerfG NZV 2016, 45, 47. 59  KK-Schmidt, § 359 / 24. 60  Unerheblich ist, ob dem Verurteilten die Tatsache bereits bekannt war (SSWKaspar, § 359 / 25). Nicht vertretbar ist auch eine von einer Mindermeinung (KK-



A. Wiederaufnahmegrund § 359 Nr. 5 StPO381

Das Gericht kennt nur solche Tatsachen, die es wahrgenommen hat.61 Die Wahrnehmung einer Tatsache durch das Gericht kann aber bspw. an Überhören oder Überlesen scheitern. Ebenfalls neu sind Tatsachen, die das Gericht zwar kannte, die es aber zum Zeitpunkt der Entscheidung nicht mehr präsent hatte, etwa weil die Tatsache bis zum Zeitpunkt der Entscheidung wieder in Vergessenheit geraten ist.62 Nicht neu sind falsch gewürdigte Tatsachen, die das Gericht richtig wahrgenommen und damit auch berücksichtigt hat. Derartige Fehler im Rahmen der Beweiswürdigung können – wenn auch nur in engen Grenzen – ausschließlich im Revisionsverfahren als Rechtsverstoß gegen § 261 StPO angegriffen werden.63 Hat das Gericht eine bekannte Tatsache unberücksichtigt gelassen, z. B. weil es deren Entscheidungserheblichkeit verkannt hat, ist die Tatsache neu.64 Entscheidend ist damit, ob das Gericht eine Tatsache im Rahmen des § 261 StPO berücksichtigt hat oder nicht.65 Während die Feststellung der Neuheit mit der ursprünglich vom Gesetzgeber festgelegten Zuständigkeit des iudex a quo aus eigener Kenntnis beurteilt werden konnte, hat das Wiederaufnahmegericht keine eigene Kenntnis, solange die ursprüngliche Hauptverhandlung nicht lückenlos dokumentiert wird.66 Ob das Gericht Kenntnis hatte oder nicht, ist mithin anhand der Urteilsgründe und dem Hauptverhandlungsprotokoll zu rekonstruieren.67 Ergänzend und indiziell sollen aber auch die Akten herangezogen werden können.68 Erwogen wird sogar, zur Frage der Neuheit im Wege des Freibeweises Ermittlungen anzustellen.69 Dies erscheint im Hinblick auf § 23 Abs. 2 StPO bedenklich, wie auch die Feststellung problematisch ist, welche Tatsachen vom Gericht tatsächlich Schmidt, § 368 / 8) angenommene Vermutung dahingehend, dass der Verurteilte ihm bekannte Tatsachen vorgebracht hat, vgl. SSW-Kaspar, § 359 / 25 und LR-Gössel, § 368 / 16. 61  OLG Düsseldorf NJW 1987, 2030; OLG Frankfurt NJW 1978, 841; LR-Gössel, § 359 / 97; SK-Frister, § 359 / 46 f. 62  OLG Frankfurt NJW 1978, 841; LR-Gössel, § 359 / 97. 63  LR-Gössel, § 359 / 94. Theobald, Barrieren im strafrechtlichen Wiederaufnahmeverfahren, S. 29. 64  OLG Frankfurt NJW 1978, 841. KK-Schmidt, § 359 / 24; Theobald, Barrieren im strafrechtlichen Wiederaufnahmeverfahren, S. 29. A. A. AnwK-Rotsch, § 359 / 27. 65  So auch Theobald, Barrieren im strafrechtlichen Wiederaufnahmeverfahren, S. 29. 66  KMR-Eschelbach, Vor § 359 / 32. 67  SSW-Kaspar, § 359 / 25; AK-Loos, § 368 / 10. 68  AK-Loos, § 368 / 10. 69  AK-Loos, § 368 / 10.

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Teil 3: Betrachtung des Anwendungsdefizits des § 359 Nr. 5 StPO

berücksichtigt worden waren. So könnte sich etwa aus dem Gesamtzusammenhang der Urteilsgründe ergeben, dass auch solche Tatsachen berücksichtigt worden waren, die in den Urteilsgründen nicht explizit angesprochen worden sind.70 Vor dem Hintergrund der Verpflichtung aus § 267 StPO erscheint es jedoch konsequent, Tatsachen, die in den Urteilsgründen keine Erwähnung finden, als neu zu betrachten.71 Diesem Gedanken entsprechend hat die Rechtsprechung in Strafbefehlsverfahren bereits anerkannt, dass der Geeignetheit der Angaben eines Zeugen nicht per se entgegensteht, dass die richterlichen Niederschriften über die Angaben des Belastungszeugen in der Hauptverhandlung verloren gegangen sind; vielmehr sei in diesem Fall die Eignung anhand der in den schriftlichen Urteilsgründen enthaltenen Angaben zu prüfen.72 Schließlich können auch Mängel eines Sachverständigengutachtens im Rahmen des § 359 Nr. 5 StPO Relevanz erlangen. Kommt der bereits als Beweismittel benutzte Sachverständige zu einem abweichenden Ergebnis, handelt es sich bei seinen neuen Erkenntnissen um neue Tatsachen.73 Wäre das Gericht zur Vernehmung eines (weiteren) Sachverständigen verpflichtet gewesen, weil das Gutachten des präsenten Sachverständigen Mängel gem. § 244 Abs. 4 StPO aufwies, ist für die Beurteilung der Neuheit des nunmehr vorgebrachten Gutachtensergebnisses i. S. e. Tatsache entscheidend, ob diese der ursprünglich angenommenen ihre Grundlage jedenfalls teilweise entzieht.74 Auch neue wissenschaftliche Erkenntnisse sollten unter Gerechtigkeitserwägungen als neue Tatsachen der Wiederaufnahme zugänglich sein.75 Zwar können Erkenntnisse eines entsprechenden Sachverständigengutachtens als neue Tatsache präsentiert werden oder der Sachverständige seinerseits als neues Beweismittel. Ein zwingender Grund, weshalb die im Gutachten enthaltenen wissenschaftlichen Erkenntnisse nicht bereits für sich die Wiederaufnahme begründen können sollen, ist jedoch nicht ersichtlich. Denn auch in Fällen neuer wissenschaftlicher Erkenntnisse muss der Staat ein Interesse daran haben, eine Fehlentscheidung zu korrigieren.

70  BGHSt 35, 357, 361; BGH 37, 21, 27; BGHSt 41, 6 f.; BGHSt 43, 381, 391; BGHSt 46, 36, 46; BGHSt 46, 339, 345; BGHSt 48, 34, 37. 71  Demgegenüber nimmt LR-Gössel, § 359 / 97 an, dass die negative Berücksichtigung einer Tatsache als für die Feststellungen unerheblich ihre Neuheit ausschließt. 72  LG Karlsruhe NStZ-RR 2013, 55; OLG Frankfurt a. M. StV 1984, 17. 73  SSW-Kaspar, § 359 / 29. 74  OLG Frankfurt, StraFo 2006, 114, 115; OLG Braunschweig GA 1956, 266, 267; KK-Schmidt, § 359 / 27; Schwenn, StV 2010, 705, 707. 75  Wasserburg, Die Wiederaufnahme des Strafverfahrens, S. 310; Hanack / Gerlach / Wahle, Denkschrift zur Reform des Rechtsmittelrechts und der Wiederaufnahme, S. 76.



A. Wiederaufnahmegrund § 359 Nr. 5 StPO383

2. Spiegelbildtheorie Fraglich ist, ob Tatsachen, die das denknotwendige Gegenteil einer bereits festgestellten Tatsache darstellen, neu i. S. d. § 359 Nr. 5 StPO sind. So wird vertreten, dass das unmittelbare Gegenteil einer festgestellten Tatsache vom Gericht bereits notwendigerweise berücksichtigt worden sein muss, wobei nur diametral Entgegenstehendes ausgesondert würde.76 Nicht per se als neu ausgeschlossen sollen jedoch stets solche Tatsachen sein, die erst durch eine Schlussfolgerung das Gegenteil einer festgestellten Tatsache begründen.77 Einer Tatsache fehlt dabei nicht allein deshalb die Eigenschaft der Neuheit, weil ihr spiegelbildliches Gegenteil im Urteil festgestellt ist.78 Die Feststellung einer Tatsache impliziert zwar den Ausschluss ihres Gegenteils, doch besagt allein dies nichts darüber, ob sich das Gericht über das Gegenteil der Tatsache als realen Umstand – und nicht nur als hypothetische Möglichkeit – Gedanken gemacht hat.79 Andernfalls wäre jede tatrichterliche „Feststellung“ unumkehrbar in Stein gemeißelt, weil der Beweis des Gegenteils unter Berufung auf die angeblich fehlende Novität der gegenteiligen Tatsache stets als unzulässig anzusehen wäre. Dass dieser Ansatz nicht richtig sein kann, liegt auf der Hand. Richtigerweise ist es jederzeit möglich, vom Gericht unberücksichtigte Tatsachen vorzubringen, die das Gegenteil der Urteilsfeststellungen ergeben. Nur soweit es denknotwendig80 ist, dass sich das Gericht auch tatsächlich mit dem Gegenteil der von ihm festgestellten Tatsache befasst hat, erscheint überzeugend, dass die bloße Behauptung einer gegenteiligen Annahme keine neue Tatsache im Sinne des § 359 Nr. 5 StPO darstellt. Daraus folgt jedoch nach ganz einhelliger Meinung: Wird das Gegenteil der im Urteil festgestellten Tatsachen durch bisher nicht berücksichtigte Tatsachen substantiiert vorgetragen oder musste sich das Tatgericht bei seiner Entscheidung nicht denknotwendig auch mit der gegenteiligen Annahme befassen, liegen neue Tatsachen im Wiederaufnahmeverfahren vor, die das Wiederaufnahmegericht zu berücksichtigen hat.81 Hat das Gericht etwa festgestellt, dass der Verur76  BGH NStZ 2000, 218; OLG Karlsruhe NJW 1958, 1247; LR-Gössel, § 359 /  100; SSW-Kaspar, § 359 / 26; Peters, Fehlerquellen im Strafprozeß III, S. 79. 77  BGH NStZ 2000, 218. 78  OLG Frankfurt NJW 1978, 841; MG § 359 / 31; KK-Schmidt, § 359 / 24. A. A. OLG Karlsruhe NJW 1958, 1247 und Eisenberg, JR 2007, 360, 362. 79  OLG Frankfurt NJW 1978, 841; KK-Schmidt, § 359 / 24; Wasserburg, Die Wiederaufnahme des Strafverfahrens, S. 320. 80  LR-Gössel, § 359 / 100; Peters, Fehlerquellen im Strafprozeß III, S. 79. 81  BGH NStZ 2000, 218; LG Gießen NJW 1994, 465, 46; OLG Frankfurt NJW 1978, 841; LR-Gössel, § 359 / 101 ff.; MG § 359 / 31; KK-Schmidt, § 359 / 24.

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Teil 3: Betrachtung des Anwendungsdefizits des § 359 Nr. 5 StPO

teilte die Tat mittels eines Hammers begangen hat, und bringt der Verurteilte im Wiederaufnahmeverfahren vor, er besaß einen solchen nie, ist offen, ob sich das Gericht mit diesem Gegenteil auseinandergesetzt hat. Der Vortrag des Antragstellers ist damit neu und kann nicht unter Hinweis auf die Spiegelbildtheorie ausgeblendet werden. 3. Neuheit von Beweismitteln Auch für die Beurteilung der Neuheit eines Beweismittels kommt es allein darauf an, ob dieses zur Zeit des Erlasses der Entscheidung vom Gericht berücksichtigt worden war. Falls ein Beweismittel nicht berücksichtigt wurde, kann dies auf Unkenntnis seiner Existenz beruhen; gleichzeitig ist auch ein bekanntes, doch nicht benutztes Beweismittel neu i. S. d. § 359 Nr. 5 StPO.82 Dies gilt aber nicht für Beweismittel, die durch einen abgelehnten Beweis­ antrag bekannt geworden sind. Diese waren dem Gericht bekannt, können mithin nicht neu sein.83 Wichtiges Indiz für die Neuheit dürfte sein, dass das Beweismittel nicht in die Hauptverhandlung eingeführt wurde. Dies auszumachen ermöglichen das Hauptverhandlungsprotokoll und die schriftlichen Urteilsgründe. Die Neuheit eines Beweismittels ergibt sich damit insbesondere aus der Sitzungsniederschrift, für die die Beweisvermutung des § 274 StPO gilt.84 Neu sind aber auch solche Beweismittel, die das Gericht in die Hauptverhandlung eingeführt hat, derer es sich zum Zeitpunkt des Erlasses der Entscheidung jedoch nicht mehr bewusst war.85 Wie Tatsachen sind auch solche Beweismittel, die zwar nicht in die Hauptverhandlung eingeführt, jedoch bei der Entscheidung berücksichtigt und trotz Verstoßes gegen § 261 StPO auch verwertet wurden, nicht neu. Der Rechtsverstoß gegen § 261 StPO ist im Rahmen der §§ 359 ff. StPO unbeachtlich.86 Ein Zeuge ist im Regelfall neu, wenn er in der Hauptverhandlung nicht gehört wurde.87 Auch Zeugen, die zunächst die Aussage verweigert hatten, 82  MG § 359 / 32; LR-Gössel, § 359 / 106; a. A. LG Karlsruhe NStZ 2003, 108 f.; OLG Düsseldorf NStZ-RR 2014, 22. 83  KMR-Eschelbach, § 359 / 152, aber str. 84  Theobald, Barrieren im strafrechtlichen Wiederaufnahmeverfahren, S. 30; v. Stackelberg, in: Festgabe Peters, S. 455. Insoweit nur auf die Beweiskraft des Sitzungsprotokolls gem. § 274 StPO abstellend MG § 368 / 6. 85  Marxen / Tiemann, Die Wiederaufnahme in Strafsachen, Rn. 187. 86  Marxen / Tiemann, Die Wiederaufnahme in Strafsachen, Rn. 187. 87  Etwa weil er nicht erreichbar war oder nicht geladen war, die Aussage verweigerte, ein auf Vernehmung des Zeugen gerichteter Beweisantrag abgelehnt wurde,



A. Wiederaufnahmegrund § 359 Nr. 5 StPO385

sind neue Beweismittel.88 Eine Ausnahme soll gelten, wenn die Aussage des zunächst die Aussage verweigernden, nunmehr aussagebereiten Zeugen durch die Vernehmung der Verhörsperson in die Hauptverhandlung eingeführt wurde.89 Problematisch bleibt, ob ein Zeuge auch dann neues Beweismittel ist, wenn er bereits vernommen wurde, jedoch im Wiederaufnahmeantrag zu einem neuen Beweisthema angegeben wird. Dies bejaht die h. M.90 unter Verstoß gegen dogmatische Grundlagen. Der Zeuge wurde bereits als Beweismittel berücksichtigt. In der Konsequenz ist der Zeuge daher kein neues Beweismittel mehr, so dass vorzugswürdiger erscheint, auf die Aussage selbst abzustellen und deren Inhalte als neue Tatsachen zu bewerten. Es besteht keine Notwendigkeit, den Zeugen aufgrund seiner Aussage zu einem anderen Beweisthema als anderes Beweismittel anzusehen.91 Frühere Mitangeklagte, die im Wiederaufnahmeantrag als Zeugen benannt werden, sind zweifelsohne ebenso neue Beweismittel.92 Auch ein noch nicht gehörter Sachverständiger ist ein neues Beweismittel.93 Welchen Wert ein im Rahmen des Wiederaufnahmeantrags vorgelegtes Gutachten hat, wird frühestens im Rahmen der Probation beurteilt, im Regeloder auf die Vernehmung im allseitigen Einverständnis verzichtet wurde (wobei den Antragsteller im letztgenannten Fall eine erweiterte Darlegungslast trifft, vgl. OLG Köln NJW 1963, 967, 968). 88  KG NStZ 2014, 670, 671; OLG Koblenz NStZ-RR 2005, 272, 273; MG § 359 / 33; KK-Schmidt, § 359 / 29; Peters, Fehlerquellen im Strafprozeß III, S. 77. 89  OLG Celle, Beschluss vom 29.08.2012, Az. 2 Ws 130 / 12, in: BeckRS 2012, 19758 unter Hinweis darauf, dass dem fehlenden unmittelbaren Eindruck des Tatgerichts und dem damit einhergehenden geringeren Beweiswert einer solchen Aussage im Rahmen der Beweiswürdigung Rechnung zu tragen sei, aber nicht dazu führen könne, dass das Beweismittel neu sei. A. A. KMR-Eschelbach, § 359 / 171; SK-Frister, § 359 / 43. 90  MG § 359 / 33; KK-Schmidt, § 359 / 29; LR-Gössel, § 359 / 110; a. A. HKTemming, § 359 / 19 f. und KMR-Eschelbach, § 359 / 172, die insoweit von einer neuen Tatsache ausgehen. 91  So auch SSW-Kaspar, § 359 / 30. 92  LR-Gössel, § 359 / 111; SSW-Kaspar, § 359 / 30. A. A. MG § 359 / 33; KKSchmidt, § 359 / 29. 93  Missverständlich insoweit BGH NJW 1993, 1481, 1483, als ein weiterer Sachverständiger grds. kein neues Beweismittel sei. A.  A. als hier: LR-Gössel, § 359 / 118 f. Gössel, stellt für die Beurteilung der Neuheit des Sachverständigenbeweises nicht auf den Gutachter als Beweisträger ab, sondern auf die Verbindung zwischen dem Beweisträger und dem Beweisinhalt, mithin auf das Gutachten. Demnach ist ein neues Gutachten eines bereits vernommenen Sachverständigen ein neues Beweismittel. Aber auch nicht oder fehlerhaft wahrgenommene Gutachten, Gutachten, die auf neue Anknüpfungstatsachen abstellen oder die Unrichtigkeit der bisher angenommenen Anknüpfungstatsachen belegen.

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fall erst im Erneuerungsverfahren.94 Kernproblem der Zulässigkeitsentscheidung dürfte demnach nicht die Neuheit des Sachverständigengutachtens, sondern vielmehr dessen Geeignetheit sein. Diese ist anzunehmen, wenn die Voraussetzungen des § 244 Abs. 4 S. 2 HS 2 StPO vorliegen.95 Der Sachverständige kann jedoch nicht als neues und v. a. geeignetes Beweismittel dergestalt präsentiert werden, dass er aufgrund derselben Anknüpfungstatsachen zu anderen Schlussfolgerungen komme (dann liegen jedoch neue, wenngleich ungeeignete Tatsachen vor, s. o.)96 bzw. ohne über überlegene Forschungs­ methoden oder größere Sachkunde zu verfügen.97 Insoweit ist § 244 Abs. 4 S. 2 StPO entsprechend anzuwenden.98 Neues, geeignetes Beweismittel ist er, wenn er einem anderen Fachgebiet angehört oder über überlegene Forschungsmittel oder neue wissenschaftliche Erkenntnisse verfügt.99 Kein neues Beweismittel ist ein Sachverständigengutachten, wenn das Gericht bei seiner Entscheidung die Erholung eines Gutachtens unter Hinweis auf die eigene Sachkunde abgelehnt hatte und in nachvollziehbarer Weise sein Bewertungsergebnis aufgrund der eigenen Sachkunde detailliert dargelegt hat.100 Als geeignet ist ein neues Sachverständigengutachten demnach dann anzusehen, wenn der vormalige Sachverständige von unzutreffenden tatsäch­ lichen Voraussetzungen ausgegangen ist, den früheren Anknüpfungstatsachen neue hinzugetreten sind oder die bisherigen teilweise entfallen sind. Darüber hinaus, wenn der Sachverständige überlegene Forschungsmittel hat, einem anderen Fachgebiet angehört, größeres Erfahrungswissen hat oder sich das 94  Putzke,

ZAP 2015, 279. § 359 / 174; Wasserburg, Die Wiederaufnahme des Strafverfahrens, S. 312. 96  BGH NJW 1993, 1481, 1483; KG NJW 1991, 2505, 2507; LG Gießen NJW 1994, 465, 467; MG § 359 / 35; KK-Schmidt, § 359 / 26; a. A. Peters, Fehlerquellen im Strafprozeß III, S. 74 und LR-Gössel, § 359 / 119. In diesem Fall ist vielmehr entsprechend § 244 Abs. 4 S. 2 HS 2 StPO erforderlich, dass die Sachkunde des früheren Gutachters als unzureichend offenbar wird, der Gutachter von unzureichenden Anknüpfungstatsachen ausging oder widersprüchlich war, vgl. KK-Schmidt, § 359 / 26. 97  Ablehnend BGH NJW 1993, 1481, 1483; a. A. auch Wasserburg, Die Wiederaufnahme des Strafverfahrens, S. 311 f., der ausführt, dass ein bislang noch nicht am Verfahren mitgewirkt habender Sachverständiger stets ein neues Beweismittel sein muss, das Gutachten als solches jedoch erst in der Erneuerungsverhandlung relevant werde. 98  LG Gießen NJW 1994, 465, 467. 99  OLG Düsseldorf NStZ 1987, 245; KG NJW 1991, 2505, 2507; OLG Hamm StraFo 2002, 168; KK-Schmidt, § 359 / 26. 100  LG Landshut, Beschluss vom 18.09.2013, Az. 3 Qs 154 / 13, in: BeckRS 2014, 07731; LG Stuttgart StraFo 2016, 74. 95  KMR-Eschelbach,



A. Wiederaufnahmegrund § 359 Nr. 5 StPO387

Erfahrungswissen durch neue wissenschaftliche Erkenntnisse verändert hat.101 In beiden Konstellationen genügt der Antragsteller seiner auch insoweit bestehenden erweiterten Darlegungslast nicht, wenn er lediglich behauptet, der neue Sachverständige werde zu anderen Schlussfolgerungen kommen oder verfüge über überlegene Forschungsmittel. Vielmehr müssen die konkreten Umstände, die diese Erwartung nähren, dargelegt werden.102 Ein Urkundsbeweis ist neu, wenn die Urkunde vom Gericht nicht als Beweismittel berücksichtigt wurde.103 Nicht neu sind solche Urkunden, die sich bei den Akten befunden haben, wenn sie zwar nicht in die Hauptverhandlung eingeführt, der Beweiswürdigung aber dennoch zugrunde gelegt wurden. Auch hier kommt es auf die ordnungsgemäße Einführung der Urkunde im Rahmen der Hauptverhandlung nicht an. Entscheidend ist lediglich, ob das Gericht die Urkunde als Beweismittel bei seiner Entscheidung berücksichtigt hat.104 Für die Wiederaufnahme ebenso unbeachtlich ist die richtige Wahrnehmung, doch fehlerhafte Würdigung einer Urkunde.105 Neu ist eine Urkunde hingegen, wenn das Gericht ihren Inhalt falsch wahrgenommen hat oder wenn die Urkunde einem Zeugen bislang nur vorgehalten wurde.106 Ein Augenscheinsobjekt ist neu, wenn bislang keine Inaugenscheinnahme erfolgte oder das Objekt des Augenscheins fehlerhaft wahrgenommen wurde.107 Es kommt für die Frage der Novität nicht darauf an, ob das Gericht bislang nicht in der Lage war oder keine Veranlassung sah, den Augenschein durchzuführen.108 Vielmehr handelt es sich dabei um Probleme der Geeignetheit.109 Die Fehlwahrnehmung führt zwar nicht zu einer neuen Tatsache, doch dazu, dass dieses ein neues Beweismittel wird. Denn die Konstellation, dass ein Beweis fehlerhaft erhoben wurde, begründet keinen normativen Unterschied gegenüber einem nicht erhobenen Beweis. In beiden Fällen 101  LR-Gössel, 102  Alexander,

§ 359 / 172. in: Miebach / Hohmann, Wiederaufnahme in Strafsachen, Teil  F,

Rz. 206. 103  Marxen / Tiemann, Die Wiederaufnahme in Strafsachen, Rn. 194. 104  SSW-Kaspar, § 359 / 31; OLG Stuttgart NStZ-RR 2012, 290. 105  LR-Gössel, § 359 / 108. 106  SSW-Kaspar, § 359 / 31; KMR-Eschelbach, § 359 / 176; Wasserburg, Die Wiederaufnahme des Strafverfahrens, S. 314; Marxen / Tiemann, Die Wiederaufnahme in Strafsachen, Rn. 194. 107  OLG Düsseldorf NStZ-RR 2014, 22; OLG Düsseldorf, Beschluss vom 30.09.2013, Az. III 2 Ws 456–457 / 13, in: BeckRS 2013, 17495. LR-Gössel, § 359 / 120 ff., Peters, Fehlerquellen im Strafprozeß III, S. 75 f.; a. A. KK-Schmidt, § 359 / 28. 108  J. Meyer, ZStW 84 (1972), 909, 932. 109  Marxen / Tiemann, Die Wiederaufnahme in Strafsachen, Rn. 197 m. w. N.

388

Teil 3: Betrachtung des Anwendungsdefizits des § 359 Nr. 5 StPO

seien dem Gericht tatsächliche Umstände unbekannt geblieben.110 Hatte das Gericht den Augenschein jedoch zulässigerweise gegen ein neues Beweismittel ersetzt, ist der Augenschein kein neues Beweismittel.111 Der Antragsteller ist dann gehalten, im Antrag auszuführen, welche neuen Tatsachen durch die Inaugenscheinnahme aufgefunden werden können.112 Und wieder begründet die rein fehlerhafte Würdigung eines richtig wahrgenommenen Augen­ scheinsobjektes keine Neuheit.113 4. Verbrauch ehemaligen Wiederaufnahmevorbringens Sofern eine Tatsache oder ein Beweismittel bereits in einem früheren Wiederaufnahmeantrag vorgetragen wurde, ist umstritten114, ob es in einem späteren Wiederaufnahmeantrag noch als novum vorgebracht werden kann.115 Es stellt sich mithin die Frage nach der formellen Rechtskraft einer Wiederaufnahmeentscheidung und ihrer Wirkung. Angesichts des Verständnisses, dass es für die Neuheit des Vortrags einzig auf den Zeitpunkt der Ausgangsentscheidung ankommt, müsste auch das Vorbringen aus einem früheren Antrag als neu gewertet werden.116 Gleichwohl stellt sich die Frage, ob Antragsvorbringen aus einem früheren, verworfenen Wiederaufnahmeantrag als verbraucht gilt. Ohne, dass das Antragsvorbringen als verbraucht gilt, könnte der Antragsteller mit immer gleichem Vortrag Wiederaufnahmeanträge stellen, was zweifelsohne zu einer nicht unerheblichen Belastung der Justiz führen würde. Im Übrigen kann vom Antragsteller – wie auch von der Staatsanwaltschaft im Ausgangsverfahren – erwartet werden, dass sein Vortrag gewissenhaft geprüft und vorbereitet wird. Schließlich ist entscheidend, dass nur solche früheren Verwerfungsbeschlüsse in Rechtskraft erwachsen, die inhaltlich als Sachentscheidung zu qualifizieren sind117 und diese wiederum nur insoweit, 110  OLG

Düsseldorf NStZ-RR 2014, 22. § 359 / 36. 112  Wasserburg, Die Wiederaufnahme des Strafverfahrens, S. 313. 113  SSW-Kaspar, § 359 / 30. 114  Marxen / Tiemann, Die Wiederaufnahme in Strafsachen, Rn. 180; Peters, Fehlerquellen im Strafprozeß III, S. 80. 115  Unstreitig kann der Vortrag jedenfalls ergänzend zur Antragsbegründung he­ rangezogen werden. 116  LR-Gössel, § 359 / 89; Wasserburg, Die Wiederaufnahme des Strafverfahrens, S. 195; KMR-Eschelbach, § 359 / 152; Marxen / Tiemann, Die Wiederaufnahme in Strafsachen, Rn. 180. A. A. HansOLG Hamburg JR 2000, 380, 381. 117  Maßgeblich ist insoweit die Begründung des Verwerfungsbeschlusses gem. § 34 StPO. Der Verbrauch eines Vorbringens kann nur dann eintreten, wenn das Be111  MG



A. Wiederaufnahmegrund § 359 Nr. 5 StPO389

als der Sachvortrag für den Beschluss entscheidungserheblich war. Nicht erhebliches Vorbringen und solches, das unberücksichtigt blieb, gilt daher nicht als verbraucht.118 Waren die vom Antragsteller in seinem vormaligen Antrag vorgebrachten Umstände nicht entscheidungserheblich, etwa weil sich das Gericht mit diesen nur hilfsweise auseinandergesetzt hat, ist das Vorbringen nicht verbraucht.119 Es bestehen daher im Grundsatz keine Bedenken, bereits vorgebrachtes Wiederaufnahmematerial als verbraucht zu qualifizieren. Zugleich besteht keine Notwendigkeit für ein Einschreiten des Gesetzgebers. Ist ein Vorbingen, das in einem vorangegangenen (gescheiterten) Wiederaufnahmegesuch bereits angeführt worden war, durch die vormals ablehnende, rechtskräftige Sachentscheidung verbraucht, soll dies der Zulässigkeit eines erneuten Antrags entgegenstehen.120 Da zudem die Wiederaufnahme des Wiederaufnahmeverfahrens zum Zwecke der Beseitigung der nach Ablauf der Beschwerdefrist eingetretenen Rechtskraft unstatthaft ist, kann die Neuheit dieses Vorbringens nicht im Wege eines Wiederaufnahmeverfahrens gegen die Wiederaufnahmeentscheidung erstritten werden.121 Dies folgt bereits daraus, dass nach h. M. die Vorschriften des Wiederaufnahmerechts auf Beschlüsse – zu denen auch die Verwerfungsbeschlüsse im Aditions- und Probationsverfahren gehören – nicht anwendbar sein sollen.122 Als Sachentscheidung in diesem Sinn sollen bereits Entscheidungen im Aditionsverfahren zu verstehen sein.123 Demgegenüber betont Peters, eine Entscheidung im Aditionsverfahren besitze stets formalen Charakter, so dass beigebrachte Beweismittel nur im Probationsverfahren verbraucht würden.124 Auch wird vertreten, dass das Vorbringen nur dann verbraucht ist, wenn eine Beweisaufnahme stattgefunden hat.125 Da dies aber nur im Probationsverfahren der Fall ist, wird angenommen, dass bei Verwerfung eines Wiederaufnahmeantrags als unzulässig kein Verbrauch eintreten kann. weismittel i. S. d. § 368 Abs. 1 StPO nicht geeignet ist oder der Tatsachenvortrag für den geltend gemachten Wiederaufnahmegrund keine Bedeutung hat, vgl. SK-Frister, § 368 / 15. 118  LR-Gössel, § 372 / 22; MG § 372 / 9; Marxen / Tiemann, Die Wiederaufnahme in Strafsachen, Rn. 294; Alexander, in: Miebach / Hohmann, Wiederaufnahme in  Straf­ sachen, Teil F, Rz. 14. 119  Theobald, Barrieren im strafrechtlichen Wiederaufnahmeverfahren, S. 19. 120  KG Berlin, Beschluss vom 22.06.2000, Az. 2 AR 59 / 00  – 4 Ws 120 / 00, in: BeckRS 2014, 09652. Marxen / Tiemann, Die Wiederaufnahme in Strafsachen, Rn. 294; KMR-Eschelbach, Vor § 359 / 9. 121  OLG Hamburg NStZ-RR 2000, 50, 51. 122  OLG Hamburg NStZ-RR 2000, 50. 123  KK-Schmidt, § 368 / 20 und § 370 / 8; LR-Gössel, § 372 / 22; MG § 372 / 9. A. A. Peters, Fehlerquellen im Strafprozeß III, S. 137. 124  Peters, Fehlerquellen im Strafprozeß III, S. 80 und 137. 125  KK-Schmidt, § 370 / 8.

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Teil 3: Betrachtung des Anwendungsdefizits des § 359 Nr. 5 StPO

Kommt es für die Beurteilung der nova jedoch richtigerweise einzig darauf an, ob ein Umstand in der Ausgangsentscheidung verwertet wurde, müssen grundsätzlich auch bereits vorgetragene Umstände aus einem früheren, gescheiterten Antrag als neu zu werten sein.126 Hinzu kommt, dass der „Verbrauch“ eines bereits vorgetragenen Umstands als bloße Formalabwehr angesichts des Willkürverbots bedenklich erscheint.127 Wird das Antragsvorbringen nämlich bereits auf der Stufe des Aditionsverfahrens als unerheblich abgetan, entspricht dies einem Formfehler i. S. d. §§ 366, 368 Abs. 1 StPO, so dass lediglich formelle Rechtskraft eintritt, das Vorbringen jedoch nicht verbraucht ist.128 Verbraucht kann das Vorbringen eines Wiederaufnahmegesuchs demnach erst sein, wenn im Rahmen des Probationsverfahrens hierüber Beweis erhoben wurde. Das Vorbringen des Antragstellers im Zulässigkeitsverfahren wird lediglich abstrakt gewürdigt, die von ihm vorgebrachten Beweise werden erst mit ihrer Verwertung, d. h. nachdem die Beweisaufnahme erfolgte, ausgeschöpft. Die bloße Benennung eines Beweismittels kann demnach noch nicht ausreichen.129 Kann eine vermeintlich verbrauchte Tatsache jedoch mit einem neuen Beweismittel kombiniert werden, ist sie in jedem Fall wiederaufnahmerechtlich relevant.130 5. Zusammenfassung Wiederaufnahmerechtlich neu sind demnach solche Tatsachen und Beweismittel, die der erstinstanzlichen gerichtlichen Überzeugung gem. § 261 StPO nicht zugrunde gelegt wurden. Im Umkehrschluss sind solche Tatsachen und Beweismittel nicht neu, die das Gericht wahrgenommen, demnach gekannt hat und seiner Entscheidungsfindung auch zugrunde gelegt hat. Für die Neuheit ist folglich allein entscheidend der Umstand der tatsächlich nachvollziehbaren Kenntnisnahme.131 Im Rahmen der Untersuchung wurde mit den Gesprächspartnern auch über den Begriff der Novität diskutiert. Hier wurde erkennbar, dass zum Zwecke 126  A. A.

OLG Hamburg JR 2000, 380, 381. auch Wasserburg, ZStW 94 (1982), 914, 937. 128  KMR-Eschelbach, § 372 / 45. 129  So auch Peters, Fehlerquellen im Strafprozeß III, S. 80. 130  LR-Gössel, § 372 / 22; MG § 372 / 9; Marxen / Tiemann, Die Wiederaufnahme in Strafsachen, Rn. 295. Geipel, in: Miebach / Hohmann, Wiederaufnahme in Strafsachen, Teil C, Rz. 13. 131  LR-Gössel, § 359 / 97; Theobald, Barrieren im strafrechtlichen Wiederaufnahmeverfahren, S. 29. 127  Ablehnend



A. Wiederaufnahmegrund § 359 Nr. 5 StPO391

einer eindeutigen Rechtsanwendung der Begriff der Novität gesetzlich definiert werden sollte. Die Frage nach der Novität bereits eingeführter Beweismittel wird unter E. als Schwerpunkt der Untersuchung ausführlich erörtert.

IV. Geeignetheit Für einen zulässigen, auf § 359 Nr. 5 StPO gestützten Wiederaufnahmeantrag ist desweiteren gem. § 368 Abs. 1 StPO erforderlich, dass die neue Tatsache oder das neue Beweismittel geeignet sind, das angestrebte Wiederaufnahmeziel herbeizuführen. Der Antragsteller muss die Eignung der vorgebrachten neuen Tatsachen oder Beweismittel darlegen.132 Die Auslegung des § 359 Nr. 5 StPO wird als Hindernis für ein erfolgreiches Wiederaufnahmeverfahren vielfach kritisiert.133 § 359 Nr. 5 StPO dient mit seinen formellen und materiellen Abgrenzungskriterien nicht nur der Verwirklichung der materiellen Wahrheit, sondern schützt zugleich die Rechtskraft. So grenzen formelle Kriterien wie die Begriffe „Tatsachen“, „Beweismittel“ oder „Neuheit“ die Wiederaufnahme gegenüber bspw. Rechtsfehlern ab. Indem das Vorbringen zugleich erheblich sein soll, wird auch ein besonderes Gewicht des Tatsachenfehlers aus der angegriffenen Entscheidung verlangt, so dass nicht jeder Fehler eine Korrektur im Wege der Wiederaufnahme begründen kann.134 Aus Sicht der befragten Experten vermengt der Begriff der Geeignetheit die Prüfung der Zulässigkeit mit der Begründetheitsprüfung und führt mit einer von der Rspr. tolerierten Beweisantizipation zu einer Vorwegnahme der Hauptverhandlung. Damit würden an die Geeignetheit des Wiederaufnahmevorbringens in der Praxis übersteigerte Anforderungen gestellt werden. Um zu eruieren, ob dieser Vorwurf zutreffend ist, bedarf es zunächst einer Betrachtung des Geeignetheitselements. Über das Kriterium der Geeignetheit wird eine Beziehung zwischen dem neuen Vorbringen und dem früheren Beweisergebnis hergestellt.135 Der Begriff der Geeignetheit findet sich im Wiederaufnahmerecht in § 359 Nr. 5 StPO und § 368 Abs. 1 StPO. Unklar scheint zunächst, ob es sich dabei um zwei unterschiedliche Geeignetheitsbegriffe handelt, und zwar in der Weise, dass das Beweismittel in § 359 Nr. 5 StPO geeignet ist, wenn es das 132  OLG

Düsseldorf NStZ 1993, 504. hierzu oben S. 259 ff. 134  J. Meyer, Die Wiederaufnahme in rechtsvergleichender Darstellung, S. 814. 135  Peters, Strafprozeß, S. 639. 133  s.

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Teil 3: Betrachtung des Anwendungsdefizits des § 359 Nr. 5 StPO

Antragsvorbringen beweisen kann136, in § 368 StPO hingegen, wenn das angegriffene Urteil in Frage gestellt wird, mithin das Wiederaufnahmeziel greifbar steht.137 Zwischen dem Begriff der Eignung des § 368 Abs. 1 StPO und der Geeignetheit in § 359 Nr. 5 StPO ist tatsächlich zu unterscheiden138: Während erstere erfordert, dass das Beweismittel geeignet ist, die Beweisgrundlage der angefochtenen Entscheidung zu erschüttern, muss im Fall der § 359 Nr. 5 StPO der Umstand zugleich geeignet sein, eines der in § 359 Nr. 5 StPO aufgezählten Wiederaufnahmeziele herbeizuführen.139 So fehlt es an der Geeignetheit des Beweismittels i. S. d. § 368 Abs. 1 StPO, wenn dem Beweismittel der Charakter eines Beweismittels abgeht, die Benutzung des Beweismittels i. S. d. § 244 Abs. 3 S. 1 StPO unzulässig oder das Beweismittel unerreichbar oder völlig ungeeignet ist.140 § 368 StPO ist demnach gegenüber § 359 Nr. 5 StPO ein Weniger.141 Da jedoch die in § 359 Nr. 5 StPO normierten Wiederaufnahmeziele für alle Wiederaufnahmegründe gelten, besteht kein Anlass für eine weitergehende Differenzierung der Geeignetheitsbegriffe.142 Die Geeignetheit setzt – anders als die absoluten Wiederaufnahmegründe – voraus, dass die vorgetragenen neuen Tatsachen oder das neue Beweismittel ein neues Beweisergebnis143 erwarten lassen.144 Die Prüfung der Geeignetheit stellt damit eine in die Zulässigkeitsprüfung vorverlagerte Beruhensfrage dar.145 An der Hürde der Geeignetheit scheitern Wiederaufnahmeanträge re136  Wasserburg,

Die Wiederaufnahme des Strafverfahrens, S. 195. § 368 / 1. Eine andere Ansicht versteht die Differenzierung dahin, dass im Rahmen des § 359 Nr. 5 StPO das Beweismittel hinsichtlich des Wiederaufnahmeziels geeignet sein muss, während sich die Eignung i. S. d. § 368 StPO auf die allgemeine Geeignetheit eines Beweismittels i. S. d. § 244 Abs. 3 StPO beziehe, vgl. AnwK-Rotsch, § 368 / 5. 138  A. A. LR-Gössel, § 359 / 128; Peters, Fehlerquellen im Strafprozeß III, S. 135 f. Wie hier: MG § 368 / 7. 139  Wasserburg, Die Wiederaufnahme des Strafverfahrens, S. 323. 140  MG § 368 / 7; SK-Frister, § 368 / 11; HK-Temming, § 368 / 3 und 5; K.-H. Meyer, in: Festgabe Peters, S. 393; Gorka, in: Miebach / Hohmann, Wiederaufnahme in Strafsachen, Teil D, Rz. 273. 141  Peters, Fehlerquellen im Strafprozeß III, S. 136. 142  AnwK-Rotsch, § 368 / 5. 143  Es wird mithin eine neue Beweislage geschaffen, wohingegen etwa § 359 Nr. 2 StPO, bei dem es aufgrund der Vorschrift des § 364 StPO einer Eignung nicht bedarf, gegen die alte Beweislage gerichtet ist, vgl. hierzu Wasserburg, Die Wiederaufnahme des Strafverfahrens, S. 273. 144  Wasserburg, Die Wiederaufnahme des Strafverfahrens, S. 273. 145  KMR-Eschelbach, § 359 / 32. Im Rahmen von §§ 337, 338 StPO wird das Beruhen erst im Rahmen der Begründetheit geprüft. 137  AK-Loos,



A. Wiederaufnahmegrund § 359 Nr. 5 StPO393

gelmäßig.146 Sie ist der zentrale Prüfungspunkt der Zulässigkeitsprüfung und damit entscheidender Punkt für den Antragserfolg. 1. Prüfung der Geeignetheit Gesetzlich normiert sind die Anforderungen an den Geeignetheitsbegriff nicht. Das Vorbringen soll geeignet sein, wenn es erheblich ist und147 hinreichende Erfolgsaussichten hat.148 Die zweistufige Prüfung erfolgt auf der ersten Stufe der Erheblichkeit als Schlüssigkeitsprüfung allein anhand des Antragsinhalts, während im Rahmen der weiteren Prüfung auch der Akten­ inhalt einschließlich der Urteilsgründe zu einer objektivierbaren Prüfung herangezogen werden können.149 a) Erheblichkeit des Sachvortrags150 Erheblich ist das Vorbringen, wenn es sich, wie vom Antragsteller behauptet, überhaupt auf das von ihm begehrte Wiederaufnahmeziel auswirken kann, mithin eine Rechtsfolge des § 359 Nr. 5 StPO herbeiführen kann.151 Demnach handelt es sich um eine abstrakte Relevanzprüfung152, bei der die Richtigkeit des Vorbringens unterstellt wird und geprüft wird, ob der Vortrag gegenüber dem Urteil grundsätzlich erheblich ist.153 Im Rahmen dieser Schlüssigkeitsprüfung werden solche Vorträge geprüft, die sich – unabhängig davon, ob sie sich später als richtig und beweiskräftig herausstellen würden – in keinem Fall zugunsten des Verurteilten auswirken können, etwa weil sich aus dem Wiederaufnahmevorbringen bereits selbst 146  KMR-Eschelbach, § 359 / 180; HK-Temming, § 359 / 25; SSW-Kaspar, § 368 / 4; Theobald, Barrieren im strafrechtlichen Wiederaufnahmeverfahren, S. 30; AnwKRotsch, § 359 / 31. 147  So jedenfalls die h. M., vgl. SSW-Kaspar, § 368 / 4. 148  Entsprechend soll im Fall des § 362 Nr. 4 StPO die Glaubwürdigkeit des Geständnisses überprüft werden, indem neben dessen Erheblichkeit (ob die tragenden Entscheidungsgründe des Freispruchs damit torpediert werden) auch hinreichende Erfolgsaussicht (i. S. e. hinreichenden Tatverdachts) angenommen wird. Vgl. hierzu Marxen / Tiemann, Die Wiederaufnahme in Strafsachen, Rn. 318 f. 149  OLG Hamburg StraFo 2003, 430. 150  Bisweilen wird in diesem Zusammenhang auch von einer hypothetischen Schlüssigkeitsprüfung gesprochen, vgl. Marxen / Tiemann, Die Wiederaufnahme in Strafsachen, Rn. 201 unter Hinweis auf z. B. MG § 368 / 8. 151  SSW-Kaspar, § 359 / 33; Marxen / Tiemann, Die Wiederaufnahme in Strafsachen, Rn. 200. 152  HK-Temming, § 359 / 25. 153  AnwK-Rotsch, § 359 / 31.

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Teil 3: Betrachtung des Anwendungsdefizits des § 359 Nr. 5 StPO

ergibt, dass es offensichtlich unwahr oder etwa denkgesetzlich unmöglich ist.154 Erheblich soll das Wiederaufnahmevorbringen sein, wenn die neuen Tatsachen und Beweismittel geeignet sind, die den Schuldspruch tragenden tatsächlichen Feststellungen des Gerichts zu erschüttern.155 Als hypothetische Schlüssigkeitsprüfung wird das Antragsvorbringen geprüft, wobei unterstellt wird, dass die vorgetragengen Tatsachen richtig sind und die beigebrachten Beweismittel den ihnen zugedachten Erfolg haben werden.156 Dies müsse zwar nicht sicher, aber doch genügend wahrscheinlich sein. Ernste Gründe müssten für die Beseitigung des Urteils sprechen, wobei der Zweifelssatz keine Anwendung finden soll.157 Vereinfacht gesagt liegt Erheblichkeit dann vor, wenn das Ausgangsgericht den im Wiederaufnahmeantrag vorgebrachten Beweis hätte erheben müssen.158 Das Vorbringen des Antragstellers kann dabei unmittelbar erheblich159 oder aber mittelbar relevant160 sein.161 Jeweils abhängig vom Antragsziel beurteilt sich, gegenüber welchen Urteilspassagen der Vortrag erheblich sein muss.162 So ist etwa bei einem erstrebten Freispruch nicht ausreichend, die Täterschaft zu bestreiten163, vielmehr muss der Vortrag gegenüber den Feststellungen der angefochtenen Entscheidung dergestalt erheblich sein, dass bspw. nicht berücksichtigte Rechtfertigungs- oder Schuldausschließungsgründe, der Geständniswiderruf, der Widerruf einer belastenden Zeugenangabe oder belastende Angaben des ehemaligen Mitangeklagten vorgetragen werden. In jedem Fall muss der 154  MG

§ 368 / 8. Barrieren im strafrechtlichen Wiederaufnahmeverfahren, S.  30; Marxen / Tiemann, Die Wiederaufnahme in Strafsachen, Rn. 200. 156  BGHSt 17, 303, 304; OLG Frankfurt, Beschluss vom 29.01.2014, Az. 1 Ws 100 / 13, in: BeckRS 2014, 04640; MG § 368 / 8. 157  OLG Frankfurt a. M., Beschluss vom 29.01.2014, 1 Ws 100 / 13, in: BeckRS 2014, 04640. Ausführlich hierzu s. o. S. 330 ff. 158  SK-Frister, § 370 / 9. 159  Durch Vorbringen von Haupttatschen, die ohne Weiteres rechtsfolgenrelevant sind. 160  Dies bedeutet, dass ausgehend von einer Hilfstatsache auf die für die Rechtsfolgenseite unmittelbare Haupttatsache geschlossen werden kann. 161  LR-Gössel, § 359 / 125; Theobald, Barrieren im strafrechtlichen Wiederaufnahmeverfahren, S. 31; Marxen / Tiemann, Die Wiederaufnahme in Strafsachen, Rn. 203. 162  Marxen / Tiemann, Die Wiederaufnahme in Strafsachen, Rn. 205 ff. 163  Streng genommen wäre das Bestreiten der Täterschaft schon keine neue Tatsache, weil das denknotwendige Gegenteil einer festgestellten Tatsache nicht neu sein kann. 155  Theobald,



A. Wiederaufnahmegrund § 359 Nr. 5 StPO395

Verurteilte unter allen Gesichtspunkten durch das neue Vorbringen als Täter auszuschließen sein. Strebt der Antragsteller eine Strafmilderung an, muss durch seinen Vortrag ein vom Gericht angenommener Strafschärfungsgrund entfallen oder sich ein bislang unbekannter Strafmilderungsgrund ergeben. Beabsichtigt der Antragsteller, eine wesentlich andere Entscheidung über die Maßregel herbeizuführen, müssen die von ihm vorgetragenen Tatsachen oder Beweismittel zu einem Wegfall, zu einer wesentlichen Verkürzung oder jedenfalls zu einer Ersetzung der Maßregel durch eine mildere geeignet sein.164 b) Hinreichende Erfolgsaussicht des Sachvortrages Auf der zweiten Stufe wird die hinreichende Erfolgsaussicht des Sachvortrags beurteilt. Während der Prüfung der Erfolgsaussichten sollen erhebliche, aber dennoch nicht erfolgsversprechende Vorbringen ausgeschlossen werden. An dieser Stelle erfolgt demnach eine Beweisbarkeitsprognose165, für welche die Richtigkeit des Vorbringens wiederum unterstellt wird.166 Zu diesem Zwecke wird die Richtigkeit und Beweiskraft des Vorbringens nach vorläufiger Einschätzung i. S. e. Prognose thematisiert.167 In die von der h. M. befürworteten Prognose einzustellen sind die Urteilsgründe, der sonstige Akteninhalt und die Antragsbegründung.168 Zwar wird endgültig über die Richtigkeit und Beweiskraft des Vorbringens erst in der Erneuerungsverhandlung entschieden,169 ist aber bereits denkgesetzlich ausgeschlossen, dass das Vorbringen des Antragstellers richtig ist oder gar offensichtlich, dass es unrichtig ist, kann man keine hinreichende Erfolgsaussicht annehmen.170 Eine a. A. möchte die Erfolgsaussichten nicht prognostisch, sondern anhand aktueller Umstände danach beurteilen, ob gegenwärtig – d. h. zum Zeitpunkt der Prüfung der Zulässigkeitsvoraussetzungen – Anlass besteht, das Verfahren weiter zu betreiben.171 Diese Ansicht scheint vor dem Gesetzeswortlaut des § 359 Nr. 5 StPO („geeignet sind“) und dem Umstand, dass

164  SSW-Kaspar,

§ 359 / 33. § 368 / 14. 166  AnwK-Rotsch, § 359 / 31. 167  LR-Gössel, § 359 / 152a; Marxen / Tiemann, Die Wiederaufnahme in Strafsachen, Rn. 201. Der Begriff stimmt damit sachlich mit dem Begriff hinreichenden Tatverdachts überein, vgl. a. a. O. 168  Marxen / Tiemann, Die Wiederaufnahme in Strafsachen, Rn. 222. 169  Marxen / Tiemann, Die Wiederaufnahme in Strafsachen, Rn. 218. 170  BGH JR 1977, 217, 218; SSW-Kaspar, § 359 / 34; MG § 368 / 8. 171  Theobald, Barrieren im strafrechtlichen Wiederaufnahmeverfahren, S. 42. 165  AK-Loos,

396

Teil 3: Betrachtung des Anwendungsdefizits des § 359 Nr. 5 StPO

im Zuge des Aditionsverfahrens die Komplexität einer Hauptverhandlung nicht zuverlässig vorhergesehen werden kann, zunächst überzeugend.172 Bereits der Wortlaut des § 359 Nr. 5 StPO verdeutlicht aber, dass nach dem Willen des Gesetzgebers und unabhängig von der von ihm gewählten Zeitform auf ein zukünftiges Ereignis abzustellen ist. Die Geeignetheit ist daher anhand einer Prognose zu beurteilen, wobei sich die Frage nach dem Inhalt dieser Prognose stellt als auch nach dem Prognosestandpunkt.173 In gewissen Grenzen soll bereits in diesem Verfahrensstadium eine Vorwegnahme der Beweiswürdigung zulässig sein.174 Soweit ohne förmliche Beweisaufnahme möglich, soll das Gericht – unabhängig von den Grundsätzen des § 244 Abs. 3 StPO – die Beweiskraft der vorgebrachten Beweismittel als eigene Beweiswürdigung bereits im Aditionsverfahren bewerten dürfen.175 Dieses Verständnis, dem offensichtlich der Wille zugrunde lag, offensichtlich aussichtslose Anträge auszuschließen, um damit auch Kosten zu sparen176, widerspricht beweisrechtlichen Grundsätzen, da eine Beweiswürdigung erst nach deren Erhebung möglich ist.177 Auch der Wortlaut, der lediglich eine Prüfung der Geeignetheit vorgibt, schreibt eine Überprüfung der nova hinsichtlich ihres Beweiswerts im Zulässigkeitsverfahren nicht vor.178 Schließlich darf sowohl in der dem Ausgangsurteil vorangegangenen Hauptverhandlung als auch in der Erneuerungshauptverhandlung keine Beweis­ antizipation vorgenommen werden. Warum dies im Stadium zwischen beiden Hauptverhandlungen anders sein sollte, erschließt sich nicht zwangsläufig.179 Die Praxis neigt dazu, zu hohe Anforderungen an die Prüfung der hinreichenden Erfolgsaussicht zu stellen und Anträge erst dann für zulässig zu erklären, wenn ihr Erfolg so gut wie sicher erscheint. Dies wird in der Literatur als Hauptproblem der Wiederaufnahmepraxis beschrieben.180 Auch die befragten Experten monierten diese gerichtliche Praxis.

172  Theobald,

Barrieren im strafrechtlichen Wiederaufnahmeverfahren, S. 43, 104. § 359 / 152a f. 174  BGHSt 17, 303, 304. 175  BGH NStZ 2000, 218; OLG Koblenz NStZ-RR 2005, 272, 273; MG § 368 / 9; a. A. SK-Frister, § 359 / 61; Eisenberg, JR 2007, 360, 365. 176  Günther, MDR 1974, 93, 97. 177  Eisenberg, JR 2007, 360, 365. 178  Eisenberg, JR 2007, 360, 365. 179  Günther, MDR 1974, 93, 98. 180  Marxen / Tiemann, Die Wiederaufnahme in Strafsachen, Rn. 226. 173  LR-Gössel,



A. Wiederaufnahmegrund § 359 Nr. 5 StPO397

aa) Antizipierte Beweiswürdigung Die Geeignetheitsprüfung des § 368 Abs. 1 StPO soll nach h. M. dem Richter ermöglichen, die Erfolgsaussichten des Antrags anhand einer Prognoseentscheidung zu prüfen.181 Eine derartige Prognoseentscheidung wird, wie bereits dargestellt, vom Wiederaufnahmegericht auch im Rahmen des § 360 Abs. 2 StPO verlangt. Die Möglichkeit einer antizipierten Beweis­ würdigung i. R. d. § 359 Nr. 5 StPO ist heftig umstritten, konkretisiert sich in ihr doch der Wertekonflikt zwischen der Rechtskraft einerseits und dem Rehabilitationsinteresse und Streben nach materieller Gerechtigkeit andererseits.182 Die Meinungen differieren mithin zu der Frage, ob im Aditionsverfahren lediglich die abstrakt-generelle Erheblichkeit des Vorbringens (d. h. ohne jegliche Würdigung des Vorbringes selbst) entscheidend ist183, oder ob zusätzlich eine Prognose über die konkrete Geeignetheit zu treffen ist184. Die wohl h. M. nimmt aus prozessökonomischen Gründen eine konkrete Beweisantizipation185 vor und argumentiert, dass eine Einengung des § 368 StPO mit abstrakter Geeignetheitsprüfung nicht dem Willen des Gesetzgebers entspreche.186 Bereits aus dem Wortlaut des § 368 StPO ergebe sich, dass auch Beweismittel auf ihre Eignung zu überprüfen seien.187 Durch eine konkrete Beweiswürdigung könne erheblicher prozessualer Aufwand vermieden werden.188 Andernfalls hätte es der Antragsteller in der Hand, durch „geschickt erdachtes Vorbringen ohne Rücksicht auf dessen Wahrheitsgehalt in jedem Fall die Zulassung eines offensichtlich unbegründeten Wiederaufnahmeantrages“ zu erzwingen.189 Neue Tatsachen etwa könnten auf ihre Beweiseignung und ihren Beweiswert hin überprüft werden, was insbeson181  Geipel, in: Miebach / Hohmann, Wiederaufnahme in Strafsachen, Teil  C, Rz. 17. 182  AK-Loos, § 368 / 21. 183  Wasserburg, Die Wiederaufnahme des Strafverfahrens, S. 324. 184  KMR-Eschelbach, § 359 / 202 ff. Nicht auf eine abstrakte Schlüssigkeitsprüfung beschränkt auch BGH NJW 1977, 59 und OLG Frankfurt a. M., Beschluss vom 29.01.2014, 1 Ws 100 / 13, in: BeckRS 2014, 04640; OLG Karlsruhe NStZ-RR 2005, 179, 180; OLG Hamm, Beschluss vom 13.04.2010, 2 Ws 50 / 10, in: BeckRS 2010, 09843 und OLG Köln NStZ 1991, 96, 97. 185  Die im „regulären“ Hauptverfahren verboten ist. 186  BGH NJW 1977, 59; BGH NJW 1993, 1481, 1483 f.; OLG Düsseldorf NStZ 2004, 454; KK-Schmidt, § 368 / 12; LR-Gössel, § 359 / 170; OLG Celle JR 1967, 150; OLG Nürnberg MDR 1964, 171. 187  OLG Köln NStZ 1991, 96, 98. 188  SK-Frister, § 359 / 64. 189  OLG Köln NStZ 1991, 96, 97.

398

Teil 3: Betrachtung des Anwendungsdefizits des § 359 Nr. 5 StPO

dere die Frage mitumfasse, ob eine zu unterstellende Aussage glaubhaft sei.190 Die Zulässigkeit dieser von der h. M. tolerierten antizipierten Beweiswürdigung ist heftig umstritten. Diese Beweisantizipation wird von der höchstrichterlichen Rechtsprechung jedenfalls soweit toleriert, als der Beweiswert eines Beweismittels ohne die Durchführung einer Beweisaufnahme überprüft werden kann.191 Das Bundesverfassungsgericht betont jedoch zugleich, dass die Feststellung solcher Tatsachen, die den Schuldspruch wesentlich tragen, oder die für das Verteidigungskonzept des Angeklagten eine herausragende Rolle spielen, der erneuten Hauptverhandlung vorbehalten sind.192 Damit sind wesentliche Fragen stets der erneuten Hauptverhandlung vorbehalten, nur unwesentliche Frage können im Wege der antizipierten Beweiswürdigung des Aditions- und Probationsverfahrens vorangestellt beurteilt werden.193 Die abschließende Beurteilung der Richtigkeit und Beweiskraft des Vorbringens bleibt auch nach Auffassung der h. M. in jedem Fall der erneuten Hauptverhandlung vorbehalten.194 Eine vorweggenommene Beweiswürdigung ist auch dann nicht möglich, wenn in einer Aussage-gegen-Aussage-Konstellation einem Zeugen, der nunmehr zugunsten des Verurteilten aussagen möchte, ohne jegliche Vernehmung die Glaubhaftigkeit abgesprochen wird.195 Zu Recht gibt Frister zu bedenken: „Damit wird die Möglichkeit, eine Aufhebung von Fehlverurteilungen zu erreichen, in rechtsstaatlich bedenklicher Weise eingeschränkt.“196

Die besseren Gründe sprechen dafür, eine derartige Beweisantizipation abzulehnen.197 Sie widerspricht der Ausgewogenheit zwischen den verfas190  OLG Düsseldorf NStZ 2004, 454, 455. LG Saarbrücken, Beschluss vom 20.08.2013, Az. 2 Ks 05 Js 216 / 06 (1 / 13), in: BeckRS 2014, 03013, das betont, dass es sich insoweit lediglich um eine Inbezugsetzung der Beweiseignung zum früheren Beweisergebnis handle, was den Vorgaben des BVerfGs (BVerfG NStZ 1995, 43 f.) nicht widerspreche. 191  BGH NJW 1977, 59; OLG Jena NStZ-RR 2005, 379; LG Saarbrücken, Beschluss vom 20.08.2013, Az. 2 Ks 05 Js 216 / 06 (1 / 13), in: BeckRS 2014, 03013; SSW-Kaspar, § 368 / 7. 192  BVerfG NJW 1995, 2024, 2025. 193  Hellebrand, NStZ 2008, 374, 378. 194  SSW-Kaspar, § 359 / 34. So darf i. R. d. Prüfung der Zulässigkeit des Vorbringens etwa nicht ohne Durchführung einer neuen Hauptverhandlung der festgestellte Tatablauf ohne Weiteres durch einen anderen ersetzt werden. So gesehen im Verfahren zum Nachteil des Bauern Rudi Rupp durch das Landgericht Landshut. Erst das Oberlandesgericht München beanstandete unter Hinweis auf das BVerfG dieses Vorgehen. 195  KG NStZ 2014, 670, 671. 196  SK-Frister, § 359 / 63.



A. Wiederaufnahmegrund § 359 Nr. 5 StPO399

sungsrechtlich tangierten Grundstrukturen198, indem sie einseitig die Rechtssicherheit betont.199 In der Literatur wird eine Beweisantizipation vereinzelt vollständig abgelehnt, im Übrigen soll sie nur insoweit unzulässig sein, als sie über den in § 244 Abs. 3–5 StPO zugelassenen Umfang hinausgeht.200 Die Anwendbarkeit des § 244 StPO wird damit begründet, dass die im Wiederaufnahmeantrag vorgebrachten Umstände nachträgliche Beweisanträge darstellen respektive eine versäumte Beweisaufnahme nachholen sollen.201 Hinzu kommt, dass der Verfahrensaufwand überschaubar bleibt, kann doch im Rahmen des Probationsverfahrens ein Beweis mit Hilfe eines beauftragen oder ersuchten Richters erhoben werden.202 Die Zulässigkeit antizipierter Beweiswürdigung ist für die Frage des im Folgenden zu betrachtenden Prognosemaßstabs der Zulässigkeitsentscheidung relevant. Lässt man eine konkrete Beweiswürdigung schon im Adi­ tionsverfahren zu, stellt sich bereits in diesem Verfahrensstadium die Frage, welcher Zweifelsgrad für die Aufhebung der Grundentscheidung verlangt wird.203 Versteht man die Aditionsprüfung mit der m.M. als rein abstrakte Schlüssigkeitsprüfung, muss diese Frage erst im Probationsverfahren mit § 370 Abs. 1 StPO entschieden werden. Zwar spricht für die Zulässigkeit antizipierter Beweiswürdigung im Adi­ tionsverfahren die Möglichkeit, aussichtslose Anträge noch vor Erreichen des Probationsverfahrens auszusondern. Zu erwägen wäre jedoch, die Beweisantizipation auf Fälle der verfahrensinternen Widersprüchlichkeit zu beschränken, in denen sich die Frage des Beweiswerts aufdrängt.204 Auch die Anwendbarkeit des Maßstabs der § 244 Abs. 3–6 StPO gewährleistet den Ausschluss völlig unbrauchbaren Antragsvorbringens.205 Die besseren Argumente sprechen demnach mit der m. M. für eine lediglich abstrakte Prüfung der Erfolgsaussichten des Sachvortrags im Rahmen der Zulässigkeitsprüfung. Eine Anwendung der Maßstäbe des § 244 Abs. 3–6 197  So auch Eschelbach, HRRS 2008, 190, 206 und Dippel, Das geltende deutsche Wiederaufnahmerecht und seine Erneuerung, S. 98. 198  s. o. S.  140 ff. 199  Schöneborn, MDR 1975, 441, 442. 200  AK-Loos, § 368 / 23; SK-Frister, § 359 / 62 betrachtet die entsprechende Geltung der § 244 Abs. 3–5 StPO als Konkretisierung der dem Wiederaufnahmegericht ohnehin obliegenden Wahrheitsermittlungspflicht. 201  Peters, Fehlerquellen im Strafprozeß III, S. 136. 202  SK-Frister, § 359 / 64. 203  AK-Loos, § 368 / 24. 204  AK-Loos, § 368 / 27. So auch Peters, Fehlerquellen im Strafprozeß III, S. 96, der die Beweisantizipation nur dann zulassen will, wenn dem Vorbringen keinerlei Beweiswert zukommt. 205  So auch Peters, Fehlerquellen im Strafprozeß III, S. 97.

400

Teil 3: Betrachtung des Anwendungsdefizits des § 359 Nr. 5 StPO

StPO erscheint sachgerecht, um aussichtslose Anträge an der Hürde der Zulässigkeit scheitern zu lassen. Nichtsdestotrotz soll im Folgenden der Frage des Prognosemaßstabs unter Zugrundelegung der Ansicht der h. M. nachgegangen werden. bb) Prognosemaßstab Umstritten ist, welcher Prognosemaßstab für die Prüfung der hinreichenden Erfolgsaussicht heranzuziehen ist206 und ausgehend von welchem Standpunkt die Prüfung stattzufinden hat207. Die Geeignetheit kann dabei aus zwei Richtungen betrachtet werden, ausgehend von der Fehlerhaftigkeit der angegriffenen Entscheidung oder hinsichtlich des mit der Wiederaufnahme angestrebten Verfahrensziels.208 Hinsichtlich des anzulegenden Prognosemaßstabes differieren die Ansichten: So wird verlangt, dass das neue Beweismittel bzw. die neue Tatsache unter Berücksichtigung der vom Tatgericht festgestellten Tatsachen bzw. erhobenen Beweise das Erreichen des Wiederaufnahmeziels (hinreichend209) wahrscheinlich210 erscheinen lassen. Von anderer Seite wird verlangt, dass das Ziel genügend211, überwiegend212 oder ernsthaft213 wahrscheinlich erreicht werden können. Die Anhänger eines Wahrscheinlichkeitsmaßstabs schwanken mithin zwischen einer numerischen Einteilung der geforderten Wahrscheinlichkeit oder aber ihrer sprachlichen Differenzierung.214 Sowohl 206  Theobald,

Barrieren im strafrechtlichen Wiederaufnahmeverfahren, S. 45 ff. Barrieren im strafrechtlichen Wiederaufnahmeverfahren, S. 107 ff. 208  J. Meyer, Die Wiederaufnahme in rechtsvergleichender Darstellung, S. 802. 209  So die wohl h.  M. LG Aschaffenburg StV 2003, 238, 239; OLG Koblenz NStZ-RR 2007, 317; LG Gießen NJW 1994, 465, 466; OLG Frankfurt a. M. StV 1996, 138, 140; OLG Karlsruhe GA 1974, 250 f.; Theobald, Barrieren des strafrechtlichen Wiederaufnahmeverfahrens, S. 34; Hanack, JZ 1973, 393, 394. 210  LR-Gössel, § 359 / 153; BVerfG, Beschluss vom 19.07.2002, Az. 2 BvR 18 / 02, in: BeckRS 2002, 30273719 unter Hinweis auf BGH NJW 1993, 1481 ff.; Marxen / Tiemann, Die Wiederaufnahme in Strafsachen, Rn. 221; Peters, Fehlerquellen im Strafprozeß III, S. 85; Peters, Strafprozeß, S. 639; Hohmann, in: Miebach / Hohmann, Wiederaufnahme in Strafsachen, Teil E, Rz. 110; Schöneborn, Strafprozessuale Wiederaufnahmeproblematik, S. 198. 211  OLG Düsseldorf OLGSt § 359 Nr. 4 S. 3; OLG Frankfurt a.  M., Beschluss vom 29.01.2014, 1 Ws 100 / 13, in: BeckRS 2014, 04640; LG Saarbrücken, Beschluss vom 20.08.2013, Az. 2 Ks 05 Js 216 / 06 (1 / 13), in: BeckRS 2014, 03013; LG Gießen NJW 1994, 465, 466; MG § 368 / 10; OLG München, Beschluss vom 09.03.2010, Az. 3 Ws 109, 110, 111, 112 / 10, in: BeckRS 2011, 00034. 212  HK-Temming, § 368 / 7; OLG Koblenz OLGSt § 359 Nr. 5 S. 3. 213  OLG Stuttgart StV 1990, 539, 540; Pfeiffer, § 368 / 3. 214  Eingehend: Geipel, in: Miebach / Hohmann, Wiederaufnahme in Strafsachen, Teil C, Rz. 30 f. 207  Theobald,



A. Wiederaufnahmegrund § 359 Nr. 5 StPO401

die in der vorliegenden Untersuchung befragten Experten als auch die Literatur kritisieren, dass die Forderung der Wahrscheinlichkeit der reformatio in melius im Vorschaltverfahren praktisch dazu dient, „alle Anträge mit einer Erfolgschance von weniger als 95 % zu blockieren.“215 Bottke, Schünemann, Wasserburg, Theobald u. a. fordern demgegenüber für die Geeignetheit im Sinne des § 359 Nr. 5 StPO bereits die Möglichkeit ausreichen zu lassen, dass das Verfahren zugunsten des Verurteilten ausgeht.216 Hierfür spreche mitunter der Sinn der §§ 368, 370 Abs. 1 StPO, der nur von vornherein aussichtslose Anträge ausschließen soll.217 Peters hingegen ist der Auffassung, dass die bloße Möglichkeit einer Änderung nicht ausreichend sei. Vielmehr müssen die neuen Tatsachen oder Beweismittel genügend Anlass für eine erneute Überprüfung der Entscheidung ergeben.218 Greco möchte den Möglichkeitsmaßstab wiederum nur bei summarischen Verfahren oder solchen, die auf einer Absprache beruhen, anerkennen.219 Die Rspr. nimmt die Geeignetheit an, wenn die neuen Umstände ernstliche Zweifel an der Richtigkeit der Verurteilung in tatsächlicher Hinsicht zu begründen imstande sind.220 Das Erreichen des Wiederaufnahmeziels als Erfolgsaussicht des Vorbringens, sei demnach anzunehmen, wenn ernste Gründe für die Abänderung der Ursprungsentscheidung sprechen.221 Zuweilen werden auch durchgreifende222 oder ernsthafte223 Zweifel an der Richtigkeit der 215  Schünemann,

ZStW 84 (1972), 870, 889. ZStW 84 (1972), 870, 898. Um jedoch nicht das Vertrauen der Allgemeinheit in die Bestandskraft eines Richterspruchs zu gefährden, spricht sich Bottke letztlich dafür aus, dass i. R. d. Aditionsstufe konkrete Zweifel an der angegriffenen Entscheidung bestehen müssen, und i.  R.  d. Probationsverfahrens konkrete Zweifel bzw. Zweifel an der Richtigkeit der angegriffenen Entscheidung bestehen müssen, vgl. Bottke, NStZ 1981, 135, 137. Die am Möglichkeitsmaßstab orientierte Meinung entspricht letztlich der Beruhensprüfung i. R. d. § 337 StPO. KMR-Eschelbach, § 359 / 209–211. Theobald, Barrieren im strafrechtlichen Wiederaufnahmeverfahren, S. 104; Wasserburg, Die Wiederaufnahme des Strafverfahrens, S. 323; Wasserburg, ZStW 94 (1982), 914, 940; Fuchs, JuS 1969, 516, 518. 217  Theobald, Barrieren im strafrechtlichen Wiederaufnahmeverfahren, S. 49. 218  Peters, Fehlerquellen im Strafprozeß II, S. 316. 219  Greco, Strafprozesstheorie und materielle Rechtskraft, S. 1001. 220  LG Gießen NJW 1994, 465, 466; OLG München, Beschluss vom 09.03.2010, Az. 3 Ws 109, 110, 111, 112 / 10, in: BeckRS 2011, 00034. So auch KK-Schmidt, § 368 / 13 und HK-Temming, § 368 / 5. 221  OLG Stuttgart StV 1990, 539, 540; OLG Rostock NStZ 2007, 357, 358; LRGössel, § 359 / 153 unter Hinweis darauf, dass dies Wahrscheinlichkeit bedeute; MG § 368 / 10. 222  LG Saarbrücken, Beschluss vom 20.08.2013, Az. 2 Ks 05 Js 216 / 06 (1 / 13), in: BeckRS 2014, 03013. 223  Marxen / Tiemann, Die Wiederaufnahme in Strafsachen, Rn. 225. 216  Schünemann,

402

Teil 3: Betrachtung des Anwendungsdefizits des § 359 Nr. 5 StPO

angegriffenen Entscheidung verlangt. Vertreten wird auch, dass das Vorbringen nur dann geeignet ist, wenn der Vortrag die tatsächliche Basis der angefochtenen Entscheidung (ernstlich224) erschüttert225. Unklar erscheint dennoch, welchen Grad an Wahrscheinlichkeit die h. M. für die Zulässigkeit des Wiederaufnahmeantrags haben will. Peters grenzt die Wahrscheinlichkeit von der Möglichkeit und der Sicherheit auf der anderen Seite ab. Wahrscheinlichkeit sei demnach bei 50–99 %iger Wahrscheinlichkeit, das Antragsziel zu erreichen, anzunehmen.226 Die Befürworter des Wahrscheinlichkeitsmaßstabes schlagen vor, den Eignungsbegriff des § 359 Nr. 5 StPO übereinstimmend mit dem Bestätigungsbegriff des § 370 Abs. 2 StPO auszulegen, wie dies auch die Rspr. und Lehre toleriert.227 Zur Begründung wird dabei auf die Parallele des Prüfungsmaßstabs im Zwischenverfahren, § 203 StPO, verwiesen.228 Maßstab für die Entscheidung solle daher, parallel zur Prüfung einer Verurteilungswahrscheinlichkeit im Rahmen des § 203 StPO sein, ob bei vorläufiger Beurteilung des Vorbringens, das Antragsziel (hinreichend) wahrscheinlich, d. h. nicht nur möglich229 ist.230 So sei die Entscheidung des Wiederaufnahmegerichts mit der Entscheidung über die Eröffnung des Hauptverfahrens gem. § 203 StPO vergleichbar.231 Auch sollen beide Vorschriften der Entlastung der Gerichte dienen.232 Für eine Heranziehung des Maßstabs aus § 203 StPO 224  LG Gießen NJW 1994, 465, 466; LG Saarbrücken, Beschluss vom 20.08.2013, Az. 2 Ks 05 Js 216 / 06 (1 / 13), in: BeckRS 2014, 03013; BGH NStZ 2000, 218. 225  OLG Braunschweig NJW 1959, 1984. 226  Vgl. hierzu die Darstellung von Theobald, Barrieren des strafrechtlichen Wiederaufnahmeverfahrens, S. 47. 227  Bottke, NStZ 1981, 135, 137; Peters, Fehlerquellen im Strafprozeß III, S. 28; Theobald, Barrieren des strafrechtlichen Wiederaufnahmeverfahrens, S. 46 f. mit Ausführungen dazu, dass ein Grad der Wahrscheinlichkeit dabei von den Vertretern der h. M. nicht bestimmt wird. 228  Diese Parallele erkennt auch das OLG Nürnberg, vgl. OLG Nürnberg NJW 2013, 2692, 2694 f. § 203 StPO kann nur parallel angewandt werden, nicht jedoch analog, da keine planwidrige Regelungslücke anzunehmen ist, vgl. Theobald, Barrieren des strafrechtlichen Wiederaufnahmeverfahrens, S. 51. 229  A. A. Schünemann, ZStW 84 (1972), 870, 898. Nach dieser Mindermeinung soll bereits die bloße Möglichkeit einer Besserstellung des Verurteilten genügen, wobei der in-dubio-Grundsatz anwendbar sei. Solange Zweifel an der Erfolgsaussicht bestünden, sei die Wiederaufnahme des Verfahrens anzuordnen, vgl. Theobald, Bar­ rieren des strafrechtlichen Wiederaufnahmeverfahrens, S. 49. 230  OLG Frankfurt a. M. StV 1996, 138, 140; LG Gießen NJW 1994, 465, 466; LR-Gössel, § 359 / 153; Theobald, Barrieren des strafrechtlichen Wiederaufnahmeverfahrens, S.  47 f. 231  Eingehend hierzu Theobald, Barrieren des strafrechtlichen Wiederaufnahmeverfahrens, S.  50 ff. 232  Theobald, Barrieren des strafrechtlichen Wiederaufnahmeverfahrens, S. 53.



A. Wiederaufnahmegrund § 359 Nr. 5 StPO403

spricht zudem, dass das durch ein Wiederaufnahmeverfahren in Gang gesetzte Verfahren mit Adition, Probation und der erneuten Verhandlung – wie das Erkenntnisverfahren – in drei Abschnitte gegliedert ist. Vor diesem Hintergrund erscheint es ebenso naheliegend, die Stufe der Adition dem Ermittlungsverfahren gleichzusetzen, für dessen Einleitung lediglich das Bestehen eines Anfangsverdachts ausreichend ist. Spiegelbildlich würde dann entsprechend die bloße Möglichkeit einer Besserstellung für die Annahme der Geeignetheit ausreichen.233 Anders als bei § 203 StPO – für den, zum Schutz des Angeklagten vor einer belastenden Hauptverhandlung, ein hoher Grad an Wahrscheinlichkeit gefordert wird234 – erscheint es sachgerecht, dass für die Zulässigkeit der zugunsten des Angeklagten dienenden Wiederaufnahme ein geringerer Überzeugungsmaßstab ausreichen muss. So wird mitunter auch vertreten, dass von einer Wahrscheinlichkeit bereits auszugehen sei, wenn ausreichende Anhaltspunkte für eine Abänderung der angefochtenen Entscheidung sprechen bzw. wenn das Vorbringen im Wiederaufnahmeantrag in Verbindung mit den Feststellungen der angegriffenen Entscheidung ernsthafte Zweifel an deren Richtigkeit begründet.235 Dies umschreibt jedoch nichts anderes als den von der m.M. vertretenen Möglichkeitsmaßstab. Gegen die Anwendung des § 203 StPO spricht schließlich, dass er die Begrenzung der Strafverfolgung bezweckt, während mit der Geeignetheitsprüfung der Konflikt zwischen Rehabilitationsinteresse, materieller Wahrheit und Rechtskraft entschieden werden soll.236 Da jedoch, wie bereits ausgeführt, ohne Beweiserhebung nicht beurteilt werden kann, ob das Antragsvorbringen das Antragsziel rechtfertigt, sollte die Beurteilung dem Probationsverfahren vorbehalten bleiben. Nicht übersehen werden sollte hier die Belastung der Eröffnung des Hauptverfahrens auf den Angeklagten, wohingegen das weitere Wiederaufnahmeverfahren diesen entlastet. Die Maßstäbe des § 203 StPO und § 359 Nr. 5 StPO können demnach nicht ohne Weiteres gleichgestellt werden.237 Überzeugend erscheint bei der Auslegung insbesondere das systematische Argument, demgemäß bei der Wiederaufnahme propter nova gem. § 362 Nr. 4 StPO die Möglichkeit eines glaubhaften Geständnisses ausreiche, nach § 359 Nr. 5 StPO von der h. M. jedoch eine Wahrscheinlichkeit (d. h. > 50 %) 233  Theobald,

Barrieren des strafrechtlichen Wiederaufnahmeverfahrens, S. 53 ff. § 203 / 12. 235  KK-Schmidt, § 368 / 13; MG § 368 / 10. 236  Ablehnend daher AK-Loos, § 368 / 1. 237  So auch Marxen / Tiemann, Die Wiederaufnahme in Strafsachen, Rn. 224. Zu verfahrenspsychologischen Bedenken vgl. KMR-Eschelbach, § 359 / 209. 234  LR-Stuckenberg,

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Teil 3: Betrachtung des Anwendungsdefizits des § 359 Nr. 5 StPO

gefordert würde.238 Im Hinblick auf den verfassungsrechtlichen Rahmen und der deshalb tendenziell restriktiv zu handhabenden ungünstigen Wiederaufnahme läge es nahe, die beiden Maßstäbe gerade umgekehrt zu verwenden. Hinzu kommt, dass im Rahmen des § 370 Abs. 1 HS 2 i. V. m. §§ 359 Nr. 1, 2, 362 Nr. 1, 2 StPO die Wiederaufnahme anzuordnen ist, wenn ein Beruhen des Urteils auf dem Wiederaufnahmegrund nicht mit Sicherheit widerlegt werden kann.239 Damit führt bereits die bloße Möglichkeit des Beruhens der angefochtenen Entscheidung auf dem Wiederaufnahmegrund dazu, dass das Wiederaufnahmegericht den Antrag als begründet zu erachten hat.240 Zu Recht wird der Möglichkeitsmaßstab daher als Gebot des fairen Verfahrens betrachtet.241 Hinzu tritt das Gebot des effektiven Rechtsschutzes, das durch den Möglichkeitsmaßstab besser verwirklicht werden kann.242 Der Möglichkeitsmaßstab stellt sich zudem als objektiveres Kriterium gegenüber dem Wahrscheinlichkeitsmaßstab dar, der wiederum einzig subjektiv die Einschätzung des erkennenden Richters berücksichtigt.243 Nicht verkannt werden darf dabei, dass im Zuge der Aditionsprüfung keine überhöhten Anforderungen gestellt werden sollten, stellt die Wiederaufnahme doch auch einen Ausgleich für die fehlende Berufungsinstanz dar; sie sollte im Zweifel als Rechtsbehelf verstanden werden, der nicht derart ineffektiv sein darf, dass er den Verurteilten in dessen Grundrecht auf effektiven Rechtsschutz verletzt. Soweit die konkrete Möglichkeit, das Wiederaufnahmeziel zu erreichen, als Bewertungsmaßstab gefordert wird244, stellt sich die Frage, wann die Möglichkeit so konkret ist, dass sie ernste Zweifel an der Richtigkeit der Ausgangsentscheidung rechtfertigen. Gleiches gilt, soweit eine reelle Möglichkeit verlangt wird.245 Es muss damit die Möglichkeit als solche ausreichen, die Aditionshürde zu überschreiten. Schließlich bietet sich ein weiterer Ansatzpunkt für die Prüfung der Erfolgsaussichten mit § 244 Abs. 3–5 StPO an, zumal sich hieraus der Rahmen der festzustellenden Tatsachen ergibt.246 Das Wiederaufnahmegericht könnte sich für die prognostische Beurteilung der Erfolgsaussicht mittelbar auf die 238  Theobald,

Barrieren des strafrechtlichen Wiederaufnahmeverfahrens, S. 84 ff. 19, 365, 366. 240  Theobald, Barrieren des strafrechtlichen Wiederaufnahmeverfahrens, S. 87. 241  KMR-Eschelbach, § 359 / 209 f.; KMR-Eschelbach, § 365 / 56; Wasserburg / Eschel­ bach, GA 2003, 335, 350; Eschelbach, HRRS 2008, 190, 207 f. 242  KMR-Eschelbach, § 359 / 211. 243  KMR-Eschelbach, § 368 / 11. 244  U. a. KMR-Eschelbach, § 368 / 11 m. w. N. 245  So aber Schöneborn, Strafprozessuale Wiederaufnahmeproblematik, S. 83. 246  Auf § 244 Abs. 3–5 StPO ausdrücklich abstellend LR-Gössel, § 359 / 169; Eisenberg, JR 2007, 360, 365; Günther, MDR 1974, 93, 100 und Eisenberg, Beweisrecht der StPO, Rn. 453. 239  BGHSt



A. Wiederaufnahmegrund § 359 Nr. 5 StPO405

Vorschrift des § 244 StPO stützen, der auch im Rahmen der beantragten neuen Hauptverhandlung anwendbar wäre. Eine unmittelbare Anwendung des § 244 StPO scheidet aus, da gravierende Unterschiede zwischen der Beweisaufnahme in der Hauptverhandlung und der Prüfung der Geeignetheit im Aditionsverfahren bestehen, die sich lediglich auf die geltend gemachten Wiederaufnahmeziele beschränkt.247 Würde die Erhebung eines Beweises in der angestrebten neuen Hauptverhandlung aus einem der in § 244 Abs. 3–5 StPO angeführten Gründe scheitern, hätte der Antrag auf Wiederaufnahme keine Aussicht auf Erfolg.248 Mangels Prognose der Beweisbarkeit fehle dem Beweismittel die erforderliche Eignung.249 Liegt ein Ablehnungsgrund nicht vor, so muss im Umkehrschluss jedoch von einer hinreichenden Erfolgsaussicht des Vorbringens ausgegangen werden. Diskutiert wird daher die analoge Anwendbarkeit des § 244 Abs. 3–5 StPO.250 Insbesondere § 244 Abs. 4 StPO dürfte für Sachverständigengutachten eine praxisgerechte, einheitliche Handhabung gewährleisten. Einer analogen Anwendbarkeit steht jedoch entgegen, dass das Vorschaltverfahren im Wiederaufnahmerecht mangels Öffentlichkeit, Mündlichkeit und Unmittelbarkeit der Beweiserhebung nicht mit dem Hauptverfahren zu vergleichen ist.251

247  BGH

JR 1977, 217, 218; LR-Gössel, § 359 / 169. erlangt die Vorschrift des § 244 StPO insbesondere auch bei neuen Sachverständigengutachten. Gem. § 244 Abs. 4 StPO reicht es für die Erfolgsaussichten eines Vorbringens nicht aus, wenn geltend gemacht wird, dass der Sachverständige aufgrund identischer Anknüpfungstatsachen und Erfahrungssätze wie der Erstgutachter zu einer anderen Schlussfolgerung gelangen wird (vgl. LR-Gössel, § 359 /  172; KK-Schmidt, § 359 / 26; MG § 359 / 35). Bringt der Antragsteller jedoch vor, dass der Erstgutachter von fehlerhaften tatsächlichen Voraussetzungen ausgegangen ist oder Anknüpfungstatsachen weggefallen bzw. neue hinzugekommen sind, steht § 244 Abs. 4 StPO dem Erfolg des Wiederaufnahmevorbringens nicht entgegen. Auch die Qualität eines Erstgutachtens kann im Rahmen der Wiederaufnahme angegriffen werden, so etwa wenn der vom Antragsteller benannte Sachverständige über überlegene Forschungsmittel oder eine größere Sachkunde verfügt (strittig, vgl. LR § 359 / 172) oder weil sich die wissenschaftlichen Erkenntnisse verbessert haben (OLG Hamm StraFo 2002, 168). Ablehnend zu einem an § 244 StPO orientierten Prüfungsumfang BGH NJW 1993, 1481, 1484. 249  AK-Loos, § 368 / 20. 250  Für eine entsprechende Anwendbarkeit OLG Köln NJW 1963, 967, 968; LRGössel, § 359 / 169 ff.; Peters, Fehlerquellen im Strafprozeß III, S. 136. Ablehnend Marxen / Tiemann, Die Wiederaufnahme in Strafsachen, Rn. 232 unter Hinweis auf die besondere Verfahrensstruktur in der Wiederaufnahme, die vom Erkenntnisverfahren völlig abweichend sei. Ablehnend auch BGH MDR 1993, 167, 168; BGH JR 1977, 217, 218; KK-Schmidt, § 368 / 10. 251  Deml, Zur Reform der Wiederaufnahme des Strafverfahrens, S. 86. 248  Bedeutung

406

Teil 3: Betrachtung des Anwendungsdefizits des § 359 Nr. 5 StPO

Die Ansichten für den Maßstab der Erfolgsaussichten schwanken mithin zwischen der bloßen Möglichkeit252 und der Sicherheit einer für den Antragsteller günstigeren Entscheidung.253 Während die wohl h. M. mit dem Maßstab der Wahrscheinlichkeit ernsthafte Gründe für die Beseitigung einer Entscheidung verlangt, verlangt die m.M. mit der Möglichkeit ernsthafte Zweifel an deren Richtigkeit. Ob auch eine Gesetzesauslegung die Ansicht der m.M. stützt, soll schließlich im Folgenden beurteilt werden. (1) Grammatische Auslegung des Geeignetheitsbegriffs Im materiellen Strafrecht umfasst der Begriff der Geeignetheit die Möglichkeit einer Rechtsgutverletzung, ohne dass diese bereits wahrscheinlich sein muss.254 Der Begriff der Geeignetheit findet sich zudem auch im Prozessrecht, etwa in § 24 Abs. 2 StPO oder § 241 Abs. 2 StPO. Ein für die Besorgnis der Befangenheit eines Richters geeigneter Grund i. S. d. § 24 Abs. 2 StPO ist anzunehmen, wenn Anhaltspunkte für die Voreingenommenheit des Richters erkennbar sind.255 Insoweit reicht also ein „kann“ aus, es wird keine Wahrscheinlichkeit der Voreingenommenheit verlangt. Das bloße „Können“ ist mit der Möglichkeit gleichzusetzen; es reicht demnach die bloße Möglichkeit der Befangenheit.256 Der Begriff der Geeignetheit findet sich darüber hinaus u. a. in § 241 Abs. 2 StPO, der bestimmt, dass der Vorsitzende ungeeignete Fragen zurückweisen kann. Ungeeignet sind solche Fragen, die der Ermittlung des anklagegegenständlichen Sachverhalts nicht oder nicht in rechtlich erlaubter Weise fördern.257 Demnach sind im Umkehrschluss solche Fragen geeignet, die die Wahrheitsermittlung fördern können, mithin die Möglichkeit der Wahrheitsermittlung besteht. Eine Wahrscheinlichkeit wird auch insoweit nicht verlangt.258

252  Für diese Variante Theobald, Barrieren im strafrechtlichen Wiederaufnahmeverfahren, S.  76 ff. 253  Theobald, Barrieren des strafrechtlichen Wiederaufnahmeverfahrens, S. 45  f. mit weiteren Einzelheiten. Dass in der Geeignetheitsprüfung des Aditionsverfahrens nicht die Sicherheit des Erfolges Voraussetzung sein kann, folgt i. S. e. erst-rechtSchlusses aus dem Beschluss des BVerfG vom 20.06.1990 deutlich, in dem ausgeführt wurde, dass i. R. d. Probationsverfahrens nicht der volle Beweis zu führen ist, vgl. BVerfG NJW 1990, 3193, 3194. 254  Theobald, Barrieren des strafrechtlichen Wiederaufnahmeverfahrens, S. 78 ff. 255  BGH NStZ-RR 2012, 211 f. 256  Theobald, Barrieren des strafrechtlichen Wiederaufnahmeverfahrens, S. 81. 257  BGHSt 13, 252, 254; MG § 241 / 15. 258  Theobald, Barrieren des strafrechtlichen Wiederaufnahmeverfahrens, S. 82.



A. Wiederaufnahmegrund § 359 Nr. 5 StPO407

Gleiches gilt, soweit in § 370 Abs. 1 StPO die genügende Bestätigung des Vorbringens verlangt wird. Auch wird demnach nicht eine hundertprozentige Sicherheit verlangt, so dass Zweifel nicht gänzlich beseitigt sein müssen. Im Gegenteil: Nur bei sicherer, ungenügender Bestätigung darf der Antrag als unbegründet verworfen werden. Ein zwischen § 359 Nr. 5 StPO und § 370 Abs. 1 StPO insoweit bestehender Gleichklang überzeugt umso mehr, berücksichtigt man, dass im Aditionsverfahren eine erste Prüfung des Antragsvorbringens stattzufinden hat, die im Rahmen des Probationsverfahrens auf Grundlage der erhobenen Beweise zu überprüfen ist.259 Die grammatikalische Auslegung des Geeignetheitsbegriffs spricht demnach für die Anwendung des Möglichkeitsmaßstabs. (2) Systematisches Argument Zwar sind die Wiederaufnahmemöglichkeiten des § 359 Nr. 5 StPO und des § 362 Nr. 4 StPO aufgrund des unterschiedlichen verfassungsrechtlichen Rahmens260 nicht identisch zu handhaben, doch gebietet ein systematischer Vergleich zu § 362 Nr. 4 StPO die Annahme des Möglichkeitsmaßstabes. So reicht für ein Geständnis i. S. d. § 362 Nr. 4 StPO – der ebenfalls einen Wiederaufnahmegrund propter nova darstellt – aus, dass dieses denkgesetzlich möglich ist und der Lebenserfahrung entspricht.261 Wenn jedoch für die aufgrund des verfassungsrechtlichen Hintergrunds restriktiv zu handhabende ungünstige Wiederaufnahme die denkgesetzliche Möglichkeit eines solchen Geständnisses ausreicht, ist nicht ersichtlich, weshalb an den Geeignetheitsbegriff im Kontext der günstigen Wiederaufnahme andere Anforderungen zu stellen sein sollten. Im Bereich der günstigen Wiederaufnahme gebietet das Streben nach der materiellen Wahrheit vielmehr eine einfachere Möglichkeit zur Durchbrechung der materiellen Rechtskraft, im Vergleich zur ungünstigen Wiederaufnahme. Reicht jedoch bereits für eine ungünstige Wiederaufnahme die Möglichkeit aus, muss diese umso mehr auch für die Geeignetheit einer günstigen Wiederaufnahme ausreichen.262

259  Schünemann,

ZStW 84 (1972), 870, 892. geht Theobald davon aus, dass günstige und ungünstige Wiederaufnahmekonstellationen gleich zu behandeln seien, vgl. Theobald, Barrieren des strafrechtlichen Wiederaufnahmeverfahrens, S. 84. 261  MG § 362 / 7. 262  So im Ergebnis auch Theobald, Barrieren des strafrechtlichen Wiederaufnahmeverfahrens, S. 86. Theobald führt zudem unter Hinweis auf BGHSt 19, 365 an, dass der Möglichkeitsmaßstab auch in § 370 Abs. 1 HS 2 StPO verankert sei, demgemäß bei bloßer Möglichkeit eines Zusammenhangs zwischen den dort aufgelisteten Wiederaufnahmegründen und der richterlichen Entscheidung der Antrag nicht als 260  Unzutreffend

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Teil 3: Betrachtung des Anwendungsdefizits des § 359 Nr. 5 StPO

Auch eine systematische Betrachtung spricht demnach für die Anerkennung des Möglichkeitsmaßstabs. (3) Historisches Argument Betrachtet man den Geeignetheitsbegriff des § 359 Nr. 5 StPO unter historischen Aspekten, fällt auf, dass mit Schaffung der RStPO beabsichigt war, die rechtliche Möglichkeit eines Freispruchs für die Wiederaufnahme des Verfahrens ausreichen zu lassen. Im in erster Lesung angenommenem Gesetzesentwurf war daher die Wendung „Freisprechung begründen könne“ statt „begründe“ aufgenommen worden.263 In zweiter Lesung wurde der Gesetzesentwurf dergestalt redaktionell umformuliert, dass die Wendung des geeignet-Seins aufgenommen wurde.264 Schließlich spricht auch die historische Auslegung für die Anwendung des Möglichkeitsmaßstabs. (4) Zusammenfassung Wie dargestellt sprechen die besseren Argumente dafür, bei Zulassung einer konkreten Prognoseprüfung der m.M. mit ihrer Anerkennung eines Möglichkeitsmaßstabs zu folgen. Dabei kann das geltende Recht mit § 359 Nr. 5 StPO der m.M. folgend ausgelegt werden. Um gleichwohl den Bedenken der h. M. Rechnung zu tragen, ist eine zur Geeignetheit i. S. d. § 359 Nr. 5 StPO führende Möglichkeit, das Ziel zu erreichen, dann nicht für die Zulässigkeit eines Wiederaufnahmeantrags ausreichend, wenn eine Beweiserhebung gem. § 244 Abs. 3–5 StPO ausgeschlossen wäre. Die h. M. würde ohne weitergehende Beweisaufnahme zur Antragsverwerfung führen, ohne dass eine ausreichende Sachaufklärung stattgefunden hätte, und mithin gegen das Prozessgrundrecht auf ein faires Verfahren, Art. 2 Abs. 1 i. V. m. Art. 20 Abs. 3 GG verstoßen.265

unbegründet verworfen werden kann. Dies überzeugt jedoch nicht, da mit § 370 Abs. 1 StPO nicht das Konkurrenzverhältnis zur Wahrscheinlichkeit berührt wird. 263  Hahn, Materialien zur RStPO, Band 1, S. 1059. So auch Schöneborn, Strafprozessuale Wiederaufnahmeproblematik, S. 80. 264  Hahn, Materialien zur RStPO, Band 2, S. 1407. 265  Theobald, Barrieren im strafrechtlichen Wiederaufnahmeverfahren, S. 99 f.



A. Wiederaufnahmegrund § 359 Nr. 5 StPO409

cc) Beurteilungsstandpunkt Auch die Frage des Beurteilungsstandpunktes ist umstritten. Damit einher geht die Frage, inwieweit das Wiederaufnahmegericht an die Feststellungen, Beweiswürdigungen und Rechtsauffassungen des Erstgerichts gebunden ist.266 So kann das Vorbringen zu der Frage, ob die angegriffene Entscheidung bei Berücksichtigung der neuen Beweise anders ausgefallen wäre, theoretisch aus Sicht des Erstgerichts, des Wiederaufnahmegerichts oder aus Sicht des für die erneute Hauptverhandlung zuständigen Gerichts beurteilt werden.267 Letzterer Standpunkt ist jedoch bereits offensichtlich untauglich, kann doch das Wiederaufnahmegericht nicht den Verlauf des erneuten Verfahrens vorhersehen. In anderen Rechtsordnungen, die von J. Meyer rechtsvergleichend untersucht wurden, wird die Prüfung der Erheblichkeit des Wiederaufnahmevorbringens durchweg aus der Perspektive des früheren Gerichts beurteilt.268 Die h. M., auch in der Rspr., geht davon aus, dass das Wiederaufnahmegericht das Vorbringen vom Standpunkt des Ausgangsgerichts269, mithin ex tunc, dahingehend zu prüfen hat, ob die Tatfrage bei Kenntnis der vorgebrachten Tatsachen und Beweismittel anders entschieden worden wäre.270 Dies soll sich bereits aus der gesetzlichen Entscheidung, dass Rechtsfehler nicht durch Wiederaufnahmeverfahren korrigiert werden können, ergeben.271 Zu diesem Zwecke soll im Wege des Freibeweises durch Heranziehung des Akteninhalts und Inbezugsetzung zum früheren Beweisergebnis geprüft werden, ob das Urteil bei Kenntnis der neuen Umstände anders ausgefallen wä266  LR-Gössel, § 359 / 161; Theobald, Barrieren im strafrechtlichen Wiederaufnahmeverfahren, S. 108. 267  Nicht eindeutig die Entscheidung OLG Köln NStZ 1991, 96, dergemäß vom Standpunkt des erkennenden Gerichts oder des Wiederaufnahmegerichts die Geeignetheit zu prüfen sei. 268  J. Meyer, Die Wiederaufnahme in rechtsvergleichender Darstellung, S. 804. 269  BVerfG NJW 1993, 2735, 2736; BVerfG NJW 1995, 2024; BVerfG NJW 1994, 510; BGH NJW 1993, 1481, 1484; BVerfG NStZ 1994, 43; BGHSt 18, 225, 226; BGHSt 19, 365, 366; BGHSt 39, 75, 86; OLG Frankfurt a. M., Beschluss vom 29.01.2014, 1 Ws 100 / 13, in: BeckRS 2014, 04640; OLG Hamm, Beschluss vom 13.04.2010, 2 Ws 50 / 10, in: BeckRS 2010, 09843; LG Saarbrücken, Beschluss vom 20.08.2013, Az. 2 Ks 05 Js 216 / 06 (1 / 13), in: BeckRS 2014, 03013; Thüringer OLG StraFo 1997, 116, 117; OLG München, Beschluss vom 09.03.2010, Az. 3 Ws 109, 110, 111, 112 / 10, in: BeckRS 2011, 00034 und Theobald, Barrieren des strafrecht­ lichen Wiederaufnahmeverfahrens, S. 108 ff. m. w. N.; MAH Strafverteidigung-Strate, § 27 / 65; MG § 368 / 9; Schorn, MDR 1965, 869, 870; Günther, MDR 1974, 93, 94. 270  BGHSt 17, 303, 304; OLG Hamm MDR 1974, 250 f. und Theobald, Barrieren des strafrechtlichen Wiederaufnahmeverfahrens, S. 108 m. w. N. 271  AK-Loos, § 368 / 17.

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Teil 3: Betrachtung des Anwendungsdefizits des § 359 Nr. 5 StPO

re.272 Eine dahingehende Aufforderung zur Abgabe einer dienstlichen Erklärung des Ausgangsgerichts wird im Hinblick auf das Beratungsgeheimnis für unzulässig gehalten.273 Maßgeblich soll demnach allein das schriftliche Urteil sein, welches das Beratungsergebnis dokumentiert und hinsichtlich der Beweiswürdigung die Vermutung der Vollständigkeit in sich trägt.274 Nicht erlaubt soll es dem Wiederaufnahmegericht sein, bereits erhobene Beweise abweichend zu würdigen oder von der Rechtsauffassung des Tatgerichts abzuweichen, solange diese nicht offensichtlich unhaltbar ist.275 Dies ergebe sich bereits daraus, dass die Wiederaufnahme andernfalls zu einer zweiten Tatsacheninstanz verkäme.276 Demnach wäre das Wiederaufnahmegericht also nicht nur an die Urteilsfeststellungen und die Rechtsauffassung des Tatgerichts gebunden, sondern auch an dessen Beweiswürdigung.277 Die Forderung der h. M., dass der Wiederaufnahmerichter die Erkenntnisse des Zulassungsverfahrens mit den Feststellungen vergleiche, die er selbst für die des früheren Richters hält, ist reine Fiktion und mithin als Quelle von Fehlentscheidungen im Wiederaufnahmeverfahren zu qualifzieren.278 Überzeugend erscheint auch hier die Ansicht der m.M., die dem Zulassungsgericht eine eigene Entscheidungskompetenz zuspricht.279 272  BVerfG NStZ 1994, 43, 44; LG Saarbrücken, Beschluss vom 20.08.2013, Az. 2 Ks 05 Js 216 / 06 (1 / 13), in: BeckRS 2014, 03013; OLG Frankfurt a. M., Beschluss vom 29.01.2014, 1 Ws 100 / 13, in: BeckRS 2014, 04640; OLG München, Beschluss vom 09.03.2010, Az. 3 Ws 109, 110, 111, 112 / 10, in: BeckRS 2011, 00034. 273  MAH Strafverteidigung-Strate, § 27 / 77, der sich für eine derartige Möglichkeit unter Hinweis auf OLG Hamm GA 1957, 90, 91 und LR-Gössel, § 368 / 16 ausspricht. Mit Beschluss vom 09.11.1956 hatte das OLG Hamm explizit ausgeführt, dass über die Frage der Neuheit die an der Hauptverhandlung beteiligten Personen, insbesondere also durch dienstliche Äußerungen der Richter, überprüft werden können, vgl. OLG Hamm GA 1957, 90. 274  KMR-Eschelbach, § 359 / 161; MAH Strafverteidigung-Strate, § 27 / 78; Schäfer, StV 1995, 147, 154. 275  BGHSt 18, 225, 226; BGHSt 19, 365, 366 f.; BVerfG NJW 1995, 2024; LG Gera, Beschluss vom 16.01.2015, Az. 6 Reha 34 / 13, in: BeckRS 2015, 05807. Einschränkend LG Gießen NJW 1994, 465, 466, dass das Wiederaufnahmegericht zwar ausnahmslos an die Rechtsauffassung des erkennenden Gerichts, nicht aber an dessen Beweiswürdigung einschränkungslos gebunden sei. v. Stackelberg, in: Festgabe Peters, S. 456 f.; Eisenberg, Beweisrecht der StPO, Rn. 450. 276  Wasserburg, Die Wiederaufnahme des Strafverfahrens, S. 325; v. Stackelberg, in: Festgabe Peters, S. 456. 277  BGHSt 18, 225, 226. 278  Wasserburg, ZStW 94 (1982), 914, 942; Wasserburg, Die Wiederaufnahme des Strafverfahrens, S. 197. 279  OLG Stuttgart StV 1990, 539 f. LR-Gössel, § 359 / 162; AK-Loos, § 370 / 13; HK-Temming, § 368 / 6; Peters, Fehlerquellen im Strafprozeß III, S. 99 f.; Wasserburg, Die Wiederaufnahme des Strafverfahrens, S. 325; Förschner StV 2008, 443, 445. Auch der Gesetzesentwurf vom 29.01.1996 (BT-Drs 13 / 3594, S. 3) sah vor, dass die



A. Wiederaufnahmegrund § 359 Nr. 5 StPO411

Für die m.M. spricht weiter, dass es einem Wiederaufnahmegericht gar nicht möglich sein kann, sich in die Sichtweise des Ausgangsgerichts vollständig hineinzudenken.280 Gerade intuitive Elemente der Überzeugungsbildung können in den Urteilsausführungen nicht reproduziert werden. Letztlich wäre ein entsprechender Versuch nicht mehr als eine bloße Spekulation zu der Frage, ob das erkennende Gericht – dessen komplexe Hauptverhandlung mangels Dokumentation nicht nachvollziehbar ist – bei Kenntnis des in der Wiederaufnahme vorgetragenen neuen Umstands noch überzeugt von seinem Urteil wäre.281 Eine Bindung des Wiederaufnahmegerichts an die Beweiswürdigung des Erstgerichts ist ferner weder dem Wortlaut282 der lex lata zu entnehmen, noch nach Sinn und Zweck der Wiederaufnahmeregelungen erforderlich. Die Prüfung der Geeignetheit des Wiederaufnahmevortrags ist vielmehr gerade losgelöst von der Beweiswürdigung des Ausgangsgerichts in eigener Verantwortung vorzunehmen.283 Dies ergibt sich bereits aus dem Gesetzeswortlaut, der insoweit voraussetzt, dass die nova geeignet „sind“, nicht „waren“ oder Beurteilung aus Sicht des Wiederaufnahmegerichts zu erfolgen habe. Nicht überzeugend OLG Köln NStZ 1991, 96, das der Meinung ist, dass die Geeignetheit aus Sicht des Wiederaufnahmegerichts oder des Tatgerichts beurteilt werden könne. Wasserburg, ZRP 1997, 412, 415; Eisenberg, JR 2007, 360, 366 ff. und Eisenberg, Beweisrecht der StPO, Rn. 463. 280  LR-Gössel, § 359 / 162. Unzulässig soll es aufgrund des Beratungsgeheimnisses bspw. auch sein, die erkennenden Richter der angefochtenen Entscheidung zu hören, vgl. BGHSt 19, 365, 366. Entsprechend kann auch die bevorstehende Hauptverhandlung nicht prognostiziert werden, so dass auch der Standpunkt des künftigen Gerichts untauglich ist. 281  Rieß, NStZ 1994, 153, 157; Eisenberg, JR 2007, 360, 367; so auch LR-Gössel, § 359 / 162; Peters JR 1977, 218, 219; Wasserburg, StV 1992, 104, 105; Peters, Fehlerquellen im Strafprozeß III, S. 50; mit weiteren Einzelheiten auch Theobald, Barrieren des strafrechtlichen Wiederaufnahmeverfahrens, S. 110 ff. A. A. BVerfG NJW 1993, 2735, 2736; BGHSt 17, 303, 304; BGHSt 18, 225, 226; BGHSt 19, 365, 366; BGH MDR 1993, 167, 169; OLG Hamm MDR 1974, 250 f.; LG Mannheim StV 1992, 103, 104, die zu Unrecht davon ausgehen, dass es für die Prüfung der Geeignetheit auf den Standpunkt des erkennenden Gerichts ankommt. Diese Ansicht ist bereits deshalb abzulehnen, weil eine derartige Beurteilung rein tatsächlich unmöglich ist und auch die Rspr. es als unzulässig erachtet, die erkennenden Richter der angefochtenen Entscheidung zu hören, vgl. BGHSt 19, 365, 366. 282  Auch der Wortlaut spricht vielmehr für die Ansicht der m.M., soweit der Gesetzgeber verlangt, dass die nova zum Erreichen des Wiederaufnahmeziels geeignet sind. Ob dies der Fall ist, kann nur vom Standpunkt des Wiederaufnahmegerichts entschieden werden. Andernfalls hätte der Gesetzgeber die Regelung im Konjunktiv formulieren müssen. Vgl. hierzu Theobald, Barrieren des strafrechtlichen Wiederaufnahmeverfahrens, S. 114; Hanack, JZ 1974, 19, 20; J. Meyer, ZStW 84 (1972), 909, 934; LR-Gössel, § 359 / 160. 283  BT-Drs. 13 / 3594, S. 6; LR-Gössel, § 359 / 162; SSW-Kaspar, § 368 / 6.

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„gewesen wären“.284 Andernfalls wäre das Wiederaufnahmegericht an einer einheitlichen, eigenverantwortlichen Würdigung des Vorbringens ebenso gehindert wie an der gem. BGHSt 19, 365, 366 gebotenen Gesamtwürdigung aller Beweise.285 Dies wäre im Hinblick auf die verfassungsrechtlichen Garantien des Rechtsstaatsprinzips, des fairen Verfahrens sowie des gesetzlichen Richters bedenklich. Zugleich wäre ein derartiges Verständnis ein Verstoß gegen den Anspruch auf rechtliches Gehör.286 Die Wiederaufnahmerichter sind gem. Art. 97 Abs. 1 GG unabhängig und können demnach die Beweisgrundlagen eigenverantwortlich prüfen.287 Nur so kann das Wiederaufnahmerecht auch seiner Funktion als Berufungsersatz entsprechen.288 Wäre das Wiederaufnahmegericht an die Beweiswürdigung des Ausgangsgerichts gebunden, müssten auch fehlerhafte und nicht tragfähige Beweiswürdigungen unkorrigiert übernommen werden. Ein Wiederaufnahmegericht wäre dann verpflichtet, erkennbare Mängel in der Beweiswürdigung des angegriffenen Urteils der eigenen Entscheidung zugrunde zu legen. Dies soll jedoch gerade – auch nach Meinung der h.A. – ausgeschlossen werden.289 Es ist die Aufgabe des Wiederaufnahmegerichts, Fehler zu beseitigen.290 Andernfalls müsste der Wiederaufnahmerichter gerade die evidenten Fehlleistungen des Ausgangsgerichts seiner hypothetischen Prüfung im Zulassungsverfahren zugrunde legen.291 Damit hätte die Wiederaufnahme ihre tatsächliche Funktion als Berufungsersatz verloren.292 Dies gilt umso mehr, als doch gerade die tatsächlichen Urteilsfeststellungen mit Hilfe des Wiederaufnahmeverfahrens in Zweifel gezogen werden. Sind aber nicht nachvollziehbare Überlegungen des Ausgangsgerichts wirksam geworden, ist kein Grund ersichtlich, dass das Wiederaufnahmegericht an diese angegriffenen Urteilsgrundlagen gebunden sein sollte.293 284  Wasserburg,

Die Wiederaufnahme des Strafverfahrens, S. 325. GA 2013, 328, 333; KMR-­Eschelbach, Vor § 359 / 11. Gegen eine solche Gesamtwürdigung spricht sich wohl SK-Frister, § 370 / 11 ff. aus. 286  Wasserburg / Eschelbach, GA 2003, 335, 348. 287  KMR-Eschelbach, § 368 / 16. 288  LR-Gössel, § 359 / 160. 289  Peters, Fehlerquellen im Strafprozeß III, S. 100; MG § 368 / 9; KK-Schmidt, § 368 / 14. Marxen / Tiemann, Die Wiederaufnahme in Strafsachen, Rn. 228; Hanack, JZ 1974, 19; J. Meyer, ZStW 84 (1972), 909, 934; Wasserburg, ZStW 94 (1982), 914, 943; Günther, MDR 1974, 93, 94. 290  KMR-Eschelbach, Vor § 359 / 11. 291  Wasserburg, ZStW 94 (1982), 914, 943. 292  Geipel, in: Miebach / Hohmann, Wiederaufnahme in Strafsachen, Teil  C, Rz. 19; Theobald, Barrieren im strafrechtlichen Wiederaufnahmeverfahren, S. 115. 293  KMR-Eschelbach, Vor § 359 / 12 unter Hinweis darauf, dass jedoch die rechtliche Bewertung von der Rechtskraft umfasst wird und daher bindend sein soll. 285  Bock / Eschelbach / Geipel / Hettinger / Röschke / Wille,



A. Wiederaufnahmegrund § 359 Nr. 5 StPO413

Hinzu kommt, dass sich die Rechtskraft der im Wiederaufnahmeverfahren angefochtenen Ausgangsentscheidung gerade nicht auf die Tatsachenfeststellungen bezieht.294 Sind jedoch noch nicht einmal die rechtskräftigen Tat­ sachenfeststellungen bindend, besteht kein Grund, das Wiederaufnahmegericht an die Ausgangsentscheidung zu binden.295 Im Übrigen wäre der Wiederaufnahmerichter dann teilweise an die Beweiswürdigung des Ausgangs­ gerichts gebunden, während er andererseits neue Beweise im Rahmen der von der h. M. tolerierten antizipierten Beweiswürdigung eigenverantwortlich würdigen könnte. Nicht verkannt werden darf, dass die maßgeblichen Entscheidungen des Bundesgerichtshof zur Frage des Beurteilungsstandpunktes (i. S. d. der h. M.) aus den Jahren 1962–1964 stammen, mithin noch vor dem Inkrafttreten des Strafprozessänderungsgesetzes vom 19.12.1964 bzw. dem ersten Gesetz zur Reform des Strafverfahrensrechts vom 09.12.1974 ergingen. Aus der 1974 eingeführten Zuständigkeitsbestimmung des § 140a GVG, nach der die Entscheidung über einen Wiederaufnahmeantrag ausdrücklich einem anderen als dem erkennenden Gericht übertragen ist, lässt sich der eindeutige Wille des Gesetzgebers entnehmen, dass sich das Wiederaufnahmegericht von der Beurteilung des erkennenden Gerichts insgesamt frei machen soll.296 Auch gem. § 23 Abs. 2 StPO ist der Tatrichter von der Entscheidung im Wiederaufnahmeverfahren ausgeschlossen. Der Normzweck würde verfehlt, müsste das Wiederaufnahmegericht den Standpunkt des Tatgerichts einnehmen.297 Eine Bindungswirkung des Wiederaufnahmegerichts besteht demnach nur insoweit, als festzustellen ist, ob und gegebenenfalls in welchem Ausmaß das Tatgericht die in der angefochtenen Entscheidung herangezogenen Tatsachen und Beweismittel zur Feststellung des Sachverhalts herangezogen hat.298 Im Übrigen entscheidet das Wiederaufnahmegericht von seinem Standpunkt aus.299 294  KMR-Eschelbach,

Vor § 359 / 11. Vor § 359 / 11. 296  Peters, Fehlerquellen im Strafprozeß III, S. 27; Theobald, Barrieren des strafrechtlichen Wiederaufnahmeverfahrens, S. 113. 297  BVerfG, Beschluss vom 19.07.2002, Az. 2 BvR 18 / 02, in: BeckRS 2002, 30273719; Theobald, Barrieren des strafrechtlichen Wiederaufnahmeverfahrens, S. 113. 298  LR-Gössel, § 359 / 159. Eine strenge Bindung an die Rechtsauffassung nehmen demgegenüber an: BGH NJW 1993, 1481, 1484; Marxen / Tiemann, Die Wiederaufnahme in Strafsachen, Rn. 230; Theobald, Barrieren des strafrechtlichen Wiederaufnahmeverfahrens, S. 117. 299  So auch BT-Drs. 12 / 6219, S. 6 und BT-Drs. 13 / 3594, S. 1 und 6. OLG Stuttgart StV 1990, 539 f.; LR-Gössel, § 359 / 162; Peters, Fehlerquellen im Strafprozeß III, S. 99 ff.; Wasserburg, Die Wiederaufnahme des Strafverfahrens, S. 325 f.; Wasser295  KMR-Eschelbach,

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Teil 3: Betrachtung des Anwendungsdefizits des § 359 Nr. 5 StPO

Soweit Dippel Bedenken hegt, ob die Beurteilung vom Standpunkt des Wiederaufnahmegerichts gegen die Prinzipien der Mündlichkeit und Unmittelbarkeit verstößt300, vermögen sie angesichts der hier geforderten münd­ lichen Verhandlung über die Zulässigkeit des Antrags bzw. der gesetzlich zu normierenden Hinweispflicht nicht zu überzeugen. dd) Hinreichende Erfolgsaussicht bei komplexen Beweiswürdigungen und verbleibenden Hilfstatsachen Wird mit dem Antrag auf Wiederaufnahme des Verfahrens nur eine von mehreren Stützen des Schuldspruchs in Frage gestellt, muss das Wiederaufnahmegericht für die Frage der Geeignetheit prüfen, ob durch den Wegfall einer Stütze das gesamte Urteil in Frage zu stellen ist. Hierfür ist eine Gesamtbetrachtung mit der früheren Beweislage, wie sie sich aus den Urteilsgründen ergibt, vorzunehmen.301 Richtet sich das neue Vorbringen nur (zum Teil) gegen Hilfstatsachen302, auf die sich das angegriffene Urteil stützt, ist von einer hinreichenden Erfolgsaussicht auszugehen, wenn die Beweiskraft der verbleibenden belastenden Indizien voraussichtlich nicht ausreicht, um erneut zu einer Verurteilung zu führen. Dies ist bei mehreren Indizien bereits dann der Fall, wenn diese untereinander nicht gewichtet wurden, die den Schuldspruch tragenden Hilfstatsachen also als gleichwertig anzusehen sind, so dass der Schuldspruch durch den Wegfall einer Hilfstatsache nicht mehr tragbar erscheint.303 Dabei ist auch zu berücksichtigen, dass die Beweiskraft einzelner Indizien durch den Wegfall von Hilfstatsachen oder das Hinzutreten neuer entlastender Indizien eingeschränkt sein kann.304

burg, StV 1992, 104, 105; Förschner StV 2008, 443, 445; Theobald, Barrieren des strafrechtlichen Wiederaufnahmeverfahrens, S. 117; Marxen / Tiemann, Die Wiederaufnahme in Strafsachen, Rn. 387. 300  Dippel, Die Wiederaufnahme des Strafverfahrens im deutschen und ausländischen Recht, S. 102. 301  LG Gießen NJW 1994, 465, 466; LG Saarbrücken, Beschluss vom 20.08.2013, Az. 2 Ks 05 Js 216 / 06 (1 / 13), in: BeckRS 2014, 03013. 302  Hilfstatsachen sind solche, die nur den Schluss auf eine unmittelbar rechtsfolgenrelevante Haupttatsache zulassen, vgl. Marxen / Tiemann, Die Wiederaufnahme in Strafsachen, Rn. 203. 303  Marxen / Tiemann, Die Wiederaufnahme in Strafsachen, Rn. 238; OLG Karlsruhe, Beschluss vom 08.10.2004, Az. 3 Ws 100 / 04, in: BeckRS 2004, 09772; Eisenberg, JR 2007, 360, 364. 304  Marxen / Tiemann, Die Wiederaufnahme in Strafsachen, Rn. 238.



A. Wiederaufnahmegrund § 359 Nr. 5 StPO415

ee) Zusammenfassung Theobald geht davon aus, dass der Begriff der Geeignetheit den „Mittelpunkt der wiederaufnahmerechtlichen Praxis“ bildet.305 Bereits Alsberg kritisierte 1913, dass in der Praxis überzogene Anforderungen an die Geeignetheit neuer Tatsachen oder Beweismittel gestellt werden. Er spricht sich dafür aus, dass es für die Zulässigkeit eines Wiederaufnahmeantrags ausreichen sollte, wenn die wesentlichen Grundlagen eines früheren Urteils erschüttert werden.306 Auch die Strafrechtskommission des deutschen Richterbundes erachtet es für die Zulässigkeit eines Antrags als ausreichend, dass begründete Zweifel an der Richtigkeit des Grundurteils bestehen.307 Der Geeignetheitsbegriff des § 359 Nr. 5 StPO wird in der Rechtsprechung dahingehend interpretiert, dass das Gericht bereits im Aditionsverfahren den der nova zukommenden Beweiswert im Voraus würdigen kann, soweit dies ohne förmliche Beweisaufnahme möglich ist.308 Eine rein abstrakte Schlüssigkeitsprüfung wird mit dem Argument verneint, dass diese zu formal gedacht sei, da es nicht dem Willen des Gesetzgebers entsprechen könne, dass das Wiederaufnahmegericht einen Antrag als zulässig erachtet, wenn er offensichtlich unbegründet sei.309 Zudem könne der Verurteilte andernfalls durch geschickt erdachtes Vorbringen, ohne Rücksicht auf den Wahrheitsgehalt seines Vorbringens, einen zulässigen Wiederaufnahmeantrag stellen.310 Deshalb sei u. a. aus prozessökonomischen Gründen eine Abwägung der Beweiskraft eines novums unumgänglich, die vorweggenommene Beweiswürdigung unvermeidlich.311 Damit ist dem Wiederaufnahmerichter ein zu großer Ermessensspielraum eröffnet.312 Die Prüfung der Geeignetheit des Wiederaufnahmevorbringens nach Auffassung der h. M. stellt sich dabei als Leerformel dar. Ist das Wiederaufnahmegericht an die denkgesetzlich mögliche Beweiswürdigung des damaligen Gerichts gebunden, reicht aber zugleich, dass eine genügende Wahrscheinlichkeit für die Erschütterung der damaligen Beweiswürdigung vorliegt, ist

305  Theobald,

Barrieren des strafrechtlichen Wiederaufnahmeverfahrens, S. 42. Justizirrtum und Wiederaufnahme, S. 101. 307  Rieß, NStZ 1994, 153, 158. 308  BGH NStZ 2000, 218; OLG Koblenz StV 2003, 229; OLG Braunschweig NJW 1959, 1984; OLG Köln NStZ 1991, 96, 97 f. 309  OLG Nürnberg MDR 1964, 171. 310  OLG Celle GA 1967, 284. 311  BGH JR 1977, 217; BGH NJW 1977, 59. 312  MAH Strafverteidigung-Strate, § 27 / 71. 306  Alsberg,

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Teil 3: Betrachtung des Anwendungsdefizits des § 359 Nr. 5 StPO

tatsächlich kein Maßstab mehr greifbar.313 Vielmehr erscheint der Maßstab der Wahrscheinlichkeit zu unbegrenzt und damit willkürlich. Für die im Rahmen der Geeignetheitsprüfung nach § 359 Nr. 5 StPO vorzunehmende Prognose ist daher, wie dargestellt, der m.M., die von einem Möglichkeitsmaßstab ausgeht, zu folgen. Um jedoch den Bedenken der h. M. Rechnung zu tragen, ist eine zur Geeignetheit i. S. d. § 359 Nr. 5 StPO führende Möglichkeit der Zielerreichung nicht für die Zulässigkeit eines Wiederaufnahmeantrages ausreichend, wenn eine Beweiserhebung gem. § 244 Abs. 3–5 StPO ausgeschlossen ist. 2. Erweiterte Darlegungslast Im Rahmen eines Wiederaufnahmeverfahrens sind sog. erweiterte Darlegungslasten anerkannt. Diese von der Rechtsprechung entwickelten Obliegenheiten sollen im Fall verfahrensinterner Widersprüchlichkeiten zwischen den vorgebrachten neuen Tatsachen bereits bekannter Beweismittel im Vergleich zum bisherigen Verfahrensstand und Verfahrenslauf bestehen.314 Sie soll den Antragsteller zwingen, auszuführen, warum die neuen Erkenntnisse gegenüber dem bisherigen Erkenntnisstand geeignet sind, die Wiederaufnahme des Verfahrens zu begründen. Die Rechtsfigur war ursprünglich als Ausnahme gedacht, die Geeignetheit einer Tatsache oder eines Beweismittels i. S. d. § 359 Nr. 5 StPO aufgrund des eingeschränkten Beweiswerts bereits bekannter Beweismittel darzustellen. Sie korrespondiert mit der von der h. M. für zulässig erachteten Beweisantizipation im Aditionsverfahren, um den Beweiswert des Antragsvorbringens prüfen zu können.315 a) Erfordernis erweiterter Darlegungen Den Antragsteller trifft die erweiterte Darlegungslast dem Wahrscheinlichkeitsmaßstab der h. M. folgend insbesondere dann, wenn er unter Geltendmachung einer neuen Beweisrichtung auf solche Hilfstatsachen oder Beweismittel zurückgreift, die bereits vom erkennenden Gericht berücksichtigt wurden.316 Es reiche nicht, wenn der Antragsteller hierzu schlüssig vorträgt, vielmehr müsse er auch die Eignung des vorgebrachten Umstands nach § 359 313  So auch Geipel, in: Miebach / Hohmann, Wiederaufnahme in Strafsachen, Teil C, Rz. 20 f. 314  Marxen / Tiemann, Die Wiederaufnahme in Strafsachen, Rn. 242. 315  AK-Loos, § 368 / 32. 316  Marxen / Tiemann, Die Wiederaufnahme in Strafsachen, Rn. 242; Theobald, Barrieren im strafrechtlichen Wiederaufnahmeverfahren, S. 139. Wird keine neue Beweisrichtung vorgetragen, wäre das Vorbringen bereits mangels Neuheit unzulässig.



A. Wiederaufnahmegrund § 359 Nr. 5 StPO417

Nr. 5 StPO darlegen,317 wenn nach bisherigem Erkenntnisstand alles für die Nutzlosigkeit der Beweiserhebung spreche.318 Dies sei aus Gründen der Prozessökonomie veranlasst, da nicht mit bloßen Behauptungen ein Wiederaufnahmeverfahren erzwungen werden können soll.319 Zum Teil werden die erweiterten Darlegungs- und Beweisführungslasten als gesteigerte Auswirkungen der Akkusationsmaxime betrachtet320 oder zugleich als Indiz für die abwehrende Haltung der Wiederaufnahmegerichte.321 Sie ermöglichen dem Wiederaufnahmegericht, ohne eingehende Würdigung der Beweislage, einen Wiederaufnahmeantrag zu verwerfen und dienen damit der Verfahrensbeschleunigung.322 Dass die erweiterte Darlegungslast nötig sein soll, weil der Wert einer neu vorgebrachten Tatsache oder eines neu vorgebrachten Beweismittels nicht ohne Weiteres erkennbar sei323 oder alles für die Nutzlosigkeit der Beweiserhebung spreche324, darf jedenfalls nicht zu einer pauschalen Vorwegnahme der Beweiswürdigung im Aditionsverfahren führen und folglich auch nicht zu einer überzogen restriktiven Behandlung von Wiederaufnahmeanträgen, die früheren Beweisergebnissen widersprechen.325 Umstritten ist das Verhältnis der erweiterten Darlegungslast schließlich zur Frage der Geeignetheit des Wiederaufnahmevorbringens. Bisweilen wird vertreten, dass die erweiterte Darlegungslast unabhängig von der Geeignetheit zu beurteilen sei.326 Die überzeugende und h. M. stellt jedoch insgesamt für die Frage der Geeignetheit auf die Erfolgsaussichten ab. In Fällen der verfahrensinternen Widersprüchlichkeit – die nach Ansicht der h. M. ein Teilaspekt der Geeignetheit des Vorbringens ist – kann eine solche Wahrscheinlichkeit für Fälle verfahrensinterner Widersprüchlichkeit nicht angenommen werden, ohne dass der Antragsteller sein widersprüchliches Prozessverhalten nachvollziehbar, plausibel, schlüssig, einleuchtend, verständlich und überzeugend erklärt.327 317  BGH

NJW 1977, 59. NJW 1977, 59; OLG Rostock NStZ 2007, 357. 319  BGH JR 1977, 217; BGH NJW 1977, 59; Wasserburg, Die Wiederaufnahme des Strafverfahrens, S. 326. 320  LR-Gössel, Vor § 359 / 13. 321  Marxen / Tiemann, Die Wiederaufnahme in Strafsachen, Rn. 275. 322  Theobald, Barrieren im strafrechtlichen Wiederaufnahmeverfahren, S. 144. 323  KK-Schmidt, § 359 / 37; LR-Gössel, § 359 / 177. 324  BGH JR 1977, 217, 218; OLG Rostock NStZ 2007, 357; OLG Düsseldorf NStZ 2004, 454, 455; MG § 359 / 51. 325  Marxen / Tiemann, Die Wiederaufnahme in Strafsachen, Rn. 254. 326  AK-Loos, § 368 / 33 f. 327  Hellebrand, NStZ 2004, 413, 417 f.; Eisenberg, JR 2007, 360, 366. 318  BGH

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Teil 3: Betrachtung des Anwendungsdefizits des § 359 Nr. 5 StPO

b) Fallgruppen In der Rechtsprechung wurden Fallgruppen entwickelt, die eine erweiterte Darlegungslast des Antragstellers auslösen sollen. So etwa beim Widerruf eines Geständnisses328, der wesentlichen Änderung des Aussageverhaltens des Verurteilten329, dem Verzicht auf Rechtsmittel330 oder im Hinblick auf besonders erinnerungsstarke Zeugen331 und Belastungszeugen, die entgegen ihrer ursprünglichen Darstellungen, den Verurteilten nunmehr entlasten können.332 Auch in Fällen des Widerrufs belastender Angaben durch einen ehemals ­Mitangeklagten und bei entlastenden Angaben eines ehemals schweigenden Mitangeklagten treffe den Antragsteller eine erweiterte Darlegungslast.333 Wenn ein zunächst das Zeugnis verweigernder Zeuge nunmehr aussagebereit ist, müsse der Antragsteller die Aussagebereitschaft einleuchtend erklären.334 328  So muss der Verurteilte erklären, warum er ein falsches Geständnis abgelegt hat und warum er dieses nicht bereits im Grundverfahren widerrufen hat, vgl. BGH NJW 1977, 59; OLG Köln NStZ 1991, 96, 97; OLG Frankfurt StV 1984, 17; OLG Celle JR 1967, 150, 151; OLG München NJW 1981, 593, 594. Brinkmann, Zum Anwendungsbereich der §§ 359 ff. StPO, S. 259 sieht darin jedoch keine problematische Antragshürde. 329  KG JR 1975, 166; OLG Bremen NJW 1981, 2827. Hat der Angeklagte in der Hauptverhandlung zunächstvon seinem Schweigerecht Gebrauch gemacht, trifft ihn keine erweiterte Darlegungslast betreffend das Vorbringen entlastender Tatsachen, vgl. KG StraFo 2014, 206, 207. 330  Alexander, in: Miebach / Hohmann, Wiederaufnahme in Strafsachen, Teil  F, Rz. 197. 331  Hier fordert die Rechtsprechung, dass der Verurteilte darlegt, warum sich der Zeuge auch noch nach Jahren an ein Detail erinnern könne, vgl. OLG München NStZ 1984, 380. Damit werden nicht nur bereits im Ausgangsverfahren bekannte Beweismittel von der erweiterten Darlegungslast erfasst („verfahrensinterne Widersprüchlichkeit“), sondern auch neue Beweismittel, die erstmals im Wiederaufnahmeantrag vorgebracht werden. 332  In diesen Fällen fordert die Rechtsprechung, dass der Antragsteller darlegt, warum der Zeuge bislang der Wahrheit zuwider ausgesagt hat, wann es zu der Änderung des Aussageverhaltens kam und warum der Verurteilte diese Umstände erst i. R. d. Wiederaufnahme vorbringt, vgl. OLG Köln NStZ 1991, 96, 98. Das OLG Köln fordert in seinem Beschluss vom 15.07.2013, 1 Ws 288 / 13, in: BeckRS 2013, 17033, dass der Verurteilte in diesem Fall darzulegen habe, unter welchen Umständen und mit welcher Begründung der Zeuge früher andere Angaben gemacht hat und weshalb nunmehr ein Wechsel seiner Aussage zugunsten des Antragstellers zu erwarten sei. s. auch BVerfG NJW 1994, 510; BGH NJW 77, 59; OLG Rostock NStZ 2007, 357, 358. 333  OLG Hamm JMBl. NRW 1955, 20; MG § 359 / 49; LR-Gössel, § 359 / 185. Zum genauen Umfang in diesen Fällen: Alexander, in: Miebach / Hohmann, Wiederaufnahme in Strafsachen, Teil F, Rz. 200 ff. 334  Marxen / Tiemann, Die Wiederaufnahme in Strafsachen, Rn. 249. A. A. KG NStZ 2014, 670, 671 und Alexander, in: Miebach / Hohmann, Wiederaufnahme in Strafsachen, Teil F, Rz. 199.



A. Wiederaufnahmegrund § 359 Nr. 5 StPO419

Ebenso muss der Antragsteller dartun, warum er auf eine Beweiserhebung einstmals verzichtete oder davon abgesehen hatte, ein bestimmtes Beweismittel zu benennen und weshalb ihn das Beweismittel nunmehr entlasten könne.335 Schließlich trifft den Antragsteller eine erweiterte Darlegungslast auch hinsichtlich neuer Sachverständigenbeweise, sofern ein Sachverständigenbeweis vom Erstgericht unter Hinweis auf die eigene Sachkunde abgelehnt worden war oder bereits Beweis mittels eines (anderen) Sachverständigengutachtens erhoben wurde.336 Im Fall eines Geständniswiderrufs etwa handle es sich lediglich um das Gegenteil einer bereits bekannten Hilfstatsache, die eine erweiterte Darlegungslast des Antragstellers auslöse.337 Die Rechtskraft der Verurteilung stehe jedoch nicht unter der Bedingung eines fortlaufend aufrechterhaltenen Geständnisses338, so dass der Antragsteller eine überzeugende Erklärung für sein widersprüchliches Verhalten vorbringen müsse, um nicht bereits an der Geeignetheit seines Vortrags zu scheitern.339 Nur hierdurch könne der hohe Beweiswert eines ehemaligen Geständnisses erschüttert werden.340 Diese erweiterte Darlegungslast soll auch dann gelten, wenn das Geständnis im Hinblick auf eine Verständigung erfolgte341, wenngleich hier die Anforderungen geringer sind: Ausreichend soll sein, dass der Antragsteller erklärt, dass eine Verweigerung der Absprache mit dem Risiko einer höheren Strafe verbunden gewesen wäre.342 Geringere Anforderungen an den Geständniswiderruf wären auch in den Fällen anzunehmen, in denen das Protokoll kein Geständnis des Angeklagten enthält, mithin auch davon ausgehen ist, dass dies nicht auf seine Richtigkeit hin überprüft wurde.343 335  OLG Düsseldorf NStZ 1993, 504; OLG Hamm, Beschluss vom 09.09.2009, Az. 3 Ws 311 / 09, in: BeckRS 2009, 27942. KG, Beschluss vom 08.01.1999, Az. 1 AR 1394 / 98 – 3Ws 707 / 98, in: BeckRS 2014, 13821; OLG Stuttgart NStZ-RR 2003, 210, 211; OLG Frankfurt StV 1984, 17; OLG Köln NJW 1963, 967, 968; MG § 359 / 49a. A. A. AK-Loos, § 359 / 71 f., wonach passives Verhalten nicht erläuterungsbedürftig sei. Lediglich wenn sich der Antragsteller mit eigenem aktiven Verhalten in Widerspruch setze, treffe ihn eine Darlegungslast. 336  Alexander, in: Miebach / Hohmann, Wiederaufnahme in Strafsachen, Teil  F, Rz. 206. 337  BGH JR 1977, 217, 218; OLG Köln NJW 1963, 967, 968; MG § 359 / 47; a.A: Marxen / Tiemann, Die Wiederaufnahme in Strafsachen, Rn. 244. 338  AG Starnberg, StV 2008, 516, 517. 339  BGH JR 1977, 217, 218; OLG Bremen NJW 1952, 678; OLG Köln NJW 1963, 967, 968; OLG Köln StV 1989, 98, 99 f.; OLG Köln NStZ 1991, 96, 97; LG Landau StV 2009, 237; LR-Gössel, § 359 / 181. 340  OLG Köln NStZ 1991, 96, 97; K.-H. Meyer, in: Festgabe Peters, S. 390. 341  BayVerfGH NStZ 2004, 447, 449. 342  Hellebrand, NStZ 2004, 413, 417 f. 343  AG Starnberg, StV 2008, 516, 517.

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Teil 3: Betrachtung des Anwendungsdefizits des § 359 Nr. 5 StPO

Die erweiterten Anforderungen an die Darlegungslast gelten auch, wenn der Antragsteller sich im Rahmen der Wiederaufnahme abweichend oder erweitert einlässt. Hier muss er erklären, was ihn zur Änderung seiner Angaben bewogen hat.344 Er ist demnach insbesondere gehalten, sein eigenes widersprüchliches Prozessverhalten zu erklären, etwa im Fall des Geständniswiderrufs345, eines Geständnisses nach zunächst bestreitender Einlassung346, einer Einlassung nach zunächst geltend gemachten Erinnerungslücken347 oder nach dem Verzicht auf Beweismittel, die später ein Wiederaufnahmegesuch stützen.348 Nicht erklären muss er sich, wenn er zunächst geschwiegen hatte. Sein Schweigen bedarf gegenüber dem Tatrichter keiner Rechtfertigung, so dass der Antragsteller auch dem Wiederaufnahmegericht keine Auskünfte erteilen muss.349 c) Kritik Aber auch in Fällen, in denen eine Pflicht zu erweiterter Darlegung angenommen wird, differenziert die Rechtsprechung sehr weitreichend. So dürfen etwa beim Widerruf einer belastenden Zeugenaussage nicht die gleichen Anforderungen gestellt werden wie beim Widerruf eines Geständnisses.350 Wird hier die Darlegung eines nachvollziehbaren Motivs des Antragstellers für ein ursprüngliches Falschgeständnis als erforderlich erachtet, soll dort 344  MG

§ 359 / 47. NJW 1977, 59; OLG Düsseldorf NStZ 2004, 454, 455; OLG Köln NStZ 1991, 96, 97; OLG Köln NJW 1963, 967, 968; OLG Celle JR 1967, 150 f.; OLG Köln StV 1989, 98; OLG Stuttgart NJW 1999, 375, 376; AG Starnberg, StV 2008, 516, 517. Diese Anforderungen sollen auch dann gelten, wenn das später widerrufene Geständnis i. R.e. Verständigung gem. § 257c StPO abgelegt wurde, vgl. BayVerfGH NStZ 2004, 447, 449; KG StraFo 06, 169; LG Landau StV 2009, 237. 346  KG JR 1975, 166; OLG Frankfurt StV 1984, 17; OLG Bremen NJW 1981, 2827. 347  OLG Bremen NJW 1981, 2827. 348  LG Landshut, Beschluss vom 18.09.2013, Az. 3 Qs 154 / 13, in: BeckRS 2014, 07731 betont jedoch zugleich, dass die erhöhte Darlegungslast nur dann gefordert werden könne, wenn eine Hauptverhandlung stattgefunden hat, in welcher die Entscheidungsgrundlagen des Gerichts für den Betroffenen in nachvollziehbarer Weise erarbeitet wurden, so dass für ihn die Wertigkeit und Bedeutung einzelner Beweismittel erkennbar wurde. 349  OLG Jena NStZ-RR 2010, 251; KG NStZ 2014, 670; K.-H. Meyer, in: Festgabe Peters, S. 397 f. Entsprechendes gilt, wenn ein zunächst von seinem Zeugnisverweigerungsrecht Gebrauch machender Zeuge später Angaben macht, vgl. SSW-Kaspar, § 359 / 38. A. A. Marxen / Tiemann, Die Wiederaufnahme in Strafsachen, Rn. 246. 350  LG Saarbrücken, Beschluss vom 20.08.2013, Az. 2 Ks 05 Js 216 / 06 (1 / 13), in: BeckRS 2014, 03013. 345  BGH



A. Wiederaufnahmegrund § 359 Nr. 5 StPO421

schon die Darlegung der Umstände, unter denen der Zeuge von der ursprünglichen Aussage abgerückt ist, ausreichen.351 Falls Aussagen widerrufen werden, kann eine erweiterte Darlegungslast richtigerweise jedoch nur in Fällen eines widerrufenen Geständnisses bestehen. Hat ein Zeuge seine belastende Aussage widerrufen und damit den Anwendungsbereich des § 359 Nr. 5 StPO eröffnet, kann vom Antragsteller keine erweiterte Darlegungslast über die Beweggründe des Zeugen verlangt werden, da er ansonsten auf das Mitwirken des Zeugen angewiesen wäre. Dies kann er jedoch nicht erzwingen.352 Weiter könnte seitens der Ermittlungsbehörden schnell die Gefahr der Beweisquellentrübung angenommen werden, wenn sich der Antragsteller mit personellen Beweismitteln in Verbindung setzt.353 In derartigen Fällen soll nach der Rspr. ausreichen, Umstände darzulegen, unter denen es zum Widerruf der Aussage gekommen ist (sog. eingeschränkte erweiterte Darlegungslast354).355 Das Bundesverfassungsgericht hatte hingegen bereits in seiner Entscheidung vom 30.04.1993 eine entsprechende Darlegungslast des Antragstellers zu der Motivation des die Aussage ändernden Zeugen für verfassungsrechtlich unbedenklich gehalten.356 Zur Begründung der erweiterten Darlegungslast wird auf den Wortlaut des § 368 Abs. 1 StPO Bezug genommen, der verlange, dass die Eignung eines Beweismittels überprüft werde.357 Da sich aus der Darlegungslast jedoch gerade die Eignung ergeben soll, kann dieses Argument als Zirkelschlusses nicht herangezogen werden.358 Die gesteigerten Darlegungs- und Beweisführungslasten sind Ausdruck des akkusatorisch geprägten Wiederaufnahmerechts, das bis zur Erneuerung der Hauptverhandlung als Ausdruck privaten Rechtsschutzinteresses anzusehen ist.359 Dieser Gedanke verträgt sich indes nicht mit dem inquisitorischen 351  KG NStZ 2014, 670. Umgekehrt ist auch im Fall des § 362 Nr. 4 StPO erforderlich, die Glaubhaftigkeit des Geständnisses darzutun. Dafür sind die Umstände anzugeben, unter denen das Geständnis abgelegt wurde (vgl. LR-Gössel, § 362 / 20; MG § 362 / 8). 352  OLG Schleswig StraFo 2003, 385; OLG Rostock NStZ 2007, 357, 358; Eisenberg, JR 2007, 360, 366. So im Ergebnis wohl auch Wasserburg / Eschelbach, GA 2003, 335, 346. 353  KMR-Eschelbach, § 366 / 50. 354  OLG Rostock NStZ 2007, 357, 358. 355  KG StraFo 2014, 206 f.; OLG Rostock NStZ 2007, 357, 358. 356  BVerfG NJW 1994, 510. 357  BGH NJW 1977, 59. 358  Theobald, Barrieren im strafrechtlichen Wiederaufnahmeverfahren, S. 148. 359  KMR-Eschelbach, § 366 / 53; Marxen / Tiemann, Die Wiederaufnahme in Strafsachen, Rn. 10.

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Teil 3: Betrachtung des Anwendungsdefizits des § 359 Nr. 5 StPO

Charakter des § 359 Nr. 5 StPO, der im Zweifel eine Durchbrechung der Rechtskraft für eine erneute Urteilsüberprüfung gebietet.360 Da aber für die Zulässigkeit, wie gesehen, die Möglichkeit der Erfolgseignung ausreichen muss, ist kein Platz für erweiterte Darlegungslasten. Zudem ermöglichen sie, im Mantel einer verbotenen antizipierten Beweiswürdigung, die dem Erneuerungsverfahren vorbehalten ist361, eine Umgehung des Probationsverfahrens.362 Denn erst durch die erweiterte Darlegungslast wird der Weg einer Beweisantizipation eröffnet, die dem Gericht eine Verwerfung des Antrags ohne Probationsverfahren ermöglicht.363 Damit jedoch würde ohne Beweiserhebung über den Beweiswert entschieden. Bei der Frage nach den genauen Umständen, warum dem nunmehr widersprüchlichen Verhalten zu glauben sei, handelt es sich um eine Beweisfrage, die dem Probationsverfahren oder u. U. sogar der Erneuerungsverhandlung vorbehalten bleiben muss.364 Die Grenzen zwischen Aditions- (Prozessentscheidung) und Probationsverfahren (Sachentscheidung) werden verwischt; i. R. d. Aditionsverfahrens findet damit bereits eine Begründetheitsprüfung statt.365 Es kann jedoch nicht Aufgabe des Aditions- und Probationsverfahrens sein, über Zweifelhaftes endgültig zu entscheiden, da andernfalls das Hauptverfahren unnötig werden würde, wenn in ihm nur über bereits Feststehendes ge­ urteilt werden würde. Im Übrigen werden im Wiederaufnahmeverfahren die Grundsätze des modernen Strafverfahrens, die Prinzipien der Öffentlichkeit, Mündlichkeit und Unmittelbarkeit nicht gewahrt.366 Die von der Rechtsprechung anerkannten Darlegungslasten stehen auch im Widerspruch zum Grundsatz des fairen Verfahrens, Art. 2 Abs. 1 i. V. m. Art. 20 Abs. 3 GG, wenn der Antragsteller von ihnen überrascht wird, und beschränken ihn so in seinem rechtlichen Gehör, Art. 103 Abs. 1 GG.367 Im gerichtlichen Verfahren obliegt dem Gericht eine Fürsorgepflicht, die ihm auferlegt, nachteilige Wirkungen, die sich durch gerichtliche Handlungen 360  KMR-Eschelbach, § 366 / 53; Theobald, Barrieren im strafrechtlichen Wiederaufnahmeverfahren, S. 156. 361  BVerfG NJW 1995, 2024, 2025. 362  Wasserburg / Eschelbach, GA 2003, 335, 346. 363  KMR-Eschelbach, § 366 / 40. 364  KMR-Eschelbach, § 366 / 51; Theobald, Barrieren im strafrechtlichen Wiederaufnahmeverfahren, S.  150 ff. 365  Theobald, Barrieren im strafrechtlichen Wiederaufnahmeverfahren, S. 160 und 162 f. Im Probationsverfahren soll eine Beweisaufnahme entbehrlich sein, wenn der Antragsteller die Zulässigkeit seines Vortrags bereits erweitert darlegen musste, vgl. Theobald, Barrieren im strafrechtlichen Wiederaufnahmeverfahren, S. 173. 366  Deml, Zur Reform der Wiederaufnahme des Strafverfahrens, S. 86. 367  Theobald, Barrieren im strafrechtlichen Wiederaufnahmeverfahren, S. 163.



A. Wiederaufnahmegrund § 359 Nr. 5 StPO423

ergeben könnten, zu verhindern.368 Konfrontiert das Gericht den Antragsteller erstmals im Beschluss über die Zulässigkeit des Verfahrens mit vermeintlich nicht erfüllten Darlegungslasten, verletzt es diese Fürsorgepflicht. Auch wäre dem Antragsteller effektiver Rechtsschutz verwehrt und er mithin in seinen verfassungsrechtlich verbürgten Rechten aus Art. 2 Abs. 1 GG und Art. 19 Abs. 4 GG verletzt369, weil das Erfordernis erweiterter Darlegungspflichten eine vom Gesetzeswortlaut nicht umfasste Einschränkung des Wiederaufnahmerechts darstellt. Dieses Erfordernis widerspricht weiter dem Prinzip der Rechtsmittelklarheit, das nach der Rspr. des Bundesverfassungsgerichts das Gebot enthält, dem Rechtssuchenden klar abgegrenzt den Weg zur Überprüfung gerichtlicher Entscheidungen zu weisen.370 d) Ergebnisse der Untersuchung Alle befragten Experten kritisierten das Erfordernis erweiterter Darlegungslasten, da sie dem Wiederaufnahmegericht die Ablehnung eines Antrags vereinfachen. Zwar wurde eine erweiterte Darlegungslast zugleich als sinnvolle Möglichkeit zum Schutz untauglicher Anträge angesehen, jedoch wurde beanstandet, dass der Umfang der von der Rspr. anerkannten Darlegungslasten nicht erkennbar und vorhersehbar sei. Auch die fehlenden Zwangsbefugnisse der Verteidigung zur Befragung von sich weigernden Zeugen, um damit den Darlegungslasten entsprechen zu können, wurde als Problem geschildert. Die Experten sprachen sich in diesem Zusammenhang für eine Normierung der erweiterten Darlegungslasten aus. e) Lösungsvorschläge Wasserburg fordert, dass aufgrund der gerichtlichen Fürsorgepflicht, dem Gebot der Fairness sowie der Aufklärungspflicht des Gerichts das Zulassungsgericht den Antragsteller aufzufordern habe, darzulegen, was die Beweisaufnahme ergeben soll, um es so davon zu überzeugen, dass kein völlig aussichtsloser Antrag vorliegt.371 Auch Peters’ Überlegung, die erweiterte Darlegungspflicht an § 244 Abs. 3–5 StPO anzuknüpfen, erscheint erwägenswert. Könnte ein in der 368  Eschelbach, HRRS 2008, 190, 205. Theobald, Barrieren im strafrechtlichen Wiederaufnahmeverfahren, S. 162. 369  Eschelbach, HRRS 2008, 190, 204. 370  BVerfGE 87, 48, 65 ff. 371  Wasserburg, Die Wiederaufnahme des Strafverfahrens, S. 326 f. Diese Fürsorgepflicht soll jedoch nicht gegenüber der Staatsanwaltschaft bestehen, vgl. Marxen /  Tiemann, Die Wiederaufnahme in Strafsachen, Rn. 296.

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Teil 3: Betrachtung des Anwendungsdefizits des § 359 Nr. 5 StPO

Hauptverhandlung gestellter Beweisantrag gem. § 244 Abs. 3 StPO ohne Beweisaufnahme abgelehnt werden, würde dem Antragsteller in der Wiederaufnahme sachgerechterweise eine erweiterte Darlegungslast aufgebürdet. Erkennt man erweiterte Darlegungslasten dem Grunde nach an, um bereits im Aditionsverfahren aussichtslose Anträge auszusondern, muss der Gesetzgeber tätig werden. Zudem müsste vor dem Hintergrund des Gebots des ­fairen Verfahrens sowie der Fürsorgepflicht des Gerichts entsprechend der Antragsteller vor Entscheidung über seinen Antrag auf den Umfang der Darlegungslasten hinweisen, um ihm die Möglichkeit zu eröffnen, diesen zu entsprechen. Ohne Weiteres ist der Umfang der von der Rspr. anerkannten Darlegungslasten weder erkenn- noch vorhersehbar. Zugleich müsste dem Antragsteller die Einschaltung der Ermittlungsbehörden ermöglicht werden, sofern er aus eigenen Mitteln seinen Darlegungslasten nicht entsprechen kann. Ansonsten würden sich weigernde Zeugen für einen vernehmenden Verteidiger ohne Zwangsbefugnisse zu einem Dilemma, weil wegen der Darlegungslast die Antworten unerlässlich sind. Folgt man, wie oben dargestellt, für die Aditionsprüfung dem Möglichkeitsmaßstab, ist für das Erfordernis erweiterter Darlegungslasten kein Raum. Vielmehr dienen sie – dem Wahrscheinlichkeitsmaßstab entsprechend – dazu, dem Wiederaufnahmegericht die Wahrscheinlichkeit des Antragsvorbringens, gemessen am Wiederaufnahmeziel, darzutun und ermöglichen dem Wiederaufnahmegericht eine konkrete Beweiswürdigung. Für diese ist jedoch ebensowenig wie für eine Beurteilung des Beweiswerts im Aditionsverfahren Raum. Sie ist der Erneuerungsverhandlung vorbehalten, in der sich der Wiederaufnahmerichter im Rahmen der umfassenden Beweiswürdigung eine Überzeugung bildet. Folglich sind die von der h. M. tolerierten Darlegungslasten aufzugeben. 3. Gesamtwürdigung Das Wiederaufnahmegericht ist nach dem geltenden Verständnis des § 359 Nr. 5 StPO an die Beweiswürdigung des Ausgangsgerichts gebunden, soweit sie nicht offensichtlich fehlerhaft ist. Damit – so Eschelbach – wird das Gebot der neutralen und eigenverantwortlichen Gesamtwürdigung des Antragsvorbringens durch das Wiederaufnahmegericht verkannt; Wiederaufnahmen scheitern meist an einer selektiven Würdigung einzelner Beweise.372 Wenn sich die Rechtskraft des Urteils aber gerade nicht auf die Urteilsfeststellungen selbst erstreckt, kann auch eine Bindung an Feststellungen oder die vom Tatgericht vorgenommene Beweiswürdigung gerade nicht beste372  BeckOK-Eschelbach,

§ 261 / 5.2.



A. Wiederaufnahmegrund § 359 Nr. 5 StPO425

hen.373 Auch wenn im Rahmen der Geeignetheitsprüfung des Vorbringens eine Beweisantizipation – wie von der h. M. – anerkannt wird, darf das Antragsvorbringen nicht isoliert mit den Beweisgrundlagen der Ausgangsentscheidung eliminiert werden. Vielmehr sind sämtliche Umstände, mithin die neu vorgebrachten Tatsachen oder Beweismittel, ebenso wie die bereits bekannten Beweisergebnisse, in ihrer Gesamtheit zu würdigen. Andernfalls kann davon ausgegangen werden, dass das Antragsvorbringen, allein gemessen an den – irrtümlicherweise – für bindend erachteten Urteilsfeststellungen, den Wiederaufnahmerichter nur in seltenen, offensichtlichen Fehlurteilsfällen überzeugen würde.374 Lediglich die Gesamtwürdigung aller Beweise bietet also eine Gewähr für eine richtige Entscheidung.375 Schließlich gebietet das Schuldprinzip, dass alle Beweise in ihrer Gesamtheit abgewogen und gewürdigt werden. 4. Zusammenfassung Zutreffend sieht Gorka, „…mit dem Begriff der Zulässigkeit [ist] im Recht der Wiederaufnahme in der Regel schon deren Begründetheit gemeint“376. Auch der im Rahmen der Untersuchung erhobene Vorwurf, die wiederaufnahmerechtliche Praxis der Geeignetheitsprüfung führe zu einer Vermengung von Zulässigkeit und Begründetheit, ist gerechtfertigt. Wie gesehen, toleriert die h. M. mit dem Prüfungsmaßstab der Wahrscheinlichkeit i. R. d. Geeignetheitsprüfung die Vorwegnahme einer Beweiswürdigung, die nach der Struktur des Wiederaufnahmerechts dem Erneuerungsverfahren vorbehalten wäre. Damit wird das Aditionsverfahren zur alles entscheidenden Prüfungsstufe im Wiederaufnahmeverfahren, ohne dass es dafür de lege lata bestimmt ist. § 359 Nr. 5 StPO ist ein relativer, unbenannter377 Wiederaufnahmegrund, der nach allgemeinem Verständnis inquisitorischen Charakter besitzt.378 Danach müsste im Zweifel die Rechtskraft durchbrochen werden, um eine gerichtliche Entscheidung mit dem Wiederaufnahmeverfahren einer erneuten gerichtlichen Überprüfung zuführen zu können. Richtigerweise ist daher im Aditionsverfahren die Schlüssigkeit des Vorbringens abstrakt zu würdigen. Soweit eine konkrete Beweisantizipation von der h. M. für zulässig erachtet 373  KMR-Eschelbach,

Vor § 359 / 11. GA 2003, 335, 348. 375  Wasserburg / Eschelbach, GA 2003, 335, 348; Eschelbach, in: FS-Stöckel, S. 206. 376  Gorka, in: Miebach / Hohmann, Wiederaufnahme in Strafsachen, Teil  D, Rz. 178. 377  Peters, Fehlerquellen im Strafprozeß III, S. 44. 378  Theobald, Barrieren im strafrechtlichen Wiederaufnahmeverfahren, S. 156. 374  Wasserburg / Eschelbach,

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Teil 3: Betrachtung des Anwendungsdefizits des § 359 Nr. 5 StPO

wird, ist die Geeignetheit anhand des Möglichkeitsmaßstabs aus Sicht des Wiederaufnahmegerichts zu beurteilen. In Fällen, in denen ein Beweisantrag gem. §§ 244 Abs. 3–5 StPO abgelehnt werden könnte, muss der Antrag dabei wahrscheinlich zur Erreichung des Wiederaufnahmeziels führen, wobei vom Antragsteller auf entsprechenden gerichtlichen Hinweis erweiterte Darlegungen erwartet werden dürfen. Dabei ist eine Gesamtwürdigung aller Beweise vorzunehmen, das Antragsvorbringen jedoch nicht isoliert im Vergleich zu den Beweisgrundlagen des Ausgangsurteils zu eliminieren.379 Tatsachen im Wiederaufnahmeverfahren dürfen gerade nicht punktuell bewertet werden, da sie andernfalls zu leicht an Wirksamkeit verlieren.380 Die BRAK sprach sich für eine Novellierung des § 359 Nr. 5 StPO dahingehend aus, dass das Beibringen neuer Tatsachen oder Beweismittel oder neuer wissenschaftlicher Erkenntnisse, die nicht ausschließbar allein oder in Verbindung mit den früher erhobenen Beweisen zur Freisprechung des Verurteilten oder zu einer wesentlichen Milderung der Strafe führen können, ausreichen sollten.381 Bemerkenswert ist hieran bereits die negative Formulierung („nicht ausschließbar“), die nach der Intention der BRAK als Verfahrenserleichterung anstelle der Geeignetheitsprüfung dazu führen solle, dass es ohne Beweiserhebung nicht vorschnell zu einer Verwerfung des Wiederaufnahmeantrages komme.382 Nach Peters gehe das „Nichtausgeschlossensein“ zu weit. Er spricht sich für eine Novellierung dergestalt aus, dass die nova hinreichenden Anlass zur Überprüfung einer Entscheidung geben sollen, inwieweit diese überhaupt bzw. in der konkreten Form aufrecht erhalten werden kann.383 De lege ferenda sollte jedoch, wie dargelegt, die aktuell hingenommene, umfassende Antizipation einer konkreten Beweiswürdigung unterbunden werden. Soweit die BRAK 1971 favorisierte, durch eine negative Formulierung des § 359 Nr. 5 StPO den Ermessensspielraum des Wiederaufnahmegerichts im Hinblick auf den Geeignetheitsmaßstab, der in der Praxis durch überhöhte Anforderungen genutzt wird, um unliebsame Wiederaufnahmegesuche als unzulässig scheitern zu lassen, einzuengen erscheint dies als geeignete Lösung. Durch die negative Formulierung des Nichtausgeschlossenseins ist dem Möglichkeitsmaßstab genüge getan und im Zweifel der Antrag zulässig. Der Ermessensspielraum, der den Gerichten durch den Geeignetheits379  Wasserburg / Eschelbach, 380  Peters,

Fehlerquellen im 381  Hanack / Gerlach / Wahle, der Wiederaufnahme, S.  82 f. 382  Hanack / Gerlach / Wahle, der Wiederaufnahme, S. 83. 383  Peters, Fehlerquellen im

GA 2003, 335, 348. Strafprozeß III, S. 36. Denkschrift zur Reform des Rechtsmittelrechts und Denkschrift zur Reform des Rechtsmittelrechts und Strafprozeß II, S. 317.



A. Wiederaufnahmegrund § 359 Nr. 5 StPO427

maßstab eingeräumt wurde, würde entfallen. Das Wiederaufnahmegericht müsste sich zunächst einen unmittelbaren Eindruck des Beweismaterials im Probationsverfahren verschaffen. Gerade in Konstellationen einer fehlenden zweiten Tatsacheninstanz erscheint dies angebracht. Dass die in zweifelhaften Fällen anzunehmende Zulässigkeit des Wiederaufnahmegesuchs auch nicht ohne Weiteres dazu führen wird, dass Wiederaufnahmeverfahren überhandnehmen, ergibt sich bereits aus der anschließenden Probationsprüfung.384 Um zu vermeiden, dass das Wiederaufnahmerecht in der Praxis leerläuft, sollte der Gesetzgeber daher normieren, dass die Geeignetheit des Vorbrignens i. S. d. § 359 Nr. 5 StPO aus Sicht des Wiedraufnahmegerichts zu beurteilen ist und im Wege einer Legaldefinition den Begriff der Geeignetheit klären.

V. Bestätigungsbegriff § 370 Abs. 1 StPO Die genügende Bestätigung i. S. d. § 370 Abs. 1 StPO ist im Probationsverfahren ebenfalls zweistufig zu prüfen; zunächst ist zu klären, ob das Vorbringen konkret relevant, d. h. gegenüber dem Urteil erheblich ist. Daran schließt ein konkretes Prognoseurteil an.385 Eine genügende Bestätigung ist nach h. M. anzunehmen, wenn aufgrund der im Probationsverfahren gem. § 369 StPO durchgeführten Beweisaufnahme eine günstigere Entscheidung in der neuen Hauptverhandlung hinreichend wahrscheinlich ist.386 Fraglich ist, ob der Geeignetheitsbegriff des Zulässigkeitsverfahren des § 368 StPO mit dem Bestätigungsbegriff des § 370 StPO übereinstimmt. Die gleiche Erfolgswahrscheinlichkeit anzunehmen, erscheint insbesondere deshalb denkbar, weil eine Beweisaufnahme im Probationsverfahren nicht zwingend ist.387 Hinzu kommt die Gesetzessystematik mit § 359 Nr. 5 StPO und §§ 368 Abs. 1, 370 Abs. 1 StPO, nach der das Probationsverfahren für die Frage der Bedeutung des Wiederaufnahmevorbringens im Vergleich zur Ausgangsentscheidung nichts Neues bringt.388 Während die h. M. im Aditions384  Hanack / Gerlach / Wahle, Denkschrift zur Reform des Rechtsmittelrechts und der Wiederaufnahme, S. 84 f. Als Regulativ wurde die Änderung des § 370 StPO vorgeschlagen, wonach die Wiederaufnahme des Verfahrens nur dann anzuordnen sei, wenn die Grundlagen der angegriffenen Entscheidung erschüttert seien, vgl. a. a. O. S. 100. 385  AnwK-Rotsch, § 359 / 31. 386  AnwK-Rotsch, § 370 / 3. 387  KMR-Eschelbach, § 370 / 16. 388  Peters, Fehlerquellen im Strafprozeß III, S. 84.

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Teil 3: Betrachtung des Anwendungsdefizits des § 359 Nr. 5 StPO

und Probationsverfahren den Wahrscheinlichkeitsmaßstab zugrunde legt, erscheint eine genügende Bestätigung nach § 370 Abs. 1 StPO auch dann denkbar, wenn eine günstigere Entscheiung in der neuen Hauptverhandlung möglich wäre.389 So wird auch mit § 370 Abs. 1 StPO keine 100 %ige Sicherheit verlangt, Zweifel sind damit nicht gänzlich ausgeschlossen. Ein zwischen § 359 Nr. 5 StPO und § 370 Abs. 1 StPO insoweit bestehender Gleichklang überzeugt umso mehr, wenn man berücksichtigt, dass im Adi­ tionsverfahren eine erste Prüfung des Antragsvorbringens stattzufinden habe, die im Rahmen des Probationsverfahrens auf Grundlage der erhobenen Beweise zu überprüfen ist.390 Denkbar erscheint jedoch, im Aditionsverfahren mit dem Begriff der Geeignetheit die Möglichkeit der Antragszielerreichung ausreichen zu lassen, während im Probationsverfahren Wahrscheinlichkeit voraugesetzt wird. Eine in diesem Sinne gestufte Prüfung kennt etwa das belgische Recht.391 Hierfür spricht, dass die bloße Möglichkeit der Richtigkeit des Wiederaufnahmevorbringens nach durchgeführter Beweisaufnahme im Probationsverfahren nicht ausreichen kann, um i. S. e. genügenden Bestätigung, § 370 StPO, die Wiederaufnahme des Verfahrens anzuordnen.392 Vielmehr muss sich nach Durchführung der Beweisaufnahme die Möglichkeit zu einer Wahrscheinlichkeit verdichtet haben, um die Rechtskraft einer gerichtlichen Entscheidung zu überwinden. Dies gerade, weil der Gesetzgeber mit Durchführung der Beweisaufnahme im Probationsverfahren die Chance einer eingehenden Sachprüfung eröffnet hat. Wäre die bloße Möglichkeit auch in diesem Verfahrensabschnitt ausreichend, würde die Begründetheitsprüfung obsolet und die im Probationsverfahren vorzunehmende Beweiserhebung bloße Förmelei, die in der Erneuerungsverhandlung ohnehin zu wiederholen wäre. Ferner spricht die Verfahrensausgestaltung mit Aditions- und Probationsverfahren dafür, dass auch der Gesetzgeber ein trichterförmiges Prüfungsverfahren vor Augen hatte. Zur Aussonderung unberechtigter Anträge sollte sich demgemäß an einen weiten Zulässigkeitsfilter ein engerer Begründetheitsfilter anschließen, mithin die Prüfungsintensität und die Wiederaufnahmevoraussetzungen gesteigert werden.393 Während für die Zulässigkeit des Antrags somit Zweifel an der angefochtenen richterlichen Entscheidung genügen müssen und die Möglichkeit das Wiederaufnahmeziel zu erreichen ausreichend ist, ist der Antrag erst begrün389  s. o.

S.  400 ff.

390  Schünemann,

ZStW 84 (1972), 870, 892. Die Wiederaufnahme in rechtsvergleichender Darstellung, S. 809. 392  Theobald, Barrieren im strafrechtlichen Wiederaufnahmeverfahren, S. 177 ff. 393  J. Meyer, Wiederaufnahmereform, S. 111  ff.; Theobald, Barrieren im strafrechtlichen Wiederaufnahmeverfahren, S. 181. 391  J. Meyer,



B. Defizite in der Kontrolle tatrichterlicher Beweisergebnisse429

det, wenn dieses Ziel wahrscheinlich erreicht werden kann und die vorhandenen Zweifel demnach aufgrund der durchgeführten Beweisaufnahme im Probationsverfahren nicht ausgeräumt werden konnten.394

B. Defizite in der Kontrolle tatrichterlicher Beweisergebnisse Strafverteidiger berichten, bei Erhalt der schriftlichen Urteilsgründe des Öfteren die Erfahrung zu machen, dass das Instanzgericht sich vom tatsächlichen Ergebnis der Beweisaufnahme löst, um nicht die Urteilsaufhebung in einer höheren Instanz zu riskieren. Geipel berichtet aus seiner Praxis etwa, dass er beim Lesen der Urteilsgründe das Gefühl hatte, während der Beweisaufnahme „den falschen Film“ gesehen zu haben.395 Nicht selten erlebe man, dass einzelne Beweismittel selektiv und verfälscht in den schriftlichen Urteilsgründen wiedergegeben werden oder im Extremfall überhaupt keinen Eingang gefunden haben. Fadenscheinig würden sich Richter zur Legitimation dieser – eines Rechtsstaats unwürdigen – Praxis auf die freie richterliche Beweiswürdigung und die richterliche Unabhängigkeit berufen.396 Trifft dieser Vorwurf zu, liegt auf der Hand, dass durch derartiges – bewusstes oder unbewusstes – „revisionssicheres Dichtschreiben“397 rechtsstaatlichen Anforderungen nicht entsprochen wird.398 Eine derartige Handhabung durch Instanzgerichte verletzt nicht nur das Rechtsstaatsprinzip, sondern auch das Gebot des fairen Verfahrens und den dem Strafprozessrecht innewohnenden Grundsatz der Erforschung der Wahrheit. Fehlen in den schriftlichen Urteilsgründen Feststellungen zum Sachverhalt, stellt sich dies zudem als Verletzung des Art. 103 Abs. 1 GG dar.399 Geschieht eine derartige Sachverhaltsverfälschung bewusst, macht sich der Tatrichter gem. § 339 StGB strafbar und eine Wiederaufnahme ist gem. § 359 Nr. 3 StPO möglich.400 Fraglich erscheint, wie rechtlich mit solchen Sachverhaltsauslassungen umzugehen ist, die unbewusst geschehen. Die Geltendmachung im Urteil nicht 394  So

auch Schünemann, ZStW 84 (1972), 870, 906. ZAP Fach 22, 2011, 571, 577. 396  Fornauf, StraFo 2013, 235. 397  Von dem auch Erb berichtet, vgl. Erb, in: FS-Küper, S. 35 ff. 398  Döhmer, SVR 2009, 47, 48; auch Wasserburg geht davon aus, dass die meisten Urteile möglichst unangreifbar und formelhaft abgefasst werden, vgl. Wasserburg, ZStW 94 (1982), 914, 964. 399  Eschelbach, in: FS-Widmaier, S. 136 ff. 400  BGHSt 43, 212, 216. 395  Geipel,

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Teil 3: Betrachtung des Anwendungsdefizits des § 359 Nr. 5 StPO

erwähnter Umstände als nova i. S. d. § 359 Nr. 5 StPO erscheint naheliegend, zumal sie der Entscheidungsfindung tatsächlich nicht zugrunde lagen.

I. Die Bedeutung des § 261 StPO beim Abfassen der schriftlichen Urteilsgründe Über das Ergebnis der Beweisaufnahme entscheidet das Gericht gem. § 261 StPO nach seiner freien, aus dem Inbegriff der Verhandlung geschöpften Überzeugung. Überzeugung ist dabei als die subjektive Gewissheit des Richters von der objektiven Wahrheit zu verstehen, die auf objektiv tragfähigen, tatsächlichen Grundlagen fußt.401 Die für eine Gewissheit erforderliche Überzeugung liegt nur dann vor, wenn das Gericht keinen Zweifel daran hat, dass sich der Sachverhalt nicht anders als im Rahmen der Beweisaufnahme festgestellt, zugetragen habe.402 Um den Sachverhalt festzustellen, ist das Gericht gehalten, die vorhandenen Spuren und Beweise erschöpfend zu benutzen und auszuwerten. Besondere Sorgfalt ist dabei in landgerichtlichen Verfahren ohne zweite Tatsachen­ instanz zu erwarten.403 Eine Grenze der richterlichen Überzeugungsbildung folgt aus § 261 StPO insoweit, als die freie Überzeugungsbildung nicht willkürlich ausgeübt werden darf und die erhobenen Beweise erschöpfend zu würdigen sind.404 Auch muss sich die richterliche Überzeugung aus dem Inbegriff der Hauptverhandlung ergeben, mithin müssen die der richterlichen Überzeugungsbildung zugrunde gelegten Umstände Gegenstand der öffentlichen Hauptverhandlung gewesen und prozessual ordnungsgemäß in die Hauptverhandlung eingeführt worden sein.405 Aus dem Rechtsstaatsprinzip folgt zugleich, dass sich das Gericht mit solchen Tatsachen in den Urteilsgründen auseinandersetzen muss, die Einfluss auf die Tat- und Schuldfrage haben können.406 Das Gericht muss zudem gesicherte wissenschaftliche Erkenntnisse, die Gesetze der Logik und Erfahrungssätze des täglichen Lebens beachten.407 401  Eisenberg,

Beweisrecht der StPO, Rn. 89 ff. die richterliche Überzeugung jedoch nicht mehr als eine subjektive Gewissheit ist, besteht immer das Risiko, dass sie von objektiven Sachlage abweicht; dieses Risiko nimmt unsere Rechtsordnung jedoch hin, da Fehler im Rahmen der Rechtsmittelkontrolle oder der Wiederaufnahme korrigiert werden können, vgl. Peters, Fehlerquellen im Strafprozeß III, S. 29. 403  Peters, Fehlerquellen im Strafprozeß II, S. 231. 404  BGH NJW 1979, 2318, 2319. 405  Fornauf, StraFo 2013, 235, 236. 406  Fornauf, StraFo 2013, 235, 236. 407  BGHSt 17, 382, 385. 402  Da



B. Defizite in der Kontrolle tatrichterlicher Beweisergebnisse431

Von der höchstrichterlichen Rechtsprechung wurden weitere, vereinzelte Entscheidungsregeln entwickelt. So kann eine Verurteilung nicht allein auf Zeugenangaben vom Hörensagen gestützt werden.408 Auch in Aussage-gegen-Aussage-Konstellationen wurden dem Tatrichter Beweisregeln an die Hand gegeben.409 Durch die Anerkennung einer subjektiven richterlichen Gewissheit eröffnet sich für den Tatrichter dennoch ein kaum überprüfbarer Bewertungsspielraum. Zwar ist das Tatgericht gem. § 261 StPO verpflichtet, die Beweise erschöpfend zu würdigen, gleichwohl ist es nicht gehalten, alle Tatsachen und Beweismittel im Urteil zu benennen oder sich mit ihnen auseinanderzusetzen.410 Das Gericht ist vielmehr lediglich gehalten, ein die Beweisführung rational nachvollziehbares schriftliches Urteil zu verfassen. Das von den Berufsrichtern abgefasste schriftliche Urteil ist demnach keine Dokumentation des Verfahrens oder gar der Urteilsberatung bzw. -abstimmung.411 Dennoch wird von der Rechtsprechung verlangt, dass das Tatgericht erschöpfend das Für und Wider, das objektiv gewichtig erscheint, im Urteil erörtert.412 Auch wenn das Gericht eine entscheidungserhebliche Tatsache demnach im Rahmen der Beweiswürdigung gem. § 261 StPO zu berücksichtigen hat, sind die hierzu getroffenen oder fehlenden Feststellungen in den Urteilsgründen für den Revisionsführer letztlich selten angreifbar und für das Revisionsgericht kaum überprüfbar. Diese Problematik steht im unmittelbaren Zusammenhang mit der fehlenden Dokumentation der Inhalte einer landgericht­ lichen Hauptverhandlung und führt zu einer „richterlichen Alleinherrschaft über den Sachverhalt“.413 Bereits der Strafrechtsausschuss der BRAK setzte sich 1971 mit Mängeln bei der Urteilsabfassung auseinander und reklamierte, dass die Urteilsgründe die Ergebnisse der Beweisaufnahme oft nur unzureichend wiedergeben. Hinzu kommt, dass Urteile in Verfahren schwerer Kriminalität oft erst nach langer Zeit abgefasst414 und zu den Akten gebracht werden, so dass der 408  BVerfGE 57, 250, 292 f.; BGHSt 17, 382, 385 f.; BGHSt 33, 178, 181; BGHSt 36, 159, 166. 409  BGHSt 44, 153, 158 f. 410  MG § 267 / 1. 411  s. hierzu Geipel, der verlangt, dass das Gericht alle wesentlichen Beweismomente aufzuzeichnen habe, vgl. Geipel, in: Miebach / Hohmann, Wiederaufnahme in Strafsachen, Teil  A, Rz.  239 m. w. N. 412  Wasserburg / Eschelbach, GA 2003, 335, 351; Schäfer, in: FS-Rieß, S. 482 und 486. 413  Malek, StV 2011, 559, 564. 414  Gem. § 275 Abs. 1 StPO ist das Urteil spätestens fünf Wochen nach seiner Verkündung zu den Akten zu bringen. Diese Frist verlängert sich, wenn die Hauptverhandlung länger als drei Tage gedauert hat für jeden begonnenen Abschnitt von zehn

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Teil 3: Betrachtung des Anwendungsdefizits des § 359 Nr. 5 StPO

Richter möglicherweise Details der Hauptverhandlung wieder vergessen hat.415

II. Hauptverhandlungsprotokoll Sieht sich der Betroffene einem revisionssicheren Urteil gegenüber, in dem seiner Meinung nach wesentliche Feststellungen fehlen oder entstellend wiedergegeben werden, hat er nach geltender Rechtslage lediglich die Möglichkeit, die tatsächlichen Urteilsfeststellungen im Wege eines Wiederaufnahmeverfahrens anzugreifen. Dabei wird im Zentrum des Bemühens der Wiederaufnahmegrund des § 359 Nr. 5 StPO stehen. Die Feststellung der Neuheit von Tatsachen oder Beweismitteln kann dabei grundsätzlich mit Hilfe des Akteninhalts, des Hauptverhandlungsprotokolls und des schriftlichen Urteils erfolgen.416 Gem. § 271 StPO ist über die Hauptverhandlung ein Protokoll zu führen, dessen Inhalt sich nach § 272 f. StPO bestimmt. Gem. § 273 Abs. 1 StPO muss das Protokoll den Gang und die Ergebnisse der Hauptverhandlung im Wesentlichen wiedergeben. Nur über Hauptverhandlungen vor dem Strafrichter und dem Schöffengericht sind die wesentlichen Ergebnisse der Vernehmungen in das Protokoll aufzunehmen, § 273 Abs. 2 StPO.417 Dies bedeutet, dass im Hauptverhandlungsprotokoll eines landgerichtlichen Verfahrens – dem wohlgemerkt eine Straferwartung von über vier Jahren zugrunde liegt – die Angaben eines Zeugen inhaltlich nicht widergegeben werden. In einem derartigen Protokoll ist zu der Aussage des Zeugen zur Sache lediglich vermerkt: „Der Zeuge sagte zur Sache aus.“

Durch diese unzulänglichen Anforderungen an die Protokollierung werden unrichtige tatrichterliche Feststellungen geradezu gefördert.418

Hauptverhandlungstagen um weitere zwei Wochen. Im Einzelfall darf diese Frist sogar überschritten werden, wenn das Gericht durch nicht voraussehbare und unabwendbare Umstände an der Fristeinhaltung gehindert war. 415  Hanack / Gerlach / Wahle, Denkschrift zur Reform des Rechtsmittelrechts und der Wiederaufnahme, S. 47 f.; Peters, Fehlerquellen im Strafprozeß II, S. 311 f. 416  Peters, Fehlerquellen im Strafprozeß II, S. 278. 417  Nach einem 2003 eingebrachten Gesetzesentwurf sollte der Vorsitzende anordnen können, dass anstelle der Aufnahme der wesentlichen Vernehmungsergebnisse in das Protokoll einzelne Vernehmungen im Zusammenhang auf Tonträger aufgezeichnet werden, BT-Drs. 15 / 1976, S. 3. Hiergegen meldete insbesondere der Bundesrat erhebliche Bedenken an, BR-Drs. 829 / 03. 418  Döhmer, SVR 2009, 47, 55.



B. Defizite in der Kontrolle tatrichterlicher Beweisergebnisse433

Auch für das Revisionsverfahren ist die Qualität der Dokumentation der Hauptverhandlung relevant, um Verfahrensfehler aufdecken und darlegen zu können.419

III. Rekonstruktionsverbot in der Revision Im Rahmen der Revision gegen ein landgerichtliches Urteil kann eine defizitäre Sachdarstellung bzw. Verletzung des § 261 StPO durch eine Sachbzw. Verfahrensrüge angegriffen werden, je nachdem ob es sich um einen Rechtsfehler handelt, der aus den Gründen des schriftlichen Urteils erkennbar ist, oder ob über die Urteilsgründe hinaus weitere Umstände für eine Prüfung erforderlich sind, die im Zuge einer Verfahrensrüge gem. § 344 Abs. 2 S. 2 StPO vom Revisionsführer vorzutragen wären.420 Fehler in der richterlichen Überzeugungsbildung können im Rahmen der Revision mittels der sog. Inbegriffsrüge dargetan werden. Die Verletzung des § 261 StPO kann demnach dann zum Erfolg der Revision führen, wenn ohne die Rekonstruktion der Beweisaufnahme der Nachweis geführt werden kann, dass die Feststellungen nicht durch die in der Hauptverhandlung verwendeten Beweismittel oder auf anderem Weg zum Inbegriff der Hauptverhandlung geworden sind.421 Verweist das Urteil etwa auf ein Beweismittel, das nach dem Hauptverhandlungsprotokoll nicht erhoben wurde und auch nicht durch formlose Vorhalte in die Hauptverhandlung eingeführt worden sein kann, beruht das Urteil auf diesem Rechtsfehler. Umgekehrt scheitern in der Regel solche Rügen, die sich darauf stützen, dass Tatsachen nicht verwertet wurden, obwohl sie Gegenstand der Hauptverhandlung waren. Grund hierfür ist, dass das Revisionsgericht die Beweiswürdigung des Tatgerichts nur begrenzt auf Rechtsfehler überprüfen422 kann und nicht durch die eigene Beweiswürdigung ersetzen darf.423 Die alternativ auf § 244 Abs. 2 oder § 261 StPO gestützte Rüge, die an der Aktenwidrigkeit einer Urteilsdarstellung ansetzt, hat ebenso keinen Erfolg. Der Bundesgerichtshof hält ihr entgegen, dass ihm eine Rekonstruktion der Hauptverhandlung verwehrt sei.424 419  Norouzi, Vom Rekonstruktionsverbot zum Dokumentationsgebot, http: /  / www. strafverteidigertag.de / Material / Themen / StPO / Norouzi_Dokumentationsgebot.htm (zuletzt aufgerufen am 16.09.2016). 420  Wilhelm, ZStW 117 (2005), 143, 152 ff. 421  BGH NJW 1979, 2318. 2319. 422  So darf die Beweiswürdigung in sich nicht widersprüchlich, lückenhaft oder unklar sein und nicht gegen Denkgesetze oder gesicherte Erfahrungssätze verstoßen, vgl. MG § 337 / 27. 423  BGH NJW 1979, 2319, 2320. 424  BGH NStZ 2000, 156; BGH NStZ 2006, 55, 56; Schäfer, in: FS-Riess, S. 368 f.

434

Teil 3: Betrachtung des Anwendungsdefizits des § 359 Nr. 5 StPO

Im Revisionsvorbringen enthaltene Rügen, die das Revisionsgericht ohne eine Rekonstruktion der Hauptverhandlung nicht nachvollziehen kann, sollen deshalb nach Auffassung der höchstrichterlichen Rechtsprechung unzulässig sein.425 Rügt das Revisionsvorbringen, dass ein Zeuge oder Sachverständiger in der Hauptverhandlung nicht so ausgesagt hat, wie es in den Urteilsgründen wiedergegeben wird, oder dass sich eine relevante Zeugenaussage nicht in den Urteilsgründen findet, müsste der Revisionsrichter die Beweisaufnahme rekonstruieren bzw. wiederholen. Dies würde das Revisionsverfahren zu einer faktischen (weiteren) Tatsacheninstanz umformen, die im Rahmen des Revisionsverfahrens gerade nicht vorgesehen ist.426 Insoweit gilt nach höchstrichterlicher Rechtsprechung ein ungeschriebenes Verbot der Rekonstruktion der Hauptverhandlung427, deren Inhalte ohnehin nicht im Hauptverhandlungsprotokoll aufgezeichnet werden und damit einer Überprüfung durch das Revisionsgericht auch faktisch entzogen sind. Mangels einer lückenlosen Dokumentation der Hauptverhandlung und der daraus resultierenden fehlenden Möglichkeit einer zuverlässigen Rekonstruktion der Hauptverhandlung428 ist es für den Betroffenen auch tatsächlich zumeist unmöglich, in der Revision darzutun, dass die Hauptverhandlung bei bestimmten Beweiserhebungen einen anderen Inhalt hatte als im Urteil angenommen. Die Tatgerichte können sich damit hinsichtlich der Sachverhaltsfeststellungen einer effektiven Überprüfung durch das Revisionsgericht entziehen. Für ein Verbot der Rekonstruktion der Hauptverhandlung fehlt es an einer gesetzlichen Grundlage. Da das Strafverfahren vor dem Grundsatz des Art. 20 Abs. 3 GG im Dienste der materiellen Gerechtigkeit eine gerechte Einzelfall­ entscheidung anstrebt, ist eine Einschränkung des revisiblen Bereichs auch nicht verständlich.429 Der Bestand eines irrevisiblen Urteilsbereichs widerspricht vielmehr dem verfassungsrechtlich verbürgten Anspruch des Betroffenen auf effektiven Rechtsschutz aus Art. 19 Abs. 4 GG. Die Revisionsge425  Döhmer,

SVR 2009, 47, 48. NJW 1979, 2319, 2320. 427  Vgl. BGHSt 38, 14, 15 f.; BGHSt 15, 347, 349 f.; BGHSt 17, 351, 352 f.; BGHSt 29, 18, 21; BGHSt 31, 139, 140; BGHSt 43, 212, 213; BGH NStZ-RR 2009, 180. Ein derartiges Verbot lässt sich dem Gesetzes-wortlaut nicht entnehmen und ist im Hinblick auf Verfahrensrügen, für deren Zulässigkeit eine stringente Rekonstruktion einzelner Prozessabläufe vorausgesetzt wird, nicht nachvollziehbar. In der Entscheidung vom 19.08.2008 (3 StR 252 / 08) hat der Bundesgerichtshof jedoch eine Durchbrechung des revisionsgerichtlichen Rekonstruktionsverbots zugelassen und die Rüge als zulässig und begründet angesehen, nachdem eine in der Hauptverhandlung gem. § 249 Abs. 1 StPO verlesene Urkunde in den Urteilsgründen nicht gewürdigt worden war. 428  BeckOK-Eschelbach, § 261 / 69 ff. 429  Gössel, in: Schlosser u.  a., Tatsachenfeststellung in der Revisionsinstanz, S. 132. 426  BGH



B. Defizite in der Kontrolle tatrichterlicher Beweisergebnisse435

richte ermöglichen durch das Zugeständnis des Rekonstruktionsverbots, dass unrichtige Tatsachenfeststellungen im Revisionsverfahren unangetastet bleiben und ein Widerspruch zwischen den Erkenntnissen der Hauptverhandlung und den Urteilsfeststellungen bestehen bleibt. Auch für das Revisionsgericht gilt die sich aus dem Rechtsstaatsprinzip ergebende Pflicht zur Erforschung der Wahrheit. Aus dem Rechtsstaatsprinzip und dem Recht des Betroffenen auf effektiven Rechtsschutz gem. Art. 19 Abs. 4 GG ergibt sich zugleich die verfassungsrechtliche Pflicht des Revisionsgerichts, falsche Tatsachenfeststellungen zu korrigieren.430 Entsprechend dem gesetzlichen Leitbild ist es seine Aufgabe als Rechtsmittelinstanz, fehlerhafte bzw. gesetzeswidrige Urteile von Gesetzes wegen aufzuheben431 und Einzelfallgerechtigkeit herzustellen.432 Das Wiederherstellen des gesetzmäßigen Zustands kann gewiss nicht unrecht sein. Verwehrt ist es dem Revisionsgericht bislang, unter Hinzuziehung des Protokolls oder der Aufzeichnungen anderer Prozessbeteiligter über den Inhalt einer Vernehmung, die Beweiswürdigung des Tatrichters zu beanstanden, da es sich insoweit um die von § 261 StPO geschützte – und damit im Revisionsverfahren nicht greifbare – freie richterliche Überzeugungsbildung handle.433 Demgegenüber weicht die revisionsgerichtliche Rechtsprechung das Verbot an den Stellen auf, an denen ein Gegenbeweis aufgrund der Aktenlage und anhand von verlesenen Urkunden und Gutachten durch Rekon­ struktion der Beweisaufnahme ohne eigene Beweiswürdigung möglich ist. Gleiches gilt für gem. § 273 Abs. 3 StPO protokollierte Aussageinhalte, sofern diese unberücksichtigt blieben.434 In diesem Fall könne das Revisionsgericht das Beweisergebnis zum Zeitpunkt der Urteilsfällung ohne Weiteres feststellen, weil auf objektive Grundlagen – insbesondere Urkunden und Abbildungen – zurückgegriffen werden könne, aus denen sich der Beweisgehalt des Beweismittels erschließe.435 Diese Argumentation überzeugt nicht. So können Urkunden etwa auch durch andere Verfahrensbeteiligte oder Prozessbeobachter angefertigt werden. Selbstverfasste Mitschriften erlangen Urkundenqualität, wenn durch die Unterzeichnung der Mitschrift der Urheber erkennbar dokumentiert wird. Eine unterschiedliche Bewertung der Urkundenqualität erscheint deshalb bereits zweifelhaft und zudem vor dem Hintergrund inkonsequent, als die 430  Döhmer,

SVR 2009, 47, 49. SVR 2009, 47, 51. 432  Gössel, in: Schlosser u. a., Tatsachenfeststellung in der Revisionsinstanz, S. 135. 433  BGHSt 29, 18, 20; BGHSt 15, 347, 349 f. 434  BGHSt 29, 18, 21; BGH StV 1991, 548; BGH StV 1993, 115; BGH StV 1997, 561; BGHSt 38, 14, 16 f. 435  BGH StV 1991, 548, 549; BGH StV 1993, 115. 431  Döhmer,

436

Teil 3: Betrachtung des Anwendungsdefizits des § 359 Nr. 5 StPO

Rechtsprechung – etwa im Bereich von Verfahrensrügen – die Zulässigkeit des Freibeweisverfahrens anerkennt und eine Rekonstruktion der Hauptverhandlung zulässt, wenn es festzustellen gilt, ob die Beweisaufnahme den gesetzlichen Bestimmungen entsprechend durchgeführt worden ist. Gründe, warum dies nicht auch bei einer Rüge der Falschheit der festgestellten Ergebnisse der Beweisaufnahme möglich sein soll, erschließen sich nicht. Das Verbot der Rekonstruktion der Hauptverhandlung im Revisionsverfahren verletzt demnach das Rechtstaatsprinzip, das Gebot des fairen Verfahrens sowie das Gebot der Wahrheitsfindung. Auch das Schuldprinzip und die Unschuldsvermutung werden tangiert.436 Die Rechtsprechung sollte das selbstauferlegte und rechtlich nicht haltbare Verbot der Rekonstruktion der Hauptverhandlung im Revisionsverfahren dringend überdenken. Zwar ist angesichts der geltenden Rechtslage nachvollziehbar, dass sich das Revisionsgericht nicht in der Lage sieht, mangels entsprechender Dokumentation der Hauptverhandlung die Beweiswürdigung auf ihre Richtigkeit und Vollständigkeit hin zu überprüfen.437 Dennoch ist es gerade die Aufgabe einer Rechtsmittelinstanz, Fehler des Grundverfahrens zu korrigieren. Mit einer Novellierung der Vorschriften zur Dokumentation der Hauptverhandlung kann das Revisionsgericht auch in die Lage versetzt werden, elementare Fehler der Beweiswürdigung zu berichtigen. Bis dahin sollten sich Revisionsgerichte, um ihrer Verpflichtung zur Wahrung effektiven Rechtsschutzes zu entsprechen, eine Rekonstruktion der Hauptverhandlung in dem Rahmen zulassen, wie dies zu einer effektiven rechtlichen Nachprüfung notwendig und geboten ist. So sollte etwa eine freibeweisliche Überprüfung der angegriffenen Beweiswürdigung anerkannt werden. Diesem Ergebnis entsprechend sprachen sich auch die zur wiederaufnahmerechtlichen Praxis befragten Experten für eine Abschaffung des Rekon­ struktionsverbots im Revisionsverfahren aus.

IV. Rekonstruktion der Hauptverhandlung im Wiederaufnahmeverfahren Eine Rekonstruktion der Hauptverhandlung ist zwar im Revisionsverfahren verboten, im Rahmen der Wiederaufnahme wird sie mit §§ 359 Nr. 5, 436  Döhmer,

SVR 2009, 47, 54. spricht davon, dass ein Wortprotokoll des Erkenntnisverfahrens das Rückgrat jeder erweiterten Revision sei, vgl. Geipel, in: Miebach / Hohmann, Wiederaufnahme in Strafsachen, Teil A, Rz. 274. Das Manko des fehlenden Wortprotokolls für das Revisionsverfahren war bereits Gegenstand der Reformvorschläge Anfang der 1970iger Jahre, vgl. Geipel a. a. O. m. w. N. 437  Geipel



B. Defizite in der Kontrolle tatrichterlicher Beweisergebnisse437

362 Abs. 1 StPO zur Prüfung der Neuheit und Geeignetheit einer Tatsache oder eines Beweismittels hingegen praktisch vorausgesetzt.438 Die gesetz­ liche Ausgestaltung der Hauptverhandlung bzw. deren fehlende lückenlose Dokumentation führt daher nicht nur zu einer fehlenden Kontrolle der tatrichterlichen Beweisergebnisse im Rahmen einer Revision, sondern auch zu Unzulänglichkeiten im Rahmen des Aditionsverfahrens der Wiederaufnahme. Nur eine Änderung der gesetzlichen Anforderungen an die Dokumentation einer Hauptverhandlung in erstinstanzlich vor dem Landgericht oder Oberlandesgericht verhandelten Verfahren kann hier die gebotene Zuverlässigkeit bringen. Andernfalls obliegt es auch insoweit der Fähigkeit des Urteilsverfassers, ob dieser durch geschickte Formulierungen und den Umfang der dargestellten Urteilsgründe den Anknüpfungspunkt für eine erfolgreiche Wiederaufnahme bietet oder nicht.

V. Konsequenzen für die Verteidigung im erstinstanzlichen Verfahren Für den Angeklagten bzw. dessen Verteidigung bedeutet die aktuelle Handhabung des Rekonstruktionsverbots im Revisionsverfahren, dass im Wege affirmativer Beweisanträge oder schriftlicher Verteidigerklärungen gem. § 257 Abs. 2 StPO in erster Instanz versucht werden muss, Ergebnisse der Beweisaufnahme „festzuschreiben“ um das Risiko von Sachverhalts­ anpassungen des Tatgerichts in den späteren Urteilsgründen zu minimieren. Denn der Inbegriff der Hauptverhandlung kann nicht ohne Weiteres zum Beweisgegenstand im laufenden Verfahren gemacht werden.439 Hält ein Urteil Tatsachen oder Bekundungen von Sachverständigen oder Zeugen im Vergleich zur Beweisaufnahme inhaltlich abweichend fest, so bleibt der Text des Urteils allein maßgeblich. Eine Beweisaufnahme über behauptete Widersprüche findet nicht statt. Sind die landgerichtlichen Urteilsfeststellungen falsch und bleiben sie in der Revision unbeanstandet, ergibt sich für den Verurteilten nur die Möglichkeit, das Bundesverfassungsgericht und den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte anzurufen. Abgesehen davon, dass diese Verfahren sehr langwierig sind, darf auch nicht verkannt werden, dass es sich bei ihnen nicht um Superrevisionsinstanzen handelt. Der Angriff auf die tatsächlichen Urteilsfeststellungen soll schließlich durch den Rechtsbehelf der Wiederaufnahme ermöglicht werden. Gleichwohl darf nicht darüber hinweggetäuscht 438  BeckOK-Eschelbach,

§ 261 / 69. § 244 / 70. Ein nur auf Wiederholung der Beweisaufnahme gerichteter Antrag ist an § 244 Abs. 2 StPO zu messen. 439  KK-Krehl,

438

Teil 3: Betrachtung des Anwendungsdefizits des § 359 Nr. 5 StPO

werden, dass hier die Erfolgsaussichten im Regelfall sehr gering sind, da die Anforderungen an ein zulässiges Antragsvorbringen im Wiederaufnahmeverfahren, wie bereits dargelegt, sehr hoch sind. Der Instanzverteidiger ist daher gut beraten, Tatsachen und Beweismittel nicht für einen Wiederaufnahmeantrag aufzusparen, der auf § 359 Nr. 5 StPO gestützt wäre.440 Vielmehr sollte er die Tatsachen mittels affirmativer Beweisanträge zum Gegenstand der Hauptverhandlung machen. Nicht selten ergeben sich hieraus auch sinnvolle Ansätze für Verfahrensrügen in der Revision.

VI. Konsequenzen für das Tatgericht Trifft der erhobene Vorwurf zu, der Urteilsverfasser mache bisweilen bewusst von „revisionssichere(m) Dichtschreiben“ Gebrauch, handelt dieser Urteilsverfasser rechtsmissbräuchlich. Der Tatrichter ist, nicht weniger als das Rechtsmittelgericht, Recht und Gesetz verpflichtet. Er verletzt seine Pflicht zur Wahrheitserforschung, wenn die schriftlichen Urteilsgründe vorsätzlich unrichtige oder unvollständige Tatsachenfeststellungen beinhalten um eine revisionsgerichtliche Kontrolle zu unterlaufen. Dies stellt als Rechtsbeugung eine strafbare Handlung gem. § 339 StGB dar, die ihrerseits eine Wiederaufnahme gem. § 359 Nr. 3 StPO rechtfertigen würde.441 Die Diskussionen über die Vollständigkeit und Richtigkeit der Urteilsgründe ließen sich etwas entzerren, wenn entsprechend dem Vorschlag der BRAK, § 267 StPO dahingehend erweitert würde, dass die Urteilsgründe des Tatrichters insbesondere die Erwägungen zu enthalten haben, auf denen die Tatsachenfeststellungen beruhen. Dies sind Erwägungen, die der Tatrichter im Zuge der Beweiswürdigung angestellt hat.442 Dann jedenfalls wären nicht mehr nur die die Überzeugung des Tatrichters bestimmenden Erwägungen Inhalt des Urteils, sondern der vollständige Inbegriff der Hauptverhandlung und damit auch der Streit um die Neuheit eines Umstands weitestgehend obsolet.

440  Peters,

Fehlerquellen im Strafprozeß III, S. 35 f. sollte sich der Betroffene darüber bewusst sein, dass an die Strafbarkeit eines Richters gem. § 339 StGB sehr hohe Anforderungen gestellt werden. So reiche nicht jede Rechtsverletzung aus, sondern ein elementarer Verstoß gegen die Rechtspflege sei nötig. Der Täter müsse sich bewusst und in schwerwiegender Weise von Recht und Gesetz entfernen. Vgl. TF § 339 / 28 und Bock / Eschelbach / Geipel / Hettinger / Röschke / Wille, GA 2013, 328, 341 ff. 442  Hanack / Gerlach / Wahle, Denkschrift zur Reform des Rechtsmittelrechts und der Wiederaufnahme, S. 44. 441  Gleichwohl



C. Grundsatz der freien Beweiswürdigung439

VII. Konsequenzen für die Verteidigung im Wiederaufnahmeverfahren Die Defizite der tatrichterlichen Beweiskontrolle im Revisionsverfahren erfordern, dass sich der Verteidiger nicht nur mit dem Hauptverhandlungsprotokoll und dem Urteil auseinandersetzt, sondern durch eine intensive Einarbeitung in das Verfahren und die zugrunde liegenden Akten versucht, nova ausfindig zu machen. Dabei können die Schwächen des Revisionsverfahrens genutzt werden, um Umstände, die der Entscheidung nicht erkennbar zugrunde gelegt wurden, obwohl sie beweiserheblich waren, als wiederaufnahmerechtlich relevante Umstände zu erarbeiten. Anders als im Grundverfahren obliegt es im Wiederaufnahmeverfahren dem Verteidiger, das Vorgehen zu bestimmen und zu entscheiden, wie das Grundurteil zu Fall gebracht werden kann. Orientiert an den schriftlichen Urteilsgründen muss im Rahmen der Ausarbeitung eines Wiederaufnahmeantrags versucht werden, Beweismittel und Tatsachen durch neue zu erschüttern bzw. die die Verurteilung tragenden Sachverhaltsfeststellungen anzugreifen.443 Der hohe Aufwand, den ein Verteidiger in diesem Verfahrensstadium betreiben muss, gründet nicht zuletzt darin, dass sich nicht jeder Denkansatz als tragfähig oder belastbar erweist. Hinzu kommt, dass der Verteidiger die Mitwirkung eines Zeugen nicht erzwingen kann und Akten bzw. objektive Sachbeweise bereits nicht mehr existent sein können.444 Sodann muss der Verteidiger für die Feststellung neuer Tatsachen und Beweismittel auch den Akteninhalt, die Asservate und das Hauptverhandlungsprotokoll gewissenhaft auswerten. Ausgangspunkt für die Überlegungen muss dabei stets das Urteil sein, das in der Regel zunächst einen in sich geschlossenen und überzeugenden Eindruck vermitteln kann.

C. Grundsatz der freien Beweiswürdigung Die Hauptverhandlung dient dazu, den tatsächlichen Sachverhalt anhand objektiver Maßstäbe zu ermitteln und zu würdigen. Da die richterliche Überzeugung jedoch nicht mehr als eine subjektive Gewissheit ist, besteht immer das Risiko, dass die richterliche Überzeugung von der objektiven Sachlage abweicht. Da die subjektive Gewissheit auch innerhalb Kollegialgerichten oder zwischen verschiedenen Instanzgerichten abweichen kann, hat der Ge443  Peters,

Fehlerquellen im Strafprozeß II, S. 274 ff. NStZ 2014, 670. Strate, Der Verteidiger in der Wiederaufnahme, http: /  /  www.strate.net / de / publikationen / verteidiger_in_der_wiederaufnahme.html (zuletzt auf­ gerufen am 13.05.14). 444  KG

440

Teil 3: Betrachtung des Anwendungsdefizits des § 359 Nr. 5 StPO

setzgeber mit § 263 StPO entschieden, dass für die Verurteilung keine Einstimmigkeit, sondern vielmehr eine qualifizierte Mehrheit ausreichend ist. Der Grundsatz der freien richterlichen Beweiswürdigung, § 261 StPO, stellt einen tragenden Pfeiler des geltenden Rechtssystems dar. Ihm wohnt jedoch das Risiko inne, dass die jeweils zur Entscheidungsfindung berufenen Personen die ermittelten Umstände verschieden würdigen. Dabei verbieten sich Vermutungen dahingehend, welche Beurteilung (bspw. die frühere, die Beurteilung nur anhand Aktenmaterials etc.) die bessere ist. Da das Wiederaufnahmerecht von dem Gedanken geprägt ist, ein „besseres“ Urteil zu erstreben, ist die Wiederaufnahme in den Bereichen, die subjektiven Beurteilungen und Wertungen zugänglich sind – was neben dem Feld der Beweiswürdigung insbesondere im Bereich der Strafzumessung der Fall ist –, grds. nicht zulässig.445 Dieser Ansatz ist insoweit verfehlt, als dass auch subjek­ tiven Beurteilungen objektiv nachvollziehbare Umstände zugrunde liegen müssen. So ist insbesondere die Glaubwürdigkeit einer Zeugenaussage sachgebunden und unterliegt wissenschaftlich anerkannten Regeln, weshalb die Prüfung der Glaubwürdigkeit einer Zeugenaussage nicht nur revisibel, sondern auch Gegenstand eines Wiederaufnahmegesuchs sein kann. Somit kann bereits in einigen Bereichen, in denen die Beweiswürdigung fraglich erscheint, mit Hilfe der Wiederaufnahme ein besseres Urteil erreicht werden.446 Ein besseres Urteil ist mithin nicht nur bei neuen Tatsachen und Beweismitteln zu erwarten, sondern auch hinsichtlich der Urteilsfeststellungen, die auf Wertungen und Beurteilungen beruhen und mit Hilfe neuer Erkenntnisse in Frage gestellt werden können. So ist bspw. die Glaubwürdigkeit der benutzten Beweismittel als Tatsache in der Wiederaufnahme angreifbar.447 Die fehlerhafte Beweiswürdigung einer zutreffend wahrgenommenen Tatsache ist zwar unter bestimmten Voraussetzungen revisibel, stellt jedoch keine neue Tatsache i. S. d. § 359 Nr. 5 StPO dar.448 Von der fehlenden oder fehlerhaften Wahrnehmung einer Tatsache, die den Anwendungsbereich des § 359 Nr. 5 StPO eröffnen würden, ist die bloß fehlerhafte Beweiswürdigung einer zutreffend wahrgenommenen Tatsache zu unterscheiden. Das geltende Recht kennt keine Beweisregeln, vielmehr ist im Sinne einer offenen Beweiswürdigung das Beweisrecht gesetzlich nicht geregelt. Gem. § 261 StPO ist die Überzeugung von der Täterschaft eines Angeklagten frei zu bilden. Lediglich der der Überzeugungsbildung zugrunde zu legende Verfahrensstoff ist mit der Beschränkung auf den Inbegriff der Verhandlung be445  Peters,

Fehlerquellen im Strafprozeß III, S. 29 ff. Fehlerquellen im Strafprozeß III, S. 31. 447  OLG Rostock NStZ 2007, 357. 448  LR-Gössel, § 359 / 98; Theobald, Barrieren des strafrechtlichen Wiederaufnahmeverfahrens, S. 29. 446  Peters,



C. Grundsatz der freien Beweiswürdigung441

grenzt.449 Dennoch unterliegt die Beweiswürdigung gewissen von der Rechtsprechung entwickelten Regeln, die im Wege der erweiterten Revision auch der revisionsgerichtlichen Kontrolle unterliegen. Als Rechtsfehler, der im Rahmen der Revision angreifbar ist, sind anerkannt: Widersprüche, Unklarheiten und Lücken in der Beweiswürdigung sowie der Verstoß gegen Denkgesetze oder gesicherte Erfahrungssätze.450 Als solche Beweisregeln gelten: – Gesetzliche, selbstständige und unselbstständige absolute und relative Beweisverwertungsverbote.451 – Beweiswürdigungsregeln, die das Wie der Beweiswürdigung betreffen sind u. a.:452 • Für die Vernehmung von Zeugen gilt der Unmittelbarkeitsgrundsatz.453 • In Aussage-gegen-Aussage-Konstellationen bedarf es einer lückenlosen Aufklärung sämtlicher Indizien. • Ein beschränkter Beweiswert kommt dem Wiedererkennen des Tatverdächtigen durch Zeugen zu. • Bloße Kenntnis vom Hörensagen hat geringen Beweiswert. • Erkenntnisse einer DNA-Analyse verpflichten den Richter dennoch zu einer umfassenden Würdigung aller Beweisumstände. • Polygraphische Untersuchungen stellen ein völlig ungeeignetes Beweismittel i. S. d. § 244 Abs. 3 S. 2 Var. 4 StPO dar. • Wurde der Angeklagte bzw. sein Verteidiger, entgegen § 168c Abs. 5 StPO, nicht von der richterlichen Vernehmung eines Zeugen informiert, ist das richterliche Protokoll in ein nichtrichterliches Protokoll gem. § 251 Abs. 2 S. 2 StO mit geringerem Beweiswert umzudeuten. • Kein oder nur geringer Beweiswert kommt dem Zeitpunkt zu, in dem der Angeklagte Entlastungsvorbringen erstmals geltend macht. • Einfluss auf den Beweiswert einer Aussage hat auch wechselndes Einlassungsverhalten. • Nur sehr begrenzter Beweiswert kommt schließlich auch einer widerlegten Alibibehauptung zu. 449  MAH

Strafverteidigung-Strate, § 27 / 17. § 337 / 27. 451  Schwaben, StraFo 2002, 78. 452  Schwaben, StraFo 2002, 78 ff. 453  Auslandszeugen können kommissarisch vernommen werden, besteht das Gericht auf einer visuellen Wahrnehmung, kann eine Videovernehmung in Betracht kommen. 450  MG

442

Teil 3: Betrachtung des Anwendungsdefizits des § 359 Nr. 5 StPO

Zusammenfassend kann demnach festgestellt werden, dass die freie Beweiswürdigung ihre Grenzen erfährt im Ziel der Wahrheitserforschung, den Prozessgrundrechten des Angeklagten auf ein faires Verfahren, auf eine willkürfreie Entscheidung, auf Neutralität und Ergebnisoffenheit des Gerichts und auf Gewährung rechtlichen Gehörs. Auch müssen wissenschaftliche Erkenntnisse, Erfahrungssätze und die Gesetze der Logik beachtet werden.454 Mit Blick auf die Rechtssicherheit erscheint eine Wiederaufnahme auch dann zwingend geboten, wenn Fehler in der Beweiswürdigung offenbar werden. Damit ist jedoch der gesetzliche Gedanke der freien Beweiswürdigung nicht vollkommen in Frage zu stellen. Werden die Grenzen der freien Beweiswürdigung verletzt, ist die Beweiswürdigung revisibel oder wiederaufnahmerechtlich korrigierbar.455 Freilich dürfte im Einzelfall für den Antragsteller schwer darzustellen sein, wo der Tatsachenbegriff endet und wo die Beweiswürdigung beginnt. Es wäre vor diesem Hintergrund zu begrüßen, die Beweiswürdigung des Tatgerichts der Wiederaufnahme zu eröffnen, indem – wie bereits von der BRAK vorgeschlagen – § 267 StPO dahingehend erweitert wird, dass die Urteilsgründe des Tatrichters die Erwägungen zu enthalten haben, auf denen die Tatsachenfeststellungen beruhen. Dies sind insbesondere Erwägungen, die der Tatrichter im Zuge der Beweiswürdigung angestellt hat.456 Wenn § 261 StPO, der mit der freien richterlichen Beweiswürdigung eine wesentliche Errungenschaft des reformierten Strafprozesses darstellt, nicht abgeschafft werden soll, erscheint es unabdingbar, mit einer Erweiterung des § 267 StPO die Beweiswürdigung der Wiederaufnahme zugänglich zu machen.

D. Dokumentationspflicht Die mangelhafte Dokumentation von Aussagen wird bereits seit Langem beanstandet. Der historische Gesetzgeber erlaubte im Revisionsverfahren keine Kontrolle der Beweiswürdigung, weshalb eine Darstellung der Beweisgrundlagen auch nicht vollständig nötig war. Deshalb war auch keine lückenlose Protokollierung der Hauptverhandlung erforderlich. Obwohl zwischenzeitlich die erweiterte Revision457 anerkannt ist, werden Vernehmungen sowohl in als auch außerhalb der Hauptverhandlung nach wie vor nicht voll454  BeckOK-Eschelbach,

§ 261 / 2 f. Fehlerquellen im Strafprozeß III, S. 33. 456  Hanack / Gerlach / Wahle, Denkschrift zur Reform des Rechtsmittelrechts und der Wiederaufnahme, S. 44. 457  s. hierzu oben S. 131. 455  Peters,



D. Dokumentationspflicht443

ständig aufgezeichnet, sondern unterliegen in weiten Bereichen dem Verständnis und Wohlwollen des vernehmenden Beamten oder Richters. Dies führt dazu, dass jeder Verfahrensbeteiligte – insbesondere bei komplexen Aussagen – selektiv perzipiert, valutiert und protokolliert.458 Mit den Vernehmungsprotokollen werden aber die entscheidenden Weichen für den späteren Inhalt der Anklage bzw. der gerichtlichen Entscheidung gestellt.459 Auch die hier befragten Experten sprachen sich für eine vollständige Dokumentation der Hauptverhandlung aus. Diese führe mitunter zu einer Disziplinierung der Gerichte, das Rekonstruktionsverbot werde obsolet, was wiederum für das Wiederaufnahmerecht positiv sei, da die Urteile richtiger würden. Zudem könnten die Beweisergebnisse im Erneuerungsverfahren mit denen des Erstverfahrens verglichen werden.460 Eine von Bundesjustizminister Maas eingesetzte Expertenkommission betonte zuletzt im Oktober 2015, dass das Ziel des Strafverfahrens die bestmögliche Wahrheitsfindung ist. Nach Auffassung der Kommission optimiere die vermehrte audiovisuelle Aufzeichnung von Vernehmungen nicht nur den Prozess der Wahrheitsfindung, sondern sorge auch für Transparenz des Verfahrens, wie es das Bundesverfassungsgericht i. S. e. offenen, kommunikativen Verhandlungsführung als selbstverständliche Anforderung an eine sachgerechte Prozessleitung versteht.461 458  Schünemann,

StraFo 2015, 177, 186. in: FS-Schiller, S. 691. Auch Darnstädt kritisiert insbesondere die polizeiliche Vernehmungsmethodik als „Schachspiel mit einem unterlegenen Partner“, das im Zweifel gegen den Beschuldigten ausgeht. So würden Beschuldigte systematisch, nicht selten über Wochen hinweg, in die Enge getrieben. Er beklagt in diesem Zusammenhang, dass gerade die entscheidenden Passagen einer polizeilichen Beschuldigtenvernehmung oftmals weder wortgetreu protokolliert noch auf Video aufgezeichnet werden. Demgegenüber werden auch informelle Gespräche zwischen Vernehmendem und Beschuldigten Gegenstand des weiteren Verfahrens. Dies jedoch widerspreche bereits vom Grundsatz her dem Gedanken der StPO, die genaue Regeln über die Vernehmung des Beschuldigten festschreibe, deren Einhaltung dann jedoch mangels Dokumentation der Vernehmung nicht kontrollierbar seien. Auch in Bezug auf Zeugenvernehmungen wird die Suche nach der Wahrheit durch den „Inertia“- und den „Pygmalion“-Effekt gestört. Ersterer geht davon aus, dass Vernehmungsbeamte solche Aussagen überbewerten, die eine bereits bestehende Hypothese oder ein aufgrund des Aktenmaterials entstandenes Vorurteil bestätigen, vgl. Barton, StraFo 1993, 11, 14 ff.; Schünemann, StV 2000, 159, 160 ff.; Degener, StV 2002, 618, 622 f. Den Grund hat dieses Phänomen in der Theorie der „kognitiven Dissonanz“ (vgl. Schünemann, StV 2000, 159, 160). Der Pygmalion-Effekt hingegen beschreibt, dass sich Zeugen dazu veranlasst sehen, das zu bestätigen, was ihrer Meinung nach der Vernehmende von ihnen erwartet. Vgl. Darnstädt, Der Richter und sein Opfer, S. 103 ff. und 322 f. 460  s. o. S.  292. 461  Bericht der Expertenkommission 2015, S.  3, https: /  / www.bmjv.de / Shared Docs / Downloads / DE / PDF / Abschlussbericht_Reform_StPO_Kommission.pdf?__blob =publicationFile&v=2 (zuletzt aufgerufen am 04.04.2016); BVerfGE 133, 168, 228. 459  Witting,

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Teil 3: Betrachtung des Anwendungsdefizits des § 359 Nr. 5 StPO

Die Kommission betonte zugleich, dass der Regelungsstand zur Dokumentation von Zeugen- und Beschuldigtenvernehmungen nicht dem Stand der Technik des 21. Jahrhunderts entsprechen würde. Das Potenzial bestehender technischer Möglichkeiten werde nicht ausgeschöpft. Leitlinien für Empfehlungen waren daher u. a. die Optimierung des Wahrheitsfindungsprozesses mit Hilfe moderner Technik und die Forderung von Transparenz und Kommunikation.462 Um den Prozess der Wahrheitsfindung effektiver zu gestalten, hat die Kommission insbesondere empfohlen, im Ermittlungsverfahren verstärkt audiovisuelle Dokumentationstechniken einzusetzen. De lege lata kann – und soll unter bestimmten Umständen463 – gem. § 58a Abs. 1 StPO eine Zeugenvernehmung audiovisuell aufgezeichnet werden. Diese Aufzeichnung kann gem. § 255a StPO ein Beweissurrogat für die Hauptverhandlung darstellen. Für Beschuldigtenvernehmungen sieht das Gesetz mit dem 2013 eingeführten § 163a Abs. 1 S. 2, der auf § 58a Abs. 1 S. 1 StPO Bezug nimmt, eine Kann-Vorschrift vor.464 Diese Regelungen dienen vorrangig dem Zeugenschutz, lassen jedoch zugleich eine Ausrichtung auf die Wahrheitsfindung erkennen.465 Mit der durch das Gesetz zur effek­ tiveren und praxistauglicheren Ausgestaltung des Strafverfahrens vom 17.08.2017 eingeführten Regelungen des § 136 Abs. 4 S. 1, 2 StPO in der Fassung ab 01.01.2020 kann jede Beschuldigtenvernehmung in Bild und Ton aufgezeichnet werden und ist aufzuzeichnen bei Tötungsdelikten oder schutzwürdigen Interessen des Beschuldigten.466 Auch die Kommission empfahl dem Gesetzgeber die Einführung einer Regelung, wonach Beschuldigten- und Zeugenvernehmungen im Ermittlungsverfahren jedenfalls bei schweren Tatvorwürfen oder bei einer schwierigen Sach- oder Rechtslage regelmäßig audiovisuell aufzuzeichnen sind. Gleichwohl solle – zur Vermeidung einer unnötigen Transkription der gesamten Vernehmung – weiterhin nach den geltenden Regelungen protokolliert werden.467 Bezogen auf den Einsatz von Videotechnik in land- oder oberlan462  Bericht der Expertenkommission 2015, S.  2, https: /  / www.bmjv.de / Shared Docs / Downloads / DE / PDF / Abschlussbericht_Reform_StPO_Kommission.pdf?__ blob=publicationFile&v=2 (zuletzt aufgerufen am 04.04.2016). 463  § 58a Abs. 1 S. 2 StPO, so bei durch die Tat verletzten Personen unter 18 Jahren und wenn zu besorgen ist, dass ein Zeuge in der Hauptverhandlung nicht vernommen werden kann und die Aufzeichnung zur Erforschung der Wahrheit erforderlich ist. 464  Bericht der Expertenkommission 2015, S.  3, https: /  / www.bmjv.de / Shared Docs / Downloads / DE / PDF / Abschlussbericht_Reform_StPO_Kommission.pdf?__ blob=publicationFile&v=2 (zuletzt aufgerufen am 04.04.2016). 465  Zu § 58a StPO etwa BT-Drs. 13 / 7165, S. 5. 466  BGBl. Nr. 60, Jahrgang 2017, Teil I, S. 3295 ff. 467  Bericht der Expertenkommission 2015, S.  67, https: /  / www.bmjv.de / Shared Docs / Downloads / DE / PDF / Abschlussbericht_Reform_StPO_Kommission.pdf?__



D. Dokumentationspflicht445

desgerichtlichen Hauptverhandlungen hat sich die Kommission nicht abschließend positioniert, diesbezüglich wurde lediglich eine Prüfung empfohlen.468 Soweit der umfassenden Dokumentation Kostenerwägungen entgegenhalten werden, können diese den Nutzen einer umfassenden Dokumentation auf dem Weg zu einem fehlerfreien Urteil nicht überwiegen. So wird aktuell in nahezu jedem Strafverfahren – insbesondere soweit es um die Vernehmung des Beschuldigten im Ermittlungsverfahren geht – der Vernehmungsbeamte über den Ablauf und das Verhalten des Aussagenden in der Hauptverhandlung gehört. Dessen Vernehmung wäre mit der umfassenden Dokumentation jeder Vernehmung obsolet. In der Folge würde es weder zu Auslagenerstattungen kommen noch müssten die Ermittlungsbeamten ihre Arbeitszeit bei Gericht verbringen.469 Zudem darf nicht verkannt werden, dass digitale Medien zur Reproduktion einer Vernehmung inzwischen deutlich kostengünstiger sind. Berücksichtigt man etwa, welche Kosten im Rahmen umfangreicher TKÜ- und Verbindungsdatenauswertungen anfallen – deren Speicherung scheinbar kostenverträglicher zu sein scheint – ist nur schwer verständlich, weshalb Vernehmungen nicht aufgezeichnet werden sollten. Schließlich bleibt fraglich, welche Auswirkung die authentische audiovisuelle Aufzeichnung auf die Vernehmung als solche haben könnte. Zum einen wird eine gewisse Disziplinierung der Vernehmenden festzustellen sein, zum anderen werden anzunehmende Auswirkungen auf den Vernommenen hingegen fraglich bleiben. So könnte das Aussageverhalten möglicherweise verfälscht werden, die Vernehmung sich vor laufender Aufzeichnungstechnik zu einer Art Schauspiel wandeln.470 Angesichts der voranschreitenden Digitalisierung, der Zurschaustellung in sozialen Netzwerken und der Konfrontation blob=publicationFile&v=2 (zuletzt aufgerufen am 04.04.2016). In dem der Kommis­ sionsempfehlung zugrunde liegenden Gutachten wurde die Protokollierung von Zeugenaussagen im Ermittlungsverfahren erwogen, wenn die Tatvorwürfe schwer wiegen, die Aussage eine besondere Bedeutung für das untersuchte Geschehen hat, besondere Merkmale in der Person des Zeugen oder besondere Interessen des Beschuldigten eine vollständige und authentische Dokumentation der Aussage rechtfertigen, vgl. Swoboda, Stellungnahme Reform der StPO, Anlagenband I, S. 227, https: /  / www. bmjv.de / SharedDocs / Downloads / DE / PDF / Anlage_1_StPO_Kommission.pdf;jsessioni d=8B0449EBC61593D99E91F1C67B659C4D.1_cid324?__blob=publicationFile&v=4 (zuletzt aufgerufen am 21.09.2016). 468  Bericht der Expertenkommission 2015, S.  3, https: /  / www.bmjv.de / Shared Docs / Downloads / DE / PDF / Abschlussbericht_Reform_StPO_Kommission.pdf?__ blob=publicationFile&v=2 (zuletzt aufgerufen am 04.04.2016). 469  Nack / Park / Brauneisen, NStZ 2011, 310, 312. 470  Bericht der Expertenkommission 2015, S.  68, https: /  / www.bmjv.de / Shared Docs / Downloads / DE / PDF / Abschlussbericht_Reform_StPO_Kommission.pdf?__ blob=publicationFile&v=2 (zuletzt aufgerufen am 04.04.2016).

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mit Kameras im Alltag (etwa auf überwachten öffentlichen Plätzen oder in Kaufhäusern) ist indes kaum anzunehmen, dass sich die vernommene Person von der Aufzeichnung einer Vernehmung beeinflussen lassen würde. Der Bundesgerichtshof stellte bereits 1964 fest, dass für den „modernen“ Menschen die Begegnung mit technischen Gerätschaften etwas Vertrautes und Gewohntes geworden ist.471 Die Bedenken könnten schließlich gegen den Öffentlichkeitsgrundsatz eingewandt werden, da auch das im Sitzungssaal präsente Publikum den Zeugen zu einem veränderten Verhalten bewegen könnte. Zuweilen dürften Zeugen im Übrigen viel mehr überrascht sein, dass der im Sitzungssaal anwesende Protokollführer Aussageinhalte gerade nicht protokolliert.472 Bei der Debatte um die Dokumentation von Aussageinhalten in- und außerhalb der Hauptverhandlung darf nicht verkannt werden, dass die Rekonstruktion des wahren Sachverhalts auch unter Zuhilfenahme optimaler Dokumentationsmöglichkeiten Grenzen hat. So kann insbesondere der Zeugenbeweis durch mangelnde Fähigkeit des Zeugen zur Wahrnehmung und Reproduktion des Erlebten auch Fehler beinhalten. Zudem sind bei der Sachverhaltsermittlung durch Vernehmungen die verfassungs- und menschenrechtlichen Garantien zu wahren. Die Aufzeichnung einer Vernehmung stellt sich dabei als zu rechtfertigender Eingriff in das allgemeine Persönlichkeitsrecht des Aussagenden473, Art. 8 EMRK, sowie in das Recht auf informationelle Selbstbestimmung dar, Art. 2 Abs. 1 i. V. m. Art. 1 Abs. 1 GG. Letzteres dürfte indes durch eine §§ 163a Abs. 1 S. 2, 58a Abs. 2 S. 2 i. V. m. § 101 Abs. 8 StPO nachgebildete Löschungspflicht ausreichend geschützt sein. Der Eingriff in das allgemeine Persönlichkeitsrecht des Vernommenen kann dadurch gerechtfertigt werden, dass Mehrfachbefragungen vermieden werden und der Aussageinhalt verlässlich dokumentiert werden kann.474 Bzgl. des Selbstbestimmungsrechts der professionellen Verfahrensbeteiligten hat das Bundesverfassungsgericht bereits entschieden, dass diese nicht in gleichem Maß Anspruch auf den Schutz ihrer Privatsphäre haben.475 471  BGHSt

19, 193, 195. Transparenz der Hauptverhandlung, Anlagenband I, S. 535, https: /  /  www.bmjv.de / SharedDocs / Downloads / DE / PDF / Anlage_1_StPO_Kommission.pdf;jse ssionid=8B0449EBC61593D99E91F1C67B659C4D.1_cid324?__blob=publicationFile &v=4 (zuletzt aufgerufen am 21.09.2016). 473  Bericht der Expertenkommission 2015, S.  71, https: /  / www.bmjv.de / Shared Docs / Downloads / DE / PDF / Abschlussbericht_Reform_StPO_Kommission.pdf?__ blob=publicationFile&v=2 (zuletzt aufgerufen am 04.04.2016). 474  Bericht der Expertenkommission 2015, S. 71, https: /  / www.bmjv.de / SharedDocs / Downloads / DE / PDF / Abschlussbericht_Reform_StPO_Kommission.pdf?__ blob=publicationFile&v=2 (zuletzt aufgerufen am 04.04.2016), wo jedoch die Rechtfertigung nur mit dem hohen Aufklärungsintersse bei gravierenden Straftaten als gerechtfertigt angesehen wird. 475  Vgl. BVerfG NJW 2008, 977, 979 und BVerfGE 119, 302, 329. 472  König,



D. Dokumentationspflicht447

Gerade vor diesem Hintergrund und der Erkenntnis, dass das Beweismittel nicht „verbessert“ werden kann – auch nicht durch eine authentische Dokumentation der Vernehmung – erscheint es zwingend, für die Suche nach einem fehlerfreien Urteil die daran beteiligten Akteure, neben einer bestmög­ lichen Ausbildung durch eine authentische Reproduktionsmöglichkeit in die Lage zu versetzen, die Vernehmungsinhalte nachzuvollziehen, zu prüfen und würdigen zu können. Was später das Gericht im Rahmen der Hauptverhandlung durch die Vernehmung eines Zeugen erfahren kann, sollte der Staatsanwaltschaft – und auch der Verteidigung – bereits im Ermittlungsverfahren ermöglicht werden. Nur so können Zeugenvernehmungen bereits im Ermittlungsverfahren angemessen gewürdigt werden. Berichtet der Zeuge hingegen zuverlässig, wäre für das rechtsstaatlich geordnete Verfahren nichts fataler, als wenn eine ungenaue Niederschrift zu einer Verfremdung der Aussage führen würde. Diese Fehlerquelle lässt sich durch eine digitale Rekonstruktion aller Vernehmungen dauerhaft versiegen und ermöglicht eine Konservierung von Aussageinhalten, die auch für die Beurteilung der Novität im Wiederaufnahmeverfahren von Vorteil wäre. Schließlich ist mit Blick auf die zukünftige Entwicklung des deutschen Strafprozessrechts unter Einfluss der Europäischen Union, die mit der gegenseitigen Anerkennung von Beweisen und deren freien Verkehrsfähgikeit einhergeht, eine vollständige Dokumentation von Vernehmungen zu empfehlen.476 Auf europäischer Ebene werden bereits insbesondere im Hinblick auf einen transnationalen Beweistransfer einheitliche Regelungen zur Beweis­ erhebung und -dokumentation diskutiert.477 Auch erwiesen sich die in mehreren angloamerikanischen Rechtsordnungen gegen die Aufzeichnung von (Beschuldigten-)Vernehmungen vorgebrachten Bedenken, wie etwa der Kostenaufwand, die technischen Hürden sowie die Kosten für die Transkription und Videoaufzeichnung als unbegründet. Ebenso die Befürchtung, dass die Aufzeichnung einer Aussage auf den Vernommenen selbst Einfluss hat. Vielmehr wurde das Aufzeichnen nach kurzer Zeit vergessen und spielte für das Aussageverhalten keine Rolle.478 476  Eine solche wird zwar bislang unionsrechtlich nicht gefordert, erscheint jedoch als einzige Möglichkeit, die Rechte des Beschuldigten zu wahren und eine – vom EGMR geforderte – Prüfung der Einhaltung der Grundsätze des fairen Verfahrens gem. Art. 6 EMRK zu ermöglichen, vgl. Swoboda, Stellungnahme Reform der StPO, Anlagenband I, S. 222, https: /  / www.bmjv.de / SharedDocs / Downloads / DE / PDF /  Anlage_1_StPO_Kommission.pdf;jsessionid=8B0449EBC61593D99E91F1C67B659 C4D.1_cid324?__blob=publicationFile&v=4 (zuletzt aufgerufen am 21.09.2016). 477  Bericht der Expertenkommission 2015, S.  70, https: /  / www.bmjv.de / Shared Docs / Downloads / DE / PDF / Abschlussbericht_Reform_StPO_Kommission.pdf?__ blob=publicationFile&v=2 (zuletzt aufgerufen am 04.04.2016). 478  Swoboda, Stellungnahme Reform der StPO, Anlagenband I, S. 242, https: /  /  www.bmjv.de / SharedDocs / Downloads / DE / PDF / Anlage_1_StPO_Kommission.pdf;jse

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Teil 3: Betrachtung des Anwendungsdefizits des § 359 Nr. 5 StPO

Die fehlende Dokumentation, die im Übrigen mit dem Anspruch auf rechtliches Gehör nicht zu vereinbaren ist, erscheint daher zwingend und umfassend reformbedürftig.479 Die vollständige audiovisuelle Aufzeichnung hätte den weiteren Effekt, dass die Entstehung von Aussageinhalten in jedem Verfahrensstand transparent und nachvollziehbar wäre. Zwar steht der Zeuge im Regelfall in der Hauptverhandlung zur Verfügung, gleichwohl kann davon ausgegangen werden, dass sowohl die Entscheidungsträger als auch die übrigen Verfahrensbeteiligten oftmals auf dem protokollierten Inhalt einer vorangegangenen Vernehmung beharren. Dass tatsächlich die gesamte Vernehmung authentisch dokumentiert wird und es nicht zu heimlichen Gesprächen oder Vorhalten außerhalb der Aufzeichnung kommt, wäre im Übrigen dadurch sicherzustellen, dass Vernehmender und Vernommener schriftlich bestätigen, die gesamte Vernehmung dokumentiert, mithin keine weiterführenden Gespräche oder Vorhalte geführt zu haben.

I. Dokumentation von Vernehmungen im Ermittlungsverfahren Der Gesetzgeber scheint erkannt zu haben, dass die authentische Dokumentation einer Vernehmung wesentlich für den Weg hin zu einer fehlerfreien Rekonstruktion des Sachverhalts und folglich hin zu einem fehlerfreien Urteil ist.480 So wurden bereits vereinzelt Regelungen zur Dokumentation von Aussageinhalten gesetzlich normiert. Der Gesetzgeber stellte im Zusammenhang mit § 58a StPO und § 136 Abs. 4 StPO in der Fassung ab 2020 fest, dass die Aufzeichnung einer Vernehmung auf Video „jedem schriftlichen Protokoll überlegen“ sei.481 Auch gem. Nr. 5b S. 1 RiStBV soll bei der vorläufigen Aufzeichnung von Protokollen gem. § 168a Abs. 2 StPO von technischen Hilfsmitteln möglichst weitgehend Gebrauch gemacht werden. Nr. 5b S. 2 RiStBV weist jedoch die Entscheidung hierüber allein dem Richter und in Fällen des § 168b StPO dem Staatsanwalt zu. 2010 legte der Strafrechtsausschuss der BRAK einen Gesetzesentwurf zur Verbesserung der Wahrheitsfindung im Strafverfahren durch den verstärkten ssionid=8B0449EBC61593D99E91F1C67B659C4D.1_cid324?__blob=publicationFile &v=4 (zuletzt aufgerufen am 21.09.2016). 479  BeckOK-Eschelbach, § 261 / 64.2. ff. 480  BT-Drs. 18 / 11277, S. 24. 481  BT-Drs. 13 / 7165, S. 7 und BT-Drs. 18 / 11277, S. 24.



D. Dokumentationspflicht449

Einsatz von Bild-Ton-Technik vor.482 § 58a StPO sei zu erweitern um die verbindliche Aufzeichnung von Zeugen- oder Beschuldigtenvernehmungen im Ermittlungsverfahren für Fälle, in denen die Mitwirkung eines Verteidigers erforderlich ist. Zudem war vorgesehen, auf Wunsch des Beschuldigten jede Beschuldigtenvernehmung aufzuzeichnen; in Fällen notwendiger Verteidigung sah der Vorschlag die Aufzeichnung von Beschuldigten- und ausschlaggebenden Zeugenvernehmungen als verbindlich an.483 Auch Zeugenvernehmungen sollten in Fällen notwendiger Verteidigung aufgezeichnet werden. In Aussage-gegen-Aussage-Konstellationen sah der Entwurf die zwingende Aufzeichnung der Zeugenvernehmung vor. Daneben sprach sich die BRAK dafür aus, das schriftliche Vernehmungsprotokoll weiterhin beizubehalten. Die Verfahrensbeteiligten sollten im Übrigen einen Anspruch auf Aushändigung einer Kopie der Aufzeichnung haben, nicht jedoch auf deren Verschriftung.484 Zugleich sah der Entwurf die Videoprotokollierung der tatrichterlichen Hauptverhandlung vor dem Landgericht und Oberlandesgericht vor, ohne das schriftliche Hauptverhandlungsprotokoll des § 271 StPO abschaffen zu wollen.485 Am 25.04.2013 wurde das Gesetz zur Intensivierung des Einsatzes von Videokonferenztechnik in gerichtlichen und staatsanwaltlichen Verfahren erlassen486, das mit § 163a Abs. 1 S. 2 StPO bei Beschuldigtenvernehmungen § 58a Abs. 1 S. 1 StPO für entsprechend anwendbar erklärt. Von dieser Regelung wird jedoch in der Praxis nur zurückhaltend Gebrauch gemacht.487 Auch der Bericht der Expertenkommission aus dem Jahr 2015 verhält sich zur Frage der Dokumentation des Ermittlungsverfahrens. Demnach sollen Zeugen- und Beschuldigtenvernehmungen jedenfalls bei schweren Tatvorwürfen oder bei einer schwierigen Sach- oder Rechtslage neben der regulären Protokollierung, im Regelfall audiovisuell aufgezeichnet werden.488 Maßstab 482  BRAK-Stellungnahme-Nr. 1 / 2010.

483  BRAK-Stellungnahme-Nr. 1 / 2010, S. 4. Neuhaus, StV 2015, 185, 189. Ein Fall einer ausschlaggebenden Zeugenvernehmung liege insbesondere bei „Aussagegegen-Aussage-Konstellationen“ vor. 484  BRAK-Stellungnahme-Nr. 1 / 2010, S. 4 ff. 485  BRAK-Stellungnahme-Nr. 1 / 2010, S. 6 f. 486  Gesetz zur Intensivierung des Einsatzes von Videokonferenztechnik in gerichtlichen und staatsanwaltschaftlichen Verfahren BGBl. Nr. 20, Jahrgang 2013, Teil I, S. 935 ff. 487  Bericht der Expertenkommission 2015, S.  67, https: /  / www.bmjv.de / Shared Docs / Downloads / DE / PDF / Abschlussbericht_Reform_StPO_Kommission.pdf?__ blob=publicationFile&v=2 (zuletzt aufgerufen am 04.04.2016). 488  Bericht der Expertenkommission 2015, S.  67, https: /  / www.bmjv.de / Shared Docs / Downloads / DE / PDF / Abschlussbericht_Reform_StPO_Kommission.pdf?__ blob=publicationFile&v=2 (zuletzt aufgerufen am 04.04.2016).

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für die Schwierigkeit der Sach- und Rechtslage könne der Katalog des § 140 Abs. 1 und 2 StPO sein, ebenso für eine Beschränkung der Aufzeichnungspflicht auf Schwurgerichtsverfahren, Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung und Straftaten aus dem Bereich der organisierten Kriminalität. Auch eine Orientierung am Katalog des § 100c StPO sei denkbar.489 Die audiovisuelle Dokumentation einer Vernehmung könne einen wertvollen Beitrag zur Optimierung der Wahrheitsfindung im Ermittlungsverfahren leisten. Dass die Praxis trotz der Möglichkeiten zur Aufzeichnung einer Vernehmung in § 58a StPO und § 163a StPO davon keinen Gebrauch macht, sei nicht zeitgemäß.490 Die Kommission befürwortete daher, die Aufzeichnungsmöglichkeiten künftig verstärkt zu nutzen und empfahl dem Gesetzgeber für audiovisuelle Aufzeichnungen von Zeugen- und Beschuldigtenvernehmungen bei schweren Tatvorwürfen oder einer schwierigen Sach- und Rechtslage eine gesetzliche Normierung.491 Mit Einführung des § 136 Abs. 4 StPO zum 01.01.2020 hat der Gesetzgeber nunmehr klargestellt, dass – für den Fall, dass sich die audiovisuelle Dokumentation einer Beschuldigtenvernehmung in diesen Fällen bewähre – über eine Ausweitung nachgedacht werden könne.492 Neben dem technisch und auch anderweitig erhöhten Kostenaufwand wird den Befürwortern der umfassenden audiovisuellen Aufzeichnung von Zeugen- und Beschuldigtenvernehmungen im Ermittlungsverfahren entgegnet, dass es zu einem Konflikt mit dem Unverzüglichkeitsgebot für die Vorführung vor den Haftrichter kommen könne und somit auch zum Konflikt mit dem Beschleunigungsgebot in Haftsachen. Nicht zuletzt sei eine Aufzeichnungspflicht praxisuntauglich und zu starr, da sie dazu führen würde, dass schriftliche und telefonische Anhörungen ebenso wie Befragungen vor Ort, nicht mehr möglich wären. Schließlich sei die Gefahr eines Missbrauchs der Aufzeichnungen trotz Verwendungsverbot denkbar. Dazu werde der Beschuldigte und Zeuge in der Hauptverhandlung meist ohnehin nochmals vernommen. Die vernommene Person sage bei Kenntnis einer vorherigen Aufzeichnung möglicherweise nicht unbefangen aus oder ihr Aussageverhalten werde durch eine Missbrauchsbefürchtung der Vernehmungsaufzeichnung beein489  Bericht der Expertenkommission 2015, S.  71, https: /  / www.bmjv.de / Shared Docs / Downloads / DE / PDF / Abschlussbericht_Reform_StPO_Kommission.pdf?__ blob=publicationFile&v=2 (zuletzt aufgerufen am 04.04.2016). 490  Bericht der Expertenkommission 2015, S.  67, https: /  / www.bmjv.de / Shared Docs / Downloads / DE / PDF / Abschlussbericht_Reform_StPO_Kommission.pdf?__ blob=publicationFile&v=2 (zuletzt aufgerufen am 04.04.2016). 491  Bericht der Expertenkommission 2015, S. 67 f., https: /  / www.bmjv.de / Shared Docs / Downloads / DE / PDF / Abschlussbericht_Reform_StPO_Kommission.pdf?__ blob=publicationFile&v=2 (zuletzt aufgerufen am 04.04.2016). 492  BT-Drs. 13 / 11277, S. 24.



D. Dokumentationspflicht451

flusst.493 Eine Beschränkung der Aufzeichnungspflichten auf schwere Tatvorwürfe bzw. Ermittlungsverfahren mit schwieriger Sach- oder Rechtslage, könne in der Praxis zu erheblichen Abgrenzungsschwierigkeiten in der frühen Phase eines Verfahrens führen.494 Endlich stelle sich die Frage, welche Konsequenzen die Nichtbeachtung der Aufzeichnungspflicht nach sich ziehe.495 Ohne Einschränkung spricht für die audiovisuelle Aufzeichnung einer ­ ernehmung im Ermittlungsverfahren die verbesserte Wahrheitsfindung.496 V Auch die Kommission betonte, dass eine authentische Videoaufzeichnung dem herkömmlichen schriftlichen Protokollierungsstil als Ergebnis eines Kommunikationsprozesses – da qualitativ hochwertiger – weit überlegen sei.497 Zugleich führt die audiovisuelle Dokumentation einer Vernehmung im Ermittlungsverfahren zu einer erhöhten allgemeinen Verfahrenstransparenz, insbesondere hinsichtlich der Förmlichkeiten zum Schutz des Beschuldigten. Die Aufzeichnung führt damit zu einer Disziplinierung der Vernehmungsperson und vermeidet (unzutreffende) Vorwürfe über die Nichteinhaltung von Förmlichkeiten.498 Eine Verletzung des Beschleunigungsgrundsatzes steht nicht zu befürchten. Vielmehr ist anzunehmen, dass die Verschriftlichung von Vernehmungen – wie aktuell gehandhabt – mehr Zeit beansprucht, als dem Tatrichter die Möglichkeit zu eröffnen, sich einen authentischen Eindruck einer Vernehmung zu verschaffen. Den Kritikern ist jedoch insoweit beizupflichten, als eine Dokumentationspflicht, beschränkt auf schwere Tatvorwürfe bzw. Ermittlungsverfahren mit schwieriger Sach- oder Rechtslage nicht praktikabel erscheint, zumal diese Beurteilung zu Beginn der Ermittlungen oftmals kaum verlässlich möglich sein dürfte. Vielmehr sind sämtliche Anhörungen und Vernehmungen 493  Bericht der Expertenkommission 2015, S.  68, https: /  / www.bmjv.de / Shared Docs / Downloads / DE / PDF / Abschlussbericht_Reform_StPO_Kommission.pdf?__ blob=publicationFile&v=2 (zuletzt aufgerufen am 04.04.2016). 494  Bericht der Expertenkommission 2015, S.  69, https: /  / www.bmjv.de / Shared Docs / Downloads / DE / PDF / Abschlussbericht_Reform_StPO_Kommission.pdf?__ blob=publicationFile&v=2 (zuletzt aufgerufen am 04.04.2016). 495  Bericht der Expertenkommission 2015, S.  69, https: /  / www.bmjv.de / Shared Docs / Downloads / DE / PDF / Abschlussbericht_Reform_StPO_Kommission.pdf?__ blob=publicationFile&v=2 (zuletzt aufgerufen am 04.04.2016). 496  So auch BT-Drs. 18 / 11277, S. 24. 497  Bericht der Expertenkommission 2015, S.  69, https: /  / www.bmjv.de / Shared Docs / Downloads / DE / PDF / Abschlussbericht_Reform_StPO_Kommission.pdf?__ blob=publicationFile&v=2 (zuletzt aufgerufen am 04.04.2016). 498  Bericht der Expertenkommission 2015, S.  69, https: /  / www.bmjv.de / Shared Docs / Downloads / DE / PDF / Abschlussbericht_Reform_StPO_Kommission.pdf?__ blob=publicationFile&v=2 (zuletzt aufgerufen am 04.04.2016).

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zu dokumentieren.499 Die umfassende Aufzeichnungspflicht sämtlicher Anhörungen mag zwar als praxisuntauglich empfunden werden, doch kann nur sie Fehlerquellen zuverlässig verhindern. Im Übrigen ist nicht einzusehen, weshalb Telefongespräche oder Befragungen vor Ort nicht mittels eines mobilen Aufzeichnungsgerätes dokumentiert werden können sollten. Die befürchtete Einflussnahme durch den Vernehmenden, etwa in Vernehmungspausen, kann durch seine sowie des Vernommenen Versicherung ausgeschlossen werden, dass sämtliche Gespräche dokumentiert wurden und keine Gespräche zur Sache außerhalb der Aufzeichnung stattgefunden haben.500 Überdies würde die Gefahr unzulässiger Einflussnahme auf Vernehmungsprotokolle mit neuer Technik – im Vergleich zum status quo – sogar geringer sein. Die Einführung einer Aufzeichnungspflicht von Vernehmungen im Ermittlungsverfahren ist dem Gesetzgeber daher anzuraten. Ihre Ablehnung erscheint unverständlich, vielmehr sollte auch aus Sicht der Ermittlungsbehörden ein Interesse daran bestehen, verlässlich zu dokumentieren, dass lege artis ermittelt wurde. Die umfassende Dokumentation von Anhörungen und Vernehmungen erscheint jedoch nur dann zielführend, wenn ein Verstoß zwingend zur Unverwertbarkeit der Vernehmung führt. Entsprechend § 252 StPO darf dann auch das mittelbare Beweismittel, etwa die Verhörsperson, nicht über den Inhalt der Vernehmung Auskunft geben.

II. Dokumentation einer landgerichtlichen Hauptverhandlung Dem Vorsitzenden obliegt es de lege lata, der Aufklärungspflicht des § 244 Abs. 2 StPO zu entsprechen. Er verantwortet auch die Erfassung von Verfahrensinhalten durch seine Kammer dergestalt, dass die aufgenommenen Erkenntnisse im Laufe der Hauptverhandlung nicht verloren gehen.501 Den Verfahrensbeteiligten steht es im Übrigen frei, ob und wie sie Aussageinhalte dokumentieren. Dies führt nicht selten dazu, dass Verfahrensbeteiligte nur das zur Kenntnis nehmen, was ihrer Erwartung entspricht.502 Verdeckte Darstellungsfehler im Urteilstext können neben Äußerungs-, Wahrnehmungsund Erinnerungsfehlern aber auch schlichtweg in falscher Erinnerung gründen, der sämtliche Verfahrensbeteiligte erlegen sein können.503 499  Anders hingegen, die Expertenkommission, die dann eine Aufblähung des Strafverfahrens befürchtet, vgl. Bericht der Expertenkommission 2015, S. 70, https: /  /  www.bmjv.de / SharedDocs / Downloads / DE / PDF / Abschlussbericht_Reform_StPO_ Kommission.pdf?__blob=publicationFile&v=2 (zuletzt aufgerufen am 04.04.2016). 500  So auch BT-Drs. 18 / 11277, S. 26. 501  Schwenn, StV 2010, 705, 706. 502  Witting, in: FS-Schiller, S. 693. 503  Eschelbach, in: FS-Stöckel, S. 208.



D. Dokumentationspflicht453

Über Dispute der entscheidungserheblichen Aussageinhalte in der Hauptverhandlung entscheidet letztlich der Urteilsverfasser durch freie Beweiswürdigung. Es obliegt demnach dem Vorsitzenden bzw. Berichterstatter als Urteilsverfasser, die schriftlichen Urteilsgründe, entlang seiner Wahrnehmung von der Hauptverhandlung, abzufassen. Wie bereits dargestellt, werden daher gegen die Protokollierung von Aussageinhalten Bedenken vorgebracht. In landgerichtlichen Verfahren spitzt sich die mangelhafte Protokollierung von Aussageinhalten zu: das landgerichtliche Hauptverhandlungsprotokoll verhält sich nicht zu den Inhalten einer Aussage, sondern lediglich zu den Förmlichkeiten des Verfahrens. Eine wortlautgetreue Protokollierung ist als Ausnahme gem. § 273 Abs. 3 S. 1 StPO auf Situationen begrenzt, bei denen es auf die Feststellung eines Vorgangs in der Hauptverhandlung oder den Wortlaut einer Aussage ankommt.504 Auch in rechtstatsächlicher Hinsicht stellen Anträge auf Protokollierung gem. § 273 Abs. 3 StPO „Ausnahmeerscheinungen“ dar.505 Dem Tatrichter eröffnet sich mithin die Möglichkeit, durch das Weglassen (entlastender) Umstände ein revisionssicheres Urteil zu gestalten.506 Denn die Divergenz zwischen den Urteilsfeststellungen und dem tatsächlichen Inhalt der Hauptverhandlung wird im Revisionsverfahren nicht geprüft. Dadurch ergibt sich eine nicht akzeptable und für den Betroffenen nicht angreifbare Rechtschutzlücke im Erkenntnisverfahren.507 Alsberg sprach sich daher dafür aus, die schon früher gängige Protokollierung von Zeugenaussagen in denjenigen Verfahren wieder einzuführen, die unseren heutigen landgerichtlichen Verfahren entsprechen.508 Auch Hellwig äußerte bereits 1913 die Vermutung, dass einige Fehlurteile dann zu vermeiden wären, wenn Aussagen vor dem Landgericht zwingend zu protokollieren wären.509 Der Gesetzgeber hatte bereits 1964 eine Protokollierungspflicht für sämtliche Tatsacheninstanzen eingeführt, diese jedoch 1974 wieder aufgegeben.510 So wurde 1975 der Einsatz der gerichtlichen Protokollführer legislativ rationalisiert und die Protokollierungspflicht wesentlicher Aussageinhalte unter Abänderung des § 273 Abs. 2 StPO im Rahmen des 1. StVRG 1975 wieder 504  Der Inhalt einer Aussage reicht insofern nicht für einen Antrag auf wörtliche Protokollierung gem. § 273 Abs. 3 StPO, vgl. MG § 273 / 22. 505  Müller, in: FS-Volk, S. 487. 506  Eschelbach, in: FS-Widmaier, S. 133 ff. 507  Witting, in: FS-Schiller, S. 695. 508  Alsberg, Justizirrtum und Wiederaufnahme, S. 72. 509  Hellwig, Justizirrtümer, S. 83. 510  StPÄG BGBl. Nr. 63, Jahrgang 1964, Teil I, S. 1077; 1. StRVG BGBl. Nr. 132, Jahrgang 1974, Teil I, S. 3401. BT-Drs. 7 / 551, S. 48.

454

Teil 3: Betrachtung des Anwendungsdefizits des § 359 Nr. 5 StPO

revidiert.511 Der Gesetzgeber betonte, dass durch die Aufgabe einer umfassenden Dokumentation eine künftige Regelung nicht präjudiziert werde: „Der Entwurf schlägt die Beseitigung des Inhaltsprotokolls in den Hauptverhandlungen vor dem Landgericht und dem Oberlandesgericht einzig deshalb vor, weil bei dieser Art des Inhaltsprotokolls und dem gegenwärtigen Rechtszustand in der Ausgestaltung der Rechtsmittel der zur Herstellung der Niederschriften erforderliche Aufwand an Arbeit und Zeit nicht verantwortet werden kann. Einer Neuregelung mit dem Ziel der Einführung eines zuverlässigen Wortprotokolls mit Hilfe technisch überlegener Methoden, etwa des Tonbandprotokolls, sowie einer Umgestaltung des Rechtsmittelrechts in Richtung auf die Anerkennung einer rechtlichen Erheblichkeit des Protokollinhalts will der Entwurf mit seinem Vorschlag nicht entgegenwirken.“512

Inwieweit die Abschaffung einer Protokollierung wesentlicher Aussageinhalte überhaupt zu einer Rationalisierung von Protokollführern führte, ist nicht nachvollziehbar – schließlich ist ein Protokollführer nach wie vor erforderlich, muss er doch das den Anforderungen des § 273 Abs. 1 StPO entsprechende Hauptverhandlungsprotokoll über den Gang der Hauptverhandlung samt wesentlicher Förmlichkeiten verfassen. Im bereits erwähnten Entwurf der BRAK wurde 2010 zudem vorgeschlagen, in Erweiterung des § 273 StPO durch ein Videoprotokoll die vollständige Tatsacheninstanz in landgerichtlichen bzw. oberlandesgerichtlichen Verfahren mittels einer stationären Videokamera aufzuzeichnen.513 Dies solle einen Nachweis und Beweis von Verfahrensabläufen in der Revisionsinstanz ermöglichen und zugleich als zuverlässiges Beweismittel in anderen Verfahren wie einem Falschaussage- oder Wiederaufnahmeverfahren dienen.514 Damit einhergehend könnten die Revisionsgerichte in die Lage versetzt werden, durch eine Rekonstruktion der Hauptverhandlung und eine erneute Beweisaufnahme die erstinstanzliche Entscheidung weitergehend überprüfen zu können.515 Diesen Gedanken verwerfend hatte der Bundesgerichtshof im Jahr 2003 hinsichtlich gem. § 58a StPO gefertigter Bild-TonAufzeichnungen nochmals betont, dass eine inhaltliche Rekonstruktion der Beweisaufnahme in der Revision nicht möglich sei. So sei die Aufgabenver511  1.

StVRG vom 09.12.1974, BGBl. Nr. 132, Jahrgang 1974, Teil I, S. 3401. 7 / 551, S. 48. 513  BRAK-Stellungnahme-Nr. 1 / 2010, S. 10. Dieser Vorschlag beruhte auf der Entscheidung des BGH zur Protokollberichtigung (BGHSt 51, 298 ff.), um die tatsächlichen Abläufe der Hauptverhandlung zuverlässig nachweisen zu können. Witting erachtet den Vorschlag der BRAK zur Einführung eines Videoprotokolls als einen „für die Wahrheitsfindung wichtige(n) und längst überfälligen Schritt“ und spricht sich dafür aus, jede – mithin auch amtsgerichtliche – tatrichterliche Hauptverhandlung aufzuzeichnen, vgl. Witting, in: FS-Schiller, S. 703. 514  Witting, in: FS-Schiller, S. 700 f. 515  Witting, in: FS-Schiller, S. 701. 512  BT-Drs.



D. Dokumentationspflicht455

teilung zwischen Tat- und Revisionsgericht zu respektieren. Dies wäre nicht der Fall, wenn das Revisionsgericht aus der Auswertung einer Bild-TonAufzeichnung den Inhalt einer Aussage bewerten würde. Der Revisionsrichter würde damit zwangsläufig die tatrichterliche Beweiswürdigung bewerten, die ausschließlich Sache des Tatrichters sei.516 Diese Argumentation erscheint in den Fällen zumindest zweifelhaft und unverständlich, in denen nachweisbar und in entscheidungserheblicher Weise die Urteilsfeststellungen mit den Inhalten einer Aufzeichnung unvereinbar und somit vom Urteilsverfasser „dichtgeschrieben“ sind.517 Ein derartiges Fehlurteil zu korrigieren sollte gerade Aufgabe und Sinn eines Revisionsverfahrens als Rechtsmittelinstanz sein. Im November 2013 trat schließlich das Gesetz zur Intensivierung des Einsatzes von Videokonferenztechnik in gerichtlichen und staatsanwaltschaftlichen Verfahren in Kraft, das aus Gründen der Verfahrensbeschleunigung und Prozessökonomie einen Verzicht auf die persönliche Anwesenheit einer Auskunftsperson ermöglicht.518 Auch der Gesetzgeber scheint erkannt zu haben, welche Vorteile der Einsatz neuer Medien für den Strafprozess haben könnte. Gleichwohl wurde der Vorschlag der Anwaltschaft zu einer Speicherung der so gewonnen Daten nicht umgesetzt.519 In dem 2015 veröffentlichten Bericht der Expertenkommission wird die audiovisuelle Dokumentation erstinstanzlicher Hauptverhandlungen vor Land- und Oberlandesgerichten ebenso diskutiert. Sie garantiere – insbesondere in umfangreichen Verfahren – eine genauere und zuverlässigere Dokumentation des Inhalts der Beweisaufnahme. Zugleich werde der Gang der Hauptverhandlung, ebenso wie die wesentlichen Förmlichkeiten, zuverlässiger dokumentiert als nach herkömmlicher Art.520 Für eine Videodokumentation spreche neben dem vereinfachten Nachweis von Verfahrensfehlern, dass ein Abgleich zwischen dem tatsächlichen Inhalt der Hauptverhandlung und den Urteilsfeststellungen möglich wäre. Außerdem könne die Dokumentation für das auf § 359 Nr. 5 StPO gestützte Wiederaufnahmeverfahren nutzbar gemacht werden.521 Für das Revisionsverfahren wurde die audiovisuelle Dokumentation seitens der Expertenkommission demnach nur für die Verfah516  BGHSt

48, 268, 273. in: FS-Schiller, S. 705. 518  BGBl. Nr. 20, Jahrgang 2013, Teil I, S. 936. 519  BRAK-Stellungnahme-Nr. 30 / 2010, S. 8. 520  Bericht der Expertenkommission 2015, S. 129, https: /  / www.bmjv.de / Shared Docs / Downloads / DE / PDF / Abschlussbericht_Reform_StPO_Kommission.pdf?__ blob=publicationFile&v=2 (zuletzt aufgerufen am 04.04.2016). 521  Protokolle der Expertenkommission, Anlagenband II, S.  181, http: /  / www. bmjv.de / SharedDocs / Downloads / DE / PDF / Anlage_2_StPO_Kommission.pdf?__ blob=publicationFile&v=2 (zuletzt aufgerufen am 26.08.2016). 517  Witting,

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Teil 3: Betrachtung des Anwendungsdefizits des § 359 Nr. 5 StPO

rensfehlerkorrektur befürwortet. Da diese aber bereits de lege lata hinreichend ermöglicht sei und die Auswirkung auf das Wiederaufnahmeverfahren einen elementaren Unterschied zur geltenden Rechtslage bedeute, gäbe es keine Anhaltspunkte dafür, das Vertrauen in die Richtigkeit tatrichterlicher Urteilsfeststellungen grundlegend zu erschüttern. Da das Rechtsmittelsystem gut funktioniere und die Einführung einer audiovisuellen Dokumentation einen hohen Aufwand verursache, sei sie nicht erforderlich.522 Nach Auffassung der Expertenkommission gefährde die audiovisuelle Aufzeichnung der Hauptverhandlung das Persönlichkeitsrecht des Zeugen, da die Gefahr der Weitergabe der Mitschnitte an andere Personen bestünde. Jedoch könne mit einer dem § 58 Abs. 3 StPO nachgebildeten Widerspruchsregelung der Umfang der Nutzung der Aufzeichnungen eingeschränkt werden.523 Wiederum spielte in den Diskussionen die befürchtete Auswirkung einer Aufzeichnung auf das Aussageverhalten des Zeugen eine Rolle.524 Die nicht abschließend beurteilbaren Auswirkungen einer umfassenden Dokumentation der Hauptverhandlung auf das Revisionsverfahren waren schließlich entscheidend, weshalb die Kommission keine eindeutige Empfehlung aussprach, sondern eine weitergehende Prüfung anregte. So wurde offensichtlich befürchtet, dass mit Aufgabe des Rekonstruktionsverbots und mittels der Dokumentation der Hauptverhandlung das auf die formelle Wahrheit ausgerichtete bisherige Revisionsverfahren zugunsten der materiellen Wahrheit einseitig ausgehebelt werden könne.525 Die Aufzeichnungen der Hauptverhandlung sollen daher nicht zu einer inhaltlichen Überprüfung eingesetzt werden, sondern lediglich hinsichtlich verfahrensbezogener Fragestellungen.526 Einen Zusammenhang der fehlenden Protokollierung einer landgericht­ lichen Hauptverhandlung zur Wiederaufnahme und dem Wiederaufnahmegrund des § 359 Nr. 5 StPO konstatierte bereits Alsberg im Jahr 1913. Er 522  Protokolle der Expertenkommission, Anlagenband II, S.  181, http: /  / www. bmjv.de / SharedDocs / Downloads / DE / PDF / Anlage_2_StPO_Kommission.pdf?__ blob=publicationFile&v=2 (zuletzt aufgerufen am 26.08.2016). 523  Protokolle der Expertenkommission, Anlagenband II, S.  178, http: /  / www. bmjv.de / SharedDocs / Downloads / DE / PDF / Anlage_2_StPO_Kommission.pdf?__ blob=publicationFile&v=2 (zuletzt aufgerufen am 26.08.2016). 524  Protokolle der Expertenkommission, Anlagenband II, S.  179 http: /  / www. bmjv.de / SharedDocs / Downloads / DE / PDF / Anlage_2_StPO_Kommission.pdf?__ blob=publicationFile&v=2 (zuletzt aufgerufen am 26.08.2016). 525  Protokolle der Expertenkommission, Anlagenband II, S.  179, http: /  / www. bmjv.de / SharedDocs / Downloads / DE / PDF / Anlage_2_StPO_Kommission.pdf?__ blob=publicationFile&v=2 (zuletzt aufgerufen am 26.08.2016). 526  Protokolle der Expertenkommission, Anlagenband II, S. 179  f., http: /  / www. bmjv.de / SharedDocs / Downloads / DE / PDF / Anlage_2_StPO_Kommission.pdf?__ blob=publicationFile&v=2 (zuletzt aufgerufen am 26.08.2016).



D. Dokumentationspflicht457

erkannte zu Recht, dass eine fehlende Dokumentation der Beweisgründe eines Urteils dazu führen kann, dass der Nachweis der Neuheit und Wesentlichkeit von Tatsachen und Beweismitteln zur Erreichung eines zulässigen Wiederaufnahmeziels kaum zu führen ist.527 Betrachtet man die Entwicklung des Gesetzes, war die fehlende Dokumentation im Rahmen von Wiederaufnahmeverfahren zunächst weniger das Problem, hatte doch über die Zulässigkeit des Antrags das Gericht zu entscheiden, welches das angefochtene Urteil erlassen hatte.528 Aufgrund der Einführung der Regelung in § 140a GVG und dem auch in § 23 Abs. 2 S. 1 StPO formulierten Gedanken, dass der Tatrichter infolge seiner Voreingenommenheit nicht an einer Entscheidung über den Antrag auf Wiederaufnahme eines Verfahrens mitwirken soll, wäre dieses Versäumnis jedoch zu korrigieren. Das über den Wiederaufnahmeantrag entscheidende Gericht war an der Hauptverhandlung in keiner Weise beteiligt und kennt demnach auch die Inhalte des seinerzeitigen Verfahrens nicht bzw. nur aus den Urteilsgründen. Hundert Jahre nach Alsbergs Erkenntnis ist im Zeitalter digitaler Technik von einem modernen Strafprozess im Hinblick auf die Protokollierung von Aussageinhalten – die maßgeblicher Teil des Strebens nach der materieller Wahrheit sein können – noch nicht viel zu bemerken. Korrespondierend zu § 58a StPO, Nr. 5b RiStBV, § 168a Abs. 2 StPO und § 136 Abs. 4 StPO (in der Fassung ab 2020) wurde über § 255a StPO die Möglichkeit der Einführung einer Bild-Ton-Aufzeichnung in der Hauptverhandlung geschaffen. Der 1998 eingefügte § 247a StPO ermöglicht eine Videovernehmung auch in der Hauptverhandlung. Weiterhin wurde 2004 § 273 Abs. 2 StPO dahingehend erweitert, dass in Verfahren vor dem Amtsgericht der Vorsitzende anordnen kann, dass Vernehmungen auf Tonträger aufgezeichnet und so zu den Akten genommen werden. Der Gesetzgeber verstand die Einführung der § 273 Abs. 2 S. 2 bis 4 StPO dahingehend, dass die Qualität der Dokumentation von Aussageinhalten wesentlich verbessert und vervollständigt werden könnte.529 Zugleich lehnte er es aber ab, diese Möglichkeit der Vernehmungsdokumentation auf landgerichtliche Verfahren oder Verfahren vor Oberlandesgerichten auszuweiten. Dann nämlich wäre mit einer Flut von Verfahrens­ rügen zu rechnen, was wiederum zu einer Überlastung der Revisionsgerichte führen würde, die für die Prüfung eines derartigen Rügevorbringens die Tonbandaufnahmen vollständig prüfen müssten.530 Damit werde der Revi­ sionsrichter zum Tatrichter, was nur durch eine Nutzungseinschränkung der 527  Alsberg,

Justizirrtum und Wiederaufnahme S. 70 f. Hentig, Die Wiederaufnahme des Strafverfahrens dogmatisch und rechtsvergleichend dargestellt, S. 209 ff. 529  BT-Drs. 15 / 1976, S. 12. 530  Witting, in: FS-Schiller, S. 698. 528  Von

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Teil 3: Betrachtung des Anwendungsdefizits des § 359 Nr. 5 StPO

Aufzeichnungen im Revisionsverfahren auf Verfahrensrügen abgewendet werden könne.531 Diesen Bedenken steht bereits die Erkenntnis des Gesetzgebers entgegen, dass eine Aufzeichnung von Aussageinhalten auf Tonband oder Video zu einer „erheblichen Qualitätsverbesserung“532 beitragen würde. Zugleich kann nur die Dokumentation der Hauptverhandlung durch eine Person oder Einrichtung außerhalb des Spruchkörpers sicherstellen, dass der Tatrichter auch den nonverbalen Inhalt der Hauptverhandlung seiner Überzeugungsbildung zugrunde legen kann, und nicht durch die Befassung mit Unterlagen abgelenkt wird.533 Die befürchtete Flut von Revisionsanträgen könnte im Vorfeld eingedämmt werden, indem der Revisionsführer – entsprechend § 344 Abs. 2 S. 2 StPO – verpflichtet würde, die für die Verfahrensrüge relevanten Tonband- / Videosequenzen exakt und nachvollziehbar zu benennen. Dadurch würde für das Revisionsgericht keinerlei Mehraufwand entstehen, es könnte vielmehr, entsprechend seinem gesetzlichen Ideal als Nachprüfungsinstanz, auch die tatrichterliche Beweiswürdigung überprüfen. Soweit die Rspr. im Bereich des Revisionsrechts bereits Ausnahmen vom Verbot der Rekonstruktion der Hauptverhandlung anerkennt534, etwa wenn die Beweisaufnahme ohne eigene Beweiswürdigung anhand von Gutachten und Urkunden rekonstruiert werden kann, steht diesem eine Tonbandaufnahme bzw. eine Videoprotokollierung in nichts nach.535 Die Inbegriffsrüge könnte demnach problemlos aufgrund der objektiven und nachweisbaren Aufzeichnung überprüft werden, ohne dass das Revisionsgericht eine eigene Beweiswürdigung vornähme, geschweige denn sich in die Funktion des Tatrichters drängte.536 Nach dem Gesetzesentwurf der BRAK aus dem Jahr 2010 hätte die Ausweitung der Aufzeichnungsmöglichkeiten im Strafverfahren, neben einer effektiveren Kontrolle in der Revisionsinstanz, einen weiteren Vorteil: So würde die Aufzeichnung von Aussageinhalten zu einer Konservierung der Entscheidungsgrundlagen führen. Dies wiederum würde ein gerechtes Verfahren in der Wiederaufnahme sicherstellen, die Tatsachengrundlagen der Entscheidung objektiv festhalten und auch Streitigkeiten um die Beurteilung einer Tatsache als neu vermeiden. 531  Protokolle der Expertenkommission, Anlagenband II, S.  180, http: /  / www. bmjv.de / SharedDocs / Downloads / DE / PDF / Anlage_2_StPO_Kommission.pdf?__ blob=publicationFile&v=2 (zuletzt aufgerufen am 26.08.2016). 532  BT-Drs. 15 / 1976, S. 12. 533  BGHSt 35, 164, 171. 534  s. o. S.  433 ff. 535  MG § 337 / 14. 536  Witting, in: FS-Schiller, S. 707.



D. Dokumentationspflicht459

Aufgrund der erforderlichen technischen Ausrüstung der Gerichtssäle sowie der Wartung und Verwaltung der Aufzeichnungen werden zudem fiskalische Bedenken gegen die audiovisuelle Dokumentation landgerichtlicher Hauptverhandlungen vorgebracht.537 Diese Bedenken überzeugen jedoch nicht. Aufzeichnungsgeräte nach neuestem technischen Stand sind nicht so unverhältnismäßig teuer, als dass dieses Argument gegenüber einer verbesserten Wahrheitsfindung überzeugen kann. Im Übrigen könnten fiskalische Bedenken zurückgestellt werden, indem audiovisuelle Aufzeichnungen erstinstanzlicher Hauptverhandlungen auf Verhandlungen vor den Land- und Oberlandesgerichten beschränkt würden. Lehnt man eine zweite Tatsacheninstanz für in erster Instanz vor Landgerichten verhandelten Strafsachen ab, erscheint die authentische und umfassende Dokumentation der Hauptverhandlung zwingend, um eine Kontrolle des Urteils in der Revisionsinstanz zu gewährleisten. Nur dadurch kann das Revisionsgericht kontrollieren, ob die im Urteil referierten Beweisergebnisse tatsächlich mit dem Inhalt der Hauptverhandlung korrespondieren. Eine entsprechende Forderung hatte bereits die BRAK 1971 als Grundanliegen des Ausschusses deklariert.538 Einer gesetzlichen Regelung über die Dokumentation der Hauptverhandlung entsprechen Regelungen über den Umfang des Akteneinsichtsrechts sowie die Vervielfältigung und Überlassung der audiovisuellen Aufzeichnungen. Insoweit bietet sich die Einführung einer dem § 58a Abs. 3 StPO entsprechenden Regelung an. Widerspricht der Zeuge der Überlassung einer Kopie der Aufzeichnung seiner Vernehmung, so tritt an deren Stelle die Überlassung einer Übertragung der Aufzeichnung in ein schriftliches Protokoll an die zur Akteneinsicht Berechtigten nach Maßgabe der §§ 147, 406e StPO. Schließlich diskutiert man auf Unionsebene bereits über EU-Richtlinien zur Frage videodokumentierter Vernehmungen.539 Zwar wurde das Zusatzprotokoll zur EMRK mit der Verpflichtung einer effektiven und vollständigen Überprüfung aller erstinstanzlichen Strafurteile von Deutschland nicht unterzeichnet, doch darf dann nicht übersehen werden, dass das deutsche Revi­

537  Bericht der Expertenkommission 2015, S. 131, https: /  / www.bmjv.de / Shared Docs / Downloads / DE / PDF / Abschlussbericht_Reform_StPO_Kommission.pdf?__ blob=publicationFile&v=2 (zuletzt aufgerufen am 04.04.2016). 538  Hanack / Gerlach / Wahle, Denkschrift zur Reform des Rechtsmittelrechts und der Wiederaufnahme, S. 8. 539  Protokolle der Expertenkommission, Anlagenband II, S.  182, http: /  / www. bmjv.de / SharedDocs / Downloads / DE / PDF / Anlage_2_StPO_Kommission.pdf?__ blob=publicationFile&v=2 (zuletzt aufgerufen am 26.08.2016).

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Teil 3: Betrachtung des Anwendungsdefizits des § 359 Nr. 5 StPO

sionsrecht erstinstanzliche Landgerichtsurteile gerade keiner vollständigen Überprüfung zuführt.540

III. Dokumentation einer amtsgerichtlichen Hauptverhandlung Die Expertenkommission empfahl 2015 ferner, für amtsgerichtliche Verfahren im Einzelfall die fakultative audiovisuelle Protokollierung zuzulassen.541 In der Hauptverhandlung vor dem Strafrichter und dem Schöffengericht sind die wesentlichen Ergebnisse einer Vernehmung in das Protokoll aufzunehmen, § 273 Abs. 2 StPO. Mit § 273 Abs. 2 S. 2 StPO ist derzeit nur diejenige Aufzeichnung auf Tonträger gestattet, die insoweit das Protokoll ersetzt. Zwar sind § 58a Abs. 1 S. 1 und 3–6 StPO entsprechend anwendbar, doch ist die audiovisuelle Aufzeichnung bislang nicht vorgesehen. So dringend eine audiovisuelle Dokumentation von Aussageinhalten in land- und oberlandesgerichtlichen Verfahren einzuführen wäre, erscheint sie in erstinstanzlich vor einem Amtsgericht verhandelten Verfahren nicht zwingend: die Ergebnisse der Beweisaufnahme werden mit § 273 Abs. 2 S. 2 StPO protokolliert, die Urteilsgrundlagen können im Berufungsverfahren korrigiert werden. Unstimmigkeiten über den Inhalt einer Aussage werden damit in der Berufung berichtigt. Da jedoch die Vorteile einer audiovisuellen Dokumentation überwiegen und sie gegenüber dem Protokoll gem. § 273 Abs. 2 S. 2 StPO wesentlich zuverlässiger und detaillierter Vernehmungsinhalte beschreibt, sollte die umfassende Dokumentation einer Hauptverhandlung auch für amtsgerichtliche Verfahren eingeführt werden.

IV. Auswirkungen einer umfassenden Dokumentationspflicht auf Rechtsmittelverfahren Die umfassende Dokumentation von Aussageinhalten und der gesamten Hauptverhandlung würde das Rechtsmittelgericht in die Lage versetzen, den Inhalt des erstinstanzlichen Verfahrens vollständig zu reproduzieren. Im geltenden Recht wäre diese Reproduktion im Berufungsverfahren nicht notwen540  Protokolle der Expertenkommission, Anlagenband II, S.  185, http: /  / www. bmjv.de / SharedDocs / Downloads / DE / PDF / Anlage_2_StPO_Kommission.pdf?__ blob=publicationFile&v=2 (zuletzt aufgerufen am 26.08.2016). 541  Bericht der Expertenkommission 2015, S. 134, https: /  / www.bmjv.de / Shared Docs / Downloads / DE / PDF / Abschlussbericht_Reform_StPO_Kommission.pdf?__ blob=publicationFile&v=2 (zuletzt aufgerufen am 04.04.2016).



D. Dokumentationspflicht461

dig, da hier ohnehin das gesamte Verfahren in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht neu gewürdigt wird. Im Revisionsrecht, das sich auf die Prüfung einer Entscheidung auf Rechtsfehler beschränkt, wird die Rekonstruktion der Hauptverhandlung bis auf wenige Sonderkonstellationen von der Rspr. abgelehnt, s. II. Abgesehen davon, dass die umfassende Dokumentation der Hauptverhandlung zugleich als Beweismittel etwaiger Verfahrensfehler zur Verfügung stünde, wäre das Revisionsgericht imstande, die vom Tatgericht vorgenommene Beweiswürdigung umfassend zu überprüfen, und mit ihr eine wesentliche Quelle für Fehlurteile zu beseitigen.542 Würde dem Revisionsgericht diese Kompetenz zugestanden – wofür neben der fehlenden zweiten Tatsacheninstanz in land- und oberlandesgerichtlichen Verfahren insbesondere spricht, dass auch das Revisionsgericht als Kontrollinstanz das Erwachsen eines fehlerhaften Urteils in Rechtskraft verhindern soll – würde die Revision zu einer zweiten Tatsacheninstanz umstrukturiert. Dazu sind die Revisionsgerichte derzeit kapazitiv rein tatsächlich nicht in der Lage. Konsequenterweise wäre eine umfassende Reform des Revisionsrechts zu erwägen. Dass der Revisionsrichter indessen auch durch die umfassende Dokumentation der Hauptverhandlung nicht zum Richter hinter dem Richter würde, hat bereits die höchstrichterliche Rechtsprechung in BGHSt 21, 149, 151 und BGHSt 22, 26, 28 entschieden: „Das Ergebnis der Aussage eines Zeugen, wie überhaupt das Ergebnis der Hauptverhandlung, festzustellen und zu würdigen, ist allein Sache des Tatrichters; der dafür bestimmte Ort ist das Urteil. Darüber ist kein Gegenbeweis zulässig (…).“543

Dem Revisionsgericht ist es möglich, ohne eigene Würdigung der Vernehmungsinhalte den Beweiswert des Inhalts der Hauptverhandlung hinsichtlich der Schuld- und Rechtsfolgenseite zu prüfen, insbesondere ob Vorgänge überhaupt Gegenstand der Hauptverhandlung waren.544 Die umfassende Dokumentation einer Hauptverhandlung545 ist zweifelsohne geeignet, Verfahrensfehler zu prüfen. Zudem kann die Verletzung des § 261 StPO bei einer der Dokumentation der Hauptverhandlung entgegenstehenden Beweiswürdigung mittels einer Verfahrensrüge angegriffen werden. 542  Hanack / Gerlach / Wahle, Denkschrift zur Reform des Rechtsmittelrechts und der Wiederaufnahme, S. 40. 543  BGHSt 21, 149, 151. 544  Hamm, Zum Reformbedarf des Rechtsmittels der Revision in Strafsachen, Anlagenband I, S. 654, https: /  / www.bmjv.de / SharedDocs / Downloads / DE / PDF / An lage_1_StPO_Kommission.pdf;jsessionid=8B0449EBC61593D99E91F1C67B659 C4D.1_cid324?__blob=publicationFile&v=4 (zuletzt aufgerufen am 21.09.2016). 545  Die von der BRAK bereits 1971 gefordert wurde, vgl. Hanack / Gerlach / Wahle, Denkschrift zur Reform des Rechtsmittelrechts und der Wiederaufnahme, S. 40.

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Teil 3: Betrachtung des Anwendungsdefizits des § 359 Nr. 5 StPO

Hierfür ist vom Revisionsführer im Rahmen seiner Darlegungspflicht gem. § 344 Abs. 2 S. 2 StPO genau zu bezeichnen, an welcher Stelle der Verfahrensdokumentation das Revisionsgericht den Verfahrensfehler nachvollziehen kann.546 Dies führt im Ergebnis auch nicht dazu, dass das Revisionsgericht – etwa um zu prüfen, ob der Verfahrensfehler geheilt oder mangels Zwischenrechtsbehelf verwirkt wurde – die gesamte erstinstanzliche Verhandlung nachzuvollziehen hat. Das Antragsvorbringen zu entkräften ist zunächst Aufgabe der Staatsanwaltschaft der Tatsacheninstanz in ihrer Gegenerklärung547 gem. § 347 Abs. 1 S. 2 StPO, aber auch der Generalstaatsanwaltschaft bzw. des Generalbundesanwalts. Ohnehin ist der Revisionsführer zu vollständigem und wahrheitsgemäßem Vortrag verpflichtet.548 Zugleich kann von ihm eine Negativaussage dahingehend verlangt werden, dass sich der betreffende Vorgang im weiteren Verlauf der Hauptverhandlung nicht in anderer Weise geklärt hat. Die Funktionen des Rekonstruktionsverbots sowie der umfassenden ­ okumentation führen auch nicht etwa zu einer Vermengung von TatsachenD und Revisionsinstanz. Die Beweiswürdigung bleibt die Domäne des Tat­ richters. Diesem wird jedoch durch die umfassende Dokumentation der Beweisaufnahme eine höhere Darlegungslast abverlangt.549 Zugleich setzt die stärkere Kontrollmöglichkeit der Revisionsgerichte im Bereich der Beweiswürdigung voraus, dass das Tatgericht verpflichtet ist, die von ihm vorgenommene Beweiswürdigung in den Urteilsgründen umfassend wiederzugeben.550 Alternativ hierzu wäre zu erwägen, das Rekonstruktionsverbot in der Revision nicht anzutasten, die Revision mithin weiter als reine Rechtsfehlerkontrolle anzuerkennen, wobei die Beweiswürdigung in weiten Teilen der Überprüfung des Revisionsgerichts entzogen bliebe. Hierfür spricht zunächst, dass der Revisionsrichter mangels eigener Beweisaufnahme die Überzeugung 546  Norouzi, Vom Rekonstruktionsverbot zum Dokumentationsgebot, http: /  / www. strafverteidigertag.de / Material / Themen / StPO / Norouzi_Dokumentationsgebot.htm (zuletzt aufgerufen am 16.09.2016). 547  Norouzi, Vom Rekonstruktionsverbot zum Dokumentationsgebot, http: /  / www. strafverteidigertag.de / Material / Themen / StPO / Norouzi_Dokumentationsgebot.htm (zuletzt aufgerufen am 16.09.2016). 548  Norouzi, Vom Rekonstruktionsverbot zum Dokumentationsgebot, http: /  / www. strafverteidigertag.de / Material / Themen / StPO / Norouzi_Dokumentationsgebot.htm (zuletzt aufgerufen am 16.09.2016). 549  Norouzi, Vom Rekonstruktionsverbot zum Dokumentationsgebot, http: /  / www. strafverteidigertag.de / Material / Themen / StPO / Norouzi_Dokumentationsgebot.htm (zuletzt aufgerufen am 16.09.2016). 550  Hanack / Gerlach / Wahle, Denkschrift zur Reform des Rechtsmittelrechts und der Wiederaufnahme, S. 40.



D. Dokumentationspflicht463

des Tatrichters nicht durch seine eigene ersetzen kann.551 Angriffe auf die Beweiswürdigung als tatsächliche Urteilsbasis, könnten weiterhin im Wege der Wiederaufnahme erfolgen. Dies würde jedoch bedingen, dass das Wiederaufnahmerecht insgesamt antragsfreundlicher ausgelegt, verstanden und angewandt würde. Diese Option ist deshalb abzulehnen, weil das Revisionsgericht, das seinerseits verpflichtet ist, die angegriffene Entscheidung umfassend zu prüfen und ggf. zu korrigieren, weiterhin Fehler in den tatsächlichen Urteilsgrundlagen weitestgehend unbeanstandet ließe und so eine u. U. zweifelhafte Entscheidung rechtskräftig würde. Dies wiederum entspricht nicht dem Sinn und Zweck des Revisionsrechts, so dass es bereits dem Revisionsgericht obliegt, Fehler der Beweiswürdigung mit Hilfe der Dokumentation der Hauptverhandlung zu korrigieren. Zu Recht hatte bereits der Große Senat für Strafsachen ausgeführt: „Auch die Revisionsgerichte sind der Wahrheit verpflichtet; wenn prozessual erhebliche Tatsachen aus der tatrichterlichen Hauptverhandlung der Klärung bedürfen, muss grundsätzlich der wahre Sachverhalt, wie er sich zugetragen hat, maßgeblich sein.“552

Letztendlich drängt sich die Frage auf, ob durch die umfassende Kontrolle in der Revisionsinstanz der Rechtsbehelf der Wiederaufnahme obsolet würde. Zweifelsohne eignet sich das Revisionsverfahren vor Eintritt der Rechtskraft besser, Tatsachenfehler zu korrigieren. Auch dürfte sich für den Betroffenen bereits mit Zustellung der schriftlichen Urteilsgründe und damit in laufender Revisionsbegründungsfrist ergeben, ob Beweisergebnisse fehlerhaft oder unzureichend gewürdigt wurden. Ist dies der Fall und kann der Betroffene dies aus der Dokumentation der Hauptverhandlung belegen, liegt nahe, dass das Urteil bereits im Revisionsverfahren zu korrigieren ist. Da jedoch davon auszugehen ist, dass dem Betroffenen solche Umstände, die die Wiederaufnahme eines Verfahrens rechtfertigen, auch erst weit nach Eintritt der Rechtskraft bekannt werden können, rechtfertigt sich das Wiederaufnahmerecht sicher unabhängig von umfassenden Kompetenzen des Revisionsgerichts. ­ Hierbei würde die umfassende Dokumentation der Hauptverhandlung dem Antragsteller der Wiederaufnahme den Weg eröffnen, die Neuheit seines Vorbringens ohne Zweifel zu belegen.

551  Hanack / Gerlach / Wahle, Denkschrift zur Reform des Rechtsmittelrechts und der Wiederaufnahme, S. 40. 552  BGHSt 51, 298, 309.

464

Teil 3: Betrachtung des Anwendungsdefizits des § 359 Nr. 5 StPO

E. Novität bereits eingeführter Beweismittel im Rahmen des § 359 Nr. 5 StPO Verschweigt das Instanzgericht einzelne Umstände in den Urteilsgründen und ist das Berufungsverfahren nicht statthaft, kann der Betroffene das Wiederaufnahmeverfahren zur Wahrung seines effektiven Rechtsschutzes bemühen. Bereits dargetan wurde, dass insoweit die Revision keinen ausreichenden Rechtschutz bietet.553 Bei einer Wiederaufnahme nach § 359 Nr. 5 StPO besteht neben der Darlegung über die Geeignetheit des Vortrags ein wesentliches Problem für den Verurteilten auch darin, nachzuweisen, dass das vorgelegte Material gegenüber den Urteilsfeststellungen neu ist. Die Neuheit einer Tatsache oder eines Beweismittels muss feststehen, der Grundsatz in dubio pro reo soll nach der h. M. bezüglich dieser Zulässigkeitsvoraussetzung keine Anwendung finden.554 Dieser Nachweis ist besonders deshalb schwierig zu führen, weil das Beratungsgeheimnis der §§ 43, 45 DRiG greift, das verbirgt, was genau Inhalt der Urteilsberatung war. Demnach ist aus dem Akteninhalt, dem Hauptverhandlungsprotokoll und den Urteilsfeststellungen zu schließen, welcher Umstand neu ist.555 Wie bereits dargestellt, hängt die Novität des Antragsvorbringens einzig davon ab, ob das Ausgangsgericht das Vorbringen bereits berücksichtigt hatte. Umstände, die nicht bekannt oder aktenkundig waren, sind damit indiziell als nova zu betrachten. Umgekehrt stellt sich die Frage, ob aktenkundige Umstände, die womöglich auch im Rahmen der Hauptverhandlung erörtert wurden, neu sein können. Dies soll im Folgenden eingehend erörtert werden. Dabei soll insbesondere untersucht werden, ob bereits durch eine mögliche Auslegung des Novitätsbegriffs eine praxistaugliche Handhabung i. S. d. § 359 Nr. 5 StPO möglich ist, oder ob der Gesetzgeber berufen wäre, einzuschreiten. Wie auch die übrigen Wiederaufnahmevorschriften ist der Begriff der Neuheit anhand des gesetzgeberischen Willens auszulegen. Beim Neuheitsbegriff sind neben den gesetzlichen Einschränkungen der Wiederaufnahmekonstellationen, mit denen der Gesetzgeber das Verhältnis zwischen Rechtssicherheit und materieller Rechtskraft konkretisiert hat, objektive Zwecke zu berücksichtigen.556 553  Vgl.

hierzu S. 131 ff. Jena, Beschluss vom 02.04.2013, Az. 1 Ws 391 / 12, in: BeckRS 2013, 14412; Theobald, Barrieren im strafrechtlichen Wiederaufnahmeverfahren, S. 28 m. w. N. 555  KMR-Eschelbach, § 359 / 160. 556  Funcke, Die Korrektur des Strafausspruches zugunsten des Verurteilte im Wege der Wiederaufnahme des Strafverfahrens, S. 9. 554  OLG



E. Novität bereits eingeführter Beweismittel i. R. d. § 359 Nr. 5 StPO465

Voraussetzung für die Zulässigkeit einer Wiederaufnahme nach § 359 Nr. 5 StPO ist der Vortrag neuer Tatsachen oder Beweismittel. Zum Begriff der Neuheit kann zunächst auf die Ausführungen unter III. Bezug genommen werden.

I. Abstrakte Theorie Um die Neuheit zu beurteilen, bietet sich ein Vergleich der Verfahrensgegenstände des ursprünglichen Verfahrens mit den für das Wiederaufnahmeverfahren vorgebrachten Tatsachen und Beweismitteln an. Die Neuheit einer Tatsache bzw. eines Beweismittels kann dabei zunächst abstrakt beurteilt werden. Danach müssen dem Tatgericht solche Tatsachen bekannt gewesen sein, die sich aus den Akten ergeben. Waren sie auch dem Antragsteller bekannt, kann davon ausgegangen werden, dass er sie auch geltend gemacht hat.557 Wurde eine Tatsache bereits erörtert, wäre sie nach diesem Verständnis nicht neu.558 Ein Umstand wäre nach dieser abstrakten Sichtweise damit auch dann verbraucht, wenn das Gericht ihn entgegen § 261 StPO, den schriftlichen Entscheidungsgründen nicht zugrunde gelegt hätte, er jedoch Gegenstand der Hauptverhandlung gewesen ist.559 Weshalb das Gericht den Umstand nicht der Entscheidung zugrunde gelegt hat, wäre gleichgültig, solange nicht der Anwendungsbereich des § 359 Nr. 3 StPO eröffnet ist. Begründet wird diese Ansicht damit, dass dem Tatrichter vor dem Hintergrund des § 261 StPO ein hohes Maß an Vertrauen entgegengebracht werde, das verfassungsrechtlich mit der richterlichen Unabhängigkeit korrespondiert.560 Weiter werden systematische Gesichtspunkte zur Erklärung angeführt: so bestünde die Gefahr, dass der außerordentliche Rechtsbehelf der Wiederaufnahme in ein ordentliches Rechtsmittel umgedeutet werden würde.561 Dies würde in der Konsequenz bedeuten, dass der Richter über § 261 StPO nur gehalten wäre, solche Umstände in den schriftlichen Urteilsgründen aufzuführen, die er subjektiv nach seiner Überzeugung als entscheidungserheb557  MG 558  MG

§ 368 / 5. § 359 / 30; Schlüchter, Das Strafverfahren, Rn. 770.2; HK-Temming,

§ 359 / 18. 559  Schlüchter, Das Strafverfahren, Rn.  770.2. Demgegenüber KK-Schmidt, § 359 / 24, wonach auch solche Tatsachen, die in der Hauptverhandlung zwar erörtert wurden, aber unter Verstoß gegen § 261 StPO der Entscheidung nicht zugrunde gelegt wurden, als neu gelten. 560  Fornauf, StraFo 2013, 235, 238. 561  Fornauf, StraFo 2013, 235, 238.

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Teil 3: Betrachtung des Anwendungsdefizits des § 359 Nr. 5 StPO

lich angesehen hat.562 Dann entscheidet aber einzig auch der Tatrichter darüber, welche Tatsachen und Beweismittel im Rahmen der Beweiswürdigung als erheblich zu beurteilen sind. Dieser Argumentation ist entgegenzuhalten, dass sie letztlich zu einer vorbehaltlosen Anerkennung der subjektiven richterlichen Überzeugung und Beweiswürdigung – die kaum revisionsrechtlich überprüfbar ist – führen würde. Wäre abstrakt davon auszugehen, dass eine bekannte Tatsache im Rahmen der Urteilsfindung berücksichtigt wurde, ohne dass sich hierfür Anhaltspunkte ergeben, wären Beschuldigten in ihren Rechten aus Art. 19 Abs. 4 und 20 Abs. 3 GG verletzt, ohne sich effektiv im Wiederaufnahmeverfahren dagegen wehren zu können. Dann nämlich wäre es dem Antragsteller im Wiederaufnahmeverfahren unmöglich, nachzuweisen, dass das Tatgericht eine Tatsache bei der Urteilsfindung nicht berücksichtigt hat. Das Wiederaufnahmerecht wäre mithin ineffektiv und würde sein Ziel, materielle Gerechtigkeit herbeizuführen, verfehlen. Gegen diese abstrakte Sichtweise spricht schließlich auch die Rechtsprechung des BVerfG, dergemäß „(n)eu ist (…), was der Überzeugungsbildung des Gerichts nicht zugrunde gelegt worden ist, auch wenn es ihr hätte zugrunde gelegt werden können.“563

II. Konkrete Sichtweise Demgegenüber wird von der ganz h. M. das Vorliegen einer nova konkret beurteilt. Neu ist demnach alles, was im konkreten Fall der Überzeugungsbildung des Gerichts tatsächlich nicht zugrunde gelegt wurde. Zutreffend hatte J. Meyer bereits 1968 ausgeführt, dass für die Neuheit nicht das bloße Kennen-Müssen oder Kennen-Können ausreicht, vielmehr kommt es einzig auf die tatsächliche Kenntnisnahme des Ausgangsgerichts an.564 Entsprechend hat das Bundesverfassungsgericht bereits betont, dass auch allgemein- oder gerichtskundige Tatsachen nur dann nicht neu i. S. d. § 359 Nr. 5 StPO sind, wenn sie erkennbar in das Verfahren einbezogen wurden.565 Neu in diesem Sinne sind – wie gesehen – in erster Linie solche Tat­ sachen, die bei der Überzeugungsbildung des Ausgangsgerichts gem. § 261 StPO nicht berücksichtigt wurden, auch wenn dies möglich gewesen wäre.566 562  Fornauf,

StraFo 2013, 235, 238. Beschluss vom 19.07.2002, Az. 2 BvR 18 / 02, in: BeckRS 2002, 30273719; BVerfG NZV 2016, 45, 47. Ebenso BVerfG NJW 2007, 207, 208 und BVerfG SVR 2015, 36, 37. 564  J. Meyer, JZ 1968, 7. 565  BVerfG NJW 2007, 207, 208. 563  BVerfG,



E. Novität bereits eingeführter Beweismittel i. R. d. § 359 Nr. 5 StPO467

III. Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts Die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts567 entspricht im Wesentlichen der konkreten Sichtweise, die auf objektiv nachvollziehbare und überprüfbare Umstände abstellt und nicht auf die subjektive Kenntnis des Tatrichters. Nach dieser Rechtsprechung ist wie dargestellt nicht lediglich die Kenntnis einer Tatsache ausreichend, abgestellt wird vielmehr auf das Ob deren Verwertung. Für den Antragsteller im Wiederaufnahmeverfahren bedeutet dies, dass er nicht die tatrichterliche subjektive Kenntnis bzw. Unkenntnis einer Tatsache nachweisen muss, sondern, dass diese nicht verwertet wurde.

IV. Feststellung der Neuheit Beurteilt sich die Frage der Neuheit danach, ob der für die Wiederaufnahme relevante Umstand bereits im Ausgangsverfahren berücksichtigt568 worden war, bleibt fraglich, wie dies nachzuweisen bzw. nachzuvollziehen ist. Da bloße Zweifel über die Novität nicht ausreichen sollen, muss nach diesem Verständnis über die Neuheit eines Umstands ggf. eine Beweisaufnahme stattfinden.569 Dabei soll im Rahmen des Aditionsverfahrens das Freibeweisverfahren möglich sein.570 Zunächst wäre also durch das Protokoll571 oder dienstliche Erklärungen die Neuheit des Umstands zu eruieren,

566  BVerfG NJW 2007, 207, 208; BVerfG StV 2003, 225; OLG Düsseldorf NJW 1987, 2030; OLG Frankfurt NJW 1978, 841; MG § 359 / 30; Theobald, Barrieren im strafrechtlichen Wiederaufnahmeverfahren, S. 28. A. A. OLG Stuttgart StraFo 2012, 322. 567  s. hierzu bereits oben S. 158. 568  Nicht berücksichtigt wird eine Tatsache auch dann, wenn ihre Entscheidungserheblichkeit verkannt wird, nicht zur Kenntnis genommen wird, oder falsch verstanden wird, vgl. Theobald, Barrieren im strafrechtlichen Wiederaufnahmeverfahren, S. 29. 569  BVerfG NZV 2016, 45, 47; OLG Frankfurt NJW 1978, 841; MG § 368 / 5; MAH Strafverteidigung-Strate, § 27 / 82. 570  OLG Hamm GA 1957, 90; KK-Schmidt, § 359 / 24; LR-Gössel, § 368 / 17; Wasserburg, Die Wiederaufnahme des Strafverfahrens, S. 320. Problematisch erscheint die Erholung dienstlicher Stellungnahmen der Tatrichter vor dem Hintergrund des § 23 Abs. 2 StPO, vgl. Günther, MDR 1974, 93, 95. Nur subsidiär soll auf den Akteninhalt zurückgegriffen werden können. Lässt sich auch dann die Neuheit nicht mit Gewissheit annehmen, sollen die Urteilsgründe Indizwirkung entfalten, so Wasserburg, Die Wiederaufnahme des Strafverfahrens, S. 320. 571  MAH Strafverteidigung-Strate, § 27 / 79. Ablehnend HK-Temming, § 359 / 18, jedenfalls für vom Gericht als nicht erheblich erachtete Tatsachen.

468

Teil 3: Betrachtung des Anwendungsdefizits des § 359 Nr. 5 StPO

subsidiär der Akteninhalt heranzuziehen. Ist auch dann die Neuheit nicht verlässlich festzustellen, sollen die Urteilsgründe Indizwirkung entfalten.572 In der obergerichtlichen Rechtsprechung wurde mehrfach betont, dass bereits im Ausgangsverfahren relevantes Vorbringen für die Wiederaufnahme nur dann neu i. S. d. § 359 Nr. 5 StPO ist, wenn die bereits in die Hauptverhandlung eingeführte Tatsache mit Sicherheit nicht zur Kenntnis genommen worden war. Tatsachen seien hingegen nicht bereits deshalb neu, weil sie im schriftlichen Urteil keine Erwähnung finden.573 Auch die obergerichtliche Rechtsprechung verkennt dabei nicht, dass der Beweis, ob ein Gericht Vorgänge in der Hauptverhandlung wahrgenommen hat, für den Antragsteller nur schwer zu führen sein wird. Dennoch beharrt man auf dem Standpunkt, dass alleine das Fehlen der vom Wiederaufnahmeführer erneut vorgebrachten Tatsachen in den schriftlichen Urteilsgründen nicht geeignet sei, zu indizieren, das Ausgangsgericht habe die Beweiserhebung bei der Urteilsberatung und der Beweiswürdigung nicht mehr bedacht bzw. nicht verwertet.574 So führte in jüngerer Zeit etwa das Thüringer Oberlandesgericht in einem Beschluss vom 02.04.2013 aus: „Um ein im Wiederaufnahmeverfahren unzulässiges erneutes Vorbringen von Tatsachen zu verhindern, (…) ist (…) sorgfältig zu prüfen, ob das Gericht die betreffende in der Hauptverhandlung eingeführte Tatsache mit Sicherheit nicht zur Kenntnis genommen hat. Von einer mangelnden Kenntnisnahme kann nicht schon dann die Rede sein, wenn das Gericht die Tatsache nur seinen Feststellungen in den Urteilsgründen nicht zugrunde gelegt hat, nicht die vom Angeklagten gewünschten entlastenden Folgerungen aus ihr gezogen oder sie sonst anders gewürdigt hat als der Verurteilte es möchte. Der Beweis dafür, dass das Gericht Vorgänge in der Hauptverhandlung nicht wahrgenommen hat, ist dabei schwer zu führen. (…) Vielmehr spricht bei lebensnaher Betrachtung des Verfahrensablaufes deutlich mehr dafür, dass die bereits in der Hauptverhandlung intensiv thematisierten Widersprüche bzw. die hierzu erzielten Beweisergebnisse von der Schwurgerichtskammer durchaus nicht übersehen oder gar übergangen, sondern lediglich anders gewürdigt wurden. Bei der gegebenen Sachlage ist alleine das Fehlen der von dem Antragsteller mit dem Wiederaufnahmeantrag erneut unter Beweis gestellten Tatsachenbehauptungen in den schriftlichen Urteilsgründen nicht geeignet, die Annahme 572  J. Meyer, JZ 1968, 7, Fn. 12; Theobald, Barrieren im strafrechtlichen Wiederaufnahmeverfahren, S. 29 f.; Wasserburg, Die Wiederaufnahme des Strafverfahrens, S. 320. Beizupflichten ist Günther, MDR 1974, 93, 94, dass die Nichterwähnung in den Urteilsgründen kein Beweis der Neuheit ist. Für eine Indizwirkung aber auch KMR-Eschelbach, § 368 / 24. 573  OLG Jena, Beschluss vom 02.04.2013, 1 Ws 391 / 12, in: BeckRS 2013, 14412; SK-Frister, § 359 / 47. 574  OLG Jena, Beschluss vom 02.04.2013, 1 Ws 391 / 12, in: BeckRS 2013, 14412; OLG Frankfurt NJW 1978, 84.



E. Novität bereits eingeführter Beweismittel i. R. d. § 359 Nr. 5 StPO469 zu rechtfertigen, das Tatgericht habe diese Beweisergebnisse bei der Urteilsberatung und der Gesamtbewertung (…) nicht mehr bedacht bzw. nicht verwertet. Tatsachen sind nicht deshalb neu, weil sie in dem schriftlichen Urteil nicht erwähnt sind (…).“575

In der Literatur wird demgegenüber angenommen, dass auch solche Tatsachen und Beweismittel nova im Sinne des § 359 Nr. 5 StPO sein können, die Gegenstand der ersten Hauptverhandlung waren, jedoch nicht Bestandteil der schriftlichen Urteilsgründe wurden.576 Findet sich ein Umstand in den schriftlichen Urteilsgründen nicht, liegt nahe, dass er nicht gewürdigt wurde. Die schriftlichen Urteilsgründe entfalten indizielle Wirkung, inwieweit eine Beweiswürdigung tatsächlich stattgefunden hat.577 Schweigen die Urteilsgründe zu den vom Antragsteller vorgebrachten nova, darf also davon ausgegangen werden, dass sie der Entscheidungsfindung nicht zugrunde gelegt wurden. Ob Entscheidungserhebliches verwertet wurde, kann sich richtigerweise nur aus den schriftlichen Urteilsgründen ergeben. Denn die Feststellung, ob eine Tatsache bzw. ein Beweismittel im Rahmen der konkreten Urteilsberatung Berücksichtigung fand, ist durch dienstliche Erklärungen nicht möglich. Abgesehen davon, dass einem derartigen Vorgehen das Beratungsgeheimnis des § 43 DRiG entgegensteht, würde die Mitwirkung des ehemaligen Richters § 23 Abs. 2 StPO zuwiderlaufen, demgemäß er von Gesetzes wegen von jeglicher Mitwirkung auszuschließen ist. Hinzu kommt, dass auch richterliche Aufzeichnungen aus der Hauptverhandlung dem Schutz des Beratungsgeheimnisses unterfallen. Folglich kann nur davon ausgegangen werden, dass in den Urteilsgründen nicht gewürdigte Umstände auch nicht verwertet wurden und daher als neu im Sinne des § 359 Nr. 5 StPO zu beurteilen sind.578 Das Bundesverfassungsgericht möchte die Frage der Neuheit von Tatsachen im Strafbefehlsverfahren anhand der Aktenlage beantwortet wissen, da es sich hierbei um ein summarisches Verfahren handele, bei dem die den Schuldvorwurf begründenden Tatsachen nicht so sorgfältig wie im Rahmen einer Hauptverhandlung geprüft würden.579 Im Umkehrschluss darf man 575  OLG Jena, Beschluss vom 02.04.2013, 1 Ws 391 / 12, in: BeckRS 2013, 14412. 576  Marxen / Tiemann Rn. 183 ff.; Stern, NStZ 1993, 409, 412; Wasserburg / Eschelbach, GA 2003, 335, 350 f.; Eisenberg, JR 2007, 360, 363. So wohl auch Peters, Strafprozeß, S. 450, der ausführt, dass das Vorliegen des Wiederaufnahmegrunds des § 359 Nr. 5 StPO sich nur durch die Urteilsgründe ermitteln lässt. 577  Fornauf, StraFo 2013, 235, 238. A.  A. Thüringer OLG, Beschluss vom 02.04.2013, Az. 1 Ws 391 / 12, in: BeckRS 2013, 14412. MG § 368 / 5 f. 578  BGH NJW 2009, 2836, 2837. 579  BVerfG NJW 2007, 207, 208.

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Teil 3: Betrachtung des Anwendungsdefizits des § 359 Nr. 5 StPO

vermuten, dass im normalen Strafverfahren für die Beurteilung der Neuheit nicht auf die Aktenlage abzustellen ist, da die den Schuldvorwurf begründenden Tatsachen umfassend und sorgfältig in der Hauptverhandlung zu prüfen sind.580 Hinzu kommt, dass die Aktenlage keinerlei Rückschluss darauf zulässt, ob die am Verfahren mitwirkenden Laienrichter Kenntnis eines Umstands hatten oder nicht. Ist jedoch ausreichend, dass bereits ein Richter eines Spruchkörpers den Umstand nicht oder nicht mehr gekannt hat, kann der Aktenlage insoweit keine Bedeutung zukommen. Auch vor dem Hintergrund des Rechtsstaatsprinzips wäre es konsequent, solche Tatsachen als neu zu behandeln, die bei unterstellter Richtigkeit ein derartiges Gewicht haben, dass mit ihrer Erwähnung im Rahmen der richterlichen Beweiswürdigung zu rechnen gewesen wäre.581 Dann erscheint es auch folgerichtig, die Würdigung einer Tatsache als neu nicht von der Einschätzung des Tatrichters abhängig zu machen, sondern auf die objektivierbaren, nachvollziehbaren und überprüfbaren Ausführungen in den schriftlichen Urteilsgründen abzustellen.582 Insbesondere aber die verfassungsrechtlich garantierten Rechte des Beschuldigten gebieten es, von der Neuheit einer entscheidungserheblichen Tatsache auszugehen, die sich nicht in den Urteilsgründen findet. So gewähren Art. 2 Abs. 1 i. V. m. Art. 20 Abs. 3 GG und Art. 19 Abs. 4 GG dem Verurteilten ein Recht auf effektiven Rechtsschutz. Eine effektive Rechtsschutzmöglichkeit muss dem Verurteilten auch gegen solches richterliches Fehlverhalten gewährt werden, das noch nicht den Tatbestand des § 339 StGB erfüllt (und demnach die Wiederaufnahme nach § 359 Nr. 3 StPO begründet). Dies gilt etwa für das unbewusste Verschweigen einzelner entlastender Gesichtspunkte. Könnte sich das Tatgericht nämlich in dieser Konstellation entlasten, indem es etwa erklärte, dass es einen Umstand zwar wahrgenommen, ihn jedoch als nicht entscheidungs­ erheblich angenommen und daher nicht in das Urteil aufgenommen hat583, würde dem Antragsteller das auch im Wiederaufnahmegrund des § 359 Nr. 5 StPO zum Ausdruck kommende Gebot effektiven Rechtsschutzes versagt werden. Dieser Argumentation wird entgegnet, dass die so verstandene Wiederaufnahme einem ordentlichen Rechtsmittel zu nahe käme. Vor dem Hintergrund eines rechtsstaatlichen Strafverfahrens ist diese Nähe jedoch hinzunehmen, möchte man dem Verurteilten nicht effektive Rechtsschutzmöglichkeiten 580  A. A. MG § 368 / 5 und KMR-Eschelbach, § 359 / 157, nach denen die Aktenkundigkeit einer Tatsache indiziell für die fehlende Neuheit der Tatsache oder des Beweismittels sei. 581  Fornauf, StraFo 2013, 235, 238. 582  Fornauf, StraFo 2013, 235, 239. 583  Fornauf, StraFo 2013, 235, 238.



E. Novität bereits eingeführter Beweismittel i. R. d. § 359 Nr. 5 StPO471

versagen.584 Insbesondere im zweigliedrigen Instanzenzug ist den beiden verfassungsrechtlich verankerten Grundsätzen des effektiven Rechtsschutzes und des rechtsstaatlichen Verfahrensablaufs besonderes Gewicht beizumessen. Schließlich darf nicht verkannt werden, dass allein die Beurteilung einer Tatsache als neu kein erfolgreiches Wiederaufnahmeverfahren bedeutet. Das Wiederaufnahmegericht hat in einem nächsten Schritt die Geeignetheit des Vorbringens zu würdigen.

V. Eigene Beurteilung Dem deutschen Strafprozess wohnt das Prinzip der Mündlichkeit inne. Dieses zwingt in umfangreichen Verfahren zu einer Konzentration auf die für eine Entscheidung wesentlichen Punkte, die den Inbegriff der Hauptverhandlung ausmachen und der Urteilsfindung zugrunde gelegt werden. Problematisch erscheint das Mündlichkeitsprinzip in solchen Verfahren, in denen eine Aneinanderreihung der möglichen Beweismittel nicht zeitnah möglich ist, sich die Beweisaufnahme also über einen längeren Zeitraum erstreckt.585 In Umfangsverfahren mit lang andauernder Beweisaufnahme ist das Gericht in der Regel angesichts §§ 226, 228, 229 StPO bemüht, die Beweisaufnahme zügig und kompakt durchzuführen, was neben dem Beschleunigungsgrundsatz in Haftsachen auch daran liegen mag, dass es sich einen Gesamteindruck verschaffen möchte, ohne bislang gewonnene Erkenntnisse aus dem Gedächtnis zu verlieren. Entsprechend wird der Verfahrensstoff möglichst kompakt in die Hauptverhandlung eingeführt.586 Zugleich ist das erkennende Gericht gem. § 261 StPO verpflichtet, alle in der Hauptverhandlung erhobenen Beweise zu berücksichtigen und erschöpfend im Rahmen einer Gesamtschau zu würdigen.587 Die gesetzliche Vorstellung, dass die in der Hauptverhandlung erörterten Tatsachen und Beweismittel während der Urteilsberatung bewusst waren, mutiert in Großverfahren demnach zur Fiktion und schließt nicht aus, dass einzelne Umstände bei der Urteilsfindung keine Berücksichtigung fanden.588 Dass ein Beweismittel nicht ausreichend gewürdigt bzw. ausgeschöpft wurde, kann – insbesondere aufgrund des Rekonstruktionsverbots – nicht im Revisionsverfahren gerügt und angegriffen werden. Längst bekannte, jedoch 584  Fornauf,

StraFo 2013, 235, 238. Justizirrtum und Wiederaufnahme, S. 4. 586  Alsberg, Justizirrtum und Wiederaufnahme, S. 4. 587  Eisenberg, Beweisrecht der StPO, Rn. 98, 100. 588  KMR-Eschelbach, § 359 / 159. 585  Alsberg,

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Teil 3: Betrachtung des Anwendungsdefizits des § 359 Nr. 5 StPO

in den Urteilsgründen nicht wiedergegebene Angaben eines Zeugen müssen aber moniert werden können. Diese Lücke zu schließen, was die Revision nicht leisten kann oder mag, ist Aufgabe des Wiederaufnahmerechts. Mit dem Verständnis der wohl h. M. ist „neu“ i. S. d. § 359 Nr. 5 StPO, was der Überzeugungsbildung des erkennenden Gerichts – aus welchem Grund auch immer – nicht zugrunde gelegt worden ist, obwohl es ihr zugrunde gelegt hätte werden können.589 Tatsächlich kann es für die Frage der Novität nicht nur darauf ankommen, ob dem Gericht die Tatsachen bereits bekannt waren. Entscheidend bleibt, dass der aus § 244 Abs. 2 StPO folgenden Verpflichtung des Tatgerichts, alle zum Gegenstand der mündlichen Hauptverhandlung gemachten Tatsachen bei der Entscheidungsfindung zu berücksichtigen, die Pflicht aus § 261 StPO korrespondiert, auch alle in der Hauptverhandlung erhobenen Beweise erschöpfend zu würdigen, damit einhergehend wiederum die Verpflichtung gem. § 267 StPO, die erschöpfende Beweiswürdigung in den Urteilsgründen darzulegen.590 Die in der Hauptverhandlung behandelten Tatsachen, soweit sie für die Entscheidung unter be- wie auch entlastenden Gesichtspunkten Bedeutung haben, finden ihre endgültige Umschreibung ausschließlich in den schriftlichen Urteilsgründen. Nur das, was für die Entscheidung bedeutsam und in den schriftlichen Urteilsgründen erwähnt ist, hat das erkennende Gericht auch in der gebotenen Weise zur Kenntnis genommen und zum Gegenstand seiner Beweiswürdigung gemacht. Entsprechend haben die schriftlichen Urteilsgründe indizielle Bedeutung für die Frage, inwieweit eine Beweiswürdigung durch das Tatgericht stattgefunden hat.591 Das Urteil bekundet das Beratungsergebnis.592 Die Annahme, dass aufgrund der subjektiven richterlichen Überzeugung nicht alle Umstände, die der Richter subjektiv für wesentlich erachtete, aufzuführen sind, ist überholt. Es wäre auch nicht nachvollziehbar, warum das Gericht nach Würdigung einer Tatsache das Ergebnis dieser Beweiswürdigung nicht niederschreiben sollte. Entsprechend hat sich auch die Revisionsrechtsprechung in den letzten Jahrzehnten dahingehend entwickelt, dass die 589  LR-Gössel,

§ 359 / 93. § 261 / 6; Eisenberg, Beweisrecht der StPO, Rn. 98, 100; MG § 267 / 12. Von Hentig spricht sich bereits 1930 dafür aus, dass sämtliche Beweistatsachen im Urteil dargestellt werden, vgl. von Hentig, Die Wiederaufnahme des Strafverfahrens dogmatisch und rechtsvergleichend dargestellt, S. 101 f. Gleichwohl solle sich auch aus dem Gesamtzusammenhang der Urteilsgründe ergeben können, ob eine Tatsache berücksichtigt wurde (vgl. Marxen / Tiemann, Die Wiederaufnahme in Strafsachen, Rn. 185). Die Wiederaufnahmemöglichkeit wird demnach in Absprachekonstellationen aufgrund des § 267 Abs. 5 S. 2 StPO virulent. 591  KMR-Eschelbach, Vor § 359 / 38; Fornauf, StraFo 2013, 235, 238. 592  Schäfer, StV 1995, 147, 154; KMR-Eschelbach, Vor § 359 / 38 und § 359 / 161; MAH Strafverteidigung-Strate, § 27 / 78. 590  MG



E. Novität bereits eingeführter Beweismittel i. R. d. § 359 Nr. 5 StPO473

subjektive Überzeugung des Tatrichters nur dann rechtsfehlerfreie Grundlage für eine Verurteilung bildet, wenn er sich mit allen wesentlichen für und gegen den Angeklagten sprechenden Umständen auseinandergesetzt hat.593 Neben der subjektiven richterlichen Überzeugung muss das Urteil auch die Beweise dokumentieren, aus denen sich die objektiv hohe Wahrscheinlichkeit der Schuld ergibt.594 Nach der revisionsgerichtlichen Rechtsprechung sind nunmehr alle objektiv gewichtigen Argumente, Für und Wider, im Urteil darzustellen und zu erörtern.595 Die schriftlichen Urteilsgründe dokumentieren das Ergebnis der Urteilsberatung und begründen eine Vermutung der Vollständigkeit.596 Letztlich ist davon auszugehen, dass – in Umkehrung dieser Vermutung597 – auch solche Tatsachen neu i. S. d. § 359 Nr. 5 StPO sind, die zwar in der Hauptverhandlung erörtert, aber bei der Entscheidungsfindung trotz ihrer objektiven Entscheidungserheblichkeit nicht, unvollständig oder unrichtig berücksichtigt worden sind.598 Denn Kenntnis setzt Wahrnehmung voraus, die durch Überlesen, Überhören, ein Missverständnis oder schlichtes Vergessen ebenso wie Verkennung der Entscheidungserheblichkeit beeinträchtigt gewesen sein kann.599 Entsprechend sind auch die Tatsachen neu, die eine Beweisperson in der Hauptverhandlung zwar bekundet hat, die jedoch vom Gericht überhört, sonst nicht zur Kenntnis genommen, oder missverstanden worden sind600 oder die das Gericht infolge eines Erinnerungsfehlers wieder aus dem Gedächtnis verloren hat.601 Gerade bei umfangreichen Beweisauf593  BGH

NStZ 1988, 236, 237. NJW 1999, 1562, 1564. 595  KMR-Eschelbach, § 359 / 161. 596  KMR-Eschelbach, Vor § 359 / 38 und § 359 / 161; AnwK-Rotsch, § 359 / 28. 597  So auch BeckOK-Eschelbach, § 261 / 71. 598  In diesem Sinne Eschelbach / Geipel / Hettinger / Meller / Wille, GA 2018, 238, 247; LG Kiel StV 2003, 235, 236. Alsberg, Justizirrtum und Wiederaufnahme, S. 106; so i. E. auch Eisenberg, JR 2007, 360, 363 und SK-Frister, § 359 / 46; Brinkmann, Zum Anwendungsbereich der §§ 359 ff. StPO, S. 79. Offen gelassen: v. Stackelberg, in: Festgabe Peters, S. 455. 599  Marxen / Tiemann, Die Wiederaufnahme in Strafsachen, Rn. 183 f. 600  OLG Frankfurt NJW 1978, 841 f.; OLG Düsseldorf NJW 1987, 2030; LG Kiel StV 2003, 235, 236. LR-Gössel, § 359 / 97; SK-Frister, § 359 / 46 f.; AK-Loos, § 359 / 49; Peters, Fehlerquellen im Strafprozeß III, S. 79. A. A. OLG München, unveröffentlichter Beschluss vom 14.07.2009, Az. 3 Ws 375 / 09, in dem auf S. 4 unter Bezugnahme auf die Kommentierung von MG ausgeführt wird: „Die in der Hauptverhandlung erörterten Tatsachen sind aber niemals neu, selbst wenn sie bei der Entscheidung deshalb nicht berücksichtigt worden sind, weil eine Aussage oder ein Gutachten übersehen oder missverstanden worden ist.“ Ablehnend auch HK-Temming, § 359 / 18. 601  OLG Düsseldorf NJW 1987, 2030; OLG Frankfurt NJW 1978, 841 f. 594  BGH

474

Teil 3: Betrachtung des Anwendungsdefizits des § 359 Nr. 5 StPO

nahmen kann es zu Irrtümern, Erinnerungsfehlern, Missverständnissen und Verwechslungen kommen. Für das Gericht wird es mit zunehmender Verfahrensdauer schwieriger, den Überblick über den Inbegriff der Hauptverhandlung zu bewahren und das Urteil aus ihm zu schöpfen.602 Damit sind alle dem erkennenden Gericht unbekannt gebliebenen Umstände neue Tatsachen, ohne dass es auf die Ursache der Unkenntnis ankommt.603 Hinzu kommt, dass der Angeklagte für den Gang der Hauptverhandlung nicht verantwortlich ist.604 Auch die unzulängliche Urteilsbegründung ist von ihm nicht zu verantworten, so dass dies auch nicht zu seinem Nachteil werden darf.605 Das Gericht ist gehalten, das Verteidigungsvorbringen zur Kenntnis zu nehmen, bei der Entscheidung in Erwägung zu ziehen606 und wesentliches Vorbringen in den schriftlichen Entscheidungsgründen zu erörtern. Dies stellt einen Teil der Wahrung rechtlichen Gehörs dar.607 Entscheidungserhebliche Tatsachen, die zum Gegenstand der Hauptverhandlung gemacht wurden, die aber in den Urteilsgründen keine Erwähnung finden, sind damit als neu im Sinne der Wiederaufnahmevorschriften zu verstehen.608 Wird nämlich aus den schriftlichen Urteilsgründen nicht erkennbar, dass solche Tatsachen bei der Entscheidungsfindung berücksichtigt wurden, muss davon auszugehen sein, dass die Tatsache nicht wahrgenommen, missverstanden oder vergessen wurde. Handelt es sich um eine entscheidungserhebliche Tatsache, wäre nämlich zu erwarten gewesen, dass das Tatgericht diesen Gesichtspunkt berücksichtigt und folglich auch erörtert hätte.609 Damit ist die Frage der Novität von entscheidungserheblichen Tatsachen ausschließlich anhand der schriftlichen Urteilsgründe zu prüfen610, die Auskunft auch über diejenigen in der Hauptverhandlung erörterten Umstände geben müssen, die gegen die Schlussfolgerungen des erkennenden Gerichts sprechen. Entlastende Umstände, die in einer Hauptverhandlung erörtert und von dem erkennenden Gericht zur Kenntnis genommen wurden, sind deshalb jedenfalls dann in die schriftlichen Urteilsgründe aufzunehmen, wenn durch 602  Landau,

in: FS-Hassemer, S. 1075. Düsseldorf NJW 1987, 2030; OLG Frankfurt NJW 1978, 841 f. Zusammenfassend Marxen / Tiemann, Die Wiederaufnahme in Strafsachen, Rn. 183. 604  So für den Fall der ungünstigen Wiederaufnahme Ziemba, Die Wiederaufnahme des Verfahrens zuungunsten des Freigesprochenen oder Verurteilten, S. 214. 605  Deml, Zur Reform der Wiederaufnahme des Strafverfahrens, S. 96. 606  BVerfGE 105, 279, 311. 607  Eschelbach, in: FS-Widmaier, S. 137. 608  So auch Peters, Fehlerquellen im Strafprozeß III, S. 79. A. A. Wasserburg, Die Wiederaufnahme des Strafverfahrens, S. 319. 609  OLG Düsseldorf NJW 1987, 2030. 610  Fornauf, StraFo 2013, 239. 603  OLG



E. Novität bereits eingeführter Beweismittel i. R. d. § 359 Nr. 5 StPO475

sie die vom Tatgericht gezogenen Schlussfolgerungen in Frage gestellt werden könnten. Dies ergibt sich bereits aus der rechtlichen Notwendigkeit, der Rechtsmittelinstanz eine Überprüfung der ergangenen Entscheidung im Interesse angestrebter Einzelfallgerechtigkeit zu ermöglichen. Findet sich zu solchen Umständen in den schriftlichen Urteilsgründen nichts, wirkt eine unwiderlegliche Vermutung dafür, dass diese Umstände in der Hauptverhandlung entweder nicht zur Sprache gekommen oder aber vom erkennenden Gericht überhört, missverstanden oder sonst nicht zur Kenntnis genommen worden sind. Entsprechend müssen solche Tatsachen selbst dann als neu i. S. d. § 359 Nr. 5 StPO behandelt werden, wenn sie in der Hauptverhandlung bereits erörtert wurden, aber in den schriftlichen Urteilsgründen unter Verstoß gegen § 261 StPO keine Erwähnung finden.611 Soweit das Oberlandesgericht Jena in seinem Beschluss vom 02.04.2013 ausführt, dass aus dem Nichterwähnen eines Beweismittels nicht darauf geschlossen werden könne, dass es übersehen worden sei, da die Darstellung der Beweiswürdigung nicht dazu diene, für alle Sachverhaltsfeststellungen einen Beleg zu erbringen oder mitzuteilen, welche Beweise in der Hauptverhandlung erhoben wurden, ist dem schlicht zu entgegen, dass entscheidungserhebliche Umstände stets in den Urteilsgründen abzuhandeln sind. Schweigen die Urteilsgründe, kann ihnen insoweit auch keine Bindungswirkung zukommen. Ist die Tatsache demnach entscheidungserheblich, ist davon auszugehen, dass sie im Regelfall zugleich auch geeignet i. S. d. § 359 Nr. 5 StPO ist, so dass der dann eröffnete Weg der Wiederaufnahme nur konsequent erscheint. Ansonsten wäre von einer bewussten Sachverhaltsverfälschung auszugehen, mit der sich das Tatgericht einer Rechtsbeugung gem. § 339 StGB strafbar gemacht haben würde. Eschelbach bezeichnet diese Situation als „wiederaufnahmerechtliche Alternativrüge“612. Der Verteidiger kann in dieser Situation eine im Einzelfall belegbare objektive Sachverhaltsverfälschung durch Rechtsbeugung oder durch kognitive Dissonanz613 des Urteilsverfassers, die zur Neuheit des tatsächlichen Sachverhalts i. S. d. § 359 Nr. 5 StPO führt, rügen.614 Allein auf diese Weise kann auch verfassungsrechtlichen Garantien entsprochen werden. Andernfalls wäre das Recht eines rechtskräftig Verurteilten auf effektiven Rechtsschutz aus Art. 2 Abs. 1 i. V. m. Art. 20 Abs. 3 GG und 611  KK-Schmidt,

§ 359 / 24 m. w. N. § 366 / 61. 613  Vom ersten Eindruck abweichende Erkenntnisse, die als störend empfunden werden, werden der Entscheidungsfindung nicht zugrunde gelegt, vgl. Schünemann, StV 2000, 159, 160. 614  KMR-Eschelbach, § 366 / 61. 612  KMR-Eschelbach,

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Teil 3: Betrachtung des Anwendungsdefizits des § 359 Nr. 5 StPO

Art. 19 Abs. 4 GG verletzt, soweit nur in Fällen nachweisbar vorsätzlichen Verschweigens entscheidungserheblicher Tatsachen im Sinne des § 339 StGB über § 359 Nr. 3 StPO der Weg zur Wiederaufnahme eröffnet bliebe. Die verfassungsrechtliche Rechtsweggarantie erfordert eine Rechtsschutzmöglichkeit auch dann, wenn in den von der Verteidigung angesprochenen Fällen ein vorsätzliches richterliches Fehlverhalten nicht vorliegt oder nicht nachweisbar ist. Nicht zuletzt erfordert auch das Rechtsstaatsgebot des Art. 20 Abs. 3 GG, Tatsachen als neu zu behandeln, die bei unterstellter Richtigkeit ein solches Gewicht haben, dass mit ihrer Erwähnung im Rahmen der richterlichen Beweiswürdigung zu rechnen gewesen wäre.615 In diesem Sinne ist auch die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 14.09.2006616 zu verstehen, nach der sich die Neuheit einer in der Hauptverhandlung zur Sprache gekommenen Tatsache danach beurteilt, ob das Gericht sie bereits bei der Urteilsfindung verwertet hat oder nicht. Dies allerdings lässt sich nur nach dem Inhalt der schriftlichen Urteilsgründe beurteilen. Finden dort – nach dem Inhalt der gerichtlichen Beweiswürdigung entscheidungserhebliche – Tatsachen entgegen § 267 StPO keine Erwähnung, ist deshalb regelmäßig davon auszugehen, dass das Tatgericht sie seiner Überzeugungsbildung – aus welchem Grund auch immer – nicht zugrunde gelegt hat. Solche Tatsachen sind dann als neu im Sinne des § 359 Nr. 5 StPO zu qualifizieren.617 Von der Neuheit des Wiederaufnahmevorbringens ist demnach auszugehen, wenn die Urteilsgründe dazu schweigen. Die Urteilsausführungen wirken insoweit – wie auch die im Rahmen der eigenen Untersuchung befragten Experten meinten – indiziell i. S. e. widerleglichen Vermutung und begründen eine Beweislastumkehr. Im Sinne eines „Beweises des ersten Anscheins“ ist das Vorbringen des Antragstellers mithin neu. Damit ist die Novität des Wiederaufnahmevorbringens keine positive Zulassungsvoraussetzung mehr, sondern ihr Mangel ein Versagungsgrund618, der vom Antragsgegner geltend gemacht und bewiesen werden muss. Lässt sich nicht abschließend klären, ob ein Umstand bereits im Ausgangsverfahren berücksichtigt wurde oder nicht, ist bis zur vollständigen Dokumentation des Verfahrens davon auszugehen, dass das Wiederaufnahmevorbringen im Zweifel neu ist. Denn wie oben S. 337 f. ausgeführt, ist auch im Aditionsverfahren der Zweifelsgrundsatz anwendbar.

615  Fornauf,

StraFo 2013, 238. NJW 2007, 207, 208. 617  Übereinstimmend Wasserburg / Eschelbach, GA 2003, 335, 351. 618  So auch Deml, Zur Reform der Wiederaufnahme des Strafverfahrens, S. 98. 616  BVerfG

Teil 4

Conclusio und Gesetzesvorschlag Die durchgeführte Untersuchung zur anwaltlichen Praxis hat bestätigt, dass die Korrektur von Fehlurteilen aufgrund falscher Tatsachenfeststellungen de lege lata mühsam ist. Mangels Unzulässigkeit einer Rüge der Aktenwidrigkeit in der Revision und dem Verbot der Rekonstruktion der Hauptverhandlung, bleibt die von der Revision angenommene Vermutung der Vollständigkeit der Urteilsgründe zumeist unwiderlegbar. Werden im Urteilstext entlastende Beweise verschwiegen, entsteht eine nicht hinnehmbare Rechtsschutzlücke, die einen Verstoß gegen Art. 103 Abs. 1 GG i. V. m. Art. 6 Abs. 1 EMRK und Art. 19 Abs. 4 GG i. V. m. Art. 13 EMRK begründet. Versagt aber die Kontrolle im Wege der erweiterten Revision, kann zugleich nur ein effektives Wiederaufnahmerecht Fehlentscheidungen korrigieren. Das geltende Wiederaufnahmerecht ist jedoch seinerseits widersprüchlich: So gewährt es einerseits dem zu Unrecht Verurteilten eine Korrekturmöglichkeit, zugleich errichtet es formale Hürden, die einem auf § 359 Nr. 5 StPO gestützten Begehren entgegenstehen.1 Hirschberg bezeichnet es gar als „Missgeburt der Gesetzgebung“.2 Jedenfalls ist das geltende Wiederaufnahmerecht in seiner praktischen Handhabung – wie gesehen – ineffektiv. Ihm zu Effektivität zu verhelfen wird nur gelingen, wenn die Vorschriften der günstigen Wiederaufnahme großzügig ausgelegt und das Wiederaufnahmerecht durch eine Reformierung wiederaufnahmefreundlicher gestaltet werden, um die von der gerichtlichen Praxis entwickelten überspannten Anforderungen zu revidieren. Dennoch stellt sich das Wiederaufnahmerecht de lege lata nicht als „Mißgeburt“ dar, dessen Ablösung „dringendes Gebot der Stunde“3 sei. Vielmehr ist der Gesetzgeber gehalten, den Zugang zum Probationsverfahren zu vereinfachen und dem Antragsteller mehr rechtliches Gehör zu gewähren. Soweit in der Vergangenheit – sei es bereits im Zusammenhang mit den Diskussionen zum 1. StVRG oder auch im Rahmen der Expertenkommis1  Dippel, Das geltende deutsche Wiederaufnahmerecht und seine Erneuerung, S. 89. 2  Hirschberg, Das Fehlurteil im Strafprozeß, S. 124. 3  Zitiert nach Schünemann, ZStW 84 (1972), 870.

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Teil 4: Conclusio und Gesetzesvorschlag

sion – von einer umfassenden Reform des Wiederaufnahmerechts abgesehen wurde, da die dazu notwendigen Rechtstatsachenforschungen und Sachprüfungen noch nicht erfolgt seien4, ist die Wissenschaft nunmehr gehalten, sich dem Recht der Wiederaufnahme endlich im gebotenen Umfang zu widmen. Es besteht Forschungsbedarf: Insbesondere sollten gescheiterte Wiederaufnahmeanträge ausgewertet werden, um zu untersuchen, inwieweit den Barrieren des Wiederaufnahmerechts durch Gesetzesänderungen Rechnung zu tragen ist. Hierzu haben die Landesjustizverwaltungen durch eine Modifikation der Zählkarten und Erfassungsmodalitäten die entsprechenden Grundlagen zu schaffen. Tatsächlich würde weder die großzügige Auslegung des § 359 Nr. 5 StPO noch die großzügigere gesetzliche Zulassung von Anträgen die Justiz übermäßig belasten. Die sachgerechte großzügige Auslegung des Wiederaufnahmerechts führt nicht per se zur Lahmlegung der Justiz. So sind die zahlenmäßig bekannten Wiederaufnahmegesuche, die zudem regelmäßig den unteren bis mittleren Kriminalitätsbereich betreffen, nach wie vor überschaubar und nicht in der Lage, die Justizarbeit zu behindern.5 Blickt man in die Vergangenheit, bestätigt sich diese Vermutung: in Baden, wo die Möglichkeit der Erschütterung des Grundurteils für die Zulässigkeit der Wiederaufnahme ausreichte, wurden 20 Wiederaufnahmeanträge bei 1.500 Urteilen gestellt.6 Aber selbst wenn die Abkehr von der wiederaufnahmerechtlichen Praxis zu mehr Aufwand führen würde: Beruht eine Fehlentscheidung auf Mängeln, ist die Wiederholung des Verfahrens zur Korrektur des Fehlers als rechtstaatliche Selbstverständlichkeit und im Hinblick auf die tangierten Freiheitsrechte des Bürgers unvermeidbar.7 Die Frage der Belastung der Justiz kann dann nicht ausschlaggebend sein. Abgesehen von der Frage, welche Reformvorschläge tatsächlich nützlich wären, sind Vorschläge zur Reformierung des geltenden Rechts8 – wie stets – 4  BT-Drs. 7 / 2774, S. 3; Bericht der Expertenkommission 2015, S. 170, https: /  /  www.bmjv.de / SharedDocs / Downloads / DE / PDF / Abschlussbericht_Reform_StPO_ Kommission.pdf?__blob=publicationFile&v=2 (zuletzt aufgerufen am 04.04.2016). 5  Peters, Fehlerquellen im Strafprozeß III, S. 34. 6  Schöneborn, Strafprozessuale Wiederaufnahmeproblematik, S. 81. 7  Peters, Fehlerquellen im Strafprozeß III, S. 34. 8  Im Zusammenhang mit der Reformierung des Rechts stellt sich zunächst die Frage nach der Analogiefähigkeit der wiederaufnahmerechtlichen Regelungen. Aufgrund der wiederaufnahmerechtlich gebotenen großzügigen Auslegung der Vorschriften über die Wiederaufnahme zugunsten des Verurteilten liegt eine analoge Anwendbarkeit dieser Regelungen nahe (so Greco, Strafprozesstheorie und materielle Rechtskraft, S. 863. Diese wurde auch bereits bspw. hinsichtlich der Anwendbarkeit des § 359 Nr. 5 StPO auf Konstellationen endgültiger Verfahrenseinstellung anerkannt, vgl. Peters, Fehlerquellen im Strafprozeß III, S. 44). Von einer planwidrigen Regelungslücke kann im Zusammenhang mit den Wiederaufnahmegründen nicht ausge-



Teil 4: Conclusio und Gesetzesvorschlag479

daran zu messen, ob sie sachgerecht, praktikabel, erforderlich und legislativ möglich sind.9 Auch die Reformierung des geltenden Rechts wird dem Wiederaufnahmegericht einen Beurteilungsspielraum eröffnen und aufgrund der abstrakt-generellen Formulierung auch einräumen müssen. Neben Reformvorschlägen bleibt damit ein Problem: die Einstellung der Gerichte gegenüber einem Wiederaufnahmeverfahren. Im Ergebnis sind es die Gerichte, die darüber entscheiden, wie ein Gesetz angewandt wird und was Rechtswirklichkeit wird. An ihrem Verständnis des Wiederaufnahmerechts wird aber nur eine belastbare und umfassende Rechtstatsachenforschung Änderungen bewirken können. Das geltende Wiederaufnahmerecht pro reo würde durch folgende Veränderungen effektiver: 1. § 363 Abs. 2 StPO ist zu streichen. 2. Die erweiterten Darlegungslasten sind aufzugeben. 3. Ein Wiederaufnahmevorbringen ist nur dann verbraucht, wenn im Rahmen des Probationsverfahrens Beweis darüber erhoben wurde. 4. §§ 359 ff. StPO gelten entsprechend für die Korrektur von Bewährungs­ widerrufsbeschlüssen. 5. Führt der Gesetzgeber die umfassende Dokumentation von Aussageinhalten ein, obliegt dem Gericht eine erweiterte Darlegungslast. Setzt es sich mit entscheidungserheblichen Gründen nicht auseinander, gelten diese als neu. 6. Wird die umfassende Dokumentation von Aussageinhalten nicht eingeführt, sind entscheidungserhebliche Umstände wiederaufnahmerechtlich neu, wenn die Urteilsgründe zu ihnen schweigen. Das Wiederaufnahmerecht bedarf zur Effizienzsteigerung in mehrfacher Hinsicht der Reformierung. Allen Wiederaufnahmealternativen ist gemein, dass sie sämtlich auf erheblichen neuen Tatsachen bzw. erheblichen neuen Beweismitteln gründen.10 Begriffe wie Tatsache, Beweismittel, Neuheit und Erheblichkeit sind de lege lata nicht gesetzlich bestimmt. Für die Lösung daraus entstehender Auslegungsprobleme ist wiederum maßgeblich, welches grundsätzliche Verständnis dem Wiederaufnahmerecht und seinem Anwendungsbereich entgegengebracht wird. gangen werden. Im Übrigen, also gerade im Hinblick auf die formalen Antrags­ voraussetzungen, erscheint dies jedoch erwägenswert, so auch SSW-Kaspar, Vor § 359 / 21. 9  Wasserburg, Die Wiederaufnahme des Strafverfahrens, S. 19. 10  Peters, Fehlerquellen im Strafprozeß III, S. 44.

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Teil 4: Conclusio und Gesetzesvorschlag

Gerade im Wiederaufnahmerecht scheitert der Nachweis der Neuheit oder der Geeignetheit des Vorbringens regelmäßig daran, dass die Hauptverhandlung nicht rekonstruiert werden kann. Zwar gilt das im Revisionsverfahren apodiktisch verteidigte Rekonstruktionsverbot hier nicht, doch ist die Rekonstruktion der Hauptverhandlung faktisch unmöglich. Abhilfe kann hier nur die audiovisuelle Dokumentation der Hauptverhandlung bringen. Nur dann ist der Wiederaufnahmerichter überhaupt in der Lage, zu beurteilen, ob das Wiederaufnahmevorbringen geeignet ist, die Überzeugung des Erstgerichts von der Schuld des Angeklagten zu erschüttern. An die Stelle des Wiederaufnahmerichters den Ausgangsrichter zu stellen, kann aufgrund des zu erwartenden Verteidigungsreflexes der eigenen Entscheidung sicher keine funktionale Alternative sein. Als Reformvorschläge sind zu unterbreiten:

A. Änderungen des § 359 StPO (1) (…) 5. wenn neue Tatsachen oder Beweismittel oder wissenschaftliche Erkenntnisse dargetan werden, sofern nicht auszuschließen ist, dass diese entweder allein oder in Verbindung mit den früher erhobenen Beweisen zur Freisprechung des Angeklagten oder in Anwendung eines milderen Strafgesetzes einer geringere Bestrafung oder einer wesentlich anderen Entscheidung über eine Maßregel der Besserung und Sicherung führen können. Liegen die Voraussetzungen des §§ 244 Abs. 3–5 StPO bezogen auf die neuen Tatsachen oder Beweismittel oder wissenschaftlichen Erkenntnisse entsprechend vor, muss die Freisprechung des Angeklagten oder geringere Bestrafung oder wesentlich andere Entscheidung über eine Maßregel der Besserung und Sicherung wahrscheinlich sein; (…) 7. wenn an der Entscheidung ein Richter oder Schöffe mitgewirkt hat, der von der Ausübung des Richtersamtes kraft Gesetzes ausgeschlossen war; 8. wenn das Gericht, das die Entscheidung im ersten Rechtszug erlassen hat, nicht vorschriftsmäßig besetzt war und der Besetzungsmangel für den Angeklagten nicht offenkundig war. (2) Neu im Sinne des § 359 Abs. 1 Nr. 5 StPO sind Tatsachen oder Beweismittel, die der Überzeugungsbildung des Gerichts noch nicht zugrunde gelegt wurden. Als der Überzeugungsbildung nicht zugrunde gelegt gelten solche Tatsachen oder Beweismittel, zu denen sich die Urteilsgründe nicht verhalten.

Anpassung des § 267 Abs. 1 S. 1 StPO: (1) Wird der Angeklagte verurteilt, so müssen die Urteilsgründe die für erwiesen erachteten Tatsachen angeben, in denen die gesetzlichen Merkmale der Straftat



E. Normierung gesetzlicher Hinweispflicht in § 366 Abs. 1a StPO481 gefunden werden sowie die Tatsachen, auf denen die Tatsachenfeststellungen beruhen und die für den Schuld- und Rechtsfolgenausspruch wesentlich sind.

B. Neueinfügung eines § 363 Abs. 1 S. 2 StPO Zulässig ist die Wiederaufnahme des Verfahrens zu dem Zweck, eine andere Strafbemessung auf Grund benannter oder unbenannter Strafänderungsgründe herbeizuführen.

C. Anpassung des § 364a StPO Das für die Entscheidungen im Wiederaufnahmeverfahren zuständige Gericht bestellt dem Verurteilten auf Antrag einen Verteidiger für das Wiederaufnahmeverfahren nach §§ 359, 362 StPO, wenn wegen der Schwierigkeit der Sach- oder Rechtslage die Mitwirkung eine Verteidigers geboten erscheint.

Im Rahmen des § 364b StPO sind die Worte „der keinen Verteidiger hat“, zu streichen.

D. Einfügung eines § 364c StPO (1) Unbeschadet ihrer allgemeinen Befugnisse erteilt die Staatsanwaltschaft auf Antrag zur Vorbereitung eines Antrags auf Wiederaufnahme des Verfahrens diejenigen Auskünfte, die der Verurteilte oder sein Verteidiger zur Vorbereitung des Antrags benötigt und die ihm nicht zugänglich sind. (2) Zur Vorbereitung eines Antrags auf Wiederaufnahme des Verfahrens erhält der Verurteilte, der nach seinen persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnissen die Kosten der Wiederaufnahmevorbereitungen nicht, nur zum Teil oder nur in Raten aufbringen kann, auf Antrag Untersuchungskostenhilfe für die Vornahme der für den Antrag erforderlichen Ermittlungen, wenn die beabsichtigte Wiederaufnahme hinreichende Aussicht auf Erfolg bietet.

E. Normierung einer gesetzlichen Hinweispflicht in § 366 Abs. 1a StPO (1a) Das Wiederaufnahmegericht muss den Antragsteller auf leicht behebbare Mängel hinweisen. Hinzuweisen ist der Antragsteller zudem, soweit er seinen Beibringungs- und Darlegungslasten nicht entsprochen hat oder sein Vorbringen daher als unzulässig erscheint.

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F. Ergänzung des § 367 Abs. 3 StPO (3) Auf Antrag des Antragstellers kann über die Zulässigkeit des Antrags gem. § 368 StPO nach mündlicher Verhandlung entschieden werden. Lehnt das Gericht die mündliche Verhandlung ab, gilt § 366 Abs. 1a StPO.

G. Einfügung eines § 368 Abs. 1 S. 2 StPO Bei der Prüfung, ob das Beweismittel geeignet ist, ist das Gericht nicht an die Beweiswürdigung des Erstgerichts gebunden.11

H. Änderung des § 370 StPO (1) Der Antrag auf Wiederaufnahme des Verfahrens ist begründet, wenn die darin aufgeworfenen Zweifel an der angefochtenen Entscheidung nicht ausgeräumt werden konnten.

Einfügung eines § 370 Abs. 2 S. 2 StPO Erfolgt zugunsten eines Verurteilten die Anordnung der Wiederaufnahme und erstreckt sich das Urteil, soweit die Wiederaufnahme angeordnet wird, noch auf andere Verurteilte, die die Wiederaufnahme des Verfahrens nicht beantragt haben, so ist zu erkennen, als ob sie gleichfalls die Wiederaufnahme des Verfahrens beantragt hätten.

I. Einfügung eines § 372 S. 3 StPO Gibt das Beschwerdegericht der Beschwerde statt, so kann es zugleich die Sache an eine andere Abteilung oder Kammer des Gerichts, dessen Entscheidung angefochten wird, oder an ein zu demselben Land gehörendes anderes Gericht gleicher Ordnung zurückverweisen. In Verfahren, in denen ein Oberlandesgericht im ersten Rechtszug entschieden hat, kann der Bundesgerichtshof die Sache an einen anderen Senat dieses Gerichts zurückzuverweisen.

J. Änderung des § 373 Abs. 2 S. 1 StPO Das frühere Urteil darf in Art und Höhe der Rechtsfolgen der Tat und im Schuldspruch nicht zum Nachteil des Verurteilten geändert werden, wenn lediglich der

11  So bereits König, Stärkung des Wiederaufnahmeverfahrens, Anlagenband I, S. 662, https: /  / www.bmjv.de / SharedDocs / Downloads / DE / PDF / Anlage_1_StPO_Kom mission.pdf;jsessionid=8B0449EBC61593D99E91F1C67B659C4D.1_cid324?__ blob=publicationFile&v=4 (zuletzt aufgerufen am 21.09.2016).



K. Umfassende Dokumentationspflicht in § 273 Abs. 2 und 3 StPO483 Verurteilte, zu seinen Gunsten die Staatsanwaltschaft oder sein gesetzlicher Vertreter die Wiederaufnahme des Verfahrens beantragt hat.

K. Einführung einer umfassenden Dokumentationspflicht in § 273 Abs. 2 und 3 StPO (2) Die Hauptverhandlung im ersten Rechtszug ist unbeschadet des § 271 auf BildTonträger aufzuzeichnen. Die Bild-Ton-Aufzeichnung ist zu den Akten zu nehmen oder bei der Geschäftsstelle mit den Akten aufzubewahren. § 147 ist entsprechend anzuwenden mit der Maßgabe, dass den zur Akteneinsicht Berechtigten Kopien der Aufzeichnung überlassen werden können. Die Kopien dürfen weder vervielfältigt noch weitergegeben werden.12 (3) Sind die durch die Aufzeichnung gemäß Absatz 2 erlangten personenbezogenen Daten zur Strafverfolgung nicht mehr erforderlich und erklären sich die Verfahrensbeteiligten mit ihrer Löschung nach rechtskräftigem Abschluss des Verfahrens einverstanden, so sind sie unverzüglich zu löschen. Die Löschung ist aktenkundig zu machen. Sind die Verfahrensbeteiligten mit der Löschung nicht einverstanden, wird die Löschung zurückgestellt. In diesem Fall dürfen die Daten ohne Einwilligung des Betroffenen nur für eine gerichtliche Überprüfung verwendet werden und sind entsprechend für andere Zwecke zu sperren. Nach Ablauf der in § 78c Abs. 3 S. 2 StGB genannten Frist sind die Daten zu löschen, wenn bis zu diesem Zeitpunkt nicht Grund zu der Annahme besteht, dass weitere Strafverfahren in diesem Zusammenhang zu führen sind.13

Damit korrespondierend sind Änderungen in § 58a Abs. 1 Nr. 3, Abs. 2 StPO veranlasst (1) Die Vernehmung eines Zeugen ist auf Bild-Ton-Träger aufzuzeichnen. (…) (2) Die an der Bild-Ton-Aufzeichnung Beteiligten erklären am Ende der Vernehmung, ob und mit welchem Inhalt verfahrensbezogene Gespräche mit dem Zeugen außerhalb der Bild-Ton-Aufzeichnung über den Gegenstand der Vernehmung geführt wurden.

12  So für die Hauptverhandlung vor dem Land- und Oberlandesgericht bereits König, Stärkung des Wiederaufnahmeverfahrens, Anlagenband I, S. 657, https: /  / www. bmjv.de / SharedDocs / Downloads / DE / PDF / Anlage_1_StPO_Kommission.pdf;jsessioni d=8B0449EBC61593D99E91F1C67B659C4D.1_cid324?__blob=publicationFile&v=4 (zuletzt aufgerufen am 21.09.2016) und BRAK-Stellungnahme-Nr. 1 / 2010, S. 35. 13  Dies führt auch nicht zu einer mittelbaren Befristung der Wiederaufnahme. Der Regelungsvorschlag stellt zunächst sicher, dass der Betroffene innerhalb dieser Fristen Wiederaufnahmegründe aus dem Material geltend machen kann. Tut er dies nicht, bestehen auch keine Bedenken gegen eine Löschung nach Ablauf dieser Frist, zumal ihm ein Berufen auf die schriftlichen Urteilsgründe – und die aus ihnen entstehende Vermutung für die Neuheit nicht erwähnter Umstände – weiterhin möglich bleibt.

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Teil 4: Conclusio und Gesetzesvorschlag

(3) Sind die durch die Aufzeichnung erlangten personenbezogenen Daten zur Strafverfolgung nicht mehr erforderlich und erklären sich die Verfahrensbeteiligten mit ihrer Löschung nach rechtskräftigem Abschluss des Verfahrens einverstanden, so sind sie unverzüglich zu löschen. Die Löschung ist aktenkundig zu machen. Sind die Verfahrensbeteiligten mit der Löschung nicht einverstanden, wird die Löschung zurückgestellt. In diesem Fall dürfen die Daten ohne Einwilligung des Betroffenen nur für eine gerichtliche Überprüfung verwendet werden und sind entsprechend für andere Zwecke zu sperren. Nach Ablauf der in § 78c Abs. 3 S. 2 StGB genannten Frist sind die Daten zu löschen, wenn bis zu diesem Zeitpunkt nicht Grund zu der Annahme besteht, dass weitere Strafverfahren in diesem Zusammenhang zu führen sind.

Anpassung des § 136 StPO: (4) Die Vernehmung des Beschuldigten ist auf Bild-Ton-Träger aufzuzeichnen. (5) Sind die durch die Aufzeichnung nach Absatz 4 erlangten personenbezogenen Daten zur Strafverfolgung nicht mehr erforderlich und erklären sich die Verfahrensbeteiligten mit ihrer Löschung nach rechtskräftigem Abschluss des Verfahrens einverstanden, so sind sie unverzüglich zu löschen. Die Löschung ist aktenkundig zu machen. Sind die Verfahrensbeteiligten mit der Löschung nicht einverstanden, wird die Löschung zurückgestellt. In diesem Fall dürfen die Daten ohne Einwilligung des Betroffenen nur für eine gerichtliche Überprüfung verwendet werden und sind entsprechend für andere Zwecke zu sperren. Nach Ablauf der in § 78c Abs. 3 S. 2 StGB genannten Frist sind die Daten zu löschen, wenn bis zu diesem Zeitpunkt nicht Grund zu der Annahme besteht, dass weitere Strafverfahren in diesem Zusammenhang zu führen sind.

Anpassung des § 254 StPO: (3) Für die Vorführung der Bild-Ton-Aufzeichnung nach § 136 Abs. 4 StPO geltenden die Absätze 1 und 2 entsprechend.

Anpassung des § 273a StPO: Unrichtigkeiten des Protokolls können nach Anhörung der Beteiligten berichtigt werden. Der Nachweis der Unrichtigkeit kann auch durch die Bild-Ton-Aufzeichnung geführt werden. Die Berichtigung ist mit Gründen zu versehen und wird auf dem Protokoll vermerkt. Der Vermerk ist zu unterschreiben; § 271 gilt entsprechend.14

Anpassung des § 352 Abs. 1 S. 2 StPO: Die Bild-Ton-Aufzeichnung der Hauptverhandlung nach § 273 Abs. 2 kann insbesondere zur Überprüfung von Mängeln des Verfahrens herangezogen werden.

14  So

auch bereits BRAK-Stellungnahme-Nr. 1 / 2010, S. 36.



O. Ergänzung der Nr. 76 RiStBV um Absatz 3485

L. Einführung einer Divergenzvorlage in § 121 Abs. 2 Nr. 4 GVG (2) Will ein Oberlandesgericht bei seiner Entscheidung (…) 4. über die sofortige Beschwerde gem. § 372 StPO von einer Entscheidung eines anderen Oberlandesgerichts oder von einer Entscheidung des Bundesgerichtshofs abweichen, so hat es die Sache dem Bundesgerichtshof vorzulegen.

M. Einfügung eines § 140a Abs. 2 S. 2 GVG Die Entscheidung des Präsidiums des Oberlandesgerichts ist in der von dem Präsidenten bestimmten Geschäftsstelle des Gerichts zur Einsichtnahme auszulegen.

N. Einfügung eines § 143 Abs. 1 S. 1a GVG Der Staatsanwalt, der die Anklage oder Antragsschrift verfasst hat oder der an der Hauptverhandlung gegen den Verurteilten teilgenommen hat, ist von der Mitwirkung in dem von dem Verurteilten beantragten Wiederaufnahmeverfahren kraft Gesetzes ausgeschlossen.

O. Ergänzung der Nr. 76 RiStBV um Absatz 3 (3) Sachbeweismittel, die für die Zwecke des Strafverfahrens benötigt wurden, sind in der Regel bis zum Eintritt der Verfolgungsverjährung aufzubewahren. Etwas anderes gilt nur, wenn der Verurteilte mit deren Freigabe einverstanden ist.

Anhang Anhang 1: Leitfaden Mögliche Themenkomplexe: I. Erfahrungen mit Wiederaufnahmeanträgen: 1. Wie haben Sie sich Ihre Kenntnisse zum Wiederaufnahmeverfahren angeeignet? 2. Wie viele Wiederaufnahmeanträge haben Sie bislang bearbeitet? 3. Auf welchen Wiederaufnahmegrund haben Sie die von Ihnen bearbeiteten Wiederaufnahmegesuche gestützt? 4. Zu welchem Zeitpunkt haben Sie das Wiederaufnahmegesuch gestellt? War die Strafe bereits (teilweise) verbüßt? 5. Waren Sie in den Verfahren, in denen Sie einen Wiederaufnahmeantrag gestellt haben, bereits im Ausgangs- oder Rechtsmittelverfahren mandatiert? 6. Wurde im Rahmen von Entscheidungen über Vollzugslockerungen ein gestellter Wiederaufnahmeantrag negativ angelastet? 7. Welches Ergebnis hatte das Wiederaufnahmeverfahren? II. Erarbeitung eines Wiederaufnahmeantrages: 1. Was bedeutet die Erarbeitung eines Wiederaufnahmeantrages – im Vergleich zur normalen Verteidigertätigkeit – hinsichtlich Arbeitsumfang, -aufwand etc.? 2. Halten Sie es für erforderlich und sinnvoll, bei Wiederaufnahmebemühungen durch die Staatsanwaltschaft unterstützt zu werden? 3. Unter welchen Umständen kann einem Mandanten ernsthaft zur Stellung eines Wiederaufnahmeantrages geraten werden? 4. In den USA haben sich bereits 1992 im Rahmen des „innocence project“ Rechtsanwälte mit Experten zusammengeschlossen um Fehlurteile aufzuarbeiten.

a) Halten Sie ein derartiges Projekt in Deutschland für sinnvoll?



b)  Müssten Strafverteidiger besser mit Komplementärwissenschaften kooperieren?

5. Dem Wiederaufnahmegericht sollen – ähnlich zu § 139 ZPO – besondere Hinweispflichten (bspw. im Hinblick auf die Darlegungslasten) obliegen. Haben Sie in den von Ihnen bearbeiteten Verfahren einen entsprechenden



Anhang 1: Leitfaden487 gerichtlichen Hinweis erhalten? Gehen Sie davon aus, dass dieser Hinweispflicht mehr entsprochen werden würde, wenn sie gesetzlich normiert wäre?

III. Praxis der Wiederaufnahme 1. Woran scheitern Wiederaufnahmegesuche nach Ihrer Erfahrung? 2. Ist der Verfahrensablauf (Aditionsverfahren, Probationsverfahren, neue Hauptverhandlung) sinnvoll? 3. Bestünde Ihres Erachtens ein Vorteil in einer mündlichen Verhandlung über die Entscheidung der Zulässigkeit eines Wiederaufnahmeantrages? 4. Funktioniert die Kontrolle von Fehlurteilen durch den Rechtsbehelf der Wiederaufnahme nach Ihrer Einschätzung? 5. Wie würde sich die Anwendbarkeit des in-dubio-Grundsatzes in Adition und Probation auf die Praxis der Wiederaufnahme auswirken? IV. Reformüberlegungen: 1. Wäre die Protokollierung außergerichtlicher und gerichtlicher Vernehmungen für das Wiederaufnahmeverfahren von Vorteil? 2. Wäre die Einführung einer zweiten Tatsacheninstanz auch für landgericht­ liche Verfahren u. U. besser geeignet, Fehler – die derzeit durch die Wiederaufnahme korrigiert werden sollen – zu beheben? 3. Würden Sie die Korrektur von Rechts- und Verfahrensfehlern im Wiederaufnahmeverfahren begrüßen? 4. Wie würden Sie einem Wiederaufnahmegrund der fehlenden erschöpfenden Beweiswürdigung gegenüberstehen? (Bspw. im Falle von Verfahrensabsprachen) 5. Befürworten Sie die Wiederaufnahme auch in Fällen der nachträglichen Gesetzes- bzw. Rechtsprechungsänderung? 6. Wie stehen Sie zum Verbot der Strafmaßwiederaufnahme in § 363 StPO? 7. Glauben Sie, dass es für die Rehabilitation des Betroffenen von Vorteil wäre, wenn im Tenor der Wiederaufnahmeentscheidung bzw. des erneuten Urteils die Rechtswidrigkeit / Fehlerhaftigkeit der Ausgangsentscheidung ausdrücklich festgestellt würde? 8. Wäre das Wiederaufnahmerecht effektiver, wenn nicht das OLG Beschwerdeinstanz wäre, sondern der BGH? 9. Sind die Vorschriften des Wiederaufnahmerechts analogiefähig? Ist dabei zwischen der günstigen und ungünstigen Wiederaufnahme zu differenzieren? 10. Welche Wiederaufnahmegründe erachten Sie als überflüssig? 11. Haben Sie Vorschläge zur Verbesserung der geltenden Rechtslage?

488 Anhang

Anhang 2: Exposé Der Anspruch auf Wiederaufnahme eines Strafverfahrens – Rechtliche Vorgaben, Korrelation mit Rechtsmitteln und Kritik am geltenden Recht anhand einer empirischen Umfrage In den letzten Jahren haben mehrere aufsehenerregende und umstrittene Wiederaufnahmeverfahren die Öffentlichkeit für das Rechtsinstitut der Wiederaufnahme sensibilisiert und das Vertrauen in die Justiz in Frage gestellt. Über das Schicksal eingereichter Wiederaufnahmegesuche geben jedoch die Statistiken der Bundes- und Landesämter keinen Aufschluss. Auch in der jüngeren Literatur finden sich hierzu kaum Informationen. 1. Forschungsstand Die Statistiken des Bundesamtes für Statistik über den Geschäftsanfall und die Erledigung der Straf- und Bußgeldsachen vor den Amts-, Land- und Oberlandgerichten präsentieren lediglich die Anzahl der in der Bundesrepublik eingereichten Wiederaufnahmeanträge, ohne über deren weiteres Schicksal Auskunft zu geben.1 In der Literatur wird davon ausgegangen, dass es jährlich eine Vielzahl gescheiterter Wiederaufnahmeverfahren gibt.2 Erfolgreiche Anträge, die mithin zur Wiederaufnahme eines Verfahrens und der Erneuerung einer Hauptverhandlung führen, seien eine ­„forensische Rarität“3. Auch in der Wissenschaft existiert kaum verlässliches Datenmaterial, das Auskunft zur Anzahl von durch Wiederaufnahmeverfahren korrigierten Fehlurteilen gibt. Die letzten Bemühungen für eine umfassende Aufarbeitung und Untersuchung der in Wiederaufnahmeverfahren aufgehobenen Urteile geht auf die siebziger Jahre zurück. Karl Peters kommt in seiner Darstellung zu dem Ergebnis, dass die von ihm untersuchten Verfahren ganz überwiegend zugunsten des Verurteilten durchgeführt wurden. Von den geltend gemachten Wiederaufnahmegründen überwiege die Beibringung neuer Tatsachen oder Beweismittel gem. § 359 Nr. 5 StPO, wohingegen etwa die Wiederaufnahmegründe der §§ 359 Nr. 3, 4 StPO in den untersuchten Entscheidung überhaupt nicht vorkamen. Bei den Wiederaufnahmeverfahren zuungunsten des Verurteilten dominierten die Wiederaufnahmegründe der §§ 362 Nr. 2, 4 StPO. Ausgehend von den Spruchkörpern wurden die meisten von Peters untersuchten Wiederaufnahmeverfahren in Einzel- und Schöffengerichtssachen betrieben. Das Landesamt für Statistik für Nordrhein-Westfalen hatte schließlich für einen Zeitraum von 1997-2001 untersucht, dass Wiederaufnahmeanträge gegen erstinstanzliche Entscheidungen von Land- oder Oberlandesgerichten zugunsten des Verurteilten 1  https: /  / www.destatis.de / GPStatistik / servlets / MCRFileNodeServlet / DEHeft_ derivate_00013689 / 2100230137004.pdf (zuletzt aufgerufen am 31.05.2015). 2  Stern, Steffen. Zur Verteidigung des Verurteilten in der Wiederaufnahme, in: NStZ 1993, 409. 3  A. a. O.



Anhang 2: Exposé489

scheinbar kaum Erfolg haben. Bei Anträgen die sich gegen amtsgerichtliche Entscheidungen richten, wurde hingegen in mehr als 50 % der Fälle das Verfahren wiederaufgenommen. 2. Gegenstand der Untersuchung Die Forschungsarbeit soll die Korrelation des Wiederaufnahmerechts zum Grundverfahren und zu den förmlichen Rechtsmitteln – insbesondere dem Revisionsrecht – darstellen. Zudem sollen Reformdiskussionen aufgegriffen und fortentwickelt werden. Ein Schwerpunkt der Untersuchung soll der Begriff der nova des § 359 Nr. 5 StPO sein. Im Unterschied zu anderen wissenschaftlichen Abhandlungen soll nicht die Feststellung der Fehlerquellen im Strafprozess im Vordergrund stehen. Vielmehr soll versucht werden, zu eruieren, wie häufig rechtskräftig abgeschlossene Strafverfahren wiederaufgenommen werden. Weiterhin sollen einige landgerichtliche Wiederaufnahmeverfahren unter vollständiger Wahrung der Persönlichkeitsrechte sämtlicher Beteiligter im Wege einer qualitativen und deskriptiven Inhaltsanalyse ausgewertet und deren weitere Entwicklung sowie das Ergebnis des Verfahrens untersucht werden. Insbesondere interessieren die am Häufigsten geltend gemachten Wiederaufnahmegründe, ebenso wie die Handhabung des § 359 Nr. 5 StPO in der Praxis. Um weitere Erkenntnisse über die Praxis der Wiederaufnahme zu erheben, ist beabsichtigt, Experteninterviews mit Strafverteidigerinnen und Strafverteidigern zu führen, die in diesem Bereich tätig sind. Die geplanten Themenschwerpunkte dieser Interviews können der Anlage zu diesem Schreiben entnommen werden. Ein entsprechendes Einverständnis vorausgesetzt würden die Gespräche digital aufgezeichnet und im Anschluss daran (anonymisiert) verschriftlicht und ausgewertet werden. Die Gespräche sollen im Herbst 2015 persönlich oder telefonisch durchgeführt werden. Die Gesprächspartner haben jederzeit die Möglichkeit, vor Veröffentlichung der Forschungsarbeit Einblick in die ausgewerteten Gesprächsprotokolle zu erhalten und das Ergebnis der Auswertung zu erhalten. Für ein Gespräch sind ca. 45–60 Minuten Dauer zu veranschlagen. 3. Betreuung Die Forschungsarbeit wird als Dissertationsschrift betreut durch Herrn Prof. Dr. Johannes Kaspar, Inhaber des Lehrstuhls für Strafrecht, Strafprozessrecht, Kriminologie und Sanktionenrecht an der Universität Augsburg. 4. Zur Person Nach Abschluss meines Studiums mit anschließender Referendarzeit in Augsburg bin ich seit Mai 2013 in München als Strafverteidigerin tätig, u. a. im Bereich der Wiederaufnahme. Über ein persönliches Kennenlernen und die Schilderungen und Kenntnisse erfahrener Kolleginnen und Kollegen würde ich mich sehr freuen. Carolin Arnemann Rechtsanwältin

Literaturverzeichnis Alexander, Thorsten, Wiederaufnahmeverfahren zugunsten des Verurteilten. In: Miebach, Klaus / Hohmann, Olaf (Hrsg.), Wiederaufnahme in Strafsachen. München, 2016. Zitiert: Alexander, in: Miebach / Hohmann, Wiederaufnahme in Strafsachen, Teil F. Alsberg, Max, Justizirrtum und Wiederaufnahme. Berlin, 1913. Zitiert: Alsberg, Justizirrtum und Wiederaufnahme. Ambos, Kai, Zum heutigen Verständnis von Akkusationsprinzip und -verfahren aus historischer Sicht. In: Jura 2008, S. 586–594. Zitiert: Ambos, Jura 2008. Bajohr, Konstantin, Die Aufhebung rechtsfehlerhafter Strafurteile im Wege der Wiederaufnahme. Frankfurt am Main, 2008. Zitiert: Bajohr, Die Aufhebung rechtsfehlerhafter Strafurteile im Wege der Wiederaufnahme. Bandilla, Wolfgang / Hassemer, Raimund, Zur Abhängigkeit strafrichterlicher Beweiswürdigung vom Zeitpunkt der Zeugenvernehmung im Hauptverfahren. In: StV 1989, S. 551–554. Zitiert: Bandilla / Hassemer, StV 1989. Barton, Stephan, Der Zeitpunkt des Beweisantrages unter Berücksichtigung des Intertia-Effektes. In: StraFo 1993, S. 11–19. Zitiert: Barton, StraFo 1993. Bauer, Fritz, Die Wiederaufnahme teilweise abgeschlossener Strafverfahren. In: JZ 1952, S. 209–211. Zitiert: Bauer, JZ 1952. Bock, Michael / Eschelbach, Ralf / Geipel, Andreas / Hettinger, Michael / Röschke, Joachim / Wille, Florian, Die erneute Wiederaufnahme des Strafverfahrens. In: GA 2013, S. 328–345. Zitiert: Bock / Eschelbach / Geipel / Hettinger / Röschke / Wille, GA. Bottke, Wilfried, Wiederaufnahmeverfahren. In: NStZ 1981, S. 135–138. Zitiert: Bottke, NStZ 1981. Brandt-Janczyk, Ursula, Richterliche Befangenheit durch Vorbefassung im Wiederaufnahmeverfahren. Tübingen, 1978. Zitiert: Brandt-Janczyk, Richterliche Befangenheit durch Vorbefassung im Wiederaufnahmeverfahren. Brinkmann, Sara, Zum Anwendungsbereich der §§ 359 ff. StPO; Möglichkeiten und Grenzen der Fehlerkorrektur über das strafrechtliche Wiederaufnahmeverfahren. Berlin, 2017. Zitiert: Brinkmann, Zum Anwendungsbereich der §§ 359 ff. StPO. Bundesministerium der Justiz und für Verbrauchschutz, Bericht der Expertenkommission zur effektiveren und praxistauglicheren Ausgestaltung des allgemeinen Strafverfahrens und des jugendgerichtlichen Verfahrens. Oktober 2015. www.bmjv. de / SharedDocs / Kurzmeldungen / DE / 2015 / 20151013_A_Abschlussbericht_Re form_Strafprozessrecht.html?nn=5054702; zuletzt aufgerufen am 26.10.2015. Zitiert: Bericht der Expertenkommission 2015, https: /  / www.bmjv.de / SharedDocs /  Downloads / DE / PDF / Abschlussbericht_Reform_StPO_Kommission.pdf?__ blob=publicationFile&v=2 (zuletzt aufgerufen am 04.04.2016).

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Stichwortverzeichnis absoluter Wiederaufnahmegrund  43 Aditionsverfahren  33, 96, 103, 130, 425 Akkusationsprozess  170, 171 Akteninhalt  432, 439, 465 Alternativität  160, 374 Amtsermittlungsgrundsatz  77, 111, 121, 157 Analogiefähigkeit  83, 143, 247 Antragspflicht  41 f. Antragsteller  31, 41, 81 Antragsverwerfung  34 Antragsziele  55, 79, 82 Anwesenheitsrecht  107 Anzahl von Wiederaufnahmeanträgen  195 ff. Asservate  275 Asymmetrie der Wiederaufnahmekon­ stellationen  143, 145 Aufhebung der Entscheidung  110 Ausgangsverfahren  121 Auskunftspflicht  49, 53, 316 Ausnahmecharakter  151, 352 Ausweitung der ungünstige Wiederaufnahme  81, 88, 90 Bagatelle  351 Begründetheit  34, 103, 104, 109, 422 Begründungserfordernis  101 Bekanntmachung  101 Berufung  26, 30, 124, 129 Berufungsersatz  130, 320, 412 Beschleunigungsgebot  34, 101, 116, 127, 167, 321, 342 Beschlussentscheidung  76, 97, 101, 109, 117 Beschränkung  129

Beschwer  51 Beschwerde  40, 101, 113, 294, 344 Beschwerdefrist  115 Bestätigungsbegriff  167, 427 Beweisantizipation  164, 262, 275, 396, 397 ff., 416 Beweisaufnahme  105, 107 Beweiserhebung  33, 34, 103, 105 Beweisführungslasten  32, 47, 78, 98 Beweislast  80 Beweismaterial  53 Beweismittel  78, 92 Beweisnot  52 f. Beweisregeln  431, 440, 441 Beweiswürdigung  112, 163, 354, 412, 439, 442 confirmation bias  305 Darlegungslasten  32, 47, 53, 78, 80, 98, 119 Defizite des Wiederaufnahmerechts  318 Devolutiveffekt  30, 344 Dokumentation  261, 269, 281, 287, 303, 305, 431, 434, 436, 442 ff. Doppelbestrafungsverbot  81, 87, 143 eingeschränkte erweiterte Darlegungslast  421 Einschränkung  351 Einschränkung der ungünstigen Wiederaufnahme  89 empirische Untersuchung  218 ff. Entschädigung  101, 118 ff., 287 Entscheidungsmöglichkeiten  34, 97, 101, 109, 112

506 Stichwortverzeichnis Erarbeitung Wiederaufnahmeantrag  229, 240, 439 Erfolgsaussichten  28, 395, 414 Erheblichkeit  161, 393 Ermittlungen  47 f., 53, 86, 98, 239, 313, 314 Ermittlungsfehler  302 Ermittlungspflicht  45, 242 Erneuerungsverfahren  33, 111, 119 Erstreckung der Entscheidung auf Mitangeklagte  110, 343 erweiterte Darlegungslast  119, 166, 253, 258, 416, 418 Fehlerkultur  326 Fehlerquellen  25, 30, 38, 296 ff. Fehlurteil  25, 123, 144, 147, 296, 310 Fehlurteilsgründe  25, 40, 188, 229, 235, 296 Feststellungstenorierung  287, 366 formale Antragsmängel  79 f. formale Hürden  275 Formanforderungen  33, 77, 78 f., 84, 109, 166, 372 Freibeweis  467 freie Beweiswürdigung  439, 440 Frist  52, 71 Fürsorgepflicht  79, 82, 96, 97, 114, 422 Geeignetheit  161, 261, 320, 374, 386, 391 ff., 415, 417, 425 Gegenvorstellungen  116 Gehörsrüge  116 genügende Bestätigung  427 gerichtliche Praxis  270 Gesamtbetrachtungsgebot  165, 414, 424 ff. Gesetzesänderung  72, 363 Geständniswiderruf  420 Gnadenantrag  27, 64, 72, 77 Grundrechtsschutz  85, 144 f. Grundverfahren  121 günstige Wiederaufnahme  32, 53, 54 ff.

Hauptverhandlung  29, 33, 34, 111 Hauptverhandlungsprotokoll  432, 460 Hinweispflicht  79, 96, 97, 112, 234, 257, 342 hypothetische Schlüssigkeit  162 Individualbeschwerde  26 Indizien  414 Inertiaeffekt  305, 326, 338 Inkongruenz der Wiederaufnahmekonstellationen  145 Inquisitionsprozess  170, 171 Justizirrtum  24 Kenntnisse zum Wiederaufnahmerecht  225, 271 kognitive Dissonanz  305, 306 Komplementärwissenschaften  238, 301 Kontrollfunktion  43 Korrektur von Fehlurteil  26 Kostenentscheidung  102, 113 Kostenerstattungsanspruch  118 Kriminalistik  30, 94 Legalitätsprinzip  42, 48, 82, 244 Maßregelwiederaufnahme  56, 82 materielle Gerechtigkeit  28, 52, 73, 83, 140 materielle Wahrheit  52, 67, 71, 103, 106, 147 Mitwirkungspflicht  41 f., 316 Möglichkeitsmaßstab  104, 401, 424, 428 mündliche Verhandlung  251, 340 Nachschieben von Gründen  114 Nebenkläger  41, 107 Neuheit  s. Novität Nichtigkeit eines Urteils  66, 175 Nichtigkeitsbeschwerde  66, 175 Novität  128, 158, 259, 328, 374, 377, 380, 384, 432, 447, 464 ff.

Stichwortverzeichnis507 Öffentliche Bekanntmachung  110 öffentliches Interesse an Wiederaufnahmeverfahren  234, 279 Perseveranzeffekt  307, 326, 338 praktische Konkordanz  144, 148 Probationsverfahren  29, 33, 96, 102 ff. Prognoseentscheidung  104, 106, 395 Prognosemaßstab  400 Protokoll  106, 108, 432, 460 Prozesstatsachen  356 Prozessurteil  36 Prozessvoraussetzung  110 Prüfungsmaßstab  104, 400 Prüfungsstandpunkt  104, 109, 129, 162, 261, 409, 412 Rechtsbehelfe  113 Rechtsfehler als Wiederaufnahmegrund  65, 67, 83, 319, 360 Rechtsfolgenänderung  75 Rechtsfrieden  28, 32, 73, 140, 144 Rechtskraft  27, 32, 49, 64, 97, 105, 110, 121, 138, 140, 141, 149 Rechtsmittel  116, 121, 273 Rechtsprechung des BVerfG  154 Rechtsprechungsänderung  67, 72, 363 Rechtsschutzanspruch  152 ff. Rechtssicherheit  27, 28, 66, 71, 73, 138, 142 Rechtsstaatsprinzip  28 Rechtstatsachen  68, 360 reformatio in peius  112, 124 reformierter Strafprozess  171 Reformierung  137, 281, 346 ff. Rehabilitation  27, 29, 32, 110, 119, 142, 143, 287, 352, 366 Reichweite  146 Rekonstruktion  433 ff., 437 Rekonstruktionsverbot  135, 433, 461, 471 relativer Wiederaufnahmegrund  54 Relevanz  195

Restitutionsvoraussetzungen  29, 35 Revision  26, 30, 56, 71, 124, 131, 267, 269, 357, 433, 461, 463 Richterausschluss  37, 358 richterliche Überzeugung  354, 430, 439 Rollenwechsel  32, 49 Sachurteil  31, 36 Sachverhaltsauslassungen  429 Sachverhaltskorrektur  69 Sachverständigengutachten  65 Scheitern von Wiederaufnahmeanträgen  273 Schlüssigkeit  33, 78 Schuldgrundsatz  138, 142, 146, 150, 329 Schuldspruchänderung  55, 83 Schulterschlusseffekt  324 f., 338 sofortige Beschwerde  113, 117 Spiegelbildtheorie  383 Staatsanwaltschaft  38, 41 ff. Statthaftigkeit  36, 117 Strafaussetzung zur Bewährung  74, 247, 365 Strafbefehlsverfahren  84 Strafmaßwiederaufnahme  60 ff., 82, 95 f., 247, 353 Strafmilderungswiederaufnahme  56, 112 Strafvollstreckung  31, 44, 52, 113, 117, 264, 368 Strengbeweisverfahren  106 Stufenverhältnis  32, 33, 85, 129, 145 Suspensiveffekt  30, 117 Tatsachenbegriff  160, 375 Teilrechtskraft  124 Tod  52 ungünstige Wiederaufnahme  32, 53, 81 ff. Untätigkeitsbeschwerde  343 Unterrichtungspflicht  108 Untersuchungsergebnisse  224 ff.

508 Stichwortverzeichnis Untersuchungsgrundsatz  77, 96, 103, 106, 111 Urteilsgründe  431, 432, 438, 453, 462, 468 ff., 472 Verbrauch von Antragsvorbringen  79, 80, 102, 161, 233, 388 Verfahrensablauf  33, 104, 108, 248, 321 Verfahrensdauer  34, 52 Verfahrensfehler  355 Verfahrensherrschaft  32, 105 Verfahrenshindernis  112 Verfahrensziel  139, 146, 147 Verfassungsbeschwerde  26, 66, 116, 273 verfassungsrechtliche Antinomie  139, 145 verfassungsrechtliches Spannungsverhältnis  140 Vergütung  312 Verjährung  35, 53 verminderte Schuldfähigkeit  63, 83 Verteidigerbestellung  97, 100, 111, 228, 233, 322 Verweis  79 Verzögerungsrüge  101, 342 Vollstreckungsaufschub  31, 117 Vollstreckungsunterbrechung  31, 110, 117 Wahlverteidiger  97 Wahrheitsermittlung  32, 156, 157

Wahrscheinlichkeitsmaßstab  104, 162, 400 ff., 424, 428 weitere Beschwerde  115 Widersprüchlichkeit  108 Wiederaufnahme  26, 27, 68 Wiederaufnahme aufgrund vorgeschrittener technischer Untersuchungs­ methoden  91 Wiederaufnahme contra reum  32 Wiederaufnahme der Wiederaufnahme  116 f. Wiederaufnahme gegen Bewährungs­ widerrufsbeschlüsse  74 Wiederaufnahme pro reo  32 Wiederaufnahme propter nova  84, 89, 90, 372 Wiederaufnahmegericht  36, 111 Wiederaufnahmegrund  28, 31, 54, 84, 102, 245, 286 Wiederaufnahmepraxis  28 Wiederaufnahmevoraussetzungen  31, 33, 35, 319 Wiederaufnahmeziele  55 Zulässigkeit  29, 33, 35, 79, 96, 102, 262, 320 Zuständigkeit  36, 40, 111, 293, 338, 345 Zwangsbefugnisse  47, 105, 107 Zweifelsgrundsatz  110, 262, 327 ff. Zweistufigkeit  33 Zweite Tatsacheninstanz  268, 346 ff.